UTB 1830
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel · Berlin Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wie...
284 downloads
2001 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
UTB 1830
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel · Berlin Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Verlag Leske + Budrich Opladen Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen WUV Facultas · Wien
Handwo ¨ rterbuch Philosophie Herausgegeben von Wulff D. Rehfus
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ýber Nhttp://dnb.ddb.deO abrufbar. ISBN 3 8252 8208 2 (UTB) ISBN 3 525 03323 0 (Vandenhoeck & Ruprecht) 2003, Vandenhoeck & Ruprecht in GÚttingen. Internet: www.vandenhoeck ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschÝtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÈllen bedarf der vorherigen schrift lichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dÝrfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages Úffentlich zugÈnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fÝr Lehr und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Gesamtherstellung: Hubert & Co., GÚttingen ISBN 3 8252 8208 2 (UTB)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
A Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Altertum / Mittelalter / Renaissance – Humanismus / Neuzeit – AufklÈrung / Deutscher Idealismus / Neunzehntes Jahrhundert / Gegenwart – Zwanzigstes Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
1. Alphabetisches Philosophenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
2. Themen und Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Adorno – Anaximander – Aristoteles – Augustinus – Bacon – Bergson Berkeley – Carnap – Cassirer – Cicero – Derrida – Descartes – Dewey Dilthey – Fichte – Frege – Gadamer – Goodman – Habermas – Hegel Heidegger – Heraklit – Hobbes – Hume – Husserl – James – Kant Kierkegaard – Leibniz – L¹vinas – Locke – Marx – Mill – Nietzsche Nikolaus von Kues – Parmenides – Pascal – Peirce – Platon – Plotin Popper – Putnam – Pythagoras – Quine – Rawls – Sartre – Schelling Schopenhauer – Seneca – Sokrates – Spinoza – Thales – Thomas von Aquin Voltaire – Wittgenstein
– – – – – – – –
C Denkformen und Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Anhang Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
695
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
707
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
735
Vorwort
Die Menschheit steht vor großen Herausforderungen. Das Ende der Nachkriegszeit, das Ende des »Ostblocks« und die weltweite Bedrohung durch Gewalt verlangen eine neue politische Weltordnung. Die technischen, biologischen und medizinischen MÚglichkeiten verlangen eine neue, weltweite Ethik. Die Úkologischen Gefahren verlangen neue Handlungskonzepte. Das VerstÈndnis des Menschen von sich und der Welt ist ins Wanken geraten. Das Àberkommene hat seine Geltung eingebÝßt, das SelbstverstÈndliche versteht sich nicht mehr von selbst. Unsere geistige Àberlieferung ist in Frage gestellt und damit die Grundlage unseres Denkens und Handelns. Tatendrang und Handlungseifer kÚnnen unter diesen UmstÈnden nur schaden. Nicht Aktionismus ist das Gebot der Stunde, sondern Besinnung. Denn bevor man beherzt in die Zukunft schreitet, muss man wissen, wo man sich befindet. Man muss wissen, was man will; man muss wissen, was man kann; man muss wissen, was man darf und man muss wissen, woher man kommt. Um ein neues Selbst- und WeltverstÈndnis zu finden, um neue oberste Prinzipien des Denkens und Handelns zu finden, muss man sich seiner selbst und seiner Welt vergewissern. Wer nach vorn schaut, der darf den Blick zurÝck nicht vergessen, will er nicht vom Weg abkommen. Nur Nachdenklichkeit kann gesicherte Grundlagen fÝr morgen schaffen. Wenn aber die Gedanken und das Denken auf dem Spiel stehen, dann ist die Philosophie gefordert – wie in der klassischen Antike, so in der europÈischen Neuzeit: und heute erneut. In den Zeiten der Gedankennot bedarf es der Orientierung im Denken. Die große Philosophie war solchen Grundlagen immer verpflichtet. Im Geist
der HumanitÈt, der Vernunft und AufklÈrung dachte sie die obersten Prinzipien des Seins, des Denkens und Handelns. Dies ist das VermÈchtnis der Philosophie. Das HandwÚrterbuch Philosophie hat nicht den Anspruch, die philosophische universitÈre Forschung durch neue Erkenntnisse zu bereichern, vielmehr wendet es sich an alle, die einen Àberblick Ýber die Philosophie gewinnen wollen und Freude am Denken haben. Dabei wird unter Philosophie ein Denken verstanden, wie es sich in Europa in der griechischen Antike entwickelt hat und als wissenschaftliche Disziplin an den UniversitÈten etablieren konnte – als die Èlteste wissenschaftliche Disziplin Ýberhaupt. Das HandwÚrterbuch Philosophie ist eine Kombination aus philosophiegeschichtlichem Grundriss, Kurzdarstellung der großen Denker, systematischer Aufbereitung philosophischen Denkens und WÚrterbuch philosophischer Grundbegriffe. Es stellt die Philosophie in ihrer Vergangenheit und Gegenwart dar und gibt einen Àberblick ihrer Ýberkommenen und gegenwÈrtigen Positionen, Problemstellungen und ProblemlÚsungen. Damit ist es zum einen historisch orientiert, zum anderen jedoch zugleich systematisch. Es bietet die VorzÝge einer historischen EinfÝhrung in die Philosophie und eines systematischen Durchgangs durch das philosophische Denken; es bietet themenorientierte Kurzmonographien ebenso wie ein funktionales Nachschlagewerk. Es stellt Wissen vor und regt an zum eigenen Denken. Das HandwÚrterbuch Philosophie ist aufgeteilt in drei große Abschnitte: Ein Àberblick Ýber die Geschichte der Philosophie von den Vorsokratikern bis zur Postmoderne (A Epochen) zeigt die großen Entwicklungslinien des philosophischen
8
Vorwort
Denkens auf. Dann folgt (B Denker) ein Alphabetisches Philosophenverzeichnis mit den wichtigsten Philosophen und ihren Lebensdaten. Hier sind auch Philosophen aufgenommen, die nicht aus dem europÈischen Kulturraum stammen, sofern sie, unabhÈngig von ihrer kulturellen Herkunft, die europÈische Philosophie bereichert haben. Dies unterstreicht den universalistischen Anspruch der Philosophie. Eine knappe Darstellung von Themen und Positionen der besonders hervorragenden Philosophen beschließt den Teil B. Der dritte Abschnitt (C Denkformen und Grundbegriffe) stellt in systematischer Absicht und alphabetischer Reihenfolge die wichtigsten philosophischen Methoden vor, die Hauptgebiete, Schulen und Disziplinen der Philosophie sowie die wichtigsten philosophischen Fachbegriffe, die zu ihrem VerstÈndnis nÚtig sind. Dabei wurde darauf geachtet, dass Tradition wie Gegenwart angemessen vertreten sind und dass
die Terminologien einzelner Schulen und Richtungen gleichmÈßig zu Wort kommen. Wer sich intensiver mit dem jeweiligen Problem beschÈftigen will, der findet entsprechende Querverweise auf andere Artikel sowie Hinweise auf weiterfÝhrende Literatur. Das Personen- und Sachregister im Anhang erleichtert den Zugriff auf spezielle Themen, Probleme und Philosophen. Dass insgesamt keine VollstÈndigkeit angestrebt werden konnte, versteht sich von selbst. Die Artikel sind von ausgewiesenen Spezialisten geschrieben (Verzeichnis der Autoren) und in sich voraussetzungslos verstÈndlich. So eignet sich das HandwÚrterbuch Philosophie zum einen als rasches Nachschlagewerk. Es lÈsst sich zum anderen aber auch insgesamt als eine EinfÝhrung in die Geschichte und Systematik der Philosophie lesen. Langenfeld, im Juli 2002
Wulff Rehfus
A Epochen
Altertum Der Begriff ›Philosophie‹ stammt aus der griechischen Antike, jenem Zeitabschnitt also, mit dem man gewÚhnlich die europÈische Kulturgeschichte beginnen lÈsst. Zuerst wurde er wohl von %Pythagoras (6. Jh. v. Chr.) verwendet, um die geistige Disposition zu bezeichnen, der es um Wissen (%sophia) im umfassenden Sinne zu tun ist. Die Liebe (philia) zu diesem Wissen wollte sich nicht mehr mit bloßen ErzÈhlungen (%Mythos) zufrieden geben, welche nicht ohne innere WidersprÝche auskamen, denn die alles beherrschenden GrundkrÈfte und MÈchte waren zutiefst ambivalent. Sie wollte vielmehr von der wuchernden Vielfalt der mythischen Vorstellungen Ýber die Entstehung der %Welt, die GÚtter, die NaturkrÈfte und die Gewalten, die das Leben der %Menschen schicksalhaft bestimmen sollten, zu einem einheitlichen %Prinzip (arche) gelangen, das die Vielheit widerspruchsfrei erklÈrbar macht, ohne auf ein der menschlichen %Erfahrung gÈnzlich fremdes und deshalb unberechenbares hÚchstes Wesen zurÝckgreifen zu mÝssen. Dieses Interesse, zu erforschen was das wahrhaft Seiende (%Sein) objektiv sei, hat die antike Philosophie bis zu ihrem Ende beherrscht, auch noch zu der Zeit, als sie sich mit Pyrrhon von Elis (um 365–275) und spÈteren Vertretern der %Skepsis zuwandte. Deren Verzicht auf die Erforschung dessen, was ist und die BeschrÈnkung auf das, was dem betrachtenden %Subjekt erscheint, bestÈtigt in der Polemik die Vorherrschaft der ›dogmatischen‹ Richtungen. Gemeinsam ist indessen den antiken Philosophenschulen vom Vorsokratiker Demokrit bis zu den Stoikern %Seneca und Marc Aurel, die Absicht, die Menschen durch die rationale ErklÈrung Èußerer
und innerer Natur zum glÝckseligen Leben zu befÈhigen. 1. In diesem Sinne ist die Philosophie schon in der vorsokratischen Periode ihrer Entwicklung in der europÈischen Welt dadurch charakterisiert, die Menschen durch sicheres Wissen von Angst zu befreien. Die %Natur ist nicht mehr das Aktionsfeld vieler GÚtter und Geister, die in den Gestirnen, dem Meer, den Bergen und BÈchen gegenwÈrtig sind; vielmehr wird Natur in der Interpretation der Vorsokratiker zum Reich rein materieller Prozesse, die gegenÝber den Absichten von GÚttern, Geistern und Menschen gleichgÝltig sind und eben deshalb nach unbeeinflussbaren %Gesetzen sich vollziehen. Die Philosophie vor %Sokrates, also in der Zeit von um 600–450 v. Chr., hat die immanente NaturerklÈrung gefÚrdert und zugleich durch die Frage nach dem ersten Prinzip alles Seienden ergÈnzt. Die zunÈchst einfach erscheinenden Antworten auf diese Frage sind indessen nicht Ausdruck einer noch unentwickelten %Kultur, vielmehr Èußert sich hier das Bewusstsein, dass die ErgrÝndung der Prinzipien des Seienden das Privileg derjenigen ist, die die FrÝchte einer zu ihrer Zeit hoch entwickelten Zivilisation genießen. Die Lehren der Vorsokratiker sind nur in Fragmenten, zumeist als Zitate bei anderen Autoren, Ýberliefert. In der ionischen Stadt Milet, einer reichen griechischen Kolonie in Kleinasien, lehrten um 550 v. Chr. %Thales, %Anaximander und Anaximenes. Sie bestimmten nacheinander das Wasser, das schlechthin Unbegrenzte (apeiron) und die Luft als Urstoff aller Dinge. Die wenigen Ýberlieferten Argumente fÝr diese %Prinzipien laufen darauf hinaus, die Vielheit der Natur-
10
Altertum
erscheínungen auf den einen Ursprung zu reduzieren, sodass das Viele als Spielart des Einen erscheint. Diesem ›materialistischen‹ Anfang der europÈischen Philosophiegeschichte steht in Pythagoras und seiner Schule gleichsam eine ›idealistische‹ ErgÈnzung gegenÝber, denn dieser Bewegung zufolge ist die Zahl das Urprinzip aller Dinge. Die Operationen mit den Zahlen gestatten die sicherste Erkenntnis, mit der sich nicht nur die Natur, sondern auch die menschlichen VerhÈltnisse bestimmen lassen. Die pythagoreische Richtung hat die %Wissenschaft nachhaltig geprÈgt, wovon in der Geometrie der Satz des Pythagoras und in der musikalischen Akustik das pythagoreische Komma deutliche Belege sind. Die auf Pythagoras folgende Generation von Philosophen nimmt auf die Natur und die VerhÈltnisse ihrer Momente schon nicht mehr so unmittelbar Bezug wie die FrÝheren. Xenophanes (um 570–480) begrÝndet die berÝhmte eleatische Schule, der nach ihm vor allem %Parmenides (um 540–480) und Zenon (um 490–440) angehÚren. Xenophanes ist der frÝheste Vertreter einer aufklÈrerischen Religionskritik, indem er die vielen GÚtter der griechischen und außergriechischen Kultur als entrÝckte Abbilder menschlicher Personen und Charaktere entlarvt. In diesen vielfÈltigen AusprÈgungen des GÚttlichen mÝsse indessen ein einheitliches Prinzip gemeint sein. Wie die vorsokratische Philosophie den Àbergang vom Mythos zum %Logos Ýberhaupt vollzieht, so wendet sich Xenophanes vom antiken %Polytheismus gedanklich zu einer Lehre von einem Prinzip, das auch den %Monotheismus denkbar macht. In dem berÝhmten Lehrgedicht des Parmenides wird dieser Gedanke weitaus konsequenter und systematischer gefasst: Nur das homogene, ungewordene und unvergÈngliche Sein ist, das Nichtsein ist nicht. Alles was nicht schlechthin ist, also alle rÈumlich und zeitlich endlichen Dinge, alle Bewegung und VerÈnderung, kann nur Schein (doxa) sein. Das Denken, das dies erkennt, ist selbst ein Seiendes und muss daher mit dem Sein identisch sein. Mit dieser Lehre wendete sich Parmenides scharf gegen die eines Èlteren Zeitgenossen. %Heraklit (um 550–480 v. Chr.) sucht das Prinzip alles Seienden nicht in einem Festen und UnverÈnderlichen, sondern im Werden. »Alles ist
im Fluss« lautet eines der von ihm Ýberlieferten Fragmente. Sinnbild dieses alles umfassenden Prozesses ist ihm das Feuer, das er geradezu als Urstoff annimmt, welcher freilich zugleich den Geist (logos) umfasst. Mit seiner Lehre stellt sich Heraklit nicht außerhalb der Thematik der Vorsokratiker, denen es um das erste Prinzip ging. Denn das Seiende, dessen Grund gesucht wurde, war stets die Natur (physis). Auch Empedokles (um 495–435), der die Lehre von vier an sich unverÈnderlichen Elementen vertritt, welche sich fortwÈhrend mischen und entmischen, lÈsst hiervon nicht ab. Ihm und den Atomisten Leukipp (*um 480 v. Chr.) und Demokrit (460–371) kommt es vielmehr darauf an, die fÝr die %Eleaten unerklÈrliche Bewegung der materiellen Natur mit deren These zusammenzubringen, dass das Seiende unverÈnderlich und unteilbar sei. Das monolithische Sein des Parmenides wird so gleichsam in viele StÝcke zerlegt, deren Verbindungen die sichtbaren und vergÈnglichen Dinge ausmachen. 2. Die klassische Periode der griechischen Philosophie wird durch die radikal aufklÈrerische StrÚmung der %Sophisten eingeleitet, die durch %Platon und %Aristoteles freilich nachhaltig in Verruf kam. In den Sophisten fanden diese bedeutendsten Autoren der antiken Philosophie ihre wichtigsten Gegner. Indem sie einige von deren bestechenden, aber im Kern oft falschen Argumentationen widerlegten, kamen sie zu ihrer eigenen Position. ZunÈchst sind die Sophisten indessen Vertreter jener geschichtlichen Epoche, in der Athen zur politischen und kulturellen Metropole wurde. Die Demokratisierung der athenischen Polis mit ihrem komplizierter werdenden Geflecht gesellschaftlicher Beziehungen der Menschen begÝnstigte die Rhetorik, die von den Sophisten vielfach auch zum Gelderwerb genutzt wurde. Dabei waren es einige Grundthesen, die die Reaktion des Sokrates und seines SchÝlers Platon hervorriefen. So lehrte Protagoras (um 485–410), der Mensch sei das Maß aller Dinge, also die RelativitÈt aller Erkenntnis, Hippias unterschied zwischen den Naturgesetzen und den jederzeit verÈnderbaren menschlichen Satzungen. Die rechtlichen und moralischen Normen rÝckten derart in den Mittelpunkt des Interesses, dass traditionelle gesellschaftliche Bedingungen in Frage gestellt wurden, so die Adelsvorrechte und sogar die Sklave-
Altertum
rei. Darin liegt das aufklÈrerische Verdienst der Sophisten. Sokrates (ca. 470–399) vertrat die Position, dass von der Natur nichts zu lernen sei und die Philosophie in der Selbsterkenntnis des Menschen ihre Aufgabe habe. Platon (um 427–347) beginnt deshalb mit ethischen Fragen. Seine Dialoge, die fast stets die stilisierte Figur des Sokrates beherrscht, suchen freilich die antidogmatische Gesamttendenz der Sophisten ad absurdum zu fÝhren und zu eindeutiger Begriffsbildung und zu beweisbaren SÈtzen zu gelangen. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es entgegen den sophistischen Thesen nicht doch ein nicht relativierbares Objektives, ein Gutes und Wahres an sich gebe, an dem Wahrheit und Tugend im AlltÈglichen zu messen wÈren, knÝpft Platon an die Problematik der frÝheren Denker an und unterscheidet wahres Sein von trÝgerischem Schein. Wie bei den konsequentesten Vorsokratikern stellt sich das bloß sinnlich Gewisse als unsicher heraus, wÈhrend das im Denken durch Beweis Gesicherte dem wirklich Seienden entspricht. Das Sinnliche ist nicht wirklich seiend, da es nur flÝchtiger Eindruck ist, den der konstante Begriff erst benennbar macht. Aus diesem Sachverhalt entwickelt Platon seine Ideenlehre. Die %Ideen sind das Bleibende im Fluss der Erscheinungen. Sie sind das wahre Sein, denn sie stellen die bei jeder bewussten Wahrnehmung und bei jedem Denkakt immer schon vorausgesetzte Ordnung dar, in der die Dinge erst bestimmt sind als das, was sie sind. Zugleich bilden sie die unabÈnderliche Rangordnung der Tugenden, die in der obersten Idee, dem Guten, grÝndet. Erkenntnis ist deshalb Wiedererinnerung der %Seele an die ihr eingeborenen Ideen (%ideae innatae). Aus dieser scharfen Scheidung der Sinnenwelt von der Ideenwelt ergibt sich das Problem, wie beide zusammenhÈngen. Den radikalen Bruch (chorismos) zwischen Sinnendingen (aistheta) und Gedankendingen (noeta) hat Platon in seiner Theorie der Teilhabe (methexis) zu Ýberwinden versucht. Danach sind die Ideen die %Urbilder, die von den Sinnendingen nur unvollkommen nachgeahmt werden. Der spÈte Platon hat die WidersprÝche, die auch hierin liegen, selbstkritisch gesehen und in einer systematischen Konstruktion zu lÚsen versucht, nach
11
der Einheit und Vielheit dialektisch aufeinander bezogen sind. BerÝhmtheit hat Platons Theorie des idealen Staates erlangt. GrÝndend in der Idee der %Gerechtigkeit, ist ein vollkommenes Gemeinwesen nach StÈnden gegliedert, die den HauptvermÚgen der menschlichen Seele entsprechen. Dem Stande der ErnÈhrer stehen die Soldaten und WÈchter und diesen allen die eigentlich Regierenden, die PhilosophenkÚnige vor. Die beiden oberen StÈnde sind strikt auf das Gemeinwohl hin erzogen und leben deshalb ohne Privateigentum und Familie. Platon hat mit seiner Akademie 387 v. Chr. eine Ýberaus einflussreiche Schule gegrÝndet. Die Akademie wurde erst 529 n. Chr. geschlossen. WÈhrend der nahezu tausend Jahre ihres Bestehens hat sie freilich die Lehre ihres GrÝnders vielfÈltig abgeÈndert und geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. So wurde sie am Ende von einem %Skeptizismus beherrscht, den noch %Augustinus (354–430) bekÈmpft. Die wichtigste mit dem Platonismus konkurrierende Schule war zunÈchst die peripatetische, die von Platons SchÝler Aristoteles begrÝndet wurde. In ihm erreicht die klassische Periode der griechischen Philosophie ihren HÚhepunkt. Die UniversalitÈt, mit der Aristoteles die Philosophie als enzyklopÈdische Wissenschaft entfaltete, ist in der Antike nicht mehr erreicht worden. Der Hauptdifferenzpunkt zwischen Platon und Aristoteles war der Dualismus von Ideen und sinnlicher Welt. Sind wahrhaft seiend nur die unverÈnderlichen Ideen, dann kommt dem einzelnen sinnlichen Ding als solchem kein Sein zu, wenngleich es durch Teilhabe an der Idee zu dem bestimmt wird, was es ist und, Spekulationen des spÈten Platon zufolge, aus der obersten Idee, dem Guten, geradezu abbildhaft hervorgegangen ist. Aristoteles stellt die RealitÈt der platonischen Ideen nicht in Frage, aber er kehrt die Richtung der begrifflichen Analyse um. Nicht ist auszugehen von den unter Abstraktion vom Sinnenschein gewonnenen Ideen, sondern von dem einzelnen Seienden, das daraufhin untersucht wird, was es denknotwendig zu einem solchen macht. Die Wissenschaft, die so verfÈhrt, ist allen anderen vorgeordnet. Von den unmittelbaren Nachfolgern des Aristoteles %Metaphysik genannt, gelangt sie durch fortschreitende rekursive Analyse zu den Weisen, in denen
12
Altertum
das Sein ausgesagt wird, den %Kategorien, zum %Wesen, den %Akzidentien und schließlich den GrÝnden, durch die Seiendes ist. Da die Ideen nur das Allgemeine, Wesenhafte an den Dingen reprÈsentieren, aber dem individuellen Ding Existenz zukommt, muss dieses aus komplementÈren Momenten zusammengesetzt sein. FÝr Aristoteles sind dies die bestimmende %Form und die von ihr bestimmte Materie, die im konkreten Ding vereinigt sind, sodass die selbststÈndige platonische Idee in die Dinge verlegt wird. Das Entstehen und Vergehen der einzelnen Dinge geschieht durch den Wechsel in der Zusammensetzung von %Materie und Formen. Hierbei bleiben die Gattungen und Arten der belebten und unbelebten Natur unverÈndert erhalten, wÈhrend die Individuen zeitlich beschrÈnkt sind. Dieser Prozess ohne Anfang und Ende hat freilich eine innere, kontinuierlich wirksame ZweckmÈßigkeit (%Teleologie) und ein bewegendes Prinzip, das selbst unbewegt ist. Derselbe Gedanke der Teleologie bestimmt auch die %Ethik, die von Aristoteles zuerst in systematischer Gestalt entwickelt und als ein Teil der Politik verstanden wird. Die einzelnen Tugenden der Einzelpersonen und der StÈnde haben danach ihren Zweck im guten, d. h. gesitteten Leben der Polis. Von nachhaltiger Bedeutung waren in der von Aristoteles begrÝndeten Schule von Peripatos die naturwissenschaftlichen Studien, besonders aber die Logik, die Aristoteles als Erster zur selbststÈndigen Wissenschaft erhob. Die peripatetische Schule hat bis in das erste nachchristliche Jh. bestanden, um dann mit dem Neuplatonismus zu verschmelzen. 3. Alexander der Große hatte durch seine Eroberungen die griechische Kultur mit vielen anderen in Kontakt gebracht, sodass sich viele orientalische EinflÝsse auf die europÈische Kultur geltend machten, die auch in der Philosophie zu bemerken sind, aber zu durchaus eigenstÈndigen Gestaltungen des Denkens fÝhrten. Der Niedergang der Polis fÝhrte teils zu einem RÝckzug ins Private oder zu skeptischer Resignation, teils zu einer die Grenzen der VÚlker Ýberschreitenden geistigen Haltung, welche zum ersten Mal in der Geschichte einen Begriff der Menschheit als Ganzer bildet. Diese so genannte hellenistische Epoche dauerte von Alexander (356–323) bis etwa 30 v. Chr., als die rÚmische Weltherr-
schaft etabliert war. Epikur (341-ca.270) und seine bis in die %Neuzeit wirksame Schule sind fÝr ihre materialistische Lehre von der Welt aus Atomen und mehr noch fÝr ihre Ethik berÝhmt geworden. Das GlÝck des Menschen besteht hiernach in individueller Lust, einem GemÝtszustand, der die Extreme des Schmerzes und des Rausches vermeidet und in der ZurÝckgezogenheit privater Freundeskreise gepflegt werden soll. Bis tief in die christliche ra reicht der Einfluss der %Stoa. BegrÝndet von Zenon aus Kition (ca.336–262), weist die Schule Ýber die fÝnfhundert Jahre ihres Bestehens viele heute kaum bekannte Vertreter auf. Ihre weithin materialistische Naturlehre, ihre Logik und Grammatiktheorie sowie ihre Lehre von der Weltvernunft sind gleichsam aufklÈrerisch geprÈgt, wÈhrend die Lehre vom Weltbrand, dem periodisch die Wiederkehr des Gleichen folgt, alte mythische Vorstellungen wieder belebt. Das Ideal der UnerschÝtterlichkeit, das die stoische Ethik bestimmt, zielt auf die Autonomie des Einzelnen, der sich in seinem Handeln von seiner Vernunftnatur, nicht von seinen Affekten leiten lassen soll. Die Weltvernunft, an der jeder Mensch ohne Ansehen seiner sozialen Stellung teilhat, begrÝndet zugleich die stoische Àberzeugung von der Kosmopolitie, der politischen Einheit der gesamten Menschheit. Diese Idee, von den Stoikern an prÈgend fÝr die europÈische Zivilisation, trug geistig auch das rÚmische Weltreich, das die verschiedensten Kulturen in sich vereinigte. Zu den bedeutendsten Vertretern der Stoa gehÚren in dieser Zeit Seneca (um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.), der unter Kaiser Nero Verwalter des Reiches war, der freigelassene Sklave Epiktet (um 55–135) und der Kaiser Marc Aurel (121–180). Die letzte philosophische Schule der Antike, der Neuplatonismus, leitet bereits zum %Mittelalter Ýber. Seine Lehre vom Ureinen, das sich durch %Emanation in den Geist und die Seele sowie in die Gattungen und Arten der Natur spezifiziert, wurde zuerst von %Plotin (ca. 205–270) schriftlich fixiert und von Proklos (412–485) in die christliche ra hineingetragen. In dieser Schule sollte nicht einfach die Philosophie Platons wiederbelebt werden, vielmehr wurde eine Synthese mit Lehren des Aristoteles angestrebt.
Mittelalter
K. S. Guthrie, A History of Greek Philosophy, 6 Bde., Cambridge 1965 1990 F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd.1: Die Philosophie des Altertums, hg. v. K. Praech ter, 12. Aufl. Berlin 1926 E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer ge schichtlichen Entwicklung, 3 Teile, 6. Aufl. Leipzig 1919 [Nachdruck Hildesheim 1963] G. M.
Mittelalter Verlegenheitsbegriff, mit dem die Humanisten die Periode zwischen dem Ende der Antike und ihrer eigenen Epoche bezeichnen wollten, welche sich als Wiedergeburt (Renaissance) der griechischen und rÚmischen %Kultur verstand. Das Ýber etwa tausend Jahre, vom Untergang des westrÚmischen Reiches (476) bis zur Reformation (1517), sich erstreckende Zeitalter gilt fÝr gewÚhnlich als die Epoche, in der das Christentum alle kulturellen und politischen Bereiche Europas beherrschte, in der jedenfalls von der Religion unabhÈngige Wissenschaft und Philosophie nicht existierte. Dieser bis heute verbreiteten Meinung ist entgegenzuhalten, dass die christliche Theologie von der Zeit der KirchenvÈter bis zur frÝhen Neuzeit auf philosophischen Grundpositionen beruhte. Sie ist geradezu selbst die fÝr die Epoche charakteristische Gestalt der Philosophie. Dies gilt nicht allein deshalb, weil die wichtigsten Traditionen der Antike im Mittelalter fortwirkten, sondern ebenso, weil im Mittelalter zu fast allen modernen Positionen die Grundlagen gelegt wurden. Die Philosophie, die in der SpÈtantike im Zeichen des Christentums sich artikulierte, hat von Anbeginn in einem eigentÝmlichen Sinne Tradition gebildet und diese durch die Konzentration des hÚchsten Lehramtes in der rÚmischen Kirche zum Kriterium von %Wahrheit gemacht. Dadurch wurde einerseits die geistige AbhÈngigkeit von den AutoritÈten der Vergangenheit zur Norm erhoben, andererseits aber ebenso jene systematische Disziplin des Denkens gefÚrdert, die das Vergangene in den Dienst des GegenwÈrtigen stellt. Dieses VerhÈltnis wandelt sich von der ehrfÝrchtigen Paraphrase kanonischer Texte im frÝhen Mittelalter zu deren scharfer logischer Analyse und immanenter Kritik in den hochmittelalterlichen Kommentaren und fÝhrt schließlich gegen Ende des 13. und zu Beginn des 14.
13
Jhs. zur Entdeckung eines eigenstÈndigen philosophischen %Selbstbewusstseins. Die geistigen Voraussetzungen der eigentlich mittelalterlichen Philosophie wurden in der Zeit der KirchenvÈter, also in der SpÈtantike geschaffen. Von den apostolischen VÈtern um 100 bis zu Gregor dem Großen (540–604) kennt die Patrologie weit mehr als hundert Autoren. So bemÝhten sich der MÈrtyrer Justinus, Tertullian, Origenes, Clemens von Alexandria und andere um die Verteidigung (Apologie) des noch nicht als Staatsreligion etablierten Christentums gegen die EinwÈnde der zeitgenÚssischen heidnischen Philosophie. Hierbei sieht sich die neue Lehre freilich genÚtigt, selbst philosophisch zu argumentieren. Auf diese Weise haben sich viele stoische Elemente, vor allem aber der %Neuplatonismus mit dem Christentum zu der ihm eigentÝmlichen Theologie verbunden. Nach dem Konzil von NicÈa (325), auf dem das Dogma von der WesensidentitÈt des Gottessohnes mit dem Vater beschlossen wurde, beschÈftigte sich eine große Zahl von Autoren mit der theoretischen Ausbildung einer Ýber die bildhaften biblischen Berichte hinausgehenden Theologie. Der philosophisch wichtigste dieser KirchenvÈter ist %Augustinus, dessen Lehre wÈhrend des gesamten Mittelalters in hohem Ansehen stand, wenn sie auch zuweilen kontrovers interpretiert wurde. Seine spekulative Darstellung der TrinitÈtslehre und sein VerstÈndnis der gÚttlichen Gnade haben Ýber die hochscholastischen Theorien des Intellekts und des Willens hinaus bis in die Neuzeit Wirkung ausgeÝbt. Vor allem aber hat Augustinus die Geschichte als ein neues Motiv der Philosophie entdeckt. Die Einmaligkeit der Geschichte, die auf das Heil der Menschheit als Ganzer hin geordnet ist, weist Ýber den Rahmen des antiken Denkens hinaus und bildet ein Leitmotiv aller spÈteren Epochen, besonders aber des Mittelalters. Der augustinische Dualismus des irdischen Reiches und des Gottesstaates hat den fortwÈhrenden und vielfÈltig sich Èußernden Antagonismus zwischen weltlicher Herrschaft und Kirche wÈhrend des gesamten Mittelalters bestimmt und die SÈkularisierung gefÚrdert, obwohl er die Menschheit aus der ProfanitÈt befreien und in der civitas Dei vereinigen wollte. Die neuplatonische Philosophie und deren nicht christliche Vertreter in der SpÈtantike,
14
Mittelalter
%Plotin und Proklos Diadochos, kamen dem christlichen Bestreben entgegen, seine Botschaft den philosophisch gebildeten Griechen und RÚmern begreifbar zu machen. Dabei kam es darauf an, die mythologischen Elemente des Christentums (SchÚpfung, Inkarnation, TrinitÈt, Auferstehung und ErlÚsung) als Vernunftlehren zu demonstrieren. Die SchÚpfung war in diesem Sinne neuplatonisch als %Emanation zu verstehen, als abbildhafter Hervorgang des Geschaffenen aus dem Ureinen, welches die christlichen Autoren mit dem persÚnlichen %Gott identifizieren. Die Dogmen der Inkarnation und der TrinitÈt finden ihre StÝtze in den Theorien der Selbstobjektivation der %Vernunft, die sich in einem aus ihr stammenden Anderen gegenstÈndlich wird, wÈhrend Auferstehung und ErlÚsung philosophisch die RÝckkehr des aus dem Einen Erzeugten in seinen Ursprung darstellen. Einige dieser Motive sind bereits bei Augustinus prÈsent, aber erst von Boethius konsequent philosophisch vereinigt worden. Boethius verdankt die mittelalterliche Philosophie die Kenntnis einiger logischer Schriften des Aristoteles und die weitgehende Latinisierung der philosophischen Terminologie sowie die Ausbildung der dialektischen, d. h. formallogischen %Methode. Sie ermÚglichte es dem philosophischen Denken, sich aus der AbhÈngigkeit von der AutoritÈt zu befreien und nur das gelten zu lassen, was nach dem Maßstab der Vernunft bewiesen werden kann. Diese Spannung zwischen Ýberkommener AutoritÈt und autonomer Vernunft bestimmt bereits das Denken des frÝhen Mittelalters und fÝhrt im 11. und 12. Jh. zum Streit um die dialektische Methode in der Theologie, d. h. um die AblÚsung der allegorischen und paraphrasierenden Auslegung der christlichen Lehren durch diskursive %Wissenschaft. Nach dem Zusammenbruch des rÚmischen Reiches war die bis zuBoethius und Cassiodor (um 427–562) relativ kontinuierliche Àbermittlung der klassischen Bildung fast ganz unterbrochen. Nur in einigen KlÚstern wurden alte Handschriften aufbewahrt, abgeschrieben und kommentiert. Vieles ging verloren, so unter anderem fast alle Werke von %Platon und Aristoteles. Karl der Große wollte mit seiner ReichsgrÝndung das rÚmische Imperium erneuern. Dieser Anspruch war politisch und religiÚs bestimmt, insofern das Reich den augustinischen Gottes-
staat vorbereiten sollte. Zugleich aber musste die Vielfalt der einander feindlichen StÈmme in einer politischen Einheit aufgehoben werden. Als konkretes Modell hierzu bot sich das antike Weltreich und sein geistiges Fundament an. Deshalb haben die Karolinger außer der Missionierung und Unterwerfung heidnischer StÈmme geradezu eine gewisse Renaissance antiker Bildung betrieben. So wurden von Alkuin (um 730–804) und Hrabanus Maurus (784–856) die Klosterschulen von Tours und Fulda gegrÝndet, die fÝr die Zivilisierung der mitteleuropÈischen VÚlker SchlÝsselfunktion hatten. An der Hofschule Karls des Kahlen lehrte Johannes Scotus Eriugena (um 810 – nach 877), der erste systematische Denker des Mittelalters. Hier gelangt die neuplatonische Lehre von der Welt als Theophanie, d. h. als Erscheinung Gottes, zur konsequenten Darstellung. Im Anschluss an PseudoDionysius Areopagita (um 500), der die Hierarchie der neuplatonischen Wesenheiten auf die SchÚpfung, die himmlischen Heerscharen und die Kirche Ýbertragen hatte, entwickelt Scotus Eriugena die Einteilung der Natur als einen von der gÚttlichen Spitze aus erfolgenden Prozess, der vom unbestimmten Einen zum gÚttlichen Wort, von dort zu den allgemeinsten Erstursachen, den Ideen, fortschreitet, um aus ihnen die sichtbare Welt hervorzubringen, welche sich im Menschen reflexiv auf ihren Ursprung zurÝckwendet. In dieser Position, die in der anschließenden frÝhscholastischen Periode bis ins 12. Jh. in verschiedenen Varianten vertreten wurde, kommt ein extremer Universalienrealismus zum Ausdruck. Das bedeutet, dass, wie bei Platon, nur dem Allgemeinen, in den universalen Wesensbegriffen der Gattungen, Arten und Unterschiede Bestimmbaren, RealitÈt zukommen sollte. Das einzelne Seiende (%Sein), das ein Wesen hat, ist als solches eine zufÈllige Vereinigung von %akzidenziellen, d. h. unwesentlichen Momenten. Der ungebrochene Universalienrealismus des frÝhen Mittelalters, der von neuzeitlichen Interpreten oft als naiv bezeichnet wird, entspricht einer geschichtlichen Epoche, in der weder die IndividualitÈt der außermenschlichen Dinge von theoretischem Interesse war, noch die Besonderheit der einzelmenschlichen Personen die entscheidende praktische Bedeutung hatte, die ihr in der Neuzeit zugemessen wird. In der
Mittelalter
vorwiegend stÈndisch und agrarisch organisierten Gesellschaft des frÝhen Mittelalters kam dem Einzelnen als solchem keine %Substanz zu, denn von ihm und seinem bewussten %Willen hing weder das irdische Wohl des Ganzen noch sein eigenes entscheidend ab. Im Gegenteil, die Entsagung vom Irdischen galt als Bedingung fÝr die Gnade der ErlÚsung. Im Hochmittelalter verlagert sich das theoretische und praktische Interesse so, dass nicht mehr allein das Substanziell-Allgemeine, das vermeintlich hÚhere Sein der Wesenheiten, der Beachtung wert ist, sondern vielmehr das einzelne Ding und die individuelle Person geradezu entdeckt werden. Der Aufschwung der StÈdte mit ihrer handwerklichen Kultur und ihrem Handels- und Geldverkehr bringt eine charakteristische SÈkularisierung des Geistes mit sich. Die konkrete Struktur des einzelnen Dinges und der einzelne Mensch werden zu neuen und zentralen GegenstÈnden des Bewusstseins, welches sich in einem großen philosophischen Umbruch niederschlÈgt. Die philosophisch bestimmte Naturwissenschaft bildet schon im 12. Jh. ein neues, produktives VerhÈltnis zu ihren GegenstÈnden aus, und in den gesellschaftlichen Beziehungen werden VertragsverhÈltnisse zwischen einzelnen Personen mit freiem Willen wichtig. Im Zuge dieser VerÈnderung wird offenkundig, dass der traditionelle Universalienrealismus in sich widersprÝchlich ist. Wenn nÈmlich dem Einzelding Sein zukommt und es zugleich TrÈger seiner allgemeinen Wesensbestimmungen ist, dann wÈre es Einheit von Entgegengesetztem und lÚste sich auf. Aus diesem zunÈchst unlÚsbar erscheinenden Widerspruch erÚffnet sich ein Ausweg, wenn die Begriffe und die aus ihnen gebildeten SÈtze nicht als getreues Abbild der Dinge angesehen werden, sondern als %Aussagen, die von einem denkenden %Subjekt formuliert werden. Die neue Theorie, dass der menschliche %Verstand nicht die wesenhaft allgemeinen Dinge kontemplativ abbildet, sondern durch von ihm gesetzte Zeichen die gegebene Mannigfaltigkeit operativ beherrscht, gelangt im %Nominalismus zur Entfaltung. Hier werden wichtige Elemente des modernen %Bewusstseins konzipiert. Roscelin (um 1050–1120) ist der erste bekannte Vertreter der These, dass nur die einzelnen Dinge real seien, die Vorstellungen von ei-
15
nem Ganzen sowie die Gattungs- und Artbegriffe demgegenÝber willkÝrliche Worte (flatus vocis) seien. Die nominalistische Provokation erfuhr heftigen Widerspruch von Anselm von Canterbury (1034–1109), dessen berÝhmter so genannter ontologischer Gottesbeweis aus dem Begriff des grÚßten denkbaren Wesens auf dessen Existenz schließt. Anselms große spekulative Anstrengung, die christlichen Lehren allein aus VernunftgrÝnden zu demonstrieren, ist als Versuch zu verstehen, gegen den %Nominalismus die ontologische RealitÈt der obersten theologischen Begriffe darzutun, um so die MÚglichkeit eines schon damals zweifelhaft gewordenen Glaubens zu retten. Mit Abaelard (1079–1142)erhÈlt der frÝhe Nominalismus seine erste reflektierte Gestalt. In seinen logisch-erkenntnistheoretischen Schriften nimmt er die kritische Position seines Lehrers Roscelin auf, um sie nochmals kritisch zu wenden. Die %Logik, die auch er als Wortwissenschaft und nicht als eine Realwissenschaft begreift, ergÈnzt er durch eine Bedeutungslehre, die den Worten als Setzungen des menschlichen Verstandes eine Entsprechung in den Dingen selbst verschaffen soll, ohne dass die grundsÈtzliche Einsicht in die subjektive Vermittlung allen Redens Ýber die Dinge aufgegeben wÝrde. In seinen erkenntniskritischen EntwÝrfen nimmt Abaelard kantische Motive vorweg, ebenso in seiner %Ethik. In dieser ersten konsequenten Individualmoral wird nicht das faktische Handeln ethisch beurteilt, sondern dessen innere BeweggrÝnde sind Beurteilungsgegenstand. Die mittelalterliche Philosophie orientiert sich im 12. und mehr noch im 13. Jh. grundsÈtzlich um. Der frÝhe nominalistische Impuls setzt sich verwandelt in einem neuen Bewusstsein fort, das sich immer mehr weltlicher Wissenschaft zuwendet, ohne deshalb deren theologische BegrÝndung zu vernachlÈssigen. Vermittelt durch die KreuzzÝge und den zunehmenden Handelsverkehr mit den islamischen LÈndern, kommt die mitteleuropÈische %Kultur in nachhaltigen Kontakt mit der arabischen, die sich in vielem als weit Ýberlegen erweist. Die naturwissenschaftlichen und medizinischen Kenntnisse ermÚglichen in ihrer praktischen und technischen Umsetzung ein hÚheres zivilisatorisches Niveau, als es im Bereich des Christentums gegeben war. Dessen mÚnchische
16
Mittelalter
Weltverachtung lÚste sich in den bahnbrechenden geistigen StrÚmungen des 13. Jhs. weithin auf. In dieser Periode erreichte die mittelalterliche Philosophie ihren HÚhepunkt. Dies war durch einige Epoche machende Neuerungen bedingt. Die vielfach durch jÝdische Gelehrte vermittelte Aufnahme der arabischen Wissenschaft vermittelte auch die Bekanntschaft mit deren theoretischer Grundlage. So wurden die Schriften des Aristoteles erst jetzt in vollem Umfang ins Lateinische Ýbersetzt und von den christlichen Gelehrten rezipiert – ein Ýber Jahrzehnte sich erstreckender Prozess, der wiederholte Konflikte mit der Kirche und der von ihr approbierten augustinischneuplatonischen Lehrmeinung mit sich brachte. In engem Zusammenhang mit der Aristotelesrezeption steht die GrÝndung der ersten UniversitÈten. Hier erhielt die Hochscholastik ihre Gestalt. Die bedeutendsten Denker dieses Jahrhunderts haben ihre wichtigsten Werke als LehrbÝcher verfasst. Die meisten von ihnen gehÚrten zudem einem der Bettelorden (Franziskaner, Dominikaner, Augustinereremiten) an, deren Aufgabe es war, in den StÈdten den christlichen Glauben intellektuell gegen die ketzerischen Bewegungen der Waldenser und Katharer zu verteidigen. In diesem Umkreis entstanden die riesigen Œuvres des Albertus Magnus (um 1200–1280) und seines SchÝlers %Thomas von Aquin, beide Dominikaner. Sie versuchten, die christlichen Glaubenslehren mit aristotelischen Mitteln systematisch als vernunftgemÈße Wissenschaft darzulegen. Hierbei leistet Albert die paraphrasierende Aneignung, wÈhrend Thomas aus dem analytischen Geist dieser Philosophie nicht nur das GebÈude der Theologie rekonstruiert, sondern auch das sÈkulare Denken selbst fÚrdert. %Glauben und Wissen sind in der Vernunft eines. Die %Welt, insgesamt eine nach unverÈnderlicher gÚttlicher Vernunftordnung zweckmÈßig bestimmte SchÚpfung, ist mit dem VermÚgen des diskursiven menschlichen Verstandes so erkennbar, dass sich ihr gÚttlicher Ursprung erschließt und die Menschen in ihr die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz fortschreitend verbessern kÚnnen. Die augustinische Heilsidee verbindet sich mit einer neuen innerweltlichen Fortschrittsperspektive. Diese wurde zur selben Zeit auch von den
so genannten lateinischen Averroisten um Siger von Brabant (um 1240–1284) und Botius de Dacia verfochten. Diese Gruppe, die mit Thomas von Aquin und Albertus Magnus wegen ihrer Lehre von der Einheit des Intellekts und der Ewigkeit der Welt im Disput stand, lÚste ihre streng aristotelische Philosophie ganz von der Theologie ab, wofÝr die gesamte Richtung auch 1277 kirchlich verurteilt wurde. Die Verdammung, in die auch einige Lehren des Thomas von Aquin einbezogen wurden, war stark beeinflusst von der rivalisierenden Franziskanerschule. BegrÝndet von Bonaventura (wohl 1221–1274), folgte sie entgegen der zeitgenÚssischen Tendenz zur SÈkularisierung traditionell augustinischen Denkmodellen, ohne freilich die Kommentierung des Aristoteles zu unterlassen. Trotz ihres ursprÝnglichen Konservatismus trug die Schule zur Entwicklung des modernen Denkens entscheidend bei. Die starke Betonung der gÚttlichen und menschlichen Willensfreiheit nahm der Weltordnung ihre wesenhafte UnverÈnderlichkeit. Diese Wendung, in der sich das Zerbrechen des mittelalterlichen Kosmos ankÝndigt, wird von dem Franziskaner Johannes Duns Scotus (um 1265–1308) in seinem umfangreichen Œuvre so subtil reflektiert, dass die %RationalitÈt der Welt noch einmal durch deren Subjektivierung gerettet wird. Dieselbe Erfahrung leitet die Divina Commedia von Dante (1265–1321), die die mittelalterliche Weltordnung nur mehr dichterisch beschwÚren kann. Ist die Verfassung der Welt zufÈllig, dann kann sie auch der menschliche Verstand mit seinen Allgemeinbegriffen (Universalien) nicht adÈquat erkennen. %Begriffe, %Urteile und %SchlÝsse sind %Zeichen und Zeichensysteme fÝr eine aus bloßen Einzeldingen bestehende Welt. Diesen radikalen Nominalismus vertrat Wilhelm von Ockham und leitete damit das SpÈtmittelalter ein. Der Nominalismus stand im 14. und 15. Jh. noch im Kampf mit Schulen, die einen restaurierten Neuplatonismus lehrten, gewann aber in der frÝhen Neuzeit die Oberhand. In derselben Zeit bildet sich auch die %Mystik Meister Eckharts (um 1260–1328), Seuses und Taulers heraus. Alle drei waren Dominikaner, wendeten sich aber von der durch Thomas geprÈgten Ordenstheologie ab, um unter Aufnahme neuplatonischer Motive die fÝr die Richtung eigentÝmliche Beziehung des kontemplativen
Renaissance
Subjekts auf sich selbst zu vollziehen, in dem die »Gottesgeburt« (Eckhart) geschehen soll. Charakteristisch ist, dass sich die Mystiker in der Volkssprache an das ›einfache Volk‹ richten wollen. K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustinus zu Machiavelli, Stuttgart 1986 G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992 F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 2: Die patristische und scholastische Philoso phie, bearb. von B. Geyer, Berlin 1928 G. M.
Renaissance – Humanismus Die Renaissance ist die Epoche zwischen dem Ende des %Mittelalters und dem Beginn der %Neuzeit, sie umfasst, mit Ausfransungen und Àberschneidungen an den RÈndern, ungefÈhr die drei Jahrhunderte von 1350 bis 1650, in der Geschichte der Philosophie die Zeit von Petrarca bis zu %Descartes. Sie ist fÝr die Geschichte der Philosophie und %Wissenschaft eine Epoche des Àbergangs, in der Altes und Neues sich vermischen: %Hegel spricht von »GÈrung«, von »großer OriginalitÈt« und »Energie des Geistes« bei gleichzeitiger »Verworrenheit«; %Cassirer bedauert, dass sie sich nicht »auf den Begriff« bringen lasse. Aber gerade diese ›SchwÈche‹ der Renaissance-Philosophie ist zugleich auch ihre StÈrke: In ihr ist noch nichts entschieden, sondern alles in Bewegung; in ihr gibt es keine klassischen Autoren, sondern nur klassische Probleme, LÚsungsansÈtze, Diskussionen; in ihr ist die Welt noch nicht geordnet, sondern wird nach den Grundlagen fÝr mÚgliche neue Ordnungen gesucht; in ihr gibt es keine VorlÈufer, die schon wissen, wohin die Reise geht, sondern Kundschafter, die neue Wege des Denkens und Handelns zu bahnen versuchen, deren einige dann von der Philosophie der Neuzeit eingeschlagen werden; in ihr findet der moderne Leser daher nicht nur, wie Hans Blumenbergs berÝhmtes Buch verspricht, die LegitimitÈt der Neuzeit, sondern auch einen unerschÚpflichen Vorrat aufgegebener, ungenutzter, vergessener AnsÈtze, deren theoretisches Potential darauf wartet, wieder
Humanismus
17
entdeckt und neu gestaltet zu werden, er begegnet den historischen Grundlagen und Bedingungen fÝr die Genese der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft ebenso wie dem Preis, der dafÝr zu entrichten war und der sich in den theoretischen und praktischen ›Folgelasten‹ bemerkbar machen wird. Die Bezeichnung ›Renaissance‹, die eine Erfindung des 19. Jhs. ist, betont nur einen Aspekt der Epoche, die neue Wendung zur heidnischen Antike, die – vollstÈndige – Wiedergewinnung des antiken Erbes einschließlich der gesamten Philosophie und Wissenschaften. Rezipiert wird nicht nur, wie in der %Scholastik, die aristotelische Tradition, sondern auch %Platon und der %Neuplatonismus, die skeptische Tradition, die %Stoa, Epikur und die kleineren philosophischen Schulen, auch der Mathematiker Archimedes, auch der Mediziner Galen. Der Name ›Renaissance‹ betont also die neuen Horizonte, die neuen MÚglichkeiten, an den Standard der Antike anzuknÝpfen und auf ihm aufbauend Ýber ihn hinauszugehen. Er betont den Aspekt der DiskontinuitÈt mit dem vorhergehenden Zeitalter, der Emanzipation aus der Enge des ›dunklen‹ Mittelalters und der religiÚsen Bevormundung in die Helle der %Vernunft und der %Autonomie des %Subjektes. Durch die einseitige Betonung der DiskontinuitÈt und der ›Emanzipation‹ vernachlÈssigt der Name ›Renaissance‹ aber den Aspekt der KontinuitÈt, der Verwurzelung in der vorhergehenden Scholastik, aus der die Epoche entsteht und auf der sie als ihrem Fundament ruht. Er verschweigt den Aspekt, unter dem die Renaissance nicht die Negation, sondern die Konsequenz des Mittelalters ist und unter dem die viel gepriesene Emanzipation keine heroische Befreiung, sondern eine aufgezwungene Àberlebensstrategie ist. Dieser Aspekt ist erst seit der Mitte des 20. Jhs. in den Blick gekommen, und er ist fÝr die Philosophie besonders fruchtbar. Er geht aus von der – von Heinrich Rombach diagnostizierten – »Selbstdestruktion der scholastischen Philosophie« und von der – von Gordon Leff beobachteten – dissolution of the medieval outlook am Ende des Mittelalters und fÝhrt zum – von Blumenberg beschriebenen – Kampf um die »Selbstbehauptung« des Menschen als Legitimation fÝr die neuzeitliche SÈkularisierung.
18
Renaissance
Humanismus
Beide Aspekte, der Aspekt der KontinuitÈt, welcher die Voraussetzung und die Bedingung fÝr die neue Wendung zur Antike darstellt, und der Aspekt der DiskontinuitÈt, unter dem die neuen zukunftsweisenden Entwicklungen erkennbar werden, kÚnnen nun, im 21. Jh., zusammengenommen werden, um ein begrÝndeteres VerstÈndnis des Ursprungs der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft zu gewinnen. Der ›radikale Aristotelismus‹, der im 13. Jh. in Paris gelehrt wurde, setzte in Àbereinstimmung mit dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff eine strenge Korrespondenz zwischen %Denken und %Sein voraus und forderte daher absolute Notwendigkeit nicht nur fÝr die logische Struktur des Denkens, sondern auch fÝr die ontologische Struktur des Seins. Gegen dieses Notwendigkeitsdenken, das ebenso wie in den natÝrlichen Prozessen auch im menschlichen Handeln einen strengen Determinismus annahm, vertrat im Àbergang vom 13. zum 14. Jh. der Franziskaner Johannes Duns Scotus in seinem so genannten %Voluntarismus die Hypothese, dass die Struktur des Seienden und des Handelns nicht notwendig und determiniert, sondern vielmehr kontingent und frei ist und leugnete eine Generation spÈter sein Ordensbruder Wilhelm von Ockham in seinem so genannten %Nominalismus die MÚglichkeit der realen Existenz von Universalem, wie z. B. des Menschen als solchem; er sprach allein den Einzeldingen, wie z. B. den Individuen Sokrates oder Platon, reale Existenz zu. Damit war die Àbereinstimmung, die Korrespondenz zwischen dem Denken, das den Kriterien der AllgemeingÝltigkeit und Notwendigkeit unterworfen ist, und dem Sein, das keiner notwendigen GesetzmÈßigkeit mehr unterliegt und aus einer unermesslichen Vielheit einzelner Dinge besteht, prinzipiell aufgehoben. Das Modell des erkannten Seins, das eine hierarchische Struktur universaler Begriffe darstellte, und das reale Sein, das aus gleichrangigen einzelnen Dingen bestand, waren auseinandergebrochen und der Anspruch von Philosophie und Wissenschaft, die %Wahrheit Ýber das Sein erkennen zu kÚnnen, war uneinlÚsbar geworden. So scheiterte die spÈtscholastische Philosophie an ihrem eigenen aristotelisch-scholastischen Wissenschaftsbegriff und hinterließ der auf sie folgenden Renaissance als Erbe die Aufgabe, einen
neuen Ansatz in Philosophie und Wissenschaft zu finden. Ein solcher Neuansatz wird in der ersten Phase des Àbergangs der Philosophie vom Mittelalters zur Neuzeit seit etwa der Mitte des 14. Jhs. von den BegrÝndern des Humanismus, allen voran Petrarca, gemacht. Man kann diese Phase daher auch die des Humanismus nennen und mit ihr die eigentliche Renaissance beginnen lassen. Die Humanisten verstehen die mangelnde Korrespondenz zwischen den universalen %Begriffen und der aus Einzeldingen bestehenden %RealitÈt nicht als Ende der Philosophie, sondern als ihren Anfang, als die Aufforderung, nach der %Erfahrung zu fragen, die den Begriffen zugrunde liegt und in der der Mensch den real existierenden einzelnen Dingen begegnet. Auf diese Weise werden die unmittelbare, eigene Erfahrung, experientia, und die mittelbare, in Texten Ýberlieferte fremde Erfahrung, historia, – die beide als Lehrmeisterin der Dinge, als magistra rerum, verstanden werden – zur primÈren Erkenntnisquelle aufgewertet. Dies fÝhrt kurzfristig zu einem ungezÝgelten Interesse an jeder Art von Einzelinformationen und zu jener wahllosen Rezeption der gesamten antiken Àberlieferung, die der Epoche den Namen der Renaissance gibt. Langfristig aber mÝndet es in der Ersetzung der metaphysischen WissensbegrÝndung, wie sie fÝr die Scholastik charakteristisch war, durch die %empirische WissenschaftsbegrÝndung, welche die Neuzeit auszeichnet. Das andere von der SpÈtscholastik ererbte Wissenschaftshindernis aber, die mangelnde Notwendigkeit der RealitÈt, begreifen die Humanisten als Chance fÝr den %Menschen, selbst schÚpferisch tÈtig zu werden und seine %Geschichte wie seine %Welt selbst frei zu gestalten. Sie betonen die %Geschichtlichkeit des Menschen, der stets im %Werden begriffen ist, und definieren ihn als Ebenbild des SchÚpfergottes – als imago et similitudo dei Creatoris – bzw. als homo faber, der, selbst ein Einzelding, ein Individuum, in einer Welt von Einzeldingen in allen Belangen selbst Verantwortung fÝr sich Ýbernehmen kann, aber auch muss: selbst denken, selbst handeln, selbst in ›persÚnlicher FrÚmmigkeit‹ sein VerhÈltnis zu %Gott regeln, selbst die Vielfalt von einzelnen Informationen zu einer Welt ordnen.
Renaissance
Die Humanisten entwickeln dazu eine Methode des Lesens, welche zunÈchst die geschriebenen BÝcher, hernach auch das Buch der %Natur, zu exzerpieren und in Einzelinformationen aufzulÚsen lehrt, die dem Leser anschließend zur Produktion eigener neuer Texte und Strukturen zur VerfÝgung stehen. In dem Maße, in dem die Humanisten in den folgenden Jahrhunderten die Elementarbildung in Europa Ýbernehmen und diese Methode verbreiten, werden sie den Grundstein fÝr die AuflÚsung des Ýberlieferten Weltbildes legen und eine Neuordnung der RealitÈt ermÚglichen und notwendig machen. FÝr eine solche Neuordnung der RealitÈt nach ihrer AuflÚsung in eine unermessliche Vielzahl von Einzeldingen und Einzelinformationen bedarf es neuer Ordnungskriterien – und je grÚßer die Zahl der Informationen wird, umso dringlicher wird der Bedarf an solchen Kriterien, wenn man nicht unter der Masse der Informationen ersticken will. Die Humanisten, die die RealitÈt als Raum des menschlichen Handelns verstanden, hatten versucht, die neue %Ordnung der Dinge am Handeln zu orientieren und den Stellenwert der einzelnen Informationen nach ihrem Nutzen fÝr mÚgliche Handlungsziele zu bemessen. Noch vor der Mitte des 15. Jhs. wird nun angesichts der Vielzahl mÚglicher Handlungsziele von dem in Florenz weilenden Griechen Georgios Gemistos Plethon die Frage nach einem einheitlichen, fÝr alle verbindlichen Ziel des menschlichen Handelns gestellt und der Versuch, diese Frage zu beantworten, wird zum Anlass der zweiten Phase der RenaissancePhilosophie, die von der planmÈßigen und umfassenden Rezeption Platons und der gesamten Tradition des %Neuplatonismus begleitet wird. Ausgangspunkt ist zunÈchst der – durchaus nicht neue – Ansatz, das Ziel des Menschen aus seiner Natur und diese wiederum aus der Natur des gesamten %Kosmos zu bestimmen. Neu ist jedoch der Versuch, die Natur des Kosmos selbst nicht auf der Grundlage einer begrifflich entwickelten %Ontologie, sondern auf der Grundlage einer geschichtsphilosophischen Konstruktion zu bestimmen – nÈmlich durch RÝckgriff auf die Èlteste, dem Ursprung der Welt am nÈchsten gelegene Lehre, deren Quelle wiederum eine allen Philosophien und Religionen gemeinsame Uroffenbarung sei.
Humanismus
19
Plethon hatte diese Èlteste Lehre in der Tradition der mythischen Gestalt des Persers Zoroasther gesehen. Die Florentiner aber glaubten, sie in den Schriften, die unter dem Namen des gypters Hermes Trismegistos Ýberliefert sind, wiedergefunden zu haben, und konstruierten eine lÝckenlose Filiation von Hermes bis zu Platon und %Plotin und in die eigene Gegenwart. Folglich bemÝhten sie sich nicht nur – vor allem durch die unermÝdliche ÀbersetzertÈtigkeit des Florentiners Marsilio Ficino in der 2. HÈlfte des 15. Jhs. –, um die Aneignung der neuplatonischhermetischen Lehre, sondern verstanden auch deren %Kosmologie mit ihrer Dynamik des Abstiegs vom Einen zum Vielen und der RÝckkehr vom Vielen zum Einen als exemplarisches Strukturmodell der Welt des menschlichen Handelns. Das primÈre Ziel des Menschen ist danach die RÝckkehr zum ursprÝnglichen Einen und die Vereinigung mit ihm, die entweder, wie bei Leone Ebreo, als Akt allumfassender Erkenntnis oder, wie bei Giovanni Pico della Mirandola, als beseligende Selbstaufgabe des Individuums im Akt liebender Vereinigung mit dem gÚttlichen Einen beschrieben wird. Das sekundÈre Ziel des Menschen aber ist die Selbsterhaltung in diesem Leben. Dazu handelt er in der Natur, indem er sich der Analogien und hnlichkeiten zwischen den Stufen des Kosmos bedient, um sich durch magische Praktiken der natÝrlichen Prinzipien und ÝbernatÝrlichen KrÈfte zu bemÈchtigen. Das Aufleben der okkulten Wissenschaften in der Renaissance, wie z. B. bei Agrippa von Nettesheim, hat hier seinen philosophischen Ursprung. In der Philosophiegeschichtsschreibung des %deutschen Idealismus werden die Vertreter des Florentiner Neuplatonismus als dessen VorlÈufer angesehen. Als dritte philosophische Hauptbewegung der Renaissance, die im 16. Jh. die dritte Phase der Renaissance-Philosophie bestimmte, kann die aristotelische Tradition betrachtet werden. Wie im Mittelalter war sie auch in der Renaissance die beherrschende Kraft in UniversitÈten und hohen Schulen und trug, da jeder Philosoph hier seine Grundausbildung erhielt, fÝr die KontinuitÈt der philosophischen Grundanschauungen und ihrer Terminologie Sorge. Anders als bis vor etwa 50 Jahren gelehrt wurde und seine
20
Renaissance
Humanismus
zeitgenÚssischen Gegner gern polemisch behauptet hatten, war dieser Aristotelismus nicht dogmatisch, blutlos, steril und vergreist, sondern er wusste durchaus auf die neue Situation in der Philosophie zu reagieren und die neuen Anregungen aus Humanismus und Neuplatonismus aufzunehmen und theoretisch zu verarbeiten. Das zeigt sich rein Èußerlich darin, dass er am Àbergang vom 15. zum 16. Jh., als Humanismus und Neuplatonismus in der Kraft ihrer BlÝte standen, nicht in den Hintergrund gedrÈngt wurde, sondern trotz aller Polemik seine Rolle in den UniversitÈten als Grundlage der gesamten Philosophie verteidigte und sogar zu neuer StÈrke heranwuchs: WÈhrend es bis zum Ende des 16. Jhs. in ganz Europa nur eine stÈndige und zwei zeitlich befristete Professuren fÝr platonische Philosophie gab, bildete sich innerhalb der aristotelischen Philosophie eine Vielzahl neuer Lehrmeinungen heraus, sodass man heute nicht mehr von dem Aristotelismus, sondern von den Aristotelismen der Renaissance spricht. Zugleich nahm die Zahl der Kommentare zu Werken des Aristoteles, die zwischen 1500 und 1650 entstanden, so gewaltig zu, dass sie grÚßer ist als die Zahl aller Aristoteles-Kommentare aus den Jahrhunderten vor dieser Zeit. Eine der Ursachen fÝr dieses Erstarken der aristotelischen Tradition war zweifellos ihre Offenheit gegenÝber der humanistischen Methode des exzerpierenden Lesens. Seit den zwanziger Jahren des 16. Jhs. begann der Logik-Unterricht in den UniversitÈten Europas mehr und mehr auf die Lesegewohnheiten seiner humanistisch vorgebildeten Studenten RÝcksicht zu nehmen und sich – wie z. B. in den Dialektiken des HollÈnders Rudolph Agricola und des Franzosen Petrus Ramus – mit den dadurch aufgeworfenen methodologischen Problemen auseinander zu setzen. Als eine andere, nicht weniger fruchtbare Ursache erwies sich die Bereitschaft der aristotelischen Tradition, sich nicht nur mit den spÈtantiken griechischen Aristoteles-Kommentaren auseinander zu setzen, die im Zuge der Rezeption des Neuplatonismus wiederentdeckt und Ýbersetzt wurden, sondern auch die Herausforderung der neuplatonisch inspirierten okkulten Wissenschaften anzunehmen und auf sie durch eigene theoretische Anstrengungen zu antworten. Wie schon vor 50 Jahren beobachtet und
durch die neuere Forschung bestÈtigt worden ist, hat die aristotelische Tradition der Renaissance sich im Gefolge der Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus seit dem Beginn des 16. Jhs. in zwei sich gegenseitig befehdende Aristotelismen gespalten, in einen nach dem arabischen Kommentator Averros benannten Averroismus, der – wie z. B. bei Augustinus Niphus – in großer NÈhe zum griechischen Aristoteles-Kommentator Simplicius die spirituellen Momente des Neuplatonismus so weit wie mÚglich integrierte und eine der Magie und den okkulten Wissenschaften nahe stehende, spekulative Naturphilosophie betrieb, und in einen sogenannten Alexandrismus, der – wie z. B. bei Petrus Pomponatius und seinen SchÝlern – inspiriert von dem spÈtantiken griechischen Kommentator Alexander von Aphrodisias, dessen naturalistische Ausrichtung weiterentwickelte. Er machte es sich zur Aufgabe, die angeblich magischen und okkulten Erscheinungen aufgrund natÝrlicher, auf sinnlicher Wahrnehmung beruhender %Prinzipien zu erklÈren und schlug den von den Humanisten vorbereiteten Weg zu einer empirischen Naturwissenschaft ein. Innerhalb beider Schulen wie zwischen ihnen findet eine intensive Methodendiskussion statt, die das Problem der Wissenschaftlichkeit von empirisch fundiertem Wissen nicht nur im Bereich der Natur-, sondern auch in dem der Geisteswissenschaften zu lÚsen versucht. Im Verlaufe dieser Diskussion wird eine Vielzahl methodischer Verfahren zur Gewinnung, Sicherung und Ordnung neuer Einsichten entwickelt: die philologisch-historischen Methoden ebenso wie die Hermeneutik, die mathematisch-empirischen Forschungsverfahren ebenso wie jene der systematischen Ordnungen. In ihrem Gefolge wird die vom Mittelalters als einheitliche Universalwissenschaft Ýberkommene Philosophie in die Vielzahl der methodologisch bestimmten modernen Einzelwissenschaften, der Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Mechanik nicht anders als der Geisteswissenschaften wie Anthropologie und Psychologie, historische und philologische Wissenschaften, Literaturwissenschaft und Kunsttheorie ausdifferenziert. H. Blumenberg, Die LegitimitÈt der Neuzeit, Frank furt/M. 1966 Ch. B. Schmitt, Aristotle and the Renaissance, Cam bridge/Mass. 1983
Neuzeit
Ch. B. Schmitt / Qu. Skinner / E. Kessler / J. Kraye (Hg.), The Cambridge History of Renaissance Philosophy, Cambridge 1988 E. K.
Neuzeit – Aufkla ¨ rung Der Begriff Neuzeit bezieht sich auf die historische Periodisierung mit der bekannten Zeiteinteilung der Geschichte in %Altertum, %Mittelalter und Neuzeit. Der Beginn der Neuzeit wird Ýblicherweise um 1400 angenommen, wobei die ersten 300 Jahre hÈufig als FrÝhe Neuzeit bezeichnet werden (%A Renaissance – Humanismus) und die spÈtere Neuzeit des 17. Jhs. in die Epoche der AufklÈrung des 18. Jhs. einmÝndet. WÈhrend der Begriff Neuzeit eine bloß chronologische Funktion erfÝllt, hat der Begriff AufklÈrung einen bestimmten Inhalt: Er bedeutet sowohl die historische Epoche der AufklÈrung als auch ein systematisches Programm, das bis in die Gegenwart aktuell geblieben ist und auch heute noch kontroverse Diskussionen auslÚst. Dem deutschen Wort ›AufklÈrung‹ entsprechen das englische enlightenment, das franzÚsische les lumires sowie das spanische las luces und das italienische illuminismo. Diese Begriffe sind bereits im 18. Jh. nachweisbar und belegen ein in ganz Europa verbreitetes SelbstverstÈndnis. In der alle Sprachen durchziehenden Lichtmetapher drÝckt sich die gemeinsame Leitidee aus, nach dem ›finsteren‹ Mittelalter nun das ›Licht der %Vernunft‹ leuchten zu lassen. Neben der gÚttlichen Offenbarung soll diesem zweiten Weg der Vernunfterkenntnis Geltung verschafft werden, indem die Menschen sich auf ihre eigenen FÈhigkeiten besinnen. Bezog sich diese Art AufklÈrung zunÈchst auf die theoretische Erkenntnis insbesondere in den Naturwissenschaften, so wurde sie zunehmend auf die Gebiete der sozialen Praxis Ýbertragen wie auf %Politik, %Moral und %Geschichte. So markiert AufklÈrung eine doppelte Bewegung: Zum einen war fÝr sie die %Kritik an einer Tradition typisch, die als dogmatisch und unfrei empfunden wurde; exemplarisch ist hier Bayles Kritisches und historisches WÚrterbuch zu nennen. Zum andern unternahmen die AufklÈrer den Versuch, ein neues und eigenes GedankengebÈude zu errichten. % Kant hat in seiner Schrift Was ist AufklÈrung? von 1784 diesen
Aufkla ¨ rung
21
Prozess im RÝckblick als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten UnmÝndigkeit« charakterisiert. In diesem Sinn kann die AufklÈrung auch als Projekt der Moderne verstanden werden: Sie ist in wesentlichen ZÝgen profan, indem sie allein irdische Fakten und Ursachen gelten lÈsst; sie ist reflexiv, weil sie das neue Wissen letztlich im eigenen VermÚgen der Menschen zu begrÝnden versucht; und sie ist ihrem Anspruch nach tolerant, weil der Verlust alter Gewissheiten zu der Konsequenz fÝhrt, sich mit prinzipiell widerlegbaren und unterschiedlichen Auffassungen auseinander zu setzen. Die Grundlage der neuzeitlichen Philosophie des 17. Jhs. bildete die zu dieser Zeit entstandene Naturwissenschaft, namentlich die Physik von Galileo Galilei und Isaac Newton. Auch wenn aus heutiger Sicht erwiesen ist, dass diese Wissenschaft keineswegs nur mit der Vergangenheit gebrochen hat, sondern der spÈtmittelalterlichen Tradition mehr gedankliche Vorarbeiten verdankte, als sie selber zuzugeben bereit war, so wurde sie von den zeitgenÚssischen Philosophen als der entscheidende wissenschaftliche Durchbruch interpretiert, erÚffnete sie doch fÝr die philosophische Reflexion sowohl ein neues Weltbild als auch eine neue Methode wissenschaftlichen Arbeitens. Nur vordergrÝndig wurde zunÈchst um ein heliozentrisches Weltbild gestritten, im Kern ging es bereits um die Vorstellung eines unendlichen Universums, das allein von natÝrlichen %Ursachen bestimmt wird. Und wÈhrend sich Galilei noch auf die Beschreibung mechanischer Bewegungen beschrÈnkte, kamen spÈtestens mit Newton physikalische KrÈfte ins Spiel, sodass die Welt der materiellen KÚrper als ein sich selbst bewegendes %System vorstellbar wurde. %Descartes hatte sich in seinem metaphysischen Entwurf noch an Galilei orientiert, aber seit dem niederlÈndischen Philosophen %Spinoza, seit %Leibniz und Christian Wolff sowie seit %Voltaire setzte man – bei allen Unterschieden – ein eigendynamisches Planetensystem voraus. Die Welt schien sich wie eine Uhr nach ewigen, gleichfÚrmigen und zugleich harmonischen Gesetzen zu bewegen, ohne dass es eines gÚttlichen Eingriffs bedurfte. Die letzte theologische Konsequenz war der %Deismus, demzufolge Gott die Welt einmal erschaffen haben mag, ihr
22
Neuzeit
Aufkla ¨ rung
jedoch nach dem SchÚpfungsakt Èußerlich bleibt. Nicht minder bedeutsam waren methodische Reflexionen, die sich am experimentellen Verfahren und an der Mathematisierung der Naturwissenschaften orientierten. ZunÈchst faszinierten die neuen AnwendungsmÚglichkeiten der Mathematik, deren exakte Regeln Descartes seinem Diskurs Ýber die Methode zu Grunde legte. Er entwarf darin die Methode der Analyse und Synthese, der zufolge ein Gegenstand in seine einfachsten Elemente zu zerlegen und dann wieder schrittweise zusammenzusetzen sei, um seinen inneren Aufbau und seine Funktionsweise zu erkennen. Descartes glaubte dabei, die physikalische Welt letztlich aus mathematischen Axiomen deduzieren zu kÚnnen. DemgegenÝber entstand vorwiegend in England die Alternative der induktiven Methode, die vorschreibt, von den Èußeren Wahrnehmungen auszugehen und allein durch Erfahrung auf verborgene Ursachen zu schließen. Zu Beginn des 17. Jhs. propagierte F. %Bacon in seinem Neuen Organon das naturwissenschaftliche Experiment und forderte eine neue Methode technischer Erfindungen, damit die Menschen ihr Wissen auch praktisch nutzen kÚnnen. Gleichzeitig mit Newton begrÝndete %Locke eine Theorie der Erfahrung, die in England von %Berkeley und %Hume sowie in Frankreich von Condillac fortgefÝhrt wurde. Der seitdem eingebÝrgerte Gegensatz zwischen %Rationalismus und %Empirismus darf aus heutiger Sicht jedoch nicht Ýberbewertet werden, da die genannten Philosophen einschließlich Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft in dem Grundsatz Ýbereinstimmten, dass der Mensch das Material der Erkenntnis durch die Èußeren Sinne empfÈngt, durch %Erfahrung zu gewissen RegelmÈßigkeiten gelangt und schließlich durch den Verstand allgemeine GesetzmÈßigkeiten zu formulieren imstande ist. Mit dieser %Methode glaubten Descartes und spÈtere Philosophen Ýber ein universelles Mittel zu verfÝgen, das sich auch auf andere Gegenstandsbereiche anwenden ließ. ZunÈchst war es der menschliche KÚrper, der sich analog zur Èußeren Natur als Mechanismus deuten ließ. Aus dieser Art %Anthropologie entstand eine erklÈrende Theorie der menschlichen Affekte, die wiederum die Grundlage fÝr die neuzeitliche Ethik und politische Philosophie bildete. Spinoza
entwarf eine rationale Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, und %Hobbes begrÝndete im Leviathan eine am Vorbild der Naturwissenschaften orientierte Theorie des Staates. Ausgehend von den Erfahrungen des englischen BÝrgerkriegs setzte Hobbes als Elemente des »politischen KÚrpers« Individuen voraus, die primÈr nach Selbsterhaltung streben und infolge des Mangels an GÝtern zwangslÈufig in einen Konflikt geraten. Aus diesem Dilemma des so genannten Naturzustandes sollte ein Vertrag herausfÝhren, in dem die Menschen ihre Rechte an eine Staatsgewalt abtreten. Locke betonte spÈter den parlamentarischen Charakter des modernen Staates und fÝhrte den Aspekt der Gewaltenteilung ein, wÈhrend Rousseau am Vorabend der FranzÚsischen Revolution den demokratischen Aspekt radikalisierte. Gleichwohl blieb die Theorie des %Gesellschaftsvertrags das Grundmodell der politischen Philosophie der AufklÈrung; an die Stelle des Herrschers von Gottes Gnaden trat ein allein von den Menschen geschaffener und legitimierter %Staat. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welche neuen Erkenntnisse im 18. Jh., dem Zeitalter der AufklÈrung im engeren Sinn, Ýberhaupt noch hinzugekommen sind. Sicherlich trifft es zu, dass viele der erwÈhnten TheorieansÈtze nur fortgeschrieben oder lediglich modifiziert wurden. Aber die AufklÈrung beschrÈnkte sich keineswegs auf die bloße Verbreitung oder gar Popularisierung des einmal erreichten Wissensstandes. DarÝber hinaus sind im 18. Jh. vÚllig neue wissenschaftliche und philosophische Disziplinen hinzugekommen, die der europÈischen Bewegung der AufklÈrung eine Ýberraschende und interessante Wendung gaben. Im Bereich der %Erkenntnistheorie entdecken die AufklÈrer die besondere Rolle der %Sprache und Schrift. Sie wurde nicht mehr bloß als Ausdruck bereits fertiger Vorstellungen und Gedanken betrachtet, vielmehr kam seit Locke und insbesondere bei Condillac die konstitutive Funktion sprachlicher Zeichen fÝr Wahrnehmung und Denken ins Spiel. Diese These wurde in zahlreichen Untersuchungen zur Sprachentstehung etwa von Herder und bei Alexander von Humboldt untermauert. Auf sozialwissenschaftlichem Feld wurde zum ersten Mal der spezifische Bereich der %Gesellschaft entdeckt. Montesquieu hat in Vom Geist
Neuzeit
der Gesetze die Regierungsformen, Lebensgewohnheiten und Wertvorstellungen der VÚlker mit den natÝrlichen Lebensbedingungen wie Klima und Bodenbeschaffenheit in Beziehung gesetzt und ist dadurch zu einem BegrÝnder der modernen Soziologie geworden. Diese Entwicklung wurde durch die Entstehung der politischen ³konomie entscheidend vorangetrieben. Die Entdeckung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Úkonomischer GesetzmÈßigkeiten fÝhrten zu der sozialphilosophisch bedeutsamen Konsequenz, dass der Gesellschaft – unabhÈngig von der Politik – eine spezifische Form des Zusammenlebens, der sozialen KausalitÈt und Dynamik zuerkannt wurde. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften sind die neuen Disziplinen Geologie und Biologie entstanden, die ansatzweise eine Historisierung der %Natur zu Folge hatten. Indem untereinanderliegende Erdschichten freigelegt wurden, trat zutage, dass dieser Planet und mÚglicherweise das gesamte Planetensystem eine Geschichte hat, wie schließlich Kant in Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels darlegte. Die genauere Analyse von Wachstumsprozessen fÝhrte im 18. Jh. zu vielfÈltigen Spekulationen Ýber die Entwicklung der Lebewesen. Dynamisierung der Gesellschaft und Historisierung der Natur bildeten schließlich die Voraussetzungen fÝr eine Philosophie der %Geschichte, die ziemlich genau um die Mitte des 18. Jhs. entstand und erstmals Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhob. Im Kern versicherte man sich darin der bisher geleisteten Fortschritte auf wissenschaftlichem, technischem und wirtschaftlichem Gebiet. FÝr die Zukunft erwartete man nicht nur eine Fortsetzung, sondern auch eine Erweiterung der Fortschritte in Richtung soziale %Gerechtigkeit, Moral und Politik. Man darf sich diese Zukunftserwartung jedoch nicht ganz so optimistisch vorstellen, wie den AufklÈrern hÈufig nachgesagt wird. Am Anfang stand eher die Angst vor einem erneuten Niedergang, der von der alten Zyklentheorie suggeriert wurde. Herder kritisierte bereits die Idee des Fortschritts, und Kant hat sich zu den Aussichten auf eine stete Verbesserung der menschlichen LebensverhÈltnisse eher skeptisch geÈußert. Eine solche Skizze der Grundlinien der AufklÈrung darf nicht darÝber hinwegtÈuschen,
Aufkla ¨rung
23
dass diese Bewegung nicht als monolithischer Block missverstanden werden sollte. Bei allen Gemeinsamkeiten werden in neuen Forschungen zur europÈischen AufklÈrung die regionalen Unterschiede geltend gemacht. Frankreich hat sicherlich eine Vorreiterrolle gespielt, wie Voltaires beißende Kritik am Absolutismus und an der katholischen Kirche belegt, die ihn wiederum zur Zielscheibe der Gegenkritik machte. Die englische bzw. schottische AufklÈrung war politisch gemÈßigter, wie auch die deutschen AufklÈrer sich mehr um eine VersÚhnung von Philosophie und Religion bemÝhten. In Italien und Spanien hatten die AufklÈrer noch mit grÚßeren WiderstÈnden zu kÈmpfen. Außerdem sollte nicht Ýbersehen werden, dass sich nicht alle Philosophen des 18. Jhs. als AufklÈrer verstanden haben, sondern dass sich nicht wenige Autoren dieser Bewegung widersetzt haben. Nicht selten hat diese Gegenkritik wiederum zu wichtigen Modifizierungen und Differenzierungen Anlass gegeben, sodass die starren Fronten zwischen AufklÈrung und GegenaufklÈrung teilweise fließend waren. Auf jeden Fall hat sich durch derartige Debatten der aufklÈrerische Denkstil insgesamt verbreitet. Dazu haben nicht zuletzt die neu gegrÝndeten Akademien, die literarisch-philosophischen Salons, ein sprunghaft expandierender Buchmarkt und zahlreiche Zeitschriften beigetragen. Das herausragende Beispiel ist die von D’Alembert und Diderot herausgegebene EnzyklopÈdie, in der das gesamte Wissen und KÚnnen der Zeit, von den neuen Wissenschaften bis zur reich illustrierten Dokumentation zeitgenÚssischer Handwerke, gesammelt und in hoher Auflage verbreitet wurde. Praktisch geworden ist die AufklÈrung nicht zuletzt auf dem Feld der Erziehung, wie zahlreiche Reformversuche und begleitende Traktate belegen. Dabei stellte sich die Erziehung von MÈdchen als ein unerwartetes Problem heraus. WÈhrend im 17. Jh. Poullain de la Barre von dem cartesischen Grundsatz ausging: »Der Verstand hat kein Geschlecht« und fÝr eine gleiche Erziehung der Geschlechter eintrat, setzte sich um die Mitte des 18. Jhs. die von Rousseau in seinem Erziehungsroman Emile propagierte Auffassung durch, dass MÈdchen weniger intellektuelle FÈhigkeiten hÈtten und fÝr ihre spezifisch sozialen Aufgaben durch eine andere Art Erziehung vorzubereiten seien.
24
Deutscher Idealismus
Wie ist die AufklÈrung aus heutiger Sicht zu beurteilen? ZunÈchst ist an den hÈufig Ýbersehenen Umstand zu erinnern, dass die AufklÈrung schon seit ihrer Entstehung umstritten war, sich gegenÝber ihren Gegnern immer schon zu rechtfertigen hatte und vor allem auch zur Kritik an ihren eigenen Prinzipien fÈhig war. Der prominenteste Vertreter dafÝr dÝrfte Rousseau sein, der ja durchaus vom aufklÈrerischen Prinzip der PerfektibilitÈt des Menschen ausging, aber den bisherigen Geschichtsverlauf als einen Irrweg brandmarkte, der zu Ungerechtigkeit und Entfremdung gefÝhrt habe, und einen alternativen Weg zur Wiedergewinnung der sozialen Gleichheit vorschlug. Herder machte gegen den Fortschrittsgedanken die Besonderheit der Kulturen geltend, so wie Kant, der von Rousseau tief beeindruckt war, den Fortschritt weniger als ein empirisches Faktum als eine regulative Idee betrachtete, die zum moralischen Handeln verpflichtet. In solchen selbstkritischen AnsÈtzen manifestierte sich die MÚglichkeit einer AufklÈrung Ýber die AufklÈrung. Im 19. und 20. Jh. radikalisierte sich die Kritik an der AufklÈrung. Mit %Nietzsche, %Marx und Freud kamen die unbewussten TriebkrÈfte menschlichen Handelns sowie die gesellschaftlichen Interessen zum Vorschein, die sich ›hinter dem RÝcken‹ der Menschen durchsetzen. Bis in die Gegenwart einflussreich ist die Dialektik der AufklÈrung von Horkheimer und %Adorno, welche die These vertraten, dass »die vollends aufgeklÈrte Erde . . . im Zeichen triumphalen Unheils« strahle. Nach den Erfahrungen totalitÈrer Herrschaft, nach zwei Weltkriegen, Hiroshima und Auschwitz glaubten sie im identifizierenden Denken und in der daraus resultierenden Naturbeherrschung seit den AnfÈngen der abendlÈndischen Kultur den Keim fÝr den modernen Totalitarismus gefunden zu haben. Was bleibt heute von der AufklÈrung Ýbrig? Problematisch dÝrfte es sein, in ungeschichtlicher Manier die AufklÈrung fÝr alle negativen Kehrseiten der gegenwÈrtigen wissenschaftlichtechnischen Zivilisation verantwortlich machen zu wollen. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern verkennt auch die Leistungen der AufklÈrung. Auch wenn einige Vorstellungen unerfÝllt geblieben sind und wenn manche Traditionen zerstÚrt wurden, weil sie als Ballast eines universalen Fortschritts erschienen, so haben
doch viele Postulate ihre Bedeutung bewahrt wie politische %Freiheit, rechtliche Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, %Toleranz, Meinungsfreiheit, autonome Verantwortung und Demokratie. Angesichts der aktuellen Debatten Ýber %Menschenrechte ist daran zu erinnern, dass es sich dabei um ein Erbe der AufklÈrung handelt. So ist die AufklÈrung als historische Konstellation nicht von Dauer gewesen, Ýbt jedoch bis heute eine dauerhafte Wirkung aus. E. Cassirer, Philosophie der AufklÈrung, TÝbingen 1932 J. Kopper, EinfÝhrung in die Philosophie der AufklÈ rung, Darmstadt 1979 P. Kondylis, Die AufklÈrung im Rahmen des neuzeit lichen Rationalismus, Stuttgart 1981 W. Schneiders, Das Zeitalter der AufklÈrung, MÝnchen 1997 : Lexikon der AufklÈrung, MÝnchen 2000 J. R.
Deutscher Idealismus Die Jahreszahlen 1781 und 1831 begrenzen Èußerlich jenen Zeitraum, den man deutschen %Idealismus nennt. 1781 ist %Kants Kritik der reinen Vernunft in erster Auflage erschienen. 1831, fÝnfzig Jahre spÈter, ist %Hegel in Berlin plÚtzlich und unerwartet als Opfer einer vorbeiziehenden Cholera-Epidemie gestorben. Die Jahre zwischen 1781 und 1831 gelten zu Recht als eine der außergewÚhnlichsten Epochen in der gesamten uns bekannten Philosophiegeschichte. In hohem Maße erstaunlich ist jedenfalls die FÝlle der sich abwechselnden Autoren und SystementwÝrfe, die IntensitÈt der philosophischen GedankenbemÝhung und der hohe Anspruch, auf einer metaphysischen Grundlage, die dem SelbstverstÈndnis der modernen Welt soll standhalten kÚnnen, denkend auf den Begriff zu bringen, was die Welt im Innersten zusammenhÈlt. Dass Kant mit seinem Werk einen der wichtigsten Einschnitte in der modernen Philosophieund Geistesgeschichte darstellt, stand seiner eigenen Zeit und auch ihm selbst deutlich vor Augen. Kant wollte die gesamte bisherige Philosophie durch eine neue kritische Methode auf eine bislang unbekannte sichere Grundlage stellen. Dabei hatte er kritisch vor allem die einander widerstreitenden metaphysischen Systeme des %Rationalismus und der Schulphilosophie des
Deutscher Idealismus
18. Jhs., der Schule von Wolff und Baumgarten, vor Augen. Gegen die ausufernden und offenkundig unhaltbaren AnsprÝche der dogmatischen %Metaphysik wollte Kant eine SelbstprÝfung der menschlichen Vernunft in Gang setzen, die Ýber Ausmaß und Grenze der menschenmÚglichen Erkenntnis sicheren Aufschluss geben kÚnnen sollte. Genau dies versucht die Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. Aufl. 1787). Auf der Grundlage der Vernunftkritik sollte Kant zufolge die Metaphysik erneut, diesmal aber wissenschaftlich haltbar und abgesichert systematisch aufgebaut werden. Niemand nach Kant konnte daher in dem Versuch, Philosophie oder Metaphysik zu betreiben, in die als unhaltbar erwiesenen Behauptungen der Zeit vor Kant zurÝckfallen. Gerade dies macht das kritische Unternehmen des »Alleszermalmers« Kant, wie ihn Moses Mendelssohn genannt hat, zu einem Einschnitt. Kants kritische Philosophie zeigt, dass alle Erkenntnis, die objektiv gÝltig genannt werden kann, bestimmten subjektiven Erkenntnisbedingungen unterliegt. Die GegenstÈnde unserer Welt sind ihrem ontologischen Status nach wirklich und existieren unabhÈngig von uns; sie sind aber zugleich ihrer Erkennbarkeit nach ideell, also bewusstseinsabhÈngig, insofern wir sie nur nach den formalen Bedingungen unserer ErkenntnisfÈhigkeit Ýberhaupt erkennen kÚnnen. Dies ist der Inhalt von Kants berÝhmter kopernikanischer Wende in der %Erkenntnistheorie, fÝr die er auch den Namen »transzendentaler Idealismus« gewÈhlt hat. Der folgenreiche Kern dieses erkenntnistheoretischen Idealismus ist die Einsicht, dass wir die GegenstÈnde unabhÈngig von unseren subjektiven Bedingungen, also so, wie sie hypothetischer Weise »an sich selbst betrachtet« sein mÚgen, gar nicht erkennen kÚnnen. Stattdessen richten sich die GegenstÈnde unserer Erfahrung nach genau denjenigen GesetzmÈßigkeiten, unter denen wir allein Erfahrung haben kÚnnen. Kant folgert daraus, dass der %Verstand der %Natur die Gesetze vorschreibt. Deshalb kann sie sicherer Erkenntnisgegenstand der Naturwissenschaft sein. In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant den %Ideen der %Vernunft einen nicht legitimen konstitutiven Charakter fÝr die %Erkenntnis ab und ordnet ihnen einen legitimen regulativen Charakter zu. Das heißt: Durch die Ideen
25
der Vernunft erkennen wir nichts, weil ihnen kein Gegenstand der Erfahrung entspricht; die Ideen vermehren nicht die Welt unserer Erfahrung. Dennoch nutzt die Vernunft ihre Ideen, um die Ansammlung der %empirischen Einzelerkenntnisse in einer Gesamtperspektive zu ordnen. So bezeichnet etwa die Vernunftidee vom Weltganzen aller erfahrbaren GegenstÈnde selbst keinen anschaubaren Gegenstand; sie stellt aber einen perspektivischen Einheitsrahmen dar, damit unsere Erkenntnis in der Unendlichkeit der faktischen Einzelerkenntnisse nicht den Verstand zu verlieren braucht. Die dogmatische Metaphysik aber hatte Kant zufolge die Ideen mit erfahrungsunabhÈngigen GegenstÈnden identifiziert. Die dogmatisch-metaphysische Rede von %Gott, %Welt, %Freiheit und %Seele ist aber sinnlos, weil sie von etwas handelt, das nie Gegenstand unserer Erkenntnis werden kann, das also fÝr uns im strengen Sinne keine Existenz hat. Damit erreicht Kant die gesuchte kritische Grenzziehung. Die erkenntniskritischen Àberlegungen Kants machen demnach die dem %Menschen zugÈngliche ObjektivitÈt von den Bedingungen der SubjektivitÈt abhÈngig. Damit wird aber auch das Problem prominent, was unter %Subjekt und SubjektivitÈt Ýberhaupt zu verstehen ist. In der transzendentalen %Deduktion der %Kategorien hat Kant die objektive GÝltigkeit der Erkenntnisurteile auf eine so genannte »transzendentale Apperzeption« zurÝckgefÝhrt. Damit ist eine grundlegende %Handlung des Subjekts gemeint, die darin besteht, sich aller ihm prÈsenten Bewusstseinsinhalte prinzipiell als seiner eigenen ausdrÝcklich bewusst zu werden. Kant hat diese Handlung sogar den »hÚchsten Punkt« der %Transzendentalphilosophie genannt. Die nachfolgenden Idealisten haben darin eine der tiefsten, aber auch dunkelsten AuskÝnfte Kants gesehen und genau an diesem Punkt mit ihren alternativen SystementwÝrfen begonnen. Das Problem der SubjektivitÈt und die Frage, wie Subjekte von sich selbst %Bewusstsein haben kÚnnen, sind auf diese Weise in das Zentrum der Philosophie um 1800 gerÝckt. In der praktischen Philosophie untersucht Kant die BestimmungsgrÝnde vernÝnftigen Handelns und die MÚglichkeit der Freiheit des Menschen. Hier wird Kant, im Gegensatz zu seiner theoretischen Philosophie, schließlich zum Meta-
26
Deutscher Idealismus
physiker. Die Freiheit des Menschen besteht Kant zufolge in der Selbstgesetzgebung des Menschen durch seine eigentliche Natur, die Vernunftnatur. Dass Freiheit wirklich ist, kann allerdings nicht nach den MaßstÈben kritischer Erfahrungserkenntnis erkannt werden. Freiheit gehÚrt zur Ýberempirischen Vernunftwelt, nicht zur naturgesetzlich bestimmten Erfahrungswelt, deshalb betrifft sie den intelligiblen Charakter des Menschen und nicht seinen empirischen. Reine Vernunft gibt sich im Praktischen selbst nach ihren eigenen MaßstÈben das Gesetz; sie ist in diesem Sinne autonom. Das Gesetz vernÝnftigen Handelns drÝckt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) mit dem berÝhmten kategorischen Imperativ aus. Es ist ihm zufolge kategorisch geboten derart zu handeln, dass die Prinzipien des Handelns verallgemeinerungsfÈhig zu Handlungsprinzipien aller vernÝnftigen Subjekte gemacht werden kÚnnen. Dieses Gesetz drÈngt sich Kant zufolge jedem vernÝnftigen Subjekt unmittelbar auf; dass wir uns durch dieses Gesetz genÚtigt und in die Pflicht genommen fÝhlen, ist fÝr ihn eine unbezweifelbare Tatsache, ein »Faktum der Vernunft«. Im Gegensatz zur Kritik der reinen Vernunft gilt in Kants Moralphilosophie daher die Wirklichkeit der Freiheit als bewiesen. Neben der Freiheit kommen auch die Ideen von der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes in der Kritik der praktischen Vernunft wieder vor. Sie haben hier den Status von Postulaten; sie gelten also, auf dem metaphysischen Standpunkt reiner praktischer Vernunft, als notwendige Voraussetzungen. FÝr die praktische Philosophie des Idealismus ist diese Postulatenlehre besonders wichtig geworden. In den Schriften zur politischen Theorie und zur Rechtsphilosophie hat Kant dann auch versucht, auf der Grundlage des Moralprinzips Rechtsprinzipien vernÝnftiger Subjekte in staatlichen Gemeinschaften zu entwickeln. In den geschichtsphilosophischen AufsÈtzen versucht Kant schließlich, die Entwicklung der neueren Geschichte der Staaten und Verfassungen als Fortschritt der Menschheit im Sinne einer schrittweisen Verwirklichung von Vernunft und Freiheit zu lesen. In Kants Philosophie steht die empirische Welt der Natur und ihrer Erkenntnis nahezu unverbunden neben der Ýbersinnlichen Welt des
Moralischen und der Freiheit. Dass darin die Gefahr eines Dualismus der Prinzipien liegt, an dem das Gesamtprojekt zu scheitern droht, stand Kant selbst klar vor Augen, denn sein drittes kritisches Hauptwerk, die Kritik der Urteilskraft (1790), versucht in einer Art theoretischem BrÝckenschlag die Verbindung von Natur und Freiheit. Das Buch hat die %sthetik und die organische Naturphilosophie zum Gegenstand. In beiden FÈllen ist das Subjekt weder erkennend noch handelnd. Es reflektiert vielmehr Ýber das subjektiv mÚgliche Erkennen und Handeln in Bezug auf die Welt selbst. In der Èsthetischen Erfahrung erscheinen Erkenntnis und Welt in einem harmonischen VerhÈltnis; die schÚnen Dinge zeigen Kant zufolge an, dass wir als Subjekte in die Welt passen. DarÝber hinaus erfahren wir das SchÚne derart, als hÈtte eine vernÝnftige Natur diese Dinge zweckmÈßig so und nicht anders eingerichtet, auch wenn sich dieser Plan unserer Erkenntnis im strengen Sinne entziehen muss. Das SchÚne erscheint demnach, als ob es die Wirklichkeit freier Vernunft wÈre; es ist, wie Kant in einer berÝhmten Formulierung sagt, das Symbol des Sittlich-Guten. In der reflektierenden %Naturphilosophie erscheint ganz parallel die organische Natur, als ob sie auf einen vernÝnftigen Endzweck hin angelegt wÈre. Mit dieser Als-ob-Konstruktion des reflektierenden Subjekts versucht Kant die VersÚhnung zwischen Natur und Freiheit. Genau dadurch ist Kants dritte Kritik von außerordentlicher Bedeutung fÝr den deutschen Idealismus gewesen. An dem Stellenwert, den die sthetik in der nachkantischen Philosophie von Schiller an einnimmt, ist dies ebenso abzulesen wie an der spekulativen Naturphilosophie %Schellings und Hegels. Die Art und Weise, in der der so genannte deutsche Idealismus an Kant angeschlossen hat, wird durch eine Bemerkung Schellings in einem Brief an Hegel vom 6. Januar 1795 sehr deutlich: »Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die PrÈmissen fehlen noch. Und wer kann Resultate verstehen ohne PrÈmissen?« Nicht also ein Generalverdacht gegen das System Kants hat die idealistische Philosophie in Gang gebracht, sondern der Gedanke, dass eine insgesamt durchaus zutreffende philosophische Position die konstruktive Hauptaufgabe, nÈmlich die Grundlegung der Philoso-
Deutscher Idealismus
phie in ihren Prinzipien, noch offen gelassen habe. Vor allem drei Motive der kantischen Philosophie sind es, die den deutschen Idealismus in Gang gesetzt haben: 1. die Suche nach einer angemessenen Theorie der SubjektivitÈt; 2. die Ausarbeitung einer adÈquaten Systemform der Philosophie mit einem widerspruchsfreien Konzept des Absoluten; 3. die Verbindung der Prinzipien der theoretischen und der praktischen Philosophie. In den vielfÈltigen Versuchen einer prinzipientheoretischen Grundlegung hat sich der Idealismus dann vom Anliegen und der Gestalt der Philosophie Kants weit entfernt. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass der deutsche Idealismus nicht lediglich ein PhÈnomen weniger hochrangiger Autoren nach Kant, von %Fichte und Schelling zu Hegel, gewesen ist. An der Gedankenentwicklung haben eine Vielzahl von Autoren teilgehabt, die auf den engeren Bereich der akademischen Philosophie auch gar nicht beschrÈnkt gewesen sind und die sich dem heutigen Betrachter in einer Vielfalt zum Teil komplexer personeller und geographischer Konstellationen darstellen. Die frÝhe Diskussion der Philosophie Kants ist im Kreis der Berliner AufklÈrung um Moses Mendelssohn zunÈchst mit einem Streit um ihre mÚglichen atheistischen Konsequenzen verbunden gewesen. Daran ist der von DÝsseldorf aus wirkende Literat und Denker Friedrich Heinrich Jacobi als einer der großen gedanklichen Anreger der Epoche wesentlich beteiligt gewesen. Dabei ist weniger seine eigene originelle Position maßgeblich gewesen als vielmehr sein Hinweis auf die Ethik %Spinozas, in der er das beispielhafte und konsequenteste Modell aller Philosophie verwirklicht sah: das Modell eines mechanisch durchorganisierten Ableitungszusammenhangs allen verfÝgbaren Wissens aus obersten Vernunftprinzipien nach dem Vorbild der geometrischen Methode des Euklid. Jacobis Nachwirkung ist vor allem darin begrÝndet, dass viele Idealisten nach ihm ganz gegen seine eigene Absicht der Auffassung waren, dass die prinzipientheoretische Grundlegung von Kants Philosophie nach genau diesem Modell zu verfahren habe. Diese Auffassung und damit ein wesentlicher Teil der Entwicklung der idealistischen Philosophie ist in besonderer Weise mit der UniversitÈt Jena verbunden. Dort hat lÈngere Zeit Karl Leon-
27
hard Reinhold als offizieller Vertreter der kantischen Philosophie gelehrt. Reinhold hat zum einen mit Blick auf das mit Spinoza verbundene System-Modell einen obersten Grundsatz der Philosophie gefordert, aus der sie ihre gesamten weiteren SÈtze abzuleiten habe, um als gesichert gelten zu kÚnnen. Zum anderen war er der Auffassung, dass das eigentliche grundlegende Prinzip der Kritik der reinen Vernunft der nirgends geklÈrte Begriff der Vorstellung, also des Bewusstseinsinhaltes im allgemeinsten Sinne, sei. Daraus hat Reinhold in immer neuen AnlÈufen versucht, eine Grundsatzphilosophie zu entwickeln, deren oberster Satz der so genannte Satz des Bewusstseins ist. Fichte, der 1794 Reinholds Lehrstuhl in Jena Ýbernommen hat, ist Reinhold in der Forderung nach einer Philosophie aus GrundsÈtzen gefolgt, nicht aber in deren Ausgestaltung. Den deduktiven Systemzusammenhang nach dem Vorbild von Euklid und Spinoza hat Fichte fÝr eine wissenschaftliche Philosophie, die die Grundlage aller weiteren Einzelwissenschaften bilden soll, ausdrÝcklich gefordert. Fichte hat diesen Zusammenhang in seiner Wissenschaftslehre aufzustellen versucht, die er zuerst 1794/95 vorgetragen hat und von der es mehrere zum Teil radikale Neufassungen gibt. Hier ist zum ersten Mal in der nachkantischen Philosophie mit aller Konsequenz und Strenge der Versuch verwirklicht, alle GegenstÈnde der (kantischen) Philosophie in einem einzigen strengen Systemzusammenhang aus den bislang noch unentdeckten Prinzipien Schritt fÝr Schritt herzuleiten und damit eine vernÝnftige Beschreibung der Welt insgesamt zu liefern. Fichtes Ansatzpunkte, diese Systemaufgabe zu lÚsen, sind vor allem zwei offen gelassene Probleme der kantischen Philosophie: die Theorie der SubjektivitÈt und der Dualismus von Natur und Freiheit (oder von theoretischer und praktischer Philosophie). An die Spitze des Systems stellt Fichte demzufolge vor alle weiteren GrundsÈtze einen obersten Grundsatz, der beides berÝcksichtigt: »Das Ich setzt ursprÝnglich schlechthin sein eigenes Sein.« Dieser Grundsatz betrifft zum einen die SubjektivitÈt und handelt vom %Ich, und er drÝckt zum anderen eine Handlung dieses Ichs aus, die allem theoretischen Weltverhalten noch vorgeordnet ist. Fichte erhebt den Anspruch, damit das »Absolu-
28
Deutscher Idealismus
te« angemessen ausgedrÝckt zu haben, also dasjenige, das jenseits und losgelÚst von den Subjekt-Objekt-Beziehungen unserer Erfahrungswelt besteht und aus dem alle praktischen und theoretischen VerhÈltnisse abgeleitet werden kÚnnen. Die zahlreichen Korrekturen, die Fichte dann in den folgenden Jahren an seiner Wissenschaftslehre vorgenommen hat, betreffen vor allem die Frage, wie SubjektivitÈt und %Selbstbewusstsein, auf denen das System der Wissenschaftslehre ja aufbaut, widerspruchsfrei konzipiert werden kÚnnen. In der praktischen Philosophie hat Fichte vor allem eine politische Philosophie auf der Grundlage der SubjektivitÈtstheorie der Wissenschaftslehre entwickelt. Das Theorem der wechselseitigen Anerkennung vernÝnftiger Subjekte, das die Grundlage des RechtsverhÈltnisses bilden soll, hat Ýber Hegel und %Marx bis in die gegenwÈrtige Sozialphilosophie gewirkt. In Gestalt einer aufgeklÈrten Theologie erreichte die Philosophie Kants in den neunziger Jahren des 18. Jhs. eine ganze Generation von Theologiestudenten, zu denen im sÝddeutschen Raum Hegel, Schelling und HÚlderlin gehÚrten, die im TÝbinger Stift gemeinsam studiert haben. Alle drei sind Leitfiguren je eigener Versionen der idealistischen Philosophie geworden. Zwischen TÝbingen und Jena lassen sich auch deutliche Spuren einer prinzipiellen Kritik der streng systematischen Grundsatzphilosophie Reinholds und Fichtes aufweisen, die dem Idealismus eine andere Wendung gegeben haben. In die TÝbinger Konstellation gehÚrt ein programmatisches Textfragment in Hegels Handschrift, dessen Autor nicht mit letzter Sicherheit feststeht und das als ltestes Systemprogramm des deutschen Idealismus erst 1917 verÚffentlicht worden ist. Hier wird das Programm einer neuen Ethik und Naturphilosophie entworfen, die die kantische Grundlage zwar noch erkennen lÈsst, diese aber vor allem in die Perspektive von sthetik und Geschichtsphilosophie stellt und mit der berÝhmt gewordenen Forderung nach einer neuen Mythologie der Vernunft verbindet. Das Programm einer neuen Mythologie, unter RÝckgriff auf die Motive aus der griechischen Antike, ist wohl am konsequentesten im dichterischen Werk HÚlderlins (1770–1843) verwirklicht worden. HÚlderlins eigene theoretischen und poetischen Reflexionen kreisen um
den Zusammenhang von Philosophie, Dichtung und Sprache. Aus der TÝbinger Konstellation ist als Erster Schelling eigenstÈndig hervorgetreten. In seinen frÝhen Schriften folgt er der Anregung Fichtes, das Prinzip der Philosophie als absolute SubjektivitÈt zu denken und zum Ausgangspunkt eines formal an Spinoza orientierten Systems zu machen (Vom Ich als Prinzip der Philosophie, 1795). Sehr bald profiliert sich Schelling jedoch mit einer originellen Naturphilosophie, die vom organischen Naturbegriff in Kants Kritik der Urteilskraft ausgeht und den Gedanken formuliert, dass die Natur selbst vernÝnftig aufgefasst werden muss (Ideen zu einer Philosophie der Natur, 1799). Diese Naturphilosophie ergÈnzt die abstrakte Ich-Reflexion Fichtes insofern, als sie die RealitÈt der objektiven Welt ihrerseits als philosophische Herausforderung begreift. Schelling entwickelt dabei die fortgeschrittensten Ergebnisse der zeitgenÚssischen Naturforschung unorthodox und spekulativ weiter. Die Natur gilt Schelling nicht als das schlechthin Andere des vernÝnftigen Subjekts, sondern als Objektivation eben dieser Vernunft. Daher vermag sich das Ich in der Natur wiederzuerkennen und die Philosophie zu einer denkenden Reflexion der Welt vorzudringen. Schelling entwickelt damit die fÝr die idealistische Systemkonstruktion entscheidende Theorie des objektiven Geistes. Er verbindet sie mit dem Theorem einer Geschichte des zu sich selbst kommenden Selbstbewusstseins, das sich in den verschiedenen Stadien der Èußeren Welt schrittweise findet. Umgekehrt operiert Schelling im System des transzendentalen Idealismus (1800) mit Fichte wiederum aus der Perspektive der SubjektivitÈt. Sie hat hier die Gestalt einer fortschreitenden Selbstobjektivierung des Ichs, das sich schrittweise aus sich selbst heraus zur Welt entwickelt. Diese beiden entgegengesetzten, aber eng zueinander gehÚrenden Hinsichten der Bewusstwerdung der Natur und der Naturwerdung des Ichs finden sich im System des transzendentalen Idealismus von 1800 dann vor allem in der menschlichen Kunstproduktion vereint. Die Kunst erhÈlt hier erstmals eine herausragende und systematisch zentrale Funktion. Schelling hat diese sthetik in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst (1802 ff.) ausgearbeitet. In den Jahren nach 1800 hat Schelling dann die
Deutscher Idealismus
Theorie des Absoluten in seiner so genannten IdentitÈtsphilosophie neu gefasst. Deren zentraler Gedankengang besagt, dass das Absolute jenseits der Doppelperspektive von Subjektivierung und Objektivierung gedacht werden muss, also so, dass der endliche Gegensatz von Subjekten und Objekten im Absoluten zur Ununterscheidbarkeit, zur Indifferenz oder IdentitÈt, aufgehoben ist. Die Vielfalt der Welt soll gegenÝber dem indifferenten Absoluten dann mit einer Stufenordnung verschiedener Potenzen des Geistigen und Materiellen erklÈrt werden. Diese komplexe Potenzenlehre behandelt je verschiedene Zusammensetzungen von subjektiven und objektiven Faktoren in den einzelnen Bereichen der objektiven Welt. Einen neuen Weg schlÈgt Schelling dann 1809 mit den Philosophischen Untersuchungen Ýber das Problem der menschlichen Freiheit ein, die das alte theologisch-philosophische Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts des BÚsen in der Welt zum Anlass einer spekulativen Neukonzeption der inneren Struktur des Absoluten nehmen, die wichtige Konsequenzen fÝr den Àbergang zum SpÈtwerk Schellings und fÝr die dort einschlÈgige Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie hat. Im ›klassischen‹ Weimar waren Goethe und Schiller als zentrale Figuren des literarischen und politischen Lebens aufmerksame Teilnehmer auch der philosophischen Debatten. Insbesondere Friedrich Schiller (1759–1805), der in Jena %Universalgeschichte lehrte, hat in seinen Èsthetischen Schriften zentrale Probleme der kantischen Philosophie fortgefÝhrt. Im Mittelpunkt von Schillers Werk steht der Versuch, einen Freiheitsbegriff zu entwickeln, der den strengen Dualismus von Natur und Freiheit bei Kant Ýberwindet. Als vermittelnde Instanz setzt Schiller, der Anregung Kants folgend, das %SchÚne an, das er als Freiheit in der Weise der %Erscheinung deutet. Auch die Kategorie des Erhabenen, die eine wichtige Rolle in Kants Kritik der Urteilskraft gespielt hatte, ist fÝr Schillers theoretische Reflexionen und vor allem fÝr deren Umsetzung in seinen Dramen von großer Bedeutung. In seinen Briefen Àber die Èsthetische Erziehung des Menschen (1795) verbindet Schiller die vermittelnde Funktion der sthetik mit einer Theorie des Spiels, das programmatisch in die politische und moralische Bildung des Menschen integriert werden soll.
29
Mit den Namen Friedrich von Schlegel (1772–1829) und Novalis (eigentlich: Friedrich Freiherr von Hardenberg, 1772–1801) ist jene frÝhromantische Konstellation verbunden, die sich in den spÈten neunziger Jahren zunÈchst in Leipzig und Jena, spÈter in Berlin entwickelte. Schlegel und Novalis haben als LÚsung fÝr die Probleme der nachkantischen Philosophie, insbesondere der Wissenschaftslehre Fichtes, eine Theorie der prinzipiellen IdentitÈt von Philosophie und Poesie vorgeschlagen. Der leitende Gedanke dabei ist, dass die Philosophie, vor allem in der Theorie der SubjektivitÈt und der Konzeption des Absoluten, in Schwierigkeiten gerÈt, die sie mit ihren eigenen Mitteln nicht lÚsen kann. Die Poesie hingegen vermag aus eigener Kraft in einer besonderen Art des Redens und Schreibens die Intention und den Gegenstand der Philosophie zu bewahren. Umgekehrt verliert die Kunst die klassische Unschuld naiver SchÚnheit und wird zu einer philosophischen Reflexionskunst. Schlegel und Novalis haben vor allem die in sich gebrochenen und dialektischen Kunstformen des Fragments, der Ironie und der Allegorie, auch der Kunstkritik, beschrieben und selbst praktiziert. Die frÝhromantische sthetik ist eine Theorie spezifisch moderner Kunst, die insbesondere fÝr die Avantgarde und Kunstphilosophie im 20. Jh. von großem Einfluss gewesen ist. – In diesen Kontext gehÚrt auch der Theologe Schleiermacher, der aus der Reflexion der romantischen GesprÈchskonstellation heraus (Theorie des geselligen Betragens, 1799) zu einem eminenten Vertreter der protestantischen Theologie in Deutschland geworden ist (Reden Ýber die Religion an die Gebildeten unter ihren VerÈchtern, 1799), der nebenbei die umfangreiche Àbersetzung der Dialoge %Platons ins Deutsche geleistet hat und spÈter neben Hegel zu einer der großen Figuren der Berliner UniversitÈt geworden ist. Ein erster wirklicher Einschnitt der Epoche war erreicht, als Hegel in Jena mit seiner PhÈnomenologie des Geistes (1806/07) zum ersten Mal nicht nur einen weiteren Systementwurf unter all den vielen anderen prÈsentieren wollte, sondern zugleich damit den Anspruch erhob, die FÝlle der BÝcher und Systeme auch seiner eigenen Zeit begrifflich erfasst und Ýberwunden zu haben. In diese spÈtere, sich selbst historisch reflektierende Phase des deutschen Idealismus
30
Deutscher Idealismus
fÈllt die Entwicklung von Hegels eigenem System. Seit 1816 hat er es als weithin berÝhmter Professor in preußischen Diensten dann an der Berliner Humboldt-UniversitÈt einem großen internationalen Publikum vorgetragen. Bis zu seinem Tode 1831 hat Hegel auf diese Weise die offizielle Gestalt der idealistischen Bewegung verkÚrpert. Zu den sich abwechselnden und einander Ýberbietenden SystementwÝrfen insbesondere seiner eigenen VorgÈnger hat Hegel bereits ein genuin historisches VerhÈltnis. Dies ist die Grunderfahrung, mit der Hegels PhÈnomenologie des Geistes von 1806/07 einsetzt: Wenn Fichte, Schelling und die anderen jene konkurrierenden Systemkonstruktionen errichten, die allesamt den Anspruch erheben, das Absolute und die Wahrheit endgÝltig und einzig angemessen darzustellen, dann hat letztendlich keine dieser Positionen Recht. Hegels Diagnose zufolge hat jedes neue idealistische %System einfach nur behauptet, es sei im Gegensatz zu seinen VorgÈngern das wahre System; kein einziges dieser Systeme hat diese Behauptung aber in Auseinandersetzung mit seinen VorgÈngern wirklich gezeigt. Hegel geht historisch reflektierter vor, indem er sich auf die Positionen seiner VorgÈnger ausfÝhrlich einlÈsst und diese mit ihren jeweiligen eigenen Mitteln derart in WidersprÝche verwickelt, dass sie schließlich nach ihren eigenen MaßstÈben unhaltbar werden. Die PhÈnomenologie fÝhrt diese Auseinandersetzung, indem sie die historischen Gestalten der Philosophie auf eine ideale Abfolge von Typen des %Wissens bezieht. Diese typologischen Theorieformen geben in Hegels Deutung jeweils unterschiedliche Auskunft darÝber, was gesichertes Wissen sein soll, worin seine Absicherung besteht und was im Rahmen dieser jeweiligen Auffassung von Wissen dann %Wahrheit heißt. Keine dieser »Gestalten des erscheinenden Wissens«, die die PhÈnomenologie Kapitel fÝr Kapitel auffÝhrt, kann aber als widerspruchsfrei gelten, weil sich dasjenige, was jeweils ›Wahrheit‹ heißen soll, in keinem Fall mit demjenigen deckt, was das Wissen dem eigenen Anspruch nach jeweils leisten kann. Hegels ganz beispielloses phÈnomenologisches Vorgehen besteht darin, diese Theorien nicht abstrakt an einem Èußerlichen Begriff von ›dem Absoluten‹ zu messen, sondern stets intern zu prÝfen, ob eine je-
weilige Theorie dasjenige, was ihr als das Absolute gilt, auch hinreichend erfassen kann. Die Philosophie selbst erzielt aber im Aufarbeiten dieser WidersprÝche immer grÚßere Fortschritte fÝr die Ausarbeitung ihrer eigenen Gestalt. Denn die Wissenstypen werden im Laufe der PhÈnomenologie immer weniger widerspruchsvoll; dasjenige, was sie unter dem Begriff ›das Absolute‹ als Wahrheit konzipieren, wird dem jeweiligen Theorietyp und seinem WissensverstÈndnis immer zugÈnglicher. Am Ende, in der letzten Wissensgestalt der PhÈnomenologie, sind Wissen und Wahrheit in den einzigen nicht mehr widerspruchsvollen Theorietyp eingegangen: in das wahre Wissen, das Hegel »absolutes Wissen« nennt. Der historisch reflektierte Gang durch die typisierten Positionen der Philosophiegeschichte ist fÝr Hegels eigene Philosophie notwendig gewesen; jetzt erst kann es eine nicht naive, Ýber sich aufgeklÈrte Kategorienlehre des Denkens geben, der nicht mehr zum Vorwurf gemacht werden kann, sie befinde sich in widerspruchsvoller Distanz zum Absoluten. Diese Lehre vom absoluten Wissen hat Hegel in der Wissenschaft der Logik (1812–16) ausfÝhrlich dargestellt. Ihr Gegenstand ist das reine Denken des Absoluten selbst, das schrittweise seine eigenen Denkbestimmungen entfaltet. Aber ganz Èhnlich der PhÈnomenologie liefert auch diese Darstellung das Absolute nicht unvermittelt und mit einem Male; das angemessene Denken des Absoluten, die so genannte »absolute Idee«, steht erst am Ende der Wissenschaft der Logik. Wiederum ist der Fortschritt innerhalb dieser Kategorienlehre methodisch angeleitet: Jede Kategorie, die fÝr sich in Anspruch nimmt, das Absolute angemessen zu denken, erweist sich bei grÝndlicher Betrachtung dazu als ungeeignet; indem das Denken dieses UngenÝgen benennt und reflektiert, ist es in eine neue Kategorie Ýbergegangen. Am Ende der Wissenschaft der Logik hat Hegel dieses eigentÝmliche Vorgehen auch eigens als Methode ausgezeichnet: Es ist die berÝhmte dialektische Methode. Mit jeder weiteren Kategorie gelangt das Denken dialektisch immer mehr zu dem, was es sein will: Denken des Absoluten. Das Absolute hat sich erst nach langer begrifflicher Arbeit als Resultat seiner eigenen Bewegung zu sich selbst ergeben. Es muss daher Hegel zufolge seinerseits als Subjekt verstanden
Deutscher Idealismus
werden, also als etwas, das erst selbsttÈtig und in stÈndiger Auseinandersetzung zu sich selbst kommt. In der Tat beansprucht Hegels Theorie des Absoluten auch, eine angemessene Theorie der SubjektivitÈt zu sein und auch auf diese Weise die von Kant gestellten Probleme zu einem Ende gebracht zu haben. Die Wissenschaft der Logik ist die Grundlage und der Ausgangspunkt fÝr Hegels System, so wie es in der mehrfach bearbeiteten EnzyklopÈdie der philosophischen Wissenschaften (1817, weitere Auflagen 1827 und 1830) schließlich Gestalt angenommen hat. Denn das Denken, das sich selbst in der absoluten Idee als wahres Wissen vom Absoluten durchsichtig gemacht hat, geht nach Hegels Konzeption in die Philosophie der wirklichen Welt Ýber. Im Zentrum dieser Konzeption steht der Begriff eines Absoluten, das zur %Wirklichkeit gerade nicht in einem VerhÈltnis ursprÝnglicher Trennung steht. Seit seinen frÝhesten Schriften hat Hegel zeitdiagnostisch die Moderne als Zeitalter der Entzweiung beschrieben: Abstrakte philosophische Ideen stehen unvermittelt und unversÚhnlich der Wirklichkeit gegenÝber. Die PhÈnomenologie hatte am Beispiel der FranzÚsischen Revolution und der anschließenden Schreckensherrschaft das beherrschende politische Ereignis der Epoche als einen Àbergang abstrakter Ideen von Freiheit und Gleichheit in eine damit unvermittelbare RealitÈt interpretiert. Mit dem Programm einer VersÚhnung der entzweiten GegensÈtze von Vernunft und Welt, von Absolutem und Wirklichkeit, tritt Hegel gegen die Philosophie der modernen Welt um 1800 und gegen den bisherigen deutschen Idealismus an. Die Idee soll der Wirklichkeit nicht abstrakt entgegengesetzt, sondern mit ihr wesentlich verbunden sein. Das heißt zweierlei: Einerseits steht das Absolute unter dem Zwang, in der wirklichen Welt Ausdruck und Gestaltung zu finden; andererseits muss die Wirklichkeit in einer angemessenen philosophischen Betrachtung ihrerseits vernÝnftig angesehen werden. In dem Maße, in dem Vernunft sich manifestieren muss, muss die Welt selbst auch als vernÝnftig begriffen werden. Terminologisch nennt Hegel diese Figur eines mit der Wirklichkeit vermittelten Absoluten ›Geist‹. In der Vorrede seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts ist der Sinn dieser Rede vom Geist klar benannt: Was vernÝnf-
31
tig ist, so Hegel, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernÝnftig. Die denkende Betrachtung der uns zugÈnglichen RealitÈtsbereiche auf der Grundlage dieser Geistkonzeption macht den Inhalt des hegelschen Systems aus. Dabei operiert Hegel mit einer idealtypischen historischen Stufenfolge von verschiedenen Formen des Geistes. Eine Reihe von Disziplinen der Philosophie wie auch der Geisteswissenschaften insgesamt haben hier eine originelle Gestalt gefunden. In seinen Vorlesungen Ýber die sthetik interpretiert Hegel das Kunstwerk als sinnliches Erscheinen des Absoluten und entwirft daraus eine materialreiche, historisch und kulturell weit ausgreifende sthetik. Seine Kunstauffassung hat klassizistische ZÝge und ist eher von einer Abwertung moderner Kunst geprÈgt. Dabei ist Hegels Methode, die Kunst in historischer Entwicklung aufzufassen, zum Vorbild der spÈteren Kunstgeschichte geworden. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) entwickeln auf der Grundlage einer Kritik der kantischen Moralund Staatsphilosophie eine Lehre von der Sittlichkeit politischer Gemeinschaft in Familie, bÝrgerlicher Gesellschaft und Staat. Hegel beansprucht dabei, die FreiheitsansprÝche des modernen Subjekts in einer Theorie der Institutionen des modernen Verfassungsstaates zu ihrem eigentlichen und positiven Ziel gefÝhrt zu haben. In den Vorlesungen Ýber die Philosophie der Geschichte interpretiert Hegel dann auch den gesamten Gang der Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Hegels Rechtsphilosophie ist, zumal in ihrer Orientierung an antiken Staatsvorstellungen, einer der wenigen GegenentwÝrfe zur spezifisch neuzeitlichen Konzeption politischer Philosophie, zur naturrechtlichen %Vertragstheorie von %Hobbes bis zu Rousseau und Kant geblieben. Nur die spÈte Philosophie Schellings hat dann noch den Versuch unternommen, auf einer idealistischen Grundlage gegen den Absolutheitsanspruch des hegelschen Systems eine andere, weniger abgeschlossene Form der Philosophie zu entwickeln. Im Mittelpunkt von Schellings SpÈtphilosophie steht die Unterscheidung einer negativen, durch Kritik und Dialektik gekennzeichneten Philosophie von einer positiven Philosophie, die den Umstand akzeptiert, dass das Sein des Absoluten sich jedem verfÝgbaren Wis-
32
Neunzehntes Jahrhundert
sen entzieht und nur als absolute Transzendenz Gottes konzipiert werden kann. Hier widersetzt sich Schelling grundsÈtzlich der Forderung des hegelschen Idealismus, das Absolute mÝsse im System des Begriffs rational darstellbar sein. Die Entwicklung der positiven Philosophie fÝhrt Schelling zurÝck zu den alten Àberlieferungsformen des Mythos (Philosophie der Mythologie) und zur Figur der Offenbarung (Philosophie der Offenbarung). Schelling ist 1841 unter großer Aufmerksamkeit der intellektuellen Welt auf Hegels Professur in Berlin berufen worden; unter seinen HÚrern waren so unterschiedliche PersÚnlichkeiten wie Engels und %Kierkegaard. Schellings Wirkung leitet bereits Ýber in die Philosophie des spÈteren, nachidealistischen 19. Jhs. E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 4 Bde., 1906 1957, Darmstadt 1973 f. [mehrere Nachdrucke] G. Gamm, Der deutsche Idealismus. Eine EinfÝhrung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997 R. P. Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Un tersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1991 W. Stegmaier / H. Frank, Hauptwerke der Philosophie von Kant bis Nietzsche. Interpretationen, Stuttgart 1997 G. K.
Neunzehntes Jahrhundert Die Philosophie des 19. Jhs. ist in jedem Sinne nachidealistisch. Sie bildet sich als Kritik des %deutschen Idealismus, vor allem des hegelschen Systems, ab den zwanziger Jahren heraus. In nahezu allen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Bereichen ist das 19. Jh. von VerÈnderungen und UmbrÝchen gekennzeichnet, die fÝr eine spekulativ-idealistische Philosophie nicht mehr gÝnstig sind. Das Zeitalter der Industrialisierung und ein enormer Erfolg der technisch angewandten Naturwissenschaften gehÚren zu den Tendenzen der Epoche ebenso wie ein tiefgreifender Úkonomisch-sozialer Wandel und die politische Durchsetzung des BÝrgertums im Zeitalter der %Revolutionen. Von einer Ýbergreifenden und zeitlosen %Vernunft und einem einheitlichen %System der Philosophie ist nicht mehr die Rede. Die Vernunft wird vielmehr in historische und gesellschaftliche Kontexte eingeordnet und
beginnt, sich in unterschiedliche Vernunftarten aufzuspalten. Dadurch erobert sich die Philosophie zahlreiche neue Themengebiete: Sie wird Religions- und Politik-Kritik und historisch-kritische Theorie von Gesellschaft und Wirtschaft mit politischer Intention (Linkshegelianismus, %Marx), Philosophie der Existenz und des individuellen Lebens (%Kierkegaard, %Schopenhauer, %Nietzsche), Philosophie der historischen Welt und ideenrekonstruierende Geschichtsschreibung (Historismus, %Dilthey), %Erkenntnistheorie und mathematischer Logik (%Positivismus, %Frege, Neukantianismus). Eine Einheit dieser unterschiedlichen Gebiete ist nicht mehr abzusehen. Damit wendet sich das 19. Jh. auflÚsend gegen das metaphysische Erbe des %Idealismus und bereitet die Themen vor, die noch das 20. Jh. und die Gegenwart beherrschen. Die Auseinandersetzung um die Philosophie %Hegels ist seit den dreißiger Jahren des 19. Jhs. vor allem in religionsphilosophischen und politischen Fragen gefÝhrt worden; der Kern von Hegels Philosophie, die spekulative %Logik, stand dabei weniger im Mittelpunkt. Die folgenreiche Aufspaltung in eine althegelianische oder ›rechte‹ Hegelschule einerseits, in eine junghegelianische oder ›linke‹ Hegelschule andererseits ist im Anschluss an die Diskussion des Leben Jesu (1835–36) von David Friedrich Strauß vollzogen worden. Im Mittelpunkt dieser heute nur schwer zugÈnglichen Debatte standen die Frage nach der personalen oder pantheistischen Interpretation der Idee %Gottes und das Problem einer historischen und anthropologischen Neudeutung des Christentums und der Evangelien. Eine gegenÝber der theologischen Orthodoxie destruktive Religionskritik ist das Ergebnis gewesen. Von besonderer Wirkung sind in diesem Zusammenhang die Schriften Feuerbachs gewesen. In Das Wesen des Christentums (1841) fÝhrt er Theologie und Religion auf ihre anthropologischen Grundlagen zurÝck. Dabei verfÈhrt seine %Kritik so, dass die Inhalte der Religion als Projektionen des Menschen in seiner natÝrlichen und historischen Umgebung gelesen werden. Dieses Verfahren hat deutliche Spuren in der Ideologiekritik des Marxismus oder in der Religions- und Kulturkritik Siegmund Freuds hinterlassen. FÝr die Religionskritik hat Feuerbach damit exemplarisch geleistet, was weite Teile der
Neunzehntes Jahrhundert
nachhegelschen Philosophie insgesamt kennzeichnet: die RÝckfÝhrung der idealistisch-spekulativen Kategorien wie etwa Vernunft, %Idee oder Gott auf eine materialistische Grundlage, in der sinnlich-physiologische, anthropologische und kontingente historische Faktoren die bestimmende Rolle spielen. Diese Versinnlichung und Verendlichung der idealistischen Vernunftkonzeption ist das Kennzeichen aller nachidealistischen oder »nachmetaphysischen« Philosophie geworden. Zu den Althegelianern ist vor allem jene Gruppe von SchÝlern zu zÈhlen, die in den dreißiger Jahren die erste Gesamtausgabe der Werke Hegels herausgegeben hat (Werke. VollstÈndige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, 1832–1845). Eine Reihe von Vorlesungen Hegels sind hier anhand von Nachschriften zum ersten Mal verÚffentlicht worden. Als erster Biograph Hegels ist Rosenkranz hervorgetreten. Er hat in neuerer Zeit durch seine sthetik des HÈßlichen (1853) wieder Beachtung gefunden, die sich um eine Èsthetische Wertung moderner %Kunst bemÝht, in der Bewahrung des hegelschen Klassizismus letztlich aber nur zur Abwertung der Moderne fÝhrt. Die Tendenz der Althegelianer, Hegels Philosophie zu konservieren und in historischen Spezialforschungen zu vertiefen, wird daran sichtbar. Die umfangreichste Kunstphilosophie nach dem Vorbild von Hegels sthetik-Vorlesungen hat dann Vischer in seiner dreibÈndigen sthetik oder Wissenschaft des SchÚnen (1846–57) vorgelegt. Die erste kritischhistorische Hegeldarstellung hat Rudolf Haym geliefert (Hegel und seine Zeit, 1857), der die Verteidigung der hegelschen Philosophie weitgehend durch deren historische ErklÈrung ersetzt. Die historische Tendenz hat dann ihre deutlichste Konsequenz in den hegelianisch orientierten großen Philosophiegeschichten des 19. Jhs. gefunden. Am bekanntesten ist die umfangreiche achtbÈndige Geschichte der neueren Philosophie (1852–93) von Kuno Fischer geworden, die von F. %Bacon bis Schopenhauer reicht. Hier ist der Hegelianismus schließlich in der Absicht, Hegel zu konservieren, zur Historisierung der Philosophie Ýbergegangen, die auf ein eigenes systematisches Fundament verzichtet. Philosophiegeschichtlich folgenreicher ist die unterschiedliche politische Philosophie der beiden Hegelschulen gewesen. Die Linkshegelianer
33
waren der Àberzeugung, dass Hegels Staatsphilosophie insgesamt noch in die Wirklichkeit ÝberfÝhrt werden mÝsse und nicht bereits im zeitgenÚssischen Staat ihre ErfÝllung gefunden habe. Eine Tendenz zu radikaler Neuerung ist die Folge davon gewesen, die ihre prominenteste und historisch wirkungsvollste Gestalt schließlich im Marxismus gefunden hat. Im Mittelpunkt der nachhegelschen Philosophie steht insbesondere Marx. Eine Reihe seiner Schriften sind im franzÚsischen und englischen Exil in einer Arbeitsgemeinschaft mit Engels geschrieben. Marx gehÚrte wÈhrend seines Studiums in Berlin zur linkshegelianischen Gruppe. Er hat jedoch bald eine grundlegende Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie formuliert, die entscheidend von der Religionskritik Feuerbachs beeinflusst ist. RechtsverhÈltnisse und Staatsformen sollen demnach nicht als abstrakte Formationen des objektiven Geistes gedeutet werden kÚnnen, sie mÝssen vielmehr auf der Grundlage der materiellen, sozialen und Úkonomischen LebensverhÈltnisse erklÈrt werden. Marx behÈlt Hegels dialektische Methode weitgehend bei, entfaltet sie jedoch auf materialistischer Grundlage neu. Zum endgÝltigen Bruch mit dem Linkshegelianismus ist es dann in der mit Engels geschriebenen Deutschen Ideologie und in der Heiligen Familie oder die Kritik der kritischen Kritik (1844) gekommen. Der Grund dafÝr liegt im Problem des Àbergangs von Theorie in Praxis. Dabei wurde die Àberlegung bestimmend, dass die (hegelsche) Philosophie nicht lediglich durch theoretische und ideologiekritische Reflexion aufgelÚst werden kann, sondern vielmehr praktisch durch politikkritisches Handeln Ýberwunden werden muss. Die von Marx geforderte Ausweitung der Kritik auf die reale Politik drÝckt sich prÈgnant in der berÝhmt gewordenen letzten der Elf Thesen Ýber Feuerbach (1845) aus: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kÚmmt aber darauf an, sie zu verÈndern.« Das materialistische Fundament seiner Sozialphilosophie hat Marx in einer politischen ³konomie gelegt, die ihn zusammen mit umfangreichen wirtschafts- und sozialhistorischen Studien von seinen frÝhen Pariser ³konomisch-Philosophischen Manuskripten (1844, publiziert 1932) an beschÈftigt hat. Im Mittelpunkt der frÝhen Schriften steht der Begriff der Entfremdung. Er
34
Neunzehntes Jahrhundert
meint im Kern den Umstand, dass dem Arbeiter Produktionsmittel und Produkt seiner Arbeit als fremde und selbststÈndige GrÚßen gegenÝber treten. Im Kontext der Industrialisierung tritt dann die eigentliche Úkonomische Entfremdung als Folge der Lohnarbeit zutage. Die entwickelte politische ³konomie hat Marx in seinem Hauptwerk Das Kapital (erster Band 1867) dargelegt. In dessen Zentrum steht eine Theorie des Wertes der von Menschen produzierten Waren, wobei Marx zufolge die Arbeitskraft im Falle der modernen Lohnarbeit selbst zur Ware geworden ist. Marx analysiert die sozialen und Úkonomischen VerhÈltnisse mit den Kategorien von Mehrwert, KapitalanhÈufung und Ausbeutung; dabei bedeutet ›Kapital‹ insgesamt das gesellschaftliche VerhÈltnis der Menschen im industrialisierten 19. Jh. Die geschichtsphilosophische Anwendung des %Materialismus fÝhrt Marx zur Theorie eines gesetzmÈßigen Geschichtsprozesses, der sich als %Dialektik von so genannten ProduktivkrÈften und ProduktionsverhÈltnissen darstellt. Der Widerspruch beider VerhÈltnisse treibt die Geschichte in Gestalt von sozialen Revolutionen voran. Der Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, der den Kapitalismus beherrscht, soll sich in der sozialistischen Revolution in einen neuen gesellschaftlichen Zustand auflÚsen, in dem mit der Aufhebung des Privateigentums auch die Úkonomische Entfremdung aufgehoben wÈre; seine Staatsform soll die klassenlose proletarische Diktatur sein. UrsprÝnglich ebenfalls in das linkshegelianische Umfeld gehÚrt der dÈnische protestantische Theologe Kierkegaard. Er hatte als Student den spÈten %Schelling in Berlin gehÚrt. Der Gedanke eines ›positiven‹ %Seins, das Schelling gegen Hegels Versuch gewendet hatte, Sein und %Wirklichkeit als vernÝnftigen %Begriff aufzufassen, findet in Kierkegaard seine Fortsetzung in der Reflexion konkreten menschlichen Daseins, der Existenz und der Innerlichkeit des %Individuums. Kierkegaard ist als Hegel-Kritiker zugleich der erste Vertreter der dann im 20. Jh. einflussreichen %Existenzphilosophie. Dabei hat sich Kierkegaards eigenes Werk in der Auseinandersetzung mit der frÝhromantischen Philosophie ausgebildet, deren SubjektivitÈtstheorie er mit den Mitteln philosophisch-Èsthetischer Reflexion und Ironie fortsetzt. In seinem frÝhen Hauptwerk Entweder-Oder (1843)
konfrontiert Kierkegaard eine subjektiv-Èsthetische mit einer am Allgemeinen orientierten ethischen Lebenshaltung. Als zentrales Thema tritt damit das Problem eines freien SelbstverhÈltnisses in Verbindung mit einer authentischen LebensfÝhrung hervor. Es wird von Kierkegaard zunehmend auf die Erfahrung von existenziellen Ausnahmesituationen zugespitzt, die das Individuum zu sich selbst fÝhren, indem sie die Bedeutung des gesellschaftlich Allgemeinen außer Kraft setzen. FÝr diese so genannte »teleologische Suspension des Ethischen« liefert die religiÚse Glaubensbeziehung in Furcht und Zittern (1843) das Beispiel. Eine wesentliche Rolle in Kierkegaards Theorie der Existenz spielen die Extremsituation von Angst und Verzweiflung (Der Begriff Angst, 1844; Krankheit zum Tode, 1849). Auf der Grenze zwischen idealistischer %Metaphysik und nachmetaphysischer Lebensphilosophie steht das Werk von Schopenhauer. In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819, weitere Auflagen 1844 und 1859) operiert Schopenhauer mit einer strengen Zweiteilung von Welten. Die menschliche Erfahrungswelt ist den %Prinzipien von %Grund und %Ursache unterworfen; sie ist nach dem Vorbild %Kants von den subjektiven Bedingungen der %Erkenntnis abhÈngig und insofern die »Welt als Vorstellung«. Dagegen stellt Schopenhauer die metaphysische Welt der Dinge an sich, in der das Prinzip des %Willens herrscht. Diese »Welt als Wille« ist die Grundlage und das innere Wesen der Erfahrungswelt. Im metaphysischen Mittelpunkt der Welt steht fÝr Schopenhauer demnach kein Vernunftprinzip, sondern ein irrationales Grundgeschehen, das in seinem endlosen VorwÈrtsstreben eine zwanghafte und selbstzerstÚrerische Eigendynamik entwickelt. Das ist der Hintergrund fÝr die zentrale These: Alles Lebendige leidet. Demzufolge ist die objektive Welt, in der die Menschen leben, eine Welt des Leidens. Diese pessimistische Weltsicht ist der Kern von Schopenhauers Philosophie. Eine besondere Rolle spielt die %Kunst in dieser Konzeption. In ihr ist innerhalb der Erfahrungswelt eine Erkenntnis der metaphysischen Willenswelt mÚglich, weil sie die Darstellung der Ideen, der Objektivationen des Willens, ist. Zudem sind Schopenhauer zufolge in der Èsthetischen Erfahrung wenigstens momentweise
Neunzehntes Jahrhundert
ErlÚsungszustÈnde wirklich, in denen Leben und Leiden aufgehoben sind. Eine ebenfalls zentrale Rolle spielt eine %Ethik des Mitleids, in dem die Menschen durch wechselseitige Erkenntnis und Anerkennung ihres Leidens die Erscheinungswelt wenigstens zum Teil zu Ýberwinden vermÚgen. Schopenhauer hat schließlich nach dem Vorbild der buddhistischen Lehre gefolgert, nur konsequente kontemplative Askese, die im Idealfall zum bewusstseinslosen Nichts fÝhren soll, kÚnne eine dauerhafte Entlastung vom Leiden in der Welt sein. Die Ýberhaupt menschenmÚgliche %Freiheit besteht fÝr Schopenhauer in der konsequenten Resignation. Diese pessimistischen Elemente seiner Willensmetaphysik haben im spÈteren 19. und frÝhen 20. Jh. zu einer intensiven Rezeption Schopenhauers insbesondere in Kunst, Musik und Literatur gefÝhrt. Einer der in der Kritik idealistischer Vernunftpositionen wirkungsvollsten Philosophen im 19. Jh. ist Nietzsche gewesen. Er stand zunÈchst lange Zeit erkennbar unter dem Einfluss von Schopenhauers pessimistisch-resignativer Willensphilosophie. Nietzsches frÝhe Schrift Die Geburt der TragÚdie (1872) folgt Schopenhauer darin, der Kunst die bestimmende Rolle zuzuweisen, indem sie als die »eigentlich metaphysische TÈtigkeit« gilt. Sie tritt dem Leben einerseits als Heilmittel gegenÝber und fÝhrt andererseits zu einer Èsthetischen »Rechtfertigung« der Welt; nur in der Kunst, nicht im Leben, ist Nietzsche zufolge ein sinnvolles Ganzes kohÈrent gestaltet. Nietzsche stellt der klassischen griechischen TragÚdie vor allem das moderne Musiktheater Richard Wagners zur Seite, dem er lange Zeit persÚnlich und Èsthetisch sehr nahe stand. Nietzsche folgert dann in seinen spÈteren Schriften umgekehrt, dass der Mensch sein eigenes Leben nach dem Vorbild der sinnerfÝllten Kunst selbststÈndig und eigengesetzlich zu gestalten habe. Dieser Gedanke setzt eine umfassende Kritik der traditionellen Moralphilosophie und Wertsetzungen insgesamt in Gang. Diese Kritik ist fÝr die nachidealistische Philosophie vor allem methodisch als Alternative zur spekulativen Vernunftmetaphysik von exemplarischer Bedeutung geworden. Nietzsche rekonstruiert die %Moral aus ihrer historischen Entwicklung und erklÈrt sie im Rahmen einer ›Genealogie‹ (Jenseits von Gut und BÚse, 1886; Zur Genealogie der Moral, 1887). Dadurch verlieren die Prinzi-
35
pien etwa der christlichen Ethik oder der kantischen Moralphilosophie ihren letztverbindlichen und Ýberzeitlichen Charakter und werden im Lichte historischer und politischer Machtund Interesse-Konstellationen neu verstÈndlich. In einer psychologisch-kritischen Perspektive erscheinen Moral und Religion als Ausdruck einer unselbststÈndigen Lebenshaltung, die ihre eigene SchwÈche durch Rationalisierung zu Ýberdecken sucht. Das positive Resultat dieser Kritik ist die Idee einer LebensfÝhrung aus autonomer Selbstgestaltung, die jenseits der traditionellen Moral steht und sich die Werte des Handelns nicht vorgeben lÈsst, sondern eigenstÈndig setzt. Nietzsche hat diese Idee unter dem missverstÈndlichen Namen eines neuen Menschen, des so genannten Àbermenschen, entwickelt und ihr vor allem in Also sprach Zarathustra (1883–85) eine stilprÈgende literarische Gestalt gegeben. Das Ineinanderfließen von Dichtung und philosophischer Reflexion hat zu einer enormen Wirkung Nietzsches auch in Kunst und Literatur gefÝhrt; die tendenziÚse Umdeutung seiner vernunftkritischen Philosophie, etwa im Nationalsozialismus, hat lange Zeit dazu beigetragen, ihn zu einem der umstrittensten philosophischen Autoren zu machen. Eine der wirkungsvollsten Absetzbewegungen gegen den philosophischen Idealismus hat sich von der Mitte des 19. Jhs. bis heute im Namen der %Geschichte etabliert. Die Durchsetzung des historischen Denkens ist auf allen kulturellen Gebieten zu beobachten und fÝhrt zur Ersetzung der idealistischen Geistphilosophie durch historische Disziplinen. Bereits zu Hegels Lebzeiten war der Streit um die so genannte historische Rechtsschule, vor allem mit Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), gefÝhrt worden, die zur Disziplin der Rechtsgeschichte gefÝhrt hat. Hinzu treten Kunstgeschichte, Religionsgeschichte und nicht zuletzt auch Philosophiegeschichte. Besonders deutlich ist diese Tendenz in der Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der ›historischen Schule‹. Sie hat die Deutung historischer Ereignisse auf die Untersuchung des je spezifischen historischen Kontextes mit seinen je eigenen RegularitÈten und Besonderheiten zurÝckgefÝhrt. Das ist gegen ein idealistisches GeschichtsverstÈndnis gerichtet, das einzelne Ereignisse tendenziell in die Perspektive gesetzmÈßig fortschreitender Universalgeschich-
36
Neunzehntes Jahrhundert
te stellt. Das Ziel eines methodisch angeleiteten Verstehens der historischen VorgÈnge ist fÝr die historische Schule durch das wissenschaftlich abgesicherte Studium der historischen Einzelheiten zu erreichen. Die Entwicklung der methodischen Quellensicherung und Quellenkritik, die erstmals Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) in seiner RÚmischen Geschichte (1812–32) angewandt hatte, ist davon die Folge. Dass die Geschichte als erfahrungswissenschaftliche Disziplin anzulegen sei, hat der Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) in dem berÝhmten und programmatischen Anspruch ausgedrÝckt, sie habe zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«. Johann Gustav Droysen (1808–1884) hat mit seinem Grundriß der Historik (1858) den ersten umfassenden methodischen Kanon der Geschichtswissenschaft geliefert. Ein wichtiges spÈteres Dokument des geschichtswissenschaftlichen Historismus sind die Vorlesungen, die der Basler Kunsthistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) Ýber das Studium der Geschichte gehalten hat (aus dem Nachlass 1905 als Weltgeschichtliche Betrachtungen verÚffentlicht). Von herausragender Bedeutung fÝr die Entwicklung des Historismus als eigenstÈndige philosophische Position ist Dilthey gewesen. Im Mittelpunkt seiner Schriften steht die BemÝhung um eine historische und systematische Grundlegung der Geisteswissenschaften, die vor allem in der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1. Band 1883) und im SpÈtwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) ihren Niederschlag findet. Im Zentrum von Diltheys Konzeption steht die %Hermeneutik des Zusammenhangs von Erleben, Ausdruck und %Verstehen, der auf der umfassenden Grundlage des %Lebens insgesamt beschrieben wird. Das Resultat ist bei Dilthey eine so genannte Kritik der historischen Vernunft, die in den Vernunftbegriff die zeitlichen und handlungsabhÈngigen Bedingungen der VerÈnderlichkeit und %Endlichkeit des menschlichen Erkennens aufnimmt. Vernunft kann nie in einer absoluten Geistphilosophie zeitlos gÝltig zum Thema der Philosophie werden, sie muss vielmehr historisch situiert in ihren jeweiligen Kontexten beschrieben werden. Absolute GeltungsansprÝche werden zurÝckgewiesen, weil alle kulturellen PhÈnomene historisch bedingt, also von kontingenten ZeitumstÈnden abhÈngig
und daher variabel sind. Das ist der Kern von Diltheys philosophischem Historismus, der fÝr die Entwicklung der Hermeneutik im 20. Jh. (%Heidegger, %Gadamer, Blumenberg) bestimmend gewesen ist. Das 19. Jh. ist von den fortschreitenden Erfolgen in Naturwissenschaft und Technik in besonderer Weise geprÈgt. Einer der frÝhesten und zugleich radikalsten Versuche, die Philosophie dem Erkenntnisideal der Naturwissenschaft anzupassen, ist der so genannte Positivismus gewesen, der auf Comte zurÝckgeht. Comte hat in seinem Systme de politique positive (1825) das berÝhmte Drei-Stadien-Gesetz formuliert. Demzufolge verlÈuft die intellektuelle und soziale Entwicklung der Menschheit in den drei Stadien von Theologie, Metaphysik und Wissenschaft. Das Stadium der Wissenschaft ist das intellektuell eigentlich reife Stadium. Auf der Grundlage von empirischer Forschung und logischem Denken sollte das Wissen metaphysikfrei reorganisiert werden und das allgemeine Wohl der Menschheit herbeifÝhren. Comte hat die naturwissenschaftliche Methode insbesondere auf die Theorie der Gesellschaft angewandt, die er als soziale Physik entwickelt. Darin ist ihm im spÈten 19. Jh. der GrÝndungsvater der modernen Soziologie, Emile Durkheim (1858–1917), mit der Lehre von den sozialen Tatsachen gefolgt, die den intersubjektiven Bereich der Gesellschaft durch empirisch messbare Fakten kausal und ohne Zuhilfenahme innerer oder psychologischer Handlungsmotive erklÈren will. Eine besonders konsequente Àbernahme des Positivismus liegt im umfangreichen Werk von Hippolyte Taine (1828–1893) vor, der den Versuch unternommen hat, auch die GegenstÈnde der (spÈter so bezeichneten) Geistes- und Kulturwissenschaften, also etwa Geschichte, Kunst und Literatur, auf streng naturwissenschaftlich-kausaler Grundlage zu erklÈren. Eine Verbindung des klassischen englischen Empirismus mit der positivistischen Philosophie Comtes hat %Mill versucht (A System of Logic, 1843). Auf der anderen Seite sind die Schriften der exakten Wissenschaftler selbst zunehmend Teil der philosophischen Erkenntnistheorie geworden. Charles Darwin (1809–1882) hat mit der Theorie der Evolution die biologischen Wissenschaften revolutioniert (On the Origin of Species by Means of Natural Selection, 1859) und eine
Neunzehntes Jahrhundert
breite Rezeption in Gang gesetzt. Unter den Physikern mit philosophischer Wirkung sind Hermann Helmholtz (1821–1894; Die Tatsachen in der Wahrnehmung: ZÈhlen und Messen, erkenntnistheoretisch betrachtet, 1879) und Heinrich Hertz (1857–1894; Prinzipien der Mechanik, 1894) zu nennen, die selbst erkenntnistheoretische Schriften verÚffentlicht haben. Hinzu kommt die rasche Entwicklung der Mathematik im 19. Jh., die fÝr die Philosophie ebenfalls von erkenntnistheoretischer Relevanz gewesen ist. Hervorzuheben sind vor allem Georg Cantor (1845–1918) mit der Entwicklung der Mengenlehre, Richard Dedekind (1831–1916) als BegrÝnder der modernen Algebra und David Hilbert (1862–1943) mit seinen Forschungen Ýber die axiomatischen Grundlagen der Geometrie und der reellen Zahlen. Von Grundlagenproblemen der Mathematik war ursprÝnglich auch Frege ausgegangen. Probleme der Zahlentheorie und der groß angelegte Versuch, die gesamte Arithmetik aus der Logik abzuleiten, fÝhrten Frege zu einer radikalen Neukonstruktion der Logik auf mathematischer Grundlage (Grundlagen der Arithmetik, 1884; Grundgesetze der Arithmetik, 1893–1903). Sie gilt als der eigentliche Bruch mit der bis dahin vorherrschenden klassisch-aristotelischen Logik. Von Freges logischer Grundlagenforschung geht die gesamte neuere Logik aus. Frege ist auch der Erste, der ein umfassendes formales Zeichensystem fÝr die Logik und die Entwicklung logischer KalkÝle entworfen hat (Begriffsschrift, 1879). Von hÚchster Bedeutung sind die Folgerungen, die Freges logische Untersuchungen fÝr die Philosophie der Sprache und die Theorie der Bedeutung sprachlicher AusdrÝcke enthalten. Die berÝhmte Unterscheidung von Sinn und Bedeutung gehÚrt dazu ebenso wie die grundsÈtzliche KlÈrung dessen, wie zum Beispiel Namen, Begriffe, SÈtze und Urteile aufzufassen sind. Freges Àberlegungen zur Sprache, die in wenigen, zumeist knappen AufsÈtzen zusammengefasst sind, sind zum Ursprung der sprachanalytischen Philosophie geworden und haben damit eine der einflussreichsten Richtungen der Philosophie des 20. Jhs. in Gang gesetzt. Bezeichnend fÝr die Wissenschaftsbezogenheit der Epoche ist die breite StrÚmung des so genannten %Neukantianismus gewesen, der das gesamte spÈtere 19. Jh. thematisch und wissen-
37
schaftspolitisch beherrscht hat und der erst mit dem ersten Weltkrieg erkennbar an Einfluss verloren hat. Otto Liebmann (1840–1912) hatte der Bewegung 1865 in seinem Buch Kant und die Epigonen eine sinnfÈllige Parole gegeben, indem er am Ende jedes einzelnen Kapitels refrainartig den Satz wiederholte: »Es muss auf Kant zurÝckgegangen werden!« Dahinter stand der Gedanke, dass die philosophische Reflexion angesichts des wissenschaftlich-technischen Fortschritts einer brauchbaren Erkenntnistheorie bedarf, die man in der kantischen Philosophie (in Abgrenzung zum Idealismus) gefunden zu haben glaubte. Ein Zentrum des Neukantianismus war Marburg. Mit Cohen und Natorp ist der Name der %Marburger Schule verbunden. Cohen hat Kants theoretische Philosophie als eine Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung gelesen (Kants Theorie der Erfahrung, 1871, weitere Auflagen 1885 und 1918). Die von Cohen entwickelte transzendentale Methode untersucht am ›Faktum der Wissenschaft‹ die formalen Bedingungen wissenschaftlicher Erfahrung durch eine Reflexion auf die Geltungsbedingungen wissenschaftlicher SÈtze. Diese Untersuchung hat in Bezug auf die Wissenschaft eine beschreibendexplikative Funktion, ohne sie im strengen Sinn begrÝnden zu wollen. Das Resultat ist eine transzendentale Kategorienlehre, die sich im entscheidenden Unterschied zu Kant als historisch wandelbar begreift, insofern auch die Naturwissenschaft selbst stÈndigem Fortschritt unterliegt (Logik der reinen Erkenntnis, 1902, weitere Auflagen 1914 und 1922). Natorp hat die Erkenntnistheorie Cohens fortgefÝhrt (Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 1910) und hat neben bedeutenden philosophiehistorischen (Platos Ideenlehre, 1903) und pÈdagogischen Schriften dann vor allem mit seiner Allgemeinen Psychologie (1912) die Grundlagen einer transzendental-logischen Bewusstseinslehre geliefert. Parallel zur Theorie naturwissenschaftlicher Erkenntnis haben Cohen und Natorp auch eine allgemeine Kulturtheorie auf moralphilosophischer Grundlage geliefert. Sie ÝbertrÈgt die transzendentale Methode auf Ethik, sthetik, Geschichts- und Religionsphilosophie. In der so genannten sÝddeutschen Schule des Neukantianismus, mit Zentren in Freiburg und
38
Gegenwart
Zwanzigstes Jahrhundert
Heidelberg, ist das Problem der methodologischen Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bestimmend gewesen, die Windelband erstmals formuliert hat. Rickert hat sie in seinem wissenschaftstheoretischen Hauptwerk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1896/1902, viele weitere Auflagen) ausgebaut. Einflussreich ist Rickerts Konzeption eines Systems von Werten gewesen, das den Bereich praktischer Orientierung begrifflich erfassen soll und damit die Grundlage der Kulturphilosophie bildet. WÈhrend die Naturwissenschaften empirische PhÈnomene durch die Unterordnung unter Naturgesetze zu erklÈren suchen (nomothetische, d. h. auf das Gesetz bezogene Methode), beziehen die Geisteswissenschaften das historisch einzelne Vorkommnis auf die Kulturwerte und geben ihm damit innerhalb der Vielfalt der Ereignisse den Charakter eines Gegenstandes der Kultur (idiographische, d. h. auf das Einzelne bezogene Methode). Das Resultat ist bei Rickert eine umgreifende Kulturphilosophie in der Form einer Theorie verschiedener Wert- und GeltungssphÈren. Der bedeutendste Vermittler des Neukantianismus in die Philosophie des 20. Jhs. ist %Cassirer, Marburger SchÝler von Cohen und Natorp, gewesen. Cassirer ist zunÈchst mit systematischen Untersuchungen zur Begriffsbildung in Mathematik und Naturwissenschaften (Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910) und mit einer umfangreichen Problemgeschichte der neuzeitlichen Philosophie hervorgetreten (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 1906–1957). Seine eigenstÈndige Position hat sich dann als so genannte Symbolphilosophie in der dreibÈndigen Philosophie der symbolischen Formen (1923–29) artikuliert. Cassirer interpretiert hier die Vielfalt intersubjektiv geteilter Erfahrungswelten auf der Grundlage je eigener ›symbolisch‹, d. h. im weitesten Sinne sprachlich verfasster Weisen des Weltverstehens, wie sie etwa in Kunst, Mythos, Religion, Alltagssprache, aber auch in der Wissenschaft vorliegen. Cassirers kulturphilosophische BemÝhung, die Vielfalt der modernen Erfahrungswelten durch die systematische Einheit der symbolischen Formen auf den Begriff zu bringen, hat als einer der bedeutenden philosophischen EntwÝrfe des 20. Jhs. neuerdings wieder Beachtung gefunden.
