Margret Steenfatt, seit 1970 Schriftstellerin in Hamburg, schreibt Romane, Biografien, Drehbücher, Theaterstücke, Hörsp...
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Margret Steenfatt, seit 1970 Schriftstellerin in Hamburg, schreibt Romane, Biografien, Drehbücher, Theaterstücke, Hörspiele. Veröffentlichungen u. a.: «Ich, Paula. Die Lebensgeschichte der Paula ModersohnBecker» (1982); «Eine gemachte Frau. Die Lebensgeschichte der Romy Schneider» (1986); «Unvermeidliche Begegnungen» (1991). - Bei rotfuchs sind erschienen: «Charlie, der Clown» (Band 351); «Anschi ist doch'ne Hexe» (Band 403); «Nele» (Band 437) - «Nele» als Theaterstück: Uraufführung Oktober 1989 im Westfälischen Landestheater; «In Hausmanns Hölle ist der Teufel los» (Band 513).
Margret Steenfatt
Haß im Herzen Im Sog der Gang
Scanned by Heide
Rowohlt
rororo rotfuchs Herausgegeben von Ute Blaich und Renate Boldt
Für den Einsatz dieses Taschenbuchs im Unterricht liegt in «Lehrerhefte/Sammelband 3» ein didaktisches Papier vor. Sie erhalten den Band gegen Überweisung der Schutzgebühr von DM 7,- (inklusive Porto) auf unser Konto (HASPA BLZ 20050550 Konto-Nr. 1280/163005). Verwendungszweck: Lehrerhefte und Ihre Anschrift bitte angeben. Die Zusendung erfolgt sogleich nach Erscheinen und Eingang Ihrer Zahlung.
36. -45. Tausend Februar 1994 Originalausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1992 Copyright © 1992 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Umschlaggestaltung Nina Rothfos (Foto: Ben Behnke/ stern) rotfuchs-comic Jan P. Schniebel Alle Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Aldus (Linotronic 500) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 790-ISBN 3 499 20648 x
Assel lag auf dem Dach eines Güterwagens und hielt Ausschau nach Tono, den die Gang bereits ungeduldig erwartete. «Der Feigling hat bestimmt die Nerven verloren!» — «Warten wir's ab», meinte Panzer gelassen, und Fred brüllte im Getöse des heranstürmenden Nachtzuges: «Wenn er sein Versprechen hält, wird er bei uns aufgenommen!» Während die Lokomotive mit ihren Anhängern wie ein Gewitter durch den Bahnhof donnerte, erspähte Kess plötzlich die dunkle Gestalt, die im Schein des Septembermondes über die Abstellgleise huschte. «Achtung, er kommt!» Tono bewegte sich geschickt von Schiene zu Schiene, von einem Waggon zum nächsten, kletterte schließlich zu ihnen herüber... Und dann der spannende Moment, als er den Autoschlüssel aus seiner Tasche zieht! In hohem Bogen ließ er ihn zu Kess hin fliegen, aber Fred sprang dazwischen und fing ihn ab. Tonos erster Erfolg bei den ! Weder Kess noch die anderen würden jemals erfahren, wie gern er zu ihnen gehören wollte und wie eifrig er sich darum bemüht hatte, ihren Auftrag auszuführen. Sie benötigten nur wenige Minuten für die Strecke zum Parkplatz, wo Karl-Heinz, der Freund von Tonos Mutter, seinen Lieferwagen abgestellt hatte. «Je weniger du weißt, desto besser», erklärte Fred, als sie eingestiegen waren und Tono sich erkundigte, wohin die Fahrt denn ginge. «Wir werden den Laster sofort verkaufen.» «Jetzt... mitten in der Nacht? Warum denn so eilig?» «Hör zu, Kleiner!» rief Assel von hinten aus dem Laderaum. «Das Geschäft bringt einen Haufen Geld für jeden von uns, verstanden?!» — «Nicht für mich», wehrte Tono ab. «Mein Job war es, euch den Schlüssel zu besorgen, dafür will ich keine Bezahlung.» 5
Fred traktierte das Gaspedal mit Stiefeltritten. «Von heute an bist du ... Du kriegst deinen Anteil und wirst ihn nehmen!» sagte er in scharfem Ton und ließ den Wagen auf die Straße rumpeln. Er hat keinen Führerschein! dachte Tono. Aber dieses Delikt war weitaus harmloser als der Diebstahl, an dem sie sich alle beteiligten. Sie fuhren quer durch die Stadt bis in den südlichen Außenbezirk, wo Fred den Transporter vor eine Großgarage steuerte. «Raus mit euch! Ich bin gleich wieder zurück!» Ein gab den Befehl, die übrigen gehorchten! Daran mußte Tono sich erst gewöhnen. Er schaute dem schweren Transporter nach, der langsam in die Garageneinfahrt rollte, und genoß in vollen Zügen seinen Triumph, das süße Gefühl, dem Liebhaber seiner Mutter einen empfindlichen Schaden zugefügt zu haben. Mit dieser Mutprobe war er in der Gang der Fünfte geworden. In den frühen Morgenstunden kehrten Karl-Heinz und Anke von einer Hochzeitsfeier nach Hause zurück. Alles in der Wohnung schien unverändert, auch das kleine Lederetui mit dem Autoschlüssel lag wieder ordentlich auf dem Schränkchen zwischen den Ehebetten, und Tono schlief tief in seine Decken vergraben auf der Couch im Wohnzimmer.
Kurz nach Tonos Geburt hatte Anke Baginski begonnen, ein Zuhause für sich und ihren Sohn im Nordstadtviertel aufzubauen, in einer Großraumsiedlung des sozialen Wohnungsbaus. Sie arbeitete, Tono wuchs heran, und nun, nachdem er dreizehn geworden war, plante sie in Gedanken manchmal schon seinen weiteren Lebensweg. In zwei Jahren würde er die Gesamtschule mit einem guten Abgangszeugnis verlassen... 6
anschließend eine Lehre und Aussichten auf eine bessere Zukunft! Hätte sie allerdings Tono danach gefragt, ob er ihre Vorstellungen teilte, wären ihr vielleicht Zweifel gekommen. Tono malte sich sein Glück ganz anders aus: aufregender, wilder, gefährlicher. Aber solche Ideen verheimlichte er seiner Mutter. Sie ahnte nichts davon, daß er sich kurz nach seinem Geburtstag entschieden hatte, mit einem Angriff auf KarlHeinz aus den häuslichen Verhältnissen auszubrechen, und kaum hatte er seinen Entschluß in die Tat umgesetzt, fingen die Aufregungen auch schon an. Am Morgen nach dem Diebstahl fühlte Tono sein Herz schneller schlagen, als er am Frühstückstisch Karl-Heinz begegnete, der zum Kaffee seine erste Zigarette rauchte und zufrieden in der Zeitung blätterte. «Hallo, wie geht's, wie steht's?» fragte Tono vergnügt. Obwohl er genau wußte, wie es stand. Die Mutter freute sich, daß ihr Sohn endlich einmal gutgelaunt zur Schule gehen wollte, sie konnte ja nicht wissen, daß an ihrem Tisch kein Kind mehr saß, sondern einer, der selbst über sein Leben bestimmte. Nachmittags war Tono mit Panzer vor dem US-AmericanShop in der Einkaufszone verabredet. Er traf auf die Minute pünktlich ein und wurde sofort von Panzer darüber belehrt, daß ein sich niemals verspätete. Schon die Auslagen mit einer Fülle von Uniformen in braungrünen Tarnfarben, dazu Orden, Helme, Soldatenstiefel, Schnappmesser, Schußwaffen, Schlafsäcke, Blechgeschirr spiegelten den Kunden vor, daß es nur eines Einkaufs bedürfe, um mühelos in die Soldatenwelt voller Tatkraft, Abenteuer, Kampf und Sieg zu gelangen. Im Laden verstärkte sich dieser Eindruck noch durch den herben Geruch der militärischen Ausrüstungsgegenstände und das faszinierende Gefühl von Härte und 7
Männlichkeit, das Tono bei der Berührung mit dem groben Gewebe empfand. «Hier oben brauchst du gar nicht erst zu suchen... Unsere Jacken lagern sie im Keller!» rief Panzer und sprang Tono voran die Treppe hinunter. «Wieviel kosten sie ?» «Ungefähr vierhundert!» Tono blieb abrupt stehen und starrte ihn ungläubig an. «Es sind Originaljackets von Dschungelkämpfern, beste Qualität... Wie nützlich, daß du gestern ein paar Dollars verdient hast», sagte Panzer lachend. Der Verkäufer begrüßte sie wie gute Bekannte mit Handschlag und holte sofort die gewünschte Ware. «Na los», sagte Panzer, der sich in dieser Mode auskannte. Er reichte Tono eine dunkelgraue Jacke aus verwaschenem Baumwollgewebe, sie war gefüttert, hatte Innen- und Außentaschen, Schulterklappen und viele kleine Halterungen für Patronen. Tono spürte das derbe Stück Zeug an seinem Körper und fühlte es rauh an den bloßen Hautstellen seines Halses und seiner Handgelenke. In den Schultern war die Jacke zu breit, der Verkäufer begutachtete Tono und behauptete, daß er schnell hineinwachsen würde. «Du solltest dich für dieses Stück entscheiden... Übrigens trägt dein Freund die gleiche Größe.» Mein Freund? dachte Tono, und es gefiel ihm, daß der bedächtige, eigensinnige, vor allem aber der humorvolle Panzer vielleicht mehr als ein Kumpel für ihn werden könnte. Als er die Geldscheine hervorkramte, hielt Panzer ihn zurück. Die Hauptsache fehlte noch, auf dem Rückenteil der Jacke das Symbol der : ein großer silberner Stern mit den ineinander geschlungenen Buchstaben K und D, darunter ein
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<Smith & Wesson>-Trommelrevolver. «Zwanzig Minuten für den Aufdruck, okay?» sagte der Verkäufer. Panzer und Tono verbrachten die Wartezeit in einer Imbißbude mit Pepsi, * und Pommes frites. «Was soll ich meiner Mutter erzählen, wenn ich mit der teuren Jacke nach Hause komme?» - «Gar nichts! Eltern fragen viel zuviel», sagte Panzer, griff nach einem ganzen Bündel der knusprigen Kartoffelstäbchen und schlang sie in sich hinein. «Aber das ist noch nicht das Schlimmste», muffelte er mit vollem Mund. «Stell dir 'n mal in der Schule vor... Du wirst dich durchschlagen müssen, Mann!» Tono verschluckte sich, fing an zu husten, stellte sein Getränk auf die Theke zurück. «Sie hassen uns», sagte Panzer. «Das ist 'ne Auszeichnung!» Der Angestellte hinter dem Tresen nahm einen Teelöffel und ließ ihn im Takt der Musik über die Biergläser tanzen. «Bestimmt gibt es heute Ärger zu Hause, weil das Auto geklaut worden ist», sagte Tono. «Dein armer Vater!» «Karl-Heinz ist nicht mein Vater!» «L. A. ist auch kein Vater... Meine Mutter behauptet, ich sei ein », sagte Panzer ironisch, stellte sich in Positur wie Elvis, grinste zum Tresen hinüber und tat so, als begleite er das <Schlagzeug> des Barkeepers mit einer Gitarre. «Mein Erzeuger nennt sich Lester und spielt in 'ner AmiBand.» «Ist er berühmt?» «Was kümmern dich die Alten mit ihren langweiligen Geschichten... Berühmt sind die , klar?» In dem neuen Leben ging es wirklich bunter zu! Das alte * Irische Popmusikgruppe
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dagegen wiederholte sich nur. Im Hochhaus, 8. Etage, hörte Tono bereits auf dem Laubengang vor dem Küchenfenster die heisere Männerstimme schimpfen: «Natürlich wollen sie mir die Schuld in die Schuhe schieben. . . ich hätte wissen müssen, was in diesem Viertel passieren kann!» «In feinen Stadtteilen wird auch gestohlen», erwiderte Anke pikiert, während Tono aus der neuen Jacke schlüpfte und sie in seinen Pullover einrollte. Als er die Wohnungstür aufschloß, fluchte Karl-Heinz: «Warum ausgerechnet meinen Firmenwagen, warum nicht einen dieser verdammten Pkws auf dem Parkplatz?» Das Abendessen stand unberührt auf dem Küchentisch... Karl-Heinz leerte eine dritte Flasche Bier, rauchte, redete... Er bemerkte gar nicht, daß Tono hereinkam und sich schweigend gegen die Waschmaschine lehnte. Genauso hatte er ihn an Tonos Geburtstag übersehen. Es war peinlich genug gewesen, daß Anke ihm damals einen Wink gab, sie zündete dreizehn bunte Kerzen an. Danach geschah das Peinlichste, das Tono nie vergessen würde: Karl-Heinz entnahm seiner Brieftasche einen Zwanzigmarkschein und steckte ihn zwischen Tasse und Teller von Tonos Gedeck. «Kauf dir was Schönes!» Im allgemeinen wandte Karl-Heinz sich immer nur an Anke, die ihm stundenlang geduldig zuhörte, die sogar über seine albernen Witze lachte. Sie war doch nicht dumm! Tono argwöhnte, daß seine Mutter ihrem Freund zuliebe Theater spielte, und ärgerte sich über sie. Heute allerdings war das Drama echt, aber nicht Karl-Heinz hatte es inszeniert, und er war auch nicht Hauptdarsteller! Dieser Aufschneider mußte sich mit einer Rolle begnügen, die Tono ihm zugeteilt hatte. Welche Genugtuung! Und wie jämmerlich Karl-Heinz über sein Unglück lamentierte! 10
«Sein Lieferwagen ist gestern nacht spurlos verschwunden», berichtete Anke. «Du kennst dich doch aus in unserer Gegend und könntest dich mal umschauen, vielleicht haben sie in der Nachbarschaft etwas gesehen oder gehört.» Tono kannte jede Straße, jeden Winkel, fast jede Mauer in seinem Viertel, die Hochhäuser, lange Kolonnen von Wohnblocks und das überallgleiche Einkaufszentrum. Aber mit den Nachbarn pflegte er noch weniger Kontakt als seine Mutter. Sie tuschelten über Anke Baginskis häufig wechselnde Männerbekanntschaften. «Das arme Kind mit den vielen Vätern», sagten sie. Das arme Kind sollte Tono sein, und sie wollten ihn bemitleiden. Aber diese Freude gönnte er ihnen nicht. Er war nicht der weinerliche Typ, den sie sich wünschten. Karl-Heinz hob den Kopf und streifte Tono, der seine Schatzrolle fester umarmte, mit einem raschen Blick. «Ein Dreizehnjähriger als Privatdetektiv? Setz ihm nur keine Flausen in den Kopf! Das ist ein Fall für die Polizei, bei dem Diebstahl waren Profis am Werk!»
Eine Woche später beschloß Tono, sich zum erstenmal als Mitglied der Gang in der Öffentlichkeit zu zeigen. Zur vollständigen Ausrüstung fehlten ihm zwar noch ein Paar Springerstiefel und der extra kurze Haarschnitt, aber die kriegerische Jacke allein war schon auffällig genug, um Anstoß zu erregen. Er verließ den Aufzug, den Treppenflur, das Haus und begegnete zunächst keinem Menschen, bis er den Obst- und Gemüseladen auf der anderen Straßenseite erreichte, wo Mesut, der Sohn des Inhabers, soeben frische Früchte in die Auslagen vor den Schaufenstern sortierte. Der junge Türke bemerkte ihn, richtete sich auf, starrte die Jacke an, seine Gestalt straffte, 11
seine Züge verhärteten sich, seine Augen funkelten Tono aggressiv an. Offensichtlich waren die auch mit Mesut und dessen Clique verfeindet. Tono zuckte die Achseln, schob seine Hände tief in die Taschen und schlenderte betont lässig an den Auslagen vorbei. Hinter seinem Rücken ein Knistern, ein Flüstern, er wandte sich um und sah, daß Mesut und sein Vater die Köpfe zusammensteckten. In dieser Sekunde spürte er heiß in seinem Herzen ein äußerst belebendes Gefühl von Überlegenheit und Macht. In der Fußgängerzone bewegte er sich eine Zeitlang unbeachtet durch die Menschenmenge, die die Einkaufsstraßen bevölkerte. Hier trugen viele Jugendliche auffallende Kleidung, und niemand interessierte sich für die Uniformjacke eines . Erst beim Zeitungskiosk wurde er von Theo Albers entdeckt, der wie jeden Tag auf der Parkbank saß und darauf lauerte, daß ein Passant sich von ihm anstiften ließ, über Politik zu streiten. Theo war mit 16 Jahren Soldat in der deutschen Wehrmacht gewesen und kurz vor Kriegsende schwer verwundet worden. Seitdem lebte er arbeitslos als Invalide, er lehnte jede Form von Gewalt ab und regte sich nach so vielen Jahren immer noch über alle Kriege in der Welt auf und neuerdings auch über die wüsten Schlägereien der Jugendlichen im Nordstadtviertel. Fred von den war sein ärgster Widersacher, weil der Theo als Vollidioten beschimpft hatte, der über die deutsche Nation und den Zweiten Weltkrieg lauter Lügen verbreite. Kaum erblickte Theo das Emblem auf Tonos Jacke, da spuckte er ihm vor die Füße und rief voller Abscheu: «Schon wieder einer von dieser Sorte!» Tono erschrak über die wütende Reaktion des alten Mannes, den er durchaus nicht für schwachsinnig hielt - manchmal hatte die Beharrlichkeit des Pazifisten ihm sogar imponiert. Was meinte Theo mit ? Er stand 12
noch eine Weile unschlüssig bei der Bank und mußte zusehen, wie Theo sich im Schutz einer Zeitung unmißverständlich vor ihm zurückzog. Tono hatte das Einkaufszentrum schon weit hinter sich gelassen, als ihm klar wurde, daß er auf Mesut zwar verzichten konnte, den kauzigen Theo Albers aber doch nicht so gern verlieren wollte. Seine Hochstimmung fiel wie ein Strohfeuer in sich zusammen... Was blieb, war die alte, quälende Zerstrittenheit mit sich und der Welt. So gelangte er schließlich in die Gegend um den Bahnhof und bog fast instinktiv in den Trampelpfad ein, der an den Schienen entlang zu den Eingängen der Stadtbahnen führte, trottete weiter stumpfsinnig vor sich hin und war so in seine graue Innenwelt verstrickt, daß er die lauten Rufe von Kess beinahe überhört hätte. Sie besetzte einen der Elektro-Schaltkästen mit Ausblick auf die Geleise und stemmte ihre groben Stiefel gegen einen eisernen Zaunpfahl. «Bist du schwerhörig?» fragte sie amüsiert. Im Gegenteil! Er war ganz Ohr, putzmunter, erleichtert, nicht mehr allein als herumzuirren, wahnsinnig froh, mit ihr zusammenzusein. Seine Laune besserte sich. Es begann in Strömen zu regnen. «Komm runter!» «Komm du lieber rauf!» Jeans an Jeans preßten sie sich auf der schmalen Plattform aneinander - eine ungewohnte, verwirrende Nähe, die Tono in Verlegenheit brachte... Kess dagegen fing an zu pfeifen, sie schüttelte sich unter dem Schauer wie eine Katze, aus ihrem Struwwelhaar sprühten winzige Wassertropfen in Tonos Gesicht und rannen kühl über seine brennenden Wangen. «Es sieht aus, als ob wir heulen.»
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Hastig hob er seine Hand, um sich abzutrocknen, dann hielt er inne und ließ sie langsam wieder sinken. «Kommst du oft hierher?» «Meistens mit den anderen... Hörst du das?» fragte sie aufgeregt, fuhr hoch und hätte ihn beinahe vom Sitz gestoßen. «Siehst du ihn... Er ist fabelhaft, zweihundert, zweihundertfünfzig Kilometer in der Stunde!» «Ich bin noch nie mit ihm gefahren.» «Dann laß es uns sofort tun!» «Na sicher doch... im Traum!» «Nicht im Traum... Hauptbahnhof, Gleis 13... Sie rasen jede Stunde in alle Städte... Hast du Geld für 'ne Karte?» «Das Geld... Ich wollte mir die Stiefel davon kaufen.» «Nur eine Station!» drängte Kess. «Nach Hannover und wieder zurück.» «Du bist verrückt!» «Wieso?» fragte Kess, die vom Kasten gehüpft war und prompt zum Bahnhof steuerte. «Jeder flitzt mal nach Hannover.» «In nassen Klamotten!» «Äij, Alter! Stell dich bloß nicht so an!» Sie nahmen die nächste S-Bahn zum Hauptbahnhof und erreichten eben noch rechtzeitig den Intercity-Express Richtung Süden. Das Nässegefühl verging, sobald sie im Abteil ihre Jakken ausgezogen und es sich in den weichen Polstern behaglich gemacht hatten. Mit sanftem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung, steigerte sein Tempo, dann zog er plötzlich los mit allen Kräften, flog schnell und immer schneller voran. «Wow!» stöhnte Kess entzückt, lehnte sich genußvoll in ihren Sessel zurück und funkelte Tono mit grünen Augen hingerissen an. 14
Hinter der breiten Fensterfront glitt die Landschaft wie ein endloses herbstliches Gemälde vorbei. «Einfach losfahren!» «Wärst du lieber zu Hause geblieben?» fragte Kess. Er antwortete nicht. war er schon lange nicht mehr gewesen, aber er hatte sich auch noch nie mit solcher Geschwindigkeit aus seiner Stadt hinausbewegt. Kess zog ihre Stiefel aus und stellte sie ordentlich nebeneinander auf den Fußboden, anschließend streckte sie ihre Beine zu Tono hinüber, der flink zur Seite rückte. «Die Fahrtausweise bitte!» Ein freundlicher Kontrolleur nahm ihre beiden Karten entgegen, stempelte sie und reichte sie ihnen mit einem Lächeln zurück. «Unsere Jugend auf der Reise in die Zukunft... Habt ihr diesen Luxus etwa mit eurem Taschengeld finanziert?» «Nein», antwortete Tono wahrheitsgemäß. «Wir haben ein Auto verkauft.» «Hoho! Nicht nur fortschrittlich, sondern auch umweltbewußt! Eine lobenswerte Gesinnung!» scherzte der Mann. «Möglicherweise wollen die Herrschaften außerdem unser exquisites Bistro kennenlernen? Links in den Gang, dann immer geradeaus!» «Wollen wir?» fragte Tono, dem der spontane Trip immer besser gefiel. «Ich lade dich ein.» Im Bistro schleppte er ein Tablett mit Schinkenbaguettes und Erfrischungsgetränken zu dem kleinen Tisch am Fenster, und schon der Anblick der Leckerbissen ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Kess war zweifellos noch hungriger als er, faßte, ohne zu zögern, nach dem längsten Stück Brot. Dabei rutschte ein Ärmel ihres T-Shirts zurück und gab den Blick frei auf ihren Unterarm. Ein häßliches Muster vernarbter Schnitt-
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wunden verunstaltete die feine Haut an der Innenseite. Betroffen wollte Tono eine Frage stellen, aber Kess fuhr ihm über den Mund. «Vergiß es!» zischte sie, und ihre Augen schossen Blitze. Sofort widmete er seine Aufmerksamkeit nur noch dem Essen, die Mißstimmung verflog, und Kess hatte schon wieder einen neuen Einfall: sie schlug vor, die Fahrt bis nach Kassel zu verlängern oder nach Frankfurt. Tono öffnete sein Portemonnaie und schüttete die letzten Groschen heraus. «Natürlich schwarz!» sagte sie ungehalten, stellte das Geschirr zusammen und trug es zur Bar zurück. «Alles noch einmal bitte!» Die zweite Portion verzehrten sie ohne Genuß, weil sie sich den Kopf zerbrachen: Schwarzfahren, aber wie? «Streng dich an, mach einen Plan!» flüsterte Kess; denn es war keine Zeit mehr zu verlieren, aus dem Lautsprecher tönte die Stimme des Schaffners: «In wenigen Minuten erreichen wir Hannover Hauptbahnhof! Sie haben Anschluß. . . » Tonos erste Idee stammte aus den Wildwestfilmen: Desperados und Vagabunden hängten sich unter Eisenbahnwagen und ließen sich in lebensgefährlichem Abstand über die Schienen schleifen, oder sie kletterten durch die Fenster aufs Dach. «Willst du uns umbringen?» fragte Kess. «Damals sind sie im Schneckentempo durch die Prärie gegondelt, du kannst doch 'n ICE nicht mit 'ner Dampfeisenbahn vergleichen!» Seine zweite Idee wurde aus der Not geboren, als der Zug in Hannover einfuhr und sie durch die 1. Klasse hetzten. Fast alle Abteile standen leer. «Hier hinein!» befahl Tono, und Kess folgte ihm augenblicklich, ging zu Boden und schob sich tief unter die drei Sitze der linken Reihe, während der Zug am Bahnsteig hielt. Gegenüber war ein Tisch zwischen den beiden Sitzen eingebaut - kein Unterschlupf also für Tono. . . die Zeit drängte, sie mußten sich trennen. «Ich nehme das nächste Ab16
teil! Paß gut auf! Sobald die Luft rein ist, treffen wir uns im Klo!» Zum Glück für die beiden Schwarzfahrer hatte sich der freundliche Kontrolleur heute morgen verliebt, es zog ihn mächtig in das gemütliche Bistro, wo er mit der jungen Serviererin plauderte, die ihm Schümli-Kaffee spendierte. Wozu in der 1. Klasse die Zeit vergeuden und Geschäftsreisende stören, die ihm ihre Fahrtausweise längst präsentiert hatten? Ich bin schon wieder gewachsen, dachte Tono, der seine Glieder verrenken mußte, um sich in dem schmalen Gefängnis unter den Sitzen einrichten zu können. Lange verharrte er still in der selbstgewählten Abgeschiedenheit, geborgen im fließenden Rollen der Räder, wie so oft allein mit sich und seinen Gedanken und dennoch einer von vielen in der Welt, die genau wie er ihre Geschichten erlebten. Seine eigene Geschichte erschien ihm an diesem Tag jedoch heller und glänzender, weil sie für eine Fahrt nach Frankfurt und zurück mit Kess' Geschichte verbunden war. Zwischen Göttingen und Kassel schwebte der verliebte Schaffner nur noch der Form halber von einem Wagen zum nächsten, er hatte nichts anderes mehr im Sinn als die schöne Studentin Felizitas. Sobald er vorbeigeweht war, kroch Tono mit schmerzenden Muskeln aus seinem Versteck und huschte zur Toilette, wo er sich endlich wieder aufrichten, sich recken und entspannen konnte, bis Kess an die Tür pochte und eingelassen werden wollte. «Wir schließen uns bis Frankfurt hier ein», sagte sie entschlossen. «Im Abteil wär ich fast erstickt!» Tono wich an die Tür zurück, um ihr möglichst viel Platz einzuräumen, und konnte doch nicht vermeiden, ihr Gesicht mit Augen, Haut und Haar zum Greifen nah wahrzunehmen und außerdem noch ihr Abbild im Spiegel.