W. Hogrebe, Deutsche Philosophie im 19. Jh. Kritik der idealistischen Vernunft, MÝnchen 1987 K. Ch. KÚhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantia nismus. Die deutsche UniversitÈtsphilosophie zwi schen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1986 K. LÚwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionÈre Bruch im Denken des 19. Jhs., (1941) Hamburg 1995 H. SchnÈdelbach, Philosophie in Deutschland 1831 1933, Frankfurt/M. 1983 G. K.
Gegenwart – Zwanzigstes Jahrhundert Die Philosophie der Gegenwart ist von Entwicklungen und Traditionen geprÈgt, die das soeben zu Ende gegangene Jahrhundert bestimmt haben. Das 20. Jh. gilt allgemein als eine Epoche der Krisen und Totalitarismen. Politisch markiert der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Beginn eines neuen Zeitalters; doch manifestiert sich in diesem Ereignis die allgemeine kulturelle Krisensituation, die schon im 19. Jh. einerseits durch die von %Marx, %Kierkegaard und %Nietzsche verbreiteten geistigen TraditionsbrÝche, andererseits durch die Fortschritte in Wissenschaft, Wirtschaft und Technik heraufbeschworen wurde. Die BemÝhungen zu Beginn des 20. Jhs., diese Herausforderungen zu bewÈltigen, fÝhrten zu Entstehung neuer philosophischer Traditionen besonders in Deutschland. In der %PhÈnomenologie erfolgte der letzte groß angelegte Versuch einer LetztbegrÝndung der Philosophie sowie eine ZurÝckweisung der naturalistischen AnsprÝche des %Positivismus, der die Philosophie als ein durch Naturwissenschaft und Gesellschaftstheorie Ýberwundenes Zwischenstadium abqualifizierte. UnterstÝtzung fanden die Angriffe der PhÈnomenologie gegen den Positivismus durch die neue %Hermeneutik mit ihren lebensphilosophischen Antithesen und durch den %Neukantianismus, dessen Transzendentalismus nicht nur die Grundlagen und Grenzen der Wissenschaften problematisierte, sondern zugleich fast alle bedeutenden Philosophen der ersten JahrhunderthÈlfte beeinflusste. In %Heideggers Sein und Zeit (1927) wurden die genannten Traditionen gebÝndelt und in einer neuen Sichtweise Ýberstiegen. Heidegger fragte nach dem Sinn von PhÈnomenalitÈt, nach dem Subjekt der TranszendentalitÈt und nach
Gegenwart
der daseinsanalytischen Fundierung des Verstehens. %Verstehen wurde zur Seinsart des %Daseins. An die Stelle der Bewusstseinsanalysen traten Daseinsanalysen, das transzendentale Ich %Husserls wich dem endlichen Dasein in der Zeit und die ewig gleichen Wesenheiten lÚsten sich im Wirbel der %Geschichtlichkeit auf. Heideggers »Kehre«, die Anfang der dreißiger Jahre vollzogen wurde, ließ alle Aspekte der SubjektivitÈt hinter sich und erhob die Erfahrung des UnverfÝgbaren zur zentralen Thematik. In seiner Metaphysikkritik propagierte Heidegger eine vÚllig neue, der Endlichkeit und Zeitlichkeit verpflichtete Denkweise, die jede LetztbegrÝndung ad absurdum fÝhrte und der darin zum Ausdruck kommenden philosophischen SelbstermÈchtigung ein seinsbezogenes Ereignis an die Seite stellt. Heidegger diagnostizierte den totalitÈren Charakter der gesamten abendlÈndischen Kultur als schicksalhafte Folge des seinsvergessenen Denkens. Seine Kulturkritik gab den zahlreichen wissenschafts- und technikfeindlichen Tendenzen der zweiten JahrhunderthÈlfte ein philosophisches Fundament. Parallel zu diesen neuen, in der seinsgeschichtlichen Metaphysikkritik gipfelnden Traditionen auf dem Kontinent entstand im angelsÈchsischen Sprachbereich die so genannte %analytische Philosophie, die zunÈchst mit Hilfe von %Logik und Sprachanalyse die Grundlagenkrisen in Mathematik und Physik zu Ýberwinden versuchte, dann aber ihre stark an Naturwissenschaft und common sense orientierte Methode auch fÝr die gesamte Philosophie fruchtbar machte. Hier wurde also der entgegengesetzte Weg eingeschlagen, indem man %Wissenschaft und %Leben philosophisch zu versÚhnen suchte. Die Bedrohungen in einer verwissenschaftlichten Welt wurden nicht als ›Seinsgeschick‹, sondern als Herausforderung aufgefasst, die der Analyse und aktiven Gegensteuerung bedurfte. Man entwickelte ein neues VerhÈltnis zur %Sprache und erkannte die MÈngel des alten Positivismus. Besonders im %Neupositivismus des %Wiener Kreises (Schlick, Neurath, %Carnap) und in der durch die deutschen Emigranten der dreißiger Jahre befruchteten amerikanischen Philosophie (%Quine) trat der %Empirismus mit einem neuen Selbstbewusstsein auf, indem er Logik und Sprachanalyse fÝr seine Zwecke einsetzte.
Zwanzigstes Jahrhundert
39
Doch %Wittgenstein, der schon im Tractatus die SelbstwidersprÝchlichkeit des nur auf Logik und Naturwissenschaft beschrÈnkten Denkens erkannt hatte, ging in seiner SpÈtphilosophie Ýber alle analytischen Schulbildungen hinaus. Er postulierte Sprache als kommunikativ fundierte Grundkategorie der gesamten Wirklichkeit und entwickelte daraus eine in Lebensformen verankerte %Sprachspiel-Konzeption, die es ermÚglichte, philosophische Fragen durch KlÈrung von sprachlichen Verirrungen zum Verschwinden zu bringen. In der »Kehre« Heideggers und in der »sprachlichen Wende« Wittgensteins trat die ursprÝngliche, kritische Grundtendenz modernen Philosophierens wieder zutage, die eine Zeit lang hinter der BeschÈftigung mit Einzelanalysen in hermeneutischem beziehungsweise analytischem Geiste verborgen geblieben war. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen sich eine Reihe weiterer kritischer Modifikationen und Wenden, die Èhnliche AuflÚsungserscheinungen signalisierten und die Existenzberechtigung der Philosophie als solche in Frage stellten. Nach den Katastrophen der nationalsozialistischen und stalinistischen Totalitarismen stellte sich die Frage nach den geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ein solches Unheil ermÚglicht hatten. Die Philosophie entdeckte die %Gesellschaft als Fundamentalkategorie und die Gesellschaftstheorie Ýbernahm die Rolle einer ›ersten Philosophie‹. In der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die nach dem gewachsenen Einfluss marxistischer Gedanken schon in den dreißiger Jahren die treibenden KrÈfte innerhalb ›der kapitalistischen Gesellschaft‹ analysiert hatte, erfolgte eine Wende von der Philosophie zur Soziologie. In ihr verstÈrkte sich die Kritik an der bÝrgerlichen Kultur, wie sie auf vÚllig andere Weise schon in Spenglers Untergang des Abendlandes (1918) ihren ersten Ausdruck gefunden hatte. In der so genannten negativen Dialektik (%Adorno) wurden die sich widersprechenden Elemente der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung) illusionslos aufgedeckt und insbesondere die Tendenz der aufgeklÈrten Vernunft zu Gewalt und UnterdrÝckung an den Pranger gestellt. %Habermas und Apel transformierten diese resignative %Dialektik in eine Theorie des kommunikativen Handelns und des vernÝnftigen GesprÈchs.
40
Gegenwart
Zwanzigstes Jahrhundert
Eine besonders intensive Reaktion auf die geistigen Verwerfungen fÝhrte zur totalen Abwendung von der Vernunft durch die Verbreitung existenzphilosophischer EntwÝrfe. In der %Existenzphilosophie, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und spÈter vor allem in Frankreich ausbreitete, finden sich Analysen zur Grundstimmung des modernen Menschen. Die Suche nach Kompromissen in bedrohlichen Àberlebenssituationen bewirkte in der ›pragmatischen Wende‹ schließlich eine Selbstbescheidung der Philosophie. Nach der Dialektik der AufklÈrung, nach der VerflÝchtigung des LetztbegrÝndungs-Gedankens in das Postulat der idealen Kommunikationsgemeinschaft und nach der Sprachlosigkeit der existenziellen Denker blieb als einzige MÚglichkeit der »Abschied vom Prinzipiellen« (Marquard). Unter RÝckgriff auf den amerikanischen Pragmatismus und durch die Einbeziehung analytischer und konstruktivistischer Anregungen etablierten sich praktische und medizinische %Ethiken, Philosophien der ³konomie und Formen der %Technikphilosophie. Die Suche nach Leitlinien des Handelns zur aktuellen DaseinsbewÈltigung im weitesten anthropologischen und sozialen Sinne trat an die Stelle der Systematisierung objektiver Wahrheiten in einer philosophia perennis. Am Ende des 20. Jhs. stehen wir vor einer ÀberfÝlle von Themen, Einzeluntersuchungen und Disziplinen, die sich als philosophische BeitrÈge prÈsentieren. Neben umfangreichen Untersuchungen zur Philosophiegeschichte und zur Interpretation klassischer Texte lassen sich zwei weitere Tendenzen aufzeigen: zum einen die postmodernen BemÝhungen, die PluralitÈt positiv und als Chance fÝr eine neue philosophische Konzeption zu deuten, zum anderen die naturalistischen Betrachtungsweisen, die durch die Verwissenschaftlichung unserer Existenz rigoros vorangetrieben wurden. Die BeschÈftigung mit der Philosophiegeschichte hat in Deutschland, Italien und Frankreich eine lange Tradition und wurde neuerdings in %Gadamers These von der Philosophie als Horizontverschmelzung des SelbstverstÈndnisses mit dem VorverstÈndnis philosophischer Klassiker neu artikuliert. Philosophie beginnt danach weder beim Nullpunkt selbstevidenter SubjektivitÈt noch durch wissenschaftliche Kontrolle reflexiver Prozesse, sondern reali-
siert sich im immer wieder neu gefÝhrten GesprÈch mit den klassischen Denkern und damit durch die Einordnung in den großen Traditionszusammenhang. Zahlreiche Impulse zur Analyse der geschichtlichen Entwicklungslinien hin zur Gegenwart gingen von Ritter und seinen SchÝlern aus. Unter Betonung der Bedeutsamkeit der Geschichtlichkeit stellt sich Ritter gegen die mystifizierende Eigentlichkeit existenzphilosophischer Entscheidungen und verweist auf die Bedeutung der Institutionen des Rechts und der Sitten fÝr die Konkretion menschlichen Daseins. Der Mensch braucht objektive ZusammenhÈnge als Bedingung fÝr ein verantwortungsvolles Leben in der Gesellschaft. Dazu liefert die praktische Philosophie des Aristoteles zahlreiches Material. Aber dieser RÝckgriff wird fÝr Ritter nur dann fruchtbar, wenn er durch das hegelsche Freiheitsprinzip ergÈnzt wird. In diesem erhebt der Mensch die %Freiheit seines Denkens, seines Handelns und seiner Religion zur autonomen Instanz seiner SubjektivitÈt. So verbinden sich in dieser Auffassung die historische Forschung mit dem systematischen Entwurf und die Tradition mit der AufklÈrung. Bei LÝbbe richtet sich das Geschichtsdenken gegen Zivilisationskritik, Wissenschaftsfeindlichkeit und Untergangsprophetien, aber auch gegen Utopien, wie sie im Marxismus und in der Idee vom voll emanzipierten Diskursobjekt (Habermas) vorzufinden sind. Seine BemÝhungen zielen auf die Erhaltung des BewÈhrten in Politik und Gesellschaft, wozu er LiberalitÈt, %Menschenrechte, freie Marktwirtschaft und die Institutionen der Demokratie zÈhlt. Philosophie ist nicht dazu da, die Wirklichkeit zu beschreiben, was die Wissenschaften besser kÚnnen, oder gar das GlÝck der Menschen zu verwirklichen, sondern ihre Aufgabe besteht in der LÚsung von Orientierungskrisen. Spaemann relativiert die Geschichtsinterpretation insofern, als er aus den Werken der Großen – das sind fÝr ihn vor allem %Platon, Aristoteles, Augustinus und %Thomas von Aquin – zeitlose Antworten herausliest, die auch fÝr die ethischen Herausforderungen unserer Tage von Bedeutung sind. Der Idee einer metaphysikfreien Ethik (Patzig) stellt er die These entgegen, dass es keine Ethik ohne %Metaphysik geben kann, die ihrerseits die Quellen in einem transzendierenden %Unbedingten hat. Davon zeugen nach Spaemann die %Teleologie al-
Gegenwart
les Seienden, die durch %Kommunikation bedingte Struktur des ethischen Subjekts und dessen unabdingbare WÝrde. Aber auch andere Denker versuchen, durch historische Untersuchungen einiges vom Erfahrungsschatz der vergangenen zwei Jahrtausende zu heben und durch Neuinterpretation mit der %Lebenswelt der Moderne in Einklang zu bringen. Blumenberg beispielsweise widmet viele Analysen den EpochenumbrÝchen und hier besonders ausfÝhrlich dem Àbergang zur Neuzeit. Unter Verwendung zahlreicher Metaphern, die unsere Existenz prÈgen, beschreibt er das Denken der Neuzeit als ateleologischen Selbsterhaltungsprozess. Der neuzeitliche Mensch fragt nicht mehr demÝtig nach der vorgegebenen Seinsordnung, sondern bemÝht sich selbstbewusst um die ›Herstellbarkeit der PhÈnomene‹, das heißt um dasjenige, was er zu konstruieren und als Norm zu entwerfen vermag. Blumenberg stellt zahlreiche gÈngige Thesen Ýber die Neuzeit in Frage, wie beispielsweise deren Interpretation als Ergebnis einer SÈkularisierung christlicher BestÈnde oder die Deutung des Fortschritts als Folge eschatologischen Denkens. Zusammenfassend lÈsst sich sagen, dass die Versuche, aus der geschichtlichen Entwicklung und aus den GedankengebÈuden der »großen Philosophen« (Jaspers) bedeutsame Hinweise zum VerstÈndnis menschlicher DaseinsverhÈltnisse zu gewinnen, in vielen FÈllen nicht nur zu Skepsis und kritischer Distanz fÝhrten. Sie sind in ihren Ergebnissen so vielfÈltig und kontrovers, dass man von einer »neuen UnÝbersichtlichkeit« (Habermas) sprechen kann. Da die InkommensurabilitÈt der Anschauungen durch die Aufwertung der Geschichtlichkeit und die damit verbundenen Relativierungen unÝbersehbar ist, versuchte die philosophische Postmoderne die PluralitÈt der Konzeptionen als Fortschritt zu deuten. Dabei ist zu beachten, dass die Vielzahl der Artikulationen nicht nur die verschiedenen Richtungen und Standpunkte innerhalb der klassischen Themen der Philosophie betrifft, sondern auch vÚllig neue BetÈtigungsfelder erschlossen wurden. Neben der Problematisierung der eigenen %Kultur finden wir Theorien Ýber multikulturelle Denkweisen, zur neu entstandenen feministischen Philosophie tritt eine Kinderphilosophie, durch die enormen AusbreitungsmÚglichkeiten der modernen Kommunikationsmittel etabliert sich eine Medienphi-
Zwanzigstes Jahrhundert
41
losophie und in philosophischen Praxen Ýbernimmt die Philosophie allgemeinbildende und therapeutische Funktionen fÝr Manager, sozial Engagierte und Hilfesuchende. Die %Postmoderne als philosophisches Konzept bezieht sich im Allgemeinen auf die eigene philosophische Tradition, die bisher von den Klassikern beherrscht wurde. Obwohl das Wort Postmoderne die Bedeutung ›nach der Moderne‹ enthÈlt, werden dort durchaus auch WesenszÝge der Moderne bewahrt, sodass Welsch von »unserer postmodernen Moderne« sprechen kann. Die Postmoderne hÈlt an der autonomen Emanzipation der Menschen in das Reich der Freiheit und an der BeschrÈnkung auf das endliche %Sein fest. Als Ýberwunden dagegen gelten die Harmonisierungen und Fortschrittsideen in Wissenschaft und Gesellschaft, die seit Auschwitz und Hiroshima jeden Sinn verloren haben. Der Kampf richtet sich vor allem gegen die »Meisterdenker« (Glucksmann), deren Gedanken als geistige Totalitarismen gedeutet werden, welche den politischen Gewaltherrschaften den Weg geebnet haben. Die Philosophie der %Prinzipien und LetztbegrÝndungen, der %Systeme und ›großen Geschichten‹, wie wir sie in AufklÈrung, %Idealismus, PhÈnomenologie, neomarxistischer Dialektik und in modernen Kommunikations- und %Systemtheorien vorfinden, wird in eine Philosophie der ›kleinen Geschichten‹ oder in eine »narrative Philosophie« (Rorty) verwandelt. An die Stelle der philosophischen Architektonik der %Vernunft treten kurzlebige Skizzen zur Realisierung des glÝcklichen Lebens, in denen sich die Konfrontationen der Prinzipien auflÚsen. Freiheit, OriginalitÈt, VitalitÈt und AuffÈlligkeit sind die Kriterien, die trotz PluralitÈt, DiskontinuitÈt, Widerstreit und Ambivalenz eine neue Lebensform ermÚglichen sollen. Da jede Lebensform einen Rahmen fester Àberzeugungen voraussetzt, scheint sich hinter der neuen Konzeption nur eine Variante des aufgeklÈrten %Skeptizismus zu verbergen, der ohne Festlegungen existieren zu kÚnnen glaubt. Kein Wunder, dass sich in diesem Umfeld die AuflÚsung der Philosophie verstÈrkte. Kulturkritiker, Publizisten, Journalisten, Kunstkritiker, KÝnstler, Regisseure und Talkmaster fÝhlen sich kompetent, auf Fragen Antworten zu geben, um die sich einst Philosophen bemÝhten. Eben diese Entwicklung bedingte in Frankreich, der Hoch-
42
Gegenwart
Zwanzigstes Jahrhundert
burg der Postmoderne (%Derrida, Lyotard, Lacan, Barthes, Baudrillard), einen Gesinnungswandel. Die Szene wird nicht mehr von pauschalen VerdÈchtigungen beherrscht, in denen ein falsches, von der Vernunft verfÝhrtes totalitÈres Bewusstsein entlarvt wird, sondern man bemÝht sich in konkreten Analysen der menschlichen Verhaltensweisen um eine Neuorientierung, welche die Klassiker wieder ernst nimmt und dem Diskurs um ein Ende der Philosophie entgegenwirkt. Eine gewichtige Stimme gegen Skeptizismus, Relativismus und pluralistische Unbestimmtheit ganz anderer Provenienz erheben zahlreiche Denker, die von der fundamentalen Bedeutung der modernen Naturwissenschaften Ýberzeugt sind und jene Fragen im Sinne eines philosophischen Naturalismus zu beantworten suchen. Die Geschichte der Philosophie zeigt, dass sich immer mehr Teilgebiete zu wissenschaftlichen Einzeldisziplinen verselbststÈndigt haben, sodass Russell die Philosophie geradezu als Restbestand der von den Wissenschaften noch nicht bearbeiteten Bereiche betrachtete. Sogar die innerhalb der analytischen Philosophie verbreitete Interpretation der Philosophie als wissenschaftstheoretische Metatheorie verlor nach der Emanzipation der %Logik, Grundlagenmathematik, %Semantik und neuerdings der physikalischen %Kosmologie ihren Gegenstand. So verbreitete sich im Laufe der Zeit die naturalistische Denkweise, in der die philosophischen Probleme innerhalb des naturwissenschaftlichen Naturkonzepts behandelt werden. Dabei verwischen sich die Grenzen zwischen Philosophie und Wissenschaft (Quine), und die philosophische Kompetenz wird nicht mehr ausschließlich der Physik, sondern vor allem der Biologie und Informationswissenschaft Ýbertragen. Eine herausragende Rolle in dieser Entwicklung kommt der Philosophy of Mind zu, in der man die geistigen PhÈnomene wie %IntentionalitÈt, %Bewusstsein, Willensfreiheit u. È. zunÈchst sprachanalytisch zu klÈren versuchte (Chisholm, Nagel, Davidson, Dennett, Sellars), um zu verstehen, welche Fragestellungen Ýberhaupt sinnvoll sind. Inzwischen ist in vielen FÈllen an die Stelle der begrifflichen und logischen Fragen der Versuch getreten, eben jene PhÈnomene auf der Grundlage der physikalischen und
neurobiologischen Wissenschaften als Teile des Naturgeschehens zu erklÈren. Dabei wird aus erkenntnistheoretischen GrÝnden eine physikalische einheitliche TrÈgersubstanz postuliert, andererseits aber auf Grund der Ergebnisse der %Chaostheorie PluralitÈt in den emergenten AusprÈgungen verschiedener Seinsschichten zugestanden. Der zugrunde liegende holistische Naturbegriff erinnert durch die Annahme von emergenten und selbstorganisatorischen Prozessen zwar an organismische Naturkonzepte (%Schelling, V. von WeizsÈcker), wird in der Praxis aber meistens einem rigiden %Materialismus und %Reduktionismus unterworfen. Die naturgesetzlichen Prozesse kÚnnen danach zwar nicht mehr durchgÈngig vorausberechnet werden, bleiben aber dennoch determiniert. Freiheit, moralisches und partnerschaftliches Verhalten der Menschen, seine EmotionalitÈt und Leiblichkeit, ja der Umgang mit der Natur selbst scheinen einer naturbedingten Eigendynamik unterworfen zu sein. Diese durch GrenzÝberschreitungen heraufbeschworene naturalistische Radikalisierung der VerfÝgungsgewalt Ýber die Natur erfÈhrt in der Gegenwart ihre absolute KrÚnung, indem sich die Menschheit anschickt, sich mit Hilfe von GenverÈnderungen selbst zu konstruieren. So steht die Gegenwartsphilosophie vor der Aufgabe, diesen eindeutigen und durch relativierende Betrachtungsweisen nicht wegzuinterpretierenden Herausforderungen zu begegnen. Ob ihr die BewÈltigung durch pragmatische Kompromisse oder doch nur durch den RÝckgriff auf bestimmte Elemente der ›großen ErzÈhlungen‹ – sei es humaner, Úkologischer oder gar transzendenter Art – gelingt, ist eine offene Frage. A. HÝgli / P. LÝbcke (Hg.), Philosophie im 20. Jh., 2 Bde., Reinbek 1992 E. Nordhofen (Hg.), Physiognomien. Philosophen des 20. Jhs. in PortrÈts, KÚnigstein 1980 H. SchnÈdelbach, Philosophie in Deutschland 1831 1933, Frankfurt/M. 1983 W. StegmÝller, HauptstrÚmungen der Gegenwartsphi losophie, 4 Bde., Stuttgart 1960 ff. K. Wuchterl, Bausteine zu einer Geschichte der Philoso phie des 20. Jahrhunderts, Basel / Stuttgart / Wien 1995 K. W.
B Denker
1. Alphabetisches Philosophenverzeichnis Abaelard (1079–1142): FranzÚsischer FrÝhscholastiker.
Albert, Karl (*1921): Deutscher Philosoph, Denker im Umkreis des Existenzialismus.
Abendroth, Wolfgang (1906–1985): Deutscher Sozialwissenschaftler marxistischer PrÈgung.
Albertus Magnus (um 1200–1280): Albert der Große, deutscher Dominikaner der Hochscholastik.
Acham, Karl (*1939): Deutscher Philosoph und Soziologe. Adamantius Origenes Adelhard von Bath FrÝhscholastiker. Adler, Max xist.
%D’Alembert, Jean le Rond
%Origenes
(1090–1160): Englischer
(1873–1937): ³sterreichischer Mar-
Adorno, Theodor W. (1903–1969): Deutscher Sozialphilosoph der Frankfurter Schule, %B, 2. Aenesidemus (um 1. Jh. v. Chr.): Griechischer, spÈtantiker Philosoph der skeptischen Schule des Hellenismus. Agrippa von Nettesheim (1486–1535): Deutscher Philosoph, Arzt und Schriftsteller, der Neuplatonismus, Okkultismus, Alchemie und Astrologie miteinander verband. Albert der Große
Alembert
%Albertus Magnus
Alexander von Aphrodisias (um 200 n. Chr.): Bedeutender griechischer Kommentator der Werke des Aristoteles. Alfarabi (um 870–950): Auch al-Farabi, arabisch-islamischer Philosoph aus Turkestan, bedeutender Kommentator der platonischen und aristotelischen Philosophie. Alkmaion (um 520 v. Chr.): Griechischer Philosoph der Èlteren pythagoreischen Schule. Alkuin (um 730–804): Englischer FrÝhscholastiker, Lehrer und Freund Karls des Großen. Althus(ius), Johannes (1557–1638): Deutscher Rechts- und Staatsphilosoph der Renaissance.
Albert von Sachsen (1316–1390): Deutscher spÈtscholastischer Denker des Nominalismus.
Althusser, Louis (1918–1990): FranzÚsischer Denker des Strukturalismus, Neumarxist.
Albert, Hans (*1921): Deutscher Philosoph des kritischen Rationalismus.
` ne († 1206): FranzÚsischer Amalrich von Be Mystiker und FrÝhscholastiker.
44
Ambrosius von Mailand
Ambrosius von Mailand (340–397): Deutscher christlicher Ethiker, einer der KirchenvÈter.
Apollonius von Tyana (um das Ende des 1. Jh. n. Chr.): Griechischer Philosoph, vertrat einen Kosmopolitismus.
Ammonios Sakkas (um 175–242): Neuplatonischer griechischer Philosoph und GrÝnder der spÈtantiken hellenistischen Neueren Akademie, einer Schule des Neuplatonismus.
Archytas von Tarent (um 400–365): Griechischer Philosoph der jÝngeren pythagoreischen Schule.
Anaxagoras (um 500–428): Vorsokratischer griechischer Philosoph. Anaxarch (um 380–323): Vorsokratischer griechischer Philosoph, Lehrer des Pyrrhon von Elis. Anaximander von Milet (um 611–545): Vorsokratischer griechischer Philosoph der ionischen Naturphilosophie, %B, 2. Anaximenes von Milet (um 580–525): Vorsokratischer griechischer Philosoph der ionischen Naturphilosophie. Anders, Gu ¨ nther (1902–1992): Deutscher Denker der Kulturkritik. Andronikos (-us) von Rhodos (1. Jh. v. Chr.): Griechischer Philosoph, erstellte eine Gesamtausgabe der Werke des Aristoteles (Corpus Aristotelicum).
Arendt, Hannah (1906–1975): Deutsche Sozialphilosophin und Denkerin der Politik. Aristarchos von Samos (um 250 v. Chr.): Griechischer spÈtantiker Philosoph des jÝngeren Peripatos, einer aristotelischen Schule des Hellenismus. Aristipp(os) (um 435–355): Griechischer Philosoph der Kyrenaiker oder Hedoniker, einer sokratischen Schule. Ariston von Chios (Lebensdaten unbekannt): Griechischer Philosoph der alten Stoa, SchÝler des Zenon. Aristoteles (384–322): Griechischer Philosoph, markiert gemeinsam mit Platon der HÚhepunkt der klassischen griechischen Philosophie, %B, 2.
Angelus Silesius (1624–1677): Johann Scheffler, deutscher Mystiker und Dichter.
Aristoxenos von Tarent (um 350 v. Chr.): Griechischer Philosoph des Èlteren Peripatos, einer aristotelischen Schule des Hellenismus.
Anselm von Canterbury (1034–1109): Italienischer FrÝhscholastiker, im Nominalismusstreit auf der Seite der Realisten.
Arkesilaos (315–241): Griechischer Philosoph der spÈtantiken jÝngeren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus.
Antiochos von Askalon (um 80 v. Chr.): Griechischer neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken Neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus.
Arnauld, Antoine (1612–1694): FranzÚsischer Theologe von Port-Royal, AnhÈnger von Descartes und Pascal.
Antiphon (480–411): Griechischer Denker der jÝngeren Sophistik.
Arnold, Gottfried (1666–1714): Deutscher evangelischer Theologe, kritisierte den Abfall der Kirche vom Urchristentum.
Antisthenes (um 444–368): Griechischer Philosoph und GrÝnder der Kyniker, einer sokratischen Philosophenschule im Hellenismus.
Arouet, Franc¸ois Marie
Apel, Karl Otto (*1922): Deutscher Philosoph einer transzendentalen Sprachpragmatik.
%Voltaire
Ast, Georg Anton Friedrich (1776–1841): Deutscher Philosoph und Philologe, beschÈftigte sich mit Platon, sthetik und Hermeneutik.
Bentham, Jeremy
45
Athenagoras (2. HÈlfte 2. Jh. n. Chr.): Griechischer Philosoph der christlich-platonischen Schule, einer der Apologetischen VÈter.
Bakunin, Michail Alexandrowitsch (1814– 1876): Russischer Denker der sozialen Revolution und des Anarchismus.
Augustin(us) (354–430): RÚmischer hellenistischer Philosoph und Theologe, einer der wichtigsten KirchenvÈter, %B, 2.
Barth, Karl (886–1968): Schweizer evangelischer Theologe.
Aurelius Augustinus
%Augustinus
Austin, John L. (1911–1960): Englischer Philosoph der analytischen und Sprachphilosophie, entwickelte die Sprechakttheorie. Averroe ¨ s (1126–1198): Mohammed Ibn Ruschd, spanischer Philosoph des Hellenismus, in der aristotelischen Tradition stehend. Avicenna (980–1037): Abu Ali al-Hussain Ibn Sina, persischer Philosoph des Hellenismus, in der aristotelischen Tradition stehend. Ayer, Alfred Jules (*1910): Englischer Philosoph der analytischen Philosophie und Logiker. Baader, Franz Xaver von (1765–1841): Vielseitiger deutscher Philosoph, der Ýber soziale, Úkonomische und politische Probleme nachdachte. Babeuf, Franc¸ois Noe ¨l (1760–1797): FranzÚsischer Denker der AufklÈrung, der Gesellschaft und der politischen Revolution. Bachofen, Johann Jakob (1815–1887): Schweizer Rechts- und Religionshistoriker. Bacon, Francis (1561–1626): Englischer Philosoph des Empirismus, der eine Verbindung von Wissenschaft und politisch-gesellschaftlichem Handeln suchte, %B, 2. Bacon, Roger (1214–1294): Englischer Denker der Scholastik. Baeumler, Alfred (1887–1968): Deutscher Philosoph, arbeitete an einem symbolischen Realismus und an einer Grundlegung des nationalsozialistischen Denkens.
Barthes, Roland (1915–1980): FranzÚsischer Denker des Strukturalismus. Bataille, Georges (1897–1962): FranzÚsischer Denker zwischen Existenzialismus und Strukturalismus. Baudrillard, Jean (*1929): FranzÚsischer Philosoph der Postmoderne. Bauer, Bruno (1809–1882): Deutscher Philosoph, Junghegelianer und Religionskritiker. Baumgarten, Alexander Gottlieb (1714– 1762): Deutscher Philosoph und BegrÝnder der modernen sthetik. Baumgartner, Hans-Michael (1933–1999): Deutscher Philosoph, versuchte eine Erneuerung der Transzendentalphilosophie. Bayle, Pierre (1647–1706): FranzÚsischer Philosoph der AufklÈrung. Beauvoir, Simone de (1908–1986): FranzÚsische philosophische Schriftstellerin im Umkreis des Existenzialimus und Feminismus. Becher, Erich (1882–1929): Deutscher Philosoph des kritischen Realismus. Beda Venerabilis (674–735): Englischer Philosoph, der das antike Denken auf die britische Insel brachte. Benjamin, Walter zialphilosoph.
(1892–1940): Deutscher So-
Bense, Max (1910–1990): Deutscher Philosoph der Technik und der InformationsÈsthetik. Bentham, Jeremy (1748–1832): Englischer Moralphilosoph und Hauptvertreter des Utilitarismus.
46
Bergson, Henri Louis
Bergson, Henri Louis (1859–1941): FranzÚsischer Philosoph der Lebensphilosophie und der Zeit, %B, 2.
Bollnow, Otto Friedrich (1903–1953): Deutscher Philosoph der Anthropologie, Ethik und Erziehung.
Berkeley, George (1685–1753): Englischer Philosoph des Empirismus, der die Außenwelt als abhÈngig von der Wahrnehmung und dem Denken interpretierte, %B, 2.
Bolzano, Bernhard (1781–1848): BÚhmischer Logiker und Mathematiker.
Bernhard von Clairveaux zÚsischer Mystiker.
Bonaventura (wohl 1221–1274): Giovanni di Fidenza, italienischer FrÝhscholastiker.
(1090–1153): Fran-
Berti, Enrico (*1935): Bedeutender italienischer Philosophiehistoriker, beschÈftigt sich mit dem philosophischen Diskurs. Birnbacher, Dieter (*1946): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich hauptsÈchlich mit Fragen der Ethik, wie Naturethik, Gentechnik und Reproduktionsmedizin, auch mit Grundsatzfragen der Anthropologie. Bloch, Ernst (1885–1977): Deutscher Sozialphilosoph des Neumarxismus. Blondel, Maurice (1861–1949): FranzÚsischer Philosoph im Umkreis von Bergson. Blumenberg, Hans (1920–1996): Deutscher Philosoph der Historiographie und Kulturphilosophie.
Bombast von Hohenheim
%Paracelsus
´ nigne (1627–1743): Bossuet, Jacques Be FranzÚsischer Theologe und Schriftsteller. Boole, George (1815–1864): Englischer Mathematiker und Logiker. Boyle, Robert (1627–1691): Englischer Chemiker und Logiker. Bradley, Francis Herbert (1846–1924): Englischer Philosoph im Anschluss an Hegel. Brentano, Franz (1838–1917): Deutscher Philosoph der deskriptiven Psychologie. Er wurde zum BegrÝnder einer streng wissenschaftlichen PhÈnomenologie, die Bewusstseinsakte rein beschreibend behandelt. Brouwer, Luitzen Egbertus Jan (1881–1966): NiederlÈndischer Mathematiker und Logiker.
Boccaccio, Giovanni (1313–1378): Italienischer Dichter der Renaissance und des Humanismus.
Bruno, Giordano (1548–1600): Italienischer Naturphilosoph der Renaissance.
Bodin(us), Jean (1530–1596): FranzÚsischer Rechts- und Staatsphilosoph der Renaissance.
´ on (1869–1944): FranzÚsiBrunschvicg, Le scher Philosoph, der das idealistische Denken als Kritik an den Methoden der Einzelwissenschaften betonte.
Boethius (um 480–524): Anicius Manlius Torquatos Severinus, rÚmischer, neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonische Schule des Hellenismus.
Buber, Martin (1878–1965): ³sterreichischer Denker und Religionsphilosoph.
Boe ¨ tius de Dacia (um 1230–1284): Schwedischer, averroÓstischer Philosoph. Bo ¨ hme, Jakob (1575–1624): Deutscher Mystiker.
Bubner, Ru ¨ diger scher Philosoph.
(*1941): Deutscher dialekti-
Bu ¨ hler, Karl (1879–1963): Deutsch-amerikanischer Psychologe, behavioristische Forschungen zur Gestalt- und Sprachpsychologie.
Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas
Bultmann, Rudolf Karl (1884–1976): Deutscher evangelischer Theologe der Entmythologisierung des Christentums. Buonarroti, Michelangelo (1475–1564): Italienischer KÝnstler der Renaissance und des Humanismus. Buridan, Johannes (Anfang 14. Jh. – kurz nach 1358): FranzÚsischer spÈtscholastischer Denker des Nominalismus. Burke, Edmund (1729–1797): Englischer Denker einer psychologischen sthetik und Kritiker der franzÚsischen Revolution. Butler, Joseph (1692–1752): Englischer Theologe und Moralphilosoph. Campanella, Tommaso (1568–1639): Italienischer Philosoph der Renaissance, entwickelte eine Staatsutopie. Camus, Albert (1913–1960): FranzÚsischer Philosoph des Existenzialismus, entwickelte eine Theorie des Absurden. Cantoni, Carlo (1840–1906): Italienischer Philosoph, der Kants Denken in Italien verbreitete. Capra, Fritjof (*1939): ³sterreichisch-amerikanischer Schriftsteller eines ganzheitlichen Denkens, beschÈftigt sich mit den Naturwissenschaften und ihren Konsequenzen. Cardano, Jeronimo (1501–1576): Italienischer Naturwissenschaftler der Renaissance. Carlyle, Thomas (1795–1881): Englischer Historiker und Philosoph. Carnap, Rudolf (1891–1970): ³sterreichischer Philosoph des logischen Empirismus (Wiener Schule), %B, 2. Carus, Carl Gustav (1789–1869): Deutscher Arzt und Naturforscher. Cassirer, Ernst (1874–1945) Deutscher Philosoph, der im Sinne der kantischen Transzendentalphilosophie die Bedingungen der MÚglichkeit des Verstehens von Zeichen reflektierte, %B, 2.
47
Cathrein, Viktor (1845–1931): Schweizer Neuscholastiker. Celsus, Aulus Cornelius (2. HÈlfte des 2. Jh. n. Chr.): RÚmischer Gelehrter und Philosoph des Neuplatonismus, philosophischer Kritiker des Christentums, verfasste Werke Ýber Rhetorik, Geschichte, Rechtskunde, Kriegskunst und Medizin. Chomsky, Avram Noam (*1928): Amerikanischer Denker, der Philosophie, Psychologie und Linguistik zusammenfÝhrte. Chrysippos (um 280–209): Griechischer Philosoph der Èlteren Stoa des Hellenismus. Cicero (106–43): Marcus Tullius, rÚmischer Philosoph der spÈten Stoa des Hellenismus, %B, 2. Clauberg, Johannes (1622–1665): Deutscher Philosoph, der die cartesische Lehre vertrat, hatte großen Einfluss auf Christian Wolff. Clemens von Alexandria (um 150–215): Titus Flavius Clemens, griechischer Philosoph der alexandrinischen Schule der spÈtantiken Gnosis. Clemens, Franz Jakob scher Neuscholastiker.
(1815–1862): Deut-
Cohen, Hermann (1842–1918): Deutscher Philosoph des Neukantianismus (Marburger Schule). Collingwood, Robin George (1889–1943): Englischer Philosoph, ArchÈologe und Historiker, ausgehend von Hegel versuchte er, Philosophie und Geschichte in einer Grundlagenmetaphysik zu verbinden. Comte, Auguste (1798–1857): FranzÚsischer Philosoph des klassischen Positivismus. Condillac, Etienne Bonnot de (1714–1780): FranzÚsischer Philosoph des Sensualismus. Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas (1743–1794): FranzÚsischer Marquis, Geschichtsphilosoph der AufklÈrung.
48
Cordemoy, Gerauld de
Cordemoy, Gerauld de (1620–1684): FranzÚsischer Philosoph in der Nachfolge Descartes’.
Derrida, Jacques (*1930): FranzÚsischer Philosoph des Neustrukturalismus, %B, 2.
Coreth, Emmerich (*1919): Deutscher Neuscholastiker, der eine transzendentale BegrÝndung der Metaphysik versuchte.
´ (1596–1650): FranzÚsischer Descartes, Rene Philosoph des Rationalismus, gilt als einer der ersten Denker der Neuzeit, %B, 2.
Cramer, Wolfgang (1901–1974) Deutscher Philosoph, arbeitete an einer transzendentalen Ontologie.
Desiderius Erasmus von Rotterdam %Erasmus von Rotterdam
Croce, Benedetto (1866–1952): Bedeutender italienischer Hegelianer.
Dewey, John (1859–1952): Amerikanischer Philosoph des Pragmatismus, %B, 2.
Crusius, Christian August (1712–1775): Deutscher Philosoph, der sich gegen Wolff und Leibniz stellte und insbesondere die universelle GÝltigkeit des Kausalprinzips in Frage stellte.
Diderot, Denis (1713–1784): FranzÚsischer Denker der AufklÈrung, Mitherausgeber der EnzyklopÈdie.
Cusanus
%Nikolaus von Kues
D’Alembert, Jean le Rond (1717–1783): FranzÚsischer aufklÈrerischer, positivistischer Denker, der mit Diderot die EnzyclopÈdie herausgab. Damiani
%Petrus Damiani
Dante Alighieri (1265–1321): Italienischer Denker und Dichter des Humanismus und der Renaissance. Danto, Arthur C. (*1924): Amerikanischer analytischer Philosoph und Kunstkritiker, beschÈftigt sich besonders mit Fragen der sthetik. Deleuze, Gilles (*1925): FranzÚsischer Philosoph der Postmoderne. Demokrit(os) (460–371): Vorsokratischer griechischer Philosoph, gilt als MitbegrÝnder der Atomistik. De Morgan, Augustus (1806–1971): Britischer Mathematiker und Logiker.
Dietrich von Freiberg (um 1240 – um 1318/20): Theodoricus de Vriberch, deutscher Philosoph, Theologe und Naturwissenschaftler des Dominikanerordens. Entwickelte gegen Thomas von Aquin die These, dass der Intellekt beim Erkenntnisvorgang keine passiv-aufnehmende, sondern eine aktive Rolle spielt. Dikaiarchos von Messene (um 320 v. Chr.): Griechischer, spÈtantiker Philosoph des Èlteren Peripatos, eine aristotelische Schule im Hellenismus. Dilthey, Wilhelm (1833–1911): Deutscher Philosoph der Geisteswissenschaft und Hermeneutik, %B, 2. Dingler, Hugo (1881–1954): Deutscher Philosoph, entwickelte eine methodisch in Einzelschritten abgesicherte Erkenntnistheorie. Diodoros von Kronos († 307 v. Chr.): Griechischer Philosoph der megarischen oder elischen Schule.
Dempf, Alois (1891–1982): Deutscher Neuscholastiker und Kulturkritiker.
Diogenes Laertius (2. bis 3. Jh. n. Chr.): Hellenistischer Philosoph, Autor einer berÝhmten Philosophiegeschichte.
Dennett, Daniel C. (*1942): Einer der bedeutendsten Vertreter des amerikanischen Determinismus und der Philosophy of Mind.
Diogenes von Apollonia (um 499–428): Vorsokratischer griechischer Philosoph, zÈhlt zu den Eklektikern bzw. Epigonen.
Fechner, Gustav Theodor
Diogenes von Sinope (um 412–323): Griechischer Philosoph der Kyniker, einer sokratischen Schule. Dionysios Areopagita (um 5. Jh. n. Chr.): Christlicher, vermutlich syrischer Neuplatoniker. Driesch, Hans (1867–1941): Deutscher Philosoph des kritischen Realismus, entwickelte einen antimaterialistischen Vitalismus.
Epikur (341–ca. 270 v. Chr.): Griechischer, spÈtantiker Philosoph und BegrÝnder der hedonistischen Schule der Epikureer des Hellenismus. Erasmus von Rotterdam (1466 oder 1469–1536): HollÈndischer Philosoph der Renaissance und des Humanismus. Erdmann, Johann Eduard (1805–1892): Deutscher Philosophiehistoriker.
Droysen, Johann Gustav (1808–1884): Einflussreicher deutscher Historiker, prÈgte den Begriff Hellenismus.
Eriugena
Dubislav, Walter (1895–1937): Deutscher Philosoph, bekÈmpfte die Metaphysik.
Eubulides von Milet (um 40 v. Chr.): Griechischer Philosoph der megarischen oder elischen Schule.
Duhem, Pierre (1861–1916): FranzÚsischer Denker und Physiker, der die physikalischen Gesetze als vereinfachende Konstruktionen der Wirklichkeit verstand. Du ¨ hring, Eugen (1833–1921): Deutscher materialistischer Philosoph und NationalÚkonom. Duns Scotus
%Johannes Duns Scotus
Durand von St. Pourcain zÚsischer Scholastiker.
(1274–1334): Fran-
Durkheim, Emile (1858–1917): FranzÚsischer Philosoph und Soziologe. Dyroff, Adolf scholastiker.
(1866–1943): Deutscher Neu-
Eckhart, Johann
%Meister Eckhart
49
%Johannes Scotus Eriugena
Eucken, Rudolph (1846–1926): Deutscher Philosoph, Vertreter eines Neuidealismus. Eudemos von Rhodos (Lebensdaten unbekannt): Griechischer spÈtantiker Philosoph des Èlteren Peripatos, eine aristotelische Schule des Hellenismus. Eudoxos von Knidos (um 370 v. Chr.): Griechischer Astronom, Geometer und Philosoph, der die Lust zum hÚchsten Gut erklÈrte. Eugubinus
%Steuchus, Augustinus
Euklid von Megara (Lebensdaten unbekannt): Griechischer Philosoph der megarischen oder elischen Schule. Euhemeros (4./3. Jh. v. Chr.): Griechischer Philosoph der Kyrenaiker.
Ekphantos von Syrakus (Anfang 4. Jh. v. Chr.): Griechischer Philosoph der pythagoreischen Schule.
Eusebios Pamphili
Empedokles von Agrigent (495–435): Vorsokratischer griechischer Philosoph.
Eusebius von Ca ¨ sarea (260–340): Auch Eusebios Pamphili, Bischof von PalÈstina, christlicher Theologe im Anschluss an Origenes, einer der KirchenvÈter.
Engels, Friedrich (1820–1895): Deutscher Philosoph des historisch-dialektischen Materialismus und des Sozialismus.
Farabi
Epiktet (50–138): RÚmischer Philosoph der spÈten Stoa des Hellenismus.
%Eusebius von CÈsarea
%Alfarabi
Fechner, Gustav Theodor (1801–1887): Deutscher Philosoph der Wissenschaftssynthese und des Psychologismus.
50
Feder, Johann Georg Heinrich
Feder, Johann Georg Heinrich Deutscher Popularphilosoph.
(1740–1821):
´ nelon, Franc¸ois de Salignac de la Mothe Fe (1651–1715): FranzÚsischer Theologe, verteidigte den Mystizismus. Ferguson, Adam (1723–1816): Schottischer Moralphilosoph der AufklÈrung. Fetscher, Iring (*1922): Deutscher Sozialphilosoph und Politikwissenschaftler. Feuerbach, Ludwig (1804–1872): Deutscher Philosoph des Materialismus, Kritiker des Christentums. Feyerabend, Paul (1924–1994): ³sterreichisch-amerikanischer Philosoph der Wissenschaftstheorie und ihrer Kritik. Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814): Deutscher Philosoph des spekulativen Idealismus, %B, 2. Ficino, Marsilio (1433–1499): Italienischer Philosoph der Renaissance in der Tradition der platonischen Akademie. Fischer, Kuno (1824–1907): Deutscher Philosoph und bedeutender Philosophiehistoriker. Fontenelle, Bernard le Bovier de (1657– 1757): FranzÚsischer AufklÈrungsphilosoph. Foucault, Michel (1926–1984): FranzÚsischer Philosoph des Strukturalismus. Fourier, Charles (1772–1835): FranzÚsischer Kritiker, Verfechter der Einheit von Lust und Arbeit. Franck, Sebastian (1499–1542): Deutscher Theologe und Philosoph, erst katholischer, dann evangelischer Geistlicher, schließlich Aufgabe des geistlichen Berufes und unabhÈngiger Theologe, VorlÈufer der Freidenker. Frege, Gottlob (1848–1925): Deutscher Mathematiker und BegrÝnder der modernen Logik, %B, 2. Freiberg
%Dietrich von Freiberg
Fries, Jakob Friedrich (1773–1843): Deutscher Philosoph, der eine positivistische Philosophie im Anschluss an den deutschen Idealismus entwickelte. Frobenius, Leo (1873–1938): Deutscher Philosoph und Ethnologe, entwickelte den Begriff des Kulturkreises. Frohschammer, Jakob (1821–1893): Deutscher katholischer Priester, entwickelte eine antimaterialistische und antidarwinistische Metaphysik der Weltphantasie. Fromm, Erich (1900–1980): Deutscher Psychologe und Kulturphilosoph. Gabirol
%Ibn Gabirol
Gadamer, Hans-Georg (1900–2002): Deutscher Philosoph der Hermeneutik, %B, 2. Galenos (um 131–201): SpÈtantiker griechischer Philosoph des jÝngeren Peripatos, einer aristotelischen Schule des Hellenismus. Galilei, Galileo (1564–1642): Italienischer Naturwissenschaftler der Renaissance. Garve, Christian (1742–1798): Deutscher Popularphilosoph. Gassendi, Pierre (1592–1655): FranzÚsischer Mathematiker und Philosoph der Renaissance, erneuerte das atomistisch-mechanistische Weltbild des Demokrit. Gasset
%Ortega y Gasset
Gebirol
%Ibn Gabirol
Gehlen, Arnold (1904–1976): Deutscher Philosoph der Anthropologie und Kulturkritik und Denker der Institutionen. Geiger, Abraham (1810–1874): Deutscher Rabbiner, der die jÝdische Theologie als Wissenschaft zu grÝnden versuchte. Gentile, Giovanni (1875–1944): Italienischer idealistischer Philosoph in der Nachfolge Hegels.
Hartmann, Eduard von
Geulincx, Arnold (1624–1669): Belgischer Philosoph des Okkasionalismus. Geyser, Joseph scholastiker.
51
Grassi, Ernesto (1902–1991): Italienisch-deutscher Philosoph, erneuerte das humanistische Denken.
(1869–1948): Deutscher Neu-
´ e (1070–1154): FranzÚsiGilbert de la Porre scher FrÝhscholastiker.
Gregor von Nazianz (um 328–390): Bedeutender griechischer Kirchenlehrer, vom Kynismus beeinflusster Platoniker, verteidigte die athanasianische Orthodoxie gegenÝber den Arianern und Apollinaristen.
Gioberti, Vincenzo (1801–1852): Italienischer Philosoph, verbreitete die deutsche Philosophie in Italien.
Grelling, Kurt (1886–1942): Deutscher Logiker und Wissenschaftstheoretiker.
Giordano Bruno
Grotius, Hugo (1583–1645): HollÈndischer Renaissance-Philosoph, BegrÝnder des Natur- und Menschenrechtes.
%Bruno, Giordano
Giovanni di Fidenza %Bonaventura Glockner, Hermann Hegelforscher.
(1896–1979): Deutscher
Guardini, Romano (1885–1968): Italienischdeutscher Denker des Christseins in der Welt.
Go ¨ del, Kurt (1906–1978): ³sterreichischer Mathematiker und Logiker.
Guyau, Jean Marie (1854–1888): FranzÚsischer Philosoph und Fortsetzer des Vitalismus und des Evolutionismus in Frankreich.
Goldmann, Lucien (1913–1970): FranzÚsischer Literaturtheoretiker und -soziologe.
Ha ¨ berlin, Paul (1878–1960): Deutscher Philosoph der Anthropologie.
Goodman, Nelson (*1906): Amerikanischer analytischer Philosoph, %B, 2.
Habermas, Ju ¨ rgen (*1929): Deutscher Sozialphilosoph und Kommunikationstheoretiker der Frankfurter Schule, %B, 2.
Gorgias (483–375): Griechischer Denker der Èlteren Sophistik.
Haeckel, Ernst (1834–1919): Deutscher Philosoph des klassischen Positivismus.
Gorgias Plethon (1355–1450): Byzantinischer Philosoph, der die platonische und neuplatonische Philosophie gegen das christliche Denken wiederbelebte.
Hahn, Hans (1879–1934): ³sterreichischer Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker.
Gournay, Vincent de (1712–1759): FranzÚsischer NationalÚkonom, Vertreter des Freihandels (prÈgte die Formel: Laissez faire, laissez aller). Grabmann, Martin Neuscholastiker.
(1875–1949): Deutscher
´n, Baltasar (1601–1658): Spanischer JeGracia suit, der das Wohl des Individuums in praktischer Vernunft und Weltklugheit begrÝndet sah. Gramsci, Antonio (1891–1937): Italienischer marxistischer Philosoph.
Hamann, Johann Georg (1730–1788): Deutscher Philosoph einer mystischen AufklÈrungskritik, BegrÝnder der Geniepoesie. Hamelin, Octave (1856–1907): FranzÚsischer rationalistischer Philosoph, der Kants Kategorienlehre weiterentwickelte. Hardenberg, Friedrich von
%Novalis
Hare, Richard Mervyn (1919–2002): Englischer Denker der analytischen Philosophie. Hartmann, Eduard von (1842–1906): Deutscher Philosoph der Wissenschaftssynthese und des Psychologismus.
52
Hartmann, Paul Nicolai
Hartmann, Paul Nicolai (1882–1950): Deutscher Philosoph des kritischen Realismus und der Ethik.
Herodot (um 484–424): Griechischer Denker und Historiker, BegrÝnder einer moralischen Geschichtsschreibung.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831): Deutscher Philosoph des spekulativen, dialektischen Idealismus, %B, 2.
Hertling, Georg Graf von (1843–1919): Deutscher Neuthomist, Staats- und Rechtsphilosoph.
Heidegger, Martin (1889–1976): Deutscher Philosoph der Fundamentalontologie, %B, 2. Heimsoeth, Heinz (1886–1975): Deutscher Philosophiehistoriker. Heinrich von Gent (1217–1293): Scholastischer Philosoph, der gegen Thomas von Aquin das augustinische Denken vertrat. Helmholtz, Hermann von (1821–1894): Deutscher Naturwissenschaftler, begrÝndete eine Sinnespsychologie, gemÈß der die Empfindungen Symbole der wirklichen Welt sind. ´ tius, Claude Adrien (1715–1771): FranHelve zÚsischer Philosoph der AufklÈrung, vertrat die mechanistische These des Menschen als Maschine. Hempel, Carl G. (1905–1997): ³sterreichischamerikanischer Logiker und analytischer Philosoph. Henrich, Dieter (*1927): Deutscher Philosoph, der die Philosophie des deutschen Idealismus rekonstruiert. Heraklit von Ephesos (um 550–480): Auch Herakleitos, vorsokratischer griechischer Philosoph, %B, 2. Herbart, Johann Friedrich (1776–1841): Deutscher PÈdagoge und Philosoph des Humanismus. Herder, Johann Gottfried (1744–1803): Deutscher Dichter und Denker der AufklÈrung und des beginnenden Historismus. Hermas von Rom (gegen Ende des 2. Jh. n. Chr.): RÚmischer Kirchenvater, einer der Apostolischen VÈter.
Heß, Moses (1812–1875): Deutscher Philosoph des Linkshegelianismus und Sozialkritiker. Hessen, Johannes (1889–1971): Deutscher Denker mit katholischem Weltbild. Heyting, Arend (1898–1980): NiederlÈndischer Mathematiker und Logiker. Hiketas von Syrakus (Lebensdaten unbekannt): Griechischer Philosoph der jÝngeren pythagoreischen Schule des Hellenismus. Hilarius von Poitiers (310–367): FranzÚsischer Bischof, einer der KirchenvÈter. Hilbert, David (1862–1943): Deutscher Mathematiker und Logiker. Hildegard von Bingen (1098–1179): Deutsche Mystikerin. Hippias von Elis (um 440 v. Chr.): Griechischer Denker der Èlteren Sophistik. Hirsch, Emanuel (1888–1972): Deutscher evangelischer Theologe, Àbersetzer und Kommentator der Werke Kierkegaards. Hissmann, Michael (1752–1784): Deutscher Philosoph, AnhÈnger des Sensualismus. Hobbes, Thomas (1588–1679): Englischer Philosoph des Empirismus, der Rechts- und Staatslehre, %B, 2. Hoerster, Norbert (*1937): Deutscher Philosoph der Rechts- und Staatsphilosophie. Ho ¨ ffe, Otfried (*1943): Deutscher Philosoph einer systematischen BegrÝndung der Ethik. Holbach, Paul Heinrich Dietrich von (1723–1789): Auch d’Holbach, deutscher Philosoph der franzÚsischen AufklÈrung und des Materialismus.
Jaspers, Karl
Ho ¨ nigswald, Richard (1875–1947): Ungarischdeutscher Philosoph, entwickelte eine neue Monadologie und eine Denkpsychologie. Honnefelder, Ludger (*1936): Deutscher Theologe und Philosophiehistoriker.
53
Hyppolite, Jean (1907–1968): FranzÚsischer Philosoph und Hegelforscher. Iamblichos (bis ca. 330 n. Chr.): Syrischer Philosoph des Neuplatonismus.
Horkheimer, Max (1895–1973): Deutscher Sozialphilosoph der neumarxistischen Frankfurter Schule.
Ibn Gabirol, Salomon ben Jehuda (1020/21–1057/58): JÝdischer Dichter und Philosoph, der die Scholastik durch die Vermittlung des aristotelisch-neuplatonischen Denkens beeinflusste.
Horstmann, Rolf-Peter (*1940): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich mit dem deutschen Idealismus, insbesondere mit Hegel.
Ibn Ruschd
Hrabanus Maurus (784–856): Deutscher FrÝhscholastiker und kompilatorischer Verfasser historisch bedeutender LehrbÝcher zur PÈdagogik, Theologie, Philosophie und den Naturwissenschaften. Hugo von St. Viktor FrÝhscholastiker.
(1096–1141): Deutscher
Huizinga, Johan (1872–1945): NiederlÈndischer Kulturphilosoph. Humboldt, Wilhelm von (1767–1835): Deutscher PÈdagoge und Philosoph des Humanismus. Hume, David (1711–1776): Englischer Philosoph des Empirismus, %B, 2. Husserl, Edmund (1859–1938): Deutscher Philosoph der transzendentalen PhÈnomenologie, %B, 2. Hutcheson, Francis (1694–1747): Englischer Moralphilosoph und sthetiker.
Ibn Sina
%Averros
%Avicenna
Ignatius Theophoros chien
%Ignatius von Antio-
Ignatius von Antiochien der Apostolischen VÈter.
(um 25–115): Einer
Ingarden, Roman (1893–1970): Aus der phÈnomenologischen Schule kommender polnischer sthetiker. Irena ¨ us († um 202 n. Chr.): Griechischer Bischof, einer der Apologetischen VÈter. Jacobi, Friedrich Heinrich (1743–1819): Deutscher Popularphilosoph und Vordenker der Romantik. Jacoby, Gu ¨ nther (1881–1969): Deutscher Philosoph, MitbegrÝnder der modernen Ontologie. Jaeger, Werner (1888–1961): Deutscher Philosophiehistoriker mit dem Schwerpunkt griechische Antike.
Hutchinson, John (1674–1737): Englischer Philosoph und Theologe, verteidigte die mosaische Kosmogonie gegen Newtons Gravitationstheorie.
Jamblichos
Huxley, Thomas Henry (1825–1895): Englischer Naturforscher und Philosoph.
Janich, Peter (*1942): Deutscher analytischer Philosoph, beschÈftigt sich mit Problemen der Physik und der Wissenschaftstheorie.
Hypatia (bis 415 n. Chr.): Griechische Mathematikerin und Philosophin, letztes Oberhaupt der neuplatonischen Schule in Alexandria.
%Iamblichos
James, William (1842–1910): Amerikanischer Philosoph des Pragmatismus, %B, 2.
Jaspers, Karl (1883–1969): Deutscher Philosoph des Existenzialismus.
54
Joachim von Fiore
Joachim von Fiore (um 1132–1202): Italienischer Mystiker und Geschichtsmetaphysiker.
Kepler, Johann (1571–1630): Deutscher Naturwissenschaftler der Renaissance.
Joachim von Floris
Keyserling, Hermann Graf (1880–1946): Deutscher Denker, der den Gegensatz Geist und Leben, Intellekt und Seele Ýberwinden wollte. GrÝndete eine Schule der Weisheit.
%Joachim von Fiore
Johannes Duns Scotus (um 1265–1308): Schottischer Denker der Hochscholastik und AngehÚriger des Franziskanerordens, Kritiker des Thomismus. Johannes Scotus Eriugena (um 810 – nach 877): Irischer Theologe und Philosoph des Neuplatonismus. Jonas, Hans (1903–1993): Deutscher Moralund Naturphilosoph. Julianus Apostata (331–363): RÚmischer Kaiser, beschÈftigte sich mit der neuplatonischen Philosophie der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus, versuchte in seiner Regierungszeit das Heidentum gegen das Christentum wieder durchzusetzen. Julianus Flavius Claudius tata
%Julianus Apos-
Justinus Martyr (um 100–165/167): RÚmischer Bischof, einer der Apologetischen VÈter, beschÈftigte sich mit der platonischen Philosophie, die er mit dem Christentum verband. Kallikles (Lebensdaten unbekannt): Griechischer Denker der jÝngeren Sophistik. Kambartel, Friedrich (*1935): Deutscher Philosoph der Wissenschaftstheorie. Kamlah, Wilhelm (1905–1976): Deutscher Logiker und konstruktivistischer Philosoph. Kant, Immanuel (1724–1804): Deutscher Philosoph der kritischen Transzendentalphilosophie, %B, 2. Karneades (214–129): Griechischer spÈtantiker Philosoph der skeptischen Schule des Hellenismus. Kelsen, Hans (1881–1973): Deutscher Jurist und Rechtsphilosoph. Kelsos %Celsus
Kierkegaard, So ¨ ren (1813–1855): DÈnischer Philosoph eines frÝhen, christlichen Existenzialismus, %B, 2. Klages, Ludwig (1872–1956): Deutscher Philosoph der Lebensphilosophie und Psychologie. Klaudios Ptolemaios (um 150 n. Chr.): SpÈtantiker Ègyptischer Astronom und Philosoph des jÝngeren Peripatos, einer aristotelischen Schule des Hellenismus. Kleanthes (331/330–230/229): Griechischer Philosoph, MitbegrÝnder der Èlteren Stoa des Hellenismus. Kopernikus, Nikolaus (1473–1543): Deutscher Mathematiker, Naturwissenschaftler und Astronom der Renaissance, ersetzte das geozentrische Weltbild durch das heliozentrische. Kratylos (5. Jh. v. Chr.): Griechischer Philosoph in der Nachfolge Heraklits. Kries, Johannes von (1853–1928): Deutscher Physiologe und Logiker. Krings, Hermann (*1913): Deutscher Religions-, Moral- und Kulturphilosoph. Kripke, Saul Aaron (*1940): Amerikanischer Logiker und Philosoph, entwickelte die KripkeSemantik der mÚglichen Welten. Kritias (um 460–403): Griechischer Denker der Èlteren Sophistik. Kues %Nikolaus von Kues Kuhn, Thomas Samuel (1922–1995): Amerikanischer Wissenschaftstheoretiker. Ku ¨ lpe, Oswald (1862–1915): Deutscher Philosoph des kritischen Realismus.
Lo ¨ with, Karl
55
Kutschera, Franz von (*1932): Deutscher Wissenschaftstheoretiker und Logiker.
Lenk, Hans theoretiker.
La Mettrie, Julien Offray de (1709–1751): FranzÚsischer Philosoph der AufklÈrung.
Leonardo da Vinci (1452–1519): Italienischer KÝnstler der Renaissance und des Humanismus.
La Rochefoucauld, Franc¸ois (1613–1680): FranzÚsischer Moralist.
Leukipp von Abdera (um 460 v. Chr.): Vorsokratischer griechischer Philosoph, gilt als MitbegrÝnder der Atomistik.
Lacan, Jacques (1901–1981): FranzÚsischer Denker des Neufreudianismus und des Strukturalismus. Lakatos, Imre (1922–1974): Amerikanischer Wissenschaftstheoretiker. Lambert, Johann Heinrich (1728–1777): Deutscher Logiker und Mathematiker. Lamprecht, Karl (1856–1915): Deutscher Philosoph der Geschichts- und Kulturkritik. Lange, Friedrich Albert (1828–1875): Deutscher Philosoph des Neukantianismus (Marburger Schule).
(*1935): Deutscher Wissenschafts-
´ vi-Strauss, Claude Gustave (*1908): BelgiLe scher strukturalistischer Anthropologe. ´ vinas, Emanuel (*1906): FranzÚsischer PhiLe losoph, der den Primat der philosophischen Ontologie Ýberwinden will, %B, 2. Liebmann, Otto (1840–1912): Deutscher Philosoph, Vertreter der kantischen Philosophie. Litt, Theodor (1880–1962): Deutscher Philosoph der Geisteswissenschaften und PÈdagoge. Locke, John (1632–1704): Englischer Philosoph des Empirismus und der Staatslehre, %B, 2.
Langer, Susanne (1895–1985): Amerikanische Philosophin und Literaturhistorikerin, interpretierte Kunst als symbolische Form der menschlichen Kommunikation.
Lorenz, Konrad (1903–1989): ³sterreichischer Verhaltensforscher und Kulturkritiker.
Laplace, Pierre Simon de (1749–1827): FranzÚsischer Marquis, Mathematiker und Astronom.
Lorenz, Kuno (*1932): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich mit Logik, Semiotik und Sprachphilosophie.
Lasalle, Ferdinand FrÝhsozialist.
(1825–1864): Deutscher
Lorenzen, Paul (*1915): Deutscher Logiker und analytisch-konstruktivistischer Philosoph.
Lavater, Johann Kaspar (1741–1801): Schweizer schwÈrmerischer Theologe, erneuerte die Physiognomik.
Lotz, Johann Baptist scholastiker.
Lavelle, Louis (1883–1951): FranzÚsischer Philosoph und Vertreter eines neuen Spiritualismus.
Lotze, Rudolf Hermann (1817–1881): Deutscher Philosoph der Wissenschaftssynthese und des Psychologismus.
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716): Deutscher Philosoph, Mathematiker und Universalgenie des Barock, %B, 2.
Lo ¨ wenthal, Leo (1900–1993): Deutsch-amerikanischer Soziologe im Umkreis der Frankfurter Schule.
Lenin, Wladimir Iljitsch Uljanow (1870– 1924): Russischer RevolutionÈr und marxistischmaterialistischer Denker.
Lo ¨ with, Karl (1897–1973): Bedeutender deutscher Philosophiehistoriker der neueren Philosophie.
(*1903): Deutscher Neu-
56
Lu ¨bbe, Hermann
Lu ¨ bbe, Hermann (*1926): Deutscher pragmatischer, essayistischer Philosoph, der sich mit sozio-kulturellen Problemen beschÈftigt. Luhmann, Niklas (1927–1999): Deutscher Soziologe und Sozialphilosoph. ´ cs, Georg (1885–1971): Ungarisch-deutLuka scher Sozialphilosoph und Neumarxist. Lukrez (um 96–55): Titus Lucretius Carus, rÚmischer Philosoph der epikureischen Schule des Hellenismus. Lullus
%Raymundus Lullus
Lykon von Troas (272/68–228/25): Griechischer Philosoph, Oberhaupt der peripatetischen (aristotelischen) Schule des Hellenismus. Lyotard, Jean-Franc¸ois (*1924): FranzÚsischer Philosoph der Postmoderne. Mach, Ernst (1838–1916): Deutscher Philosoph des klassischen Positivismus. ` (1469–1527): ItalieMacchiavelli, Niccolo nischer politischer Philosoph der Renaissance. Maimonides (1135–1204): Rabbi Mose ben Maimon, spanischer jÝdischer Arzt, Theologe und Philosoph, bedeutende rabbinische AutoritÈt. Maier, Heinrich (1867–1933): Deutscher Philosoph, versuchte die NeubegrÝndung einer wissenschaftlichen Metaphysik als Basis einer Weltund Lebensanschauung. Malchus
Mani (216–273): Persischer BegrÝnder der religiÚsen Lehre des ManichÈismus. Mannheim, Karl (1893–1947): Ungarischdeutsch-englischer Soziologe. Marc Aurel (121–180): Marcus Aurelius Antonius, rÚmischer Kaiser und Philosoph der Stoa. Marcel, Gabriel (1889–1973): FranzÚsischer Philosoph eines christlichen Existenzialismus. Marcus Terentius Varro
%Varro
Marcuse, Herbert (1898–1979): Deutscher psychologischer Sozialphilosoph der neumarxistischen Frankfurter Schule. Margolius, Hans ralphilosoph.
(1902–1984): Deutscher Mo-
Marquard, Odo (*1928): Deutscher essayistischer Philosoph der Skeptik. Marsilius von Padua (1275–1343): Italienischer Staatsphilosoph. Martianus Capella (1. HÈlfte des 5. Jh.): Neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus. Marx, Karl (1818–1883): Deutscher Philosoph des historisch-dialektischen Materialismus und Sozialismus, %B, 2. Masci, Filippo (1844–1922): Italienischer Philosoph, beschÈftigte sich mit einer Verbindung von kritischem Realismus und dem Gedanken der Evolution.
%Porphyrios
Malebranche, Nicolas de (1638–1715): FranzÚsischer Philosoph des Okkasionalismus.
Maurer, Reinhart (*1935): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich mit praktischer Philosophie und der MÚglichkeit einer ›ersten Philosophie‹.
Mandeville, Bernhard de (1670–1733): NiederlÈndisch-englischer Philosoph und Schriftsteller der AufklÈrung, der Politik und der Gesellschaft.
Mauthner, Fritz (1849–1923): Deutscher Sprachphilosoph, vertrat eine nominalistische Position.
Manetti, Giannozzo Humanist.
Mead, George Herbert (1863–1931): Amerikanischer Philosoph des Pragmatismus.
(† 1459): Florentinischer
Nietzsche, Friedrich
Mechthild von Magdeburg he deutsche Mystikerin. Meinecke, Friedrich Philosophiehistoriker.
(1212–1285): FrÝ-
(1862–1954): Deutscher
Meiners, Christoph (1747–1810): Deutscher Philosophiehistoriker. Meinong, Alexius (1853–1920): Deutscher Philosoph, entwickelte eine Gegenstandslehre und eine Wertethik. Meister Eckhart Mystiker.
(um 1260–1328): Deutscher
Melanchthon, Philipp (1497–1560): Eigentlich Philipp Schwarzerdt, deutscher Denker des Humanismus. Melissos von Elea (5. Jh. v. Ch.): Vorsokratischer griechischer Philosoph der eleatischen Schule. Mendelssohn, Moses (1729–1786): Deutscher Philosoph der AufklÈrung. Merleau-Ponty, Maurice (1908–1961): FranzÚsischer PhÈnomenologe. Messer, August (1867–1937): Deutscher Philosoph des kritischen Realismus. Metrodor (4. Jh. v. Chr.): Griechischer spÈtantiker Philosoph der epikureischen Schule des Hellenismus. Meyer-Abich, Adolf (1893–1971): Deutscher Philosoph, entwickelte ein System des Holismus der Seinsabstufungen. Michelangelo
57
Montague, Richard (*1932): Amerikanischer Logiker und Sprachtheoretiker, beschÈftigt sich mit der Freilegung der logischen Struktur der natÝrlichen Sprache. Montaigne, Michel de (1533–1592): FranzÚsischer Philosoph der AufklÈrung. Montchrestien, Antoine de (1575–1621): FranzÚsischer Dramatiker und Wirtschaftstheoretiker. Montesquieu, Charles de Secondat (1689– 1755): FranzÚsischer Philosoph der AufklÈrung. Moore, George Edward (1873–1958): Englischer Philosoph der analytischen Philosophie und Ethik. Morgan, Augustus de
%De Morgan
Morris, Charles William (1901–1979): Amerikanischer Philosoph der Wert- und Zeichentheorie. Morus %Thomas Morus Murdoch, Jean Iris (*1919–1999): Irische Philosophin und Schriftstellerin, schrieb Ideenromane. Natorp, Paul (1854–1924): Deutscher Philosoph des Neukantianismus (Marburger Schule). Nelson, Leonard (1882–1927): Deutscher Philosoph der Wissenschaftssynthese und des Psychologismus. Neurath, Otto (1882–1945): ³sterreichischer Philosoph des Neupositivismus (Wiener Schule).
%Buonarroti, Michelangelo
Mill, John Stuart (1806–1873): Englischer Philosoph des Empirismus, des klassischen Positivismus und des Utilitarismus, %B, 2.
Newton, Isaac (1643–1727): Bedeutendster englischer Physiker. Niebuhr, Barthold Georg (1776–1831): DÈnisch-deutscher Historiker.
Mitscherlich, Alexander (1908–1982): Deutscher Psychoanalytiker und sozialwissenschaftlicher Publizist.
Niebuhr, Reinhold (1892–1971): Amerikanischer evangelischer Theologe.
Mittelstraß, Ju ¨ rgen senschaftsphilosoph.
Nietzsche, Friedrich (1844–1900): Deutscher Denker der Lebensphilosophie, %B, 2.
(*1936): Deutscher Wis-
58
Nikolaus von Damaskus
Nikolaus von Damaskus (um 1. Jh. n. Chr.): JÝdischer peripatetischer Philosoph und Historiker.
Pascal, Blaise (1623–1662): FranzÚsischer Philosoph, Theologe, Mathematiker und Physiker der franzÚsischen Klassik, %B, 2.
Nikolaus von Kues (1401–1464): Cusanus, deutscher Philosoph an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, %B, 2.
Patzig, Gu ¨ nther (*1926): Deutscher Philosoph der Logik, Sprachphilosophie und Ethik.
Nohl, Herman (1879–1960): Deutscher Kulturphilosoph und PÈdagoge. Notker der Deutsche (um 950–1022): Deutscher FrÝhscholastiker. Novalis (1772–1801): Friedrich von Hardenberg, deutscher Dichter und Philosoph der Romantik. Ockham
%Wilhelm von Ockham
Oppenheim, Paul (1885–1977): Deutsch-amerikanischer Chemiker, der sich mit Wissenschaftstheorie auseinander setzte (HempelOppenheim-Schema der ErklÈrung). Origenes (um 185–254): Auch Origines, griechischer Kirchenvater und Philosoph der alexandrinischen Schule der spÈtantiken Gnosis. ´ (1883–1955): SpaOrtega y Gasset, Jose nischer Philosoph der Geschichts- und Kulturkritik. Otto, Rudolph (1869–1937): Deutscher Theologe und Religionsphilosoph. ´ gyi, Melchior (1859–1924): Ungarischer Pala Philosoph der Wissenschaftssynthese und des Psychologismus. Panaitios von Rhodos (um 180–110): Griechischer Philosoph der mittleren Stoa des Hellenismus. Paracelsus, Aureolus Theophrastus (1493–1541): Bombast von Hohenheim, deutscher Naturwissenschaftler, Arzt und Philosoph der Renaissance. Parmenides von Elea (um 540–480): Vorsokratischer griechischer Philosoph der eleatischen Schule, %B, 2.
Paulsen, Friedrich (1846–1908): Deutscher Philosoph und PÈdagoge des Humanismus. Peano, Guiseppe Logiker.
(1858–1932): Italienischer
Peirce, Charles Sanders (1839–1914) Amerikanischer Logiker und Philosoph des Pragmatismus, %B, 2. Petrarca, Francesco (1304–1374) Italienischer Dichter der Renaissance und des Humanismus. Petrus Abaelardus %Abaelard Petrus Damiani (1007–1072): Italienischer FrÝhscholastiker. Petrus Hispanus (1219–1277): Spanischer scholastischer Logiker. Petrus Pomponatius (1462–1524): Italienischer Philosoph der Renaissance. Pfa ¨ nder, Alexander (1870–1941): Deutscher Philosoph der PhÈnomenologie. Pfeil, Hans ker.
(*1903): Deutscher Neuscholasti-
Phaidon von Elis (um 400 v. Chr.): Griechischer Philosoph der megarischen oder elischen Schule. Philo(n) Judaeus
%Philo(n) von Alexandria
Philo(n) von Alexandria (um 20 v. Chr.–50 n. Chr.): JÝdisch-griechischer Philosoph der alexandrinischen Schule der spÈtantiken Gnosis. Philo(n) von Larissa (Lebensdaten unbekannt): Griechischer Philosoph der platonischen Akademie und von ungefÈhr 110/09–88 v. Chr. ihr Oberhaupt.
Quesnay, Franc¸ois
Philodemos von Gadara (um 110–40): Griechischer Philosoph der epikureischen Schule. Philolaos von Kroton (5. Jh. v. Chr.): Griechischer Philosoph der jÝngeren pythagoreischen Schule.
Pomponatius
59
%Petrus Pomponatius
Popper, Karl Raimund (1902–1994): ³sterreichisch-englischer Philosoph des kritischen Rationalismus, %B, 2.
Pico della Mirandola, Giovanni (1463–1494): Italienischer Renaissancephilosoph der Synthese des platonischen und aristotelischen Denkens.
Porphyrios (232–304): Eigentlich Malchus, syrisch-griechischer neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, eine platonische Schule des Hellenismus.
Pieper, Josef (1904–1997): Deutscher Neuscholastiker und Kulturphilosoph.
Poseidonios (um 135–51): Griechischer Philosoph der mittleren Stoa des Hellenismus.
Platon von Athen (427–347): Griechischer Philosoph, mit Aristoteles der HÚhepunkt der klassischen griechischen Philosophie, %B, 2.
Prigogine, Ilya (*1917): Russisch-belgischer Physikochemiker, beschÈftigt sich mit der Thermodynamik irreversibler Prozesse.
Plessner, Helmuth (1892–1985): Deutscher Philosoph der Anthropologie.
Prodikos von Keos (um 400 v. Chr.): Griechischer Denker der Èlteren Sophistik.
Plethon
%Gorgias Plethon
Plotin(os) (ca. 205–270): Griechischer neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus, %B, 2. Plutarchos von Chaironeia (um 45–120): Griechischer neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus.
Proklos Diadochos (412–485): Griechischer neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus. Protagoras (um 485–410): Griechischer Denker der Èlteren Sophistik. Proudhon, Pierre Joseph (1809–1865): FranzÚsischer Philosoph des klassischen Sozialismus.
Po ¨ ggeler, Otto (*1928): Deutscher Philosoph, Hegelianer und sthetiker.
Pseudo-Dionysios
´ , Henri (1853–1912): FranzÚsischer Poincare Mathematiker und Philosoph.
Pufendorf, Samuel Rechtsphilosoph.
Pollock, Friedrich (1894–1970): Deutscher Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe im Umkreis der Frankfurter Schule.
Putnam, Hilary (*1926): Amerikanischer Philosoph der sprachanalytischen Schule, %B, 2.
%Dionysios Areopagita (1632–1694): Deutscher
Polybios (um 22–120): Griechischer Philosoph der mittleren Stoa des Hellenismus.
Pyrrhon von Elis (365–275): Griechischer spÈtantiker Philosoph der skeptischen Schule des Hellenismus.
Polykarp aus Kleinasien († um 158 oder 168 n. Chr.): Bischof von Smyrna, einer der Apostolischen VÈter.
Pythagoras von Samos (um 570–500 v. Chr.): Griechischer Philosoph, GrÝnder der pythagoreischen Schule, %B, 2.
¨ ltere (Ende 5. Jh. v. Chr.): GriePolyklet der A chischer Philosoph der Èlteren pythagoreischen Schule.
Quesnay, Franc¸ois (1694–1774): FranzÚsischer Volkswirtschaftler, MitbegrÝnder der Schule der Physiokraten.
60
Quine, Willard van Orman
Quine, Willard van Orman (*1908): Amerikanischer Logiker, %B, 2.
Riehl, Alois (1844–1924): Deutscher Philosoph des Neukantianismus (sÝdwestdeutsche Schule).
Quintilian (30–96): Marcus Fabius, rÚmischer Rhetor, fÝr den Sprache ein Wesensmerkmal des Menschen ist.
Rintelen, Fritz-Joachim von (1898–1979): Deutscher Neuscholastiker, entwickelte einen Werterealismus.
Rabbi Mose ben Maimon
%Maimonides
Rahner, Karl (1904–1984): Deutscher katholischer Theologe. Rawls, John (1921–2002): Englischer Philosoph der analytischen Ethik und Gerechtigkeit, %B, 2. Raymundus Lullus (1235–1315): Spanischer Denker der Scholastik. Reichenbach, Hans (1891–1953): Deutscher Philosoph des Neupositivismus (Wiener Schule).
Ritter, Joachim (1903–1974): Bedeutender deutscher Philosophiehistoriker, der sich auch mit sthetik, Gesellschaftsphilosophie und praktischer Philosophie beschÈftigte. Rombach, Heinrich (*1923): Deutscher Philosoph, ausgehend von Husserls PhÈnomenologie entwickelte er ein ontologisch-strukturales Denken, beschÈftigt sich mit Hermeneutik und einer Bildphilosophie jenseits der verbalen Sprache.
Reid, Thomas (1710–1796): Englischer Philosoph und BegrÝnder der schottischen Schule.
Rorty, Richard (*1931): Amerikanischer Kultur-Philosoph im Umkreis des Kommunitarismus, der ausgegangen war vom linguistic turn in der Philosophie.
Reimarus, Hermann Samuel (1694–1768): Deutscher Philosoph der AufklÈrung.
` gne (um 1050–1120): Roscelin de Compie FranzÚsischer nominalistischer Scholastiker.
Reinhold, Karl Leonhard (1758–1823): Deutscher Philosoph, schrieb in der Auseinandersetzung mit Kant und Fichte eine Elementarphilosophie.
Rosenkranz, Karl (1805–1879): Deutscher Philosoph der hegelschen Schule und der sthetik.
Renouvier, Charles (1815–1903): FranzÚsischer Philosoph und BegrÝnder des franzÚsischen Neukantianismus.
Rosmini, Antonio (1797–1855): Italienischer Philosoph, entwickelte eine Ontologie.
Reuchlin, Johann (1455–1522): Deutscher Denker des Humanismus (%A Renaissance – Humanismus). Richard von St. Viktor FrÝhscholastiker.
Rothacker, Erich (1888–1965): Deutscher Philosoph, beschÈftigte sich mit dem Begriff der Kultur, mit Anthropologie und der Weltanschauung, entwickelte eine metaphysische Schichtenlehre des Seins.
(† 1173): Schottischer
Rickert, Heinrich (1863–1936): Deutscher Philosoph des Neukantianismus (sÝdwestdeutsche Schule).
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778): FranzÚsischer Philosoph der AufklÈrung, der Politik, Gesellschaft, Erziehung und Natur.
Ricœur, Paul (*1913): FranzÚsischer Denker des Neufreudianismus.
Russell, Bertrand (1872–1970): Englischer Mathematiker, Logiker und konstruktivistischer Philosoph.
Riedel, Manfred (*1936): Deutscher Philosoph der Ethik und der politischen Philosophie.
Ryle, Gilbert (1900–1976): Englischer Philosoph der analytischen Schule.
Simmel, Georg
61
Saint-Simon, Henri de (1760–1825): FranzÚsischer Comte und Philosoph des klassischen Sozialismus.
Schopenhauer, Arthur (1788–1860): Deutscher Philosoph, EinzelgÈnger einer Willensmetaphysik, %B, 2.
Sartre, Jean-Paul (1905–1980): FranzÚsischer Philosoph des Existenzialismus, %B, 2.
Schulz, Walter (1912–1998): Deutscher Philosophiehistoriker, beschÈftigte sich mit dem deutschen Idealismus und dem Problem der Metaphysik und sthetik.
Sass, Hans-Martin (*1935): Deutscher Philosoph, ausgehend von Hegel beschÈftigt er sich mit Religionsphilosophie und ethischen Fragestellungen der Gegenwart.
Schwan, Alexander (*1931): Deutscher Philosoph, Hauptgebiet ist die politische Philosophie.
Saussure, Ferdinand de (1857–1913): FranzÚsischer Grammatiker und Strukturalist.
Schweitzer, Albert (1875–1965): Deutscher Theologe und Moralphilosoph.
Savigny, Friedrich Karl von (1779–1861): Deutscher Rechtsphilosoph und fÝhrender Kopf des Historismus.
Schwemmer, Oswald (*1941): Deutscher Philosoph der analytischen Schule.
Scheler, Max (1874–1928): Deutscher Philosoph der Anthropologie, Kultur, Ethik und Gesellschaftslehre. Scheffler, Johann
%Angelus Silesius
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854): Deutscher Philosoph des spekulativen Idealismus, %B, 2. Schiller, Friedrich (1759–1805): Deutscher Dichter und Denker, beschÈftigte sich philosophisch mit der sthetik. Schlegel, Friedrich (1772–1829): Deutscher Denker der Romantik. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834): Deutscher Philosoph und PÈdagoge des Idealismus und Humanismus. Schlick, Moritz (1882–1936): ³sterreichischer Philosoph des Neupositivismus und BegrÝnder des Wiener Kreises. Schmidt, Alfred (*1931): Deutscher materialistisch-neumarxistischer Denker der Frankfurter Schule. Schmidt, Johann Caspar
%Stirner, Max
Schmitt, Carl (1888–1985): Deutscher Jurist und politischer Rechtsphilosoph.
Scotus %Johannes Duns Scotus, %Johannes Scotus Eriugena Searle, John Rogers (*1932): Englischer Philosoph der Sprachphilosophie. Seneca (um 4–65): Lucius Aeneus, rÚmischer Philosoph der spÈten Stoa des Hellenismus, %B, 2. Seuse, Heinrich Mystiker.
(um 1300–1366): Deutscher
Sextus Empiricus (um 200–250): Griechischer spÈtantiker Philosoph der skeptischen Schule des Hellenismus. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper (1671–1713): Englischer unorthodoxer und unsystematischer Philosoph des Optimismus, vertrat das Ideal einer Èsthetischen LebensfÝhrung. Sidgwick, Henry (1838–1900): Englischer Philosoph, setzte sich mit einer utilitaristischen Ethik auseinander, um den Gegensatz zwischen Egoismus und Altruismus auszugleichen. Siger von Brabant (um 1240–1284): NiederlÈndischer Scholastiker, Vertreter des AverroÓsmus. Simmel, Georg (1858–1918): Deutscher Philosoph und Soziologe.
62
Singer, Peter
Singer, Peter (*1946): Heftig umstrittener australischer Moralphilosoph, wendet sich gegen die Vorstellung, dass der Mensch gegenÝber dem Tier prinzipiell hÚherwertig sei. Bindet das Lebensrecht an die EmpfindungsfÈhigkeit und das Selbstbewusstsein. Smith, Adam (1723–1790): Schottischer ³konom und Philosoph. Sokrates von Athen (ca. 470–399): Griechischer Philosoph, BegrÝnder der klassischen griechischen Philosophie, %B, 2. Sonnemann, Ulrich (*1912): Deutscher Sozialphilosoph und Anthropologe. Sorel, Georges (1847–1922): FranzÚsischer Philosoph und Kulturkritiker. Spaemann, Robert (*1927): Deutscher Philosoph, Kulturkritiker, Ethiker und Religionsphilosoph. Spencer, Herbert (1820–1903): Englischer Philosoph des klassischen Positivismus und des Evolutionismus. Spengler, Oswald (1880–1936): Deutscher Philosoph der Geschichts- und Kulturkritik. Speusippos (395–334): Griechischer spÈtantiker Philosoph der Èlteren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus. Spinoza, (Benedictus) Baruch de (1632–1677): JÝdisch-niederlÈndischer Philosoph, der Religion und Moral gemÈß einer mathematischen Denkweise konstruierte, mit großem Einfluss auf das geistige Deutschland im 18. Jh., %B, 2.
Steuchus, Augustinus (1496–1548): Italienischer Philosoph und Theologe, AnhÈnger der philosophia perennis Stewart, Dugald (1753–1828): Englischer Philosoph der Common-sense-Philosophie der schottischen Schule. Stirner, Max (1806–1856): Johann Caspar Schmidt, deutscher Philosoph des systematischen Egoismus. Straton († 270 vor Chr.): Griechischer Philosoph der peripatetischen Schule des Aristoteles, nahm den Gedanken des Pantheismus vorweg. Strauß, David Friedrich (1808–1874): Deutscher Philosoph der Junghegelianer und Religionskritiker. Strawson, Peter F. (*1919): Englischer Philosoph der analytischen Schule. ´ rez, Franciscus (1548–1617): Spanischer Sua Philosoph der Barockscholastik der Gegenreformation. Tarski, Alfred (1901–1983) Polnisch-amerikanischer Mathematiker und Logiker. Tatian (um 120–173): Syrischer Philosoph, einer der Apologetischen VÈter. Tauler, Johannes (um 1300–1361): Deutscher Mystiker. Taylor, Charles Margrave (*1931): Englischer Philosoph, kritisiert den Behaviorismus und Naturalismus, beschÈftigt sich mit der Geistesphilosophie.
Spranger, Eduard (1882–1963): Deutscher Philosoph der Geisteswissenschaften und Psychologe.
Teilhard de Chardin, Pierre (1881–1955): FranzÚsischer katholischer Theologe, der den christlichen Glauben und die Naturwissenschaften zu verbinden trachtete.
Stegmu ¨ ller, Wolfgang (1923–1991): Deutscher Wissenschaftsphilosoph, auch Philosophiehistoriker.
Tertullian (um 155–225): Vermutlich aus Karthago stammend, einer der Apologetischen VÈter.
Vinci
63
Thales von Milet (um 625–545): Vorsokratischer griechischer Philosoph der ionischen Naturphilosophie, %B, 2.
´ rel de (1805– Tocqueville, Alexis Henri Cle 1859): FranzÚsischer Denker der Politik und der Gesellschaft.
Theodoricus de Vriberch berg
To ¨ nnies, Ferdinand (1855–1936): Deutscher Soziologie und Philosoph.
%Dietrich von Frei-
Theodorus Priseianus von Kyrene (*um 470 v. Chr.): Griechischer Philosoph der Kyrenaiker oder Hedoniker, einer sokratischen Schule. Theophrastos von Eresos (um 372–287 v. Chr.): Griechischer spÈtantiker Philosoph des Èlteren Peripatos, einer aristotelischen Schule des Hellenismus. Theunissen, Michael (*1932): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich insbesondere mit Hegel. Thiel, Christian (*1937): Deutscher Philosoph des Konstruktivismus. Thomas Morus (1478–1535): Englischer politisch-humanistischer Philosoph der Renaissance. Thomas von Aquin (1224/25–1274): Italienischer Philosoph und Kirchenlehrer, Franziskaner, bedeutendster Theologe der Hochscholastik %B, 2. Thomas von Kempen (1379–1471): Deutscher Erbauungs- und Trosttheologe. Thomasius, Christian (1655–1728): Deutscher systematisierender Philosoph der AufklÈrung, Weisheits- und Tugendlehrer in praktischer Absicht im Geiste der Vernunft und AufklÈrung.
Topitsch, Ernst (*1919): ³sterreichischer Philosoph und Soziologe. Toulmin, Stephen Edelton (*1922): Britischer Wissenschaftstheoretiker und Philosoph. Toynbee, Arnold Joseph (1889–1975): Englischer Kultur- und Geschichtsphilosoph im Geiste der Lebensphilosophie Henri Bergsons. Troeltsch, Ernst (1865–1923): Deutscher Theologe und Philosoph, Religionssoziologe und Kritiker des Historismus. Tugendhat, Ernst (*1930): Deutscher sprachanalytischer Philosoph. Turgot, Anne Robert Jacques (1727–1781): Baron de l’Aulne, franzÚsischer Staatsmann, Rechts- und Staatswissenschaftler der physiokratischen Schule. Unamuno y Jugo, Miguel de (1864–1936): Spanischer Philosoph, thematisierte die Beziehung von Glauben und Wissen als Grundspannung des Lebens. Vaihinger, Hans (1852–1933): Deutscher Philosoph, bedeutender Kantforscher.
Thrasymachos von Chalkedon (um 430–400): Zeitgenosse des Sokrates, griechischer Denker der jÝngeren Sophistik.
Varro (116–28): RÚmischer Gelehrter und neuplatonischer Philosoph der spÈtantiken neueren Akademie, einer platonischen Schule des Hellenismus.
Thukydides (471–um 405 v. Chr.): Griechischer Historiker, fÝhrte die historische Kritik ein.
Vattimo, Gianni (*1936): Italienischer Philosoph, Denker der Postmoderne.
Titus Flavius Clemens xandria
%Clemens von Ale-
Tocco, Felice (1845–1911): Italienischer Philosophiehistoriker.
Vico, Giovanni Battista (Giambattista) (1668–1744): Italienischer Geschichtsphilosoph der Renaissance. Vinci
%Leonardo da Vinci
64
Vischer, Friedrich Theodor
Vischer, Friedrich Theodor (1807–1887): Deutscher Dichter und sthetiker, Eklektizist im Ausgang von Hegel.
Whewell, William (1794–1866): Englischer Mathematiker, Mineraloge und Philosoph, trat insbesondere fÝr die induktive Methode ein.
Vives, Johannes Ludovicus (1492–1540): Spanischer humanistischer Philosoph der Renaissance.
Whitehead, Alfred North (1861–1947): Englischer Philosoph der Mathematik, Logik, Theologie und Kosmologie.
Volkelt, Johannes (1848–1930): Deutscher Philosoph, kritischer Metaphysiker und Systematiker der sthetik.
Wiclef, John (um 1320/30–1384): Auch Wycliffe, Wiclif, britischer Theologe und AnhÈnger des Augustinus.
Volkmann-Schluck, Karl-Heinz (1914–1981): Deutscher Philosoph in der Nachfolge Heideggers. Vollrath, Ernst (*1932): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich mit der politischen Philosophie von der Antike bis in die Jetztzeit. Voltaire (1694–1778): FranËois Marie Arouet, franzÚsischer Philosoph der AufklÈrung, %B, 2. Waldenfels, Hans (*1931): Deutscher Theologe und Philosoph. Weber, Alfred (1868–1958): Deutscher Soziologe und Kulturphilosoph. Weber, Max (1864–1920): Deutscher Sozialphilosoph, BegrÝnder der Religionssoziologie. Weischedel, Wilhelm (*1905): Deutscher Philosophiehistoriker, der sich auch mit Metaphysik, Ethik und sthetik beschÈftigt. Weizsa ¨ cker, Carl Friedrich von (*1912): Deutscher Physiker und Philosoph. Weizsa ¨ cker, Viktor von (1886–1957): Deutscher Mediziner und Philosoph, entwickelte die Lehre des Gestaltkreises, der die VerschrÈnktheit von Seelischem und KÚrperlichem beschreibt. Welsch, Wolfgang (*1946): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich mit dem Begriff der Vernunft und der Postmoderne. Wenzl, Aloys (1887–1967): Deutscher Philosoph des kritischen Realismus.
Wiclif, John %Wiclef, John Wieland, Wolfgang (*1933): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich insbesondere mit der aristotelischen Philosophie und dem deutschen Idealismus. Wilhelm von Ockham (um 1258–1349): Englischer SpÈtscholastiker des Franziskanerordens, Vertreter des Nominalismus. Windelband, Wilhelm (1848–1915): Deutscher Philosoph des Neukantianismus (sÝdwestdeutsche Schule) und Philosophiehistoriker. Wittgenstein, Ludwig (1889–1951): ³sterreichischer Philosoph, BegrÝnder der modernen Sprachphilosophie, %B, 2. Wolff, Christian (1679–1754): Deutscher Mathematiker und Philosoph der AufklÈrung, entwickelte einen deutschen, rationalistischen Dogmatismus und legte den Grund der philosophischen Terminologie in deutscher Sprache, Lehrer Immanuel Kants. Wright, George Henrik von (*1916): Englischer Philosoph der analytischen Ethik. Wundt, Wilhelm (1832–1920): Deutscher Philosoph des Psychologismus. Wycliffe, John
%Wiclef, John
Xenokrates von Kalchedon (396–314): Griechischer Philosoph der platonischen Èlteren Akademie.
Zimmerli, Walther Ch.
65
Xenophanes von Kolochon (um 570–480): Griechischer vorsokratischer Philosoph der eleatischen Schule.
Zenon von Elea (um 490–440): Griechischer vorsokratischer Philosoph der eleatischen Schule.
Xenophon (um 450–354): Griechischer Philosoph der sokratischen Schule.
Zenon von Kition (um 336–264): Zyprischer Philosoph, aus der kynischen Schule stammend, wurde er zum GrÝnder der Stoa.
Yorck von Wartenburg, Paul (1835–1897): Deutscher Graf und Philosoph, bedeutender Anreger der Seins-Hermeneutik Wilhelm Diltheys und der Fundamentalontologie Heideggers.
Zimmerli, Walther Ch. (*1945): Deutscher Philosoph, beschÈftigt sich mit Popularphilosophie und Technikphilosophie.
2. Themen und Positionen Adorno, Theodor Wiesengrund (1903–1969): Philosoph, Soziologe, Psychologe, Musikwissenschaftler, Komponist und kompetenter Literaturund Kulturkritiker in einer Person. Die HÈlfte seines Lebens war er Mitglied des Instituts fÝr Sozialforschung in Frankfurt, das in den 20er Jahren zur interdisziplinÈren, kritischen Analyse der Gesellschaft gegrÝndet worden war. Neben den marxschen FrÝhschriften, welche die ideologische Grundlage fÝr die Forschungen des Instituts bildeten, war es vor allem Benjamin, dessen Gedanken einen nachhaltigen Einfluss auf Adorno ausÝbten. Durch das von Adorno zusammen mit Horkheimer in der amerikanischen Emigration verfasste Buch Dialektik der AufklÈrung (erschienen 1947) wurde Adorno zum MitbegrÝnder und Hauptvertreter der %kritischen Theorie, einer philosophischen Denkrichtung, welche in der Folge vor allem von den Mitgliedern des Frankfurter Instituts vertreten wurde. Die Katastrophe zweier Weltkriege, die Verdinglichung des Menschen in der modernen Industriegesellschaft, die gewaltsame Manipulation menschlicher BedÝrfnisse und WÝnsche in der Massen- und Konsumgesellschaft des 20. Jhs. sind nur einige der PhÈnomene, welche Adorno in seiner Analyse der zeitgenÚssischen %Gesellschaft dazu veranlassen, dieser Gesellschaft ein HÚchstmaß an Negativem zu diagnostizieren. Die gesellschaftliche Entwicklung hat sich in seinen Augen der Beeinflussung der Menschen entzogen und eine Eigendynamik entwickelt, als deren Produkt am Ende nur noch Negatives steht (»Das Ganze ist das Falsche«). Dem kann nur durch den Versuch begegnet werden, die Gesellschaft als Ganze zu verÈndern. Einen Gedanken Benjamins aufnehmend, der die Wirklichkeit als Deutungsprodukt der Wahrnehmung interpretiert, kann die VerÈnderung der Gesellschaft nach Adorno nur Ýber eine VerÈnderung der Wirklichkeitswahrnehmung erfolgen. Neben einer scharfen ZurÝckweisung des Bestehenden und einer großen Skepsis gegenÝber heilsversprechenden Alternativmodellen teilt Adorno mit anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule eine eingefleischte Abneigung ge-
gen jegliches Systemdenken, da durch dieses die Wirklichkeit in erstarrten Begriffen festgelegt wird. Seine Gedanken verfasst er denn auch bevorzugt als Essays, AufsÈtze oder Aphorismen, ohne ihnen die Form eines Systems zu geben. Im Folgenden soll zuerst nach der Ursache des von Adorno diagnostizierten ›Negativen‹ gefragt und danach auf die Rolle der Philosophie und der Kunst in diesem Zusammenhang eingegangen werden. FÝr Adorno liegt der Ursprung all des Negativen, welches die Gesellschaft hervorbringt und unter welchem sie gleichzeitig leidet, in einer bestimmten Art von %Denken begrÝndet, welches er das »Denken der IdentitÈt« nennt. In demselben Maße, wie die logischen, die mathematischen und die Naturwissenschaften immer dominanter wurden, hat sich gleichzeitig auch ihre %Methode, ihr Zugriff auf Wirklichkeit im %Bewusstsein nicht nur der Wissenschaftler, sondern auch der Allgemeinheit immer mehr durchgesetzt. Die Naturwissenschaft wurde nicht nur zum Inbegriff und Leitbild fÝr Wissenschaftlichkeit, sondern das Wirklichkeitsbild dieser Wissenschaften wurde bestimmend fÝr das, was Wirklichkeit fÝr alle sein sollte. Die Optik, die diese Wahrnehmung prÈgt, hat nach Adorno ihr Spezifikum im Vereinheitlichen und Gleichmachen. Dieses identifizierende und unter Allgemeines systematisierende Verfahren beweist seine StÈrke durch seine Erfolge auf naturwissenschaftlichem Gebiet, wo das Individuelle um des Zieles einer allgemeinen (und eben gerade nicht spezifisch gebundenen) Anwendbarkeit willen ausgeschaltet werden muss. Zur Erfassung der %Wirklichkeit ist dieses Denken jedoch ungeeignet, weil es die Dimension des Individuellen und Einmaligen – somit das konkrete Leben selbst – vernachlÈssigt. Nach Adorno ist die zunehmende Versachlichung des Menschen, seine Entfremdung nicht nur gegenÝber der %Arbeit, sondern gegenÝber allem, mit dem der Mensch Umgang pflegt, die unmittelbare Wirkung solch vereinheitlichenden Denkens. Als schrecklichste Konsequenz war auch Auschwitz nur mÚglich unter der Voraussetzung eines Den-
Adorno, Theodor Wiesengrund
kens, das den Menschen entmenschlicht, indem es ihm seine IndividualitÈt nimmt. Ein Mensch wird auf das Faktum einer Nummer reduziert, bÝrokratisch verwaltet – bÝrokratisch erledigt. Wie kommt es dazu, dass das Denken der instrumentellen %Vernunft oder technologischen %RationalitÈt sich gegen den Menschen selbst richtet? Der Ursprung fÝr diese Entwicklung liegt nach Adorno in den AnfÈngen der menschlichen %Kultur begrÝndet. Aus Angst vor der Macht der %Natur versucht der Mensch diese im %Mythos zu bÈndigen. Durch die Kategorien von %Ursache und Wirkung wird das Bedrohliche ›erklÈrt‹, durch die Anwendung derselben als Mittel und %Zweck ›beherrschbar‹ gemacht. Nach und nach unterwirft sich dieses %Prinzip jedoch alle vorgefundenen VerhÈltnisse und Beziehungen inklusive der menschlichen, welche in dieser Optik nur noch unter dem Aspekt des VerfÝgens, der Kontrolle und der %Herrschaft wahrgenommen werden kÚnnen. Der in der technologischen RationalitÈt befangene moderne Mensch beherrscht die PhÈnomene in Natur und Gesellschaft, indem er sie rationalisiert und kategorisiert, und wird, indem er die technologische RationalitÈt als fÝr sÈmtliche Lebensbereiche alleinig zustÈndig erklÈrt, schließlich selbst Opfer dieser Prinzipien. So hat der Mensch die unmittelbare Erfahrung dessen, was ist, ersetzt durch die Erfahrung desjenigen, was er versteht, respektive durch die Weise dieses %Verstehens: Er hat die Erfahrungsordnung mit dem Erfahrenen identifiziert. Die Aufgabe der Philosophie besteht nun nach Adorno gerade darin, auf diese Verwechslung hinzuweisen, ja sie anzuprangern. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, das Nicht-Identische zur Sprache zu bringen. Doch wie kann das geschehen? Wie mit den Kategorien der %Begriffe dasjenige fassen, das ihnen entschlÝpft? Nach Adorno gelingt dies nur einer ganz spezifischen Form von %Kritik. In dieser Kritik geht es darum, aufzuweisen, dass das, was ist, nicht alles ist – beziehungsweise, dass das, was ist, auch anders sein kÚnnte. Eine solche Kritik muss selbst negativ sein, das heißt, sie darf nicht von dem sicheren Standort des %Wissens aus das Bestehende als schlecht kritisieren, indem sie es mit einem positiv gefassten Anderen vergleicht. Die von Adorno gemeinte Kritik muss kritisieren ohne Vergleich und ohne die Vorstellung eines Besseren. Von dem Hier
67
und Jetzt ausgehend, muss sie die MÚglichkeit des Anders-Seins erÚffnen, ohne ein konkretes Anderes an die Stelle des Kritisierten zu setzen. AnknÝpfend an Benjamins Vorstellung, wonach die Wirklichkeit die Geordnetheit disparater Elemente ist, kann die negative Kritik nach Adorno nur in der permanenten Neuordnung der Wirklichkeitselemente bestehen. Nur aus diesem Prozess stÈndiger VerflÝssigung erstarrter Vorstellungen, nur aus der Destruktion durch permanente Neuordnung erwÈchst das Bewusstsein der MÚglichkeit des Anders-Sein-KÚnnens ohne die positive Schilderung dieses Anderen. Damit die Neuordnung nicht ihrerseits wieder zur Form erstarrt, muss jeder Darstellung zugleich das Versprechen auf ihre Destruktion gleichsam mitgegeben sein. Negative Kritik ist immer Metakritik. Sie beinhaltet die Kritik an etwas, das sich sagen und infolgedessen mit Worten kritisieren lÈsst, und muss gerade deshalb sich selbst als unzureichend und ergÈnzungsbedÝrftig kritisieren, weil sie nur das aktuell Vorhandene betrifft. In seinem Aufsatz Wozu noch Philosophie? bestimmt Adorno Philosophie solchermaßen als Kritik. Ohne Standpunkt hat sie kein Ziel, das Ýber die Kritik des Gegebenen hinausgeht: Sie lebt in der Einheit des Problems und der %Argumente. Es ist offenbar, dass eine solche philosophische Kritik auch vor den philosophischen %Systemen selbst nicht Halt macht. Es sind vor allem %Husserl und %Heidegger, denen Adorno vorwirft, ihre eigene Erkenntnisstruktur zu verabsolutieren und im System zu einer Abstraktion der Wirklichkeit gerinnen zu lassen. WÈhrend Philosophie als Kritik das Nichtidentische nie erfassen, sondern immer nur dessen MÚglichkeit andeuten kann, gibt es nach Adorno einen Bereich, der das Nichtidentische unmittelbar erfahrbar machen kann: die %Kunst. Insofern Adorno in der posthum verÚffentlichten Schrift sthetische Theorie (1970) Kunst als eine Form der naturbeherrschenden Vernunft verstanden wissen will, mag diese Behauptung auf den ersten Blick paradox erscheinen. Denn das Kunstwerk als ein Produkt des Menschen ist durch seine Genese zugleich immer auch Produkt der menschlichen RationalitÈt. Indem in ihm Materialien der unterschiedlichsten Art zu einer Einheit geformt werden, ist das Kunstwerk immer Ergebnis einer rationalen Ordnung – und
68
Anaximander von Milet
sei es nur die Ordnung des konsequent provozierten Zufalls. Doch wenn auch das Werk durch die Bedingung seiner Entstehung nicht frei von jeglicher RationalitÈt ist, so provoziert es doch im Kunsterlebnis die Erfahrung des Nichtidentischen. Dies gelingt durch die RadikalitÈt, mit welcher die RationalitÈt im Kunstwerk – als die rationale Konstruktion des Materials – gewissermaßen auf die Spitze getrieben wird. Wie ist das zu verstehen? Die Entstehung eines Kunstwerks verdankt sich einem Prozess, in dessen Verlauf rationale Gestaltungskraft sich verwirklicht. Bei der Rezeption des Werks wird der Betrachter oder HÚrer nun mit der TotalitÈt dieser verwirklichten RationalitÈt konfrontiert, ein Erlebnis, das seine FÈhigkeit, das Ganze aus der Erkenntnis der Teile aufzubauen durch die Unendlichkeit der im Werk verwirklichten BezÝge Ýberfordert. WÈhrend die Entstehung beispielsweise eines Bildes das Ergebnis einer endlichen Anzahl von Verrichtungen darstellt, ist das Produkt in sich selbst unendlich und in seiner TotalitÈt unbeschreibbar. Dem kategorisierenden Zugriff durch Àberforderung entzogen, wird das Material in seiner IndividualitÈt freigesetzt und als das Nicht-Kategorisierte, das Nichtidentische erfahren. Th. W. Adorno, Aufarbeitung der Vergangenheit. Reden und GesprÈche, (5 CDs) MÝnchen 1999 G. SchweppenhÈuser, Theodor W. Adorno zur EinfÝh rung, Hamburg 2000 W. van Reijen, Adorno, Hannover 1980 G.T. G.
Anaximander von Milet (um 610/09–547/46): Sohn des Praxiades, kannte %Thales und war vielleicht sein SchÝler. Ihm wird die Erfindung der Sonnenuhr zugeschrieben, was aber wohl unrichtig ist, weil nach der Angabe Herodots die Griechen sie von den Babyloniern Ýbernahmen; vielleicht fÝhrte Anaximander sie in Griechenland ein. Ferner soll Anaximander eine Landund Seekarte entworfen haben, was mÚglich ist; es bleiben aber Zweifel. Dass Anaximander einen Himmelsglobus konstruiert habe, ist nicht beweisbar und aufgrund der astronomischen Vorstellungen Anaximanders wenig wahrscheinlich. Sicher ist, dass er ein Buch schrieb, aus dem ein Satz wÚrtlich erhalten ist. Er war der erste, der fÝr den Urstoff den Namen apeiron
(Unbegrenztes, Unbestimmtes) verwendete, weil der von ihm angenommene Urstoff unvorstellbar weit ausgedehnt und der Beschaffenheit nach unbestimmt ist, d. h. das apeiron ist mit keinem ElementarkÚrper identisch und auch keine Mischung aus ElementarkÚrpern. Verbunden hiermit ist der Gedanke, es sei unvergÈnglich. Als unvergÈnglich ist das apeiron gÚttlich, und als solches umfasst und ›steuert‹ (lenkt) es alles. Hiermit ist nicht mit Notwendigkeit auf planvolle Lenkung des %Kosmos hingewiesen; das Steuern eines Schiffes kann als mechanischer Vorgang aufgefasst werden, der durch den Mechanismus des Steuerruders verursacht wird, und ebenso kann die dem apeiron beigelegte Steuerung gemeint sein. Indessen ist zu konzedieren, dass die Steuerungsmetapher die Annahme einer planvollen Lenkung begÝnstigt, sie jedoch nicht erforderlich macht; auch bei Aristoteles kommt der zielstrebig verÈndernden und gestaltenden Naturkraft (physis) kein Bewusstsein zu. Wie Anaximander die Lenkung der Welt auffasste, wissen wir nicht; die LÚsung des Problems kann in Folgendem gesehen werden: Die Lenkung erfolgt durch das Gesetz des Austauschs der GegensÈtze dergestalt, dass entsprechend diesem Gesetz jeder Wechsel erfolgt. Diese Deutung wird durch den erhaltenen wÚrtlichen Satz begÝnstigt: »Entsprechend der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Buße fÝr die Ungerechtigkeit gemÈß der Anordnung der Zeit« (mit Sicherheit echt sind die Worte »denn sie . . . Ungerechtigkeit«). Strafe und Buße zahlen ist auf die einander entgegengesetzten Dinge zu beziehen, die aus dem apeiron entstehen und Teile der Welt oder der aufeinander folgenden Weltordnungen sind, also auf Warmes, Kaltes, Trockenes, Feuchtes. Diese sind nicht Attribute eines Stoffes, sondern Dinge, welche die Welt in ihrer Gesamtheit %konstituieren. Wahrscheinlich sprach Anaximander nicht abstrakt vom Warmen, Kalten usw., sondern von Feuer, Wind oder Luft, Wasser usw. Der Konflikt zwischen Entgegengesetztem ist vornehmlich beim Wechsel der Jahreszeiten beobachtbar, und archaisches Denken weitete diesen Konflikt in kosmisches Geschehen aus. Hitze und Trockenheit, Regen und KÈlte verdrÈngen einander; Heißes kÝhlt sich ab zu Wolken, Wolken werden zu Regen. Die ›Ungerechtigkeit‹ besteht darin, dass z. B. das Heiße die Àbermacht
Anaximander von Milet
Ýber sein Gegenteil erlangt. Dieses Dominieren des einen gegenÝber dem anderen ist ›Ungerechtigkeit‹, die gesÝhnt wird; der Wechsel, das Wiederherstellen des kosmischen Gleichgewichts, ist »Strafe und Buße fÝr die Ungerechtigkeit zahlen«. Es handelt sich hierbei eindeutig um eine Metapher, die dem gesellschaftlichen Leben entnommen und auf die VorgÈnge im Kosmos angewendet ist. Das Wiederherstellen des gestÚrten Gleichgewichts ist eine ›Notwendigkeit‹, auf welcher die Fortdauer des Entstehens und Vergehens beruht. Die Rechtsmetapher vermag auch Auskunft darÝber zu geben, wer Ursache der Notwendigkeit ist. Gesellschaftliches Leben wird dadurch gewÈhrleistet, dass das vom Herrscher erlassene Gesetz befolgt wird. Nichtbefolgung des Gesetzes zerstÚrt die %Ordnung; durch Strafe und Buße wird die Ungerechtigkeit gesÝhnt. Das wird auf den Kosmos Ýbertragen: Die Ungerechtigkeit, das Àberhandnehmen eines Teiles in der Welt wÝrde die Weltordnung zerstÚren, wenn sie nicht wieder hergestellt wÝrde. Das Gesetz der Isonomie und die Notwendigkeit, dass die kosmischen GegensÈtze ihre Bereiche nicht Ýberschreiten, entstammen also dem apeiron. »GemÈß der Anordnung der Zeit« wird die Grenze fÝr die ›Buße‹ bestimmt, was bedeutet, dass fÝr alle Gegensatzglieder eine bestimmte Dauer festgesetzt ist und dass nichts unverÈnderlich besteht. Die von Aristoteles angegebene BegrÝndung dafÝr, dass Anaximander als Urstoff das apeiron annahm, wird von hier aus plausibel: WÈre der Urstoff einer der bekannten ElementarkÚrper, dann wÝrde er wegen seiner unvorstellbar weiten Ausdehnung die anderen Stoffe zerstÚren. Daher kann der Urstoff nicht selbst ein kosmisches PhÈnomen sein, sondern muss jenseits der PhÈnomene existieren. Die Weltentstehung wird dadurch eingeleitet, dass aus dem apeiron sich ein Keim absondert, der Heißes und Kaltes erzeugt, in der Sprache des Anaximander wahrscheinlich Feuer als Heiß-Trockenes, Wasser als Kalt-Feuchtes. Das Heiß-Trockene drÈngt an die Peripherie und entwickelt sich zu einem Flammenball, der das Kalt-Feuchte umgibt wie die Rinde den Baum. Durch die auf das Kalt-Feuchte einwirkende Hitze entsteht Nebel, und ebenfalls unter der Einwirkung der Hitze wird der grÚßere Teil des Kalt-Feuchten zu trockenem Land. Die Gestirne einschließlich der Sonne und des Mondes entstehen dadurch, dass
69
aufgrund der Hitze Luftmassen gegen die Feuerregion stoßen und diese zerteilen; der Flammenball bricht auseinander, und das Feuer schließt sich zu RadkrÈnzen zusammen, die von dunkler Luft wie von SchlÈuchen umgeben sind. Auf der inneren Seite der RadkrÈnze befinden sich ³ffnungen; die durch die ³ffnungen sichtbaren Feuerteile erscheinen als Sonne, Mond und Sterne. Gelegentliche Verstopfungen der ³ffnungen sind Ursache der Sonnen- und Mondfinsternisse; periodische Verstopfungen bewirken die Mondphasen. Àber eine Ursache der Verstopfungen ist in den Berichten nichts angegeben. In nacharistotelischen Referaten wird gesagt, Anaximander habe zahllose aus dem apeiron entstehende Weltordnungen angenommen. Falls er in irgendeiner Weise von koexistierenden Welten sprach, kann er damit nur die Gestirne oder die Regionen zwischen den Gestirnbahnen gemeint haben. Wahrscheinlicher ist, dass er an eine Vielzahl aufeinander folgender Beschaffenheiten des einen Kosmos dachte, worauf auch das erhaltene Fragment hinweist. Mit Sicherheit hatte Anaximander große astronomische und geographische Interessen, die auch in seiner Weltentstehungstheorie deutlich werden. Die Erde ist an Gestalt einem zylindrischen SÈulenstumpf gleich, dessen HÚhe ein Drittel der Breite ausmacht. Die von Menschen bewohnte OberflÈche erscheint wie eine flache Scheibe. Anaximanders Neuerung besteht darin, dass er auf eine die Erde tragende Unterlage verzichten kann. Die Erde schwebt frei in der Mitte der Welt; wegen des gleichen Abstands nach allen Seiten befindet sie sich im Gleichgewicht, und es gibt keinen Grund dafÝr, dass sie sich von der Mitte entfernt. Aufgrund dieser Position der Erde ist die MÚglichkeit gegeben, die Gestirnbahnen als kreisfÚrmige Bewegung der RadkrÈnze aufzufassen. Verursacht wird die Drehung der RadkrÈnze durch den Wind, dessen Ursache der infolge der SonnenwÈrme aufsteigende Wasserdampf ist. Wie kindlich diese Theorie im 21. Jh. erscheinen mag, so wichtig ist sie. Aristoteles z. B. fand keine bessere ErklÈrung fÝr die Bewegung der Gestirne, als dass sie durch Ýbermenschliche Intelligenzen verursacht werden, was die mittelalterlichen Aristoteliker akzeptierten. Bei Anaximander hingegen treffen wir auf eine physikalische ErklÈrung der Gestirnbewegung. Die GrÚße der Sonne ist gleich
70
Anaximander von Milet
der ErdoberflÈche. Die Durchmesser der RadkrÈnze werden in Vielfachen des Erddurchmessers angegeben: Der Radkranz der Sonne hat siebenundzwanzigfachen, der des Mondes achtzehnfachen Durchmesser der Erde; der Durchmesser des Gestirnradkranzes ist nicht Ýberliefert, wahrscheinlich galt fÝr ihn der neun- oder zehnfache Erddurchmesser. Hieraus ergibt sich: Alle Gestirne sind von der Erde gleich weit entfernt, sie befinden sich in grÚßerer NÈhe zur Erde als der Mond; die Sonne ist am weitesten von der Erde entfernt. Wichtiger als das ist, dass die Welt mathematisch strukturiert ist und deswegen Kosmos (Ordnung, Schmuck) heißt; SchÚnheit erfordert Proportion und MaßverhÈltnisse. Eine Schwierigkeit ergibt sich hinsichtlich der scheinbar rÝcklÈufigen Planetenbahnen im Vergleich zur FixsternsphÈre; sie lÈsst sich am besten durch die Annahme beheben, dass Anaximander jedem Planeten einen gleich großen Radkranz, aber von jeweils verschiedener Neigung und Umdrehungsgeschwindigkeit, zusprach; diesbezÝglich ist jedoch nichts Ýberliefert. Eine andere Schwierigkeit besteht hinsichtlich der nicht untergehenden Zirkumpolarsterne. Wenn die Erde sich im Mittelpunkt der RadkrÈnze befindet, lassen sich die Bahnen der Zirkumpolarsterne nicht erklÈren. Auch diesbezÝglich ist nichts Ýberliefert; denkbar ist, dass Anaximander sich mit diesem Problem nicht befasste. Meteorologische PhÈnomene wie Wind, Wolken, Regen, Blitz und Donner scheint Anaximander dadurch erklÈrt zu haben, dass der kosmische Prozess der Aussonderung nicht beendet ist. Unter dem Einfluss der SonnenwÈrme steigt Wasserdampf vom Meer auf und bildet die AtmosphÈre, diese sondert sich in schwere und leichte Luft. Die Bewegung der leichten Luft ist der Wind; die schwere, feuchte Luft ballt sich zu Wolken zusammen und wird zu Regen. Wind, der vollstÈndig in dichten Wolken eingeschlossen ist, sucht einen Ausweg und sprengt die Wolken. Das Zerreißen der Wolken wird als Donner hÚrbar, der Riss selbst erscheint im Kontrast zur Dunkelheit der Wolken als Blitz. Dass Anaximander auch eine ErklÈrung der Erdbeben gab, ist zu bezweifeln. Entsprechend einigen Referaten soll er gelehrt haben, die Erde trockne immer mehr aus und schließlich verschwinde das Wasser. MÚglich ist, dass es sich bei diesen Berichten um einen Teil einer zyklischen Weltentstehungs- und Welt-
untergangstheorie handelt; denkbar ist auch, dass hiermit die archaische Vorstellung vom ›Großen Sommer‹ und ›Großen Winter‹ zu verbinden ist, nÈmlich periodische Trockenheitsund Àberschwemmungsphasen entsprechend dem Gesetz der Isonomie. Wahrscheinlicher indessen ist die Annahme, dass der jÈhrliche Wechsel der Jahreszeiten gemeint ist. Alles Leben entsteht im Feuchten unter dem Einfluss der SonnenwÈrme. Abgesehen von der Verbindung zu Thales’ Theorie vom Wasser als dem Urstoff wurde Anaximander zu dieser Auffassung vielleicht durch Beobachtungen des Lebens im austrocknenden Meeresschlamm angeregt. Die ersten Lebewesen entstanden im Wasser und waren von stacheligen SchutzhÝllen umgeben; mit fortschreitendem Alter begaben sie sich aufs Land, warfen die SchutzhÝllen ab und lebten einige Zeit in anderer Form weiter. Auch die Menschen entstanden ursprÝnglich im Wasser. Da sie im Vergleich zu anderen Lebewesen lange Zeit pflegebedÝrftig sind, wurden sie von Fischen oder fischÈhnlichen Lebewesen so lange ausgetragen, bis sie sich auf dem Land selbst erhalten konnten. Diese Theorie ist, wenn von Einzelheiten abgesehen und sie im Ganzen bewertet wird, keineswegs zu verachten; sie ist nichts anderes als eine erste Abstammungslehre. Anaximander ist, soweit wir wissen, der Erste, der versuchte, den Ursprung der Lebewesen und der Menschen naturwissenschaftlich zu erklÈren. DarÝber hinaus bot er eine allumfassende Deutung der Weltentstehung und aller kosmischen PhÈnomene, was trotz der lÝckenhaften Referate erkennbar ist; und wenn seine Deutung mit spÈteren verglichen wird, ergibt sich, dass der Gedankenreichtum Anaximanders nie Ýbertroffen wurde. Auf Einzelheiten, welche die moderne Naturwissenschaft besser als Anaximander deuten kann, braucht nicht hingewiesen zu werden. Er versuchte, die Erscheinungen mit ÝberprÝfbaren Argumenten zu erklÈren, was in spÈterer Zeit keineswegs immer getan wird.
F. Dirlmeier, Der Satz des Anaximander von Milet, in: Rhein. Mus. N. F. 87, 1938,376 382 U. HÚlscher, Anaximander und die AnfÈnge der Phi losophie, in: Hermes 81, 1953, 257 277; 385 418 Ch. H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, New York 1960 K. B.
Aristoteles
Aristoteles (um 384 – um 322): Zu seinem Werk fÝhren viele Wege. Wer Ziele, MÚglichkeiten und Angemessenheit menschlichen Handelns ergrÝnden will, greift zur Nikomachischen Ethik. Wem die staatliche Ordnung und die Úffentlich wirksame Rede am Herzen liegt, der studiert die politischen Schriften und die Rhetorik. Der Literatur- und Theaterwissenschaftler liest mit Gewinn in der Poetik. An der %Logik und der %Erkenntnistheorie Interessierten bieten die unter dem Titel Organon zusammengefassten Schriften reichlich Material. FÝr den Biologen, insbesondere fÝr den Zoologen, bilden die verschiedenen Schriften Ýber die Lebewesen eine kostbare Schatztruhe, der noch in den letzten Jahrzehnten neue Erkenntnisse entnommen worden sind. FÝr jeden, der sich mit der Geschichte der Naturwissenschaften beschÈftigt, gehÚren die Physik, die Schrift Àber den Himmel und die Metereologie zur PflichtlektÝre. Wer schließlich wissen will, was Aristoteles Ýber %Gott und die %Seele geschrieben hat, vertieft sich in die Schrift Àber die Seele und die BÝcher, die den Namen Metaphysik tragen. Jenseits solcher beliebigen ZugÈnge zum aristotelischen Schrifttum ist jedoch die Einheit und ZusammengehÚrigkeit der aristotelischen Wissenschaft nicht leicht zu begreifen und bleibt Aufgabe der Philosophie. Aristoteles wurde vermutlich im Jahr 384 v. Chr. in Stageira, einer Stadt im Nordosten der Halbinsel Chalkidike an der Grenze zum immer mÈchtiger werdenden KÚnigreich Makedonien geboren und ist im Alter von 62 Jahren in Chalkis auf EubÚa gestorben. Sein Vater war Leibarzt des makedonischen KÚnigs und so war Aristoteles schon frÝh mit dem KÚnigshaus verbunden. Diese Beziehung dauerte bis zum Tod Alexanders des Großen, dessen Erziehung er drei Jahre lang leitete. Mit achtzehn Jahren begab sich Aristoteles nach Athen, um Mitglied der platonischen Akademie zu werden, der er zwanzig Jahre bis zu %Platons Tod angehÚrte. Wenn ordnende Àbersicht, SelbstÈndigkeit und Gelassenheit nicht schon zur natÝrlichen Mitgift des ›Stagiriten‹ gehÚrt haben sollten, so wurden sie durch die Tatsache, dass er als Fremder nicht in die Auseinandersetzungen der Athener Gesellschaft verstrickt war, sondern sich in Muße der Wissenschaft widmen konnte, außerordentlich gefÚrdert. Sein Werk offenbart jedenfalls auf bewundernswÝrdige Weise diese Charaktermerk-
71
male, ohne dass der SchÝler Platons an Tiefe und SchÈrfe des Geistes seinem Lehrer, dem er ebenbÝrtig werden sollte, nachstand. Die Einheit der aristotelischen Wissenschaft scheint sich am ehesten zu erschließen, wenn man von der ›Bewegung‹ als leitendem Thema des aristotelischen Denkens ausgeht. So ist, was sich selbst bewegt, von dem zu unterscheiden, was bewegt wird, d. h. das Beseelte von Unbeseelten. Das Sich-selbst-Bewegende, also Beseelte, ist ferner zu scheiden in das, was sich immer auf die gleiche Weise bewegt und kein Entstehen und Vergehen kennt: das sind die HimmelssphÈren (am Himmel haben wir daher so viele Seelen zu denken, als wir HimmelssphÈren unterscheiden), und in die Lebewesen, die dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind, also Pflanzen, Tiere, Menschen. So wÈre durch diese Unterteilung die Unterschiedenheit und der Zusammenhang der aristotelischen Wissenschaft erbracht und es fehlt nur noch eine Schlussfolgerung, die zu ziehen wÈre, dass nÈmlich jede Bewegung einer %Ursache bedÝrfe, die Reihe der Ursachen aber nicht endlos sein kÚnne, ein %regressus ad infinitum zu vermeiden sei, und so schließlich eine erste Ursache, die selber nicht bewegt ist, also ein ›unbewegt Bewegendes‹ vorausgesetzt werden mÝsse. Die Systematik der aristotelischen Wissenschaft wÈre zwar so erklÈrt, aber nicht begriffen, sie wÈre verstÈndlich, aber noch nicht einsichtig. Vor allem wÈre der von Aristoteles immer wieder behauptete Vorrang der theoretischen Wissenschaften vor den praktischen und technischen so noch nicht einzusehen, schon gar nicht, dass unter den theoretischen Wissenschaften der Theologie der hÚchste Rang zukommen soll. Um den Rang der theoretischen Wissenschaften und unter ihnen vor allem der Theologie zu erweisen, soll ein neuer Ausgang genommen werden. Aristoteles unterscheidet drei TÈtigkeiten des Geistes: das Erkennen (noein), das Handeln (prattein) und das Hervorbringen oder Herstellen (poiein oder technein). Handeln und Hervorbringen unterscheiden sich in den %Zielen. WÈhrend das Ziel beim Hervorbringen außerhalb des Hervorbringenden verwirklicht wird, bleibt das Ziel beim Handeln innerhalb des Handelnden. Das Schiff, das der Schiffsbauer erbaut, fÈhrt auch ohne seinen Erbauer zur See; die Verwirklichung der Tapferkeit ist vom tapfer Han-
72
Aristoteles
delnden nicht zu lÚsen. Der Unterschied zeigt sich auch auf folgende Weise: Der Tapfere wird als Held gerÝhmt, auch wenn er den Tod findet, die Schlacht verloren geht, die Vaterstadt zerstÚrt wird. Der Hervorbringer verfÈllt Schimpf und Schande, wenn sein Schiff beim Stapellauf untergeht. Werden Handeln und Hervorbringen als Bewegung verstanden, so ist zu sehen, dass diese Bewegung ein Àbergang von der MÚglichkeit zur Wirklichkeit ist. Das mÚgliche Schiff, wie es zuvor in der Seele des Erbauers Gestalt hat, wird in dem jeweiligen Material in die Wirklichkeit ÝberfÝhrt. Die mÚgliche Tapferkeit, die in der Haltung (hexis) des Handelnden als MÚglichkeit angelegt ist, wird durch die Wahl (prohairesis) und den Entschluss, lieber Schmerzen zu ertragen und die Stadt zu verteidigen als feige zu fliehen, zur verwirklichten Tapferkeit. Es ist einsichtig, dass die verwirklichten Ziele beim Handeln und Hervorbringen nach einer Rangordnung beurteilt werden mÝssen, je nachdem wie gut oder wie schlecht sie verwirklicht worden sind. Ein Ziel ist dann vollkommen (teleion) verwirklicht, wenn seiner Verwirklichung nichts mehr hinzugefÝgt werden kann. Schon hier zeigt sich, dass das Vollkommene nicht erst die letzte Schlussfolgerung aus den jeweils offen gebliebenen MÚglichkeiten verwirklichter Ziele ist, sondern der den jeweiligen Rang einer Wirklichkeit bestimmende Grund. Hinsichtlich des technischen Hervorbringens kÚnnte nun das MissverstÈndnis entstehen, dass der Vorrang der %Theorie vor der %Technik darin lÈge, dass alles, was technisch hervorgebracht wird, zuvor theoretisch erkannt sein muss, sodass die Bedeutung des theoretischen Wissens schließlich in seiner zivilisatorischen Dienlichkeit lÈge. Dieses MissverstÈndnis Ýbersieht, dass die Bedeutung der Theorie bei Aristoteles ihren Grund nicht in der Brauchbarkeit eines Wissens, sondern in dessen Vollkommenheit hat. Anders gesagt: Die aristotelische Wissenschaft dient nicht der Verwirklichung eines Ziels, sondern ist die Verwirklichung eines Ziels. Dass die theoretische Wissenschaft die vorzÝglichste Verwirklichung eines Ziels ist, erschließt sich jedoch gerade nicht aus der Untersuchung des Hervorbringens, weil das Hervorgebrachte ja dem Hervorbringer Èußerlich wird. So muss sich der Vorzug der Theorie aus der Erforschung des Handelns ergeben. Jedes Handeln
hat ein Ziel (telos). Das letzte Ziel unseres Handelns aber ist die GlÝckseligkeit (eudaimonia). Was GlÝckseligkeit ist, darÝber gehen die Meinungen auseinander. Viele wollen sie in der Lust finden, andere in Reichtum und Macht, einige in der theoretischen Lebensform. Die GÝter, die wir durch unser Handeln verwirklichen wollen, liegen teils außerhalb von uns wie der Reichtum, teils betreffen sie unseren KÚrper wie die Gesundheit, drittens aber sind sie GÝter unserer Seele. Dass die seelischen GÝter die »herrschendsten und besten« (kyriotata kai malista) sind, ist zwar, wie Aristoteles sagt, seit langem gemeinsame Anschauung aller Philosophen, muss aber doch eigens begrÝndet werden. Ein Ziel wird entweder um seiner selbst willen verwirklicht oder um eines anderen, hÚheren Zieles willen. Gesucht wird als hÚchstes Ziel das beste %Leben (beltistos bios). Es ist offenkundig, dass das beste Leben nicht ein mÚgliches, sondern ein wirkliches Leben ist. Als bestes muss es von einer Wirklichkeit sein, der nichts hinzuzufÝgen ist, d. h. es ist das vollkommene Leben. Das vollkommene Leben kann daher dem Menschen nicht zukommen, denn menschliches Leben ist immer Àbergang von MÚglichkeit in Wirklichkeit und immer kann ihm etwas hinzugefÝgt werden, dessen es vorher ermangelte. Das beste, weil vollkommene Leben kommt daher nur einem vollkommenen Seienden zu, das wir Gott nennen. Der aristotelische Gott bewegt sich nicht, denn es gibt nichts, woraufhin er sich bewegen kÚnnte, was nicht schon in ihm wÈre. Seine Unbewegtheit ist jedoch nicht zu verwechseln mit UntÈtigkeit. Im Gegenteil ist er hÚchste wirkliche TÈtigkeit. Seine TÈtigkeit ist die Freude (hedone) seines Selbstgenusses. Sein Selbstgenuss ist das %Denken seiner selbst. So sagt Aristoteles, dass Leben in der Gottheit wohnt, »denn der %Vernunft (nous) wirkliche TÈtigkeit ist Leben, die Gottheit aber ist die TÈtigkeit; ihre TÈtigkeit an sich ist ihr bestes und ewiges Leben. Die Gottheit ist . . . Leben und Ewigkeit.« Das vollkommene Leben des Gottes kann der Mensch nicht verwirklichen, jedenfalls nicht immer und ewig, wie es fÝr die GlÝckseligkeit notwendig wÈre. Der Mensch muss sich um das Leben sorgen, er muss den Frieden durch %Gerechtigkeit schaffen und erhalten, er muss die Beziehung zu seinen Freunden pflegen, denn ei-
Aristoteles
ner allein kann nicht glÝcklich sein. So muss der Mensch in den jeweils wechselnden Situationen seines Lebens mit Klugheit handeln. Das Handeln hat es immer mit dem Einzelfall zu tun, mit der Tapferkeit in einem bestimmten Kampf, mit der Besonnenheit hinsichtlich einer bestimmten Speise, mit jeweils einzelnen Menschen, die den Freundeskreis ausmachen. Auf diese EinzelfÈlle lassen sich keine %Gesetze unmittelbar anwenden. Deshalb muss jeweils im Hinblick auf den konkreten Sachverhalt und auf die eigene LeistungsfÈhigkeit das Angemessene, d. h. die richtige Mitte (mesotes) zwischen dem Zuviel und Zuwenig, bestimmt werden. Verhindert oder beeintrÈchtigt wird die Bestimmung des Angemessenen vor allem durch ZÝgellosigkeit, Unbeherrschtheit und Unwissenheit. Dasjenige, wodurch die richtige Mitte unseres Handelns bestimmt wird, nennt Aristoteles Klugheit (phronesis). Die Klugheit ist selbst eine Mitte, die sich aus Technik (techne) und %Wissenschaft (episteme) einerseits und aus %Weisheit (sophia) und %Geist (nous) andererseits bildet. Eine gute Kenntnis, wie man bestimmte Dinge herstellt und welche allgemeinen Gesetze fÝr einen Sachverhalt gelten, sollte jeder Handelnde haben; aber Technik und Wissenschaft bilden noch keine Klugheit, die einsehen lÈsst, was im konkreten Fall zu tun ist. Es gehÚrt auch die Erkenntnis der Rangordnung der Ziele dazu. Die Erkenntnis des Ýbergeordneten Ziels, das beim konkreten Handeln zu beachten ist, und die dadurch zur herrschenden oder leitenden Erkenntnis wird, heißt Weisheit. Zur Bildung der Klugheit gehÚrt aber auch letztlich (oder erstlich) Geist. Nous nennt Aristoteles den Gott, dessen bestes, weil vollkommenes Leben die Erkenntnis seiner selbst (noesis noeseos) und der Genuss und die Freude (hedone) dieses vollkommenen Sich-selbst-Begreifens ist. Nous ist fÝr Aristoteles aber auch die Vernunft des Menschen. Als solche ist sie zu unterscheiden. Die Aristoteles folgende Àberlieferung unterscheidet die ›leidende Vernunft‹ von der ›tÈtigen Vernunft‹, wobei leidend soviel bedeutet wie ›einer Einwirkung ausgesetzt‹. Doch diese Unterscheidung bereitet große Schwierigkeiten, da Aristoteles ausdrÝcklich sagt, dass die Vernunft niemals leidend ist. Da es also nicht leicht ist, verstÈndlich zu machen, dass das Begriffs-
73
paar ›leidende Vernunft‹ und ›tÈtige Vernunft‹ dennoch einen von Aristoteles gemeinten Sachverhalt trifft, soll hier eine andere Unterscheidung gemacht werden. Die menschliche Vernunft erkennt zweierlei Sachen: zusammengesetzte und einfache. Alles, was sich bewegt, ist zusammengesetzt. Es ist, wie gleich noch zu zeigen ist, aus %Form und %Materie zusammengesetzt. Insofern die Vernunft das %Wesen (ousia) dieser zusammengesetzten Dinge erkennt, ist sie verbunden mit den sinnlichen Seelenteilen, vor allem mit der Wahrnehmung. Sie hat auch dasselbe Schicksal wie alles Zusammengesetzte. Sie nimmt teil am Entstehen und Vergehen. Die Vernunft erkennt aber auch das Einfache. Es kann aber nur ein Einfaches geben, das nicht zusammengesetzt, sondern in seiner Einfachheit vollkommen ist: den gÚttlichen Nous. So ist die menschliche Vernunft, insofern sie das Einfache erkennt oder besser gesagt: denkt, das Sichselbst-Denken (noesis noeseos) des gÚttlichen Nous. Als dieser gÚttliche Nous ist die Vernunft ewig, das heißt unsterblich. Dieser gÚttliche Nous des Menschen ist nicht mit dem KÚrper und den Ýbrigen Seelenteilen verbunden. Er ist von allem abgetrennt, ewig, kommt nicht auf die natÝrliche Weise des Entstehens dem Menschen zu und vergeht auch nicht mit ihm, sondern kommt – wie Aristoteles kurz und prÈgnant und ohne weitere AusfÝhrungen bemerkt – dem Menschen ›von außen‹ (thyraze) zu. Diese Vernunft, das Sich-selbst-Denken des Geistes, kann sich nicht irren. Sie ist der erste und wahre Gegenstand der ›ersten Philosophie‹ (prote philosophia). Die Vernunft, die die zusammengesetzten Dinge erkennt, unterscheidet nach Maßgabe der ersten Philosophie die obersten Prinzipien (archai) dieser Zusammensetzungen. So lÈsst sich alles Zusammengesetzte auf vier Ursachen zurÝckfuhren (ex arches aitia): 1. »was eine Sache ihrem Wesen nach zu sein hat« (to ti en einai), 2. die Materie (hyle), die ihr wirkliches Dasein ermÚglicht, 3. das »Weswegen« (hou heneka) oder das Ziel, weshalb die Sache ist, was sie ist; und schließlich 4., wovon die Bewegung (kinesis) ausgeht. Um einen Einblick in den aristotelischen Gedanken zu erhalten, genÝgt es zunÈchst, die erste und zweite Ursache, das, was eine Sache zu sein hat, und die Materie ins Auge zu fassen. Was eine Sache wesentlich zu sein
74
Augustinus
hat, ist ihr wesentlicher Anblick (eidos). Die spÈtere Àberlieferung wird dieses eidos Form nennen. Eine Sache ist aus Form und Materie zusammengesetzt wie aus unvollendeter (ateles) %Wirklichkeit (%energeia) und %MÚglichkeit (%dynamis). Wie die Zusammensetzung der wirklichen konkreten Sache aus der allgemeinen Form (eidos) und der Materie (hyle) zu denken ist und in welchem Sinn Aristoteles von dem Wesen (ousia) einer Sache spricht, das ist Gegenstand der schwierigsten Aristoteles-Studien, wobei noch anzumerken ist, dass ein VerstÈndnis dieses Sachverhalts, wie es aus dem 6. Buch (Z) der Metaphysik zu gewinnen ist, in starker Spannung (wenn nicht im Widerspruch) zu anderen Texten im aristotelischen Gesamtwerk steht. Àberhaupt stoßen wir beim Studium des Aristoteles immer wieder auf Schwierigkeiten und WidersprÝche, die (wie W. Jaeger einsichtig gemacht hat) wohl vielfach mit der Entwicklungsgeschichte des aristotelischen Denkens zusammenhÈngen. An einem lÈsst indessen Aristoteles keinen Zweifel, dass nÈmlich alle Teile seiner Wissenschaft vom »herrschendsten Wissen« (kyriotate episterne) und d. h. von seiner Theologie her begriffen werden mÝssen. Dass diese ›metaphysische‹ Auslegung des Aristoteles auch fruchtbar wird, wo der Bezug zur ersten Philosophie nicht sogleich offenkundig ist, soll abschließend an der Bestimmung der TragÚdie in der Poetik gezeigt werden. Das Ziel der TragÚdie, sagt Aristoteles dort, ist die Reinigung (katharsis) zweier GefÝhlsregungen (pathoi), Schauder (phobos) und Jammer (eleos). LosgelÚst von der Theologie des Aristoteles geben die AusfÝhrungen zu diesen GefÝhlsregungen Anlass zu mancherlei EinfÈllen. Sollten aber nicht die GefÝhle in ihrer Richtung von einer Vernunft bestimmt werden, die sowohl das allgemeine Wesen der Dinge des Entstehens und Vergehens zum Gegenstand hat als auch das Denken des sich immer gleich bleibenden einfachen GÚttlichen? WÈre dann der Schauder nicht das GefÝhl vor der zwar denkbaren, aber vom Menschen doch nicht begreifbaren Macht des GÚttlichen und der Jammer das Betroffensein vom Untergang auch des Edelsten unter den Lebewesen? O. HÚffe, Aristoteles, MÝnchen 1999 : Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin 1996
G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, 3. Aufl. Freiburg/Br. 1985 I. Duering, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966 W. BrÚcker, Aristoteles, 2 Bde, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1963 F. P. Hager (Hg.), Ethik und Politik des Aristoteles, 2. Aufl. Darmstadt 1979 M. Frede / G. Patzig (Hg.), Aristoteles »Metaphysik Z.« Text. Àbersetzung und Kommentar, MÝnchen 1988 H. F. B.
Augustinus (354–430): In mehrfacher Hinsicht ein epochaler Autor. Er steht am Ende der Antike und ist zugleich der letzte der großen KirchenvÈter, die die christliche Offenbarung mit den Mitteln der griechischen und rÚmischen Philosophie zu einer zusammenhÈngenden Lehre machen wollten. Mit seinen groß angelegten systematischen und schriftauslegenden Werken ist er, weit Ýber die Wirkung anderer KirchenvÈter hinaus, im gesamten %Mittelalter (A) der meistzitierte Autor der patristischen Zeit. Sein Œuvre vereinigt die widerstreitenden zeitgenÚssischen Lehrmeinungen, die er einerseits widerlegen will und die doch andererseits in der Spannung der Elemente seines Denkens sich weiterhin geltend machen. Seiner Bildung nach zÈhlt Augustinus also zur SpÈtantike, seiner Wirkung nach zum Mittelalter. Geboren ist Aurelius Augustinus 354 n. Chr. in Thagaste im heutigen Algerien als Sohn eines heidnischen rÚmischen Beamten und einer Christin. Nach seinem Studium wurde er Rhetor und war Lehrer seiner Disziplin, zunÈchst in seiner Heimat, dann in Rom, schließlich avancierte er in Mailand zum Hofrhetor des rÚmischen Kaisers. Im Jahre 386 bekehrte er sich nach eingehender BeschÈftigung mit den Schriften der Neuplatoniker, besonders Plotins, zum Christentum und wurde 387 getauft. Im folgenden Jahr gab Augustinus seine Stellung auf und kehrte Ýber Rom nach Afrika zurÝck. In Hippo Regius erhielt er die Priesterweihe und wurde ebendort 395 Bischof, was er bis zu seinem Tode im Jahre 430 blieb. Seine Werke bilden drei Gruppen, die seinen Lebensabschnitten entsprechen. Erst nach seiner Bekehrung wurde Augustinus kontinuierlich literarisch produktiv. Die erste Gruppe umfasst u. a. im klassischen Stil abgefasste Dialoge gegen die
Augustinus
Skeptiker und Ýber das glÝckselige Leben sowie die SelbstgesprÈche (Soliloquia). Die zweite Gruppe folgte in der Zeit von 388–395, als Augustinus nach Afrika zurÝckgekehrt war. Hier finden sich die wichtigen Schriften Àber den freien Willen (De libero arbitrio), Àber den Lehrer (De magistro) und Àber die wahre Religion (De vera religione) sowie der Genesiskommentar gegen die ManichÈer (De Genesi contra Manichaeos). Aus der letzten großen Lebensperiode als Bischof entstammen die berÝhmten Bekenntnisse (Confessiones), die BÝcher Àber die christliche Lehre (De doctrina christiana) und die Dreieinigkeit (De trinitate), sowie das große SpÈtwerk Der Gottesstaat (De civitate Dei). Das Werk des heiligen Augustinus zeigt eine enorme Vielfalt an Motiven und Traditionslinien, die es mit ganz entgegengesetzten antiken Philosophenschulen und den damals zeitgenÚssischen religiÚsen StrÚmungen verbindet. Dennoch hat Augustinus seine philosophische Grundorientierung, die auch seine theologischen Theorien im engeren Sinne bestimmt, schon frÝh gefunden. Sie ergab sich aus seiner Kritik der wichtigsten philosophischen Positionen seiner Zeit, also schon als er, durch die LektÝre von %Ciceros inzwischen verlorenem Dialog Hortensius angeregt, die Philosophie zur eigenen Sache machte. Um 386, als er sich zum Christentum bekehrte, hatte Augustinus die herrschenden Richtungen bereits eingehend studiert. Besonders der %ManichÈismus hat ihn nachhaltig beeinflusst. Diese persisch-christliche Mischreligion lehrte einen strikten %Dualismus der Prinzipien des %Guten und des %BÚsen. Die Welt besteht aus dem Widerstreit dieser beiden GrundkrÈfte. Eine ErlÚsung der in diesem Antagonismus zerrissenen Seele war nur als vÚllige asketische Befreiung von der Welt vorstellbar. Die ZwiespÈltigkeit der Welt hat Augustinus selbst gelehrt, ohne indessen das Gute und das BÚse auf zwei gleichrangige UrgrÝnde zurÝckzufÝhren. Konnten die ManichÈer einen freien menschlichen %Willen nicht anerkennen, so ist er fÝr Augustinus ein Angelpunkt seiner Lehre von SÝnde und ErlÚsung. Das BÚse ist nÈmlich fÝr ihn nicht die Wirkung eines separaten Prinzips, sondern geradezu das Zeugnis des freien menschlichen Willens. Die Alternative zwischen einem guten, %Gottes Willen entsprechenden und einem bÚsen, sich von Gott ab- und der
75
menschlichen SubjektivitÈt zuwendenden Handeln lÈsst die Wahl offen. Die Menschen haben sich im SÝndenfall fÝr das Letztere entschieden. Indem sie von ihrer %Freiheit Gebrauch machten, wurden sie schuldig und sind deshalb auf die gÚttliche Gnade angewiesen. Das BÚse aber ist nicht ein eigenes %Sein, sondern nur der Mangel (Privation) des geschuldeten Guten, also eigentlich ein Nichtsein. Es hat indessen eine dauernde Wirkung, die Augustinus in der Theorie von der ErbsÝnde bis in sein SpÈtwerk entwickelt hat: Indem sich Adam und Eva von Gottes Willen abkehrten, verfielen sie der SÝnde, die sie den Geschlechtern nach ihnen vererbten. Daraus entspringt die Paradoxie der augustinischen Lehre von der ErbsÝnde: Indem die Menschen ihre Freiheit nutzen und aus eigenem Antrieb handeln, geraten sie in Distanz zu Gott. Ihre %Selbstbestimmung als Menschen fÝhrt also notwendig zur SÝnde. Das %Selbstbewusstsein, durch das die Menschen ihres Willens und ihrer Freiheit gewahr werden, ist im Kern die SÝnde, die somit unausweichlich ist und zugleich die Bedingung fÝr die RÝckkehr der %Seele zu Gott darstellt. Im Faktum des Selbstbewusstseins hatte Augustinus schon in seinen frÝhesten Schriften gegen den Skeptizismus der spÈten %Akademie ein wirksames Argument gefunden. So fÝhrt er an vielen Stellen aus, dass zwar an allem zu zweifeln sei, dass aber der Zweifelnde seine eigene Existenz nicht in Frage stellen kÚnne und folglich von ihr ein sicheres Wissen habe. Der radikale %Zweifel, der schon an %Descartes erinnert, fÝhrt zur %Selbsterkenntnis der Seele als des DenkvermÚgens. Dieser Selbstbezug ist in jedem Akt der %Erkenntnis schon vorausgesetzt. Deshalb ist Selbsterkenntnis die Form aller Erkenntnis. Auch dort wo Èußere GegenstÈnde bestimmt werden sollen, enthÈlt die erkennende Seele immer schon die begrifflichen Mittel hierzu, welche ihr nÈmlich eingeboren sind. Dieses platonische Element hat Augustinus Ýbernommen und fÝr seine Interpretation der christlichen Heilslehre verwendet. Hierzu gehÚrt auch die spekulative Darlegung des Dogmas von der Dreieinigkeit. So wie Gott-Vater sich durch den Sohn und den Heiligen Geist auf sich bezieht, so ist in der menschlichen Seele die Dreiheit von GedÈchtnis, Erkenntnis und Liebe die Bedingung dafÝr, dass sie sich im Anderen
76
Augustinus
selbst findet. Diese Dreiheit ist ein unvollkommenes Abbild der gÚttlichen TrinitÈt. Die %Wahrheit des Satzes, dass, wer zweifelt, existieren muss, erkennt die denkende Seele in ihrer Wendung nach innen. Diese wie jede andere Wahrheit ist Abbild einer ersten, die fÝr Augustinus mit Gott identisch ist. Ihn, d. h. Christus, findet die Seele als den wahren Lehrer in sich selbst vor. Damit wÈre die ErlÚsung ganz neuplatonisch die RÝckkehr der von Gott selbstsÝchtig abgefallenen Seele zu ihrem Ursprung, dessen Spur sie in sich trÈgt. Aber diese RÝckkehr kann sie nur vollenden, wenn die gÚttliche Gnade eintritt, auf welche die Menschen keinen Einfluss haben. Der spÈte Augustinus hat zwar gelehrt, dass erst die Gnade die Willensfreiheit ermÚgliche. So steht die PrÈdestinationslehre, nach der Gott die Menschen erwÈhlt und verdammt, der zugleich festgehaltenen Theorie der Willensfreiheit gegenÝber. Alle diese Motive vereinigen sich in Augustins monumentalem SpÈtwerk Der Gottesstaat (De civitate Dei). Dessen ursprÝnglicher Zweck war es, das Christentum gegen den von heidnischer Seite erhobenen Vorwurf zu verteidigen, den rÚmischen Staat untergraben zu haben, als Rom im Jahre 410 von den Westgoten erobert wurde. Das Buch lÈsst die apologetische Zielsetzung indessen weit hinter sich und reflektiert auf der Basis der biblischen Berichte das VerhÈltnis des Christentums zum irdischen Staat Ýberhaupt. Das verheißene Reich, das nicht von dieser Welt sein sollte, stellt Augustinus als die Verfassung der Menschheit nach der ErlÚsung dar. Wenn diese auch letzthin von der gÚttlichen Gnade bewirkt wird, haben die Menschen dennoch die Aufgabe, nach dem SÝndenfall das Zeitalter ihres irdischen Daseins als Pilgerweg auf sich zu nehmen, um sich im Diesseits zu bewÈhren und der Gnade wÝrdig zu erweisen. Auf dieser langen Reise machen die Menschen kontinuierlich Fortschritte in der Erkenntnis der Bestimmung, die ihnen gesetzt ist. Ihr Weg erstreckt sich in der Zeit, der Dimension des profanen Nacheinander der Ereignisse. Wie Augustinus im 11. Buch seiner Bekenntnisse (Confessiones) ausfÝhrt, kann diese zeitliche Ordnung aber nicht wahrhaftes Sein beanspruchen, denn sie ist aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengesetzt, von denen nur die Gegenwart ein punktuelles Sein hat, wÈhrend die Vergan-
genheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht ist. Die Beziehung dieser drei Zeitmodi und ihr Maß findet sich nur in der menschlichen Seele, die einem trÝgerischen Schein verfallen ist, wenn sie dem Zeitlichen ein selbststÈndiges Sein zumisst. Dennoch ist es den Menschen nach dem SÝndenfall bestimmt, sich im zeitlich verfassten Diesseits auf die ErlÚsung vorzubereiten. Dies geschieht fÝr die Menschheit als Ganze in der Dimension der geschichtlichen Zeit. In Anlehnung an die biblische Geschichte entwickelt Augustinus die erste konsequente Geschichtsphilosophie. %Geschichte wird, neu in der antiken Welt, als einmaliger und unumkehrbarer Prozess begriffen. Dessen Bewegung ist von einem fortwÈhrenden %Antagonismus beherrscht. Das weltliche, von Gott abgefallene Dasein und seine Organisation im profanen Staat liegt in unausweichlichem Konflikt mit dem keimhaft immer schon vorhandenen Staat Gottes. Wiewohl dieser Widerstreit manichÈische ZÝge hat, ist er doch nicht ewig, vielmehr ist er auf seine eigene Aufhebung hingeordnet. Der Kampf der beiden Staaten findet im Frieden des ewigen Sabbats sein Ende. Aber dieser Heilszustand kann nur durch die gÚttliche Gnade nach dem JÝngsten Gericht eintreten. Bis dieses Ziel aller Geschichte erreicht ist, mÝssen die Menschen sich im Diesseits durch ihre %Arbeit erhalten, aber sie sollen nicht danach streben, die irdischen VerhÈltnisse, d. h. die materiellen Bedingungen ihrer Existenz zu verbessern, denn dadurch kÈmen sie von ihrem Heilsziel ab. Diese Lehre hat die Weltverachtung des frÝhen Mittelalters geprÈgt, wie denn Ýberhaupt nicht nur die Kirche der im Diesseits sich herausbildende Gottesstaat sein sollte, sondern auch die weltliche Gewalt als dessen Arm eine sakrale Funktion hatte. Augustinus hat mit vielen seiner Lehren bis in die %Neuzeit (A) gewirkt. Die geschichtlich neuen Motive seines Denkens wie die Beziehung der SubjektivitÈt auf sich, die IdealitÈt der Zeit sowie die Zielbestimmtheit des einmaligen und in sich antagonistischen Geschichtsprozesses sind erst mehr als tausendfÝnfhundert Jahre spÈter wirklich entfaltet worden. Durch die spÈteren Traditionen vielfach modifiziert, sind diese LehrstÝcke Augustins in die kantische %Transzendentalphilosophie sowie in die hegelsche und marxsche Geschichtstheorie eingegangen.
Bacon, Francis
K. Flasch, Augustin Eine EinfÝhrung in sein Denken, 3. Aufl. Stuttgart 1994 E. Gilson, Der Heilige Augustinus Eine EinfÝhrung in seine Lehre, Breslau 1930 J. Kreuzer, Augustinus, Frankfurt/M. 1995 G. M.
Bacon, Francis (1561–1626): Geboren in London; gestorben in Highgate bei London; gilt als einer der VorlÈufer des englischen %Empirismus und hat durch seine Schriften die Entstehung und Verbreitung der modernen Naturwissenschaften gefÚrdert. Er war von Beruf Jurist (kein ausgebildeter Philosoph) und hatte die politische Laufbahn eingeschlagen, da er in der Politik die Basis zur Verwirklichung seiner %Ideen und Ideale gegeben sah. Sein Hauptinteresse galt der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit, sein grÚßtes Ziel sah er in der Reformierung der zeitgenÚssischen %Wissenschaften und der damit verbundenen NeubegrÝndung der Philosophie als strenger Wissenschaft. FÝr die schwere skeptische Krise, in welcher sich Philosophie und Wissenschaften seiner Zeit befanden, machte Bacon die Vorherrschaft der aristotelischen Philosophie verantwortlich. Seine Schriften, die fast alle Fragment geblieben sind, versteht er in ausdrÝcklicher Opposition zu diesem aristotelisch geprÈgten %Paradigma in Philosophie und Wissenschaft. Eine systematische Entwicklung seiner Gedanken findet sich vor allem in seinen Werken Nova Atlantis (1627), wo Bacon in der Form eines utopischen Reiseberichts das ideale Bild einer scientific community entwirft, und in der mehrbÈndig angelegten Instauratio magna (1605–1622), worin er die Kritik an der zeitgenÚssischen Wissenschaft mit dem programmatischen Entwurf einer modernen Wissenschaft, wie sie ihm vorschwebt, verbindet. Bacons Kritik an der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit ist umfassend und richtet sich sowohl gegen Ziel als auch gegen Methode derselben. So kritisiert er die herkÚmmliche Wissenschaft, weil sie %Erkenntnis um ihrer selbst willen sucht, wÈhrend das Ziel wissenschaftlichen Forschens nach Bacon immer nur die menschliche %Praxis sein darf bzw. sich an deren BedÝrfnissen und Problemen orientieren muss. Die in den Wissenschaften allgemein angewandte %Methode der %Deduktion ist seiner Meinung nach nicht nur
77
gÈnzlich ungeeignet zum Auffinden neuer Erkenntnisse, sondern blockiert geradezu jeden Fortschritt in der Wissenschaft. Da sie sich in der Vergangenheit als unbrauchbar erwiesen hat, die ihr gestellten Probleme zu lÚsen, fordert Bacon einen Wechsel der Methode: Die deduktive Methode in den Wissenschaften muss durch das Verfahren der %Induktion abgelÚst werden. Statt wie bisher sich nur im Kreise der durch AutoritÈt gestÝtzten %Theorie zu drehen, soll nun umgekehrt die Forschung bei den konkreten Einzelerfahrungen ansetzen und erst allmÈhlich durch systematische Beobachtung derselben zu allgemeineren Erkenntnissen fortschreiten. Dabei soll nicht von irgendwelchen zufÈlligen %Erfahrungen ausgegangen werden, sondern die Erfahrungen mÝssen methodisch gewonnen werden. So besteht der erste Schritt induktiv angelegter Forschung in der systematischen Planung von %Experimenten, die durch wohl durchdachte Anordnung eine AnnÈherung an das in Frage stehende PhÈnomen erlauben sollen. Dabei muss versucht werden, durch Variation der experimentellen Anordnung all jene Momente herauszufinden und in der Folge auszuschließen, die nicht notwendig zum %Wesen der untersuchten %Erscheinung gehÚren. In einem zweiten Schritt sollen alle Experimente – nach bestimmten Kriterien geordnet – schriftlich fixiert werden, worauf in einem dritten Schritt erst die hypothetische Formulierung allgemeiner %Gesetze erfolgt. Hypothetisch deshalb, weil auch in diesem Stadium der Forschung immer noch nach Daten gesucht werden muss, die mit der ›gefundenen Erkenntnis‹ nicht Ýbereinstimmen. Erst wenn es – modern gesprochen – nicht gelingt, die induktiv gewonnenen Erkenntnisse zu %falsifizieren, gelten diese nach Bacon als gesichert. Bacons wissenschaftstheoretische Àberlegungen beruhen auf der Annahme, dass allen Dingen der %Wirklichkeit eine %Form zugrunde liegt, welche prinzipiell erkenntnismÈßig erfasst werden kann. Allerdings kann diese Form, unter der Bacon allgemeine Gesetze, also Strukturprinzipien versteht, nicht direkt ›erschaut‹, sondern nur indirekt erschlossen werden. Diesem Umstand trÈgt die Methode der Induktion Rechnung, deren Ziel somit nicht einfach in der Verallgemeinerung des Vorgefundenen besteht, sondern durch welche die Erkenntnis der Formen
78
Bacon, Francis
ermÚglicht werden soll. Das beschriebene Verfahren soll verhindern, dass durch unsystematisches oder vorschnelles Verallgemeinern falsche %SchlÝsse auf das Allgemeine gezogen werden. Daneben besteht eine mÚgliche Fehlerquelle aber auch in der Verunreinigung des Geistes durch Vorurteile. Nach Bacon gibt es vier verschiedene Arten von Vorurteilen (%Idole genannt), welche die richtige Erfassung der Formen durch den %Verstand verhindern kÚnnen. Diese Vorurteile sind idola tribus, idola specus, idola fori und idola theatri. Unter die Vorurteile der ersten Kategorie zÈhlt Bacon jene, welche ihre Wurzeln in der menschlichen Natur beziehungsweise in der menschlichen Gattung haben. Hierzu nennt er beispielsweise die teleologische Interpretation der %Natur, die das Resultat einer anthropomorphisierenden Sichtweise sei, aber auch bestimmte menschliche Eigenschaften, wie etwa die gefÝhlsmÈßige Beeinflussbarkeit von %Urteilen, das Festhalten an einmal gewonnenen Àberzeugungen und das Bestreben, alles Neue im Lichte bereits bekannter Tatsachen deuten zu wollen. Die zweite Kategorie umfasst Vorurteile jener Art, wie sie sich der Mensch durch Erziehung, Milieu und andere Èußere UmstÈnde erwirbt und welche sich jeder Wahrnehmung unbemerkt, aber nachhaltig beimischen. Die dritte Kategorie der idola fori bilden Vorurteile, die durch die sozialen Beziehungen der Menschen zustande kommen. Eine der Grundursachen fÝr die verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit sieht Bacon hier in der menschlichen %Kommunikation. Insofern die %Sprache nicht nur im alltÈglichen Umgang ihren praktischen %Zweck erfÝllt, sondern auch in der wissenschaftlichen Kommunikation verwendet wird, fÝhrt sie das menschliche ErkenntnisvermÚgen in die Irre. Sie tut dies durch die Verwendung von WÚrtern, denen entweder gar kein Objekt der Wirklichkeit entspricht (beispielsweise der Ausdruck ›Schicksal‹) oder die durch fehlerhafte Abstraktion gebildet wurden. Neben diesen sprachlichen Fehlerquellen seien als vierte Kategorie noch die idola theatri genannt. Als Idole des Theaters bezeichnet Bacon weltanschaulich fundierte philosophische Systeme, da in ihnen wie im Theater eine ›falsche Welt‹ vorgegaukelt wird. Von solchen vorgefassten Weltbildern muss sich der %Geist erst befreien, um die Formen der wirklichen Welt vorurteilslos aufnehmen zu kÚnnen.
Die Reinigung des Geistes von allen Vorurteilen der Art, wie Bacon sie in der Idolenlehre aufzÈhlt, kÚnnte fÈlschlicherweise dahin ausgelegt werden, dass er die Rolle des Geistes im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als eine rein passive definiert, die sich in der ungetrÝbten Aufnahme des Sinnlichen erschÚpft. Dem ist jedoch nicht so. Bacon vergleicht das ›geistlose Sammeln‹ der Empiriker mit dem Tun der Ameisen, die nur zusammentragen und gebrauchen, kritisiert gleichzeitig aber auch die Vorgehensweise der Rationalisten, welche (in seinen Worten) wie die Spinnen ihr Netz aus sich selbst heraus produzieren. Damit grenzt Bacon seine eigene Theorie von beiden StrÚmungen gleichermaßen ab. Da sowohl der Verstand als auch die Sinne TÈuschungen erliegen und irren kÚnnen, besteht die einzig mÚgliche Methode nach Bacon darin, beide gemeinsam zur Anwendung kommen zu lassen, sodass sie sich in der Anwendung gegenseitig korrigieren. Er wÈhlt, um diese Art des Vorgehens zu illustrieren, das Bild der Biene, die den von ihr eingesammelten BlÝtenstaub verwandelt und durch eigene Kraft verarbeitet. So hÈlt Bacons induktives Verfahren die Mitte zwischen den Extremen der Empiriker und der Dogmatiker. Wozu dient die auf solche Weise zustande gekommene Erkenntnis der Formen beziehungsweise worin besteht der von Bacon geforderte Nutzen dieser Kenntnis fÝr die Gesellschaft? Erkenntnis der Formen der Wirklichkeit ist nach Bacon immer Erkenntnis der kausalen Beziehungen, die dieser Wirklichkeit zugrunde liegen. Zwar kÚnnen diese Beziehungen selbst nicht verÈndert werden, doch das Wissen um die %Ursachen eines PhÈnomens kann dahingehend nutzbar gemacht werden, dass es die MÚglichkeit erÚffnet, diejenigen Ausgangsbedingungen, unter denen bestimmte Kausalgesetze wirksam werden, kÝnstlich herzustellen. So kÚnnen die in der %Natur herrschenden %Gesetze zwar nicht manipuliert, wohl aber zweckvoll eingesetzt werden: Man beherrscht die Natur, indem man ihr gehorcht. In diesem Sinne ist, wie Bacon selbst es formuliert, Wissen Macht. Bereits Bacon sieht klar, dass dieser von ihm gezeichnete Weg einer systematisch vorgehenden Wissenschaft nicht von einzelnen Forschern allein beschritten werden kann. Eine in solchem Maßstab betriebene Forschung bedarf der gemeinsamen
Bergson, Henri Louis
Anstrengung einer großen Anzahl von Wissenschaftlern und der kompetenten Koordination ihrer Arbeit. In dem Utopie-Fragment Nova Atlantis zeichnet Bacon das Bild einer solchen scientific community. Das von ihm geschilderte ›Haus Salomon‹ entspricht unserer heutigen Vorstellung eines modernen Forschungszentrums, wo Wissenschaftler der verschiedensten Richtungen in kleinen Teams Grundlagenforschung betreiben. Arbeitsteilung, zentrale Organisation und UnabhÈngigkeit von Seiten staatlicher Einmischung prÈgen das Bild dieser Institution. Ein fÝr Bacon wesentlicher Aspekt besteht in der engen Beziehung dieser Forschergemeinschaft zur Gesellschaft, zu deren Nutzen sie forscht. So ist ein wesentlicher Teil der Aufgaben des Hauses Salomon der Ausarbeitung und Aufbereitung der Forschungsergebnisse fÝr die ³ffentlichkeit gewidmet – wenn auch die Auswahl des zu publizierenden Materials dabei den Forschern selbst Ýberlassen bleibt. Wenn Bacon aus heutiger Perspektive demjenigen Denken, das er seinem SelbstverstÈndnis entsprechend heftig bekÈmpft, in gewisser Hinsicht doch noch verbunden ist, so wurde er trotzdem zum Wegbereiter der neueren Philosophie und der Naturwissenschaften. Seine in Nova Atlantis entwickelten Ideen wurden durch die vierzig Jahre nach seinem Tod erfolgte GrÝndung der Royal Society gewissermaßen in die Tat umgesetzt. Durch die hohe WertschÈtzung, die er der Erfahrung im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zuteil werden lÈsst, ebnete er den Weg zur Entstehung des Empirismus. SpÈtere Kritiker (unter ihnen %Popper) stellen ihn jedoch zu Unrecht in das Feld der von Bacon selbst als ›Ameisen‹ verspotteten Empiriker. Wenn Bacon auch fest von der MÚglichkeit der Verifikation Ýberzeugt ist, so mutet doch das von ihm entwickelte und propagierte Prinzip der Wissenserweiterung durch Irrtumsbeseitigung sehr modern an und auch seine Idolenlehre als altertÝmliche Fassung einer Theorie wissenschaftlicher Paradigma ist nicht ohne AktualitÈt.
W. Frost, Bacon und die Naturphilosophie, MÝnchen 1927 E. Siegl, Das Novum Organon von Francis Bacon, Inns bruck 1983 W. Krohn, Francis Bacon, MÝnchen 1987 G.T. G.
79
Bergson, Henri Louis (1859–1941): Mit seinem Versuch, gegen die Vorherrschaft des physikalischen Zeitbegriffs zu einem ursprÝnglicheren Zeitbegriff zu gelangen, der eine Beschreibung von spontanen Entwicklungen ermÚglichen soll, hat Bergson neben %Heidegger, diesen mit beeinflussend, dafÝr gesorgt, dass die %Zeit zu einem der Hauptthemen der Philosophie des 20. Jhs. geworden ist. Zuletzt bekannte Prigogine in seinem Lebenslauf, schon in seiner Gymnasialzeit mit Begeisterung und nicht ohne Folgen fÝr seine Interessenrichtung Bergson gelesen zu haben. Immerhin erhielt er 1977 den Nobelpreis fÝr seine Theorie nichtlinearer Prozesse, d. h. solcher Prozesse, bei denen Systeme plÚtzlich ganz neue Ordnungsgebilde, dissipative Strukturen, entwickeln kÚnnen. Bei der naturphilosophischen Aufarbeitung seiner Erkenntnisse hat er dann stets Bergsons Grundthese »Die Zeit ist Zeugung oder sie ist schlechthin nichts« in den Mittelpunkt gestellt. Bergson wurde am 18. Oktober 1859 in Paris geboren. Seine Ausbildung absolvierte er auf franzÚsischen Eliteschulen. Zweimal erhielt er Ehrenauszeichnungen, fÝr Mathematik und fÝr Rhetorik (Literatur). ZunÈchst war er vÚllig von der positivistischen Philosophie Spencers und deren Suche nach prÈzisen %Begriffen eingenommen. Ganz im Sinne dieses Ansatzes galt seine erste Arbeit der methodischen Reinigung der psychologischen Grundbegriffe von allem, was in ihnen nicht wirklich gegeben ist. Der Titel Abhandlung Ýber die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen (1889, deutsch 1911) will dies zum Ausdruck bringen. hnlich verfuhr er in seiner zweiten Schrift Materie und GedÈchtnis (1896, deutsch 1908), in der er sich mit dem Problem des psychophysischen Zusammenhangs auseinander setzte. In seinem Hauptwerk SchÚpferische Entwicklung (1908, deutsch 1912) hat er diese Ergebnisse in eine kosmologische Gesamtkonzeption eingebracht und vertieft. Von Anfang an metaphysischen Fragen nicht aus dem Weg gehend hat er schließlich eine neue %Metaphysik entwickelt, die einerseits BezÝge zur neuplatonischen %Mystik nicht leugnete und andererseits sich keineswegs gegen die moderne %Wissenschaft richtete. Am deutlichsten kommt dieser Ansatz in der spÈten Aufsatzsammlung Denken und schÚpferisches Werden (1934, deutsch 1948) zum Ausdruck.
80
Bergson, Henri Louis
Sicherlich ein HÚhepunkt in Bergsons Leben war 1922 die Begegnung mit Albert Einstein. Aufgrund seiner Annahme eines kreativen Kosmos hat er noch im selben Jahr in der Abhandlung Dauer und Gleichzeitigkeit eine Kontroverse Ýber die naturphilosophische Bedeutung der einsteinschen RelativitÈtstheorie in Gang gebracht, die viel Aufsehen erregte. 1928 erhielt Bergson wegen des literarischen Ranges seiner wissenschaftlichen Prosa – als zweiter Philosoph nach Eucken – den Nobelpreis fÝr Literatur. Damit gewann er in Frankreich nationalen Rang. Offensichtlich deswegen blieb er 1940 trotz seiner bekannten jÝdischen Herkunft von den antisemitischen Maßnahmen der deutschen Besatzer verschont. Als er am 4. Januar des folgenden Jahres starb, wurde die Totenmesse – er hatte um ein christliches BegrÈbnis gebeten – in Notre Dame gelesen. Der deutsche Titel von Bergsons erster Schrift lautet Zeit und Freiheit (1911). TatsÈchlich gibt dieser Titel wesentlich besser das eigentliche Thema an. Bergson glaubte nÈmlich, dass sich das metaphysische Problem der %Freiheit bzw. der Streit zwischen den Deterministen und ihren Gegnern auflÚsen ließe, wenn man der Tatsache gerecht werden kÚnnte, dass jede freie %Handlung sich in der ablaufenden Zeit vollzieht und nicht in der abgelaufenen. Der Anschein eines Determinismus tritt nach Bergson eben nur auf, wenn wir von fertigen Handlungen ausgehen und ihren Verlauf in der bereits abgelaufenen Zeit zu rekonstruieren versuchen. Dann ist in der Tat der Vollzugs- und Kreativcharakter der Handlung verschwunden, und die Zeit, in der sich die Handlung vollzogen hat, nimmt raumartige ZÝge an, als ob die einzelnen Zeitmomente gewissermaßen nebeneinander aufgereiht bestÝnden. Wird aber die ursprÝngliche Sukzession mit der Gleichzeitigkeit vermengt, kann das PhÈnomen spontaner Entwicklung nicht mehr verstanden werden. Um den Grund dieser Vermengung aufzudecken, gilt es nach Bergson, das Psychische und Physische deutlich zu unterscheiden. Dabei geht er von dem GrundphÈnomen aus, dass psychische ZustÈnde im direkten Erleben sich nie Èußerlich zueinander verhalten, sondern sich gegenseitig durchdringen und dabei in einem ununterbrochenen Wandlungsprozess miteinander verschmelzen. Das ist uns beim HÚren einer Melodie selbstver-
stÈndlich. WÈhrend ich die einzelnen TÚne im GedÈchtnis behalte, bringe ich sie zu den anderen in eine innere Verbindung. LÝckenlos dehnt sich hier das Vergangene in das Jetzige hinein, nagt am ZukÝnftigen und schwillt im VorrÝcken an. Wegen dieser LÝckenlosigkeit nennt Bergson die ursprÝnglich erlebte Zeit Dauer (dur¹e). Zu einer anderen Zeiterfahrung kommt es aber, wenn wir bei sukzessiven Empfindungen aus dem direkten Erleben heraustreten. Das ist z. B. der Fall, wenn wir nicht mehr nur dem ErtÚnen der GlockenschlÈge folgen, sondern uns vornehmen, die GlockentÚne zu zÈhlen. Dann mÝssen wir sie aus ihrer Verbindung lÚsen und damit ihrer spezifischen QualitÈt entkleiden, die ja ihrer spezifischen Verschmelzung entspringt. Isolieren wir sie aber gegeneinander, sodass sie wie materielle Teilchen zu wohl unterschiedenen, summierbaren Elementen werden, dann entstehen zwischen ihnen leere Intervalle, die beharren, wÈhrend die TÚne vorÝbergehen. Da aber Zeitmomente nicht wirklich beharren kÚnnen, zeigt sich, dass der %Wille, psychische ZustÈnde abzÈhlbar zu machen, nur realisiert werden kann, wenn die ursprÝngliche Zeit, die reine Dauer, in den Raum projiziert wird. Die ursprÝngliche Zeit wird geometrisiert und erscheint als ein homogenes Medium, in dem wie in einem Raum alle psychischen ZustÈnde und VorgÈnge als nebeneinander geordnet auftreten. Das ursprÝngliche VermÚgen der Zeit, alles in einer stÈndigen Durchdringung zu wandeln und immer wieder Neues entstehen zu lassen, wird durch diesen ›Bastardbegriff‹ der Zeit allerdings bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die technische NovitÈt des Films, in dem durch die schnelle Aneinanderreihung starrer Momentbilder Bewegung kÝnstlich rekonstruiert wird, war Bergson sozusagen der lebende Beweis fÝr die stÈndige Vermengung von ursprÝnglicher, wandelnder Sukzession und Gleichzeitigkeit, von QualitÈt und QuantitÈt, von Dauer und Ausdehnung. In der kinematographischen Methode hat er schließlich auch das Geheimnis der Physik erkannt. Das bedeutet aber, dass diese gar nicht an der VerwandlungsfÈhigkeit der eigentlichen Zeit interessiert ist. Wenn der Physiker den kÝnftigen Zustand eines physikalischen Systems nach Ablauf der Zeit berechnet, so hindert ihn nichts an der Annahme, dass bis dahin dieses System entschwindet, um plÚtz-
Berkeley, George
lich wieder aufzutauchen. Einzig der Zeitpunkt t zÈhlt fÝr ihn, was aber wÈhrend des Intervalls geschieht, nÈmlich die wandelnde, eigentlich verÈndernde Zeit, geht in seine Rechnung nicht ein. Das setzt der physikalischen Beschreibung des Universums allerdings eine wesentliche Grenze. Sie kann das Universum nicht in seiner schÚpferischen Potenz beschreiben. Diese wiederzuentdecken, bleibt Aufgabe der Philosophie. Das Universum ist nicht ein fertig Entstandenes, sondern war und wird auch zu allen Zeitpunkten ein Entstehendes sein. »Das Universum dauert. Je tiefer ins Wesen der Zeit wir eindringen, desto tiefer begreifen wir, dass Dauer Erfindung, SchÚpfung von Formen bedeutet, ununterbrochenes Hervortreiben von absolut Neuem.« G. Deleuze, Henri Bergson zur EinfÝhrung, Hamburg 1997 C. St.
Berkeley, George (1685–1753): Geboren am 12.3. in Dysert Castle nahe der Ortschaft Kilkenny in SÝdirland, gestorben am 14.1. in Oxford. Berkeley gehÚrte der anglikanischen Kirche an, war Priester und wurde 1734 zum Bischof von Cloyne ernannt. Sein Werk ist in vielerlei Hinsicht von theologischen Àberlegungen bestimmt und als Reaktion auf weltanschauliche und naturwissenschaftliche Entwicklungen in der frÝhen %Neuzeit (A) zu interpretieren. Dennoch sind seine philosophischen Schriften weit mehr als religiÚs motivierte Streitschriften. Auf besonders kenntnisreiche und scharfsinnige Weise kritisiert Berkeley die Grundlagen der Mathematik und der Naturwissenschaft seiner Zeit, erÚrtert viele heute noch aktuelle Probleme der %Erkenntnistheorie und entwickelt ein bemerkenswertes philosophisches System, das ohne die Annahme einer vom %Geist unabhÈngig existierenden Materie auskommt. In seinem philosophischen Hauptwerk, dem 1710 erschienenen Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, prÈsentiert Berkeley die zentrale These seiner Philosophie: Jedes %Sein besteht darin, wahrgenommen zu werden, wahrzunehmen oder etwas zu wollen. Nur ein geistiges Wesen kann etwas wahrnehmen oder wollen. Nur %Ideen kÚnnen vom Geist wahrgenommen werden. Alles, was existiert,
81
muss daher entweder ein Geist oder eine Idee sein. Berkeley zufolge sind sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften oder QualitÈten wie z. B. die Farbe oder der Geruch eines Apfels Ideen. Wahrnehmbare GegenstÈnde sind Ideen bzw. BÝndel von Eigenschaften (Ideen), die wir, weil sie so hÈufig gemeinsam auftreten, zusammenfassen und mit einem Namen wie z. B. ›Apfel‹ versehen. Eine materielle Substanz, der die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften inhÈrierten, wie es dem in der abendlÈndischen Philosophie grundlegenden Modell von %Substanz und Modus entsprÈche, gibt es nicht (Immaterialismus). Da eine Idee nur in einem Geist existieren kann, hÈngt die Existenz wahrnehmbarer Dinge davon ab, dass sie wahrgenommen (perzipiert) werden (%Idealismus). (Berkeley bezeichnet einerseits das sinnliche Wahrnehmen als Perzipieren, andererseits aber auch das Haben von Ideen im Allgemeinen.) Der Geist ist nach Berkeley gÈnzlich verschieden von den Ideen, die er perzipiert. WÈhrend die Ideen vollkommen passiv sind, ist der Geist aktiv. Er hat Ideen und wird auf verschiedene Weise an ihnen tÈtig. Wir kÚnnen den Geist weder perzipieren, denn er ist keine Idee (und perzipierbar sind nur Ideen), noch kÚnnen wir eine Idee vom Geist haben, denn Ideen kÚnnen nach Berkeley nur Ideen Èhneln – und jede Idee von etwas Èhnelt dem, wovon sie eine Idee ist. Zur Kenntnis des Geistes gelangen wir auf andere Weise: Wir sind uns unser selbst unmittelbar bewusst und erwerben in der Reflexion intuitives Wissen um die Existenz und Beschaffenheit unseres Geistes. Auf diese Weise kÚnnen wir uns einen Begriff (notion) vom Geist machen, ohne Ýber eine Idee des Geistes zu verfÝgen. Von der Existenz anderer Geister wissen wir nur vermittels der Ideen, die sie in uns hervorrufen. Im Falle endlicher Wesen erlaubt uns deren hnlichkeit mit uns selbst einen %Analogieschluss darauf, dass sie mit Geist begabt sind. Die Existenz %Gottes offenbart sich uns hingegen in der systematischen Ordnung der Ideen sinnlich wahrnehmbarer Dinge, die Gott uns eingibt. Der Geist ist nach Berkeley eine unteilbare Substanz, ein aktives Prinzip, dessen Existenz im Denken, Wollen und Wahrnehmen besteht. WÈhrend Berkeley also die materielle Substanz preisgibt, hÈlt er an der Existenz einer geistigen Substanz fest. Dies hat ihm vielfach den Vor-
82
Berkeley, George
wurf eingetragen, seine Position sei in sich widersprÝchlich, da seine berechtigte Kritik am Begriff der Substanz auch die geistige Substanz betreffe. Im Unterschied zum Begriff einer geistigen Substanz ist der Begriff einer materiellen Substanz laut Berkeley jedoch entweder leer oder selbstwidersprÝchlich. Die materielle Substanz soll der TrÈger sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften sein; sie soll etwas Nicht-Geistiges sein, das gÈnzlich passiv ist und weder denken noch fÝhlen oder wollen kann; etwas, das im Gegensatz zu den Eigenschaften, die ihr inhÈrieren, selbst nicht wahrnehmbar ist. Sie soll dasjenige sein, was als Substrat Ýbrig bliebe, zÚgen wir von einem wahrnehmbaren Ding alle seine wahrnehmbaren Eigenschaften ab. Laut Berkeley bliebe nach diesem Abziehen jedoch nichts Ýbrig, auf das wir uns mit dem Ausdruck ›materielle Substanz‹ beziehen kÚnnten. DarÝber hinaus sei die angenommene Beziehung, in der die materielle Substanz zu ihren Modi stÝnde, gÈnzlich unklar. Was kÚnne es denn heißen, fragt Berkeley, dass die Substanz der TrÈger wahrnehmbarer Eigenschaften sei oder dass die Eigenschaften der Substanz inhÈrierten? In sich widersprÝchlich ist der Begriff der materiellen Substanz nach Berkeley insofern, als eine wahrnehmbare Eigenschaft (Idee) nur in einem Geist existieren kann, der sie perzipiert, nicht aber in etwas vollkommen Passivem. Weil wir etwas WidersprÝchliches nicht denken kÚnnen, kÚnnen wir von einer materiellen Substanz ebenso wenig eine Idee gewinnen wie von einer geistigen. Der Begriff einer geistigen Substanz birgt Berkeley zufolge keinen Widerspruch in sich und wÈhrend nichts in unserer Erfahrung auf die Existenz einer materiellen Substanz hinweist, haben wir von der Existenz und Beschaffenheit unseres Geistes unmittelbar und intuitiv Kenntnis. WÈhrend die Beziehung der TrÈgerschaft zwischen materieller Substanz und wahrnehmbarer Eigenschaft unbegreiflich ist, steht jeder Mensch zu seinen Ideen in der Beziehung einer geistigen Substanz zu ihren Ideen. Der Geist perzipiert Ideen. Diese Beziehung glaubt Berkeley voraussetzen und seiner Philosophie zugrunde legen zu kÚnnen. Berkeley will seinen Immaterialismus und Idealismus mit einem %Realismus verbinden, dem zufolge es eine vom Menschen unabhÈngige Welt wahrnehmbarer Dinge gibt. Auf den ers-
ten Blick scheint dies schwer mÚglich zu sein. Wenn es keine materiellen GegenstÈnde gibt und wahrnehmbare Dinge nichts anderes sind als Ideen, dann scheint sich die Wirklichkeit auf eine Art Traum oder Einbildung zu reduzieren. Wer die Existenz des Wahrnehmbaren mit dessen Wahrgenommenwerden gleichsetzt, der scheint das Bestehen einer vom Menschen unabhÈngigen physikalischen Welt zu leugnen und den Unterschied zwischen Schein und Sein aufzuheben. Und doch versichert Berkeley, dass er an die Wirklichkeit der Dinge nicht rÝhre und dass seine Philosophie dem gesunden Menschenverstand weniger zumute als die Auffassung derer, die eine materielle Substanz postulieren. Obwohl wahrnehmbare Dinge Ideen(bÝndel) sind, deren Existenz in ihrem Perzipiertwerden besteht, hÚren sie Berkeley zufolge nicht auf zu existieren, wenn niemand auf Erden sie mehr wahrnimmt. Denn sie werden von Gott wahrgenommen oder existieren in seinem Geist. Dem Einwand, dass die Gleichsetzung wahrnehmbarer Dinge mit Ideen es unmÚglich macht, zwischen wirklichen und bloß vorgestellten, halluzinierten oder getrÈumten Dingen zu unterscheiden, begegnet Berkeley, indem er Folgendes feststellt: Erstens gehorcht die Wirklichkeit den Naturgesetzen. Wirkliche Dinge weisen im Gegensatz zu imaginierten in sich und in ihrer Abfolge eine große BestÈndigkeit, Ordnung und einen inneren Zusammenhang auf. Zweitens hÈngen die wirklichen Dinge nicht in der gleichen Weise von unserem Willen ab wie die nur vorgestellten. Insbesondere die Ideen sinnlich wahrnehmbarer Dinge stellen sich unwillkÝrlich ein. Drittens schließlich affizieren die wirklichen Dinge den Geist stÈrker, wÈhrend bloß Vorgestelltes schwÈcher, matter, unbestimmter und weniger lebhaft erscheint. Mit diesen Thesen unterscheidet Berkeley zwischen zwei Arten von Ideen: Sinnesideen und Vorstellungsideen. Tische und pfel, TÚne und GerÝche, alle die Dinge, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, sind Sinnesideen. Einbildungen, Erinnerungen usw. sind Vorstellungsideen. WÈhrend wir Vorstellungsideen selbst hervorbringen, werden unsere Sinnesideen ausnahmslos von Gott verursacht. Sie rÝhren nicht, wie %Descartes oder %Locke dies angenommen hatten, von Èußeren GegenstÈnden her. Gott ist es, der die ObjektivitÈt der sinnlich wahrnehmbaren Welt
Berkeley, George
garantiert. Er gewÈhrleistet nicht nur die kontinuierliche Existenz sinnlich wahrnehmbarer GegenstÈnde, sondern auch deren intersubjektive Beobachtbarkeit, indem er allen Menschen zur passenden Gelegenheit und in systematischer Reihenfolge die richtigen Ideen eingibt. Wir nehmen diese Ideen, d. h. die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, unmittelbar wahr: Es gibt nichts, das zwischen ihnen und uns vermittelte – keine weitere Idee oder ReprÈsentation, kein geistiges Bildchen, das in unserem Geist fÝr die Dinge stÝnde oder sie reprÈsentierte. Sinnesideen sind nicht Ideen von wahrnehmbaren Dingen, sie sind die Dinge selbst. Auch fÝr Descartes war die Idee eines Gegenstands der Gegenstand selbst in eben der Seinsweise, in der GegenstÈnde im Geist sind. FÝr Berkeley ist das die einzige Seinsweise wahrnehmbarer Dinge. Berkeley leugnet die Existenz einer vom Geist unabhÈngigen Materie mit dem Ziel, den %Atheismus und den %Skeptizismus zurÝckzudrÈngen. Mit den zunehmenden Erfolgen der Naturwissenschaften hatte sich ein mechanistisches Weltbild durchgesetzt, das nach Berkeleys DafÝrhalten sowohl dem Unglauben als auch dem grundsÈtzlichen Zweifel an der ErkenntnisfÈhigkeit des Menschen Vorschub leistete. Die Welt wurde mit einem gigantischen Uhrwerk verglichen und die Funktion Gottes drohte auf die des SchÚpfers einer Maschine reduziert zu werden, die, einmal in Gang gesetzt, auch ohne sein Zutun funktioniert. Immer weniger der in der Natur beobachteten VorgÈnge wurden durch das Wirken Gottes erklÈrt und stattdessen auf die Struktur, Beschaffenheit und Bewegung von Materieteilchen zurÝckgefÝhrt. Locke, an dessen Theorie sich Berkeleys Kritik im Besonderen entzÝndet, hatte versucht, den in den Wissenschaften zugrunde gelegten Annahmen Ýber Materie und Bewegung gerecht zu werden, indem er die Existenz einer vom Geist unabhÈngigen, materiellen Außenwelt annahm. Aber aus seiner Auffassung, nach der wir die GegenstÈnde der Èußeren Welt niemals direkt, sondern nur vermittels der Ideen wahrnehmen, die sie in uns hervorrufen, hatten sich uneinheitliche und skeptische Konsequenzen ergeben. Wahrnehmbare GegenstÈnde bleiben im Rahmen dieser Auffassung fÝr uns grundsÈtzlich hinter einem ›Schleier der Ideen‹ verborgen. Indem Berkeley wahrnehmbare Dinge mit BÝndeln von Eigen-
83
schaften (Ideen) identifiziert, hebt er diesen Schleier. Die Frage, ob die wahrgenommenen Dinge wirklich existieren, erÝbrigt sich ebenso wie die Frage danach, welche Eigenschaften sie wirklich besitzen – die Dinge sind ihre Eigenschaften. Dem Skeptiker, der behauptet, dass wir nicht wissen kÚnnen, wie die wahrgenommenen Dinge tatsÈchlich beschaffen sind, weil wir es stets nur mit ihren Erscheinungen bzw. den von ihnen in uns hervorgerufenen Ideen zu tun haben, und dass wir genau genommen nicht einmal wissen, ob die Dinge, die wir wahrzunehmen meinen, tatsÈchlich existieren, ist damit die Grundlage seiner Argumentation entzogen. DafÝr scheint sich ein anderes Problem zu verschÈrfen, das sich dadurch ergibt, dass Berkeley seine immaterialistische und idealistische Philosophie mit dem Realismus des %common sense vereinbaren mÚchte. Es genÝgt nicht, RealitÈt und Fiktion voneinander zu unterscheiden um die Wirklichkeit zu bewahren; auch Schein und Sein mÝssen im Rahmen einer realistischen Konzeption der Welt voneinander unterscheidbar bleiben. Wahrnehmbare Dinge scheinen oft Eigenschaften zu besitzen, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Wenn die Dinge nichts anderes sind als die jeweils perzipierten Ideen bzw. Eigenschaften, wie kÚnnen wir uns dann jemals Ýber die Natur wahrgenommener Dinge tÈuschen? Berkeley vertritt die bemerkenswerte und konsequente Auffassung, dass dies nicht mÚglich ist. Was rot aussieht, ist rot. Allerdings verleiten uns unsere Sinnesideen gelegentlich zu falschen Schlussfolgerungen. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn wir annehmen, dass ein zur HÈlfte ins Wasser getauchter und gekrÝmmt aussehender Stock sich auch gekrÝmmt anfÝhlen wird. Wahrnehmungsfehler sind nach Berkeley falsche Urteile darÝber, welche Sinnesideen wir unter welchen UmstÈnden haben werden. Vor solchen Fehlurteilen kÚnnen wir uns durch besondere Vorsicht und durch die genaue Beobachtung und Erforschung der Natur schÝtzen. Mit seiner Lehre von einem unangreifbaren Wahrnehmungswissen postuliert Berkeley ein sicheres Fundament menschlicher Erkenntnis, gleichzeitig zwingt ihn diese Lehre aber, sich weit von unserem alltÈglichen VerstÈndnis der Dinge zu entfernen. Berkeley zufolge kÚnnen in einem philosophisch strikten Sinn niemals zwei
84
Berkeley, George
Menschen gleichzeitig denselben Gegenstand wahrnehmen und niemand kann denselben Gegenstand mit verschiedenen Sinnen oder zu verschiedenen Zeitpunkten wahrnehmen. Zwar gibt Berkeley zu, dass die – in seinen Augen philosophisch ungenaue – Art und Weise, in der wir von wahrnehmbaren GegenstÈnden reden, fÝr unsere alltÈglichen Belange zweckmÈßig ist. Ob es ihm aber gelingt, seine Philosophie mit dem common sense zu vereinbaren, entscheidet sich nicht an diesem ZugestÈndnis, sondern daran, ob unsere Redeweise im Rahmen seiner Theorie auch gerechtfertigt und philosophisch untermauert werden kann. Wie Locke und %Hume ist Berkeley dem %Empirismus verpflichtet, dem zufolge sich alle Geistesinhalte auf die Erfahrung zurÝckfÝhren lassen. Aber wÈhrend Berkeley glaubt, dass uns die Erfahrung lehrt, wie wahrnehmbare Dinge tatsÈchlich beschaffen sind – nÈmlich genau so, wie sie uns erscheinen –, geht Locke davon aus, dass unsere Ideen den sie verursachenden Dingen nur hinsichtlich ihrer primÈren, nicht jedoch hinsichtlich ihrer sekundÈren QualitÈten Èhneln. Zu den primÈren Eigenschaften rechnet er u. a. Gestalt, Bewegung und GrÚße der Dinge, zu den sekundÈren u. a. Farbe, Geruch und Temperatur. Berkeley wendet ein, dass es unverstÈndlich sei, wie eine Idee Ýberhaupt etwas anderem als einer Idee Èhneln kÚnne, und weist auf die Unhaltbarkeit der Unterscheidung zwischen primÈren und sekundÈren Eigenschaften hin. Weil primÈre Eigenschaften nur zusammen mit sekundÈren Eigenschaften vorkommen (etwas sichtbar Ausgedehntes muss immer auch eine Farbe haben), sei es unsinnig zu behaupten, die einen existierten in den GegenstÈnden und damit außerhalb und unabhÈngig vom Geist, die anderen aber nur im Geist des Wahrnehmenden. Berkeley zeigt, dass die Argumente, die Locke und andere zugunsten der These angefÝhrt hatten, den Dingen selbst kÈmen keine sekundÈren Eigenschaften zu, sich auch gegen eine vom Geist unabhÈngige Existenz der primÈren Eigenschaften anfÝhren ließen – wenn sie funktionierten. Denn die AbhÈngigkeit der Wahrnehmung von den Wahrnehmungsbedingungen, aus der sich der besondere Status der sekundÈren Eigenschaften ergeben soll, ist im Hinblick auf alle wahrnehmbaren Eigenschaften gegeben. Ein Gegenstand fÝhlt sich beispielsweise nicht nur
umso wÈrmer an, je kÈlter die Hand ist, mit der wir ihn betasten; er sieht auch umso kleiner aus, je weiter wir von ihm entfernt sind. Aber genauso wenig, wie man dieser Beobachtung entnehmen kann, dass der Gegenstand gar nicht warm oder kalt ist und die Temperatur nur vom Wahrnehmenden empfunden wird, kann sie als Beleg dafÝr gelten, dass der Gegenstand selbst keine bestimmte GrÚße hat. Von der empiristischen Grundannahme ausgehend, dass alle unsere Ideen letztlich der Erfahrung entstammen, war Locke zu der Auffassung gelangt, dass allgemeine AusdrÝcke wie ›Dreieck‹ oder ›rot‹ fÝr abstrakte Ideen stehen, die jeweils das erfassen, was allen Dreiecken und allen Rotschattierungen, die uns in der Erfahrung gegeben sind, gemeinsam ist. Locke hatte angenommen, dass jedes Wort fÝr eine Idee stehen mÝsse um sinnvoll verwendet werden zu kÚnnen. Berkeley bestreitet sowohl diese kognitivistische These als auch die Existenz abstrakter Ideen. Wir kÚnnen seiner Ansicht nach nicht von allem abstrahieren, was verschiedene Dreiecke oder verschiedene Vorkommnisse von Rot voneinander unterscheidet. Die abstrakte Idee eines allgemeinen Dreiecks, das weder spitznoch stumpfwinklig, weder gleich- noch ungleichschenklig ist oder diese Eigenschaften gleichzeitig besitzt, ist nach Berkeley ein Ding der UnmÚglichkeit. Sprachliche AusdrÝcke verdanken ihre Allgemeinheit nicht abstrakten Ideen, fÝr die sie stehen, sondern der Art und Weise, in der wir sie verwenden. Wir verwenden sie, um uns gleichermaßen auf jedes beliebige Element einer bestimmten Klasse von Einzeldingen zu beziehen, z. B. auf jedes beliebige Dreieck oder auf jedes beliebige Vorkommnis von Rot. FÝr Berkeley ist auch die Idee eines wahrnehmbaren Gegenstands, der unabhÈngig von seinem Wahrgenommenwerden existiert und von allen seinen Eigenschaften verschieden ist, eine abstrakte Idee, die zu bilden wir nicht in der Lage sind. Wir kÚnnen einen wahrnehmbaren Gegenstand gedanklich nicht von allen seinen wahrnehmbaren Eigenschaften trennen. Berkeley leugnet nicht nur die Existenz materieller GegenstÈnde, sondern auch das Bestehen kausaler Beziehungen in der wahrnehmbaren Welt. Wahrnehmbare Dinge sind nach seiner Ansicht vollkommen passiv und unfÈhig etwas zu verursachen. Unser Begriff der Verursachung
Carnap, Rudolf
grÝndet sich auf die Erfahrung des willentlichen Hervorbringens von Ideen und kann von dieser Erfahrung nicht abstrahiert werden. In den Abfolgen unserer Sinnesideen lÈsst sich nichts im eigentlichen Sinn TÈtiges oder Hervorbringendes entdecken. Wir kÚnnen zwar beobachten, dass Ereignisse eines bestimmten Typs regelmÈßig auf Ereignisse eines anderen Typs folgen, aber nichts in unserer Erfahrung weist darauf hin, dass ein Ereignis notwendig auf ein anderes folgt. %Ursachen aber ziehen ihre Wirkungen notwendig und nicht nur regelmÈßig nach sich. Mit diesen Feststellungen nimmt Berkeley einen Teil der Kritik vorweg, die nach ihm Hume am KausalitÈtsbegriff Ýben sollte. Anders als Hume gelangt er zu dem Ergebnis, dass nur geistige Substanzen etwas verursachen kÚnnen. Die VerÈnderungen und VorgÈnge, die wir in der wahrnehmbaren Welt beobachten, sind nach Berkeley keine kausalen Prozesse, sondern Abfolgen von Ideen, die Gott in uns hervorruft. Zwischen diesen Ideen bestehen keinerlei notwendige VerknÝpfungen, denn Gott kÚnnte unsere Ideen auch in anderer Weise aufeinander folgen lassen. Darin, dass Gott unsere Sinnesideen in einer fÝr uns erkennbar geordneten Weise miteinander kombiniert und aufeinander folgen lÈsst, offenbart sich seine Existenz und GÝte: TÈte Gott dies nicht, stÝnden wir dem Naturgeschehen hilflos gegenÝber und wÝssten nicht, wie wir uns verhalten mÝssen, um unsere BedÝrfnisse zu befriedigen und unsere Ziele und Zwecke zu erreichen. Berkeley begreift das Naturgeschehen als ußerung Gottes. Die wahrnehmbare %Welt ist ein System sprachlicher Zeichen, dessen Elemente von Gott nach bestimmten Regeln in eben der Weise miteinander kombiniert und verbunden werden, in der die WÚrter einer %Sprache verwendet werden, um die verschiedensten Dinge mitzuteilen. Gott tut kund, welche Sinnesideen wir unter welchen UmstÈnden zu erwarten haben. Das Feuer, an dem wir uns verbrennen, ist nicht die Ursache des empfundenen Schmerzes, sondern ein Zeichen, das uns vor ihm warnt. Naturgesetze sind RegelmÈßigkeiten in den Abfolgen unserer Sinnesideen, und die Aufgabe der Naturwissenschaften besteht darin, die geordnete Art und Weise zu erforschen, in der Gott in uns Ideen hervorruft. Wissenschaftlicher Fortschritt besteht in der Erweiterung unserer
85
Kenntnis der Zeichen und grammatischen Regeln der Sprache Gottes. Je mehr ußerungen wir verstehen, die in der ›universalen Sprache der Natur‹ formuliert sind, desto besser kÚnnen wir Krankheiten heilen, BrÝcken bauen oder schnell und sicher reisen. Mit diesem semiotischen Modell des Naturgeschehens will Berkeley eine Alternative zum cartesischen Bild der Welt als gigantisches Uhrwerk geben. Er setzt dem mechanistischen Weltbild ein deozentrisches entgegen, in dem sich Gottes Wirken, seine GÝte und Kraft in jedem StÝck Natur offenbaren, das der Mensch erlebt und wissenschaftlich erforscht. Vor dem Hintergrund dieses Bildes hofft Berkeley, eine NeubegrÝndung der Wissenschaften nach streng empiristischen Prinzipien erreichen und das richtige VerstÈndnis menschlicher Erkenntnis wiederherzustellen zu kÚnnen, das mit dem Aufkommen der neuen Wissenschaften und deren hastiger Rationalisierung verloren gegangen war. D. Berman, George Berkeley. Idealism and the Man, Oxford 1994 W. Breidert, George Berkeley 1685 1753, Basel 1989 A. Kulenkampff, George Berkeley, in: N. Hoerster (Hg.), Klassiker des philosophischen Denkens, Bd.1, MÝn chen 1982, S. 321 350 G. S. Pappas, Berkeley’s Thought, Ithaca 2000 K. P. Winkler, Berkeley. An Interpretation, Oxford 1989 K. S.
Carnap, Rudolf (1891–1970): Einer der Hauptvertreter des logischen %Empirismus, einer philosophischen Richtung, die das traditionelle empiristische Programm einer ZurÝckfÝhrung aller Erkenntnisse auf Sinneserfahrungen mit einer Anwendung der modernen %Logik verbindet. Carnap hat bedeutende BeitrÈge zu den Gebieten der %Sprachphilosophie, %Wissenschaftstheorie und Logik geleistet und die analytische Gegenwartsphilosophie entscheidend geprÈgt. Charakteristisch fÝr seine Arbeiten ist die logische Analyse der %Sprache der empirischen Wissenschaften, sodass Carnap als typisches Beispiel fÝr die von großen Teilen der Philosophie des 20. Jhs. vollzogene sprachliche Wende (engl. linguistic turn) angesehen werden kann. Carnaps erstes grÚßeres Werk erschien im Jahre 1928 unter dem Titel Der Logische Aufbau der Welt, eine erweiterte Fassung seiner Habilitationsschrift, die Moritz Schlick dazu veranlasst
86
Carnap, Rudolf
hatte, Carnap 1926 als Privatdozent nach Wien zu holen, wo er bis zu seiner Auswanderung in die USA im Jahre 1935 ein Mitglied des von Schlick etablierten %Wiener Kreises war. Der Logische Aufbau war der erste ernsthafte Versuch einer tatsÈchlichen DurchfÝhrung des empiristischen Programms einer ZurÝckfÝhrung aller %Begriffe auf sinnliche Erfahrungen. Um dieses Ziel zu erreichen, stellte Carnap ein Konstitutionssystem der Begriffe auf, in dem jeder Begriff auf eine kleine Menge von Grundbegriffen in dem Sinne zurÝckfÝhrbar ist, dass jede Aussage Ýber ihn in Aussagen Ýber die Grundbegriffe Ýbersetzt werden kann. Als einzigen Grundbegriff wÈhlte Carnap eine Relation zwischen so genannten Elementarerlebnissen, die zum Bereich der eigenen Erlebnisse, zum Eigenpsychischen, gehÚren. Auf dieser Grundlage konstituierte er mit den Mitteln der relationalen Logik alle anderen Begriffe, welche sich z. B. auf physische GegenstÈnde und fremde Erlebnisse (Fremdpsychisches) beziehen. Obwohl Carnap eine eigenpsychische oder solipsistische Basis wÈhlte, um im Konstitutionssystem die Ordnung des Erkenntnisprozesses nachzubilden (der nach empiristischer Àberzeugung von den jeweils eigenen Wahrnehmungen ausgeht), betonte er die metaphysische NeutralitÈt seines Systems. Die Wahl der Basis bedeutet dabei keine Auszeichnung des Eigenpsychischen als einzig Existierendes – der %Solipsismus ist nur ein methodischer. Dementsprechend ließ Carnap auch die MÚglichkeit offen, die Basis im Bereich der physischen GegenstÈnde anzusiedeln, falls dies aus methodischen GrÝnden vorzuziehen sei. Charakteristisch fÝr die Philosophie des Wiener Kreises war die Annahme eines strengen empiristischen Sinnkriteriums, nach dem ein Satz nur dann eine Bedeutung hat, wenn er durch die %Erfahrung zumindest prinzipiell als wahr erkannt (%verifiziert) werden kann. Neben solchen empirisch verifizierbaren ErfahrungssÈtzen wurden lediglich rein logisch geltende SÈtze als sinnvoll anerkannt. Daraus ergab sich eine entschieden antimetaphysische Haltung. So vertrat Carnap in Scheinprobleme der Philosophie (1928) die These, dass metaphysische Probleme stets Scheinprobleme darstellen, was er am Beispiel zweier klassischer philosophischer Fragestellungen demonstrierte, der Frage nach der RealitÈt der Außenwelt und der
Existenz des Fremdpsychischen. Da diese metaphysischen SÈtze, die ihrer Natur nach gerade die sinnliche Erfahrung Ýbersteigen sollen, nicht verifizierbar sind, sind sie als sinnlose ScheinsÈtze zu verwerfen. In die gleiche Richtung gehen Carnaps Argumente in dem Artikel Àberwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache (1932). Danach sind in der traditionellen Philosophie zwei Typen von ScheinsÈtzen vorzufinden. Entweder kommen darin WÚrter vor, die keinen Erfahrungsbezug aufweisen und damit gemÈß dem Programm des Logischen Aufbaus ohne Bedeutung sind, oder bedeutungsvolle WÚrter sind auf eine Weise zusammengestellt, die der logischen %Syntax widersprechen. Da eine Verifikation nichts anderes ist als die Ableitung eines Satzes aus bestimmten BasissÈtzen, die unmittelbare Erfahrungen beschreiben, stellt sich die Frage nach der Art dieser so genannten %ProtokollsÈtze. Carnap bevorzugte hier aufgrund der angenommenen erkenntnistheoretischen Vorzugsstellung zunÈchst eine phÈnomenalistische Sprache, in der die ProtokollsÈtze je eigene Erlebnisse beschreiben. Die Diskussionen mit Neurath (Protokollsatzdebatte) fÝhrten jedoch schließlich dazu, dass Carnap die Idee einer Vorzugsstellung der phÈnomenalistischen Sprache aufgab und sich Neuraths Physikalismus anschloss, nach dem aufgrund ihrer IntersubjektivitÈt eine physikalische Sprache vorzuziehen ist, die sich unter Verwendung metrischer Begriffe auf physikalische GrÚßen bezieht (Àber ProtokollsÈtze, 1932/33). Carnap schloss sich auch Neuraths Prinzip der Einheitswissenschaft an, nach dem alle empirischen Wissenschaften letztlich eine Einheit bilden und die Unterteilung in verschiedene Disziplinen rein praktischer Natur ist. Bei Carnap nimmt dieses Prinzip die Form der These an, dass die Gesamtsprache der Wissenschaft auf physikalischer Basis konstruiert werden kann (Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft, 1931). In den folgenden Jahren konzentrierten sich Carnaps Arbeiten auf Grundlegungsfragen von Logik und Mathematik; das Ziel bestand in der Konstruktion formaler Kunstsprachen, um grÚßere Klarheit bei der Formulierung philosophischer Probleme zu erlangen. In der Logischen Syntax der Sprache (1934), dem Hauptwerk dieser Periode, werden allgemeine Regeln fÝr die
Carnap, Rudolf
Konstruktion eines formalen Systems angegeben und zwei Modellsprachen untersucht, die verschiedene Positionen zur Grundlegung der Mathematik widerspiegeln. In diesem Zusammenhang formulierte Carnap sein bekanntes Toleranzprinzip, nach dem es die eine wahre Wissenschaftssprache nicht gibt; die Auswahl zwischen verschiedenen Sprachformen ist keine Frage von Wahrheit oder Falschheit, sondern lediglich eine konventionelle Festsetzung. Auch von den verschiedenen Positionen im Grundlegungsstreit ist damit nicht eine die einzig wahre, sondern sie spiegeln lediglich verschiedene PrÈferenzen ihrer Vertreter wider und kÚnnen gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Von besonderer methodischer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen der %Objektsprache, die Gegenstand der Untersuchung ist, und der %Metasprache, in der die Regeln fÝr den Aufbau der Sprache formuliert sind; ihre SÈtze beziehen sich somit auf die AusdrÝcke der Objektsprache und sind damit logischer Natur. Von philosophischer Bedeutung ist diese Unterscheidung, da nach Carnaps Ansicht in der Sprache der Philosophie viele SÈtze, die scheinbar der Objektsprache angehÚren, bei nÈherem Hinsehen von sprachlichen AusdrÝcken wie WÚrtern oder SÈtzen handeln und somit eigentlich zur einer syntaktischen Metasprache gehÚren. In diesem Fall sind die SÈtze in der so genannten inhaltlichen Redeweise formuliert, kÚnnen aber in eine syntaktische oder formale Redeweise Ýbersetzt werden. Falls dagegen eine derartige Àbersetzung nicht mÚglich ist, handelt es sich entweder um echte ObjektsÈtze, die in die Fachwissenschaften gehÚren, oder um metaphysische ScheinsÈtze, die als sinnlos zu verwerfen sind. FÝr eine neben den Fachwissenschaften bestehende Philosophie bleibt als BetÈtigungsfeld damit nur die syntaktische Analyse der Wissenschaftssprache. In den Jahren nach seiner Emigration in die USA waren Carnaps Ansichten zu den Anforderungen an eine empiristische Sprache in zweierlei Hinsicht einer nderung unterworfen (Testability and Meaning, 1936/37). Zum einen nimmt das empiristische Sinnkriterium unter dem Eindruck von Kritikern wie %Popper eine liberalere Form an. Die Erkenntnis der Tatsache, dass die in der Wissenschaft in Form von Naturgesetzen gebrauchten %AllsÈtze niemals vollstÈndig veri-
87
fizierbar sind, fÝhrt zur AblÚsung des Verifikationskriteriums. Ein Satz wird nun als sinnvoll angesehen, wenn er an der Erfahrung graduell bestÈtigt werden kann, was auch fÝr AllsÈtze mÚglich ist. Zum anderen muss Carnap zugestehen, dass die frÝhere Annahme des Logischen Aufbaus, jeder sinnvolle Begriff der Wissenschaftssprache mÝsse explizit durch einen Beobachtungsbegriff definierbar sein, nicht durchgehalten werden kann, da dies fÝr als sinnvoll anzusehende Dispositionsbegriffe wie ›wasserlÚslich‹ nicht gilt. Daher lÈsst er die MÚglichkeit zu, Begriffe auch durch so genannte ReduktionssÈtze in die Wissenschaftssprache einzufÝhren, die logisch eine Verallgemeinerung von %Definitionen darstellen, aber anders als diese keine Eliminierbarkeit der eingefÝhrten Begriffe mehr gestatten. Die Forderung der Àbersetzbarkeit aller SÈtze der Wissenschaftssprache in eine reine Beobachtungssprache musste damit aufgegeben werden. Wird hier noch von einer einheitlichen, wenn auch erweiterten, empiristischen Wissenschaftssprache ausgegangen, so gelangt Carnap in seinem spÈteren Aufsatz The Methodological Character of Theoretical Concepts (1956) zu einem Zweisprachenmodell. Danach besteht das Vokabular der Wissenschaftssprache aus Beobachtungsbegriffen und theoretischen Begriffen, wobei letztere zunÈchst nur durch ihre Stellung in der Theorie eine Bedeutung haben. Die empirische Signifikanz erhalten sie erst durch so genannte Korrespondenzregeln, durch SÈtze, die sowohl theoretische als auch Beobachtungsbegriffe enthalten und so eine VerknÝpfung beider Teilsprachen leisten. WÈhrend andere Autoren aus dieser weiteren Lockerung des Signifikanzkriteriums fÝr wissenschaftliche Begriffe den Schluss zogen, dass eine scharfe Abgrenzung zwischen sinnvollen wissenschaftlichen und sinnlosen metaphysischen Begriffen unmÚglich ist, hielt Carnap an der MÚglichkeit einer eindeutigen Abgrenzung fest. Entgegen seiner frÝheren Auffassung gelangte Carnap unter dem Einfluss der Schriften von Tarski zu der Ansicht, dass eine logische Analyse der Sprache nicht rein syntaktisch verlaufen kÚnne, sondern durch eine semantische Analyse ergÈnzt werden mÝsse, die auch die Bedeutung der AusdrÝcke einbezieht. Seine Arbeiten zur Semantik umfassen neben den Foundati-
88
Carnap, Rudolf
ons of Logic and Mathematics (1939) eine unter dem Titel Studies in Semantics erschienene Reihe von drei Monographien, Introduction to Semantics (1942), Formalization of Logic (1943) und Meaning and Necessity (1947), von denen die dritte sprachphilosophisch von besonderem Gewicht ist. Carnap rekonstruiert dort die semantische Analyse von %Frege, die auf einer Unterscheidung zwischen dem Sinn und der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks beruht, und stellt dieser so genannten Methode der Namensrelation seine eigene Methode gegenÝber, die die Begriffe der %Extension und der %Intension verwendet (Sprachphilosophie). Schließlich werden logische ModalitÈten wie Notwendigkeit und MÚglichkeit untersucht, deren Verwendung zu nichtextensionalen Kontexten fÝhrt. Einflussreich wurde auch Carnaps zuerst 1950 erschienener Aufsatz Empiricism, Semantics and Ontology, in dem er die Àberlegungen zum Toleranzprinzip wieder aufgreift. Ausgangspunkt ist das Problem der Existenz abstrakter EntitÈten in Mathematik oder Semantik. Carnap vertritt die These, dass man zwei Arten von Fragen bezÝglich der Existenz oder RealitÈt derartiger EntitÈten unterscheiden mÝsse. Die internen Fragen betreffen die Existenz von EntitÈten innerhalb eines vorgegebenen theoretischen oder sprachlichen Rahmens (engl. linguistic framework). Diese Fragen sind rein logischer oder rein empirischer Natur, ihre Wahrheit ist somit rein logisch bedingt oder durch faktische Gegebenheiten bestimmt. Die externen Fragen betreffen dagegen die Existenz des Systems von EntitÈten als Ganzes, und es sind diese Fragen, die oft als ontologische Fragen Ýber die RealitÈt der fraglichen %EntitÈten gedeutet werden. Nach Carnap handelt es sich bei diesen externen Fragen dagegen um die Anerkennung eines bestimmten sprachlichen Rahmens, und eine Antwort darauf ist nicht theoretischer, sondern praktischer Natur und somit nicht wahr oder falsch, sondern lediglich mehr oder weniger zweckmÈßig. Die Anerkennung eines bestimmten Rahmens kann nach diesen pragmatischen Kriterien beurteilt werden, enthÈlt aber keinesfalls eine ontologische Festlegung. Nachdem Carnap den Begriff der Verifikation durch den des BestÈtigungsgrades ersetzt hatte, stellte sich die Frage nach einer exakten logischen Behandlung dieses Begriffes, der hÈufig
mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff identifiziert worden war. Ausgangspunkt von Carnaps Àberlegungen war die Einsicht, dass man zwischen zwei verschiedenen Wahrscheinlichkeitsbegriffen unterscheiden mÝsse (The Two Concepts of Probability, 1945). Die statistische Wahrscheinlichkeit, interpretiert als relative HÈufigkeit, ist eine Beziehung zwischen Ereignisklassen, wÈhrend der BestÈtigungsgrad als logische oder induktive Wahrscheinlichkeit aufzufassen ist, also als Relation zwischen zwei SÈtzen, z. B. einer %Hypothese und einem Satz, der relevante Beobachtungen ausdrÝckt. Eine Untersuchung dieses zweiten Wahrscheinlichkeitsbegriffs ist nach Carnap Aufgabe der induktiven Logik, sie steht im Mittelpunkt der Werke Logical Foundations of Probability (1950), The Continuum of Inductive Methods (1952) und Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit (1959), bearbeitet von Wolfgang StegmÝller). WÈhrend es Carnap in diesen Schriften noch um eine theoretische Beurteilung von Hypothesen geht, findet in seinen SpÈtschriften zum Thema der induktiven Wahrscheinlichkeit, die zu seinen Lebzeiten grÚßtenteils unverÚffentlicht blieben, eine Wende zu einer praktischen normativen Handlungstheorie statt (siehe z. B. The Aim of Inductive Logic, 1962). Damit scheint der Gegensatz des carnapschen Induktivismus zum Deduktivismus Poppers Ýberwunden zu sein. Dass heute die meisten carnapschen Positionen Ýberwiegend kritisch beurteilt werden, stellt seine Bedeutung fÝr die Philosophie des 20. Jhs. nicht in Frage. Ein großer Teil der Weiterentwicklungen der analytischen Philosophie ging von einer affirmativen oder kritischen Auseinandersetzung mit Carnaps Werk aus. Dass sein allgemeiner Bekanntheitsgrad nicht so hoch ist wie der von Denkern vergleichbaren Ranges, hÈngt sicherlich mit der technischen Schwierigkeit seiner Werke zusammen, deren VerstÈndnis fast immer eine gewisse Vertrautheit mit den Mitteln der formalen Logik erfordert. Es steht jedoch außer Zweifel, dass ohne Carnaps Beitrag die analytische Gegenwartsphilosophie nicht vorstellbar wÈre. Th. Mormann, Rudolf Carnap, MÝnchen 2000 W. StegmÝller, HauptstrÚmungen der Gegenwartsphi losophie, Band I, 7. Aufl. Stuttgart 1989 C. K.
Cassirer, Ernst
Cassirer, Ernst (1874–1945): Wurde als Sohn jÝdischer Eltern in Breslau geboren und starb im New Yorker Exil. Obwohl ursprÝnglich eng mit dem Kreis der Marburger Neukantianer verbunden, grenzte er sich durch sein eigenes philosophisches Profil schon bald deutlich gegen jene ab. Mit der Publikation der Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) gelang ihm ein Wurf, der ihn in der Folge zu einem der angesehensten deutschen Philosophen vor dem 2. Weltkrieg werden ließ, seine ideengeschichtlichen Arbeiten zur Renaissance und zur AufklÈrung gelten noch heute als Standardwerke und als Autor der Philosophie der symbolischen Formen (%Symbole) war er der Philosophie seiner Zeit um etliche Jahre voraus. Hinter letztgenanntem Titel verbirgt sich Cassirers Hauptwerk, der systematische Entwurf zu einer %Kulturphilosophie, welchem das hauptsÈchliche Interesse der nachfolgenden Darstellung gilt. Es soll zuerst auf Cassirers spezifisches KulturverstÈndnis eingegangen werden. Darauf folgt die Darlegung seines methodischen Ansatzes und die Diskussion der von ihm geprÈgten Begriffe der »symbolischen PrÈgnanz« und der »symbolischen Form«. FÝr Cassirer erklÈrt sich das Wesen und der Sinn von %Kultur aus ihrer %Funktion. Der generelle %Zweck, auf den alle kulturellen Bestrebungen hinzielen, besteht nach ihm darin, »die passive Welt der bloßen EindrÝcke« zu einer fÝr den Menschen verstehbaren %Wirklichkeit umzuformen. Im Unterschied zum Tier, das instinktiv auf gegebene SchlÝsselreize reagiert, muss der %Mensch, um situationsadÈquat und also sinnvoll handeln zu kÚnnen, die Situation verstehen, in welcher er sich befindet und auf welche er reagieren soll. Das heißt: Das OrientierungsvermÚgen des Menschen ist an %Bedeutungen und BedeutungszusammenhÈnge gebunden. Die Produktion von Bedeutung und der Umgang mit solchen Bedeutungssystemen ist das, was Cassirer Kultur nennt. Diesem sehr weit gefassten Begriff von Kultur entspricht ein ebenso weites VerstÈndnis der Kulturphilosophie. Ihr Gegenstand ist der Gesamtbereich menschlicher Wirklichkeitsdeutung, zu dem auch die Naturwissenschaften als spezifische Weisen des Weltverstehens gehÚren. Cassirer sieht seine Aufgabe als Kulturphilosoph darin, all »die verschiedenen Grundformen des %Verstehens der Welt gegeneinander abzugrenzen und in ihrer eigen-
89
tÝmlichen geistigen Form zu erfassen«. Systematisch hÈlt er dabei am Ansatz der transzendentalphilosophischen Fragestellung fest, deren Anwendungsgebiet er aber nun auf den gesamten Bereich der Kultur – im oben beschriebenen Sinn verstanden – ausweitet: Seine Untersuchung richtet sich auf die Bedingung der MÚglichkeit von Bedeutung Ýberhaupt. Den Ausgangspunkt seiner Àberlegungen bildet dabei die Beobachtung, dass jede menschliche Wahrnehmung immer schon in irgendeiner Weise sinnbefrachtet ist. Das %Bewusstsein begnÝgt sich nicht damit, die EindrÝcke der Außenwelt aufzunehmen, sondern es verknÝpft und durchdringt jeden Eindruck mit einer freien TÈtigkeit des Ausdrucks. So kann beispielsweise ein einfacher Linienzug je nach Wahrnehmungskontext einmal als Fieberkurve, als Berggrat oder einfach als ›Gekritzel‹ verstanden werden. Wesentlich an diesem von Cassirer immer wieder bemÝhten Beispiel ist die Tatsache, dass wir diesen Linienzug (wenn wir ihn wahrnehmen) immer schon als ›etwas‹ wahrnehmen. Das heißt, dass wir nie die bewusste Wahrnehmung eines Sinnesdatums ohne die gleichzeitige Wahrnehmung einer Bedeutung haben. Dieses PhÈnomen, dass die menschliche Wahrnehmung nicht nur notwendig sinnlich, sondern offensichtlich bis zu einem gewissen Grad immer auch schon sinnvoll ist, stellt fÝr Cassirer ein echtes UrphÈnomen dar: »Unter ›symbolischer PrÈgnanz‹ . . . soll die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis (als ›sinnliches Erlebnis‹) zugleich einen bestimmten anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.« Das Prinzip der symbolischen PrÈgnanz erinnert in gewisser Hinsicht an den gestalttheoretischen Begriff der ›guten Gestalt‹, wonach der Mensch die GegenstÈnde nicht als unzusammenhÈngende BruchstÝcke wahrnimmt, sondern immer nur als sinnvolle Ganzheiten. Der Ausdruck der symbolischen PrÈgnanz dient Cassirer zur Bezeichnung der ursprÝnglichsten Weise des Zustandekommens von Bedeutung Ýberhaupt. Als echtes Apriori liegt diese (im wahrsten Sinne des Wortes ›ursprÝngliche‹) Bedeutungsfunktion auch den in der Philosophie der symbolischen Formen entwickelten und erwÈhnten kulturellen Formen des Bedeutens zugrunde. Wenn auch der Umgang des Menschen mit der %Welt (wie der Ver-
90
Cassirer, Ernst
gleich mit den Tieren oben zeigte) in keiner bestimmten Weise vorgegeben ist, so ist er doch auch nicht beliebig. Auf der Grundlage der Voraussetzung, dass die Wirklichkeit dem Menschen nur durch ein kulturell geformtes Medium zugÈnglich ist, haben sich bestimmte Grundformen des Weltverstehens herausgebildet, die Cassirer »symbolische Formen« nennt. Dieser Begriff wird von ihm in zweifacher Bedeutung verwendet, wobei zwar beide Male dasselbe PhÈnomen bezeichnet, aber unterschiedlich akzentuiert wird. So definiert Cassirer symbolische Form einmal als »jede Energie des Geistes . . ., durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknÝpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird«. Zum andern benutzt er den Begriff aber auch, um damit das Produkt eines solchen Bedeutungsbildungsprozesses, nÈmlich die dabei entstandenen kulturellen Bedeutungs- bzw. Orientierungssysteme selbst zu bezeichnen. Neben %Sprache, %Mythos und %Wissenschaft, deren Darstellung jeweils ein Band seines dreibÈndigen Werkes gewidmet ist, werden von Cassirer beispielsweise auch %Kunst, %Technik, %Recht und Wirtschaft als eigenstÈndige symbolische Formen aufgefÝhrt. Alle diese symbolischen Formen stellen nach Cassirer gleichberechtigte Weisen der Wirklichkeitsdeutung dar. Wie Cassirer in einer aufwÈndigen, auf InterdisziplinaritÈt angelegten Untersuchung der Formen Sprache, Mythos und Wissenschaft (bzw. Erkenntnis) darlegt, kann davon ausgegangen werden, dass die Ausbildung gewisser grundlegender Funktionen in jeder symbolischen Form – wenn auch jeweils unterschiedlich realisiert – gewÈhrleistet wird. Es handelt sich dabei um die %Kategorien von %Raum, %Zeit und %Zahl sowie die Entwicklung eines Bewusstseins, das zwischen Ich/ Selbst und Außenwelt zu differenzieren vermag. Stellt man Sprache, Mythos und Wissenschaft als die von ihm hauptsÈchlich diskutierten Formen der Welterschließung nebeneinander, so zeigt sich allerdings, dass mit der Betonung ihrer Gleichberechtigung das VerhÈltnis der symbolischen Formen untereinander noch keineswegs geklÈrt ist. Cassirers Hinweis darauf, dass zwar alle symbolischen Formen ihren Ursprung im Mythos haben, ihre Entstehung jedoch nicht als ein »Fortschreiten zum Besseren« verstanden werden darf, bietet auch keine Hilfe fÝr eine
systematische Ein- oder Zuordnung derselben. WÈhrend Mythos und Wissenschaft als symbolische Formen zeitlich getrennt werden kÚnnen, muss die symbolische Form der Sprache als mit jenen beiden zeitgleich existierend gedacht werden. Das VerhÈltnis der Formen untereinander kann somit weder hierarchisiert noch als Ordnung in der zeitlichen Folge verstanden werden. Dass das permanente Wirken kultureller Energien nur als komplexes Wechselspiel beziehungsweise Zusammenspiel verschiedenster symbolischer Formen sichtbar wird, sich ansonsten aber jedem Versuch einer starren Festlegung auf eine bestimmte Ordnung entzieht, kommt im Àbrigen in jeder Hinsicht dem VerstÈndnis Cassirers von der ›Lebendigkeit‹ der symbolischen Formen entgegen. Dieser wollte mit der Philosophie der symbolischen Formen kein geschlossenes philosophisches System liefern, sondern eine systematische Perspektive entwickeln, unter der die kulturellen PhÈnomene adÈquat zu betrachten sind. So gesehen hat die Feststellung der Gleichberechtigung wohl auch mehr programmatischen als systematischen Charakter. Vor allem zwei Punkte sollen in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich gemacht werden. Erstens: Nach Cassirer ist es das Bestreben jeder symbolischen Form, sich selbst absolut setzen zu wollen. Dieser Anspruch muss relativiert werden. Die Darstellung des Mythos macht deutlich, dass das WirklichkeitsverstÈndnis, das einer symbolischen Form zugrunde liegt, zwar absolut gÝltig fÝr diejenigen Menschen ist, die sie jeweils hervorbringen und tragen, dass es aber unabhÈngig davon keine ›wirkliche‹ Wirklichkeit gibt, die durch manche Formen schlechter, durch andere besser erschlossen beziehungsweise reprÈsentiert wird. Wirklichkeit erschÚpft und erfÝllt sich jeweils in ihrer Form. Somit sind der Mythos und das wissenschaftlich bedingte WeltverstÈndnis beide nicht mehr und nicht weniger als ›wirklich‹ – allerdings verschiedene Wirklichkeiten, die Unterschiedliches leisten. Zweitens: Insofern der Mensch Wirklichkeit nur als Kultur im Sinne der symbolischen Formen hat, alle diese Bedeutungs- beziehungsweise Orientierungssysteme aber allein aus seiner FÈhigkeit entstanden sind, Symbole (im Sinne von sinnlichen BedeutungstrÈgern) zu verstehen, zu verwenden und zu produzieren, definiert Cassirer den Menschen
Cicero
als das animal symbolicum. Damit macht er deutlich, dass der Zugang zur Welt Ýber die begriffliche Form verstandesmÈßiger Erkenntnis, die dem animal rationale zukommt, nur eine von verschiedenen mÚglichen Formen des Sinnverstehens darstellt. In seinen spÈteren Arbeiten wendet sich Cassirer (wohl auch durch biographische UmstÈnde bedingt) vermehrt ethisch-politischen Fragestellungen zu. So in dem 1946 posthum erschienen Werk The Myth of the State, wobei auch die darin entwickelten Ideen dem Gedanken der philosophischen Formen verbunden bleiben. Cassirer hinterließ keine direkten philosophischen Nachfolger. Neben Merleau-Ponty, Gurwitsch und Langer, die sich direkt auf ihn beziehen, fand sich niemand, die Cassirer’schen Ideen explizit aufzunehmen. GrÝnde hierfÝr liegen sicher in der gewaltsamen Beendigung seines Wirkens im deutschsprachigen Raum, wo die wÈhrend oder unmittelbar nach der NS-Zeit auf die frei gewordenen LehrstÝhle nachgerÝckten Professoren wenig Interesse daran zeigten, die Studien und Gedanken des Vertriebenen aufzunehmen. Im Zuge der von den USA ausgehenden cultural studies steigt das Interesse an den von Cassirer entwickelten Ideen auch im deutschsprachigen Raum zunehmend. Die vermehrte Aufmerksamkeit, die dabei den Schriften Cassirers zuteil wird, macht deutlich, dass er der Nachwelt zwar keine treuen SchÝler und Nachfolger, wohl aber eine Unzahl von philosophisch ›in jeder Hinsicht Inspirierten‹ hinterlassen hat. D. Frede / R. SchmÝcker (Hg.), Ernst Cassirer. Werk und Wirkung, Darmstadt 1997 A. Graeser, Ernst Cassirer, MÝnchen 1994 H. Paetzold, Die RealitÈt der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994 : Ernst Cassirer Von Marburg nach New York, Darmstadt 1995 G.T. G.
Cicero (106–43): Nachdem er in allen Jahrhunderten ein viel gelesener und geschÈtzter philosophischer Autor gewesen war, wurde sein Ansehen im 19. Jh. in kurzer Zeit fast grÝndlich zerstÚrt. Ungewollt dazu beigetragen hat das Entstehen des so genannten geschichtlichen Bewusstseins, wie es sich in der Philosophiegeschichtsschreibung ausbreitete. Denn in dem
91
historisch-kritischen BemÝhen, alle Ýberlieferten Texte auf ihre ursprÝnglichen Quellen zurÝckzufÝhren und frÝhere, verloren gegangene Texte und damit frÝhere Epochen zu rekonstruieren, sind seine Schriften von der Philosophiegeschichtsschreibung als FundstÈtten hellenistischer Lehrmeinungen ausgebeutet worden. Ciceros Selbstdisziplin, die Vorlagen, die ihm noch zur VerfÝgung standen, genau zu referieren und philosophische LehrstÝcke mÚglichst ›objektiv‹ darzustellen, machten ihn dazu in besonderem Maße geeignet. In dem Maße aber, wie die Rekonstruktion der Vorlagen gelang, erschien er als rÚmischer Epigone. Seine ZurÝckhaltung bei eigenen Urteilen, ja bisweilen sein erklÈrter Widerstand, eine eigene Meinung zu Èußern, und sein Hang, die auftretenden WidersprÝche zwischen den einzelnen Lehrmeinungen zu mildern oder gar durch eine Synthese auszugleichen, ließen ihn schließlich als unoriginellen Denker erscheinen. Erst allmÈhlich erfÈhrt nunmehr dieses in mehrfacher Hinsicht falsche Bild eine Revision. Dabei wird verstÈrkt den spezifischen Bedingungen des rÚmischen Philosophierens Rechnung getragen. Cicero war es freilich in der Tat nie eingefallen, wie in Griechenland Ýblich, ein ›reiner‹ Philosoph werden zu wollen. Wer in der rÚmischen ³ffentlichkeit erfolgreich sein wollte, musste Redner und Anwalt werden. Griechische Bildung und gar Philosophie dienten hierbei lediglich zur UnterfÝtterung. Ciceros erster philosophischer Lehrer wurde im Jahre 88 Philo von Larissa, das damalige Oberhaupt (princeps) der Neuen Akademie, die unter Karneades gegenÝber der Alten Akademie, der Schule %Platons, eine Wende zum %Skeptizismus vollzogen hatte. Philon musste in der Zeit der Anfangserfolge des Mithridates zusammen mit den Rom treuen athenischen Optimaten nach Rom fliehen und nahm dort eine erfolgreiche LehrtÈtigkeit auf, bei der er – ganz ungewÚhnlich fÝr Philosophen, die zumeist aufgrund der sokratisch-platonischen Sophistenkritik rhetorikfeindlich waren – auch rhetorische Àbungen einflocht. Cicero war, wie er spÈter im Brutus, seinem Werk Ýber die Geschichte der rÚmischen Beredsamkeit, berichtet hat, mit voller Begeisterung fÝr ihn und seine Philosophie. Nach seinem ersten großen Erfolg als Redner und Anwalt verbrachte Cicero 78/79 ein halbes Jahr in Athen bei Antiochos
92
Cicero
von Askalon, dem Nachfolger Philons. Von diesem Ýbernahm er die synoptische Auffassung, dass die Unterschiede zwischen der Alten Akademie (den Platonikern), dem %Peripatos (den Aristotelikern) und der %Stoa nicht so sehr in der Sache als vielmehr in der Wahl der Termini bestÝnde. Im Jahre 76 entschied sich Cicero, die Senatorenlaufbahn, den cursus honorum (Quaestor, Aedil, Praetor, Consul) einzuschlagen. Bei dieser Entscheidung muss er sich bewusst gewesen sein, hÚchstens den Rang eines PrÈtors erreichen zu kÚnnen. Die NobilitÈt war immer bemÝht gewesen, einen homo novus, einen Mann aus dem niederen Adel (ordo equester), mÚglichst vom hÚchsten Amt fernzuhalten. Dennoch erreichte Cicero im Jahre 63 (suo anno) das Konsulat. Mit der Aufdeckung und Niederschlagung der catilinarischen VerschwÚrung konnte er schließlich sein politisches Programm, immer wieder das Einvernehmen zwischen Ritter- und Senatorenstand (concordia ordinum) herbeizufÝhren, verwirklichen. Wie sich hier schon zeigte, huldigte Cicero zeit seines Lebens dem Konsensideal. Und was fÝr den Politiker galt, sollte auch fÝr den Philosophen gÝltig werden. Mit mangelnder OriginalitÈt hat das nichts zu tun. Sein erstes bedeutsames literarisches Werk De oratore schrieb Cicero im Jahre 55, bezeichnenderweise wÈhrend des ersten Triumvirats, in der Zeit, in der die republikanische Verfassung lahm gelegt und jede politische BetÈtigung fÝr ihn unmÚglich geworden war. Scheinbar bloß eine Schrift Ýber Rhetorik, enthÈlt sie bereits den Leitgedanken seiner politischen Philosophie: Die hÚchste Aufgabe des wahren Redners ist die Leitung der staatlichen Gemeinschaft (gubernatio civitatis). Zur ersten Entfaltung kommt dieser Gedanke mit der gleich nach Beendigung von De oratore begonnenen, aber erst 51 fertig gestellten Schrift De re publica, eine Schrift Ýber den bestmÚglichen Zustand der staatlichen Gemeinschaft und Ýber den besten Staatsmann. Die philosophische Frage nach dem %Staat bleibt fÝr Cicero nie abstrakt, sondern verknÝpft sich sofort mit der Frage nach dem Charakter der %Menschen, die den Staat tragen. Aus der Geschichte kÚnne man lernen, dass die Staaten stets so gut waren wie ihre fÝhrenden MÈnner. Das bedeute aber auch, dass bereits das unmoralische Verhalten weniger principes ausreicht,
um die politischen Sitten (mores civitatis) in einer staatlichen Gemeinschaft grÝndlich zu korrumpieren. Dies vor Augen hat sich Cicero immer wieder gegen Caesar gestellt. Ebenso oft begegnete ihm dieser jedoch mit Noblesse und Milde, der berÝhmten clementia Caesaris. Die Begnadigung im Jahre 46 muss Cicero freilich mit seiner endgÝltigen politischen Entmachtung bezahlen. Um dem Gemeinwesen wenigstens indirekt, nÈmlich durch Belehrung, noch dienen zu kÚnnen, beginnt er eine rege literarische TÈtigkeit. In schneller Folge verfasst er bis zu seiner Ermordung am 7. Dezember 43 durch die HÈscher des Antonius etwa fÝnfzehn grÚßere Schriften, darunter die philosophisch bedeutsamen Werke: De finibus bonorum et malorum (Àber das hÚchste Gut und das grÚßte Àbel), Tusculanae disputationes (GesprÈche in Tusculum), De natura deorum (Àber das Wesen der GÚtter) und das nicht ganz vollendete Hauptwerk De officiis (Àber das rechte Handeln). ußerlich treten an die Stelle der politischen ErÚrterungen solche zur persÚnlichen LebensfÝhrung. Die immer wieder vorgenommene Frage lautet: Ist die %Tugend das einzig wahrhaft %Gute im Leben und sind alle anderen GÝter – wie gesellschaftliche und politische Stellung, ›Reichtum‹ und ›Ehre‹ – nur scheinbare, nie wirklich gesicherte GÝter, auf die wir uns in unserem Streben nach einem glÝckseligen Leben auch nicht ausrichten sollten? Scheinbar ist in dieser ethischen Fragestellung der ursprÝnglich politische Impuls von Ciceros Philosophie vÚllig untergegangen, und man hat geglaubt, diese Wende mit seiner damaligen existenziellen Situation erklÈren zu mÝssen: dem plÚtzlichen Tod seiner geliebten Tochter, seiner endgÝltigen politischen Bedeutungslosigkeit, der Scheidung von seiner Frau, der finanziellen Dauermisere. In Wirklichkeit sucht er fÝr sein politisch-philosophisches Programm eine ethisch-naturrechtliche Verallgemeinerung. Ganz entsprechend zu seiner Anfangsfrage nach dem bestmÚglichen Zustand der staatlichen Gemeinschaft galten seine spÈteren Fragen dem bestmÚglichen Zustand des menschlichen Lebens Ýberhaupt. GemÈß dieser BegrÝndungsabsicht schließt sich an die erste Frage als zweite die nach den ›Anforderungen‹ an, denen eine richtige FÝhrung des Lebens entsprechen muss. Diese An-
Derrida, Jacques
forderungen nennt Cicero officia. Das Wort officium wurde zuvor selten verwendet. Es leitet sich von opificium her, das aus opus (Arbeit, Werk, Tun) und facio (handeln, machen, verfertigen) zusammengesetzt ist und das Anfertigen einer Arbeit oder das Verrichten eines Dienstes meint. Erst indem Cicero dieses Wort als Terminus fÝr ein Handeln verwendete, das aus der %Natur der Sache erfolgt oder den vernÝnftigen Erfordernissen einer praktischen ›Angelegenheit‹ (res) zu entsprechen versucht, erhielt es seine prÈgnante Bedeutung. Von dieser hat sich wiederum Notker Teutonicus bei seiner Àbersetzung von officium mit %Pflicht bestimmen lassen. Das deutsche Wort ›Pflicht‹ leitet sich von dem Verb ›pflegen‹ ab. Dieses vereinigte ursprÝnglich die Bedeutungsrichtungen ›sorgen fÝr etwas‹, ›die Gewohnheit haben zu‹, ›versprechen, etwas zu tun‹, sodass sich so unterschiedliche Begriffe wie Pflege, Gepflogenheit und Pflicht ausdifferenzieren konnten. Ersichtlich betont Pflicht im Unterschied zu officium mehr die Haltung als das effektive Handeln. Die eigentlich verdoppelnde Àbersetzung von officium mit ›pflichtgemÈßem Handeln‹ ist daher durchaus sinnvoll. Die Pflichten sind Ausdruck des Naturgesetzes. Die Natur ist bei Cicero die VerkÚrperung des %Logos, der gÚttlichen Allvernunft. In ihr ist daher alles zu einer erkennbaren, zweckmÈßigen %Ordnung eingerichtet. Dem gemÈß hat sie auch die Vormundschaft fÝr alle ihre %Wesen und deren Entwicklung Ýbernommen, fÝr den Menschen allerdings nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Von diesem ab Ýbernimmt der Logos in ihm die FÝhrung und der Mensch beginnt Ýber sein Tun und Lassen selbst zu entscheiden. Bis dahin leitet ihn die Natur, indem sie ihm eine ›Selbstliebe‹ eingepflanzt hat, d. h. die FÈhigkeit, das fÝr seine Selbsterhaltung Geeignete – das fÝr ihn persÚnlich wie auch fÝr sein Leben in der Gemeinschaft Bedeutsame – instinktiv erkennen und wÈhlen zu kÚnnen. Wie wir unsere Glieder zur Bewegung bereits benutzen kÚnnen, ohne ihre volle NÝtzlichkeit und ZweckmÈßigkeit erkannt zu haben, so sind wir Glieder der natÝrlichen Gemeinschaft, ohne dass wir den vollen Sinn unserer Mitgliedschaft noch den der Gemeinschaft, ihren Gesamtnutzen und ihre %Gerechtigkeit, bereits verstanden hÈtten. Wenn der
93
Mensch aber mÝndig geworden ist, dann werden diese instinktiv zweckmÈßigen, lebensnotwendigen TÈtigkeiten zu officia, d. h. zu ausdrÝcklichen Handlungen, in denen die Natur, die das VernÝnftige selbst ist, zum einzigen Maßstab genommen wird. Daher ist das allererste officium, das in allen weiteren officia enthalten ist, das Handeln, das den Forderungen (Vorschriften) der Natur gemÈß ist, oder die Aufgabe, sein Leben in Àbereinstimmung mit der – an sich vernÝnftigen – Natur zu fÝhren (convenienter naturae vivere). In dieser Unterordnung unter das Naturgesetz ist auch die %HumanitÈt begrÝndet. Keiner, der wirklich naturgemÈß handelt, kann einem Mitmenschen schaden, nicht einmal dann, wenn es darum geht, uns selbst, unsere Kinder, AngehÚrigen und Freunde vor einem Àbel zu bewahren. Wer glaubt, man kÚnne in Kauf nehmen, dass einem anderen Unrecht geschieht, wenn man dadurch Schaden fÝr sich selbst und seine NÈchsten abzuwenden vermag, der hebt im Menschen den Menschen auf. Ebenso scharf urteilt Cicero in einem parallelen Fall. Das Naturgesetz will auch, dass jedem Menschen, wer es auch sei, also unabhÈngig davon, welcher Rasse, welchem Staat und welcher Religion er angehÚrt, einzig aus dem Grunde, dass er ein Mensch ist, Sorge zuteil wird. Wer dagegen glaubt, dass hierbei die eigenen StaatsbÝrger zuerst BerÝcksichtigung zu finden hÈtten und dann erst die AuslÈnder, der beendet die universelle Gemeinschaft der ganzen Menschheit. Auch wenn Cicero das politische Prinzipat, auf das er nach dem Tode CÈsars noch einmal Anspruch erhoben hatte, bei der Bildung des zweiten Triumvirats endgÝltig verloren hat, das moralisch-pÈdagogische Prinzipat hat man ihm nicht nehmen kÚnnen. Es reichte geschichtlich Ýber den Horizont hinaus, in dem ein rÚmischer Staatsmann denken konnte. Cicero wurde einer der GrÝndungsvÈter des europÈischen Humanismus (%A Renaissance – Humanismus). G. Gawlick / W. GÚrler, Cicero, in: Grundriss der Ge schichte der Philosophie, Bd. 4.2, Basel 1994, S. 991 1168 C. St.
Derrida, Jacques (*1930): Geboren in El Biar, Algerien; 1949–1956 Philosophiestudium in Pa-
94
Derrida, Jacques
ris (Lyc¹e Louis-le-Grand, cole normale sup¹rieure, seit 1968 zahlreiche regelmÈßige Seminare an mehreren europÈischen und amerikanischen UniversitÈten (John Hopkins, Yale, Cornell u. a.) sowie viele Vortragsreisen, seit 1979 auch nach Moskau, Afrika, Japan, SÝdamerika, Australien. Aufgrund seiner freundschaftlichen und kollegialen Verbindungen steht Derrida im Geflecht fast aller bekannten Namen der franzÚsischen Philosophie und Literatur seit 1950. Ab 1970 wird seine Arbeit auch außerhalb Frankreichs rezipiert, vor allem in den USA, in England, Italien, Deutschland. Seine erste Publikation von 1962 ist ein langer Kommentar zu einem Forschungsmanuskript des spÈten %Husserl (Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, MÝnchen 1987). Fast alle Texte sind mehrfach gedruckt und in zahlreiche Sprachen Ýbersetzt, bis ins Russische, Arabische, Chinesische. Ein definitives systematisches Hauptwerk gibt es ebenso wenig wie eine lineare Entwicklung mit eindeutigen Phasen oder ZÈsuren. Vielmehr entfaltet Derrida unaufhaltsam die in den Arbeiten der 1960er Jahre angelegten Keime. Zusammen mit einer fortlaufenden Selbstinterpretation im steten Kreuzfeuer von Rezeption und Kritik fÝhrt dies zu einer Verdichtung oder Vernetzung all seiner Texte. Derrida erreicht seine entscheidenden Wirkungen durch LektÝren anderer Autoren. In dem von PhÈnomenologie und Existenzialismus (%Sartre, Merleau-Ponty) beherrschten intellektuellen Klima im Paris der 1950er Jahre orientiert er sich an Husserls Texten selbst und an Interpreten wie %L¹vinas und %Heidegger. In den Vorlesungen zur PhÈnomenologie des inneren Zeitbewusstseins entwickelt Husserl den augustinischen Gedanken einer unauflÚslichen Verkettung der Zeitmomente Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft bzw. Retention, »Urimpression« (Wahrnehmung), %Protention. Derrida fasst das radikaler. Das mittlere Moment, die PrÈsenz, ist niemals rein oder absolut, sondern immer schon verknÝpft mit AlteritÈt und affiziert durch Momente der Absenz. Diese Verflechtung ist ein ›Text‹, in dem nichts irgendwo und irgendwann einfachhin anwesend oder abwesend ist und der schlechthin alles einbegreift. Damit wird eine FÝlle von Variationen und Applikationen erÚffnet: Das Selbe als Effekt des Anderen, der reine Selbstbezug als Produkt der Tradition, die Kontamination der UrsprÝnge.
Aus der von Derrida ebenso eigenstÈndig rezipierten Psychoanalyse Freuds kommen weitere Motive hinzu: NachtrÈglichkeit des Bewusstseins, Aufschub der PrÈsenz (bzw. der Lust), die Spur eines nicht stattgefundenen Ereignisses, das Original als Ergebnis der Reproduktion. Und aus der nicht minder intensiven Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus Saussures, entfaltet in Literaturtheorie und Ethnologie, gewinnt Derrida das Motiv einer stets wirksamen Differenz sowie den Gedanken, dass jedes System notwendig offen sei, strukturell unabschließbar, wesentlich unvollstÈndig. Wenn das Zentrum einer Struktur, ihr Ursprung bzw. Ziel, leerer Ort eines unendlichen Austauschs oder Spiels von Signifikanten wie Signifikaten ist, so genießt es kein Privileg. Die entschlossene Suche nach einer letzten %Bedeutung, nach der Sache selbst, gerÈt zu einem Prozess, in dem jegliche Bedeutung wieder zu einem Bedeutenden werden kann. FÝr einige Jahre der Gruppe Tel Quel (Philippe Sollers, Julia Kristeva) verbunden, findet Derrida weitere GewÈhrsleute in Blanchot und Mallarm¹; dieser etwa setzt dem platonischen Mimesisbegriff (›A mimt B‹) ein ›A mimt‹ entgegen: Spiegelung ohne Gespiegeltes. KÝrzel, Quelle und Medium solcher Theoreme ist fÝr Derrida die ¹criture. Husserl zeigte, dass die Konstitution idealer ObjektivitÈten als allzeitliche, universale Wahrheiten, etwa der geometrischen Axiome, einzig durch die Schrift ermÚglicht wird. IdealitÈt entspringt einer beliebigen Wiederholbarkeit. Doch diese ist auf keine Weise zu garantieren; die reine IterabilitÈt bleibt Programm, Postulat, Phantasma. Die Schrift ist Instrument und Bedrohung des GedÈchtnisses zugleich. Insofern sie Archivierungen des Wissens und RÝckfragen durch die Traditionen hindurch ermÚglicht, ist sie ein Segen, aber ein Fluch, insofern sie mitsamt dem ihr Anvertrauten verbrennen kann. Damit ist ein ungeheurer, von der klassischen Philosophie kaum bedachter Materialbestand thematisiert: Genese und Struktur des Zeichenbegriffs, der Schriften und Notationen, der Schriftkulturen, des Buches, der EnzyklopÈdie, der Produktions-, Distributions- und Dokumentationsapparate (Editions-, Bibliotheks-, Archivwesen), der Techniken und Medien der Kommunikation (Telefon, Funk, Kinemato- und Phonographie, Fax, E-Mail, CD-ROM), der Beglaubigungspraktiken (Signatur, Datierung,
´ Descartes, Rene
Kryptierung) usw. Derrida nimmt die Genese und Struktur der gesamten abendlÈndischen Tradition der %Metaphysik in den Blick. Trotz aller BrÝche und Verschiebungen, aller Umwege und Wiederaufnahmen erweist sich diese als einigermaßen kohÈrente Struktur, deren Zentrum, Ziel oder Organisationsprinzip im Lauf der Geschichte nur verschieden benannt wurde: Eidos, Idee, Wesen, Logos, Parusie, PrÈsenz (Gegenwart, Anwesenheit), Sache selbst, transzendentales Signifikat usw. Davon abgeleitet erscheint eine in den Axiomen der Logik (Satz der IdentitÈt, des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten, des zureichenden Grundes) formalisierte BinaritÈt, eine offene Reihe von Oppositionen: Leib – Seele, Gesetz – Natur, Selbes – Anderes, Einzelnes – Allgemeines, Eigenes – Fremdes, Leben – Tod, usw. Derrida beschÈftigt sich immer wieder mit Themen, die von jener »Metaphysik der PrÈsenz« (Logozentrismus, Ontologie, Theologie, Teleologie usw.) scheinbar vergessen, marginalisiert, hinausgeworfen wurden. Zwar klammert er einen Teil dieser Metaphysik aus seinen LektÝren weitgehend aus, nÈmlich SpÈtantike, %Mittelalter, Renaissance und Humanismus (%A Renaissance – Humanismus); doch vermag er ein scharf umrissenes und Èußerst detailliert belegtes Modell zu liefern, das bis auf weiteres einer gewissen Orientierung dienen kann. Das auf den ersten Blick oft Paradoxe seiner in immer neuen Kontexten vorgebrachten und an praktisch allen Gebieten des Wissens und der %Kultur erprobten Thesen hat nicht bloß provokatorische Funktionen. Es soll vor allem eingefahrene SelbstverstÈndlichkeiten aushebeln, ungedachte oder verschwiegene %Aporien erkennbar und gewaltsame Grenzziehungen befragbar machen. Das kann nicht frontal geschehen, sondern nur aus genauer Kenntnis der jeweiligen Strukturen und Texte. Solche TiefenlektÝre nennt Derrida »Dekonstruktion«, und er hÝtet sich, daraus eine Methode zu machen, die bald zu einem Programm erstarrt, zu einer Technik der Regulierung, die keinen Platz mehr frei hielte fÝr Unvorhersehbares, fÝr das ›Ereignis‹. Wie die PrÈsenz immer schon gespalten ist, so prÈsentiert sich auch jeder Text als heterogenes Ergebnis kontrÈrer KrÈfte. Gleichzeitiges Pro und Contra, Auf und Ab, Zickzack. Derrida kondensiert die Oppositionen auf mÚglichst Úkonomische Weise in einzelnen WÚrtern, deren
95
wahre Bedeutung unter allen UmstÈnden ›unentschieden‹ bleibt: ¹criture, diff¹rance, trace, texte, suppl¹ment, don, chÖra usw. ad infinitum. Kurz: Dekonstruktion ein fÝr alle Mal zu definieren, heißt sie zu vernichten. Von hier knÝpfen sich FÈden zu Derridas permanenter Frage nach der Àbersetzung, Àbertragung, translation. Diese gibt es auch innerhalb einer Sprache, sogar innerhalb eines Wortes, aber in jeder Àbersetzung entbrennt ein Kampf zwischen dem Unersetzlichen, Idiomatischen und dem Universalen, Wiederholbaren, zwischen dem Proprium (auch dem Eigennamen) und dem Allgemeinen der Bedeutung. Der restlos Ýbersetzbare Text verschwindet, der restlos unÝbersetzbare stirbt. Das dekonstruktive Motiv der von Anfang an bereits kontaminierten UrsprÝnge macht Derrida vor allem fÝr Ethik, Politik- und Rechtstheorie fruchtbar (Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der AutoritÈt«, 1991). Derrida engagiert sich vielfÈltig wissenschaftlich, politisch und kulturell. Insofern er unermÝdlich nach den Bedingungen der MÚglichkeit fragt, die zugleich Bedingungen der UnmÚglichkeit sind, ist Derrida gleichsam ein rationalistischer Transzendentalphilosoph, der das Transzendente nur streicht, um es, realistischerweise, aufzuschieben. Im Zwischenraum betreibt er subtil und umsichtig eine ebenso intensive wie generelle Kulturkritik, deren Wirkungen noch kaum absehbar sind. G. Bennington / J. Derrida, Jacques Derrida. Ein PortrÈt, Frankfurt/M. 1994 C. Malabou / J. Derrida, La contre all¹e, Paris 1999 H. D. Gondek / B. Waldenfels (Hg.), EinsÈtze des Den kens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frank furt/M. 1997 H. Kimmerle, Derrida zur EinfÝhrung, 5. Aufl. Ham burg 2000 D. Thiel, Àber die Genese philosophischer Texte. Studi en zu Jacques Derrida, Freiburg / MÝnchen 1990 D. T.
´ (1596–1650): Lat. Renatus Descartes, Rene Cartesius, frz. Philosoph und Mathematiker, geboren am 31. 3. in La Haye (Touraine), gestorben am 11. 2. in Stockholm. Descartes wird im Allgemeinen als Vater der modernen Philosophie angesehen. Sein Denken wird von dem Bestreben getragen, der KomplexitÈt der %Wirklichkeit mit Hilfe weniger einfacher %Prinzipien und Regeln Herr zu werden. Um aber diese auf-
96
´ Descartes, Rene
stellen zu kÚnnen, bedarf es eines unumstÚßlichen Fundaments, das die Sicherheit und Richtigkeit garantiert. Wie aber ist diese UnumstÚßlichkeit zu gewinnen angesichts des Trugs der Sinne und der Verworrenheit unserer Gedanken? Descartes bedient sich, um dieses Problem auszurÈumen, des methodischen %Zweifels. Seine Vorgehensweise ist dadurch bestimmt, dass er die ganze %Welt daraufhin befragt, was an ihr bezweifelt werden kann. Es zeigt sich, das nichts dem Zweifel entgeht. Doch bleiben die Meditationen nicht bei einem %Skeptizismus stehen. Vielmehr entdeckt er, dass die Tatsache des Zweifelns ihrerseits nicht wieder bestritten werden kann. Das %Ich, das da zweifelt, ist das unumstÚßliche Fundament, d. h. das %Denken. Mit diesem Gedankengang hat Descartes die Wurzel des neuzeitlichen Philosophierens freigelegt: das sich seiner selbst gewisse Ich mit seinen %Vorstellungen. Die Formel, die sich dafÝr eingebÝrgert hat, ist das bekannte cogito ergo sum (je pense, donc je suis). Nun beginnt der umgekehrte, konstruierende Weg, der die Welt – vom archimedischen Punkt des cogito ausgehend – wieder aufbaut. Verbunden mit diesem Gedanken ist Descartes’ Auseinandersetzung mit der Existenz %Gottes. Die Vorstellung, einer allmÈchtigen, unendlichen und vollkommenen %Substanz kann nicht das Werk des unvollkommenen und begrenzten Menschen sein. Also muss es einen Urheber geben, dessen RealitÈt ebenfalls unendlich ist. Die zweite %Argumentation ergibt sich aus dem Begriff Gottes selbst. Diese eingeborene Idee (%ideae innatae), die das vollkommenste %Wesen meint, kann ohne das PrÈdikat der Existenz nicht gedacht werden, da ja der Vollkommenheit kein Mangel anhaften darf. So ist auch der Bestand der Außenwelt gesichert, weil die GÝte Gottes nicht mit einem Trug Ýber die Dinge zusammen gedacht werden kann. Mit dem Gedanken des sich selbst gewissen Ich und der durch Gott garantierten KÚrperwelt hat Descartes einen %Dualismus geschaffen, den er selbst mit den Begriffen %res cogitans und %res extensa gekennzeichnet hat. Diese wohl folgenschwerste Scheidung im Denken Descartes’ ist der anschaulichste Fall fÝr das noch immer diskutierte Leib-Seele-Problem. FÝr die cartesianische Philosophie ergibt sich die Schwierigkeit, die unausgedehnte denkende Substanz mit der ausgedehnten Substanz in einen
Wirkungszusammenhang zu bringen. Denn der Mensch ist beides: denkendes Ich und in der KÚrperwelt agierender %Leib. Um dieses Problem zu meistern, bedient sich Descartes einer physiologischen Spekulation. Um das Denkende (%Seele) und den KÚrper (Leib) zu einer funktionierenden Einheit zu machen, bedarf es eines Mittlers, der die so verschiedenen Substanzen zusammenschließt. So findet Descartes dasjenige Organ, das genau in der Mitte des menschlichen Gehirns seinen Ort hat: die ZirbeldrÝse. Von ihr gehen die Lebensgeister (esprits animaux) aus, die als feinste KÚrperchen in alle Teile des KÚrpers eindringen kÚnnen, um als Boten die Befehle der Seele weiterzugeben. Umgekehrt melden sie Empfindungen des Leibes zurÝck an die Seele. Descartes denkt die Lebensgeister zwar als kÚrperlich, doch – einer Flamme Èhnlich – nirgends anhaftend, sodass eine Verbindung mit anderen Teilen des Leibes entstehen kÚnnte. Damit ist die Grundlage fÝr ein mechanistisches System gelegt, in dem alles nach den Prinzipien von Druck und Stoß funktioniert. Doch kann die Spannung zwischen strengem Dualismus und ebenso strengem Mechanismus nur durch die EinfÝhrung von beobachtbaren kleinsten KÚrpern gelÚst werden. Der große Vorteil, der sich hier fÝr die Physik bietet, ist der gÈnzliche Verzicht auf Fernwirkungen, da bei diesen ja immer ein Medium zwischen den KÚrpern angenommen werden muss. Descartes reduziert die KomplexitÈt der Welt auf die Seele, die mit ihren eingeborenen Ideen ausgestattet ist, und die KÚrper, die sich nach den Gesetzen der Mechanik und der Optik richten. Um alles spannt sich Gott als unendliche Substanz. Die Seele als eine der beiden begrenzten Substanzen hat gegenÝber den KÚrpern den Vorzug, unteilbar zu sein. WÈhrend der KÚrper durch seine Ausdehnung (extensio) bestimmt wird, kommt es der Seele zu, Vorstellungen (ideae) zu haben. Bei den unterschiedlichen Arten des Vorstellens (modi cogitandi) hat das Denken insofern den Vorrang, als es die Selbstgewissheit des Ich und den sicheren Bezug zur Außenwelt garantiert. Allerdings unterliegt die Seele dem natÝrlichen Einfluss (influxus physicus) durch die KÚrper; sie selbst wirkt auf den Leib ein. (Diese von Descartes aus der Tradition Ýbernommene Position hat %Leibniz nachhaltig kritisiert.) Von Hause aus sind die Vorstellungen dunkel und
´ Descartes, Rene
verworren. Um aber zur %Wahrheit zu gelangen, die ja nicht bei den unmittelbaren %Evidenzen der eingeborenen Ideen endet, muss eine Methode erfunden werden, die eine klare und deutliche Vorstellung (clara et distincta perceptio) ermÚglicht. Klar bedeutet das dem Geist intuitiv Vorschwebende, deutlich das durchweg in sich Klare und fest Bestimmte. Nach PrÝfung der bereits vorliegenden wissenschaftlichen Verfahren – %Logik, geometrische Analysis und Algebra – entscheidet sich Descartes, aus allen das Brauchbare zu entnehmen und das Mangelhafte zu entfernen. Das Resultat seiner Àberlegung sind vier Vorschriften an die er sich ausnahmslos halten will: 1. Keine Sache darf als wahr anerkannt werden, von der nicht evident erkannt werden kann, dass sie wahr ist. Deshalb sind Àbereilung und Vorurteile zu vermeiden. 2. Jedes Problem ist in so viele Teile zu zerlegen, wie es nÚtig ist, um es leichter lÚsen zu kÚnnen. 3. Die rechte Ordnung ist so einzuhalten, dass bei den einfachsten Dingen begonnen wird, um dann stufenweise zur %Erkenntnis der zusammengesetzten aufzusteigen. 4. Es mÝssen vollstÈndige AufzÈhlungen und allgemeine Àbersichten aufgestellt werden, damit nichts vergessen wird. Diese Hauptregeln der %Methode sind von Descartes zuvor noch nÈher auseinandergelegt worden. Sie kÚnnen daher als eine Art von Kondensat der 21 Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft (Regulae ad directionem ingenii) angesehen werden, die in gewisser Weise noch von der Aufspaltung der wissenschaftlichen Verfahren geprÈgt ist, obwohl es Descartes immer um die Einheit der %Wissenschaft geht. Die bÝndige Abhandlung Ýber die Methode (Discours de la m¹thode) schreitet von den Hauptregeln Ýber moralische Regeln und die Fundamente der %Metaphysik fort zu den naturphilosophischen Fragen. Das bedeutet den Àbergang von den Denkanleitungen fÝr die res cogitans zu den Prinzipien der res extensa. Descartes’ Anliegen der vollkommenen methodischen GrÝndlichkeit steht dabei in Opposition zu den von ihm bekÈmpften Systemen der %Scholastik. Suchten diese durch ein kompliziertes Geflecht von Gesetzen ein einfaches Weltbild zu garantieren, geht es jetzt darum, mit mÚglichst wenige Regeln einer großen Mannigfaltigkeit von Dingen zu begegnen. Es ist der Beginn einer DenkÚkonomie, auf der die Wissenschaft im moder-
97
nen Sinn fußen konnte. Verbunden damit ist die Tendenz zur Mathematisierung der Philosophie, da die rationalen ZahlenverhÈltnisse und geometrischen Figuren beispielhaft fÝr den effektiven Umgang mit philosophischen Begriffen und Problemen stehen. Zum anderen erhÈlt Descartes’ konsequenter Mechanismus dadurch seine Schlagkraft, dass er fÝr jede Bewegung und Gegenbewegung eine gesicherte Regel angeben kann (zur mangelhaften Beachtung des Problems der Beschleunigung vgl. Leibniz). Die Folgerungen aus der strikten Trennung von denkender und ausgedehnter Substanz lassen auch gewissen HÈrten zu. So muss Descartes die Tiere – bei denen ja keine Seele zu beobachten ist – in den Bereich der res extensa verweisen, was dazu fÝhrt, dass etwa der Hund nichts weiter als eine Bellmaschine ist. Sein Verhalten – so wie auch das Wachsen und Schwinden der Pflanzen – kann einfach durch die beiden einzigen Bestimmungen der ausgedehnten Substanz erklÈrt werden: Gestalt und Bewegung. Doch die ganze Natur kann nun unterschiedslos nach diesen Bestimmungen erklÈrt werden, ohne noch auf die vielen Elemente, Substanzen, Formen, QualitÈten und QuantitÈten der Scholastik RÝcksicht nehmen zu mÝssen. Die ganze neue Physik hat es nur mit KÚrperchen (Korpuskeln) zu tun, die in ihrer Gestalt und Bewegung berechenbar sind. Mit der Berechenbarkeit geht aber auch ihre Beherrschbarkeit einher, denn das, von dem man weiß, wie es funktioniert, kann man auch herstellen. Der %Mensch wird zum »Meister und Besitzer« (maÒtre et possesseur) der wirklichen Welt. Von diesem Konstruktionsgedanken ausgehend, entsteht die Grundlage einer wissenschaftlich abgesicherten %Technik, die sich von aller metaphysischen Spekulation der Antike und des Mittelalters emanzipiert hat. Aber auch Descartes muss Ýber den Bereich des Beobachtbaren hinausgehen. Um seine Welt aus Korpuskeln zu erklÈren, muss er sich das All als hydrodynamisches Kontinuum denken, d. h. als %Materie, die in ununterbrochenem Wirbelfluss begriffen ist. Descartes sieht die Sonne als Mittelpunkt des Universums an, um die sich alles umso schneller dreht, je nÈher es ihr ist. In dieser Theorie ist schon die Planetenentstehung vorweggedacht, wie sie spÈter von %Kant formuliert werden sollte. Allerdings hÈlt sich die Materie fÝr Descartes nicht von selbst in Bewegung, sondern
98
´ Descartes, Rene
ist auf Gott angewiesen. Er hat die Materie nicht nur geschaffen, sondern hÈlt auch ihre Grundbestimmungen, Gestalt und Bewegung, stÈndig konstant. Was man heute als die ErhaltungssÈtze der Physik bezeichnet, hat Descartes theologisch begrÝndet. Die %Vollkommenheit der in sich kreisenden Natur ist ohne eine Ýberlegene Intelligenz, die zugleich erste Bewegungsursache wie auch gÚttlicher Mechaniker ist, nicht vorstellbar. So zeigt sich, dass die unendlich Substanz Garant fÝr beide endlichen Substanzen ist: FÝr die res cogitans steht Gott fÝr die wahre RealitÈt der Außenwelt und die EinprÈgung der evidenten eingeborenen Ideen, fÝr die res extensa bedeutet er Ordnung und StabilitÈt in den BewegungsverhÈltnissen der korpuskular gestalteten Materie. Der extreme Zweifel, der Descartes sogar die Annahme einer bÚsen Intelligenz (genius malignus) hatte machen lassen, die den Denkenden Ýber alles betrÝgen kann, mÝndet so in die Èußerste %Gewissheit (certitudo), dass alles klar und deutlich Erkannte auch tatsÈchlich wahr ist. Doch ist hier schon der PrioritÈtenwechsel zu erkennen, der die Philosophie der %Neuzeit (A) kennzeichnet. Nicht die sich unverfÈlscht darbietende Wahrheit der Dinge steht im Vordergrund, sondern das sich selbst absichernde Denken mit seinem unerschÝtterlich gewordenen Methodenbewusstsein. Das Ideal, das von hier ausgeht, lÈsst sich mit dem Dreischritt ›archimedischer Punkt, komplettes Regelwerk, vollstÈndige Erkenntnis‹ beschreiben. Dass sich die vollstÈndige Erkenntnis nicht auf die ausgedehnte Natur beschrÈnken kann, ist offenbar, da die res cogitans außer den klaren und deutlichen Vorstellungen auch den Leidenschaften (passions) geÚffnet ist. GemÈß seinem mechanistischen ErklÈrungsprinzip muss Descartes also gewissermaßen eine Physik der Seele annehmen, die es ihm erlaubt, aus gewissen GesetzmÈßigkeiten von EindrÝcken das Entstehen der Leidenschaften zu ersinnen. ZunÈchst kann er sich bei dieser Aufgabe auf seine Annahme der Lebensgeister stÝtzen. Die Mittler stehen durch ihre Èußerste Feinheit zwischen dem Hirn und den grÚberen Teilen des KÚrpers. In schroffer Ablehnung gegen die Lehrmeinungen der Tradition teilt Descartes die Gedanken allein der Seele, alle WÈrme und alle Bewegungen, die nicht von Gedanken abhÈngen, dem KÚrper zu. Damit rÈumt er die Irrlehre aus, die Abwesenheit der Seele sei die Ursache fÝr die Bewegungslosigkeit und KÈlte toter KÚrper.
In Wahrheit aber entflieht die Seele, wenn man stirbt, weil die WÈrme entschwindet und die Organe, die dem KÚrper die Bewegung ermÚglichen, sich auflÚsen. Damit hat Descartes dem KÚrper (des Menschen) eine neue Bewertung gegeben, die ihn nicht mehr zum bloßen AnhÈngsel der alles fÝhrenden Seele macht. Vielmehr wird der KÚrper jetzt als Automat gedacht, d. h. als eine Maschine, die sich aus sich selbst bewegt. Jedoch muss Descartes eingestehen, dass er Ýber die Anatomie des KÚrpers nicht hinaus gelangt, weil ihm weder bekannt ist, in welcher Weise die Lebensgeister zur Bewegung beitragen, noch worin das kÚrperliche Prinzip besteht, durch das sie wirksam sind. Es bleibt bei der Konstatierung, dass das Herz eine bestÈndige WÈrme enthÈlt, die wie ein Feuer gedacht wird, das vom Blut der Venen unterhalten wird. Dieses Feuer aber ist das kÚrperliche Prinzip aller Bewegungen der Glieder. Die Lebensgeister dringen bis in alle Muskeln und bewirken deren Kontraktion bzw. Streckung; außerdem bewirkt die ungleiche Bewegung und die Verschiedenheit ihrer Bestandteile, dass sich die Lebensgeister ungleichmÈßig verteilen und so einige Muskeln eher erreichen als andere, was ebenfalls deren Spiel in Gang bringt. Die Seele nun hat Gedanken, die entweder TÈtigkeiten (actions) oder Leiden (passions) sind. Die aktiven VollzÝge werden von Descartes als Willensakte (volontez) bestimmt, die direkt der Seele entstammen, die passiven sind entweder %Wahrnehmungen (perceptions) oder Kenntnisse (conoissances), die die Seele von den vorgestellten Dingen empfÈngt. Der %Wille kann entweder auf Gott und die anderen immateriellen GegenstÈnde gerichtet sein oder aber auf den KÚrper mit seinen Bewegungen. hnlich verhÈlt es sich mit den Wahrnehmungen, die sich sowohl auf die Willensakte und Vorstellungen der Seele beziehen kÚnnen, wie auch – durch NerventÈtigkeit – auf den KÚrper. Die Leidenschaften der Seele sind solche Gedanken, die ihr in besonderer Weise zugehÚren, wobei die Lebensgeister als Ursache, UnterstÝtzung und VerstÈrkung agieren. Diese Gedanken kÚnnen am besten als Emotionen (¹motions) bezeichnet werden, da sie, empfindungshaft wie die Èußeren GegenstÈnde aufgenommen, die Seele stÈrker als alle anderen aufwÝhlen; d. h. dass sich die so verstandenen Leidenschaften zwischen den Empfindungen des ußeren und des KÚrpers einerseits und dem Willen andererseits befinden. Mit den Ers-
Dewey, John
teren haben sie den Erleidnischarakter gemein, mit Letzterem den Bezug auf die Seele selbst. Descartes kann die Leidenschaften also mechanisch erklÈren: Die Wahrnehmung eines Dinges gelangt von den Sinnesorganen Ýber die Lebensgeister zum Hirn, in dessen Zentrum sie auf die ZirbeldrÝse konzentriert wird, welche unmittelbar auf die Seele einwirkt. Dort wird das Wahrgenommene erkannt, und entsprechend seiner Eigenschaften lÚst es die Leidenschaften aus. Ist es etwa schrecklich, was aus vorangegangenen Erfahrungen mit hnlichem abgeleitet wird, entsteht die Leidenschaft ›Furcht‹. Diese zieht, je nach Verfassung des KÚrpers und je nach Kraft der Seele bzw. nach der frÝheren Art des Umgangs mit dem Schrecklichen, KÝhnheit oder Schrecken nach sich. Aus dieser Erregung der Seele folgt auf umgekehrtem Wege die Bewegung der Glieder. Der Wille kann Herr Ýber die Leidenschaften werden, wenn er genau die Vorstellungen erzeugt, die mit den ihnen zugehÚrigen Leidenschaften verbunden sind. E. Cassirer, Descartes: Lehre, PersÚnlichkeit, Wirkung, Nachdruck Hildesheim 1978 L. GÈbe, Descartes’ Selbstkritik, Hamburg 1972 W. RÚd, Descartes: Die Genese des cartesianischen Ra tionalismus, MÝnchen 1982 H. Rombach, Substanz, System, Strukturen, 2 Bde., Freiburg / MÝnchen 1965 A. P.