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Eine Kurve, ein Ruck, er verlor plötzlich den Halt, taumelte nach vorn und tastete nach dem Waschbecken, um sich daran festzuklammern. Nichts war passiert... nur der winzige, in Silber gefaßte Aquamarin, den Kess am linken Nasenflügel trug, blitzte ihn an... meerblau zu grünen Augen. «Wärn wir in Hannover ausgestiegen, hättest du's bequemer gehabt», sagte er gereizt. «Wer sagt dir denn, daß ich's bequem haben will?» «Na wer wohl? Du hattest doch Panik im Abteil, oder? Ich hatte übrigens keine!» «Dann geh doch zurück in dein Rattenloch!» fauchte Kess ihn an. Tono fuhr auf sie los und hielt ihr den Mund zu - der Türgriff in seinem Rücken klickte mehrmals auf und nieder. «Was ist los da drinnen?» «Besetzt!» rief Tono nervös, drückte den Knopf für die Spülung und ließ das Wasser rauschen. Die Klinke gab Ruhe, aber die Aufregung draußen ging weiter. «Alles in Ordnung?» «Alles klar», säuselte Tono so sanft wie möglich. «Mein Bauch...» «Soll ich den Schaffner rufen?» «Auf keinen Fall! Es dauert nur etwas länger...» Das leichte Knarren, mit dem sich die Schritte entfernten, klang wie Musik in ihren Ohren. Gerettet! «Besser, du gehst jetzt... Wir sehn uns dann in Frankfurt aufm Bahnsteig», flüsterte Kess. «Bis Hannover war's 'ne prima Reise», sagte Tono. «Und nun eine Strapaze nach der anderen.» «Ach, reg dich doch ab! Schwarzfahrn ist schließlich kein Fernsehfilm!» Erst eine Stunde vor Mitternacht traf Tono wieder in der 18
Bossestraße ein. Anke saß allein in der Küche am Tisch, der Aschenbecher quoll über von Zigarettenresten. «Was ist das für eine Jacke?!» fragte sie sofort. «Meine!» Mit nur einem Wort ließ seine Mutter sich jedoch nicht abspeisen, sie verlangte in allen Einzelheiten zu erfahren, was er den ganzen Tag lang getrieben hatte, zweifellos wieder Verbotenes, wie so häufig in letzter Zeit, behauptete sie. Aber er hatte nichts weiter für sie als diese karge Antwort, die ein Geheimnis enthielt, das ihm und Kess gehörte, zehn außergewöhnliche Stunden in seinem Leben, von denen Anke ausgeschlossen war. Tono blickte sie nicht einmal an, er wollte ihre vom Rauchen graue Haut nicht mehr sehen, nicht ihre blondgefärbten Haare, nicht ihre dunklen Augen, ähnlich den seinen, angeblich sein Erbteil von ihr, er wollte auch ihre Vorwürfe nicht mehr hören und verließ die Küche mit einem «Gute Nacht bis morgen». Allein im Zimmer, schon halb im Traum, erschienen ihm dann jedoch andere Bilder von seiner Mutter aus der Zeit, als sie abends manchmal an seinem Bett gesessen und ihm Geschichten von ihrer Zukunft erzählt hatte, von einer besseren Arbeit, einer größeren Wohnung mit allem Komfort, von Urlaubsreisen in die ganze Welt. Damals hatte sie ihn auch zu Sonntagsausflügen in andere Stadtteile mitgenommen, wo sie ihm feinere Häuser, Straßen, Läden und Parks zeigte und ihm vorschwärmte, daß er und sie eines Tages aus der Nordstadt wegziehen würden. Sie schmiedete Einrichtungspläne, suchte die elegantesten Loggien aus, auf denen sie im Sommer sitzen und frühstücken würden. Damals war er fünf und begriff noch nichts von den existentiellen Unterschieden und wirtschaft-
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lichen Machtverhältnissen, er bemerkte nur, daß seine Mutter sich wohl fühlte, und wurde angesteckt von ihrer guten Laune. Später wurden diese Fahrten seltener und Ankes Vorstellungen realistischer, sie tat sich mit Karl-Heinz zusammen; Tono lernte bei seinem Lehrer Wedemeier in Politik, daß in der Welt nicht alle Menschen im Wohlstand leben. Jetzt war er dreizehn, und sie wohnten seit über zehn Jahren in der Bossestraße, seine Mutter würde ganz sicher nicht mehr ausziehen und hatte neulich sogar geäußert, Karl-Heinz könnte vielleicht bei ihnen einziehen. Tono traute Anke nicht mehr, die ihm einen märchenhaften Aufstieg versprochen und nichts unternommen hatte, um ihn zu verwirklichen. Dagegen heute dieser Tag mit Kess... und alles veränderte sich! Sie hatten eine Idee in die Tat umgesetzt, waren aufgebrochen und losgefahren... ein wunderbares Gefühl zum Einschlafen und Träumen!
Die Kurierdienste bei den wurden oft von Assel übernommen, den Fred für besonders zuverlässig hielt und deshalb auch mit heiklen Aufgaben betraute. Am nächsten Schultag in der großen Pause tauchte Assel plötzlich hinter dem Werkzeugschuppen des Hausmeisters auf, wo sich die Raucher der Mittelstufe verbotenerweise zusammenfanden. «Achtzehn Uhr auf dem Abbruchgelände hinter den Lagerhallen!» flüsterte er Tono ins Ohr und war wie ein Blitz wieder verschwunden. «Den Typ hab ich hier schon lange nicht mehr gesehn... Er ist doch nach der achten abgegangen», sagte Achim, der sich von Tono Feuer geben ließ. «Was will der denn von dir?» «Kein Kommentar», antwortete Tono, aber Achim bohrte weiter: 20
«Hängt der nicht auch mit den rum?» «Das ist seine Sache!» «Schon möglich... solange ihr keine alten Omas zusammenschlagt und denen ihre paar Kröten klaut!» «Soll das heißen, die sind kriminell?» fragte Tono wütend. «Nee, einfach nur brutal!» «Dann hast du ja nichts zu befürchten!» Achim baute sich in seiner ganzen Länge vor ihm auf und blies ihm einen Mundvoll Rauch ins Gesicht. «Sieh dich vor!» knurrte er warnend und setzte mit einem Hechtsprung über die nächste Regenpfütze, so daß Tono keine Gelegenheit mehr fand, sich zu revanchieren. «Der Zwerg bläht sich auf wien Pfannkuchen!» sagte er zu den anderen, die sich in Erwartung einer Prügelei zurückgezogen und einen Halbkreis gebildet hatten. Alles lachte und lachte brüllend, als der Pausengong Tonos Feststellung mit fünf lauten Schlägen bekräftigte. Bereits eine Viertelstunde vor der angegebenen Zeit traf Tono auf dem unbebauten Grundstück ein, wo tagsüber Transportfahrzeuge und Maschinen abgestellt wurden. Nach Feierabend hielt sich vom Personal hier niemand mehr auf. Kurz nach ihm kam Fred mit seinem Mofa angefahren, überholte ihn und wies ihm den Weg zu einem Gebäude, dessen verfallene Wände hinter einer Mauerruine aufragten. Dort schoben sie das Rad unter einen Dachvorsprung. «Wie viele von diesen Verstecken kennt ihr eigentlich?» fragte Tono, der sich wunderte, daß es in seinem Viertel, wo er fast jeden Quadratmeter zu kennen glaubte, noch Überraschungen für ihn gab. «Drei oder vier», antwortete Fred. «Wir wechseln sie öfter.» Er stieg durch einen klaffenden Spalt der verrotteten Tür und 21
winkte Tono hinter sich her über Schutt und Schrott bis zu einem freigeräumten Flecken. «Stopp!» sagte er kurz angebunden. «Und vergiß niemals: Hier hat kein Mensch was zu suchen, außer uns... Du wirst also ab sofort über alles, was du hier hörst und siehst, deinen Mund halten!» «Seh ich vielleicht aus wie 'n Verräter?» fragte Tono empört, aber Fred duldete keine Zwischenfragen. «Zweitens: Du hast dich pünktlich einzufinden, nicht zu früh und nicht zu spät!» In solchem Kommandoton hatte bisher noch niemand mit Tono gesprochen. Dieser Anführer verstand es, sich durchzusetzen! Er klappte den Deckel seiner Taschenuhr auf, dann schaute er zum Eingang und stellte befriedigt fest, daß nun auch der Rest der Gang auf die Sekunde genau bei ihnen eintraf. Assel begab sich schnurstracks an die Seite von Fred, Panzer rückte neben Tono, und Kess hockte sich im Schneidersitz auf eine Kiste. Bald würde Tono begreifen, daß diese Sitzordnung festgelegt war, immer unter Leitung von Fred. Der Vorsitzende kam auch gleich zur Sache: Für Freitag war ein neues Unternehmen geplant, in dem es diesmal nicht um Autos ging, sondern um eine Sprüh-Aktion im Bereich der städtischen Verkehrsbetriebe. «Oh yeah!» rief Panzer, der sich in der Jugendszene von New York, London und Amsterdam auskannte und mit Begeisterung alles verfolgte, was dort an Neuem entstand, in der Musik, aber auch in der Kunst. Er war gleich Feuer und Flamme, verlangte von Kess, sie solle die Kiste freigeben. «Da liegen noch Farbdosen von unserem letzten Coup!» «Immer mit der Ruhe!» bremste ihn Fred. «Die Sache ist ziemlich riskant geworden... Ihr wißt, daß sie neulich nacht einen von den < Profis > geschnappt haben!» Kess hatte das Gelände observiert und wurde nun aufgefor22
dert, einen Lagebericht zu geben. Gespannt folgte Tono ihren Ausführungen, er staunte, wie exakt die Organisation funktionierte, und war beeindruckt von der Disziplin der . «Wir starten um 2 Uhr Endstation Körnerstraße», sagte Kess. «Um diese Zeit schalten sie auf der Gleisanlage den Strom ab. Danach gehören uns alle Züge des Frühverkehrs.» «Ich kann sie schon sehen!» sagte Panzer begeistert. «Eine lange Wagenschlange, die unsere Kunstwerke durch die Stadt befördert.» «Irgendwelche Probleme?» fragte Fred. «Die Zeit... Wir müssen in zwei Stunden fertig werden.» «Ich schätze, sie haben Nachtwächter auf der Station», gab Assel zu bedenken. «Stimmt», sagte Kess. «Wir dürfen uns also keine Fehler erlauben!» Panzer wurde beauftragt, für alle Beteiligten Sprühdosen in verschiedenen Farben zu besorgen. Also auch für mich! dachte Tono stolz und zog sich tiefer in die gefütterte Innenhaut seiner Jacke zurück. Ein starker Windzug fegte durch die Bude, gefolgt von Regengüssen, die an vielen Stellen durch das brüchige Dach plätscherten. Der Kreis der Verschworenen rückte enger zusammen, so daß der Eindruck entstand, es sei möglich, einander in dieser frostigen Umgebung Wärme zu spenden, und einen Atemzug lang fühlte Tono wirklich diese Wärme. Er wandte sich nach rechts zu Kess und sagte eifrig: «Ich kann bis Freitag auch noch was für euch erledigen!» «Diesmal nicht!» bestimmte Fred. «Du bist noch Anfänger.» «In der Probezeit», fügte Assel mit selbstgefälligem Grinsen hinzu und war gleich wieder aufmerksam bei der Sache, als Fred zum Abschluß der Versammlung Paare bestimmte, die bei 23
der Graffiti-Aktion zusammenarbeiten sollten: Assel und Kess sowie Tono und Fred, Panzer durfte seinen Teil allein gestalten. Komisch, dachte Tono. Der Boss führt immer das große Wort, und keiner lehnt sich auf! Seit Anfang September war Tono glücklich über jede Nacht, die Anke bei Karl-Heinz verbrachte. Doch offenbar wollte sie die Unabhängigkeit, die sie sich selbst erlaubte, ihrem Sohn nicht zugestehen. Seine neue Kleidung und böser Klatsch über die , der ihr zu Ohren gekommen war, machten sie unruhig, sie beobachtete Tono mißtrauisch, wurde plötzlich übertrieben häuslich und verkündete ausgerechnet am Freitag um 9 Uhr abends, sie werde heute ihre Arbeitskollegin Annette doch nicht besuchen, sondern einen Pflaumenkuchen backen. Tono hatte ihr beim Abwaschen geholfen und sich in Gedanken bereits darauf eingestellt, kurz vor eins das Haus zu verlassen. Nun war er gezwungen, sich Lügengeschichten auszudenken oder sich in einem geeigneten Augenblick unbemerkt aus dem Staub zu machen. Einen Schulfreund zu erfinden, bei dem er angeblich übernachten würde, wäre aussichtslos. Anke wußte, daß es in seinem Bekanntenkreis seit langem keinen Freund mehr gab. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als Müdigkeit vorzutäuschen und im Schutz des dunklen Wohnzimmers darauf zu lauern, daß Anke sich nach dem Backen mit dem Fernseher ins Schlafzimmer begab. Leider schäumte sie heute über vor Energie. «Du kannst schon mal den Teig anrühren», sagte sie unternehmungslustig. «Um zehn gibt's im Fernsehen einen Film mit Bud Spencer, dann gibt's bei uns saftige Schnittchen mit Schlagsahne!» Glaubte Anke denn, sie könne die Zeit zurückdrehen und an die Filmabende anknüpfen, die sie früher erlebt hatten? Da24
mals war er wütend geworden, wenn Anke abends ausgehen wollte, er weigerte sich einzuschlafen, um sie zum Daheimbleiben zu bewegen. Als er mit solchen Protesten keinen Erfolg hatte, fing er an, die vereinbarten Fernsehzeiten eigenmächtig auszudehnen und hockte manchmal bis zum Sendeschluß vor dem Apparat. Inzwischen vermißte er seine Mutter abends und nachts nicht mehr, er fühlte sich allein zu Haus sogar wohler und freier noch draußen in den Straßen. «Keine Lust... ich geh schlafen!» erwiderte er mit seinem ausdrucksvollsten Gähnen. Der unhöfliche Abgang gelang ihm fast immer, wenn Karl-Heinz da war; heute jedoch ließ Anke ihn nicht so einfach davonkommen. «Er war doch immer dein Lieblingsschauspieler!» hielt sie ihm vor. «Pah», sagte Tono angewidert, «Bud Spencer! Ich soll wohl bis in alle Ewigkeit darüber lachen, daß einer fett ist und draufhaut!» «Deine neuen Kumpane haben ja auch nichts anderes als Gewalt im Kopf!» erwiderte Anke giftig. «Die Schüssel bitte! Mehl, Margarine, Eier! Setz dich hin!» «Ich laß mich nicht zwingen!» «Hör zu», sagte sie. «Ich will nicht, daß du dich mit dieser Schlägerbande herumtreibst!» Tono hob leicht seine Schultern und pfiff durch die Zähne, dann reichte er seiner Mutter nacheinander die gewünschten Zutaten - über die Teigschüssel hinweg trafen sich ihre Augen, und plötzlich schoß eine Woge zorniger Abneigung in ihm hoch, die Ankes sorgenvolle Blicke abwehrte und verhinderte, daß er ihr zuliebe wieder schwach wurde. «Du willst also nicht mit mir darüber reden?» «Mit mir hat ja auch keiner geredet oder mich gefragt, ob Karl-Heinz mir gefällt», sagte Tono kalt. 25
«Wir sprechen hier nicht über meinen Partner.» «Über meine Bekannten auch nicht.» «Bekannte!» wiederholte Anke höhnisch. «Als Banditen bekannt... darauf kannst du stolz sein!» «Und worauf bist du stolz?» fragte Tono frech. «An deinem Freund gibt's ja überhaupt nichts zu bewundern!» Anke schnappte nach Luft, das Porzellan schlug hart auf die Tischplatte. «Raus!» schrie sie ihn an. «Und laß dich mit dieser Mafia-Jacke nie mehr in meiner Wohnung blicken.» Die Schlafzimmertür wurde glücklicherweise schon um elf fest zugezogen, eine Stunde später stahl sich Tono durch den Korridor, drückte die Türklinke geräuschlos herunter und entschwand lautlos in die Nacht. Er war aufgeregt wie vor einer Premiere - die Mutprobe hatte er zwar neulich schon bestanden, aber viel wichtiger war heute nacht seine Bewährungsprobe. Auf einer Anhöhe außerhalb der Stadt lag die Endhaltestelle in nächtlicher Finsternis unterm Regenhimmel. Die fünf verbargen sich im dichten Buschwerk am Hang zu den Gleisen und beobachteten, wie die Lampen auf den Masten hoch über den Schienen mit einem Schlage erloschen und bis auf eine Notbeleuchtung auch die Lichter im Stationsgebäude. Zur Vorsicht lauschten sie noch einige Minuten lang, ob alles ruhig blieb, dann gab Fred das Zeichen zum Aufbruch: «Los jetzt, an die Arbeit!» Wie riesige Nachttiere raschelten sie von Strauch zu Strauch, sorgsam darauf bedacht, jedes laute Geräusch zu vermeiden. Zwei Farbdosen in Tonos Jackentasche und acht weitere im Rucksack schlugen bei jeder Wendung hart gegen seinen Körper, außerdem behinderten ihn die neuen Stiefel in seiner Beweglichkeit, so daß er sich schon nach den ersten Metern des 26
Aufstiegs in seine elastischen Turnschuhe zurückwünschte. Um so befreiender war schließlich die Ankunft am Ziel. Ein gelber Mond war zwischen wolkigen Vorhängen aufgegangen, der ein Panorama beleuchtete: auf glänzenden Schienen Kolonnen von abgestellten U-Bahnen, die nur darauf warteten, von den in Besitz genommen zu werden. Fred signalisierte Tono, sich hinter ihm zu halten, und galoppierte auf seinen klobigen Sohlen über Schotter und Bohlen bis zum Triebwagen der Linie 3, die am frühen Morgen für den Berufsverkehr eingesetzt wurde. Durch die offenstehende Tür der Fahrerkabine gelangten sie in den ersten Wagen. «Du nimmst die linke Seite», sagte Fred, hielt seine Sprühdose schon bereit und begann im tanzenden Lichtkegel der kleinen Taschenlampe die rechte Wandfläche mit einem knallroten Winkel zu verzieren. Tono schielte unentschlossen zu ihm hinüber. «Nun mach schon!» drängte ihn Fred. «Du sollst hier keine Gemälde schaffen, es kommt nur darauf an, die Massen zu schocken!» Hör bloß auf, mich anzutreiben! dachte Tono wütend, griff nach der erstbesten Farbe, die ihm unter die Hände kam, und malte auf den Türrahmen zwei senkrechte schwarze Streifen, verbunden durch einen Querstrich, ein H zu diesem fügte sich wie von selbst ein A gefolgt von dem bekannten Doppelblitz dem Gefahrensymbol vor Hochspannungsleitungen. Tono betrachtete das Graffito, ein düsteres Wortgebilde, das fast ohne sein Zutun aus ihm herausgesprudelt war. Wie hart und drohend starrte es von der Wand! «Gut so!» lobte ihn Fred. «Wir werden es ihnen schon zeigen!» Tono fiel nichts anderes ein, als zunächst weiter seinen 27
schwarzen Haß auf die hellen Flächen zu sprühen, jedoch langsamer und in feineren Buchstaben, bis er im Verlauf der Arbeit unvermittelt an ein Werbeplakat geriet, das über den Sitzen angebracht war. Er richtete den Strahl seiner Lampe auf das Foto und erblickte den neuen Intercity-Express, der wie ein langer weißer Vogel durch eine romantische Berglandschaft flog. «Hej! Warum machst du nicht weiter?» fragte Fred. Die schwarze Dose enthielt keine Farbe mehr, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb Tono auf der Bank unter dem Bild eine Pause einlegte und sich für den letzten Teil seiner Aufgabe neue Graffiti in anderen Farben und Formen ausdachte. Das Werk auf der rechten Wandseite war viel schneller vorangekommen und inzwischen fast vollendet. Vielleicht konnte Tono sich bei seinem Kumpel eine Anregung holen. Das ist ja echte Kunst! dachte er, als er Freds Figuren sah, die sich über die gesamte Fläche erstreckten, ein Farbenspiel geometrischer Teile, die zu einem vielfältigen Ganzen ineinander verschlungen waren. Dagegen erschienen ihm seine eigenen Versuche kläglich. Aber Fred beruhigte ihn. «Jeder fängt mal an... Sieh zu, daß du deine Sache zu Ende bringst, die Zeit läuft uns davon.» Er schulterte seinen Rucksack. «Ich nehme jetzt den nächsten Wagen.» Fred war wirklich ein Könner... und vielleicht auch ein Anführer? Bei einem zweiten Gang an den Bildern entlang vertiefte sich Tono voller Bewunderung noch einmal in jede Einzelheit der Kompositionen und entdeckte dabei plötzlich, daß er im großen Zusammenhang einige Kleinigkeiten übersehen hatte. Der Vorraum beim Eingang war mit weißen und roten Graffiti besprüht, und zwischen diesen beiden Farben drohten an mehreren Stellen große schwarze Hakenkreuze. 28
Wenig später traf er seinen Partner im Nachbarwagen. «Was soll der Blödsinn mit den Hakenkreuzen?» Fred arbeitete ruhig weiter, er sah nicht einmal auf, als er Tono kurz und bündig antwortete: «Noch nie was von Deutschland gehört?! Das ist zufällig auch dein Land, Baginski... oder stammst du ausm Ausland?» - «Meine Mutter ist in Dortmund geboren», sagte Tono prompt und wäre am liebsten sofort in den Boden versunken. «Okay, okay, es war nicht so gemeint», lenkte Fred ein. «Mach dir nichts draus... klar bist du genauso deutsch wie wir alle.» Fred betonte das Wort <deutsch>, als handle es sich dabei um eine Auszeichnung. Zwei Tage später berichtete die örtliche Presse von den , mit denen in den öffentlichen Verkehrsmitteln hätten. Karl-Heinz ließ die Zeitung neben seinem Frühstücksgedeck liegen, als er morgens mit Anke zusammen aufbrach, um seinen neuen Lieferwagen abzuholen, den die Firmenversicherung finanziert hatte. «In eurem Viertel hausen die Vandalen», sagte er. «Wenn das so weitergeht, wohnt ihr hier bald in .» Sobald die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, schlug Tono die bebilderten Seiten auf und las nun selbst, mit welchen deftigen Ausdrücken die Zeitung die Sprühaktion verurteilte. Er sah auch Fotos von den Hakenkreuzen und fühlte trotz aller Vorbehalte gegenüber Fred einen kleinen Nervenkitzel. Das nächtliche Abenteuer erregte Aufsehen in den Zeitungsredaktionen! Und er war dabeigewesen! In der Schule verbreitete sich die Sache ebenso schnell wie die Liebesgeschichten von Boris Becker, sie war in der großen Pause das Gesprächsthema Nummer 1. Ausnahmsweise er29
schien heute auch Kess in der Raucherecke, schnorrte sich von Achim eine Zigarette und verabredete sich mit Tono um halb zwei am Ausgang. «Müssen diese Idioten immer wieder den vermoderten Hitler ausgraben?» schimpfte Baseball-Bernd. «Es gibt doch viel interessantere Grufties!» «Von den Tätern keine Spur», sagte Achim mit einem schiefen Blick auf Tono und Kess, die sich von ihm jedoch nicht beirren ließen. «In der Stadt gibt's viele Sprayer, da kannst du lange suchen», stellte sie sachlich fest, paffte und verzog keine Miene. «Und wir müssen es ausbaden!» nörgelte Bernd. «Wetten, daß Wedemeier uns morgen in Politik wieder antifaschistische Vorträge hält?» «Ich könnte zum Beispiel bei den anfragen, ob die das Ding gedreht haben», meinte Achim hinterhältig. «Ach, wirklich? Vielleicht legen sie ja gar keinen Wert auf deine Gesellschaft», antwortete Tono. «Übrigens... Wo bist du denn Freitag nacht gewesen?» Er hatte den Satz noch nicht beendet, als Achim ihn am Kragen seiner Jacke packte und diesen am Hals zusammenzog, bis Tono fast erstickte. Achim wollte auch noch Ohrfeigen austeilen, aber Kess sprang auf ihn los und trat ihm mit ihrem Stiefel zwischen die Beine, so daß er das Gleichgewicht verlor und sekundenlang wie ein Zirkusclown mit den Armen in der Luft herumruderte. «Das wird dir noch leid tun!» keuchte er, schneeweiß im Gesicht vor Wut und Schmerz. Tono war frei, aber keineswegs glücklich bei dem Gedanken, daß ihn ein Mädchen verteidigt hatte. Nach dem Unterricht trabte er mißgelaunt neben Kess die verkehrsreiche Straße hinunter und erklärte ihr erst nach län-
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gerem Schweigen den Grund seiner Verstimmung. «Warum hast du dich vorhin eingemischt? Ich kann mit diesem Angeber ganz gut allein fertig werden!» «Einer steht für den anderen ein», sagte sie. «Ich schätze, wenn der mich angreift, hilfst du mir auch aus der Klemme!» Tono nickte, immer noch im Zwiespalt mit sich und seiner Ehre, bis er schließlich einen Ausweg fand und Kess fragte, ob er sie, als Gegenleistung, ins Kino einladen dürfe. «Muß ich es wiederholen? Einer für alle, alle für einen!» rief sie. «Und keiner bedankt sich dafür! Aber wir können trotzdem ins Kino gehn!»