Dewey, John (1859–1952): Amerikanischer Philosoph, geboren am 20. 10. in Burlington/Vermont, gestorben am 1. 6. in New York City, gilt neben %Peirce und %James als dritter Hauptvertreter des %Pragmatismus. Er teilt, vor allem was seine Reputation außerhalb der USA anbelangt, das Schicksal seines Lehrers und Freundes James. Obwohl Dewey unbestritten zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jhs. zÈhlt – fÝr Rorty steht er in einer Reihe neben %Heidegger und %Wittgenstein –, ist er in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt. Der Soziologe Hans Jonas spricht sogar von einer »anhaltenden Ignoranz« seiner Philosophie gegenÝber und beklagt, dass kein Denker von Deweys intellektueller GrÚße in Deutschland kontinuierlich so stiefmÝtterlich behandelt worden sei wie er. TatsÈchlich beschrÈnkte sich die deutschsprachige Rezeption bis vor kurzem beinahe aus-
99
schließlich auf seine pÈdagogischen Schriften. Die Diskussion der jÝngsten Zeit, vor allem aber das Erscheinen einiger lÈngst fÈlliger Àbersetzungen lassen hoffen, dass das in Deutschland neu erwachte Interesse am Pragmatismus – Èhnlich wie bei James – auch zu einer verstÈrkten BeschÈftigung mit der Philosophie John Deweys fÝhren wird. Deweys philosophisches Werk ist sehr umfangreich; die seit 1969 erscheinende englische Gesamtausgabe umfasst mittlerweile 37 BÈnde. Seine in Deutschland bis heute einflussreichste Schrift ist Democracy and Education (1916; dt.: Demokratie und Erziehung), in der er seine Auffassung der Philosophie als einer allgemeinen Erziehungstheorie darlegt. Es folgen einige stÈrker philosophisch orientierte Arbeiten, in denen Dewey seine Variante des Pragmatismus, den so genannten Instrumentalismus, ausarbeitet; die wichtigsten sind: Reconstruction in Philosophy (1920; dt.: Die Erneuerung der Philosophie), Experience and Nature (1925; dt.: Erfahrung und Natur) und The Quest for Certainty (1929; dt.: Die Suche nach Gewißheit). Die Vorlesungsreihe Art as Experience (1934; dt.: Kunst als Erfahrung) appliziert die pragmatistische Denkweise auf ein scheinbar gÈnzlich ›unpragmatisches‹ Gebiet, die sthetik. In Logic: The Theory of Inquiry (1938; dt.: Logik. Theorie der Forschung) fasst Dewey seine Vorstellungen von der Logik des Erkenntnis- und Forschungsprozesses zusammen. Am Anfang der philosophischen Entwicklung Deweys stehen drei EinflÝsse: Er beginnt seine Karriere als Vertreter des amerikanischen NeuHegelianismus, lÚst sich von dieser Position aber unter dem Einfluss der Evolutionstheorie von Charles Darwin und der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie von James. Gleichwohl bleibt der Einfluss %Hegels erhalten, so etwa in Deweys Konzeption der %Wirklichkeit als eines organischen Beziehungsgeflechts. Von Darwin bzw. James stammt dagegen die Auffassung, dass sich diese Wirklichkeit in einem fortwÈhrenden Prozess des Werdens befindet. Vor allem das Konzept einer stÈndigen Weiterentwicklung des Individuums auf der Grundlage der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt fÝhrt Dewey zu einer Philosophie der Erziehung, die einen radikalen Bruch mit den seinerzeit gÈngigen Lehrmeinungen darstellt. Deweys philosophische Position lÈsst sich in
100
Dewey, John
gewissem Sinn als Synthese der pragmatistischen AnsÈtze von Peirce und James verstehen, insofern als Dewey sowohl die wissenschaftstheoretischen und forschungslogischen Motive von Peirce als auch die von James akzentuierten Fragen der Moral und des Glaubens aufnimmt und in sein Konzept des Instrumentalismus integriert. Die Verbindung dieser beiden unterschiedlichen Aspekte kann jedoch auch als Reaktion auf eine Reihe wissenschaftlicher Revolutionen angesehen werden, deren Zeuge Dewey wÈhrend seines langen Lebens wurde. Geboren im Jahr der VerÚffentlichung von Darwins Entstehung der Arten, erlebte Dewey sowohl das Aufkommen der Evolutionstheorie als auch der einsteinschen RelativitÈtstheorie sowie schließlich die ZÝndung der ersten Atombombe und die AnfÈnge des kalten Krieges. Alle diese UmwÈlzungen hatten ihren Ursprung in wissenschaftlichen Entdeckungen; ihre nachhaltigsten Wirkungen entfalteten sie jedoch in den Bereichen des sozialen Lebens und der moralischen Àberzeugungen. Vor diesem Hintergrund wird Deweys lebenslanges Interesse am VerhÈltnis von Wissenschaft und menschlichen Werten verstÈndlich, das trotz mancher Wandlungen in seinen philosophischen Anschauungen sein gesamtes Werk bestimmt. Deweys Auffassung, dass die oberste Aufgabe der Philosophie in der ÀberbrÝckung der Kluft zwischen (Natur-)Wissenschaft und Moral, zwischen wissenschaftlicher Forschung und alltÈglichem Leben bestehe, bildet auch den Ausgangspunkt seiner Philosophie des Instrumentalismus. Bereits James hatte %Vorstellungen, %Begriffe und %Theorien als ›Instrumente‹ aufgefasst, deren Wert und Nutzen nach ihrer FÈhigkeit zu beurteilen war, den Menschen ›weiter zu bringen‹ und zukÝnftige Ergebnisse und Konsequenzen herbeizufÝhren. Deweys Instrumentalismus sollte eine genauere Beschreibung derjenigen Bedingungen liefern, unter denen %Denken und Forschen in dieser instrumentellen Weise funktionieren. GrundsÈtzlich gilt, dass Denkprozesse, Untersuchungen, Forschung niemals anhand von einzelnen, isolierten Objekten stattfinden, sondern in der tatsÈchlichen %Erfahrung immer in ein kontextuelles Ganzes, eine »Situation«, wie Dewey sagt, eingebettet sind. Zu dieser Situation zÈhlen nicht zuletzt die Handelnden dieses Prozesses, die Menschen also,
die eine bestimmte Situation wahrnehmen und aufgrund von Ungewissheiten oder Zweifeln Ýberhaupt erst die Notwendigkeit einer intellektuellen Anstrengung erkennen. Im Gegensatz zur traditionellen %Logik, die die individuellen Interessen und BedÝrfnisse ausgeblendet und eine Art objektiven und zeitlosen Wissens angestrebt haben, bezieht Deweys Logik – darin Peirce folgend – die menschliche Komponente bei der Bildung von Àberzeugungen und Wissen mit ein. Als notwendigen Ausgangspunkt eines Denkoder Untersuchungsprozesses bestimmt Dewey deshalb eine Situation, die in Bezug auf zukÝnftige Entwicklungen ungewiss, zweifelhaft und in pragmatischem Sinn ›offen‹ ist. PersÚnliche ZustÈnde des Zweifels, die nicht in einer solchen existenziell relevanten Situation grÝnden, mÝssen dagegen als pathologisch angesehen werden. Die erste Stufe der Untersuchung besteht zunÈchst in der Erkenntnis, dass ein Problem vorliegt, das der LÚsung bedarf. Die genaue Identifizierung und Formulierung des Problems bestimmt die Art der weiteren Untersuchung, selektiert also z. B. die Informationen oder Daten, die als relevant fÝr die Untersuchung zugelassen werden. Der zweite Schritt besteht dann in der Bildung von Hypothesen, also von Aussagen Ýber mÚgliche relevante LÚsungen des Problems. Diese Hypothesen werden in einem dritten Schritt ÝberprÝft und schließlich – in einem vierten Schritt – einer Art experimentellem Test unterzogen. Kriterium fÝr den Erfolg eines Untersuchungsprozesses ist, ob die gegebene Antwort tatsÈchlich eine LÚsung des Problems darstellt, d. h. ob durch sie die ›zweifelhafte‹ Ausgangssituation beseitigt wurde. Die Logik von %Zweifel und %Gewissheit, die Einbeziehung von unterschiedlichen konkreten Kontexten, durch die objektive und allgemein gÝltige Antworten unmÚglich gemacht werden – all dies fÝhrt auch Dewey auf das Problem einer pragmatistischen (oder eben instrumentalistischen) Wahrheitstheorie. Im Unterschied zu James hat Dewey jedoch erkannt, dass die pragmatistische Sicht weniger dazu angetan ist, eine neue Theorie der %Wahrheit aufzustellen, als vielmehr den Begriff der Wahrheit als solchen in seiner Relevanz einzuschrÈnken und anderen, wichtigeren Begriffen unterzuordnen. Dewey vermeidet deshalb weitgehend den Be-
Dilthey, Wilhelm
griff Wahrheit und fÝhrt stattdessen das Konzept einer »gesicherten Behauptung« (warranted assertion) ein. Das Ergebnis eines Denkprozesses, sei es im alltÈglichen Leben oder in der wissenschaftlichen Forschung, kann demnach immer nur ein Garantieurteil sein, auf das man sich nur so lange verlassen kann, bis neue Erfahrungen und Àberlegungen andere Ergebnisse hervorbringen. Dagegen ist die Frage, ob etwas objektiv und fÝr immer wahr bzw. falsch ist, aus instrumentalistischer Sicht weder beantwortbar noch relevant; es gibt lediglich unterschiedliche Grade des Gesichertseins. In gewissem Sinn stellt Deweys Werk die Quintessenz des amerikanischen Pragmatismus dar, auch wenn er selbst eine andere Bezeichnung fÝr seine Philosophie vorzog. In jedem Fall ist es, was die aktuelle philosophische Debatte angeht, nicht immer leicht, im Einzelnen zu unterscheiden, welche der zahlreichen pragmatistischen Motive auf eine allgemeine Renaissance dieser Richtung und welche im besonderen auf Dewey zurÝckzufÝhren sind. WÈhrend die allenthalben festzustellende Ablehnung traditioneller philosophischer Dualismen und die Hinwendung zu einem holistischen Weltbild sich sowohl bei Dewey als auch (wenngleich weniger ausgearbeitet) bei James finden, scheint beispielsweise die ›Degradierung‹ – nicht die Ersetzung – des Begriffs der Wahrheit allein eine Konsequenz des Instrumentalismus zu sein. Wenn demnach Richard Rortys Bezeichnung »Neu-Pragmatisten« tatsÈchlich auf Autoren wie %Quine, %Goodman oder Davidson zutreffen sollte, dann ist dies sicherlich eher auf den Einfluss Deweys als auf den von Peirce oder James zurÝckzufÝhren. J. Dewey, Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989 : Erfahrung und Natur, Frankfurt/M. 1995 : Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des VerhÈltnisses von Erkenntnis und Handeln, Frank furt/M. 1998 M. Suhr, John Dewey zur EinfÝhrung, Hamburg 1994 A. S.
Dilthey, Wilhelm (1833–1911): Dass man zwei Arten von Wissenschaften – die Natur- und die Geisteswissenschaften – unterscheiden kann, gilt heute allgemein als selbstverstÈndlich. Auch der methodische Dualismus von ErklÈren und
101
%Verstehen ist durchaus gelÈufig: dass wir fÝr alle Naturerscheinungen %ErklÈrungen suchen, bei allem Psychischen aber, allem Geschichtlichen, Gesellschaftlichen und bei allen Ausformungen der %Kultur auf ein Verstehen dringen. Schließlich ist, vermittelt durch %Heidegger und seine SchÝler, insbesondere durch %Gadamer, die %Hermeneutik – als Theorie des Verstehens im Allgemeinen und der Auslegung als methodischem Verstehen von Texten im Besonderen – zu einem der Leitgedanken der Philosophie des 20. Jhs. geworden. Der geistesgeschichtliche Urheber all dieser Begriffsbestimmungen ist dagegen in der ³ffentlichkeit zumeist unbekannt geblieben. Wilhelm Dilthey wurde am 19. November 1833 in Biebrich bei Wiesbaden als Sohn eines nassauischen Hofpredigers geboren. Er studierte Theologie und Philosophie an der Berliner UniversitÈt, damals eine Hochburg des geschichtlichen Denkens. Hier hatte Niebuhr die historisch-kritische %Methode entwickelt, was ein Meilenstein zur Konstituierung der Historie als Geschichtswissenschaft war; und hier hatte Savigny gelehrt, dass das %Recht nicht das Erzeugnis einer zeitlosen %Vernunft ist, sondern dem Wandel der geschichtlichen KrÈfte eines Volkes unterworfen bleibt; und letztlich war hier immer noch das universalgeschichtliche Philosophieren des deutschen %Idealismus (%Fichte, %Hegel, der spÈte %Schelling) in lebendiger Erinnerung; Dilthey erlebte noch Jacob Grimm, Mommsen und vor allem Ranke. Unter diesem allgemeinen Einfluss bildete sich bei ihm allmÈhlich der Gedanke, dass fÝr alle Bereiche geistiger Erscheinungen ein Verfahren verfehlt sein mÝsse, das deren gegenwÈrtig gÝltige Formen als durch geographische, Úkonomische, nationale und kulturelle UmstÈnde bedingte Variationen konstanter Grundformen (der Staat Ýberhaupt, die Religion Ýberhaupt, die Kunst Ýberhaupt usw.) ansieht, um sich dann gezwungen zu sehen, diese wegen ihrer vermeintlichen Konstanz – wenigstens hypothetisch – auf NaturkrÈfte zurÝckzufÝhren. Statt solcher Konstruktionen empfiehlt sich nach Dilthey, vorurteilslos das ganze feine Gewebe der in einer geschichtlichen Epoche bestehenden Beziehungen zwischen den geistigen Erscheinungen aufzuspÝren, um so eine sichere Erfahrungsbasis zu gewinnen, die Entstehung und Wandel einer bestimmten Erscheinungsform
102
Dilthey, Wilhelm
zu verfolgen und so ihre geschichtliche Einmaligkeit zu entdecken erlaubt. Die Erkenntnis des tatsÈchlichen Wirkungszusammenhangs einer Epoche ermÚglicht dann wiederum ein VerstÈndnis der Besonderheiten eines Autors und seiner Werke. Die AusfÝhrungen dieses Konzepts haben dafÝr gesorgt, dass der Name Diltheys sich fest mit dem Begriff ›Geistesgeschichte‹ verbunden hat. BerÝhmte Beispiele sind das Leben Schleiermachers und die Jugendgeschichte Hegels sowie die biographisch-literarischen Darstellungen Ýber Goethe und Novalis, vor allem in ihrer Ýberarbeiteten Form in der SpÈtschrift Das Erlebnis und die Dichtung, aber auch die zahllosen LÈngsschnittuntersuchungen zu systematischen Problemen wie z. B. Die Entstehung der Hermeneutik, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt und Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. Einen zweiten Anstoß fÝr seine philosophische Entwicklung hat Dilthey erst außerhalb Berlins erfahren. Ab 1865 erhielt er Rufe nach Basel, Kiel und Breslau; 1882 wurde er nach Berlin zurÝckberufen. In dieser Zeit lernte Dilthey die verschiedenen Forschungsrichtungen der modernen Psychologie kennen. Die Entdeckung der sinnesphysiologischen Psychologie, dass selbst Empfindungen nicht bloß passiv die realen QualitÈten abbilden, sondern nicht ohne die Mitwirkung des Erkenntnissubjekts zustande kommen, wurde bestimmend fÝr seine ›idealistische‹ Auffassung von der EigenstÈndigkeit des psychischen Lebens (%Bewusstsein, geistiges Leben) im Aufbau jeder %Erkenntnis. Dementsprechend sollte die Psychologie die Funktion einer Grundwissenschaft fÝr den Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis Ýbernehmen. 1883 erschien der erste und einzige Band seines historisch-systematischen Hauptwerks Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung fÝr das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Er enthielt die ersten beiden BÝcher des auf fÝnf BÝcher angelegten Werkes. Das erste, einleitende Buch zeigt zunÈchst, dass es auch fÝr die Geisteswissenschaften einen universalen Wirklichkeitsbereich gibt. Dieser entsteht durch die Interaktionen psychophysischer Einheiten. Sofern diese Lebenseinheiten gemÈß ihrer internen Beziehung des Psychischen auf ihr Physisches bereits
einen Zusammenhang darstellen, sind sie Ganzheiten; als solche bezeichnen wir sie als Personen. Ihre ursprÝngliche Ganzheit begrÝndet, dass %Personen nie in dem aufgehen, was sich durch ihre Interaktionen aufbaut. Sie lassen sich in ihrer Konstitution nicht nach den verschiedenen %Systemen des gesellschaftlichen Lebens bzw. nach den in diesen Systemen erforderlichen FÈhigkeiten aufteilen, sie sind im strengen Sinne Individuen. Die individuellen Personen dÝrfen daher nie betrachtet werden als gleich bleibende Bestandteile (letzte Elemente), aus denen sich alle LebenszusammenhÈnge durchsichtig zusammensetzen ließen. Personen sind immer nur Glieder der WirkungszusammenhÈnge des %Lebens; und als %Individuen kÚnnen sie den einzelnen WirkungszusammenhÈngen wie Recht, %Staat und sozialen Gemeinschaften sowie der Kultur nie endgÝltig unterworfen werden. Im Gegenteil, gerade als Individuen kÚnnen sie diesen ZusammenhÈngen stets Neues hinzufÝgen, sodass deren Weiterentwicklung nie wirklich abbrechen kann. Der universellste Wirkungszusammenhang des Lebens ist die Menschheit; in der Querschnittsbetrachtung wird diese als %Gesellschaft (Kultur, Staat und soziales Leben), in LÈngsschnittuntersuchungen als %Geschichte bezeichnet. Das zweite Buch zeigt die Entstehung und Herrschaft der %Metaphysik in der Antike und im %Mittelalter sowie ihren Verfall in der Moderne. Die Verfallsgeschichte sollte die UnmÚglichkeit einsichtig machen, die einzelnen Geisteswissenschaften noch einmal auf Metaphysik, d. h. letzte Wesenserkenntnisse, grÝnden zu kÚnnen. Die nicht erschienenen BÝcher 3 bis 5 sollten schließlich die erkenntnistheoretisch-psychologische, die logische (kategoriale) und die methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften behandeln. An diesen systematischen BÝchern hat Dilthey unaufhÚrlich bis zu seinem Tode (1.10.1911) gearbeitet. Die immer weiter zunehmenden Verzweigungen dieses systematischen Programms ließen einen Abschluss der Arbeiten nicht mehr zu. Nur zweimal noch hat Dilthey einen Einblick in die Ausarbeitung dieses Programms gegeben: in der einflussreichen Abhandlung Ideen Ýber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) und in der nicht minder bedeutsamen Abhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). Die Dispositionen und Fragmen-
Dilthey, Wilhelm
te zum ›zweiten‹ Band sind schließlich erst vor einigen Jahren aus dem Nachlass verÚffentlicht worden (Bd.19 der Gesammelten Schriften). Diltheys Ausgangsproblem war die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Status derjenigen Erfahrungswissenschaften, die sich zunÈchst einmal durch ihre Themen von den klassischen Naturwissenschaften unterschieden: Psychologie, Historie, Rechtswissenschaft, Staatswissenschaften, Sozialwissenschaften, Literaturund Sprachwissenschaften. Der %Positivismus hatte aber die mathematische Naturwissenschaft zum Maßstab der Wissenschaftlichkeit einer jeden Disziplin erhoben. Damit wurde der thematische Unterschied der Disziplinen als vordergrÝndig zurÝckgewiesen und ihre Wissenschaftlichkeit allein von der BefÈhigung zu mechanisch-kausaler ErklÈrung abhÈngig gemacht. Dementsprechend hatte Comte beispielsweise die Soziologie als soziale Physik verstehen wollen; die seit 1850 erhobenen Forderungen, die Psychologie und Historie endlich als Naturwissenschaften zu behandeln, waren Èhnlich gemeint. Mit diesem Methodenmonismus unterstellte der Positivismus freilich, dass alle psychischen, kulturellen und sozialen Erscheinungen letztlich auf Naturerscheinungen reduziert werden kÚnnten. Auf diese Tendenz antwortete Dilthey mit der These von der thematischen und methodischen SelbstÈndigkeit der Geisteswissenschaften. FÝr ihn stand fest, dass in der Moderne eine humane Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens nur gelingen kann, wenn sich die hierauf bezogenen Disziplinen zu eigenstÈndigen Wissenschaften auszubilden vermÚgen, und dass dies wiederum nur ungestÚrt geschehen kann, wenn wir unser gesamtes Wissenschaftssystem als ein dualistisches begreifen lernen. Die Bezeichnung ›Geisteswissenschaften‹ fÝr die zweite HÈlfte unseres Wissenschaftssystems war fÝr Dilthey selbst nicht zwingend. Ihm schien nur, dass die Alternativen ›Kulturwissenschaften‹, ›Moralwissenschaften‹ (im Sinne von Verhaltenswissenschaften) ›Gesellschaftswissenschaften‹ und ›Humanwissenschaften‹ (heute vor allem in Amerika die vorherrschende Bezeichnung) alle mit Einseitigkeiten behaftet wÈren, der Titel ›Geisteswissenschaften‹ dagegen den Vorzug hÈtte, wenigstens einen zentralen Tatsachenkreis zu bezeichnen. Denn das, was alle diese Wissenschaften be-
103
stimmt und daher ihr allgemeines Kennzeichen ausmacht, ist die in allen ihren Tatsachen entdeckbare Trias von »Erleben, Ausdruck und Verstehen«. In allen diesen Wissenschaften, ob in der Rechts- oder Literaturwissenschaft, geht es letztlich darum zu verstehen, warum sich Menschen in bestimmten Situationen (Interaktionen) persÚnlich so oder so verhalten kÚnnen. Im Unterschied zur Èußeren %Erfahrung, bei der unser Selbst gewissermaßen ausgeschaltet bleibt, sind wir bei allem personalen Verhalten stets innerlich beteiligt. Wegen dieses lebhaften Interessiertseins bezeichnet Dilthey ein solches Verhalten als Erleben. Dieser Charakter ÝbertrÈgt sich auch auf die im Zuge solchen Verhaltens auftretenden LebensÈußerungen (Mienen, Gesten, sprachliche AusdrÝcke, Gestaltungen und Taten), sodass uns generell kein Ausdruck gÈnzlich fremd oder unverstÈndlich sein kann. NatÝrlich geschieht es dem Einzelnen, dass ihn ein bestimmter Ausdruck aufgrund des gegebenen Horizontes seiner Lebenserfahrung befremdet. Er mÚchte dann wissen, was dieser eigentlich bedeutet. Solches Verstehen wÈre nun nach Dilthey nicht mÚglich, wenn wir – was alle an der Naturwissenschaft orientierten %Erkenntnistheorien fordern – unsere Interessiertheit ausschalten wÝrden und in bloßer Betrachtung des Ausdrucks seine %Bedeutung herausklauben wollten. Vielmehr muss man seine allgemeine menschliche Interessiertheit gerade einschalten; es gilt, das ursprÝngliche Erleben selbsttÈtig nachzubilden. Durch seinen lebendigen Bezug zum Erleben gibt jeder Ausdruck, auch der befremdliche, die Gelegenheit dazu, in ihm das geÈußerte (objektivierte) Erleben wieder nachzuerleben. FÝr den Verstehenden ist dieses Nacherleben aber ein neues Erleben; der Horizont seiner Lebenserfahrung erweitert sich, und darin besteht der eigentliche Erkenntniseffekt. Die einzelnen Geisteswissenschaften kommen mit dieser Grundform des Verstehens – Nachbilden von Erleben – selbstverstÈndlich nicht aus. Sie erhalten ihre Themen ja dadurch, dass es bei fortschreitender Ausdifferenzierung der allgemeinen Lebenserfahrung und einer damit einhergehenden Generalisation der ausdifferenzierten Glieder zur Bildung verschiedener, sich gegenseitig abstoßender Systeme (Recht, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft, Verwandtschaft u. a.) kommt. Dem gemÈß mÝssen die einzelnen
104
Fichte, Johann Gottlieb
Geisteswissenschaften auch hÚhere, artifizielle Formen des Verstehens entwickeln, Formen, die der Logik des thematisierten Systems (z. B. des Normensystems bei der richterlichen Gesetzesauslegung) entsprechen mÝssen. Dilthey hat sich mit der Frage der spezifischen Hermeneutik nicht mehr beschÈftigt. Er war aber der Meinung, dass auch diese komplexeren Formen zuletzt wieder auf die Grundform des Verstehens zurÝckkommen mÝssen. FÝr ihn war es genug, gezeigt zu haben, dass alle geisteswissenschaftlichen Tatsachen einen inneren Bezug von Erleben, Ausdruck und Verstehen aufweisen. Mit diesem Aufweis konnte als gegeben gelten, dass der Objekts- und Wirklichkeitscharakter des Ausdrucks ein ganz anderer ist als der des Dinges in der Natur. Und hierauf konnte er wiederum seine Forderung nach einer genuinen geisteswissenschaftlichen Methode grÝnden. Zur BekrÈftigung pflegte er sich gern auf das Wort F. %Bacons zu berufen: Natura parendo vincitur. Die Natur wird nur dadurch besiegt, dass man ihr gehorcht, d. h. nach Dilthey, dass sich unser Erkennen der Eigenart ihrer Objekte anschmiegt. Diesen Satz hat Dilthey sinngemÈß verallgemeinert: Wenn die Natur der Objekte, wie das bei denen der allgemeinen Lebenserfahrung der Fall ist, eine andere ist als die, auf welche die Naturerfahrung stÚßt, dann bedarf es fÝr sie auch einer anderen Methode als in der Naturwissenschaft, um sich ihrer begrifflich bemÈchtigen zu kÚnnen. Diese wissenschaftliche Methode ist die Hermeneutik. F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek 1991 M. Jung, Dilthey zur EinfÝhrung, Hamburg 1996 C. Strube, Diltheys Systemprogramm. Die allgemeine BegrÝndung der Geisteswissenschaften, Frank furt/M. 2003 C. St.
Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814): »Die FranzÚsische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die grÚßten Tendenzen des Zeitalters«, so Friedrich Schlegel 1798 im 216. Fragment des Athenaeum, der ›Programmzeitschrift‹ der FrÝhromantiker. Den Zeitgenossen dÝrfte diese Emphase nicht so ungewÚhnlich geklungen haben: Seit der Verwechslungsgeschichte mit %Kant im Jahre 1792 war
Fichte gleichsam Ýber Nacht berÝhmt geworden und wurde viel gelesen. Die Grundlegung der frÝhromantischen Philosophie und Dichtungstheorie wÈre ohne ihn nicht denkbar. Die Biographie Fichtes ist die eines Aufstiegs: »Ich glaube an eine Vorsehung, und ich merke auf ihre Winke«, so schreibt er an seine Braut. Gerade von der Vorsehung und ihren GlÝcksversprechen will der in Jena spÈter etablierte Philosophieprofessor freilich nichts mehr wissen. Doch kann er sich Ýber ihre FÝgung bis zu diesem Ziel durchaus nicht beklagen. Fichte wurde am 19. Mai 1762 als erstes Kind des Bandwirkers Christian Fichte in Rammenau/ Oberlausitz geboren. Durch einen Pfarrer erhielt er einige Jahre lang Unterweisung, bevor er mit etwa zwÚlf Jahren kurze Zeit die Stadtschule von Meißen und seit Oktober 1774 die FÝrstenschule Schulpforta besuchte und sich damit auf den klassischen Bildungsweg eines Gelehrten im mitteldeutschen Raum begab. 1780 immatrikulierte sich Fichte in Jena als studiosus theologicae, besuchte aber bald – wie so manche GrÚße der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jhs. vor ihm – neben den theologischen sehr interessiert altphilologische, philosophische, aber auch juristische Vorlesungen. 1781 wechselte Fichte an die LandesuniversitÈt Leipzig, wohl in der Hoffnung auf ein Landesstipendium. Der Wegfall einer ihm gewÈhrten UnterstÝtzung ließ ihm die Geldsorgen Ýber den Kopf wachsen und Fichte sah sich gezwungen, sein Studium abzubrechen, um als Hauslehrer ein Auskommen zu finden. Im Jahre 1792 begab er sich nach KÚnigsberg, um Kant zu besuchen. Um sich angemessen empfehlen zu kÚnnen, schrieb er innerhalb sehr kurzer Zeit seinen Versuch einer Kritik aller Offenbarung nieder und schickte das Manuskript mit einem Begleitschreiben an Kant. Die Schrift wurde von Kant zur VerÚffentlichung vorgeschlagen, jedoch, da anonym erschienen, von aller Welt als eine neue Kritik des KÚnigsberger Philosophen begeistert aufgenommen. Erst eine Úffentliche Richtigstellung Kants konnte die Leserschaft davon Ýberzeugen, dass ein bis dahin unbekannter junger Mann der Verfasser sei. Fichte wurde berÝhmt und erhielt bereits zwei Jahre spÈter eine Berufung als Philosophieprofessor nach Jena. Gewissermaßen als Antrittsvorlesung erschien die erste Fassung der Wissen-
Fichte, Johann Gottlieb
schaftslehre mit dem Titel Àber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der so genannten Philosophie. Die zweite Fassung wurde im Herbst desselben Jahres unter dem Titel Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre publiziert. 1799 verließ Fichte Jena infolge des so genannten Atheismusstreites unter recht schmÈhlichen UmstÈnden. Im Jahre 1798 hatte er im Philosophischen Journal einer Abhandlung Forbergs mit dem Titel Entwicklung des Begriffs der Religion einen Aufsatz Àber den Grund unseres Glaubens an die sittliche Weltregierung vorangestellt, in dem %Gott und eine notwendig zu glaubende moralische Weltordnung miteinander identifiziert, ein persÚnlicher Gott also wie auch GlÝckseligkeitsverheißung oder der %Glaube an die Sakramente als AbgÚtterei diskreditiert werden. Die kursÈchsische Regierung verbot daraufhin das Journal und verlangte von der Weimarer Regierung die Bestrafung Fichtes. Einer geplanten formellen Verwarnung griff Fichte mit der Drohung vor, bei BeschrÈnkung seiner LehrtÈtigkeit Jena sofort zu verlassen. Diese Drohung traf die Weimarer Regierung empfindlich. Auch Goethe riet zu hartem Durchgreifen und Fichte wurde entlassen. Er fand Unterschlupf in Berlin, wurde 1805 ins preußische Erlangen berufen, ging 1806 nach KÚnigsberg und hielt in den Jahren 1807 und 1808 im Berliner AkademiegebÈude unter den Augen der franzÚsischen Besatzer die Reden an die Deutsche Nation, einen utopischen Entwurf zu einer »Epoche der Vernunftwissenschaft« und der sozialen Gleichwertigkeit aller Menschen. 1809 wurde er Dekan der philosophischen FakultÈt, 1810 erster gewÈhlter Rektor der von ihm mitbegrÝndeten Berliner UniversitÈt. Am 29. Januar 1814 starb Fichte Ýberraschend an einer Infektionskrankheit. In seinem Hauptwerk, der Wissenschaftslehre, unternimmt Fichte den ehrgeizigen Versuch, die %Strukturen der %RealitÈt auf dem Boden des %Ich bzw. des %Subjekts zu konstituieren. Ein %System, das als Grundlage der RealitÈtskonstitution das Ich wÈhlt, bezeichnet man als subjektiven %Idealismus. Als Ausgangspunkt seiner Àberlegungen wÈhlt Fichte den Satz der %IdentitÈt, welcher lautet A=A. Nach Fichte handelt es sich bei diesem Satz um eine Konditionalaussage, die behauptet »wenn A sei, so sei A«. Mit dem Satz der IdentitÈt wird somit gesagt, dass, wenn ein bestimmter Gegenstand A gegeben sei,
105
er dann gegeben sei. Irgendein A kann jedoch, so fÈhrt Fichte in seinem Argumentationsgang fort, nicht anders als in einem Ich gegeben sein. Nur fÝr ein urteilendes Ich kann ein Gegenstand existieren. Dieses Ich, das als Grundlage aller GegenstÈnde nicht selbst wiederum in etwas anderem gegrÝndet sein kann, ist in sich selbst gegrÝndet. Es hat sein %Sein aus sich selbst. Das Ich setzt sich selbst und ist darum ein %absolutes d. h. vollkommen unabhÈngiges Subjekt. FÝr alles andere dagegen soll gelten: »Alles, was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und außer dem Ich ist nichts.« Ergebnis dieses Sichselbst-Setzens ist die %Kategorie der RealitÈt. Fichte geht es nun aber nicht allein darum zu zeigen, dass alle GegenstÈnde nur in Beziehung auf ein Ich RealitÈt haben. Diese Einsicht findet sich bereits bei dem britischen Empiristen %Berkeley. Sein idealistisches Projekt soll darÝber hinaus darstellen, wie sich sÈmtliche Kategorien der RealitÈt auf systematische Weise aus einem einzigen Grundsatz entwickeln lassen. Fichte nimmt damit Kants Anregung auf, dass »die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis zur Wissenschaft macht«. SÈmtliche Erkenntnisse mÝssen, so Kant, ein System bilden. Fichte wÈhlt als Ausgangspunkt dieses Systems das Ich. Er nimmt an, dass sich das Ich negierend auf sich selbst bezieht. Das Ich setzt sich ein NichtIch entgegen. Ergebnis ist die Kategorie der %Negation. Von der Negation schreitet Fichte weiter zur EinschrÈnkung, der Kategorie der Limitation fort. Man kann sich diesen Vorgang anhand folgender Metapher vergegenwÈrtigen: Das Ich bildet zunÈchst eine alles umschließende TotalsphÈre und beinhaltet alle RealitÈt, etwa so, wie ein Kreis alle von seinem Umfang umschlossenen Punkte umfasst. Durch die einschrÈnkende TÈtigkeit des Nicht-Ich wird die GesamtsphÈre in mehrere TeilsphÈren untergliedert. Mit Hilfe der genannten Begriffe, der Begriffe der RealitÈt, der Negation und der Limitation will Fichte nun auch noch alle weiteren Begriffe entwickeln. ZunÈchst leitet er die Begriffe Handeln und Leiden, und aus diesen die Kategorien der %KausalitÈt und der Wechselbestimmtheit ab. Fichte nimmt an, im Ich sei absolute TotalitÈt an RealitÈt gesetzt (das Ich ist voll mit RealitÈt, so etwa wie ein Krug voll mit Wasser ist). Im Nicht-Ich dagegen herrscht TotalitÈt der Ne-
106
Fichte, Johann Gottlieb
gation. Bestimmung des Ich durch das Nicht-Ich heißt nun, dass die TotalitÈt der RealitÈt im Ich aufgehoben wird. Dasselbe Quantum an RealitÈt, das im Ich aufgehoben wird, wird in das NichtIch gesetzt (etwa so, wie Wasser aus einem vollen in einen zweiten, leeren Krug – das NichtIch – gegossen wird). Fichte bezeichnet nun die TotalitÈt von RealitÈt im Ich als TÈtigkeit, die Verringerung des Quantums an RealitÈt dagegen als Leiden. Die Synthese beider, also von TÈtigkeit und Leiden, soll den Begriff der KausalitÈt ergeben. Weil das Ich nicht in ein und derselben Handlung tÈtig und leidend sein kann, wird der Begriff der Wechselbestimmtheit eingefÝhrt. %Substanz und %Akzidenz, die beiden ersten Begriffe der kantischen Relationskategorie, werden wiederum unter RÝckgriff auf das SphÈrenmodell erklÈrt. Als schlechthin gesetztes ist das Ich Substanz, als in eine bestimmte SphÈre gesetztes dagegen Akzidenz. Substanz und Akzidenz sind also in erster Linie Bestimmungen des Ich. Das Ich selbst ist die allen Bestimmungen zugrunde liegende Substanz, Akzidenzien, d. h. bestimmte Eigenschaften, sind Eigenschaften dieser Ich-Substanz, und verdanken sich der Untergliederung dieser Substanz in verschiedene SphÈren. Bildlich gesprochen resultieren also alle Eigenschaften aus der Tatsache, dass eine zuvor unbestimmte TotalitÈt in einzelne Segmente, begrenzte SphÈren untergliedert wird. Jeder dieser SphÈren entspricht eine Eigenschaft. Um die intellektuellen FÈhigkeiten der %Anschauung und der geistigen %Reflexion erklÈren zu kÚnnen, muss Fichte auf ein anderes %Modell zurÝckgreifen. Er wÈhlt hierzu eine Bewegung, welche zwischen zwei Punkten, einem Punkt A und einem Punkt C verlÈuft. »Der Zustand des Ich, insofern seine TÈtigkeit zwischen A und C liegt, ist ein Anschauen.« Dabei ist der Gegenstand der Anschauung, das was angeschaut wird, »notwendig ein Nicht-Ich«, welches nicht anders, als durch das Ich gesetzt vorstellbar ist. Das Ich setzt sich also zuerst einen Gegenstand, um sich dann darauf anschauend zu beziehen. Weil der angeschaute Gegenstand nichts außerhalb des Ich Gelegenes ist, kann Fichte von einer Selbstaffektion sprechen. Dadurch, dass es ein von ihm verschiedenes NichtIch setzt, gewinnt sein Anschauen einen Gegenstand. Reflexion und %Selbstbewusstsein werden in
demselben Modell erklÈrt, welches um die EinfÝhrung zweier Bewegungsrichtungen erweitert wird. Die %Bewegung zwischen den Punkten A und C kann einmal von A nach C erfolgen, ein andermal von C nach A. VerlÈuft die Bewegung von A nach C, so heißt sie »zentrifugal«. StÚßt die Bewegung bei C an und kehrt sie zu A zurÝck, so liegt eine »zentripedale« Bewegungsrichtung vor. Das Ich gelangt nunmehr zu Selbstbewusstsein, weil es auf die in ihm und durch es selbst gesetzten GegenstÈnde reflektierend bezogen ist. Das Ich setzt nicht nur einen Gegenstand, das Nicht-Ich, es erfÈhrt auch noch von dieser Setzung, indem ein Strahl von dort auf das Ich zurÝckfÝhrt. Selbstbewusstsein ist somit Resultat der Reflexion des Ich auf die von ihm selbst gesetzten GegenstÈnde. Die von A nach C fÝhrende zentrifugale Bewegung soll aber nicht nur das PhÈnomen der Anschauung erklÈren. Fichte benutzt sie auch noch, um die Reihe der %Ideale zu erklÈren. Neben dem anschaulichen %Objekt, von dem oben die Rede war, setzt das Ich auch noch ein ideales Objekt. Anders als das anschauliche Objekt liegt dieses jedoch im Unendlichen und entzieht sich somit der Erreichbarkeit. Mit Hilfe dieser Annahme will Fichte die Tatsache erklÈren, dass Ideale nur nÈherungsweise, niemals aber vollstÈndig erreichbar sind. RÝckblickend auf die eben gegebene Darstellung seines Hauptwerkes lÈsst sich zusammenfassend sagen, dass es Fichte darum geht, zunÈchst die kategorialen Strukturen der Wirklichkeit und des Denkens aus dem Satz Ich–Ich abzuleiten. Dem folgt die Ableitung der geistigen FÈhigkeiten der Anschauung und des Selbstbewusstseins zusammen mit den die Wirklichkeit ausmachenden GegenstÈnden. Schließlich leitet Fichte auch noch die zum Bereich des Sollens, d. h. der %Ethik gehÚrenden Ideale ab. Sein System lÈsst somit keinen Platz fÝr etwas, das außerhalb des Ich gelegen wÈre. Funktionen, die vorher Gott zugeschrieben worden sind, wie z. B. die Eigenschaft der RealitÈtsstiftung, werden nun dem Ich zugeschrieben. Nicht Gott, sondern das sich selbst setzende Ich ist der Boden der RealitÈt. Die theologische Folge ist die Umwandlung Gottes in einen Gegenstand der Moral, eine Konsequenz, die allerdings schon bei Kant vorgezeichnet war. Obwohl wie die meisten seiner Zeitgenossen
Frege, Gottlob
ein begeisterter AnhÈnger der franzÚsischen Revolution und BefÝrworter der individuellen %Freiheit, entwickelt Fichte in seiner im Jahre 1800 erschienen Schrift vom Geschlossenen Handelsstaat ein Staatsmodell mit unverkennbar sozialistischer AusprÈgung. So hat sich der Einzelne dem Wissen des %Staates zu fÝgen, wenn es um Fragen der Berufswahl oder von Grund und Boden geht. Gewerbefreiheit, freier Handel sowie eine lÈnderÝbergreifende WÈhrung werden von Fichte verworfen und nur eine LandeswÈhrung zugelassen. Wie schon der Name sagt, handelt es sich bei dem geschlossenen Handelsstaat um ein Úkonomisch vollkommen autarkes Gebilde, das, um sich selbst zu erhalten, auf keine Èußeren Ressourcen zurÝckgreift und das den Einzelnen vollstÈndig in den Dienst des Ganzen stellt. Fichtes Religionsphilosophie setzt die mit Kant eingeleitete Entwicklung der Suche nach einem angemessenen Platz der Person Gottes innerhalb einer aufgeklÈrten Welt fort. War fÝr Kant noch ein Moralpostulat, d. h. eine notwendige Annahme, ohne die kein moralisches Handeln mÚglich ist, erforderlich, so wird auch dieser Gottesbegriff von Fichte preisgegeben und Gott als identisch mit der moralischen Weltordnung erklÈrt. In seiner %Geschichtsphilosophie geht Fichte wie viele seiner Zeitgenossen von einer logischen Aufeinanderfolge der einzelnen Abschnitte der %Geschichte aus. Einzelne historische Epochen folgen nicht planlos und zufÈllig aufeinander. Ihrer Folge liegt eine Art Gesetz oder Plan zugrunde, etwas, das sich auf dem Wege des reinen Denkens ermitteln lÈsst, ohne dass man sich auf die Untersuchung von historischen Einzelheiten und ZusammenhÈngen einlassen mÝsste. Obwohl die Ausstrahlung Fichtes zeitlich eng begrenzt war – die Kants reichte viel weiter und hÈlt bis heute an – so war doch seine Wirkung unter den Zeitgenossen gewaltig. Insbesondere fÝr die beiden Dichterphilosophen Friedrich HÚlderlin und Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, war Fichte eine Art geistiger Vater, der ihr Werk durch seine Philosophie nachhaltig beeinflusste. Nicht nur, dass Fichte selbst in einer der Fassungen von HÚlderlins Hyperion als Erzieher auftritt, auch seine Philosophie, wie er sie in seiner Wissenschaftslehre entwickelt, insbesondere seine Konzeption einer mit dem Ich
107
gleichgesetzten ursprÝnglichen Einheit, die in sich Unterschiede einzeichnet und dadurch den begrifflichen Rahmen der Welt erzeugt, wird von HÚlderlin und Novalis Ýbernommen und sprachphilosophisch umgedeutet. Der negatorische Akt, der die ursprÝngliche Einheit in Vielheit verwandelt, wird von beiden Autoren mit der %Sprache, dem Wort gleichgesetzt. Im Benennen der Dinge geht die Einheit der Welt verloren und verwandelt sich in eine Vielheit des Ausgesagten. Diese Einheit auf hÚherer Stufe zurÝckzugewinnen betrachten beide Dichterphilosophen als Aufgabe der Dichtung und Ziel der Geschichte, die als Geschichte des Ich verstanden wird. Von Fichte inspiriert, sodass anfangs kaum Unterschiede zwischen dem Werk beider Autoren bestehen, sind die frÝhen SystementwÝrfe des jungen %Schelling. Seine nur ein Jahr nach der ErstverÚffentlichung der Wissenschaftslehre erschienene Schrift mit dem Titel Vom Ich als Prinzip der Philosophie ist der Entwurf zu einem Konstitutionssystem, das seinen Ausgangspunkt ebenfalls im Ich nimmt und von dort aus die Strukturen der gesamten Wirklichkeit zu erzeugen versucht. B. Loheide, Fichte und Novalis: Transzendentalphiloso phisches Denken im romantisierenden Diskurs, At lanta 2000 Ch. Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen: Phi losophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800 1806, Stuttgart 1999 G. J. Seidel, Fichte’s »Wissenschaftslehre« of 1794: A Commentary on Part I, West Lafayette 1993 P. Baumanns, Johann Gottlieb Fichte, Freiburg/Br. 1990 M. Oesch (Hg.), Aus der FrÝhzeit des deutschen Idea lismus. Texte zur Wissenschaftslehre Fichtes 1794 1804, WÝrzburg 1987 T. B.
Frege, Gottlob (1848–1925): Geboren am 8. 11. in Wismar, gestorben am 26. 7. in Bad Kleinen. Versetzt man sich in das erste Viertel des 20. Jhs. fÈllt es schwer, Freges Lebenswerk nicht als gescheitert anzusehen. Der zweite Band der Grundlagen der Arithmetik, die von ihm als KrÚnung seiner jahrzehntelangen Forschungen Ýber die Grundlagen der Mathematik angesehen wurde, war gerade fertiggestellt, als am 16. Juni des Jahres 1902 ein heute berÝhmter Brief von Russell eintraf, in dem er Frege die Entdeckung ei-
108
Frege, Gottlob
nes Widerspruchs mitteilte, der sich aus dem im ersten Band der Grundlagen dargestellten System herleiten lÈsst. Dieser heute als russellsche Antinomie bekannte Widerspruch untergrub die PlausibilitÈt des gesamten fregeschen Systems. Freges Versuche, den Fehler zu beheben, blieben erfolglos. In den Jahren vor seinem Tod war Frege persÚnlich wie wissenschaftlich isoliert, seine Forschungen wurden, zumindest in seinem unmittelbaren akademischen Umfeld an der UniversitÈt Jena, weder geschÈtzt noch verstanden und es dauerte mindestens bis zum Ende der fÝnfziger Jahre, bis auch in Deutschland das Interesse an Frege wieder erwachte. Dennoch lÈsst sich ohne Àbertreibung behaupten, dass Frege neben %Wittgenstein und %Heidegger zu den einflussreichsten deutschsprachigen Philosophen gehÚrt. Er Ýbte nicht nur einen bedeutenden Einfluss auf den frÝhen Wittgenstein und auf %Carnap aus (Letzterer war zeitweilig sein SchÝler) und legte die Grundlagen fÝr die formale %Logik in ihrer heutigen Gestalt, sondern fÝhrte auch Techniken des philosophischen Argumentierens ein, die fÝr die analytische Philosophie nach wie vor von fundamentaler Bedeutung sind. Freges Leben, das er grÚßtenteils an der UniversitÈt Jena verbrachte – zuerst als außerordentlicher Professor, dann als ordentlicher Honorarprofessor fÝr Mathematik – verlief wenig ereignisreich. Seine erste philosophisch bedeutende Publikation legte er 1879 vor, einen schmalen Band mit dem Titel Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Dieses Buch nimmt in der Geschichte der Logik eine Èhnliche Sonderstellung ein wie Aristoteles’ Erste Analytik und ließ (einige verstÈndige) Zeitgenossen von Frege als »dem grÚßten Logiker unserer Zeiten« sprechen. Das darin verfolgte Programm wird von Frege selbst in die Tradition der leibnizschen characteristica universalis gesetzt, also einer formalen Kunstsprache, die Inhalte so exakt darzustellen vermag, dass sich Denkfehler in ihr erst gar nicht formulieren lassen. Frege fÝhrte eine (heute nicht mehr verwendete) zweidimensionale Notation ein, die es erlauben soll, mathematische und allgemein wissenschaftliche SchlÝsse »auf sicherste Weise zu prÝfen und jede Voraussetzung, die sich unbemerkt einschleichen will, anzuzeigen«. Die Konzeption des dar-
gestellten Systems unterscheidet sich von der von George Boole einige Jahre zuvor vorgelegten logischen Algebra dahingehend, dass die Begriffsschrift nicht nur zur symbolischen Notation logischer Gesetze, sondern zum exakten Ausdruck eines (nichtlogischen) Inhalts dienen sollte. In der heutigen Rezeption steht allerdings nicht dieser inhaltliche Aspekt im Vordergrund, sondern der von Frege prÈsentierte KalkÝl. Frege fÝhrte als primitive Operatoren die materiale Implikation und die Negation zusammen mit ihrer formalen Interpretation ein (die spÈter von Wittgenstein zu den heute bekannten Wahrheitstafeln weiterentwickelt werden sollte). Einzige Schlussregel auf dieser Ebene ist der modus ponens. Frege zeigte, wie sich mithilfe dieses Materials neue Operatoren und Schlussregeln bestimmen lassen. Dieser Teil der Begriffsschrift entspricht der klassischen %Aussagenlogik. Eine wesentliche Neuerung in Freges System ist die Tatsache, dass er die aristotelische Unterscheidung von Subjekt und PrÈdikat Ýber Bord wirft und SÈtze stattdessen durch die Kategorien ›Funktion‹ und ›Argument‹ analysiert. Dies ermÚglicht einen eleganten Umgang mit AusdrÝcken wie ›alle‹, ›einige‹, ›kein‹ usw., die in der aristotelischen Logik dem PrÈdikat zugeschlagen wurden. Frege bezieht sie jedoch auf den ganzen Satz und bestimmt sie als Funktionen zweiter Stufe, die Funktionen erster Stufe (nÈmlich SÈtze ohne solche AusdrÝcke) als Argumente nehmen. Hiermit hat Frege den %Quantor in die Logik eingefÝhrt und die klassische %PrÈdikatenlogik begrÝndet, die die AusdrucksmÚglichkeiten sowohl der Syllogistik als auch der booleschen logischen Algebra Ýberschreitet. Im Folgenden diskutiert Frege einige Anwendungen seines KalkÝls (das nie als bloßer KalkÝl, sondern stets als Ausdruckshilfsmittel gedacht war), insbesondere definiert er in der PrÈdikatenlogik zweiter Stufe das Prinzip der mathematischen %Induktion, einen fÝr die BegrÝndung der Arithmetik essenziellen Begriff. Der Natur mathematischer %Urteile und insbesondere der Definition des Anzahlbegriffes ist Freges fÝnf Jahre spÈter erscheinendes Werk Die Grundlagen der Arithmetik gewidmet. Noch %Kant war der Meinung, dass arithmetische Urteile %a priori, also vor aller Erfahrung gelten, jedoch nicht analytisch seien: das PrÈdikat eines Urteils ist nicht in versteckter Form schon im
Frege, Gottlob
Subjekt enthalten. Freges Projekt ist der Nachweis der analytischen Natur arithmetischer (und damit allgemein mathematischer) Urteile. ›Analytisch‹ wird von ihm jedoch nicht im Sinne der Begriffsinklusion verstanden, vielmehr gilt ein Urteil als analytisch, wenn zu seinem Beweis nur SÈtze der Logik sowie %Definitionen verwendet werden mÝssen. In diesem Sinne will das fregesche logizistische Programm zeigen, dass die gesamte Mathematik aus analytischen, d. h. aus auf die Logik zurÝckfÝhrbaren SÈtzen besteht. Der DurchfÝhrung dieses Programms sind die Grundlagen gewidmet. Sie bauen auf der Begriffsschrift auf, verwenden aber nicht Freges Notation (ein ZugestÈndnis an eine breitere Leserschaft), ohne dass dies jedoch der Strenge der %Argumentation Abbruch tut. Zu Beginn der Grundlagen nennt Frege drei allgemeine Prinzipien, von denen er im Lauf seiner Untersuchungen ausgeht. Diese sind nicht nur von wesentlicher Bedeutung fÝr ein VerstÈndnis von Freges Werk, sondern auch fÝr die gesamte spÈtere Entwicklung der %analytischen Philosophie. Es sind dies die Trennung von Logik und Psychologie, das Kontextprinzip sowie die Unterscheidung von %Begriff und Gegenstand. In der Logik des 19. Jhs. wurde ein Urteil regelmÈßig als eine Verbindung von Vorstellungen bezeichnet. Die Betrachtung arithmetischer Urteile zeigt, wie problematisch diese Annahme ist: Zahlen als Bestandteile von solchen Urteilen mÝssten demnach Vorstellungen sein. Ein mathematisches Objekt wie die Zahl fÝnf ist jedoch nicht identisch mit der Vorstellung von ihm (dann gÈbe es viele verschiedene FÝnfen, die Zahl fÝnf wÈre vergÈnglich usw.), genauso wenig, so argumentiert Frege, wie z. B. Helium identisch mit der Vorstellung von Helium ist. Diese Unterscheidung zwischen dem Psychologischen der Vorstellungen und Denkprozesse und dem Logischen stellte eine wesentliche Voraussetzung fÝr die Fortentwicklung der modernen Logik dar. Das Kontextprinzip besagt, dass nach der %Bedeutung von Worten nur im Satzzusammenhang, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden darf. Auch wenn wir dies nicht als semantische These (»Die Bedeutung eines Wortes wird vom Satzzusammenhang bestimmt«) auffassen, formuliert es doch eine bestimmte philosophische Methodik. Es schlÈgt vor, die ontologische
109
Kategorie bestimmter Objekte (z. B. Zahlen) zu bestimmen, indem wir SÈtze Ýber diese Objekte analysieren. Anders als verschiedene Theorien, die davon ausgingen, dass z. B. Zahlzeichen an sich bedeutsam seien, soll fÝr Frege die Untersuchung des Zahlbegriffs bei der Analyse von arithmetischen SÈtzen ansetzen. Diese Forderung nach der PrioritÈt der Untersuchung der Verwendung von AusdrÝcken, die Ýber eine bestimmte Art von Dingen sprechen, vor inhaltlichen Spekulationen Ýber diese Dinge hat Frege zu einem BegrÝnder der sprachanalytischen Methode in der Philosophie (mit dem fÝr sie charakteristischen linguistic turn) gemacht. Frege unterscheidet zwischen GegenstÈnden, die durch Namen oder Kennzeichnungen bezeichnet werden (›Petrus‹, ›der japanische Kaiser‹) und Begriffen, denen wir normalerweise einen unbestimmten Artikel voranstellen (›ein Schiff‹). Eigenschaften von GegenstÈnden identifiziert er mit Funktionen erster Stufe, Eigenschaften von Begriffen mit Funktionen zweiter Stufe. Es ist also in Freges System nicht mÚglich, zu sagen ›A existiert‹ wenn A einen Gegenstand und nicht einen Begriff bezeichnet (unter einen Begriff kann somit etwas fallen, nicht jedoch unter einen Gegenstand). Freges Kunstsprache lÈsst nicht zu, bestimmte philosophische Aussagen (wie z. B. die, dass Existenz eine Eigenschaft von GegenstÈnden ist, eine Voraussetzung mancher Formen des ontologischen Gottesbeweises) zu formulieren. Frege konstruiert hier zum ersten Mal das Ideal einer philosophischen Sprache, die sozusagen aus sich heraus das Denken in die richtige Richtung lenkt. Frege wollte eine Untersuchung des Anzahlbegriffs durch Analyse von SÈtzen, in denen Zahlen vorkommen, durchfÝhren. Als besonders wichtig erweisen sich in diesem Fall IdentitÈtsaussagen, also SÈtze wie ›die Anzahl der F ist gleich der Anzahl der G‹. Frege argumentiert, dass diese wahr (also F und G gleichzahlig) sind, falls die F und G einander ein-eindeutig zugeordnet werden kÚnnen (d. h. fÝr jedes F gibt es genau ein G und umgekehrt). Die Annahme, dass die Anzahl der F gleich der der G genau dann ist, wenn F und G gleichzahlig sind, wird als humesches Prinzip bezeichnet (da Frege es mit einem Zitat Humes einfÝhrt). Frege zeigt dann im Weiteren, wie sich ›gleichzahlig‹ rein logisch definieren lÈsst (fÝr die DurchfÝhrbar-
110
Frege, Gottlob
keit des logizistischen Programms eine entscheidende Tatsache). Aufgrund verschiedener Probleme verwendet Frege jedoch am Ende ein anderes, etwas komplexeres Prinzip. Eine wichtige Schwierigkeit mit der obigen Bestimmung ist das so genannte Julius-CÈsar-Problem. Wenn F und G einander eineindeutig zugeordnet werden kÚnnen, ist es uns zwar mÚglich, IdentitÈtsaussagen bestimmter Art zu entscheiden (wie z. B. ›die Anzahl der F ist mit der der Anzahl der G identisch‹), aber nicht andere (›die Anzahl der F ist mit Julius CÈsar identisch‹). Wir scheinen keine klare ontologische Trennlinie zwischen Anzahlen und anderen GegenstÈnden ziehen zu kÚnnen. Frege bestimmt schließlich die Anzahl der F als den %Umfang des Begriffes ›gleichzahlig mit dem Begriff F‹ (so ist dann z. B. die Anzahl der zwÚlf Apostel gleich der Menge aller zwÚlfelementigen Mengen). Frege leitet das humesche Prinzip dann hieraus ab und kann nun die Zahl Null (gleichzahlig mit dem Begriff ›sich selbst ungleich‹) sowie die Nachfolgerbeziehung und weitere wichtige arithmetische Begriffe definieren. Allerdings benÚtigt Frege zur Ableitung des humeschen Prinzips das berÝhmt-berÝchtigte Grundgesetz V aus den Grundgesetzen (»Die UmfÈnge zweier Begriffe sind gleich genau dann, wenn alles, was unter den einen fÈllt, auch unter den anderen fÈllt«). Dies entpuppt sich als entscheidende Schwachstelle des Systems. Genau hieraus lÈsst sich nÈmlich die russellsche Antinomie herleiten (da wir nun Ýber die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, sprechen kÚnnen; diese Menge enthÈlt sich selbst genau dann, wenn sie sich nicht selbst enthÈlt), sodass die Inkonsistenz von Freges System gezeigt ist. Alle seine Beweise sind eigentlich uninteressant, da sich in solchen Systemen sowieso jeder Satz beweisen lÈsst. Die 1893 und 1903 publizierten beiden BÈnde der Grundgesetze der Arithmetik stellen im Wesentlichen eine formale Fassung der Grundlagen dar. Allerdings enthalten sie auch eine Reihe von eigenstÈndig interessanten Resultaten, die hier wenigstens kurz erwÈhnt werden sollen. Wichtig ist zum einen das so genannte fregesche Theorem, das besagt, dass die der Arithmetik zugrunde liegenden Axiome in der PrÈdikatenlogik zweiter Stufe aus dem humeschen Prinzip
allein abgeleitet werden kÚnnen (also ohne das problematische Grundgesetz V bemÝhen zu mÝssen). Weiterhin gibt Frege rein logische Definitionen endlicher und unendlicher Anzahl und beweist das KategorizitÈtstheorem (»Alle die Axiome der Arithmetik erfÝllenden Modelle sind isomorph«). Viele fÝr das VerstÈndnis von Freges Arbeiten zentrale Begriffe finden sich auch in seinen AufsÈtzen, besonders sind hier Funktion und Begriff, Àber Sinn und Bedeutung sowie Der Gedanke zu nennen. Seine Werke zur Grundlegung der Arithmetik sind in der analytischen Philosophie viel rezipiert worden, vielen gilt er sogar als ihr Vater und BegrÝnder. Herauszuheben sind in diesem Zusammenhang besonders die Werke Michael Dummetts, die Freges Arbeiten international bekannt gemacht haben. Aufgrund der Inkonsistenz des fregeschen Programms konzentriert sich ein Großteil der gegenwÈrtigen systematischen Fregeforschung hauptsÈchlich auf das humesche Prinzip. Ließe es sich als rein logisches Prinzip auffassen, wÈre dies (dank des fregeschen Theorems) eine recht gute Rechtfertigung des Logizismus. Allerdings wird diese Annahme nicht von vielen geteilt. Crispin Wright verteidigt in seinen Arbeiten die Auffassung, dass es sich beim humeschen Prinzip zwar nicht um ein logisches Prinzip, aber doch um eine ErklÈrung der Verwendung von Namen von Anzahlen handle. LÈsst sich hieraus die Arithmetik gewinnen, so Wright, ist ein großer Schritt in einem neufregeschen Programm getan. Die Forschung auf diesem faszinierenden Gebiet dauert an.
M. Dummett, Frege’s Philosophy of Language, 2. Aufl. London 1992 [1973] G. Frege, Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nach gebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle 1879 [Neudruck Darmstadt 1964] : Funktion Begriff Bedeutung, hg. von M. Textor, GÚttingen 2002 : Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathe matische Untersuchung Ýber den Begriff der Zahl, Breslau 1884 [Neudruck Stuttgart 1987] : Die Grundgesetze der Arithmetik, Bd. I, Jena 1893, Bd. II, Jena 1903 C. Wright, Frege’s Conception of Numbers as Objects, Aberdeen 1983 J. W.
Gadamer, Hans-Georg
Gadamer, Hans-Georg (1900–2002): Der deutsche Philosoph wurde am 11. 2. in Marburg geboren und starb am 13. 3. in Heidelberg. Er studierte von 1918 bis 1922 in Breslau und Marburg Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte (sowie von 1924–1927 Klassische Philologie). 1922 Promotion (bei Natorp) mit der Dissertation Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen. Habilitation 1929 (bei %Heidegger) mit der Arbeit Interpretationen zum platonischen Philebos. Gadamer lehrte in Marburg und Kiel, wurde 1937 a.o. Professor in Marburg und 1939 Ordinarius in Leipzig. Von 1947 bis 1949 hatte er eine Professur in Frankfurt/M. inne, und von 1949 bis 1968 lehrte er (als Nachfolger von Karl Jaspers) in Heidelberg. Nach der Emeritierung nahm er zahlreiche Gastprofessuren im Ausland wahr und Ýbte eine sehr ausgedehnte Vortrags- und VorlesungstÈtigkeit im In- und Ausland aus. Gadamers umfangreiches Œuvre, das inzwischen in einer zehnbÈndigen Ausgabe (Gesammelte Werke, 1985–1995) und einigen ergÈnzenden SammelbÈnden vorliegt, umfasst u. a. Arbeiten zur griechischen und zur neueren Philosophie sowie zur sthetik und Poetik. Im Mittelpunkt seines Werkes steht die BegrÝndung einer philosophischen %Hermeneutik, die er mit seinem 1960 erschienenen Hauptwerk Wahrheit und Methode unternahm. Mit diesem Unternehmen schließt sich Gadamer an das frÝhe Projekt einer »Hermeneutik der FaktizitÈt« seines Lehrers Heidegger an, das dieser in seinen Freiburger Vorlesungen zu Beginn der zwanziger Jahre inauguriert und in seinem Hauptwerk Sein und Zeit von 1927 seinem Versuch einer Fundamentalontologie zugrunde gelegt hatte. Mit seiner »Hermeneutik der FaktizitÈt‹« bzw. »Hermeneutik des %Daseins« radikalisiert Heidegger %Diltheys spÈte Philosophie des %Verstehens, die dieser im Kontext einer Theorie des »objektiven Geistes« entwickelt hatte. Heidegger wendet Diltheys Einsicht, dass sich der Mensch »immer schon« in einer verstandenen Welt vorfindet, die ihm zur Basis und zum Medium von Verstehensleistungen wird, zu der daseinsontologischen, d. h. quasi-anthropologischen Grundaussage, wonach das Verstehen nicht mehr nur als Methode der Geisteswissenschaften, also als eine spezifische Erkenntnisform zu begreifen ist, sondern vielmehr eine das
111
Erkennen selbst ermÚglichende und fundierende, dem Menschen ursprÝnglich zukommende existenziale Seinsart darstellt. Verstehen ist demnach – neben der Befindlichkeit – ein »Grundmodus des Seins« des menschlichen Daseins, d. h. ein »Existenzial«. In Gadamers philosophischer Hermeneutik wird dieser von Heidegger in seiner Hermeneutik des Daseins entfaltete Begriff des Verstehens leitend. Dementsprechend verfolgt er – anders als die Èltere Hermeneutik – mit seinem Entwurf nicht die Absicht, eine »Kunstlehre des Verstehens« vorzulegen; er entwirft keine Methodik der Geisteswissenschaften und leistet auch keinen unmittelbaren Beitrag zur Erforschung ihrer theoretischen Grundlagen. Stattdessen ist sein Anspruch ein dezidiert philosophischer: Er will das bewusst machen, was durch den Methodenstreit in den Geisteswissenschaften verdeckt wird und aller modernen Wissenschaft vorausliegt, d. h. sein Ziel ist der Versuch einer AufklÈrung dessen, »was die Geisteswissenschaften Ýber ihr methodisches Selbstbewusstsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet«. Diesseits aller methodologischen Àberlegungen zum Verfahren des (philologischen) Verstehens begreift Gadamer mit Heidegger das Verstehen als eine Seinsweise des Daseins selber, und der Begriff der Hermeneutik bezeichnet entsprechend die »Grundbewegtheit des Daseins, die seine %Endlichkeit und %Geschichtlichkeit ausmacht«. Das Verstehen gehÚrt nach Gadamer zur menschlichen Welterfahrung insgesamt und kann daher auch kein Gegenstand einer reinen MethodenerÚrterung sein. Da das Verstehen alle WeltbezÝge des Menschen durchzieht und auch innerhalb der %Wissenschaft eine selbststÈndige Geltung besitzt, widersetzt es sich dem Versuch, als bloße %Methode der Wissenschaft aufgefasst zu werden. Gadamers Hermeneutik schließt sich an diesen Widerstand gegen den universalen Anspruch der (neuzeitlichen) wissenschaftlichen Methodik an und versucht dementsprechend, »Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik Ýbersteigt«, freizulegen und hinsichtlich ihrer Legitimationsgrundlage zu befragen. Gadamer findet fÝr seine Grundintention einer Neubestimmung des Verstehens und der Hermeneutik in der Erfahrung der %Kunst ein
112
Gadamer, Hans-Georg
Modell, an dem sich eine angemessene Hermeneutik zu orientieren hat: sie vermag nÈmlich zu zeigen, dass das Verstehen als Teil des Sinngeschehens selbst zu denken ist, in dem sich der Sinn aller %Aussagen bildet und vollendet. Aufgrund dieser Einsicht in den Vorbildcharakter der Kunsterfahrung fÝr eine philosophische Hermeneutik charakterisiert Gadamer ihre Aufgabe nicht als die einer »Rekonstruktion« (Schleiermacher), sondern vielmehr mit %Hegel als »Integration«, denn das Wesen des geschichtlichen Geistes bestehe nicht in der Restitution des Vergangenen, sondern vielmehr in der »denkenden Vermittlung mit dem gegenwÈrtigen Leben«. Diesen hegelschen Gedanken macht Gadamer in seiner Auseinandersetzung mit der Èlteren Hermeneutik (insbesondere Schleiermacher und Dilthey) fruchtbar, die er als unzureichend kritisiert. Die romantische, methodisch orientierte Hermeneutik reicht, wie er deutlich zu machen sucht, als Basis einer Historie nicht aus, und auch Diltheys Versuch, die geisteswissenschaftliche ObjektivitÈt am Vorbild der Naturwissenschaften zu orientieren, ist zum Scheitern verurteilt, denn Dilthey denkt – so Gadamers These – die Erforschung der geschichtlichen Vergangenheit als »Entzifferung« und nicht als Erfahrung und Ýbersieht, dass die geisteswissenschaftliche Erfahrung eine andersartige, eigenstÈndige ObjektivitÈt besitzt. In Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften wird nach Gadamer die Geschichtlichkeit der geschichtlichen Erfahrung nicht wirklich bestimmend. Dies geschieht erst in Heideggers hermeneutischer PhÈnomenologie und seiner Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins, durch die ein neuer Ansatz zur Ausarbeitung einer historischen Hermeneutik mÚglich wird. Diesen neuen Ansatz legt Gadamer mit seiner Theorie der hermeneutischen Erfahrung vor, deren GrundzÝge er im II. Teil von Wahrheit und Methode entwickelt. Diese Theorie der hermeneutischen Erfahrung steht zunÈchst unter dem Postulat einer »Anerkennung der wesenshaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens«. Darin drÝckt sich die Einsicht aus, dass es legitime Vorurteile gibt, die als Bedingungen des Verstehens begriffen werden mÝssen. Folglich fordert Gadamer eine Rehabilitierung des Begriffs des Vorurteils und der Tradition. Da der Verstehende stÈndig in Àberlieferungen steht, ist die Anerkennung
der Unhintergehbarkeit von Tradition unabdingbar fÝr ein angemessenes Begreifen des Verstehens und der geisteswissenschaftlichen Forschung. Verstehen ist daher fÝr ihn keine »Handlung der SubjektivitÈt«, sondern vielmehr ein »EinrÝcken in ein Àberlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart bestÈndig vermitteln«. Aus diesem Grunde ist der so genannte ›hermeneutische Zirkel‹ auch kein primÈr methodischer Zirkel, sondern beschreibt ein »ontologisches Strukturmoment des Verstehens«. Weiterhin betont Gadamer die produktive Bedeutung des »Zeitenabstandes«, denn dieser enthÝllt den wahren Sinn, der in einem Text liegt, und bildet das Fundament fÝr die Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen. Bedeutsam fÝr seine philosophische Hermeneutik ist außerdem das ›Prinzip der Wirkungsgeschichte‹, d. h. das Postulat, die eigene Geschichtlichkeit mitzudenken. Verstehen ist demnach kein unmittelbares, gleichsam objektivierendes Forschungsverhalten, sondern ein »wirkungsgeschichtlicher Vorgang«, denn im Verstehen unterliegen wir nach Gadamer den Wirkungen der Wirkungsgeschichte des zu verstehenden historischen Gegenstandes. Verstehen ist insofern ein Vorgang der »Horizontverschmelzung«. Als das zentrale Problem einer Hermeneutik bezeichnet Gadamer schließlich das Problem der Anwendung, das nach seiner These von dem Èsthetisch-historischen %Positivismus im Gefolge der romantischen Hermeneutik verdeckt wurde. Ausgehend vom Modell der juristischen und theologischen Hermeneutik, bestimmt Gadamer die geisteswissenschaftliche Hermeneutik neu. Auch diese hat eine »Leistung der Applikation« zu vollbringen, denn die Interpretation eines Textes, das VerstÈndnis seines Sinns erfordert, dass der Text auf die aktuelle hermeneutische Situation des Interpreten bezogen und dadurch der Zeitenabstand Ýberwunden wird, der Interpret und Text trennt. Diese Vermittlung von Damals und Heute bezeichnet Gadamer als »Applikation«; sie ist also keine nachtrÈgliche Anwendung, sondern das wirkliche VerstÈndnis eines gegebenen Textes selbst. Gadamer befreit in seiner Hermeneutik das Verstehen vom erkenntnistheoretischen Zugriff und zeigt die Grenzen einer bloß methodologischen Behandlung des Verstehens auf. Das Ver-
Goodman, Nelson
stehen ist nach Gadamer nicht so sehr eine Methode der Zuwendung zu einem historischen Objekt und der objektiven Aneignung seines Sinns, die der Kontrolle eines erkennenden Bewusstseins untersteht, sondern hat vielmehr ein »Darinnenstehen in einem Àberlieferungsgeschehen« zu seiner Voraussetzung. Verstehen ist damit weniger ein vom Subjekt vollzogener zielgerichteter Akt als ein Geschehen. Gadamers philosophische Hermeneutik, die sich zu einer umfassenden hermeneutischen Philosophie weitet, impliziert damit eine EntmÈchtigung der SubjektivitÈt, erscheint doch der »Fokus der SubjektivitÈt« angesichts des geschichtlichen Lebens als bloßer »Zerrspiegel«. Die hermeneutische Erfahrung grÝndet Gadamer zufolge auf einer Dialektik von Frage und Antwort. Das Verstehen muss daher als ein GesprÈch aufgefasst werden, in dem der Interpret einen Text zum Reden bringt; das Verstehen vollzieht sich somit im Medium der %Sprache. Im abschließenden III. Teil von Wahrheit und Methode analysiert Gadamer in umfassenden, geschichtlich ansetzenden Untersuchungen diese Sprachlichkeit des Verstehens sowie die Sprachgebundenheit menschlicher Welterfahrung, d. h. das Faktum der Sprache als ein universales, umgreifendes Geschehen. Er begreift die Sprache als eine Mitte, in der sich Ich und Welt in ihrer ursprÝnglichen ZusammengehÚrigkeit darstellen. Da das menschliche WeltverhÈltnis schlechthin sprachlich und damit verstÈndlich ist, ist die Hermeneutik ein »universaler Aspekt der Philosophie« und nicht nur die methodologische Grundlage der Geisteswissenschaften. Wahrheit und Methode hat eine Reihe von Debatten ausgelÚst. Zu den wichtigsten Diskussionsrunden zÈhlen die Auseinandersetzung mit Vertretern der so genannten ›traditionellen‹, d. h. methodisch orientierten Hermeneutik (insbesondere Betti und Hirsch), die Kontroverse um den »UniversalitÈtsanspruch der Hermeneutik« (%Habermas) und das GesprÈch mit dem franzÚsischen Dekonstruktivisten %Derrida. Durch die Entwicklung seiner philosophischen Hermeneutik ist Gadamer zu einem der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart geworden. G. G. Figal (Hg.), Begegnungen mit Hans Georg Gada mer, Stuttgart 2000
113
G. Figal / J. Grondin / D. J. Schmidt (Hg.), Hermeneuti sche Wege. Hans Georg Gadamer zum Hundertsten, TÝbingen 2000 J. Grondin, Hans Georg Gadamer. Eine Biographie, TÝ bingen 1999 J. Grondin, EinfÝhrung zu Gadamer, TÝbingen 2000 L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of Hans Georg Gada mer (The Library of Living Philosophers Volume XXIV), Chicago / La Salle, lllinois 1997 H. U. L.
Goodman, Nelson (1906–1998): »Zahllose Welten, durch Gebrauch von %Symbolen aus dem %Nichts erzeugt – so kÚnnte ein Satiriker einige Hauptthemen im Werk Cassirers zusammenfassen. Diese Themen – die Vielheit von Welten, die Scheinhaftigkeit des ›Gegebenen‹, die schÚpferische Kraft des %Verstehens, die Verschiedenartigkeit und die schÚpferische Kraft von Symbolen – sind wesentliche Bestandteile auch meines Denkens.« Mit diesen AnfangssÈtzen aus Ways of Worldmaking (1978; dt. Weisen der Welterzeugung) beschreibt Goodman (geboren am 7. August 1906 in Somerville, Massachusetts; gestorben am 25. November 1998 in Needham, Massachusetts) die Schwerpunkte seiner Philosophie – eine durchaus Ýberraschende Selbstbeschreibung fÝr einen Philosophen, der neben %Quine als wichtigster Vertreter jener Richtung innerhalb der %analytischen Philosophie gilt, die philosophische Probleme (im Anschluss an Russell und %Carnap) mit Hilfe der modernen Logik beschreiben und lÚsen wollte. TatsÈchlich hat Goodmans philosophischer Werdegang, trotz aller HomogenitÈt und Folgerichtigkeit in seinen GrundÝberzeugungen, mehrfach fÝr Àberraschungen und damit Diskussionsstoff gesorgt. Seinen bis heute bekanntesten und meistdiskutierten Beitrag leistet er in Fact, Fiction and Forecast (1954; dt. Tatsache, Fiktion, Voraussage), einer Untersuchung des Problems der irrealen BedingungssÈtze und des Induktionsproblems. FÝr Goodman ergibt sich das »neue RÈtsel der Induktion« nicht aus der Frage, wie man zu sicherem Wissen gelangen kann (dies ist generell unmÚglich), sondern vielmehr aus dem Problem, fÝr eine bereits bestehende induktive Praxis diejenigen Regeln zu benennen, mit deren Hilfe gesetzmÈßige von akzidentellen Aussagen und d. h. gÝltige von ungÝltigen %SchlÝssen unterschieden werden kÚnnen. Er fÝhrt zu diesem Zweck
114
Goodman, Nelson
das PrÈdikat ›grot‹ (engl. grue) ein, das folgendermaßen definiert ist: Ein Gegenstand (Goodmans Beispiel: ein Smaragd) soll genau dann ›grot‹ heißen, wenn er entweder vor dem Zeitpunkt t auf seine Farbe untersucht wurde und sich dabei als grÝn herausstellte oder wenn er nicht vor t untersucht wurde und rot ist. Das so genannte ›Goodman-Paradox‹ besteht nun darin, dass dieselben Beobachtungen, bei denen Smaragde fÝr grÝn befunden werden, zwei verschiedene %Hypothesen Ýber die Farbe zukÝnftig gefundener Smaragde bestÈtigen, nÈmlich sowohl die Hypothese, dass alle Smaragde grÝn, als auch die Hypothese, dass alle Smaragde ›grot‹ sein werden. Goodmans LÚsungsvorschlag lÈuft darauf hinaus, die Bilanz der bisherigen Projektionen der jeweiligen PrÈdikate und d. h. die Verankerung der PrÈdikate im allgemeinen Sprachgebrauch in Rechnung zu stellen. Demnach mÝssen Projektionen von PrÈdikaten wie ›grot‹ dann verworfen werden, wenn sie mit sprachlich besser verankerten PrÈdikaten wie ›grÝn‹ oder ›rot‹ konkurrieren. Von Anfang an war Goodmans Philosophie von einer – wie er selbst sagt – skeptischen, analytischen und konstruktivistischen Orientierung geprÈgt. Die Darlegung seiner erkenntnistheoretischen Position in Weisen der Welterzeugung ist denn auch weniger eine Ýberraschende Wende zum %Skeptizismus und %Relativismus als vielmehr eine zusammenfassende Bestandsaufnahme immer schon vorhandener Àberzeugungen. Dieser Position liegt die Annahme zugrunde, dass es so etwas wie ›die eine Welt‹ nicht gibt, deren Abbildung die Aufgabe der Erkenntnis – womÚglich nur der wissenschaftlichen – wÈre. Vielmehr wird die Welt in einem konstruktiven Erkenntnisprozess erst geschaffen oder gemacht. In diesem Prozess verschwindet freilich ›die eine Welt‹, und an ihre Stelle treten verschiedene Sichtweisen oder ›Weltversionen‹. Die ›Welterzeugung‹ erfolgt mit Hilfe von %Symbolen, wobei der Symbolbegriff Èußerst allgemein gefasst wird: Er umfasst Buchstaben, WÚrter, Texte, TÚne, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und vieles andere mehr. Die Symbole, mit deren Hilfe ›Versionen‹ der Welt angefertigt werden, werden Symbolsystemen zugeordnet. Hierzu zÈhlen z. B. die %Wissenschaften, die Philosophie oder die KÝnste. Es gibt demnach viele verschiedene solcher Symbolsysteme, und
das heißt auch: Es gibt verschiedene ›Weisen der Welterzeugung‹. Wenn sich diese Weisen im Einzelnen auch sehr unterscheiden mÚgen (etwa Wissenschaft und Kunst), so stehen sie doch prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander, oder anders gesagt: Keine hat einen absoluten epistemologischen Vorrang vor den anderen. Wissenschaften und KÝnste unterscheiden sich nÈmlich in der Art des Symbolgebrauchs, nicht aber in der Richtigkeit oder gar Wahrheit ihres Zugangs zur Welt: Da Welten Ýberhaupt nur in ›symbolischer Vermittlung‹ und niemals ›an sich‹ zu haben sind, fehlt jeder Maßstab der Beurteilung fÝr die Richtigkeit einer Weltversion in Bezug auf die Welt an sich. Beide – Wissenschaften und KÝnste – mÝssen demnach als Mittel der Erkenntnisgewinnung betrachtet werden. Die Theorie der Kunst ist deshalb – ebenso wie die Theorie der Wissenschaften – Teil einer umfassenden Erkenntnis- bzw. Symboltheorie. In seinem 1968 erschienenen Hauptwerk Languages of Art (dt. Sprachen der Kunst) untersucht Goodman die unterschiedlichen Formen symbolischer Bezugnahme am Beispiel der verschiedenen KÝnste. Sein Anliegen in diesem Buch ist von dem traditioneller sthetiken allerdings denkbar weit entfernt: Es geht ihm weder um eine – womÚglich einheitliche – %Definition der Kunst, noch spielen Probleme der Wertung oder der Festlegung von Kriterien fÝr Èsthetische QualitÈt eine Rolle. FÝr Goodman sind Fragen der SchÚnheit und des Genusses in der Kunstphilosophie zweitrangig gegenÝber solchen nach den Symbol- und letztlich Erkenntnisfunktionen der KÝnste. DarÝber hinaus erfolgt die Untersuchung quasi stellvertretend fÝr die Prozesse symbolischer Bezugnahme in anderen Bereichen, etwa in der Wissenschaft oder der alltÈglichen Wahrnehmung. Goodman unterscheidet verschiedene Formen der symbolischen Bezugnahme. Die ReprÈsentation oder Abbildung in den pikturalen KÝnsten, die musikalische Notation und die verbale Beschreibung fasst er als Formen der Denotation, d. h. als extensionale Bezugnahme. Diese Denotation kann buchstÈblich sein (etwa wenn ein Bild Churchill darstellt oder ein Ausdruck sich auf einen realen Gegenstand bezieht) oder fiktiv (z. B. das Bild eines Einhorns oder der Name Don Quichotte). WÈhrend bei der Denotation die Richtung der Bezugnahme vom Symbol (einem
Goodman, Nelson
Bild oder einem Ausdruck) zum Gegenstand oder Referenten verlÈuft, wird das Symbol bei der Exemplifikation von einem PrÈdikat denotiert, das auf dieses Symbol zutrifft; die Bezugnahme verlÈuft also in die umgekehrte Richtung. Die Symbolfunktion der Exemplifikation, die Goodman erstmals ausfÝhrlich analysierte und die zum Gegenstand umfangreicher Diskussionen geworden ist, wird definiert als »Besitz plus Bezugnahme«: Ein Symbol (z. B. ein Bild) exemplifiziert eine Eigenschaft (z. B. eine bestimmte Farbe), wenn es diese sowohl besitzt als auch auf sie Bezug nimmt. Goodmans hÈufig herangezogenes Beispiel fÝr die Exemplifikation ist die Stoffprobe im Musterbuch eines Polsterers: So eine Probe besitzt eine Reihe von Eigenschaften, die auch der Stoffballen besitzt, fÝr den sie ein Muster ist. Auf diese Eigenschaften – etwa Farbe, Textur usw. – verweist die Probe, sie stellt jedoch kein Muster fÝr alle seine Eigenschaften dar (beispielsweise nicht fÝr seine GrÚße). Bloßer Besitz stellt demnach noch keine Exemplifikation dar, ebenso wenig wie Bezugnahme ohne Besitz. Die Stoffprobe exemplifiziert nur diejenigen Eigenschaften, die sie einerseits besitzt und auf die sie andererseits Bezug nimmt. – Im Gegensatz zur buchstÈblichen Bezugnahme der Exemplifikation handelt es sich beim Ausdruck um eine Form der metaphorischen Bezugnahme, genauer: der metaphorischen Exemplifikation, insofern als ein Bild, das beispielsweise Trauer zum Ausdruck bringt, diese Trauer nicht buchstÈblich besitzt, sondern eben metaphorisch. – Ausdruck und Exemplifikation sind Symbolfunktionen, die besonders in den KÝnsten eine Rolle spielen. Vor allem die Exemplifikation erlaubt es, auch solchen Kunstwerken, die in traditioneller Redeweise gar keine Symbolfunktion mehr aufweisen (wie beispielsweise abstrakte GemÈlde), noch eine symbolisierende und damit erkenntnisfÚrdernde Funktion zuzuschreiben. Die in Sprachen der Kunst am Beispiel der KÝnste entworfene Symboltheorie und ihre erkenntnistheoretische Entfaltung in Weisen der Welterzeugung fÝhren Goodman in dem gemeinsam mit Catherine Z. Elgin verfassten Band Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences (1988; dt.: Revisionen: Philosophie und andere KÝnste und Wissenschaften) zu einem Vorschlag fÝr eine grundsÈtzliche »Neufassung der
115
Philosophie«. Die Autoren regen an, die philosophisch zentralen Begriffe %Wahrheit, Gewissheit und Wissen durch Richtigkeit, Àbernahme (adoption) und Verstehen zu ersetzen. WÈhrend Wahrheit streng genommen nur auf verbale SÈtze und dort auch nur auf Aussagen (und nicht etwa auf Aufforderungen, Fragen usw.) zutreffen kÚnne, bilde Richtigkeit ein multidimensionales Kriterium, das auf alle mÚglichen sprachlichen und auch nichtsprachlichen Symbole zutreffe. Die Wahrheit ist nur einer der Faktoren, die Einfluss auf die Richtigkeit des Gesagten oder Dargestellten haben kÚnnen; sie ist – gelegentlich, aber nicht notwendigerweise – Bestandteil der Richtigkeit. In Èhnlicher Weise soll Gewissheit bzw. ihre Alternativen wie Wahrscheinlichkeit oder Àberzeugung, die allesamt ebenfalls nur auf Aussagen zutreffen kÚnnen, durch den weiter gefassten Begriff der Àbernahme ersetzt werden. Und schließlich ist auch der Begriff des Wissens zu eng fÝr die angeregte Neufassung, denn Wissen bedarf der Wahrheit und der Àberzeugung. Dagegen bietet es sich an, den vielseitigeren Begriff des Verstehens zu verwenden, der sich auch beispielsweise auf Bitten oder Fragen, auf GemÈlde oder TÈnze erstreckt, die weder wahr noch falsch sind, weder dem Beweis noch der Widerlegung unterliegen und von denen man weder Ýberzeugt sein noch sie bezweifeln kann. N. Goodman, Fact, Fiction and Forecast, Cambridge/ Mass. 1954 [dt.: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt/M. 1975] : Languages of Art. An Approach to a Theory of Sym bols, Indianapolis 1968 [dt.: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/M. 1995] : Ways of Worldmaking, Indianapolis / Cambridge 1978 [dt.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984] : C. Z. Elgin, Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis 1988 [dt.: Revisio nen. Philosophie und andere KÝnste und Wissen schaften, Frankfurt/M. 1989] D. Sturma, »Nelson Goodman«, In: Philosophie der Ge genwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis v. Wright. Hg. v. J. Nida RÝmelin, Stuttgart 1991, S.193 198 Symposium zu Nelson Goodman: Sprachen der Kunst, In: Deutsche Zeitschrift fÝr Philosophie 43 (1995), S. 711 749 C. Z. Elgin (Hg.), The Philosophy of Nelson Goodman. Selected Essays. 4 Bde., New York / London 1997 A. S.
116
Habermas, Ju ¨rgen
Habermas, Ju ¨ rgen (*1929): Heute der renommierteste Gesellschaftstheoretiker der so genannten Frankfurter Schule. Geboren am 18. Juni 1929 in DÝsseldorf, studierte Habermas von 1949 bis 1954 Philosophie, Geschichte, Psychologie und Deutsche Literaturwissenschaft an den UniversitÈten GÚttingen, ZÝrich und Bonn. 1954 wurde er dort mit einer Dissertation Ýber Das Absolute und die Geschichte. Von der ZwiespÈltigkeit in Schellings Denken promoviert. Von l956 bis 1959 arbeitete Habermas (nach TÈtigkeiten bei verschiedenen Zeitungen) als Forschungsassistent im Bereich empirischer Sozialforschung am Frankfurter Institut fÝr Sozialforschung, dem Zentrum der %kritischen Theorie (%Adorno, Horkheimer). Zwischen 1959 und 1961 entstand die (1962 erschienene, 1990 nach 17 Nachdrucken neu aufgelegte) Habilitationsschrift Strukturwandel der ³ffentlichkeit, mit der Habermas in Marburg (gefÚrdert von W. Abendroth) habilitierte. 1962 folgte er einem Ruf als Professor fÝr Philosophie an die UniversitÈt Heidelberg, 1964 einem Ruf als Professor fÝr Philosophie und Soziologie an die UniversitÈt Frankfurt/M., die er 1971 nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Studierenden verließ. 1971 bis 1983 war er Direktor des neu gegrÝndeten Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. 1983 kehrte er fÝr mehr als zehn Jahre an die UniversitÈt Frankfurt zurÝck. Im Mittelpunkt des umfangreichen und vielfach preisgekrÚnten habermasschen Werks stand – und steht – das BemÝhen um der Erneuerung der kritischen Gesellschaftstheorie, wie sie von Horkheimer und Adorno (in einem durch Hegel sowie %Marx vorgezeichneten konzeptuellen Rahmen) entworfen worden ist. Neu begrÝndet wurde die kritische Gesellschaftstheorie von Habermas 1981, in einem ersten Umriss als eine Theorie des kommunikativen Handelns, die wenigstens drei Dimensionen hat: Sie ist erstens eine Theorie der geschichtlichen Situation, in der sie formuliert wird, nach Habermas: eine »Theorie der Moderne«. Sie ist zweitens (und dies vor allem) eine Theorie der %Vernunft, die in die %Gesellschaft ›eingebaut‹ ist, sowie der Vernunftentwicklung (Vernunftverwirklichung) in der %Geschichte, nach Habermas: eine »Theorie der %RationalitÈt und der gesellschaftlichen
Rationalisierung« (die als Modernisierung bewertet wird). Und sie ist drittens eine kritische Theorie: ein nichtspekulatives (»nachmetaphysisches«), sprachpragmatisch begrÝndetes Rahmen-Konzept, innerhalb dessen eine empirische und »interdisziplinÈr angelegte Erforschung des . . . Musters der . . . Modernisierung wieder aufgenommen werden kann« (1982). Diese Forschung ist mit der Theorie des kommunikativen Handelns, so der Anspruch, in die Lage versetzt, die von uns erzeugte Welt, in der wir leben, als das Resultat eines ambivalenten (Fortschritte wie RÝckschritte einschließenden) Geschichtsprozesses zur Geltung zu bringen: als das Resultat einer »deformierenden Verwirklichung von Vernunft in der Geschichte« (1985). Die Theorie des kommunikativen Handelns knÝpft an die von ihr begrÝndete Forschung zugleich die praktische Absicht, einen Beitrag zur Aufhebung der Deformationen zu leisten. In wenigstens zwei Hinsichten geht die neue kritische Theorie Ýber die Èltere hinaus: Sie sucht nicht mehr bloß dem Eindruck Rechnung zu tragen, dass ›etwas zutiefst schief ist‹ in der modernen Gesellschaft, sondern auch dem Eindruck, dass auch (wenigstens seit 1945) ›etwas besser geworden ist‹ und in ihr heute so etwas wie praktische Vernunft aufscheint. DemgegenÝber haben Horkheimer und Adorno, so Habermas 1985, »alle gesellschaftlichen Institutionen und auch die Alltagspraxis vollkommen entleert gesehen von allen Spuren der Vernunft . . . Die Vernunft war fÝr sie im wÚrtlichen Sinne utopisch geworden, hatte jeden Ort verloren« bzw. war ihnen nur in verkÝrzter Weise in ihren Blick geraten, nÈmlich reduziert auf kognitiv-instrumentelle RationalitÈt oder theoretische Vernunft. Im Zusammenhang theoretischer Vernunft kÚnnen wir zwar (auf der Basis erfahrungswissenschaftlichen Wissens) in praktischer Hinsicht ›technische‹ Empfehlungen geben, wie sich (zu Àberlebenszwecken) die Welt beherrschen lÈsst (theoretische Vernunft als ›instrumentelle Vernunft‹, d. h. als Zweck-Mittel-RationalitÈt). Nicht aber lassen sich Antworten auf genuin moralisch-praktische Fragen geben, die ein humanes Miteinander betreffen, in dem nach Habermas die »einzige Alternative zur mehr oder minder gewaltsamen Einwirkung der Menschen aufeinander« liegt. Indes: Mit der praktischen Vernunft war der Èlteren kritischen
Habermas, Ju ¨rgen
Theorie auch der Maßstab verloren gegangen, der es erlaubt, kritische Gesellschaftstheorie zu betreiben: Gesellschaftstheorie, wie sie schon von Horkheimer/Adorno als »%Kritik der instrumentellen Vernunft« angelegt war. Diese Kritik kann nach Habermas nur aus Richtung praktischer Vernunft erfolgen. In der Rehabilitierung der praktischen Vernunftdimension und der damit einhergehenden RÝckgewinnung eines Maßstabs der Kritik, der jedermann sollte zugÈnglich sein, geht die jÝngere kritische Theorie Ýber die Èltere hinaus. Habermas entfaltet die Auseinandersetzung mit der Èlteren kritischen Theorie explizit und systematisch erstmals 1981 in der Theorie des kommunikativen Handelns, in der auch die ihr vorgehenden Arbeiten einen gewissen Zusammenhang erhalten. Bis dahin lassen sich (im Anschluss an H. Gripp) vier Schaffensphasen unterscheiden: Die Arbeiten aus der ersten HÈlfte der 60er Jahre sind dem Theorie-Praxis-Problem gewidmet, sei es, dass einzelne Facetten dieses Problems behandelt werden (so in der Habilitationsschrift), sei es, dass (in Gestalt von problemgeschichtlichen Untersuchungen) der Status einer an Marx anschließenden kritischen Theorie der Gesellschaft Ýberhaupt (anderen Theorietypen gegenÝber) zu klÈren versucht wird (so in Theorie und Praxis, 1963). In der zweiten HÈlfte der 60er Jahre nimmt Habermas das Theorie-Praxis-Problem aus erkenntnistheoretischer, allerdings zunÈchst erneut problemgeschichtlicher (und noch nicht systematischer) Perspektive in den Blick (so vor allem in Erkenntnis und Interesse, 1965). In dieser Zeit entstehen aber auch schon systematisch orientierte Abhandlungen, die sich – in Auseinandersetzungen mit wirkmÈchtigen philosophischen Positionen (kritischer Rationalismus, philosophische Hermeneutik, Systemtheorie nach N. Luhmann) – mit methodologischen Fragen kritischer Gesellschaftstheorie befassen, (Zur Logik der Sozialwissenschaften, 1967). In der ersten HÈlfte der 70er Jahre unternimmt Habermas den ersten Versuch einer systematischen NeubegrÝndung der kritischen Gesellschaftstheorie: Sie hat die Form einer »Theorie der kommunikativen Kompetenz« (hierher gehÚren die Abhandlungen: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, 1971; Wahrheitstheorien, 1973; Was heißt Universalpragmatik, 1976). – Dieser kompetenz-
117
theoretische Ansatz wird in der zweiten HÈlfte der 70er Jahre in einem evolutionstheoretischen Ansatz weitergefÝhrt (Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, 1976). Zugleich arbeitet Habermas – in Auseinandersetzung (u. a.) mit der Sprachpragmatik (nach Searle und Austin) – entscheidende Argumentationen fÝr die spÈtere Theorie des kommunikativen Handelns aus. Die Theorie des kommunikativen Handelns steht nun allerdings nicht fÝr eine einfache Fortsetzung dieser Arbeiten, vielmehr ist in ihr an die Stelle der »erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der kritischen Gesellschaftstheorie« der »Versuch einer direkten sprachpragmatischen BegrÝndung« getreten, so Habermas 1999. Im Gefolge dieser Wendung von »der Erkenntnistheorie« (und Methodologie) zur »Kommunikationstheorie«, oder allgemeiner: vom Primat der (in der Sprache angelegten) theoretischen zu dem der praktischen Vernunft erhalten folgende Begriffe den Status von Grundbegriffen: »Lebenswelt«, »kommunikatives Handeln« (schon 1968 expliziert) sowie »kommunikative RationalitÈt« (ein Begriff, der schon in den 70er Jahren ausgearbeitet wurde). Kommunikative RationalitÈt ist eine empirisch rekonstruierbare »PotentialitÈt« (H. Gripp), die in der menschlichen FÈhigkeit, sich mit jemanden Ýber etwas in einer Welt sprachlich verstÈndigen zu kÚnnen, angelegt und mit dem kommunikativen Handeln verknÝpft ist. Denn kommunikativ oder verstÈndigungsorientiert zu handeln – Habermas hÈlt es in der Theorie des kommunikativen Handelns fÝr »anthropologisch fundamental« – zeichnet sich nach Habermas dadurch aus, dass man selbst gesetzte Zwecke im Lichte der Bereitschaft realisiert, im Konfliktfall miteinander zu sprechen und die HandlungsplÈne aufeinander abzustimmen. Anders als im rein erfolgsorientierten, teleologischen Handeln geht man also hier nicht planmÈßig vor. Tritt nun aber jemand im Handlungszusammenhang mit einem anderen in einen VerstÈndigungsprozess ein, so kann er, wie Habermas plausibel macht, nicht umhin, genau vier GeltungsansprÝche zu erheben: Er muss erstens fÝr seine ußerung VerstÈndlichkeit, zweitens fÝr den behaupteten (propositionalen, d. h. in Form von Aussagen darstellbaren) Gehalt der ußerung Wahrheit, drittens fÝr die von ihm gleichzeitig geÈußerte Intention Wahrhaftigkeit und viertens fÝr die mit dem Sprechakt an-
118
Habermas, Ju ¨rgen
gebotene interpersonale Beziehung Richtigkeit (im Sinne der Àbereinstimmung mit geltenden Normen) beanspruchen. Diese GeltungsansprÝche enthalten rationale BegrÝndungsverpflichtungen, von denen die GeltungsansprÝche der (Aussagen-)Wahrheit und der (normativen) Richtigkeit mit den Mitteln der argumentativer Rede, genauer: im (einerseits theoretischen, andererseits praktischen) Diskurs einlÚsbar sind. Die formale Idee der VerstÈndlichkeit und die materialen Ideen der Wahrheit, der Richtigkeit (eigentlich Gerechtigkeit) sowie der Wahrhaftigkeit kennzeichnen die verschiedenen Dimensionen der kommunikativen RationalitÈt. Diese Vernunft, die primÈr eine praktische Vernunft ist, ist Habermas zufolge der Lebenswelt, genauer: der Gesellschaft als %Lebenswelt immanent, insofern diese sich im Medium des kommunikativen Handelns reproduziert und durch Reproduktion erhÈlt (»symbolische Reproduktion« der Lebenswelt). Die Lebenswelt verdankt dieser Vernunft bzw. ihrer Entfaltung die Ausdifferenzierung in die drei Wissens-, Handlungs- und/oder Aufgabenbereiche der %Kultur (mit %Wissenschaft, %Moral und %Kunst), der Gesellschaft im engsten Sinne des Worts (d. h. dem Úffentlichen Raum zwischenmenschlicher Beziehungen, in dem VerstÈndigung als ein »Mechanismus« der Handlungskoordinierung fungiert), sowie der (Bildung der) »PersÚnlichkeit« (d. h. der Sozialisation nachwachsender Generationen). Allerdings ist Gesellschaft im weitesten Sinne bei Habermas nicht nur kommunikativ strukturierte Lebenswelt, sondern immer auch noch grenzerhaltendes System (im Sinne Luhmanns), das heute in zwei Formen auftritt: als »kapitalistisch verselbststÈndigtes Wirtschafts- und . . . bÝrokratisch verselbststÈndigtes Herrschaftssystem«, d. h. als Staat. In diesen HandlungszusammenhÈngen, in denen das positive Recht Ordnungsfunktion besitzt, Ýbernehmen »Steuerungsmedien«, vor allem »Geld« und »administrative Macht«, die Funktion der Handlungskoordinierung, die in der Lebenswelt die VerstÈndigung innehat. Wirtschaft und Staat dienen dem Àberleben der Menschen (der »materiellen Reproduktion« der Gesellschaft). Sie sind beherrscht von der kognitiv-instrumentellen RationalitÈt (als »funktionalistischer Vernunft«). In der Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System (und hier insbesondere Staat)
nimmt Habermas die fÝr die %politische Philosophie der %Neuzeit (A) Ýberhaupt charakteristische Differenzierung zwischen vertikaler genossenschaftlicher Dimension des politischen Bereichs und horizontaler Herrschaftsdimension auf. Er knÝpft daran aber die These, dass die »Hegel-Marxistische Gesellschaftstheorie« in der Differenz die Einheit, d. h. die Vernunft nicht sah, die die GesellschaftssphÈren der Lebenswelt und des Systems zusammenhÈlt, und dass sie daher selbst in Handlungs- und Systemtheorien auseinander fiel. Die Theorie des kommunikativen Handelns hat daher zugleich die Aufgabe, diese TheorieansÈtze zusammenzufÝhren – auf eine Weise, die die empirische »Erforschung des Musters der Modernisierung« in die Lage versetzt, die Ambivalenzen der geschichtlichen Entwicklungsprozesse, insbesondere sozialpathologische PhÈnomene, bemerken zu kÚnnen. Derartige Ambivalenzen und PhÈnomene verdanken sich nach Habermas nÈmlich in concreto dem Umstand, dass – wie vermutungsweise gerade heute – Geld und administrative Macht in der Lebenswelt einen derartigen Einfluss gewinnen, dass zwischenmenschliche Beziehungen »konsumistisch« umgedeutet und LebensverhÈltnisse nur noch bÝrokratisch interpretiert werden. Solche Àbergriffe des Systems in die Lebenswelt sind, folgt man Habermas weiter, Resultat des Erfolgs des Kapitalismus, der unter Gesichtspunkten der materiellen Reproduktion zwar durchaus als positiv zu bewerten ist, aber mit einem negativ zu bewertenden ungezÝgelten Wachstum des »monetÈr-bÝrokratischen Komplexes« einhergeht, in dessen Effekt die System-Imperative in die Lebenswelt eindringen und fÝr die Deformierung der kommunikativen Strukturen sorgen. Eine (mÚgliche) »Pathologisierung der Lebenswelt« in diesem Sinn verlangt nach Habermas jedoch nicht etwa die Aufhebung des »kapitalistisch verselbststÈndigten Wirtschaftsund . . . bÝrokratisch verselbststÈndigten Herrschaftssystems«. Erforderlich wird im gegebenen Fall vielmehr eine basis- oder radikaldemokratische VerÈnderung der Gesellschaft, durch die ihre Bereiche – deren EigenstÈndigkeit und Differenziertheit die »großartige« »Signatur der Moderne« ausmachen, allerdings auch »Probleme der Vermittlung« erzeugen – sich wieder ausbalancieren. Anzuzielen (freilich nicht technisch machbar) ist ein Gleichgewicht, in dem die »Pro-
Habermas, Ju ¨ rgen
duktivkraft Kommunikation« die »Àbergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche« eingedÈmmt, sich »gegen die ›Gewalten‹ der beiden anderen Steuerungsressourcen, Geld und administrative Macht«, durchgesetzt hat und so »die . . . Forderungen der Lebenswelt zur Geltung bringen kann«, so Habermas 1985. Auf nichttechnischem Wege eine Demokratisierung zu befÚrdern, in deren Verlauf »ein immer dichter, immer feiner gesponnenes Netz« sprachlich vermittelter und vernunftgegrÝndeter, »humaner« Formen des Zusammenlebens entsteht, in denen Gegenseitigkeit und Distanz, Entfernung und gelingende, nicht verfehlte NÈhe, »Autonomie und AbhÈngigkeit in ein befriedetes VerhÈltnis treten« und Konflikte, die sich zwischen Menschen nicht ausschließen lassen, auf diese Weise Ýberlebbar werden (Habermas, ebd.), ist die praktische Absicht, die sich an die Theorie des kommunikativen Handelns knÝpft – wie auch an die zahlreichen Schriften, die auf sie gefolgt sind. Diese waren in den 90er Jahren zunÈchst vor allem der PrÈzisierung praktischer – ethischer, moralischer, rechtlicher – Grundfragen und der PrÈzisierung der Vorstellung von den humanen Formen des Zusammenlebens gewidmet (vgl. vor allem FaktizitÈt und Geltung, 1992; Die Einbeziehung des Anderen, 1996). Ende der 90er Jahre aber nahm Habermas unter Voraussetzung der mit der Theorie des kommunikativen Handelns vollzogenen Wende »von der Erkenntniszur Kommunikationstheorie« auch wieder erkenntnistheoretische Fragestellungen auf (vor allem in Wahrheit und Rechtfertigung, 1999). Das mit der Theorie des kommunikativen Handelns vorgelegte ›zweistufige‹ Gesellschaftskonzept, in dem die Kritik der instrumentellen Vernunft der frÝhen Frankfurter Schule nun die Form einer Kritik der funktionalistischen Vernunft erhÈlt, besticht nicht nur durch seine große begriffliche Differenziertheit und die vielfÈltigen DifferenzierungsmÚglichkeiten (z. B. zwischen Lebenswelt und Welt, Sittlichkeit und Moral, Moralfragen und Wertfragen), sondern auch durch seine auf Methodenpluralismus abzielende Anlage sowie die Programmatik, kritische Gesellschaftstheorie einem interdisziplinÈren empirischen Forschungsprogramm offen zu halten. Problematisch ist indes vielleicht dies: dass Habermas von einer Vernunftentwicklungslogik Gebrauch macht, bei der man sich fragt, wie sie
119
sich wohl von jenem Vernunftbegriff her ausweisen ließe, der expliziter Gegenstand der habermasschen Theorie ist: dem Begriff der nur noch formal (als Prozedur) bestimmten kommunikativen Vernunft. Als problematisch gilt aber auch das VerhÈltnis des Konzepts zur Empirie: Ein Nachweis steht noch aus, ob sich die interdisziplinÈr angelegte Forschung des habermasschen Rahmenkonzepts als gewinnbringend bedienen kann (H. Gripp). Dass das Konzept, das die verschiedenen empirischen Wissenschaften in einer »Erforschung des . . . Musters der . . . Modernisierung« verbinden soll, zumindest einer historisch-empirischen Wissenschafts- und Philosophie- oder Theoriegeschichtsschreibung, die sich an dem in Texten Gesagten orientiert, nur wenig Gewinn bringen dÝrfte, weil es offensichtlich Textinterpretationen fÚrdert, die, hermeneutisch gesehen, problematisch sind, darauf hat Habermas selbst aufmerksam gemacht: »Auch wenn ich viel zitiere und andere Terminologien Ýbernehme«, sagte er 1985 einmal auf eine Frage hin, die sich auf seine (große) Bereitschaft zur Rezeption Èlterer und neuerer, in- und auslÈndischer Philosophen und Theoretiker bezog, »weiß ich genau, dass mein Gebrauch mit dem, was die Autoren gemeint haben, manchmal wenig zu tun hat«, und »glaube, dass ich mir die fremden Zungen, hermeneutisch gesehen, auf brutale Art und Weise zu eigen mache.« Dies nimmt dem habermasschen Konzept, das theoretisch so sehr auf %Argumentation setzt, ein wenig an Àberzeugungskraft. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.1: HandlungsrationalitÈt und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalisti schen Vernunft, Frankfurt/M. 1981 : Zur Logik der Sozialwissenschaften, Neuausgabe Frankfurt/M. 1982 : Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Auf sÈtze, Frankfurt/M. 1988 : Dialektik der Rationalisierung. JÝrgen Habermas im GesprÈch mit Axel Honneth, Eberhard KnÚdler Bun te und Arno Widmann, in: Die Neue UnÝbersicht lichkeit, Kleine politische Schriften V, Frankfurt/M. 1985, 167 208 H. Gripp, ›JÝrgen Habermas‹. Und es gibt sie doch Zur kommunikationstheoretischen BegrÝndung von Vernunft bei JÝrgen Habermas, Paderborn / MÝnchen / Wien / ZÝrich 1984 W. Reese SchÈfer, JÝrgen Habermas, 4. Aufl. Frank furt/M. / New York (1991) 1994 P. K.
120
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831): Geboren am 27. 8. in Stuttgart, gestorben am 14. 11. in Berlin. Hegel gilt als der systematische Philosoph schlechthin. Er erhebt den Anspruch, die Philosophie in einem Wissen des %Absoluten abschließend begrÝndet, sie von diesem Wissen aus in ihrem ganzen systematischen Umfang dargestellt und in ihren GrundzÝgen vollendet zu haben. DurchgefÝhrt hat Hegel dieses Programm in der EnzyklopÈdie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, die 1817 erstmals erschien und 1827 und 1830 noch zwei Neuauflagen erlebte, wobei die erste stark erweitert war und auch inhaltliche VerÈnderungen aufwies. Sie gliedert sich in drei Teile: die Logik, die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes. Den ersten Teil hatte Hegel bereits 1812 bis 1816 in drei BÈnden als Wissenschaft der Logik vorgelegt, deren erster Band posthum 1832 in einer noch von ihm selbst vollendeten, stark verÈnderten Neuauflage herauskam; aus dem Bereich der Geistesphilosophie erschienen 1821 die Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Eine Sonderstellung nimmt die PhÈnomenologie des Geistes (1807) ein, deren Thema die Entwicklung der Gestalten des %Bewusstseins vom sinnlichen Bewusstsein bis zum absoluten Wissen ist. Sie bildete ursprÝnglich den ersten Teil des Systems, wurde dann aber durch den Anfang mit der Logik ersetzt. Im Unterschied zur PhÈnomenologie und Logik sind die EnzyklopÈdie und die Rechtsphilosophie LehrbÝcher zum Gebrauch in Vorlesungen, die deshalb nur den ›Grundriss‹ der Gedankenentwicklung enthalten. So fand das vollstÈndige System seine Darstellung auch erst in den Vorlesungen, wo Hegel u. a. Ýber %Logik und %Metaphysik, %Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, Rechtsphilosophie, Philosophie der Weltgeschichte, %sthetik, %Religionsphilosophie und Geschichte der Philosophie las. Dabei blieb das System jedoch im Einzelnen in einer bestÈndigen Entwicklung begriffen. Dass die Philosophie ein systematisches Ganzes sei, verdeutlicht Hegel mit dem Bild eines Kreises, der wiederum aus einzelnen Kreisen bestehe. Darin gebe es kein Erstes und kein Letztes, sondern alles halte und trage sich gegenseitig. Man mÝsse daher, um es angemessen zu begreifen, das Ganze vollstÈndig durchlaufen
und wieder in den Anfang zurÝckkehren, und nur dieses Ganze sei auch die %Wahrheit. Das philosophische %System erscheint somit als ein in sich geschlossenes Universum, das allumfassend auch in dem Sinne ist, dass es zugleich die Gedankenbestimmungen der %Wirklichkeit Ýberhaupt in sich enthÈlt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Wirklichkeit als Wirklichkeit der %Vernunft auch nur durch die Vernunft zu begreifen sei. Aber auch die Vernunft ist kein Erstes, das unmittelbar vorausgesetzt werden kann, sondern eine immanente Voraussetzung der erscheinenden Wirklichkeit selbst. Die Wirklichkeit der Vernunft kann daher auch nur im Durchgang durch die %Empirie erwiesen werden, weshalb Hegel auch den %Empirismus ausdrÝcklich aufwertet und seine Philosophie, wie kaum eine andere, die Verfahren und Resultate der besonderen, empirischen Wissenschaften zu integrieren versucht. Hegel beansprucht jedoch nicht, sie vollstÈndig aufgehoben zu haben, vielmehr ist philosophisch allein ihre begriffliche Gestalt von Interesse. Er setzt kritisch dort an, wo der Gebrauch grundlegender, allgemeiner %Begriffe nach seiner Auffassung auf unreflektierten Annahmen beruht. Indem er ihre Voraussetzungen und Konsequenzen deutlich macht, bezieht er diese Begriffe auf den Zusammenhang der logischen Gedankenbestimmungen und stellt damit zugleich die einzelnen Wissenschaften in einen systematischen Zusammenhang. Das kritische Verfahren Hegels knÝpft an die von %Kant durchgefÝhrte Unterscheidung von %Verstand und Vernunft an, wobei Vernunft die hÚhere, spekulative ErkenntnistÈtigkeit bezeichnet, die sich auf das %Unbedingte bzw. Absolute richtet. Im Unterschied zu Kant, dem er vorwirft, die Vernunft dem Verstand zu unterwerfen und dadurch zu begrenzen, mÚchte Hegel umgekehrt den Verstand in die Vernunft aufheben, indem er dessen BeschrÈnkungen auflÚst. Die Vernunft geht aus einer immanenten Kritik des Verstandesdenkens hervor, das zwar das VermÚgen der Begriffe sei, diese jedoch nur abstrakt auffasse. In polemischer Abgrenzung gegenÝber dem gewÚhnlichen Sprachgebrauch, der das %Abstrakte einem %Konkreten als der schon immer vertraut erscheinenden Wirklichkeit gegenÝberstellt, spricht Hegel von »abstrakt« dann, wenn etwas gegenÝber seinen Zu-
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
sammenhÈngen isoliert wird. Diese ZusammenhÈnge entzÚgen sich jedoch dem sinnlichen Bewusstsein ebenso wie den formallogischen Prinzipien des Verstandes, der die ›Dinge‹ als mit sich identische fixiere und dadurch gegeneinander verselbststÈndige. Die AuflÚsung solcher %IdentitÈten und damit der BeschrÈnktheit des Verstandes erfolge dort, wo der Verstand sich mit sich selbst notwendig in %WidersprÝche verstricke, ohne dass ein formallogischer Argumentationsfehler begangen worden sei. Nach Kant, der solche WidersprÝche unter dem Stichwort einer »transzendentalen Dialektik« behandelte, war dies bei dem Gebrauch der Vernunft in Beziehung auf das Unbedingte der Fall. Hieran knÝpft Hegel an, wenn er die immanente Kritik und AuflÚsung des Verstandesdenkens durch die Entwicklung von WidersprÝchen als %Dialektik bezeichnet. Dabei grenzt Hegel sich von allen Auffassungen ab – auch von der platonischen Dialektik als Kunst der GesprÈchsfÝhrung –, die in der Dialektik nur eine subjektive %Methode erblicken, um zur Wahrheit zu gelangen. Die dialektischen WidersprÝche beruhten nÈmlich nicht auf UnzulÈnglichkeiten des %Denkens, sondern darauf, dass die ›Dinge‹ an sich selbst widersprechend seien. In Bezug auf die endliche Wirklichkeit bedeutet dies, dass sie nicht als mit sich identische festgehalten werden kÚnnen, sofern sie das, was sie sind, nur durch ihre Beziehungen auf anderes sind. Die Entwicklung der WidersprÝche ist daher die Entwicklung der Beziehungen bis hin zur Ganzheit (TotalitÈt) der erscheinenden, endlichen Wirklichkeit. Hier wird, Hegel zufolge, deutlich, dass die endlichen ›Dinge‹ ihr Bestehen nur im Absoluten haben oder ihr Nichtsein das Sein des Absoluten ist. Die Dialektik, die diesen Nachweis fÝhrt, bezeichnet Hegel auch als die »negativ-vernÝnftige« Seite der Philosophie; ihr Resultat ist die AuflÚsung der endlichen Verstandesbestimmungen. Der entwickelte Widerspruch hat aber nicht nur ein negatives Ergebnis, sondern fÝhrt auf eine positive Bestimmung, die Einheit der entgegengesetzten Seiten. Dies wird durch den zur Charakteristik der hegelschen Dialektik immer wieder bemÝhten Dreischritt von These, Antithese und Synthese bzw. Position, Negation und Negation der Negation zum Ausdruck gebracht. Das Zusammengehen der entgegengesetzten Seiten mit sich
121
selbst im positiven Resultat des Widerspruchs bezeichnet Hegel auch als die »positiv-vernÝnftige« bzw. »spekulative« Seite der Philosophie. Sie betrachtet den Widerspruch in seiner Wahrheit, die selbst die Form des Widerspruchs hat. Das Absolute muss, nach einer Formel Hegels, als »IdentitÈt der IdentitÈt und der NichtidentitÈt« begriffen werden. Hegel behandelt den Widerspruchsbegriffs nicht als rein formale Denkbestimmung, sondern ontologisiert ihn, weil er, wie %Platon, die ganze Wirklichkeit als durch FormverhÈltnisse strukturiert ansieht und nicht durch feststehende, mit sich identische ›Dinge‹. Wenn daher die Wissenschaft der Logik die Formen und Bestimmungen des Denkens zum Thema macht, so wird nach Hegels Auffassung zugleich mit verhandelt, was der Gebrauch der logischen Gedankenbestimmungen inhaltlich bedeutet. Die Logik als die Wissenschaft des reinen Denkens ist somit zugleich Metaphysik. Sie gliedert sich in zwei Teile, die objektive Logik und die subjektive Logik bzw. die Lehre vom Begriff. Die objektive Logik umfasst in zwei BÝchern die Seinslogik und die Wesenslogik. In der Seinslogik erscheinen die Begriffe zunÈchst noch als feststehende Bestimmungen in Bezug auf ein Sein. Die %Kritik dieser Vorstellung ist wesentlich auch eine Kritik der vormaligen allgemeinen Metaphysik, der %Ontologie. Diese Kritik und damit den Àbergang von der traditionellen Ontologie des Seins zur Ontologie von FormverhÈltnissen vollzieht das zweite Buch der objektiven Logik, die Lehre vom Wesen. Unter den %Wesenheiten versteht Hegel die reinen Formbestimmungen; hier werden u. a. auch die Bestimmungen IdentitÈt, Unterschied, Widerspruch und %Grund behandelt und bis zum Begriff der Wirklichkeit als Wirklichkeit des Absoluten entwickelt. Diese ist reine SelbstbezÝglichkeit der Denkbestimmungen und damit absolute SubjektivitÈt. Der zweite Teil der Wissenschaft der Logik, die Subjektive Logik, behandelt demgemÈß die Selbsterfassung des Begriffs durch den Begriff. Hier findet die traditionelle Logik mit der Begriffs-, Urteils- und Schlusslehre ihren Ort, ebenso aber auch die im gewÚhnlichen VerstÈndnis in Bezug auf die objektive %Natur gebrauchten Bestimmungen der Mechanik, Chemie und %Teleologie als die Lehre von den %Zwecken. Beide Seiten fassen sich zusammen in der Lehre von der %Idee, in der
122
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
sich die absolute Idee als absolute %Freiheit bestimmt. In ihr findet die Philosophie ihre Vollendung, weil es von hier aus keinen notwendigen Àbergang in weitere Bestimmungen mehr gibt. Das VerhÈltnis der absoluten Idee zur Natur sei daher auch kein Àbergehen, sondern die Idee entschließe sich aus freien StÝcken, sich in die Natur zu entlassen und darin die Form des Andersseins, der ußerlichkeit anzunehmen. Dass die Natur EntÈußerung der Idee sei, bedeute auch, dass sie sich zu sich selbst nur Èußerlich verhalte. Sie habe keine innere Entwicklung, sondern sei als ein System von Stufen zu betrachten, die allein aus dem Begriff hervorgehen, welcher das Innere der Natur bilde. Der Gedanke einer natÝrlichen Evolution wird daher von Hegel verworfen; der Natur selbst kommt fÝr ihn keine Geschichte zu. Auf der Stufe des animalischen Organismus trete die SubjektivitÈt wieder hervor, aber diese SubjektivitÈt kÚnne sich innerhalb der Natur nicht selbst erfassen, die als bloße ußerlichkeit pure NegativitÈt und daher »Unangemessenheit zur Allgemeinheit« sei. Erst indem der Geist durch den Tod des NatÝrlichen als Wahrheit der Natur erscheine, werde die ußerlichkeit zurÝckgenommen und eine IdentitÈt mit dem %Allgemeinen erreicht. Die Entwicklung des Geistes stellt sich auf dieser Grundlage als ein fortschreitendes Hinwegarbeiten des NatÝrlichen dar. Dies vollziehe sich in den Gestalten des »subjektiven Geistes« (%Anthropologie, PhÈnomenologie, Psychologie), des »objektiven Geistes« (%Recht, MoralitÈt, %Sittlichkeit) und des »absoluten Geistes« (%Kunst, %Religion, Philosophie). Im Unterschied zur Natur handelt es sich hierbei um ein Hervorgehen dieser Gestalten auseinander. Der subjektive Geist ist unmittelbar als %Seele oder »Naturgeist« Gegenstand der Anthropologie, die Ýber die Empfindung in das Bewusstsein Ýbergeht, das sich in der PhÈnomenologie von seiner NatÝrlichkeit befreit und vom sinnlichen Bewusstsein zur Vernunft entwickelt. Die Psychologie vollendet die Selbsterfassung des subjektiven Geistes als theoretischen, praktischen und freien Geist, der sich die Wirklichkeit als sein Werk objektiv machen kann. Diese Objektivierung erscheint zunÈchst als Gewohnheit, als eine »zweite Natur«. Sie bildet die Basis des objektiven Geistes, der die all-
gemeinen, die einzelne SubjektivitÈt Ýbergreifenden %Strukturen des Rechts, der MoralitÈt und der Sittlichkeit umfasst. Sofern deren Gestaltungen den Individuen als Èußerliche Voraussetzungen und MÈchte gegenÝbertreten, erscheinen sie als natÝrlich, obwohl sie aus Objektivierungen bzw. VerÈußerlichungen der Subjekte hervorgehen. Diese zweite Natur erscheint vor allem in dem »System der BedÝrfnisse«, der SphÈre der ³konomie, in der die WillkÝr subjektiver BedÝrfnisse und der Interessen der PrivateigentÝmer herrsche, deren ungehemmte Freisetzung das sittliche Allgemeine zerstÚren wÝrde. In ihr kommt fÝr Hegel jedoch das Freiheitsprinzip der neuzeitlichen SubjektivitÈt zur Geltung; sie ist daher auch nicht zu beseitigen, sondern nur in ihren negativen Folgen zu beschrÈnken. Dies geschieht letztlich in der politisch-sittlichen Einheit des %Staates, der Wirklichkeit der sittlichen Idee, welcher seine Legitimation nicht aus der Vergesellschaftung partikularer Interessen, sondern aus der vernÝnftigen Allgemeinheit selbst bezieht, wie sie in den Gestalten des »absoluten Geistes« zum Vorschein kommt. VernÝnftige Allgemeinheit im Sinne des absoluten Geistes ist daher in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit nicht zu realisieren; die VersÚhnung mit der zerrissenen Wirklichkeit gelingt nur als Einsicht in die Notwendigkeit ihres So-Seins, die darin zugleich weiß, dass die GegensÈtze im Absoluten versÚhnt sind. Dieser VersÚhnung im Absoluten aber werden wir nur kontemplativ inne, sei es Èsthetisch, sei es religiÚs oder im wissenschaftlichen Erkennen der Philosophie. In seiner Rechtsphilosophie hat Hegel die Philosophie des objektiven Geistes in ihrem ganzen Umfang am ausfÝhrlichsten dargestellt. Seine Option fÝr einen konstitutionell-monarchischen StÈndestaat, verbunden mit der Ablehnung eines sich aus der %Gesellschaft zurÝckziehenden liberalen »NachtwÈchterstaates«, ist immer wieder so verstanden worden, als habe er sich kritiklos den restaurativen Tendenzen des damaligen preußischen Staates unterworfen. TatsÈchlich kritisiert Hegel die bloße Negation von AbhÈngigkeit als abstrakte Freiheit; konkrete Freiheit sei erst dort, wo der Geist im Anderen bei sich selbst sei und das Andere in seiner Notwendigkeit anerkennen kÚnne. Ihr Begriff hÈngt fÝr Hegel wesentlich an einer Erkenntnisdimension:
Heidegger, Martin
Sie ist Einsicht in die Notwendigkeit. Damit geraten aber auch umgekehrt die sittlichen VerhÈltnisse einschließlich der Formen und Institutionen des Staates unter den Zwang, sich als notwendig, d. h. vernÝnftig, legitimieren zu mÝssen, um als solche auch eingesehen werden zu kÚnnen. Hegels verankert die Freiheit in der Allgemeinheit des Rechts und stellt sich ausdrÝcklich der damaligen preußischen Restaurationspolitik entgegen, indem er auf einem Verfassungsstaat beharrt. Hierin sieht er das bleibende Resultat der von ihm zeitlebens trotz aller Kritik am jakobinischen Terror bewunderten FranzÚsischen Revolution. Hegels gesellschaftliche und politische Positionen entspringen aus der Ablehnung eines Moralismus des Sollens zugunsten der Einsicht in die objektiven Bedingungen gesellschaftlichen Handelns. Die Rechtsphilosophie geht vom VerhÈltnis der VÚlker und Staaten zur allgemeinen Weltgeschichte, die Hegel als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit charakterisiert. In ihr gestalte sich der Geist als Weltgeist geschichtlich zur Allgemeinheit; er bediene sich der Individuen, VÚlker und Staaten als Mittel, um seinen Endzweck zu verwirklichen, worin Hegel die »List der Vernunft« erblickt. Die jeweilige Entwicklungsstufe des Weltgeistes werde durch einen besonderen Volksgeist reprÈsentiert und vollstreckt, der als TrÈger des Weltgeistes ein absolutes Recht gegenÝber anderen VÚlkern habe, aber schließlich selbst einem hÚheren Prinzip weichen mÝsse. In diesem Sinne sei die Weltgeschichte zugleich das »Weltgericht«. In den aufeinander folgenden Epochen der Weltgeschichte (orientalisches, griechisches, rÚmisches und germanisches Reich) vollziehe sich ein Fortschritt von der Freiheit des Einzelnen, des orientalischen Despoten, Ýber die Freiheit einiger in der griechisch-rÚmischen bis hin zur Freiheit aller in der christlich-germanischen Welt. Auf diese Weise bestÈtige sich die Herrschaft der Vernunft in der Geschichte und die Geschichtsphilosophie sei zugleich %Theodizee. Im Anschluss an die Weltgeschichte sind auch die Gestalten des absoluten Geistes – Kunst, Religion und Philosophie – wesentlich geschichtlich aufzufassen. Die Kunst stehe als Produkt des menschlichen Geistes hÚher als die Natur; im KunstschÚnen reprÈsentiere sich die Wahrheit selbst, indem die Idee des Absoluten
123
zur Anschauung gebracht werde. Die Gattungen und Formen der Kunst treten in den geschichtlichen Epochen auf unterschiedliche Weise dominierend hervor. WÈhrend die Architektur als symbolische Kunst in der orientalischen Welt herrschte, ist die Skulptur Kennzeichen der griechisch-rÚmischen Antike. In der ›romantischen‹ Kunst der christlichen Epoche hingegen seien Malerei, Musik und Poesie die bestimmenden Formen. Mit dieser Stufe sei die Entwicklung der Kunst insofern zum Abschluss gebracht, als das Absolute nun im Reich des Gedankens selbst angemessen zur Darstellung gebracht werden kÚnne. Dies trifft auch fÝr das VerhÈltnis der zweiten Gestalt des absoluten Geistes, der Religion, zur Philosophie zu. Das protestantisch verstandene Christentum als die vollendete Religion habe dieselbe Wahrheit wie die Philosophie, stelle sie aber in einer uneigentlichen, %exoterischen Weise dar. Um sich seines wahren Inhalts zu vergewissern, mÝsse sich das fromme Selbstbewusstsein dem philosophischen Begriff zuwenden. Die Philosophie kÚnne dieses BedÝrfnis befriedigen, weil sie selbst ihren geschichtlichen Lauf vollendet und das Absolute vollstÈndig erkannt habe. Der Gang der Geschichte der Philosophie entspreche dabei im Großen und Ganzen der Entwicklung der logischen Gedankenbestimmungen, sodass sie sich in der Wissenschaft der Logik zusammenfasse. Damit schließt sich der Kreis: das Ende des Systems ist die RÝckkehr in seinen Anfang. A. Gulyga, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frank furt/M. 1974 O. PÚggeler (Hg.), Hegel. EinfÝhrung in seine Philoso phie, Freiburg / MÝnchen 1977 V. HÚsle, Hegels System, 2 Bde., Hamburg 1988 Ch. Taylor, Hegel, Frankfurt/M. 1983 H. SchnÈdelbach, Hegel zur EinfÝhrung, Hamburg 1999 A. A.
Heidegger, Martin (1889–1976): Eine treffende Kennzeichnung des Lebens des %Aristoteles, so Heidegger in einer seiner Vorlesungen, lautet »Er wurde geboren, arbeitete und starb«. Sicher hÈtte es Heidegger nicht ungern gesehen, dass diese Beschreibung auch auf ihn angewandt wÝrde. Genauso wie Aristoteles aber der Lehrer eines Alexander war, genauso wollte Heidegger der Lehrer eines anderen FÝhrers sein. Diesem
124
Heidegger, Martin
Wunsch nicht widerstanden zu haben, brachte ihm spÈter den Entzug der Lehrbefugnis ein. Dennoch gehÚren seine Schriften, neben denen von %Wittgenstein, in den Kreis der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jhs. Heidegger wurde am 26. September 1889 in Meßkirch als Sohn des KÝfermeisters und Messdieners Friedrich Heidegger und dessen Frau Johanna geboren. Die einfachen VerhÈltnisse waren auf einen langen Bildungsweg nicht ausgelegt, sodass fÝr einen talentierten Jungen im Grunde nur das FÚrderstipendium der katholischen Kirche mit dem Ziel der Priesterausbildung in Aussicht stand. Diesen Weg hat Heidegger dann zunÈchst auch beschritten und besuchte das Jesuitengymnasium in Konstanz, dann das Gymnasium in Freiburg, bevor er sich im Wintersemester 1909/10 an der Theologischen FakultÈt der UniversitÈt Freiburg immatrikulierte. Neben seinen theologischen Studien betrieb er jedoch auch umfangreiche philosophische Studien und las u. a. %Husserls Logische Untersuchungen. Nach vier Semestern brach Heidegger das theologische Studium vollends ab und wechselte zur naturwissenschaftlich-mathematischen FakultÈt, wo er 1914 Ýber Die Lehre vom Urteil im Psychologismus promovierte und sich 1916 zur Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus habilitierte. Als Husserl 1916 eine Professur in Freiburg erhielt, wurde Heidegger 1917 sein Assistent. 1923 erhielt Heidegger den Ruf als außerordentlicher Professor an die UniversitÈt Marburg, wo im Kreis seiner HÚrer und SchÝler Namen zu finden sind, die spÈter große Bedeutung erlangten: u. a. %Gadamer, Horkheimer, LÚwith, Ritter – und Hannah Arendt. Hier in Marburg begann er mit den Vorarbeiten zu Sein und Zeit, seinem Hauptwerk. Im FrÝhjahr 1926 war die Niederschrift abgeschlossen. Ein Jahr nach der VerÚffentlichung wurde Heidegger 1928 als Professor fÝr Philosophie in der Nachfolge seines Lehrers Husserl auf dessen Lehrstuhl berufen. Ab 1933 wurde, vor allem in den Augen der Nachwelt, sein Wirken an dieser UniversitÈt von seiner zeitweiligen Begeisterung fÝr die nationalsozialistische Bewegung Ýberschattet. WÈhrend z. B. Hannah Arendt als JÝdin nach Frankreich und weiter in die USA emigrieren musste, ließ sich Heidegger im April 1933 im Zuge der Gleichschaltung der deutschen UniversitÈten
zum Rektor der Freiburger UniversitÈt wÈhlen. Seine Teilnahme an der messianischen Aufbruchsstimmung dieser Zeit bekundet die berÝhmte Rektoratsrede Ýber die Selbstbehauptung der deutschen UniversitÈt vom Mai 1933. Obwohl Heidegger relativ bald seinen Irrtum einsah und im April 1934 sein RÝcktrittsgesuch als Rektor einreichte (gleichwohl aber Professor blieb), wurde ihm dieser ›SÝndenfall‹ nach Kriegsende nur schwer verziehen. Bis 1951 hatte Heidegger Unterrichtsverbot, konnte sich aber bezeichnenderweise niemals zu einer ErklÈrung oder gar zu einem Schuldbekenntnis durchringen. Als er wieder lehren durfte, zeigte das große Interesse der Studenten wie auch der internationalen Fachwelt bis nach Japan, dass Heidegger keineswegs vergessen worden war. Als er am 26. Mai 1976 starb, war er bereits ein Mythos geworden. Wenn es so etwas wie einen SchlÝssel fÝr das Gesamtwerk Heideggers gibt, dann ist das sicherlich der Gedanke eines Ursprunges oder Urgrundes, einer Tatsache jedenfalls, auf der alles, was es in der Welt gibt, die Handlungen der Menschen eingeschlossen, beruht. Der Gedanke eines solchen Urgrundes lÈsst sich zurÝckverfolgen bis in Heideggers Habilitationsschrift Ýber die Kategorienlehre des mittelalterlichen Scholastikers Duns Scotus. Besonders deutlich tritt dieser Gedanke in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hervor. Da nÈmlich richtet Heidegger seine Aufmerksamkeit auf impersonale SÈtze wie z. B. ›Es regnet‹ oder ›Es blitzt‹. Er ist der Meinung, dass SÈtze dieser Art auf ein Ur-Etwas und eine von diesem ausgehende, subjekt- und objektlose TÈtigkeit verweisen, weil ja, so Heidegger, mit derart geformten SÈtzen weder auf einen Akteur noch auch auf einen Gegenstand der TÈtigkeit Bezug genommen wird. Ganz im Gegenteil sind solche SÈtze Ausdruck einer ursprÝnglichen Bewegung, die Heidegger spÈter mit der Zeit, noch spÈter mit der Sprache identifizieren wird. In seinem 1927 erschienenen philosophischen Hauptwerk mit dem Titel Sein und Zeit ist es dann nicht mehr ein Ur-Etwas, das allen Dingen und TÈtigkeiten zugrunde liegt, sondern das %Sein. Seine kategoriale %Struktur ist die %Zeit. Heidegger beginnt Sein und Zeit mit der Frage, an wen man sich denn richten mÝsse, wenn man erfahren will, worum es sich bei dem Sein, welches das Thema der Abhandlung bildet,
Heidegger, Martin
denn Ýberhaupt handelt. Die Antwort lautet, dass nur das menschliche Dasein Aufschluss Ýber das Sein gewÈhren kann, und zwar aus zweierlei GrÝnden: Zum einen zÈhlt es mit zu den Dingen, die sind. Das allein zeichnet es jedoch noch nicht gegenÝber den anderen Dingen aus, die ja ebenfalls sind. Was das Dasein den anderen Dingen voraus hat und wodurch es fÝr den Philosophen interessant wird, ist sein SeinsverstÈndnis. Heidegger bezeichnet dieses nur dem Dasein eignende SeinsverstÈndnis als %Existenz. Will man etwas Ýber das Sein erfahren, so muss man folglich beim menschlichen Dasein ansetzen, da nur dieses ist und zugleich ein VerstÈndnis seines Seins besitzt. Menschliches Dasein lÈsst sich nun auf zweierlei Weise thematisieren: Einmal als erkennendes, zum anderen als handelndes. Heidegger wÈhlt die zweite Zugangsart und begrÝndet das damit, dass Erkennen selbst nur auf dem Boden einer vorgÈngigen %Praxis mÚglich sei. Damit ist die Antwort auf die nÈchste Frage vorweggenommen. Diese lautet, auf welche Weise das Dasein als praktisches zu thematisieren ist. Soll man sein Handeln physikalisch beschreiben, indem man Berechnungen Ýber seine KÚrperbewegungen anstellt, oder soll man es vielleicht als funktionalen Mechanismus beschreiben, dessen Bestandteile auf dem Wege der Evolution gewisse Funktionen herausgebildet haben? Keine dieser Zugangsarten hÈlt Heidegger fÝr angemessen, weil damit das %Dasein zum Gegenstand einer theoretischen Disziplin gemacht werden wÝrde, und das heißt fÝr ihn, dass es nur mehr aus einer bestimmten Perspektive und mit einem bestimmten Erkenntnisziel in den Blick kÈme. Heidegger ist nun aber der Meinung, dass es eine allen diesen Perspektiven vorgÈngige und zugrunde liegende Zugangsweise zum menschlichen Dasein gibt, die darin besteht, das Dasein in seinen alltÈglichen HandlungszusammenhÈngen zu beschreiben, und zwar so, wie sie sich von sich selbst her zeigen. Die %Methode, etwas so zu beschreiben, wie es sich von sich selbst her zeigt, ohne dass dabei schon bestimmte theoretische Annahmen eine Rolle spielen wÝrden, bezeichnet Heidegger als »phÈnomenologische Methode«. Die Wahl einer vortheoretischen Zugangsart wirft sogleich das nÈchste Problem auf. Dieses lautet: Wie kann man das Dasein in seinen all-
125
tÈglichen HandlungszusammenhÈngen beschreiben, ohne aufhÚren zu mÝssen, Philosoph zu sein? Eine Beschreibung dessen, was jemand alltÈglich tut, kÚnnte z. B. darin bestehen, seinen Tagesablauf nachzuzeichnen. Am Ende erhielte man eine Aufreihung von Ereignissen, die, wenngleich nicht uninformativ, so doch kaum als Philosophie zu bezeichnen wÈren, denn der Philosoph hat es genauso wenig wie der Naturwissenschaftler mit dem Einzelnen zu tun oder wenn, dann nur insofern, als es Ausdruck eines allgemeinen %Prinzips oder einer allgemeinen GesetzmÈßigkeit ist. Das %Allgemeine an Handlungen sind die Strukturen der Handlung. Folglich muss die philosophische BeschÈftigung mit Handlungen deren Strukturen thematisieren. Eine philosophische Methode, welche die Strukturen einer Sache in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rÝckt, nennt man %transzendental. Zusammengenommen ergibt sich fÝr Heideggers Philosophie die Methode einer transzendentalen %PhÈnomenologie. Worin bestehen nun aber die Strukturen von Handlungen? ZunÈchst gilt es das oben entworfene Bild aufeinander folgender Ereignisse zu revidieren. Zwar ist es richtig, dass eine Handlung auf die andere folgt und dass die einzelnen Handlungen eines Menschen eine Art von Ereigniskette bilden. Das allein macht sie aber Heidegger zufolge noch nicht zu Handlungen. Worauf es bei Handlungen vor allem ankommt, ist ihr Verweisungscharakter. Klassisch drÝckt man diese Tatsache dadurch aus, dass man sagt, einzelne Handlungen stÝnden in einer Zweck-Mittel-Beziehung. Etwas ist Mittel zu einem %Zweck. Das Gehen zum KÝhlschrank hat seinen Zweck im Holen der Milch. Was Zweck ist, kann in eine weitere Zweck-Mittel-Beziehung eintreten: Das Holen der Milch dient zum Stillen des Durstes. Und was fÝr Handlungen gilt, gilt ebenso auch fÝr die GegenstÈnde der Handlungen. Der Stift, sofern man ihn nicht zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung macht, ist kein bloßes Ding. Der Stift dient zu etwas, nÈmlich zum Schreiben. Um den Gebrauchsaspekt der Dinge zu betonen, mit denen wir alltÈglich umgehen, bezeichnet sie Heidegger als »Zeug«. Der Stift ist also beispielsweise ein Zeug zum Schreiben, ein Schreibzeug. Zusammengenommen stellt das Zeug, mit dem das Dasein tagtÈglich konfrontiert ist, ein Verwei-
126
Heidegger, Martin
sungssystem dar. Das Werkzeug des Schuhmachers verweist auf das, was man damit herstellen kann, nÈmlich Schuhe, diese wiederum verweisen auf einen TrÈger usw. Das Gesamtsystem von Verweisungen, das die Dinge des Alltags charakterisiert, bezeichnet Heidegger als »Bewandtniszusammenhang«. Die Herausarbeitung der allgemeinen Strukturen der alltÈglichen HandlungsvollzÝge ist der erste Schritt auf dem Wege zu den Strukturen des Seins. Die Explikation der Grundstrukturen des menschlichen Daseins erschÚpft sich nun aber nicht in der Charakterisierung des Bezugscharakters menschlicher Praxis. Zu dem, was Heidegger als das Dasein bezeichnet, gehÚren weitere grundlegende Eigenschaften, die einen weiteren Untersuchungsschwerpunkt von Sein und Zeit bilden. Hierzu zÈhlen solche Dinge wie %Sprache, aber auch die Tatsache, dass die Menschen GefÝhle haben, weiter, dass sie die Dinge, mit denen sie alltÈglich konfrontiert sind, verstehen, außerdem SozialitÈt, von Heidegger als »Mitsein« bezeichnet und Weltbezogenheit, von Heidegger »In-der-Welt-Sein« genannt. Bestimmungen wie die genannten tragen bei Heidegger den Namen %Existenzialien. Heidegger wÈre nun kein Philosoph, gÈbe er sich mit einer Liste derartiger Existenzialien zufrieden. Worum es ihm in Sein und Zeit geht, ist, die allgemeinsten Strukturen des Seins zu ermitteln. Eine Liste von unverzichtbaren Bestimmungen kann diesem Vorhaben nicht genÝgen. Aus diesem Grunde nimmt Heidegger an, dass sich alle Existenzialien zu einem Strukturganzen zusammenbringen lassen. Jede der genannten Bestimmungen ist Ausdruck einer noch abstrakteren Grundstruktur, als das die Strukturen von Handlungen schon waren. Heidegger nennt dieses Strukturganze »Sorge« und definiert diesen Begriff als »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der Welt) als Sein-bei-(innerweltlich begegnendem Seiendem)«. Heidegger will mit dieser Formulierung deutlich machen, dass das Dasein als praktisch handelndes EntwÝrfe macht – »Sich-vorweg« –, dabei stets Ýber einen bestimmten Spielraum von MÚglichkeiten verfÝgt – »Schon-seinin« (der Welt) – und es dabei mit bestimmten GegenstÈnden zu tun hat als »Sein-bei« (innerweltlich begegnendem Seiendem). Auch die dreifach untergliederte Sorgestruktur ist wieder nur ein Zwischenschritt auf dem
Weg zu dem, was Heidegger als den Sinn von Sein bezeichnet. Wesentlich an der Sorgestruktur sind die zeitlichen Implikationen der einzelnen Aspekte. In den AusdrÝcken »vorweg«, »schon« und »sein-bei« kÝndigen sich zeitliche Bestimmungen an, deren Erarbeitung im Wesentlichen der Schlussteil von Sein und Zeit gewidmet ist. Ohne auf Details einzugehen, lÈsst sich der weitere Argumentationsgang von Sein und Zeit wie folgt zusammenfassen: Der Sorge als Ganzer liegt die Zeit, den Aspekten der Sorge liegen jeweils zeitliche Aspekte zugrunde. Dem Sich-vorweg entspricht die Zukunft, dem Schon-sein-in die Vergangenheit, dem Sein-bei die Gegenwart. Allerdings darf man sich das nicht so vorstellen, als ob ein Teil der Handlungen, deren Struktur die Sorge bildet, vergangen ist, ein anderer gerade aktuell vollzogen wird und ein weiterer bevorsteht. Zeit bei Heidegger heißt in erster Linie Gerichtetheit, IntentionalitÈt. Ebenso wie sein Lehrer Husserl ist Heidegger der Meinung, dass, damit es so etwas wie Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit geben kann, das %Bewusstsein (Husserl) bzw. das Dasein (Heidegger) eine dreifache zeitliche Ausrichtung auf jeden dieser drei Aspekte besitzen muss. Heidegger nennt diese zeitlichen Ausrichtungen »Ekstasen«; ihre Einheit bezeichnet er als »Zeitlichkeit«. In Heideggers SpÈtwerk, das sich einer genauen Interpretation nur noch teilweise erschließt, verschiebt sich der Akzent der Àberlegungen von der Zeit auf die Sprache. Heidegger knÝpft damit an die sich in den dreißiger Jahren vor allem im englischsprachigen Raum vollziehende sprachphilosophische Wende an, wobei er sich aber auf Unterscheidungen bezieht, die ihren Ursprung in der mittelalterlichen Debatte um die Frage nach dem Sein haben. Was den zuletzt genannten Punkt angeht, so orientiert sich Heidegger in seinem SpÈtwerk an der Differenz von Sein und Seiendem, wie sie sich beispielsweise bei %Thomas von Aquin findet. Diese auch als ›ontologische‹ bezeichnete Differenz besagt zunÈchst soviel, wie dass zu einem Seienden noch das Sein hinzutreten muss, damit es zu existieren beginnen kann. Traditionell kam %Gott als der Quelle allen Seins die Funktion der Seinsgabe zu. Heidegger ÝbertrÈgt diese Aufgabe zunÈchst einem anonymen Ereignis. »Die Gabe von Anwesen«, so schreibt Hei-
Heraklit von Ephesos
degger in seiner Schrift Zeit und Sein, »ist das Eigentum des Ereignisses.« In einem Ereignis wird also an ein Ding das Sein Ýbertragen, sodass es existieren oder – wie Heidegger sich ausdrÝckt -»anwesen« kann. Heidegger verbindet den Gedanken der Seinsgabe, und das rÝckt sein SpÈtwerk ein in den Kreis der %Sprachphilosophie, mit der Sprache, indem er Ereignis und Sprache miteinander identifiziert. In seinem Aufsatz Der Weg zur Sprache schreibt Heidegger: »Das erbringende Ereignen, das die Sage (Heideggers Bezeichnung fÝr Sprache bzw. sprachliche VollzÝge) als die Zeige (Heideggers Bezeichnung fÝr sprachliche Bezugnahme) in ihrem Zeigen regt, heiße Ereignen.« Umgangssprachlich ausgedrÝckt besagt diese Passage etwa, dass sprachliche AusdrÝcke Sinn und Bedeutung haben und damit auf etwas verweisen. Zugleich hebt mit dem Ausgesprochensein das entsprechende Ding zu existieren an. Damit wird %Existenz, auf ganz andere Weise allerdings als in der analytischen Sprachphilosophie, an Sprache gebunden. Sprache fÝhrt gewissermaßen dazu, dass etwas existieren kann. Ohne Sprache keine Dinge. R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, MÝnchen 1994 Th. Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley / Los Angeles / London 1993 O. PÚggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg / MÝnchen 1992 Th. Rentsch, Martin Heidegger. Das Sein und der Tod, MÝnchen / ZÝrich 1989 H. Ott, Martin Heidegger, Frankfurt/M. / New York 1988 K. LÚwith, Heidegger Denker in dÝrftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stutt gart 1984 [1953] T. B.
Heraklit von Ephesos (um 540–480): Stammt aus Ephesos an der kleinasiatischen MittelmeerkÝste und stand um 500 v. Chr. in der BlÝte seiner Jahre. Themistokles erzÈhlt, dass die an das Wohlleben gewÚhnten Epheser einstmals berieten, was zu tun sei, um den Lebensunterhalt in der von den Persern belagerten Stadt zu sichern. »Als sie darÝber alle versammelt waren, nahm ein Mann namens Heraklit GerstengrÝtze, mischte sie mit Wasser und aß sie unter ihnen sitzend und dies war eine stillschweigende Leh-
127
re dem ganzen Volk.« Oft ist das Schweigen das Weiseste, was der Mensch ersinnen kann. Diogenes Laertius berichtet, dass Heraklit, als er einmal gefragt wurde, warum er schweige, erwidert haben soll: »Damit ihr plappern kÚnnt.« Der Marktplatz, auf dem die Vielen Worte machen, taugte nicht fÝr Heraklit. Seine Worte sind karg. Sie sind wie FelsblÚcke, philosophische Brocken von lapidarer Wucht. Die auf uns gekommenen Fragmente sind hart gefÝgt. In der Fuge zeigt sich die Harmonie des kunstvollen Baus. Weit gefehlt, wenn %Hegel im Anschluss an %Aristoteles Heraklit »vernachlÈssigte WortfÝgung und unausgebildete Sprache« unterstellt. Wie in der Sprache der Dichtung als aufgehobenem Schweigen ist bei Heraklit auf das zu achten, was er durch das Nicht-Sagen sagt. In Fragment 93 – »Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehÚrt, sagt nicht und verbirgt nicht, sondern gibt Zeichen (Winke)« – wird Apoll bezeichnet, ohne ihn zu nennen. Wie Apoll spricht Heraklit nicht aus, er sagt nicht und doch sind seine Bilder und Gleichnisse nicht nichtssagend, sondern stillschweigend beredt. Wo er trivial erscheint, ist der eine oft doppelspurige Weg seines Denkens verfehlt. Man muss genau zusehen. Das Tiefste ist an der OberflÈche versteckt: eine verÈnderte Betonung und die Sache steht anders. Es ist naiv, Heraklit als naiv anzusehen, wie seit Hegel immer wieder geschehen. Schon die Alten gaben Heraklit den Beinamen ›der Dunkle‹. %Cicero meint, Heraklit sei absichtlich dunkel gewesen. Hegel hÈlt diese Meinung zu Recht fÝr »sehr platt« und schließt sich wie Hamann der EinschÈtzung des %Sokrates an, der, als ihm Euripides die Schrift des Heraklit zum Lesen Ýberreichte und ihn fragte, wie er darÝber denke, erwidert haben soll: »Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delphischen Tauchers« – eines Tauchers wie der Delphin, das heilige Tier des delphischen Apoll, das eintaucht ins Dunkle des Meeres und auftaucht an die Sonne? Diogenes Laertius Ýberliefert ein Epigramm auf Heraklit: »Nicht schnell wende die BlÈtter des Heraklitischen Buches. / Steil und schroff ist der Pfad, den zu erklimmen es gilt. / Finsternis herrscht und dÝsteres Dunkel; doch fÝhrt ein Geweihter / Dich durch das Buch, so
128
Heraklit von Ephesos
strahlt’s heller als Sonnenschein dir.« Zu den zahlreichen Klagen Ýber die Dunkelheit des heraklitischen Stils sagt %Nietzsche: »Wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb fÝr die lesenden SchnellÈufer dunkel.« Er beruft sich auf die Bemerkung Jean Pauls: »Im Ganzen ist es recht, wenn alles Große . . . nur kurz und (daher) dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es lieber fÝr Unsinn erklÈre als in seinen Leersinn Ýbersetze. Denn die gemeinen Geister haben eine hÈßliche Geschicklichkeit, im tiefsten und reichsten Spruch nichts zu sehen als ihre eigne alltÈgliche Meinung.« Nicht zu verwechseln ist das Gegensinnige mit dem Unsinnigen, das Paradoxe mit dem Paralogischen. Heraklit lesen erfordert, es ganz genau zu nehmen. Oft steckt das Entscheidende im Detail. Vorschnelle Vergleiche, um auf die Heeresstraße der alltÈglichen Meinung einzuschwenken, sind verfehlt. Etwa mit %Popper zu wÈhnen, Heraklit stelle sich die Welt nicht als Gesamtheit der Dinge, sondern als Gesamtheit der Tatsachen vor, hieße, Heraklits Sentenzen zu einer Art ›Prototractatus‹ und Heraklit zum VorlÈufer des frÝhen %Wittgenstein zu machen. Das ist nicht die Welt Heraklits. Sein Denken ist keine ›orakelnde Philosophie‹ im schlechten Sinn, obgleich man seine Winke von alters her verglichen hat mit denen Apolls, der Herrscher des Manteion (Orakel) in Delphi ist, der nicht enthÝllt und nicht verhÝllt, sondern bedeutet. Mantik und Semantik, Doppelsinn und Sinn sind hier zusammengebracht. Hat Heraklit auch nicht den Tiefsinn des Wortspiels entdeckt, wie %Gadamer meint – dies Verdienst kommt Homer zu –, so ist doch hier zuerst die philosophische Bedeutung des doppelsinnigen Wortes erfasst, das Sinn und Gegensinn in sich vereint. Es kann – wie Hegel treffend sagt – »dem Denken eine Freude gewÈhren, auf solche WÚrter zu stoßen und die Vereinigung Entgegengesetzter . . . schon lexikalisch als Ein Wort (mit) entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden«. (Vgl. Fragment 48: »Nun ist der Bogen dem Namen nach Leben, in der Tat aber Tod.« (Àbersetzung von B. Snell), wo Heraklit den Doppelsinn der griechischen Sprache bedenkt, die ein Wort hat fÝr das, was – verschieden akzentuiert – sowohl ›Bogen‹ als auch ›Leben‹ bedeutet. %Vernunft ist %Sprache, %Logos – Entsprechung im Widerspruch. Hera-
klits Denken ist ein Denken der Sprache, ein Nachdenken dessen, was uns die Sprache immer schon vorgedacht hat. WÈre es auch zuviel gesagt, Heraklits Denken der Sprache schon die erste Philosophie der Sprache zu nennen – wie Lassalle es tat –, so ist doch hier die Spur aufzunehmen, die zur Grundschrift des griechischen Denkens Ýber die Sprache fÝhrt, nÈmlich zu dem platonischen Dialog, der nach dem Herakliteer Kratylos benannt ist. Als ein Denker, der mit der Sprache denkt, mit der Sprache mitgeht, hat Heraklit die rhythmischen Elemente des Altgriechischen in seinen Logos hineingeholt. So ist seine NÈhe zur Lyrik – insbesondere zu Aischylos – denen, die ein feines Ohr haben, nicht entgangen. Die Bildlichkeit der poetischen Prosa Heraklits ist durchaus nicht gewaltsam, wie J. Burckhardt meint, vielmehr wÈre sie eher gewaltig zu nennen. HÈufig liegen den Fragmenten, wie zum Beispiel den Harmoniefragmenten (Vgl. zum Beispiel Fragment 8, wo vom »Zusammengehen des Widerspenstigen« die Rede ist und dabei von bestimmten Formen der Holzbearbeitung auszugehen ist) ganz konkrete Bilder zugrunde. Schon Bernays hat erkannt, dass Heraklit gerade bei seinen bildlichen AusdrÝcken hÈufig auf Homer Bezug nimmt – eine Erkenntnis, der man hinsichtlich der fÝr den Harmonie-Begriff entscheidenden Fragmente 8, 10, 51 und 54 bisher zu wenig Beachtung geschenkt hat. Heraklit stÚßt sich von Homer ab – von ihm war er angezogen. Wie in einem Palimpsest, das heißt in einer alten, von neuem beschriebenen Handschrift, erblickt man plÚtzlich sozusagen unter dem heraklitischen Logos die mythischen Bilder Homers. Man sieht: »Bevor gedacht wird, muss schon gedichtet worden sein« (Nietzsche). Eingedenk der PrÈgnanz der Sprache Heraklits wÈre das hegelsche Wort »das Wahre ist konkret« das rechte Motto fÝr die Arbeit am Heraklit-Text. Das %Konkrete bei Heraklit ist das %Allgemeine. Die beiden StÈmme der menschlichen %Erkenntnis, %Sinnlichkeit und %Verstand, sind in der denkenden %Anschauung Heraklits noch zusammengewachsen. Erstaunlich ist Heraklits NÈhe zur Lebenswelt. Heraklit war kein Metaphysiker – was ihm zum Beispiel FrÈnkel unterstellt hat. Bei allen Bildern Heraklits ist von einer ganz plastischen, zunÈchst keineswegs rÈtselhaften %Bedeutung auszugehen. Zuerst ist daher immer wieder zu
Hobbes, Thomas
fragen: Was heißt das ganz konkret? Erst wenn man so der Sache auf den Grund gegangen ist, beginnt man die DoppelbÚdigkeit Heraklits zu ermessen. Noch ein Wort zu den Schwierigkeiten beim Lesen: Das Elend der Heraklit-Interpretation ist, dass es sich bei den Fragmenten um Zitate aus einem Text handelt, dessen Kontext uns weitgehend unbekannt ist. Jedes Wort aber ist Vorwort und Nachwort. Hier ist Mut zur Mutmaßung erforderlich, aber auch Mut zur LÝcke. Zu begegnen ist der faulen Vernunft, die etwas die cusanische coincidentia oppositorum als Passepartout zur TextentschlÝsselung missbraucht. Zu begegnen ist auch dem schlechten Heraklitisieren derer, die noch heraklitischer – sprich tiefsinniger – sein wollen als Heraklit selbst. Die Wirkungsgeschichte Heraklits reicht in der Philosophie von %Platon und Aristoteles Ýber die %Stoa bis in die %Neuzeit (A) zu Nietzsche und %Heidegger, die als Àberwinder der %Metaphysik beziehungsweise als Postmetaphysiker an den Praemetaphysiker Heraklit anknÝpften und ihn vereinnahmen. »Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen« – sagt schon der Herakliteer Hegel. »Von ihm ist der Anfang der Existenz der Philosophie zu datieren – es ist die bleibende Idee, welche in allen Philosophen bis auf den heutigen Tag dieselbe ist.« Als das ›Prinzip des Heraklit‹ versteht Hegel Platons Version von Fragment 51: »Das Eine von sich selbst unterschiedne, eint sich mit sich selbst.« Heraklit fasst nach Hegel das Absolute als %Dialektik auf, als die Einheit Entgegengesetzter. Zwar kann von einem Absoluten bei Heraklit auch in Fragment B 108 wohl noch nicht die Rede sein, aber in der Tat kann man mit Schadewaldt sagen, dass hier die ganze kÝnftige Dialektik schlummert. ». . . die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit«, ruft der Herakliteer Nietzsche aus. In der Auffassung, dass die Welt ein gÚttliches Spiel ist, und jenseits von Gut und BÚse, erblickt er in Heraklit seinen VorgÈnger. In dem viel umstrittenen Fragment 52 (»Das Leben ist ein spielender Knabe, ein Brettspiel spielend. Des Knaben (ist das) KÚnigreich«) sieht Nietzsche schon zur Zeit seiner Baseler Vorlesungen »eine rein Èsthetische Weltbetrachtung«. In der Tat steckt in Heraklits Fragmenten
129
die erste Philosophie des SchÚnen im Abendland – was bisher nur wenig beachtet wurde. Mag Nietzsches Heraklit-PortrÈt auch stellenweise zum SelbstportrÈt missraten sein: Durch seine Wiedergewinnung des antiken Bodens, insbesondere durch seinen RÝckgang zu Heraklit, hat Nietzsche den Anlauf genommen, der zur Erreichung der postmodernen Spitze der ModernitÈt in Sachen sthetik heute nÚtig ist. Vor Nietzsche erkannte wohl sein Lieblingsdichter aus der Jugendzeit, HÚlderlin, die zentrale Bedeutung des %SchÚnen fÝr Heraklit, den großen AnfÈnger der Philosophie. Wie Hegel von Platons Àberlieferung des Fragments 51 ausgehend, sagt HÚlderlin in seinem Hyperion: »Das große Wort, . . . (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der SchÚnheit, und ehe das gefunden war, gab’s keine Philosophie.« Heraklit Fragmente, Griechisch und Deutsch, hg. v. B. Snell, 8. Aufl. MÝnchen / ZÝrich 1983 G. S. Kirki / J. E. Raven, The Presocratic Philosophers, Cambridge 1957 M. Marcovich, Heraclitus, Greek Text with a Short Commentary, Editio Maior, Merida 1967 Ch. H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, Cam bridge 1979 J. Ballack / H. Wismann, H¹raclite ou la s¹paration, Pa ris 1972 G. W.
Hobbes, Thomas (1588–1679): Der englische Philosoph wurde durch seine These, der zufolge sich der Mensch nichts denken kÚnne, was nicht zuvor (als Ganzes oder in seinen Teilen) in den Sinnen gewesen sei, zu einem der Wegbereiter des %Empirismus. Bekannt und berÝhmt jedoch machten ihn seine Schriften zur Rechts- und Staatslehre, worin er die Idee des %Gesellschaftsvertrags entwickelt. Seine Werke, worunter als die wichtigsten der Leviathan (1651) und seine dreiteilige Elementa philosophiae (1642–1658) zu nennen sind, zeugen von einem regen Interesse an den wissenschaftlichen und politischen Belangen seiner Zeit. Das Aufkommen der exakten Wissenschaften, die politisch instabilen VerhÈltnisse seiner Zeit und die Auseinandersetzung mit der Philosophie %Descartes’ haben sein philosophisches Denken nachhaltig geprÈgt. Hobbes erklÈrtes Ziel bestand da-
130
Hobbes, Thomas
rin, ein philosophisches Gesamtsystem zu entwerfen, unter dessen methodischen Àberbau sich alle Bereiche des %Seins einordnen lassen. In Ablehnung jeglicher %Metaphysik sollte dieses »Weltsystem« den modernen Naturwissenschaften wie den Realwissenschaften gleichermaßen gerecht werden. Hobbes’ Begeisterung fÝr Mathematik und vor allem fÝr die Geometrie, die in seinen Augen als Einzige zu sicherer Erkenntnis fÝhren kann, lÈsst ihn diese zum methodischen Vorbild fÝr sein philosophisches GebÈude nehmen und seine Theorie auf Begriffen der Kinematik und Mechanik begrÝnden. Ausgehend von der Basis eines streng materialistischen Weltbildes werden alle AblÈufe und VorgÈnge in der Welt nach dem Prinzip rein mechanistischer BewegungsablÈufe erklÈrt. Gleich dem Bild eines KÚrpers, der durch den Anstoß eines andern in Bewegung versetzt wird, ist fÝr Hobbes die causa efficiens einzige %Ursache aller VorgÈnge in einem Universum, in welchem es nur noch ›KÚrper‹ gibt (wobei er darunter nicht nur physikalische KÚrper versteht, sondern beispielsweise auch die Menschen und den Staat darunter zÈhlt). Philosophie wird so zur Lehre von den anorganischen, organischen und sozialen KÚrpern, die sowohl den Ablauf sozialer Prozesse als auch das Zustandekommen menschlicher %Erkenntnis nach dem %Modell der Bewegungslehre erklÈrt. So kommt zum Beispiel die Sinnesempfindung nach Hobbes dadurch zustande, dass die Èußeren Objekte, welche unabhÈngig von unserem Geist existieren, die Sinnesorgane des Menschen auf mechanische Art reizen, worauf wiederum die »inneren Lebensgeister« des Menschen reagieren, indem sie %Vorstellungen im Gehirn erzeugen, welche dem Èußeren Objekt entsprechen, von welchem die ›mechanischen‹ Reize ursprÝnglich ausgingen. Der gesamte Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung kann somit als das Ergebnis der Einwirkung von bewegender und bewegter Materie auf die menschlichen Sinnesorgane verstanden werden. In analoger Weise erklÈrt Hobbes die Entstehung von %Affekten, %Werten und Willensakten in seiner Theorie. Sie werden durch vom Objekt ausgehende Reize im %Subjekt mechanisch erzeugt und gelten deshalb als determiniert. Wieder spielen dabei die so genannten »Lebensgeister« eine wesentliche Rolle. Wird ihre Bewegung gesteigert, so entsteht da-
durch Lust, und das Objekt, das diese Reaktion bewirkte, wird als gut empfunden. Dabei werden niemals die Dinge selbst, sondern immer nur die von den Dingen mechanisch erzeugten Vorstellungen zum Inhalt mÚglicher %Erfahrung. So setzt Hobbes in seinem Verfahren methodisch zwar erklÈrtermaßen bei der Erfahrung bzw. bei der Sinnesempfindung an – und kann dadurch zu einem Vorbild fÝr die Empiristen werden –, doch der unmittelbare Gegenstand der Philosophie sind immer nur Vorstellungsinhalte. Diese sollen mittels philosophischer Analyse in ihre elementaren Bestandteile zerlegt bzw. auf die ihnen zugrunde liegenden ersten allgemeinen %Prinzipien zurÝckgefÝhrt werden. Insofern die Aufgabe der Philosophie somit in der Suche nach den allgemeinen GrÝnden eines Sachverhalts liegt, ist sie Ursachenforschung. Das Analyseverfahren, welches einen Vorstellungsinhalt durch ZurÝckverfolgen der Kausalkette bis auf die ihn konstituierenden Prinzipien bestimmt, nennt Hobbes »genetische Definition«. Er benutzt diesen Weg zur Darstellung seiner Staatslehre, indem er die Entstehung des von ihm favorisierten Staatsmodells »genetisch« bis auf die ihm zugrunde liegenden Universalien zurÝckverfolgt. Insofern er dabei das Prinzip der Bewegung als erste Ursache fÝr die Bildung von %Staaten Ýberhaupt erweist, fÝgt sich seine Staatslehre nahtlos in sein mechanistisches Natursystem ein und erweist sich durch das gemeinsam zugrundliegende »kinetische« Prinzip als mit allen anderen Teilen systematisch verbunden – gewissermaßen ›kompatibel‹. Insofern Hobbes sein Modell eines Staates solchermaßen kausal-mechanistisch direkt aus ersten unbezweifelbaren Prinzipien ableitet, fÝhrt er zudem den Nachweis, dass die von ihm dargestellte Staatsform keineswegs zufÈllig oder kÝnstlich entstanden ist, sondern das notwendige Produkt eines kausal-mechanistisch determinierten Entwicklungsprozesses bildet. Wie ist diese Entwicklung nach Hobbes zu denken und wodurch zeichnet sich das von ihm entwickelte Modell aus? Die erste Voraussetzung fÝr menschliches Leben Ýberhaupt sieht Hobbes in der Bewegung der bereits erwÈhnten Lebensgeister gegeben, deren Steigerung um der damit zusammenhÈngenden Lust willen erstrebt wird. Umgekehrt wird eine SchwÈchung der »Vitalgeister« als Un-
Hume, David
lust wahrgenommen, ihr vÚlliger Stillstand bedeutet den Tod. Auf der Grundlage dieser Bewegungsstruktur erscheint menschliches Leben durch zwei Triebe beherrscht: Durch das Streben nach Selbsterhaltung und das Streben nach Lust. Im Gegensatz zu Aristoteles definiert Hobbes den Menschen somit nicht als von %Natur aus ›geselliges‹ Wesen, sondern geht in seiner Staatslehre von einer egoistischen Motivationsstruktur desselben aus. In ›vorstaatliche‹ Zeiten zurÝckschauend, entwirft er das Bild eines %Naturzustandes, wo der Krieg aller gegen alle herrscht. Jeder sucht nach MÚglichkeit das eigene Leben zu bewahren und nimmt, um dieses zu schÝtzen, keine RÝcksicht auf das Leben der anderen. Aus diesem Grund ist nach Hobbes jeder Mensch des andern Menschen Feind (homo homini lupus). Es herrscht natÝrliches %Recht in dem Sinne, dass alle Anspruch auf alles haben und es jedem freigestellt ist, welche Mittel er zur Sicherung seines Lebens und zur Befriedigung seines Luststrebens anwendet. In dieser von Mord und Totschlag geprÈgten Situation kann keiner hoffen, sein Leben in Ruhe, Sicherheit, ja Wohlstand zu fÝhren, da alle gleichermaßen bedroht sind. Die einzige Chance, diesem Zustand zu entkommen, bietet ein »Vertrag aller mit allen«, in welchem die Individuen auf einen Großteil ihrer natÝrlichen Rechte verzichten und sich somit gegenseitige Sicherheit voreinander zusichern. Das natÝrliche Recht des StÈrkeren soll durch das bÝrgerliche Recht auf persÚnliche Sicherheit ersetzt werden. Um die Einhaltung dieses Vertrages zu garantieren, mÝssen sich alle der Gewalt eines einzigen %Willens, dem SouverÈn, unterordnen. Durch den vertraglichen Zusammenschluss und die Abtretung der Macht an den SouverÈn, der durch eine Person oder eine Versammlung reprÈsentiert werden kann, konstituieren die Individuen den Staat. Die Àbernahme der Macht durch den Inhaber der Staatsgewalt verpflichtet jenen im Gegenzug dazu, das Volk zu beschÝtzen und Frieden, Recht und Ordnung im Staat aufrecht zu erhalten. Diese Aufgabe kann er nach Hobbes jedoch nur erfÝllen, wenn ihm die absolute Macht im Staate unumschrÈnkt, unverÈußerlich und unteilbar zukommt. Eine Bedingung, die Hobbes in der absoluten Monarchie erfÝllt sieht, aus welchem Grunde er sie als die zweckmÈßigste Staatsform vorzuziehen scheint. In seinem Buch gleichen
131
Titels gibt Hobbes dem Staat den Namen des biblischen Ungeheuers Leviathan. Der Staat als Leviathan wird beschrieben als kÝnstlicher KÚrper, in welchem das Funktionieren der einzelnen Glieder, die wie mechanische (!) RÈdchen ineinander greifen, das Funktionieren des ganzen Organismus gewÈhrleistet. Nicht umsonst nennt Hobbes den Staat ein Ungeheuer: Nur er bestimmt Recht und Unrecht, trennt Glauben von Aberglauben, herrscht mit absoluter Macht Ýber alles – und kann schließlich als einziger Sicherheit gewÈhren und Krieg verhindern. Auch wenn Hobbes’ BemÝhungen, den monarchischen Absolutismus theoretisch zu stÝtzen und auf diese Weise auf die Politik seines von BÝrgerkriegswirren erschÝtterten Landes Einfluss zu nehmen, nicht von großem Erfolg gekrÚnt waren, so zeitigte doch die von ihm (wenn auch nicht erfundene, so doch in dieser Weise zum ersten Mal) formulierte Theorie des Sozialvertrags, die spÈter nicht nur von %Locke und Rousseau aufgenommen wurde, eine nachhaltige Wirkung. W. Kersting, Thomas Hobbes zur EinfÝhrung, Hamburg 1992 H. MÝnkler, Thomas Hobbes, Frankfurt/M. 1993 R. Tuck, Hobbes, Freiburg 1999 G.T. G.
Hume, David (1711–1776): Das 18. Jh. gilt nicht nur als Zeitalter der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung), sondern auch als BlÝte der %Anthropologie. Nachdem durch die neuzeitliche Physik von Galilei bis Newton die Èußere Natur erforscht worden war, rÝckte nun die ›Natur des Menschen‹ in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses. So insbesondere bei David Hume, der in seiner ersten umfangreichen Schrift Ein Traktat Ýber die menschliche Natur den nicht gerade unbescheidenen Anspruch erhob, zum Newton einer neuen ›Wissenschaft vom Menschen‹ zu werden. Diese Wissenschaft sollte wiederum die gesicherte Grundlage fÝr eine neue Moralphilosophie bilden. Zum einen wollte Hume damit die Beliebigkeit antiker Ethiken Ýberwinden; zum andern setzte er sich wie auch andere AufklÈrer zum Ziel, die %Ethik unabhÈngig von der %Religion zu begrÝnden. In dieser Aufgabe bestand das ursprÝngliche Motiv Humes, das ihn zunÈchst in eine persÚnliche
132
Hume, David
Krise stÝrzte und spÈter den Aufbau seines philosophischen Werkes bestimmte. WÈhrend seiner Kindheit hatte Hume, der am 26. April 1711 in Edinburgh geboren wurde, die religiÚse Erziehung seiner Mutter und den streng calvinistischen Einfluss seines Pfarrbezirks erfahren. Am College in Edinburgh lernte er hingegen eine andere geistige Welt kennen, die %Erkenntnistheorie %Lockes und die Naturwissenschaft Newtons sowie die profane Grundlegung der Moral von Joseph Butler. Nach dem ersten Abschluss 1725 sah sich Hume gezwungen, einen bÝrgerlichen Beruf zu ergreifen, da das vÈterliche Erbe aus dem schottischen Landadel nicht groß genug war, um davon leben zu kÚnnen. Doch das Jurastudium gab er bald wieder auf, um sich dem Studium der Philosophie zu widmen. Durch diese Entscheidung geriet er offenbar in einen inneren Konflikt mit der Religion, an dem er psychisch und physisch schwer erkrankte. Nachdem auch eine Anstellung in einem Handelshaus gescheitert war, reiste Hume 1734 nach Frankreich und lebte bis 1737 in Reims und hauptsÈchlich in La Flche. In dieser Zeit entstand der erwÈhnte Traktat, der 1739 und 1740 in London erschien. Aber die Hoffnung auf Erfolg erfÝllte sich nicht; wie sich Hume selbst eingestehen musste, »fiel der Traktat als Totgeburt von der Presse«. So besann sich Hume auf eine andere StÈrke und verÚffentlichte schon im Jahr 1742 seine Essays Ýber Moral und Politik, mit denen es ihm gelang, den Publikumsgeschmack durch Themenwahl und brillanten Schreibstil besser zu treffen als im schwerfÈlligen FrÝhwerk. 1752 folgte eine weitere Sammlung politischer und Úkonomischer Essays. Durch diese Erfahrung klug geworden, arbeitete Hume seinen Traktat vÚllig um; 1748 erschien das Ýberarbeitete und gekÝrzte erste Buch, das seit 1758 als Untersuchung Ýber den menschlichen Verstand bekannt ist; und 1751 publizierte Hume eine modifizierte Version des dritten Buches unter dem Titel Untersuchung Ýber die Prinzipien der Moral. Gleichzeitig entstanden auch zwei Schriften zur %Religionsphilosophie, die Naturgeschichte der Religion und die erst posthum 1779 herausgekommenen Dialoge Ýber natÝrliche Religion. Trotz des schriftstellerischen Erfolgs und der wachsenden Reputation als originÈrer Philosoph wurde Hume eine akademische Laufbahn ver-
wehrt. Seine BemÝhungen um einen Lehrstuhl in Edinburgh scheiterten am Widerstand der Geistlichen. Hume wurde schließlich Bibliothekar und nutzte diese Gelegenheit zur Abfassung einer vierbÈndigen Geschichte Englands, die in den Jahren 1754 bis 1762 erschien und ihn berÝhmt gemacht hat. Den grÚßten Ruhm konnte Hume indessen in Frankreich genießen, als er 1763 als SekretÈr an die englische Botschaft nach Paris ging und im Kreise der EnzyklopÈdisten begeistert empfangen wurde. Von 1767 bis 1769 war Hume noch im Londoner Außenministerium fÝr die diplomatische Korrespondenz zustÈndig. Mittlerweile recht wohlhabend, kehrte er nach Edinburgh zurÝck, wo er am 25. August 1776 starb. Die Essays zu moralischen, politischen und Úkonomischen Themen vermitteln den sozialen Kontext, in den Hume seine Moralphilosophie zu stellen beabsichtigt. Er distanziert sich nicht nur von der Religion, sondern ebenso von den Resten absolutistischer Regierung und von der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. Indem er fÝr autonome politische Parteien, fÝr Freihandel sowie fÝr Meinungs- und Pressefreiheit eintritt, erweist er sich als AnhÈnger des %Liberalismus. Dieses Engagement fÝhrt zu der sozialphilosophisch bedeutsamen Erkenntnis, dass die bÝrgerliche Gesellschaft ein sich selbst nach eigenen Gesetzen regulierendes System ist. Auf analoge Weise konzipiert Hume die »Moral als Úffentliche Meinung«, die gleichsam naturwÝchsig aus den einzelnen Handlungen und deren Beurteilungen hervorgeht. Aus dem wechselseitigen Spiel der Beteiligten, in dem jeder Handelnder und Beobachter zugleich ist, soll eine Art Gemeinsinn entstehen, der die wÝnschenswerten Tugenden wie Wohlwollen, Zuneigung oder Menschenliebe erst ermÚglicht. Tendenziell tritt an die Stelle eines gÚttlichen Gebotes, einer staatlichen Vorschrift oder eines absolut geltenden Vernunftgesetzes die gesellschaftliche Kommunikation. Es liegt daher nahe, Hume und die schottische Moralphilosophie insgesamt als Wegbereiter der modernen Soziologie zu betrachten. Die Grundlage oder – wie es im Titel der Ýberarbeiteten Fassung heißt – die »Prinzipien« einer solchen Moral sieht Hume also nicht mehr primÈr in der menschlichen %Vernunft. Das ist schon kÝhn genug, wenn man sich vergegenwÈr-
Hume, David
tigt, dass seit der Antike und seit dem %Mittelalter (A) bis zum %Rationalismus des 17. Jhs. die Vernunft als diejenige Instanz galt, der allein zugetraut wurde, die egoistischen Affekte der Menschen im Zaum zu halten. Wenn nun Hume die Vernunft als Moralprinzip ausschließt, dann stellt er nicht nur dieses klassische Modell der TriebbewÈltigung in Frage, weil er die Vernunft dafÝr viel zu schwach hÈlt; vielmehr verdeutlicht er, dass er die Moral dem Bereich der Lebenspraxis zuordnet. In moralischen %Urteilen geht es nicht um ›wahr und falsch‹, sondern um ›gut und schlecht‹, d. h. um praktische Stellungnahmen in bestimmten Situationen sozialen Handelns. Dazu bedarf es nach Hume anstelle der kÝhlen und teilnahmslosen Vernunft bestimmter Emotionen, aus denen erst konkrete Handlungsmotive hervorgehen kÚnnen. Nicht die Vernunft, sondern das %GefÝhl gehÚrt demnach zu den Prinzipien der Moral. Aber welche Art Emotion kommt zur Grundlegung der Moral in Frage, wenn doch frÝher gerade bestimmte Affekte wie Begierden und Leidenschaften als unmoralisch galten? Zur LÚsung dieses Problems knÝpft Hume an Anthony Shaftesbury und Francis Hutcheson an, die neben den eigennÝtzigen Affekten einen speziell mitmenschlichen oder sozialen Affekt postuliert haben. Hume spricht in diesem Zusammenhang von einem besonderen »moralischen GefÝhl«; es ist synonym mit ›Sympathie‹, d. h. mit der FÈhigkeit, sich in die Lage eines anderen Menschen hineinzuversetzen und sich dessen Perspektive zu eigen zu machen. WÈhrend jedoch Shaftesbury den moralischen Affekt als irgendwie angeboren unterstellte, der gleichberechtigt neben dem Egoismus fungieren sollte, entwickelt Hume diesen Ansatz zu einer %Sozialphilosophie moralischer Urteile und %Handlungen. Im zweiten Buch des Traktats hatte Hume noch versucht, die Sympathie aus den Ýbrigen Affekten abzuleiten, ohne einen plausiblen Grund fÝr das »moralische GefÝhl« angeben zu kÚnnen, sodass er in seiner spÈter erschienenen Moralphilosophie auf die Affekttheorie ganz verzichtete. Diese skeptische Position bildet denn auch den Kern seiner Untersuchung Ýber den menschlichen Verstand. UrsprÝnglich diente diese Untersuchung dem Ziel, die Affekttheorie und Moralphilosophie erkenntnistheoretisch zu untermauern.
133
Wenn sich Hume vor allem als Skeptiker in der Philosophiegeschichte einen Namen gemacht hat, so ist zu prÈzisieren, dass er dabei einen ›gemÈßigten‹ %Skeptizismus vertritt. Gegen jeden radikalen Zweifel, der die Existenz Èußerer GegenstÈnde oder das Eintreten erfahrungsgemÈßer Folgen in Frage stellt, macht Hume die alltÈgliche Praxis geltend. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenskrise argumentiert er, dass die Menschen gar nicht Ýberleben kÚnnten, wenn sie nicht wie selbstverstÈndlich annÈhmen, dass die Sonne am nÈchsten Tag aufgeht oder das verzehrte Brot sie ernÈhrt. Was Hume hingegen grundsÈtzlich bezweifelt, ist letzte %Gewissheit im Bereich der %Erfahrung. Weder lÈsst sich mit mathematischer oder logischer Stringenz beweisen, dass die wahrgenommenen GegenstÈnde vorhanden sind und auf unsere Sinnesorgane einwirken, noch lÈsst sich ein solcher Beweis fÝr die VerknÝpfung von %Ursache und Wirkung erbringen. Besonders fÝr den Fall der Kausalverbindung ist Humes %Argumentation bedeutsam geworden. Wenn zwei Billardkugeln aufeinanderprallen – so Humes Beispiel –, dann erwartet der menschliche Beobachter, dass diese Kugeln sich so bewegen werden, wie es die bisherige Erfahrung gezeigt hat. Aber weil hier keine ›innere Kraft‹ wahrnehmbar ist und weil niemals alle FÈlle eines solchen Vorgangs bekannt sein kÚnnen, lÈsst sich die erwartete Folge nicht mit Notwendigkeit voraussagen. Die Beobachtung erlaubt nur den Erfahrungsschluss, dass von gleichartigen Ursachen gleichartige Wirkungen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Letztlich ist es nach Hume die Macht der Gewohnheit, die den Menschen nÚtigt, alle Erfahrung nach dem Muster regelmÈßiger vergangener Erfahrung zu interpretieren. In dieser psychologischen Wendung der Erkenntnistheorie zeigt sich eine Parallele zur Moralphilosophie, in der ja auf Èhnliche Weise anstelle einer Vernunftwahrheit bestimmte Emotionen zu Grunde gelegt werden. Auf jeden Fall hat Humes Skepsis die Augen fÝr ein Grundproblem menschlicher Erkenntnis geÚffnet: Die Menschen kÚnnen auf dem Feld der Tatsachen nicht mehr wissen, als sie aus ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen gelernt haben. Mit dieser Einsicht stellte sich Hume in die Tradition des englischen Empirismus seit John Locke.
134
Husserl, Edmund
WÈhrend Hume bei den franzÚsischen AufklÈrern als konsequenter Empirist gefeiert wurde, hat in Deutschland %Kant eher den skeptischen Aspekt aufgegriffen. BerÝhmt geworden ist Kants Bekenntnis, Hume habe ihn aus dem »dogmatischen Schlummer« erweckt. UnabhÈngig von solchen Selbstdeutungen sahen sich alle Erkenntnistheoretiker nach Hume gezwungen, sich mit dessen Problematik auseinander zu setzen, auch wenn sie spÈter andere LÚsungswege vorschlugen. D. Hume, Eine Untersuchung der Grundlagen der Mo ral, hg. von K. Hepfer, GÚttingen 2002 D. Hume, Eine Untersuchung Ýber den menschlichen Verstand, hg. von R. Richter, Hamburg 1964 J. Kuhlenkampff, David Hume, MÝnchen 1989 G. Streminger, David Hume. Sein Leben und sein Werk, Paderborn 1995 J. R.
Husserl, Edmund (1859–1938): Geboren am 8. April in Proßnitz/MÈhren als Sohn jÝdischer Eltern. Nach dem Abitur in OlmÝtz studierte er von 1876 bis 1878 in Leipzig Astronomie, Mathematik und Philosophie, betreut von einem SchÝler des Philosophen Franz von Brentano, dem spÈteren ersten StaatsprÈsidenten der Tschechoslowakei, Tomas G. Masaryk, der auch Husserls Konversion zum Protestantismus mit veranlasste. Auf Leipzig folgte als weitere Station Berlin, wo Husserl bei Weierstraß Mathematik und bei Paulsen Philosophie studierte. Nach der Promotion mit dem Thema Variationsrechnung wurde er Assistent bei Weierstraß, ging aber 1884 nach Wien, um bei Franz Brentano Philosophie zu studieren. Von diesem spÈter weiter nach Halle zu Carl Stumpf geschickt, habilitierte er sich hier Àber den Begriff der Zahl (1887) – ein Buch, das durch den Logiker und Mathematiker %Frege sehr kritisch rezensiert wurde. Vierzehn Jahre lang, bis 1901, war Husserl Privatdozent in Halle, bevor er mit den Logischen Untersuchungen gleichsam Ýber Nacht berÝhmt wurde und einen Ruf nach GÚttingen erhielt, wo er ab 1906 als ordentlicher Professor lehrte. In GÚttingen grÝndete Husserl mit einigen SchÝlern das Jahrbuch fÝr Philosophie und phÈnomenologische Forschung, Sprachrohr der neuen, phÈnomenologischen Art des Philosophierens, in dem beispielsweise %Heideggers
Hauptwerk Sein und Zeit erstmals abgedruckt wurde. 1916 ging Husserl als Nachfolger Rickerts nach Freiburg im Breisgau und zÈhlte dort nicht wenige spÈtere BerÝhmtheiten zu seinen SchÝlern und Assistenten, so u. a. Heidegger und Edith Stein. 1928 wurde der fast SiebzigjÈhrige emeritiert, doch blieben ihm aufgrund seiner jÝdischen Abstammung KrÈnkungen durch die Nationalsozialisten nicht erspart: 1933 wurde er vom akademischen LehrkÚrper ausgeschlossen, 1937 wurde ihm das Betreten der UniversitÈt grundsÈtzlich untersagt – wÈhrend sich sein ehemaliger SchÝler und Assistent Heidegger als Rektor in der philosophischen FÝhrungsrolle erprobte. Im Jahre 1936 erschien, nach den Ideen zu einer reinen PhÈnomenologie und phÈnomenologischen Philosophie von 1913, Husserls drittes grundlegendes Werk, die Krisis der europÈischen Wissenschaften und die transzendentale PhÈnomenologie. Am 27. April 1938 starb Husserl in Freiburg. Sein ausgesprochen umfangreicher Nachlass, der bis heute nicht vollstÈndig aufgearbeitet ist, konnte vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet werden. Husserl ist in gewisser Hinsicht der Vollender einer von %Descartes, Ýber %Leibniz und %Kant bis auf %Fichte und %Schelling reichenden idealistischen Tradition, welche die %Erkenntnis und Konstitution der Welt aus den Erkenntnisleistungen eines %Ich oder %Bewusstseins erklÈren will. Schon in seinem ersten Hauptwerk, den Logischen Untersuchungen zielt Husserls BemÝhen darauf, %Begriffen der Bedeutungstheorie wie %Sinn, %Bedeutung und %Wahrheit ein Fundament in den kognitiven Leistungen eines %Subjekts zu geben. Semantische Begriffe bekommen psychische Entsprechungen zur Seite gestellt. Dass ein Ausdruck etwas bedeutet, wird von Husserl dadurch begrÝndet, dass wir in einem Akt unseres Bewusstseins auf einen Gegenstand oder Sachverhalt gerichtet sind. Das Gerichtetsein auf einen Gegenstand nennt Husserl »intendieren«. In Hinblick auf den vom Bewusstsein intendierten Gegenstand unterscheidet er zwischen dem Gegenstand, der intendiert wird und der Art und Weise, wie er intendiert wird. Husserl schafft damit eine bewusstseinsmÈßige Entsprechung zu den semantischen Begriffen der Intension oder Bedeutung eines Ausdrucks und der %Extension
Husserl, Edmund
oder der Bezugnahme eines Ausdrucks. Als bewusstseinsmÈßiges Korrelat der propositionalen Einstellung, der Einstellung also, die wir zu dem einnehmen, was ein Satz ausdrÝckt (man kann einen Satz behaupten, als Frage formulieren, im Zweifel darÝber sein usw.), fÝhrt Husserl den Begriff der AktqualitÈt ein und benennt als Gegenbegriff den Begriff der Aktmaterie. Dass wir uns auf denselben Sachverhalt beziehen, wenn wir einen Satz als Behauptung, Frage, Wunsch und dergleichen formulieren, wird dadurch erklÈrt, dass die Materie des Aktes, durch den wir uns auf einen Gegenstand beziehen, gleich bleibt, wÈhrend sich seine QualitÈt Èndert. Behaupten wir, um ein Beispiel zu nennen, dass Paul raucht, fragen wir in einer anderen Situation, ob Paul raucht und wÝnschen wir in einer dritten Situation, dass Paul rauche, so bleibt die Materie der Akte, die diesen SÈtzen entspricht, das Rauchen von Paul, dieselbe, wÈhrend sich mit der Einstellung gegenÝber dem Rauchen von Paul die QualitÈt der Akte, das Behaupten, Fragen und WÝnschen Èndert. Der Begriff der Wahrheit, von Husserl als Àbereinstimmung von Denken und Sein interpretiert, bekommt als bewusstseinsmÈßiges GegenstÝck den Begriff der ErfÝllung zur Seite gestellt. Dem Inhalt eines %Urteils entspricht eine Bedeutungsintention. Indem man ein Urteil Èußert, ist man auf einen Gegenstand oder Sachverhalt gerichtet. Der Sachverhalt muss allerdings nicht bestehen. Es ist z. B. mÚglich, Urteile Ýber EinhÚrner zu bilden, ohne dass es dazu EinhÚrner geben mÝsste. Die Tatsache, dass der Gegenstand, Ýber den man in einem Urteil spricht, nicht zu existieren braucht, wird seit Brentano als »intentionale Inexistenz« des Gegenstandes bezeichnet. Husserl deutet diese Inexistenz so, als wÝrden wir uns mit jedem Urteil auf etwas beziehen. Wir richten uns quasi mit dem Geist auf etwas, ohne dass es dieses Etwas wirklich geben mÝsste. Vergleichbar ist dieses geistige Intendieren mit dem Streben nach einem %Ideal, das ja auch nicht als verwirklichter Sachverhalt in der Welt zu existieren braucht. Dem Streben um das Erreichen eines Ideals im Praktischen entspricht im Theoretischen die Suche nach Wahrheit. Wahrheit liegt Husserl zufolge dann vor, wenn sich die Bedeutungsintention, das also, worauf wir uns richten, wenn wir ein Urteil Èußern, in einer Anschauung erfÝllt, die
135
alle Merkmale der Bedeutungsintention aufweist. Das Urteil ›Der Rabe ist schwarz‹ ist genau dann wahr, wenn es eine entsprechende Anschauung von einem schwarzen Raben gibt. Der Àbereinstimmung von Urteil und Anschauung entspricht subjektiv ein Evidenzerlebnis. Dass ein Urteil wahr ist, hat seine Entsprechung darin, dass ein Subjekt die evidente (lat. »offenbare, einleuchtende«) ErfÝllung der Bedeutungsintention, ihre Àbereinstimmung mit einem anschaulich gegebenen Sachverhalt erfÈhrt. Zeitgleich zur Erarbeitung der Logischen Untersuchungen beginnt Husserl Ýber die Konstitution der %Welt auf den Boden der SubjektivitÈt nachzudenken. Sein Interesse gilt zunÈchst dem Zustandekommen der %Zeit. Husserl nimmt an, dass es die objektive oder Weltzeit nur darum gibt, weil das Subjekt Ýber bestimmte Eigenschaften verfÝgt, nÈmlich das VermÚgen der Erinnerung, von Husserl als %Retention bezeichnet, das VermÚgen der augenblicklichen Wahrnehmung, von Husserl mit dem Namen »Urimpression« bezeichnet und das VermÚgen der Erwartung, von Husserl %Protention genannt. Dadurch finden die drei zeitlichen Dimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine ErklÈrung. Außerdem aber vollzieht sich im Subjekt ein fortwÈhrender Wandel der erwarteten zeitlichen Phasen in gegenwÈrtige und der gegenwÈrtigen zeitlichen Phasen in vergangene. Auf diese Weise wird zeitliche Aufeinanderfolge erklÈrt. Von der Zeit wird weiter angenommen, dass sie die Form aller Erlebnisse eines Subjekts bilde. Alle Erlebnisse eines Subjekts sind entweder gleichzeitig oder folgen aufeinander. Die zeitliche Form bildet die Grundlage von Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge der Erlebnisse. Die zeitliche Form ist aber auch dafÝr verantwortlich, dass die Erlebnisse, wenn sie einmal erlebt worden sind, in der richtigen Reihenfolge erinnert werden kÚnnen. Beim Durchgang durch die zeitliche Phase der Urimpression, so nimmt Husserl an, erhalten die Erlebnisse so etwas wie einen zeitlichen Index angehÈngt, der ihre spÈtere Re-Identifikation mÚglich macht. Schließlich ist die zeitliche Form des Bewusstseins auch fÝr die KontinuitÈt des Àbergangs von einem Erlebnis zum anderen zustÈndig. Einzelne Erlebnisse, ebenso wie die Phasen einzelner Erlebnisse, folgen nie sprunghaft aufeinander. Zwischen den
136
Husserl, Edmund
Erlebnissen gibt es stets einen Àbergang. Klingt ein Ton in dem einen Augenblick an und ist er im nÈchsten Augenblick verklungen, so gibt es zwischen beiden Augenblicken einen weiteren Moment, in dem der Ton fast verklungen ist usw. Ihren Grund hat die KontinuitÈt des Àberganges in der stetigen Abfolge der zeitlichen Phasen des Bewusstseinsstromes und ÝbertrÈgt sich von dort auf den Inhalt, der in diese Phasen eintritt. Neben der Zeit bildet der %Raum eine weitere Grundform der Erlebnisse eines Subjekts. Erlebnisse besitzen nicht nur zeitliche Erstreckung; manche von ihnen sind außerdem Erlebnisse von rÈumlich ausgedehnten GegenstÈnden. Wie bei der Zeit geht Husserl auch beim Raum davon aus, dass der objektiven RÈumlichkeit von GegenstÈnden eine subjektive Konstitutionsleistung zugrunde liegt. Beim Raum sind es einzelne Stellen, die zu einer Stellenmannigfaltigkeit, dem subjektiven Raum, verschmelzen, der wiederum die Grundlage des objektiven Raumes bildet. Der sich auf dem Boden der SubjektivitÈt vollziehende zeitliche Wandel und die Verschmelzung der Raumstellen zu einer Stellenmannigfaltigkeit werden von Husserl als »passive Synthesen« bezeichnet, Verschmelzungsleistungen, die sich ohne Zutun des Ich, dennoch aber auf dem Grunde der SubjektivitÈt vollziehen. Die formalen %Synthesen von Raum und Zeit bilden die Grundlage aller weiteren Synthesisleistungen, die zusammengenommen auf dem Boden der SubjektivitÈt das %konstituieren, was wir normalerweise als ›die Welt‹ bezeichnen. Die hÚherstufigen Konstitutionsleistungen bilden ein Thema von Husserls Schriften der mittleren Schaffensperiode. Ein weiteres Thema bilden methodologische Reflexionen Ýber die richtige Art des Philosophierens. Husserl bezeichnet die von ihm vertretene philosophische Methode als %PhÈnomenologie. Der Begriff steht dabei zunÈchst fÝr ein Methodenideal und bedeutet, dass die GegenstÈnde philosophischer Forschung so erfasst werden mÝssen, wie sie tatsÈchlich sind. FÝr Husserl ist aber klar, dass eine unverstellte und irrtumsfreie Erkenntnis nur in Bezug auf die Inhalte des Bewusstseins mÚglich ist. Die PhÈnomene, die den Gegenstand der PhÈnomenologie bilden, sind die Inhalte des Bewusstseins, genauer: seine weltkonstitutiven Leistungen. Um in das Gebiet irrtumsfreier Erkenntnis zu
gelangen, entwirft Husserl in seinen Ideen zu einer reinen PhÈnomenologie und phÈnomenologischen Philosophie das Verfahren der phÈnomenologischen %Reduktion. ›PhÈnomenologische Reduktion‹ heißt, dass die Geltung unserer Urteile, besonders derer, welche die Existenz der Welt betreffen, aufgehoben wird. Im Stadium der phÈnomenologischen Reduktion sieht man es nicht mehr als selbstverstÈndlich an, dass die Welt existiert, sondern fragt sich, worauf sich ihre Existenz Ýberhaupt grÝndet. Husserls Antwort auf diese Frage lautet: Die Welt erweist sich als abhÈngig von einem Bewusstsein und seinen weltkonstitutiven Leistungen. Die Welt, wie sie uns alltÈglich begegnet, ist in Wirklichkeit Ergebnis von %Strukturen, die ihren Grund im Bewusstsein eines Subjekts haben. Das Bewusstsein ist auch der Ort, an dem nach Husserl die Grundlegung der %Wissenschaften erfolgt. Wie Ýberhaupt alles, was existiert, seinen Ursprung im Bewusstsein hat, so verdankt sich auch die wissenschaftliche Grundbegrifflichkeit einem Bewusstsein. Aus diesem Grunde ist es mÚglich, sich dem Bewusstsein zuzuwenden, wenn man etwas Ýber die in den Wissenschaften verwendeten Begriffe erfahren will. Das dabei zur Anwendung kommende Verfahren trÈgt bei Husserl den Namen »eidetische Variation«. Dabei handelt es sich um eine Art Wesensschau, bei der man %Vorstellungen von Dingen, die mit demselben Ausdruck bezeichnet werden, nacheinander aufruft. Man fÝhrt sich also beispielsweise Vorstellungen verschiedener Tische vor Augen. Husserl glaubt, dass im Durchlaufen einer gewissen Anzahl solcher Vorstellungen plÚtzlich das Wesen dieser mit demselben Ausdruck bezeichneten Dinge aufzuscheinen beginnt. Rufen wir uns nacheinander eine Reihe von Tischvorstellungen vor Augen, so mÝsste, wenn Husserl Recht hÈtte, irgendwann das Wesen des Tisches, das, was alle mit dem Wort ›Tisch‹ bezeichneten GegenstÈnde gemeinsam haben, aufleuchten – eine Annahme, die jeder einmal selbst an Hand seiner Vorstellungen ÝberprÝfen kann. In Husserls SpÈtschriften rÝckt u. a. die Frage der Konstitution der %IntersubjektivitÈt in den Mittelpunkt seiner Àberlegungen. FÝr Husserl, der in erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht die Position eines methodischen %Solipsismus vertritt, muss die Beantwortung der
James, William
Frage nach Erkenntnis und Existenz der GegenstÈnde der Welt ihren Ausgangspunkt bei einem einzelnen Erkenntnissubjekt nehmen. Die Welt ist eine Konstitutionsleistung der SubjektivitÈt, jedoch nicht der eines einzelnen Subjekts, sondern aller Subjekte. Es gilt daher zu erklÈren, wie sich auf dem Boden eines einzelnen Subjekts die Konstitution der anderen Subjekte vollzieht. Husserl wendet sich dieser Aufgabe in seinen Cartesianischen Meditationen zu, einer Schrift, die die von Descartes eingeschlagene Richtung einer in den Erkenntnisleistungen des Subjekts grÝndenden %Erkenntnistheorie vollenden will. Nach der dort gegebenen Darstellung folgt die Konstitution der anderen Subjekte, welche die Grundlage einer intersubjektiven Welt bildet, folgenden Schritten: Zuerst grenzt das Subjekt, von Husserl in Anlehnung an Descartes’ Meditationen als »Ego« bezeichnet, unter den von ihm wahrgenommenen KÚrpern einen bestimmten KÚrper als seinen Leib aus. Sodann deutet es andere KÚrper aufgrund ihrer hnlichkeit mit dem eigenen KÚrper ebenfalls als mit Bewusstsein begabte Leiber. Husserl nennt diesen sich vollkommen passiv vollziehenden %Analogieschluss eine »analogisierende Auffassung«. Schließlich begreift das Ego die anderen ebenfalls als wahrnehmende, sich auf eine Welt beziehende Subjekte. Es gelangt zu der Einsicht, dass der Andere es selbst, also das Ego, aus seiner Perspektive ebenfalls als einen anderen erfÈhrt. Die wechselseitige Beziehung der Subjekte aufeinander, ihr Begreifen des Anderen als Anderen bezeichnet Husserl als »transzendentale IntersubjektivitÈt«;. Einen weiteren Themenschwerpunkt des husserlschen SpÈtwerkes bildet die RÝckbesinnung auf die %Lebenswelt, die Welt unseres Alltags und unseres vorwissenschaftlichen VerstÈndnisses. In seiner Schrift Die Krisis der europÈischen Wissenschaften und die transzendentale PhÈnomenologie gelangt Husserl zu der Einsicht, dass es mit den sich herausbildenden Naturwissenschaften am Beginn der %Neuzeit (A) und der damit einhergehenden Mathematisierung der %Natur zu einer zunehmenden Sinnentleerung der uns umgebenden Welt kommt. Alle PhÈnomene der Natur werden von den Naturwissenschaften nur noch unter dem Gesichtspunkt ihrer Messbarkeit betrachtet. Spezifische Menschheitsfragen werden aus den positiven Wissenschaften ver-
137
bannt. Die Welt wird als »Universum der bloßen Tatsachen« begriffen, Tatsachen also, die geschehen, aber an sich selbst weder sinnvoll noch sinnlos sind. Durch ihre einseitige Ausrichtung auf Tatsachenwissen und ihr Streben nach einer immer vollkommeneren mathematischen Erfassung der Natur sind die europÈischen Wissenschaften in eine Krisis geraten, die Husserl zufolge nur durch eine radikale RÝckbesinnung auf das Bewusstsein und seine weltkonstitutiven Leistungen, durch Selbsterkenntnis also, behoben werden kÚnnen. R. Cristin (Hg.), Edmund Husserl, Martin Heidegger PhÈnomenologie, Berlin 1999 H. H. Gander, SelbstverstÈndnis und Lebenswelt, Frank furt/M. 2001 Ch. Jamme (Hg.), PhÈnomenologie im Widerstreit, Frankfurt/M. 1989 S. Rinofner Kreidl, Zeitlichkeit und IntentionalitÈt, Frei burg 2000 H. R. Sepp (Hg.), Metamorphose der PhÈnomenologie, Freiburg 1999 T. B.
James, William (1842–1910): Obwohl James, geboren am 11. Januar in New York, gestorben am 26. August in Chocorua, New Hampshire, allgemein zu den wichtigsten amerikanischen Denkern gezÈhlt wird, ist gerade seine philosophische Reputation doch nicht unumstritten. WÈhrend seine 1890 erschienenen Principles of Psychology bis heute zu den Klassikern der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie gezÈhlt werden, ist seinen philosophischen Schriften – insbesondere außerhalb der Vereinigten Staaten – nie die Beachtung zugekommen, die sie verdient hÈtten. FÝr viele gilt James als derjenige, der den %Pragmatismus seines Freundes %Peirce in unzulÈssiger Weise verkÝrzte, vergrÚberte und popularisierte. Erst in neuerer Zeit hat ein wieder erstarktes Interesse am Pragmatismus allgemein auch zu einer erneuten BeschÈftigung mit James gefÝhrt. Mittlerweile wird er sogar zu den BegrÝndern der so genannten postmodernen Philosophie gezÈhlt. James kam erst verhÈltnismÈßig spÈt zur Philosophie; der Schwerpunkt seines Forschens lag zunÈchst im Bereich der Psychologie. Auf diesem Gebiet suchte er den Ausweg aus dem von ihm diagnostizierten Dilemma zwischen einem religiÚs begrÝndeten %Glauben an den freien
138
James, William
%Willen auf der einen Seite und einem wissenschaftlich begrÝndeten, deterministischen Weltbild auf der anderen. Auf rein naturwissenschaftlichem Weg ließ sich das PhÈnomen des spontanen freien Willens nicht erklÈren. Auf der Grundlage seiner funktionalistischen Psychologie, die auch EinflÝsse der Evolutionstheorie Darwins erkennen lÈsst, konnte James aber den psychischen Leistungen des Menschen eine Funktion fÝr die BewÈltigung der Umwelt und somit fÝr das Àberleben des Organismus zusprechen. In der 1897 erschienenen Aufsatzsammlung The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy tritt dieses Problem zum ersten Mal als James’ zentrales philosophisches Anliegen in Erscheinung: die Verbindung oder gar VersÚhnung des moralischen und religiÚsen Lebens und damit auch des Glaubens an %Gott mit den Erkenntnissen der %Wissenschaft, die diesen Glauben in Frage zu stellen scheinen. James vertritt die These, dass in vermeintlich rein rationale Entscheidungen des Menschen immer auch Vorlieben, Interessen und Glaubensvorstellungen eingehen. Daraus leitet er eine Rechtfertigung des Glaubens ab, also das Recht, sich in religiÚsen Fragen auf den Standpunkt des Glaubens und nicht der Wissenschaft zu stellen, auch wenn dies den Ergebnissen des logisch denkenden %Verstandes zu widersprechen scheint. Bereits die Formulierung dieses Problems, vor allem aber die von James gebotene philosophische LÚsung, trÈgt deutlich pragmatistische ZÝge, wenn er auch den Ausdruck selbst erst ein Jahr spÈter auf seine Philosophie anwendet. In den Vorlesungen Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking von 1907 (dt.: Pragmatismus: Ein neuer Name fÝr einige alte Denkweisen) gibt James eine Zusammenfassung seiner Philosophie des Pragmatismus, die zwar an Peirce anschließt, jedoch weit Ýber dessen ursprÝngliches Ziel hinaus geht. James stellt zwei Aspekte heraus: Zum einen liefere der Pragmatismus eine %Methode zur Schlichtung philosophischer und wissenschaftlicher Streitigkeiten und damit letztlich eine Methode zur KlÈrung philosophischer und wissenschaftlicher %Begriffe. Die Anwendung dieser Methode besteht darin, sich angesichts unterschiedlicher Ansichten Ýber die Welt bzw. divergenter Begriffsauffassungen die jeweiligen praktischen
Konsequenzen fÝr das Handeln klar zu machen, die aus den verschiedenen Auffassungen resultieren. Begriffliche Unterscheidungen, die nicht zu Unterschieden im praktischen Handeln fÝhren, kÚnnen anhand dieses Kriteriums als sinnlos aussortiert werden. Diese Vorgehensweise impliziert einen Verzicht auf abschließende Urteile, denn die das Handeln leitenden Interessen kÚnnen VerÈnderungen unterliegen; das von James gegebene Kriterium ist also ein variables oder dynamisches, kein statisches. In der Formulierung der pragmatistischen Methode stimmt James noch weitgehend mit der Position von Peirce Ýberein, die dieser bereits 1878 in seiner »pragmatischen Maxime« zusammengefasst hatte. James geht jedoch Ýber Peirce hinaus, indem er den Pragmatismus zum Zweiten auch zur BegrÝndung einer Theorie des %Denkens, des Handelns, der %Bedeutung und nicht zuletzt auch der %Wahrheit benutzt. FÝr James besteht die Aufgabe des Denkens nicht in der %Erkenntnis ein fÝr allemal gegebener Sachverhalte, sondern vielmehr in der Orientierung in einer %Welt, Ýber deren objektive oder absolute Gestalt wir keine verlÈsslichen Aussagen treffen kÚnnen. Das Denken dient demnach ebenso wie das Handeln eher der Verwirklichung bestimmter Interessen und der Erreichung bestimmter Ziele als der Erkenntnis im traditionellen VerstÈndnis. Vor diesem Hintergrund wird auch das philosophisch zentrale Problem der Wahrheit angegangen. Zwar bestimmt James ›Wahrheit‹ zunÈchst ganz konventionell als Àbereinstimmung eines Gedankens, einer Vorstellung oder einer Aussage mit der Wirklichkeit; die pragmatistische Definition der Begriffe ›Àbereinstimmung‹ und ›Wirklichkeit‹ fÝhrt jedoch zu einer vollstÈndigen Umdeutung dieser korrespondenztheoretischen Wahrheitsauffassung. Wenn nÈmlich Àbereinstimmung mit der Wirklichkeit bedeutet, dass man ein realistisches Bild eines Gegenstands oder eines Sachverhalts besitzt, so kann dies streng genommen nur auf solche GegenstÈnde zutreffen, die einer unmittelbaren Verifikation durch direkte Wahrnehmung offen stehen. Wie aber steht es mit dem realistischen Bild bei abstrakten Vorstellungen wie beispielsweise der ElastizitÈt einer Uhrfeder? Solche Vorstellungen lassen sich nach James nur durch die Untersuchung der praktischen Konsequenzen verifizieren, die diese Vor-
Kant, Immanuel
stellungen mit sich bringen. Wenn eine nicht auf direktem Wege zu verifizierende Vorstellung ›funktioniert‹, wenn sie uns also in intellektueller oder praktischer Hinsicht ›weiter bringt‹ und unseren anderen Vorstellungen und Àberzeugungen nicht widerspricht, so gilt sie als wahr. Diese an bestimmten SonderfÈllen gewonnene Wahrheitsauffassung ÝbertrÈgt James auf die Wahrheit im Allgemeinen. Wahrheit kann demnach nicht als statische Relation zwischen einer Vorstellung oder einer Aussage und der Wirklichkeit aufgefasst werden, sondern vielmehr als ein dynamischer Prozess, als Prozess der Verifikation nÈmlich, in dessen Verlauf bestimmte Vorstellungen ›wahr gemacht‹ werden. Insbesondere in James’ Rede vom cash-value (»Barwert«) der Wahrheit zeigt sich ein Zug, der eine vor allem außerhalb der USA verbreitete Grundsatzkritik am Pragmatismus als Ganzem begÝnstigte. Demnach stellt der Pragmatismus eine typisch amerikanische ›Finanzphilosophie‹ dar, in der die Gesetze des Marktes auf Fragen der Wahrheit und %Moral Ýbertragen wurden; marxistische Kritiker sahen im Pragmatismus gar einen »integrierenden Bestandteil der Ideologie des amerikanischen Imperialismus«. Aus heutiger Sicht erweist sich James’ metaphorische Gleichsetzung von Geld und Wahrheit – wenn man von ihren zweifelhaften ›moralischen‹ Implikationen absieht – durchaus als modern und diskussionswÝrdig; die Àbereinstimmung mit aktuellen Auffassungen der Wahrheit, die nicht an sich und absolut existiert, sondern immer im Zusammenhang symbolischer Interaktionsprozesse und gekoppelt an Interessen, Vorlieben und Ziele gesehen werden muss, rÝckt James fÝr manche Autoren in die NÈhe postmodernen Denkens. Die Wahrheit Ýber James’ Wahrheitstheorie dÝrfte freilich irgendwo in der Mitte zwischen diesen extremen Deutungen zu suchen sein. FÝr die »bleibende AktualitÈt William James’« (H. %Putnam) sind nicht zuletzt auch die pluralistischen Konsequenzen verantwortlich, die James selbst in seinen Vorlesungen A Pluralistic Universe (1909; dt. Das pluralistische Universum) zog und die heute beispielsweise in politikwissenschaftlichen ZusammenhÈngen zunehmend eine Rolle spielen. Aufbauend auf der Grundposition des Pragmatismus, dass nÈmlich die Wirklichkeit nicht absolut und unabÈnderlich ist, sondern entsprechend den Erfahrungen und
139
des Handelns stets neu geformt wird, deutet James die Welt (oder das Universum) nicht als Einheit, sondern als Vielheit, nÈmlich als »Multiversum«. Dieser Begriff beschreibt fÝr James eine Vielheit von Dingen, Eigenschaften, Erfahrungen usw., die nicht durch ein gemeinsames, ewiges oder universales Grundprinzip zusammengehalten werden, sondern eigenstÈndig und unabhÈngig voneinander existieren und in vielfÈltige Beziehungen zueinander gesetzt werden kÚnnen. Zwar kennt auch James’ pluralistische »Philosophie des UND« durchaus den Begriff der %Einheit; allerdings wird diese Einheit nicht als gegebene, sondern als zu suchende aufgefasst, sodass auch hier das pragmatistische Motiv des praktischen Handelns gegenÝber dem passiven Erkennen in den Vordergrund tritt. W. James, Das pluralistische Universum. Vorlesungen Ýber die gegenwÈrtige Lage der Philosophie, Ins Deutsche Ýbertragen von J. Goldstein. Mit einer neuen EinfÝhrung hg. von K. Schubert und U. Wil kesmann, Darmstadt 1994 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1914] : Pragmatismus. Ein neuer Name fÝr einige alte Denkweisen, [1906], Àbersetzt und hg. von K. Schu bert und A. Spree, Darmstadt 2000 H. Putnam, Pragmatismus. Eine offene Frage, Frankfurt/M. / New York 1995 R. Diaz Bone / K. Schubert, William James zur EinfÝh rung, Hamburg 1996 The Cambridge Companion to William James, Hg. von Ruth Anna Putnam, Cambridge 1997 A. S.
Kant, Immanuel (1724–1804): Seine Lebenszeit fÈllt geistesgeschichtlich in die Epoche der europÈischen AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung), deren Ziel es war, den Menschen als selbstdenkendes Vernunftwesen zu begreifen und in einem groß angelegten Befreiungsprozess alle Spielarten Ýberlieferter AutoritÈt sowohl im Bereich der Erkenntnismethoden als auch im Feld des menschlichen Handelns ins Licht einer methodisch abgesicherten Vernunftkritik zu rÝcken. Die Stichworte des Zeitalters der FranzÚsischen Revolution (etwa 1770–1815): %Kritik, %Vernunft und %Freiheit, sind zugleich die SchlÝsselbegriffe der drei Hauptschriften Kants, die zwischen 1781 und 1790 erschienen sind, der Kritik der reinen Vernunft (1781), der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Kritik
140
Kant, Immanuel
der Urteilskraft (1790). Indem Kant die aufklÈrerische Frage nach der LegitimitÈt von GeltungsansprÝchen auf die Philosophie selbst anwendet, gelingt ihm eine fundamentale Kritik und Umgestaltung der dogmatischen %Metaphysik, die sich als Wissen vom Seienden im Ganzen auch im Besitz der %Erkenntnis des Weltengrundes, also des GÚttlichen und Ewigen, wÈhnte. Den Leitfaden fÝr seine Suche nach einem autonomen, wissenschaftlichen %Prinzipien genÝgenden Philosophieren, das von allen Ýbermenschlichen Anmaßungen der endlichen Vernunft Abstand nimmt, hat Kant in seiner Logikvorlesung in vier berÝhmt gewordenen Fragen zusammengefasst: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« Die diesem Fragenkatalog beigegebene ErlÈuterung, dass die letzte Frage alle anderen umfasse, sodass man deren Beantwortung »im Grunde zur Anthropologie rechnen« kÚnne, macht deutlich, dass es Kant auf die RÝckbindung des metaphysischen Entwurfs der Philosophie an die spezifisch menschlich-endliche %SubjektivitÈt ankommt. In diesem Sinne eines alle GegenstÈnde der Erkenntnis Ýbersteigenden RÝckstiegs in das %Subjekt der menschlich-endlichen Vernunft als dem maßgeblichen Bezugsbereich fÝr eine legitime Auslegung des Seienden (%Sein) ist die kritische Metaphysik Kants eine %Transzendentalphilosophie, die dadurch, dass sie nach den Bedingungen der MÚglichkeit menschlicher Erkenntnis und menschlichen Handelns fragt, die LeistungsfÈhigkeit und die prinzipiellen Grenzen der menschlichen Zugangsweisen zum Seienden in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rÝckt. Das von Kant entwickelte Programm der Vernunftkritik sprengt die dem ursprÝnglichen BedÝrfnis der Vernunft entsprechende Einheit des Wahren, Guten und %SchÚnen und analysiert die unterschiedlichen Gesetzgebungen der verschiedenen Vernunftarten im Hinblick auf ihre je besondere Reflexionskompetenz. Indem sie das dogmatische Vernunftinteresse nach Einheit und Absolutheit des Erkennens einer vernÝnftigen Kritik unterzieht, entfaltet die transzendentale %Erkenntnistheorie ihr aufklÈrerisch-restriktives Potenzial: Erkenntnis wird nicht mehr verstanden als Ideenschau oder als Spiegelung einer objektiv vorhandenen RealitÈt, sondern als
funktionale Konstruktion einer Welt gemÈß den Bedingungen der %Endlichkeit der Vernunft, die auf sinnliche %Anschauung in %Raum und %Zeit angewiesen ist. Nur wenn die aller %Erfahrung vorausliegenden (apriorischen) Grundformen des menschlichen %Denkens, die %Kategorien, die MÚglichkeit erhalten, sinnlich in Raum und Zeit gegebene %Vorstellungen in ihren konkreten %QuantitÈten, %QualitÈten, %Relationen und Modi (%ModalitÈt) begrifflich zu bestimmen, gewinnen sie »objektive RealitÈt«, sodass der in ihnen gefasste Sachgehalt als Sachgehalt eines Gegenstandes zur Erkenntnis wird. Die Bindung der Erkenntnis an die Formen der sinnlichen Anschauung hat im Hinblick auf die AnsprÝche der dogmatisch verfahrenden Vernunft eine weitreichende Konsequenz. Wenn uns als Menschen die GegenstÈnde nÈmlich nur so erscheinen kÚnnen, wie es unsere endlichen Anschauungs- und Denkformen in ihrem synthetische %Urteile ermÚglichenden Zusammenspiel erlauben, dann gerÈt mit dieser Grenzziehung fÝr legitime Erkenntnisse der hÚchste metaphysische Gedanke, der Gottesgedanke, in eine grundsÈtzliche Krise, denn der Begriff eines Ýbersinnlichen Wesens vermag unmÚglich in Raum und Zeit zu erscheinen. Aus transzendental-kritischer Sicht kÚnnen deshalb die Lehren vom Immerseienden und von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele keine Themen der theoretischen Philosophie mehr sein. Das von Kant vorgelegte Angebot zur Rettung des Vertrauens in die Vernunft als einem Ort der Suche nach der %Wahrheit Ýber das Seiende im Ganzen besteht darin, dass er die Erkenntnis des Weltengrundes zur Glaubenssache der praktischen Vernunft erklÈrt. Um praktische Ziele setzen zu kÚnnen, wo sicheres Wissen nicht mÚglich ist, macht Kant den Begriff der Freiheit zum Fundament der transzendentalen Metaphysik. Alle endlichen Naturdinge unterstehen dem Gesetz der %KausalitÈt aus Wirkursachen. Infolgedessen kennen sie keine Selbstbestimmung. Nur der menschliche %Wille ist, sofern er sich als vernÝnftig begreift, in der Lage, aus sich selbst heraus zu bestimmen, was moralisch gut ist; denn es steht ihm frei, ob er sich zu jener Verpflichtung aller Vernunftwesen bekennen will, die es erfordert, dass er die GrundsÈtze (%Maximen) seines Handelns dem
Kant, Immanuel
%kategorischen Imperativ und damit den Einsichten der praktischen Vernunft unterstellt. Wenn sich der menschliche Wille unabhÈngig von Naturursachen, natÝrlichen BedÝrfnissen und von außen an ihn herangetragenen Geboten aus Achtung vor dem %Sittengesetz zur Tat entschließen kann, beweist er durch sein Handeln auch in der Sinnenwelt zumindest punktuell ein wirkliches Freisein von den Bedingungen der %Natur. Dies heißt aber zugleich auch, dass der Mensch sich immer erst zu dem machen muss, was er seiner Bestimmung nach ist. Der Fortschritt zu mehr %HumanitÈt folgt keinem Automatismus. Der in das Reich freier Selbstgesetzgebung entlassene, moralisch handelnde Mensch darf nach Kant hoffen, dass ihn der kategorische Imperativ, der ihm die Achtung vor der PersÚnlichkeit des Anderen gebietet, nicht zu einer Zielsetzung verpflichtet, fÝr deren Erreichen die Bedingungen ausbleiben. Angesichts der UnzulÈnglichkeit und Todesverfallenheit seines Leibes, der ihn dazu verurteilt, das Reich der Freiheit immer nur als ein erstrebtes, niemals aber als ein an und fÝr sich vollbrachtes zu erfahren, erweist sich fÝr den Menschen auf Grund seines praktischen Vernunftinteresses der Glaube an einen gerechten %Gott als ein unverzichtbares %Postulat, eine »nÝtzliche Idee«, die theoretisch weder beweisbar noch widerlegbar ist, der aber als Bindeglied zwischen dem vom guten Willen Gesollten als dem Projekt naturunabhÈngig handelnder Individuen und der durch Sinnlichkeit und Tod bestimmten existenziellen Wirklichkeit des Menschen im endlichen Bewusstsein eine bedeutsame Vermittlungsfunktion zukommt. Da Kant sich darÝber im Klaren ist, dass die moralische Freiheit ohne die Èußere Freiheit in der gesellschaftlichen RealitÈt nicht wirksamwerden kann, befasst er sich nach dem Abschluss seiner grundlegenden Arbeiten zur transzendentalphilosophischen Transformation der Metaphysik in der 1797 erschienenen Schrift zur Metaphysik der Sitten auch mit dem Vernunftbegriff des %Rechts, dessen Entfaltung nicht zuletzt Einspruch gegen die tendenziell totalitÈre Forderung erhebt, Recht und Staat hÈtten die MoralitÈt ihrer BÝrger zu befÚrdern. Kant versteht die Rechtsgemeinschaft als Gemeinschaft von freien, zur Selbstbestimmung fÈhigen Subjekten, die den Èußeren Gebrauch der einem jeden zustehenden Freiheit so regelt, dass
141
die fÝr alle BÝrger verbleibenden FreiheitsspielrÈume das vertretbare Maximum erreichen, ohne dabei wechselseitige BeeintrÈchtigungen hervorzurufen. Kants Rechtsdefinition zeigt, dass das in den republikanischen Verfassungen Amerikas und Europas verankerte Menschenrecht auf Freiheit seinen ideellen Ursprung einem Menschenbild verdankt, dem es darauf ankommt, das Ýber Jahrhunderte tradierte Paradigma von der Gottesherrschaft Ýber Mensch und Natur durch die Vorstellung von einer moralischen WÝrde und Unsterblichkeit des Menschen zu ersetzen. Es lÈsst sich unschwer erkennen, dass zentrale Begriffe und Probleme der Philosophie Kants – ungeachtet aller Kritik an einzelnen LÚsungsstrategien – bis heute Ýberall dort die philosophische, ja sogar die verfassungsrechtliche Diskussion bestimmen, wo das Programm einer von der Vernunft selbst gesteuerten Vernunftkritik weiter verfolgt wird, ohne dass das grundsÈtzliche Vertrauen in die Vernunft dabei zur Disposition steht. In der auf Kant zurÝckgehenden zeitgenÚssischen Vernunftkritik lassen sich zwei transzendentalphilosophische Konzepte unterscheiden, deren gemeinsamer Nenner in der Hervorhebung der Sprachlichkeit aller menschlichen Erkenntnis liegt. Die Theoretiker der kommunikativen Vernunft ergÈnzen Kants Analyse der Bedingungen der MÚglichkeit von %Erfahrung durch eine Untersuchung der Bedingungen der MÚglichkeit zwischenmenschlicher VerstÈndigung Ýber das Erkannte. Die von Apel und %Habermas entwickelten EntwÝrfe einer Theorie der Kommunikationsgemeinschaft vollziehen eine Wendung vom transzendentalen Selbstbewusstsein als der entscheidenden Instanz fÝr die Stiftung von ObjektivitÈt der Erkenntnis zur idealen Kommunikationsgemeinschaft, die argumentativ die Bedingungen von Wissenschaft, die Richtigkeit von Handlungen und deren Maximen und die Angemessenheit sprachlicher AusdrÝcke festlegen soll. Andere Richtungen der heutigen Vernunftkritik sehen im AufklÈrungskonzept Kants insofern die Gefahr einer »Vernunftverwirrung« (Lyotard) angelegt, als trotz aller Unterscheidungen der Vernunftinteressen die Einheit der Vernunft letztlich doch gewahrt bleibe, weshalb die theoretische Vernunft auch dazu tendiere, auf die moralischen, politischen und Èsthetischen Ord-
142
Kierkegaard, So ¨ ren
nungen in der Welt Ýberzugreifen. Die Grundeinsicht Kants, dass fÝr den Menschen nur das Gegenstand der Erkenntnis sein kann, was durch die spezifischen Weisen seines Zugangs zur Welt konstruiert wird, bleibt fÝr %Cassirers semiotische Transformation der kantischen Transzendentalphilosophie ebenso konstitutiv wie fÝr die verschiedenen Varianten des Konstruktivismus oder das postmoderne Konzept einer pluralen transversalen Vernunft (Welsch). Die SelbsteinschÈtzung Kants, die Bedingungen menschlicher Erkenntnis Ýberhaupt analysiert zu haben, weicht in diesen philosophischen EntwÝrfen allerdings der Hypothese, dass Kant nur die Bedingungen eines bestimmten, nÈmlich eines naturwissenschaftlichen Typs von RationalitÈt formuliert habe. Wenn es sich tatsÈchlich als Aufgabe einer zukÝnftigen kritischen Philosophie herausstellen sollte, alle symbolischen Darstellungsleistungen des Menschen – auch die mythischen und Èsthetischen – als gleichberechtigte Umgangsweisen mit der Welt ernst zu nehmen, dann stÝnde das rationalistische Bewusstsein der Moderne vor einer neuen fundamentalen Krise, deren Ausmaße denen des Àbergangs von der dogmatischen zur kritischen Metaphysik durchaus entsprÈchen. I. Kant, Werke in sechs BÈnden, Studienausgabe. Hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1998 G. BÚhme, Philosophieren mit Kant. Zur Rekonstrukti on der Kantischen Erkenntnis und Wissenschafts theorie, Frankfurt/M. 1986 O. HÚffe, Immanuel Kant, 3. Aufl. MÝnchen 1992 G. Schulte, Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991 K. H. Volkmann Schluck, Kants transzendentale Meta physik und die BegrÝndung der Naturwissenschaf ten, Hg. von L. Koch / I. Strohmeyer, WÝrzburg 1995 H. P.
Kierkegaard, So ¨ ren (1813–1855): Empfand sich nicht als Philosoph, sondern als ›religiÚsen Schriftsteller‹. Dennoch ist sein Denken so radikal, spezifisch und hoch reflektiert, dass es ebenso wie das von %Pascal oder Rousseau auch philosophisch gesehen werden kann und muss, zumal es in der Philosophie von großer, wenn auch spÈter Wirkung war. Kierkegaard selbst erleichtert uns dies, da er nur die im engeren Sinne religiÚsen Schriften unter seinem eigenen Namen, die literarischen und philoso-
phischen aber unter verschiedenen Pseudonymen publiziert hat. Beide Schriftengruppen widersprechen sich nicht, doch bilden die Letzteren (quasi %exoterischen) die argumentierende HinfÝhrung zu den Ersteren (bloß erbaulichen und quasi %esoterischen). Kierkegaards Denken enthÈlt auch und wesentlich unphilosophische Aspekte. Nur im Blick auf das Unphilosophische (ReligiÚse) und das Ziel seines Denkens (den christlichen Glaube) ist Kierkegaards Philosophie unverstÝmmelt in ihrem Kern und als Ganzes zu begreifen. Diese Philosophie versteht sich in der Abgrenzung von der klassischen Substanzmetaphysik und der Spekulationsmetaphysik %Hegels als eine Existenz-Anthropologie, deren Hauptbegriffe %Existenz, Innerlichkeit und %Glaube sind. Im Zentrum steht dabei nicht der Mensch Ýberhaupt (die Gattung Mensch), sondern das %Individuum, der konkrete Einzelne. Dessen spezifische Seinsweise ist die Existenz. Nur der konkrete Einzelne existiert. Existenz meint a), dass das %Wesen nicht von seinem Dasein getrennt werden kann und b), dass das Dasein dem Wesen sogar vorangeht, das Wesen (des Einzelnen) erst durch das Dasein konstituiert wird, woraus c) folgt, dass alle Existenz sich in einem bestÈndigen Werden und Bestimmen seines Wesens befindet. Das Medium dieses »Werdens zu sich selbst« ist die Gattungsbestimmtheit des Menschen: %Geist. Aus der Ablehnung der Substanz-Ontologie fÝr den Einzelnen folgt, dass dessen Wesen keine unverÈnderliche GrÚße ist, sondern eine tÈglich in und durch Geist zu bestimmende Leistungsvariable. Das Wesen des Einzelnen ist keine %Substanz, sondern Innerlichkeit. Sein Seinswesen macht der Einzelne sich selbst, und nur er selbst. Das bloße Wissen und das Sein sind in Bezug auf den Einzelnen (auf Existenz) grundverschieden, z. B.: das Wissen, was (objektiv) Angst bedeutet, und (subjektiv) sich zu Èngstigen, d. h. Angst zu sein. Existenz und ExistenzphÈnomene sind durch bloße %Theorie uneinholbar; diese ist in Bezug auf jene prinzipiell insuffizient. Es muss (und kann) dem Einzelnen in Bezug auf sich selbst nach Kierkegaard nicht um bloßes Wissen von sich gehen, sondern um (sein) Existieren. Aus dem objektiven Denker hat hier ein subjektiver zu werden, dessen Aufgabe es ist, sich selbst existenziell zu verstehen; d. h. der Einzelne kann sein %Dasein
Kierkegaard, So ¨ ren
nur verstehen, indem er es vollzieht (gestaltet), und sein Dasein gestalten kann er nur, indem er dies versteht. Sein und Dasein kann (bloß) gedacht werden; Existenz und ExistenzphÈnomene aber sind durch bloßes Denken nicht angemessen zu erfassen, sondern nur durch freien, verstehenden Daseinsvollzug, eine %Handlung, die man Existenzialisierung (Verwandlung von %Verstehen in Existenz durch Geist) nennen kann: Beim geforderten subjektiven Denken kommt es also darauf an, dass der Einzelne »handelnd in seinem Denken Ýber seine eigene Existenz sich selbst durcharbeitet; dass er also wirklich das Gedachte denkt, indem er es verwirklicht.« Die »Doppelreflexion des subjektiven Denkers« ist so die %Reflexion seiner Innerlichkeit: indem er sein wirkliches Dasein (als Einzelheit) und Denken (als begrifflich Allgemeines) zu Existenz integriert. Dies aber kann nicht vÚllig objektiviert und unmittelbar doziert, sondern nur indirekt mitgeteilt werden: durch Ausdruck in Existenz. Kierkegaard gibt ausdrÝcklich keine bloße Lehre, sondern »Existenzmitteilung« als Appell zu einer bestimmten Existenzform. Die Integration von Verstehen und Dasein zu Existenz ist identisch mit der Konkretisierung des Einzelnen; je mehr Geist, desto mehr Innerlichkeit, desto mehr Existenz, desto mehr (individueller) konkreter Mensch, und umgekehrt. Ist nun einerseits das bloße Wissen des Einzelnen von sich selbst oft genug falsch, so wird andererseits der Einzelne in der Existenzialisierung seines eigenen Verstehens nicht nur konkret, sondern (in der genannten Integration von Verstehen und Dasein) auch wahr. Die ursprÝngliche (konkrete) Wahrheit ist diese existenzielle SubjektivitÈt (Innerlichkeit), die auch die Basis der bloßen GÝltigkeit objektiver Urteile ist. Konkrete Wahrheit ist immer die von Existenz; sie kann von keiner Vermittlung und Abstraktion (beides Werkzeuge aller spekulativen Philosophie, z. B. der Hegels) erreicht werden. Der Einzelne macht sich (faktisch, nolens volens) erst zu dem, was er ist (was auch immer das ist). Und insofern der Mensch einerseits als physische %Natur endlich, andererseits als geistbestimmtes Wesen Ýber-endlich ist, haben alle ExistenzphÈnomene einen nichtdefinitiven, mehrdeutigen, dialektischen Charakter (der auch die ›Theorie‹ Ýber Existenz dialektisch prÈgt). Den Grund dafÝr sieht Kierkegaard in
143
der Struktur des Individuums. Dieses ist kein %Ich, sondern ein %Selbst, d. h. ein VerhÈltnis (von Unendlichkeit / Endlichkeit, Freiheit / Notwendigkeit, Zeitlichem / Ewigem), das sich zu sich selbst verhÈlt, also ein VerhÈltnis, das (faktisch und immer schon) um sich weiß, das in sich reflektiert ist. Nach Kierkegaard kann angesichts der Leidensformen des Menschen sich dieses VerhÈltnis (das Selbst) nicht selbst geschaffen haben. Vielmehr ist das Sich-zu-sichselbst-Verhalten des VerhÈltnisses die Signatur der GrÝndung des Selbst in einem (gegenÝber dem reflektierten, gedoppelten VerhÈltnis:) Dritten und zugleich die Geistbestimmtheit des Menschen. Das Dritte, in dem der Mensch grÝndet, ist %Gott. Dass der Mensch bloß geistbestimmt (nicht ausschließlich Geist) ist und in einem anderen grÝndet, ist dasselbe und der Grund fÝr die prinzipielle Nicht-IdentitÈt des Individuums mit sich selbst, die Kierkegaard als wesenhafte Defizienz sieht: Jeder Mensch – ob er das weiß und will oder nicht – ist verzweifelt (des Menschen ›Krankheit zum Tode‹). Diesem Konzept fÝgt sich ein anderes ein, mit dem das Werden des vollgÝltigen Menschen (des Einzelnen) durch Schuld und SÝndenfall dargestellt wird. Der Mensch wird hierbei gesehen als die vom ewigen Geist gesetzte Synthese von Seele und Leib. In Adam (als dem ersten Menschen) ist die vÚllige Unschuld totale Unwissenheit, in der der Geist die Synthese noch nicht gesetzt hat, sondern noch trÈumt und darin seine Wirklichkeit als Unwissenheit von %Nichts spiegelt, das (als die reine MÚglichkeit) %Angst erzeugt. Diese ist die gefesselte %Freiheit oder der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die %Synthese setzen will und die Freiheit hinab blickt in ihre eigene MÚglichkeit und sich im Schwindel an der %Endlichkeit festhÈlt; die wieder zu sich kommende Freiheit erkennt, dass der ewige Geist sich zum Einzelnen verendlicht hat und damit schuldig ist. hnlich der SÝndenfall: Gottes Verbot erzeugt in dem unwissenden (und das Verbot gar nicht verstehenden) Adam jene MÚglichkeit der Freiheit (als KÚnnen) und Angst, in der (nicht: durch die) die SÝnde entsteht. Die in Angst entstehende Schuld und SÝnde ist als qualitativer Sprung letztlich unerklÈrbar und unableitbar. Mit der %Individuation durch Schuld und (nicht mehr absolute) Freiheit entste-
144
Kierkegaard, So ¨ ren
hen auch die Geschlechtlichkeit und die %Geschichte, in der es (gegen Hegel) keine Notwendigkeit gibt, denn das Notwendige ist nur (wird nicht), und das Wirkliche ist nicht notwendiger als das MÚgliche; alles Werden geschieht durch Freiheit, nicht notwendig; Wirklichkeit ist so die Einheit von MÚglichkeit und Notwendigkeit. Von der angesprochenen Angst und Verzweiflung gibt es keine Heilung, aber Linderung. Der Mensch kann seine angeborene Defizienz nicht aufheben, sich darin aber stabilisieren, indem er seiner Struktur entsprechend existiert, d. h.: in Freiheit seine Existenz (sein Leben) so gestaltet, dass sie der dem Menschen wesentlichen Struktur entspricht. Auch dies geschieht durch Existenzialisierung (die Kierkegaard hier pathetischdialektisch nennt): Der Mensch muss (soll) dazu a) seine Geistbestimmung als GrÝndung seiner in Gott verstehen (dialektisch, denkend) – wodurch er sich seine faktische GrÝndung in Gott ›nur‹ durchsichtig macht – und b) dieses Verstehen existenziell (leidenschaftlich) umsetzen, d. h. verwirklichen: im religiÚsen Glauben. Diesen versteht Kierkegaard weder mystisch oder klÚsterlich noch als blinde Gedankenlosigkeit. Er ist vielmehr ›Produkt‹ eines durch Reflexion und Lebenserfahrung erarbeiteten Weges in drei bzw. vier Stadien (die zugleich Stufen steigender Innerlichkeit sind). Im ersten, Èsthetischen (sinnlichen) Stadium ist der Mensch unmittelbar, reflexionslos dem sinnlichen Leben verfallen. Sein Ausdruck ist Genuss. Seine eigentliche Bestimmung und Kraft erhÈlt das Sinnliche aber erst von einem spÈteren und ihm entgegengesetzten Stadium aus: dem Geist. Im Griechentum war die Sinnlichkeit seelisch (nicht geistig) bestimmt und in Harmonie mit dem Geist; erst das Christentum hat Sinnlichkeit und Geist einander opponiert, damit das Sinnliche und Erotische als Prinzip gesetzt und so erst die Musik ermÚglicht. Im Gegensatz zur %Sprache als dem konkretesten Medium ist die Musik Ausdruck und Medium der abstraktesten %Idee: die durch Geist zwar bestimmte, aber dadurch gerade dem Geist entgegengesetzte, reine sinnliche Unmittelbarkeit (sinnliche GenialitÈt als absoluter Gegenstand der Musik). Der Geist als Prinzip des Christentums hat auch das Tragische verÈndert, das im Griechentum noch mehr Trauer als Schmerz war; spÈter kehrte sich dies VerhÈltnis durch ethische Schuldreflexion um.
Das %Èsthetische Stadium ist die wahl- und reflexionslose Indifferenz. Erst im zweiten, %ethischen Stadium ermÚglicht Reflexion die Entdeckung eines (vom Einzelnen und seiner Situation gelÚsten) Allgemeinen (das Sollen; Freud wird es das Àber-Ich nennen) jenseits der sinnlich-unmittelbaren Einzelheit und des darin zerstreuten Ichs. Dadurch entsteht allererst die MÚglichkeit einer Wahl (zwischen Existenzformen: »Entweder/Oder«), die der ethische Einzelne auch wahrnimmt: Er wÈhlt sich selbst als PersÚnlichkeit, die durch die Konkretisierung des Ethisch-Allgemeinen und die reflektierte Distanzierung vom bloß Sinnlich-Unmittelbaren und dessen Dunkelheit entsteht. Der ethische Mensch kennt sich selbst, ist anderen (als das, was er ist) offenbar und drÝckt seine Innerlichkeit in Èußerer Lebenshaltung (besonders der Ehe) aus, d. h. er lebt erkennbar ethisch. Das Ethisch-Allgemeine gibt jedoch nur gemeinschaftliche und deshalb fÝr den Einzelnen letztlich relative Ziele. Das absolute, nur ihm eigene Ziel seiner selbst erreicht das Individuum dadurch, dass es (wie oben beschrieben) seine GrÝndung in Gott versteht und dieses Verstehen existenziell umsetzt: im religiÚsen Glauben, womit es in das dritte Stadium (%religiÚses Stadium tritt. Im religiÚsen Glauben entspricht die Existenz des GlÈubigen seinem Seinsgrund und neutralisiert Angst und Verzweiflung. Die religiÚse Innerlichkeit ist – da sie nur entsteht in der BemÝhung des Individuums um sein ureigenstes (absolutes) Ziel – nicht mehr im Èußeren Leben auszudrÝcken und bleibt den anderen verborgen. Da ihr der Èußere Ausdruck fehlt und das absolute Ziel in diesem Leben unerreichbar bleibt, ist der einzige Ausdruck des echt ReligiÚsen das (geistige) Leiden als die lebenslange BemÝhung, sich (durch Glauben) als Einzelner ›vor Gott‹ zu bringen. Philosophisch geht es bei Kierkegaard darum, das ontologische Problem der Einheit von Denken und Sein (die Kierkegaard ablehnt) anthropologisch zu ›lÚsen‹. Das reine Denken kann seinen eigenen Grund nicht angemessen denken, – es sei denn im existenziellen Vollzug: als religiÚser Glaube. »Glauben ist Sein.« Die wirkliche RealitÈt ist deshalb fÝr Kierkegaard die Innerlichkeit, in welcher »das Individuum die MÚglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Das ist
Kierkegaard, So ¨ ren
Handlung.« Die existenziell wichtigste Handlung ist die in Bezug auf sich selbst als auf seinen Grund: auf Gott. Gott ist aber gerade das (vom Menschen) absolut Verschiedene, ganz Andere und Unerkennbare. Er ›ist‹ (fÝr mich) nicht im bloßen Denken, sondern indem ich mit Hilfe des %Verstandes aus dem Verstand herausspringe in den Glauben. Dieser entsteht nur in diesem Sprung: in dem Paradox, dass der Verstand dazu gebraucht wird zu verstehen, dass er Gott nicht denkend (mit Verstand) erfassen kann und leidenschaftlich gegen dieses Paradox anrennen soll, ohne es begreifen zu wollen. Der Sprung in den Glauben ist quasi das Pendant zum Sprung in die SÝnde; und wie erst %Ethik die Schuld entdeckt, so der Glaube erst die SÝnde. Um nun zu verhindern, dass dieser Gott als bloß philosophischer gedacht wird, radikalisiert Kierkegaard (im engen Anschluss an Pascal) seinen Ansatz und trennt das dritte, religiÚse Stadium nochmals in das ethisch- bzw. immanentreligiÚse (ReligiositÈt A) und das paradox- bzw. christlich-religiÚse (ReligiositÈt B). Im letzten, hÚheren Stadium ist mit Christus das Paradox aufs hÚchste gesteigert. Der bloß immanente Gott (nur fÝr mich, bloß in meiner Immanenz) ist Ýberwunden dadurch, dass Gott (als das Ewige und Unerkennbare) sich dennoch verzeitlicht und sichtbar gemacht hat. Erst in Christus als dem totalen Paradox und (Verstandes-)rgernis hat der Glaube seinen eigentlichen (allen Verstand Ýbersteigenden) letzten Sinn. Dieser radikale, reine Glaube fÝhrt dann auch zur teleologischen Suspension des Ethisch-Allgemeinen: So wie Christus ›hÚher‹ (glaubenswÝrdiger) ist als der bloß immanente (philosophische) Gott, ist die Kategorie ›der Einzelne‹ und seine %Pflicht gegenÝber Gott ›hÚher‹ als ethisch-allgemeine Pflichten (Abraham-Isaak-Geschichte), – was nicht selbst wieder ethisch als Dispens von der Regel gesehen werden darf, sondern als Statuierung einer paradoxen Existenz, deren ureigenste und wichtigste Probleme nicht ethisch lÚsbar sind. Philosophisch ist die Christus-Figur der letztmÚgliche Ausdruck fÝr das unbegreiflich Paradoxale des Gottes (als unserem, durch Denken unfassbaren Grund), an den wir nur glauben kÚnnen, aber auch mÝssen (schon weil es dies Paradox gibt). Dass die Vernunft dies als das Unbegreifliche begreifen soll, ist die AbsurditÈt des christlich GlÈubigen. An die Stelle des Meta-
145
physikers, der durch logisch-quantitative Spekulations-Dialektik und Abstraktion vom Dasein mit bloßen Verstandes-Vermittlungen ein theoretisches System entwirft (Hegel), tritt bei Kierkegaard der konkrete, ebenso reflektierte wie leidenschaftliche GlÈubige, der durch qualitative Existenz-Dialektik das Absurd-Paradoxale mit seinem faktischen Dasein im/durch Glauben in Existenz umsetzt. Ist die Ironie das Inkognito des Ethikers (%Sokrates) und Humor das der ReligiositÈt A, so ist die ReligiositÈt B der hÚchste Lebensernst: die im Glauben an Christus absichtsvolle AbsurditÈt der paradoxalen Existenz und das Leiden, dies gegen den Verstand aushalten zu mÝssen, – eine Haltung, die beim spÈten Kierkegaard in einen aggressiv-radikalen, irrationalen %Solipsismus mit wahnhaften ZÝgen fÝhrt und damit diese Denkphase als eben das bloßstellt, wogegen er sich in seinen Hauptwerken wandte: eine unlebbare Theorie. Kierkegaards Werk stellt nicht nur fÝr Philosophen eine Herausforderung dar: mit seinen beiden Werkgruppen; dem Ineinander von Philosophie, Psychologie, Literatur, romantischer sthetik und kompromisslos subjektiver ReligiositÈt; seinen zahlreichen, teils negativ gebrochenen EinflÝssen und Anspielungen; seiner an die Grenze zur Hyperreflexion getriebenen, pseudodialektischen Methode im Verein mit der Neigung zu artistischen Formulierungen und der FÝlle faszinierender, aber verstreuter Einsichten. Seine philosophisch-psychologische Gedankentiefe kontrastiert hart mit seiner kleinbÝrgerlich reaktionÈren Weltanschauung. Das konkrete Individuum erfÈhrt bei %Marx seine antireligiÚse Fassung, die Gotteskategorie ihre antimetaphysische Umwandlung in den Àbermenschen bei %Nietzsche; beiden geht Feuerbach vorher, der (zeitgleich mit Kierkegaard) Religion und Gottesbegriff radikal anthropologisch auflÚst: Das Geheimnis der Theologie ist nach ihm die %Anthropologie. Gott ist nichts anderes als das Wesen des Menschen selbst, aber als sehnsÝchtig vervollkommnetes, vom Menschen aus ihm herausprojiziert und ihm selbst als etwas anderes entgegengesetzt; der menschgewordene Gott (Christus) nur die Erscheinung des gottgewordenen Menschen; Religion die Entzweiung des Menschen mit sich selbst. Kierkegaards »Verzweiflung« ist hier der Zwiespalt des Menschen mit seinem eigenen
146
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Wesen, das er mit Gott und Religion sich zu verschweigen bzw. zu heilen sucht. Oft sind SÈtze von Feuerbach und Kierkegaard sehr Èhnlich, haben jedoch einen vÚllig anderen Sinn. Philosophisch bedeutsam und wirkmÈchtig bei Kierkegaards Denken sind neben zahlreichen einzelnen Thesen und Topoi (z. B. das Erotische in der sthetik oder der Daseins-Ekel) vor allem die Entdeckung der Kategorie ›Existenz‹ (womit er als BegrÝnder der Existenzphilosophie gilt) und der Kritik der LeistungsfÈhigkeit jeder diesbezÝglichen Theorie Ýberhaupt, auch einer ›nur‹ philosophischen. Gerade damit hat Kierkegaard die Philosophie aber vor neue Aufgaben gestellt, die z. B. Jaspers, %Heidegger und Camus (unter starker Aufnahme sÈkularisierter Elemente von Kierkegaards Denken) bestimmen. H. Diem, Die Existenzdialektik von SÚren Kierkegaard, Zollikon ZÝrich 1950 H. H. Schrey (Hg.), SÚren Kierkegaard, Darmstadt 1971 W. Dietz, SÚren Kierkegaard. Existenz und Freiheit, Frankfurt/M. 1993 K. P. Liessmann, Kierkegaard zur EinfÝhrung, Hamburg 1993 R. A. Bast, ›Innerlichkeit‹ bei Kierkegaard, In: Rationali tÈt und Innerlichkeit. Hg. von H. B. Gerl Falkovitz u. a., Hildesheim 1997, S.121 138 R. A. B.
Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716): Deutscher Philosoph und Universalgelehrter, geb. am 1. 7. in Leipzig, gest. am 14. 11. in Hannover. Leibniz’ Philosophie ist in erster Linie von dem Gedanken getragen, die %Metaphysik, die seit %Descartes am naturwissenschaftlichen Methodenideal orientiert ist, zu verbessern. Kern der Auseinandersetzung – vor allem in der Monadologie – ist dabei die Bestimmung dessen, was die %Substanz sei. Leibniz geht davon aus, dass sie einfach sein mÝsse, d. h. ohne Teile. Die einfache Substanz nennt er %Monade (Einheit). Da die Monaden keine Teile haben, so fehlt ihnen auch Ausdehnung, Gestalt und Teilbarkeit. Auf diese Weise sind sie die wahren Atome der %Natur und somit die Elemente der Dinge. FÝr die einfachen Substanzen gibt es also keine AuflÚsung, da sie sich nicht in StÝcke zerlegen lassen kÚnnen. Die Monaden entstehen und vergehen nur mit einem Schlag (tout d’un coup), wÈhrend das Zusammengesetzte dem Wachsen und Schwinden ausgesetzt ist. Leibniz orientiert
sich am physikalischen Begriff des Atoms und ÝbertrÈgt ihn auf den metaphysischen der Substanz. Neben der Einfachheit (simplicit¹) kommt es den Monaden zu, vereinzelt zu sein, keine Fenster zu haben. Das bedeutet, dass es keine Einwirkung oder VerÈnderung von außen geben kann, die die Monade bestimmen. Das dritte Charakteristikum ist ihre Einzigartigkeit: Jede Monade muss von jeder anderen verschieden sein, weil es in der Natur nie zwei identische %Wesen gibt. Leibniz setzt voraus, dass jedes geschaffene Wesen dem Wandel unterworfen ist und dass dieser sich kontinuierlich vollzieht. Daraus folgt aber, dass dieser auf einem inneren %Prinzip beruht, da der Èußere Einfluss (influxus physicus) ja – in deutlichem Unterschied zu Descartes – verworfen wurde. Neben den drei Charakteristika macht Leibniz ebenfalls drei VermÚgen der Monaden aus, die das Wesentliche seiner Metaphysik ausmachen: 1. Die %Perzeption (perception) ist der momentane Zustand, der eine Vielheit in der Einheit, d. h. in der einfachen Substanz einbegreift und vorstellt. Dass es eine Vielheit in der Einheit geben kann, erlÈutert Leibniz geometrisch, indem er zeigt, dass in einem Punkt unendlich viele Winkel zusammenlaufen kÚnnen, ohne dass dabei verschiedene Teile des Punktes gedacht werden mÝssen. 2. Das Streben (l’appetition) ist die TÈtigkeit des inneren Prinzips, das den Àbergang von einer Perzeption zur nÈchsten bewirkt. Nicht immer wird die ganze Perzeption vollstÈndig erreicht, aber auch ein teilweises Erreichen genÝgt, um zu neuen Perzeptionen zu gelangen. Entscheidend fÝr das Streben ist der kontinuierliche Àbergang. 3. Die %Vorstellungen der %Welt (repraesentatio mundi) meint, dass eine Vielheit in der einfachen Substanz erfahren wird. Aus jedem noch so kleinen Gedanken kann die Mannigfaltigkeit der Welt entwickelt werden, sodass jede Monade gleichsam deren Spiegel ist. Leibniz wehrt den mechanistischen Gedanken ab, die Perzeptionen seien aus Gestalt und Bewegung erklÈrbar. Die Monade hat nur innere TÈtigkeiten, was ein VerhÈltnis wie das von Druck und Stoß ausschließt, denn dieses beruht ja auf der Annahme von Zusammengesetztem. Folglich kann Leibniz die Monaden als unkÚrperliche Automaten bezeichnen, da sie eine Art von SelbstgenÝgsamkeit (%Autarkie) besitzen, von sich her tÈtig sind. Nun haben zwar alle Monaden
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Perzeptionen und Streben gemein, doch gibt es zwischen ihnen Unterschiede: Die bewusste Wahrnehmung (sentiment) ist distinkter als die einfache Perzeption und zudem auch von Erinnerung begleitet. Die Monaden, die so ausgezeichnet sind, kÚnnen als %Seelen bezeichnet werden. Auf diesem Wege kommt Leibniz zur Entdeckung des Unterbewussten. Im tiefen, traumlosen Schlaf gibt es nur schwache und undeutliche Perzeptionen (petites perceptions). Doch kann man aus dem Schlaf geweckt werden und sich seiner gehabten Perzeptionen bewusst werden, woraus folgt, dass es einen Strom von unterbewussten Perzeptionen geben muss, den der Aufweckvorgang zu Bewusstsein und Deutlichkeit emporreißt. Aus der jeweiligen Distinktheit der Perzeptionen ergibt sich auch die Rangordnung der Lebewesen. Der Mensch verfÝgt Ýber die deutlichsten Perzeptionen, sodass seine Seele zur %Erkenntnis (anima intellectiva) fÈhig ist. Tiere haben ihre eigenen Perzeptionen, die sie in die Lage versetzen, bestimmte Sinnesempfindungen (anima sensitiva) zu erhalten, wÈhrend die der Pflanzen so verworren sind, dass ihnen nur die pure Lebewesenhaftigkeit (anima vegetativa) zuteil wird. Doch obwohl die Monaden in den Graden der Deutlichkeit ihrer Perzeptionen so verschieden sind, stellt jede in ihrer Weise das Universum vor. Daraus entwickelt Leibniz den Gedanken der PerspektivitÈt. Dadurch dass jede Monade ihr jeweils eigenes Abbild der Welt ist, ist sie auch ihr individueller Ausdruck. Leibniz gewinnt dadurch das Prinzip der %IdentitÈt des Ununterscheidbaren (principium identitatis indiscernibilium). Denn zwei Wesen, die sich in allem gleichen, sind ›umsonst‹. Die Natur aber macht nichts umsonst: Also gibt es in der Natur nicht zwei Dinge, die ununterscheidbar sind. Beispielgebend sind etwa die BlÈtter eines Baumes, zwischen denen sich keinerlei Gleichheit finden lÈsst. Da aber alle Erscheinungen in der Natur nur der Èußere Vorschein der monadischen Grundbestimmung sind, kann die phÈnomenhafte Unvergleichlichkeit nur auf eine monadische Unvergleichlichkeit gegrÝndet sein. Leibniz rÈumt damit die traditionelle Vorstellung aus, die Unterscheidungsmerkmale des Menschen seien Haut und Knochen (materia signata), wenigstens jedoch die unterschiedliche Stelle in Raum und Zeit. Monadologisch gesehen sind diese Merkmale unwesentlich, da sie nur
147
Èußere, d. h. nicht wesenhafte Beschaffenheiten darstellen. Die Monade erweist sich also als endliche, dem stetigen Wandel unterworfene Substanz. Das Problem, das sich daraus ergibt, lautet: Wie kÚnnen sich die Charaktere der wahren Einheit im Wandel bewÈhren? Die kritischen Punkte, die Leibniz zu klÈren hat, sind: 1. Wie entspricht das Wandelbare der Wesensbestimmung des Vereinzeltseins? 2. Wie kann das Wandelbare dem Anspruch der IndividualitÈt genÝgen? 3. Wie entspricht ein monadologisch Wandelbares dem Anspruch der SimplizitÈt? Zum einen ist die Monade in sich wandelbar, da ihre Perzeptionen von sich her stÈndig im Fluss sind, im Àbergang von einer Vorstellung in die andere (l’¹tat passager). Das %Subjekt wandelt sich zwar bezogen auf seine Vorstellungen, doch bleibt es ein und dasselbe im StrÚmen von einer Perzeption zur anderen. Zum anderen ist das Prinzip der IndividualitÈt die Weise, wie jeder Einzelne die Welt reprÈsentiert. Die Welt wird als Horizont verstanden, der je zur Vorstellung gebracht wird; die IndividualitÈt bedeutet also die einzigartige und unÝberholbare Weise der Perzeption als ReprÈsentation der Welt. Das Streben erfÝllt dabei das Kriterium des Vereinzeltseins, da es als inneres Prinzip keinen Èußeren %Ursache unterliegt. Das dritte Problem lÚst Leibniz, indem er zeigt, dass es neben der Perzeption noch die %Apperzeption gibt, nÈmlich das Mitdazuerfassen; dass es das Individuum ist, das etwas erfasst, d. h. dasjenige, was in jeder Perzeption mit hinzukommt. Doch dehnt Leibniz die Apperzeption, d. h. die Einheit des Ich, nicht auf die ganze Natur aus. Sie ist lediglich der hÚchste Grad des monadisch verfassten Seienden (%Sein), das sich kontinuierlich in seiner jeweiligen Deutlichkeit des Weltbezuges voneinander unterscheidet. Das lebendig Seiende – und jede Monade lebt – stuft sich nach einem Gesetz ohne SprÝnge; es handelt sich um kontinuierliche Unterschiede (Gesetz der KontinuitÈt / lex continui). Aber die Monaden, gleich welchen Grades, verdanken sich nicht ihrer eigenen Kraft, sondern sind geschaffene Wesen der Monade der Monaden (monas monadum), d. h. %Gottes. Da alle besonderen Bestimmungen auf andere vorhergehende fÝhren, die zu ihrer BegrÝndung wieder einer solchen Bedingtheit unterliegen, muss es einen zureichenden %Grund geben, der außerhalb des Zusammenhangs der
148
Leibniz, Gottfried Wilhelm
natÝrlichen Dinge steht. Leibniz denkt die Urmonade Gott als unbedingte Vollkommenheit, d. h. die GrÚße der positiven RealitÈt, die sich ergibt, wenn alle Grenzen beiseite getan werden. Die geschaffenen Monaden verdanken ihre relativen Vollkommenheiten der Urmonade, ihre Unvollkommenheiten jedoch ihrer eigenen Natur, da sie ja endlich, nicht schrankenlos sind. Doch ist Gott nicht nur der Ursprung der Existenz, sondern auch der %Wesenheit, sofern sie real ist bzw. dessen, was es in der MÚglichkeit schon an Realem gibt. Der gÚttliche %Verstand, der als Sitz der ewigen %Wahrheiten (%Ideen) begriffen wird, von dem sie abhÈngig sind, garantiert, dass es in den MÚglichkeiten Reales und Existierendes gibt; ja ohne ihn gÈbe es nicht einmal das MÚgliche. Aber die AbhÈngigkeit der ewigen Wahrheiten von Gott bedeutet nicht, dass sie willkÝrlich sind, von seinem Willen bestimmt werden. Dies gilt nur fÝr die zufÈlligen Wahrheiten, deren Prinzip die Angemessenheit (convenance), die Wahl des Besten, ist. Die notwendigen Wahrheiten hÈngen allein vom gÚttlichen Verstand ab, sind dessen innerer Gegenstand. Daraus lÈsst sich das VerhÈltnis zwischen Gott als ursprÝnglicher Einheit (l’unit¹ primitive) und den abgeleiteten Monaden (monades d¹rivatives) genauer bestimmen: Alles Geschaffene ist Hervorbringung Gottes und entsteht durch sein kontinuierliches Aufblitzen (fulgurations continuelles) von Moment zu Moment. Die Grenzen der geschaffenen Monaden liegen in ihrer wesenhaft beschrÈnkten AufnahmefÈhigkeit (r¹ceptivit¹). Gott ist also sowohl die Macht (puissance), die die Quelle von allem ist, als auch die Erkenntnis (connoissance), welche die einzelnen Ideen enthÈlt, und auch der %Wille (volont¹), der die VerÈnderungen oder SchÚpfungen nach dem Prinzip des Besten bewirkt. Auf Seiten der geschaffenen Monaden entsprechen diese drei Momente dem Subjekt bzw. dem Fundament (le sujet ou la base), dem PerzeptionsvermÚgen (facult¹ perceptive) und dem BegehrungsvermÚgen (facult¹ app¹titive). In Gott sind alle KrÈfte absolut unendlich, wÈhrend sie in den geschaffenen Monaden Nachahmungen je nach dem Grad (mesure) ihrer Vollkommenheit sind. Die Urmonade ist also die reine TÈtigkeit, da sie alle VermÚgen besitzt, ohne Kraft durch etwas anderes außer ihr zu erlangen. Dementsprechend ist die geschaffene Monade tÈtig, sofern sie deutliche Perzeptionen
hat, jedoch leidend, sofern diese verworren sind. Da es aber keinen physischen Einfluss der geschaffenen Substanzen untereinander gibt, kann es nur einen idealen Einfluss durch die Vermittlung Gottes geben. Um also die Fensterlosigkeit der Monaden zu kompensieren, setzt Leibniz die schaffende Urmonade an die Stelle des Weltzusammenhang stiftenden Prinzips. Sie ist der Einheitsgrund fÝr die unendliche Menge von Welten, die dadurch entsteht, dass jede geschaffene Monade ihre eigene Perspektive des Universums hat. Gott ist der SchÚpfer der %prÈstabilierten Harmonie (l’harmonie pr¹¹tablie), die es erlaubt, dass die Seelen, die nach den Gesetzen der Zweckursachen (causes finales) wirken, und die KÚrper, die sich nach den Gesetzen der Wirkursachen (causes efficientes) bewegen, ein und dasselbe Universum sind. Somit denkt Leibniz die Emendation (Verbesserung) der Metaphysik gegenÝber Descartes geleistet zu haben, da er die sich aus dem cartesianischen Dualismus von denkender und ausgedehnter Substanz entstandenen Schwierigkeiten ausgeschaltet hat. DarÝber hinaus kann Leibniz so seinen philosophischen Optimismus rechtfertigen: Da Gott nicht willkÝrlich schafft, sondern gemÈß seinen inneren GegenstÈnden – den ewigen Wahrheiten – kann er bei der SchÚpfung nur derjenigen Welt den Vorzug geben, die von allen mÚglichen KompossibilitÈten (das Zusammen-bestehen-KÚnnen der Monaden) die beste ist. Damit ist das Theodizeeproblem (Rechtfertigung Gottes angesichts des Àbels in der Welt) fÝr ihn gelÚst, weil das Geschaffene von keiner Unvollkommenheit der Urmonade berÝhrt wird. Des Weiteren ergibt sich aus dem monadologischen Denken ein neuer Ansatz fÝr die LÚsung des Bewegungs- bzw. Energieproblems. Hatte Descartes versucht, alle Bewegung durch den Druck und Stoß aneinanderfließender Korpuskeln (KÚrperchen) zu erklÈren, deren StabilitÈtsgarant Gott ist, entwickelt Leibniz die Idee der lebendigen Kraft. Er wendet sich gegen den seit Aristoteles gelÈufigen Begriff der %Dynamis, der soviel besagt wie ruhende Disposition der VerÈnderung. Mit Dynamis wird nur gesagt, dass in einem Subjekt der VerÈnderung bestimmte passive Bedingungen vorhanden sind, die den Èußeren EinflÝssen, die an das Subjekt herantreten und die es allein zur TÈtigkeit bestimmen, eine Richtung der Wirksamkeit vorschreiben. Leibniz akzentuiert dage-
´vinas, Emanuel Le
gen auf monadologische Weise die AktivitÈt oder Kraftbegabtheit. Die Subjekte befinden sich dem gemÈß in einem Zustand, aus dem, wenn er nicht durch Èußere UmstÈnde gehemmt wird, unmittelbar eine VerÈnderung erfolgt. Das heißt, dass in den materiellen Dingen etwas enthalten ist, was Ýber die bloße Ausdehnung hinausgeht: die natÝrliche Kraft, die Gott den Dingen eingepflanzt hat. Leibniz folgert daraus, dass das Wirken das eigentliche Charakteristikum der Substanzen ist, wÈhrend die Ausdehnung die bloß stetige Wiederholung der strebenden Kraft ist. Die tÈtige Kraft oder Wirksamkeit (virtus) stellt sich in doppelter Art dar: Zum einen ist sie primitive Kraft, die jeder kÚrperlichen Substanz innewohnt – es gibt keine durchaus ruhenden KÚrper –, zum anderen als derivative (abgeleitete) Kraft, die sich aus der wechselseitigen EinschrÈnkung der primitiven Kraft durch die Wechselwirkung der KÚrper ergibt. Und auch die passive Kraft stellt sich in dieser Zweigeteiltheit dar: Die primitive Kraft des Leidens (die Kraft des Widerstands) bewirkt, dass ein KÚrper nicht von einem anderen durchdrungen wird, d. h. mit einer gewissen TrÈgheit behaftet ist, sodass die Wirkung anderer KrÈfte, die er erhÈlt, abgeschwÈcht wird. Die derivative Kraft des Leidens meint soviel wie Masse, insofern der endliche ausgedehnte KÚrper als Produkt von einfachen Massenpunkten verstanden wird. Leibniz’ Hauptinteresse gilt in diesem Zusammenhang den derivativen KrÈften, da sich auf sie die Wirkungsgesetze beziehen. Die derivative Kraft wird stets in Zusammenhang mit der Ortsbewegung gedacht bzw. mit der Fortsetzung der Ortsbewegung. Sie allein ist der ErklÈrungsgrund fÝr alle materiellen Erscheinungen. Bewegung aber kann nur als kontinuierliche VerÈnderung des Ortes begriffen werden, bedarf also der %Zeit. So ergibt sich aus der Verbindung von Bewegung und Zeit das Moment der Geschwindigkeit. Diese ist ein %Streben (conatus), bei dem eine Richtung mitgedacht wird, der Antrieb (impetus) hingegen ist das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit eines KÚrpers (Impuls). Leibniz erÚffnet damit den Weg zur Entdeckung der Beschleunigung. Die Bewegung, die sich Ýber eine bestimmte Zeit erstreckt, erfÈhrt unendlich viele Antriebe, wodurch eine VerÈnderung der BewegungsgrÚße erklÈrbar wird. Der bloße Blick auf die nur momentane Bewegung erlaubt lediglich
149
die Berechnung einer Durchschnittsgeschwindigkeit. WÈhrend die Tradition in reiner Phoronomie (Bewegungslehre) verharrt, macht Leibniz den Weg zur Dynamik frei. Kraft ist eben nicht bloß das Produkt von Masse und Geschwindigkeit (tote Kraft), sondern lebendig, was bedeutet, dass die Geschwindigkeiten fallender KÚrper nicht den durchlaufenen RÈumen proportional sind. Die lebendige Kraft ist der physikalische Ausdruck des monadologisch gefassten Prinzips des Strebens. A. Blank, Der logische Aufbau von Leibniz’ Metaphysik, Berlin 2001 P. DÚring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’, Leipzig 1999 M. Th. Liske, Gottfried Wilhelm Leibniz, MÝnchen 2000 K. Nowak / H. Poser (Hg.), Wissenschaft und Weltge staltung, Hildesheim 1999 A. P.
´ vinas, Emanuel (1906–1995): Geboren in Le Kaunas, Litauen, gestorben in Paris: Kind zweier Kulturen, die in seiner Philosophie einen Ausgleich suchen. Sohn jÝdischer Eltern, hat er Zeit seines Lebens der jÝdischen Religion die Treue gehalten. Zugleich suchte er das Ghetto des osteuropÈischen Judentums zu durchbrechen: Das Judentum musste den Geist Europas und der Philosophie in sich aufnehmen, aber dennoch seine jÝdische IdentitÈt bewahren. L¹vinas suchte eine Stellung zwischen Isolation und Assimilation. 1923 Àbersiedlung nach Frankreich, Studium der Philosophie, Promotion in Straßburg mit einer Arbeit Ýber %Husserl. Annahme der franzÚsischen StaatsbÝrgerschaft, Teilnahme am Krieg als Soldat und in deutscher Kriegsgefangenschaft. Die Familie L¹vinas’ wurde Opfer der Judenverfolgungen in Litauen. Nach dem Krieg in Paris Direktor der jÝdischen Lehrerausbildungsanstalt fÝr das Ústliche Mittelmeer. 1961 Habilitation mit dem Buch TotalitÈt und Unendlichkeit, danach UniversitÈtsprofessor. Einsatzpunkt fÝr L¹vinas’ Philosophie ist eine fundamentale Zweideutigkeit des europÈischen %Rationalismus. Einerseits ist die Philosophie eine Bewegung der Befreiung der Menschen. Sie identifiziert den Menschen nicht mehr mit seiner materiellen Existenz, sondern trennt %Leib und %Seele. Die %Wahrheit des Menschen liegt im Geistigen (%Idealismus). So entwickelt sie
150
´vinas, Emanuel Le
das Konzept des Menschen, der eine eigene WÝrde hat unabhÈngig von den materiellen, rassischen oder sozialen Bedingungen, unter denen er lebt. Aus der mythischen Bindung an ein anonymes Schicksal tritt der Mensch in die %Freiheit des %Geistes. Anderseits droht die Entdeckung des Ideellen ihrerseits zu einer neuen Tyrannei zu werden, zum Totalitarismus einer %Vernunft, die nichts anderes anerkennt. Die totale Herrschaft des %Subjekts Ýber das %Objekt bannt das einsame Subjekt in eine abstrakte Existenz und schneidet es vom %Sein ab. Daher die Frage %Heideggers nach dem Sein des Subjekts. Die Abstraktheit des Subjekts scheint nur Ýberwunden werden zu kÚnnen, wenn der Gegensatz von Subjekt und %Objekt eingeebnet wird, wenn das Subjekt wiederum im Sein aufgeht und damit den Bann des Idealismus bricht. In diese Richtung weist das %Bewusstsein vom Weltzerfall und dem Weltenende in der ersten HÈlfte des 20. Jhs. So ist das europÈische Denken in zwei Weisen vom Totalitarismus bedroht: von der totalen Herrschaft des Subjekts Ýber das Objekt, des Seienden Ýber das Sein, einerseits und vom Totalitarismus der mythischen Welt oder der Herrschaft des Seins Ýber das – individuelle – Seiende andererseits. Aus dieser %Aporie sucht L¹vinas einen Ausweg. Er findet ihn im Gedanken des Anderen. Das Denken des Anderen bricht die TotalitÈt auf. Der oder das Andere hebt die Einsamkeit des Subjekts auf und lÈsst ihm doch seine UnabhÈngigkeit, seine »Getrenntheit« (s¹paration). Von nun an wird der Gedanke des anderen zum Motor fÝr L¹vinas’ Philosophieren. Es kommt freilich darauf an, das Andere als Anderes und nicht wiederum als Objekt zu denken. Unter einem Objekt oder Gegenstand des Denkens verstehen wir etwas, das ein Eines ist, etwas, das mit sich selbst identisch ist und daher als es selbst verharrt, auf das wir zurÝckkommen und das wir anderen mitteilen kÚnnen. Diese Einheit des Gegenstandes mit sich selbst, seine %IdentitÈt, ist das Resultat der identifizierenden TÈtigkeit der Vernunft. Was die Vernunft auch immer ergreift, ist eines und als solches Resultat einer %Synthese. Daher ist dem Denken, soweit es ein Tun ist, das andere nicht zugÈnglich. Das Objekt des Denkens hat als solches schon seine Andersheit verloren. Das andere muss vielmehr dem Denken in gewisser Wei-
se vorhergehen; es muss an ein passives Subjekt herantreten. Die PassivitÈt des Subjekts ist die Bedingung fÝr die Andersheit des anderen. L¹vinas spricht gelegentlich von einer PassivitÈt, die passiver ist als jede PassivitÈt. Er grenzt damit die PassivitÈt als Bedingung fÝr den Empfang des anderen ab von dem, was %Kant z. B. als %RezeptivitÈt bezeichnet hat. So sehr Kant die RezeptivitÈt, nÈmlich das VermÚgen der %Anschauung, vom %Begriff unterscheidet, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie beide Formen der Synthesis sind. PassivitÈt ist nicht RezeptivitÈt. Die PassivitÈt, in der das andere empfangen wird, kommt nach L¹vinas den Sinnen zu. Der andere hat einen Zugang zum Subjekt kraft der %Sinnlichkeit. Aber auch hier wiederum unterscheidet L¹vinas die Sinnlichkeit im traditionellen Sinne, etwa die %Wahrnehmung bei Kant, Husserl oder Merleau-Ponty, von dem, was bei ihm Sinnlichkeit meint. Seine Studien zum Begriff der Empfindung bei Husserl zielen auf eine Empfindung, eine Sinnlichkeit, vor aller %IntentionalitÈt. Steht demnach der andere und die Beziehung zu ihm im Mittelpunkt, so wandelt sich doch im Laufe der Zeit der Begriff, den sich L¹vinas von dieser Beziehung macht. In der frÝhen Philosophie ist es die %Liebe, die den Zugang zum anderen Úffnet, in der spÈten hingegen die %Verantwortung. ReprÈsentativ fÝr die frÝhe Philosophie sind die BÝcher Vom Sein zum Seienden und Die Zeit und der andere, fÝr die spÈte Philosophie Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. TotalitÈt und Unendlichkeit ist ein Werk des Àbergangs. Wie sieht nun jeweils diese Beziehung aus? Der junge L¹vinas, der Husserl und Heidegger in Freiburg begegnet war, hat mit Enthusiasmus Heideggers Buch Sein und Zeit begrÝßt. Er teilt insbesondere die Kritik an der traditionellen Philosophie, die seit %Parmenides das Sein nur als Seiendes versteht. Damit hat sie es unter den Zwang der Einheit gebracht und das andere aus der Philosophie eliminiert. Es kommt darauf an, einen neuen Begriff vom Sein zu entwickeln und noch einmal jenen symbolischen Vatermord zu versuchen, an dem schon %Platon gescheitert ist. Es geht um eine neue %Ontologie, um ein Sein, das aus der parmenideischen Einheit herausgedreht ist, um ein »plurales Sein«. Den Begriff eines pluralen Seins entwickelt L¹vinas
´ vinas, Emanuel Le
im Ausgang vom PhÈnomen der sinnlichen Liebe des Mannes zur Frau. In der Liebe begegnet der Mann dem anderen. Das andere ist weiblich. Das Weibliche lÈsst sich nicht eigentlich fassen, begreifen, %konstituieren. Es entzieht sich jedem solchen Versuch. Wenn der Mensch seine ganze Welt konstituiert und sein intentionales Wesen darin besteht, in die Welt zu expandieren, so ist das Weibliche jenseits der Welt. Die Liebe ist kein BedÝrfnis (besoin), das der Mann befriedigen kÚnnte, sondern ein unendliches Begehren (d¹sir). Dem Subjekt, das sein KÚnnen ausspielt und das in die Welt expandiert, entzieht sich das Weibliche. Nur dem radikal passiven Subjekt gibt es sich. Aber in der erotischen Liebe widerfÈhrt dem Mann eine neue ProduktivitÈt, nicht die des technischen KÚnnens und jener VermÚgen, kraft derer wir die Welt konstituieren, sondern die Begegnung mit dem weiblichen anderen befÈhigt ihn, ein Kind zu zeugen, den Sohn. Die PassivitÈt des Subjekts in der Liebe nennt L¹vinas auch ein »Sich-Zusammenziehen« (crispation) oder ein Sterben. So wie nach der jÝdischen %Mystik %Gott sich zusammenziehen muss, um Platz fÝr die Welt zu schaffen, so ist die PassivitÈt des Subjekts, der Tod seines KÚnnens, die Bedingung fÝr seine Fruchtbarkeit. In der Vaterschaft realisiert sich das gesuchte plurale Sein. Denn einerseits ist der Sohn ein Fremder, ein anderer. Andererseits gilt: »Ich ›bin‹ auf gewisse Weise mein Kind. Nur haben die Worte ›ich bin‹ hier eine von der eleatischen oder platonischen verschiedene Bedeutung.« In der Folge tritt der erotische Ansatz zurÝck zugunsten eines ethischen VerstÈndnisses: Die Verantwortung tritt in den Vordergrund. Damit nimmt L¹vinas ein Motiv auf, das bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, das aber nun in den Mittelpunkt seiner Àberlegungen drÈngt: sein ethischer Begriff von Freiheit. Seine bisherige Philosophie beschreibt L¹vinas als einen »Weg, der vom Sein zum Seienden und vom Seienden zum anderen«, oder, in anderen Worten, vom Mythos zum %Logos und vom Logos zum Eros fÝhrt. Die Philosophie als Àbergang vom Mythos zum Logos befreit den Menschen aus den mythischen Bindungen. Befreiung aber heißt bei L¹vinas ErlÚsung von %Schuld. Der Mensch ist unfrei, soweit er in seiner Vergangenheit verhaftet ist und sich von frÝheren Taten und alter Schuld nicht befreien kann. Dabei
151
ist der erste Schritt aus dem Mythos der Einbruch des Schuldbewusstseins. Das Bewusstsein der Schuld wirft das Subjekt auf sich zurÝck und lÚst es zugleich aus dem bisherigen Zusammenhang mit dem Ganzen. Historischer Ausdruck dieses Geschehens ist die griechische TragÚdie. Erst jetzt wird die TotalitÈt gegenstÈndlich. Das Innewerden der Schuld ist in eins der Ursprung des Ichbewusstseins und des theoretischen Abstandes von der TotalitÈt. Aber wÈhrend in der frÝhen Philosophie die Verhaftung im Sein ein anonymes Geschehen war, ist nun der neue Gedanke, dass Schuld andere Menschen voraussetzt, fÝr die das Subjekt die Verantwortung hat. Also ist es das moralische Bewusstsein, das den Menschen aus dem selbstvergessenen Schlaf der animalischen Existenz weckt. Wie erfÈhrt das Subjekt den anderen? Der Appell des anderen an die Verantwortung des Subjekts wird vom Subjekt erlebt als Anspruch, dem anderen einen Platz einzurÈumen. In der Gegenwart des anderen ist der Umgang mit den Dingen und der Welt nicht mehr selbstverstÈndlich, sondern fordert RÝcksicht. Das Subjekt darf nicht mehr alles, was es kann. Der andere macht dem Subjekt die alleinige VerfÝgung Ýber die Welt streitig; er entzieht ihm gewissermaßen die Welt. Der andere manifestiert sich in der Forderung, den Besitz loszulassen. Der Gedanke der Verantwortung fÝr den anderen und der unvermeidlichen Schuld, die mit der Existenz als solcher gegeben ist, tritt so sehr in den Mittelpunkt, dass der Begriff des Weiblichen und der erotischen Liebe ganz verschwindet. Zwar stehen in TotalitÈt und Unendlichkeit beide Formen des anderen noch nebeneinander. In Jenseits des Seins aber geht es nur noch um die Verantwortung des Subjekts fÝr den anderen. FÝr L¹vinas ist die Verantwortung fÝr den anderen so zentral, dass fÝr ihn das Menschsein Ýberhaupt erst damit beginnt. Die Verantwortung fÝr den anderen ist das humanum schlechthin. Aber wiederum kommt hier alles darauf an, die Andersheit des Anderen zu bewahren und ihn nicht zum alter ego oder gar zum Objekt zu machen. Diese Nichtobjektivierbarkeit des Anrufs des Anderen und seines VerhÈltnisses zum Subjekt wird von L¹vinas auf drei Weisen nÈher bestimmt, nÈmlich in Bezug auf die Ontologie,
152
´vinas, Emanuel Le
die %Sprache und die %Zeit. Im VerhÈltnis zur heideggerschen Ontologie ist der andere metaontologisch. Heidegger unterscheidet zwar das Sein und das Seiende. Und das Sein ist ›etwas anderes‹ als das Seiende. Es teilt mit dem l¹vinasschen Anderen die Eigenschaft, sich jeder Objektivierung zu entziehen. Aber im Unterschied zum Anderen besteht die Wahrheit des Seins darin, sich in die Welt, in die Bestimmungen des Logos zu entfalten und zu sammeln. Insofern ist das Sein doch wiederum nirgends anders als im Seienden; es ist das Seiende und ist es nicht. Das Seiende ist das Telos des Seins und selbst das Sein. Diese IdentitÈt, die zugleich Differenz ist, nennt L¹vinas die »Amphibologie des Seins und des Seienden«. Gegen diese Amphibologie ist der Andere immun. Das Sein geht in der Welt auf. Der Andere entzieht sich definitiv der Welt. Insofern ist er vor- oder meta-ontologisch. Der Andere ist auch – in einem gewissen Sinne – vorsprachlich. Die Grundelemente der Sprache sind das %Zeichen, die %Bedeutung, der Gegenstand. Das Zeichen weist vermittelst der Bedeutung oder des Begriffs auf einen Gegenstand. Die Sprache ist prÈdikativ, sie hat die Struktur des Satzes, weil in ihr das Sinnliche, der Gegenstand, als etwas aufgefasst wird. Was das Jeweilige ist, wird ihm vom Begriff vorgeschrieben. Da nun der Begriff ein subjektives Konstitut ist, hat der begriffene Gegenstand schon seine Andersheit verloren. Zugleich bÝßt er seine IndividualitÈt ein, sofern der Begriff die Sache nur in ihrer Allgemeinheit fasst. Von dieser signifikativen Sprache unterscheidet L¹vinas die ethische Sprache, ein Sagen (dire), das nicht in seinen Bedeutungen, im Gesagten (dit) aufgeht. Deutete man den Anruf des Anderen nach dem Ýblichen Sprachmodell, so mÝsste man ihn als das Zeichen verstehen, das mir eine bestimmte Bedeutung gegenwÈrtig macht – eine Aufforderung zur Hilfe – und schließlich meine Hilfe, meine ³ffnung fÝr den Anderen als den bedeuteten Gegenstand. Die ethische Sprache hingegen kennt diese Unterscheidungen nicht. Die PrÈsenz des Anderen ist selbst der Appell und meine Antwort – eine Antwort freilich, die ich widerrufen kann. Im Bedeuten des Anderen sind Zeichen, Bedeutung und Gegenstand eins. Diese Unmittelbarkeit lÈsst sich mit unseren tÈglichen %Kategorien nicht fassen. Sie wider-
spricht nicht nur unserem Ýblichen VerstÈndnis von Sprache, sondern auch unserem ZeitverstÈndnis. Zudem kommt der Unterschied zwischen dem Sagen und dem Gesagten erst dank der zeitlichen Verschiedenheit zur Klarheit. Nach den phÈnomenologischen Analysen zur Zeit greift die Gegenwart immer schon auf die Zukunft vor und ist VergegenwÈrtigung von Zeiten, die bereits vergangen sind. Das Bewusstsein, so wie es die PhÈnomenologen beschrieben haben, kennt keine unmittelbare Gegenwart, also ein Bewusstsein des im unbedingten Sinne gegenwÈrtigen Eindrucks. Damit ein Eindruck ins Bewusstsein trete, muss er minimal vergangen sein, sonst kann er nicht gegenstÈndlich werden. Bewusstsein ist eine Relation. Nun soll der Anruf des Anderen jedem Begreifen vorausgehen. Also ereignet er sich in der Unmittelbarkeit einer Gegenwart, die erst post festum zu Bewusstsein kommt. Im VerhÈltnis zum Anderen kommt das Bewusstsein immer schon zu spÈt. Das ist der Grund, warum L¹vinas das Bewusstsein vom Subjekt unterscheidet. Das Bewusstsein ist ontologisch, sprachlich, zeitlich. Das Subjekt dagegen in seiner Beziehung zum Anderen ist meta-ontologisch, vorsprachlich, vorzeitlich (diachron) in dem erlÈuterten Sinne. Damit gibt L¹vinas eine erste Antwort auf die Frage, die seine ganze Philosophie dominiert: Wie lÈsst sich das Denken in Kategorien der Einheit und TotalitÈt sprengen? Seine bisherige Antwort lautet: Die Ausgangssituation ist nicht die Einheit, sondern die DualitÈt von Subjekt und Anderem; dem gegenÝber ist die TotalitÈt des Bewusstseins schon ein Konstitut, Resultat einer Synthese. Aber darin erschÚpft sich nicht die Antwort. Vielmehr findet L¹vinas nun auch die Mittel, die fundamentale Zweideutigkeit der europÈischen Philosophie, des europÈischen Idealismus zu erklÈren. Zwar ist die Verantwortung fÝr den NÈchsten der tiefste Punkt, von dem wir ausgehen mÝssen. Aber tatsÈchlich sind wir ja nie mit dem NÈchsten allein, sondern mit einer Vielzahl von Menschen, von denen jeder der NÈchste ist. Auch der Dritte ist unser NÈchster, und umgekehrt ist der NÈchste uns nicht nÈher als der Dritte. Angesichts der Knappheit der Mittel muss das Subjekt die AnsprÝche des NÈchsten und des Dritten gegeneinander in ihrer Dringlichkeit abwÈgen. Es bedarf eines gemeinsamen Maßes, dem sie unter-
Locke, John
worfen werden und das fÝr alle gilt. Das gemeinsame Maß kann aber nur etwas Ideelles sein, das der Vielzahl konkreter FÈlle Einheit gibt, sodass mit dem Vergleich der Anfang der Begrifflichkeit und des Allgemeinen gesetzt ist. Von hier aus werden nun allgemeine Kategorien entstehen, und zwar nicht nach dem Prinzip der unmittelbaren NÈchstenliebe (amour), die keine Grenzen kennt, sondern der verteilenden %Gerechtigkeit (justice). Die Verantwortung nicht nur fÝr den NÈchsten, sondern fÝr alle ist es, aus der sich die Forderung nach Gerechtigkeit und nach einem Organ, das die Gerechtigkeit sichert, nÈmlich dem %Staat, erhebt. Die Ratio und die Konstitution der menschlichen Welt folgt dem Appell an eine universale Verantwortung. Weder darf die Gerechtigkeit den unmittelbaren Anspruch des NÈchsten vergessen machen noch hat umgekehrt der NÈchste einen unbedingten Vorrang vor dem Dritten und dem Fernsten. Gerechtigkeit und NÈchstenliebe, das Allgemeine und das Individuelle, korrigieren sich gegenseitig; beide sind gleich notwendig, ohne dass das eine auf das Andere reduziert werden kÚnnte. Wir verstehen nun auch, dass das Allgemeine, wenn es seine Herkunft aus der Liebe verleugnet, den Charakter einer TotalitÈt annehmen kann, die den Einzelnen ignoriert. Dies geschieht immer dann, wenn die Ontologie sich als erste Philosophie gebÈrdet, ihren Ursprung in der %Ethik verleugnet und damit den Einzelnen tendenziell vernichtet. War L¹vinas ausgegangen von der Zweideutigkeit der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung), die dem Individuum zwar Befreiung verheißt, es aber zugleich mit %Entfremdung und Nichtigkeit bedroht, sodass der europÈische %Rationalismus immer in der Versuchung des RÝckfalls in das mythische Sein war, so vermag L¹vinas’ Philosophie diese Zweideutigkeit nun zu erklÈren: Solange der Rationalismus sich selbst absolut setzt, ist er nur das Gegenbild des mythischen Denkens und lÈuft Gefahr, in es umzukippen. Erst ein Rationalismus, der sich seiner ethischen Voraussetzungen erinnert, ist vor dem RÝckfall in sein Gegenteil gefeit; denn er erkennt, dass SubjektivitÈt ihrem Ursprung nach Entfremdung ist; er betreibt die Entfaltung der Ratio und des Allgemeinen, die Entwicklung dessen, was L¹vinas das Politische nennt, nicht zum Zwecke der Selbsterhaltung, des conatus es-
153
sendi, sondern um dem Anspruch der universalen Verantwortung zu genÝgen. Der positive Sinn der europÈischen Philosophie und des europÈischen Denkens, das L¹vinas nie aufgehÚrt hat zu verteidigen und hoch zu halten, liegt in dem RÝckbezug auf die ethische Grundlage. Diese ethische Orientierung der griechischen Philosophie sieht L¹vinas als jÝdisches VermÈchtnis an das europÈische Denken an. Die Philosophie versteht er als Explikation des JÝdischen ins Allgemeine – das JÝdische griechisch sagen, wie L¹vinas fordert –, so wie umgekehrt das JÝdische des Griechischen bedarf, um politisch und geschichtlich wirksam zu werden. B. Taureck, Emmanuel L¹vinas zur EinfÝhrung, 2. Aufl. Hamburg 1997 W. N. Krewani, Der versteinerte Augenblick, in: E. L¹vi nas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg / MÝnchen 1997, S.127 171 : Emmanuel L¹vinas, Denker des anderen, Freiburg / MÝnchen 1992 P. Delhom, Der Dritte. L¹vinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, MÝnchen 2000 W. N. K.
Locke, John (1632–1704): Geboren am 29. 8. in Wrington, Somerset; gestorben am 28.10. in Oates, Essex: Locke wird gemeinhin (nehmen wir die Epoche) als einer der bedeutendsten Denker der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung) bezeichnet, dessen Lehre (beziehen wir uns auf seine Position) als Ausgangspunkt des neuzeitlichen %Empirismus bzw. %Sensualismus gilt. Diese klassische EinschÈtzung hÈlt jedoch der differenzierten Quellenanalyse der heutigen Forschung nur bedingt stand. Die Existenz so verschiedenartiger PersÚnlichkeiten wie La Mettrie und Herder, Marquis de Sade und Locke im Zeitalter der AufklÈrung hat zu der These gefÝhrt, dass der ihnen gemeinsame Nenner in der AblÚsung des traditionellen metaphysischen Begriffs der %Substanz durch den der %Funktion besteht. Der Wandel von der Vorstellung des %Geistes als einer unverÈnderlichen %EntitÈt zu der einer genetisch zu begreifenden AktivitÈt betrifft nicht nur die AuflÚsung des Intellekts, sondern die gesamte VermÚgenshierarchie: der Abwertung des Seelischen entspricht eine Aufwertung des KÚrperlichen. Die dadurch mÚglich gewordenen Verflechtungen von empirischen und rationalistischen Theorieanteilen ha-
154
Locke, John
ben Auswirkungen auf die theoretische und die praktische Philosophie. FÝr die TragfÈhigkeit dieser Àberlegungen ist Locke ein bestechendes Beispiel, der schon auf der biografischen Seite eine ›gelebte‹ Einheit von %Theorie und %Praxis verkÚrpert: Sein weit gespanntes Studium (Logik, Sprachen, Metaphysik), sein großes Interesse an Fragen der Chemie und Medizin, seine umfangreichen TÈtigkeiten als Dozent, Schriftsteller, Arzt, Erzieher, Politiker und GeschÈftsmann fanden ihren Niederschlag in einer Publikationsbreite, die sich von der Theologie und Philosophie Ýber den Weinbau bis zur Finanzpolitik erstreckt. Aber erst die begriffene Einheit von Theorie und Praxis, die Locke im aristotelischen Sinne versteht, ist es, die Lockes philosophischen Rang legitimiert. Seine erkenntnistheoretische Hauptschrift Essay Concerning Human Understanding (1690) ist nicht nur in dieser Kategorie sein wirkungsmÈchtigstes Werk: Auf ihr fußt auch seine moralische, d. h. vor allem seine politische Philosophie. Diese Einreihung jedoch darf nicht missverstanden werden, wofÝr schon spricht, dass sich Locke lieber als philanthropus (Menschenfreund) denn als ›moderner Aristoteles‹ bezeichnen lassen wollte. Von der Sache her gesprochen: Auch wenn die Geltung der praktischen Philosophie in der (erkenntnis-)theoretischen fundiert ist, gilt dies nicht fÝr ihre Genese. Der Anstoß zur %Erkenntnistheorie liegt im praktisch begrÝndeten Interesse: Was fÝr uns von Nutzen sein kann, was wir mit Aussicht auf Erfolg unternehmen kÚnnen. Deshalb ist das grundlegende Motiv des Essay nicht die LÚsung der Aufgabe, wie wir mÚglichst alle Dinge dieser Welt begreifen kÚnnen, sondern lediglich diejenigen, die unser mÚgliches Verhalten angehen: Unser Geist erhÈlt seine ureigene Funktion fÝr unsere %Handlungen. An der Existenz %Gottes zweifelt Locke nicht, weil wir es schließlich ihm zu verdanken haben, dass der Weg zu einer besseren LebensfÝhrung in den Bereich unserer Erkenntnis gestellt wurde. Vor dieser Folie befasst sich Lockes Hauptwerk mit der Unterscheidung von Ursprung, %Gewissheit und Umfang der menschlichen %Erkenntnis. Die Verbindung von empirischen und rationalen Elementen wird deutlich in der ersten Einzelanalyse des Essay, der Auseinandersetzung mit der Lehre von den angeborenen spekulati-
ven %Prinzipien, mit der Locke die Ýber %Hobbes und Gassendi begrifflich vermittelte Kritik an %Descartes fortfÝhrt. Die Lehre von angeborenen Ideen (%ideae innatae), die im Àbrigen die ZwiespÈltigkeit von Descartes’ eigenem %Rationalismus offen legt, hat ihre UrsprÝnge bereits in der Antike und wurde in der %Renaissance (A) aktualisiert. Das rationale Element in Lockes Empirismus kommt hier in der Spanne zwischen einem Empirismus der %Ideen und einem der Aussagen zum Vorschein. Jener enthÈlt die These, dass alle unsere Ideen aus der %Erfahrung stammen; gleichgÝltig, ob sie theoretischen oder moralischen Ursprungs sind: Der Geist gleicht bei seiner Geburt einem unbeschriebenen Blatt; erst durch Erfahrung kann er Ideen enthalten. Diese selbst liefert aber lediglich das Material fÝr das %Denken, das entweder als Produkt Èußerer Wahrnehmung (sensation) oder innerer Beobachtung geistiger Operationen (reflection) auftritt. Die Ideen der sensation stellen den weitaus grÚßten Anteil; zu jenen gehÚren Ideen wie Erkennen, Wahrnehmen, Glauben oder Wollen. Weil nicht die Wahrnehmung, sondern der %Verstand die logischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Sinneserfahrungen herstellen kann, ist Lockes Empirismus der Ideen mit einem Rationalismus der Erkenntnis verknÝpft, und der erwÈhnte Empirismus der Aussagen kommt hier ins Spiel, weil er die behauptete LegitimitÈt einer Erkenntnis auf eine frÝhere Wahrnehmung zurÝckfÝhrt. Von den zahlreichen Einzelstudien des Essay sollen nur zwei erwÈhnt werden, die einen besonders großen Einfluss auf die Philosophiegeschichte verraten. Mit der Àberzeugung, dass Erkenntnistheorie notwendig %Sprachphilosophie im Sinne von Sprachkritik zu sein habe, weil unbestimmt oder falsch verwendete %Begriffe die Philosophen dazu verfÝhren, die Macht langer Gewohnheit fÝr Gelehrsamkeit zu halten und mit wahrer Erkenntnis zu verwechseln, hat Locke den zentralen Ansatz der sprachanalytischen Philosophie des 20. Jhs. und mit der These von der Zeichenhaftigkeit der %Sprache das GerÝst der %Semiotik vorweggenommen. Diese Wirkung auf das moderne Denken gilt auch fÝr Lockes Untersuchung des Begriffs der %QualitÈt. WÈhrend eine QualitÈt allgemein die Kraft eines Gegenstandes definiert, eine Idee in unserem Geist zu erzeugen, sind primÈre
Locke, John
QualitÈten (Ausdehnung, Gestalt, Zahl) Eigenschaften, die den KÚrpern unmittelbar selbst zugesprochen werden, welche in uns jene ebenbildlichen einfachen Ideen erzeugen. SekundÈre QualitÈten (Farbe, Geschmack) hingegen sind lediglich Dispositionen zu Wirkungen, die keine klare und deutliche Erkenntnis zulassen. Der sinnliche Quell unseres Wissens und seine aus diesem Grunde notwendige BeschrÈnktheit ist der Leitfaden, der auch Lockes praktische Philosophie durchzieht. Anlass zum %Skeptizismus ist gleichwohl nicht gegeben, da wir durchaus Einsicht in die richtigen Handlungen erlangen kÚnnen, wozu uns Erziehung verhilft (Some Thoughts Concerning Education, 1693; Of the Conduct of the Understanding, 1706). Als sittliche Erziehung ist unser Lernen EinÝbung in menschliches Verhalten, Verabschiedung von Vorurteilen, Konzentration auf Prinzipien anstatt auf Sachen, auf abgewogene %Urteile und nicht auf Leidenschaften. Der durch Erziehung beeinflussbaren Entwicklung individueller %Vernunft korrespondiert der Àbergang vom %Naturzustand zum %Gesellschaftsvertrag. Anders als in Hobbes’ bellum omnium contra omnes ist Lockes Urzustand ursprÝnglich als friedlich konzipiert; freie, gleiche und Eigentum besitzende Individuen organisieren sich jedoch politisch (Two Treatises of Government;1690), weil Habgier und Konkurrenz diesen Frieden bedrohen. Wichtigstes Motiv sowohl des Vertragsschlusses als auch des Staatszwecks ist der Schutz des persÚnlichen Eigentums unter gesetzlichen Regelungen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der bÝrgerliche %Staat das in ihn eingebrachte Eigentum neu verteilt. Weil privates Eigentum durch %Arbeit am eigenen Leibe erworben wird, bedarf seine Aneignung weder der Erlaubnis durch andere noch der Zuteilung des Staates. In Lockes liberalistischem Konzept hat er lediglich Gesetze zum Schutz des %Eigentums zu erlassen, durch welche die Rahmenbedingungen fÝr den Tauschhandel verbessert werden. Dieser ermÚglicht Eigentumsdifferenzen, die aber letztlich dem Wohlstand aller zugute kommen. Die bÝrgerliche Gewalt ersetzt ferner das natÝrliche Recht zur Selbstjustiz; sie darf Ýber Krieg und Frieden entscheiden und den BÝrgern exekutive %Pflichten auferlegen – die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative (erst bei Montesquieu
155
wird explizit die Judikative als dritte Gewalt in die politische Philosophie eingefÝhrt), welche Locke empfiehlt, soll zur Vermeidung von Konflikten beitragen. Die Entscheidung Ýber die endgÝltige politische Form eines Gemeinwesens beruht fÝr Locke auf einer Mehrheitsentscheidung der BÝrger. Greift der von ihnen gewÈhlte Herrscher widergesetzlich in die das Gemeinwesen zusammenhaltende Legislative ein, fehlt eine oberste Berufungsinstanz. Das natÝrliche Widerstandsrecht lebt auf, weil das ursprÝngliche Verbrechen in jener widerrechtlichen AufkÝndigung der bÝrgerlichen Ordnung, die Staatszweck ist, liegt. Von seinem VorgÈnger Hobbes grenzt sich diese Konstruktion deshalb ab, weil bei ihm keine Rechtsbeziehungen zwischen den Individuen und dem Herrscher bestehen, die ein Recht auf Widerstand legitimierten; auch bei Lockes Nachfolger Rousseau werden im Gesellschaftsvertrag alle natÝrlichen Rechte aufgegeben. Lockes Nachwirkungen in der %politischen Philosophie werden am augenfÈlligsten an dem Vorwurf, der an Thomas Jefferson gerichtet wurde und besagt, er habe in der nordamerikanischen UnabhÈngigkeitserklÈrung von 1776 und Verfassung von 1789 Locke schlichtweg plagiiert. Schlegel hingegen nannte Locke einen »VorRousseau«. Was die theoretische Philosophie angeht, hat Locke in der angelsÈchsischen Welt – stÈrker als %Berkeley oder %Hume – den Begriffsapparat und Richtungen wie die erwÈhnte %analytische Philosophie und den logischen Empirismus beeinflusst; in Frankreich hat %Voltaire Lockes Gedanken zum Durchbruch verholfen, die in Condillacs Sensualismus dann ihren differenzierten Niederschlag gefunden haben. In Deutschland sind hauptsÈchlich Thomasius, Wolff, %Kant und %Husserl zu erwÈhnen, deren Deutungen der Erkenntnislehre Lockes als Physiologie (Kant) bzw. Psychologismus (Husserl) jedoch den Blick auf ihre fruchtbaren rationalistischen AnsÈtze verstellen. R. Specht, John Locke, MÝnchen 1989 Th. Schneider, John Locke, in: Metzler Philosophen Le xikon. Hg. von B. Lutz, 2. Aufl. Stuttgart / Weimar 1995, S. 512 517 R. Woolhouse, John Locke, in: The Oxford companion to philosophy. Hg. von T. Hondrich, Oxford, New York 1995, S. 493 496 J. C.