Vorher jedoch gingen sie zu Kess nach Hause, wo Tonos Haare geschnitten werden sollten, damit er auch in diesem Detail dem Bild der entsprach. Die Wohnung der Strothmanns in einem vierstöckigen Haus war nach dem gleichen Muster gebaut wie Baginskis Bleibe im Hochhaus, wo man sich auf engstem Raum ständig in den Weg lief. Im Flur hing eine Dunstwolke süß-fauliger Gerüche. «Laß uns ins Bad gehen, da haben wir unsere Ruhe», sagte Kess und meinte wohl die pfeifenden Schnarchtöne, die aus einem Zimmer drangen; denn andere Geräusche gab es in der Wohnung nicht. In einem fremden Haushalt zuerst in den intimsten Raum! Warum nicht ins Wohnzimmer oder wenigstens in die Küche! Kess behauptete, hier sei es, abgesehen von den gekachelten Wänden, der Duschkabine und dem Klo, so ähnlich wie beim Friseur. Dann führte sie Tono zu einem Hocker vor dem Spiegel, legte ihm ein Handtuch um die Schultern und
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hielt die schmale scharfe Schere schon in der Hand. «Wie kurz hätte der Herr es denn gern?» flötete sie. «So kurz wie möglich... Aber bitte kein Ohr abschneiden und nicht den Hals!» Besonders witzig war Tono aber gar nicht zumute, genaugenommen verabscheute er alle Friseure, die sich einbildeten, sie könnten selbstherrlich über seinen Kopf verfügen. In den letzten zwei Jahren hatte er sich nach Lust und Laune selbst frisiert und nicht einmal Anke erlaubt, seine Haare anzurühren. Deshalb fiel es ihm nicht leicht, sich Kess auszuliefern, in deren Händen es nun lag, ihn schön oder häßlich zu machen. Als sie ihm ins Haar griff, lief ihm ein Schauer über Kopf und Rücken, den ersten sirrenden Schnitt spürte er bis in den Magen, er sah die glatten dunklen Strähnen zu Boden fallen und vermied von nun an jeden weiteren Blick in den Spiegel. Je weniger er jedoch sah, desto deutlicher fühlte er, wie mit jedem verlorenen Haarbüschel sein Kopf leichter und kühler wurde. «Soll ich einen Zentimeter stehenlassen oder willst du 'n Skinhead wie Fred?» fragte Kess nach einer Weile. «Keine Glatze!» sagte er schnell und wagte nun doch einen Augenkontakt mit seinem Abbild. Der Kopf ragte klar und kantig aus dem Pullover, ähnlich wie die Köpfe von Assel, Panzer und Kess, sein Gesicht mit Augen, Ohren und Nase erschien ihm zwar schärfer modelliert, blieb zu seiner großen Erleichterung aber unverändert sein eigenes. «Na, wie gefällst du dir?» «Hm.» «Du wirst dich daran gewöhnen!» «Hm.» Sie lachte ihn an, und in dieser Sekunde der Freundlichkeit wurde alles andere plötzlich nebensächlich, weil sie ihn leiden mochte, so wie er war. Der besondere Moment ging unter in 32
einem dumpfen Geräusch hinter der Tür, die unvermittelt aufgestoßen wurde. «Was 'n los hier?» fragte schlaftrunken der muskulöse Mann im gelben Overall mit der Aufschrift SPECIAL-TEST. Er steuerte zum Waschbecken und streckte seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl. Tono fühlte sich zurechtgewiesen von der Stimme, die ihm deutlich zu verstehen gab, daß er in der Wohnung unerwünscht sei. Er räumte eilig seinen Platz, während der Mann prustete, gurgelte und spuckte. «Wie kommt dieser Kahlkopf in unser Badezimmer?» wollte er von Kess wissen. Doch sie wandte sich ab und kümmerte sich nur noch um ihren Rückzug. Tono fand sich von ihr im Stich gelassen; denn sie hatte ihn doch in die Wohnung eingeladen. Sollte er sich nun etwa mit dem Mann auf eine Auseinandersetzung einlassen ? Nein danke! dachte er und war mit drei großen Sätzen noch vor Kess an der Wohnungstür. Draußen auf halber Treppe strich er mit beiden Händen vorsichtig über seine neue Frisur. «Wie wär's mit 'm Krimi?» fragte Kess. Tono übersprang mehrere Stufen und landete polternd im Zwischengeschoß. «Oder siehst du lieber Science fiction?» Er blieb abrupt stehen und blickte zu ihr hinauf. «Also gut», sagte sie unwirsch. «Wir gehn einfach in irgendeinen ... oder in zwei.» «Da wird ja doch bloß gelogen!» «Was denn sonst ?!» «Auf solchen Mist kann ich verzichten!» «Welchen Mist?» «Den mit Bud Spencer, mit Liebe und so weiter!» Es wurden insgesamt zwölf Filme in den zwölf verschiedenen Vorführräumen des Kinos gezeigt. Kess ging an Kasse 1 und fragte: «Gibt es heute 'n Film ohne Liebe?» 33
«Kino 1, », sagte die Kartenverkäuferin hinter der Trennscheibe. «Ohne Liebe?» «Ab sechzehn Jahre!» Sie versteht mich nicht, dachte Kess und rückte näher an das kleine Fenster, aber die Frau scheuchte sie zurück und deutete mit dem Zeigefinger auf die Filmplakate. «Kannst du nicht lesen? Alle Informationen hängen im Schaukasten!» «Ich dachte, Sie könnten uns vielleicht einen Tip geben!» «Film ohne Liebe...?» fragte die Frau etwas freundlicher. «Danach bin ich noch niemals gefragt worden, und ich sitz jetzt seit zwölf Jahren an dieser Kasse.» «Ist heute einer dabei?» «Kriegsfilme haben wir zur Zeit nicht im Programm... aber selbst die... Eigentlich gibt es gar keinen Film ohne Liebe.» Tono kaufte am Stand zwei große Portionen Popcorn. «Willst du nun oder willst du nicht?» fragte Kess. Statt einer Antwort reichte er ihr die extra reich gefüllte Tüte, und sie entschlossen sich für Kino 5: . Auch die Werbefilme richteten ihre Angebote an das Gefühlsleben: Ein Geschäftsmann war hingerissen von der jungen Dame, die sich in ihrem engen schwarzen Kleid mit gefährlichem Ausschnitt wie eine Boa Constrictor an ihm vorbeischlängelte. Sofort rannte er zum Juwelier und kaufte von seinem Monatsverdienst einen Diamanten. «Da hast du es!» flüsterte Tono. «Kein Mensch gibt für eine Schlange so viel Geld aus!» «Siehst du nicht, wie sie ihn anmacht? Augen wie Kaffeetassen!» sagte Kess, aber Tono konnte die Wirkung nicht mehr testen, weil schon der nächste Spot folgte, ebenfalls mit Liebe... Diesmal trank das elegante Paar Whisky on the rocks. 34
Der Spielfilm dagegen fing an mit einem Mord, den der Computer an einem Bankier verübte, danach traten alle möglichen Ingenieure, Programmierer, Wirtschaftsexperten, Kriminalbeamte, Spione und Politiker in Erscheinung, lediglich eine Frau wirkte mit. Sie arbeitete als Sekretärin des Kommissars und kam jeden Morgen zu spät zum Dienst, so daß ihr Chef, der ganz in seiner Arbeit aufging und deshalb unverheiratet war, sich sein Frühstück selbst zubereiten mußte. Den Helden im Film spielte natürlich , der noch weitere Morde beging, ohne sich dabei von der Stelle zu rühren, er handelte nur maschinell und war deshalb mit den üblichen Polizeimethoden nicht zu fassen. Es gab keine Verfolgungsjagden, keine Schießereien, keine dunklen Orte, keine interessanten Verhöre und nicht einmal die dramatische Festnahme des Mörders. Auf dem Höhepunkt der Handlung hockte der Kriminalbeamte wie festgewachsen vor dem Automaten und führte Selbstgespräche. «Kannst du erkennen, was er sieht?» fragte Kess gähnend. «Er liest das Geständnis.» So sehr der Kommissar sich jedoch bemühte, seine Augen aufzureißen und aufgeregt rollen zu lassen, als sei ihm auf dem Bildschirm etwas Grauenvolles begegnet, blieb es an der entscheidenden Stelle, wo er den Mörder , doch einfach nur langweilig. «Die schwarze Schlange hätte mitspielen müssen», sagte Kess. «Mit Sex wär der Krimi auch nicht spannender geworden.» Im halbdunklen Kinosaal flimmerte zu hämmernder Techno-Musik das Filmfinale über die Leinwand, Tono klappte seinen Sitz zurück und glaubte nicht richtig zu hören, 35
als Kess ihn plötzlich mit der Frage überfiel, ob er es schon gemacht habe. «Was?» «Sex!» sagte sie lässig, während das Licht aufleuchtete und die Zuschauer sich langsam zum Gang hin in Bewegung setzten. Ich bin doch kein Playboy bei RTL-Plus! dachte Tono, stellte sich taub und nutzte das Gedränge, um sich von Kess zu entfernen. Hatte sie es denn schon gemacht? Ein paar Meter weiter fragte er sich, mit wem sie es gemacht haben könnte... Im Erdgeschoß am Getränkestand wartete er auf sie und war nicht abgeneigt, das brennende Thema wiederaufzunehmen, aber Kess kam nicht mehr darauf zurück. Sie tranken noch einen Glühwein gegen den nassen Herbst, Tono sah die Modedamen auf dem spiegelnden Asphalt vorbeistökkeln und sah Kess' Augen strahlend grün im Neonlicht der Kinoreklame. Auf der Rückfahrt in die Nordstadt gerieten sie in den Feierabendverkehr, der U-Bahn-Wagen war überfüllt mit Werktätigen, und sie mußten sich mit einem schmalen Stehplatz bei der Tür begnügen, der an jeder Station mehr und mehr eingeschränkt wurde. Am Ostbahnhof leerte sich der Zug, aber bereits zwei Haltestellen später begann das Gewühle von neuem. «Paß auf, wir kriegen Besuch!» sagte Tono warnend. Er hatte Mesut erspäht, der mit seiner Clique im Strom der Fahrgäste genau auf sie zutrieb. Kurz entschlossen schob er Kess gegen die Trennwand und stellte sich schützend vor sie hin, seine Arme rechts und links neben ihrem Körper, o Gott, es war fast eine Umarmung! Die vier Türken rückten unaufhaltsam näher, das Gedränge in der Nische nahm zu... Ich Dummkopf! dachte Tono, dem plötzlich klar wurde, daß er Kess mit seinem Rücken ja gar 36
nicht schützte. . . im Gegenteil! Und zu alledem prangte an der Wand direkt vor seinen Augen ein verwischter Rest von Freds Hakenkreuzen. «Sie werden uns angreifen», wisperte Kess. «Warum?» «Wir ha'm uns neulich mit ihnen geschlagen.» «Warum?» «O Baby, was stellst du für alberne Fragen!» Darauf konnte Tono nicht mehr antworten, weil sie bereits hinter ihm waren. Mesut krallte seine Finger in Kess' blonde Stoppeln und riß sie so heftig an den Haaren, daß sie laut aufschrie. In ihrer Wut teilte sie nach allen Seiten Tritte aus, die in dem engen Raum auch Unbeteiligte trafen. Tono schnellte herum, stürzte sich auf Mesut, der von seinen Freunden tatkräftig unterstützt wurde... ein Hagel von Hieben prasselte auf die beiden herunter... gegen vier konnten sie nicht gewinnen. Als die Bahn in die nächste Station einfuhr, war der Kampf entschieden. Die Tür gab zischend den Ausgang frei. «Polizei! Polizei!» riefen einige empörte Stimmen, im selben Moment schossen die Angreifer hinaus und wurden von der Menschenmenge auf dem Bahnsteig verschluckt. Tono und Kess rafften sich auf. «Halt, stehenbleiben!» befahl ihnen ein Mann, wollte sie festhalten, doch sie wichen ihm aus, humpelten zuerst langsam, dann immer schneller davon. Auf der Hauptstraße, vor dem nächsten Kiosk, sagte Kess: «Laß uns Bratwürste kaufen!» Auf diesen Genuß mußte Tono leider verzichten. Er tastete mit der Zunge vorsichtig über die Bruchstücke, die von seinen Schneidezähnen noch übriggeblieben waren, und schluckte sein Blut, das aus der offenen Wunde in die Mundhöhle tropfte. «Diesen Überfall werden sie uns bü37
ßen!» versicherte Kess mit Nachdruck und überredete Tono zu einem Besuch im Fast-Food-Restaurant, wo er sich ein Wasser bestellen könne. «Das hilft gegen den Schmerz.» Sie selbst kaufte sich einen braun-rot-gelb gestreiften Hamburger und biß gleich hungrig hinein. Ihre Zähne waren unversehrt geblieben, ohne Verletzungen war aber auch sie nicht davongekommen. Unter ihrem rechten Auge sammelte sich in einer häßlichen Schwellung ein Bluterguß, außerdem hatte sie Mesut einen Faustschlag auf die Nase versetzt und sich dabei ihre Knöchel geprellt. «Sind die schon lange mit den verfeindet?» lispelte Tono. «Schon immer.» «Wie hat es angefangen?» «Keine Ahnung. . . Es ging einfach los!» «Aber es muß doch einen Grund gegeben haben?» «Einen Grund, einen Grund!» sagte Kess ungeduldig. «Ausgeschlagene Zähne... brauchst du noch mehr Gründe?!» «Ja, das war heute, aber was war früher?» «Türken sind Türken.»
Baseball-Bernd hatte richtig prophezeit: In Politik wollte Andreas Wedemeier heute mit seinen Schülerinnen und Schülern über nationalsozialistische Symbole diskutieren. «Das haben wir doch schon zehnmal durchgekaut», beschwerte sich der Klassensprecher Uwe Cornelius im Auftrag seiner Wähler. Bernd zog unter dem Tisch eine Tüte Chips und eine Dose Coca-Cola hervor. «Dürfen wir essen?» Auch damit hatten sie Wedemeier schon provoziert, aber an diesem Vormittag zeigte sich der Lehrer gelassen. Er faßte mit an, als die
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Tische zur Seite geräumt wurden, und setzte sich mit den Mädchen und Jungen in einen Kreis. Wedemeier sah wie immer blaß aus, aber nicht unattraktiv schlank, sportlich, kräftiges dunkles Haar und Augen mit Lachfältchen. Im Unterricht gab er sich meistens ruhig und bestimmt, manchmal konnte er auch seinen Ärger herauslassen und losbrüllen - das machte ihn Tono eher sympathisch. Die Mehrheit der Schüler akzeptierte ihn in seiner Art und ließ ihm deshalb auch unter Murren und Knurren seine durchgehen. «Was haben wir damit zu tun?!» meckerte Bernd, als Wedemeier berichtete, daß Jugendliche im Nordstadtviertel sich mit faschistischen Zeichen dekorierten, daß in den kleinen Läden, die von Ausländern geführt wurden, Scheiben zu Bruch gingen, daß in letzter Zeit die Wände in den Schultoiletten mit antisemitischen Sprüchen vollgeschmiert würden. Anschließend reichte der Lehrer Fotos von den U-Bahn-Graffiti herum. Als Fotoreporter der Stadtteilzeitung hatte er insbesondere Freds Hakenkreuze in Schwarzweiß aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen. «Wollen Sie uns die Schuld geben?» «Von Schuld ist hier nicht die Rede... Wir sprechen über die Zeichen!» «Was geheim ist, geht niemand was an.» «Okay, gehn wir davon aus, die Graffiti sind Codes... aber die Hakenkreuze doch nicht! Was haben die darin zu suchen?» «Es ist alles drin, auch das, was manchen Leuten nicht paßt.» «Genau!» rief Bernd. «Und weil's ihnen nicht paßt, erheben sie 'n großes Geschrei über die heutige Jugend. . . Sie stellen sich an, als wären wir die alten Nazis!» «Geht dieser Vorwurf gegen mich?» fragte Wedemeier. «Hab ich euch jemals so was unterstellt?» 39
«Wir wissen ja nicht, wie Sie mit anderen über uns reden», brummte Bernd. Tono fixierte die Fotos und fühlte sich nicht in der Lage, die Hakenkreuze zu deuten, er war ja nicht einmal imstande, seine eigenen -Worte auf den Fensterscheiben der U-Bahn zu erklären. Nach längerem Schweigen sagte Uwe: «Wir haben die Zeit doch gar nicht miterlebt... Warum fragen Sie nicht Ihre Eltern?» «Vor zwanzig Jahren hab ich's mal versucht.» «Oder Ihre Großeltern», fügte Achim hinzu. «Die haben doch alles genau gekannt: Hakenkreuze, , Judensterne, Konzentrationslager... den Faschismus.» Tono legte eine Hand über seine Oberlippe und nuschelte durch die Zahnlücke : «Was haben Ihre Eltern damals geantwortet?» «Nicht viel», sagte Wedemeier. «Deshalb hab ich angefangen, mir meine Fragen selbst zu stellen.» «Und jetzt fragen Sie uns», sagte Bernd. «O nein, mein Lieber... ich frage nicht nur, ich gebe euch auch Informationen.» «Immer nur Bücher... immer nur Kopfarbeit!» «Das stimmt nicht!» widersprach ihm der Lehrer, sammelte die Fotografien ein und legte sie auf dem Fußboden zu einem Schaubild zusammen. «Dies hier ist keine Theorie!» Er öffnete seine Aktentasche. «Presseausschnitte hab ich euch auch mitgebracht » «Wie 'n Weihnachtsmann», tuschelte Bernd. Wann wollte Wedemeier endlich begreifen, daß die Klasse seinen Aufklärungsunterricht satt hatte? Auch Tono legte keinen Wert darauf, von seinem Politiklehrer über Hakenkreuze ausgeforscht zu werden, er verkroch sich tiefer hinter dem breiten Rücken von Bernd, um sich Wede40
meiers prüfenden Blicken zu entziehen. Je konkreter die Schülerinnen und Schüler nach ihrer Meinung zu den Abbildungen befragt wurden, desto passiver und lahmer antworteten sie, bis zur Erleichterung aller das Glockenzeichen ertönte. Tono war unter den ersten an der Tür, aber Wedemeier handelte schneller. «Laß uns ins Sprechzimmer gehen, ich brauche noch einige Auskünfte von dir.» Achim stelzte breitbeinig an Tono vorbei, ein hämisches Grinsen im Gesicht, als der Lehrer leise hinzufügte: «Deine Mutter hat mich angerufen.» Das Sprechzimmer war einer der Orte, wo bisweilen die Tragödien zum Ausdruck kommen, die sich im Schulleben mancher Mädchen und Jungen ereignen. Solche Räume sind meist schlicht, wenn nicht sogar karg eingerichtet, vielleicht deshalb, um Gefühlsausbrüche einzudämmen. Wedemeier schlug vor, daß sie zum Gespräch Tee trinken und ihre Brote verzehren könnten. Stumm schüttelte Tono den Kopf. Er war zwar hierher beordert worden, aber niemand würde ihn veranlassen zu essen, wenn er nicht essen wollte, oder zu sprechen, wenn er nicht sprechen wollte. Er lenkte seinen Blick zum Fenster und konzentrierte sich auf die stürmischen Wolkenbewegungen am Herbsthimmel. «Deine Mutter macht sich Sorgen. Wegen der Zeugnisse konnte ich sie beruhigen. Deine Leistungen sind nicht schlecht!» Das ist alles, was dich interessiert! dachte Tono. «Sie hat mich nicht wegen der Noten angerufen!» Jetzt heult sie auch noch den Lehrern was vor! «Hast du Ärger zu Hause ?» Du kannst fragen, soviel du willst... Ich laß mich von dir nicht verhören!
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«Tono Baginski... Wenn ich mich nicht irre, haben wir uns von Zeit zu Zeit ganz gut verstanden!» «Ja.» «Von mir aus könnte es so bleiben.» Endlich senkte Tono den Kopf und wandte sich Wedemeier zu. «Von mir aus auch.» «Also gut», sagte der Lehrer nachdenklich. «Ich werde hier frühstücken... Wenn du willst, kannst du abzischen!» Tono nickte und stiefelte schwerfällig über den knarrenden Holzfußboden. Bevor er das Zimmer verließ, schaute er noch einmal zum Tisch zurück, zur Thermoskanne und zu der Blechdose, aus der eine Käseschnitte herausragte. Eigentlich war er doch hungrig, er war sogar süchtig nach einer der leckeren Tafeln Nußschokolade, die der Hausmeister in der Pausenhalle zum Billigpreis anbot. Wegen seiner Kieferverletzung mußte er auf solche Genüsse einstweilen aber verzichten. Also schaute er nur neidisch zu, wie die anderen schlemmten, und verbrachte diese Pause, die nächste und alle folgenden damit, sich über Anke aufzuregen, die hinter seinem Rücken in der Schule anrief, um sich bei Wedemeier über ihn zu beklagen. Natürlich gefiel es ihr nicht, daß er sich anders kleidete, daß er anders dachte und fühlte, als sie es sich wünschte, aber weder von seiner Mutter noch von seinem Lehrer würde er sich das bißchen Freiheit in seinem Leben wieder wegnehmen lassen, das er sich als endlich verschafft hatte. Nachmittags sollten beim Zahnarzt zwei neue Zähne für Tono bereitliegen. Die Wartezeit bis zum Termin vertrödelte er im Einkaufszentrum der Fußgängerzone, wo er sich in einer Cafeteria an der Bar mit zwei Milchbrötchen und einem Becher Kakao selbst bediente. Von seinem Anteil aus dem Verkauf des Lieferwagens waren noch ein paar Scheine übriggeblieben, die 42
er bei solchen Gelegenheiten verprassen konnte. Er tauchte das Gebäck in die sahnige Flüssigkeit und trennte mit den Lippen Bissen für Bissen mühelos ab, dazu girrte aus dem Lautsprecher eine weibliche Stimme, begleitet von schmelzenden Gitarrenklängen: «Genießen Sie unseren neuen an- und aufregenden Kaffee !» Während Tono aß und trank, prägten sich Text und Melodie durch die dauernden Wiederholungen derart in seinem Kopf ein, daß er den Werbespot schließlich wie ein Automat nachplapperte. «Ha'm sie dich hier als Animateur eingestellt?» fragte Assel, der seine triefend nasse Jacke über den nächsten Hocker warf und sich in einer Pappschale Frikadellen servierte. «Was gibt es?» «Na, was wohl?. . . Es geht los!» «Gegen die <Snakes>?» «Du sagst es!» «Aber nicht heute!» Nicht am Tag seiner neuen Zähne! Assel riß einen Hackkloß in zwei Teile, tunkte zuerst eine Hälfte, dann die andere in den Senf, kaute, grinste, graue Augen, braun getupft, und fragte: «Willst du lieber zu Hause bei deiner Mama bleiben, Kleiner?» «Halt's Maul! Ich frag dich ja auch nicht, warum du an der Schürze von deiner Omi hängst!» Damit traf er mitten hinein in Assels wunden Punkt, den jeder kannte und gelegentlich benutzte, um Assel zu verspotten, der bei seiner Großmutter wohnte und sich von ihr unterstützen lassen mußte. Er hatte sich zwar gegen die alte Frau aufgelehnt und sie völlig aus der Fassung gebracht, als er von heute auf morgen seine Schulausbildung abbrach, aber mit dieser lächerlichen Revolte waren bei den keine Lorbeeren zu ernten. Die grauen Augen schlossen sich bis auf einen schmalen 43
Schlitz, öffneten sich wieder, tückisch: «Spiel bloß nicht den wilden Willie, Baginski!» Tono amüsierte sich über das Imponiergehabe des Gernegroß, der sich bei Fred anbiederte und darauf hoffte, er könne durch seine Vertrauensstellung beim berühmt werden. «Um sechs im !» sagte er großspurig. «Und bring 'ne Waffe mit!» «Glaubst du, ich hab zu Hause 'ne Schießeisensammlung?» Assel ließ seine Schale wie eine fliegende Untertasse in die Einkaufspassage segeln, griff nach der feuchten Jacke, wollte sich entfernen, dann besann er sich, fischte einen kleinen Gegenstand aus der Innentasche und versteckte ihn in seiner Faust. «Dreimal darfst du raten!» Tono zuckte die Achseln. « Rate!» «'n MoIIie?»* «Fällt dir nichts Schärferes ein? Schließlich lernst du bei deinem Wedemeier doch Weltpolitik!» «Ganz wie du willst», sagte Tono, der Assels Wichtigtuerei nicht mehr ertragen konnte. «Dann also 'ne Kalaschnikow!» «Was Kommunistisches... wie altmodisch!» antwortete Assel pikiert und lüftete sein Geheimnis. Die Waffe war klein und handlich, ein achtzackiger Metallstern mit scharfen Spitzen und Kanten. «Die Technik mußt du natürlich trainieren, aber wenn du perfekt bist, kannst du mit diesem Ding jeden verdammten Kanaken im Dreieck springen lassen.» «Wo besorgt ihr euch die Sterne?» «Na, na», sagte Assel vorwurfsvoll. «Du willst mich doch * Mollie = Molotowcocktail 44
nicht aushorchen! 'n kennt eben seine Einkaufsquellen!» «Die er nicht jedem Beliebigen verrät», ergänzte Tono. «Ein helles Köpfchen... Mach nur weiter so», lobte ihn Assel, bevor er sich endgültig verabschiedete.
Mit zwei neuen Zähnen im Mund verließ Tono gut aufgelegt die Praxis und begab sich unverzüglich in die nächste Confiserie, wo er nun wieder aktiv an der ganzen Herrlichkeit des süßen Lebens teilnehmen durfte, die derzeit in Form von himmlischen Heerscharen und anderen weihnachtlichen Kultfiguren in den Regalen aufmarschierte. Viele Kunden mit Einkaufskörben drängten sich durch die schmalen Gänge und verursachten einen Stau vor dem Tisch mit Sonderangeboten, so daß Tono sich weder voran- noch zurückbewegen konnte und gezwungen war, sich an dümmlich grinsenden Weihnachtsmännern zu ergötzen oder durch die Glaswände hindurch an den Damenköpfen im Salon des Friseurs. Einer davon, dessen blonde Strähnen auf Wickler gerollt wurden, gehörte Anke Baginski, die sich als Berufstätige nur an den langen Donnerstagen frisieren lassen konnte. Warum hatte er sich nicht einfach im Supermarkt eine billige Tafel Schokolade gekauft? Warum mußte er sich diesen Laden aussuchen, den er noch aus der Zeit kannte, als er seine Mutter zum Friseur begleitet hatte? Sie ließ sich Dauerwellen legen, und er leistete ihr Gesellschaft, weil sie ihm Geld für Süßigkeiten zusteckte, während ihr Haar unter der Haube trocknete. Am Ende der Sitzung wollte sie jedesmal von ihm wissen, ob sie schön genug geworden sei, was er ohne zu zögern bejahte. Jetzt trug sie unter den gerollten Locken Sorgenfalten 45
auf der Stirn, und die Fältchen um ihre Augen kamen nicht vom Lachen. Manchmal fragte sich Tono, ob Anke durch KarlHeinz ins Unglück geraten sein könnte, der nichts anderes im Sinn hatte als seine Bequemlichkeit und sich nicht darum kümmerte, was sie sich wünschte. Er zwängte sich zwischen zwei Frauen hindurch hinter einen mannshohen Stoff-Nikolaus, damit Anke nicht auf ihn aufmerksam wurde, falls sie statt in den Spiegel durch die Scheiben schaute. Inzwischen entspannte sich der Stau im Laden, Tono rückte eilig vor bis an die Kasse und erklärte der Angestellten, er habe nicht gefunden, was er suche. Bis 18 Uhr blieb ihm noch eine halbe Stunde, die er vor den Schaufenstern der Modegeschäfte vertrödelte, um sein Gesicht zu begutachten, seine Kurzhaarfrisur und seine Figur in der neuen Jacke. Er war zwar nicht so hoch aufgeschossen wie Fred, aber größer als Assel, Panzer und Kess, und fühlte sich im Kreis der Gang für einen Fight gegen die <Snakes> auch unbewaffnet gerüstet. Dennoch machte er einen Abstecher in den 5. Stock des Einkaufszentrums, wo ein Waffengeschäft eröffnet worden war. Eine auffällige Alarmanlage sicherte die Auslage gegen Einbrecher. Tono kannte Gewehre, Pistolen als Spielzeug und aus Filmen, er hatte sich auch manchmal mit den Revolverhelden in den Krimis identifiziert, aber Prügeleien in der Schule oder Straßenkämpfe im Viertel, an denen er teilgenommen hatte, waren bisher nur mit Körperkräften ausgetragen worden. Hier im Schaufenster lag nun alles in greifbarer Nähe vor ihm, Werkzeuge, mit denen Menschen verletzt und sogar getötet werden konnten. . «Sie sind nicht gekommen», flüsterte Panzer enttäuscht, der in Turnschuhen über das wildwuchernde Unkraut sprintete. Tono hob warnend die Hand, seine überreizten Nerven signalisierten ihm seltsame Geräusche, das leise Klack-Klack rollender Steinchen, hin und wieder ein Hauchen, ein Fauchen... Einbildung oder Vorboten drohender Gefahr? Plötzlich packte er Panzer beim Arm, zwang ihn stehenzubleiben, zu lauschen, während Fred, Assel und Kess weiter zügig voranschritten. Sie näherten sich einem Container, dessen Umrisse in den Nebelschwaden mal auftauchten, mal verschwammen. Hier erstreckte sich das Territorium der , hier liefen sie den <Snakes> geradewegs in die Arme.
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Tono fühlte sein Herz wie einen Hammer in der Brust, als er die vier sportlichen Gestalten wiedererkannte, die unvermittelt aus dem Schutz der Dunkelheit hervorbrachen und sich der gegnerischen Bande lässig in den Weg stellten. «NIGGER ARSCHFICKER - KNOBLAUCHFRESSER - NAZISCHWEINE - SCHEISSKANAKEN - FASCHISTEN!» Unwillkürlich faßte Tono in seine Tasche, als er sah, wie Fred zum ersten Schlag ausholte, wie der schwere Körper den Gegner rammte und beide sich ineinander verkeilten. Panzer schnellte los, stürzte sich ins Getümmel, Tono folgte ihm... einer für alle, alle für einen... wie in einem Rausch! Bereits nach wenigen Minuten sprudelten kleine Rinnsale warmen Bluts über Tonos Wangen, der nächste Kinnhaken würde vielleicht seine Zähne treffen. Die Körperkräfte - fünf gegen vier <Snakes> - hielten einander die Waage, aber das Eisenstück, mit dem Tono bewaffnet war, erlaubte es ihm, wenn er wollte, brutaler zuzuschlagen. Die <Snakes> kämpften zunächst auch ohne Schlaginstrumente erfolgreich, Kess konnte ihren Angreifer, der sie mit eisernem Griff umklammerte, nur durch einen gezielten Handkantenschlag abwehren! Assel wurde von Mesut überwältigt und gegen den Container geschleudert, schoß aber - ping, pong - sofort wieder zurück und hielt sein Schnappmesser in der Hand - blitzschnell sprang die scharfe Klinge heraus, stach zu und bohrte sich tief in Mesuts Schulter - der laute Schmerzensschrei gab das Startzeichen für härtere Kampfmethoden... Panzer und Fred trieben ihre Gegner mit Keule und Schlagring über die Schienen... Das ist keine Prügelei mehr, das ist Krieg! dachte Tono, der sich dabei ertappte, daß er genauso wie alle anderen seine Waffe benutzte, nur noch darauf bedacht zu verletzen, um nicht verletzt zu werden. Er stürzte, raffte sich wieder auf, ein
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Ärmel seiner Jacke wurde im Zweikampf zerfetzt, im Gegenzug riß er dem Bruder von Mesut etliche Haarbüschel aus. Am Ende des Gefechts, als die <Snakes> schon das Weite suchten, fand Tono sich ein paar Meter abseits vom Geschehen hinter Mesut, der einen Schal gegen seine Wunde preßte und sich langsam entfernte. «Sieg heil! Türken raus!» grölte Fred. «Sieg heil! Türken raus!» brüllte seine Mannschaft im Chor. Mesut blieb stehen, blickte sich zu Tono um. Sieg heil! Tono bewegte seine Lippen, aber den Schlachtruf konnte er nicht herausbringen. Zu Hause, im Abendprogramm, heulten Polizeisirenen, bellten Maschinengewehre, explodierten Granaten, splitterte Glas, die Gelegenheit war günstig, sich an der Tür vorbeizuschleichen und ins Bad zu entwischen. Aber Anke hatte ihn doch gehört, fuhr wie der Blitz in den Flur - ihr Sohn in zerrissener, blutbeschmierter Jacke, Platzwunden im Gesicht -, fing sofort entsetzlich an zu schreien, kreischte mit einer hohen, fremden Stimme, schrie Karl-Heinz zu Hilfe: «Tu doch etwas! Ich kann diesen Terror nicht mehr ertragen!» Der bullige Kraftfahrer, der wegen ein bißchen Ruhe, Liebe und Geborgenheit in ihre Wohnung kam und sich noch nie in ihre Kindererziehung eingemischt hatte, baute sich wie ein Schrank vor Tono auf, unschlüssig, angestachelt von der schluchzenden Mutter. Auf dem Bildschirm küßte Don Johnson seine Filmpartnerin zu den wildbewegten Rhythmen von , bei Baginskis bestrafte Karl-Heinz den Sprößling seiner Freundin mit zwei derben Ohrfeigen. «Hör sofort auf! Du siehst doch, daß er verletzt ist!» «Genau», sagte Karl-Heinz. «Das ist die Belohnung, die dieser Bursche sich längst verdient hat!»
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In der Nacht auf den eisigen Tag der Gewalt träumte sich Tono in eine Geisterstadt, in einen Irrgarten verwinkelter Straßen und Gassen. Sein Auftrag lautete, sich in diesem Labyrinth auf den Weg zu machen und so schnell wie möglich sein Ziel zu erreichen, aber jede Richtung, die er wählte, führte ihn ins Nirgendwo, in eine unendliche Kreisbewegung ohne Anfang und Ende. Der Traum wurde um Mitternacht jäh unterbrochen, als Anke zu ihm ins Zimmer trat, sich auf die Kante seiner Couch hockte und mit der Hand zart über seine Wangen strich. «Es tut mir leid.» Tono stieß sie zurück, hellwach, Haß im Herzen, und erklärte klipp und klar: «Wenn er mich noch mal anfaßt, schlag ich ihn tot!» Ein langweiliger Oktobertag im Warteraum und im Behandlungszimmer des Arztes, der Tonos Wunden versorgte. Danach lohnte es nicht mehr, zur Schule zu gehen, also schob er los und trottete schlecht gelaunt durch das sattsam bekannte Einkaufszentrum. Das italienische Eiscafe im 1. Stock lockte seine Gäste auf einen grünen Plastikrasen mit Kästen voller künstlicher Tulpen und Narzissen, zwischen denen man sich niederlassen und natürlich Eis konsumieren sollte. Neuerdings fand sich hier auch Theo Albers ein, der im Herbst seine Parkbank gern mit einem Platz in der südlichen Idylle vertauschte, wo er ebenso erbittert wie draußen im Freien seine politischen Streitgespräche führte. Heute saß er ganz allein im Grünen mit Aussicht auf die Rolltreppe, wo soeben Tono nach oben fuhr. «Komm doch mal her, mein Junge!» Ich bin nicht dein Junge und verzichte auf deine Scheißfreundlichkeiten! «Nur fünf Minuten!» Tono sprang ab und lehnte sich gegen einen Tonkrug mit 53
Rosen aus rotem Stoff, die einen süßlichen Bonbongeruch in die stickige Heizungsluft verströmten. «Du siehst aus, als kämst du aus 'm Krieg... Was ist passiert?» «Nichts.» «Bin ich vielleicht blind? Ich kenne doch deine feinen Kumpane!» «Wen kennst du?» fragte Tono gereizt. Der alte Mann sollte sich gefälligst aus Angelegenheiten, die ihn nichts angingen, heraushalten. «Dieser Alfred Paschke ist Mitglied in 'ner Nazipartei», stellte Theo sachlich fest. «Naziparteien gibt's nicht.» «Dann eben in 'ner Faschistenpartei.» «Du bist wohl übergeschnappt!» «Sie haben ihre Zentrale in der Kagelmannstraße 16.» Mit flinker Hand köpfte Tono eine rote Rose. «Wenn du mir nicht glaubst... Besuch sie doch mal!» schlug Theo vor. «Du brauchst nur zu schrein, und schon nehmen sie dich auf.» Tono preßte seine Lippen zusammen: Mach mich nicht an, alter Mann, ich kann immer noch selbst entscheiden, was ich zu tun habe. «Paschke wohnt in der Weststadt.» «Soll er doch!» «Vielleicht wird er mal Politiker, dann darfst du ihn wählen.» «Jaja», sagte Tono patzig. «So einer wärst du wohl selbst gern geworden, aber jetzt bist du 'n Krüppel und ärgerst dich, daß andere sich in der Politik besser auskennen als du... Deine Show ist doch längst gestorben. . . Du kannst abtreten!» Bevor Theo auf diese Beleidigungen antworten konnte, hatte Tono 54
sich mit einer geschickten Wende bereits abgesetzt und strebte auf den rollenden Stufen scheinbar unaufhaltsam in höhere Gefilde.
Tono wußte zwar, daß Fred in der Weststadt wohnte, darüber hinaus aber wußte er gar nichts. Privates war tabu bei den . Sollte Theo etwa besser informiert sein als er? Dieser unangenehme Gedanke wollte ihn nicht loslassen, er bohrte sich wie ein Stachel in seinen Kopf, bis Tono die Ungewißheit nicht länger aushielt und bei nächster Gelegenheit ins Erdgeschoß zurückrollte. Zweifellos war Theo ein Trottel, der Fred verleumdete, weil ihm dessen Meinung nicht paßte, aber heute hatte er Fehler gemacht, er hatte Namen und Orte genannt... Tono würde seine Behauptungen nachprüfen und beweisen, daß sein Gerede von der Faschistenpartei dummes Geschwätz war. Die Kagelmannstraße lag etwa eine halbe Fahrstunde entfernt in der Nähe der Bushaltestelle. Sie zog sich in Windungen um einen Park herum, war zur einen Hälfte mit Wohnblocks bebaut, zur anderen mit Einfamilienhäusern im Reihenhausstil. Als Tono an den Vorgärten entlangschlenderte und zu den Fenstern hinüberblickte, deren Scheiben mit dichten Regenschleiern bedeckt waren, bereute er plötzlich seinen übereilten Entschluß. Wie dumm von ihm, sich in diese Idylle hetzen zu lassen, wo nicht mal ein bissiger Hund sich blicken ließ! Am liebsten wäre er umgekehrt, aber die Adresse, die Theo ihm genannt hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn, und so machte er sich mit zwiespältigen Gefühlen weiter auf die Suche. Der schmale Gartenweg zum Haus Nummer 16 war ordentlich geharkt, kein welkes Blatt lag auf dem kurzgeschorenen Rasen, auf dem Emailleschild am Eingang stand , na also! Ein ganz normaler Name, keine Zentrale, keine Partei, Theo hatte ihm einen Bären aufgebunden - es war an der Zeit, ihm sein Lügenmaul zu stopfen! Erleichtert drehte er eine halbe Runde ums Haus und gelangte auf der Rückseite vor eine Treppe, die zum Keller hinunterführte. Wozu da runtergehen? Ich bin doch kein Kontrolleur von Abstellräumen! dachte Tono. Ehe er langsam den Rückweg antrat, erfaßte er mit einem letzten flüchtigen Blick noch einen Briefkasten, der an der Kellertür hing, und aus der Klappe ragte ein Flugblatt. Wäre er nicht so wütend auf Theo gewesen, hätte er sich vielleicht die Mühe gemacht, es zu lesen. In der Fernsprechzelle neben der Busstation suchte er mit zitternden Händen im Telefonbuch nach Freds Nummer. «Hab ich dich etwa aufgefordert, mich anzurufen?!» bellte Fred ihn an. «Es ist dringend... wegen Theo Albers.» «Total unwichtig!» «Ich war in der Kagelmannstraße.» «Wo warst du??!!» schrie Fred, er hustete, schwieg eine Weile, dann fragte er lässig: «Und?» «Theo hat mich angelogen... In Nummer 16 gibt's keine Faschistenpartei.» Die nächsten Worte klangen drohend: «Du rennst also los, wenn dieser Kerl seine Hetzparolen verbreitet! Bist du vielleicht sein Spion?» «Wenn ich einer wär, würd ich dich nicht anrufen», sagte Tono beleidigt. «Jetzt reicht es mir!» brüllte Fred. «Dieses Schwein kann sich auf was gefaßt machen!» Auf der Busfahrt fingen Tonos Wunden wieder an zu schmerzen. Heute hatte er sich etwas gegen Fred geleistet, das
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nicht wiedergutzumachen war. Was würden die anderen dazu sagen? Würden sie ihn ausschließen? Drei Tage lang wartete Tono in jeder großen Pause darauf, daß Assel ihm eine Nachricht überbrachte, dreimal erschien Kess nicht in der Raucherecke, sie schien ihn zu meiden; einzig Panzer grinste ihm zu, als er im Taumel wilder Rhythmen auf dem Fahrrad an ihm vorbeiraste. Am vierten Tag war Theo Albers in der Morgenzeitung abgebildet. seien in seine Einzimmerwohnung eingedrungen, hätten das Mobiliar zertrümmert und Theo den Arm gebrochen. Tono entdeckte den Bericht in der Küche beim Frühstück, auf dem Weg zur Schule kaufte er sich am Zeitungsstand ein eigenes Exemplar und hockte sich damit auf Theos Bank, las und machte sich Sorgen. Der streitsüchtige Alte sah auf dem Foto grau und verfallen aus, so alt war er doch noch gar nicht! «Hoffentlich kommt Theo bald wieder, ohne ihn fehlt mir hier was!» rief die Zeitungsfrau. «Er ist doch nicht im Krankenhaus?» «Wo denn sonst? Es war 'n schrecklicher Schock für ihn, außerdem hat er niemanden, der sich um ihn kümmert - und der Knochenbruch!» Aber mehr wollte Tono gar nicht erfahren; er flüchtete Hals über Kopf in die Schule und erschien so pünktlich wie lange nicht mehr zur ersten Stunde. Politik! Wedemeier verhielt sich heute anders als sonst. Er kam viel zu spät ins Klassenzimmer, warf seine Bücher auf den Tisch, so daß eines über die Kante rutschte und hart auf den Boden schlug, stand sekundenlang im Raum ohne ein . Achim ging nach vorn, bückte sich, legte das Buch wortlos wieder an seinen Platz und zog sich hastig zurück. Dann fing der Lehrer an zu reden, nicht wie Wedemeier, sondern wie 57
ein Bundestagsabgeordneter: langweilte die Klasse eine halbe Stunde lang mit einem Vortrag über die Erhöhung der Mehrwertsteuer, ohne eine einzige Zwischenfrage zuzulassen; zum Schluß schrieb er die Hausaufgaben an die Tafel und war im Nu aus der Tür. «Was ist denn mit dem los?» fragte Baseball-Bernd. Wedemeier weiß es! dachte Tono. Natürlich weiß er es! Auch mit Tono stimmte etwas nicht, er wurde heute zum Musterschüler in Mathe, Bio und Englisch, aber alle seine Bemühungen um die Wissenschaften nützten ihm nichts, weil ihm aus jedem Heft, das er aufschlug, und jedem Buch das Bild von Theo Albers entgegenstierte. Als er kurz vor Schulschluß in seiner heillosen Bedrängnis fast verzweifelte, begegnete er Kess auf der Treppe zum Hof, sie überbrachte ihm eine Einladung zu Panzer, der sich während der Kur seiner Mutter und einer Montagefahrt des Stiefvaters seine eigenen Gäste in die Wohnung holen wollte. Kess wirkte so unbefangen, so gleichmütig, daß Tono neue Hoffnung schöpfte. Vielleicht waren seine Vermutungen unbegründet und die unschuldig am Überfall auf Theo... der streitsüchtige Alte hatte sicher noch andere Feinde. «Können wir uns mal treffen?» fragte er. «Ja doch, morgen! Kanalstraße 41.» «Nicht mit den anderen... nur wir beide, du und ich... heute?» «Meinetwegen... nach der Schule, .» Sie fixierte ihn kühl. «Hast du Schwierigkeiten?» Sie hatte wohl nie welche! Im Schülercafe suchte Tono einen Tisch, wo sie ungestört sitzen und reden konnten, aber Kess war schon da und winkte ihn in den letzten Winkel vor der Tür zu den Toiletten. Sie
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schleuderte ihre Tasche unter die Bank und bestellte Zitrone mit Eis. «Für mich dasselbe», sagte Tono. Ihr bleiches Gesicht fiel ihm auf, die dunklen Schatten unter ihren Augen. . . Er wußte so wenig von ihr und sie fast gar nichts von ihm. Wie sollte er ihr das Dilemma beichten, in das er geraten war? Stumm breitete er die Zeitung vor ihr aus, mit dem Foto von Theo Albers. Sie betrachtete es, nahm einen tiefen Zug aus ihrem Glas, dann sah sie an ihm vorbei ins Leere. «Der Dummkopf hat selbst schuld, er legt sich mit allen an... Jemand ist ausgeflippt und hat ihm 'n Denkzettel verpaßt.» «Aber wer?» «Interessiert mich nicht.» Sie schob die Zeitung beiseite und hob den Kopf. «Dein Schmuck!» rief er enttäuscht. « Hast du ihn etwa verloren?» «Wen kümmert das schon!» «Er paßte sehr gut zu dir.» Ein Schimmer von Grün blinkte in ihren Augen. «Wenn er dir fehlt, kannst du mir ja 'n neuen besorgen.» «Im Ernst?» «'n Aquamarin ist nicht billig.» «Aber schön», sagte Tono. Die Getränke gingen zur Neige. «Nun rück mal raus mit der Sensation!» forderte Kess ihn auf; sie machte ihm den Anfang wirklich schwer. «Kennst du Fred schon lange?» platzte er heraus und hätte sich im nächsten Moment am liebsten die Zunge abgebissen. «Was soll das heißen?!» «Nichts Besonderes», stotterte er. «Nur so allgemein... vielleicht kennst du seine Eltern, oder du weißt, wo er wohnt, was er macht.» 59
«Er mag keine Tratschereien!» Eine kleine Pause, dann sagte Tono zögernd: «Trotzdem verbreiten die Leute Gerüchte über ihn.» «Welche Leute?» «Theo Albers zum Beispiel.» «Welche Gerüchte?» Tono sah sie an und hoffte inständig, daß sie ihn verstehen würde. «Über Nazis», sagte er stockend. «Fred soll angeblich bei denen Mitglied sein.» «Was hast du denn damit zu tun?» fragte Kess. «Ich glaub's einfach nicht. . . Er ist 'n ... oder was?!» «Am besten hältst du dich da raus.» «Das geht nicht, ich steck schon mittendrin.» «Du wirst Ärger bekommen», sagte Kess. «Deshalb sitz ich ja hier und will mit dir reden.» «Über Fred?» fragte sie mit einem sonderbaren Ton in der Stimme, der ihn hellhörig machte. «Oder über dich... Assel... Panzer, ihr kennt euch doch alle schon viel länger.» «Nicht viel... 'n halbes Jahr.» «Aber auch privat!» Sie zog ihre Beine auf den Stuhl, legte beide Arme um ihre Knie und blickte schweigend auf ihre Stiefel hinunter. «Mit Panzer hab ich schon mal gesprochen... und mit dir», sagte Tono hilflos. «Aber noch nie mit Assel oder Fred.» «Laß Fred in Ruhe!» Es irritierte, es ärgerte ihn sogar, daß sie sich wie ein Schutzengel aufspielte, so einen hatte ein Siebzehnjähriger bestimmt nicht nötig. «Die Faschistenpartei ist übrigens 'ne reine Erfindung von Theo, ich hab's nachgeprüft», sagte er. 60
«Ob Fred in 'ner Partei ist oder nicht, soll dir doch schnuppe sein!» «Aha! Man redet nicht mit'nander, man weiß nichts voneinander, und so was nennt sich Freundschaft!» Eine hartgesottene Großstadtfliege, die den Sommer überlebt hatte, torkelte über die Tischplatte und tat sich gütlich an einem Tropfen Kaffeesahne. «Mensch!» sagte Kess. «Fred hält für uns alle seinen Kopf hin, auch für dich - erinnere dich mal an die Sache mit deinem Transporter! - Er muß sich auf uns verlassen können!» Sie zerrte ihre Tasche unter der Bank hervor und erhob sich, während die Fliege auf das Pressefoto krabbelte und anfing, ihre Flügel zu pflegen. «Willst du noch was trinken?» fragte Tono. «Wir sehn uns morgen», antwortete sie und ließ ihn allein mit seinen ungelösten Fragen. Tono mochte es nicht, in dieser rigorosen Art abgefertigt zu werden. Hielt Kess ihn vielleicht für einen Schwächling, der widerspruchslos schluckte, was man ihm vorsetzte? Einer für alle, alle für einen? Wenn von ihm verlangt wurde, daß er Fred rückhaltlos vertraute, mußte dieser auch ihm vertrauen! Als er die Zeitung zu sich heranzog, um sie noch einmal zu lesen, startete die Fliege zu einem Ausflug in die Grünpflanzen auf der Fensterbank. Panzer wohnte mit seinen Eltern im Dachgeschoß eines alten Hauses aus der Vorkriegszeit, das mit überreichen Verzierungen seiner Fassade, mit verwitterten Fensterrahmen und rußgeschwärzten Schornsteinen wie eine kitschige Antiquität gegenüber dem Supermarkt der modernen Massensiedlung aufragte. Bereits im Treppenhaus hörte Tono das Stampfen und Dröh-
nen von Elektrogitarren, das von Etage zu Etage lauter wurde. Typisch Panzer! dachte er und freute sich, daß er entgegen den Vorschriften wieder ein paar Minuten vor den anderen eingetroffen war, diesmal absichtlich. Wenigstens für kurze Zeit wollte er sich fühlen, als käme er ganz persönlich zu Besuch. Als Panzer ihm die Tür öffnete, meinte der zwar: «Du kommst zu früh», ließ ihn aber trotzdem herein. «Das ganze Haus wackelt von der Musik», sagte Tono zur Begrüßung. «Ich wette, sie schicken uns gleich die Polizei auf den Hals!» «Quatsch! Die Alten unter uns sind schwerhörig, sie lieben meine Konzerte. Ich spiel manchmal auch Mozart für sie.» «Und deine Eltern?» «Meine Mutter ist selbst verrückt nach Musik. Sie hat mal in 'ner Band gesungen.» «Mit diesem L. A.?» fragte Tono neugierig. «Drei Jahre - sogar in Amerika.» «In L. A.?» «Kann sein. Sie ist überall rumgezogen.» «Immer unterwegs, von einem Auftritt zum nächsten, das ist das Größte!» seufzte Tono neidisch. «Dann hat sie's nicht mehr ausgehalten mit L. A. und hat geheiratet.» «'n Musiker?» «Die kannst du nicht heiraten.» «Aber 'ne Musikerin kann einer heiraten?» «Hm», meinte Panzer. «Die vielleicht auch nicht.» «Gibt's Aufnahmen von ihr?» «Auf 'm Boden... in 'ner Kiste... Keiner darf sie anrühren.» «Schade», sagte Tono. «Ich hätte sie gern mal gehört.» 62