156
Marx, Karl
Marx, Karl (1818–1883): Marx wurde am 5. 5. in Trier geboren und ist am 14. 3. in London gestorben. Die GrundzÝge seiner Philosophie lassen sich in Verbindung mit drei Namen darstellen: %Hegel, Feuerbach und Engels. Von Hegel hatte Marx gelernt, dass der %Mensch ein geschichtliches Wesen ist. Seine %Geschichte ist die Geschichte der Produktion seines Wesens, das sich in Hegels Philosophie durch die Arbeit des %Begriffs hervorbringt. FÝr Ludwig Feuerbach zeigt sich im Hinblick auf Hegel, dass gerade der vollendete Begriff die %Entfremdung des Menschenwesens ist: »So entÈußert und entfremdet die absolute Philosophie dem Menschen sein eigenes Wesen, seine eigene TÈtigkeit!« Das wahre Wesen des Menschen hingegen ist das sinnliche Wesen. Friedrich Engels, der Barmer Fabrikantensohn und scharfsinnige Beobachter und Kritiker des FrÝhkapitalismus, fÝhrt Marx sowohl theoretisch wie auch praktisch in das Zentrum der Sache ein, die er zur Unterscheidung bringen sollte, nÈmlich in die ³konomie des Kapitalismus. In respektvoller aber kritischer Auseinandersetzung mit Hegel stellt Marx die Entfremdung des Menschen in der Entfremdung der %Religion, des %Rechts und der %Politik dar. »Die Kritik der Religion«, fÝhrt er in der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie aus, »ist im Wesentlichen beendet, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.« An anderer Stelle heißt es: »Das religiÚse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrÈngten Kreatur, das GemÝt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser ZustÈnde ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen GlÝcks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen GlÝcks.« Nachdem die Entfremdung zwischen irdischem Menschen und jenseitiger Religion, zwischen dem privaten BÝrger und dem StaatsbÝrger oder anders gesagt, zwischen dem konkreten BÝrger und dem abstrakten Staat, aufgedeckt ist, muss die Entfremdung in ihrer konkreten gesellschaftlichen, d. h. Úkonomischen Wirklichkeit freigelegt werden. Das geschieht in den AufsÈtzen bzw. Fragmenten, die unter dem Namen ³konomisch-Philosophische Manuskripte von Marx 1844 in Paris geschrieben, aber erst in den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts bekannt geworden sind. In seiner eigentlichen TÈtigkeit, in der der Mensch sich und seine Welt produziert, in der %Arbeit, ist der Mensch entfremdet. Die Entfremdung zeigt sich in seinem VerhÈltnis zur %Natur, im VerhÈltnis zur Arbeit als seiner wesentlichen TÈtigkeit und zum Produkt dieser Arbeit und schließlich in seinem VerhÈltnis zur menschlichen Gattung und zu seinem Mitmenschen. »Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nÈmlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher KÚrper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in bestÈndigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben. Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhÈngt, hat keinen anderen Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammenhÈngt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« In der industriellen Produktion wird die Natur nicht mehr bearbeitet, vielmehr wird die Natur ausgebeutet und als Rohstoff verarbeitet. Die Arbeit ist so von der Natur als seinem anorganischen Leib entfremdet. Der Arbeiter ist aber noch in anderer Weise der Natur entfremdet, denn in dem Maße, als er sie durch seine Arbeit ausbeutet, vernichtet er sein Lebensmittel, das dadurch aufhÚrt, »Mittel fÝr die physische Subsistenz des Arbeiters zu sein«. Auch dem Produkt seiner Arbeit ist der Arbeiter entfremdet, denn die »Arbeit produziert Wunderwerke fÝr die Reichen, aber sie produziert EntblÚßung fÝr den Arbeiter«. »Die Entfremdung des Arbeiters in seinem Gegenstand drÝckt sich . . . darin aus, dass, je mehr der Arbeiter produziert, er umso weniger zu konsumieren hat, dass je mehr Werte er schafft, er um so wertloser, umso unwÝrdiger wird, dass, je geformter sein Produkt, umso missfÚrmiger der Arbeiter . . . wird.« Die Arbeit als TÈtigkeit bleibt dem Arbeiter Èußerlich. Er befriedigt in ihr nicht ein BedÝrfnis, sondern er leistet sie, um ein BedÝrfnis außer ihr (die Subsistenz seines physischen Lebens) zu befriedigen. Die Entfremdung zwischen dem Arbeiter und seiner Arbeit tritt vor allem dadurch zutage, dass in der industriellen Arbeit nicht der Arbeiter, sondern nur seine Arbeitskraft gefragt ist. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft als Ware.
Marx, Karl
Die Welt der Gattung Mensch ist die durch die Arbeit produzierte Welt. In dieser Welt ist der Mensch seiner Gattung und dann seinem Mitmenschen entfremdet, weil sein VerhÈltnis zur Gattung und zum Mitmenschen durch das entfremdete VerhÈltnis zu seiner Arbeit bestimmt ist. Der vollendete Ausdruck der Entfremdung liegt jedoch im Wesen des Geldes. »Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschaft besitzt, alle GegenstÈnde sich anzueignen, ist also der Gegenstand in eminentem Besitz. Die UniversalitÈt seiner Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt daher als allmÈchtiges Wesen.« Das gilt insbesondere, wie noch zu zeigen ist, fÝr das Geld, insofern es ›Kapital‹ ist. Feuerbach hat den Menschen als rein sinnliches Wesen erklÈrt und die Philosophie des %Idealismus als die Entfremdung des Menschenwesens dargestellt. 1844 schreibt Marx: »Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik.« Doch schon ein Jahr spÈter unterzieht er Feuerbach einer scharfen Kritik. Denn fÝr Feuerbach wie fÝr alle anderen deutschen Philosophen, mit denen sich Marx in Die Deutsche Ideologie auseinandersetzt, bleibt die Philosophie Theorie, die das Wesen des Menschen objektiv betrachtet. Das betrachtende %Bewusstsein ist jedoch kein von der materiellen Produktion des Menschen unabhÈngiges Bewusstsein. »Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenstÈndliche Wahrheit zukomme, ist (daher) keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage.« FÝr Marx ist die feuerbachsche Kritik der religiÚsen Entfremdung unzureichend. Feuerbach fÝhrt die Entstehung der ›religiÚsen Welt‹ auf die Projektionen unbefriedigter BedÝrfnisse des sinnlichen Menschen zurÝck, ohne den realen geschichtlichen Grund fÝr die Zerrissenheit des sinnlichen Menschen aufgezeigt zu haben. »Aber dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbststÈndiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und dem sich Selbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklÈren.« Die Thesen Ýber Feuerbach, in denen der Gegensatz zwischen dem alten ›theoretischen‹ und dem neuen ›praktischen‹ Materialismus zum Ausdruck kommt gipfelt in der berÝhmten 11. These: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kÚmmt darauf an, sie zu verÈndern.«
157
Diese 11. Feuerbachthese erÚffnet ein Problem, das fÝr jede Geschichtsphilosophie einerseits und jede politische Theorie andererseits bestimmend geblieben ist. In der allgemeinsten Formulierung ist es das rational scheinbar unlÚsbare VerhÈltnis von %Theorie und %Praxis. Hegel hatte schon behauptet, dass das Zusammenwirken vieler auf falsche Interessen gerichteter Einzelwillen dennoch das VernÝnftige als das Wahre bewirke. Dieses Thema ist unter dem hegelschen Titel »List der Vernunft« bekannt geworden. (Die alte religiÚse Formel dafÝr hieß: Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.) Bei Marx hat dieses Dilemma zwei Seiten, eine philosophische und eine biographische. Die philosophische lÈsst sich mit der Frage ausdrÝcken: Wie kann »die UmwÈlzung der ProduktionsverhÈltnisse als ein vom Gang der Geschichte Erzwungenes und dennoch als ein nur durch eine von der Geschlossenheit des Systems qualitativ verschiedene Aktion HerbeizufÝhrendes« (%Adorno) gedacht werden? Wenn die Geschichte der ProduktionsverhÈltnisse ihren notwendigen Gang nimmt, warum bedarf sie dann des revolutionÈren Handelns der unterdrÝckten Klasse? Biographisch zeigt dieser Widerspruch (von allen individuellen Charaktermerkmalen abgesehen) dann, dass die theoretische Einsicht Marx nicht vor politisch-praktischen FehleinschÈtzungen der Situation vor allem der Jahre von 1847–49 bewahrte. Wer indessen auf diesen MissverhÈltnissen eine Kritik des marxschen Denkens grÝndet, hat die Dialektik von Theorie und Praxis nicht begriffen. Wenn Marx an der hegelschen Philosophie kritisiert, dass in ihr die Sachen der Logik gehorchen mÝssen, so gilt fÝr die marxsche Theorie gerade, dass die bzw. eine Analyse der Ursachen der UnterdrÝckung nicht frei sein kann von den WidersprÝchen ihres Gegenstandes. Das VerhÈngnisvollste, das daher dem marxschen Denken widerfahren ist, liegt darin, dass es als Dogmatik missbraucht wurde. Das hier angesprochene Dilemma Èußert sich auch aktuell in dem MissverstÈndnis, das bÝrgerlichen Theorien der Industriegesellschaft zu Grunde liegt: Aus der nicht zu leugnenden Tatsache, dass die Arbeiterschaft in der gegenwÈrtigen Industriegesellschaft kein Klassenbewusstsein hat, wird der Schluss gezogen, dass die marxsche Klassengesellschaft Ýberwunden und so die marxsche Philosophie insgesamt obsolet
158
Marx, Karl
geworden wÈre. Bei Marx wird die Arbeiterklasse jedoch nicht durch ihr Klassenbewusstsein bestimmt, sondern durch ihre Stellung innerhalb der ProduktionsverhÈltnisse. Wenn auch die Verelendung des Proletariats (bis heute) in der von Marx vorausgesagten Weise nicht eingetreten ist, so wird man kaum sagen kÚnnen, dass Unfreiheit und UnterdrÝckung in der ›modernen Industriegesellschaft‹ aufgehoben wÈren. In seinem Hauptwerk Das Kapital stellt Marx zunÈchst die Entstehungsgeschichte der proletarischen Arbeiterklasse dar. Jedes Arbeitsprodukt wird schon auf einer sehr frÝhen Stufe der Úkonomischen Entwicklungsgeschichte zur Ware. Es hat nunmehr nicht nur einen Gebrauchswert, sondern auch einen Tauschwert. Im Austausch der Waren wird der gesellschaftliche Charakter der Arbeit sichtbar. »Indem (die Menschen) ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. . . . Der Wert verwandelt jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe.« FÝr die spÈtere kapitalistische Entwicklung ist festzuhalten, dass der Tauschwert nicht additiv zum Gebrauchswert hinzukommt. Vielmehr wird der Tauschwert gerade als »Nicht-Gebrauchswert, als die unmittelbaren BedÝrfnisse seines Besitzers Ýberschießendes Quantum von Gebrauchswert« bestimmt. Erst unter Absehung vom Gebrauchswert der Ware kann als TauschÈquivalent das Geld in Funktion treten. Aus der Zirkulation Ware – Geld – Ware ergeben sich jedoch keine Úkonomischen Bedingungen fÝr die Entstehung einer unterdrÝckten gesellschaftlichen Klasse. Denn selbst wenn Ware billig eingekauft und teuer verkauft wird, kann keine gesellschaftliche Klasse entstehen, weil jeder VerkÈufer zugleich auch KÈufer ist, die Verkaufsgewinne niemals absolut einseitig verteilt sind und der Gesamtwert der Waren letztlich gleich bleibt. Eine gesellschaftliche Klasse kann nur unter solchen Úkonomischen Bedingungen entstehen, in denen VerkÈufer eine Ware verkaufen, die beim KÈufer einen Wertzuwachs schafft, von dem der VerkÈufer ausgeschlossen bleibt. Die Úkonomische Bedingung dafÝr ist, dass die wertschaffende Arbeitskraft zur Ware wird. Die Arbeitskraft ist die einzige Ware, die neue Werte schafft. Da der Gewinn der durch die Arbeits-
kraft geschaffenen Arbeitsprodukte hÚher liegt als der Arbeitslohn, den der Arbeiter fÝr die Subsistenz und Reproduktion seiner Arbeitskraft erhÈlt, schafft die Arbeitskraft fortwÈhrend ›Mehrwert‹. Im strengen Sinn wird Geld erst dann zu ›Kapital‹, wenn damit mehrwertschaffende Arbeitskraft gekauft wird (variables Kapital). Das Geld bekommt nun ein anderes Wesen, ein anderes Ziel. War Geld zuvor TauschÈquivalent fÝr den Tausch von Arbeitsprodukten, so liegt das immanente Ziel des Kapitals nicht im Erwerb von Waren, sondern in der Vermehrung des Kapitals. Die »historischen Existenzbedingungen (des Kapitals) sind (daher) durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation. Es entsteht nur, wo der Besitzer von Produktionsund Lebensmitteln den freien Arbeiter als VerkÈufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historischen Bedingung umschließt eine Weltgeschichte.« Marx begnÝgt sich indessen nicht mit der Darstellung der Entstehungsgeschichte der proletarischen und der kapitalistischen Klasse und der Aufdeckung ihrer Prinzipien. Vielmehr zeigt er ebenfalls auf, warum die Epoche des Kapitalismus notwendig zu Grunde gehen muss. Mit dem Kapitalismus, der die letzte Epoche von Entfremdung und UnterdrÝckung ist, geht zugleich alle bisherige Geschichte zu Grunde. Der Kapitalismus geht zu Grunde an seinen inneren WidersprÝchen. Sein immanentes Ziel ist die Vermehrung des Kapitals durch die Schaffung von Mehrwert. Nun kann nicht jedes neue Kapital zum Kauf von Mehrwert schaffender Arbeitskraft verwandt werden. Nutzungsdauer und LeistungsvermÚgen menschlicher Arbeitskraft sind begrenzt. Will ein Unternehmer seinen Konkurrenten ÝberflÝgeln, so muss er, um seine Ware kostengÝnstiger produzieren zu kÚnnen, einen Teil des Kapitals (konstantes Kapital) in leistungsfÈhigere Produktionsanlagen stecken. Gleichzeitig muss er stÈndig bemÝht sein, die ProduktionsablÈufe zu optimieren. Sowohl die fortschreitende technische Verbesserung der Produktionsmittel als auch die Optimierung ihrer Ausnutzung haben jedoch immer umfangreichere ›Freisetzungen‹ von menschlicher Arbeitskraft zur Folge. Diese Entwicklung wird ausgedrÝckt in dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. »Da die Masse der angewandten
Mill, John Stuart
lebendigen Arbeit stets abnimmt im VerhÈltnis zu der Masse der von ihr in Bewegung gesetzten vergegenstÈndlichten Arbeit, der produktiv konsumierten Produktionsmittel, so muss auch der Teil dieser lebendigen Arbeit, der unbezahlt ist und sich in Mehrwert vergegenstÈndlicht, in einem stets abnehmenden VerhÈltnis stehen zum Wertumfang des angewandten Gesamtkapitals. Dieses VerhÈltnis der Mehrwertmasse zum Wert des angewandten Gesamtkapitals bildet aber die Profitrate, die daher bestÈndig fallen muss.« Der bei fallender Profitrate stÈndig wachsende Konkurrenzdruck fÝhrt zu einer immer grÚßeren Akkumulation von Kapital (die Àbernahme kleinerer Produktionseinheiten durch immer grÚßere fÝhrt zur Expropriation der Expropriateure). Auf der anderen Seite fÝhrt die immer umfangreichere Freisetzung lebendiger Arbeitskraft schließlich zur Verelendung der Arbeiterklasse. Die Revolution beendet die bisherige Geschichte und fÝhrt zum Beginn einer qualitativ neuen Zukunft. Diese Zukunft, zu der alle bisherige Geschichte nur Vorgeschichte war, bedeutet die Aufhebung der Entfremdung und konsequenterweise die Aufhebung jeder UnterdrÝckung. Produktive Arbeit bleibt zwar notwendig, aber der Mensch verkauft seine Arbeitskraft nicht mehr als Ware, sondern er verfÝgt Ýber sie in freier, schÚpferischer Weise. Die Menschen werden nicht mehr durch unterschiedliche Beziehungen zu den ProduktionsverhÈltnissen bestimmt. Der Besitz der Produktionsmittel ist gemeinschaftlich und ebenso ist das VerhÈltnis zu den Produkten der Arbeit ein gemeinschaftliches, denn sie werden nicht nur gemeinschaftlich hergestellt, sondern auch gemeinschaftlich genossen. Die menschliche Gesellschaft verwandelt sich in die menschliche Gemeinschaft, das heißt in den Kommunismus. Auch entschiedene Gegner des Marxismus bewundern an Marx, dass er »meisterhaft zu fragen verstand. . . . Von seinen Fragen leben wir heute noch. Mit seiner genialen Fragestellung hat er der Úkonomischen Wissenschaft fÝr ein Jahrhundert die Wege fruchtbarer Forschung gewiesen. Alle SozialÚkonomen, die sich diese Fragestellungen nicht zu eigen zu machen wussten, waren zur Unfruchtbarkeit verdammt.« (Sombart) Entscheidend fÝr die Auseinandersetzung mit dem Denken von Karl Marx bleibt jedoch anzu-
159
erkennen, dass in seinem Werk nicht nur fruchtbare Fragestellungen fÝr volkwirtschaftliche Theorien zu finden sind, sondern dass durch seine Philosophie die Frage nach der Bestimmung des Menschen im Ganzen, nach dem Sinn seiner Arbeit, nach der Freiheit seines Schaffens, nach seinem gemeinschaftlichen GlÝck gestellt ist. E. Braun, Aufhebung der Philosophie, Stuttgart 1992 St. Engels, Àber die AktualitÈt der Lehren von Karl Marx, Essen 1994 H. F. B.
Mill, John Stuart (1806–1873): Geboren am 20. 5. in London, gestorben am 3. 5. in Avignon. Mill war einer der vielseitigsten Denker des 19. Jhs., dessen Arbeiten zur theoretischen und praktischen Philosophie sowie zum politischen %Liberalismus bereits zu seinen Lebzeiten großen Einfluss gewonnen haben. Das Hauptproblem seiner theoretischen Philosophie ist das Induktionsproblem, das sich aus einem Methodenund einem BegrÝndungsproblem zusammensetzt. Die zentrale Fragestellung seiner praktischen Philosophie besteht in der Frage nach dem Kriterium, anhand dessen der moralische %Wert von %Handlungen und Handlungsregeln beurteilt werden muss. Die leitende Fragestellung seiner %politischen Philosophie liegt in der Frage nach der Grenze der rechtmÈßigen MachtausÝbung der %Gesellschaft Ýber das %Individuum. Zur theoretischen Philosophie: Mill entwickelt seine theoretische Philosophie hauptsÈchlich in seinem System der Logik (1843). Im Unterschied zum gegenwÈrtig gÈngigen LogikverstÈndnis, wonach zur formalen %Logik im engeren Sinne nur Quantoren- und Junktorenlogik gehÚren, versteht Mill unter Logik eine »Logik der Forschung«, zu der neben den Gesetzen der formalen Logik auch alle erkenntnis- und bedeutungstheoretischen sowie methodologischen Konzeptionen gehÚren, die von den %Wissenschaften vorausgesetzt werden. Zudem fasst er Logik als %empirische Wissenschaft auf, die als Teildisziplin der Psychologie diejenigen Bewusstseinsprozesse untersucht, die beim Schließen stattfinden, und die auf der Grundlage solcher empirischer Untersuchungen logische %Gesetze auf-
160
Mill, John Stuart
stellt. FÝr Mills Logikkonzeption ergibt sich daraus die Anforderung, den prÈskriptiven Geltungsanspruch logischer Gesetze auf der Grundlage empirischer Untersuchungen zu erklÈren. Von Mills bedeutungstheoretischen Konzeptionen ist insbesondere seine Unterscheidung zwischen der Denotation (Umfang) und der Konnotation (Inhalt) von %Begriffen wichtig. Denotative Begriffe wie beispielsweise Eigennamen besitzen nur eine Denotation, aber keine Konnotation. Das heißt, dass sie sich zwar auf Objekte beziehen aber keinen Inhalt haben. Der Eigenname ›Richard‹ kann sich zum Beispiel auf eine bestimmte Person beziehen, aber mit der Zuschreibung dieses Eigennamens erhalten wir keine Information Ýber die Beschaffenheit der betreffenden Person. Im Unterschied dazu verfÝgen konnotative Begriffe wie zum Beispiel %PrÈdikate sowohl Ýber eine Denotation als auch Ýber eine Konnotation, wobei gilt, dass die Denotation durch die Konnotation festgelegt wird. Beispielsweise richtet sich die Denotation des konnotativen Begriffs ›rot‹ in diesem Sinne nach dessen Konnotation, weil nur solche Objekte unter diesen Begriff fallen, die rot sind. Die Bedeutung von %Aussagen lÈsst sich Mill zufolge unter Bezugnahme auf die Denotationen und Konnotationen derjenigen Begriffe bestimmen, aus denen Aussagen zusammengesetzt sind. Demnach richtet sich die %Bedeutung von Aussagen, die konnotative Begriffe enthalten, nach deren Konnotationen. Hingegen wird die Bedeutung von Aussagen, die nur aus denotativen Begriffen zusammengesetzt sind, durch deren Denotationen bestimmt. Weiterhin differenziert Mill zwischen verbalen und wirklichen Aussagen und behauptet, dass im Unterschied zu den verbalen Aussagen, bei denen es sich um Explikationen von %Definitionen handelt, allein die wirklichen Aussagen empirischen Gehalt besitzen und damit Aussagen Ýber Dinge und Eigenschaften sind. Alle Aussagen Ýber Dinge und Eigenschaften sind Mill zufolge prinzipiell in Aussagen Ýber SinneseindrÝcke und deren Auftreten Ýbersetzbar. Dieser These liegt Mills sensualistische Theorie der »RelativitÈt des Wissens« zugrunde, wonach uns ausschließlich SinneseindrÝcke direkt zugÈnglich sind und es daher nur Wissen von PhÈnomenen im Sinne von SinneseindrÝcken geben kann. Hingegen kÚnnen wir danach
prinzipiell nicht wissen, ob es Dinge an sich gibt, die das Auftreten von SinneseindrÝcken verursachen. Mit dieser Theorie behauptet Mill nicht, dass wir unsere Redeweise von Dingen und Eigenschaften aufgeben sollen, sondern dass unser Reden Ýber sie im Grunde in nichts anderem als dem Sprechen Ýber SinneseindrÝcke und die Reihenfolge ihres Auftretens besteht. Dinge sind danach MÚglichkeiten, bestimmte SinneseindrÝcke zu haben. Mill vertritt die empiristische Position, dass alles %Wissen auf %Erfahrung beruht und dass es damit kein apriorisches Wissen geben kann. Diese These beruht auf seiner Konzeption induktiven und deduktiven Schließens, wonach ausschließlich induktive SchlÝsse vom Besonderen auf das Allgemeine wirkliche %SchlÝsse sind, wÈhrend deduktive SchlÝsse vom Allgemeinen auf das Besondere lediglich scheinbare SchlÝsse darstellen. Dieser Unterscheidung liegt das Kriterium zugrunde, ob bei einem Typ von SchlÝssen das Wissen von der Konklusion bereits im Wissen von den PrÈmissen enthalten ist. Mill zufolge kÚnnen nur solche SchlÝsse als wirkliche SchlÝsse angesehen werden, die zu neuem Wissen fÝhren. Da dies nur auf induktive SchlÝsse zutreffen soll, betrachtet er nur diese als wirkliche SchlÝsse. Die empiristische Position, dass alles Wissen auf Erfahrung beruht, ergibt sich aus den beiden Annahmen, dass wirklichen Aussagen nur induktive SchlÝsse zugrunde liegen kÚnnen, weil dies der einzige Typ wirklicher SchlÝsse ist, und dass %Induktionen ihren Ausgang stets von der Erfahrung nehmen. Den Unterschied zwischen Naturwissenschaften wie der Physik und Formalwissenschaften wie der Logik betrachtet Mill nicht als prinzipielle Differenz zwischen empirischen und nicht empirischen Wissenschaften, von denen Letztere allein auf Definitionen gestÝtztes Wissen in Anspruch nehmen. Statt dessen versteht er diesen Unterschied als graduelle Differenz zwischen empirischen Wissenschaften, die er als experimentelle und deduktive Wissenschaften anhand des Kriteriums unterscheidet, ob und in welchem Umfang sie zur %ErklÈrung bislang nicht untersuchter PhÈnomene Experimente durchfÝhren mÝssen. Solche Wissenschaften, die dafÝr Experimente benÚtigen, bezeichnet er als experimentelle Wissenschaften. Hingegen nennt er die Wissenschaften deduktiv, die ErklÈ-
Mill, John Stuart
rungen fÝr neue PhÈnomene aus bereits vorliegenden Theorien ableiten kÚnnen. Mill vertritt damit die naturalistische Position, dass alle Wissenschaften empirisch sind und die Tendenz besitzen, sich im Zuge der Verbesserung ihrer Theorien von experimentellen zu deduktiven Wissenschaften zu entwickeln. Die Unterscheidung zwischen diesen Typen von Wissenschaften beschreibt daher keine prinzipielle Differenz, sondern lediglich verschiedene Entwicklungsstadien. Das fÝr Mills theoretische Philosophie zentrale Induktionsproblem besteht zum einen in der Frage nach den Methoden, durch die induktive SchlÝsse angeleitet und ÝberprÝft werden mÝssen, damit sie im Allgemeinen zu wahren Konklusionen fÝhren. Da Mill die Auffassung vertritt, dass alle ErklÈrungen kausale ErklÈrungen sind, stellt er zur Beantwortung dieser Frage Methoden auf, deren Funktion darin liegt, die induktive Suche nach kausalen Beziehungen zu kontrollieren. Zum anderen besteht Mills Induktionsproblem darin, die Voraussetzungen seiner Methoden zu bestimmen und zu rechtfertigen. Seiner Theorie zufolge wird von allen Methoden wesentlich die ontologische UniformitÈtsannahme vorausgesetzt, dass sich alle PhÈnomene nach uniformen Kausalgesetzen ereignen. Zur Rechtfertigung dieser UniformitÈtsannahme unterscheidet Mill erstens zwischen zwei Typen induktiven Schließens: der methodisch kontrollierten wissenschaftlichen Induktion und der durch keine Methoden kontrollierten aufzÈhlenden Induktion. Zweitens argumentiert er dafÝr, dass die UniformitÈtsannahme nur von der wissenschaftlichen, aber nicht von der aufzÈhlenden Induktion vorausgesetzt wird und dass daher die Letztere zur zirkelfreien induktiven Rechtfertigung der UniformitÈtsannahme in Anspruch genommen werden kann. Indem Mill die aufzÈhlende Induktion als unproblematisches Verfahren voraussetzt, wird einerseits deutlich, dass er in dem Sinne eine naturalistische Position vertritt, dass er die MÚglichkeit radikaler %Skepsis an unserem ErkenntnisvermÚgen im Sinne %Descartes’ ablehnt. Andererseits zeigt sich dadurch, dass es ihm nicht wie %Hume um die Frage geht, ob die allgemeine GÝltigkeit des induktiven Schließens gerechtfertigt werden kann. Vielmehr setzt er diese bereits voraus und fragt stattdessen nach den methodischen Bedingun-
161
gen, die von zuverlÈssigen induktiven SchlÝssen erfÝllt werden mÝssen. Zur praktischen Philosophie: Die Hauptschrift Mills praktischer Philosophie ist der Aufsatz Der Utilitarismus (1861), in dem er sein utilitaristisches »NÝtzlichkeitsprinzip« aufstellt, wonach sich der moralische Wert von Handlungen und Handlungsregeln nach deren Nutzen fÝr das %GlÝck der von den Folgen der Handlungen bzw. der Anwendung der Handlungsregeln betroffenen Personen richtet. Mill versteht sein NÝtzlichkeitsprinzip als »Maßstab fÝr Recht und Unrecht« im moralischen Sinne, mit dem er die Beurteilung von Handlungen und Handlungsregeln davon abhÈngig macht, in welchem Maß sie dazu beitragen, das kollektive GlÝck der betroffenen Personen zu realisieren. Dieses Prinzip setzt sich aus vier Teilprinzipien zusammen: 1. dem Konsequenzenprinzip: Handlungen und Handlungsregeln werden nicht als solche, sondern hinsichtlich ihrer praktischen Folgen bewertet; 2. dem Nutzenprinzip: fÝr die Beurteilung ihrer Folgen ist nur deren Nutzen relevant; 3. dem hedonistischen Prinzip: diese Beurteilung bezieht sich allein auf den Nutzen, den Handlungen und Handlungsregeln fÝr das menschliche GlÝck besitzen; 4. dem universalistischen Prinzip: FÝr die Entscheidung des moralischen %Wertes von Handlungen und Handlungsregeln sollen nicht allein die Folgen in Betracht gezogen werden, die sich auf das GlÝck des handelnden %Subjektes beziehen. Vielmehr mÝssen die Folgen fÝr das GlÝck aller betroffenen Personen berÝcksichtigt werden. Das NÝtzlichkeitsprinzip hat zwei Funktionen. Erstens ist es ein Kriterium zur Auswahl von Handlungen und Handlungsregeln aus einer Reihe von Alternativen, wobei derjenigen Handlung oder Handlungsregel der Vorzug gegeben werden muss, die den Nutzen fÝr das kollektive GlÝck der betroffenen Personen maximiert. Zweitens kÚnnen anhand dieses Kriteriums Handlungen und Handlungsregeln danach beurteilt werden, ob sie das kollektive GlÝck befÚrdern und ob sie daher moralisch positiv bewertet werden sollen oder nicht. Das NÝtzlichkeitsprinzip wird damit zur »Norm der Moral«. Das VerhÈltnis von NÝtzlichkeit und %Gerechtigkeit wird von Mill in zwei Hinsichten untersucht. Zum einen argumentiert er, dass alle nach gÈngigen Auffassungen gerechten Handlungen und Handlungs-
162
Mill, John Stuart
regeln nÝtzlich sind, da ihnen das »wohlverstandene Eigeninteresse« handelnder Subjekte zugrunde liegt, das kollektive GlÝck und damit auch ihr eigenes GlÝck zu befÚrdern. Zum anderen macht er deutlich, dass nicht alle Handlungen und Handlungsregeln, die fÝr das kollektive GlÝck nÝtzlich sind, nach herkÚmmlichen Vorstellungen auch gerecht sind. Dies spricht laut Mill aber nicht gegen das NÝtzlichkeitsprinzip, da es auch die kritische Funktion besitzt, den Bereich moralischer Gerechtigkeit neu zu bestimmen. Mills naturalistische Konzeption von Wissenschaft, wonach es nur empirische Wissenschaften geben kann, findet sich in seiner praktischen Philosophie wieder, die von ihm als empirische Theorie verstanden und zur induktiven Schule der %Ethik gerechnet wird. Er lehnt deshalb apriorische Rechtfertigungen ethischer Normen ab und bemÝht sich stattdessen um eine BegrÝndung, die ausschließlich auf Erfahrung Bezug nimmt. In Àbereinstimmung damit argumentiert Mill fÝr einen ethischen Naturalismus in dem Sinne, dass er Wertbegriffe der %Moral durch deskriptive Begriffe definiert und normative Aussagen der Moral durch deskriptive Aussagen rechtfertigt. In Orientierung an diesen methodologischen Vorgaben entwickelt er als Grundlage seines NÝtzlichkeitsprinzips eine hedonistische Position, die sich erstens dadurch auszeichnet, dass der Begriff des GlÝcks durch den Begriff der Lust definiert wird. Dabei unterscheidet sich Mills Ansatz von dem seines VorgÈngers Bentham darin, dass Mill nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Differenzen zwischen verschiedenen Typen von Lust beschreibt, denen bei der Maximierung des kollektiven GlÝcks Rechnung getragen werden soll. Zweitens behauptet Mill, dass GlÝck im Sinne von Lust der einzige %Zweck ist, der um seiner selbst willen angestrebt wird, und dass alle anderen Handlungsziele nur Mittel zur Realisierung dieses obersten Zwecks sind. Den Einwand, dass neben GlÝck auch andere Zwecke wie zum Beispiel Tugend oder Gesundheit um ihrer selbst willen erstrebt werden, versucht Mill damit zu entkrÈften, dass er diese Zwecke als Bestandteile des GlÝcks bestimmt. Die These, dass alles Streben im Grunde Streben nach GlÝck ist, rechtfertigt er ausgehend von der Beobachtung, dass es Personen gibt, die nach GlÝck streben.
Auf dieser Grundlage argumentiert er dafÝr, dass fÝr den Einzelnen dessen eigenes GlÝck und fÝr die Gesamtheit das kollektive GlÝck erstrebenswert ist. Wenn man diese %Argumentation als strikten Beweis der obigen These interpretiert, dann trifft der von Moore erhobene Einwand zu, dass Mill einen naturalistischen Fehlschluss begeht, indem er die Geltung normativer Aussagen unter Bezug auf deskriptive Aussagen zu rechtfertigen versucht. BerÝcksichtigt man jedoch Mills Hinweise auf den lediglich plausibilisierenden Charakter seiner Àberlegungen, dann liegt ein solcher Fehlschluss nicht vor. Zur politischen Philosophie: Im Mittelpunkt von Mills politischem Liberalismus, der von ihm hauptsÈchlich in dem Aufsatz Àber die Freiheit (1859) entwickelt wird, steht das VerhÈltnis des Individuums zur Gesellschaft. Ausgangspunkt seiner Àberlegungen ist die These, dass sowohl die politischen als auch die moralischen Freiheiten des Individuums insbesondere in Demokratien der Gefahr ausgesetzt sind eingeschrÈnkt zu werden, weil diese im Unterschied zu anderen Regierungsformen nicht nur die MÚglichkeit zur politischen UnterdrÝckung von Minderheiten, sondern darÝber hinaus auch zur sozialen MachtausÝbung besitzen sollen. Um die politischen und moralischen Freiheiten des Individuums zu schÝtzen – zu denen er die Gewissensund Diskussionsfreiheit, die Freiheit der LebensfÝhrung und die Vereinigungsfreiheit zÈhlt – und die Grenzen der rechtmÈßigen MachtausÝbung der Gesellschaft Ýber das Individuum zu bestimmen, stellt Mill das »Freiheitsprinzip« auf. Danach dÝrfen die Freiheiten des Individuums nur unter der Bedingung eingeschrÈnkt werden, dass dies zum Selbstschutz der Gesellschaft bzw. zum Schutz anderer Personen erforderlich ist. Mill begrÝndet das Freiheitsprinzip unter Bezugnahme auf seinen Utilitarismus, indem er dafÝr argumentiert, dass die genannten Freiheiten Bedingungen des gesellschaftlichen Fortschritts und damit der allgemeinen Wohlfahrt sind. U. GÈhde / W. H. Schrader (Hg.), Der klassische Utilita rismus. EinflÝsse Entwicklungen Folgen, Berlin 1992 O. HÚffe (Hg.), EinfÝhrung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenÚssische Texte, TÝbingen 1992 P. Rinderle, John Stuart Mill, MÝnchen 2000
Nietzsche, Friedrich Wilhelm
R. Schumacher, John Stuart Mill, Frankfurt/M. / New York 1994 J. Skorupski, John Stuart Mill, London / New York 1989 R. Sch.
Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844–1900): Geboren am 15. 10. in RÚcken bei LÝtzen; von 1858 bis 1864 Gymnasium in Schulpforta; 1864 bis 1867 Studium in Bonn und Leipzig; 1869 außerordentlicher, 1870 ordentlicher Professur fÝr klassische Philologie in Basel, Umgang mit Burckhardt und Overbeck; seit 1869 enge Beziehung zu, 1878 Bruch mit Richard Wagner und Cosima von BÝlow; 1879 Niederlegung der Professur; am 3. Januar 1889 geistiger Zusammenbruch in Turin, in Weimar am 25. August 1900 gestorben. – Das in einem relativ kurzen Zeitraum entstandene Werk Nietzsches lÈsst sich in drei Phasen gliedern. Die erste ist die der Geburt der TragÚdie. Die UnzeitgemÈßen Betrachtungen, Menschliches, Allzumenschliches, MorgenrÚte und die FrÚhliche Wissenschaft bilden den Àbergang zum Hauptwerk Zarathustra. Dem schließen sich in einer dritten Phase Jenseits von Gut und BÚse als das Vorspiel einer Philosophie der Zukunft und in immer gedrÈngterer Folge Zur Genealogie der Moral, Der Fall Wagner, die GÚtzen-DÈmmerung, Nietzsche contra Wagner, Ecce homo, Der Anti-Christ – die einzige realisierte Schrift des Projekts einer »Umwertung aller Werte« – und die Dionysos-Dithyramben an. Begleitet wird Nietzsches Werk von 1869 bis 1889 von einer Vielzahl von Aphorismen, die den philosophischen Nachlass bilden. Aus diesen NachlassFragmenten wurde zu Beginn des 20. Jhs. der Wille zur Macht – fÝr Nietzsche selbst kein abgeschlossenes Buch, sondern ein programmatisches Stichwort – kompiliert. Diese Kompilation ist beispiellos verfÈlschend. Aber sie hat die Rezeption Nietzsches nachhaltig beeinflusst. Erst seit dem Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe (1967 ff.) – und fÝr die breitere ³ffentlichkeit seit dem Erscheinen der Kritischen Studienausgabe (1980) – liegt eine befriedigende Edition der Nachlassfragmente und damit eine zuverlÈssige philologische Basis fÝr die Auseinandersetzung mit Nietzsche vor. Nietzsche, der sich als »letzten JÝnger des Philosophen Dionysos« bezeichnete, ist Seismograph und Kritiker seiner Zeit und einer der ra-
163
dikalsten Dialektiker der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung). Seine Stilmittel sind Fragment und Aphorismus. Daraus und aus der dem Geist der Musik verpflichteten expressiven Sprache Nietzsches dÝrfte sich der Reiz seines Werkes erklÈren. Er benutzt Sprache nicht als Instrument, sondern gebraucht sie als Akt der Vermittlung seiner ›Lehren‹. Wie bei Hamann, dem ersten Metakritiker der Kritik der reinen Vernunft, ist Nietzsches Werk Zeugnis einer ›Autorhandlung‹. Die vorgebrachten Lehren sind deshalb von der Art ihres Erscheinens nicht zu lÚsen und manches MissverstÈndnis entsteht durch ein buchstÈbliches VerstÈndnis von aus ihrem meist polemischen Zusammenhang gelÚsten SÈtzen. Grundlegend fÝr Nietzsches Werk und Philosophie ist die Geburt der TragÚdie aus dem Geiste der Musik. Die Geburt der TragÚdie ist die genealogische Deutung ihres Ursprungs in Mythos und Kultus. Nietzsche deutet mittels dieses dionysischen PhÈnomens die TragÚdie als Ausdruck und als jenen Akt »tragischer Erkenntnis«, in dem Dionysisches und Apollinisches zusammengehÚren. Es sind zwei Aspekte ein- und derselben kulturgeschichtlichen Entwicklung, die mit der dithyrambischer Begeisterung entwachsenden TragÚdie einsetzt. Die ›plastische‹ Erscheinungsform (der schÚne Schein) des Apollinischen und der ›musikalische‹ Grund des Dionysischen sind weder zwei verschiedene Kunstformen, noch folgen sie in zeitlicher Hinsicht aufeinander. Sie gehÚren vielmehr wesentlich zusammen. Nietzsche erlÈutert das am Mythos von Dionysos-Zagreus, der aus seiner ZerstÝckelung und Zerrissenheit von Apollo wieder zusammengesetzt wird. Apollo (als VergÚttlichung des principium individuationis) und Dionysos (als Gott des Rausches, des Leidens und des LeidenkÚnnens, des Selbstverlustes) sind die beiden einander bedingenden Momente dessen, was Nietzsche als die eigentlich metaphysische TÈtigkeit des Menschen denkt. Nicht die %Moral, d. h. die Bildung einer intelligiblen Hinterwelt, sei die eigentlich metaphysische TÈtigkeit, sondern die %Kunst. Vor dem Hintergrund dieser %Metaphysik der Kunst ist auch der zweideutige Satz zu verstehen, dass nur als Èsthetisches PhÈnomen das Dasein der Welt »ewig gerechtfertigt« ist – ein Satz, der zeigt, dass Nietzsches Philosophie dem Denken und der Epoche des Ju-
164
Nietzsche, Friedrich Wilhelm
gendstils wesentlich angehÚrt. Die Geburt der TragÚdie ist Nietzsches erster Versuch, die %Wissenschaft unter der Optik des KÝnstlers zu sehen und die Kunst unter der des %Lebens. Damit hÈngt die ›antisokratische Tendenz‹ des Buches zusammen, die das wissenschaftliche Denken nicht als LÚsung, sondern selbst als Problem sieht. Philosophischer Kronzeuge dieser antisokratischen »Artisten-Metaphysik« ist %Heraklit. Auf ihn, insbesondere sein Fragment B 52, in dem die weltbildende Kraft mit einem Kind verglichen wird, das spielend Steine hinund hersetzt und Sandhaufen aufbaut und zerstÚrt, beruft sich Nietzsche, indem er das Aufbauen und ZertrÝmmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust – an ihre Stelle wird die Formel vom Willen zur Macht treten – denkt. Die (Be-)Deutung dieses Fragments von Heraklit bleibt grundlegend fÝr Nietzsches Werk bis zum Ende. Das gilt insbesondere fÝr sein Hauptwerk Also sprach Zarathustra mit den kontrovers diskutierten Lehren von der »ewigen Wiederkunft«, vom »Àbermenschen« und vom »Willen zur Macht«. Insbesondere die magische Formel des ›Willen zur Macht‹ ist zugleich eine der missverstÈndlichsten. Denn sie steht nicht fÝr den hÚchsten Willen eines %Subjekts, das sich der Dinge bemÈchtigt. Der ›Wille zur Macht‹ meint vielmehr ein »heiliges Ja-Sagen«: jenen Gedanken, den Nietzsche in der FrÚhlichen Wissenschaft als das »grÚßte Schwergewicht« bezeichnet. Es ist ein Ja-Sagen zum Werden der zeitlich verÈnderlichen %Welt und das seiner selbst bewusste, sich selbst durchschauende Wollen, dass diese Welt des Werdens unendlich viele Interpretationen einschließt. Nietzsches %Kritik der »zweitausendjÈhrigen abendlÈndischen Philosophie« ist eine Kritik bedeutungsplatonistischer »Hinterweltlerei«, die jenseits dieser Welt und ihres prozesshaften Werdens eine wahre und unverÈnderliche Welt des Intelligiblen und der %Wahrheit (%Ideen) ansetzt: Was Nietzsche als %Moral bzw. %Nihilismus kritisiert, sind Formen solcher Hinterweltlerei. Prototypisch fÝr diese Kritik ist das StÝck Von den drei Verwandlungen im Zarathustra. Beschrieben wird die Genealogie des sich durch selbst produzierte Hinterwelten und selbst verschuldete UnmÝndigkeiten abarbeitenden Geistes: ZunÈchst wird er zum ‹Kamel‹, das die Moral trÈgt, dann zum ›LÚ-
wen‹, der gegen dieses niederdrÝckende Jenseits moralischen Sollens protestiert und der die Position des ›Ich will‹ markiert, um schließlich zum ›Kind‹ zu werden, mit dem das heilige Ja-Sagen zum Spiel des Werdens gemeint ist. Die Rede vom Àbermenschen als dem Sinn der Erde meint dieses Ja-Sagen und bedeutet keine Àbersteigerung des Wollens, sondern dessen Selbsterkenntnis. Das ist der springende Punkt nicht nur des programmatischen Stichworts ›Wille zur Macht‹, sondern auch grundlegend fÝr den Gedanken der ewigen Wiederkunft. Dieser lÈsst sich als die ewige Wiederkehr des Gleichen in dem Sinn verstehen, dass Welt als ein perpetuum mobile des Immergleichen zu denken ist. Die Pointe des Gedankens ewiger Wiederkunft liegt aber darin, dass jeder Augenblick in seiner Einzigartigkeit und VergÈnglichkeit jedem anderen gleich ist. »In jedem Nu beginnt das Sein.« Es sind diese vorÝbergehenden »Augen-Blicke«, durch die das »Rad des Seins« als Prozess des Werdens lÈuft. Sie kehren ›ewig‹ wieder. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist der schÚpferisch gedachter Ewigkeit. Ewigkeit ist das, was sich in der Zeit, im %Werden und Vergehen und der dionysischen ›Zerrissenheit‹ der Dinge zeigt und wiederholt. Die Lust des Wollens ist das Ja-Sagen zu dieser ewigen Wiederkunft. Ihre Zeitform ist das Heute, in dem jeweils der große »Erden- und Menschenmittag« erscheint und die Welt vollkommen scheint. Mittag und Ewigkeit lautete der ursprÝngliche Titel des Zarathustra. Nietzsches SpÈtwerk ist Kritik. Seine Schwerpunkte bilden erstens die Kritik der Moral, zweitens die Kritik an der Fiktion, dass es – im Gegensatz zur scheinbaren Welt – eine ›wahre‹ gÈbe und drittens die Kritik am Glauben an letzte (z. B. naturwissenschaftliche) Tatsachen und des Aberglaubens an das %Ich mit seinem Willen. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass ›Welt‹ nichts Vorgegebenes, sondern etwas Produziertes ist: Erfahren und interpretieren fallen zusammen. Die Welt ist Interpretation. Die FaktizitÈt der Welt ist Produkt der Perspektiven jeweiliger Auslegung und Interpretation. Aus dieser Einsicht in die jeweils mit zu beachtende PerspektivitÈt des Erkennens ergibt sich Nietzsches Kritik der »Misch-Masch-Philosophie« der Positivisten wie seine Kritik der Reduktion von Philosophie auf Erkenntnistheorie. In seiner Kritik der Moral macht Nietzsche klar, dass die Behaup-
Nikolaus von Kues
tung ›objektiver‹ Wahrheit (und letztlich der Grund der Moral) tatsÈchlich die willentliche Verbergung von Interessen durch intelligible Hinter- oder Àberwelten ist und damit Heuchelei. Die Versuchung, den Sinn der Welt jenseits dieser zu suchen und nicht in dieser Welt als einen Akt der Sinngebung zu erkennen, ist die »Circe der Philosophen«. Jenseits von Gut und BÚse heißt damit die Perspektive, die moralischen Werte und Tugenden als Wertsetzungen und Moral als Geschichte der Umwertung von %Werten selbst zu erkennen. Nietzsches Kritik der Moral ist fundamentale Ideologiekritik, die es unternimmt, die Geschichte des Denkens als eines Organs der Herrschaft im Sinne der Dialektik der AufklÈrung darzustellen. Polemischer Hauptbezugspunkt ist der Platonismus fÝrs Volk, als dessen Tradition die Geschichte ›des‹ Christentums – Nietzsche greift hier eine auf %Augustinus zurÝckgehende Formulierung auf – gedeutet wird. Es sind dabei eminent christliche Motive, die Nietzsche in seiner Verurteilung des Christentums und als sein empfindlichster Seismograph mit Pathos gegen dessen geschichtliche Erscheinungsform wendet. Die ›wahre Welt‹ ist kein Jenseits, das auf diese Welt folgen wÝrde. Aber nicht nur die ›KruditÈt‹ einer Trennung zwischen wahrer (jenseitiger) und scheinbarer (diesseitiger) Welt wird der Kritik unterworfen, sondern auch der »Subjekt- und Ich-Aberglaube«, d. h. die Vorstellung vom freien Willen, Ýber den ein Ich wie Ýber das Wollen selbst zu Zwecken der Herrschaft verfÝge. Schon aus diesem Grund ist Nietzsches Formel vom Willen zur Macht nicht als Postulat hÚchster Gewalt zu verstehen, auch wenn dieses MissverstÈndnis, das den ›Willen zur Macht‹ als Èußerste Zuspitzung eines Beherrschenwollens deutet, durch manch berÝhmt-berÝchtigtes Fragment nahe gelegt wird. Ein Ego als %Substanz eines freien (oder unfreien) Willens und als dessen Subjekt zu denken, ist eine notwendige Projektion. Sie ist dem Glauben an die Grammatik, an das sprachliche Subjekt mit seinen TÈtigkeitsworten und deren Objekten verpflichtet. Was Nietzsche mit Wille bezeichnet, meint aber keinen Singular und hat kein Subjekt. Der hÚchste Wille ist ein Wollen ohne Wille. Die KrÈfte (Interessen, BedÝrfnisse und Wille), die hierbei im Spiel sind und zum jeweiligen Handeln motivieren, gilt es zu erkennen. Denn es sind diese
165
KrÈfte der Welt des Werdens, die von dem, was wir als Subjekt denken – wie Dionysos von Apoll –, zu temporÈrer IdentitÈt zusammengefÝgt werden. Mit seiner Artisten-Metaphysik geht es Nietzsche um ein ›Ja-Sagen‹ zu dieser dionysischen Welt und – als rÝckhaltlose Erkenntnis – nicht um ein Weniger, sondern um ein Mehr an Erkenntnis. G. Abel, Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York 1984 T. Borsche / F. Gerratana / A. Venturelli (Hg.), ›Centau ren Geburten‹. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin / New York 1994 G. Figal, Nietzsche. Eine philosophische EinfÝhrung, Stuttgart 1999 V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht, Berlin / New York 1996 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der AufklÈ rung, jetzt in: Max Horkheimer, Gesammelte Schrif ten Bd. 5, Frankfurt/M. 1987 G. Wohlfart, »Also sprach Herakleitos«. Heraklits Frag ment B 52 und Nietzsches Heraklit Rezeption, Freiburg / MÝnchen 1991 J. K.
Nikolaus von Kues (1401–1464): Geboren in Kues an der Mosel, gestorben am 11. 8. in Todi in Umbrien, auch genannt Nicolaus Cusanus, Nicolaus de Cusa, Familienname Chryfftz oder Krebs. Er war Kardinal und pÈpstlicher Legat, hinterließ ein umfangreiches Werk von philosophisch-theologischen, kirchen- und staatstheoretischen, mathematisch-naturwissenschaftlichen Schriften sowie ca. 300 Predigten. Hauptthemen seines philosophisch-theologischen Denkens, das in hohem Maße vom Platonismus geprÈgt ist, sind %Gott, Universum, %Mensch. Die Existenz Gottes und die TrinitÈt werden vorausgesetzt; sie kÚnnen nicht Gegenstand rationaler %Argumentation sein. Unser gesamtes BemÝhen um %Erkenntnis beruht auf der Voraussetzung, dass das uns Bekannte zu dem Unbekannten zwar nicht in einem messbaren VerhÈltnis, aber doch in einem solchen Bezug steht, dass das Unbekannte in %Analogie zum Bekannten annÈherungsweise bestimmt werden kann. Hierbei handelt es sich nicht um das Kennenlernen %empirischer Fakten, sondern um den Versuch der Wesenserkenntnis. AdÈquat erkennbar ist etwas nur durch den Intellekt, dem es das %Sein verdankt. Das Mathematische ist eine SchÚpfung des menschlichen %Geistes, der als lebendiges
166
Nikolaus von Kues
%Abbild des gÚttlichen Geistes dessen SchÚpfertÈtigkeit nachahmt, und ist daher fÝr den menschlichen Geist vollstÈndig erkennbar; demzufolge hat jedes Suchen nach Wesenserkenntnis vom Mathematischen auszugehen. Erkennen vollzieht sich im Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten; der Erkenntnisprozess ist Setzen von vergleichenden Beziehungen, wobei Deckungsgleichheit des Verglichenen nie in einem Verfahren erreicht werden kann, das zwar vom Mathematischen ausgeht, aber nicht im Mathematischen endet. Folglich ist jede angestrebte Wesenserkenntnis durch zweierlei charakterisiert: 1. HÚchste Genauigkeit des Erkennens ist unmÚglich, Erkennen ist letztlich Nichtwissen (ignorantia); 2. die hÚchste erreichbare Genauigkeit der Erkenntnis oder des Wissens ist dann gegeben, wenn der erkennende Geist einsieht, dass alles Wissen Unwissen ist (ausgenommen hiervon ist die Mathematik), und dann ist sein Unwissen belehrte Unwissenheit (docta ignorantia). Belehrte Unwissenheit ist Ausgangspunkt einer mystischen Theologie, die fortwÈhrendes BemÝhen um Erkenntnis erfordert und zu dem Wissen gelangt, dass Gott nicht gewusst werden kann. Besteht schon im Bereich der uns umgebenden KÚrperwelt die UnmÚglichkeit genauer Wesenserkenntnis, so vornehmlich dann, wenn das Erkennen im Ausgang von gesetzten Zeichen (dem Mathematischen), die immer endlich sind, zu Gott als dem aktual Unendlichen vordringen will. Das aktual Unendliche ist unerkennbar, weil es sich jedem Vergleich entzieht; denn das Unendliche steht in keinem messbaren VerhÈltnis zum Endlichen. Hieraus ergibt sich die Regel der belehrten Unwissenheit: Wo es Àberschreitendes und Àberschrittenes, Mehr oder Weniger gibt, gelangt man nicht zum einfachhin GrÚßten, da Àberschreitendes und Àberschrittenes, Mehr oder Weniger endliche GrÚßen sind. FÝr die Wahrheitsfindung ergibt sich: Die %Wahrheit lÈsst kein Mehr oder Weniger zu – es geht hierbei vornehmlich um die ontologische Wahrheit (rerum veritas), welche die %Wesenheit der Dinge ist –, daher ist die Wahrheit und Wesenheit des Seienden als einfachhin GrÚßtes identisch mit dem aktual Unendlichen, das von keinem endlichen Geist erfassbar ist. Menschliches BemÝhen um Erkenntnis ist zwar ein bestÈndiger AnnÈherungsprozess an das Gesuchte, es gibt zwei-
fellos Fortschritte in der Erkenntnis; aber keine Erkenntnis ist so genau, dass sie nicht noch genauer sein kÚnnte. Mit dieser Feststellung begnÝgt Nikolaus von Kues sich nicht. Das einfachhin GrÚßte gestattet keinen vergleichenden Bezug zu anderem, es steht Ýber jedem Gegensatz; es ist alles, was sein kann und was es sein kann. Hieraus folgt: Das einfachhin GrÚßte ist das, demgegenÝber nichts GrÚßeres sein kann. Des Weiteren kann es selbst nicht grÚßer sein als es ist, weil es alles ist, was es sein kann und was sein kann; aus demselben Grund kann es auch nicht kleiner sein. Das aber, was nicht kleiner sein kann, ist das uneingeschrÈnkt Kleinste. Somit ist das absolut GrÚßte ineins auch das absolut Kleinste. Der Zusammenfall des absolut GrÚßten mit dem Kleinsten ist ein Beispiel fÝr den von Nikolaus behaupteten Zusammenfall aller mÚglichen kontrÈren und kontradiktorischen GegensÈtze im uneingeschrÈnkt GrÚßten. Diese Lehre vom Zusammenfall der GegensÈtze (%coincidentia oppositorum) im einfachhin GrÚßten oder aktual Unendlichen besagt keineswegs, dass in Gott das Endliche mit dem Unendlichen koinzidiere in der Weise, dass das Endliche selbst Unendliches oder das Unendliche Endliches werde; das Verursachte ist nicht in seiner Vielheit und GegensÈtzlichkeit in der %Ursache, sondern insofern, als die eine Ursache das viele Verursachte in sich schließt, ohne etwas von dem Verursachten zu sein oder zu werden. Hier offenbart sich kein Mangel an logischem Denken, sondern ein Philosophieren, das schwierigste GedankengÈnge in immer neuen AnsÈtzen verdeutlichen will und auf ein nicht begreifendes Sehen oder Schauen Gottes hin tendiert, das Ýber jedes %Wissen hinausgeht. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist kein universales Seins- oder Erkenntnisprinzip; er gilt nur fÝr den Bereich des %Verstandes (ratio); die %Vernunft (intellectus) erhebt sich Ýber den Verstandesbereich zur Koinzidenz der GegensÈtze. Ihre %Methode ist das ›Erforschen im Symbol‹ (symbolice investigare). Ausgangspunkt sind gezeichnete mathematische Figuren wie Linie, Dreieck, Kreis und Kugel. Ein erster Àberstieg (transcensus) ist von den gezeichneten Figuren zu den nur denkbaren mathematischen Gebilden zu vollziehen, deren Eigenschaften und Wesensbeschaffenheiten zu untersuchen sind. Alsdann wird in einem zweiten transcensus das
Nikolaus von Kues
Mathematische verlassen; die Beschaffenheiten der mathematischen Gebilde werden auf aktual unendliche Figuren Ýbertragen. Das geschieht beim Dreieck in der Weise, dass die Winkel und die Seiten als unendliche gesetzt werden; denn jeder Teil des Unendlichen ist selbst unendlich. Die Peripherie des unendlichen Kreises ist die aktual unendliche Gerade; Mittelpunkt und Durchmesser des unendlichen Kreises sind mit der unendlichen Geraden identisch. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist eine aktual unendliche Linie, die zugleich Dreieck, Kreis und Kugel ist. Nun erfolgt in einem dritten transcensus die Àbertragung der Beschaffenheiten der unendlichen Figur auf das aktual Unendliche selbst in seiner GelÚstheit von allem FigÝrlichen. Hieraus ergeben sich Nikolaus von Kues zufolge Einsichten in das Wesen des Mathematischen. Das durch den zweiten transcensus erreichte unendliche Gebilde ist alles in %Wirklichkeit, was die endlichen mathematischen Figuren sein kÚnnen, und zwar so, dass die %MÚglichkeit der endlichen Figuren aus der Wirklichkeit der unendlichen Figur hervorgeht, die aber aufgrund ihrer Unendlichkeit von den endlichen Figuren durch einen unendlichen Abstand getrennt ist. Entscheidend sind indessen die Einsichten in der Weise des »nicht begreifenden Erkennens«, die sich durch den Àberstieg zum nicht figÝrlichen Unendlichen ergeben: Es ist in unendlicher Weise alles in Wirklichkeit, was das Endliche in endlicher Weise ist; es ist Wesensgrund von allem und somit das Sein der Seienden. Das Sein der endlichen Dinge ist auf eine fÝr uns unbegreifliche Weise vom absoluten Sein verursacht. Verdeutlicht wird dies durch das der Schule von Chartres entnommene Begriffspaar »Einfaltung – Ausfaltung« (complicatio – explicatio) und durch die Lehre von den vier Einheitsregionen. Gott als das Sein der Seienden und als unendliche Einheit schließt alles in sich zur Einheit zusammen. Das wird von Nikolaus »Einfaltung« genannt und durch Beispiele erklÈrt: Die Eins als Prinzip der Zahl ist »Einfaltung der Zahl«; der Punkt ist Einfaltung von Linie, FlÈche und KÚrper. Wie beim ZÈhlen die Eins in Vielheiten ausgefaltet wird und zugleich die Vielheiten zu neuen Einheiten zusammengefasst werden und wie entsprechend der Dimensionenfolge die Linie erste Ausfaltung des Punktes ist, FlÈche und KÚrper zweite und dritte Ausfaltungen sind, so
167
entsteht bei der Ausfaltung der unendlichen Einheit die Vielheit der abgestuften Einheiten, der GeschÚpfe. Ohne die unendliche Einheit sind die GeschÚpfe nichts; die Vielheit der Dinge entsteht dadurch, dass Gott im %Nichts ist, was unbegreiflich ist; denn das Nichts hat kein Sein. Zweifellos existieren die GeschÚpfe, aber wir haben keine MÚglichkeit, ihr Sein, das AbhÈngigsein ist, zu erkennen. Ausfaltung ist zugleich »EinschrÈnkung« (contractio): Jedes %Individuum ist EinschrÈnkung der Seinsstufe, zu der es gehÚrt; dasselbe gilt jeweils fÝr die untergeordneten Seinsstufen im Hinblick auf die Ýbergeordneten; und keine Ýbergeordnete Seinsstufe wird in dem ihr Untergeordneten zu dem, was sie selbst ist. Erste Ausfaltung der unendlichen Einheit oder des uneingeschrÈnkt GrÚßten ist das Universum; es ist in eingeschrÈnkter Weise Sein und Wesenheit aller Dinge. WÈhrend Gott als das uneingeschrÈnkt GrÚßte ohne die GeschÚpfe sein kann, kann das Universum nicht ohne die erschaffenen Seienden sein; denn diese sind Teile des Universums. Mit dem Universum erlangten also auch seine Teile Sein, und das Universum als erste EinschrÈnkung der unendlichen Einheit ist in allen seinen Teilen in eingeschrÈnkter Weise das, was jedes Einzelne in eingeschrÈnkter Weise ist. Aufgrund dessen schließt jedes Seiende alle EinschrÈnkungen in sich ein und ist auf diese Weise alles. Die Einheit des Universums besteht aus MÚglichkeit, Wirklichkeit und VerknÝpfung; diese drei sind immer miteinander verschrÈnkt und in der VerschrÈnkung sind sie eine allgemeine Seinsweise. Die Anwendung der Regel der belehrten Unwissenheit auf die %Kosmologie ergibt: Weder die Erde noch sonst ein Planet oder Fixstern kann Mittelpunkt der Welt sein. Da die Welt keinen Mittelpunkt hat, kann sie auch nicht kugelgestaltig sein; sie ist zwar nicht aktual unendlich, hat aber keine Grenzen, innerhalb deren sie eingeschlossen wÈre. Die Erde ist ein Stern unter Sternen; sie kann nicht kugelfÚrmig sein, wenngleich sie sich der Kugelgestalt nÈhert. Des Weiteren kann sie nicht ohne Bewegung sein; denn nichts in der Welt befindet sich in absoluter Ruhe. Bewegung ist immer nur als relative Bewegung erkennbar. Die Auffassung, dass es Lebewesen auf anderen Sternen gibt, wird akzeptiert. Dieses alles versteht Nikolaus als »Aussagen, die an der Wahrheit, wie sie ist, in An-
168
Parmenides von Elea
dersheit teilhaben«. – In der Selbstreflexion begreift der menschliche Geist (mens) sich als vierfache Einheit; er umgreift alles in der Weise des uneingeschrÈnkten Schauens (visio absoluta), in der Weise der Vernunft, des Verstandes und der Sinne. Den vier Erkenntnisweisen entsprechen vier Abstufungen der Wahrheit: 1. Die absolute Wahrheit (veritas) ist bezÝglich der nicht von unserem Geist geschaffenen Seienden unerreichbar. 2. Vernunfterkenntnis ist die hÚchste Weise der AnnÈherung an die bewusstseinsunabhÈngigen Dinge; sie erkennt die Koinzidenz der GegensÈtze und erfolgt »in wahrer Weise« (vere). 3. Verstandeserkenntnis ist an den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gebunden und vollzieht sich »in einer dem Wahren Èhnlich Weise« (verisimiliter). 4. Am weitesten von der Wahrheit entfernt ist die Sinneswahrnehmung, die das VerÈnderliche jeweils in seinem Hier und Jetzt erfasst und der die GrÝnde der PhÈnomene nie prÈsent werden. Den vier Erkenntnisbereichen entsprechen vier metaphysische Einheitsregionen: Gott, Intelligenz, Seele, KÚrper. Unterscheidungsprinzip ist die Andersheit (alteritas), die indessen kein Seinsprinzip ist und kein Seinsprinzip hat; sie ist gleichsam der Schatten des Nichts, der Ýber die drei geschaffenen Einheitsregionen ausgebreitet ist und in jeder hÚheren Einheit schwÈcher wird. Gott selbst ist frei von Andersheit. Die Welt als das eingeschrÈnkt GrÚßte erreicht ihre gesamte WesensfÝlle weder in Gott, weil sie dann nicht mehr Welt, sondern Gott wÈre, noch in den einzelnen Seienden, weil diese EinschrÈnkungen von Welt sind. Somit erfordert die Welt etwas, das ineins eingeschrÈnkt und nicht eingeschrÈnkt, endlich und unendlich ist. Dieses ist der Gottmensch, der als Gott die absolute Einheit selbst ist, als Mensch aber in der Welt ist. In ihm erlangt die Welt ihre SeinsfÝlle. Dieser Ansatz fÝhrt zu einer philosophisch begrÝndeten Christologie. Nicolai de Cusa opera omnia iussu et auctoritate Aca demiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fi dem edita, Leipzig [spÈter Hamburg] 1932 ff. Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Àberset zung, Leipzig [spÈter Hamburg] 1936 ff. Acta Cusana, Quellen zur Lebensgeschichte des Niko laus von Kues, im Auftrag der Heidelberger Aka demie der Wissenschaften hg. v. E. Meuthen / H. Hallauer, Hamburg 1976 ff.
Mitteilungen und ForschungsbeitrÈge der Cusanus Ge sellschaft, Mainz [spÈter Trier] 1961 ff. E. Meuthen, Nikolaus von Kues 1401 1464, 7. Aufl. MÝnster 1992 H. G. Senger, Nikolaus von Kues, in: Theologische Real enzyklopÈdie 24, 1994, S. 554 564 : Ludus sapientiae: Studien zum Werk und zur Wir kungsgeschichte des Nikolaus von Kues, Leiden / Boston / KÚln 2002 K. Bormann, Nikolaus von Kues, in: Großes Werklexi kon der Philosophie hg. von F. Volpi, 1090 1099, Stuttgart 1999 M. de Gandillac, Nikolaus von Cues, Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung, DÝsseldorf 1953 K. B.
Parmenides von Elea (um 515–445): Wohl der bedeutendste und einflussreichste Vorsokratiker; hinterließ eine Schrift in Hexametern, in der er %Wahrheit und %Schein scharf abgrenzt. Die Lehre von der Wahrheit ist zu einem betrÈchtlichen Teil erhalten, wÈhrend die AusfÝhrungen Ýber den Schein sehr lÝckenhaft tradiert sind. Das ProÚmium stellt die Auffahrt des Dichterphilosophen aus dem Dunkel ins Licht zu einer namenlosen GÚttin dar, von welcher er Ýber Wahrheit und Irrtum belehrt wird. Soweit das Verlangen reicht, wird der Mensch auf dem von der Gottheit festgesetzten Weg dahingetragen, auf welchen ihn Streben nach %Erkenntnis sowie gute FÝgung, gÚttliche Satzung und gÚttliches Recht gebracht haben. GegenstÈnde der Belehrung sind die Wahrheit Ýber das Seiende (%Sein) und die Inhalte menschlicher Meinung. Lediglich drei Forschungswege kÚnnen gedacht werden: 1. Seiendes ist, das Nichtsein ist unmÚglich. Dieser Weg ist der Pfad der Àberzeugung und folgt der Wahrheit/Wirklichkeit. 2. Der zweite Weg ist gÈnzlich unerforschbar und fÝhrt zu nichts: Nichtsein ist mit Notwendigkeit. 3. Sein und Nichtsein sind identisch und verschieden, von allem gibt es eine gegenwendige Bahn. Dass die Meinungen, Nichtseiendes sei oder Seiendes und Nichtseiendes seien identisch und verschieden, als Forschungswege bezeichnet werden, ist durch methodische Reflexion bedingt: Wenn die %Methode, die bei der ErÚrterung der %RealitÈt anzuwenden ist, bedacht wird, ergeben sich drei MÚglichkeiten, von denen zwei ausscheiden. Bezug der beiden abge-
Parmenides von Elea
lehnten Forschungswege auf andere Philosophen muss angenommen werden, weil andernfalls nicht erklÈrt werden kann, weshalb Parmenides sich nicht mit einer kurzen Abweisung des zweiten und dritten Wegs begnÝgt, sondern diesbezÝglich von einer viel umstrittenen %Argumentation spricht. Mit der Ablehnung des zweiten Wegs werden Lehren zurÝckgewiesen, die aus der Sicht des Parmenides dem %Nichts Sein zusprechen, wie z. B. %Anaximanders Ansatz eines quantitativ und qualitativ unbestimmten Urstoffes und Anaximenes’ Lehre von der unvorstellbar weit ausgedehnten Luft. Der dritte Weg charakterisiert die Meinungen »unwissender Menschen«, die VerÈnderungsprozesse fÝr seiend halten und hierdurch Sein und Nichtsein identifizieren und zugleich unterscheiden; anscheinend wird %Heraklit hierzu gezÈhlt. In Betracht kommt nur der erste Weg: Seiendes ist. Nur Seiendes kann als Reales erfasst werden (›als Reales erfassen‹ heißt zur Zeit des Parmenides noein, ›denken‹). Dieser Satz ist konvertierbar: Nur das, was als Reales erfasst werden kann, ist seiend. Das bedeutet: ›Dasselbe kann gedacht werden und kann sein.‹ %MÚglichkeit, %Wirklichkeit und %Notwendigkeit sind im Seienden zur Einheit verbunden: Das, was sein kann, ist mit Notwendigkeit, weil nichts es hindern kÚnnte zu sein. FÝr das Denken gilt Entsprechendes: Es gibt nichts, wodurch das von der Gottheit belehrte Denken gehindert werden kÚnnte, Kenntnis des Seienden zu sein. Das Wort ›Sein‹ wird innerhalb der parmenideischen Seinslehre weder kopulativ noch als Existenzaussage verwendet, sondern bedeutet ›unverÈnderlich bestehen‹ im Gegensatz zu Entstehen, Vergehen, VerÈnderung. Der Weg der Wahrheit schließt alles andere als das Seiende aus. Außerhalb des Seienden existiert nichts, d. h. das Seiende ist die alles andere ausschließende Ganzheit. Hiermit ist auch gesagt, dass es innerhalb des Seienden nichts geben kann, das von der Ganzheit verschieden wÈre. Das Seiende kann also keine Teile haben, weil sie vom Seienden als der Ganzheit verschieden und folglich nichtseiend wÈren. Das Seiende ist ganz es selbst; hieraus ergibt sich, dass es einzig ist. Weiterhin besagt Ganzheit des Seienden, dass dem Seienden nichts mangelt, dass es autark und vollkommen ist und sich deshalb in Ruhe befindet. Hierdurch ist jede Bewegung ausgeschlossen, womit
169
in erster Linie gemeint ist, dass das Seiende nicht entsteht und nicht vergeht – es hat keine Grenzen in der Zeit –, sodann aber auch, dass es sich in keiner Weise verÈndert. »VerÈnderung« umfasst bei Parmenides wie spÈter bei %Aristoteles Entstehen und Vergehen, Ortswechsel, qualitative und quantitative VerÈnderung. Die aus ›seiend‹ deduzierten ›Merkzeichen‹ sind Grundlage direkter und indirekter Beweise. Seiendes ist nicht aus Nichts entstanden, denn aus dem Nichts kann nichts werden, was generell altgriechische Àberzeugung ist. WÈre das Seiende aus Nichts entstanden, dann ist es nicht; weil es nicht aus Nichts entstand, ist es ohne EinschrÈnkung. Das heißt in den Worten des Parmenides: »So muss es entweder ganz und gar sein oder gar nicht.« Die Argumentation gegen Werden aus Nichts gelangt also zu der Alternative: Das Seiende ist – das Seiende ist nicht, womit der Beweis gegen die Herkunft aus dem Nichts auf die Position der beiden Forschungswege zurÝckgefÝhrt ist. Das Seiende kann auch nicht aus Seiendem entstanden sein; wÈre es das, dann gÈbe es ein zweites Seiendes; das bedeutete, dass ihm die aus ›seiend‹ deduzierten Merkmale fehlten, was zur Folge hÈtte, dass es mit dem Nichts identisch wÈre. Das aber ist ausgeschlossen; der zweite Forschungsweg, der dem Nichts Sein zuspricht, ist ungangbar. Somit bleibt nur die Position des ersten Wegs: Das Seiende ist; es ist unentstanden, als Unentstandenes ist es unvergÈnglich und in jeder Hinsicht mit sich selbst identisch. Aus der %IdentitÈt des Seienden mit sich selbst folgt, dass es an keiner Raumstelle ein Mehr oder Weniger von Seiendem geben kann; das Seiende ist gleichmÈßig von sich selbst erfÝllt, d. h. es gibt nichts in ihm, das nicht das eine Seiende wÈre. Das sich selbst absolut gleiche Seiende ist unverÈnderlich, womit primÈr der Ortswechsel verneint ist. Weil Ortswechsel der ElementarkÚrper Grundlage jeder VerÈnderung ist, wird dem Seienden auch jede andere Weise der VerÈnderung abgesprochen. Das Seiende ist in rÈumlichen Grenzen eingeschlossen; eine Lockerung dieser als »Fesseln« beschriebenen Grenzen wÝrde bedeuten, dass das Seiende sich Úrtlich bewegen kÚnnte, womit der Beginn der VerÈnderung und auch des Entstehens und Vergehens gegeben wÈre, was bedeuten wÝrde, dass das Seiende nicht mehr vollkommen, nicht au-
170
Parmenides von Elea
tark und nicht absolut mit sich identisch wÈre; es wÈre nichtseiend. Werden und Vergehen sind nicht seiend; sie bestehen nicht unverÈnderlich, weil sie Prozesse sind, und deshalb ist sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft eine Vielheit von Seiendem unmÚglich. Hieraus ergibt sich, dass alles, was die von der Gottheit nicht belehrten Menschen als real bezeichnen, nÈmlich VerÈnderliches, ›Namen‹ ohne %Bedeutung sind, Bezeichnungen, denen im Bereich des Seienden nichts entspricht. Hinsichtlich seiner Gestalt und seines inneren Zusammenhangs ist das Seiende vollkommen; daher ist die Gestalt des Seienden absolut ebenmÈßig. Absolutes Ebenmaß der Gestalt kommt nur der Kugel zu: Das Seiende ist kugelgestaltig. Nicht zu verkennen ist, dass die Argumentation oft kreisfÚrmig verlÈuft und die Kugelgestalt des Seienden nachahmt. Die Frage, was außerhalb des rÈumlich begrenzten Seienden sei, ist fÝr Parmenides sinnlos: Außerhalb des Seienden gibt es nichts, auch nicht den leeren Raum, den Parmenides anscheinend mit dem Nichts identifiziert. Diese nach modernem VerstÈndnis vielleicht befremdende Auskunft wird von %Platon und Aristoteles akzeptiert; die FixsternsphÈre als Grenze des %Kosmos ist kugelfÚrmig, außerhalb ihrer existiert nichts. Entsprechend allem, was Parmenides ausfÝhrt, ist das Seiende ein stereometrisches Gebilde, ein homogener KÚrper, der den gesamten %Raum ausfÝllt, nicht durch die Sinne fassbar ist und auch nicht durch menschliches %Denken erkannt werden kann, sofern es nicht von der Gottheit belehrt wurde; menschliches Denken ist immer an die Sinneswahrnehmung gebunden und kann sich ohne gÚttliche Hilfe nicht von ihr lÚsen. Weil transzendente Seinsregionen wie Platons Bereiche der hÚchsten %Prinzipien, der %Ideen und des mathematischen Seienden fÝr Parmenides noch nicht in Betracht kommen, kann das unverÈnderliche Seiende nur das Weltall sein, dieses aber nicht gemÈß seiner wahrnehmbaren %Erscheinung in Vielheit, Vereinzelung und VerÈnderung, sondern geschaut als zusammenhÈngende, homogene und unteilbare Einheit. Zu dieser Schau vermag menschliches Denken sich nur zu erheben, wenn ihm die Seinswahrheit von einer Gottheit geoffenbart wird; unbelehrtes Denken sieht statt des einen unverÈnderlichen Seienden die Vielheit der verÈnderlichen Dinge. Diese Trennung
von gÚttlichem und menschlichem Wissen ist schon in den homerischen Epen ausgeprÈgt und wird von Xenophanes, Heraklit und Alkmaion in das philosophische Denken Ýbergeleitet. Parmenides ist jedenfalls der Erste, welcher eine Antwort auf die Frage erteilt, weshalb menschliches Wissen ohne gÚttliche Offenbarung %Schein ist und woher der Schein stammt. Die Menschen halten das, was ihnen in der %Wahrnehmung erscheint, fÝr das Seiende; hierdurch wenden sie sich vom unverÈnderlichen Seienden ab und kehren sich dem Schein zu. Der Schein besteht darin, dass VerÈnderliches, Entstehendes und Vergehendes durch die Wahrnehmung als real erfasst wird und hierdurch den Schein des Seins erregt. VerÈnderliche Dinge aber sind nicht, weil sie nicht unverÈnderlich bestehen. Weil es den Menschen unmÚglich ist, sich ohne gÚttliche Offenbarung zum Seienden zu erheben, sind Meinen und Irrtum die notwendige Weise menschlichen Denkens. Die Wahrheit ist gÚttliches Wissen; sie wird den Menschen als Geschenk zuteil. Somit steht der Mensch nicht »je schon in der Wahrheit und Unwahrheit«, sondern als Mensch in der Unwahrheit; der Irrtum ist die notwendige Form menschlichen Denkens. Menschlicher Natur entspricht das Ansetzen einer Mehrheit von obersten Prinzipien anstelle des einen Seienden. Dieses stellt Parmenides im zweiten Teil seines Lehrgedichtes dar. Die Menschen setzen zwei Prinzipien fÝr den Bereich des VerÈnderlichen an, Licht und Nacht (Feuer und Erde in aristotelischer Diktion) und halten sie fÝr die RealitÈt. Hierdurch spalten sie die eine Wirklichkeit des Seienden in eine Zweiheit. Das Ergebnis der Spaltung ist nicht eine abbildhafte Welt gegenÝber dem %Urbild des Seienden, sondern die scheinbare RealitÈt, welche in keinem ontologischen Zusammenhang mit dem Seienden steht. Von der Wahrheit des Seienden her betrachtet ist die Spaltung illegitim, von menschlicher Erkenntnisweise aus erfolgt sie mit Notwendigkeit. Aus den beiden Prinzipien, welche als ElementarkÚrper aufzufassen sind, bestehen alle verÈnderlichen Dinge. Die wenigen Fragmente des zweiten Teiles lassen erkennen, dass nach der ErÚrterung der beiden ElementarkÚrper die Entstehung der einzelnen Dinge behandelt wird; im Einzelnen kommen zur Sprache das Werden des %Kosmos einschließlich der Sonne, des Mondes, der Sterne
Pascal, Blaise
und der Erde sowie das System der »StoffkrÈnze«, Ýber das jedoch nichts Sicheres gesagt werden kann. Auf die %Kosmogonie folgte vielleicht die Lehre von der Entstehung der GÚtter, von der ein Vers erhalten ist; an sie schloss sich die %Anthropologie an, von der einige Zeilen Ýberliefert sind, die unter anderem Aufschluss Ýber die Bedeutung der beiden ElementarkÚrper fÝr menschliches Denken geben. Der menschliche Leib ist eine Mischung der ElementarkÚrper; veranlasst wird die Mischung durch die alles lenkende GÚttin, die ihren Sitz inmitten der StoffkrÈnze hat und nicht mit der offenbarenden GÚttin identisch ist. Entsprechend der bei den einzelnen Menschen jeweils verschiedenen Mischung gestaltet sich das Denken, das keineswegs TÈtigkeit einer unstofflichen Geistseele, sondern Funktion des Leibes ist. GrÚßerer Anteil des Lichtelements bewirkt grÚßere Klarheit des Denkens, ohne dass hierdurch jemals eine Befreiung vom Irrtum, dem menschliches Denken verhaftet ist, ermÚglicht wÝrde. Hiermit bietet Parmenides eine physiologische Deutung eines PhÈnomens, das in archaischer Zeit Gegenstand der Reflexion wurde: Die Menschen sind nicht nur unfÈhig, ihr Èußeres Geschick zu bestimmen, sondern sie kÚnnen nicht einmal in ihrem Denken eine gerade Linie einhalten, weil sie der jeweils ohne ihr Zutun entstandenen Situation hilflos ausgeliefert sind.
Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von H. Diels / W. Kranz, Bd.1, 1989 [Nachdr. der 6. Aufl. Berlin 1952] J. Mansfeld, Die Vorsokratiker (Auswahl), Bd.1, Stutt gart 1983 The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts, hg. von G. S. Kirk / J. E. Raven / M. Schofield, 2. Aufl. Cambridge 1983 [dt. von K. HÝlser, Stuttgart 1994] W. RÚd, Geschichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike 1. Von Thales bis Demokrit, 2. Aufl. MÝnchen 1988 K. Bormann, Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten, Hamburg 1971 H. FrÈnkel, Wege und Formen frÝhgriechischen Den kens, MÝnchen 1955 O. Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides, 2. Aufl. Basel 1968 U. HÚlscher, Parmenides, Vom Wesen des Seienden, Frankfurt/M. 1969 J. Mansfeld, Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, Assen 1964 K. B.
171
Pascal, Blaise (1623–1662): FranzÚsischer Philosoph und Mathematiker, geb. am 19. 6. in Clermont, gest. am 19. 8. in Paris. Pascal ist wohl der Denker, bei dem scharfsinnigste %RationalitÈt und tiefe christliche FrÚmmigkeit am nachhaltigsten zusammengekommen und aufeinandergeprallt sind. Seine Ýberragenden geometrischen Entdeckungen stehen gleichrangig neben seinen Betrachtungen Ýber das VerhÈltnis des %Menschen zu %Gott und zur Unendlichkeit. In philosophischer Hinsicht hat sich Pascal vor allem zwei wichtige Aufgaben gestellt: die Verteidigung des modernen Augustinismus in der AusprÈgung des Jansenismus und die Apologie des Christentums Ýberhaupt. In den Provinciales Ýbernimmt er die doppelte Arbeit, rational und bisweilen ironisch, die jansenistische Position ihren Gegnern – vor allem Dominikanern und Jesuiten – darzulegen, um dann aber zum Angriff auf das in seinen Augen laue Christentum der Opponenten Ýberzugehen. Die Stoßrichtung Pascals ist durch die unterschiedliche Interpretation der gÚttlichen Gnade bestimmt. Er vertritt den Standpunkt der augenblicklichen Gnade (grÅce actuelle): Der Mensch kann zwar fÝr eine %Handlung mit der gÚttlichen Gnade versehen sein, fÝr eine andere kann sie ihm aber versagt bleiben. Daraus ergibt sich das fÝr ihn prÈgende Menschenbild des gerechten SÝnders (jÃste pecheur) der, auch wenn er Gott wohlgefÈllig sein will, sÝndigt, weil er handelt. Damit steht Pascal der herrschenden Lehrmeinung entgegen, der Mensch sei im Stande der andauernden Gnade (grÅce habituelle), er sÝndige manchmal, was aber dem Prinzip keinen Abbruch tue. Aufgrund dieser Position kann Pascal die laxe %Moral – vor allem der Jesuiten – kritisieren. Sein empfindlichstes Ziel ist dabei die Kasuistik, die es gestattet, alle SÝnder zu entschuldigen. Mit ihrem ausgeklÝgelten Probabilismus, dem die AutoritÈt eines einzigen Gelehrten genÝgt, um eine Meinung zu billigen, probabel zu machen, entgehen die AnhÈnger der Kasuistik jeder Pflichtenkollision. Letztlich geht es Pascal darum, die so mÚglich scheinende Àberlistung Gottes und seines Gerichtes abzuweisen. (Wirkungsgeschichtlich haben die Provinciales fÝr die kirchliche Verurteilung der kasuistischen Theologie mit den Ausschlag gegeben, ebenso fÝr das Verbot des jesuitischen Ordens durch den Papst.)
172
Pascal, Blaise
Zentral fÝr Pascals Gedankengang ist die ungeheure AbstÈndigkeit des Menschen von Gott, dessen %Wille nicht in einer bloßen %Analogie zum begrenzten menschlichen gedacht werden kann. Kein Christ soll sich vormachen, er kÚnne durch kluges oder gar moralisches Handeln die Gnade herbeizwingen. Diese GrundÝberzeugung ist es, die die ganzen Gedanken (Pens¹es), Pascals philosophisches Hauptwerk, durchzieht. Sie kÚnnen in all ihrer Vielschichtigkeit unter vier Themenkreise gebracht werden: 1. Der Mensch ist ohne Gott elend (misre). 2. GlÝckseligkeit des Menschen mit Gott. 3. Dass unsere %Natur verderbt ist. 4. Dass es einen Heiland (r¹parateur) gibt. Pascal kritisiert den Menschen in seiner Durchschnittlichkeit auf mehreren Ebenen: Im gesellschaftlichen Leben ist er den HinfÈlligkeiten der Eigenliebe, des Stolzes und der Eitelkeit ausgesetzt. Beim Betreiben der Wissenschaften enthÝllt sich deren eigene Nichtigkeit. In der Philosophie sind lauter IrrtÝmer, da sie die Frage nach der Natur des Menschen nicht zu lÚsen vermocht hat. So verfolgt Pascal seine These: Nach seinem Zweck (Gott) ist der Mensch groß und unvergleichlich, nach seinen Lebensgewohnheiten (Verwirklichung) ist er verworfen und nichtig. Es entsteht eine Welt zwischen zwei Extremen, die sich in der Natur spiegelt im VerhÈltnis des unendlich erweiterbaren Raums einerseits und der unendlichen Teilbarkeit der %Materie andererseits. Der Mensch befindet sich in einem Zwischen von All und %Nichts, von GrÚße und Elend. Dabei macht es gerade die GrÚße des Menschen aus, dass er in der Lage ist, sein Elend zu erkennen. Das Elend ist entstanden durch die ZerstÚrung der Einheit von KÚrper und %Geist als Folge des biblisch gedachten SÝndenfalls. Die Konsequenz, die Pascal daraus ziehen muss, lautet: Die Wiedervereinigung der menschlichen Extreme kann nur durch Gott geschehen. Zum Problem wird dabei, dass Gott radikal verborgen bleibt. Die %Vernunft kann hier nicht helfen, da sie die Grenzen der natÝrlichen %Ordnung nicht Ýbersteigen kann. Also, so folgert Pascal, muss der %Glaube als intuitive Kraft eingesetzt werden, um die LÝcke auszufÝllen. Die MerkwÝrdigkeit bei diesem Unterfangen ist, dass der Glaube durch Vernunft als notwendig bewiesen werden soll. Es muss zunÈchst bestimmt werden, was der Glaube eigentlich ist.
Pascal gibt dem Glauben die zunÈchst seltsam anmutende Gestalt einer Wette. Er, der sich selbst als Roulettetheoretiker hervorgetan hat, zeigt, dass man sich dieser Wette gar nicht entziehen kann, da es nur die beiden MÚglichkeiten gibt, darauf zu setzen, Gott als existent oder nicht-existent anzunehmen. Das Risiko besteht in dem, was eingesetzt werden muss, und in der Ungewissheit des Ausgangs. Der Mensch hat zweierlei zu verlieren: das Wahre und das %Gute, und zweierlei einzusetzen: Vernunft / Wille und %Erkenntnis / Seligkeit. Pascals These ist, dass bei einem Verlust der Wette nichts verloren geht, bei einem Gewinn jedoch alles gewonnen wird. Seine Argumentation, die eine Mischung aus mathematischer Kalkulation und bekehrungshaftem Appell ist, lÈuft daraus hinaus, dass es nur eine endliche Zahl von VerlustmÚglichkeiten gibt, die einer Gewinnchance gegenÝberstehen, die die Unendlichkeit eines unendlich glÝcklichen Lebens bedeutet. Das Paradoxon der GedankenfÝhrung liegt darin, dass mit Hilfe der Vernunft dargelegt werden soll, auf eben diese Vernunft zu verzichten und auf den Glauben zu setzen. Pascal treibt die Formulierung auf die Spitze, indem er die zum wirklichen Glauben Gekommenen als dumm bezeichnet. FÝr die moralische Seite der Bekehrung wird reklamiert, der GlÈubige werde treu, ehrbar, demÝtig, dankbar, wohltÈtig und ein aufrichtiger Freund sein; die aber, die weiterhin auf die Kraft ihrer begrenzten Vernunft setzen, verfallen der Ruhmsucht und den GenÝssen. Bei der Untersuchung dieser GenÝsse macht Pascal die Entdeckung, dass sie eine gemeinsame Quelle haben: die Langeweile (ennui). Um sich ihr zu entziehen, geben sich die Menschen der Zerstreuung (divertissement) hin. Die Langeweile ist der unertrÈglichste aller ZustÈnde, da in ihr das Nichts des Menschen, seine Verlassenheit, seine UnzulÈnglichkeit, seine AbhÈngigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere empfunden wird. Aus der Tiefe der Seele steigt die Langeweile unablÈssig auf und mit ihr die Verzweiflung. Pointiert stellt Pascal fest: Das ganze UnglÝck der Menschen beruht auf einer einzigen Ursache: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu kÚnnen. Um sich aus diesem elenden Zustand herauszureißen, zerstreuen und verstreuen sie sich in die verschiedensten AktivitÈten. Alle divertissements werden nicht um der Erreichung eines
Pascal, Blaise
angestrebten Zieles wegen gesucht, sondern es ist allein die Buntheit ihres Durcheinanderwirbelns, die es erlaubt, Ýber sich nicht nachdenken zu mÝssen. Pascal kritisiert zwar vordergrÝndig das Leben der hÚfischen Gesellschaft, die sich in JagdvergnÝgen und Billardspielen ergeht, meint aber alle Menschen, auch wenn die Zerstreuung bei den niederen StÈnden nicht so deutlich zu Tage tritt. Doch die Kritik bleibt nicht bei dieser Konstatierung stehen. Pascal wendet sich auch gegen die Philosophen, die auf ihre Art versucht haben, sich dem Problem zu stellen. Dazu bedient er sich einer von %Augustinus entlehnten Dreiteilung der Begehrlichkeiten: des Fleisches, der Augen und des Stolzes, die dem Leib, dem Geist und dem Willen korrespondieren. Die Stoßrichtung der Kritik geht gar nicht so sehr gegen die Fleischlichkeit, da sie als Gegner des Glaubens nicht fÝr so wichtig erachtet wird. Pascal zielt mehr auf den Geist, der der Erkenntnisgegenstand der Neugierigen und der Gelehrten ist, und auf den Willen, das VermÚgen, das die Weisen fÝr ihre Suche nach %Gerechtigkeit in Anspruch nehmen. Denn die Zerstreuungen sind nur ein Weg der Flucht vor der eigenen Leere. Auch das In-sich-Gehen der Philosophen – besonders der Stoiker – ist nur ein Irrweg, da der Mensch nicht die StÈrke hat, Ruhe in sich selbst zu finden. Pascal empfindet die BemÝhung der Philosophen, ein selbst gestaltetes Leben zu fÝhren, nicht nur als zu schwierig, sondern auch als eitel und anmaßend. Daraus folgt, dass das GlÝck allein in Gott ist. Genauso unbefriedigt zeigt sich Pascal bei der Betrachtung der mathematischen Wissenschaften, die er selbst so grÝndlich wie kaum ein Zweiter studiert hat. Sie sind dem Menschen nicht gemÈß und diejenigen, die sich darin auskennen, haben fast keine MÚglichkeit der Mitteilung. Was bleibt, ist die Erkenntnis der WidersprÝchlichkeit des Menschen: Einerseits blickt er in die UnergrÝndlichkeit seiner selbst, andererseits vermag ihn seine Vernunft nicht aus dem Elend seiner Verlassenheit zu ziehen. Ja, je mehr Einsicht man hat, desto mehr GrÚße und Niedrigkeit werden sichtbar. Besonders deutlich wird dies bei der Betrachtung des %Kosmos. Pascal erschaudert beim Anblick der furchtbaren RÈume des Weltalls, die ihn umschließen, da er sich an einen Winkel der unermesslichen
173
Ausdehnung gebunden findet, ohne zu wissen, warum er gerade an diesen Ort gestellt ist, noch warum die kurze Zeitspanne des Lebens gerade diesem Punkt der Ewigkeit zugeordnet ist. Eine Ewigkeit ist schon voraufgegangen, eine andere wird folgen. Pascal sieht auf allen Seiten nur Unendlichkeiten, die ihn umschließen wie ein Atom und einen Schatten, der einen Augenblick dauert und nicht wiederkehrt. Einzig gewiss ist die Tatsache, einen %Tod sterben zu mÝssen, von dem man am allerwenigsten weiß, außer dass er unabwendbar ist. Und auch damit ist kein Festpunkt erreicht, denn keiner kann im Voraus bestimmen, ob er beim Verlassen der Welt ins Nichts oder in die HÈnde eines erzÝrnten Gottes fÈllt. Pascal nimmt die kopernikanische Wende ernst, versucht ihr sogar im christlichen Sinne etwas abzugewinnen. Die Abwehrhaltung der dogmatischen Kirche hatte im heliozentrischen Weltbild eine Verzerrung des gÚttlichen SchÚpfungsgedankens gesehen, die den Menschen aus seiner ihm zukommenden Mitte des Alls vertreibt. Der Rationalist Pascal kann sich trotz aller FrÚmmigkeit nicht den Argumenten der neuen Astronomie verschließen. Doch er sieht in der EntrÝckung der Erde mit ihren Bewohnern in eine beliebige Weltgegend gerade eine BestÈtigung seiner eigenen religiÚsen Àberzeugung. Die aristotelisch-ptolemÈische Konstruktion des Geozentrismus hatte dem konservativen Klerus insofern in die HÈnde gespielt, als es hier stabile WeltverhÈltnisse gibt, die den Menschen zum Konzentrationspunkt der gÚttlichen Aufmerksamkeit machen. Von daher war es nicht schwer, die Lehre von der andauernden Gnade zu etablieren, da ein so ausgezeichnetes Wesen wie der Mensch von vornherein der Zuneigung des SchÚpfers sicher sein konnte. Hier verklammert Pascal sein von Augustinus bestimmtes Denken mit der modernen Naturwissenschaft: Wenn der Mensch schon in einem Irgendwo des unendlichen Universums lebt, warum soll dann gerade er die Gewissheit gÚttlicher Gnade besitzen? Die Beliebigkeit des Ortes und der Zeitspanne in der doppelten Unendlichkeit von Raum und Ewigkeit macht Gott nicht zu einem berechenbaren Richter, dessen Gnade erwirkt werden kann, sondern bestÈtigt gerade den biblischen Ausdruck vom ›verborgenen Gott‹ (deus absconditus). Diesem kann der Mensch mit sei-
174
Peirce, Charles Sanders
ner Vernunft so wenig abringen, dass es einer anderen Instanz bedarf, um nicht in der unendlichen Ausgedehntheit des Alls und der unendlichen Leere der zerstreuenden AktivitÈten zu ertrinken. Durch die Verborgenheit ist Gott aller metaphysischen Spekulation entzogen. Die Logik der Vernunft reicht nicht hin; so setzt Pascal ihr die »Logik des Herzens« entgegen, d. h. die unerschÝtterliche %Gewissheit des Glaubens. Das in seinem Rockfutter aufgefundene Memorial – ein einzelnes Blatt – sagt deutlich, was ihm diese bedeutet. Wider alle Vernunft bekennt sich Pascal zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Nicht der bewiesene Gott der Philosophen und Gelehrten ist der Gegenstand seiner Anbetung, sondern der sich durch die Schrift bekundende Gott, der ihm die Glaubensgewissheit gibt, die alle Unruhe im Herzen auslÚscht. Der Mathematiker und Rationalist Pascal wird so zum Interpreten und Kommentator der Bibel. Dabei argumentiert er historisch: WÈhrend die Philosophen sich in die verschiedensten Sekten gespalten haben, finden sich in einem Winkel der Welt Menschen, die erklÈren, dass die ganze Welt im Irrtum ist, dass Gott ihnen die %Wahrheit geoffenbart hat und dass diese Wahrheit immer gÝltig sein wird. Das jÝdische Volk ist somit der Verwalter der Wahrheit, zumal Pascal annimmt, dass es sich um das Èlteste der Welt handelt. Doch ist damit noch nicht das Ziel erreicht: Pascal versucht, den unÝberbietbaren Vorrang des Christentums gegenÝber dem jÝdischen Glauben und dem Islam darzulegen. Drehund Angelpunkt wird Jesus in seiner Einzigartigkeit. Er befreit die Menschen nicht als mÈchtiger Herrscher, der in seinem Reiche der Heiligkeit glÈnzt, sondern als ein besonderer KÚnig: mit dem Glanze seiner Ordnung. Diese Ordnung ist die der %Liebe, die unendlich hÚher steht als alle KÚrper, Geister und deren Hervorbringungen. Aus allen KÚrpern zusammen kann man nicht den kleinsten Gedanken hervorbringen, denn das ist unmÚglich und steht in einer anderen Ordnung. Genauso wenig kann man aus allen KÚrpern und Geistern eine Regung der wahren Liebe erzeugen; das ist unmÚglich und steht in einer anderen Ordnung. Die Konsequenzen, die Pascal daraus zieht, sind hart: Jesus hat die Menschen darÝber aufgeklÈrt, dass sie in Eigenliebe verstrickt sind, als Sklaven ihrer Leidenschaften leben, und daher als Blinde, Kranke
und SÝnder erlÚsungsbedÝrftig sind. Die Verwirklichung seiner Befreiung besteht in Selbsthass und Nachfolge in Leiden und Kreuzestod. In seiner Herzensgewissheit folgert Pascal weiter, dass der Mensch ohne Jesus notwendigerweise in Laster und Elend lebt, mit ihm aber davon frei sei. In seiner radikalen Abkehr von der Vernunft erklÈrt er, Jesus sei gekommen, um die Klarsehenden zu verblenden und die Blinden sehend zu machen, die SÝnder zu rechtfertigen und die Gerechten in ihren SÝnden zu belassen. Die einzige MÚglichkeit, die wahre Ordnung wieder herzustellen, ist das Mysterium der Buße. Die schroffe Einteilung in Hass gegen sich selbst und Liebe gegenÝber Gott fÝhrt zu einer Weltabgewandtheit, wie sie von demjenigen verlangt wird, der es ertragen muss, allein in seinem Zimmer zu sitzen. Pascals unerbittliche Strenge Ýbertrifft jede moralistische %Skepsis gegenÝber der %Tugend, wie sie von vielen Philosophen – ob von Augustinus beeinflusst oder nicht – vorgetragen worden ist. Der forschende Blick ins eigene %Ich verfÈllt dem Verdikt der neugierigen Selbstbespiegelung und ist deshalb nicht besser als andere Formen der Zerstreuung. Insofern ist es nicht richtig, in Pascal einen Wegbereiter der Psychologie zu sehen. Sein Ansatz ist von vornherein schon so auf eine bestimmte Auslegung der christlichen Lehre gerichtet, dass es ihm fern liegt, die feinen VerÈstelungen der menschlichen Seele zu beleuchten. Ihm geht es allein um das Faktum der inneren Leere, die notwendigerweise der FÝlle der gÚttlichen Gnade bedarf. Die ReligiositÈt wird so zur einzig anerkennenswerten Lebensweise ohne Ansehung aller Tugendhaftigkeit. L. Brunschvicg, Blaise Pascal, Paris 1953 M. Heess, Blaise Pascal, MÝnchen 1977 H. Loeffel, Blaise Pascal, Basel 1987 E. Montier, Blaise Pascal, DÝsseldorf 1949 W. Schmidt Biggemann, Blaise Pascal, Paris / MÝnchen 1999 A. P.
Peirce, Charles Sanders (1839–1914): Geboren am 10. 9. in Cambridge/Mass., gestorben am 19. 4. in Milford/Pa. Peirce gilt als einer der wichtigsten Philosophen seiner Zeit. Zwar ist er hauptsÈchlich als BegrÝnder des philosophischen %Pragmatismus bekannt geworden, aber
Peirce, Charles Sanders
er hat daneben auch bedeutende physikalische und logische Untersuchungen durchgefÝhrt. Beispielsweise befasste er sich mit der %empirischen Bestimmung der Gravitationskonstanten, fÝhrte Morgans Relationenlogik weiter und entwickelte unabhÈngig von %Frege ebenfalls die Quantorenlogik. Im Mittelpunkt von Peirces philosophischem Interesse stehen erkenntnistheoretische Fragen, die die Erkennbarkeit der %RealitÈt und die allgemeine GÝltigkeit des synthetischen Schließens betreffen. In den Illustrations of the Logic of Science (1877/78) unterscheidet er zwischen %Zweifel und Àberzeugung als den beiden GrundzustÈnden, in denen sich Erkenntnissubjekte befinden kÚnnen. Der Zweifel ist Peirce zufolge der Ausgangspunkt jeder Untersuchung. Die Funktion des %Denkens soll darin bestehen, diesen Zustand zu beenden und den Zustand der Àberzeugung herbeizufÝhren. Allerdings kann laut Peirce nur ein wirklicher und lebendiger Zweifel zum Anlass fÝr Untersuchungen werden. Er lehnt daher die von %Descartes mit der Theorie des methodischen Zweifels vertretene Auffassung ab, dass dazu bereits die bloße MÚglichkeit des Zweifels ausreichen soll. Peirce untersucht verschiedene Methoden zur Festlegung von Àberzeugungen und kommt zu dem Ergebnis, dass ein Verfahren, das er als »Methode der Wissenschaft« bezeichnet, am besten geeignet ist, weil allein diese %Methode dazu in der Lage sein soll, langfristig stabile Àberzeugungen einzurichten. Das Hauptmerkmal der Methode der Wissenschaft besteht darin, dass Àberzeugungen an der RealitÈt getestet werden. Diese Methode ist daher dadurch gekennzeichnet, dass sie die Annahme einer von den Àberzeugungen einzelner Erkenntnissubjekte unabhÈngigen und prinzipiell erkennbaren RealitÈt voraussetzt. Da es Peirce zufolge keine vernÝnftige Alternative zur Methode der %Wissenschaft gibt, folgert er, dass man die mit ihr verbundene RealitÈtskonzeption akzeptieren muss. Weiterhin argumentiert Peirce dafÝr, dass die Anwendung der Methode der Wissenschaft langfristig zur Konvergenz der Àberzeugungen einzelner Erkenntnissubjekte fÝhrt und dass der Konvergenzpunkt dieser Entwicklung die wahre Gesamttheorie der RealitÈt ist. Diese Theorie ist allerdings ein Ideal, an das man sich zwar beliebig annÈhern kann, das aber selber nicht er-
175
reichbar ist. Der Grund dafÝr liegt in Peirces Fallibilismus, wonach sich jede fÝr wahr gehaltenen Aussage im Zuge weiterer Untersuchungen als falsch herausstellen kann. Es kann daher keine Aussagen geben, deren %Wahrheit absolut gesichert ist, und die mit Recht als gewiss angesehen werden kÚnnen. Aus diesem Grund ist es prinzipiell nicht mÚglich zu entscheiden, ob man die wahre Gesamttheorie erreicht hat oder nicht. Peirce wendet sich damit gegen Descartes’ Auffassung, dass %Wissen %Gewissheit voraussetzt. Stattdessen vertritt er im Rahmen seines kritischen commonsensism die Position, dass wir nicht nach Wissen streben sollen, an dem kein Zweifel mÚglich ist, sondern dass wir uns um Àberzeugungen bemÝhen sollen, die unsere gegenwÈrtigen Zweifel beseitigen, die wir aber jederzeit erneuten Tests unterziehen und kritisch reflektieren kÚnnen. Die Konzeption der wahren Gesamttheorie der RealitÈt als idealem Konvergenzpunkt aller ForschungsbemÝhungen wird von Peirce zum einen dazu verwendet, um das Kriterium fÝr die Wahrheit von %Aussagen zu definieren. Danach ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie Bestandteil der idealen Gesamttheorie ist. Da Peirce ein kumulatives Modell des wissenschaftlichen Fortschritts zugrunde legt, wird mit diesem Kriterium nicht ausgeschlossen, dass wir bereits in der Gegenwart Ýber wahre Aussagen verfÝgen kÚnnen. Zum anderen zieht er die Konzeption der idealen Gesamttheorie auch zur Bestimmung des RealitÈtsbegriffs heran. Demzufolge ist eine %EntitÈt genau dann real, wenn ihre RealitÈt im Rahmen der idealen Gesamttheorie behauptet wird. Peirces %Erkenntnistheorie ist unter anderem in dem Punkt von den Theorien %Berkeleys und %Kants beeinflusst, dass er ebenso wie sie die Annahme prinzipiell unerkennbarer realer EntitÈten ablehnt. Indem er die Annahme einer prinzipiell erkennbaren RealitÈt als notwendige Voraussetzung der Methode der Wissenschaft rechtfertigt, verfÝgt er Ýber ein Argument gegen die Annahme solcher unerkennbarer Dinge an sich. Peirce unterscheidet beispielsweise in den Harvard- und Lowell-Vorlesungen (1865/66) drei Schlussformen, die er als %Deduktion, %Induktion und %Abduktion (bzw. Hypothese) bezeichnet. Von diesen sind vor allem die beiden letztgenannten synthetischen Schlussformen fÝr die
176
Peirce, Charles Sanders
empirischen Wissenschaften von Bedeutung, weil nur mit ihrer Hilfe Wissen Ýber die RealitÈt erworben und begrÝndet werden kann. Induktionen sind %SchlÝsse von singulÈren Aussagen wie zum Beispiel ›x ist ein Schwan und weiß‹ und ›y ist ein Schwan und weiß‹ auf allgemeine Aussagen wie ›Alle SchwÈne sind weiß‹. Beim abduktiven Schließen wird ausgehend von einer einzelnen Beobachtung wie beispielsweise ›Sokrates kann sprechen‹ und einer allgemeinen GesetzmÈßigkeit wie ›Alle Menschen kÚnnen sprechen‹ auf einen hypothetischen Grund (oder eine Ursache) wie zum Beispiel ›Sokrates ist ein Mensch‹ geschlossen. Abduktion ist also das, was in der Wissenschaftstheorie als ›Schluss auf die beste ErklÈrung‹ bezeichnet wird. Im Unterschied zu deduktiven SchlÝssen, die nicht gehaltserweiternd und daher wahrheitskonservierend sind, gilt fÝr induktive und abduktive SchlÝsse, dass sie gehaltserweiternd sind (d. h. die Konklusionen solcher synthetischer SchlÝsse machen Aussagen Ýber grÚßere Gegenstandsbereiche als die ihnen zugrunde liegenden PrÈmissen) und daher nicht wahrheitskonservierend sein kÚnnen. Induktive und abduktive SchlÝsse kÚnnen deshalb auch dann zu falschen Konklusionen fÝhren, wenn sie formal korrekt durchgefÝhrt werden. Damit stellt sich fÝr Peirce die Frage, auf welche Weise gerechtfertigt werden kann, dass es trotzdem rational ist, induktive und abduktive SchlÝsse zum Erwerb und zur BegrÝndung empirischen Wissens in Anspruch zu nehmen. Im Unterschied zu %Hume, der sich allein mit dem induktiven Schließen befasst, geht es Peirce nicht um die Frage, ob es einen Grund fÝr die allgemeine GÝltigkeit der synthetischen Schlussformen Induktion und Abduktion gibt. Vielmehr setzt er voraus, dass es einen solchen Geltungsgrund gibt, und es geht ihm allein darum, diesen Grund zu identifizieren. Die Frage nach diesem Geltungsgrund wird von Peirce allerdings in verschiedenen AnsÈtzen unterschiedlich beantwortet. WÈhrend er sich dazu in den frÝheren und mittleren Arbeiten hauptsÈchlich auf seine RealitÈtskonzeption stÝtzt und behauptet, dass wir im Zuge der Anwendung der Methode der Wissenschaft gar nicht umhin kÚnnen, eine mit Hilfe der synthetischen Schlussformen erkennbare RealitÈt anzunehmen, stÝtzt er sich in spÈteren Arbeiten vor allem auf die These, dass indukti-
ves Schließen auf lange Sicht selbstkorrigierend ist. Die zentrale Fragestellung der ontologischen Àberlegungen von Peirce ist die Frage nach den metaphysischen Grundlagen der Naturwissenschaften. Mit der Frage, welche metaphysischen Annahmen zugrunde gelegt werden mÝssen, damit naturwissenschaftliche Forschung als ein sinnvolles Unternehmen angesehen werden kann, befasst er sich besonders ausfÝhrlich in einer Reihe von AufsÈtzen in der Zeitschrift The Monist (1891/92). Er argumentiert dort dafÝr, dass empirische Untersuchungen beispielsweise die RealitÈt allgemeiner GesetzmÈßigkeiten und natÝrlicher Arten implizit voraussetzen und dass daher die RealitÈt solcher abstrakter GegenstÈnde bzw. Universalien angenommen werden muss. Peirces ontologische Position ist wesentlich durch die Auseinandersetzung mit der scholastischen Philosophie und insbesondere mit der Konzeption von Duns Scotus geprÈgt, von dem er die These Ýbernimmt, dass zwischen Universalien und konkreten, individuellen EntitÈten kein realer, sondern ein formaler Unterschied besteht. Das heißt, die Unterscheidung zwischen Universalien und Individuen beschreibt keine Differenz zwischen grundsÈtzlich verschiedenen Typen von EntitÈten. Stattdessen wird Peirce und Duns Scotus zufolge mit dieser Unterscheidung beschrieben, in welcher Beziehung bestimmte EntitÈten zum menschlichen Geist stehen. Wenn sie aktuell GegenstÈnde der Erkenntnis sind und in diesem Sinne als ›im Geist befindlich‹ angesehen werden, dann existieren EntitÈten nur als etwas %Allgemeines bzw. als Universalien. Denn laut Peirce kann der %Geist nur Allgemeines vorstellen, weil er ausschließlich mit allgemeinen %Zeichen operiert. Mit Bezug auf Eigenschaften bedeutet dies, dass beispielsweise Eigenschaften als vorgestellte Eigenschaften nur als etwas Allgemeines wie ›RÚte‹ existieren kÚnnen. Wird bei EntitÈten hingegen von ihrer Beziehung zum Geist abstrahiert, und existieren sie in diesem Sinne ›außerhalb des Geistes‹, dann kÚnnen sie nur als Individuen real sein. Außerhalb des Geistes kÚnnen Eigenschaften demnach nur als konkrete Instanzen wie beispielsweise als ein individuelles Rot real sein. Peirces universalienrealistische Ontologie steht daher nicht nur in Beziehung zu seinen
Peirce, Charles Sanders
Àberlegungen Ýber die metaphysischen Voraussetzungen der Wissenschaften, sondern ihr liegen ebenfalls Annahmen seiner Theorie des Geistes zugrunde. Seine zeichentheoretische Konzeption des Geistes entwickelt Peirce in kritischer Auseinandersetzung mit der Position von Descartes. Erstens bestreitet Peirce die MÚglichkeit jeder Form introspektiven Wissens Ýber die eigenen mentalen ZustÈnde. Stattdessen vertritt er die These, dass generell Annahmen Ýber mentale EntitÈten und ZustÈnde ausschließlich als %Hypothesen zur %ErklÈrung intersubjektiv zugÈnglicher PhÈnomene wie beobachtbarem Verhalten aufgestellt werden dÝrfen. Im Unterschied zu Descartes behauptet Peirce daher, dass empirisches %Selbstbewusstsein nicht auf Introspektion, sondern auf der Beobachtung des eigenen Verhaltens beruht. Zweitens lassen sich laut Peirce alle kognitiven Prozesse als Folgen von SchlÝssen beschreiben. Drittens soll alles Denken an Zeichen gebunden sein. Da sich Zeichen nach Peirces Konzeption prinzipiell nur durch die Vermittlung anderer Zeichen: ihrer Interpretanten, reprÈsentierend auf Objekte beziehen kÚnnen, folgt daraus, dass sich auch das Denken grundsÈtzlich nicht direkt, sondern nur vermittelt auf die bewusstseinsexterne Wirklichkeit beziehen kann. Jedes Zeichen bzw. jede ReprÈsentation weist nach Peirce (in degenerierter oder nicht degenerierter Form) die folgenden drei Grundrelationen auf: 1. Jedes Zeichen steht fÝr bestimmte ReprÈsentationsobjekte. 2. Jedes Zeichen reprÈsentiert Objekte in inhaltlich bestimmter Hinsicht. 3. Jedes Zeichen bezieht sich auf ein anderes Zeichen, das sein Interpretant ist. Aufgrund dieser drei Grundrelationen ist ReprÈsentation eine dreistellige Relation: Ein Zeichen reprÈsentiert ein Objekt (1) als etwas Bestimmtes (2) fÝr ein interpretierendes Zeichen bzw. Interpretanten (3). Peirce unterscheidet grundsÈtzlich drei Typen von Zeichen: a) Kopien sind bildhafte bzw. ikonische ReprÈsentationen, die ihre Objekte aufgrund von hnlichkeitsrelationen reprÈsentieren, die zwischen der ReprÈsentation und dem ReprÈsentationsobjekt bestehen. Kopien reprÈsentieren kein bestimmtes Objekt, sondern alle mÚglichen Objekte, weil alle in unterschiedlichem Grad in hnlichkeitsbeziehungen zueinander stehen und damit keine scharfe Abgren-
177
zung mÚglich ist. Aus diesem Grund behauptet Peirce, dass Kopien zwar bestimmte PrÈdikate konnotieren, aber keine bestimmten Dinge denotieren. Kopien sind daher Zeichen, die hinsichtlich der ersten Grundrelation degeneriert sind. b) Indexikalische Zeichen sind ReprÈsentationen, die nur aufgrund konventioneller Festlegung Objekte reprÈsentieren. Zu diesen Zeichen zÈhlt Peirce beispielsweise intensionslose Individuenkonstanten wie Eigennamen. Indexikalische Zeichen denotieren daher Objekte, aber sie konnotieren keine %PrÈdikate. Sie sind daher hinsichtlich der zweiten Grundrelation degeneriert. c) %Symbole sind begriffliche ReprÈsentationen, zu denen Peirce %Begriffe, %Aussagen und %Argumente rechnet. Symbole zeichnen sich gegenÝber den beiden anderen Zeichentypen dadurch aus, dass bei ihnen alle drei Grundrelationen voll entwickelt sind. Sie reprÈsentieren Objekte, indem durch ihre Bedeutung (%Intension) festgelegt wird, welche Objekte zu ihrem Umfang (%Extension) gehÚren. Zum BegrÝnder des Pragmatismus wurde Peirce durch die »pragmatische Maxime«, die er zum ersten Mal in dem Aufsatz How to Make Our Ideas Clear (1878) formulierte. Bekanntheit erlangte diese Maxime vor allem durch die populÈre Interpretation von %James. Peirce stellt mit der pragmatischen %Maxime ein Kriterium zur Identifikation der Bedeutung von Begriffen auf, das allerdings mehrdeutig ist. Es ist am plausibelsten, die erste Version der pragmatischen Maxime im Sinne eines empiristischen Bedeutungskriteriums zu interpretieren, wonach man die Bedeutung eines Begriffes vollstÈndig erfasst hat, wenn man weiß, auf welche sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften er sich bezieht. In spÈteren Versionen vertritt Peirce die Position, dass man gemÈß der pragmatischen Maxime die Bedeutung eines Begriffs vollstÈndig kennt, wenn man weiß, welche Handlungsregeln dieser Begriff involviert. Aber auch hier gibt es zwei konkurrierende Interpretationen. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Beschreibung der betreffenden Handlungsregeln. GemÈß der operationalistischen Interpretation bestehen die Handlungsregeln in experimentellen Anleitungen zur Herstellung wahrnehmbarer PhÈnomene. Um die Bedeutung eines Begriffs P zu identifizieren, ist es danach erforderlich, als Handlungsregeln konditionale Aussagen des folgen-
178
Platon von Athen
den Typs aufzustellen: Wenn man auf den Gegenstand x, auf den das PrÈdikat P zutrifft, eine Handlung vom Typ H ausÝbt, dann kann als Folge dieser Handlung wahrgenommen werden, dass p. (p bezeichnet in diesem Zusammenhang ein wahrnehmbares Ereignis, dessen Eintreten als Folge bestimmter Handlungen erwartet wird.) Man kennt demnach zum Beispiel die Bedeutung des Begriffs ›hart‹, wenn man weiß, welche Effekte beobachtet werden kÚnnen, wenn man harte GegenstÈnde bestimmten HÈrtetests unterzieht. Hingegen muss man nach der praktikalistischen Interpretation zur Identifikation der Bedeutung eines Begriffs P als Handlungsregeln konditionale Aussagen der folgenden allgemeinen Form aufstellen: Wenn man will, dass p, dann muss man mit einem Gegenstand x, auf den das PrÈdikat P zutrifft, eine Handlung vom Typ H ausÝben. (p bezeichnet hier einen intendierten Sachverhalt.) Danach kennt man die Bedeutung des Begriffs ›hart‹, wenn man weiß, welche Ziele mit Hilfe harter GegenstÈnde realisiert werden kÚnnen. Die Bedeutung von Begriffen lÈsst sich nach dieser Interpretation auch unter Bezug auf Handlungsregeln bestimmen, die fÝr die LebensfÝhrung relevant sind. C. Hookway, Peirce, London / New York 1985 F. Kuhn, Ein anderes Bild des Pragmatismus, Frank furt/M. 1996 K. Oehler, Charles Sanders Peirce, MÝnchen 1993 R. Sch:
Platon von Athen (427 bis 348/347): Schloss sich wohl 407 %Sokrates an, der mit Ausnahme der Gesetze in allen Werken Platons am GesprÈch mehr oder weniger beteiligt ist. Die Schriften, zu denen die Referate Ýber Platons innerakademische VortrÈge (= Ungeschriebene Lehren) eine wichtige ErgÈnzung darstellen, weil sie Aufschluss Ýber Platons Prinzipienlehre gewÈhren, wenden sich an ein gebildetes Publikum und wollen zur philosophischen Problematik und Lebensweise hinfÝhren, was mit sich bringt, dass Platon von seinen Lehren jeweils nur soviel vortrÈgt, wie fÝr sein Vorhaben erforderlich ist. Die Hauptthemen der frÝhen Schriften bilden Fragen nach dem Wesen der ethischen Vortrefflichkeit (arete) und ihrer Lehrbarkeit. Zu einer positiven Beantwortung kommt es nicht; falsche Begriffsbestimmungen werden abgelehnt, die
GesprÈche enden in der %Aporie, wenngleich Hinweise auf die richtige LÚsung nicht fehlen. An manchen Stellen zeigt sich, dass nicht Weniges im Ansatz vorweggenommen ist, was spÈter ausgestaltet wird. Das gilt auch fÝr die Ideenlehre, die fÝr alle seine Schriften charakteristisch ist. Breiten Raum nimmt in Platons frÝhen Dialogen die Auseinandersetzung mit den %Sophisten ein. Da diese sich fÝr ihre LehrtÈtigkeit bezahlen lassen, wirft Platon ihnen vor, sie seien eine Art von HÈndlern und verkauften GÝter, von denen sich die %Seele nÈhrt; das angebliche Wissen, das sie ihren SchÝlern vermitteln wollten, sei Scheinwissen; zudem hÈtten die Sophisten kein Interesse an der Wahrheitsfindung, seien deshalb zu einem philosophischen GesprÈch untauglich und verwendeten die Rhetorik ausschließlich zum persÚnlichen Vorteil. Philosophie hingegen bedeutet Streben nach Einsicht in das, was ist. Unter dem, was ist, oder dem Seienden sind nicht die GegenstÈnde der Sinneswahrnehmung zu verstehen; %Sein bedeutet bei Platon ebenso wie bei %Parmenides ›unverÈnderlich bestehen‹. Zu diesem unverÈnderlich Bestehenden dringen wir niemals mit Hilfe der Sinneswahrnehmung vor, sondern nur durch intuitive Vernunfteinsicht, die sich von der Sinneswahrnehmung und allen Begierden und Affekten des Leibes freimacht. Befreiung der Seele vom %Leib ist Sterben. Philosophie als Streben nach Seinserkenntnis ist also Streben nach dem %Tod. Solange die Seele mit dem Leib verbunden ist, sind wir zwar der %Erkenntnis des Seienden am nÈchsten, wenn die Seele soweit wie mÚglich die Gemeinschaft mit dem Leib aufgibt; aber die mit dem Leib vereinigte Seele kann sich, solange sie mit dem Leib vereinigt ist, nie so auf sich zurÝckziehen, dass die Gemeinschaft mit dem Leib nicht mehr besteht. VÚllige Erkenntnis des Seienden ist erst dann mÚglich, wenn die Seele nicht mehr mit dem Leib vereinigt ist, d. h. nach dem physischen Tod. Hieraus darf nicht gefolgert werden, der Philosoph solle sich selbst umbringen, um die erstrebte Vernunftschau mÚglichst schnell zu erlangen. Dass die Seele in den Leib gleichsam eingekerkert ist, beruht auf einer Ýbermenschlichen, einer gÚttlichen VerfÝgung; daher muss sie so lange im KÚrper verweilen, bis die GÚtter verfÝgen, dass sie aus ihm befreit wird. Philosophie als Streben nach dem Tod ist zugleich Streben nach
Platon von Athen
Angleichung an das ImmerwÈhrende, UnverÈnderliche, Ýber das Menschen keine Gewalt besitzen, an das GÚttliche (gÚttlich heißt alles, das menschlicher VerfÝgungsgewalt entzogen ist). Also ist Philosophie Angleichung an das GÚttliche. Die so verstandene Philosophie entfaltet sich in vier Bereichen: Seinslehre, %Anthropologie, Staatslehre, %Kosmologie. Seinslehre: Dass Platon unverÈnderlich Seiendes, die %Ideen ansetzt, ergibt sich aus dem Problem allgemein gÝltiger %Aussagen. Allgemein gÝltige Aussagen haben weder in der Sinneswahrnehmung, die es stets mit VerÈnderlichem zu tun hat, noch in den sich wandelnden Meinungen der Menschen einen Halt. Andererseits gibt es allgemein gÝltige Aussagen; als Beispiel diene der Satz 7 + 5 = 12. Dieser Satz ist innerhalb eines dekadischen Zahlensystems unverÈnderlich wahr. Also muss auch der in diesem Satz ausgesagte Sachverhalt unverÈnderlich sein. Da es in der verÈnderlichen Welt nichts UnverÈnderliches gibt, besteht das UnverÈnderliche nicht in %Raum und %Zeit, sondern getrennt von ihnen. Zwar ist das Mathematische unverÈnderlich und somit unentstanden und unvergÈnglich, aber innerhalb des Mathematischen gibt es viel Gleichartiges und dieses Gleichartige ermÚglicht es dem Mathematiker, in der Arithmetik, Geometrie, Stereometrie (von der Platon jedoch sagt, sie sei noch sehr wenig entwickelt), Astronomie und Harmonielehre, deren Gegenstand vornehmlich die SphÈrenharmonie ist, seine Berechnungen durchzufÝhren. Mathematische Erkenntnis Ýbersteigt die Sinneswahrnehmung, kann sich aber nicht gÈnzlich von ihr lÚsen, weil diskursiv-mathematisches Denken, von Platon dianoia genannt, immer an die Vorstellungskraft gebunden bleibt. Deswegen ist mathematische Erkenntnis nicht das von jeder Sinneswahrnehmung gelÚste reine Denken. Intuitive Vernunftschau (noesis) transzendiert nicht nur die Sinneswahrnehmung, sondern auch die dianoia und ihren Bereich; sie dringt im Ausgang vom Mathematischen, das ihr als »Stufen und Ausgangspunkte« (hypotheseis) dient, in den Bereich der an sich bestehenden Wesenheiten (Ideen) vor. SeinsmÈßig unterscheiden sich die Ideen vom Mathematischen dadurch, dass jede Idee einmalig und unwiederholbar ist und es bei den Ideen keine Gleichartigkeit wie im Mathematischen gibt. Die durch die Sinne erfahrbare
179
%Welt verhÈlt sich zu den Ideen wie das %Abbild zum %Urbild, woraus sich ergibt, dass in den Ideen in urbildhafter Weise alles enthalten ist, was die Dinge der Erfahrungswelt in der Weise von Abbildern sind. Alle %Gattungen und Arten der Erfahrungswelt sind jeweils durch Teilhabe an einer Idee konstituiert; jedes %Individuum einer Art hat darÝber hinaus jeweils an so vielen Ideen teil, wie es Eigenschaften besitzt. Hierbei ist wesentliche und unwesentliche Teilhabe zu unterscheiden. Teilhabe ist bildhafter Ausdruck dafÝr, dass die Ideen die KrÈfte sind, welche die erfahrbaren Dinge formen, und dass diese, solange sie existieren, in Beziehung zu den Ideen stehen. Eine Idee ist immer dann anzusetzen, wenn das Denken eine Einheit in der Vielheit erfasst, woraus sich ergibt, dass es Ideen nicht nur der Naturdinge und des ethischen und Èsthetischen Bereichs gibt, sondern auch von Produkten der %Kunst und %Technik, weiterhin von HÈsslichem, SchÈdlichem und BÚsem. Die Ideen selbst stehen in vielfÈltigen Beziehungen zueinander; Ýbergeordnete Ideen enthalten in sich die gesamte SeinsfÝlle der untergeordneten. Zehn hÚchste Ideen entsprechend der ersten Dekade der natÝrlichen Zahlen, nahm Platon an, ferner gibt es grÚßte Seinsbereiche, von denen er sechs nennt: Seiendes, Ruhe, Bewegung (= Relation der Ideen zueinander), IdentitÈt, Andersheit, Proportion. Leben und Denken kommen der Ideenwelt in eminenter Weise zu. Absolut hÚchstes %Prinzip, das sogar den Ideenkosmos transzendiert, ist das %Gute oder Eine; ihm steht das Vielheitsprinzip, die unbegrenzte Zweiheit, gegenÝber. Die Methode der Ideenerkenntnis ist die %Dialektik, die vom Mathematischen ausgehend in die Ideenwelt vordringt und im zergliedernden (dihairetischen) Abstieg in der Ideenregion verweilt; die gewonnenen Einsichten werden freilich in der Sprache der dianoia formuliert, die uns Menschen gemÈß ist. Das hÚchste Prinzip kann nur durch Verneinungen umschrieben werden; auch ›Gutes‹ und ›Eines‹ bezeichnen es nicht adÈquat. Mit dem Phaidon liegt die Ideenlehre vollstÈndig vor; in den spÈteren Schriften werden Teilprobleme geklÈrt. Anthropologie: Schon in den FrÝhschriften gilt die Frage nach der Beschaffenheit der Seele, die der eigentliche Mensch ist, als eine der wichtigsten philosophischen Fragen; zu einem eigenen Thema wird sie im Zusammenhang mit
180
Platon von Athen
der Ideenlehre. Die Ideen kÚnnen nur durch etwas erkannt werden, das ihnen Èhnlich und verwandt ist. Das bedeutet nicht, dass die Seele eine Idee ist, sondern dass sie wie die Ideen ewig ist, sowie vor der Verbindung mit einem menschlichen oder tierischen Leib entsprechend ihrer Wahl und nach der Trennung von ihm existiert. Dem Nachweis dieses Sachverhalts sind umfangreiche Teile der platonischen Schriften gewidmet. Alles Lernen im Bereich der Mathematik, der Ideen- und Prinzipienlehre ist Wiedererinnerung (anamnesis) an das, was die Seele vor dem Eintritt in den Leib geschaut hat. Wenn die Seele sich fortwÈhrend dem UnverÈnderlichen zuwendet und sich hierdurch Ýber die KÚrperwelt erhebt, stÚßt sie nach dem leiblichen Tod die ZusÈtze ab, die sich aufgrund der Vereinigung mit dem Leib an ihr festsetzen, nÈmlich den mutig-zornigen und den begehrenden Seelenteil. Diese beiden vernunftlosen Seelenteile sind das Sterbliche an der Seele, das indessen so an ihr haften kann, dass die Seele bei der Trennung vom Leib nicht von ihm frei wird. WÈhrend der Vereinigung mit dem Leib ist fÝr den besten Zustand, fÝr die arete der Seele zu sorgen: Wenn der vernÝnftige Seelenteil weise, tapfer und besonnen, der mutig-zornige tapfer und besonnen, der begehrende besonnen ist, ist die Seele als Ganze gerecht. %Gerechtigkeit als umfassende ethische Vortrefflichkeit bedeutet: »Das Seine tun und nicht vielgeschÈftig sein«. Staatslehre: Jeder %Staat ist so beschaffen, wie die Seelen seiner BÝrger beschaffen sind. Der beste Staat, der ein unerreichbares %Ideal ist, hat drei StÈnde, die der uneingeschrÈnkt guten Seele entsprechen: Philosophenherrscher, ein kleines Heer zur Verteidigung, werktÈtige BevÚlkerung. Diese drei StÈnde sind durchlÈssig, d. h. jeder soll in den Stand aufgenommen werden, fÝr den er am besten geeignet ist. MÈnner und Frauen sind ohne EinschrÈnkung gleich gestellt. FÝr die Regenten und die AngehÚrigen des Heeres gelten absolute Besitzlosigkeit sowie Frauen- und Kindergemeinschaft; die Familie im herkÚmmlichen Sinne und auch Eigentum gibt es im werktÈtigen Stand. MilitÈrherrschaft, Herrschaft des Kapitals, gesetzlose Demokratie und Tyrannei sind die Verfallsstufen des Philosophenstaates, insofern die Herrschaft auf den mutig-zornigen und auf den vielgestaltigen begehrenden Seelenteil Ýbergeht. In den Gesetzen
entwirft Platon einen Gesetzesstaat als eine Mischung aus Monarchie und Demokratie. Unter anderem Aspekt fÝhrt er im Politikos den absolut guten Staat des Philosophenherrschers, der Ýber den Gesetzen steht, und drei relativ gute Staatsformen vor: Gesetzestreue KÚnigsherrschaft, Aristokratie und Demokratie. Ihnen entsprechen drei schlechte Formen: Gesetzlose Demokratie, die von den schlechten Formen die beste ist, Oligarchie (Kapitalistenherrschaft) und Tyrannei. Die im Timaios entfaltete Kosmologie steht in enger Verbindung mit der Ideen- und Prinzipienlehre. Der Weltgestalter (Demiurg) als vernÝnftig wirkende %Ursache formt aufgrund seiner Gutheit, an der er alles teilnehmen lassen will, das durch Unordnung charakterisierte materielle Prinzip im Hinblick auf den Ideenkosmos, der das vollkommene intelligible Lebewesen ist und alle intelligiblen Lebewesen, nÈmlich die Ideen, in sich enthÈlt. Hieraus ergibt sich: Da es nur eine Ideenwelt gibt, gibt es auch nur eine sichtbare Welt. Sie ist der Ideenwelt mÚglichst Èhnlich, zwar entstanden, aber in ihrer Gesamtheit unvergÈnglich, weil dies dem Wunsch des Demiurgen entspricht, und hat die vollkommene Kugelgestalt. Mit der %Ordnung des Weltalls entsteht die Zeit als in bestimmten Maßen fließendes Abbild der in Einheit beharrenden Ewigkeit. Grundbausteine aller geformten Materie sind kleinste, stereometrisch geformte KÚrper, die ElementarkÚrper; das Feueratom ist eine Pyramide, das Erdatom ein WÝrfel, die zwischen Feuer und Erde vermittelnden Luft- und Wasseratome sind achtflÈchige und zwanzigflÈchige regelmÈßige KÚrper. Unklar ist die Bedeutung des fÝnften Elements, des regelmÈßigen zwÚlfflÈchigen KÚrpers. Alle diese stereometrischen Gebilde sind entsprechend der Dimensionenfolge auf zwei Elementardreiecke zurÝckzufÝhren. Bewegende Kraft des Kosmos ist die Weltseele, die den Kosmos von innen und außen zusammenhÈlt, geometrisch strukturiert und vielfÈltig aus dem Unteilbaren der Ideen und dem Teilbaren der stofflichen Welt gemischt ist und deshalb Ideen und KÚrper erkennen kann. Die Einzelseelen bestehen aus den gleichen Bestandteilen wie die Weltseele, sind aber von minderer QualitÈt; ihre Teile sind im Kopf, in der Brust und zwischen Zwerchfell und Nabel angeordnet. Weitere Untersuchungen betreffen
Plotin
die Organe des menschlichen KÚrpers und ihre Funktionen, seelische und kÚrperliche Krankheiten und ihre Heilung. Platonis opera rec. I. Burnet, Oxford 1900 ff. Platon, Werke in acht BÈnden, griech. u. deutsch, 2. Aufl. Darmstadt 1990 K. Bormann, Platon, 3. Aufl. Freiburg / MÝnchen 1993 K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 2. Aufl. Stutt gart 1968 J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchun gen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992 H. J. KrÈmer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum We sen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, 2. Aufl. Amsterdam 1967 G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der ›ungeschriebenen Lehre‹, Paderborn 1993 T. A. Szlezk, Platon und die Schriftlichkeit der Philoso phie, Berlin / New York 1985 K. B.