«Wir haben doch gleich unsern Treff!» «Ach so», sagte Tono unzufrieden. «Ich dachte, wir wärn heute auch privat bei dir eingeladen.» «'ne Fete findet leider nicht statt», sagte Panzer, obwohl sein gemütliches Zimmer mit Musik sich zum Feiern eignete. Er hatte alle Wände mit Plakaten tapeziert, mit Fotos von bekannten Popstars und deren Hofstaat, aber am schönsten war die Aussicht von seinem Bett auf die Traumstraßen Amerikas, die durch faszinierende Landschaften führten, in eine unendliche Weite, wie ins Nirgendwo. Panzer bemerkte Tonos bewundernde Blicke. «Abheben und losfliegen!» sagte er. «Das ist es!» «Nach L. A. - zu deinem Dad?» «San Francisco, New York, Florida, Texas, Tennessee... nicht nach Los Angeles, sie will es nicht.» Vielleicht schaffst du es auch ohne sie, wollte Tono gerade vorschlagen, aber da läutete es schon, und Panzer rannte hinaus, um zu öffnen. Nachdem vier sich in der Küche versammelt hatten, klappte die Wohnungstür, Schritte eilten durch den Flur, und der fünfte erschien in letzter Minute. «Hej!» rief Panzer aufgedreht. «Komm rein, Tono!» Mit einem Klick seines Daumens schnippte Assel den Kronkorken von einer Bierflasche und ließ ihn über die Tischplatte schlittern. Nanu? dachte Tono. Sein Stammplatz ist ja besetzt! Assel neben Fred war ein Bild, das Tono kannte, aber Kess neben Fred war der Schrecken des Tages! Die neue Sitzordnung hatte sich nicht zufällig ergeben, das wußten auch Panzer und besonders Assel, der sich von Fred zurückgesetzt fühlte und beleidigte Blicke zu ihm hinüberschickte. Auf einmal fühlte Tono sich wie eingesperrt in der kleinen
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Küche, ohnmächtig gegenüber Fred, der so viel älter, erfahrener, redegewandter... männlicher? war als er. Schöner als Panzer war er sicher nicht mit seinen blassen, leicht vorstehenden Augen. Seine gedrungene Figur und sein Kopf auf stämmigem Hals ließen ihn neben der biegsamen Kess sogar ein wenig plump erscheinen. Und Segelohren, jawohl! dachte Tono befriedigt. Assel stieß ihn an. «Hörst du nicht zu, wenn man dir was sagt?» Der nächste Anschlag richtete sich gegen die Schule... Tono und Panzer sollten im Erdgeschoß ein paar Türschlösser beschädigen, damit die Gang am Wochenende bequem ins Haus eindringen konnte. «Und dann?» fragte Tono. «Das entscheiden wir an Ort und Stelle.» «Wedemeier wird sich wundern», sagte Assel, der kurz vor seinem Abgang aus der achten den Politikunterricht des Lehrers für gescheitert erklärt und dies in seinen Klassenarbeiten durch Fünfen und Sechsen dokumentiert hatte, die er seine äußerst kurzsichtige Großmutter unterschreiben ließ. «Du gehst doch gar nicht mehr zur Schule!» sagte Tono. Fred rauchte für Kess eine Zigarette an, hielt sie ihr hin und fragte ihn: «Bist du nicht einverstanden mit der Aktion?» Mit Fred war Tono nicht einverstanden, mit der Art, wie der glaubte über alle verfügen zu können, auch über Kess, die von ihm entgegennahm, was er im Mund gehabt hatte! Der Anblick trieb Tono das Blut in die Wangen und verschlug ihm die Sprache. Aber Panzer, der wohl ahnte, was Tono bewegte, stellte sich auf seine Seite und antwortete für ihn: «Wir übernehmen den Auftrag, aber 's wär besser gewesen, ihr hättet uns vorher gefragt, schließlich kennen wir uns in der Schule aus! Worüber soll Wedemeier sich wundern?» 64
«Besser, du stellst mal deine Anlage aus, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!» nörgelte Assel. Panzer stand auf und schloß die Tür. «Keine Ahnung von Musik!» «Kommen wir zur Sache», sagte Fred. «Wedemeiers Zeitung ist allgemein bekannt, aber wißt ihr auch, daß er das Fotolabor und den Kopierraum eurer Schule für die Herstellung seiner Machwerke benutzt?» «Das ist verboten! Deshalb werden wir ihm das Handwerk. . . » Nach einem strafenden Blick von Fred verschluckte Assel hastig sein letztes Wort. «Die nächste Ausgabe ist bestimmt schon in Arbeit, ihr könnt euch vorstellen, wer den Leitartikel schreibt», fuhr Fred fort. «Wedemeier ist einer von denen, die die Meinungsfreiheit unterdrücken!» Und du bist geil auf Kess! dachte Tono mit dem sicheren Instinkt des Nebenbuhlers. Er lauerte eifersüchtig auf Zeichen von Annäherung zwischen den beiden und hörte nur mit halbem Ohr zu, als die Einzelheiten des besprochen wurden. Auch Kess wirkte abwesend; sie beteiligte sich kaum an der Diskussion, sondern begnügte sich damit, den Vorschlägen von Fred zuzustimmen, der mit keinem Wort Theo Albers erwähnte, über den er sich vor wenigen Tagen doch so übertrieben aufgeregt hatte. Bestimmte Ereignisse wurden in der Gang offensichtlich totgeschwiegen. Diese Heimlichtuerei fand Tono unerträglich, er wollte wissen, was Fred hinter den Kulissen spielte. Deshalb entschloß er sich, noch am selben Abend, nach der Versammlung, zu ihm in die Weststadt zu fahren. Jetzt im Spätherbst war es gegen 21 Uhr schon völlig dunkel,
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ein feuchter Dunst hing auf den Dächern und zwischen den Mauern, der Tono die Sicht erschwerte. So tappte er wie blind drauflos, verirrte sich ein paarmal und war ganz froh, daß er sein Ziel erst nach mehreren Umwegen erreichte. Denn inzwischen bedauerte er seine impulsive Handlung, es war ihm peinlich, bei Fred an der Wohnungstür zu klingeln, ohne eingeladen zu sein. Schließlich tauchte aus dem Nebel eine größere, heller beleuchtete Alllee auf, das <Mailänder Ton, von dem die Straße abzweigte, die sich seit dem Telefonat fest in seinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Alfred Paschke wohnte im Parterre eines Hauses, dessen Wirtschaftsräume zum Kanal hin lagen. Am jenseitigen Ufer blieb Tono lange stehen und betrachtete Freds erleuchtetes Küchenfenster, hinter dem sich Schatten bewegten. Es war also jemand zu Hause. Wie gelangte man mit siebzehn in den Besitz einer Wohnung, und wie lebte ein Anführer wohl im eigenen Heim? Ganz gewiß unabhängiger als Assel und Panzer, freier als Kess und viel eigenständiger als er in Ankes Wohnzimmer auf der Couch! Die Kälte griff sein Gesicht an, seine Hände, sie durchdrang den dünnen Stoff seiner Jeans und auch die gefütterte Jacke. Es ging nicht an, daß er bis in die Nacht hier herumlungerte, entweder führte er durch, was er sich vorgenommen hatte, oder er fuhr unverrichteterdinge wieder in die Nordstadt zurück. Fred wunderte sich wohl, aber er war nicht verärgert, als er Tono vor seiner Tür erblickte, und lud ihn ohne Umstände in die Wohnung ein. «Zwei Zimmer für dich allein... Du hast es gut!» «Es sind nur anderthalb, das kleine zum Schlafen, dieses hier zum Wohnen», sagte Fred und bot ihm Kaffee an. «Er kommt 66
frisch aus der Maschine, 'n heißer Schluck wird dich aufwärmen... Was ist los mit dir? Warum gehst du bei dieser Kälte nicht nach Hause?» «Wenn ich deine Wohnung hätte, dann würd ich's tun», sagte Tono neidvoll. Im bunten Sporthemd und leichten Schuhen, Sessel an Sessel mit Tono, verlor Fred an Unnahbarkeit, an Übermacht, er wurde persönlicher, zugänglicher. Assel würde sich ärgern, wenn er wüßte, daß ich hier bin! dachte Tono. «Zu Hause geht's also nicht gut?» «Nicht so besonders.» «Und in der Schule?» «Bis zur zehnten kann ich's locker schaffen!» «Auch bis zum Abitur?» «So lange halte ich's in der Bossestraße bestimmt nicht mehr aus. Der Typ von meiner Mutter fängt neuerdings an zu prügeln.» «Irgendwann wirst du's ihm zurückzahlen!» «O ja, mit Zinsen», sagte Tono, den das starke Getränk wundersam belebte. Fred ermunterte ihn, sich nachzuschenken, und wollte wissen, ob er die Agitation von Wedemeier denn noch ertragen könnte, intelligente Schüler wären sicher in der Lage, die platte Propaganda mit Gegenargumenten zu widerlegen. «Also... ich weiß nicht.» «Das Thesenpapier zur Ausländerfrage! Was hältst du davon?» «Ich hab's beim Fight mit den <Snakes> verloren», sagte Tono, und Fred fragte weiter, ob er überhaupt interessiert sei an neuen Ideen in der Schule.
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«Mit Wedemeier hab ich mich schon mal gefetzt», sagte Tono.« Er hat nichts gegen Streitgespräche.» Fred griff nach der Packung mit dem gelben Kamel, schüttelte eine Zigarette für sich heraus und eine zweite für Tono. Im Schein des flammenden Feuerzeugs gewann das kantige Gesicht des jungen Mannes auf einmal sympathische Züge, Tono erkannte dunkle Barthaare in der glattrasierten Haut, Zeichen von Männlichkeit, die ihm imponierten. «Es gibt noch andere in eurer Schule, die solche Spinner wie Wedemeier satt haben», sagte Fred. «Und die brauchen deine Unterstützung... Nicht jeder in der Mittelstufe ist 'n Diskussionsgegner wie du!» Ich? dachte Tono ungläubig. Hält er mich für redebegabt? «Wenn du mehr wissen willst, kann ich dir Material mitgeben», sagte Fred. «Höchste Zeit, in Politik mal andere Standpunkte zu vertreten!» «Es ist wahr, daß Wedemeier sich in alles einmischt», gab Tono zu. «Und Theo Albers auch... Aber der ist 'n harmloser alter Mann!» «Richtig!» sagte Fred. «Vergessen wir ihn.» «Er ist verletzt worden.» «Ich hab's gelesen... Es sollen die gewesen sein.» In Freds farblosen Augen glimmte eine Spur von Humor. «Diesen Schwachsinn aus 'm Altertum kann der Reporter nur bei Wedemeier gelernt haben!» «Aber wer hat es wirklich getan?» «Das wird die Polizei herausfinden... oder auch nicht!» Als Tono mit Broschüren und Flugblättern versehen zum <Mailänder Tor> zurückging, waren fast alle seine Zweifel ver flogen. Nur allzu gern tauschte er seine Bedenken und sogar 68
die keimende Eifersucht gegen das erhebende Gefühl, von Fred so offen, beinahe freundschaftlich aufgenommen worden zu sein.
Seit Ankes letztem heftigen Aufstand gegen Tonos Ausbruchsversuche sprach er nur noch das Nötigste mit ihr, mit Karl-Heinz wechselte er nicht einmal mehr einen Gruß. Er vermied auch die morgendlichen Begegnungen in der Küche und kaufte sich Frühstücksbrötchen lieber in der Schule beim Hausmeister. Am Freitag mußte er allerdings hungern, weil der <Mann für alles> erkrankt war. Ein Kollege von ihm sollte erst nach dem Wochenende einspringen, und so drängten sich vor dem Dienstzimmer in der Eingangshalle Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Boten, die von der Schulsekretärin auf Montag vertröstet wurden. «Unsere Chancen stehen günstig», sagte Panzer, der Tono im Gang bei den Vitrinen erwartete. «Kein Mensch kümmert sich in diesem Chaos um Türschlösser... Wir knacken sie am besten nach der fünften beim Anbau!» Der Anbau diente als Fachtrakt und war durch verwinkelte Korridore mit dem Hauptgebäude verbunden. Man konnte aber auch von außen hineingelangen. Hier machten sich die beiden Einbrecher, geschützt durch üppig wucherndes Gesträuch, an die Arbeit. Tono fühlte Schweißtropfen im Gesicht und im Nacken, das Eisenstück klebte an seinen Händen. «Avanti, avanti!» sagte Panzer ungeduldig, drängte ihn beiseite und hatte mit einem Schraubenzieher im Nu das Schloß verbogen. Auch beim Herausstemmen der Einzelteile war Tono keine große Hilfe. Stümper! Feigling! beschimpfte er sich selbst und staunte über Pan69
zer, der mit geradezu sportlichem Ehrgeiz ihr zerstörerisches Werk vorantrieb. Als sie vor der Zwischentür standen, die vom Gang in die Fachräume führte, konnte Tono sich endlich zusammenreißen, er zerbrach das Schloß fast so geschickt wie Panzer - danach trennten sie sich. Für den Rest der Schulstunde verkroch sich Tono, immer noch angespannt, im mit der vagen Hoffnung, daß Kess noch käme. Es würde ihr sicher gefallen, vom Ausgang des Unternehmens aus erster Quelle zu hören. Wegen des schlechten Wetters hatten sich viele ins Cafe geflüchtet, um sich mit einem heißen Getränk aufzuwärmen; Tono hingegen verlangte wie ein Verdurstender eine doppelte Zitrone mit viel Eis gegen das Brennen unter seiner Haut. Gehörte er überhaupt noch zu diesen Schwatzenden, Lesenden, Lachenden, Schreibenden, die jeden Morgen massenhaft in die Lernfabrik fluteten und nachmittags wieder hinaus? Hatte er sich nicht heute durch seine Tat selbst ausgeschlossen? Um sich abzulenken, löste er Matheaufgaben, verbesserte die Grammatikarbeit, die ihm eine Zwei eingebracht hatte, und wollte eben sein Heft mit englischen Vokabeln aufschlagen, da trat zu seinem Entsetzen Wedemeier in die schützende Nische und setzte sich ihm schweigend gegenüber; unverzüglich packte Tono seine Bücher ein. Lehrer im Schülercafe! Konnten sie nicht wenigstens nach der Schule unter sich bleiben? «Ich bin hier mit den Zeitungsleuten verabredet und hab dich zufällig gesehen», sagte Wedemeier. «Hättest du nicht Lust, für die kommende Nummer einen Beitrag über Theo Albers zu schreiben?» «Über ihn ist schon genug geschrieben worden», sagte Tono unbehaglich. 70
«Ich denke an einen Bericht mit Fotos über sein Leben in der Nordstadt... Jeder kennt ihn, und viele schätzen ihn.» «Er verbreitet Lügen», sagte Tono. «Da bin ich anderer Meinung!» «Sie glauben vielleicht, was er Ihnen erzählt, weil es in Ihre Zeitung paßt, aber ich muß nicht alles glauben!» «Die Zeitung gehört nicht mir», korrigierte ihn Wedemeier. «Ich arbeite nur als freier Reporter, einige Redakteure sind außerdem Schüler.» Musterschüler aus deinen Kursen! «Wir sind interessiert an kritischen Texten und gegensätzlichen Auffassungen. Falls du Theos Standpunkte widerlegen willst, wird dein Artikel selbstverständlich veröffentlicht.» «Auch wenn er nicht mit Ihrem Weltbild übereinstimmt?» «Auch dann!» «Ich werd's mir überlegen», sagte Tono, damit Wedemeier endlich ging, denn Kess stand an der Tür und blickte sich suchend um. «Bis Montag?» fragte Wedemeier. «Du weißt, bei der Presse müssen Termine eingehalten werden.» «Bis Montag!» sagte Tono abwesend. Der Lehrer stellte seinen Stuhl an den Tisch zurück. «Ich hab übrigens gehört, daß Theos Knochenbruch gut heilen soll... Bald treffen wir den alten Querkopf wieder auf seiner Bank!» Gott sei Dank! dachte Tono, obgleich er sich eigentlich vorgenommen hatte, im keine Gefühle mehr zuzulassen. Leider schien Kess sich über das Wiedersehen mit ihm gar nicht so zu freuen, wie Tono es sich erhofft hatte, statt eines Lächelns huschte ein Schatten über ihr Gesicht. Sie hat nach einem anderen Ausschau gehalten! dachte er betrübt und 71
machte sich darauf gefaßt, daß sie gleich wieder fortlief, aber dann blieb sie doch, einsilbig, niedergeschlagen... Was konnte er tun, um sie aufzumuntern? Zuerst versuchte er es mit einer abenteuerlichen Schilderung der Türschloß-Geschichte, wobei er sich selbst überaus vorteilhaft darstellte. Ihre Stimmung konnte er damit aber nicht verbessern. Dann überwand er sich und vertraute ihr seinen spontanen Auftritt in der Weststadt an, und diese Mitteilung wirkte Wunder. «In der Töpferstraße?» fragte Kess. «Bei Fred!» Eine völlig ausgewechselte, wache, wißbegierige, gesprächige - die echte Kess erkundigte sich lebhaft, ob Fred ihm tatsächlich seine Tür geöffnet habe. «Es war gemütlich bei ihm... Er hat mich zum Kaffee eingeladen. Willst du was Heißes oder was Kaltes?» «Spendier mir 'ne Cola!» «Mit Eis?» «Er läßt nicht jeden in seine Wohnung... Ohne Eis!» sagte sie und wollte in allen Einzelheiten wissen, worüber sie gesprochen hätten. Auch über Privates? «Er will nicht, daß alles herumerzählt wird», sagte Tono mit feinem Spott. «Habt ihr im Wohnzimmer gesessen?» «Wo denn sonst? Im Schlafzimmer?!» Die letzte Bemerkung hätte er lieber unterlassen sollen, sie wurde ihm höchst übelgenommen und war doch nur als Scherz gemeint. Es gelang ihm nicht, die gute Stimmung wiederherzustellen, Kess fragte nichts mehr, wollte nichts mehr hören, wollte aufbrechen. Tono konnte nicht begreifen, weshalb sie plötzlich keinen 72
Spaß mehr verstand, so empfindlich wie heute hatte er sie noch nie erlebt - ausgerechnet er war schuld daran, daß sie sich nun noch schlechter fühlte. Angestrengt suchte er nach Auswegen, um seinen Fauxpas wiedergutzumachen, bis ihm nach langem Grübeln bei einer vierten eiskalten Zitrone endlich der rettende Einfall kam... Sofort brach er auf, stürmte los, um seine Idee in die Tat umzusetzen. Mit Juwelierläden kannte er sich überhaupt nicht aus, deshalb geriet er zunächst in ein Geschäft, wo nicht nur alle vier Wände mit Schmuck behängt waren, sondern auch noch Unmengen von Ketten, Ringen, Ohrringen und Armreifen auf allen übrigen Flächen, Tischen, Regalen, Gestellen auslagen. Wie sollte er aus solchem Massenangebot einen einzigen winzigen blauen Stein herausfinden? «Kann ich dir helfen?» fragte die Verkäuferin, die sein verzweifeltes Bemühen schon eine ganze Weile beobachtet hatte. «Einen Aquamarin bitte, so klein wie möglich, in einer echt silbernen Fassung!» «Hier gibt es nur unechten Schmuck - so groß wie möglich», antwortete die Frau. «Juwelen kauft man beim Juwelier. Hast du denn überhaupt genug Geld für einen Aquamarin?» «Wieviel kostet er?» «Mindestens hundert Mark.» «Ich kauf ihr einen echten Stein oder gar keinen!» «Oh!» sagte die Frau. «Einen solchen Gönner hätte ich auch gern zum Freund!» Anders als das Geschäft mit Modeschmuck lag der Laden des Goldschmieds außerhalb der Passage in einer verkehrsberuhigten Straße. Die unscheinbare Auslage war sparsam de73
koriert mit einzelnen Schmuckstücken, die nicht auf den ersten Blick glänzten. Drinnen wurde Tono von einem Mann empfangen, der etwa so alt sein mochte wie Theo Albers. Seine Augen hinter dicken Brillengläsern blickten skeptisch auf Tonos kriegerisches Outfit. «Willst du etwas kaufen?» «Für ein Mädchen», sagte Tono. «Sie hat ihren Aquamarin verloren.» «Aus einem Ring?» «Aus einer Fassung an der Nase... links... er kann höllisch funkeln.» «Kunden, die Nasenschmuck tragen, kommen selten zu mir», sagte der Mann und holte ein Tablett unter dem Ladentisch hervor, das mit Samt bezogen war. Darauf lagen Aquamarine in vielen Größen. «Such dir den schönsten aus.» «Er muß so sein wie das Meer», sagte Tono. Da reichte ihm der Mann eine kleine Lupe und zeigte ihm, wie er damit tief in die Steine hineinschauen konnte. «Ja», sagte Tono nach einer Weile, «das sind die richtigen», und wies auf den kleinsten, leuchtendsten. «Und bitte mit Silberfassung.» «Die Anfertigung dauert bis Montag.» Tono holte sein Portemonnaie heraus und legte hundertfünfzig Mark auf den Tisch. «Das ist zuviel», sagte der Juwelier, er nahm nur eine Anzahlung von fünfzig Mark entgegen, den Rest von siebzig Mark sollte Tono Anfang nächster Woche begleichen. Als er aus dem Laden trat, fuhr ihm ein eisiger Wind ins Gesicht, aber ihm war ganz warm. 74
Abends, im , wo die Vorbereitungen für die getroffen wurden, konnten sich Panzer und Tono mit ihrem Vorschlag durchsetzen, am Sonntag mittag in die Schule einzudringen. «Warum nicht nachts?» fragte Assel. «Warum wohl nicht? Streng mal dein Köpfchen an, Kleiner!» spottete Tono, der sich seit seinem Besuch in der Töpferstraße viel zugehöriger fühlte, sicherer im Gespräch und gleichberechtigt unter den . Der Plan stand fest, die Aufgaben waren schnell verteilt. «Übermorgen um halb eins», sagte Fred, erklärte die Sitzung für beendet und eilte als erster zur Tür. «Warte doch mal!» rief Kess hinter ihm her. «Ich muß noch was mit dir besprechen!» «Keine Zeit! Sag's mir morgen!» Panzer stieß Tono an und grinste. «Ich muß noch was mit dir besprechen!» echote Assel. Für diese Frechheit strafte ihn Kess mit Ohrfeigen.
Niemandem fielen an diesem Sonntag die drei Schüler und deren Komplizen auf, die in Abständen von fünf Minuten durch die defekte Tür in den Fachtrakt einbrachen. Panzer kannte den Medienraum mit den Kopiergeräten und Computern, die Wedemeier von Zeit zu Zeit benutzte, um das Layout für seine Zeitungsbeiträge herzustellen. «Es ist abgeschlossen - an die Arbeit!» sagte er tatendurstig. Da er technisch ebenso wie musikalisch begabt war, überließen sie ihm gern die Beseitigung von Hindernissen, und so knackte er auch diese Tür. Auf den Tischen entlang der Wand lagen die Computeraus-
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drucke von fünf bis zehn Seiten der Stadtteilzeitung. Assel stürzte sich wie ein Geier auf die Blätter und fing an, sie zu zerfetzen. «Stopp!» schrie Tono. «Ich will noch lesen, was er geschrieben hat!» «Wir sind hier nicht in der Schule, Mann!» sagte Assel, der jetzt richtig zum Angriff überging, alles vom Tisch fegte, was ihm unter die Finger kam, und mit seinen regennassen Stiefeln darauf herumtrampelte. Kess rief Tono zu sich heran, sie sollte mit ihm zusammen die Regale plündern, und schon riß es ihn hinein in den Lärm, das Knacken, Bersten, Krachen, in diese Sturzwelle von Gewalt, die ihn erfaßte und mächtig in Bewegung brachte: Glasscheiben sprangen in Scherben, Holzteile splitterten, zum Schluß kippten sie die Regale von den Wänden, und alles im Raum war zum Sperrmüll geworden. «Schluß jetzt!» befahl Fred und beendete die Aktion mit einem treffsicheren Steinwurf gegen die Deckenleuchte. Einer nach dem anderen verließen sie den Tatort auf einem durch Bäume und Büsche geschützten Pfad hinter dem Fachtrakt. Tono hielt sich in der Nähe von Kess, weil er hoffte, sie später noch ein Stück auf ihrem Heimweg begleiten zu können, doch sie entglitt ihm, wich ihm aus, schlug einen Bogen, rannte voraus; sie befolgte die Weisung, sich allein aus dem Staub zu machen. Erst an der Kreuzung zur Schnellstraße sah er sie in der Ferne wieder, sie stieg in einen Pkw, der sogleich mit quietschenden Rädern davonschoß. Wer war der Fahrer? In der Bossestraße lag ein Zettel für Tono auf dem Tisch:
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Das Hähnchen im Grill ist für Dich... Hast Du vergessen, daß wir heute zusammen essen wollten? Anke Was für ein häßliches Tier, ohne Kopf, ohne Füße, ohne Federn! Er öffnete den Brotkasten und nahm sich zwei Schnitten von gestern heraus, ging ins Bad und stellte sich vor den Spiegel. Am Kinn war kein einziges Haar zu entdecken, aber auf seinem Schädel sprossen viel zu viele. Mit Ankes Nagelschere schnitt er alles ab, was er fassen konnte, dann griff er sich Karl-Heinz' Sprühdose und schäumte sich den Kopf ein. Es blieb nicht aus, daß er sich beim Abrasieren der kurzen Stoppeln mit der scharfen Klinge verletzte. Kleine Blutstropfen spritzten auf und perlten rot über seine blasse Haut. Als er nach der Rasur in den Spiegel schaute, starrten ihn seine Augen an, als verstünden sie nicht, was er aus sich gemacht hatte.
Die Montagsstunde in Politik verlief anders, als Tono befürchtet hatte. Wedemeier erwähnte mit keiner Silbe die Verwüstungen im Medienraum, sondern kündigte ein neues Thema an, das gegenwärtig die Öffentlichkeit bewegte: die demokratischen Wahlen in Algerien, in denen eine der großen moslemischen Parteien den Sieg davongetragen hatte, aber nicht regieren durfte. «Hört gut zu», sagte er und schlug ein Buch mit Texten von Albert Camus * auf: * Albert Camus, geb. 1913 in Mondovi, Departement Constantine (Algerien), gest. 1960 bei Paris
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«Wissen Sie, was ich am meisten bewundere?» sagte Napoleon zu Fontanes*. «Die Ohnmacht der Gewalt, etwas zu erschaffen. Es gibt nur zwei Mächte in der Welt: das Schwert und den Geist. Auf die Dauer wird das Schwert immer durch den Geist besiegt...»** Der Text trug den Titel , und Wedemeier endete an der Stelle, wo in Algier in einer Februarnacht die Mandelbäume anfangen zu blühen. Anschließend konnte die Klasse Meinungen äußern und Fragen stellen. Bernd meldete sich, er wußte, daß Algerien französische Kolonie gewesen war. «Von 1830 bis Mitte 1962», sagte Wedemeier. «Camus war ein.» «Schwarzfuß!» «So nannten sich Franzosen, die vor der Unabhängigkeit in Algerien geboren wurden», fuhr Wedemeier fort. « hat Camus 1939 geschrieben, 1940 ist er aus Algier ausgewiesen worden - warum?» «Es waren die Araber», sagte Achim prompt. «Die hatten doch nichts zu bestimmen in 'ner französischen Kolonie!» widersprach Katja. «Dann waren's eben die Franzosen!» «Vielleicht mochten sie seine Geschichten nicht», sagte Bernd. «Er war damals auch Zeitungsredakteur in Algier», ergänzte Wedemeier. «Sie mochten vor allem seine Artikel nicht.» * Fontanes, Louis Marquis de, geb. 1757, gest. 1821. ** Aus , Mittelmeer-Essays, Zürich 1984. 78
Tono versuchte, sich aus der Diskussion herauszuhalten, aber zuhören mußte er doch. «Was könnte den Kolonialherren an seinen Gedanken nicht gefallen haben?» fragte der Lehrer. «Das von der ohnmächtigen Gewalt!» riefen mehrere gleichzeitig. Aber es gab auch Widerspruch. «Die Kolonialisten waren doch mächtig, sonst hätten sie nicht hundertfünfzig Jahre lang in Algerien geherrscht.» «Das bestreitet der Autor auch gar nicht», sagte Wedemeier und brach die Debatte an diesem Punkt ab, um eine Aufgabe für die nächste Stunde an die Tafel zu schreiben:
Napoleons Ausspruch Camus' Ausweisung Die Mandelbäume bitte vergleichen und Zusammenhänge herausfinden Außerdem sollten sie noch die aktuellen Zeitungsmeldungen über die Vorgänge in Algerien nach der Wahl 1992 verfolgen und sich interessante Berichte ausschneiden. Wedemeier ging von Tisch zu Tisch und verteilte an die Schüler Kopien von Camus' Abhandlung. Als er Tono ein Exemplar überreichte, wollte er ihn an den Bericht über Theo Albers erinnern, aber dann sah er, verstand und schwieg vor der stummen Abkehr und Abwehr in Tonos Gesicht. Die Klasse hatte recht gelassen auf den Skinhead reagiert: ein Zischeln, ein Summen, ein paar Lacher, mehr nicht! So viel Toleranz verblüffte Tono, beinahe beunruhigte sie ihn, und er wünschte voller Ungeduld die zweite Pause herbei, um Panzer oder Kess, am liebsten beide, zu treffen, bei denen er sich seiner selbst am sichersten fühlte. Doch ausgerechnet heute ließen sie 79
sich weder auf dem Schulhof noch in der Raucherecke blicken, sie schwänzten wohl. Da mochte er auch nicht länger bleiben. Bloß weg hier! dachte er und holte sich seine Tasche aus dem Klassenraum. Er war der einzige, der nach dem Gongton gegen den Strom der Schüler nach draußen flüchtete, angetrieben von seinem schlechten Gewissen, das ihn durch ein leichtes Gefühl von Übelkeit unablässig an das erinnerte, was er sich am Sonntag im Medienraum geleistet hatte. Um so dringender wurde sein Bedürfnis, sich abzulenken, die gewonnene Zeit möglichst angenehm zu verbringen, und er wußte auch schon wie. Der Juwelier schloß nach einem Frühstück soeben seinen Laden wieder auf. «Komm herein! Du hast dich seit Freitag enorm verändert!» stellte er sachlich fest. «Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Stell dir vor, ich hüte jedes einzelne Haar aus meiner früheren Pracht, und du trennst dich ohne weiteres von allen!» Er berichtete Tono, daß die Einfassung des kleinen Edelsteins ihm viel Mühe bereitet habe. «Ein so schönes Stück muß perfekt gearbeitet sein, damit es nicht gleich wieder auseinanderfällt», sagte er und schob ein leeres Tablett vor Tono auf den Tisch. Dann hob er mit einer Pinzette den Schmuck aus einem silbern lackierten Kästchen und deponierte ihn genau in der Mitte auf dem schwarzen Samt, so daß er nach allen Seiten hin strahlte. «Es ist reine Handarbeit!» «Er ist viel schöner als der, den sie verloren hat», sagte Tono voller Bewunderung. «Willst du ihn mitnehmen, oder soll er geschickt werden?» «Bitte, schicken Sie ihn. Aber er muß heute noch ankommen!» «Selbstverständlich», versprach der Juwelier. «In diesem Fall mußt du einen Kartengruß für deine Freundin beilegen.» 80
«Keinen Gruß», sagte Tono. «Sie braucht nicht zu wissen, von wem der Stein kommt.» Sorgfältig und geschickt hantierten die schlanken Finger mit dem Schmuck, betteten ihn auf das Polster im Kästchen, und Tono durfte einen letzten Blick darauf werfen, bevor der Deckel zuklappte. «Punkt fünf wird das Geschenk übergeben - falls jemand zu Hause ist», sagte der Juwelier, der nun von Tono den Rest des Kaufpreises kassierte. So kam es, daß die Freude dieses Montags sich bis in den frühen Abend und darüber hinaus erstreckte, denn noch lange Zeit vor dem Einschlafen ging Tono in Gedanken mit dem Boten bis vor die Wohnungstür von Kess und malte sich in immer neuen Variationen ihre Überraschung aus, die sie bei der Übergabe des Päckchens und beim Öffnen des Kästchens erlebte. Kurz vor Mitternacht läutete bei Andreas Wedemeier das Telefon. «Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so spät noch störe», sagte Tonos Mutter. «Ich weiß mir keinen Rat mehr!» «Sie stören mich nicht», beruhigte sie der Lehrer. «Um diese Zeit korrigiere ich gewöhnlich die Klassenarbeiten... Geht es um Tonos neue Frisur?» «Frisur?!» rief Anke empört. «Hm... Es ist Geschmackssache... Auch Männer tragen ja manchmal einen Kahlkopf.» «Aber nicht jeder gehört zu den <Skinheads>... mit diesen Jacken und den schrecklichen Stiefeln!» «Schrecken zu erregen macht manchen Spaß», sagte Wedemeier. «Aber Freundschaften sind natürlich wichtiger.» «Ich hatte niemals genügend Zeit für ihn.» «Frau Baginski, verstehen Sie bitte: Ich meine seine Freunde!» 81
«Ja», sagte Anke verzagt. «Er bringt sie nicht mit nach Hause... Es ist zu eng in unserer Wohnung... Wir haben nur zwei Zimmer, und Karl-Heinz, mein Freund, braucht nach der Arbeit seine Ruhe.» «Die Jungen können sich doch an anderen Orten treffen.» «Das war früher einmal... Dann hat es Schlägereien im Jugendzentrum gegeben, schließlich wurde es geschlossen, weil Drogen verkauft worden sind... Ich konnte ihm nicht mehr erlauben hinzugehen!» «Und Fußball oder Schwimmen?» fragte Wedemeier. «Tono ist doch nicht unsportlich.» «Er hat vor drei Jahren seinen Freund verloren», sagte Anke leise. «Sie müßten den Fall eigentlich kennen.» «So lange bin ich noch nicht Lehrer an dieser Schule.» «Fragen Sie mal Ihre Kollegen... Tono und ich wollten immer hier wegziehen... Aber wer kann denn heute noch die teuren Mieten bezahlen?» Ich! dachte Wedemeier. Ich kann mir auch die Wohngegend aussuchen. «Was bereitet Ihnen denn solche Sorgen?» fragte er. «Die zunehmende Gewalt überall in der Stadt und auch in unserem Viertel.» «Haben Sie mit Tono darüber gesprochen?» «Seitdem Karl-Heinz ihn geschlagen hat, redet er nicht mehr mit uns. Konnten Sie denn neulich mit ihm sprechen?» «Zur Zeit ist er wirklich nicht allzu gesprächig», sagte Wedemeier. «Aber eines sollten Sie wissen: Er ist nicht dumm und macht sich Gedanken. Ich glaube, es hat im Augenblick keinen Zweck, ihn zu bedrängen.» «Aber was soll ich tun?» «Ihn gern haben», sagte Wedemeier. 82
Für den nächsten Mittwoch erhielt Tono eine Einladung zu Fred, die ihm wieder von Assel übermittelt wurde, als er dienstags aus der Schule kam. «Das ist 'ne Ehre», sagte Assel. «Nur Auserwählte dürfen den Boß besuchen.» «Wieso Boß?» fragte Tono. «Er ist älter als wir, das ist alles!» «Schon gut! Reg dich bloß nicht auf... Ich muß dir nämlich noch was geben. Kommst du mit zu mir?» «Was willst du mir geben?» «Schulungsmaterial, viel besser als das von Wedemeier. Du sollst es bis Mittwoch durchlesen!» «Ich bin schon geschult», sagte Tono. «Es ist nicht so 'n Kinderkram wie in der Penne, sondern echt politisch!» «Ist Panzer dabei?» «Nicht jeder wird zugelassen.» «Kess?» Assel fing an zu kichern. «Kann sein, daß sie auch bei Fred ist... Zur Schulung», sagte er boshaft. «Hihihi!» Im selben Moment flog er mit dem Kopf voran in ein Dornengestrüpp, schrie auf und fing an, sich fluchend aus den Zweigen und Ranken wieder herauszuarbeiten. «Du brauchst hier gar nicht den Ritter zu markieren!» brüllte er Tono an. «Sie ist wirklich mit ihm zusammen!» Asseis Großmutter war nach dem Krieg in ein kleines Mietshaus eingezogen, das bald darauf von der stürmischen Siedlungsentwicklung im Nordstadtviertel überrumpelt wurde und sich nach wenigen Jahren ohne Sonne, ohne Himmelsblick im Schatten der gigantischen Neubauten verlor. «Sie glaubt, daß ich bei < Elektro-Karl > als Praktikant arbeite», sagte Assel. «Kein Wort also über Fred oder die anderen.»
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«Wenn sie meine Jacke sieht, weiß sie ohnehin Bescheid.» «Meine Oma ist kurzsichtig!» Assel zog ihn mit sich über den schmalen Flur in sein Zimmer, durch dessen Fenster er auf einen Parkplatz blickte. «Bist du es, Ronald?» rief von nebenan die alte Frau, die jedenfalls nicht schwerhörig war. Ronald! Tono betrachtete Assel prüfend und feixte. Der Raum wurde beherrscht von einem Schrank und einem großen Holzbett, verziert mit Schnitzwerk, dazu ein abgewetzter Polstersessel, ein Tischchen mit Häkeldecke, einige üppig wuchernde Grünpflanzen und die Deckenlampe mit einem Schirm, an dem ringsum vergilbte Fransen hingen. Tono fühlte sich eingekeilt zwischen den Möbeln, bedrückt von der Luft, wie streng und scharf roch es hier - alles ganz anders als in Panzers bunter Bude, ganz ohne irgendeinen Hinweis auf Wünsche oder Träume, die Assel vielleicht bewegten. Unter der Fensterbank lagen Stapel von Broschüren und Flugschriften ähnlich denen, die Tono bereits bei Fred gesehen hatte. «Ich arbeite in der Druckerei. Das Info ist gestern erst fertig geworden», sagte Assel und legte einige Blätter für Tono zusammen. «Warum soll deine Großmutter nicht wissen, wo du arbeitest?» «Sie redet zu viel», sagte Assel, öffnete den wuchtigen Kleiderschrank und hängte seine Jacke hinein. Mit zwei Schritten stand Tono neben ihm. Da leuchteten endlich hellere Farben, an den Schranktüren klebten farbige Plakate. «Ja», sagte Assel feierlich. «Hier siehst du ihn - kopiert und vergrößert.» Auf einem anderen Poster waren Massen 84
von Marschierern abgebildet, sie trugen braune Uniformen und am Jackenärmel ein schwarzes Hakenkreuz in weißem Kreis auf rotem Grund. «Woher hast du die Bilder?» «Aus einem Koffer im Keller. Meine Oma war früher total verknallt in ihn. Das waren noch Zeiten! Damals hat sie meinen Großvater kennengelernt.» «Adolf Hitler?» «Bist du blöd?!» rief Assel. «Er sah ihm nur ähnlich... Schnurrbart, schwarze Haare, gescheitelt und mit Schwung in die Stirn.» Tono holte tief Luft, nahm die Drucksachen von Assel entgegen und fragte so lässig wie möglich: «Kennst du die Parteizentrale in der Kagelmannstraße?» Mit einem Knall sperrte Assel die Schranktür zu und ließ das Schloß einschnappen. «Fred erlaubt nicht, daß die Adresse bekanntgegeben wird!» «Wir sind doch privat hier.» «Das Thema ist geheim, Alter!» «Aber wir reden doch schon seit fünf Minuten darüber!» «Du bist nicht bei Trost, echt nicht!» sagte Assel ärgerlich. «Ronald!» «Komm mit», sagte er. «Du mußt sie begrüßen, sie will immer wissen, wer in die Wohnung kommt.» «Wie lange lebst du schon hier?» «Seitdem ich geboren bin.» Nach den Eltern konnte Tono nicht mehr fragen, denn Assel drängte ihn hinaus in den Flur und winkte ihn zum Zimmer der Großmutter, schräg gegenüber. «Guten Tag», sagte Tono höflich und blieb in einigem Abstand vor dem Sofa stehen, wo eine große hagere Frau gegen
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ein Kissen gelehnt saß. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. «Wie heißt du, mein Junge?» «Tono.» «Ein Italiener?» «Er ist Deutscher, Oma», sagte Assel. Die Finger legten sich knochig und kühl um Tonos Rechte. «Bist du ein Arbeitskollege von Ronald?» «Ich geh noch zur Schule.» Gleich neben der Tür waren auf einer Kommode mehrere Rahmen mit Fotos aufgestellt, das mittlere zeigte einen Soldaten in grauer Uniform, mit Schirmmütze und Oberlippenbart. Er war kleiner als die junge Frau, die neben ihm stand und einen Brautstrauß in den Händen hielt. «Ronald will Elektro-Ingenieur werden», sagte die alte Frau. «Hast du auch schon Pläne für deine Zukunft?» «Ja», sagte Tono mit einer Bestimmtheit, die ihn selbst überraschte. «Ich geh nach Wyoming/USA!» Er mußte es zu der alten Frau sagen und zu Assel, obwohl die Vereinigten Staaten von Amerika eigentlich in Panzers Wünsche gehörten, doch der würde ihm einen davon bestimmt überlassen. In jedem Fall aber - das wußte er ganz genau - mußte das Land seiner Träume unbedingt riesig sein. «Um Himmels willen! Warum so weit fort?» rief Assels Großmutter. «Mein guter Mann ist bis nach Stalingrad marschiert und wäre fast dabei umgekommen!» «Ich will doch nicht marschieren, sondern fliegen!» sagte Tono. «Ha!» lachte Assel auf. «Erst mal wirst du marschieren, und zwar bei der Bundeswehr!» «Wedemeier sagt, daß wir uns auch anders entscheiden können.» 86
«Wedemeier ist 'n Feigling, einer von diesen schlaffen Körnerfressern ohne Mumm in den Knochen», stellte Assel nachdrücklich fest, «'s hört sich an, als wolltest du auch so einer werden.» Auf dem Bild neben dem Soldatenfoto waren das Haus zu sehen und hinter dem Haus anstelle des Parkplatzes ein Hof mit einem Gemüsegarten. Dort stand die Frau des Soldaten Hand in Hand mit einem halbwüchsigen Mädchen. «Du solltest nicht so abfällig über deinen Lehrer sprechen», tadelte die Großmutter. «Er hat dich gefördert und sich oft für dich eingesetzt - nachdem das Unglück mit deiner armen Mutter passiert ist», murmelte sie, beugte sich zum Tisch, griff nach der Thermoskanne und goß einen dicken Strahl Kaffee ein paar Millimeter neben ihre Tasse, so daß ein Teil in die Untertasse und auf die Tischdecke platschte. Tono wollte hinspringen und ihr helfen, aber Assel hielt ihn zurück. «Wedemeier soll sich um seine Angelegenheiten kümmern und sich aus unseren heraushalten. - Wir gehn jetzt, Oma.» «Sie mag es nicht, daß man sie für kurzsichtig hält», sagte er im Flur, als er Tono zur Tür begleitete. «Kommst du morgen auch zu Fred?» fragte Tono. «Was soll ich denn im Anfängerkurs? Ich gehöre schon lange zu den Fortgeschrittenen!» Die Erlebnisse bei Assel und dessen Großmutter hatten Tono verwirrt und verunsichert. Er brachte es nicht fertig, sie wie kleine Unannehmlichkeiten einfach abzutun. Statt dessen wimmelten die Bilder aus dem alten Schrank und von der Kommode in seinem Kopf herum und zwangen ihn - ob er wollte oder nicht -, sich Gedanken darüber zu machen. Auch seine Zukunft bei den schien plötzlich unklar. Der Eindruck von einer Clique, die mit verrückten 87
Aktionen stürmische Bewegung in den langweiligen Alltag brachte, seine Erwartungen, daß er Freunde gewinnen und etwas völlig Neues in seinem Leben beginnen könnte, würden sich mit Assel zusammen bestimmt nicht erfüllen. Am meisten bedrückte ihn jedoch Assels Bemerkung über Fred und Kess. Es durfte einfach nicht wahr sein, daß sie sich in Fred verliebt hatte, und er nahm sich vor, es so lange nicht zu glauben, bis sie selbst es ihm erzählte. Auf halber Strecke zur Bossestraße entschloß er sich, das Schulungsmaterial nicht zu Hause durchzulesen, sondern lieber an einem neutralen Ort, am besten im , wo sich zu dieser Tageszeit nur noch wenige Schüler einfanden. Also kehrte er um. Im Cafe waren wirklich die schönsten Plätze für ihn frei, doch er wählte wieder die Eckbank, wo er mit Kess zusammengesessen hatte. Dann legte er die Propagandaschriften vor sich hin und studierte zuerst das Blatt zur , von dem Fred ihm eine neue Kopie als Ersatz für das verlorene Exemplar mitgegeben hatte. Tono war geübt im Lesen, im allgemeinen begriff er leicht und schnell, worum es ging, doch was hier gedruckt stand, konnte nicht gedacht oder verstanden werden, es waren aneinandergereihte Beschimpfungen: <Systemparteien und ihre Hintermänner, das Kapital>, , , <Mischrasse>, , sollten für das Gute stehen, das entnahm Tono den ständigen Wiederholungen und auch daraus, daß <der Deutsche> 88
mehrmals als <Mensch> bezeichnet wurde. Im nächsten Schriftstück zum Zweiten Weltkrieg wurde mit wenigen kurzen Sätzen alles für falsch erklärt, was Tono bei Wedemeier im Unterricht jemals gelernt hatte. Sehr deutliche Bilder sah Tono dann, als er den Abschnitt las, wo die Verbrechen an jüdischen Menschen verharmlost und abgeschwächt wurden, aber die Bilder kamen nicht aus dem Text, sondern aus seiner Erinnerung an die Klassenfahrt zum ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen * im August dieses Jahres.
Wir können doch die Toten des Krieges nicht gegeneinander aufrechnen, jeder einzelne wäre zuviel Antwort: Natürlich ist jeder Tote während eines Krieges zuviel. Nur ist es dem heutigen Zeitgeist entsprechend, daß man immer nur von den Toten spricht, die auf der Gegenseite umkamen, sei es nun bei sogenannten Kriegsverbrechen, in den Konzentrationslagern oder sonstwo. Ebenso wichtig ist aber jeder deutsche Mensch, der sein Leben in diesem Krieg lassen mußte. Wer dem deutschen Volk eine Zahl von Toten vorhält, der muß sich auch gefallen lassen, daß unser Volk die Zahl seiner Toten nennt. Kriegsverbrechen gibt es auf allen Seiten, weil ein Krieg immer unmenschlich ist, aber es gibt keinen Punkt, weswegen man unsere Führung nach dem Krieg in Nürnberg anklagte, dessen sich auch unsere Gegner nicht schuldig gemacht hätten. Wenn jedes Volk seiner Opfer gedenkt, so vergessen auch wir nicht die von alliierten Terrorbombern ermordeten Frauen und Kinder; die bei der Vertreibung nach dem Krieg umgekommenen deutschen Menschen; die nach dem Krieg von den Siegern ermordeten Hunderttausenden Nationalsozialisten; die nach dem Krieg in den Gefängnissen und Konzentrationslagern umgekommenen deutschen Menschen und auch unsere Reichsregierung, die entgegen jedem Recht
* Mauthausen in Oberösterreich, sog. <Stamm(konzentrations)lager> mit vielen und in der Nähe von Linz und Wien
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vor ein Tribunal der Sieger gestellt wurde und die ihre Liebe zum deutschen Volk zum großen Teil mit dem Leben bezahlen mußte. Auch hier gilt gleiches Recht für alle Völker, und noch immer ist der schlimmer, der im Anschluß an einen Krieg wehrlose Menschen umbringt, als wenn dieses wie überall einmal während des Krieges geschieht.
Hitler wollte von Anfang an alle Juden umbringen Antwort: Auch diese Behauptung ist völlig aus der Luft gegriffen und mit nichts zu widerlegen*. Hitler hatte von Anfang an immer wieder gefordert, daß die Juden in Deutschland aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet werden müßten, mehr hat er niemals gesagt. Alle Versuche Hitlers, die Juden nach der Machtergreifung außer Landes zu bringen, scheiterten an der Haltung genau der Kräfte, die uns heute von einem geplanten Massenmord erzählen. Fast alle Länder weigerten sich, Juden aus Deutschland aufzunehmen, ebenso scheiterte der Plan einer Ansiedlung der Juden auf Madagaskar. Im Gegenteil bekamen gerade viele junge Zionisten im nationalsozialistischen Deutschland der Vorkriegszeit eine landwirtschaftliche und handwerkliche Ausbildung, die sie befähigen sollte, auch in diesen Bereichen den Erhalt ihres Volkes in der Eigenstaatlichkeit zu sichern. Wer von Anfang an plant, ein Volk auszurotten, der wird sie nicht noch ausbilden. Hitler hat sechs Millionen Juden vergast Antwort: Dieses ist heute eine Frage geworden, auf die man nach den bestehenden Gesetzen, trotz angeblicher Meinungsfreiheit, nur mit Vorsicht antworten kann. Zur ist zu sagen, daß Gerald Reitlinger, der jüdische Vertreter für die <Endlösung>, selbst erklärt, es seien 4,5 Millionen Juden in Kriegszeiten im deutschen Machtbereich umgekommen. Tatsache ist eines, nämlich daß das Sonderstandesamt Arolsen, das alle Todesfälle in den deutschen Konzentrationslagern, die nachweislich sind, registriert, heute eine Zahl von etwa 300000 Sterbefällen angibt. Eine weitere Tatsache ist, daß es nach Erklärungen des Institutes für Zeitgeschichte im ganzen Altreich keine Gaskammer gab, trotz vor Gericht gemachter Aussagen von dort stattgefundenen Vergasungen. Ebenso gibt es kein einziges Dokument aus der Zeit des Dritten Reiches,
* nach dem Originaltext zitiert
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das irgendwo auf die Existenz einer Gaskammer hinweist, noch gibt es ein Dokument, wonach Hitler oder ein anderes Mitglied der Führung des Deutschen Reiches eine Vergasung befahl. Aufgrund dieser Tatsachen mag sich jeder seine eigene Meinung über derartige Anklagen bilden.*
Genauso wie Achim oder Bernd hatte Tono sich manchmal über Wedemeiers Politikunterricht beschwert, weil der Lehrer ihnen mit Büchern, Filmen, Ausstellungen und mit der Fahrt nach Mauthausen zu viele Fakten über den Nationalsozialismus zumutete. Aber nun sollte ihm mit diesem Papier zugemutet werden, nicht mehr zu sehen, was er mit eigenen Augen in Mauthausen gesehen hatte: die Gebäude des Konzentrationslagers, wo bis zum Kriegsende Häftlinge mißhandelt und zu Tode gequält wurden, die , an der Häftlinge erschossen wurden, das Krematorium, die Gaskammer, Fotos von ermordeten, von verhungernden Häftlingen... die Dokumente, die Berichte und Briefe von Häftlingen, die Aussagen des ehemaligen Lagerkommandanten. Offensichtlich sollte er von Assel für dumm verkauft werden - und auch von Fred. Tono war froh, daß er in dem Moment, wo ihm diese Erkenntnis dämmerte, im saß und ungestört nachdenken konnte. Was wäre, wenn auch Fred und Kess einen im Wandschrank versteckt hielten - und Panzer? Es war genau hier gewesen, wo Kess ihm riet, sich aus Freds Angelegenheiten herauszuhalten, wo sie ihn vor drohendem Ärger warnte, als er sie nach der Nazi-Partei fragte; und Assel belehrte ihn heute, daß er über die Kagelmannstraße zu * Auszüge aus Schulungsmaterial rechtsextremistischer Gruppen in der Bundesrepublik
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schweigen habe... Beide wußten also mehr, als sie zugeben wollten, und Fred handelte gegen die Losung <Einer für alle, alle für einen>, wenn er in seine Wohnung einlud, während andere ausgeschlossen blieben. Ob Ärger oder nicht - die Heimlichkeiten in der Gang mußten unbedingt aufhören! Als Tono die Schulungspapiere in seinen Ordner zurücklegen wollte, fiel ein Blatt heraus, das er noch nicht eingeheftet hatte: seine Aufgabe für die nächste Stunde bei Wedemeier, der Essay* von Albert Camus. Er überflog ihn schnell. Was brauchte er noch einen toten Dichter in all seinen Sorgen! Außerdem waren die Worte und Sätze viel schwieriger zu verstehen als der Text aus den Flugblättern. Ungeduldig wollte er schon alles zusammenpacken, als ihn unversehens eine Stelle mitten im Text festhielt, ihn innehalten und tiefer eindringen ließ, ohne daß er genau wußte, was ihn da berührte und was es bedeutete:
Als ich in Algier lebte, geduldete ich mich den ganzen Winter hindurch, weil ich wußte, daß in einer Nacht, in einer einzigen kalten und reinen Februarnacht, die Mandelbäume in der Vallée des Consuls sich mit weißen Blüten bedecken würden. Und ich war jedesmal verwundert, wie dieser zarte Blütenschnee allen Regen und Meerwinden trotzte. Und doch dauerte jedes Jahr das Blühen gerade so lange, als es braucht, um die Früchte vorzubereiten...