Plotin (um 205–270): Der Geburtsort ist unbekannt; Plotin begann 244 in Rom mit seiner LehrtÈtigkeit. Sein Anliegen war die Erneuerung und Interpretation der platonischen Philosophie mit Ausnahme der Sokratik und der Staatslehre; einbezogen sind nicht nur %Platons Schriften, sondern auch in hohem Maße die ungeschriebenen Lehren. Vieles verdankt er anderen Philosophen, vor allem %Aristoteles; die Epikureer verachtete er. Von Platon Ýbernimmt Plotin die Unterscheidung der Wirklichkeit in unverÈnderlich Seiendes (%Sein), welches nur durch das %Denken erfassbar ist, und in sinnenfÈllig VerÈnderliches, das aufgrund der Teilhabe am Seienden das ist, was es jeweils ist. Zwischen diesen Bereichen, aber noch dem Intelligiblen als Unterstes zugehÚrig, befindet sich die Psyche, das Seelische, das in die Regionen des VerÈnderlichen absteigen und in den Seinsbereich aufsteigen kann. Alles aber, was irgendwie ist, ist eine Weise von Einheit, und nur aufgrund seines Einheitscharakters ist es Ýberhaupt. In den einzelnen Bereichen ist die Einheitsweise mehr oder weniger stark ausgeprÈgt: Die unverÈnderlichen Seienden sind in hÚherem Maße Einheit als die %Seele, diese ist mehr Einheit als ein Organismus, und ein Organismus ist mehr Einheit als die Artefakten, etwa ein Haus. Die Einheit begrÝndet also das Sein, was auch fÝr die unverÈnderlichen Seienden zutrifft. Diese Àberordnung der Einheit Ýber alle Vielheit hat nicht lo-
181
gische, sondern ontologische Bedeutung: Als seinsbegrÝndend transzendiert das Eine den Seinsbereich; als Ýberseiend ist es weder Idee noch %Wesenheit, sondern Quelle des Lebens, %Ursache des Seienden und des %Guten, Wurzel der Seele, ohne etwas von dem zu sein, dessen Quelle, Ursache und Wurzel es ist. Als Grund jeder Vielheit ist es im ontologischen Sinne vor aller Vielheit. Weil es Ursache von allem ist, kann nichts sein ohne das Eine. Daher ist das Eine alles, so aber, dass es nichts von allem ist. Alles ist mit ihm als der Ursache von allem vereint, es selbst aber ist von allem getrennt; es ist in allem anwesend, zugleich aber von allem abwesend, und so ist es Ýberall und nirgends, es ist weder in der %Zeit noch in der Ewigkeit. Weil nichts sein oder gedacht werden kann, das nicht von dem Einen abhÈngig oder von seiner unendlichen MÈchtigkeit (%dynamis) nicht umschlossen wÈre, gibt es nichts, das dem Einen Ýbergeordnet wÈre. Es ist nur es selbst. Als absolut transzendente Ursache von allem ist es identisch mit dem ›Guten‹ des platonischen Sonnengleichnisses und dem ›Einen‹ aus Platons Parmenides und als solches auch Grund jeder Erkennbarkeit und jedes Erkennens, eben deshalb aber weder erkennbar noch erkennend; denn der Grund oder die Ursache ist nichts von dem BegrÝndeten oder Verursachten. Hieraus ergibt sich, dass sich von ihm im strikten Sinne nur das aussagen lÈsst, was es nicht ist; es hat keinen Namen und ist unaussprechbar. Auch die Bezeichnungen ›Eines‹ und ›Gutes‹ sind wie alle Bezeichnungen, die dem Einen beigelegt werden, metaphorisch verwendet und verhelfen nicht zu affirmativen Aussagen Ýber das absolut Transzendente; denn das absolut Transzendente hat weder Einheit noch Gutheit, es bedarf ihrer nicht, noch ist es Eines und Gutes. Da aber die dem Ýberseienden Einen angemessene verneinende Aussageweise das VerhÈltnis der nachgeordneten RealitÈt zu ihrem Urgrund nicht erklÈren kann, mÝssen die verneinenden Aussagen durch affirmative ergÈnzt werden, wobei immer die absolute %Transzendenz des Einen berÝcksichtigt werden muss. Die Weise des Hervorgehens von allem aus dem Einen wird vielfach als %Emanation (Ausfließen, AusstrÚmen) bezeichnet; Plotin hingegen lehnt eine Emanation ab. Das Eine strÚmte gleichsam Ýber, und seine ÀberfÝlle schuf etwas anderes. Das aber
182
Plotin
ist lediglich ein Bild; das Eine verweilt unverÈnderlich in sich selbst, weder entstrÚmt ihm etwas, noch wird ihm etwas hinzugefÝgt; es erschafft, was es selbst nicht ist. Alles ist im Einen so, wie Farben im Licht sind. Wie Farben nicht ohne das Licht gesehen werden kÚnnen, so kann nichts ohne das Eine bestehen, und wie die Sonne nicht aufgrund eines Entschlusses, sondern mit Notwendigkeit strahlt und alles erleuchtet, so schafft das Eine mit Notwendigkeit, und zwar im zeitlosen Verursachen. Das, was als seinsmÈßig Erstes in unzeitlicher Weise entstand, ist sowohl seinem Ursprung als auch sich selbst zugewandt und durch diese Hinwendung als denkender %Geist (nous) konstituiert. Der Geist ist Seinsheit und Seiendes; Denken und Sein sind in ihm dasselbe; daher sind seine Inhalte, die Ideen, nicht von ihm verschieden; auch sie sind Seinsheit und Seiendes (bereits Platons zweiter Nachfolger, Xenokrates, verstand die Ideen als Inhalte des gÚttlichen Geistes). Als Einheit von Denken und Sein ist der Geist Einheit und Zweiheit zugleich. Der Geist als Ideenwelt ist %Urbild von allem ihm Nachgeordneten. Ideen von Schlechtem und BÚsem gibt es aufgrund der %Vollkommenheit des Geistes nicht. Als Gesamtheit der Seienden ist er alles Seiende; insofern er vollkommen ist und immer denkt, ist er vollkommenes Leben, fÝr das es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, sondern das ewige Gegenwart ist. Ewigkeit als die Seinsweise des Geistes ist das Leben des Seienden im Sein, zugleich, in seiner Gesamtheit und in seiner FÝlle, ohne Unterbrechung und allenthalben. Hieraus ergibt sich des Weiteren, dass der Geist reine %Wirklichkeit ohne Beimischung irgendwelcher %MÚglichkeit und als solcher hÚchste MÈchtigkeit (%dynamis) ist. Die Klassen des Geistes, abgehoben von den Kategorien der KÚrperwelt, ergeben sich aufgrund folgender Argumentation: Das lebendige Sein des Geistes ist Bewegung, die nicht zur VerÈnderung fÝhrt, sondern deren Wesensform die StÈndigkeit ist. Durch StÈndigkeit als Wesensform der Bewegung hat das Intelligible Bestand. Da fÝr den Geist Denken und Sein dasselbe sind, kommt ihm die Selbigkeit wesentlich zu. Weil andererseits Denkendes und Gedachtes voneinander verschieden sind, schließt die TÈtigkeit des Geistes die Verschiedenheit oder Andersheit ein. Dieses Ergebnis fÝhrt zu scheinbar parado-
xen Aussagen: Bewegung ist von der StÈndigkeit und vom Sein verschieden und nicht verschieden; ebenso sind Selbigkeit und Andersheit voneinander verschieden und nicht verschieden. Auch insgesamt sind die fÝnf Klassen verschieden und nicht verschieden. – Der unterste Bereich des %Intelligiblen ist die Region der Seele. Die Seele ist ußerung (logos) und Wirkungskraft des Geistes, wie der Geist ußerung und Wirkungskraft des Ýberseienden Einen ist. Als solche ist die Seele vom Geist nicht wesensverschieden, sie ist aber als Erzeugnis des Geistes diesem seinsmÈßig nachgeordnet. Der Geist und die Ideen wirken nicht unvermittelt auf die %Materie ein; die Seele verleiht der KÚrperwelt Leben und Bewegung und ist wesensmÈßig Leben und Bewegung, was bedeutet, dass sie unvergÈnglich und ohne Anfang ist, denn sie wird nicht Leben, sondern ist Leben. Wegen ihrer Blickrichtung auf den Geist erkennt sie in diesem die Ideen. Das Erkannte ist im Erkennenden gemÈß der Weise des Erkennenden; daher sind die Ideen, welche die Seele im Geist erkennt, in ihr auf seelische Weise die KeimkrÈfte der KÚrperwelt. Somit befindet sich die Seele zwischen Geist und KÚrperwelt, und ihre Aufgabe besteht darin, sich beiden Bereichen zuzuwenden. Das vermag sie, weil sie sowohl der Geistregion als auch der Region der KÚrperwelt angehÚren kann. Wenn sie auf den Geist blickt, wird sie Geist, behÈlt aber ihre %IdentitÈt; schaut sie vom Geist weg, dann strahlt sie die niedere %RealitÈt aus, ohne in ihr aufzugehen. Dass es zur Abwendung vom Geist kommt, beruht darauf, dass eine unruhige Seelenkraft danach drÈngt, das im Geist Geschaute anderem zuzutragen und dadurch eine neue Wesensart zu schaffen. Indem die Seele die Region des Geistes verlÈsst, verlÈsst sie auch das Leben des Seienden im Sein, d. h. die Ewigkeit. Nicht mehr immerwÈhrende Gegenwart ist jetzt ihre Seinsweise, sondern ein fortgesetztes Àbergehen zum KÝnftigen und immer anderen. In diesem kontinuierlichen Àbergehen, das nie endet, wird die unverÈnderliche Gegenwart der Ewigkeit in unvollkommener Weise nachgeahmt. Die Zeit entsteht also als Abbild der Ewigkeit dadurch, dass die Seele die Geistregion verlÈsst und sich verzeitlicht. Zeit als wesentliche Bewegung der Seele ist das Leben der Seele, die in ihrer Bewegung von einer Lebensform zur anderen Ýber-
Plotin
geht. Auf der Stufe der Menschen ist sie denkend oder vermutend, auf der Stufe der Tiere wahrnehmend, in den Pflanzen wirkt sie als Wachstumskraft. Was im Anorganischen an Formen, Energie und KrÈften vorhanden ist, entstammt ebenfalls der Seele. Nichts in der KÚrperwelt ist ohne Seele als gestaltendes %Prinzip. Da kein Teil des Weltalls ohne Seele ist, ist die %Welt als Ganze eine lebendige Einheit, deren Teile in Wechselwirkung (sympatheia) stehen. Die Weltseele verharrt in der oberen Welt; daher ist sie nicht im Weltleib, sondern der Weltleib ist in der Weltseele, und alle Einzelseelen sind in der Weltseele eine Einheit. Somit ist die Seele Einheit und Vielheit, geteilt und ungeteilt. Ungeteilt ist sie, weil sie bleibt, was sie ist, und als unkÚrperliche nicht teilbar ist; geteilt ist sie insofern, als sie in der KÚrperregion gemÈß den vielen SeelenkrÈften wirkt. Anders als die Weltseele vollziehen die Einzelseelen den Abstieg in die KÚrperwelt; denn das Materielle bedarf der Seele, weil es ohne Seele als gestaltendes und belebendes Prinzip ungestaltet und unbelebt wÈre. Indessen vermengt oder vermischt sich die Seele nicht mit dem Materiellen. Dass aus der an ihr selbst ungeformten und unbelebten Materie geformte und lebendige KÚrper werden, beruht darauf, dass die Seele gleichsam ein Bild ihrer selbst ausstrahlt. Dieses ›Seelenbild‹ geht in die Materie ein und bildet aus der Materie den geformten, mit Kraft, Energie, Leben ausgestatteten KÚrper. Der Abstieg bringt indessen fÝr die Einzelseele die Gefahr mit sich, dass sie im Materiellen wie in einem Morast versinkt. Die Materie als das von sich her Unbestimmte ist das Nichtgute, als solches das Nichtseiende, im Lichtvergleich das Lichtlose. Einerseits erscheint also der Abstieg der Seele als etwas Gutes, weil dadurch die ungeformte Materie Gestaltung erhÈlt, andererseits ist es fÝr die Seele ein UnglÝck, dass sie sich vom Geist entfernte und in die Materie, in das Schlechte abstieg. Schlecht wird die Seele jedoch nicht in ihrer Wesenheit; denn die Materie als das Schlechte gelangt nicht in die Seele hinein, sondern das Schlechte besteht fÝr die Seele in ihrer Beziehung zur materiellen Welt; wenn sie sich vom Materiellen beherrschen lÈsst, wird sie schlecht. Vergisst die Seele sich selbst und ihre eigentliche Aufgabe, auf den Geist zu schauen, dann bleibt sie im Materiellen versunken, bis sie die
183
Kraft findet, sich vom KÚrperlichen abzuwenden und sich Ýber es zu erheben. Durch den Abstieg in seinsmÈßig niedere Regionen wird das %Streben nach Aufstieg geweckt; dem Streben kann sich der Aufstieg anschließen, sofern die Seele dem Streben folgt. Eingeleitet wird der Aufstieg dadurch, dass sie sich vom Materiellen abwendet und ihren Blick auf das Geistige richtet. Hieraus erwÈchst eine Gesinnung, welche die Handlungen bestimmt. Gleichsam die Wegweiser des Aufstiegs sind die ethischen Vortrefflichkeiten (aretai), was besagt, dass nur die Seele die ethischen Vortrefflichkeiten besitzt, welche die LoslÚsung vom Materiellen vollzogen hat und auf dem Weg zum Intelligiblen ist, es aber noch nicht erreicht hat. Da es Unterschiede im Fortschreiten auf das Ziel gibt, ist zwischen niederen und hÚheren Vortrefflichkeiten zu unterscheiden. Die niederen aretai ermÚglichen der Seele die Reinigung vom Materiellen und die Herrschaft Ýber es; die hÚheren erlangt sie, wenn sie so weit fortgeschritten ist, dass sie das Intelligible aus der Distanz schaut, so wie etwas gesehen wird, das vor einem steht, in das man aber noch nicht eingedrungen ist. Hieraus ergibt sich: Wenn sie das Intelligible schaut, hat sie sich von den Verstrickungen des Materiellen befreit; lÚst sie sich aber erst vom Materiellen, dann ist sie dem Intelligiblen noch nicht so nahe, dass sie es erkennen kann. Im Einswerden mit dem Geist und dem Ýberseienden Einen ist das angestrebte Ziel erreicht; der Zwischenbereich ist verlassen, und die Seele befindet sich im Geist und im Einen so, dass sie selbst Geist und Eines ist. Dann aber bedarf die Seele der aretai nicht mehr, so wie ein Wanderer, der am Ziel angekommen ist, auf keinen Wegweiser mehr angewiesen ist. Plotini opera, hg. von P. Henry / H. R. Schwyzer, 3 Bde, Paris / Bruxelles / Leiden 1951 1973 [editio maior]; Oxford 1964 1982 [editio minor] Plotins Schriften, Ýbers. von R. Harder. Neubearbei tung mit griech. Lesetext u. Anm., fortgefÝhrt von R. Beutler / W. Theiler, 6 Bde in 12 TeilbÈnden, Hamburg 1956 1971 W. Beierwaltes, Lux intelligibilis. Untersuchungen zur Lichtmetaphysik der Griechen, MÝnchen 1957 : Plotins Metaphysik des Lichtes, in: Die Philosophie des Neuplatonismus, hg. von C. Zintzen, 75 117, Darmstadt 1977 J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchun gen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992
184
Popper, Karl Raimund
Chr. Horn, Plotin Ýber Sein, Zahl und Einheit, Stuttgart 1995 K. H. Volkmann Schluck, Plotin als Interpret der Ontolo gie Platons, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1966 K. B.
Popper, Karl Raimund (1902–1994): Geboren in Wien am 28. 7., gestorben in Croydon am 17. 9.; Ústerreichisch-britischer Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. Karl Poppers philosophische Auffassung, der kritische %Rationalismus, wie er sie selbst nannte, ist die Weiterentwicklung eines LÚsungsvorschlages fÝr zwei als grundsÈtzlich betrachtete Probleme der %Erkenntnistheorie (Logik der Forschung, 1935; Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, 1979). Das eine der beiden Ausgangsprobleme Poppers ist das so genannte ›humesche Induktionsproblem‹, die Frage nach der Geltung oder der BegrÝndung der allgemeinen SÈtze der empirischen %Wissenschaften (vor allem der Naturgesetze). Obwohl immer nur bestimmte Ereignisse und davon wiederum nur eine endliche Menge beobachtet werden kÚnnen, stellen die Wissenschaften SÈtze auf, die fÝr eine unbeschrÈnkte Anzahl von Ereignissen eines allgemeinen Typs gelten sollen. Das zweite ist das so genannte Abgrenzungsproblem (das Popper auf %Kant zurÝckfÝhrt), welches die Schwierigkeit beschreibt, eine scharfe Trennung zwischen metaphysischen Behauptungen und wissenschaftlichen SÈtzen vornehmen zu kÚnnen. In beiden Fragestellungen geht es zunÈchst nicht um die Frage nach dem tatsÈchlichen Zustandekommen unserer Erkenntnis, also dem Entdeckungszusammenhang (%BegrÝndungszusammenhang), sondern um Fragen der BegrÝndung dieser wissenschaftlichen SÈtze, den Rechtfertigungszusammenhang. Die beiden Grundprobleme versucht Popper gleichzeitig zu lÚsen und zwar dadurch, dass er fÝr die theoretischen Aussagen der Wissenschaft fordert, sie sollten falsifizierbar (als falsch erweisbar) sein. Dadurch lÚst er das Abgrenzungsproblem insofern, als die falsifizierbaren SÈtze als wissenschaftlich gelten, die nicht-falsifizierbaren als metaphysisch. FÝr die LÚsung des Induktionsproblems nutzt er den Umstand aus, dass sich Verifikation und Falsifikation zueinander asymmetrisch verhalten: Nach der klassischen, deduktiven
%Logik kann man von einem Beobachtungssatz, der eine allgemeine %Theorie bestÈtigt, nicht auf die Wahrheit der Theorie schließen. Allgemeine SÈtze kÚnnen nie aus %singulÈren (besonderen) SÈtzen abgeleitet werden. Sie kÚnnen aber mit ihnen in Widerspruch stehen. Durch rein deduktive %SchlÝsse (mit Hilfe des modus tollens der klassischen Logik) kann man daher von singulÈren SÈtzen auf die Falschheit allgemeiner SÈtze schließen. So erlaubt eine Beobachtung, die im Widerspruch zu einer allgemeinen Theorie steht, auf die Falschheit der Theorie zu schließen. Dies bedeutet zunÈchst eine negative LÚsung des Induktionsproblems, also die Behauptung der UnmÚglichkeit, allgemeine SÈtze ließen sich rechtfertigen. Dies beruht darauf, dass es keine gehaltserweiternden und gleichzeitig wahrheitskonservierenden Folgerungen (von den Beobachtungen zu den Theorien) gibt. Verbunden wird die negative LÚsung mit einer positiven, die die WiderlegungsmÚglichkeit von Theorien durch Beobachtungen betrifft. Hier wird die kritische Rolle von Beobachtungen betont: Theorien mÝssen strengen PrÝfungen unterworfen werden (Widerlegungsversuchen), damit sie sich bewÈhren kÚnnen (engl.: corroboration). Wissenschaftliches %Wissen ist daher immer nur Vermutungswissen; es besteht aus mehr oder weniger gut bewÈhrten %Hypothesen, die sich niemals endgÝltig als wahr erweisen lassen. Eine Charakterisierung, die nicht nur auf die allgemeinen %Gesetze, sondern auf alle %Aussagen der Wissenschaft zutrifft, da in allen Beobachtungen theoretische Aussagen vorausgesetzt werden. Jede Wahrnehmung ist nÈmlich selektiv und wird von vornherein durch den Filter einer oder mehrerer Theorien gelenkt (zum Beispiel Annahmen Ýber die Beschaffenheit der Beobachtungsinstrumente oder theoretische Begriffe, die Elemente der Beobachtungsaussagen sind). Das Wissen der Wissenschaften kann daher niemals als sicheres Wissen gelten, wobei es sich auf der anderen Seite aber dadurch gegenÝber metaphysischen Behauptungen auszeichnet, dass wir Ereignisse angeben kÚnnen, die wir als Widerlegungen akzeptieren wÝrden (Fallibilismus). Diese Auffassung setzt Popper dem %Neupositivismus entgegen, welcher nur verifizierbare Aussagen als sinnvoll und damit als wissenschaftlich zulassen wollte.
Popper, Karl Raimund
Nach Poppers Auffassung Èhneln Naturgesetze Gesetzen im juristischen Sinne und zwar insoweit, als sie Verbote sind. Sie verbieten, dass bestimmte mÚgliche Ereignisse auftreten. Stehen unsere Beobachtungen allerdings im Widerspruch zu diesen Verboten, revidieren wir die Gesetze (im Gegensatz zu Gesetzen im juristischen Sinne, wo wir bei Zuwiderhandlungen den TÈter bestrafen). Bei dieser Revision kann es nach Popper nicht darum gehen, eine grÚßere logische Wahrscheinlichkeit unserer Gesetze zu erreichen, da wir auf diese Weise Gesetze erhalten wÝrden, die eine so geringe Aussagekraft haben, dass sie kaum noch etwas verbieten und dadurch kaum noch als falsch erwiesen werden kÚnnen. Gesetzesaussagen sollten vielmehr in einer solchen Reihenfolge aufgestellt werden, dass jede spÈter aufgestellte immer mehr mÚgliche Ereignisse ausschließt als die ihr zeitlich vorhergehende. In dieser Aufeinanderfolge sollte eine stÈndige AnnÈherung an die %Wahrheit (engl.: verisimilitude) zu erreichen sein. Wahrheit hat damit in Poppers Konzeption die Rolle einer regulativen %Idee, vor allem in seinen spÈteren Schriften. Obwohl wir kein Kriterium und keine %Methode haben, die uns zu irgendeinem Zeitpunkt gestatten wÝrden, einen wissenschaftlichen Satz als ›sichere Wahrheit‹ auszuzeichnen, ist das nie zu beendende Streben nach Wahrheit die Motivation dafÝr, stÈndig unsere Theorien zu prÝfen und zu verbessern, aus unseren Fehlern zu lernen und damit Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Damit eine Theorie nach Poppers Auffassung an der Wirklichkeit scheitern kann, muss eine Wahrheit im objektiven, nicht-relativistischen Sinn existieren, auf die sich die Forschung allmÈhlich zu bewegt. Wahrheit wird von Popper hierbei im Sinne der Wahrheitstheorie Tarskis verstanden, aus der er seine Konzeption einer Korrespondenztheorie der Wahrheit entwickelt. Popper vertritt damit auch den kritischen Realismus, also die Annahme einer von uns unabhÈngig existierenden, mehr oder weniger beschrÈnkt erfahrbaren Außenwelt. Dieser Fortschritt in der Entwicklung des wissenschaftlichen Wissen vollzieht sich bei Popper nach folgendem Schema: P1 % VT % FE % P2. Ausgehend von einem Problem P1 wird eine vorlÈufige Theorie ›VT‹ aufgestellt. In der weiteren Wissenschaftsentwicklung wird eine Fehlereliminati-
185
on FE versucht, welche VT widerlegen will und zu neuen Problemen P2 fÝhrt, indem sie die SchwÈchen von VT ans Licht bringt. Dieses Viererschema soll das Auftreten neuer Probleme und damit neuer LÚsungen beschreiben. Wissenschaftlicher Fortschritt wÈre daran zu erkennen, ob das durch unsere Theorie entstandene neue Problem P2 verschieden von unserem Ausgangsproblem P1 ist, ob es tiefer und unerwarteter als P1 ist. Um diesen Vorgang der Theorienevolution mÚglichst effizient und stabil zu halten, entscheiden sich die Wissenschaften nach Poppers Deutung fÝr bestimmte methodische Regeln. Hierzu gehÚrt zum Beispiel die Regel, das ›Spiel‹ der Wissenschaft niemals als beendet anzusehen, sondern alle wissenschaftlichen SÈtze immer wieder zu prÝfen und niemals als endgÝltig verifiziert (als wahr erwiesen) gelten zu lassen, Hypothesen, die einmal aufgestellt sind und bereits bewÈhrt wurden, nicht einfach grundlos fallen zu lassen, sowie Theorien niemals gegen die Tatsachen zu immunisieren, indem man beispielsweise durch Umdeutungen der Beobachtungen eine Falsifikation nicht akzeptiert, sondern einfach ignoriert. In Poppers Methodologie werden, trotz der Unterscheidung zwischen Entdeckungszusammenhang und Rechtfertigungszusammenhang, die heuristischen Momente der wissenschaftlichen Praxis nicht ignoriert (Conjectures and Refutations, 1963). Vielmehr betont er die Analyse der Problemsituation als ersten Schritt zu neuen Erkenntnissen, außerdem die Rolle metaphysischer Ideen bei der Hypothesenentwicklung. Da bei Popper Falsifizierbarkeit als ein Abgrenzungskriterium und nicht als ein Sinnkriterium eingefÝhrt wird, kÚnnen metaphysische Aussagen und Àberzeugungen durchaus diskutabel sein und darÝber hinaus fruchtbar gemacht werden fÝr die Bildung nachprÝfbarer wissenschaftlicher Hypothesen. So vertritt Popper selbst zum Beispiel die metaphysische Auffassung des kritischen Realismus. Sowohl die Frage nach der BeschrÈnkung unseres Zugangs zur Außenwelt (also die Frage nach der LeistungsfÈhigkeit unseres Erkenntnisapparates) als auch die Frage nach der MÚglichkeit einer sukzessiven AnnÈherung an die Wahrheit versucht Popper mit seiner Version der %evolutionÈren Erkenntnistheorie zu beantworten (Objective Knowledge, 1972). Die Eigenart des
186
Popper, Karl Raimund
menschlichen Erkenntnisapparates wird dabei auf biologische AnpassungsvorgÈnge zurÝckgefÝhrt und die Entwicklung des Wissens im Rahmen der Entwicklung aller Lebewesen einer einheitlichen ErklÈrung auf darwinistischer Grundlage zugÈnglich gemacht. Der %Mensch hat dabei gegenÝber dem Tier den entscheidenden Vorteil, eine deskriptive und argumentative Sprache zu besitzen. Aufgrund dieser Tatsache ist er in der Lage, systematisch nach Fehlern in seinem Wissen zu suchen und sie zu korrigieren, und dadurch effizient zu lernen. Das Tier hingegen ist meist mit seinem Wissen (in Form von Instinkten, Verhaltensmustern oder kÚrperlichen Besonderheiten) existenziell verbunden. WÈhrend das Tier bei einem Fehler mit seinem Leben bezahlt, kann der Mensch seine Theorien an seiner Stelle sterben lassen. Durch seine Sprachkompetenz kann der Mensch sein Wissen Èußern und es dadurch intersubjektivieren, kritisierbar werden lassen. Seine Theorien Ýber die Welt werden dadurch von seiner Person unabhÈngig, sie werden objektiv. Um diesen Charakter der objektiven Erkenntnis und ihren Bezug zur %Wirklichkeit und zum %Subjekt deutlich zu machen, entwickelt Popper eine %Drei-Welten-Theorie (z. B. – mit John C. Eccles – in: The Self and its Brain, 1977). Welt 1 ist dabei die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen ZustÈnde; Welt 2 ist die geistige Welt, die Welt unserer psychischen Erlebnisse, unserer WÝnsche, Hoffnungen und Gedanken, und Welt 3 ist schließlich die Welt der Ideen im objektiven Sinn, die Welt der Theorien, logischen Beziehungen, Argumente und Problemsituationen an sich, aber auch der dichterischen Gedanken und Kunstwerke. Das Bewusstsein, das der Welt 2 angehÚrt, stellt die Verbindung her zwischen den physikalischen ZustÈnden (Welt 1) und unseren Theorien Ýber sie (Welt 3). Welt 1 und Welt 3 kÚnnen nicht aufeinander einwirken außer durch das Dazwischentreten von Welt 2, die mit jeder der beiden anderen Welten in Wechselwirkung steht. Obwohl wir auch in Welt 3 Unbekanntes und Nicht-Intendiertes entdecken kÚnnen, sind die Objekte von Welt 3 nichts anderes als menschliche Erfindungen (so ist zum Beispiel die Folge der natÝrlichen Zahlen eine Erfindung des Menschen, ihre Eigenschaften werden allerdings entdeckt).
FÝr die Úffentliche Wirkung der Werke Poppers war seine Sozialphilosophie weit wichtiger als seine erkenntnistheoretischen Schriften (The Open Society and its Enemies, Vol. I/II 1945; The Poverty of Historicism, 1957). Seine Auffassungen in diesem Bereich hÈngen jedoch sehr stark mit seinen erkenntnistheoretischen Ergebnissen zusammen. Popper geht davon aus, dass die menschliche %Vernunft nicht nur bei wissenschaftlichen Fragen, sondern auch in ihren Versuchen, soziale Probleme zu lÚsen, stets fehlbar ist. Er hÈlt es deshalb fÝr unmÚglich, langfristige Prognosen Ýber den zukÝnftigen Verlauf der %Geschichte zu machen. Er kritisiert damit den von ihm so genannten »Historizismus«. Historizistische Positionen zeichnen sich bei Popper dadurch aus, dass sie die geschichtliche Entwicklung als gesetzmÈßig notwendig oder determiniert ansehen und dass sie historische Voraussagen zum Hauptziel der Sozialwissenschaft erklÈren. Gegen den Historizismus argumentiert Popper unter anderem folgendermaßen: Da der Ablauf der Geschichte abhÈngig ist vom Anwachsen des menschlichen Wissens, und da wir mit rational-wissenschaftlichen Methoden das Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen kÚnnen (denn wir kÚnnen nicht heute schon angeben, was wir morgen erst wissen werden), kÚnnen wir auch den weiteren Verlauf der Geschichte nicht vorhersagen. Will man politische Probleme lÚsen, sollte man sich also niemals an historizistischen Prophezeiungen orientieren, sondern alle politischen ProblemlÚsungsversuche sollten immer Raum fÝr Kritik und Revision lassen. Bei menschlichen Handlungen ist stets mit unvorhergesehenen und ungewollten Konsequenzen zu rechnen. Deshalb sind große GesellschaftsentwÝrfe, die das %GlÝck des Menschen garantieren sollen, als utopisch abzulehnen. Solche Versuche fÝhren nur zu Gewaltanwendung und Blutvergießen, da sie auf gefÈhrliche Weise die Macht bei denen konzentrieren, welche glauben, die zwangslÈufigen Gesetze des Geschichtsablaufs entdeckt zu haben. Sie werden andere Meinungen und die Menschen, die sie vertreten, unterdrÝcken, da sie an die Notwendigkeit ihrer Prophezeiungen glauben. Die holistische oder utopische Sozialtechnik, die versucht, den Himmel auf Erden durch Ummodelung der gesamten %Gesellschaft zu erreichen, stellt sich außerdem
Putnam, Hilary
in der Praxis als unmÚglich heraus. Je grÚßer die VerÈnderungen sind, die der Holist durchfÝhren will, desto grÚßer sind auch die unbeabsichtigten Folgen und RÝckwirkungen seines Handelns. Dies zwingt ihn zur Improvisation, was er eigentlich nicht beabsichtigt hatte. Nachteilig wirkt sich hierbei außerdem aus, dass er aufgrund der KomplexitÈt des von ihm in Gang gesetzten Prozesses keinen Àberblick mehr darÝber bewahren kann, welche seiner VerÈnderungen die ungewollten Konsequenzen eigentlich herbeigefÝhrt haben. Die Àberzeugung des Holisten, dass eine vollstÈndige Umformung der Gesellschaft mÚglich und notwendig ist, fÝhrt zum PhÈnomen der ›ungeplanten Planung‹, und seine Versuche, die Unsicherheiten seiner Planung in den Griff zu bekommen, fÝhren zur planmÈßigen Umgestaltung des Menschen. Der Mensch wird an die geplante Gesellschaft angepasst, was den Holismus als eine unwissenschaftliche Haltung auszeichnet: Der Erfolg oder Misserfolg der neuen Gesellschaft kann nicht mehr geprÝft werden, denn die Tatsache, dass den Menschen das Leben in ihrer neuen Gesellschaft nicht behagt, zeigt nur, dass sie noch nicht angepasst genug sind, in ihr zu leben. Gegen die utopische Sozialtechnik setzt Popper die Idee einer offenen Gesellschaft, in der die Regierten ihre Regierung problemlos und ohne Blutvergießen wieder loswerden kÚnnen, und in welcher Reformen in Ýberschaubaren Grenzen getÈtigt werden, die man bei Misserfolg wieder revidieren kann. Diese Konzeption ersetzt die Frage danach, wer herrschen soll, durch die neue Frage, wie politische Institutionen so zu organisieren sind, dass es schlechten, inkompetenten Herrschern unmÚglich gemacht wird, allzu großen Schaden anzurichten. Nach Popper ist es deshalb das Prinzip der Demokratie, politische Institutionen zur Vermeidung der Tyrannei zu schaffen, zu entwickeln und zu schÝtzen, damit die Revision von Fehlentscheidungen, die natÝrlich auch bei MehrheitsbeschlÝssen auftreten, immer auf eine gewaltfreie Art mÚglich sind. Die Entwicklung dieser offenen Gesellschaft erfolgt durch kleine Schritte, wofÝr Popper den Begriff piecemeal social engineering prÈgte (StÝckwerk-Sozialtechnik). Diese vorsichtige Vorgehensweise der politischen Praxis hat den Vorteil, immer den Àberblick Ýber ihre Fehler zu bewahren und den
187
mÚglichen Schaden mÚglichst gering und revidierbar zu halten. Die offene Gesellschaft ist also eine Ordnung fÝr fehlbare Menschen, die sich des hypothetischen Charakters ihres Wissens auch im Bereich der politischen ProblemlÚsungen bewusst sind. In dieser Gesellschaft kann es auch nicht darum gehen, das GlÝck der Individuen zu garantieren, sondern es werden konkrete MissstÈnde beseitigt (negativer %Utilitarismus), wobei so wenig wie mÚglich geherrscht und regiert werden soll. Poppers philosophische Auffassungen sind damit gegen den Irrationalismus und (insbesondere in seinen spÈteren Schriften) den %Determinismus gerichtet. Indem er die stÈndige Fehlbarkeit des menschlichen Wissens betont, sind sie ein PlÈdoyer fÝr intellektuelle Bescheidenheit, und indem er an der Wahrheit als einer regulativen Idee festhÈlt, ein Engagement fÝr die kritische Vernunft. H. Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, Stuttgart 2000 D. C.
Putnam, Hilary (1926): Geboren am 31. 7. in Chicago; gehÚrt zu den herausragenden Denkern der auf %Quine folgenden Generation amerikanischer Philosophen. Anders als viele seiner spezialisierten Zeitgenossen hat er sich mit einem breiten Spektrum philosophischer Themen beschÈftigt, mit formaler %Logik und %Wissenschaftstheorie, %Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes (Philosophy of Mind) und neuerdings auch mit philosophiegeschichtlichen Themen. In vielen Bereichen hat er durch seine originellen BeitrÈge die Diskussion in neue Bahnen gelenkt. Seine philosophischen Positionen haben dabei im Laufe der Zeit eine Reihe von VerÈnderungen erfahren. Putnams Arbeiten zur Sprachphilosophie sind von dem Versuch gekennzeichnet, eine Bedeutungstheorie zu entwickeln, die trotz der quineschen Kritik am Bedeutungsbegriff Bestand haben kann (The Meaning of ›Meaning‹, 1975). Ausgangspunkt ist eine Betrachtung der auf %Frege und %Carnap zurÝckgehenden Konzeption, dass fÝr eine semantische Untersuchung sprachlicher AusdrÝcke zwei Aspekte unterschieden werden mÝssen: die %Intension als Begriffsinhalt (anders als bei Frege heute oft auch als %Bedeu-
188
Putnam, Hilary
tung, engl. meaning, bezeichnet) und die %Extension als Menge der von dem Ausdruck bezeichneten Objekte (Sprachphilosophie), wobei die Extension jeweils eindeutig durch die Intension festgelegt sein soll. Intensionen wurden dabei als abstrakte GegenstÈnde gedeutet, die von allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft erfasst werden kÚnnen. Da dieses Erfassen einen geistigen Zustand der Form ›wissen, dass I die Intension des Wortes A ist‹ darstellt, der die fragliche Intension eindeutig bestimmt, kommt man zu der Folgerung, dass der geistige Zustand eines Sprechers die Extension des von ihm verwendeten Ausdrucks festlegt. In einer anderen Variante dieser traditionellen Auffassung werden daher Bedeutungen sogar mit geistigen ZustÈnden identifiziert. Putnam versucht mit zwei Argumenten zu zeigen, dass diese Konsequenz nicht haltbar ist. Das erste Argument ergibt sich aus der These der linguistischen Arbeitsteilung, nach der die Bestimmung der Referenz, also der GegenstÈnde, auf die sich ein %Wort bezieht, eine wesentliche soziale Komponente hat. Bei vielen WÚrtern, insbesondere denjenigen, die so genannte ›natÝrliche Arten‹ wie ›Gold‹, ›Wasser‹, ›Tiger‹ etc. bezeichnen, sind die genauen Bedingungen dafÝr, dass etwas zur Extension eines Wortes gehÚrt, nur einem kleinen Teil der Sprachgemeinschaft bekannt, nÈmlich der Gruppe der Experten. Damit liegt die Referenzbestimmung nicht immer in der Kompetenz eines einzelnen Sprechers und kann damit auch nicht allein durch seinen geistigen Zustand bestimmt sein: HÈufig ist die Referenz nur dadurch festgelegt, dass der Sprecher zu einer Sprachgemeinschaft gehÚrt, in der es Experten fÝr das fragliche Gebiet gibt. Nichtexperten kennen in der Regel nur gewisse Eigenschaften, die in ihrer Sprachgemeinschaft als typisch fÝr das fragliche Objekt gelten. Mit Gold verbinden wir z. B. lediglich die gelbe Farbe und gewisse metallische Eigenschaften, nicht jedoch ein genaues chemisches Wissen. Solche Stereotypen machen fÝr uns die Bedeutung eines Wortes aus und bestimmen unsere geistigen ZustÈnde gegenÝber den benannten Objekten. Sie allein legen jedoch nicht die Extension dieser WÚrter fest. Die Frage, wie sich ein Wort auf ein Objekt beziehen kann, beantwortete Putnam im Rahmen einer kausalen Referenztheorie, die er und
Kripke unabhÈngig voneinander entwickelten. Kripke hatte diese Theorie zunÈchst nur auf Eigennamen angewandt. Danach wird die Referenz eines solchen Namens durch eine Kausalkette bestimmt, die mit einem Taufakt beginnt, welcher eine kausale Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem Namen herstellt. Anschließend setzt sich diese Kette durch die Weitergabe dieses Namens von Sprecher zu Sprecher fort, sodass sich jemand, der heute ›Julius CÈsar‹ sagt, damit Ýber die in die Vergangenheit reichende Kausalkette auf die Person Julius CÈsar beziehen kann. Putnam erweiterte diese Theorie auch auf AusdrÝcke fÝr natÝrliche Arten und physikalische GrÚßen. Aus der kausalen Referenztheorie ergibt sich ein zweites Argument gegen die Annahme, dass die Referenz eines sprachlichen Ausdrucks durch einen geistigen Zustand des Sprechers festgelegt wird. Es bedient sich des Gedankenexperimentes der Zwillingserde, eines anderen Planeten, welcher der Erde weitgehend gleicht und auch menschliche Bewohner hat, die die gleiche Sprache sprechen wie wir. Der einzige Unterschied soll darin bestehen, dass die dort als ›Wasser‹ bezeichnete FlÝssigkeit nicht aus H2O wie auf der Erde, sondern aus einer anderen chemischen Substanz XYZ besteht, die außer der anderen chemischen Struktur aber dieselben Eigenschaften wie unser Wasser aufweist. Ein Astronaut, der heute auf die Zwillingserde gelangte, wÝrde diesen Unterschied schnell bemerken und sagen, dass sich die Bewohner der Zwillingserde mit ›Wasser‹ auf eine andere Substanz beziehen als die der Erde. Aber wenn durch irgendeinen Umstand ein Mensch vor 200 Jahren auf die Zwillingserde gelangt wÈre, als noch keine chemischen Analysemethoden bekannt waren, hÈtte er den Unterschied nicht herausfinden kÚnnen. Er hÈtte sich also bezÝglich des Wassers der Zwillingserde in dem gleichen geistigen Zustand befunden wie deren Bewohner, hÈtte sich aber trotzdem mit dem Wort ›Wasser‹ nicht auf das Wasser der Zwillingserde, sondern auf das Wasser unserer Erde bezogen, denn darauf hÈtte die Kausalkette verwiesen, welche die Referenz bestimmt. Folglich kann der geistige Zustand des Sprechers nicht fÝr die Festlegung der Referenz verantwortlich sein. Zudem zeigt dieses fiktive Beispiel, dass die Referenz vieler AusdrÝcke von der Umgebung ab-
Putnam, Hilary
hÈngt, in der sie gelernt wurden; diese Eigenschaft wird als IndexikalitÈt bezeichnet. Da Putnam daran festhalten mÚchte, dass die Bedeutung eine eindeutige Bestimmung der Extension bzw. Referenz leistet, ergibt sich die Konsequenz, dass Bedeutungen nicht mit geistigen ZustÈnden identifiziert werden kÚnnen. Bedeutungen kÚnnen sich aber auch nicht in Stereotypen als den uns zur VerfÝgung stehenden Begriffsinhalten erschÚpfen, da diese keine eindeutige Festlegung der Extensionen leisten. Putnams Ausweg besteht darin, Bedeutungen als komplexe EntitÈten aufzufassen und neben der Stereotype auch die Extension als eine Bedeutungskomponente zu betrachten. Es gilt dann trivialerweise, dass die Bedeutung die Extension bestimmt. Daneben nimmt Putnam noch zwei weitere Komponenten in die Bedeutung auf. Dies sind einmal syntaktische Marker, die den syntaktischen Typ des Wortes bestimmen (bei ›Wasser‹ z. B. Massenterminus, Hauptwort), zum anderen semantische Marker, die eine allgemeine Klassifikation des Objektes vorgeben (natÝrliche Art, FlÝssigkeit). Obwohl Putnam entgegen Quine an der MÚglichkeit einer Bedeutungstheorie festhÈlt, lehnt er ebenso wie dieser die von Carnap vertretene Ansicht ab, es handele sich dabei um eine erfahrungsunabhÈngige Disziplin, deren Resultate analytische SÈtze sind. Vielmehr beruht nach Putnam auch die Sprachphilosophie auf empirischen Hypothesen, was sich z. B. daran zeigt, dass die Referenz der AusdrÝcke fÝr natÝrliche Arten von der Mikrostruktur der betreffenden Substanzen abhÈngt. Semantische Eigenschaften von Begriffen hÈngen also von wissenschaftlichen Theorien ab. Auch im Bereich der Wissenschaftstheorie hat Putnam zu einer Vielzahl von Themen einflussreiche BeitrÈge geliefert. Beispiele sind seine Kritik an der so genannten ›anerkannten Theorieauffassung‹ des logischen Empirismus (What Theories Are Not, 1962) und am Falsifikationismus Poppers, nach dem eine %Theorie als falsch betrachtet und revidiert werden muss, wenn sie durch die Erfahrung %falsifiziert wurde. Diese Ansicht ist nach Putnam in dieser einfachen Form nicht haltbar, denn sie verkennt, dass es in der Wissenschaft gewisse Rahmenprinzipien gibt, die relativ zu einem bestimmten Erkenntnisstand unrevidierbar sind. Solche in
189
ihrem Kontext apriorischen Prinzipien kÚnnen nicht durch Beobachtungsbefunde verdrÈngt werden, sondern nur durch das Auftauchen einer neuen Theorie. Damit schrÈnkt Putnam gleichzeitig die quinesche Kritik am Begriff des analytischen Satzes ein, denn die Rahmenprinzipien sind relativ zu einem gegebenen Kontext in dem Sinne analytisch, dass sie unrevidierbar sind (›Two Dogmas‹ Revisited, 1976). Charakteristisch fÝr Putnams Wissenschaftsphilosophie ist zunÈchst eine realistische Position. Sie ist gekennzeichnet durch die Annahme, dass sich auch die theoretischen Begriffe einer Theorie, die nichts direkt Beobachtbares bezeichnen, auf real existierende %EntitÈten beziehen. Damit steht Putnam in direktem Gegensatz zu der im logischen Empirismus verbreiteten instrumentalistischen Auffassung, dass theoretische Begriffe nichts bezeichnen, sondern nur zur Vereinfachung und Systematisierung der %Aussagen Ýber beobachtbare Dinge eingefÝhrt werden. WÈhrend der Instrumentalismus die Aufgabe von Theorien darin sieht, durch die Beobachtung ÝberprÝfbare Vorhersagen abzuleiten, besteht fÝr Putnam ihre Aufgabe darin, wahre Aussagen Ýber die von ihnen beschriebenen theoretischen EntitÈten zu machen, wobei es sich allerdings nur um eine approximative %Wahrheit handeln kann. Wahrheit wird hier also in einem korrespondenztheoretischen Sinne als Àbereinstimmung mit der RealitÈt verstanden. Der Realismus ist dabei nach Putnam selbst wieder eine empirische Hypothese, die empirisch bestÈtigt ist, weil sie die einzige Konzeption ist, die den wissenschaftlichen Fortschritt erklÈren kann (siehe z. B. Explanation and Reference, 1973). Im Bereich der Philosophie des Geistes hat sich Putnam vor allem mit dem Leib-Seele-Problem beschÈftigt, dem VerhÈltnis von Geist und KÚrper, und eine neue Theorie auf diesem Gebiet begrÝndet, die als Funktionalismus bezeichnet wird (z. B. Minds and Machines, 1960). Putnams Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass diese Fragestellung zunÈchst vom Menschen gelÚst wird und stattdessen Rechenmaschinen betrachtet werden, fÝr die die Begriffe der Kybernetik angewandt werden kÚnnen. Bei derartigen Maschinen kann man einmal ihren physikalischen oder strukturellen Zustand betrachten, der z. B. durch Stellungen von ZahnrÈdern, Ver-
190
Putnam, Hilary
teilungen elektrischer Spannungen o.È. beschrieben werden kann und von der Konstruktionsweise der Maschine abhÈngt. Daneben gibt es einen logischen oder funktionalen Zustand, z. B. die AusfÝhrung einer bestimmten Rechenoperation, der durch das Programm der Maschine bestimmt ist. Offenbar kann derselbe funktionale Zustand durch verschiedene physikalische ZustÈnde realisiert werden; die Addition zweier Zahlen kann durch mechanische ebenso wie durch elektronische Rechenmaschinen ausgefÝhrt werden, das Programm ist nicht abhÈngig von der Bauweise der Maschine. Nach Putnam besteht nun eine Analogie zwischen dem VerhÈltnis von physikalischen und funktionalen ZustÈnden bei Maschinen und kÚrperlichen und geistigen ZustÈnden beim Menschen. Dass Menschen derartige Maschinen sind, hat Putnam dagegen nicht behauptet, und er Ýbersieht auch nicht, dass sich beim Menschen Probleme stellen, die bei Maschinen nicht auftreten, z. B. dass das ›Programm‹ eines Menschen niemals genau angegeben werden kann. Die Analogie impliziert jedoch die These, dass es sich bei geistigen ZustÈnden des Menschen um funktionale ZustÈnde handelt, womit sich Putnam gegen die Annahme des materialistischen Monismus wendet, dass geistige ZustÈnde dasselbe sind wie kÚrperliche ZustÈnde. Ebenfalls widerspricht er damit dem %Behaviorismus, nach dem geistige ZustÈnde Verhaltensmuster oder Verhaltensdispositionen sind. In den 70er Jahren ereignete sich eine einschneidende Wende im Denken Putnams (Realism and Reason, 1976), die durch eine grundlegende Revision seiner erkenntnistheoretischen Position bestimmt ist. In den bisher geschilderten Àberlegungen ging Putnam von einer sprach- und theorieunabhÈngig existierenden Welt aus. Referenz wurde als Relation zwischen den %Begriffen unserer Theorie oder %Sprache und Teilen dieser Welt betrachtet, und Wahrheit wurde als Entsprechung von Theorie und Welt angesehen. Diese Position, die er nun als externen oder metaphysischen Realismus bezeichnet, hÈlt Putnam nicht mehr fÝr vertretbar. Nach seiner neuen Konzeption, dem internen Realismus, sind Referenz und Wahrheit nur relativ zu einem begrifflichen System bestimmt; die Frage, was wirklich existiert, kann in einem absoluten Sinne nicht gestellt werden. Der Unterschied
lÈsst sich anhand folgender Àberlegung deutlich machen. Angenommen, man hÈtte eine ideale Theorie der Natur, die widerspruchsfrei und empirisch optimal bestÈtigt ist und auch sonst alle Anforderungen erfÝllt, die man an eine Theorie stellen kÚnnte (Einfachheit, KohÈrenz, maximale Vorhersagekraft etc.). Nach Auffassung eines externen Realisten kÚnnte diese Theorie trotzdem falsch sein, weil aus ihren Eigenschaften nicht folgt, dass sie tatsÈchlich mit der Welt Ýbereinstimmt. Ein interner Realist wÝrde dagegen diese Annahme und den in ihr eingenommenen ›Gottesstandpunkt‹ als sinnlos ablehnen, weil von der Welt nicht unabhÈngig von einer Theorie oder einem begrifflichen Schema die Rede sein kann. Dass der externalistische Standpunkt unhaltbar ist, hat Putnam mit dem viel diskutierten Argument der Gehirne im Tank nachzuweisen versucht (Reason, Truth and History, 1981). Ein Skeptiker kÚnnte die Ansicht vertreten, dass wir nur Gehirne sind, die in einer NÈhrflÝssigkeit liegen und mit Hilfe von elektrischen Stimulationen unserer Nervenendungen %Wahrnehmungen vorgetÈuscht bekommen, sodass unsere gesamte Welt in Wirklichkeit nur eine Illusion ist. Der externe Realist mÝsste zugestehen, dass die Aussage ›Wir sind alle nur Gehirne im Tank‹ wahr sein kÚnnte. Aber wÝrde ein solches Gehirn sagen oder denken: ›Ich bin ein Gehirn im Tank‹, so wÝrde es sich nach der kausalen Referenztheorie mit ›Tank‹ nicht auf tatsÈchliche Tanks beziehen, sondern auf die fÝr die Erzeugung der virtuellen Tanks verantwortlichen elektrischen Stimuli, denn auf diese verwiese die Referenzkette. Daraus folgt aber, dass diese Aussage falsch wÈre, da sich das Gehirn laut Voraussetzung nicht in einem virtuellen, sondern in einem tatsÈchlichen Tank befinden sollte. Die Annahme, wir seien alle nur Gehirne im Tank, ist also selbstwiderlegend, womit zum einen der %Skeptizismus bezÝglich der RealitÈt der Außenwelt entkrÈftet, zum anderen die Unsinnigkeit des externen Realismus gezeigt wurde. Daneben hat Putnam noch eine Reihe von anderen Argumenten fÝr den internen Realismus vorgebracht, indem er z. B. einen Begriffsrelativismus zu begrÝnden versuchte, nach dem selbst logisch grundlegende AusdrÝcke wie ›Objekt‹ und ›Existenz‹ von einem vorher gewÈhlten Begriffssystem abhÈngen und daher keine objektiv
Pythagoras von Samos
richtige Bedeutung haben kÚnnen (The Many Faces of Realism, 1987). Es ist klar, dass Putnam nach der Abkehr vom externen Realismus nicht mehr an einer Korrespondenztheorie der Wahrheit festhalten konnte, nach der die Wahrheit einer Theorie in der Àbereinstimmung mit der theorieunabhÈngig existierenden Welt besteht. Eine andere MÚglichkeit bestÝnde darin, Wahrheit mit rationaler Akzeptierbarkeit gleichzusetzen. Ein Kriterium dafÝr, wann es rational wÈre, einen Satz fÝr wahr zu halten, kÚnnte sein Zusammenpassen mit dem System des bereits akzeptierten Wissens im Sinne einer %KohÈrenztheorie der Wahrheit sein. Diese Alternative entspricht aber nicht mehr der Forderung des Realismus, dass zwischen ›wahr sein‹ und ›fÝr wahr halten‹ ein Unterschied bestehen muss. Putnam versucht einen Mittelweg, indem er Wahrheit als rationale Akzeptierbarkeit unter idealen epistemischen Bedingungen definiert. Die Zusatzbedingung soll die zeitliche StabilitÈt des Wahrheitsbegriffs sichern. Z. B. war vor mehreren tausend Jahren der Satz ›Die Erde ist eine Scheibe‹ sicherlich rational akzeptierbar, aber die epistemischen Bedingungen waren nicht ideal, weil den Menschen damals keine Mittel zur ÀberprÝfung dieser Hypothese zur VerfÝgung standen. Somit kÚnnen wir mit Recht sagen, dass dieser Satz damals genauso falsch war wie heute. Ebenso wie er eine nicht realistische Wahrheitstheorie ablehnt, argumentiert Putnam auch gegen einen radikalen Relativismus, wie er von Feyerabend oder Rorty vertreten wird. Nach deren Auffassung sind Wahrheit und RationalitÈt grundsÈtzlich als relativ zu einer bestimmten Kultur aufzufassen. Putnam vertritt dagegen die Ansicht, dass es zur Beurteilung der rationalen Akzeptierbarkeit und damit der Wahrheit bestimmte Werte gibt, die zwar spezifisch menschlich sind, an deren ObjektivitÈt und kulturÝbergreifender GÝltigkeit wir aber nicht zweifeln kÚnnen. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass der Begriff der %RationalitÈt eine zentrale Rolle in Putnams neuem philosophischen Denken einnimmt. Hatte er philosophische Fragen frÝher fÝr empirisch entscheidbar gehalten, versteht er jetzt Philosophie als Theorie der menschlichen RationalitÈt und damit als Geisteswissenschaft. Aus der KomplexitÈt der menschlichen Rationa-
191
litÈt ergibt sich, dass jeder Versuch, sie durch eine Maschine zu simulieren, zum Scheitern verurteilt ist. Damit kann aber auch die Analogie zwischen funktionellen MaschinenzustÈnden und geistigen ZustÈnden beim Menschen nicht mehr aufrecht erhalten werden, was einer der GrÝnde war, die Putnam zur Aufgabe des Funktionalismus bewogen haben (Representation and Reality, 1988). In der Sprachphilosophie behielt Putnam zwar grundlegende Thesen wie die der sprachlichen Arbeitsteilung bei, vertritt nun aber ein ganzheitlicheres Bild von Bedeutung. Die %Bedeutung eines Ausdrucks kann nicht durch eine Stereotype erschÚpft werden, sondern ist nur durch die gesamte Sprache bestimmt, die als ein kollektives Unternehmen anzusehen ist. In die Bestimmung der Referenz eines Wortes gehen auch Kriterien der rationalen Akzeptierbarkeit ein, die wiederum von unseren %Werten abhÈngig sind. Damit ist auch die kausale Referenztheorie nicht mehr haltbar; nicht die kausale VerknÝpfung zwischen einem Wort und dem von ihm bezeichneten Gegenstand ist bestimmend fÝr die Referenz, sondern unsere durch Absichten und Werte bestimmte Interpretationspraxis. Putnams Denken befindet sich auch gegenwÈrtig weiter im Fluss. Seine Positionen in den 90er Jahren sind durch eine wiederum verÈnderte Variante des Realismus gekennzeichnet. Charakteristisch fÝr diesen ›direkten Realismus‹ ist die Annahme, dass wir einen unmittelbaren wahrnehmungsmÈßigen Zugang zumindest zu unserer Umwelt haben. Auch philosophiehistorische Àberlegungen nehmen einen immer breiteren Raum in Putnams Arbeiten ein, wobei die explizite AnknÝpfung an die Tradition des amerikanischen Pragmatismus im Mittelpunkt steht (Pragmatism: An Open Question, 1995). A. Burri, Hilary Putnam, Hamburg 1994 W. StegmÝller, HauptstrÚmungen der Gegenwartsphi losophie, Band II, 8. Aufl. Stuttgart 1987 A. Mueller, Referenz und Fallibilismus, Berlin / New York 2001 C. K.
Pythagoras von Samos (6. Jh. v. Chr.): GemÈß antiker Auffassung Urheber der italischen Philosophie, verließ im fÝnften Jahr der Herrschaft des Polykrates (532/531) Samos und sie-
192
Pythagoras von Samos
delte sich in Kroton in Unteritalien an, wo er große AutoritÈt erlangte, eine religiÚse Gemeinschaft grÝndete und anscheinend die Interessen der Aristokraten vertrat. Der Widerstand der Bewohner Krotons gegen die AktivitÈten der AnhÈnger des Pythagoras fÝhrte zu einem Aufstand, der Pythagoras in hohem Alter veranlasste, in das am Golf von Tarent gelegene Metapont zu entweichen, wo er bis zu seinem Tode blieb. Der politische Einfluss der pythagoreischen Gemeinschaften hielt sich noch einige Zeit nicht nur in Kroton, sondern auch in anderen unteritalischen StÈdten, bis er wegen des Vordringens demokratischer Tendenzen verschwand; Pythagoreer wanderten nach Griechenland aus und ließen dort pythagoreische Gedanken wirksam werden. Der politische Einfluss, den Pythagoras wahrscheinlich hatte und den die pythagoreischen Gemeinschaften mit Sicherheit besaßen, ist ein wesentlicher Bestandteil des Pythagoreertums. Bei seinen SchÝlern galt Pythagoras als der vollkommene Weise, dessen LebensfÝhrung und Worte Manifestationen unÝbertrefflicher Einsicht waren und deshalb normative Bedeutung hatten. Weil Pythagoras seine Lehren nicht schriftlich fixierte und seine SchÝler zu strenger Geheimhaltung verpflichtet waren, kann Ýber seine Lehren nur sehr wenig Sicheres gesagt werden; hinzu kommt, dass aufgrund der uneingeschrÈnkten Verehrung, die Pythagoras von seinen AnhÈngern entgegengebracht wurde, es sehr bald zu einer Ýppig wuchernden Legendenbildung kam, die dazu fÝhrte, dass die Àberlieferung hinsichtlich des Pythagoras gleichsam durch dichten Nebel verhÝllt ist. Auch was die Pythagoreer der zweiten und dritten Generation lehrten, kann nur mit großen Vorbehalten angegeben werden; ganz unklar ist, was hiervon Pythagoras selbst zuzuweisen ist. Durch frÝhe Zeugnisse gesichert ist der Kenntnisreichtum des Pythagoras. Zusammen mit dem, was von seiner legendÈr ausgeschmÝckten LebensfÝhrung einigermaßen deutlich wird, ergibt sich weiterhin, dass Pythagoras erstaunliche seelische FÈhigkeiten gehabt zu haben scheint, was auch %Aristoteles dadurch bezeugt, dass er Pythagoras in eine Zwischenstufe zwischen Menschen und GÚttern einordnet. Ferner wird immer wieder auf die mathematischen Studien der Pythagoreer hingewiesen; anscheinend hat Py-
thagoras diese zumindest angeregt. Relativ gut bezeugt ist, dass Pythagoras eine Lehre von der Seelenwanderung vertrat, deren Einzelheiten freilich unklar sind, weil diese Lehre auch außerhalb pythagoreischer Gemeinschaften unterschiedlich ausgestaltet wurde. GemÈß den Spottversen des Xenophanes erkannte Pythagoras im Geschrei eines Hundes, der SchlÈge erhielt, die Stimme eines lieben Freundes, was bedeutet, dass der Freund sich in seinem frÝheren Leben wie ein Hund, d. h. wie ein unverschÈmtes Tier, aufgefÝhrt hat. Wenn in diesem Spott ein wahrer Kern enthalten ist, lehrte Pythagoras, dass die menschliche %Seele nach der Trennung vom %Leib in andere Lebewesen – auch Pflanzen werden genannt – eingeht; und zwar gelangt sie aufgrund eines gÚttlichen Richterspruchs in solche Lebewesen, deren Charakter sie wÈhrend der EinkÚrperung in einem Menschenleib angenommen hat. Àberlieferungen zu Pythagoras selbst sprechen davon, dass die Seele des Pythagoras immer in Menschenleiber einging. Diesen Àberlieferungen liegt wohl die Voraussetzung zugrunde, dass Pythagoras die Seelenwanderungslehre dadurch sicherte, dass er angab, in welchen menschlichen KÚrpern seine Seele sich vor dem gegenwÈrtigen Leben befand. Altpythagoreische Lehre scheint demnach zu sein, dass die Seele unsterblich ist und nach der Trennung vom Leib sich mit einem anderen KÚrper vereinigt. Unklar bleibt, ob diese Vereinigung unmittelbar nach dem Tod erfolgt oder ob die Seele, wie aus anderen Berichten zu entnehmen ist, vor einer erneuten Inkarnation einige Zeit kÚrperlos in der Luft umherschweift. Weiterhin ist unklar, ob bereits Pythagoras annahm, dass einige Seelen schließlich bis zum Beginn eines neuen Weltzyklus vom Zwang der Inkarnationen befreit werden. In enger Verbindung mit der Lehre von der Seelenwanderung steht die Auffassung vom Leib als Grab oder GefÈngnis der Seele und von der ewigen Wiederkehr. Dass die Seele infolge bestimmter Strafanordnungen mit dem KÚrper verbunden ist und sich in ihm wie in einem Grab oder GefÈngnis befindet, ist wahrscheinlich altpythagoreische Lehre. Die fÝr die Pythagoreer bezeugte Theorie von der ewigen Wiederkehr aller Dinge, der zufolge es nichts wirklich Neues gibt und jede Seele in jeder Weltperiode unter denselben UmstÈnden
Pythagoras von Samos
lebt wie in den frÝheren, lÈsst sich nicht mit Sicherheit fÝr die Zeit des Pythagoras ansetzen; sie scheint auch im Widerspruch zu der Forderung nach Reinigung und Vervollkommnung der Seele zu stehen, wodurch fÝr zukÝnftige Leben bessere Voraussetzungen geschaffen werden sollen. Anscheinend gab es im Pythagoreertum keine einheitliche, vollkommen ausgearbeitete Seelenwanderungslehre, wodurch erklÈrbar ist, dass die Nachrichten Ýber sie oft widersprÝchlich sind. Aus der Seelenwanderungslehre ergeben sich gewisse Verbote und Gebote, wÈhrend andere Vorschriften archaischen Ursprungs zu sein scheinen. Zu nennen sind 1. das Verbot, Bohnen zu essen, das in unterschiedlicher Weise begrÝndet wird und mÚglicherweise medizinisch oder auch symbolisch zu verstehen ist; 2. das Verbot, Fleisch zu essen. Fleischabstinenz scheint eine natÝrliche Konsequenz der Seelenwanderungslehre zu sein, indessen ist hierzu WidersprÝchliches Ýberliefert: Keine Tiere dÝrfen getÚtet, geopfert, gegessen werden; bestimmte Tiere dÝrfen nicht getÚtet, geopfert, gegessen werden; alle Tiere dÝrfen getÚtet, geopfert und verzehrt werden, ausgenommen Pflugochsen und Widder. FÝr das Pythagoreertum des 5. Jhs. kann die erste dieser drei Àberlieferungen nicht belegt werden. UnabhÈngig von diesen dubios Ýberlieferten Verboten ist sicher, dass Befleckung der Seele durch ungerechtes Handeln weitaus schlimmer ist als die Verunreinigung des KÚrpers durch den Genuss bestimmter Speisen. Reinheit der Seele ist Voraussetzung fÝr das Erlangen von %Erkenntnis und Einsicht; nur eine reine Seele ist der Erkenntnis fÈhig. FortwÈhrende seelische Reinheit ist ohne askesis (Àbung, Training) nicht mÚglich; denn die Weise der LebensfÝhrung bleibt nicht ohne Einwirkung auf die Seele. Somit tritt neben das Reinheitsgebot die Forderung asketischer LebensfÝhrung. Ein Handbuch pythagoreischer %Ethik ist aus GrÝnden der Geheimhaltung nie verfasst worden; als Regeln der LebensfÝhrung galt alte Spruchweisheit, die Pythagoras zugeschrieben wurde und zum Teil ethische Anweisungen enthÈlt, teils der Magie entstammt und im ethischen Sinne interpretiert wurde, wie z. B. »nicht mit einem Messer im Feuer stochern« (= nicht die Affekte eines Menschen durch scharfe Worte erregen). Die durch seelische Reinheit und Askese ermÚg-
193
lichte Einsicht (sophia, %Weisheit) ist nicht auf die %Praxis bezogenes %Wissen, sondern Erkenntnis der in der Welt herrschenden Gesetzlichkeit, der innerweltlichen Harmonie. Das Streben nach dieser Einsicht oder Weisheit heißt Philosophie; das Wort philosophos soll nach einer weit verbreiteten ErzÈhlung erstmals von Pythagoras verwendet worden sein. Erkenntnis der in der Welt herrschenden Gesetzlichkeit umfasst auch die Einsicht in die Bedeutung von Leben und %Tod; denn %Welt und %Mensch sind aufgrund der Verwandtschaft aller Lebewesen eine Einheit, die durch ZahlenverhÈltnisse konstituiert ist. Zahlen- und MaßverhÈltnisse bestimmen alle Bereiche der Welt, sowohl die ElementarkÚrper als auch die aus ihnen bestehenden Dinge, die Menschen ebenso wie die Gestirne, des weiteren Seele und %Verstand, Beschaffenheiten wie z. B. Gerechtigkeit – womit die Bedeutung der ZahlenverhÈltnisse fÝr die Ethik dokumentiert ist – sowie den richtigen und entscheidenden Zeitpunkt. Seele und Verstand sind wahrscheinlich durch die Eins bestimmt, %Gerechtigkeit durch die erste Quadratzahl (Vier), der entscheidende Zeitpunkt anscheinend durch die Zahl Sieben entsprechend ihrer Bedeutung fÝr das menschliche Leben (z. B. Durchbruch der ersten ZÈhne nach sieben Monaten, Beginn der PubertÈt im vierzehnten Lebensjahr, Reife im einundzwanzigsten Jahr usw.). Aufgrund der Lehre des Pythagoras, dass alles Zahl ist, stellt sich dem pythagoreischen Philosophen die Aufgabe, die ZahlenverhÈltnisse zu erkennen. Hierdurch sind die mathematischen Studien der Pythagoreer zu erklÈren, welche die Grundlage boten fÝr die Erforschung der kosmischen Harmonie. Wer diese Harmonie, vornehmlich die Gesetzlichkeit der GestirnumschwÝnge, erkennt, gestaltet sein Leben harmonisch, d. h. wendet sie auf sein ethisches Verhalten an und schafft hierdurch die MÚglichkeit, dass er im zukÝnftigen Leben als Mensch, der nach Einsicht strebt, und nicht als Tier wiedergeboren wird. Ursprung aller Weisheit ist die Einsicht in die tetraktys, die Gruppe der ersten vier natÝrlichen Zahlen (1+2+3+4); sie wird als ›delphisches Orakel‹ bezeichnet, was besagt, dass sie wie OrakelsprÝche gedeutet werden muss. »Sie ist die Harmonie, in der die Sirenen singen«, was von %Platon als Harmonie der GestirnsphÈren gedeutet wird, sie »enthÈlt Quelle und Wurzel der
194
Quine, Willard Van Orman
ewig fließenden Natur«. Die Summe der ersten vier natÝrlichen Zahlen ist die vollkommene Zahl zehn; in der Zehn ist die gesamte Zahlenreihe ausgefaltet, weil alle Zahlen oberhalb der Zehn nur Wiederholungen sind; folglich enthÈlt die tetraktys in sich alle Zahlen und somit die Wesenheiten von allem; denn die Wesenheiten sind Zahlen. Diese HochschÈtzung der tetraktys steht in engem Zusammenhang mit astronomischen Vorstellungen. Dass die Gestirne einschließlich der Sonne, des Mondes und der damals bekannten fÝnf Planeten ewig und gÚttlich sind, steht fÝr alle Pythagoreer fest; aus der GÚttlichkeit der Gestirne ergibt sich, dass sie die vollkommene Gestalt der Kugel haben, was auch fÝr die Erde zutrifft, weiterhin, dass sie die vollkommene Bewegung, die Kreisbahn, vollfÝhren. WÈhrend entsprechend dem Èltesten astronomischen System der Pythagoreer die Erde sich im Mittelpunkt der Welt befindet und alle Gestirne um sie kreisen, kam es im 5. Jh. zu einer nderung, anscheinend aufgrund der Verehrung der tetraktys: Im Mittelpunkt der Welt befindet sich das Zentralfeuer, darum herum bewegen sich die Erde, zusammen mit der von der Erde aus nicht sichtbaren ›Gegenerde‹, die sieben Planeten (Sonne und Mond galten als Planeten) und die FixsternsphÈre. Es ergeben sich also in Àbereinstimmung mit der vollkommenen Zahl, die in der tetraktys enthalten ist, zehn GestirnsphÈren. Die Harmonie der GestirnsphÈren Èußert sich klanglich; denn dass der Umschwung der Sterne TÚne erzeugt, ist fÝr die Pythagoreer selbstverstÈndlich. Der Zusammenklang dieser TÚne ergibt einen musikalischen Akkord. Der einzige Mensch, der die SphÈrenharmonie hÚren konnte, ist der Legende zufolge Pythagoras; alle anderen haben sich an den lauten Klang gewÚhnt und hÚren ihn nicht. FÝr die mathematische Harmonielehre stellt sich die Aufgabe, die AbstÈnde der GestirnsphÈren zu berechnen und die Umlaufgeschwindigkeit zu bestimmen, damit die SphÈrenharmonie exakt angegeben werden kann. Instrumental- und Vokalmusik als ›Abbild‹ dieser Harmonie ziehen in sekundÈrer Weise Nutzen aus solchen Berechnungen, deren Ausgangspunkt Versuche am Monochord (einsaitiges Instrument mit beweglichen Stegen) waren, die Pythagoras vorgenommen haben soll. Die altpythagoreische Prinzipienlehre (Begrenzt – Unbegrenzt – Ungerade – Gerade, die Eins be-
steht aus beidem) wurde mit Sicherheit nicht von Pythagoras aufgestellt. Dass manche Lehren der Pythagoreer sich nicht auf Pythagoras zurÝckfÝhren lassen, ist dadurch bedingt, dass bereits in der Generation nach Pythagoras sich zwei Gruppen bildeten; die eine wollte nur das von Pythagoras GehÚrte Ýberliefern (Akusmatiker), weil die von Pythagoras geoffenbarte Weisheit unÝbertrefflich sei, wÈhrend die andere das Àberkommene vornehmlich durch mathematische Untersuchungen vermehren wollte (Mathematiker). Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von H. Diels / W. Kranz, Bd.1, Hamburg 1989 [Nachdr. der 6. Aufl. Berlin 1952] J. Mansfeld, Die Vorsokratiker (Auswahl), Bd.1, Stutt gart 1983 The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts, by G. S. Kirk / J. E. Raven / M. Schofield, 2. Aufl. Cambridge 1983 [Ýbers. von Karlheinz HÝlser, Stuttgart 1994] Geschichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike 1, von Thales bis Demokrit, von W. RÚd, 2. Aufl. MÝnchen 1988 W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft, NÝrnberg 1962 B. L. van der Waerden, Die Pythagoreer, religiÚse Bru derschaft und Schule der Wissenschaft, ZÝrich / MÝnchen 1979 K. B.
Quine, Willard Van Orman (*1908): Geboren am 25. 6. in Akron, Ohio; einer der bedeutendsten Logiker und Philosophen der Gegenwart. Beeinflusst vom amerikanischen %Pragmatismus wie vom logischen %Empirismus %Carnaps wurde er dessen schÈrfster Kritiker und leitete eine neue ra in der analytischen Gegenwartsphilosophie ein, wenngleich er an einer revidierten Fassung des Empirismus festhielt. Quines erste grundsÈtzliche Kritik am Programm des logischen Empirismus richtete sich gegen die ›zwei Dogmen des Empirismus‹, das reduktionistische Programm einer ZurÝckfÝhrung aller sinnvollen Aussagen auf Erfahrungsaussagen und die strikte Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen SÈtzen (Two Dogmas of Empiricism, 1951). Zwar kam auch Carnap selbst schon zu der Àberzeugung, dass das reduktionistische Programm, wie er es im Logischen Aufbau der Welt zu verwirklichen suchte, nicht durchfÝhrbar ist, aber es blieb teilweise in Form der Annahme erhalten, dass je-
Quine, Willard Van Orman
dem sinnvollen Satz eine Menge mÚglicher Erfahrungen zugeordnet werden kann, die ihn als wahr erweisen wÝrden. Nach Quine ist diese Annahme nicht haltbar, da niemals einzelne theoretische %Hypothesen an der %Erfahrung ÝberprÝft werden kÚnnen, sondern nur %Theorien als Ganzes. Denn in die Ableitung einer Beobachtungskonseqenz aus einer Hypothese gehen stets eine Reihe von zusÈtzlichen Hilfsannahmen ein, und wenn die Beobachtungskonsequenz an der Erfahrung fÝr falsch befunden wurde, muss man nicht zwangslÈufig die ÝberprÝfte Hypothese revidieren, sondern kann auch eine oder mehrere der Hilfsannahmen fÝr falsch erklÈren. Ebenso kÚnnte man den Beobachtungsbefund selbst revidieren, indem man etwa das korrekte Funktionieren des Messinstrumentes anzweifelt, und auch die Gesetze der Mathematik und %Logik kÚnnten nach Quine verÈndert werden, der keine prinzipiell unrevidierbaren SÈtze anerkennt. Somit ist nur die Theorie als Ganzes dem »Tribunal der Erfahrung« ausgesetzt. An welcher Stelle man sich in der Praxis fÝr eine Revision entscheidet, wird durch pragmatische Prinzipien wie Konservatismus oder Einfachheit bestimmt. Diese an Àberlegungen von Duhem anknÝpfende These wird als quine-duhemscher %Holismus bezeichnet. Begleitet wird diese holistische Auffassung durch die Annahme der empirischen Unterbestimmtheit aller wissenschaftlichen Theorien, nach der nicht einmal die Gesamtheit aller in unserem Universum mÚglichen Beobachtungen, ausgedrÝckt durch die Menge aller wahren BeobachtungssÈtze, die Theorie der Natur auf eindeutige Weise festlegt. Zwei Theorien kÚnnen empirisch gleichermaßen korrekt und trotzdem logisch unvertrÈglich sein. Aus diesem erkenntnistheoretischen Holismus und der von Quine vertretenen Verifikationstheorie der Satzbedeutung – die %Bedeutung eines Satzes ist allein dadurch bestimmt, welche Beobachtungen fÝr und welche gegen seine %Wahrheit sprechen – folgt ein Bedeutungsholismus: Man kann nicht von der Bedeutung einzelner SÈtze, sondern nur von der Bedeutung des Gesamtsystems sprechen. %Sprache und Theorie sind untrennbar miteinander verwoben, woraus sich ergibt, dass jeder Theorienwandel auch einen Bedeutungswandel der wissenschaftlichen %Begriffe impliziert und die empiristi-
195
sche Idee einer reinen Beobachtungssprache, die durch ihre Theoriefreiheit ausgezeichnet ist, verworfen werden muss; selbst die Begriffe, die sich scheinbar direkt auf etwas Beobachtbares beziehen, sind ›theoriedurchtrÈnkt‹. Der quinesche Holismus steht in direktem Zusammenhang mit der Kritik am ersten Dogma des Empirismus, der Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen SÈtzen. Obwohl der logische Empirismus die von %Kant angenommene Existenz von synthetischen SÈtzen %a priori bestritt, hielten seine AnhÈnger doch an der Unterscheidung zwischen synthetischen SÈtzen, die empirisch ÝberprÝfbare Erfahrungsurteile ausdrÝcken, und analytischen SÈtzen, deren Wahrheit entweder rein logisch ist (›Es regnet oder es regnet nicht‹) oder auf der Bedeutung der darin auftretenden AusdrÝcke beruht (›Alle Junggesellen sind unverheiratet‹), fest. Nach Quine ist diese Unterscheidung nicht haltbar, da der Begriff der AnalytizitÈt notorisch unklar und damit fÝr eine scharfe Grenzziehung unbrauchbar ist. Die MÚglichkeit, solche SÈtze als analytisch zu bezeichnen, die prinzipiell unrevidierbar sind oder an denen angesichts jeder mÚglichen Erfahrung festgehalten werden kann, scheidet aufgrund der holistischen These aus, nach der keinem Satz eine solche Sonderstellung zukommt. Da Quine den Begriff der logischen Wahrheit als klar akzeptiert, wenn er auch die These kritisiert, nach der diese SÈtze wahr kraft sprachlicher Konventionen sind (Truth by Convention, 1935), kÚnnte man einen Satz dann als analytisch bezeichnen, wenn er durch die Ersetzung der darin vorkommenden AusdrÝcke durch bedeutungsgleiche (synonyme) AusdrÝcke in eine logische Wahrheit ÝberfÝhrbar wÈre. Aber der Begriff der Synonymie ist fÝr Quine ebenso unklar wie der Begriff der AnalytizitÈt und Ýberhaupt alle intensionalen Begriffe (%Sprachphilosophie), sodass auch dieser Definitionsversuch, ebenso wie alle anderen, scheitert. Anders als Carnap, der ontologische Fragen nach der Existenz von abstrakten EntitÈten in Mathematik und %Semantik nicht als sinnvolle wissenschaftliche Fragen zuließ, hÈlt Quine derartige Fragen fÝr ebenso legitim wie Fragen nach der Existenz physischer Dinge. Um zu erkennen, welche %EntitÈten eine Theorie als existierend voraussetzt, welche ontologische Ver-
196
Quine, Willard Van Orman
pflichtung (engl. ontological commitment) sie eingeht, reicht es nicht aus, die verwendeten Namen zu betrachten, denn Namen kÚnnen auch in nicht bezeichnender Funktion gebraucht werden. Aber wenn ein Name eine bezeichnende Funktion hat, lÈsst sich aus jedem Satz, in dem er vorkommt, ein allgemeiner Existenzsatz ableiten (aus ›Sokrates war ein Mensch‹ folgt ›Es gibt einen Gegenstand mit der Eigenschaft, ein Mensch gewesen zu sein‹). Da nun allgemeine ExistenzsÈtze im logischen Symbolismus durch eine existenzielle Quantifikation ausgedrÝckt werden, bedeutet die Behauptung der Existenz einer bestimmten EntitÈt dasselbe wie die %Aussage, dass diese EntitÈt zum Wertebereich der gebundenen Variablen der Theorie gehÚrt. Daher kann Quine formulieren: Das Universum der EntitÈten ist der Wertebereich von Variablen, to be is to be the value of a variable. Und dieses Kriterium ist ebenso auf konkrete wie auf abstrakte EntitÈten anwendbar (Designation and Existence, 1939). Carnaps Einwand, derartige ontologische Behauptungen seien lediglich als externe praktische Fragen sinnvoll, die die Anerkennung eines sprachlichen Rahmens betreffen, nicht jedoch als interne theoretische Fragen, die eine wahre oder falsche Antwort haben kÚnnen, beantwortet Quine mit dem Versuch des Nachweises, dass die Intern-extern-Unterscheidung ebenso wenig haltbar ist wie die analytisch-synthetisch-Unterscheidung (Carnap’s Views on Ontology, 1951). Mit dieser Kritik wird auch die Idee einer besonderen Stellung der Philosophie endgÝltig destruiert. Schon Carnap hatte die traditionelle Auffassung verworfen, dass es Aufgabe der Philosophie sei, eine Ýber die Einzelwissenschaften hinausgehende, nicht empirische Erkenntnis zu liefern; fÝr ihn blieb als Aufgabenbereich des Philosophen lediglich die logische Analyse der Wissenschaftssprache bestehen. Aber damit wurde der nun als Wissenschaftslogik verstandenen Philosophie immer noch ein eigener Bereich zugewiesen, der grundsÈtzlich von dem der empirischen Einzelwissenschaften verschieden sein sollte; ihre Ergebnisse sind danach nicht empirischer, sondern logischer Natur, nicht synthetisch, sondern analytisch. FÝr Quine ist mit dem Scheitern der Dichotomie analytisch/synthetisch auch diese Unterscheidung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es gibt fÝr ihn nur noch eine Art
von Erkenntnissen, nÈmlich die in den verschiedenen Einzelwissenschaften gewonnenen, die zusammen die eine große Gesamttheorie der %Natur bilden. Auch die Philosophie gehÚrt zu dieser Gesamttheorie, es gibt keine Sonderstellung mehr fÝr sie. Welche Aufgaben kann dann eine philosophische Disziplin wie die %Erkenntnistheorie noch haben? Bei aller Kritik am logischen Empirismus versteht sich Quine immer noch als Empirist, weil er an zwei zentralen Thesen des Empirismus festhÈlt: Alles, was fÝr oder gegen eine wissenschaftliche Hypothese spricht, stammt aus der Beobachtung, und auch die Bedeutungen der WÚrter beruhen letztlich auf Beobachtungen. Aber dieser Empirismus darf nicht mehr reduktionistisch aufgefasst werden. Die Erkenntnistheorie hat es zwar weiterhin mit der Frage zu tun, in welchem Zusammenhang unsere wissenschaftlichen Theorien mit den Daten stehen, die wir Ýber die Reizungen unserer Sinnesorgane von der %Welt erhalten, aber die Beantwortung dieser Frage gehÚrt in die Naturwissenschaften, nÈmlich in die behavioristische Psychologie und Neurophysiologie. Die Erkenntnistheorie wird so ein Teil der Naturwissenschaft, ein Teil unserer Gesamttheorie, die letztlich auf der schmalen Grundlage unserer Sinnesreizungen aufgebaut wurde (Epistemology Naturalized, 1968). Diese Konzeption wird als erkenntnistheoretischer Naturalismus bezeichnet. Die Frage, wie Menschen sich sprachlich auf physische und abstrakte Objekte beziehen kÚnnen, versucht Quine durch eine behavioristische Theorie des Spracherwerbs zu beantworten (The Roots of Reference, 1974). Auf der Basis dieses gelÈuterten Empirismus geht Quine nun daran, die zur Analyse einer Sprache benÚtigten semantischen Begriffe neu einzufÝhren (Word and Object, 1960). GemÈß seiner Àberzeugung, dass die einzige Erkenntnisquelle Ýber die Sprache im empirisch beobachtbaren Verhalten der Sprecher besteht, definiert er die Reizbedeutung eines Satzes fÝr einen Sprecher als die Menge aller Sinnesreizungen, die diesen Sprecher auf Befragung dazu veranlassen wÝrden, dem Satz zuzustimmen. BeobachtungssÈtze sind SÈtze, auf die nur dann mit Zustimmung oder Ablehnung reagiert wird, wenn ein geeigneter Reiz vorhanden ist (SituationssÈtze) und deren Reizbedeutung fÝr alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft gleich und nur
Quine, Willard Van Orman
von einer minimalen Menge an vorher verfÝgbarer Information abhÈngig ist. Auf diese Weise gelingt es Quine, einen reformierten Begriff des Beobachtungssatzes zu gewinnen und so einen ›Eckpfeiler der Semantik‹ zu erhalten, der aufgrund seiner IntersubjektivitÈt eine Bastion gegen einen radikalen Relativismus darstellen soll. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit eine Sprache durch das beobachtbare Sprachverhalten der Sprecher bestimmt ist. Um dies zu untersuchen, betrachtet Quine die Situation einer radikalen oder ErstÝbersetzung einer vÚllig fremden Sprache in die eigene Muttersprache. Um eine ErstÝbersetzung einer solchen Sprache zu bewerkstelligen, kann sich der Linguist nur auf das beobachtbare Sprachverhalten der Sprecher stÝtzen. Inwieweit kann eine Àbersetzungshypothese nun einer empirischen Kontrolle unterzogen werden? Aufgrund von PlausibilitÈtsÝberlegungen gelangt Quine zu seiner These der Àbersetzungsunbestimmtheit, nach der es eine Vielzahl von miteinander unvertrÈglichen Àbersetzungen der einen Sprache in die andere gibt, die jedoch mit der Gesamtheit der Sprachverhaltensdispositionen der Sprecher beider Sprachen vertrÈglich sind. Lediglich die Àbersetzung von BeobachtungssÈtzen und logischen Wahrheiten ist eindeutig. Mit dem Nachweis der Àbersetzungsunbestimmtheit ist gleichzeitig die letzte MÚglichkeit fÝr eine akzeptable Definition intensionaler Begriffe wie der Synonymie verbaut. Denn gÈbe es nur eine korrekte Àbersetzung, so kÚnnte man sagen, dass die dadurch einander zugeordneten AusdrÝcke synonym sind, und Ýber diesen Begriff der zwischensprachlichen Synonymie kÈme man zum ganzen GerÝst der intensionalen Begriffe. Aber Quines These leistet noch mehr. Man betrachte den Beobachtungssatz »Gavagai!« der fremden Sprache, den ein Sprecher immer dann Èußert, wenn er einen Hasen sieht. Offenbar ist »Dort ist ein Hase!« eine korrekte Àbersetzung dieses Einwortsatzes. Aber damit ist noch nicht festgelegt, worauf sich der Sprecher mit dem Wort ›gavagai‹ bezieht. Er kann damit ›Hase‹ meinen, aber ebenso gut ›nicht abgetrennter Hasenteil‹ oder ›Manifestation von Hasenheit‹. Empirisch ist der Sachbezug (die Referenz) des Wortes nicht feststellbar, und wie Quine nachzuweisen versucht, scheitern auch alle Experimente, auf empirischem Wege eine Entscheidung herbei-
197
zufÝhren. Nicht nur die intensionale Bedeutung ist unbestimmt, sondern sogar die Referenz. Wenn man diese Àberlegungen konsequent weiterdenkt, kommt man zu dem Schluss, dass diese Unerforschlichkeit der Referenz nicht nur Àbersetzungen fremder Sprachen, sondern auch unsere Muttersprache betrifft. Auch hier ›Ýbersetzen‹ wir die ußerungen eines anderen Sprechers in unsere jeweils eigene Sprache, und auch hier gibt es eine Vielzahl von miteinander unvertrÈglichen Àbersetzungen, die mit den Verhaltensdispositionen der anderen Sprecher vollkommen vertrÈglich sind. Allerdings folgen wir hier meistens der Àbersetzungsregel der Homophonie, Ýbersetzen also in gleichlautende AusdrÝcke. Nur manchmal folgen wir dem ›Prinzip der Nachsicht‹ (engl. principle of charity) und wÈhlen eine heterophone Àbersetzung, wenn uns dadurch die ußerung eines Mitmenschen als weniger absurd erscheint. Kann man noch weiter gehen und die Unerforschlichkeit der Referenz auch auf die jeweils eigene Sprache ausdehnen? Man mÝsste dann fragen, ob man selbst sich mit ›Hase‹ wirklich auf Hasen bezieht oder nicht vielmehr auf Hasenteile etc. Die Antwort kÚnnte nur lauten: »Mit ›Hase‹ beziehe ich mich auf Hasen« und wollte man weiterfragen, worauf nun dieses Wort verweist, geriete man in einen unendlichen Regress. Nach der Referenz lÈsst sich also sinnvoll nicht in einem absoluten Sinne, sondern nur relativ zu einer gegeben Hintergrundsprache fragen, welche in der Praxis stets unsere jeweils eigene Muttersprache ist. Damit kann auch die Frage, auf welche GegenstÈnde die AusdrÝcke einer Theorie verweisen, nicht in einem absoluten Sinne beantwortet werden; die Ontologie einer Theorie ist nur relativ zur Ontologie einer gegebenen Rahmentheorie bestimmt, deren eigene Ontologie letztlich unerforschlich ist (Ontological Relativity, 1969). Quine hat die zeitgenÚssische analytische Philosophie geprÈgt wie wohl kein anderer. Der von ihm propagierte erkenntnistheoretische Naturalismus ist heute die einflussreichste philosophische StrÚmung in der amerikanischen Philosophie, und seine sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Schriften sind zu Klassikern geworden, ohne deren Kenntnis eine Auseinandersetzung mit der analytischen Gegenwartsphilosophie unmÚglich ist.
198
Rawls, John
H. Lauener, Willard Van Orman Quine, MÝnchen 1982 W. StegmÝller, HauptstrÚmungen der Gegenwartsphi losophie, Band II, 8. Aufl. Stuttgart 1987 D. Koppelberg, Die Aufhebung der analytischen Phi losophie. Quine als Synthese von Carnap und Neu rath, Frankfurt/M. 1987 R. Naumann, Das Realismusproblem in der analyti schen Philosophie, Freiburg / MÝnchen 1993 C. K.
Rawls, John (*1921–2002): Geboren in Baltimore; rÝckte die systematische %politische Philosophie wieder in das Zentrum des Interesses, als er neben %Freiheit, Effizienz und Fortschritt die %Gerechtigkeit als »erste Tugend einer %Gesellschaft« fÝr einen Gesellschaftsentwurf fruchtbar machte. Sein Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit hat entsprechend viele Kommentare und eine Reihe von GegenentwÝrfen herausgefordert. Schlagwortartig wird Rawls nach angelsÈchsischen Vorstellungen dem %Liberalismus zugeordnet; er selbst bezeichnet seine politische Philosophie als konstruktivistisch und kontraktualistisch. Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption ist schon deshalb konstruktivistisch, weil sie nicht bloße Exegese oder Rekonstruktion vorgegebenen Materials ist, sondern eine Konstruktion, ein Entwurf. Jedoch deduziert Rawls auch keine kategorischen Rechtsprinzipien, sondern gewinnt seine GerechtigkeitsgrundsÈtze, indem er sie mit Hilfe einer weithin akzeptablen %Methode von weithin geteilten Àberzeugungen aus konstruiert: Er fragt, wie rationale Personen unter vernÝnftigen Rahmenbedingungen die Grundstruktur ihrer Gesellschaft gerecht ordnen wÝrden. Bei der Ausarbeitung dieser Konstruktion greift Rawls auf Gedanken der vertragstheoretischen Tradition zurÝck. Dabei hat Rawls seine Auffassungen im Ergebnis Ýber Jahrzehnte erstaunlich konstant gehalten, seine %Argumentation fÝr diese Ergebnisse aber im Laufe der Zeit geÈndert. Das Ergebnis von Rawls Àberlegungen bilden insbesondere zwei GerechtigkeitsgrundsÈtze. Nach dem ersten Grundsatz ist es gerecht, wenn jede Person ein gleiches Recht auf ein vÚllig adÈquates System gleicher Grundrechte und Grundfreiheiten hat, das mit dem entsprechenden System von Freiheiten fÝr alle vereinbar ist; in diesem System wird der faire Wert der gleichen politischen Freiheiten, und nur dieser Freiheiten, ga-
rantiert. Der zweite Grundsatz erlaubt gesellschaftliche und Úkonomische Ungleichheiten unter zwei Bedingungen: Erstens mÝssen sie mit mtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen, und zweitens mÝssen sie den grÚßten Vorteil fÝr die am wenigsten begÝnstigten Mitglieder der Gesellschaft bringen. Dabei kommt der Umsetzung des ersten Grundsatzes lexikalische PrioritÈt vor der Verwirklichung des zweiten Grundsatzes zu: Erst wenn die Grundrechte und Grundfreiheiten fÝr alle garantiert sind, dÝrfen wir daran gehen, den Inhalt des zweiten Grundsatzes zu realisieren. Diese lexikalische PrioritÈt setzt sich innerhalb des zweiten Grundsatzes fort: Das so genannte Differenzprinzip darf nur in Angriff genommen werden, wenn zusÈtzlich bereits die genannte Chancengleichheit besteht. Nach Rawls gewinnen wir diese GrundsÈtze, wenn wir uns vorstellen, rationale Personen zu sein, die unter bestimmten, fairen Bedingungen Ýber GrundsÈtze fÝr die Rahmenordnung einer gerechten Gesellschaft zu entscheiden haben. Den Ausschlag geben damit die fairen Bedingungen, unter denen die GerechtigkeitsgrundsÈtze gewÈhlt werden sollen. Der Stellenwert dieser Bedingungen fÝr Rawls lÈsst sich daraus ermessen, dass er seine Gerechtigkeitskonzeption »Gerechtigkeit als Fairness« nennt. Diese fairen Bedingungen illustriert Rawls im so genannten »Urzustand«. Sie sind fÝr die Wahl einer Gerechtigkeitskonzeption deshalb nÚtig, weil sonst Verzerrungen diese Wahl beeinflussen wÝrden. Wer viel Land sein eigen nennt, kÚnnte geneigt sein, den Schutz des Landeigentums fÝr vorrangig zu erklÈren, Èngstliche Naturen einen starken Staat fordern usw. Es ist deshalb notwendig, zunÈchst das normativ politisch Bedeutsame vom Irrelevanten zu trennen, um dann unter idealen Bedingungen die Gerechtigkeitskonzeption zu wÈhlen, die das normativ politisch Bedeutsame optimal zuordnet. Dies geschieht nach Rawls am besten so, dass wir uns vorstellen, wir wÝrden alle das fÝr Gerechtigkeitskonzeptionen Irrelevante nicht kennen. Bildlich gesprochen verschwindet es hinter einem Schleier der Unwissenheit. ZugÈnglich bleibt hinter diesem Schleier nur das fÝr alle Gerechtigkeitskonzeptionen Beachtliche. Wir kÚnnen uns jederzeit leicht die-
Rawls, John
ses Mittels bedienen und uns so – bildlich gesprochen – in eine Situation versetzen, in der wir Ýber das fÝr Gerechtigkeitsfragen Bedeutsame entscheiden, ohne den EinflÝssen des dafÝr Irrelevanten ausgesetzt zu sein. Diese Situation nennt Rawls den »Urzustand«. Er konstruiert den Urzustand so, dass es hinter dem Schleier der Unwissenheit nur GrundgÝter gibt, welche gerecht verteilt werden mÝssen. Eine Gerechtigkeitskonzeption besteht also aus %Prinzipien Ýber die Verteilung dieser GÝter, die fÝr die Grundstruktur einer Gesellschaft konstitutiv sind. Zu den GrundgÝtern zÈhlen die Grundrechte und Grundfreiheiten; FreizÝgigkeit und Berufsfreiheit vor dem Hintergrund unterschiedlicher MÚglichkeiten; Befugnisse und Vorrechte, die mit bestimmten mtern und Positionen in der Grundstruktur einer Gesellschaft einhergehen; Einkommen und Besitz; und schließlich die gesellschaftlichen Grundlagen der Selbstachtung. Versetzen wir uns gedanklich in den Urzustand, so mÝssen wir Ýberlegen, wie wir unter dessen Bedingungen diese GrundgÝter verteilen. Immerhin wissen wir demnach hinter dem Schleier der Unwissenheit nichts Ýber unsere persÚnlichen Ziele und Interessen, ja, wir wissen noch nicht einmal, wie unser privates Umfeld ist oder zu welcher Generation wir gehÚren. Dieses Wissen fÝhrte nur zu Verzerrungen, die aus persÚnlich gefÈrbten EinschÈtzungen entspringen. Deshalb spricht Rawls im Urzustand auch nicht von Personen, sondern von »Parteien«. Wir kÚnnten uns sogar vorstellen, dass Parteien im Urzustand nicht einzelne Personen reprÈsentieren, sondern Generationenfolgen oder Korporationen. Jedenfalls mÝssen wir aber von der Gleichberechtigung aller Parteien im Urzustand ausgehen. Diese Gleichberechtigung bringt es mit sich, dass die unter diesen Bedingungen zu wÈhlenden Prinzipien gegenÝber allen Parteien zu rechtfertigen sind. Wenn wir uns nun vorstellen, wie es bei Rawls auch der Fall ist, dass die Parteien im Urzustand einzelne BÝrger (wie uns) reprÈsentieren, dann mÝssen die im Urzustand zu wÈhlenden Prinzipien also fÝr alle vor allen begrÝndbar sein. Die Prinzipien mÝssen daher Úffentlich sein. Den so am besten begrÝndeten Prinzipien mÝssen alle folgen. Wir kÚnnen deshalb diese Prinzipien so ansehen, als hÈtten wir darÝber einen Vertrag geschlossen, so vor-
199
teilhaft und verbindlich sind diese Inhalte fÝr uns. Warum aber hat die Liste der GrundgÝter den genannten Inhalt? Anders gefragt: Warum sind genau diese GrundgÝter fÝr eine Gerechtigkeitskonzeption bedeutsam und nichts anderes? Hier ist wichtig, Rawls’ Ausgangspunkte zu nennen: Nach seiner Auffassung muss heute jeder, der es unternimmt, politische Philosophie zu betreiben, dem Umstand Rechnung tragen, dass schon in einer einzigen Gesellschaft unterschiedliche moralphilosophische Positionen vertreten werden. Es gibt, wie Rawls sagt, einen Pluralismus vernÝnftiger Theorien des %Guten. FÝr die politische Philosophie entsteht so das Rechtfertigungsproblem, dass die AnhÈnger unterschiedlicher vernÝnftiger Theorien des Guten verschiedener Auffassung sind Ýber die beste Ordnung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens. Wie ist unter solchen UmstÈnden noch eine fÝr Vertreter aller Theorien des Guten akzeptable politische Philosophie mÚglich? Rawls greift zur LÚsung dieses Problems auf seine Methode des Àberlegungsgleichgewichts zurÝck: Wir mÝssen Ansatzpunkte fÝr die politische Philosophie finden, die mit den besonders fest verwurzelten Intuitionen und Àberzeugungen der Einzelnen vereinbar sind, die jeweils durch die vernÝnftigen Theorien des Guten geprÈgt sind. In Eine Theorie der Gerechtigkeit war Rawls noch der Àberzeugung, dass es einen gemeinsamen Nukleus aller moralischen Positionen gibt, der sich in einer schwachen, fÝr alle akzeptablen Theorie des Guten formulieren lÈsst. Auf dieser schwachen Theorie des Guten mÝssen erfolgversprechende Gerechtigkeitskonzeptionen aufbauen. Die Liste der GrundgÝter ist Ausfluss dieser schwachen Theorie des Guten. Sie sind allgemein dienliche Mittel fÝr die Verwirklichung der einzelnen Theorien des Guten. So inkorporierten die einzelnen umfassenden Theorien des Guten alle die schließlich konstruierte Gerechtigkeitskonzeption. Diese Gerechtigkeitskonzeption und die verschiedenen Theorien des Guten wÝrden sich, so Rawls damals, wechselseitig stÝtzen, sodass die gerechte Gesellschaft auch stabil wÈre. Von diesen Àberlegungen hat Rawls inzwischen Abstand genommen. Es gibt keine allen Theorien des Guten gemeinsame schwache Theorie. Damit bleibt nur eine Alternative: Eine
200
Rawls, John
Erfolg versprechende Gerechtigkeitskonzeption muss (so weit wie mÚglich) unabhÈngig von den einzelnen vernÝnftigen Theorien des Guten konstruiert werden. Sie muss ihre grundlegenden Begriffe dem Bereich des Politischen selbst entnehmen und sich auf diesen Bereich beschrÈnken. Diesen BegrÝndungsansatz nennt Rawls »politischen Liberalismus«; er ist Gegenstand seiner gleichnamigen zweiten Monographie. Eine auf diesem Wege begrÝndete Gesellschaft kann nur insoweit stabil sein, als es in einer Gesellschaft einen Ýbergreifenden Konsens Ýber ihre grundlegenden Begriffe und Verfahren gibt. Die drei grundlegenden Begriffe des politischen Liberalismus, die Rawls dem Bereich des Politischen selbst entnimmt, sind: »BÝrger«, »Gesellschaft« verstanden als System sozialer Kooperation freier und gleicher BÝrger, und »wohlgeordnete Gesellschaft«, in der alle BÝrger gemÈß den GrundsÈtzen der Gerechtigkeit handeln und dies voneinander wissen. Die wohlgeordnete Gesellschaft ist so das Ideal aller, die normative politische Philosophie fÝr mÚglich und notwendig halten. Den Begriff des »BÝrgers« gewinnt Rawls aus der Tatsache, dass wir uns auf politische Philosophie mit moralischem Befolgungsund Rechtfertigungsanspruch Ýberhaupt einlassen. So wÈre es bloße Gedankenspielerei, normative politische Philosophie zu betreiben, wenn wir nicht in der Lage wÈren, uns einer Gerechtigkeitskonzeption gemÈß zu verhalten. Wir mÝssen deshalb fÝr jede politische Philosophie mit moralischem Anspruch die FÈhigkeit voraussetzen, eine Gerechtigkeitskonzeption zu verstehen, sie anzuwenden und ihr gemÈß zu handeln. Diese FÈhigkeit nennt Rawls den »Gerechtigkeitssinn«. Diesen Gerechtigkeitssinn mÝssen wir fÝr alle voraussetzen, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft kooperieren. Daraus ergibt sich der Begriff der gleichen BÝrger, da jeder zunÈchst einmal in gleicher Weise mit dem notwendigen Gerechtigkeitssinn ausgestattet ist. Wenn wir zudem dem Pluralismus vernÝnftiger Theorien des Guten Beachtung schenken, dann beachten wir auch die MÚglichkeit der Einzelnen, eine Theorie des Guten zu entwickeln, zu verfolgen und zu revidieren. Wir geben auch zu, dass diese Einzelnen sich selbst als Personen begreifen, die AnsprÝche an eine Gesellschaft stellen kÚnnen, in der sie mit anderen verant-
wortlich kooperieren. Kurz: Wir betrachten uns auch als freie BÝrger, die ihre gesellschaftliche Kooperation gerecht gestalten wollen. Daraus ergibt sich der von Rawls verwendete Begriff der »freien und gleichen BÝrger«. Diesen Begriff sollten zumindest alle die akzeptieren kÚnnen, die sich fÝr Demokraten halten. Demokraten werden deshalb Rawls zustimmen, dass die Parteien im Urzustand einzelne freie und gleiche BÝrger reprÈsentieren, denen gegenÝber Gerechtigkeitskonzeptionen zu rechtfertigen sind. Nur das fÝr die Kooperation solcher BÝrger Wesentliche findet Eingang in die Liste der GrundgÝter. So wird die Liste der GrundgÝter nicht mehr aus den einzelnen, umstrittenen Theorien des Guten gewonnen, sie ist vielmehr Folge des Versuchs, politische Philosophie in Zeiten des Pluralismus zu betreiben. Sind sich Demokraten Ýber die drei politischen Grundbegriffe, die ReprÈsentation und die Liste der GrÝndgÝter erst einig, dann mÝssten sie auch Konsens Ýber die GerechtigkeitsgrundsÈtze erzielen kÚnnen, die Rawls fÝr die Grundstruktur demokratischer Gesellschaften vorschlÈgt. Dabei ist sich Rawls durchaus der Tatsache bewusst, dass seine GerechtigkeitsgrundsÈtze erst noch ausdifferenziert und fÝr die Praxis fruchtbar gemacht werden mÝssen. Er ist aber der Auffassung, dass dies in einer Weise geschehen kann, die seinem Anliegen gerecht wird, wenn sich die BÝrger in Úffentlichen Debatten Ýber die wesentlichen Verfassungsinhalte und Fragen grundlegender Gerechtigkeit verstÈndigen. Auch bei diesem ›Úffentlichen Vernunftgebrauch‹ ist der Leitgedanke wieder der der Einklammerung. Die betreffenden Entscheidungen mÝssen vor allen anderen gerechtfertigt werden kÚnnen, mit denen wir nicht die Theorie des Guten teilen. Die betreffenden Entscheidungen mÝssen deshalb auf die GerechtigkeitsgrundsÈtze oder die Konstruktionselemente der »Gerechtigkeit als Fairness« gestÝtzt werden kÚnnen. Das schließt nicht aus, dass jemand eine entsprechende LÚsung in der politischen Debatte vehement vom Standpunkt seiner eigenen Theorie des Guten aus einfordert. Nur ist dies unbeachtlich, solange die entsprechende Entscheidung nicht auch durch Úffentlichen Vernunftgebrauch gerechtfertigt werden kann. Erst wenn eine solche Rechtfertigung gelingt, lÈsst sich etwa eine Verfassungsnorm als legitim an-
Sartre, Jean-Paul
sehen. Ist jedoch eine Verfassungsnorm als legitim anerkannt, so muss auch diese in den weiteren Prozessen Beachtung finden. In einem komplexen mehrstufigen %Modell konkretisieren so gewonnene %Normen die zunÈchst gewonnenen GerechtigkeitsgrundsÈtze. Bei den jeweiligen Anwendungsprozeduren ist dann der Schleier der Unwissenheit entsprechend weiter zu heben, mehr Fakten mÝssen etwa bekannt sein, um eine gerechte Wirtschaftsordnung auf der Ebene einfacher Gesetzgebung zu konstruieren. Im Rahmen Úffentlichen Vernunftgebrauchs werden durch ein Hin und Her des Blicks die Fakten mit den bereits gewonnenen Prinzipien und Normen abgeglichen und konkretisiert. Die schließlich entstehende, durchaus konkrete und durch den Abgleich mit der Faktenlage individualisierte ideale Ordnung befindet sich so auf allen Stufen der Allgemeinheit fÝr alle Beteiligten im Àberlegungsgleichgewicht. Rawls’ Theorie wurde von verschiedenen Seiten heftig kritisiert: LibertÈre etwa bemÈngeln, dass er Ýberhaupt faire Bedingungen konstruiert, unter denen rationale Akteure tÈtig werden. Sie meinen, dass entscheidend ist, von einem gerechtfertigten Ausgangszustand aus die Verteilung zu akzeptieren, die sich aus freiwilligen ÀbereinkÝnften der Betroffenen ergibt. Rawls kann dem entgegenhalten, dass es weder einen solchen fairen Ausgangszustand je gegeben hat, noch sich anders als durch Konstruktion die Bedingungen der Fairness gewinnen lassen. Eine Konstruktion gerechter Ausgangsbedingungen ist deshalb unverzichtbar. Kommunitaristen wenden sich gegen Rawls’ Einklammerungsstrategie, die seine Konstruktion auszeichnet. Sie sind der Auffassung, dass die gewachsenen Strukturen konkreter Gesellschaften auf die ein oder andere Weise in die Gerechtigkeitsvorstellungen fÝr diese konkreten Gesellschaften einfließen mÝssen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Rawls’ Konkretisierung durch Verfahren den entscheidenden Vorteil hat, auch Menschen einbinden zu kÚnnen, die aus einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund stammen. So ist Rawls’ Theorie mit der Vorstellung universeller %Menschenrechte kompatibel. Er kommt außerdem nicht in die Verlegenheit, die bestehenden Grenzen der jeweiligen Gesellschaft normativ rechtfertigen zu mÝssen. Freilich erkennt Rawls an, dass es verschiedene VÚlker gibt, die auf je
201
ihre Weise durch Úffentlichen Vernunftgebrauch voneinander abweichende, faire Gesellschaftssysteme schaffen kÚnnen. Auch gibt es VÚlker, die nicht die demokratischen Ausgangspunkte teilen, die Rawls in seinen Begriffen von »BÝrger« und »Gesellschaft« voraussetzt. In seiner letzten Monographie The Law of Peoples greift Rawls diesen Punkt auf und argumentiert dafÝr, den Liberalismus gleichsam nach außen zu wenden, zu respektieren, dass es anstÈndige hierarchische Gesellschaften gibt. Tyrannische Gesellschaften freilich, die die Menschenrechte ihrer BÝrger willkÝrlich und gewaltsam unterdrÝcken, mÝssen nach seiner Vorstellung in die Schranken gewiesen, notfalls auch mit militÈrischen Mitteln angegriffen und verÈndert werden. SpÈtestens hier werden auch im Ergebnis Unterschiede zu anderen, im weiteren Sinne liberalen politischen Philosophien deutlich wie etwa der Diskursethik oder dem Utilitarismus. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2001 [Original: Cambridge/Mass. 1971] J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998 [Original: New York 1993] : The Law of Peoples, Cambridge/Mass. 1999 [dt. in Vorbereitung] : Die Idee des politischen Liberalismus, hg. und ein geleitet von W. Hinsch, Frankfurt/M. 1992 John Rawls in der Diskussion, hg. von W. Hinsch, Frankfurt/M. 1996 Th. Pogge, John Rawls, MÝnchen 1994 O. HÚffe (Hg.), John Rawls: Eine Theorie der Gerechtig keit, Berlin 1998 M. A.
Sartre, Jean-Paul (1905–1980): lebte in Paris, wurde dort am 21. 6. geboren und starb dort am 15. 4.; bezeichnet sich selbst als Vertreter eines atheistischen %Existenzialismus: Der Mensch »taucht in der Welt auf«, »begegnet sich«, »erfasst sich als existierend fÝr nichts, als ÝberflÝssig«. – »Der Mensch ist verlassen, weil er weder in sich noch außer sich eine MÚglichkeit findet, sich an etwas festzuklammern.« Weder gibt es eine menschliche Wesensbestimmung, deren ErfÝllung Sinn und Orientierung gÈbe, noch eine fÝr alle verbindliche natÝrliche %Ordnung, weil es keinen %Gott gibt, der sie geschaffen haben kÚnnte. »Wir sind allein, ohne Entschuldigungen, . . . der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Ver-
202
Sartre, Jean-Paul
urteilt, weil er sich nicht selbst geschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, verantwortlich ist fÝr das, was er tut.« – Wie lÈsst sich ein solches DaseinsverstÈndnis metaphysisch begrÝnden, und: UntergrÈbt es nicht jedes positive VerhÈltnis zum Leben? Sartres ›phÈnomenologische Ontologie‹, die er in Das Sein und das Nichts vorlegt, fÝhrt zu dem Ergebnis, dass es zwei ›Seinsregionen‹ gibt: 1. Die Dinge erscheinen als das, was sie sind und sind nichts als die Gesamtheit ihrer %Erscheinungen. ›voll von sich‹ ermangeln sie dennoch der Tiefe; sie sind, was sie sind, undurchdringlich, ohne Daseinssinn, ÝberflÝssig: sie sind ›an sich‹. 2. Es zeigt sich andererseits ein %Sein, das nicht darin aufgeht zu sein, was es ist, und dies ist das %Bewusstsein. Das Bewusstsein ist kein Ding, keine %Substanz. Als solches wÈre es voll von sich und es bliebe unerklÈrlich, wie es Bewusstsein von etwas, von einem Gegenstand sein kÚnnte. WÈre es selbst etwas, wÝrde dieses Etwas die Durchsichtigkeit fÝr die Dinge verstellen. Das Bewusstsein entspringt als das dem Sein Entgegengesetzte, als sich selbst durchsichtiger Bezug zu ihm. Das dem Sein Entgegengesetzte aber ist das Nichts. So ist das Bewusstsein ›Nichtung‹, und als solches ›nichtendes‹ Wissen um das, was erscheint; es »entsteht auf das Sein hin gerichtet«. Seine Existenz ist gleichsam parasitÈr; als Nichtung des An-sichSeins ist es ›fÝr sich‹. Das Bewusstsein ist reine, unpersÚnliche SpontaneitÈt. Folglich wird es auch von keinem %Ich bewohnt. Das Ich als ein BÝndel von SeelenzustÈnden, Erbanlagen und sozialen Determinanten gehÚrt zum An-sich-Sein des Menschen, es ist Teil der %Welt, nicht des Bewusstseins. Dieses Ich ist der Ausgangspunkt, aber nicht die %Wirklichkeit meines menschlichen %Daseins. Diese %konstituiert sich durch Bewusstsein als Nichtung meines Ichs als Teil der Welt, der ich in einem bestimmten sozialen und historischen Kontext bin. Die Nichtung meiner selbst als Gegebener lÚst mich von mir selber los, setzt mich in Distanz zu mir selber; sie bildet die Grundlage meiner %Freiheit und der Notwendigkeit, mich in ein bewusstes VerhÈltnis zu mir zu setzen, mich zu ›definieren‹. Die Wahl eines bewussten VerhÈltnisses zu mir selbst nennt Sartre den ›Entwurf‹. Dies ist die positive Seite der Freiheit: Der
Mensch ist nicht festgeschrieben, nicht determiniert; er hat stets sich und den Dingen gegenÝber eine Wahl. Zwar kann er das Gegebene nicht annulieren, es gewinnt aber erst und allein durch das gewÈhlte VerhÈltnis zu ihm Tragweite und %Bedeutung. So konnte der Dichter Marcel Proust das Krankenbett zwar nicht mehr verlassen, aber es blieb ihm doch eine Wahl: entweder sich der Krankheit hinzugeben, zu resignieren; dann hÈtte er sich durch sie definiert und sie wÈre sein %Wesen geworden. Oder ihr den %Willen entgegenzusetzen, schreibend sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben. Dieser Wahl verdanken wir einen der schÚnsten Romanzyklen des 19. Jahrhunderts. Als nichtende Àberschreitung des Gegebenen hat der Mensch stets ein Spektrum von MÚglichkeiten. So trÈgt er auch die volle und ganze %Verantwortung fÝr sich selbst. Nichts legt ihn fest, nichts entschuldigt ihn. Dies nennt Sartre die ›optimistische HÈrte‹ seiner Philosophie. Auf der anderen Seite bedeutet diese Freiheit in ihrem stÈndigen Außer-sich-Sein den Verlust des Selbst, der %IdentitÈt. »Das Ego erscheint dem Bewusstsein als jenseitiges An-sich, als Existenz der menschlichen Welt, nicht des Bewusstseins.« – »Ich ist ein anderer.« Was unserem Sein die persÚnliche Existenz verleiht, ist nicht der Besitz eines Ich, sondern die Tatsache der SelbstgegenwÈrtigkeit. Das Bewusstsein erfÈhrt sich daher als nichtende Bewegung in der %Angst: »Nichts kann mich gegen mich selbst sichern, abgeschnitten von der Welt und meinem Wesen durch dieses Nichts, das ich bin, habe ich den Sinn der Welt und meines Wesens zu realisieren. Die Angst, das ist die Furcht, mich zu diesem Treffen nicht einzufinden.« Verlassenheit und Angst sind der Preis der Konstitution des Bewusstseins. Zugleich erfÈhrt sich der Mensch in seiner Existenz als da ›fÝr nichts‹, als haltlos, ›ÝberflÝssig‹, verloren (kontingent). Seine Existenz, sein An-sich- und sein FÝr-sich-Sein, liegen gleichsam nicht in seiner Hand. Diese %Kontingenz strebt das FÝr-sich zu Ýberwinden durch den Versuch der SelbstgrÝndung; es entspringt dem Verlangen des FÝr-sich, ›Ursache seiner selbst‹ und damit ganz und nur das zu sein, was zu sein es selbst bestimmt. Dann wÈren die Kontingenz und das Außer-sich-Sein aufgehoben, das FÝr-sich wÈre ganz bei sich selbst.
Sartre, Jean-Paul
Aber dieser Versuch muss scheitern. Denn um ganz %Ursache seiner selbst zu sein, mÝsste sich das FÝr-sich loslÚsen kÚnnen vom Ansich, als dessen reine Nichtung es Ýberhaupt existiert, und sich dann als nicht mehr ÝberflÝssiges, sondern intendiertes An-sich-Sein zu konstituieren. Das aber wÈre die unmÚgliche %Synthese des An-sich und des FÝr-sich-Seins: das FÝr-sich als reine Nichtung kann nicht zur Einheit mit sich selbst, die das An-sich kennzeichnet, zurÝckkehren, ohne sich selbst (als Bewusstsein) aufzugeben. So »ist es das Selbst als verfehltes An-sich-Sein, das den Sinn der menschlichen Wirklichkeit ausmacht.« An-und-fÝr-sich, also zugleich identisch mit sich und vÚllig selbstdurchsichtig zu sein als Ursache seiner selbst, das erscheint als das Ziel der nichtenden Bewegung des Seins und damit als Grundimpuls allen menschlichen Tuns. »So taucht die menschliche Wirklichkeit als solche im Angesicht . . . des Selbst als Verfehlen dieser TotalitÈt auf. . . . Wenn diese TotalitÈt . . . durch eine weitere Bewegung der Meditation hypostasiert wird als Transzendenz jenseits der Welt, so nimmt sie den Namen Gottes an.« Ist Gott nicht zugleich ganz IdentitÈt bzw. PositivitÈt als Grund der Welt und zugleich ganz Nichtung als vÚllige Selbstdurchsichtigkeit und Grund seiner selbst? »So verhÈlt sich die Leidenschaft des Menschen umgekehrt zu der Christi, denn der Mensch verliert sich als Mensch, damit Gott werde. Aber die Idee Gottes ist widersprÝchlich, und wir verlieren uns vergebens. Der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.« Neben dem An-sich und FÝr-sich kennzeichnet das Dasein noch eine dritte fundamentale Dimension: das FÝr-den-Anderen-Sein. Sartre erhellt dies durch eine Analyse des Blicks: Jemand beobachtet durch ein SchlÝsselloch eine sexuelle Szene. Sein Bewusstsein geht ganz auf in der Wahrnehmung dieser Szene, distanzlos, ohne Bewusstsein seiner selbst bzw. der Situation oder des Tuns. Dann hÚrt er Schritte im RÝcken. Er weiß sich beobachtet bzw. durch den Blick eines Anderen getroffen; jetzt wird er sich der Situation bewusst und sieht sich selbst gleichsam von außen: als Voyeur. Sartre will hiermit sagen: Der Blick des Anderen macht mich zum %Objekt und lÚst in mir eine fundamentale VerÈnderung aus. »Das Auftauchen des Anderen trifft das FÝr-sich mitten ins Herz.«
203
Das Objekt, dass ich fÝr den Anderen bin, wird Gegenstand meines Bewusstseins; dies lÚst ein neues, reflexives VerhÈltnis zu mir selber aus. Ich sehe mich plÚtzlich mit den Augen des Anderen und gestehe in der Scham ein, dass ich wirklich dieses Objekt bin. Der Blick des Anderen ist der Ausgangspunkt und die notwendige Bedingung einer reflektierenden VerhÈltnisbestimmung zu mir selbst, »eines jeden Gedankens, den ich Ýber mich selbst versuchen wollte« – wohlgemerkt: nicht als Objekt, das ich fÝr mich, sondern das ich fÝr den Anderen bin. Das Urteil, das der Andere durch seinen Blick Ýber mich fÈllt, indem er mich zum Objekt macht, zwingt mich zu einer neuen VerhÈltnisbestimmung zu mir selbst. Der Andere hat Gewalt Ýber mich. Sein Blick entfremdet mich von mir selbst als freiem %Subjekt. Ich kann mich dagegen wehren, indem ich den Anderen meinem Blick unterwerfe und damit mein Objektsein zurÝckweise. Eine Wechselseitigkeit des Blicks gibt es nicht. Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein eines Objekts, nie einer anderen Freiheit. Die Beziehung zum Anderen verlÈuft stets nur Ýber das Ich-Objekt, das ich fÝr den Anderen bin (und umgekehrt). »So ist dieses entfremdete . . . Ich zugleich meine Verbindung zum Anderen und das %Symbol unseres absoluten Getrenntseins.« Der SchlÝssel zu mir liegt somit in der Hand des Anderen, in seiner Freiheit. Ich habe keine Sicherheit, bin ich gefÈhrdet in meiner Freiheit. Der einzige Weg, die Definitionsmacht Ýber mich zurÝckzugewinnen, ist der Versuch, die Freiheit des Anderen in meine Hand zu bekommen, indem ich mich zum ›faszinierenden Objekt‹ fÝr den Anderen mache, ihn verfÝhre. Das ist fÝr Sartre die Bestimmung der %Liebe: Wenn es mir gelingt, die Freiheit des Anderen in meinen Bann zu ziehen, sodass ich – allein und ausschließlich – die Welt fÝr den Anderen bin, erlange ich die Definitionsmacht Ýber mich selbst zurÝck und bin zugleich nicht mehr ›ÝberflÝssig‹, weil gewollt und bejaht von der Freiheit des Anderen. »Das ist der Grund des LiebesglÝcks, wenn es vorhanden ist: Wir fÝhlen uns gerechtfertigt, zu existieren.« Aber dieser Versuch muss scheitern. Eine Freiheit, die sich im Anderen verliert, zerstÚrt sich als Freiheit. »Im Liebespaar will jeder Objekt sein, in dem sich die Freiheit des Anderen
204
Sartre, Jean-Paul
entfremdet. So gilt: Wenn der Andere mich liebt, enttÈuscht er mich radikal durch seine Liebe selbst.« Wozu ist es gut all dies zu wissen? – Sartre spricht von einer befreienden Wirkung einer auf diese Einsichten gegrÝndeten existenziellen Psychoanalyse: Wenn wir wissen, dass all unser Streben letztlich auf die unmÚgliche SelbstgrÝndung gerichtet ist, dann erfassen und bejahen wir unser Suchen und Tun als Ausdruck einer inneren, ontologischen Notwendigkeit; dies versÚhnt uns mit dem Scheitern unserer LebensentwÝrfe und schafft die Grundlage einer SolidaritÈt unter Menschen, die vom Anderen nicht mehr verlangt, als man selber geben kann. »Wenn ich das unmÚgliche Heil in der Requisitenkammer abgebe, was bleibt? Ein ganzer Mensch, aus allen Menschen gemacht, der soviel wert ist wie sie alle und wie ein jeder von ihnen.« Der metaphysische Pessimismus entzieht einer positiven %Moral keineswegs die Grundlage, im Gegenteil: Wenn Ursprung und Ziel alles Handelns die Freiheit ist, so kann ich meine Freiheit nicht wollen, ohne Freiheit Ýberhaupt und dann auch fÝr jeden Menschen zu wollen. In diesem Sinne hat Sartre sich vielfach im Kampf gegen UnterdrÝckung und Entrechtung engagiert. Die menschliche Wirklichkeit ist fÝr Sartre keine monadische, sondern eine Existenz in der Welt und unter Menschen; als solche ist sie allen MÈchten der %Gesellschaft und %Geschichte ausgesetzt. So bedarf die Philosophie der Existenz zu ihrer ErgÈnzung einer Philosophie der Gesellschaft und Geschichte, die Sartre in der Kritik der dialektischen Vernunft vorlegt. Schon frÝh (1936) hatte er darauf hingewiesen, dass »eine so fruchtbare Arbeitshypothese wie der historische %Materialismus« keineswegs an einen metaphysischen Materialismus gebunden ist. Im Marxismus findet er das Instrumentarium fÝr eine kritische Gesellschaftsanalyse: »Der Mensch muss nicht nur gegen die Natur kÈmpfen, gegen das soziale Milieu, das ihn hervorgebracht hat, gegen andere Menschen, sondern auch gegen seine eigene Tat.« Sartre nennt als Beispiel die Abnutzung großer Waldgebiete in China. Ziel war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern. In der Folge stellte sich Bodenerosion ein, ein Abfließen des
Regenwassers und mangelnde Luftfeuchtigkeit; die BodenertrÈge schrumpften, die Bauern verarmten. Diese Aktion schlÈgt in eine »GegenfinalitÈt« um, die die Zielsetzung unserer Handlungen in eine Richtung umbiegt, die sich gegen uns selbst kehrt. – Die Ausbeutung der Natur fÝhrt zum Mangel, die Not lÈsst den Anderen, den Mitmenschen, zum Feind und Konkurrenten werden. »Das Individuum wird von jedem in seinem Sein in Frage gestellt. So kehrt sich sein eigenes Tun gegen es selbst. . . . FÝr jeden existiert der Mensch als unmenschlicher Mensch.« Sartre beschreibt eindringlich den Verelendungsprozess in der frÝhkapitalistischen Gesellschaft: Die Not treibt die Arbeiter in ein KonkurrenzverhÈltnis: Jeder kÈmpft gegen den anderen um einen Tageslohn, damit er und die Seinen nicht hungern, was dem Unternehmer erlaubt, die LÚhne zu drÝcken. Indem der Einzelne sein Ziel erreicht (Brot fÝr die Seinen), befÚrdert er die Verelendung seiner Klasse. »Indem wir unser eigenes Ziel erreicht haben, verstehen wir, dass wir anderes verwirklicht haben.« Dies ist die %Entfremdung, die uns die vom Menschen selbst geschaffene Gesellschaft des Mangels aufzwingt: Das Produkt unserer TÈtigkeit konstituiert sich als fremde Macht Ýber uns (Marx). Sartre bezeichnet dieses VerhÈltnis der Konkurrenz als ein serielles: »Jeder Mensch ist nicht nur isoliert durch seinen KÚrper als solchen, sondern auch durch die Tatsache, dass er seinem Nachbarn den RÝcken zuwendet.« Eine solche SerialitÈt kennzeichnet fÝr ihn die modernen industriellen Massengesellschaften und erklÈrt ihre Ohnmacht und Lethargie. – Gibt es einen Ausweg? Die Èußerste Not kann eine Ansammlung von Menschen aus der hilflosen SerialitÈt zur Gruppe verwandeln. Durch einen Dritten geeint (der aus dem KonkurrenzverhÈltnis eines jeden mit einem jeden heraustritt), werden die Individuen aus ihrer Lethargie gerissen und handeln gemeinsam. Durch die Gruppe entsteht eine neue RealitÈt, die den Menschen wieder zum Subjekt der Geschichte machen kann. Aber die Beziehung unter den Mitgliedern der Gruppe ist nicht die einer unmittelbaren, wechselseitigen Gemeinschaft, sondern eine durch die Not und den Dritten vermittelte. Sie ist somit stÈndig vom RÝckfall in die SerialitÈt bedroht und muss durch inneren Terror zusammengehalten werden. So ist das Reich der Frei-
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
heit, das Marx im Blick hatte, keineswegs sicher, und die Geschichte eher als ein Feld zu sehen, in dem sich SerialitÈt und Gruppenbildung ablÚsen. Sartre hat sich stets als einen Theoretiker der Linken verstanden. Dies drÝckte sich in seiner Gegnerschaft zu jeder Form des %Idealismus aus, dem er vorwarf, Leiden, Hunger und Krieg in einem Prozess der Einheitsstiftung von Ideen aufzulÚsen. Die gleiche Kritik Ýbte er spÈter gegenÝber dem orthodoxen Marxismus, dem er vorwarf, ein ›voluntaristischer Idealismus‹ zu sein. Sartre ging es darum, »den Menschen wieder in die Welt einzutauchen, . . . seinen ngsten und seinen Leiden, auch seinen EmpÚrungen ihr ganzes Gewicht wiederzugeben«. Sartre hat diese Absicht exemplarisch eingelÚst in seinem dreibÈndigen Werk Ýber Gustav Flaubert. Das 2700 Seiten umfassende unabgeschlossene Werk unternimmt den Versuch, das Ringen Flauberts um die Perfektion des Stils als eine Wahl nachzuweisen, die durch eine bestimmte Familiensituation verstÈndlich wird, welche wiederum Ausdruck einer bestimmten Gesellschaft, nÈmlich der bÝrgerlichen des 19. Jahrhunderts, ist. In Verbindung existenzphilosophischer, psychoanalytischer und marxistischer DeutungsansÈtze entsteht so das faszinierende Tableau einer Familie und einer Gesellschaftsepoche sowie eine beeindruckende Werkinterpretation. »Was kann man heute von einem Menschen wissen?« Das ist fÝr Sartre die eigentliche Fragestellung dieses Werkes und er schreibt in der Einleitung: »Es schien mir, dass man auf diese Frage nur durch die Untersuchung eines konkreten Falles antworten kann. Was wissen wir – zum Beispiel – von Gustave Flaubert? Das lÈuft darauf hinaus, die Informationen, die wir Ýber ihn haben, zu totalisieren. Nichts beweist zu Anfang, dass diese Totalisierung mÚglich und die Wahrheit einer Person nicht plural ist.« Methodisch scheint sich dieses Bedenken zu bestÈtigen. Philosophisch illustriert Sartre eindrucksvoll die Quintessenz seines Denkens: »FÝr uns ist der Mensch vor allem durch das Àberschreiten einer Situation gekennzeichnet, durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, wozu man ihn gemacht hat.« J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Paris 1943 [dt. NeuÝbersetzung Reinbek 1993]
205
: Kritik der dialektischen Vernunft, Paris 1960 [dt. NeuÝbersetzung Reinbek 1993] : Der Idiot der Familie, 3 Bde., Paris 1971/72 [dt. Reinbek 1977 1979, z. Zt. vergr., Neuauflage ge plant] M. Suhr, Sartre zur EinfÝhrung, Hamburg 1987 J. Hengelbrock, Jean Paul Sartre, Freiheit als Notwen digkeit. EinfÝhrung in das philosophische Werk, Freiburg 1989 J. H.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775– 1854): Wurde am 27.1. in Leonberg (WÝrttemberg) geboren. Schon als FÝnfzehnjÈhriger bezog er das TÝbinger Stift, wo er zusammen mit %Hegel und HÚlderlin in Philosophie und Theologie ausgebildet wurde. Ab 1795 war er als Hauslehrer der Barone von Riedesel in Stuttgart tÈtig. 1796 ging er mit seinen adeligen ZÚglingen nach Leipzig, wo er an der dortigen UniversitÈt Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin studierte. 1798 wurde er durch die Vermittlung von Goethe außerordentlicher Professor fÝr Philosophie in Jena, wo er mit %Fichte, Schiller und dem Kreis der Romantiker freundschaftlich verkehrte. 1803 folgte er einem Ruf an die UniversitÈt WÝrzburg, nachdem er sich mit Caroline Schlegel (geb. Michaelis) verheiratet hatte. Von 1806 bis 1820 wirkte er in MÝnchen zunÈchst als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ab 1808 als GeneralsekretÈr der Akademie der Bildenden KÝnste. 1821 wurde er Honorarprofessor in Erlangen und kehrte 1827 nach MÝnchen zurÝck. 1841 begann er als Nachfolger Hegels seine Vorlesungen an der UniversitÈt Berlin, wo er bis 1846 lehrte. Danach zog er sich aus der ³ffentlichkeit zurÝck und hielt nur noch gelegentlich VortrÈge an der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Er starb am 20. 8 1854 in Bad Ragaz. Schelling war der HauptbegrÝnder der spekulativen %Naturphilosophie, die von etwa 1800 bis 1830 in Deutschland als bestimmende GeistesstrÚmung wirkte und einen produktiven Einfluss auf fast alle Gebiete der Naturwissenschaft, Medizin und Mathematik ausÝbte. Seine Philosophie des Unbewussten hatte Einfluss auf die Ausbildung der Psychoanalyse. Sein Werk gliedert sich in verschiedene Entwicklungsphasen: in die Periode der Ich- und Naturphilosophie (1795–1800), der IdentitÈtsphilosophie
206
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
(1801–1806), der Freiheits- und Weltalterphilosophie (1809–1820) und schließlich der SpÈtphilosophie mit der Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie, der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung. Obwohl Schelling immer wieder neue Problemfelder bearbeitete und neue Konzepte entwickelte, sind KontinuitÈten in den Kernfragen und Grundprinzipien festzustellen. Schellings Hauptfrage bestand darin, wie die menschliche %Freiheit und die aus ihr resultierende kreative InnovationsfÈhigkeit mit %Natur zusammengedacht werden kÚnne. Dieses Problem war durch die AufklÈrungsphilosophie von %Kant und Fichte dringlich geworden, in welcher die %Autonomie und SelbsttÈtigkeit des %Subjekts betont worden war, wÈhrend die Natur als deterministisches Notwendigkeitssystem aufgefasst wurde. Wie sollte sich unter dieser Voraussetzung Freiheit real manifestieren kÚnnen? Schellings Kernidee war, dass nicht nur der %Geist, sondern auch die Natur autonomer, selbstorganisierender Entwicklung fÈhig ist und so die Emanzipation des Menschen von ihr ermÚglicht hat. Die Natur hat wie die Menschheit eine Geschichte. Sie ist ursprÝnglich entstanden und entwickelte sich zu hÚheren Entwicklungsstufen, die jeweils durch einen hÚheren Autonomiegrad charakterisierbar sind. In der anorganischen Natur sind es vor allem die Kristallisationen, die eine Selbststrukturierung aufweisen; die organische Natur besitzt durch ihre FÈhigkeit der Selbstreproduktion bereits einen hÚheren Grad der Freiheit; im Menschen kommt schließlich die schÚpferische ProduktivitÈt zu sich selbst, die sich fÝr Schelling insbesondere in der %Kunst zeigt. Das System der empirisch zugÈnglichen, kausal strukturierbaren Naturobjekte ist nur die sichtbare Außenseite der Natur. Der ursprÝngliche Prozess der Selbstkonstruktion, die %natura naturans, geht in das Innere der Natur zurÝck und ist, da hiermit GegenstÈndlichkeit, die natura naturata, allererst erzeugt wird, selbst nicht mehr sinnlich zugÈnglich, sondern nur theoretisch zu rekonstruieren. Schelling begrÝndete daher eine ›spekulative Physik‹, die nicht als Konkurrenzunternehmen zur empirischen Physik gedacht war, sondern als deren philosophischer Rahmen. SpÈter wurde Schelling vielfach vorgehalten, dass er dem Experiment und der Mathematik zu geringe Auf-
merksamkeit gewidmet habe. Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Schelling ging es um die Konzipierung eines neuen, Ýber die mechanistische Naturwissenschaft hinausgehenden Paradigmas der Selbstorganisation. Schelling lehnte die empirische Naturforschung nicht ab, sondern er bemÝhte sich darum, ihr ein neues Fundament zu geben. Er ließ sich dabei von der Idee leiten, dass es eine Einheit von Natur und des aus ihr entstandenen Menschen mit seiner freien ProduktivitÈt geben mÝsse. Schelling entfaltete seine spekulative Physik ausfÝhrlich in seinen frÝhen Schriften. In den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) setzte er sich vor allem mit der Chemie auseinander. Hier ist der Begriff der Selbstorganisation im Wesentlichen noch von Kants Kritik der Urteilskraft geleitet und auf die organischen Wesen bezogen. In Von der Weltseele (1798) fragt Schelling nach dem Ursprung des Lebens aus der anorganischen SphÈre und gelangt zu der Idee, dass die ganze Natur, auch die physikalische, selbstbildende Potenzen besitzen mÝsse, da ansonsten die erste Entstehung des Organischen nicht erklÈrbar sei. Er verwirft den Vitalismus, der glaubt, den Organismen eine zusÈtzliche Bildungskraft zugestehen zu mÝssen, die aus der Physik nicht herleitbar sei. Diese Konzeption verletzt seiner Ansicht nach die Idee der Einheit der Natur und sei unwissenschaftlich. In der Schrift Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) entwickelt Schelling eine neue Materietheorie, eine ›dynamische Atomistik‹, und baut darauf systematisch eine genetische Naturtheorie auf, die die Physik, die Chemie und die Biologie umspannt. Wie auch in den vorherigen naturphilosophischen Schriften verarbeitet Schelling hier einen Großteil der naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse seiner Zeit. Schelling versuchte in immer neuen AnlÈufen bis zum kosmogonischen Ursprung zurÝckdenken und die Entwicklung der Natur als Potenzierungsgeschehen zu erfassen. Durch Schellings EntwÝrfe hindurch zieht sich das Motiv, die Selbstkonstruktion der Natur als Vermittlung zweier Grundprinzipien zu verstehen: dem expansiven und kontraktiven %Prinzip. WÝrde das expansive Prinzip uneingeschrÈnkt wirken, wÝrde sich alles in aktual unendlicher Geschwindigkeit in einem Augenblick ausbreiten, sodass nur der leere Raum, aber keine finiten
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
Objekte entstehen kÚnnten; wÝrde das kontraktive Prinzip uneingeschrÈnkt wirken, wÝrde sich alles in einen Punkt zusammenziehen und wieder gÈbe es keine Objekte. Erst beide Prinzipien zusammen produzieren %Raum, %Zeit und %Materie, d. h. eine erscheinungsfÈhige %Welt. Die polare %Struktur der Natur zeigt sich fÝr Schelling, wie auch fÝr die anderen romantischen Naturphilosophen (Steffens, Ritter, Arnim, Oersted, Schubert, Troxler und viele andere) im Magnetismus, der ElektrizitÈt und dem chemischen Prozess. Schelling entwickelte die Hypothese, dass sich alle polaren Prozesse aus einem einheitlichen Prinzip ableiten lassen mÝssen, womit er der Entdeckung des Energieprinzips Vorschub leistete. In der Allgemeinen Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik (1800) verknÝpfte Schelling die polare Selbststrukturierung der KrÈfte mit den Dimensionen des Raumes, womit er erstmals zu einer dynamischen Raumkonzeption gelangte, die spÈter beispielsweise in der Vektoralgebra zu einer neuen mathematischen Theorie ausgebaut wurde. In der ichphilosophischen Phase, die etwas frÝher als die naturphilosophische begann, aber parallel dazu bis zu seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) verlief, ist Schellings Philosophie noch stark von Kants und Fichtes %Transzendentalphilosophie bestimmt, gewinnt aber bereits eigene Konturen, die u. a. auf seine frÝhe Rezeption von %Platon, vor allem des Timaios, zurÝckgefÝhrt werden. Kant hatte gezeigt, dass das System des %Wissens nicht durch eine passive Spiegelung der objektiven Welt zustande kommt, sondern durch die AktivitÈt des erkennenden Subjekts, seine Anschauungsformen und Kategorien erzeugt wird. Fichte hatte in seiner Wissenschaftslehre das Fundament der %Erkenntnis in einer ursprÝnglichen Tathandlung der Selbstsetzung des %Ichs gesehen, wodurch sowohl das Ich als auch das Nicht-Ich in ihrer Trennung und Entgegensetzung erst hervorgebracht werden. Als Folge des Aktes der Selbstsetzung, auch »absolutes Ich« genannt, setzt sich das empirische Ich selbst ein Nicht-Ich gegenÝber, wodurch das Objektiv-GegenstÈndliche des Wissens produziert wird. Schelling versteht nun diese ursprÝngliche Tathandlung nicht mehr wie Fichte als primÈr kognitiven Akt, sondern als einen substanziellen.
207
Ihm zufolge ist nicht nur das absolute Ich alles, sondern alles absolute Ichheit. Das %Prinzip der ursprÝnglichen Selbstsetzung ist nicht nur ein anthropogenes Prinzip, sondern ein universelles, welches aber erst mit dem Menschen seiner selbst bewusst wird. In Schellings frÝher Phase wurden die Transzendental- und die Naturphilosophie als zwei gleichberechtigte Zugangsweisen zum Problem der Einheit von Natur und Geist ausgebildet. Die Transzendentalphilosophie geht von der Selbstkonstitution und Innenansicht des Subjekts aus und fragt, wie das Subjekt sich die Natur als Wissenssystem erzeugt. Die Naturphilosophie dagegen geht von der unbewussten ProduktivitÈt der Natur aus und fragt, wie die Natur %Selbstbewusstsein und erkennende Subjekte erzeugen konnte. Diese beiden Zugangsweisen schienen nur schwer miteinander vereinbar zu sein, obwohl sie gegenseitig aufeinander bezogen waren gemÈß der programmatischen Devise Schellings: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein«. Es blieb ein Problem bestehen. FÝr die Transzendentalphilosophie ist die Natur ein vom menschlichen Geist Gesetztes; fÝr die Naturphilosophie dagegen existiert die Natur aus eigener Macht. Schelling versuchte diese beiden Seiten in seiner identitÈtsphilosophischen Phase durch eine hÚhere Einheit miteinander zu verbinden. Ausgangspunkt der IdentitÈtsphilosophie ist die Unterscheidung zwischen reeller Selbstsetzung (Natur) und ideeller Selbstsetzung (Geist). In AnknÝpfung an %Spinozas Ethik, in der Natur und Geist als Modifikationen der einen ungeteilten %Substanz angesehen wurden, geht Schelling nun von einer Ýbergeordneten Indifferenz aus, welche der Trennung von Reellem und Ideellem vorhergeht. Beide gelten jetzt als unterschiedliche Manifestationen ein und desselben %Absoluten. Die Pointe dieser Konzeption liegt darin, dass Schelling hier die Indifferenz als dynamisches Ineinander aller Formen bestimmt, als »gÚttliche Wirrnis«, in der alle Dimensionen der RealitÈt ineinander Ýbergehen, jedoch keine fÝr sich ist. Die absolute %IdentitÈt ist zugleich absolute Differenz. Jedes Besondere ist zugleich alles andere. Das Gesondertsein der begrenzten Dinge ist nur scheinbar. Diese substanzielle IdentitÈt der IdentitÈt und Differenz wurde jedoch mit dem Problem erkauft, dass nun nicht
208
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
mehr verstÈndlich war, wie sich Ýberhaupt etwas vom Absoluten losreißen konnte, wie es zur Selbstbehauptung des Endlichen gegen das Absolute kommen konnte. Diese Frage wird von Schelling als das Problem des BÚsen in der Freiheits- und Weltalterphilosophie behandelt. In der Schrift Untersuchungen Ýber die menschliche Freiheit und die damit zusammenhÈngenden GegenstÈnde (1809) widmet sich Schelling der ideellen Seite seines Systems, d. h. der spezifisch menschlichen AusprÈgung der Freiheit. Er bestimmt hier das Wesen der Freiheit nicht mehr nur als schÚpferische ProduktivitÈt, wie in der natur- und identitÈtsphilosophischen Phase, sondern als das VermÚgen des %Guten und des %BÚsen. Das BÚse wie das Gute wurzelt im Eigenwillen der Kreatur, der sich als unabhÈngiger %Grund vom Universalwillen lÚsen und sich selbst als Zentrum setzen kann. Diese SelbstermÈchtigung ist zwar die eigene Tat des Menschen, wird aber substanziell ermÚglicht durch die Natur in Gott. In Gott selbst gibt es einen Unterschied zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist. Der bloß dunkle Grund von Existenz ist ein ursprÝngliches, verstandloses Chaos, aus dem Form und %Ordnung, durch das Licht der %Vernunft generiert werden. Das finstere Prinzip liegt als ewige Vergangenheit aller harmonischen Ordnung immer noch zugrunde. Es kann sich jederzeit wieder erheben. Insofern ist ein Gelingen der SchÚpfung nicht notwendig garantiert. In Gott sind diese beiden Prinzipien unzertrennlich. Erst im Menschen werden sie zertrennlich, sodass sich der dunkle Grund, der nur, wenn er im Grunde bleibt, produktiv ist, als unabhÈngiges, selbstisches Prinzip erheben und zum Herrscher aufschwingen kann. Das BÚse wird somit von Schelling nicht nur als egoistischer Naturtrieb bestimmt, sondern als etwas Geistiges, als zweites Prinzip der Finsternis, als Geist gewordene, hÚhere Potenz des in der Natur wirkenden Grundes. Schon Kant hatte das Freiheitsmoment des radikalen BÚsen in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1792) hervorgehoben und drei Steigerungsstufen bestimmt: Die erste, noch harmlose Stufe ist das gesetzwidrige Handeln aus FahrlÈssigkeit; die zweite Stufe ist bestimmt durch ein gesetzwid-
riges Handeln, welches mit Bewusstsein geschieht. Die dritte, bÚsartigste Stufe ist gekennzeichnet durch eine Gesetzwidrigkeit, die nicht mehr mit bestimmten Èußeren Zwecken verbunden ist, sondern sich als Gesetzwidrigkeit selbst will. Auf dieser letzten Stufe wird das %Sittengesetz nicht mehr nur Ýbertreten, sondern bewusst abgelehnt. Dieser endgÝltige Bruch mit der moralischen Ordnung ist bei Kant formal analog mit der freien Zustimmung zu ihr. In beiden FÈllen ist die Freiheit der moralischen Entscheidung rein intelligibel. Schelling dagegen, von seiner Naturphilosophie ausgehend, bestimmt die moralische Freiheit zugleich auch substanziell. Er entwickelt eine metaphysische Theorie des Guten und des BÚsen. Das BÚse wird durch die Natur in Gott ermÚglicht, kann aber erst im Menschen durch seine Selbsttat, durch die Entzweiung von Licht (Vernunft) und Finsternis (irrationales Chaos) Wirklichkeit erlangen. Das diabolische BÚse als selbstermÈchtigte Ichheit hat seinen ErmÚglichungsgrund im kreatÝrlichen Eigenwillen, der als Partikularwille auch schon in der Natur wirksam ist, aber erst wirklich wird dadurch, dass er sich als partikulare Macht vom Universalwillen losreißt mit dem Ziel, das PartikulÈre selbst zum Universellen zu machen. Diese Verkehrung der Prinzipien ist nach Schelling nur Ýberwindbar durch den versÚhnenden Geist der %Liebe, der die EigenmÈchtigkeit wieder mit dem Idealen verbindet. Durch diese Verbindung wird die vitale Selbstheit in den Grund zurÝckversetzt, um als lebendige Basis des Guten zu wirken. Anders als bei Kant ist somit das Ziel der %Ethik bei Schelling nicht die – wenngleich freie – UnterdrÝckung des Triebhaften und die bloß intelligible Anerkennung der %Pflicht des Sittengesetzes, sondern die ErlÚsung und VerklÈrung der Natur durch das Band der Liebe. Dieses Band hat seinen Ursprung weder im triebhaften Grund noch in der reinen Existenz (dem vernunfthaft-intelligiblen Idealen), sondern ist noch ursprÝnglicher im Ungrund verankert. Der Ungrund liegt noch vor aller ontischen Differenz von chaotisch triebhafter Finsternis und idealem Licht und wird von Schelling bestimmt als Indifferenz, die die Vereinigung beider mÚglich macht. Diese prÈontische Vergangenheit wurde von Schelling besonders in den drei Weltalter-EntwÝrfen (1811, 1813, 1814) weitergehend behan-
Schopenhauer, Arthur
delt, in denen Schelling sich wieder der %Kosmogonie und der metaphysischen Frage widmet, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. Er kommt hier zu der Ansicht, dass die SchÚpfung nicht allein durch den chaotischen Grund in Gott bewerkstelligt werden konnte, da die Entstehung von vernunftmÈßiger Ordnung allein aus einem verstandlosen Chaos nicht denkbar ist. Es mÝsse philosophisch noch tiefer in die Vergangenheit zurÝckgegangen werden auf einen unvordenklichen Ungrund, der Ýber allem Sein ist. Diese prÈontische Vergangenheit wird von Schelling narrativ beschrieben als reine Lauterkeit und ewige Freiheit, als Willen, der nichts will, als Àbergottheit, die von sich aus nicht zur Zeugung Ýbergeht. Der Anfang zur SchÚpfung wird durch einen sich selbst erzeugenden, kontraktiven %Willen gemacht. Schelling geht davon aus, dass die Menschen eine Mitwissenschaft der SchÚpfung haben, da sie hinter die Welt zurÝckdenken kÚnnen. Diese Mitwissenschaft artikulierte sich bereits in den Mythologien und den %Religionen, insbesondere der christlichen. In seiner SpÈtphilosophie konzentrierte sich Schelling auf die Ausarbeitung einer positiven Philosophie, die der negativen Philosophie gleichberechtigt zur Seite gestellt werden sollte. Die negative Philosophie war fÝr ihn prototypisch durch die hegelsche Logik reprÈsentiert. Diese stelle die Selbstgenese des Absoluten als reine Begriffsentwicklung vor. %Begriffe hÈtten nicht die FÈhigkeit, sich selbst zu entwickeln ohne ein Subjekt, das diese Begriffe denkt. Das denkende Subjekt trete aber erst mit einer spÈteren Entwicklung des Universums hervor. Die Genese des Universums sei zwar mittels des Denkprozesses zu erfassen, nicht aber als Denkprozess. Da Hegel keine Realgenese der Natur denke, werde sie ihm als das Andere des Geistes zur reinen ußerlichkeit. In seiner Naturphilosophie nimmt Hegel daher die Gestaltungen der Natur so auf, wie sie sich der Erfahrung als bereits existente %EntitÈten darbieten, um dann ihr Wassein, ihr %Wesen zu bestimmen (z. B. das Wesen des Organismus), nicht aber um ihr Dassein, d. h. ihren ersten Ursprung zu erfassen. Der Frage, wie es zur Existenz, zur realen SchÚpfung kommt, widmet sich die positive Philosophie. Die UrschÚpfung ist Schelling zufolge kein denknotwendiges Ereignis, das aus der
209
dunklen Drang-Natur Gottes zwingend zu folgern wÈre, sondern Resultat eines freien Aktes, der auch nicht hÈtte geschehen kÚnnen. Insofern liegt der Einteilung in negative und positive Philosophie nicht nur die Unterscheidung von Wesen und Existenz, sondern auch der Gegensatz von logischer %Notwendigkeit und gÚttlicher Freiheit zugrunde. Schellings Philosophie wurde im 19. Jh. mit dem Aufkommen des positivistischen, naturwissenschaftlich-mechanistischen WeltverstÈndnisses vielfach verschmÈht und schließlich nahezu vergessen. Seit den 1980er Jahren erlebte sie eine Renaissance, da sie mit den kosmogonischen und entwicklungstheoretischen Konzepten der Naturwissenschaften Ýberraschende Parallelen aufwies. Zudem wurde Schellings Vernunftkonzept, welches auch die vorrationalen VorgÈnge mitreflektiert, verstÈrkt rezipiert. M. L. Heuser Keßler / W. G. Jacobs (Hg.), Schelling und die Selbstorganisation, Berlin 1995 M. Boenke, Transformation des RealitÈtsbegriffs. Unter suchungen zur frÝhen Philosophie Schellings im Ausgang von Kant, Stuttgart / Bad Cannstatt 1990 A. Gulyga, Schellings Leben und Werk, Stuttgart 1989 Chr. Wild, Reflexion und Erfahrung. Eine Interpretation der FrÝh und SpÈtphilosophie Schellings, Freiburg / MÝnchen 1986 H. M. Baumgartner, Schelling, Freiburg / MÝnchen 1975 W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der SpÈtphilosophie Schellings, Stuttgart 1955 M. H.