* Abhandlung, die eine literarische oder wissenschaftliche Frage in knapper und anspruchsvoller Form behandelt. 92
«'ne heiße Zitrone oder was?» rief die Serviererin vom Tresen. «'ne kalte», bestellte Tono und machte es sich gemütlich, um die Stelle noch einmal zu lesen... Blühten in Algier nicht auch in jedem Jahr die Zitronenbäume?
Hätte Assel diesen Mittwoch nicht mit dem nächsten verwechselt und Tono den richtigen Termin für die Schulung genannt, wäre diesem wohl noch erspart geblieben, was er bei Fred erfahren mußte und am liebsten nicht gewußt hätte. In seiner Tasche steckten alle Flugblätter und Broschüren, dazu ein Zettel, auf dem er sich Kritikpunkte notiert hatte, damit er in der Diskussion seine Meinung vertreten konnte. So erreichte er gegen 19 Uhr gut vorbereitet die Straße am Kanal. Weder in Freds Küche noch im Wohnzimmer brannte Licht. Ob er zu schnell gelaufen und zu früh angekommen war? Wie auch immer, er wollte nicht warten, selbst wenn er wegen seiner Unpünktlichkeit wieder Vorhaltungen zu hören bekäme. Kaum jedoch betrat er die Brücke, da stoppte er gleich wieder; denn er sah Kess am anderen Ende im Sturmschritt die Straße hinunterlaufen, fort von dem Haus, wo Fred wohnte. War sie etwa noch zeitiger als er eingetroffen und wieder weggeschickt worden? Er ließ sich für das letzte Stück Weg viel Zeit, schlenderte langsam durchs Treppenhaus, die Stufen hinauf und stellte fest, daß er bei Paschke nicht zu läutern brauchte. Die Tür stand offen. «Hej, Süße! Du hast dich aber beeilt!» rief Fred aus den hinteren Räumen, gleichzeitig polterten von unten Schritte herauf, und nun spielte Tono wirklich den Schnüffler, er wischte hinein und verbarg sich zwischen den Mänteln in der Garderobenecke. 93
Eine Rolle, die ihm überhaupt nicht gefiel, aber fürs erste konnte er nichts machen, denn Kess stand schon im Flur und zog die Tür hinter sich zu. Zu seinem Entsetzen ging sie jedoch nicht ins Wohnzimmer. Vielleicht war Fred krank und hatte sich von ihr Medikamente besorgen lassen, vielleicht war die Schulung verschoben worden? Anfangs blieb alles still... Gläser klirrten, Flüssigkeit sprudelte, und dann die bekannte Stimme: «Mußt du jedesmal dasselbe Theater veranstalten? Zier dich nicht so!» «Heute geht es nicht!» «Bei Frauen geht es immer!» Schlagartig wurde Tono klar, was Assel heute mittag angedeutet hatte, und obwohl er sich selbst dafür verabscheute, ließ er die beiden nicht allein, sondern harrte aus in seinem Versteck und wollte es wissen. «Aber es macht mir nicht immer Spaß... Laß mich los!. . . Du tust mir weh!» «Komm, komm junge Dame!» drängte Fred. «Widerstand ist zwecklos!» Ein Gerangel, ein Poltern und Keuchen... War das Sex?... War das Liebe? «Du wirst gleich merken, wer hier der Stärkere ist!» «Hör auf, du bist brutal!» sagte Kess halb lachend, halb abwehrend, und dann sagte sie nichts mehr, nur noch Fred war zu hören in einer Art, die Tono aus der Wohnung trieb, aus dem Haus, zum <Mailänder Tor>, kreuz und quer durch die Weststadt - mit einer unbändigen Wut im Bauch auf Alfred Paschke. Bei Assel zu Hause meldete sich am Telefon «Ronald Reimers!» «Hast du mich heute absichtlich zu dieser Schulung geschickt, die gar nicht stattfindet!» schnauzte Tono ihn an. 94
«Tut mir leid, Kumpel», sagte Assel zerknirscht. «Das Treffen ist erst für nächste Woche angesetzt. Ich hab die Termine durcheinandergebracht.» Du Lügner! dachte Tono und knallte den Hörer in die Gabel. Vor der Fernsprechzelle wäre er beinahe Theo Albers in die Arme gelaufen, der ebenfalls telefonieren wollte. Tono versuchte ihm auszuweichen, konnte einen kurzen Blick auf den verletzten Arm aber dennoch nicht vermeiden. «Es geht schon wieder», sagte Theo. «Mir wird keiner so leicht den Mund verbieten - auch nicht mit Gewalt!» Er sagte es nicht unfreundlich. Was sollte Tono darauf antworten? Sich rechtfertigen: Ich weiß nicht, wer's gewesen ist, Theo? Das wäre nicht ehrlich; denn inzwischen war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch etwas wissen könnte. Im übrigen gefiel es ihm, daß der alte Mann nicht den Märtyrer herauskehrte, sondern seine konsequente Haltung beibehielt. Typisch Theo, ein echter Dickschädel! Am nächsten Morgen war Tonos Militärjacke von der Garderobe verschwunden. «Ich hab den Dreck und die Blutflecken ausgewaschen. Du kannst sie Freitag wieder anziehen», sagte Anke entschlossen und wurde angenehm überrascht, als ihr Sohn die Mitteilung widerspruchslos akzeptierte; denn er hatte das provozierende Kleidungsstück in letzter Zeit ständig getragen und sich beharrlich geweigert, es ihr für eine Reinigung zu überlassen. Außerdem erschien er endlich einmal wieder in der Küche, frühstückte länger als Anke und schwindelte ihr vor, die erste Stunde Englisch fiele wegen Krankheit der Lehrerin aus. In diesem Moment erwog er, den Unterricht heute ganz zu versäumen. Gestern und vorgestern war er früher als gewöhnlich aus dem Haus gegangen voller hochge95
spannter Erwartung, Kess auf dem Schulweg zu begegnen geschmückt mit seinem Geschenk! Mit diesem Glück am Vormittag war es nun vorbei, da das Mädchen seiner Träume sich für einen anderen entschieden hatte. Tono verspürte nicht mehr die geringste Lust, sie unterwegs zu treffen, genaugenommen fürchtete er sich sogar davor. Gegen neun Uhr brach er schließlich auf, schlug einen weiten Bogen um den Laden von Ismet Gökhan, vor dem Mesut und sein Vater Kisten und Körbe entluden. Wie auf geheimen Befehl wählte er dann doch nicht die Richtung zur Schule, sondern zu den Gleisen beim Stadtbahnhof, wo mit dem Ausflug nach Hannover seine Geschichte mit Kess begonnen hatte. Heute regnete es nicht... Es war kälter geworden, und sein alter Anorak wärmte ihn weit weniger als die Uniformjacke. Viele Menschen hetzten an ihm vorbei, während er sich anscheinend wieder ins Ungewisse voranbewegte, wie so oft damals nach Saschas Tod. Tono dachte daran, daß sein Freund lebte er noch - heute fast so alt wäre wie Fred. Die beiden hatten die Gang vor drei Jahren gegründet, und Tono wollte schon damals Mitglied werden, aber Fred verlangte ein Mindestalter von 12 Jahren, auf Jüngere sei kein Verlaß, behauptete er. «Du meldest dich einfach für die Mutprobe... Wenn du sie bestehst, ist er bestimmt damit einverstanden, daß du mitmachst», hatte Sascha ihm bei ihrem letzten Gespräch versichert. Um seinen Freund nicht zu verlieren, hätte Tono alles mögliche riskiert, aber dazu kam es nicht mehr, weil Sascha zu viel riskierte und beim <S-Bahn-Surfen> * sein Leben aufs Spiel setzte, so daß Tono ihn doch verlor. * <S-Bahn-Surfen> - lebensgefährlicher aus fahrenden Stadtbahnzügen. 96
In diese Gedanken vergraben gelangte er bis an den ElektroKasten, Kess' Platz mit Aussicht auf den Schienenverkehr. Er stemmte sich hinauf, um den Vormittag im Lärm der vorbeifahrenden Züge zu verbringen, sich wohl zu fühlen im Freien, wie er es durch Sascha gelernt hatte. Vielleicht konnte der Freund damals so viel Verständnis für Tonos Rebellion gegen die Enge in der Bossestraße aufbringen, weil er selbst ein Zuhause wie mit Anke und Karl-Heinz nie gehabt hatte. Dagegen kannte er jeden Flecken in der Stadt und war überall daheim, nur nicht im Jugendheim, das er notgedrungen als kostenlose Unterkunft nutzte. Vom Frühling bis in den Herbst verzichtete er sogar oft auf das Mittagessen und trieb sich nach der Schule bei Wind und Wetter draußen herum. Als Tono sein Freund wurde, fuhren sie manchmal, wenn Anke arbeitete, in die Wohnung hinauf. Sie kochten, aßen zusammen, und beiden schmeckte es so gut wie noch nie, bis sie an einem Freitag von Karl-Heinz erwischt wurden, der unerwartet früh von einer Lieferfahrt zurückkehrte. Ein unbekannter Jugendlicher, unordentlich gekleidet, verwildert, viel älter als Tono an Ankes Küchentisch! Karl-Heinz warf ihn sofort hinaus und sorgte dafür, daß Anke ihrem Sohn noch am selben Abend die Freundschaft mit Sascha verbot aus Angst, Tono könnte geraten. Dies war der Tag, an dem Tono anfing, den Liebhaber seiner Mutter zu hassen. Sascha war es gleichgültig, was die Leute über ihn dachten, aber Tono fand es peinlich, daß er Sascha nur noch heimlich treffen konnte. Bei diesen Gelegenheiten erzählte ihm sein Freund voller Begeisterung von Fred, den er während der Krawalle um das Jugendzentrum kennengelernt hatte, und Tono schwitzte vor Angst und Eifersucht, als Sascha von seinem sprach und von der gemeinsamen Idee, eine 97
Gang mit dem Namen aufzubauen, in der Nordstadt. «Nur die Besten dürfen mitmachen!» Wie klein und unbedeutend hatte Tono sich vor diesen hohen Ansprüchen gefühlt und wie erleichtert war er gewesen, als Sascha ihn nicht im Stich ließ, sondern ihn - obwohl er jünger war als zwölf - zu diesen zählte, die aufgenommen werden könnten. Als Tono in diesem Jahr, lange nach Saschas Unfall, zu den eingeladen wurde und seinen Mut hatte beweisen dürfen, fühlte er sich, als habe er ein Versprechen eingelöst und könne wiedergewinnen, was er mit Sascha verloren hatte. Er fand auch seine Träume wieder, die er in der Zeit mit Sascha geträumt hatte: von einer Zukunft auf der freieren Seite des Lebens. Doch wo Alfred Paschke regierte, gab es keine Freiheit, und gerade jetzt vermißte Tono schmerzlich den einzigen Freund, dem er alles hätte anvertrauen können: seinen Liebeskummer, aber auch seine Bedenken gegen Assels Träume vom . Heute nachmittag fand Tono im Briefkasten einen Umschlag ohne Marke, der an ihn adressiert war:
Du bist nicht in der Schule gewesen. Sondertreffen!! Heute, 17 Uhr, bei den Lagerhallen! Es brennt! Assel Im Fahrstuhl las Tono die Aufforderung noch einmal und ein drittes Mal oben in der Wohnung, wo er vor dem Klo das Stück Papier in Brand steckte und es in die Kanalisation spülte. Er schrak zusammen, als das Telefon läutete. 98
«Hallo, Tono», sagte Andreas Wedemeier. «Ich hatte heute morgen Kopfschmerzen», erwiderte Tono, und das war bei allem, was ihm durch den Kopf ging, nicht nur eine Ausrede. «Unser Medienraum ist vor kurzem verwüstet worden», fuhr Wedemeier fort. «Es wird eine Untersuchung geben.» «Warum rufen Sie mich an?» «Weil ich die Schüler aus meinen Kursen zu einer Diskussion über die Vorfälle einladen möchte und dabei auch an dich denke.» Das hat mir gerade noch gefehlt! « Machst du mit?» «In der Schule?» fragte Tono. «Nein», sagte Wedemeier. «Die Schulleitung muß bei solchen Vorkommnissen zwar den behördlichen Weg gehen... Aber wir könnten uns einen freieren Rahmen schaffen, zum Beispiel im . Ich stelle mir vor, daß wir dort einen Raum mieten - vielleicht für Montag nachmittag. Was hältst du davon?» Dieser Lehrer war verdammt hartnäckig. Ob er ihn verdächtigte und auf raffinierte Art reinlegen wollte? « Ä h . . . Ähäm. . . » «Könntest du mir bei der Organisation helfen?» «Es ist... Ich muß zum Arzt», stotterte Tono. «Und dann die Schularbeiten. . . » «Falls du doch noch Zeit übrig hast, ruf mich bis Sonnabend an. Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn du Montag dabeisein könntest.» «Ich werd's mir überlegen.»
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Zu Freds großer Entrüstung platzte Tono viel später als alle anderen, ohne ein Wort der Entschuldigung in die versammelte Runde. «Glaub ja nicht, daß wir deinetwegen wieder von vorn anfangen!» Kess neben Fred, aber ohne den Aquamarin... Gott sei Dank! «Was soll uns 'ne Aktion gegen 'n Lehrer bringen?» fuhr Panzer in seiner Rede fort. «Das ist kein normaler Lehrer. Es ist einer, der uns auch noch in unserer Freizeit kontrollieren will. Er spioniert uns nach», sagte Fred. «Er veröffentlicht in seiner Zeitung unsere Graffiti!» «Dafür hat er seinen Denkzettel schon bekommen.» «Aber das scheint ihn überhaupt nicht zu beeindrucken!» «Ich bin zum Schulleiter bestellt worden», berichtete Kess. «In seinem Büro saßen zwei Bullen, die mich ausfragen wollten.» «Was hat Wedemeier damit zu tun?» «Denk doch mal nach», sagte Assel. «Die wollen rauskriegen, wer an dem Bruch im Medienraum beteiligt war, und Wedemeier will Montag im 'ne öffentliche Schulversammlung abhalten - 'n Tribunal, wo er vielleicht sogar Namen nennt.» «Deshalb werden wir ihm zuvorkommen. Er wohnt in der Weststadt und hat 'ne Freundin, die ihn am Wochenende besucht.» «Über 'ne Frau herfallen? Ohne mich!» sagte Panzer. «Blödsinn!» fauchte Kess ihn an. «Wir werden ihm nur einen kleinen Schrecken einjagen, der ihn dazu bringt, daß er am Montag lieber ins Kino geht. Irgendwelche Einwände?» fragte Fred barsch und schlug eine 100
Karte von der Weststadt auf. Seiner Beschreibung entnahm Tono, daß Wedemeier nur wenige Straßen entfernt von Alfred Paschke das untere Stockwerk eines Zweifamilienhauses gemietet hatte. «Was für 'n Schrecken?» fragte er, aber Fred meinte, diesen Teil des Plans werde er selbst übernehmen. Tono und Kess sollten im Spezialgeschäft für Karnevalsartikel ein paar Masken besorgen, die für die Aktion benötigt würden. «Außerdem erscheint jeder in Schwarz!» ordnete er an. «Wir dürfen nicht erkannt werden!» Am Ausgang wartete Tono auf Kess, um sich mit ihr für die Einkäufe zu verabreden. Fred trat als erster auf ihn zu. «Warum trägst du 'ne andere Jacke... Gefällt dir unsere nicht mehr?» «Er darf sie ja wohl mal vergessen», antwortete Kess. «Und er trudelt hier neuerdings ein, wann es ihm gefällt... Die Schlamperei ist nicht erwünscht!» sagte Fred in schroffem Ton, packte Kess beim Arm und schob sie nach draußen. Sie machte sich los aus seinem Griff und lief zu Tono zurück. «Morgen nach der sechsten im , danach fahren wir in die Stadt!» Eine hauchdünne Decke aus Eiskristallen glitzerte auf dem grauen Asphalt, knisterte unter Tonos weitausholenden Schritten über das verlassene Gelände. Er war in entgegengesetzter Richtung aufgebrochen, so schnell wie möglich fort von den anderen, die genau wie er einzeln ihrer Wege gingen, bis auf Kess und Fred. Auf seinem Weg in der Stille über die leeren Flächen hörte er überdeutlich die leisesten Geräusche und spürte das Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen, aber plötzlich auch fremde Bewegungen, als liefe jemand hinter ihm her. Da blieb er stehen und schaute sich um. 101
«Du tigerst durch die Gegend wie 'n Verfolgter», sagte Panzer keuchend. Er reichte Tono seinen Walkman. «In Excess* vom Feinsten... Beim Schlittschuhlaufen kannst du noch heißer drauf abfahren!» Mit Panzer durch die Dunkelheit laufen - mit Panzers Musik! «Kein Heavy Metal mehr?» fragte Tono nach einer Weile. «Man muß ja nicht immer dasselbe hören!» Sie stapften in schweigendem Einvernehmen zuerst zum Parkplatz für Fernlastzüge und dann weiter bis zur Auffahrt der Autobahn. Oben am Hang stand eine kilometerlange Mauer als Schutz gegen den Verkehrslärm. Hier zeigte Panzer seinem Begleiter den , wo er im Sommer manchmal die Nachmittage verbrachte. «Mit den anderen?» «Fred und Assel ha'm kein Feeling für Musik!» «Aber Kess?» «Ich brauch kein Mädchen... Außerdem gehört sie Fred.» «Glaubst du, er kann sich einfach nehmen, was er will?» fragte Tono aufgebracht. «Soll er doch! Er ist der Boß!» sagte Panzer ungerührt. «Wen kümmert es, was er macht. Ich werd sowieso bald abhauen!» Sie suchten aus dem Strom der vorbeiflutenden Fahrzeuge modische Sportwagen aus, mit denen Panzer quer durch Europa bis nach Spanien fahren wollte, von dort mit der Fähre nach Afrika und von Afrika mit dem Flugzeug über den Ozean nach Amerika. Je länger sie auf der Brüstung zusammensaßen und über den Kontinent jenseits des Atlantik sprachen, desto sicherer fühlte Tono, daß Panzer, falls er ihn danach fragte, * -, 1991 1O2
damit einverstanden wäre, ihn mitzunehmen. Und er schlug ihm vor, in Afrika von Algerien aus abzufliegen. «Im Februar... Du mußt dann in Algier übernachten!» «Warum übernachten?» «Du kannst auch wach bleiben, aber es muß nachts sein. Du guckst aus'm Fenster oder gehst auf die Straße.» «Dann beten die Moslems - oder was?» «Nee... Es ist kalt... so wie jetzt... und mit einemmal fangen die Mandelbäume an zu blühen.» «Ist ja ganz nett», sagte Panzer. «Überall!» erzählte Tono weiter. «Mandelbäume gibt's massenhaft in dem Land - auch Zitronenbäume. Wenn wir zusammen losfliegen würden, könnten wir sie zusammen sehen.» «Abgemacht!» sagte Panzer. «Aber so 'ne weite Reise ist teuer. Meine Mutter ist früher immer getrampt.» «Hat sie nicht in 'ner Band gesungen?» fragte Tono. «Da wird doch das ganz große Geld verdient!» «Das war erst später.» «Meine Mutter ist nie getrampt», sagte Tono. «Gesungen hat sie auch nicht, nur gearbeitet.» «Meine singt jetzt auch nicht mehr. Sie quatscht bloß dauernd von den alten Zeiten.» «Genau wie Assel und seine Oma. Die schwärmen von noch älteren Zeiten - und vielleicht auch Fred.» Jetzt oder nie! dachte Tono, nahm seinen Mut zusammen und sagte: «Du hast doch 'n Schrank in deinem Zimmer?» «'n Wandschrank, eingebaut», bestätigte Panzer. «Und drinnen im Schrank - Adolf Hitler?» «Waaaas?!» schrie Panzer. «Vielleicht als Mumie? Bist du total übergeschnappt!» 103
«Nur sein Porträt - an der Schranktür!» «Du hast meine Bilder doch gesehn! Es sind Landschaften!» «Sorry», sagte Tono. «Ich geb's ja zu, es war 'ne blöde Frage.» «Mehr als blöd», sagte Panzer. «Nicht mal 'n Michael Jackson kommt mir an die Wand, obwohl der Typ 'ne gute Musik mit 'ner guten Show auf die Bühne bringt!» Und dann redeten sie nicht mehr, sondern steckten die Köpfe zusammen, um das Live-Konzert mit je einem Ohr gemeinsam zu hören.