Schopenhauer, Arthur (1788–1860): Deutscher Philosoph, geboren am 22. 2. in Danzig, gestorben am 21. 9. in Frankfurt/Main. Schopenhauers Denken setzt im unmittelbaren Anschluss an die Philosophie %Kants an, die er gegen die Angriffe %Fichtes und %Hegels in Schutz nimmt, aber in anderer Weise kritisiert und weitertreibt. Sein Hauptanliegen ist zunÈchst, das von Kant zum Grenzbegriff erklÈrte Problem des %Dings an sich zu lÚsen. Im Wesentlichen Ýbernimmt Schopenhauer dann auch die kantische Erkenntnislehre, macht aber bei der EinschrÈnkung, dass alles Erkennen an die Grenzen von %Raum und %Zeit gebunden sei, nicht halt. So kann er in seinem Hauptwerk 1819 Die Welt als Wille und Vorstellung betrachten. Im Ausgang von den PhÈnomenen des Handelns stÚßt Schopenhauer auf den %Leib, der
210
Schopenhauer, Arthur
dem erkennenden %Subjekt erlaubt, als %Individuum aufzutreten. Der Leib wird durchwaltet von einer Kraft, die jeden ihrer Akte sofort und unausbleiblich eine Bewegung des Leibes sein lÈsst: dem %Willen. Doch ist dies kein VerhÈltnis von %Ursache und Wirkung, sondern beide sind dasselbe, aber auf zwei verschiedene Weisen gegeben: entweder unmittelbar oder in der %Anschauung fÝr den %Verstand. Die Aktionen des Leibes sind die Objektivationen, d. h. in die Anschauung getretene Akte des Willens. Schopenhauer dehnt dieses VerhÈltnis auf den ganzen Leib aus: Er ist die ObjektivitÈt des Willens. Andererseits ist aber auch jede Einwirkung auf den Leib unmittelbar eine auf den Willen. Als Schmerz ist sie dem Willen zuwider, als Wohlbehagen ihm gemÈß. Die Erkenntnis des Willens ist zwar unmittelbar, doch von der des Leibes nicht zu trennen; der Wille kann nicht als Einheit erkannt werden, sondern nur in seinen einzelnen Akten, d. h. in der Zeit. Da aber die Zeit die Form aller Erscheinungen – also auch des Leibes – ist, ist der Leib die Bedingung der Erkenntnis des Willens. Schopenhauer schließt aus diesem An-sich-Sein (der Wille als Einheit ist außer Raum und Zeit) dass alle %Objekte (Organisches wie Unorganisches) dasselbe sein mÝssen, was der Mensch bei sich Wille nennt. Raum und Zeit ermÚglichen lediglich das Verschiedene, sonst ist alles dem %Begriff und dem %Wesen nach gleich. Der Wille an sich hat keine %KausalitÈt; er ist grundlos, ziellos und erkenntnislos. Erst wenn er sich der objektiven Erkenntnis darstellt, ist er in Raum und Zeit dem Vereinzelungsprinzip (principium individuationis) unterworfen. Dadurch wird er Wille zum %Leben: Aufspaltung des einen Weltwillens in die Vielheit seiner Erscheinungsformen. Schopenhauer verfolgt die Stufen der Objektivationen vom komplizierten Tun des Menschen bis hinab zu den allgemeinsten und einfachsten NaturkrÈften. Selbst das Streben der KÚrper zu einem Mittelpunkt (Gravitation) kann so als Wille angesehen werden. Die durch Raum und Zeit bestimmten Objekte (%Vorstellungen) kÚnnen am Leitfaden der KausalitÈt betrachtet werden; so wird %Wissenschaft mÚglich. Die Welt als Vorstellung ist demnach die sich dem ErkenntnisvermÚgen darbietende %Erscheinung der %an sich seienden Welt als Wille. Schopenhauer deutet den so allgemein gedachten Willen als
%Streben; dies ist sein alleiniges Wesen. Dieses Streben fÝhrt im Anorganischen zur andauernden Bewegung der KÚrper – vom Atom bis zu den Gestirnen. Bei den lebendigen Wesen jedoch kommt hinzu, dass es kein erreichtes Ziel gibt, welches dem Streben ein Ende macht. Daraus folgt, dass die lebendigen Wesen keiner endlichen Befriedigung, d. h. keines wirklichen %GlÝckes fÈhig sind. Schopenhauer, der ein Kenner der indischen Weisheitslehren war, schließt seine Philosophie an dieser Stelle mit buddhistischen Gedanken zusammen. Wenn alles Streben ohne ErfÝllung bleibt, so ist es Leiden (als Folge der %Individuation des einen Weltwillens, dessen Teile gegeneinander streben). Aus dem Leiden entkommt man aber nicht durch Anstrengung des %Geistes oder sonst eine TÈtigkeit, da diese selbst wieder ein Streben ist. Als Folge davon kann die Errettung nur durch die Verneinung (Mortifikation = AbtÚtung) des Willens geschehen. Die nahe liegende Konsequenz des philosophisch begrÝndeten Selbstmords wird von Schopenhauer verworfen, weil er in die Tendenz des Immer-noch-Wollens gehÚrt. Die Willensverneinung kann demnach nicht mit einem Schlag geschehen. Zudem gibt es fÝr den Menschen das Streben nach Dasein, welches ihn treibt, Not und Leiden auszuweichen. Ist aber eines dieser relativen Ziele erreicht, stellt sich nur eines ein: Langeweile. Ausnahmen bilden das reine Erkennen, dem alles Wollen fremd bleibt, und der Genuss des %SchÚnen, d. h. die Freude an der %Kunst. Beide sind, weil sie besondere Anlagen erfordern, nur wenigen Menschen vorbehalten und auch diesen sind die Ausnahmen nur vorÝbergehend vergÚnnt. Der Vorteil wird kompensiert, da die hÚhere intellektuelle Kraft der Philosophen und KÝnstler sie auch fÝr grÚßere Leiden empfÈnglich macht. Das Leiden ist also (fast) universell, da alle BemÝhungen, es zu verbannen, nur dazu fÝhren, dass es seine Gestalt Èndert. Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt fÝr Schopenhauers %Pessimismus: WÈre die Welt noch ein wenig schlechter als sie ist, kÚnnte sie nicht existieren. Kein Mensch wÝrde – bei besonnener und aufrichtiger Àberlegung – am Ende seines Lebens wÝnschen, es nochmals durchzumachen. Das aber steht in scharfem Kontrast zur %Natur, deren innerstes Wesen der Wille zum Leben ist, was alles Lebendige dazu treibt, sich fort-
Schopenhauer, Arthur
zupflanzen. Der Wille zum Leben widerspricht der Einsicht in die MÚglichkeit zur Aufhebung des Wollens, der Àberwindung der Welt. Um dennoch zur ErlÚsung zu gelangen, muss das von Schopenhauer aufgestellte %Prinzip der %Liebe wirksam sein, wobei Liebe gleichbedeutend mit dem %Mitleid (caritas) ist. Er geht dabei von der vedischen Formel »Dieses bist Du!« (Tat twam asi!) aus; jede einem anderen Wesen gegenÝber vollzogene Handlung trifft auch das Individuum selbst. Die uneigennÝtzige Liebe gegen andere besteht gerade darin, das fremde Individuum und dessen %Schicksal dem eigenen vÚllig gleichzusetzen. Die Liebe und GÝte gegenÝber den anderen ist allerdings nur Linderung ihrer Leiden. Was zu guten Taten und Werken der Liebe bewegen kann, ist immer nur Erkenntnis des fremden Leidens, das in Analogie zum eigenen verstanden und mit ihm gleichgesetzt wird. Entscheidend ist, dass die Erkenntnis der IdentitÈt des Willens in allen seinen Erscheinungen zum Durchbruch kommt, damit der egoistische Unterschied zwischen der eigenen Person und der fremden nicht mehr gemacht wird. Dieser Grad des Wissens enthÝllt die %Welt als umfassendes bestÈndiges Leiden der Menschen und Tiere; die ganze Welt liegt nun so nah wie dem Egoisten die eigene Person. Dadurch schwinden alle lebensbejahenden Willensakte, aus den Motiven des Wollens werden »Quietive« (Ruhigstellungen). Daraus folgt die Aufforderung zur Askese, der allmÈhlichen EinÝbung in die Verneinung des Willens zum Leben. Eine andere LebensfÝhrung ist die kÝnstlerische. Der große KÝnstler, das Genie, vermag durch reine Schau (%Kontemplation) und ungewÚhnliche Kraft der Phantasie, die ewigen Ideen aufzufassen und darzustellen. Unter %Idee versteht Schopenhauer (im Sinne %Platons) das wesenhaft Anschauliche, das in seinen nÈheren Bestimmungen UnerschÚpfliche. WÈhrend der bloße Begriff vollkommen bestimmbar ist und daher erschÚpfend durch Worte mitgeteilt werden kann, sind die Ideen nur durch das Kunstwerk zu vermitteln. Deshalb muss der geniale KÝnstler die FÈhigkeit besitzen, statt der einzelnen Dinge ihre Ideen zu erkennen und deren Korrelat zu werden, nicht mehr Individuum, sondern reines Subjekt des Erkennens zu sein. Eine besondere Stellung nimmt unter den KÝnsten die Musik ein, da sie nicht nur die Ideen abbildet, sondern die unmit-
211
telbare Objektivation des Weltwillens in uns ist. Die bildende Kunst, die das Stoffliche zum Gegenstand hat, und die Dichtkunst, deren Thema der Mensch ist, bleiben in gewisser Weise zurÝck. Außer seinem (systematischen) Hauptwerk hat Schopenhauer mehrere kleinere Schriften verfasst, die aber in engem Zusammenhang mit diesem stehen. Àber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde ist Schopenhauers schon frÝh erarbeitete %Erkenntnistheorie. Er kondensiert die zwÚlf kantischen Kategorien auf: den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens (KausalitÈt), den Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens, den Satz vom zureichenden Grunde des Seins und den Satz vom zureichenden Grunde des Handelns. Schopenhauer hÈlt sich zunÈchst an die aus der Tradition bekannte Formel: Nichts ist ohne Grund, warum es sei. Dieser Satz ist das apriorische und wichtigste Fundament wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Vierheit der Wurzel ergibt sich aus der Tatsache, dass einem Subjekt vier verschiedene VerhÈltnisse von Objekt- oder Vorstellungsklassen gegeben sein kÚnnen. Der erste Satz richtet sich auf die vollstÈndigen, das Ganze einer %Erfahrung ausmachenden %Vorstellungen und deren VerÈnderung, d. h. auf den Bereich der der natÝrlichen KausalitÈt unterliegenden Objekte. Der zweite betrifft den Bereich der %Vernunft, der %Wahrheit von %Urteilen, d. h. der VerknÝpfung von Begriffen, wobei Begriffe als Vorstellungen aus Vorstellungen gemeint sind. Der dritte Satz richtet sich auf den formalen Teil der vollstÈndigen Vorstellungen, nÈmlich auf Raum und Zeit, die nicht der KausalitÈt unterliegen und damit als statisches %Sein dem %Werden gegenÝber abgesetzt sind. Der vierte geht auf das unmittelbare Objekt des inneren Sinns, nÈmlich das Subjekt des Willens mit seinen Motivationen. Die ersten drei SÈtze sind durch eine RegelmÈßigkeit in der Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grunde gekennzeichnet, wÈhrend der vierte abweicht, da sich die menschliche %Handlung aus der Kenntnis der Motive nicht notwendig vorherbestimmen lÈsst. Diese unterschiedlichen VerhÈltnisse mÝssen nach dem Grundsatz der HomogenitÈt aus einer bestimmten Beschaffenheit des menschlichen ErkenntnisvermÚgens als ihrer gemeinsamen Wurzel entspringen. Es sind lediglich Formen, durch
212
Schopenhauer, Arthur
die der Mensch die in seiner Erfahrung manifestierenden Erscheinungen, nicht jedoch die Dinge an sich und das sich immer gleich bleibende Wesen der Welt zu betrachten vermag. Schopenhauers Kunst, philosophische Gedanken stilsicher zu formulieren, kulminiert in seinem zweiten Hauptwerk den Parerga und Paralipomena (Nebenarbeiten und ZurÝckgebliebenes). Hier entfaltet er in unsystematischer, aber doch auf einen inneren Zusammenhang zielender Weise das reiche Weltbild des Pessimismus. Der erste Teil besteht aus fÝnf Einzeluntersuchungen und den Aphorismen zur Lebensweisheit; der zweite Teil behandelt in einunddreißig Kapiteln eine FÝlle von verschiedensten GegenstÈnden. Schopenhauer widmet sich in der Skizze vom Idealen und Realen im Wesentlichen der Philosophie des 17. und 18. Jhs., geleitet von der Problemstellung, dass es eine Kluft zwischen den Vorstellungen im menschlichen Bewusstsein und den unabhÈngig von ihm existierenden Außendingen gibt. Auf der einen Seite fasst Schopenhauer die Lehrmeinungen von Malebranche, %Spinoza und %Berkeley als zusammengehÚrig auf, da sie, alle von %Descartes ausgehend, die Trennung und Beziehung der idealen, subjektiven und der realen, objektiven Seite untersucht haben. DemgegenÝber sieht er die Position von %Locke, der sich so nahe als mÚglich dem gemeinen Verstand (%common sense) anschließt. Dabei geht er so weit, in ErwÈgung zu ziehen, dass auch die %Materie das Denkende und Erkennende sein kÚnnte. Schopenhauer kritisiert den starken %Empirismus Lockes vor allem wegen der Lehre, dass auch das KausalitÈtsverhÈltnis erst durch Erfahrung bekannt werde. Besonders problematisch wird ihm daher der skeptische Einwurf %Humes, der die RealitÈt des KausalitÈtsverhÈltnisses gÈnzlich in Frage stellt. DemgegenÝber stellt sich Schopenhauer auf die Seite Kants, der die KausalitÈt zum reinen Verstandesbegriff erklÈrt, der a priori erkannt wird. Doch Kant selbst wird dann von Schopenhauer Ýberboten, der erklÈrt, die aus der Scheidung von Ding an sich und Erscheinung erwachsene Problematik Ýberwunden zu haben. Das Ding an sich ist nicht das vÚllig unbekannte X, sondern der Wille. Da der Mensch sich nÈmlich unstreitig real ist, muss aus dem Inneren seines eigenen Wesens die Erkenntnis des Realen zu schÚpfen sein. FÝr Schopenhauer tritt es als Wille ins
%Bewusstseins, ja er ist das einzige Reale. Alles andere wie Raum, Zeit und KausalitÈt sind Vorstellungen und machen somit den Bereich des Idealen (Idee = Vorstellung) aus. Die Fragmente zur Geschichte der Philosophie verdeutlichen Schopenhauers AbhÈngigkeit von Platons Ideenlehre einerseits und von Kants Kritizismus andererseits. Dass er außer seiner eigenen keine anderen Positionen bespricht, zeigt seine vollstÈndige Ablehnung gegenÝber dem deutschen %Idealismus. Ihren satirisch-kritischen HÚhepunkt erfÈhrt die Idealismus-Kritik in der Streitschrift Àber die UniversitÈtsphilosophie. Ohne mit beißenden SchmÈhungen zu sparen, geißelt er die Systeme Fichtes, %Schellings und vor allem Hegels, die er allesamt als VerrÈter an der Sache Kants sieht. Schopenhauer erkennt in ihnen nur BegriffskÝnstler, die mit ihrem Blendwerk von Spekulation darÝber hinwegtÈuschen, dass sie die Kritik der reinen Vernunft nicht verstanden haben. Der deutsche Idealismus setzt sich Ýber die hier gezogenen Grenzen hinweg und treibt ein Spiel mit Begriffen, denen nichts Anschauliches mehr korrespondiert. Dem setzt Schopenhauer seinen galligen Spott entgegen, immer von der Sorge getrieben, die philosophisch Interessierten wÝrden durch bloße Gedankenspielereien gÈnzlich fÝr die Sache verloren. So gilt sein BemÝhen vor allem der selbststÈndigen Auseinandersetzung mit den GegenstÈnden der Wissenschaft. Selbstdenken und Àber Lesen und BÝcher bringen zum Ausdruck, wie sich Schopenhauer die intellektuelle Aneignung einer Sache vorstellt. WÈhrend die Vielleserei eher zur Desorientierung fÝhrt, da ein zu starker Zufluss fremder Gedanken alle klare Einsicht benimmt, ist es das spÈtere Nachdenken Ýber das Gelesene, welches eine tatsÈchliche Aneignung ermÚglicht. Allein die Rumination (das WiderkÈuen) macht aus dem Leser einen Selbstdenker, der das ursprÝngliche System des Autors wieder zusammensetzen kann. Schopenhauers Betrachtungen Ýber das Problem, das Leben mÚglichst angenehm und glÝcklich zu fÝhren, finden sich in den Aphorismen zur Lebensweisheit. In Abweichung vom Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, worin der hohe metaphysisch-ethische Standpunkt entfaltet wird, bleibt die Untersuchung hier im Bereich des Empirischen. In drei Abteilungen werden die einzigen Grundbestimmungen beleuchtet,
Seneca
die das Los des Menschen ausmachen: 1. Was einer ist, seine PersÚnlichkeit im weitesten Sinne (Gesundheit, SchÚnheit, Charakter usw.); 2. Was einer hat, Eigentum und Besitz; 3. Was einer vorstellt, wie jemand von den anderen vorgestellt wird, welche Ehre, welchen Rang und Ruhm er genießt. Das erste Ziel ist die Heiterkeit des Sinnes zu erlangen, da diese sich selbst augenblicklich belohnt. Weiterhin ist auf die Gesundheit zu achten, da fast alles Wohl von ihr abhÈngt. Am meisten aber sind die geistigen GenÝsse anzustreben, da sie nie fade werden. Materiell soll ein jeder sich so absichern, dass er sein Leben frei gestalten kann. Endlich ist es eine Torheit, zu viel Wert auf die Meinung anderer zu legen, und deshalb hinter mtern, Titeln und Orden herzujagen, in stÈndiger Sorge um fremde Anerkennung. H. Claus, Die Philosophie Schopenhauers, Frankfurt/M. 1968 G. Haffmanns, Àber Arthur Schopenhauer, ZÝrich 1977 R. Malter, Der eine Gedanke. HinfÝhrung zur Philoso phie Arthur Schopenhauers, Darmstadt 1988 W. Selig, Wille, Vorstellung und Wirklichkeit, Bonn 1980 A. P.
Seneca (um 4 v. Chr. – 65): Lucius Annaeus Seneca ist der bedeutendste Vertreter der rÚmischen %Stoa, der letzten Ausformung dieser großen hellenistischen Philosophie, die 301 v. Chr. in der stoa poikile (bunte Halle), einer mit GemÈlden Polygnots geschmÝckten Halle am Markt von Athen, gegrÝndet worden war. Im Mittelpunkt dieser Schule stand nicht mehr wie bei den griechischen Klassikern %Platon und %Aristoteles der ›politische‹ Mensch, d. h. der am staatlichen Leben der Polis mitwirkende und fÝr diese Teilhabe sich bildende BÝrger, sondern das %Individuum mit seinen elementaren, unpolitischen Lebensproblemen wie dem Umgang mit von Naturgewalten oder politischen MÈchten erfahrenen SchicksalsschlÈgen. Bedeutsam sind sodann: die Schwierigkeit der Selbstfindung angesichts der Verwicklungen in das gesellschaftliche Leben, die Verarbeitung von RÝckschlÈgen bei der Gewinnung charakterlicher Festigkeit durch das Ausmaß unkontrollierter AffektivitÈten und schließlich die fÝr ein gelingendes Leben entscheidende KlÈrung dessen, was wirklich
213
als das Eigene und Wichtige im Leben angesehen werden kann. Diese Wendung der Philosophie zur individuellen Seelenleitung war umso dringlicher geworden, weil mit der Entstehung des alexandrinischen Territorialstaates der Lebensraum des griechischen Stadtstaates verschwunden war. Der Hoffnung der gebildeten BÝrger, in freier Diskussion und in direkter Mitwirkung ein wohl geordnetes Gemeinwesen errichten zu kÚnnen, in dem die Verwirklichung eines wahrhaften Menschseins mÚglich sei, war der Boden entzogen worden. Der Bezugsbereich des so zwangsweise ›entpolitisierten‹ Individuums konnte nach Auffassung der Stoiker darum nicht mehr die staatlich verfasste Gemeinschaft sein, sondern einzig die Menschheit. Diese von den Stoikern erstmals entwickelte Idee eines abstrakten Gemeinwesens, dem jeder Mensch jenseits seines sozialen Status, seiner Volks-, Staats- oder ReligionszugehÚrigkeit in erster Linie zugehÚre, wurde die Grundlage des von %Cicero und Seneca eindringlich und fÝr spÈtere Zeiten vorbildhaft vorgetragenen Humanismus (%A Renaissance – Humanismus). Um des Zieles willen, die HumanitÈt in uns zu wecken, gibt Seneca der Philosophie eine andere Aufgabe. Sie ist nicht mehr wie noch bei Aristoteles primÈr Theorie, d. h. spekulative Einsicht in die wesentliche %Ordnung aller Dinge, sowie argumentative Diskussion Ýber die Mittel und Wege, zu einer solchen theoretischen %Erkenntnis zu gelangen. Stattdessen betont Seneca: »Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden.« Statt der theoretischen Diskussion ist in erster Linie verlangt, dass jemand Sorge um sich selbst trÈgt. Wer das officium sapientiae, das Philosophisch-Werden, auf sich nimmt, muss sich um die stete Verbesserung des eigenen Lebenswandels bemÝhen. Eine solche Verbesserung kann aber nicht in der Anpassung an eine zuvor erkannte GÝterordnung und Werthierarchie bestehen. Denn das hieße den gebildeten BÝrger voraussetzen, der in der Lage ist, zuvor eine solche Einsicht in die wahrhafte GÝterordnung zu erreichen. Seneca nennt daher nur ein allgemeines, aber so doch von jedem erfÝllbares Kriterium: dass bei allem, was einer tut, die Taten stets mit den Worten Ýbereinstimmen sollen, oder – noch allgemeiner – dass jeder, wo er auch sei, sich selbst gleich bleiben soll. Mit der Bestimmung, dass es im Le-
214
Seneca
ben zuallererst auf Wahrhaftigkeit ankommt und nicht auf die Erfassung von Wahrheiten (Wesensordnungen), hat Seneca nachhaltig auf Montaigne, die franzÚsischen Moralisten (La Rochefoucauld u. a.), Nietzsche und die Existenzphilosophie wirken kÚnnen. Senecas Geburtsjahr wird ganz unterschiedlich bestimmt (von 4 v. Chr. bis 1 n. Chr.). Sein Vater, ein rÚmischer Ritter aus Cordoba in Spanien, ließ ihn schon als Kleinkind nach Rom bringen, um ihm von Anfang an eine klassische Ausbildung zukommen zu lassen. Darauf folgte der Unterricht bei einem Rhetor und bei einem Rechtsgelehrten. Auf beiden Gebieten erzielte Seneca spÈter (seit 31) beachtliche Erfolge. Unter Kaiser Gaius (37–41), genannt Caligula (Soldatenstiefelchen), trat er in Beziehung zu dessen Schwestern, besonders zu Agrippina. Damit wurde er freilich auch in die hÚfischen Konkurrenzen und Intrigen verwickelt. Sogleich bei Regierungsantritt des Kaisers Claudius (41–54) ließ ihn dessen Frau Messalina auf die trostlose Insel Korsika verbannen. Dieser Schicksalsschlag – plÚtzlich herausgerissen zu werden aus einem kulturell und politisch hÚchst interessanten Leben, ohne auf RÝckkehr hoffen zu dÝrfen – wurde zur PrÝfzeit, vor allem fÝr die gerade neu angeeignete stoische Philosophie. Nach 8 Jahren konnte Agrippina, die neue Gattin des Kaisers, Senecas RÝckkehr mit dem Argument durchsetzen, einen hochkarÈtigen Erzieher fÝr ihren aus einer frÝheren Ehe stammenden, vom Kaiser aber adoptierten Sohn Nero zu benÚtigen. Bei dessen Thronbesteigung im Jahre 54 wurde Seneca folgerichtig Ratgeber fÝr alle Úffentlichen Auftritte des inzwischen siebzehnjÈhrigen Kaisers. Durch diese Funktion und die freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem PrÈtorianerprÈfekten Burrus, dem die Hauptverantwortung fÝr die Exekutive zukam, nahm Seneca zentral an der Regierung des rÚmischen Staates teil. Die nÈchsten fÝnf Jahre galten allgemein als eine goldene Zeit fÝr das Weltreich. Danach schwand der Einfluss Senecas, das persÚnliche Regiment Neros wurde zunehmend unkalkulierbarer. Seneca wollte dafÝr nicht lÈnger die Verantwortung Ýbernehmen und bat um seinen Abschied, der ihm aber offiziell verweigert wurde. Im Jahre 65 beschloss die VerschwÚrung um Piso, den wahnsinnigen Kaiser zu beseitigen und Piso oder auch Seneca zum Prinzeps zu erhe-
ben. Die VerschwÚrung wurde entdeckt, und obwohl Seneca keine MittÈterschaft nachgewiesen werden konnte, zwang ihn der misstrauische Nero zur SelbsttÚtung. Das wurde noch einmal eine PrÝfung fÝr den, der sich auf den Weg gemacht hatte, ein stoischer Weiser zu werden. Seneca ließ sich die Adern Úffnen, das Blut floss aber nur langsam und so nahm er zusÈtzlich Schierlingsgift. Da es von seinem kalten KÚrper nicht richtig aufgenommen wurde, stellte er sich in eine Wanne mit warmem Wasser. Als dies aber den Tod noch immer nicht beschleunigte, schlachteten ihn die ungeduldig gewordenen Schergen schließlich wie ein StÝck Vieh ab. Tacitus hat uns den langen Tod in allen Einzelheiten geschildert. Rubens hat hiernach sein Bild Der sterbende Seneca geschaffen, es hÈngt heute in der Alten Pinakothek in MÝnchen. Die erste philosophische Arbeit Senecas (Ad Marciam de consolatione), bereits in der Regierungszeit Caligulas verfasst, gehÚrt zur großen antiken Gattung der Trostschriften. Die Ýberlange Trauer, die Depression, galt in der Antike als der Affekt, der anders als Wut, Zorn, Hass und Misstrauen der %Vernunft am wenigsten zugÈnglich ist. Gerade im Hinblick auf diese EinschÈtzung leuchtet das neue ›psychotherapeutische‹ Konzept der Stoiker ein, die AffektivitÈt nicht etwa bloß der Vernunft zu unterwerfen (wie bei den Platonikern) oder gelegentlich sogar zu akzeptieren (wie bei den Aristotelikern: der so genannte ›gerechte Zorn‹), sondern gÈnzlich, wenn auch schrittweise, aufzulÚsen. Auch in seinen nach griechischen Vorbildern verfassten TragÚdien ist die Gewalt des Affektes das eigentliche Thema: die Wut einer verletzten und beleidigten Seele, das Beharren auf Rache, der Selbsthass und das Leiden unter Gewissensbissen. Die Themen von Senecas Werken – vor allem Àber den Zorn, Àber die Standhaftigkeit des Weisen, Àber das glÝckselige Leben, Àber die Seelenruhe und Àber die KÝrze des Lebens – finden sich schließlich alle wieder in seinem in der Zeit der Entmachtung entstandenen Hauptwerk: Epistulae morales ad Lucilium, oft mit Briefe Ýber Ethik Ýbersetzt; sachlich treffender wÈre aber Briefe Ýber die persÚnliche LebensfÝhrung. Es handelt sich um ein literarisch-philosophisch hÚchst kunstvoll komponiertes Briefwerk. Es besteht aus 124 sorgfÈltig aufeinander aufbauen-
Sokrates von Athen
den Kunstbriefen, in denen wie bei wirklichen Briefen oft von zufÈlligen AnlÈssen und Erlebnissen oder von frÝher ErwÈhntem und nur den Briefpartnern Vertrautem ausgegangen wird, um dann ein bestimmtes Thema – die Aufgabe der Philosophie, die Gefahr der seelischen Verformung durch eine zu starke Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, die ÝbermÈßige Todesfurcht der meisten, der Nutzen einer ausgeglichenen Sinnesart – anzuschlagen, um schließlich in einer Ermahnung oder Sentenz zu enden, wie z. B. »Derjenige ist ein Ýberaus glÝcklicher und unbesorgter Besitzer seiner selbst, der das Morgen ohne Unruhe erwartet.« Das gesamte Werk ist in mehrere Zyklen gegliedert, denen jeweils bestimmte pÈdagogische Phasen entsprechen und in denen frÝher Gewonnenes variiert und vertieft wird. Seneca beansprucht nicht, bereits ein Weiser zu sein; auch er ist nur einer, der auf dem Wege ist (proficiens). GegenÝber seinem SchÝler betont er daher lediglich, schon ein StÝck weiter zu sein. Den pÈdagogischen Grundgedanken des Briefkursus nennt Seneca bei der Antwort auf die Frage, warum niemand seine Fehler eingesteht. Weil wir alle noch so in Fehlhaltungen befangen sind wie einer, der sich noch im Traum befindet und noch nicht in der Lage ist, ihn anderen zu erzÈhlen. Aufgabe der Philosophie ist es daher, uns wachzurÝtteln und uns die Chance zu geben, unsere Fehler einzugestehen. Denn dies ist das erste Zeichen unserer seelischen Gesundung. Dies begrÝndet Seneca wiederum mit der interessanten psychologischen Auffassung, dass offen gelegte Fehlhaltungen schon erheblich an negativer Wirkung verloren haben. Die Parallelen mit der heutigen Psychoanalyse sind verblÝffend. Die Hauptquelle fÝr unser Fehlverhalten – das Thema, bei dem Seneca ganz und gar originell ist – besteht im falschen oder nachlÈssigen Umgang mit unserer eigenen Lebenszeit. Die %Zeit ist zwar eine flÝchtige und hÚchst unsichere Sache, aber sie ist andererseits die einzige, die wir von %Natur aus besitzen. Alles andere mÝssen wir erst erwerben, daher kann es uns jederzeit vom %Schicksal wieder genommen werden. Es kommt also alles darauf an, der Zeit endlich den Wert beizulegen, der ihr wirklich zukommt. Ein großer Teil des Lebens entgleitet uns, wenn wir unrecht handeln, der grÚß-
215
te Teil, wenn wir Ýberhaupt nicht handeln, das ganze Leben aber entgleitet uns, wenn wir immer wieder nur ›anderes‹ tun, indem wir uns mit allem MÚglichem beschÈftigen und nicht mit dem, was fÝr uns wirklich wichtig ist, oder wenn wir nicht das tun, was jeweils jetzt verlangt ist, sondern alles auf ein Morgen verschieben. Von daher ist der grundlegende Rat zu verstehen, mit dem Seneca den ersten Brief erÚffnet: »Handle so, mein Lucilius: Eigne dir dies endlich an, das dir immer schon gehÚrt hat. Sammle und hÝte die Zeit, die dir gegeben ist!« G. Maurach, Seneca Leben und Werk, Darmstadt 1991 E. Hachmann, Die FÝhrung des Lebens in Senecas Epistulae morales, MÝnster 1995 C. St.
Sokrates von Athen (um 470–399): Hinrichtung durch Gift im MÈrz. Sokrates verzichtete auf jede Schriftlichkeit. Die antiken Zeugnisse Ýber ihn prÈsentieren kein einheitliches Bild, sondern bieten viele voneinander abweichende und sogar widersprÝchliche Darstellungen, wobei zu berÝcksichtigen ist, dass die Mitglieder des Kreises um Sokrates ganz verschiedene philosophische Richtungen einschlugen. MÚglicherweise vereinigte Sokrates in seiner Person so viele Merkmale, dass sich aus den antiken Berichten kein einheitliches Bild ergeben kann, und allem Anschein nach gingen von Sokrates Anregungen aus, die in unterschiedlicher Weise aufgenommen und realisiert wurden. Das wird dadurch bestÈtigt, dass alle Sokratiker sich auf Sokrates berufen; eine Unterscheidung von ›echten‹ und ›falschen‹ Sokratikern ist nicht mÚglich. Dabei wird Sokrates nur umrisshaft erkennbar, zumal er keine systematischen philosophischen Lehren vortrug, sondern zum philosophischen Denken anregte. Insgesamt liegen bis zu %Aristoteles sechs Gruppen von SokratesZeugnissen vor: 1. Sokrates in der KomÚdie, besonders bei Aristophanes; von anderen sind einige Fragmente Ýberkommen; 2. Xenophon; 3. AnhÈnger des Sokrates außer %Platon; 4. Platon; 5. Aristoteles; 6. die Ablehnung durch Athen. Diese sechs Gruppen sind kurz zu skizzieren. 1. Der ›ungewaschene‹ Sokrates galt offenbar als besonders geeignetes Objekt fÝr die KomÚ-
216
Sokrates von Athen
die; abgesehen hiervon ist die von Aristophanes vorgefÝhrte Karikatur des Sokrates als eines großen %Sophisten sehr verzeichnet; Sokrates verkaufte seine Methode der Fragestellung nicht fÝr Geld und unterschied sich wesentlich von den Sophisten. WÈhrend diese bestritten, dass sichere Erkenntnis als Gegensatz zur verÈnderlichen Meinung mÚglich sei, fÝhrte Sokrates in seinen GesprÈchen jeweils den Nachweis, dass das, was seine GesprÈchspartner zu wissen meinten, alles andere als Wissen ist. Er selbst beanspruchte nicht, etwas zu wissen, außer dass er nichts wisse, war aber sein ganzes Leben hindurch auf der Suche nach Wissen. 2. Xenophon bringt Sokrates hÚchste Verehrung entgegen und hebt hervor, dass Sokrates trotz seiner Armut in grÚßter GenÝgsamkeit lebte, standhaft gegenÝber allen Verlockungen war und sich mit seinen GesprÈchspartnern, sofern sie ihn um Rat fragten, so unterhielt, wie er es als richtig erachtete; er besaß praktische Klugheit in Verbindung mit ethischer Vortrefflichkeit, und eben dieses, praktische Klugheit und ethische Vortrefflichkeit, wollte er seinen GesprÈchspartnern vermitteln. 3. Von den engsten Freunden des Sokrates sind außer Platon lediglich Antisthenes, Aristipp und Euklid von Megara als Philosophen kenntlich; sie nahmen Anregungen des Sokrates in unterschiedlichster Weise auf. Antisthenes sieht in Sokrates das Ideal einer %Ethik, welche absolute BedÝrfnislosigkeit fordert und hiermit eine strenge Disputationsauffassung verbindet: Widerspruch und Irrtum sind unmÚglich, weil Wortbedeutungen einerseits und Dinge sowie Sachverhalte andererseits in engster Relation zueinander stehen. Aristipp sieht in der hedone (Freude, Lust) das %hÚchste Gut. GemÈß Euklid von Megara ist das %Gute Eines, einen Gegensatz zu ihm gibt es nicht, was durch eine Disputationsweise erwiesen wird, welche nicht die Voraussetzungen, sondern die aus den Voraussetzungen sich ergebende Schlussfolgerung verwirft. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang Aischines von Sphettos, dessen Sokratesdarstellung (nur wenige Fragmente sind erhalten) in der Antike als besonders verlÈsslich galt: Sokrates Ýberzeugt seine jeweiligen GesprÈchspartner, dass sie nicht wissen, was das Gute ist. 4. In Platons Werken wird ein Sokrates vorgefÝhrt, der a) disputiert, zur Einsicht in das
Nichtwissen fÝhrt und im EingestÈndnis des Nichtwissens verweilt, was nicht bedeutet, dass Sokrates gar nichts weiß; er weiß, dass er nichts weiß und dass es besser ist, nach Einsicht zu streben als diesbezÝglich untÈtig zu sein; der b) gelegentlich positive Ergebnisse im Sinne Platons vortrÈgt; der c) die platonischen Lehren vorlegt (Lehre von der Seele, Ideen- und Staatslehre); der d) allmÈhlich in den Hintergrund tritt (Sophistes, Politikos und Timaios), der e) nicht mehr am GesprÈch beteiligt ist (Gesetze). In Platons frÝhen Schriften kann Sokrates es im StreitgesprÈch mit jedem Sophisten aufnehmen, indem er mit TrugschlÝssen und Wortverdrehungen operiert. Dass der historische Sokrates tatsÈchlich in dieser Weise argumentierte, ist anzunehmen, zumal in Platons Schriften mehrmals gesagt wird, Sokrates sei das, was er den Sophisten zum Vorwurf mache, nÈmlich ein Wortverdreher. Weiterhin ist anzunehmen, dass wohl auch die gebildeten Athener in solcher Weise argumentierten. Hieraus dÝrfte sich ergeben, dass die sokratische Elenktik (Widerlegungskunst) sich der gleichen Mittel bedient, die Sokrates’ GesprÈchspartner anwenden, diese aber alsbald in WidersprÝche verwickelt und zum EingestÈndnis des Nichtwissens zwingt. 5. GemÈß Aristoteles bemÝhte Sokrates sich nicht um %Erkenntnis der gesamten %Natur, sondern um die ethischen Vortrefflichkeiten und suchte diesbezÝglich als Erster allgemeine %Definitionen aufzustellen; hinzu kommen als Leistung des Sokrates Argumente aus der %Analogie. 6. Aufgrund der Anklage, die StaatsgÚtter nicht anzuerkennen, neue Gottheiten eingefÝhrt zu haben und die Jugend zu verderben, wurde Sokrates mit 280 zu 221 Stimmen schuldig gesprochen. Diese nicht sonderlich große Mehrheit Èndert nichts an der Tatsache, dass die meisten Athener Sokrates ablehnten. Wohl um dem wachsenden Einfluss der Sokratiker entgegenzutreten, schrieb der Redner und Politiker Polykrates von Athen nach 394, vielleicht 392, eine als Anklageschrift verfasste Polemik gegen Sokrates, die er Anytos, einem der AnklÈger Sokrates’, in den Mund legte. Die Sokratiker antworteten mit heftigem Widerspruch, Platon mit der Apologie, Xenophon in den Commentarii, Lysias mit einer nicht erhaltenen Verteidigungsrede, Isokrates kritisierte die Methode des Polykrates
Sokrates von Athen
und warf ihm Tatsachenverdrehung vor, und noch im 4. nachchristlichen Jahrhundert schrieb Libanios eine Verteidigungsrede des Sokrates. – Was ergibt sich aus diesen verschiedenartigen Bezeugungen, von denen Platons frÝhe Schriften und Aristoteles’ knappe Bemerkungen die gewichtigsten sind, mit einiger Wahrscheinlichkeit fÝr den historischen Sokrates? Sein Fragen richtet sich auf das richtige menschliche Verhalten, richtiges Verhalten ist am Guten orientiert und bemÝht, es zu verwirklichen; folglich setzt BemÝhen um Verwirklichung des Guten Wissen vom Guten voraus. Dieses Wissen ist immer auf die %Praxis bezogen. Praktisches Wissen schließt Kenntnis der ethischen Vortrefflichkeiten ein. FÝr eine Wissenschaft vom richtigen menschlichen Verhalten, d. h. fÝr eine wissenschaftliche %Ethik, ergeben sich also zwei Hauptfragen: Was ist das Gute? Was ist das %Wesen ethischer Vortrefflichkeit, ohne die richtiges, d. h. gutes Leben unmÚglich ist. Praktisches Wissen und Wissen vom Guten glauben fast alle zu haben; es liegt demgemÈß fÝr Sokrates, der weiß, dass er dieses Wissen nicht hat, nahe, im GesprÈch Belehrung zu suchen und die erteilten Antworten zu prÝfen. Die erteilten AuskÝnfte erweisen sich jeweils als falsche Meinungen; sie werden widerlegt, sodass der Irrtum offenkundig ist. Das wiederholt sich immer wieder; das Ergebnis ist jeweils dasselbe: Keine Antwort hÈlt einer kritischen ÀberprÝfung stand. Hieraus ergibt sich fÝr Sokrates, dass das praktische Wissen, das alle zu haben glauben, nicht vorhanden ist. Da auch er dieses Wissen nicht besitzt und es trotz fortwÈhrenden Suchens und Fragens nie erlangte, ergibt sich als Konsequenz das EingestÈndnis des Nichtwissens. Dieses EingestÈndnis ist keineswegs Zeichen einer Resignation, sondern Wissen des Nichtwissens oder ›belehrte Unwissenheit‹. Sie ist die dem Philosophen angemessene Grundhaltung, die ihn immer wieder veranlasst, nach dem Guten und den Vortrefflichkeiten zu suchen und die erteilten Antworten, auch die eigenen, kritisch zu ÝberprÝfen in der Erwartung, dass kein vermeintliches Ergebnis der Widerlegungskunst standhalten wird. Dass Sokrates annahm, eine AnnÈherung an das Gesuchte sei mÚglich, ist wahrscheinlich, weil ansonsten Streben nach Einsicht sinnlos wÈre. Das Èndert aber nichts daran, dass er das Wissen des Nichtwissens als
217
hÚchste Weise menschlicher Erkenntnis betrachtete. Gut und richtig ist nicht das, was in Tradition und Gegenwart dafÝr ausgegeben wird – hierin berÝhrt Sokrates sich mit den Sophisten –, sondern etwas wesentlich anderes, das fortwÈhrend zu suchen Aufgabe des Philosophen ist, wenngleich es sich letztlich der Erkenntnis entzieht, und hierdurch unterscheidet sich sokratisches Streben nach %Weisheit von jeder anderen Grundhaltung. Aus dem Wissen des Nichtwissens ergibt sich die oft genannte sokratische Ironie (Verstellung). Sie bedeutet nicht, dass Sokrates die Antwort auf die Fragen, die er an den GesprÈchspartner richtet, schon kennt – solches mag zwar gelegentlich vorkommen –, sondern dass er im Bewusstsein seines und aller Menschen Nichtwissens dem Dialogpartner zeigt, dass dessen vorgebliches Wissen einer kritischen ÀberprÝfung nicht gewachsen ist, also Unwissen ist, und ihn dann auffordert, im gemeinsamen GesprÈch die Wahrheit zu suchen. Dieses Suchen endet zwar abermals im EingestÈndnis des Nichtwissens, aber das Nichtwissen ist jetzt nicht mehr einfachhin Ignoranz, sondern belehrte Unwissenheit. Nicht im Zurschaustellen der eigenen Leistung, erst recht nicht in einer Prunkrede nach Art der Sophisten leitet Sokrates als Lehrer die mÝhevolle Suche nach der %Wahrheit, sondern im Verkleinern und Verbergen der eigenen Leistung. Nicht um Vermittlung eines philosophischen Systems, weder eines eigenen, das er nicht hat, noch um das eines anderen, geht es Sokrates, sondern darum, andere unter ZurÝcknahme seiner eigenen FÈhigkeiten auf den Weg zur Wahrheitssuche zu geleiten. Dass diese Art von Ironie als Arroganz missverstanden wird, ist einleuchtend; denn Sokrates ist von seiner Unwissenheit und der aller Menschen Ýberzeugt. Diese Àberzeugung hat Konsequenzen hinsichtlich dreier dem Sokrates beigelegten Aussagen, nÈmlich Vortrefflichkeit sei Wissen (dem wird hinsichtlich der Politiker, Dichter, Handwerker nachgegangen), woraus folgt, dass niemand mit Wissen Unrecht begeht, und ferner, die Sorge um die Seele sei wesentliche Voraussetzung eines wirklich guten Lebens. Dass Vortrefflichkeit (%arete, bester Zustand) in handwerklichen Berufen Sachkenntnis erfordert, konzediert Sokrates, aber diese Sachkenntnis richtet sich nicht auf das menschliche Gute, welches sich in der BetÈtigung ethischer Vortreff-
218
Spinoza, Baruch de
lichkeiten Èußert. Die Dichter verfassen ihre Werke ›aufgrund einer gewissen Naturanlage‹, nicht aufgrund von Wissen und Weisheit; und die Politiker wissen gar nichts. Das praktische Wissen vom Guten erfordert Selbsterkenntnis; wenn wir unsere eigene %Wesenheit kennen, wissen wir zugleich, was das Ziel unseres Lebens ist. Hieraus folgt das fortgesetzte BemÝhen des Sokrates um Selbsterkenntnis zusammen mit dem BemÝhen, kein Unrecht zu begehen, was sich auch darin zeigt, dass er sich weigerte, aus dem GefÈngnis zu entweichen, obwohl er die MÚglichkeit dazu hatte, und dadurch gegen die Gesetze Athens zu verstoßen. Entscheidend ist die Sorge um die %Seele, die der Mensch im eigentlichen Sinne ist; und diese Sorge verstand Sokrates anscheinend weniger im religiÚsen als vielmehr im philosophischen Sinne: Streben nach Erkenntnis des Guten und leben entsprechend der persÚnlichen Àberzeugung. Hierbei ließ Sokrates sich von einer inneren Kraft leiten, die er sein daimonion nannte, unter der wohl kaum das Gewissen zu verstehen ist; denn das daimonion wird immer als abratend, nicht als zuratend beschrieben. Dass Sokrates an ein Weiterleben nach dem Tod glaubte, das Ýber ein Schattendasein im Hades hinausging, ist wegen der ›Sorge um die Seele‹ wahrscheinlich; etwas darÝber zu wissen verneinte er. Wie Sokrates Ýber die Staatsreligion und Ýber die ansatzweise vorhandene philosophische Theologie dachte, ist unbekannt. Im 4. nachchristlichen Jahrhundert schrieb Kaiser Julian: »Alle, die jetzt ihr Heil in der Philosophie finden, verdanken dies Sokrates.« Hiermit ist Sokrates’ Bedeutung trefflich hervorgehoben. O. Gigon, Sokrates, sein Bild in Dichtung und Ge schichte, Bern 1947 [2. Aufl. 1979] H. Kessler (Hg.), Sokrates, Gestalt und Idee, Sokrates Studien 1, Zug 1993 A. Patzer, Sokrates, Das Gute, in: Grundprobleme der großen Philosophen, hg. von J. Speck, 4. Aufl. GÚt tingen 1990 Geschichte der Philosophie, hg. von W. RÚd: Die Phi losophie der Antike 2, Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, von A. Graeser, MÝnchen 1983 K. B.
Spinoza, Baruch de (1632–1677): Wenn sich Goethe 1785 in einem Brief zum Spinozismus
bekannte – »Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das GÚttliche in herbis et lapidibus« – oder eine naturphilosophische Studie nach Spinoza verfasste, so kam das immer noch einem Affront gegen das kirchlich verfasste Christentum gleich. Der spinozistische Gottesbegriff avancierte in Konkurrenz zum SelbstverstÈndnis der Kirchen, insbesondere der katholischen, die Spinozas Schriften auf den Index setzte, zu einem ›Geheimtipp‹ unter den Gebildeten und durfte erst zu Goethes Zeiten an die ³ffentlichkeit treten. Zu dieser bewegten Wirkungsgeschichte will das Bild vom Linsenschleifer Spinoza nicht so recht passen – und doch verlief das nicht sehr lange Leben dieses Mannes zumindest in seiner zweiten HÈlfte fast ereignislos. Baruch de Spinoza (auch Despinosa oder D’Espinosa) wurde am 24. November 1632 in Vloonburg, dem Judenviertel von Amsterdam, geboren. Seine Familie stammte aus Spanien, wo die Juden den Schutz der maurischen Besatzer genossen und nach deren ZurÝckdrÈngung vor der spanischen Inquisition zum großen Teil in den Niederlanden Asyl suchten. Auf diese Weise entstand in Amsterdam eine große jÝdische Gemeinde in bewusster Abgrenzung gegen das christliche Umfeld: der Lebensraum des jungen Spinoza. Unter diesen Bedingungen streng jÝdischer Orthodoxie wuchs Spinoza auf, besuchte seit 1637 die jÝdische Knabenschule und wurde dort mit der hebrÈischen Sprache, jÝdischer Theologie und Philosophie vertraut gemacht. Mit siebzehn Jahren Ýbernahm er das vÈterliche GeschÈft, setzte seine Studien jedoch nebenher Ýber den jÝdischen Horizont hinaus fort. So beschÈftigte sich Spinoza mit den Schriften %Descartes’ oder des ›abtrÝnnigen‹ jÝdischen Philosophen Joseph Salomo Delmedigo; des weiteren las er Bruno, Campanella und %Hobbes. Um 1654/55 wurde er durch einen Freund in die klassische lateinische und griechische Philosophie eingefÝhrt. Unter diesen EinflÝssen entfernte sich Spinoza immer mehr von den dogmatischen GrundsÈtzen jÝdisch-orthodoxen Denkens und wurde schließlich aus der jÝdischen Gemeinde ausgestoßen. Da er nicht bereit war ›abzuschwÚren‹, traf ihn 24-jÈhrig am 27. Juli 1656 der große Bann des jÝdischen Synagogenvorstands: ». . . mit der Zustimmung des Hl. Gottes und mit der Zustimmung dieser ganzen Kehila Kadoscha . . .. Verflucht sei er am Tage und
Spinoza, Baruch de
verflucht sei er in der Nacht. Verflucht sei er, wenn er sich niederlegt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht.« Damit war Spinoza seiner eigentlichen Heimat, der jÝdischen Gemeinde, beraubt und als Jude in das christliche Umfeld nicht integrierbar. Er zog sich nach Rijnsberg bei Leiden zurÝck und verdiente als Linsenschleifer – ein Handwerk, das er noch als Knabe gelernt hatte – seinen Lebensunterhalt. Mit christlichen Freunden und Gelehrten, die bis auf wenige Ausnahmen wie Tschirnhaus oder %Leibniz jedoch nicht zu denen mit großem Ruf zÈhlten, fÝhrte Spinoza einen regen Briefwechsel. Das 1673 ergangene Angebot der Heidelberger UniversitÈt fÝr einen Lehrstuhl der Philosophie lehnte er ab und lebte nach dem Zeugnis der amÝsant-naiven Kurzen, aber wahrhaftigen Lebensbeschreibung (1705) des Hausgenossen Johannes Colerus zufrieden und zurÝckgezogen in Den Haag. Nach langer Krankheit, einem Lungenleiden aufgrund des beim Schleifen entstehenden Glasstaubs, starb Spinoza im Alter von 44 Jahren am 21. Februar 1677. Das einen Tag spÈter erstellte Besitz-Inventar, beginnend mit »erstlich ein Bett, PfÝhl, zwei Kissen und zwei Decken . . . Item noch sieben Hemden . . .« usw. kÝndet von der sprichwÚrtlich gewordenen BedÝrfnislosigkeit dieses Philosophen. Seine philosophische Laufbahn beginnt Spinoza als Interpret von Descartes, dem zu seiner Zeit wohl meistdiskutierten Philosophen. Spinozas erstes und als einziges zu seinen Lebzeiten unter eigenem Namen erschienenes Werk trÈgt den Titel Descartes’ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begrÝndet. Es handelt sich dabei um den Ertrag des Unterrichts, den Spinoza einem PrivatschÝler erteilte. Das Werk erschien im Jahre 1663. Ein Jahr zuvor hatte Spinoza mit der Ausarbeitung seiner Ethik begonnen, die jedoch erst im Jahre 1675 ihren Abschluss finden sollte. Auch wenn es sich bei Descartes’ Prinzipien nur um eine Darstellung cartesischer Grundgedanken handelt, so kÝndigt sich doch im Titel bereits die neue Methode an, welche dann auch der Ethik zugrunde gelegt werden wird. Diese %Methode heißt geometrisch, weil sie mit %Definitionen, %Axiomen, LehrsÈtzen, Beweisen und FolgesÈtzen arbeitet, wie man es von den Elementen des antiken Mathematikers Euklid kennt. Das Motiv fÝr die Wahl dieser Methode liegt in folgendem Gedanken:
219
Hat jemand erst einmal die Richtigkeit der der Abhandlung vorangestellten Axiome und Definitionen eingesehen, so muss er auch allen daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen, sofern sie auf logisch korrekte Weise erlangt worden sind, zustimmen. Die Axiome selbst, so glaubte man, seien intuitiv einleuchtend und bedÝrften als solche keines %Beweises. Im Jahre 1670 erscheint dann anonym Spinozas Theologisch-Politischer Traktat, ein Werk, das gemeinhin als VorlÈufer der modernen, historisch-kritischen Bibelexegese angesehen wird. In den 1677 erschienenen Opera posthuma werden dann neben der Ethik erstmals auch die schon frÝh verfasste Abhandlung zur Verbesserung des Verstandes, sowie der Fragment gebliebene Politische Traktat verÚffentlicht. Spinozas Hauptwerk, die Ethica more geometrico demonstrata, entstand Ýber einen langen Zeitraum hinweg: 1663 das erste Buch, 1665 das zweite und dritte Buch, und 1675 war die nochmals Ýberarbeitete, nun fÝnfgliedrige Fassung abgeschlossen. Die Ethik erschien jedoch erst 1677, nach seinem Tode, in den Opera posthuma und wurde bereits im Jahr darauf durch die ›Staaten von Holland und Westfriesland‹ verboten, weil sie »sehr viele unheilige, gotteslÈsterliche und atheistische Behauptungen« enthÈlt. Man kÚnnte Spinozas Ethik als Versuch beschreiben, drei Probleme zu lÚsen: Erstens musste erklÈrt werden, was die Beziehung von %Leib und %Seele, von KÚrper und %Geist ist. Die von Spinoza vorgeschlagene LÚsung lautet: Beide sind Aspekte ein und derselben Sache. Zweitens galt es zu klÈren, in welchem VerhÈltnis %Gott zur %Welt steht. Spinozas Antwort auf diese Frage ist eine immanentistische: Gott ist die Welt. In welchem Sinne, wird noch zu erlÈutern sein. Drittens musste gezeigt werden, wie in einer deterministischen Welt %Freiheit mÚglich sein soll. Spinozas Antwort lautet: Die einzige Freiheit, die der Mensch besitzt, liegt in seiner %Erkenntnis begrÝndet. Nur als erkennender ist der Mensch frei. Mit der Herausbildung der modernen Naturwissenschaften am Beginn der %Neuzeit (A) war die Frage nach dem VerhÈltnis von KÚrper und Geist zum Problem geworden. Das neue Bild der %Natur, welches sich mit Galilei herauszubilden beginnt, erklÈrt alle VorgÈnge rein mechanisch. Ein Gegenstand wirkt auf den anderen
220
Spinoza, Baruch de
ein und bringt in diesem eine bestimmte Wirkung hervor. Dieser wiederum vollbringt dasselbe an einem anderen KÚrper usf. In einer derart mechanisch funktionierenden Welt scheint es nun aber keinen Platz fÝr den Geist, das Mentale, fÝr unsere %Vorstellungen, Gedanken und %GefÝhle zu geben. Descartes hat zuerst auf die von den Naturwissenschaften ausgehende Herausforderung geantwortet. Sein Vorschlag lautet: KÚrper und Geist sind zwei vÚllig verschiedene %Substanzen. KÚrper sind teilbar, der Geist ist unteilbar. KÚrper entstehen und vergehen, der Geist bzw. die Seele lebt nach dem Tode fort. Um nun erklÈren zu kÚnnen, wie es kommt, dass ein bestimmter Gedanke auf Seiten des KÚrpers eine bestimmte Aktion nach sich zieht, benutzt Descartes ein kausal interaktionistisches Modell. Der Geist kann trotz seiner fundamentalen Verschiedenheit auf den KÚrper einwirken, weil Lebensgeister, kleine, halb geistige, halb kÚrperliche Wesen zwischen beiden Seiten vermitteln. Der Ort dieser Vermittlung ist die ZirbeldrÝse, der Sitz der Seele. FÝr Spinoza war ein derartiges Zusammenwirken von KÚrper und Geist dubios. Aus diesem Grunde entwirft er ein monistisches Modell, das mit nur einer einzigen Substanz auskommt. Diese Substanz, so nimmt Spinoza an, besitzt unendlich viele %Attribute. An zweien von ihnen, nÈmlich Denken und Ausdehnung, hat der Mensch Anteil. Das bedeutet, dass der Mensch sowohl ein ausgedehntes wie ein denkendes Ding ist, beide Eigenschaften jedoch Eigenschaften ein und derselben zugrundeliegenden Substanz sind. Spinozas Gedanke lÈsst sich am Beispiel einer hÚlzernen Statue illustrieren: Ein und dieselbe Statue lÈsst sich in verschiedenen Hinsichten thematisieren. Einmal kann sie den Gegenstand Èsthetischer Betrachtung liefern, das andere mal kann sie als wÈrmespendender Stoff angesehen werden. Die Substanz, dasjenige also, was jeweils auf diese oder jene Weise betrachtet wird, bleibt dieselbe. Genauso verhÈlt es sich mit KÚrper und Geist. Beide sind verschiedene Thematisierungsweisen ein und derselben Substanz. Die Frage nach der kausalen Interaktion von KÚrper und Geist stellt sich damit nicht. Kann es keine Interaktion von Geistigem und KÚrperlichem geben, so wirft das natÝrlich die Frage auf, wie es um den Einfluss Gottes auf die
Welt bestellt ist. Descartes hatte Gott als dritte, unendliche Substanz den beiden endlichen Substanzen, Ausdehnung und Denken, gegenÝbergestellt. In erkenntnistheoretischer Perspektive kam ihm die Aufgabe zu, den Gedanken ihren RealitÈtsgehalt zu sichern: Gedanken beziehen sich auf die Welt. Andererseits kann kein %Subjekt hinter seine Gedanken treten, um zu sehen, ob sie mit der %Wirklichkeit Ýbereinstimmten. Dennoch kÚnnen wir nach Descartes von der prinzipiellen Richtigkeit unserer Gedanken ausgehen, weil uns Gott, der in erster Linie ein gÝtiger Gott ist, nicht stÈndig zum Narren hÈlt. FÝr Spinoza stellt sich die Frage nach der Àbereinstimmung von Gedanklichem und Wirklichem erst gar nicht. Wenn %Denken und Ausdehnung ein und dieselbe Sache sind, dann hat es keinen Sinn zu fragen, ob etwas als Gedankliches mit etwas Ausgedehntem Ýbereinstimmt. VollstÈndig auf Gott zu verzichten wÈre jedoch fÝr Spinoza undenkbar gewesen. Deshalb erklÈrt er ihn zur Substanz selbst – ein Gedanke, der schon von der %Stoa, etwa bei Marc Aurel, vorgeprÈgt gewesen ist. Gott und die allen Dingen zugrundeliegende Substanz sind ein und dieselbe Sache. Von einem Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen zu reden ist deshalb fÝr Spinoza genauso verkehrt wie nach dem Einfluss des Geistes auf den KÚrper zu fragen. Nun hat Spinozas %Monismus aber den entscheidenden Nachteil, dass mit der Parallelisierung von KÚrperlichem und Geistigem zugleich die menschliche Freiheit zu verschwinden scheint. Innerhalb der KÚrperwelt herrscht das Gesetz von %Ursache und Wirkung. Ein Gegenstand stÚßt den anderen an, dieser wieder einen anderen usw. Sollen nun Geistiges und KÚrperliches Aspekte derselben zugrundeliegenden Substanz sein, dann, so glaubt Spinoza, muss auch im Reiche des Geistigen dieselbe Abfolge herrschen wie im Reiche des KÚrperlichen. Die Ordnung der Ideen und die Ordnung der Dinge im Bereich des KÚrperlichen mÝssen einander entsprechen. Jedem kÚrperlichen Vorgang muss ein bestimmter geistiger Vorgang korrespondieren und umgekehrt. Spinoza unterstellt also fÝr beide Attribute, Denken und Ausdehnung, dieselben Individuationsprinzipien und GesetzmÈßigkeiten und steht dann vor dem Problem, menschliche Freiheit beseitigt zu haben. Spinoza hat aber auch dafÝr eine ErklÈrung: Das ein-
Thales von Milet
zige wirklich freie Ding ist der mit der Substanz identische Gott. Er ist Ursache seiner selbst und, da es keine zweite Substanz neben ihm gibt, auch vollkommen frei. Nichts schrÈnkt ihn ein, nichts wirkt auf ihn ein. FÝr den Menschen folgt daraus: Soll er Ýber Freiheit verfÝgen, so kann er das nur in Hinblick auf Gott. Der SchlÝssel zur LÚsung des Problems liegt im Begriff der adÈquaten Ursache: Jemand handelt und ist frei, wenn er die adÈquate Ursache dessen ist, was geschieht. Er leidet und ist unfrei, wenn er die inadÈquate Ursache des Geschehenden ist. AdÈquat ist eine Ursache dann, wenn die Wirkung aus ihr erkannt werden kann, inadÈquat dagegen, wenn aus der Ursache nicht ersichtlich ist, was folgen wird. Jemand fasst z. B. einen bestimmten Entschluss. Sind mit dem Entschluss bereits alle Folgen absehbar, so handelt es sich um eine adÈquate Ursache, ist dagegen vÚllig unbestimmt, was folgen wird, so war der Entschluss nur eine inadÈquate Ursache. Auf das Gebiet des Geistigen bezogen heißt Handeln soviel wie adÈquate und d. h. klare und deutliche Ideen zu haben. AdÈquate Ideen sind in erster Linie Ideen, die das Wesen der Dinge, die allen Dingen gemeinsamen Merkmale und GesetzmÈßigkeiten zum Inhalt haben. Diese wiederum sind Spinoza zufolge ewig. Indem man etwas aber nach dem Blickpunkt der Ewigkeit betrachtet, begreift man es durch das Wesen Gottes, dessen Wesen Ewigkeit ist. Handeln ist in erster Linie geistiges Handeln, geistige TÈtigkeit, die auf das den Dingen Gemeinsame, die Allgemeinbegriffe und die sie verknÝpfenden Gesetze gerichtet ist. Derjenige handelt und befreit sich von der Herrschaft der Affekte, der die Wesensmerkmale der Dinge zu ergrÝnden sucht. Nur diese kÚnnen klar und deutlich erkannt werden und nur im klaren und deutlichen Erkennen ist der Mensch, zumindest was das Attribut des Geistigen angeht, adÈquate Ursache. Da der mit der Substanz identische Gott als Einziger Ýber Freiheit verfÝgt, kann der Mensch, insofern er die Dinge im Lichte der Ewigkeit betrachtet, an der gÚttlichen Freiheit teilhaben. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die Freiheit der %SpontaneitÈt, die Freiheit also, in das UrsachengefÝge von außen einzugreifen und dem Lauf der Dinge eine andere Richtung zu geben. Vielmehr ist die Freiheit, die Spinoza dem Menschen einrÈumt, die Einsicht
221
in die GesetzmÈßigkeiten, in den Gang der %Notwendigkeit, welcher die Welt beherrscht. Spinozas Schriften, insbesondere seine Ethik, zogen eine bis an den Beginn des 19. Jhs. reichende philosophische Debatte nach sich. Der aus seinem System resultierende strenge %Determinismus wurde sowohl von Seiten der Theologie angegriffen, weil er ein Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen unmÚglich machte, als auch von Seiten der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung), weil unter den von Spinoza gesetzten PrÈmissen die %Autonomie des Menschen, sein VermÚgen, sich selbst %Gesetze zu geben und spontan zu handeln, in Frage gestellt wurde, denn in einem deterministischen System, wie es Spinoza entwirft, gibt es keine Willensfreiheit, sondern nur Ursachen und Wirkungen. W. Bartuschat, Baruch de Spinoza, MÝnchen 1996 A. Negri, The Savage Anomaly: The Power of Spinoza’s Metaphysics and Politics, Minneapolis 1991 M. Schrijvers, Spinozas Affektenlehre, Bern 1989 A. Donagan, Spinoza, New York 1988 H. Allison, Benedict de Spinoza. An Introduction, New Haven 1987 T. B.
Thales von Milet (um 624–546): Gilt seit %Aristoteles als Urheber der ionischen %Naturphilosophie; seit dem 5. Jh. wird er zu den %sieben Weisen gezÈhlt. Unser Wissen Ýber ihn ist sehr lÝckenhaft und ganz von antiker Berichterstattung abhÈngig. Dass er ein Buch geschrieben hat, ist mÚglich; ein direktes Zitat gibt es nicht; bereits Aristoteles hat offensichtlich keine Schrift des Thales gesehen, in der großen Bibliothek von Alexandria gab es kein Buch von ihm. Er sagte die Sonnenfinsternis vom 28. 5. 585 voraus; ob er schon die Ursache einer Sonnenfinsternis kannte oder aufgrund babylonischer Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu der Voraussage kam, ist unbekannt. Vermutet wird, dass er eine %Theorie Ýber die Gestirne und die Verfinsterung der Sonne vorlegte. Jedenfalls galt er wegen der Voraussage als großer Astronom, der auch die Geometrie, mit der er in gypten vertraut geworden sein soll, in Griechenland einfÝhrte; ihm wurden einige geometrische LehrsÈtze zugeschrieben, darunter der bekannte ›Satz des Thales‹: Der Peripheriewinkel im Halbkreis
222
Thales von Milet
ist ein rechter. Dieser Satz wurde indessen schon von den Babyloniern benutzt. Sicher scheint zu sein, dass er als Kaufmann gypten bereiste, dort die Nilschwellen kennen lernte und fÝr sie eine ErklÈrung bot: Die in der gÈis jÈhrlich im Sommer wehenden Nordostwinde hindern den Nil, ins Meer zu fließen. Von politischer Weitsicht zeugt der nicht befolgte Vorschlag, die Ionier sollten in Teos eine gemeinsame Bundesregierung einrichten. Als Urheber der Naturphilosophie gilt Thales nicht wegen der Lehre, Wasser sei der Urgrund fÝr alles, die Erde und die Welt seien aus dem Wasser entstanden und die Erde schwimme wie ein Schiff auf dem Urmeer, sondern deswegen, weil er auf mythische ErklÈrungen verzichtet haben soll. Die Leistung des Thales kann darin bestehen, dass er sich von der AutoritÈt des %Mythos befreite und seine %These nicht mit einem Mythos umkleidete und sie vielleicht sogar rational begrÝndete; sicher ist das keineswegs, zumal nach einer antiken Àberlieferung nicht Thales, sondern %Anaximander als Urheber der ionischen Naturphilosophie galt. Aristoteles nennt jedenfalls Thales den ersten Naturphilosophen. Trotz dieser aristotelischen Bezeugung ist Vorsicht geboten, denn Aristoteles wusste sehr wenig von Thales, und vom Leben und von der Lehre des Thales ist zu wenig ZuverlÈssiges Ýberliefert, als dass ihm der Schritt ›vom Mythos zum Logos‹ mit Sicherheit zugeschrieben werden dÝrfte. Die Bedeutung des Wassers als des Ursprungs der Natur wird im Mythos oft hervorgehoben, was nicht erstaunlich ist; denn ohne Wasser und Feuchtigkeit gibt es kein Leben. Dass Okeanos, der Vater des Meeres, der FlÝsse und aller Brunnen zusammen mit seiner Gemahlin Thetys, der MeergÚttin, Urvater von allem ist, war seit Homer eine gelÈufige Vorstellung griechischer Mythologie; Parallelen hierzu, mÚglicherweise sogar Vorlagen, gab es im babylonischen SchÚpfungsmythos in den ReprÈsentanten des SÝßwassers (Apsu) und des Meeres (TiIamat) sowie im gyptischen: Die Erde entstand aus dem Urwasser. Im HebrÈischen sind Èhnlich Auffassungen nachweisbar: Der Geist %Gottes schwebte Ýber dem Wasser; das trockene Land soll aus dem Wasser auftauchen; Gott hat die Erde Ýber dem Wasser ausgebreitet. Sehr wahrscheinlich ist, dass Thales solchen Vorstellungen verhaftet blieb; unsicher ist, dass
er sie in nicht-mythischer Form vortrug und rational begrÝndete. Wenn Thales auf mythische ErklÈrungen verzichtete, kÚnnen Ýber seine rationalen BegrÝndungen nur Vermutungen angestellt werden. Hinzu kommt die Frage, ob Thales nicht nur lehrte, die Erde, alle Lebewesen und der %Kosmos seien aus dem Wasser entstanden, sondern hiermit die ErklÈrung verband, Wasser sei der Stoff, aus dem alles besteht, wie Aristoteles die Lehre des Thales deutet. Die BegrÝndung fÝr beides, die sich neuzeitlichem Denken als wahrscheinlich anbietet, ist, dass das Wasser entsprechend seiner Temperatur verschiedene AggregatzustÈnde (fest, flÝssig, gasfÚrmig) annimmt; aber sie entspricht archaischem Denken nicht, sondern ist erstmals in stoischem Kontext belegt. Am meisten beachtenswert ist die Auskunft des Aristoteles, das Wasser sei nicht nur das, aus dem alles entstand, sondern es sei auch der Stoff, aus dem alles besteht; zu dieser Annahme sei Thales vielleicht deshalb gelangt, weil er sah, dass die Nahrung aller Dinge feucht ist und dass das Warme aus dem Feuchten entsteht, außerdem deswegen, weil die Samen aller Dinge feucht sind, das Wasser aber natÝrlicher Ursprung fÝr das Feuchte ist. Obschon Aristoteles nur vermutet, was Thales veranlasst haben kÚnnte, das Wasser als den Urgrund zu bestimmen, aus dem Erde, Lebewesen und der gesamte Kosmos nicht nur entstanden, sondern auch bestehen, kann die aristotelische Vermutung sich dem Denken des Thales nÈhern und zwar deshalb, weil in den aristotelischen Angaben das Wasser als Urgrund und Stoff aller Dinge in Beziehung zum Leben steht. Ohne FlÝssigkeit gibt es kein Leben; Sitz der LebenswÈrme ist das flÝssige Blut. Àberdies mag vielleicht ein sprachliches Argument die aristotelische Auskunft bekrÈftigen. Das griechische Adjektiv hygros vereinigt in sich die %Bedeutungen, die das Lebendige, FunktionstÝchtige charakterisieren: feucht, fließend, strÚmend, saftig, geschmeidig; hygros ist z. B. der RÝcken des Adlers, die Beine eines schnellen Pferdes sind hygroi. Ferner ist das Interesse an Zeugung, Geburt und allen mit dem Sexus zusammenhÈngenden PhÈnomenen fÝr archaische Gemeinschaften charakteristisch, und wenn Aristoteles einen mÚglichen Grund dafÝr, dass Thales das Wasser als Grundstoff aller Dinge annahm, in dem Umstand sieht, dass der Samen feucht ist, kann er das Richtige
Thales von Milet
getroffen haben. Aristoteles bringt hiermit nicht einen Gedanken ins Spiel, der dem Thales noch fern lag; auch in den Mythen des vorderen Orients ist die Meinung, alles sei aus dem Wasser entstanden, verbunden mit der Auffassung vom Wasser als dem Spender des Lebens. Nicht abzuweisen ist indessen das Bedenken, die Lehre vom Wasser als dem Grundstoff der Dinge habe Aristoteles nicht bei Thales gefunden, von dem er nur das wusste, was alle wussten, nÈmlich dass die Welt aus dem Wasser entstanden sei, sondern bei Hippon von Rhegion, der die Lehre des Thales erneuerte und eindeutig das Wasser als Grundstoff der Dinge bestimmte. Vielleicht genÝgte Aristoteles die Auskunft, alles sei aus dem Wasser entstanden, fÝr die weiterfÝhrende Annahme, gemÈß Thales sei Wasser der Grundstoff von allem. Thales kann jedoch gelehrt haben, alles sei aus dem unvorstellbar weit ausgedehnten Urwasser entstanden, ohne damit die Auffassung verbunden zu haben, Erde, Pflanzen, Tiere, Menschen und alles in der Welt bestehe aus Wasser. Andererseits ist es nicht ratsam, die aristotelischen AuskÝnfte Ýber Thales als unbegrÝndet abzulehnen; Thales kann durchaus die damals neue Auffassung vertreten haben, Wasser sei der alles konstituierende ElementarkÚrper. Unklar ist, ob Thales schon wie spÈter Anaximenes annahm, durch Verdichtung und VerdÝnnung des Urstoffes entstÝnden die Dinge. UnabhÈngig hiervon ist zu fragen, was die %Ursache des Entstehens und Vergehens ist, d. h. ob zusÈtzlich zum Wasser ein %Prinzip der Bewegung und VerÈnderung (das griechische Wort kinesis bedeutet beides) angenommen werden muss. Die Antwort ist negativ: Leblose, von sich aus gÈnzlich unbewegte %Materie scheint es fÝr das archaische Denken kaum gegeben zu haben; demzufolge ist es nicht erforderlich, eine eigene Wirkursache der Bewegung und VerÈnderung anzusetzen, die vom Urstoff verschieden wÈre; der Urgrund, das Wasser, ist lebendig. Diese Theorie wird bisweilen Hylozoismus (Stofflebenstheorie) genannt. Beachtet werden muss, dass dieser Titel nicht eindeutig ist und mindestens drei verschiedene Positionen bezeichnen kann: 1. Alle Dinge sind lebendig; 2. die Welt ist so mit Leben durchsetzt, dass manches, das unbelebt zu sein scheint, in Wirklichkeit lebendig ist; 3. die Welt als Ganze ist ein lebendiger Or-
223
ganismus. Nun sind zwei dem Thales zugeschriebene Lehren zu erklÈren; unser GewÈhrsmann ist wiederum Aristoteles: 1. Thales scheint die Psyche (%Seele) fÝr etwas Bewegendes gehalten zu haben; er sagte nÈmlich, der Magnetstein habe eine Seele, weil er das Eisen bewege. 2. Einige sagen, die Seele sei mit dem All vermischt, weshalb vielleicht auch Thales glaubte, alles sei von GÚttern erfÝllt. Aristoteles wusste offenbar nur, dass Thales dem Magnetstein eine Psyche zuschrieb, und hatte dies wahrscheinlich dem Lesebuch wissenswerter Dinge des Sophisten Hippias entnommen; die Folgerung, die er vortrÈgt, dÝrfte aber richtig sein. Die Psyche gilt allgemein als Prinzip des Lebens sowie der Bewegung und VerÈnderung, und das nicht nur in archaischer Zeit: %Platon setzt eine Weltseele als Ursache der Bewegung, VerÈnderung und des Lebens im Kosmos an. Bekannt ist, dass entsprechend archaisch-mythischer Auffassung FlÝsse, BÈume usw. als etwas Beseeltes oder als von einer Gottheit Bewohntes aufgefasst wurden und zwar deswegen, wenn auch nicht ausschließlich, weil sie die FÈhigkeit zur Selbstbewegung und VerÈnderung besitzen. Die Auffassung des Thales geht – soviel lÈsst der knappe Bericht erkennen – Ýber die mythische Auffassung hinaus, steht aber doch wohl in Verbindung mit ihr. Allerdings ist auf etwas Wichtiges hinzuweisen: Der scheinbar unbelebte Magnetstein kann sich nicht selbst bewegen, vermag aber etwas anderes, nÈmlich Eisen, zu bewegen und zwar ohne Druck und Zug. Zur ErklÈrung dieses PhÈnomens bietet sich die Deutung an, dass sich in ihm eine Kraft befinden muss, die anderes in dieser Weise bewegen kann. Diese den Dingen immanente Kraft, ohne Druck und Zug sich selbst und anderes oder, wie im Falle des Magnetsteins, nur anderes zu bewegen, ist entsprechend altgriechischem VerstÈndnis wesentliches Merkmal der Psyche. Psyche bedeutet »Leben, Lebenshauch, Lebenskraft, Lebensprinzip«; somit ergibt sich, dass scheinbar leblose Dinge wie der Magnetstein, nach einem anderen Bericht auch der Bernstein, lebendig sind. Zur zweiten Angabe (alles ist von GÚttern erfÝllt): Wenn diese Aussage von Thales stammt und nicht einer der herrenlosen SprÝche ist, die bald dieser, bald jener AutoritÈt zugewiesen wurden, kann es sich um eine Verallgemeinerung der Lehre handeln, der Magnetstein ha-
224
Thomas von Aquin
be eine Psyche. Als eines der Merkmale der Psyche gilt nÈmlich keineswegs nur in archaischer Zeit die UnvergÈnglichkeit, und hiermit ist die MÚglichkeit gegeben, die Psyche als gÚttlich oder als Gott zu bezeichnen. Fraglich kÚnnte es scheinen, ob alles wÚrtlich zu verstehen ist oder ob lediglich eine unbestimmt große Anzahl gemeint ist, was bedeuten wÝrde, dass die Welt in ihrer Gesamtheit beseelt ist, wodurch nicht ausgeschlossen wÈre, dass einige Dinge nicht beseelt sind. Wenn aber Thales nicht nur lehrte, alles sei aus dem Wasser entstanden, sondern hiermit die Auffassung verband, Wasser sei der Stoff, aus dem alles besteht, ist die MÚglichkeit gegeben, den Satz »Alles ist von GÚttern erfÝllt« naturphilosophisch zu erklÈren: Das Wasser ist nicht einfachhin lebloser Stoff, sondern identisch mit der Kraft der Bewegung und VerÈnderung, d. h. Wasser ist Seelenstoff, und als solcher ist es unvergÈnglich, alles gestaltend, bewegend und verÈndernd, es ist theion und theos, gÚttlich und Gott. Alles besteht aus Wasser; demzufolge ist die Welt von der ›gÚttlichen‹ Grundsubstanz erfÝllt, was in der Sprache der Popularreligion heißt: »Alles ist von GÚttern erfÝllt.« Alle diese Àberlegungen sind Vermutungen; wir wissen nicht, ob Thales solche Gedanken geÈußert hat; von einem kosmologischen System des Thales zu reden ist angesichts der dÝrftigen einigermaßen wahrscheinlichen Berichte abwegig. Abwegig ist weiterhin, in Thales den VorlÈufer moderner Naturwissenschaft zu sehen, weil wir nicht einmal sicher sein kÚnnen, dass er sich von mythischen ErklÈrungen befreite und tatsÈchlich der BegrÝnder der ionischen Naturphilosophie ist. Was in spÈterer Zeit Thales an Entdeckungen zugeschrieben wurde, wie z. B. die Berechnung der GrÚße von Sonne und Mond, dÝrfte in das Reich der Legende gehÚren. Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von H. Diels / W. Kranz, Bd.1, 1989 [Nachdr. der 6. Aufl. Berlin 1952] J. Mansfeld, Die Vorsokratiker (Auswahl), Bd.1, Stutt gart 1983 The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts, by G. S. Kirk / J. E. Raven / M. Schofield, 2. Aufl. Cambridge 1983 [dt. von K. HÝl ser, Stuttgart 1994] Geschichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike 1, von Thales bis Demokrit, von W. RÚd, 2. Aufl. MÝnchen 1988 K. B.
Thomas von Aquin (1225–1274): Mit ihm erreichte das Denken des %Mittelalters (A) einen seiner HÚhepunkte. In seinen Werken vereinigen sich auf eigentÝmliche Weise die wichtigsten Traditionen des christlichen Zeitalters mit einem durch die arabische und jÝdische Wissenschaft vÚllig neu motivierten VerstÈndnis der aristotelischen Philosophie. Deshalb liegt seine Leistung in der Synthese dieser auseinander weisenden Elemente. Schon bald nach seinem Tode, seit seiner Heiligsprechung 1323, wurde er fÝr Jahrhunderte der wichtigste Lehrer der katholischen Kirche. Das hat die Rezeption seines philosophischen Denkens bis in die Gegenwart hinein nachhaltig geprÈgt. Mit fortschreitender SÈkularisierung von Kunst und Wissenschaft seit der %Renaissance (A) erschien der offizielle kirchliche Thomismus als Inbegriff geistiger RÝckstÈndigkeit, eine Philosophie, die es nur zu einer komplizierten, aber zutiefst sophistischen Rechtfertigung der Dogmatik gebracht hat. So wurde Thomas in der %Neuzeit (A) zumeist ganz verzerrt interpretiert. Seine Bedeutung in der Geschichte der Philosophie wurde entweder grotesk Ýbersteigert oder zumeist vÚllig ignoriert. ZunÈchst ist Thomas ein charakteristischer Zeuge seiner Epoche, Ýber deren Grenze sein Denken indessen weit hinausweist. Der Familie der Grafen von Aquino wurde er wahrscheinlich 1225 auf Schloss Roccasecca im KÚnigreich Sizilien geboren und von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt. Nachdem er von 1230 oder 1231 an die Schule des Benediktinerklosters Monte Cassino besucht und 1239 bis 1244 an der von Kaiser Friedrich II. gegrÝndeten UniversitÈt Neapel die sieben freien KÝnste studiert hatte, trat er in den noch neuen Bettelorden der Dominikaner ein. Der heftige Widerstand seiner Familie, die ihn entfÝhrte und ein Jahr lang gefangen hielt, machte ihn nicht gefÝgig, und so ging er 1245 zum Studium bei Albertus Magnus nach Paris. 1248 folgte er seinem Lehrer nach KÚln an die neu gegrÝndete Ordenshochschule der Dominikaner, wo er bis 1252 blieb. In diesem Jahr wurde er von seinem Orden nach Paris geschickt, wo er zuerst im Dominikanerkonvent, dann seit 1259 an der erst etwa sechs Jahrzehnte alten UniversitÈt lehrte. Hier wurde er in den politischen Streit um die Rolle der Bettelorden an der UniversitÈt verwickelt, eine Kontroverse, in der die historisch neue Institution UniversitÈt
Thomas von Aquin
ihre geistige Aufgabe und ihre Stellung in der Gesellschaft Ýberhaupt erst zu bestimmen suchte. 1256 erhielt Thomas den Magistergrad der Theologie, den hÚchsten akademischen Titel der damaligen UniversitÈt. Von 1259 bis 1268 lebte er in Italien, erfÝllte Lehraufgaben an verschiedenen Ordensstudien und hielt sich auch lÈnger am pÈpstlichen Hofe auf. Um in dem inzwischen heftig entbrannten Konflikt um Rezeption und Interpretation des %Aristoteles Stellung zu beziehen, wurde Thomas 1269 nochmals an die UniversitÈt Paris berufen, wo er bis 1272 seine grÚßte akademische AktivitÈt entfaltete und seine literarisch produktivste Periode hatte. Seine Gegner standen auf zwei Seiten, die weltlichen Aristoteliker auf der einen und die konservativaugustinischen Franziskaner auf der anderen. Im Jahre 1272 wechselte Thomas an die UniversitÈt Neapel, wo er noch kurze Zeit lehrte, bis er am 7. MÈrz 1274 auf dem Wege zum Zweiten Konzil von Lyon in Fossanuova starb. Er hat stets alle hohen kirchlichen mter, die ihm angeboten wurden, abgelehnt und war in der Hierarchie nie mehr als ein einfacher Ordensbruder. Das Ýberaus umfangreiche Werk des Thomas von Aquin umfasst vor allem Schriften, die in engem Zusammenhang mit seiner Lehre an der UniversitÈt entstanden sind. Die großen systematischen Schriften sind als LehrbÝcher konzipiert. Der Kommentar Ýber die Sentenzen des Petrus Lombardus (1254–1256) ist die erste Darstellung der gesamten Theologie. Die Summa contra gentiles (Summe gegen die Heiden, 1256–1259) untersucht eingehend die Argumente der islamischen Philosophie und verteidigt die christliche Lehre mit den auch von den Gegnern beanspruchten rein philosophischen Mitteln. Die berÝhmte Summa theologiae (1267–1273) ist die umfassendste, in vielen Einzelheiten auch konziseste Darstellung dessen, was im 13. Jh. Ýberhaupt Gegenstand wissenschaftlichen Denkens sein konnte, zugleich eine spekulative Konstruktion der Weltordnung, die sich aus der LÚsung hunderter von Einzelfragen ergibt. Die literarische Form der Quaestio (Frage) entstammt der Disputation an der mittelalterlichen UniversitÈt: Einander entgegengesetzte Positionen zu einer wissenschaftlichen Einzelfrage waren entweder zu widerlegen oder miteinander zu vermitteln, um eine LÚsung zu er-
225
mÚglichen. Seine Quaestiones disputatae (1256–1269), die ErÚrterten Streitfragen Ýber die %Wahrheit, die Macht %Gottes, das %BÚse, die %Seele und andere GegenstÈnde sind als Niederschlag der vielen Disputationen zu lesen, in denen Thomas vor allem in Paris Stellung nehmen musste. Die Grundlage seiner selbststÈndigen Schriften sind seine Kommentare zu Teilen der Bibel und vor allem zu Aristoteles, dessen wichtigste Werke Thomas Abschnitt fÝr Abschnitt interpretiert hat. Hatte sein Lehrer Albertus Magnus die aristotelische Lehre breit dargestellt, so dringen die Kommentare des Thomas von Aquin spekulativ in die bei Aristoteles ungelÚsten Probleme ein und haben in vielem deren VerstÈndnis Ýberhaupt erst erschlossen. Die geistige Leistung des Thomas von Aquin wird hÈufig darin gesehen, dass er die aristotelische Philosophie christianisiert habe. Davon ist so viel richtig, dass Thomas die Ýberkommene neuplatonisch-augustinische Orientierung der Theologie mit aristotelischen Mitteln so kritisiert hat, dass die profane Welt als Gegenstand der Theorie ganz neu entdeckt werden konnte. Galten die %Natur und besonders die gesellschaftlichen VerhÈltnisse der Menschen in der Tradition als durch den SÝndenfall grundsÈtzlich verderbt, so waren sie fÝr Thomas Ordnungen des Seienden (%Sein), die nach gÚttlicher %Vernunft eingerichtet sind und deshalb der menschlichen %Erkenntnis offen stehen. Die Untersuchung der einzelnen NaturgegenstÈnde auf ihre wesenhafte, d. h. gesetzmÈßige %Struktur hin ist nach Thomas geradezu eine Bedingung fÝr die Erkenntnis Gottes, welche nach wie vor das hÚchste Ziel aller Erkenntnis ist. Die asketischspirituelle Abwendung von der Welt und die Àberzeugung, alle %Gewissheit, zu der menschliches Denken gelangen kann, entstamme gÚttlicher Erleuchtung, werden von Thomas aufgegeben. GegenÝber diesen Motiven der augustinischen Tradition entwickelt Thomas eine Theorie, nach der Erkenntnis nicht lÈnger ein vornehmlich kontemplatives Verhalten ist, sondern vielmehr eine produktive TÈtigkeit, in welcher der Gegenstand und der erkennende %Verstand sich wechselseitig bestimmen. Der Intellekt lÚst abstraktiv das %Wesen, die allgemeinen und notwendigen Bestimmungen, aus den zumeist sinnlich gegebenen Einzeldingen heraus. Die %Be-
226
Thomas von Aquin
griffe, die aus der Arbeit des Verstandes resultieren, lassen den RÝckschluss auf die gÚttliche %Ursache aller logisch bestimmbaren %Ordnung zu, sodass die %Wissenschaften vom endlichen Seienden in der Theologie begrÝndet sind. Andererseits ist seine %Erkenntnistheorie, die weit Ýber ihre aristotelische Quelle hinaus getrieben wird, ein Zeugnis dafÝr, dass die thomasische Wissenschaft gegenÝber der Welt eine produktive Haltung einnimmt. Der aktive Intellekt lÚst die Wesensformen abstraktiv aus den konkreten Dingen heraus, um sie dem aufnehmenden intellectus possibilis, der mit dem GedÈchtnis verbunden ist, als dem Schatz der begrifflich fixierten %Erfahrung einzuprÈgen. Neue Erkenntnis wird gewonnen, indem die bereits bestimmten Begriffe die Erfahrung leiten. Im Zusammenhang mit der Erkenntnislehre aber auch aufgrund anderer Teile seines Œuvres macht Thomas klar, dass fÝr ihn die Theologie eine Wissenschaft ist. Deren Gegenstand erschließt sich nicht einem vernunftlosen %Glauben, sondern dem logisch darstellbaren Wissen. Der Glaube darf der %Vernunft nicht widersprechen, denn er liefe sonst dem menschlichen Wesen zuwider und verstieße gegen die von der gÚttlichen Vernunft erzeugte %Natur. FÝr Thomas wie fÝr die meisten Theologen seiner Zeit waren Glauben und %Wissen noch nicht getrennte Bereiche des Geistes. Deshalb grÝndet die Philosophie in der Glaubenslehre, aber diese muss dem objektiven Anspruch der Vernunft genÝgen, deren Maßstab Thomas vor allem dem antiken Denken und seiner Kommentierung durch Araber und Juden entnimmt. Unter diesen Voraussetzungen konnte Thomas seine Lehre von der natÝrlichen Ordnung der Welt (ordo naturae) als %Metaphysik entfalten. Im Anschluss an Aristoteles und Ýber ihn hinaus hat Thomas von Aquin die Theorie von Sein, Seiendem und %Wesen so entwickelt, dass die extremen Positionen des mittelalterlichen Streites um die RealitÈt der Allgemeinbegriffe (%Universalienstreit) vermieden werden konnte und das Problem gelÚst erschien. Hatten die neuplatonischen Realisten nur den allgemeinen Wesensbestimmungen der Gattung und der Art ein Sein zugeschrieben, wÈhrend das Individuum nur eine Vereinigung unwesentlicher Merkmale (%Akzidenzien) sein sollte, so hielten die Nominalisten des 12. Jhs. nur die von sich aus
unverbundenen individuellen Dinge fÝr real, wÈhrend die Allgemeinbegriffe lediglich subjektive Zeichen sein sollten. FÝr Thomas ist diese Kontroverse gegenstandslos geworden, denn er geht wie Aristoteles von dem sinnlich gegebenen Einzelding aus und fragt nach den Bedingungen dafÝr, dass es so ist, wie es ist. Die letzten substanziellen Momente jedes Seienden sind die unbestimmte, aber des Bestimmtwerdens fÈhige %Materie und die in sich bestimmte, die Materie bestimmende %Form. Beide kÚnnen nur vereinigt existieren. Die Wesensform der vielen Exemplare einer Spezies prÈgt sich der aufnahmefÈhigen Materie stets in gleicher Weise als QualitÈt ein. Daher ist diese als bloß quantitativ bestimmte das Prinzip der %Individuation. Das Allgemeine hat danach Existenz im Individuum, das seinerseits durch sein Wesen mit den anderen Individuen seiner Art in seinem Sein verbunden ist. Diese Metaphysik der Seinsanalogie erlaubte es Thomas, die %Welt als kontinuierliche Verwirklichung der gÚttlichen Vernunft zu konzipieren. Wie der Handwerker die Form seines Produkts im Kopf hat, ehe er sie im Material seiner %Arbeit verwirklicht, so hat Gott die Wesensformen aller natÝrlichen Dinge von Ewigkeit gedacht und durch die SchÚpfung der Materie eingeprÈgt. Die Ýberindividuellen und unanschaulichen platonischen %Ideen vereinigt Thomas mit den sinnlich gegebenen individuellen Dingen. Dies war nicht ohne Widerspruch mÚglich und stieß, schon eine Generation nach Thomas, auf die Kritik des ockhamschen %Nominalismus. Dennoch ist Thomas’ groß angelegter Versuch, Allgemeines und Besonderes spekulativ zusammenzubringen, ein epochaler theoretischer Entwurf, der untergrÝndig bis zu %Leibniz und %Hegel Modellcharakter hatte. Nach Thomas ist Gott der reine, sich durch sich selbst wissende Intellekt, also vollkommenes %Selbstbewusstsein. Als solches ist er reine %Wirklichkeit (%actus purus), also nichts bloß MÚgliches, das zu etwas noch nicht Seiendem werden kÚnnte. In dieser Bestimmung Gottes, die von der neuzeitlichen sehr verschieden ist, liegt der fÝr Thomas charakteristische Primat der Vernunft beschlossen. Der %Wille Gottes untersteht in diesem Sinne seiner Vernunft, sodass Gott nichts WidervernÝnftiges wollen kann. FÝr die Menschen, die Gott durch ihren
Voltaire
%Verstand Èhnlich sind, gilt der Primat des Intellekts Ýber den Willen ebenfalls. Ihre %Freiheit liegt nicht in der grundlosen %SpontaneitÈt des Willens, sondern in der vernÝnftigen Erkenntnis dessen, was ist, und dessen, was sein soll. Das reine SelbstverhÈltnis Gottes wird fÝr den menschlichen Intellekt als imago trinitatis, als Bild der Dreieinigkeit, bestimmend. Aus der Unwandelbarkeit des gÚttlichen Willens folgt die Grundlage des thomasischen %Naturrechts. Da dieser Wille wesenhaft vernÝnftig ist, kÚnnen die Menschen das ihrer eigenen Natur entsprechende moralische Gesetz erkennen. Ihre Vernunft ist notwendig gesellschaftlich. Jeder Einzelne kann daher das gesellschaftlich und politisch Gebotene einsehen, ohne durch herrschaftliche Gewalt zum Gehorsam gezwungen zu werden. Der oberste Zweck jedes Gemeinwesens aber ist dessen gemeinsames Wohl (bonum commune). Gegen eine Herrschaft, die gegen diesen obersten politischen Zweck verstÚßt, ist nach Thomas Widerstand geboten. M. D. Chenu, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Heidelberg / Graz 1960 R. Heinzmann, Thomas von Aquin. Eine EinfÝhrung in sein Denken, Stuttgart 1994 G. Mensching, Thomas von Aquin, Frankfurt 1995 J. P. Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg/Br. 1995 G. M.
Voltaire (1694–1778): Eigentlich FranËois Marie Arouet; SchlÝsselfigur des 18. Jhs. In seinem Werk vereinigen sich die geistigen StrÚmungen der AufklÈrung (%A Neuzeit – AufklÈrung), sei es, dass er selbst an ihnen partizipierte, sei es, dass er sie kritisierte und bekÈmpfte. Kaum ein anderer Autor genÝgt so sehr wie er dem Sinn, den der Begriff des philosophe in der franzÚsischen %Kultur seiner Zeit angenommen hat: Alles andere als ein akademischer Systematiker, ist er vor allem ein WeltbÝrger, dessen Denken Ýberall eine politisch-moralische Absicht hat. Wie viele andere zeitgenÚssische philosophes unterhÈlt er einerseits recht enge Beziehungen zu den politisch und gesellschaftlich MÈchtigsten und Einflussreichsten, wie der hÚfischen Aristokratie und dem GroßbÝrgertum, und ist andererseits ein scharfer Kritiker des politischen Systems und seiner geistigen StÝtze, der christli-
227
chen Religion. Er kannte, wie viele seiner weitaus radikaleren Freunde, das ancien r¹gime von innen und von der Seite seiner Profiteure, was seiner kÈmpferischen AktivitÈt gegen das Unrecht der Herrschaft umso grÚßere Wirksamkeit verschaffte. So wenig wie Diderot, Rousseau, Helv¹tius oder Holbach kam es ihm unmittelbar auf das Ýberzeitlich Wahre an, sondern stets zunÈchst auf das je GegenwÈrtige. Sein enormes schriftstellerisches Talent entfaltete sich in fast allen literarischen Gattungen und hat den franzÚsischen Stil weit Ýber seine Epoche hinaus geprÈgt. Seine Schriften hatten zumeist einen aktuellen Anlass, Ýber den ihr Gehalt freilich oft weit hinaus weist. Die Kritiken, Satiren und Polemiken ebenso wie die scheinbar ganz klassischen Dramen, Gedichte und ErzÈhlungen und auch die weit ausholenden historischen Traktate sind Literatur in praktischer Absicht. Ihr treibendes Interesse freilich ist von der Vielfalt der AnlÈsse und der Formen, von der Verschiedenheit der Adressaten und von den zahlreichen taktischen RÝcksichten im politischen Kampf nicht berÝhrt. Mit unbeirrbarer HartnÈckigkeit hat Voltaire seine philosophischen Intentionen durchgehalten, deren AktualitÈt ihre historischen UmstÈnde bis heute Ýberdauert hat. Eine seiner GrundÝberzeugungen war, dass die scheinbar rein objektiven philosophischen Positionen stets eine politische Bedeutung haben, dass aber die Politik sich an der reflektierten praktischen %Vernunft zu messen hat. Voltaire wurde als FranËois Marie Arouet am 20. November 1694 in Paris geboren. Den Namen Voltaire nahm er erst 1718 nach seinen ersten schriftstellerischen Erfolgen an. Sein Vater war Notar und KÚniglicher Rat, seine Mutter stammte aus einer Adelsfamilie des Poitou. Mit zehn Jahren wurde er SchÝler des von Jesuiten gefÝhrten Collge Louis-le-Grand in Paris, wo er eine solide klassische und literarische Bildung erhielt. Zu Beginn seines Jurastudiums wurde er in den freigeistigen Club ›Temple‹ eingefÝhrt, wo er zum ersten Mal mit Protagonisten jener literarischen ³ffentlichkeit in BerÝhrung kam, die in privaten Clubs und Salons die intellektuelle Avantgarde bildete. Erste literarische VerÚffentlichungen machten Voltaire schnell bekannt, brachten ihm aber wegen ihres regimekritischen Charakters sogleich
228
Voltaire
auch die Bekanntschaft mit der Bastille, jenem StaatsgefÈngnis ein, in dem das ancien r¹gime, oft ohne jede rechtliche Grundlage, seine politischen Gegner verschwinden ließ. Die Zeit seiner Haft nutzte er, um sein erstes historisches Werk, die Henriade, zu konzipieren. Der erste große Erfolg war 1718 die AuffÝhrung seiner TragÚdie Oedipe, welcher ihn dazu bestimmte, nicht Jurist, sondern Schriftsteller zu werden. Weitere erfolgreiche Inszenierungen seiner StÝcke in der Com¹die FranËaise schlossen sich an und begrÝndeten Voltaires Ruhm als Theaterdichter, der in seinen antiken Stoffen und Vorlagen recht unverhohlen Kritik an hÚfischer und klerikaler Politik transportiert. Feindschaften, die hieraus entsprangen, veranlassten ihn, 1726 fÝr zwei Jahre nach England zu gehen, wo er mit der liberalen bÝrgerlichen Gesellschaft vertraut wurde, die von da an seine eigenen politischen Vorstellungen bestimmte. Der literarische Niederschlag dieser Erfahrungen sind die Lettres philosophiques, die offen Kritik an den franzÚsischen ZustÈnden Ýben und deshalb sogleich nach ihrem Erscheinen 1736 zur Verbrennung verurteilt wurden. Um weiteren Repressalien zu entgehen, flÝchtete Voltaire nach Cirey auf das Schloss seiner LebensgefÈhrtin, der Marquise du ChÅtelet, wo er bis 1749 blieb. Schon 1745 erreichte er, dass sein neuestes StÝck, die Princesse de Navarre, am Hofe von Versailles aufgefÝhrt wurde. Durch die UnterstÝtzung der Madame de Pompadour erhielt Voltaire sogar das Amt eines kÚniglichen Historiographen und wurde in die Acad¹mie franËaise aufgenommen. Damit wandelte er sich aber keineswegs zum neutralisierten WÝrdentrÈger und ließ sich auch nicht von seiner Kritik an den politischen ZustÈnden abhalten. Daher musste er den Hof bereits zwei Jahre spÈter wieder verlassen. 1749, nach dem Tode der Marquise du ChÅtelet, nahm Voltaire die Einladung Friedrichs II. an, nach Potsdam an seinen Hof zu kommen, wo er sich bis 1753 aufhielt. Das VerhÈltnis zum KÚnig war Schwankungen unterworfen und Voltaire musste schließlich feststellen, dass der preußische Hof nicht die versprochene Philosophenkolonie war. 1753 nahm er seinen Abschied, um sich 1755 in Les D¹lices bei Genf niederzulassen. Nach einigen geschickten und zum Teil anrÝchigen FinanzgeschÈften hatte er sich die Mittel verschafft, um 1759 in derselben
Gegend das Schloss Ferney mit ausgedehnten LÈndereien zu kaufen, wo er wie ein aufgeklÈrter Monarch und zugleich als bÝrgerlicher Unternehmer und Intellektueller bis fast zu seinem Tode residierte. In dieser Zeit entwickelte sich Ferney zu einer uneinnehmbaren Festung der kÈmpferisch werdenden AufklÈrung. In distanzierter, aber sehr loyaler Freundschaft unterstÝtzte und beriet Voltaire die EnzyklopÈdisten in ihren publizistischen Strategien, zu denen er, oft anonym, nach KrÈften mit beißend witzigen Satiren und Polemiken beitrug. Hauptziele seiner Angriffe waren die Rechtlosigkeit der herrschaftlichen Gewalt, die Korruption des Rechtssystems, vor allem aber die moralische Heuchelei der katholischen Kirche, die im Ancien r¹gime der wichtigste und konstanteste Machtfaktor war. Ecrasez l'infÅme (»Zermalmt die NiedertrÈchtige!«) war sein berÝhmter Schlachtruf. In diese Zeit fallen auch seine erfolgreichen BemÝhungen, horrende Fehlurteile einiger verblendeter Gerichte zu korrigieren, die, wie in der AffÈre Calas, zu Justizmorden gefÝhrt hatten. Zu Beginn des Jahres 1778 reiste Voltaire zum ersten Mal seit 28 Jahren nach Paris, wo er triumphal empfangen wurde und die UrauffÝhrung seines letzten StÝckes Irne erlebte. Am 30. Mai 1778 starb er ebendort. Das eigentlich philosophische Werk Voltaires ist von seinen literarischen Produktionen, historischen Abhandlungen und politischen Kampfschriften nur gewaltsam zu trennen. Die Dramen, Gedichte und Romane sind philosophische LehrstÝcke. Die historischen Untersuchungen, Das Jahrhundert Ludwigs XIV. (Le sicle de Louis XIV), erschienen 1739, und vor allem der Versuch Ýber die Sitten und den Geist der Nationen (Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, 1756) entwickeln einen neuen Typus von Geschichtsschreibung, der soziale und kulturelle Momente in die Betrachtung einbezieht und zugleich eine materiale %Geschichtsphilosophie darlegt. Der Begriff Geschichtsphilosophie stammt von Voltaire. Die politischen Pamphlete sind als StÝcke einer aufklÈrerischen %Ethik zu verstehen, die sich nicht mit den Regeln individuellen Verhaltens begnÝgt, sondern die politische RealitÈt verÈndern will. Wenn also das gesamte Werk Voltaires philosophisch geprÈgt ist, so sind doch seine wichtigsten Lehren einigen Schriften zu entnehmen.
Wittgenstein, Ludwig
Dabei fÈllt auf, dass sich Voltaires GrundÝberzeugungen im Laufe seines Lebens gar nicht wesentlich verÈndert oder entwickelt haben. Schon in den Philosophischen Briefen (Lettres philosophiques, 1729–34) ist deutlich, dass Voltaires Position sich an %Locke anschließt. Sowohl die Kritik der rationalistischen %Metaphysik, die in der Metaphysischen Abhandlung (Trait¹ de m¹taphysique 1734–38) wiederholt wird, wie die liberale %Rechts- und Staatsphilosophie haben bei Locke ihre Entsprechungen. Die Religionskritik ist vielfach dokumentiert, besonders ausfÝhrlich in der Wichtigen Untersuchung des Lord Bolingbroke (Examen important de Milord Bolingbroke, 1746). Die Kritik des metaphysischen Optimismus, der lehrt, die gegenwÈrtige Welt sei die beste aller mÚglichen, findet sich nach 1755, dem Jahr des vernichtenden Erdbebens von Lissabon, sehr oft. Voltaires metaphysische Lehren gehen von einer Kritik der theologischen %Kosmologie und Ethik aus. %Gott ist zwar das hÚchste Wesen, aber sein %Wille nimmt nicht Einfluss auf die einzelnen Ereignisse in der von ihm geschaffenen Welt. Die GesetzmÈßigkeit der %Natur, die in den Fortschritten der %Wissenschaft immer offenkundiger wird, lÈsst immerhin auf eine erste intelligente %Ursache schließen. Voltaire war hier fasziniert von der newtonschen Mechanik und Astronomie, die er in seinen El¹ments de la philosophie de Newton (1738) auf dem Kontinent Ýberhaupt erst bekannt gemacht hat. Auf diese Wissenschaft stÝtzt sich der voltairesche %Deismus. Dessen Hauptgedanke ist, dass die %Welt zwar nicht das auf einen obersten Zweck gerichtete Ganze ist, aber doch ein intelligent eingerichteter Mechanismus, eine Uhr, die ihr SchÚpfer ihrem gesetzmÈßigen Lauf ÝberlÈsst. Dies gilt auch fÝr die moralischen und politischen Angelegenheiten der Menschen. Aber die historischen und gesellschaftlichen Prozesse sind nicht naturgesetzlich determiniert. Vielmehr ist den Menschen die bÝrgerliche %Freiheit gegeben, um sich in einem gerechten und rationalen Rechtssystem zu organisieren. Die moralische Weltordnung Voltaires verzichtet freilich auf die StÝtze des metaphysischen Optimismus, fÝr den die beste aller mÚglichen Welten wirklich ist. Diesen leibnizschen Gedanken hat Voltaire nach dem Erdbeben von Lissabon vor allem in seinem berÝhmten Roman Candide (1759) kritisiert,
229
nicht um Skeptiker zu werden, sondern um das %Gute und das %BÚse allein als Wirkungen des menschlichen Handelns erkennbar zu machen. Gott ist hierzu eine regulative %Idee. Gegen den Atheismus hat er eingewandt, man mÝsse Gott erfinden, wenn er nicht existierte. ReligiÚse %Toleranz ist die oberste Norm, die eine kÝnftige bÝrgerliche Ordnung verwirklichen soll. Nur ein vollkommen laizistischer %Staat mit unbeschrÈnkter Religionsfreiheit fÝr den Einzelnen kann der Rahmen einer humanen %Gesellschaft sein, in der die AufklÈrung den kirchlich verbreiteten Aberglauben auflÚst. Voltaire versprach sich die fÈllige Modernisierung der gesellschaftlichen LebensverhÈltnisse allerdings, anders als viele seiner radikaleren Freunde, von einem aufgeklÈrten Monarchen und nicht von einer aus einer Revolution hervorgegangenen Republik. Trotz solcher konservativer Momente steht Voltaires Denken bis heute fÝr die Idee einer vernÝnftigen Gesellschaft, die auf dem Willen mÝndiger Personen und der Meinungsfreiheit der politischen Gegner beruht. Die Wirkungsgeschichte Voltaires ist widersprÝchlich. In der Revolution stand er wegen seiner monarchistischen Neigung am Rande, im 19. Jh. aber wurde seine antiklerikale Position vom %Liberalismus aufgenommen. So wurde nach 1871 in der Dritten Republik die Trennung von Kirche und Staat unter Berufung auf Voltaire durchgesetzt. In kirchlichen Kreisen gilt Voltaire als zynischer Prediger eines verderblichen und gotteslÈsterlichen Amoralismus. Sein wahrhaft moralischer Geist ist hier von jeher verleugnet und geschmÈht worden, wÈhrend die Linke in der zweiten HÈlfte des 20. Jhs. seine bÝrgerlichen PrÈokkupationen tadelte und sein moralisches Engagement allzu pauschal fÝr Ideologie hielt. Th. Besterman, Voltaire, MÝnchen 1971 J. Orieux, Das Leben des Voltaire, Frankfurt/M. 1968 R. Pomeau, Voltaire en son temps, 5 Bde., Oxford 1985 1994 G. M.
Wittgenstein, Ludwig (1889–1951): »Das jÝdische ›Genie‹ ist nur ein Heiliger. Der grÚßte jÝdische Denker ist nur ein Talent. (Ich z. B.)«, so eine Notiz Wittgensteins aus dem Jahre 1931. OriginalitÈt in Biographie und Werk ist jedoch gera-
230
Wittgenstein, Ludwig
de sein ›Markenzeichen‹ geworden. Wittgenstein wurde am 26. April 1889 in Wien als jÝngstes von acht Geschwistern in einer in der Stahlindustrie reich gewordenen Familie geboren. Die Eltern jÝdischer Herkunft waren vollkommenen assimiliert und fÝhrten ein großes Haus, besaßen neben einem Stadtpalais mehrere GÝter und betÈtigten sich in der Wiener KÝnstlerszene als MÈzene. Vom strengen Vater wurden die SÚhne dazu angehalten, als Unternehmer oder Ingenieure den Wohlstand zu vermehren – auf eine AtmosphÈre ›gesunder‹ LebenstÝchtigkeit lÈsst das nicht schließen, begingen doch drei der vier BrÝder Wittgensteins Selbstmord. ZunÈchst begann Wittgenstein 1906 wunschgemÈß ein Ingenieurstudium in Berlin, ging 1908 nach England und wechselte 1911 in Cambridge offiziell in das Studium der Logik und Philosophie zu Russell. In Cambridge schloss er eine enge Freundschaft mit dem jungen Mathematiker David Pinsent, dessen Unfalltod 1918 Wittgenstein in eine schwere Krise stÝrzte. Sofort nach Kriegsausbruch 1914 meldete er sich in ³sterreich freiwillig zum Kriegsdienst, obgleich ihm jede Art von Gruppenleben zuwider war. In diese Zeit wird eine Wandlung vom Freigeist zum religiÚsen Menschen datiert, die zwar durchaus nicht dogmatisch zu verstehen ist, jedoch neben einer AnnÈherung an tradierte Glaubenspraxis mit einem hohen ethischen Anspruch an die Wahrhaftigkeit des Denkens und den persÚnlichen Lebensvollzug verbunden war. Trotz des Kriegsdienstes gelangte in dieser Zeit auch Wittgensteins erstes Hauptwerk, der Tractatus logico-philosophicus, zur Niederschrift, dessen Grundstock bereits im Winter 1913/14 gelegt worden war. Grundanliegen des Tractatus ist es, auf dem Wege einer logischen %Analyse der %Sprache das sinnvoll Sagbare vom Unsagbaren abzugrenzen. Dazu hat Wittgenstein den Tractatus in sieben Hauptthesen untergliedert, welche jeweils durch dezimal durchnummerierte Unterthesen erlÈutert werden. Unter den ersten sechs Hauptthesen entwickelt Wittgenstein seine Theorie von %Welt und Sprache, deren Form und Grenzen. Das dazu entwickelte %Modell ist denkbar einfach: Die Welt besteht aus einzelnen Tatsachen. Handelt es sich um bestehende Tatsachen, so spricht Wittgenstein von Sachverhalten. Die Tatsachen selbst sind Verbindungen von GegenstÈnden,
welche einfach und unverÈnderlich sind. Gleich einzelnen Ionen in einem chemischen MolekÝl treten die invarianten GegenstÈnde zu Tatsachen bzw. Sachverhalten zusammen. Die Gesamtheit ihrer Verbindungen ist die Welt. Wittgenstein gibt kein Beispiel seiner einfachen GegenstÈnde. Aus seinen ErlÈuterungen geht nur hervor, dass es sich bei ihnen nicht um die GegenstÈnde unseres Alltags handeln kann, denn: »Die GegenstÈnde sind farblos.« (2.0232). Soviel aber steht fest: Nicht jeder Gegenstand kann sich mit jedem zu einer Tatsache paaren. Den GegenstÈnden wohnt so etwas wie eine Natur inne, die es verhindert, dass nicht zusammengehÚrige GegenstÈnde eine Verbindung eingehen. Wieder bietet sich das aus der Chemie bekannte Modell an: Nicht jeder Stoff kann mit jedem zur Reaktion gebracht werden. Nur dort, wo die Ionen die entsprechende Ladung und Anzahl freier Valenzen besitzen, findet ein Zusammenschluss statt. Darum ist durch die Art eines Gegenstandes auch die MÚglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten gegeben. Jeder Gegenstand kann nur in bestimmten, von vornherein fest stehenden Verbindungen vorkommen. Welche das sind, liegt in seiner Natur. GegenÝber der Welt steht die Sprache, auch sie eine Tatsache, welche aus GegenstÈnden besteht, jedoch eine besondere Tatsache. Stehen die Ýbrigen GegenstÈnde der Welt gewissermaßen fÝr sich, so gilt das nicht von der Sprache. Sprache ist mehr als bloß schriftliches oder akustisches Gebilde. Sprache dient der Abbildung. Wittgenstein denkt sich dieses AbbildverhÈltnis als vollstÈndige Korrespondenz: Den GegenstÈnden der Welt korrespondieren auf Seiten der Sprache die Namen, den Sachverhalten die SÈtze. Setzen sich Sachverhalte aus einzelnen, unteilbaren GegenstÈnden zusammen, so sind die Bestandteile der SÈtze einfache, unanalysierbare Namen, »Urzeichen«, wie es an einer Stelle im Tractatus heißt. Die Korrespondenz erstreckt sich jedoch nicht allein auf GegenstÈnde und Namen, sondern ebenso auf die %Struktur ihrer Anordnung. Sollen aus Namen bestehende SÈtze aus GegenstÈnden gebildete Sachverhalte abbilden kÚnnen, so muss die Struktur der Abbildung auf beiden Seiten dieselbe sein. Es muss %Isomorphie herrschen. Man kann wieder an die Anordnung von Ionen in einem MolekÝl denken, um sich Witt-
Wittgenstein, Ludwig
gensteins Gedanken zu verdeutlichen: Ein Modell eines MolekÝls, wie man es in einem Lehrbuch findet, kann nur darum etwas Ýber das in der Welt vorkommende MolekÝl sagen, weil die Anordnung der %Zeichen auf dem Papier denen der Ionen im MolekÝl entspricht. Auf Sprache und ihr Korrelat, die Welt, bezogen, ist diese beiden gemeinsame Form allerdings nicht das rÈumliche Nebeneinander der Zeichen auf dem Papier oder das zeitliche Nacheinander der Laute einer Aussage, sondern die logische Form, die Form also, die unsere SÈtze besitzen, wie der Logiker uns lehrt. Die Welt und die SÈtze, mit denen wir Ýber die Welt sprechen, scheinen wie fÝreinander geschaffen zu sein. Ihre Aufteilung ist dieselbe. Ihre Struktur ist identisch. Ja sogar die Ausdehnung beider Seiten stimmt exakt miteinander Ýberein: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« (5.6) Weil sich nun aber die Funktion der SÈtze darin erschÚpft, Tatsachen abzubilden – also etwas, das der Fall ist – so kÚnnen sie einem Zweck nicht genÝgen: Sie kÚnnen keine %Werte abbilden, da Werte nicht zu den Tatsachen der Welt zÈhlen. Genauso wenig kÚnnen sie Ýber das ›Dass‹ der Welt sprechen, weil auch dieses keine Tatsache ist. Dennoch gibt es das Unaussprechliche. Wittgenstein nennt es das Mystische. Sagen lÈsst es sich allerdings nicht, zumindest nicht in der Sprache, die Wittgenstein in seinem Tractatus entwirft. Folgerichtig schließt der Tractatus mit dem Satz »Wovon man nicht sprechen kann, darÝber muss man schweigen.« (7) 1921 ging der Tractatus an einem eher abgelegenen Ort, in Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie in Druck, 1922 selbststÈndig in einer zweisprachigen Ausgabe in London. Gewissermaßen als Schlussstrich unter den Tractatus – da nichts mehr ›zu sagen‹ war –, zog Wittgenstein persÚnliche Konsequenzen, schenkte sein ererbtes VermÚgen den Geschwistern und ging nach einem Jahr Ausbildung 1920 in ein abgelegenes Dorf in NiederÚsterreich als Volksschullehrer. Die selbst auferlegte Therapie hielt er bis 1926 durch. Allerlei Konflikte mit Eltern und Kindern, die sich aus einem zuweilen sehr eigenwilligen pÈdagogischen Engagement ergaben, wie auch die dringenden Bitten eines Abgesandten aus Cambridge, Frank Ramsey, bewegten Wittgenstein schließlich zur Aufgabe des Lehrer-
231
berufes. Nach einem Jahr im so genannten %Wiener Kreis, der ihn langsam wieder zu philosophischen Reflexionen ermunterte, kehrte Wittgenstein 1929 nach Cambridge zurÝck, um seine philosophischen Studien fortzusetzen. 1939 Ýbernahm er dort Moores Professur. WÈhrend der Kriegsjahre meldete er sich zum Hilfsdienst in verschiedenen KrankenhÈusern. Im Jahre 1944 nahm er seine LehrtÈtigkeit wieder auf, doch schließlich von unbegabten Studenten frustriert, kÝndigte er 1947 seine Stelle und widmete sich fortan ganz seinen philosophischen Studien. Trotz seiner Erkrankung 1949 war er noch verschiedentlich auf Reisen und starb am 29. April 1951 in Cambridge. Mit dem Abschluss seines Tractatus sah Wittgenstein die Denkprobleme im Wesentlichen als gelÚst an. Nach seiner RÝckkehr zur Philosophie wendet er sich erneut philosophischen Problemstellungen zu. Dabei steht das VerhÈltnis von Sprache und %Wirklichkeit, das Wittgenstein im Tractatus als Abbildbeziehung zu fassen versuchte, im Mittelpunkt seiner Àberlegungen. Neu gegenÝber dem an einer logischen Idealsprache ausgerichteten Tractatus ist die zunehmende Konzentration auf unsere Alltagssprache und die Verwendung der Worte in alltÈglichen Kontexten. Wittgenstein hat seine in dieser Zeit neu entstandene philosophische Konzeption in zahlreichen Manuskripten, teilweise aber auch in Form von kurzen Bemerkungen auf losen Zetteln niedergelegt. Von ihm selbst zusammengestellt, gelangte ein Teil seiner Gedanken in seinem zweiten Hauptwerk, den Philosophischen Untersuchungen im Jahre 1953 zur VerÚffentlichung. In den folgenden Jahren erschienen, von seinen Nachlassverwaltern herausgegeben, Zusammenstellungen von Bemerkungen Wittgensteins zu den verschiedensten Themen, von denen seine Bemerkungen Ýber die Grundlagen der Mathematik sowie seine Àberlegungen Àber Gewißheit zu den wichtigsten zÈhlen. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (PhU), von denen nur der erste Teil von Wittgenstein selbst zur VerÚffentlichung vorgesehen war, stehen sowohl inhaltlich wie auch stilistisch in krassem Gegensatz zum Tractatus. Bilden im Tractatus die einzelnen SÈtze eine strenge Abfolge, so scheint es sich bei den PhU um eine lose Sammlung von Aphorismen zu han-
232
Wittgenstein, Ludwig
deln. Inhaltlich bilden die PhU eine Auseinandersetzung mit der Sprachtheorie des Tractatus sowie mit Auffassungen, wie sie von den verschiedenen Vertretern des logischen %Empirismus vertreten wurden. Am Beginn der PhU setzt sich Wittgenstein mit dem augustinischen Sprachmodell auseinander, wie er es selbst in seinem Tractatus vertreten hatten. Nach diesem Modell stellt das NameTrÈger-VerhÈltnis die semantische Urbeziehung dar. Die %Bedeutung von Worten sind die GegenstÈnde, auf die sich die Worte beziehen. Die Verbindung von Worten und GegenstÈnden wurde auf dem Wege einer ostensiven Definition, d. h. mit Hilfe von Zeigegesten hergestellt. SÈtze werden als Verbindungen von Namen gedeutet, die sich auf GegenstÈnde beziehen. Wittgenstein setzt der Namensbeziehung als semantischem UrverhÈltnis ein neues, operationalistisches Modell von Sprache entgegen. Dieses findet in dem Satz Ausdruck: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« (PhU, § 43). Nicht der von einem Wort bezeichnete Gegenstand entscheidet Ýber die Wortbedeutung, sondern die Art und Weise, in der das Wort, eingebettet in SÈtze, in verschiedenen Kontexten verwendet wird. Die Benennung eines Gegenstandes mit einem Namen sichert dem Wort nicht seine Bedeutung, sondern dient der Vorbereitung seines Gebrauchs. Wittgenstein benutzt zur Veranschaulichung die %Analogie des Schachspiels, wo durch das Wissen, auf welche Figur sich z. B. das Wort ›SchachkÚnig‹ bezieht, die Bedeutung von ›SchachkÚnig‹ nicht erschÚpft ist. Erst wenn man weiß, welche ZÝge der SchachkÚnig machen darf, kennt man die Bedeutung von ›SchachkÚnig‹. Einen weiteren Angriffspunkt bildet die Annahme einer fest umrissenen Wortbedeutung, wie sie der Tractatus gefordert hatte. Nach der klassischen, auf %Platon und %Aristoteles zurÝckgehenden Annahme, ist allen mit einem bestimmten Wort bezeichneten Dingen etwas, ein bestimmtes Merkmal, gemeinsam, kraft dessen das Wort auf genau diese Dinge angewandt werden darf. Nach Wittgenstein wird diese Konzeption der Bezeichnung von Dingen nicht den Tatsachen gerecht. Wie er an Hand des Wortes ›Spiel‹ demonstriert, muss es keineswegs immer der Fall sein, dass den mit einem bestimmten Wort bezeichneten Dingen notwendig etwas ge-
meinsam ist. Ein %Spiel hat mit einem anderen diese, mit wieder einem anderen jene Merkmale gemeinsam. »Wir sehen ein kompliziertes Netz von hnlichkeiten, die einander Ýbergreifen und kreuzen.« (PhU, § 66). Die mit einem bestimmten Wort bezeichneten GegenstÈnde Èhneln sich, wie die Mitglieder einer Familie, in sehr vielen verschiedenen Eigenschaften, ohne dass es doch eine ganz bestimmte Eigenschaft gÈbe, die allen Mitgliedern gemeinsam wÈre. Wittgenstein spricht deshalb von %FamilienÈhnlichkeit. Einen dritten Schwerpunkt im Gedankengang der PhU bildet das Regelfolgenproblem. Nach einer gelÈufigen Annahme legt eine bestimmte mathematische Funktion fÝr jede Einsetzung ein ganz bestimmtes Ergebnis fest. Wittgenstein vertritt demgegenÝber einen radikalen %Konventionalismus. Solange noch niemand Ýber eine bestimmte Zahl, z. B. 1000 hinaus addiert hat, solange ist auch nicht festgelegt, welches das richtige Ergebnis der Addition ist. Erst in dem Augenblick, wo jemand den Schritt vollzogen hat und die anderen ihm zugestimmt haben, ist auch festgelegt, welches der richtige Àbergang gewesen ist. Vorher war Ýberhaupt nichts festgelegt. In engem Zusammenhang mit der intersubjektiven Analyse des Regelfolgens steht Wittgensteins so genanntes Privatsprachenargument. Das Privatsprachenargument bildet einen LÚsungsvorschlag zum Problem des Fremdpsychischen. Klassische %Erkenntnistheorien gehen davon aus, dass ein %Subjekt nur zu seinen eigenen psychischen ZustÈnden auf direkte Weise Zugang hat. Die psychischen ZustÈnde anderer Personen muss es sich dagegen erschließen. Dabei wird angenommen, dass zwischen dem Verhalten einer Person und ihren psychischen ZustÈnden eine kontingente Verbindung besteht. Es wÈre denkbar, dass andere Personen z. B. Schmerzverhalten zeigen, ohne wirklich subjektiv auch Schmerz zu empfinden. Wittgenstein nimmt dagegen an, dass zwischen Schmerz und Schmerzverhalten eine engere Verbindung besteht. Schmerzverhalten ist Kriterium der Zuschreibung von Schmerzen. In all den FÈllen, wo es keine gegenteiligen Anhaltspunkte gibt, zÈhlt ein bestimmtes Verhalten als hinreichendes Zeugnis fÝr das Vorliegen eines bestimmten psychischen Zustandes. FÝr das Sprachverhalten von Personen bedeutet das,
Wittgenstein, Ludwig
dass SÈtze wie ›Ich empfinde Schmerzen‹ nicht in einem ReprÈsentationsverhÈltnis zu inneren Erlebnissen stehen, d. h. sprachliche Abbilder der Erlebnisse sind, sondern vielmehr AusdrÝcke, Expressionen der Erlebnisse sind. H. J. Schneider / M. Kross (Hg.), Mit Sprache spielen, Berlin 1999 E. von Savigny (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Philosophi sche Untersuchungen, Berlin 1998
233
K. Buchheister / D. Steuer, Ludwig Wittgenstein, Stutt gart 1991 J. Schulte, Wittgenstein. Eine EinfÝhrung, Stuttgart 1989 N. Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein, Mit einer biographischen Skizze von G. H. von Wright und Wittgensteins Briefen an Norman Malcolm, Frank furt/M. 1987 A. Kenny, Wittgenstein, Frankfurt/M. 1974 B. Malcolm, Ludwig Wittgenstein, MÝnchen 1961 T. B.
C Denkformen und Grundbegriffe
A fortiori Lat. ›vom StÈrkeren her‹: eigentlich ›nach dem Recht des StÈrkeren‹ oder auch ›nach dem triftigeren Grund‹. In der Philosophie bezeichnet a fortiori eine %Aussage, die sich aus einer schon als gÝltig akzeptierten oder erwiesenen Aussage gewinnen lÈsst. A. S.
A posteriori Lat. ›vom SpÈteren her‹: In der Antike, etwa bei %Aristoteles, und in der %Scholastik bezeichnet a posteriori noch den Schluss von den Wirkungen auf die %Ursachen (im Gegensatz zu %a priori: Schluss von den Ursachen auf die Wirkungen). Seit %Kant heißt a posteriori jene Erkenntnis, die in der %Erfahrung grÝndet oder aus der Erfahrung entsteht. Erkenntnisse a posteriori sind deshalb %empirische Erkenntnisse. Beispielsweise sind die meisten %Urteile der empirischen Naturwissenschaften %synthetische Urteile a posteriori. A. S.
%Kategorien sowie, allerdings in nichtbegrifflicher Form, die %Anschauungsformen %Zeit und %Raum. Die Merkmale einer Erkenntnis a priori sind %Notwendigkeit und %AllgemeingÝltigkeit. Im Apriorischen zeigt sich nach Kant die Gesetzlichkeit des reinen, erkennenden, %transzendentalen %Bewusstseins selbst; nur in diesem Sinn ist das Apriorische ›subjektiv‹. Ansonsten hat es aber gerade objektive %Geltung, da es den objektiven Erfahrungszusammenhang ja erst ermÚglicht. So sind nicht nur %analytische Urteile immer Urteile a priori, sondern auch alle jene SÈtze, die sich auf etwas vor der Erfahrung Liegendes beziehen bzw. auf das, was Erfahrung erst mÚglich macht, d. h. auf die ›Bedingungen der MÚglichkeit von Erfahrung‹. FÝr Kant kann es außerdem auch %synthetische Urteile a priori geben. – Der vom %Neukantianismus des 19. Jhs. geprÈgte Begriff des ›Apriorismus‹ bezeichnet jede philosophische Lehre der Erkenntnis, der zufolge %Bedingungen, GrÝnde und %Prinzipien des Erkenntnisprozesses unabhÈngig von Erfahrung und %Empirie existieren. A. S.
A priori Lat. ›vom FrÝheren her‹: In der Antike, etwa bei %Aristoteles, und in der %Scholastik bezeichnet a priori noch den Schluss von den %Ursachen auf die Wirkungen (im Gegensatz zu %a posteriori: Schluss von den Wirkungen auf die Ursachen). Das heutige BegriffsverstÈndnis ist jedoch durch die kantische Philosophie geprÈgt. Demnach heißen jene %Erkenntnisse a priori die der %Erfahrung vorangehen und von ihr unabhÈngig sind, also nicht auf der Erfahrung beruhen oder aus ihr abstrahiert sind, nicht durch die Erfahrung gegeben sind oder aus ihr stammen. Zu den apriorischen Erkenntniselementen zÈhlen nach %Kant die
Abbild Ein zentraler Begriff der platonischen Philosophie. Bei %Platon bezeichnet Abbild (griech. eidolon, eikon oder phantasma) erstens Schattenbilder und Spiegelungen im Wasser, zweitens gemalte Bilder sowie drittens auch Menschen, Tiere, Pflanzen, Werkzeuge usw., also alles, was den %Ideen Èhnelt und diese %Urbilder im Bereich des Sichtbaren abbildet. Weil aber alles Sichtbare bereits Abbild der Ideen ist, ist das hergestellte Abbild – beispielsweise das Bild eines Malers, aber ebenso auch die TragÚdie, die Platon gleichfalls als nachbildende oder
236
Abbildtheorie
nachahmende Kunst bestimmt – nur Bild eines Bildes (%Mimesis, imitatio). Damit ist die %Kunst, in Platons Beispiel das gemalte Bild eines Bettes, weiter von der %Wahrheit, sprich: der Idee, entfernt als das von einem Handwerker hergestellte Bett. Die %Theorie des Abbilds mit ihren drei Stufen %Wesen (Idee), Werk (des Handwerkers) und Nachbild (Kunst) ist Hintergrund fÝr Platons Verdammung der KÝnste im Allgemeinen und der Dichtkunst im Besonderen. – Abbild ist außerdem ein wichtiger Begriff materialistischer Erkenntnistheorien (%Abbildtheorie). A. S.
Abbildtheorie Erkenntnistheoretische Lehre, der zufolge die %Erkenntnis ein Spiegelbild der erkannten %Wirklichkeit ist. Die Abbildtheorie geht davon aus, dass der Gegenstand der Erkenntnis unabhÈngig vom erkennenden %Subjekt existiert und folglich nicht erst vom Subjekt im Erkenntnisprozess geschaffen wird. Die Aufgabe der Erkenntnis besteht deshalb lediglich darin, den Gegenstand widerzuspiegeln oder abzubilden. Die Abbildtheorie ist eine sehr alte erkenntnistheoretische Position. Ihre UrsprÝnge gehen bis auf die Vorstellungen der Atomisten Leukipp und Demokrit zurÝck (%Atomismus), wonach sich von den Dingen aus Atomen bestehende Bilder ablÚsen, die durch die Sinnesorgane in die Seele eindringen und dort wie in einem Spiegel abgebildet werden. Die Abbildtheorie wird vor allem im Rahmen materialistischer %Erkenntnistheorien vertreten, die von der materiellen und unabhÈngigen Existenz der ErkenntnisgegenstÈnde ausgehen, so z. B. im englischen %Empirismus und %Sensualismus und im franzÚsischen %Materialismus des 18. Jhs. In der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie des Marxismus-Leninismus wird die Abbildung als historisch und gesellschaftlich bedingter Prozess aufgefasst, in dessen Verlauf das Subjekt Materielles in Ideelles umsetzt und so zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein, d. h. zu einer historisch bedingten Widerspiegelung der natÝrlichen und gesellschaftlichen Welt gelangt. Die Abbildtheorie der Erkenntnis ist wiederholt kritisiert worden, beispielsweise von idealistischer oder konstruktivistischer Seite. Ei-
ne fundamentale Kritik an der Spiegelmetapher findet man in Richard Rortys Philosophy and the Mirror of Nature (1979; dt. Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie). – Eine Abbildtheorie in Bezug auf SÈtze vertritt %Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus. A. S.
Abduktion Engl. abduction, ein von %Peirce 1866 eingefÝhrter dritter Modus des syllogistischen Schließens neben %Deduktion und %Induktion (%Syllogismus). WÈhrend der deduktive Schlussmodus von der allgemeinen Regel (major) und dem einzelnen Fall (minor) auf das Resultat (conclusio) schließt und der induktive Schlussmodus von dem Fall und dem Resultat auf die Regel, schließt der abduktive Modus vom Resultat und der Regel auf den Fall. Die Abduktion stellt somit eigentlich nur eine %Hypothese auf, weshalb Peirce auch ursprÝnglich den Ausdruck hypothesis erwog. Im Gegensatz zum deduktiven Schließen, wo die Konklusion zwingend aus den PrÈmissen folgt, lassen Induktion und Abduktion streng genommen nur Wahrscheinlichkeitsurteile zu. Allerdings sind die Urteile im Gegensatz zur analytischen Deduktion synthetisch, d. h. Erkenntnis erweiternd. Die Abduktion spielt bei der wissenschaftlichen Hypothesenbildung eine große Rolle. A. S.
Ableitung
Absicht
%Deduktion
%Intention
Absolut Von lat. absolutum, ›das LosgelÚste‹: Absolut ist das, was frei von allen %Bedingungen, Beziehungen oder BeschrÈnkungen ist; es ist daher unabhÈngig, unbedingt, uneingeschrÈnkt, vollkommen, fÝr sich seiend, aus sich selbst bestimmt, nicht relativ. Das Absolute ist das, was fÝr sich allein, ohne Beziehung auf anderes existiert, gilt oder definiert werden kann. Es ist im Gegensatz zum Endlichen und Relativen ohne %Ursache, ohne Bedingung und unendlich. Das Absolute gehÚrt zu den großen metaphysischen, theologischen und gnoseologischen
Achtung
Grundbegriffen der Philosophie. Der Begriff spielt bereits in der griechischen Philosophie eine Rolle, wenn auch ein genaues quivalent fÝr den Ausdruck fehlt. Dennoch lÈsst sich sagen, dass bei %Platon die %Idee des %Guten (das Gute an sich), bei %Aristoteles der ›unbewegte Beweger‹ als absolut bestimmt wurde. Im christlichen Denken seit den lateinischen KirchenvÈtern wurde das Absolute dann als das Durchsich-selbst-Sein und Von-sich-her-Sein (%AseitÈt) gedacht und folglich zur Kennzeichnung %Gottes benutzt. Im Verlauf der Philosophiegeschichte wurde absolut auf verschiedene Vorstellungen bezogen und beispielsweise als absolute Sittlichkeit (%Kant), absolutes %Ich (%Fichte) und absoluter %Geist (%Hegel) gefasst. In neuerer Zeit wurde das Absolute als einer der zentralen metaphysischen Begriffe zum Gegenstand einer allgemeinen, mehr impliziten als expliziten Metaphysik-Kritik; es gilt als einer jener Begriffe, Ýber die man – nach einer Formulierung %Wittgensteins – nicht reden kann und daher besser schweigen sollte. Insbesondere in materialistisch ausgerichteten Philosophien, aber auch im %Pragmatismus oder im logischen %Positivismus, ist fÝr das Absolute naturgemÈß kein Platz. A. S.
Abstrakt Von lat. abstrahere, ›abziehen‹: rein begrifflich oder gedanklich, unanschaulich, von den konkreten Dingen abgelÚst. Im philosophischen Sinn bezeichnet abstrakt zum einen das Begriffliche gegenÝber dem Nichtbegrifflichen oder %Konkreten, zum anderen das Ergebnis eines denkerischen Abstraktionsprozesses, nÈmlich das auf diese Weise gewonnene %Allgemeine. Bei der Begriffsbildung durch Abstraktion wird zunehmend vom Individuellen und Besonderen der Dinge abgesehen und stattdessen das Gemeinsame oder Allgemeine hervorgehoben. Beispielsweise wird der %Begriff ›Tisch‹ gebildet, indem man von den individuellen Merkmalen einzelner Tische absieht (oder abstrahiert) und die allen Tischen gemeinsamen Merkmale herausstellt. Dabei mÝssen die wesentlichen von den unwesentlichen Merkmalen unterschieden werden. Auf diese Weise wird der Inhalt des Begriffs immer kleiner (beispielsweise muss das Merkmal ›vier Beine‹ verworfen werden, wenn
237
man feststellt, dass es auch Tische mit drei Beinen gibt), sein %Umfang jedoch immer grÚßer (insofern als immer mehr Tische, also auch die mit nur drei Beinen, unter den Begriff fallen). Die Abstraktionstheorie der Begriffsbildung geht bis auf %Aristoteles zurÝck. – Im weiteren Sinn bezeichnet abstrakt alles nur Gedachte oder rein Gedankliche, im Gegensatz zur unmittelbaren Wahrnehmung, zum Erleben, Anschauen und FÝhlen. In diesem Sinn wird abstrakt hÈufig auch pejorativ gebraucht und meint dann soviel wie wirklichkeitsfern oder intellektuell abgehoben. %Hegel dreht das Begriffspaar um: Abstrakt ist fÝr ihn das Konkrete, weil es zwar in der FÝlle seiner sinnlichen PrÈsenz rezipiert wird, aber nicht begriffen ist. Deshalb ist fÝr Hegel der Begriff das Konkrete, weil in und durch ihn die Sache denkerisch vermittelt ist, wÈhrend die pure Wahrnehmung in der unmittelbaren sinnlichen Gewissheit stecken bleibt. A. S.
Absurd Von lat. absurdus, ›misstÚnend‹: abwegig, widersinnig, widerspruchsvoll, vernunftwidrig. Eine Behauptung wird ad absurdum gefÝhrt, indem man aus ihr nach korrekten Schlussregeln etwas Falsches folgert und damit ihre innere WidersprÝchlichkeit nachweist. Das Absurde ist ein zentraler Begriff in der franzÚsischen %Existenzphilosophie nach dem zweiten Weltkrieg, insbesondere bei Camus. Absurd bezeichnet die Erfahrung vollkommener Sinnlosigkeit und WidersprÝchlichkeit der menschlichen Existenz, die ohne %Gott und ohne umfassende Sinnstiftung auskommen muss. Dennoch befindet sich der Mensch auf einer fortwÈhrenden Suche nach diesem %Sinn, die im krassen Widerspruch zur Sinnlosigkeit der Welt steht: ›Das Absurde entsteht aus der GegenÝberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.‹ A. S.
Achtung Wird als philosophischer Begriff in %Kants ethischen Schriften eingefÝhrt. WÈhrend dieser den Ausdruck bereits in den vorkritischen Schriften verwendet, wird erst die in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelte
238
Actus purus
%Ethik vollends zu einer ›Moral der Achtung‹. Kant geht davon aus, dass die %Neigungen des Menschen sich nicht von %Natur aus in Àbereinstimmung mit dem moralischen %Gesetz befinden. Deshalb wird das Gesetz von einem mit praktischer %Vernunft begabten Wesen als NÚtigung empfunden. Diejenige Neigung, die sich in absolutem Gegensatz zum moralischen Gesetz befindet, ist die durch Arroganz und ›EigendÝnkel‹ charakterisierte Neigung, so zu tun, als hÈtten die eigenen subjektiven GrundsÈtze und %Interessen die AutoritÈt eines %Gesetzes. Das moralische Gesetz nun schlÈgt diesen EigendÝnkel nieder, demÝtigt jede Arroganz und bringt damit ein %GefÝhl der Erniedrigung und des Schmerzes hervor. Was uns aber erniedrigt, ist Gegenstand unserer Achtung. Deshalb achten wir das moralische Gesetz, und zwar selbst dann, wenn wir ihm nicht gehorchen. Auf der anderen Seite ist das moralische Gesetz aber auch die Ursache eines positiven GefÝhls, insofern nÈmlich, als die Herrschaft des %Sittengesetzes im Interesse der Vernunft liegt und alles, was mit diesem Interesse Ýbereinstimmt, notwendig mit einem GefÝhl der %Lust oder des Wohlgefallens verbunden ist. Die Achtung ist deshalb ein von der Vernunft bewirktes DoppelgefÝhl, das Kant auch als ›negative Lust‹ charakterisiert: Es enthÈlt zum einen den Akt der DemÝtigung oder Erniedrigung der sinnlichen Natur des Menschen, zum anderen aber auch die Erhebung zu reiner praktischer Vernunft als einzigem Grund sittlichen Wollens. – Kants Lehre von der Achtung wurde von Schiller und %Fichte Ýbernommen und fortgefÝhrt; die wichtigsten Kritiker sind %Hegel und Scheler. A. S.
Actus purus Lat. ›reines Wirken‹: scholastischer, auf %Aristoteles zurÝckgehender Ausdruck, der die %IdentitÈt von %Sein und Wirken, d. h. die %Wirklichkeit ohne PotenzialitÈt und PassivitÈt bezeichnet. In der %Scholastik wurde actus purus zur Bestimmung Gottes verwendet: %Gott ist alles, was sein kann, ohne dass eine seiner MÚglichkeiten unverwirklicht bleibt; er ist die IdentitÈt von %AktualitÈt und %PotenzialitÈt (%Akt-Potenz-Lehre). A. S.
Ad hoc Lat. ›zu diesem‹: nur fÝr einen bestimmten Zweck, spontan, aus dem Augenblick heraus. Ad hoc werden beispielsweise begriffliche Unterscheidungen genannt, die nicht Teil eines umfassenden klassifikatorischen %Systems sind und also nur aus GrÝnden der %Heuristik oder der %Pragmatik getroffen werden. Bisweilen wird ad hoc auch pejorativ im Sinne von willkÝrlich gebraucht. A. S.
Ad infinitum Auch in infinitum, lat. ›ins Unendliche‹: ein %Regress ad infinitum (oder ein unendlicher Regress) bezeichnet eine nicht abschließbare Reihe des Bestimmens oder BegrÝndens, in der sich jede neue BegrÝndung ihrerseits als begrÝndungsbedÝrftig erweist. A. S.
Ada ¨ quat Von lat. adaequare, ›gleich machen‹: Ýbereinstimmend, entsprechend, angemessen. Im engeren Sinne (d. h. unter Beziehung auf die %AdÈquatio-Theorie) werden %Vorstellungen oder %Begriffe adÈquat genannt, die mit der Sache, auf die sie sich beziehen, Ýberstimmen und also im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit wahr sind. Auch wissenschaftliche %ErklÈrungen kÚnnen adÈquat oder inadÈquat sein. So werden beispielsweise im Rahmen des von Hempel und Oppenheim entwickelten ErklÈrungsschemas so genannte AdÈquatheitsbedingungen formuliert, die von jeder adÈquaten wissenschaftlichen ErklÈrung erfÝllt werden mÝssen. Dazu gehÚren u. a.: das Explanans muss mindestens ein logisches %Gesetz enthalten; Explanans wie Explanandum mÝssen empirischen Gehalt besitzen; das Explanandum muss tatsÈchlich rein logisch aus dem Explanans ableitbar sein. – Im weiteren Sinne bedeutet adÈquat soviel wie angemessen und bezeichnet damit ein weniger strenges Kriterium als %Wahrheit oder Richtigkeit; beispielsweise werden Textinterpretationen hÈufig eher als adÈquat denn als wahr bezeichnet. A. S.
Ada ¨ quatio-Theorie Auch AdÈquationstheorie; Korrespondenztheorie der %Wahrheit im Anschluss an %Thomas von Aquins Definition: Ve-
Affektion
ritas est adaequatio intellectus ad rem (»Wahrheit ist die Angleichung von Denken und Sache«). Nach der AdÈquatio-Theorie besteht Wahrheit in der Àbereinstimmung zwischen %Erkenntnis und Erkanntem bzw. zwischen der Erkenntnis oder Beschreibung eines Gegenstands und diesem Gegenstand selbst, wobei der Gegenstand in der Regel als Teil einer vom Erkennenden unabhÈngigen %Wirklichkeit angesehen wird. A. S.
Affekt Von lat. affectus, ›GemÝtsstimmung, Erregung‹: meist heftige GemÝtsbewegung, die durch Erregung des %GefÝhls, Abreaktion und mehr oder weniger vollstÈndige Ausschaltung des klaren Denkens gekennzeichnet ist. Im Unterschied zur Leidenschaft ist der Affekt von geringerer Dauer und geringerer seelischer Tiefe. WÈhrend die Affekte durch die Jahrhunderte fast durchweg als negativ und der %Vernunft entgegengesetzt aufgefasst wurden, hat sich heute eher die Ansicht durchgesetzt, dass sie eine notwendige Voraussetzung fÝr die KreativitÈt des Menschen darstellen. Von der Antike bis zur %Neuzeit (A) wird der Affektbegriff weiter als heute allgemein Ýblich gefasst. In der griechischen Philosophie umfasst er den gesamten Bereich der GefÝhls- und GemÝtszustÈnde. FÝr %Aristoteles bezeichnet Affekt alle diejenigen seelischen ZustÈnde, die mit %Lust oder Schmerz verbunden sind, also Begierde, Freude, %Angst oder Zorn. Die Affekte sind an sich weder gut noch schlecht, sondern natÝrliche ZustÈnde des %Menschen; sie mÝssen allerdings von der Vernunft beherrscht werden, da sie andernfalls die gefÝhls- und willensmÈßige Unterwerfung des Menschen unter die Bedingungen der Umwelt nach sich ziehen. Aristoteles fordert deshalb nicht die UnterdrÝckung, wohl aber die MÈßigung der Affekte. In der Philosophie der %Stoa kommt es dann zu einer Abwertung der Affekte, die auch von der christlichen Philosophie, besonders der Asketik, Ýbernommen wird. Demnach stehen die Affekte dem Erreichen der Seelenruhe (%Ataraxie, %Apathie) im Weg und mÝssen deshalb als widernatÝrliche und unvernÝnftige GemÝtsbewegungen bekÈmpft werden. Trotzdem kennt auch die stoische Philosophie – ebenso wie spÈter die %Scholastik – durchaus auch positive oder ›gu-
239
te‹ Affekte, nÈmlich solche, die in Àbereinstimmung mit der Vernunft stehen (wie Vorsicht, Freude, vernÝnftiges Wollen), im Gegensatz zu den negativen oder ›schlechten‹ Affekten wie Begierde, Schmerz und Furcht. Erst in der %Renaissance (A) allerdings kommt es zu einer eindeutig positiven Aufwertung der Affekte, die nun als Voraussetzung fÝr schÚpferische Leistungen des Menschen angesehen werden. FÝr %Kant – von dem die im 19. Jh. Èußerst einflussreiche Unterscheidung zwischen Affekt und Leidenschaft stammt – sind die Affekte letztlich vernunftwidrig und mÝssen als solche bekÈmpft werden; insofern steht er in der stoischen Tradition. Im 19. Jh. verlagerte sich die Untersuchung der Affekte in den Bereich der Psychologie, die sich im 20. Jh. mehr der Analyse der Leidenschaften zuwandte. A. S.
Affektion Von lat. affectio ›Einwirkung‹: die Einwirkung oder Beeinflussung, die die GegenstÈnde auf die Sinne ausÝben. Der Begriff der Affektion stammt aus der %Scholastik und wurde auch