Zum Abendessen war auch für Tono der Tisch gedeckt... Anke goß gerade den Tee auf und begrüßte ihren Sohn glänzend gelaunt mit der großen Neuigkeit, daß sie eine andere, besser bezahlte Stellung in Aussicht habe. «Morgen gehe ich zum Personalchef und kündige - nach neun Jahren!» Sie reichte ihm seinen Becher mit dem heißen Getränk und lehnte sich gegen das Spülbecken ihm gegenüber. «Früher hab ich immer Angst gehabt, daß sie mich rauswerfen, wenn ich den Akkord nicht schaffe - wir brauchten doch das Geld! Jetzt brauchen sie mich, aber sie kriegen mich nicht mehr, weil sie mir keine Lohnerhöhung bewilligt haben!» sagte sie voller Tatendrang und erklärte Tono in allen Einzelheiten den Vertrag mit der neuen Firma, wo sie als Vorarbeiterin eingesetzt werden sollte. «Es ist ein großes Werk mit vielen Abteilungen und mit Aufstiegschancen. Falls ich mich qualifizieren will, bezahlt mir der Betrieb sogar die Fortbildung!» «Dann kannst du Karl-Heinz heiraten!» «Ich werd mich hüten! Dann mach ich Karriere!» Eine völlig verwandelte Anke mit strahlenden Augen und geröteten Wangen. Tono konnte es noch gar nicht fassen, daß 104
sich im Leben seiner Mutter nach so vielen Jahren wie durch ein Wunder noch etwas ändern würde, aber es war kein Wunder - sie hatte es selbst vollbracht. Später saß er im Wohnzimmer und las für die kommende Politikstunde Zeitungsartikel über die Lage in Algerien. Er begriff, daß vielen Menschen in dem nordafrikanischen Land das Nötigste zum Leben fehlte, und sie wollten eine neue Regierung wählen, weil sie hofften, daß es ihnen dann besser ginge. Aber die Wahl wurde nicht anerkannt und eine neue Regierung mit Gewalt verhindert. Über das, was der Dichter Camus schrieb, mußte Tono länger grübeln, zum Beispiel über den Kaiser Napoleon, der Anfang des 19. Jahrhunderts behauptet hatte, daß der Geist auf die Dauer gegen die Gewalt siegen würde. Tono nahm seine Unterlagen und lief in die Küche, wo Anke ihren Anstellungsvertrag noch einmal überprüfte und auch das Kleingedruckte genau studierte. «Man muß aufpassen, daß man nicht hereingelegt wird», sagte sie zu Tono, der seine Mappe auf den Tisch legte. Sie war auch gleich bereit, sich die Meinung von Napoleon anzuhören. «Dieser Mensch hatte es gerade nötig, sich kluge Sprüche über den Geist auszudenken! Er war doch selbst dauernd mit dem Schwert unterwegs!» «Aber vielleicht hat er recht», sagte Tono und las ihr seine Antwort auf die ersten beiden Fragestellungen vor:
1939 hat der Journalist und Dichter Camus in Algerien Zeitungsartikel gegen die französische Kolonialherrschaft veröffentlicht und mit seinem Geist die algerische Freiheitsbewegung unterstützt. Er hat wohl geglaubt, daß Napoleons Vorhersage eintreffen würde. Aber der Geist siegte 1939 noch nicht, und 105
Camus wurde aus Algier ausgewiesen. Es dauerte noch 24 Jahre, bis Algerien unabhängig von Frankreich wurde. «Das hast du gut ausgedrückt», sagte Anke. «Mir wär's allerdings lieber gewesen, wenn der Geist damals gesiegt hätte. Sprecht ihr in der Schule über Gewalt?» fragte sie vorsichtig. «Über die Wahlen in Algerien - bei Wedemeier», erwiderte Tono und klappte seine Mappe zu. «Seit einigen Jahren haben sie dort 'ne Demokratie», sagte Anke. «Aber es scheint nicht so gut voranzugehen mit der Wirtschaft.» «Hat der Geist nun gesiegt oder nicht?» fragte Tono und zog wieder ab nach drüben. «Wedemeier muß sich immer die schwierigsten Fragen für uns ausdenken!» Die Mandelbäume waren das Schönste im Text von Camus, weil sie wirklich existierten - sie entfalteten sich beim Lesen wie von selbst. Tono konnte sich Bilder davon machen, wie sie blühten und Früchte trugen. Den Geist dagegen, der die Gewalt besiegen sollte, konnte er sich nicht vorstellen, obwohl der Dichter ihn mit Zitaten und vielen Fremdwörtern zu erklären versuchte. Tono fand keinen Zusammenhang zwischen diesem Geist und den blühenden Bäumen. Deshalb notierte er in seinem Heft: Der Geist paßt nicht zu den Mandelbäumen, weil man nicht sehen kann, wie er blüht. Obwohl Tono fest entschlossen war, sich Kess gegenüber möglichst unbefangen zu verhalten und sich seine verletzten Gefühle nicht anmerken zu lassen, spürte er doch bereits in der letzten Schulstunde eine wachsende Beklemmung vor der nä106
herrückenden Begegnung mit ihr im . Es gab aber noch andere Gründe für sein Unbehagen, die sich erst heute morgen im Politikunterricht ergeben hatten. Wedemeier sammelte die Hefte mit den Hausaufgaben ein, er forderte die Klasse aber nicht zur Diskussion auf, wie sie es gewohnt waren, sondern hängte eine Leinwand an die Tafel und stellte seinen Projektor auf. Auf den ersten Farbdias war eine Gruppe von Frauen, Kindern und Männern in einem Stadtviertel von Algier abgebildet. «Meine Freunde», sagte Wedemeier, der das Land von vielen Reisen kannte. Er nannte die arabischen Namen der Personen und erzählte vom Leben seiner Freunde und von ihrer Arbeit. Zwischendurch zeigte er immer wieder Bilder, so daß Tono sich jeden einzelnen Menschen deutlicher vorstellen konnte und ebenso die fremdartige Landschaft. Es gab auch Aufnahmen, wo Wedemeier zusammen mit seinen Freunden beim Fußballspiel zu sehen war, bei einem Dorffest und beim Fischen. «Fahren Sie nächstes Jahr wieder dahin?» fragte Achim. «In den Sommerferien.» Das könnte wegen der gespannten Lage vielleicht gefährlich werden, meinte Bernd. «Ich flieg nur für sechs Wochen Urlaub nach Algerien», sagte Wedemeier. «Solchen Luxus können sich meine Freunde leider nicht leisten.» Zum Schluß der Stunde schrieb er ihnen noch das arabische Wort für <mein Freund> an die Tafel. Es hieß , und einige Schüler versuchten, es - wie er - arabisch auszusprechen. Kess saß auf dem alten Platz im und beugte den Kopf über einen bis zum Rand gefüllten Becher Milchkaffee. Wegen 107
der lauten Musik hörte sie Tono nicht kommen und bemerkte ihn erst, als er direkt vor ihr stand. Sie erschrak, und er zuckte zusammen, weil auf ihrer blassen Haut der Aquamarin eisblau funkelte, bezaubernder als der, den sie verloren hatte. Kein Wort - nur ihr Blick, der ihm verriet, daß sie wußte, von wem der Schmuck kam. «Ich hab auf dich gewartet», sagte sie hastig. «Jetzt mußt du warten, bis ich ausgetrunken habe. Übrigens fällt Panzer für 'n paar Tage aus. Die <Snakes> ha'm ihm gestern aufgelauert.» «Wann?» fragte Tono. «Wo? Ich war noch bis acht mit ihm zusammen an der Autobahn.» «In der Gegend muß es passiert sein.» «Wie geht's ihm?» «Er wird schon wieder... Aber er fehlt uns morgen. Das ist das Problem!» Mit diesem lapidaren Bescheid wollte Tono sich jedoch nicht zufriedengeben. «Kannst du mir mal genau erklären, was mit ihm los ist?» «Sie haben ihn k. o. geschlagen und über die Mauer geschubst... Panzer konnte nicht mehr laufen, 'n Autofahrer hat ihn aufgelesen.» Sie schwieg und blickte Tono forschend an. «Die <Snakes> werden nicht lange triumphieren. Bei nächster Gelegenheit rächen wir uns!» «Panzer hatte gerade davon gesprochen abzuhau'n», sagte Tono leise. «'n läuft nicht weg!» «Nicht aus Feigheit... Er hat dieses Kaff hier satt und geht nach Amerika wie früher seine Mutter.» «Seine Mutter in Amerika?» sagte Kess lachend. «Sie war Sängerin!» «Serviererin!» verbesserte Kess. «In Raststätten an der Autobahn. Bekannte aus der Nordstadt haben sie da öfter getrof108
fen... Irgendwann soll sie 'n Tramp mit Gitarre kennengelernt haben, und ein Jahr später war sie wieder hier mit 'm Kind, mit Panzer.» «Das glaub ich nicht!» sagte Tono. «Panzer ist kein Lügner!» «Meinetwegen», sagte Kess. «Er lügt nicht... Er erzählt nur die Geschichten, die er von seiner Mutter gehört hat.» «Du meinst, sie ist nicht in USA gewesen? Und Panzer weiß es?» «Er weiß es, aber er will's nicht wissen!» Kess nahm den letzten Schluck aus ihrem Becher, legte das Geld zur Bezahlung auf den Tisch und war bereit zum Aufbruch. «Ist ja auch egal... das mit seiner Mutter», sagte Tono mißmutig. «Hauptsache, Panzer fährt los und kommt hin, wohin er will.» «Erst mal muß er wieder laufen können!» «Unsere Aktion wird also verschoben?» fragte Tono hoffnungsvoll. «Alles wird durchgeführt, wie geplant!» «Was ist denn überhaupt geplant?» «Das wirst du noch früh genug erfahren», sagte Kess. «Komm jetzt! Wir müssen Masken kaufen!» Im Bus nahm Tono das Gespräch wieder auf. «Was soll denn das Theater mit den Masken? Wedemeier ist doch kein Idiot, der sich täuschen läßt!» «Fred hat seine Gründe», sagte Kess. «Dürfen wir keine Gründe haben?» fragte Tono, der plötzlich den Halt verlor und gegen Kess geschleudert wurde, als der Bus sich scharf in eine Kurve legte. «Es paßt dir wohl nicht, daß du gehorchen mußt!» sagte sie 109
lachend, und es klang, als sei ihr das durchaus nicht unangenehm. «Läßt du dich denn gern von ihm regieren?» fragte er schlagfertig zurück. Statt einer Antwort blitzte sie ihn an wie damals im Intercity-Express, und der Aquamarin blitzte auch. Im Supermarkt für Scherzartikel wurde alles verkauft, was Zauberer, Kabarettisten, Schauspieler, Clowns und andere Künstler brauchen, die gern in fremde Rollen schlüpfen und dem Publikum etwas vorspielen. Es gab in jeder Abteilung große Spiegel, vor denen Brillen, Pappnasen, Perücken und Masken probiert werden konnten. «Was hältst du vom ?» flüsterte Kess. «Das ist 'n Massentyp, den jeder kennt - damit fallen wir am wenigsten auf!» Tatsächlich wurde diese Maske in allen Größen, in einfachen und prunkvollen Ausführungen angeboten. Mit einer Handvoll der billigen Sorte gingen sie vor den nächsten Spiegel. Tono zögerte noch, aber Kess hatte sich schon entschieden und legte über ihr helles Gesicht ein zweites aus schwarzem, starren Material, in dem nur die Augen noch lebten, die Tono durch schmale Schlitze teuflisch angrinsten. «Kannst du erkennen, wie es wirkt?» «Du siehst fürchterlich aus!» «Wenn dir das nicht gefällt, kannst du dir auch 'ne andere Maske nehmen», sagte Kess. «Die aus Gummi sitzen fester - zum Beispiel oder .» «Wenn Assel hier war, würde er sich aussuchen», sagte Tono, dem die Aktion gegen Wedemeier mehr und mehr widerstrebte. «Deine Sprüche finde ich gar nicht lustig!» sagte Kess eingeschnappt. «Glaubst du, ich lach mich kaputt, wenn wir bei Wedemeier 110
einbrechen und seine Freundin verhauen?!» Er wartete ihre Antwort nicht ab, raffte vier -Masken aus einem Korb, stampfte mit Riesenschritten durch die Räume und reihte sich ein in die Schlange an der Kasse. Erst auf der Straße sprach Kess ihn wieder an: «Du nörgelst und nörgelst!!» Tono überreichte ihr wortlos die Einkaufstüte. «Kommst du mit zu mir?» fragte sie. «Nur, wenn Fred es erlaubt!» sagte er spöttisch. Diese Unverschämtheit schien ihr zu gefallen. «Wir werden ihn betrügen!» sagte sie vergnügt. Was meinte sie mit ? In der Wohnung schnarchte diesmal niemand, als sie durch den Flur gingen und Kess ihn in die Kammer führte, die sie sich als Zimmer hergerichtet hatte. «Mach's dir gemütlich», sagte sie, aber da war nur eine Matte mit zerwühltem Bettzeug - viel unordentlicher als bei ihm zu Hause, auch ihre Kleidung lag überall im Raum verstreut, dazwischen Kübel mit exotischen Pflanzen. «Willst du Milchkaffee? Such dir 'n Platz. Du kannst den Kram beiseite schieben!» Ihm wurde ganz schwindlig von soviel Kess um ihn herum und besonders in den Kissen. Während sie in der Küche den Kaffee zubereitete, legte er die Decken fein säuberlich zusammen, wie Anke es ihm beigebracht hatte, er zog auch das Laken glatt, so daß der Schlafplatz halbwegs einem Sofa glich. Kess brachte auf einem Tablett zwei weiße Keramikschalen, Zuckerdose und Löffel herein. «Du hast aufgeräumt!» lobte sie ihn, schwankte in die Knie, und prompt schwappte ein Teil der Flüssigkeit auf seine Jacke. Aber was war schon ein bißchen Nässe gegen das heiße Gefühl, bei Kess eingeladen zu sein. 111
«Niemand zu Hause?» «Ich bin meistens allein.» «Und neulich - dein Vater?» «Das war mein Bruder!» Nach ihrer Mutter wagte er nicht zu fragen. Vor ihm, an einer Pinnwand, Selbstbildnisse: Kess als Baby, als Kleinkind, als Teenager mit blonder Löwenmähne, ganz anders als Tono sie kannte. «Ich verwandle mich gern... wie 'n Chamäleon», sagte sie. «Das darfst du nicht!» «Warum nicht?» «Weil Fred es nicht erlaubt!» «Fang doch nicht wieder damit an!» Sie wischte sich die Sahne von den Lippen und sagte: «Ich sollte um drei bei ihm sein und ihm die Maske bringen.» «Du läßt ihn warten?» - Meinetwegen? dachte er. «Wir lassen beide jemand warten», antwortete sie und eröffnete ihm, daß er um drei bei Assel hätte erscheinen sollen. «Warum hast du mir nichts davon gesagt?» «Ich dachte, wir wären uns einig?!» Als das Tablett nicht mehr zwischen ihnen stand, legte sie ohne Hemmungen den Kopf in seinen Schoß, kuschelte wie eine Katze und überließ ihm die Initiative. Doch wohin mit seinen Gefühlen, wenn ihre wattierten Jakken zarte Annäherungen verhinderten und seine klobigen Stiefel bei jeder Körperdrehung hart gegen ihre prallten? Freier umarmten und küßten sie sich ohne ihre Uniformen - barfuß, in Jeans und Pullover. Tono hatte oft gesehen, wie sich Frau und Mann in Filmen enthüllten, um den Zuschauern leidenschaftliche Liebe vorzuspielen. Aber in diesem fremden Zimmer schließlich, ohne ein 112
einziges schützendes Stück Zeug, Kess zu lieben, war kein Film - es war die bisher gefährlichste Mutprobe in seinem Leben. Haut an Haut fing Tono in der Kälte an zu zittern, zu glühen. War das Sex? Er wünschte sich, daß es zwischen ihm und Kess anders sein sollte als zwischen Kess und Fred... liebevoller, aber er wußte nicht wie, weil er zum erstenmal mit einem zusammen war, der sich als Frau entpuppte mit weichen, sanft geschwungenen Formen, viel schöner als in seinen Träumen. Seine Augen schließen und die ganze Kess, wie sie wirklich war, mit Fingerspitzen bis in alle Kleinheiten und Feinheiten aufzuspüren, diese besondere Kunst des Liebens hatte er weder zu Hause noch auf der Straße gelernt und erst recht nicht in der Schule. Es stellte sich bald heraus, daß er mit so viel wunderbarer Weiblichkeit noch nicht umgehen konnte - vergebens bemühte er sich, alles richtig zu machen, anstatt sich auf seine Gefühle zu verlassen, was dazu führte, daß sie ihn verließen. Aber Kess verlangte gar keine Erfolge von ihm, sie lachte und sagte: «Jetzt wartet er schon drei Stunden auf mich und ahnt nicht, daß wir ihn hintergehen!» War es das gewesen, worauf es ihr ankam? Als Tono wieder sicher in seiner Kleidung steckte und sich von ihr verabschiedete, war er jedenfalls fest davon überzeugt, daß er sie mehr als gern hatte. Gleichzeitig wußte er jedoch, daß Fred noch zwischen ihnen stand, obwohl Kess seinen Aquamarin trug. Gegen diese Konkurrenz mußte er sofort Maßnahmen ergreifen und mindestens für heute sicherstellen, daß die beiden nicht mehr zusammenkamen. Also fragte er Kess so lässig wie möglich: «Soll ich die Maske für 113
Fred mitnehmen? Ich hab in der Weststadt noch was zu erledigen. »Zu seiner Freude war sie mit diesem Vorschlag einverstanden, sie begleitete ihn noch bis an die Tür und sagte - ebenfalls recht locker: «Von uns brauchst du ihm aber nicht gleich alles zu verraten!» «Ich werde schweigen... großes Ehrenwort!» Ein Geheimnis mit Kess gegen Fred! Allein die Vorstellung beglückte Tono über alle Maßen und führte dazu, daß er sich vor lauter Übermut aus der Einkaufstüte bediente und in das verwandelte. In dieser Maske jagte er bald darauf wie der Teufel persönlich durch sämtliche Gänge und Etagen des Einkaufszentrums. Die Passanten glaubten, daß sein Auftritt ein Werbetrick des Reisebüros sei, das an jedem Wochenende Busse voller Schaulustiger zu dem Musical beförderte. Alle lachten und klatschten Beifall bis auf einen, der Tono grob an der Jacke packte und ihm befahl, das sofort abzusetzen. «Hast du den Verstand verloren?!» fluchte Assel leise. «Wir planen 'ne geheime Sache, und du gibst hier 'ne öffentliche Vorstellung, damit die ganze Nordstadt weiß, was wir Sonntag spielen.» «Was spielen wir denn?» «Das möchtest du wohl gerne wissen!» sagte Assel höhnisch, riß ihm eine der Masken aus der Hand und verschwand wie ein Schatten hinter einem Regal mit Wintermänteln. Wahrscheinlich würde er unverzüglich Fred anrufen und ihm melden, was Tono sich erlaubt hatte. Sollte er doch! Heute war der Tag des Glücks in Tonos Leben! Er machte sich eben bereit, mit der -Maske in die Weststadt zu fahren, als ihm einfiel, daß er vorher noch Panzer besuchen könnte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Der Verletzte kam selbst an die Tür, um Tono zu öffnen, an 114
Stirn und Hinterkopf trug er große Pflaster, das linke Bein war in Verbände gewickelt. Als Tono ihn stützen wollte, winkte er ab: «Ich schaff das schon!» «War ich an dem Abend nur 'n bißchen länger mit dir zusammengeblieben!» «Wir werden's den <Snakes> demnächst zurückzahlen», meinte Panzer seelenruhig. «Mich ärgert nur, daß sie meinen Platz entdeckt haben. Nun muß ich mir 'n neuen suchen.» Tono ging nicht gern in Krankenzimmer und war froh, daß Panzer sich nicht ins Bett legte, sondern in den Schaukelstuhl vor einem Sonnenuntergang in Arizona. «Für die Aktion am Wochenende müßt ihr auf mich verzichten», sagte Panzer. «Habt ihr schon eure Anweisungen bekommen?» «Anweisungen! Wie 'n Hund: Los, Bello, hol das Stöckchen fürs Herrchen!» Panzer schaukelte und amüsierte sich. «Du kommst mir heute ziemlich aufsässig vor - das ist verboten bei den !» «Hast du etwa Lust, immer nur auszuführen, was andere sich ausdenken?» fragte Tono. «Es ist bequem, man braucht sich um nichts zu kümmern und kann sogar Musik dabei hör'n!» Er versteht mich nicht! dachte Tono. «Eine Aktion nach der anderen», fuhr Panzer fort. «Kein Tag mehr Langeweile in dieser beschissenen Nordstadt!» «Ich dachte, du wärst dagegen, daß wir Wedemeier überfallen», sagte Tono. «Bin ich auch! Du hast doch gehört, es gibt keinen Überfall. Fred will ihm nur 'ne kleine Warnung zukommen lassen!» «Und was passiert mit Wedemeiers Freundin?» 115
« schlagen sich nicht mit Frauen», sagte Panzer pikiert. Offenkundig waren seine Zweifel inzwischen verflogen. Er bat Tono, den Kassettenrecorder einzuschalten, er hätte eine -Aufnahme aus London, brandneu und große Klasse. «Du bist irgendwie komisch - irgendwie anders», sagte er. «Verrückt... Hast du 'ne Weltreise gewonnen?» «In dem Fall hätt ich sie dir gegeben», sagte Tono. «Hast du Geburtstag?» «Kein Gewinn, kein Geburtstag!» «Du willst es nicht verraten!» Nach kurzem Zögern sagte Tono: «Es ist so was Ähnliches wie deine Traumstraßen - nur wirklicher.» «Ach so, du bist abgehau'n!» «Ja», sagte Tono. «Zuerst mit 'm ICE.» «Das ist doch nichts Besonderes!» meinte Panzer. «Damit fährt jeder - und nicht mal übers Meer!» Seine Neugier war befriedigt, er trug Tono noch Grüße an auf. Panzer hatte es gut - für diesmal konnte er sich aus allem heraushalten und ungestört seinen Träumen nachhängen! Die Kanalbrücke zur Töpferstraße war Tono inzwischen wohlvertraut, heute ließ er sich Zeit beim Überqueren, er legte sogar eine kleine Pause hoch oben auf dem Geländer ein, um ins dunkle Gewässer zu blicken, das beinahe lautlos unter der Brücke hindurchströmte und sich nur hin und wieder leise glucksend um einen Stein oder ein Stück Holz schlängelte. Je länger Tono schaute und horchte, desto mehr bewunderte er die Leichtigkeit des Wassers und dachte daran, wie schön es wäre, mitzufließen, sich treiben zu lassen durch die ganze Stadt und in die Welt hinaus. So verlängerte er noch ein wenig den Glückszustand dieses Tages. 116
Er hatte die ersten Meter in der Töpferstraße schon zurückgelegt, da sah er Fred aus der Haustür treten und geradewegs auf sich zukommen, breitschultrig, nicht viel größer als er, gestiefelt, mit wuchtigen Schritten. «Was hast du hier zu suchen?» Tono übergab ihm die Tüte. «Deine Maske!» «Es war nicht abgemacht, daß du sie bringst. Sie sollte um drei Uhr hier sein, jetzt haben wir's halb acht! Und dies ist nicht dein erster Verstoß gegen die Regeln!» sagte er unfreundlich, während Tono kehrtmachte und neben ihm die Straße hinunterging. «Wenn du so weitermachst, mußt du dich auf Unannehmlichkeiten gefaßt machen!» Wenn du von Kess und mir wüßtest, würdest du in der Luft zerplatzen! dachte Tono. «Morgen nacht fehlt uns Panzer bei der Aktion. Ich erwarte deshalb von jedem, der teilnimmt, unbedingte Disziplin!» «Morgen nacht?» «Um zwei bei mir», sagte Fred an der Kreuzung <Mailänder Tor>, wo sich ihre Wege trennten. «Und dann zu Wedemeier?» fragte Tono. «Du bist mir zu neugierig, Freundchen!» sagte Fred. Er zog eine Zigarette aus der Brusttasche und ließ sich von Tono Feuer geben. Im Schein der flackernden Flamme trafen sich einen Moment lang ihre Augen. «Gibt's hier was zu grinsen?» fragte Fred argwöhnisch. O ja! Aber es geht dich nichts an! dachte Tono. «Sonntag früh um zwei», sagte er. Zu Hause in der Bossestraße fand er auf dem Küchentisch einen Zettel und zwanzig Mark.
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Habe mir ein paar Tage frei genommen, komme Sonntag abend zurück. Kauf dir was Gutes zum Essen. Anke Herr über die ganze Wohnung, hurra! Ob er es wagen sollte, Kess heute abend noch anzurufen? Aus seiner Kommode im Wohnzimmer kramte er eine schwarze Trainingshose und einen dunkelblauen Rollkragenpullover heraus, trug das Zeug und die Maske ins Schlafzimmer vor den großen Spiegel und fing an, sich auszuziehen, legte ein Teil nach dem anderen ab, bis nichts mehr übrig war. So hatte Kess ihn heute gesehen! Er betrachtete sich vom Kopf bis zu den Füßen und fand sich nicht unschön - ein bißchen mager vielleicht, aber zäh, sportlich und zu seiner Überraschung auch schon etwas männlich mit den ersten hauchdünnen flaumweichen Barthaaren. Vorsichtig strich er über jedes einzelne - noch waren sie zu zählen. Die anderen Härchen unter dem Bauch hatten sich heute mit denen von Kess berührt, und als Tono sich erinnerte, wurde sein Glied plötzlich lebendig und richtete sich wie ein Stehaufmännchen in die Höhe... Seine Haut duftete nach frischen Zitronen... das war der Geruch von Kess, und er beschloß unverzüglich, sich so lange nicht mehr zu waschen, bis der letzte Hauch ihres Duftes an ihm verflogen war. Lange Zeit überließ er sich seinen angenehmen Empfindungen, vergaß die Anprobe des schwarzen Kostüms, vergaß das Abendessen und das Fernsehprogramm. Nachts, auf seiner Couch, kam er nicht zur Ruhe, aber es waren keine erfreulichen Gedanken, die ihn bewegten: Maskierte Phantome spukten in seinem Kopf, wilderten in Wede118
meiers Wohnung, schlugen alles kaputt, was ihnen in die Hände fiel, griffen auch den Lehrer und seine Freundin an vier gegen zwei. Erst gegen Morgen dämmerte er in einen leichten Schlaf, schon bald wieder wach mit heftigen Gewissensbissen. Er rannte in die Küche und riß das Fenster auf: Trüber Himmel, naßkalte Luft, lärmende Fahrzeuge, ein Tag, wie geschaffen für alles Unangenehme! Zum Frühstück fuhr er nach unten in die grauen, nebelverhangenen Straßen, ordnete sich ein in den Sonnabendstrom zum Einkaufszentrum und scherte wieder aus vor der Cafeteria, wo noch ein Barhocker gegenüber Theo Albers für ihn frei war. «Die Franzbrötchen schmecken heute am besten», sagte Theo mit blitzenden Augen. «Du solltest sie probieren!» Franzbrötchen ja! Aber bitte keine Diskussion! Theo hatte kein Mitleid mit den Müden, er war Frühaufsteher und am Vormittag quicklebendig. «Ohne Revolverjacke siehst du viel hübscher aus!» meinte er. «Hast du gekündigt bei Alfred Paschke?» Das war das letzte, worüber Tono reden wollte - er weigerte sich, schaltete Theo Albers wie einem Dauerredner im Fernsehen einfach den Ton ab und konzentrierte seine gesamte Energie auf ein Milchmixgetränk und eine Tüte voll Gebäck. Wie gewöhnlich fand Theo unter den Gästen an der Bar sofort ein neues Opfer seiner Leidenschaft, das er zu einer längeren Auseinandersetzung über den Krieg in Jugoslawien animierte. Sie stritten sich noch immer, als Tono zur Kasse ging. Doch Theo hatte ihn beobachtet, er hob seinen bandagierten Arm, der schon wieder recht beweglich war, und winkte zum Abschied mit der Hand. Wäre Kess nicht gewesen, hätte Tono sich möglicherweise 119
der bevorstehenden Nachtund-Nebel-Aktion entzogen, die ihm immer weniger gefiel, je länger er darüber nachdachte. Assel hingegen war wieder zu allem bereit, er spielte auch heute den Kurier, klingelte im Laufe des Tages bei Baginski und meldete Tono zwischen Tür und Angel - triefend vom Regen -, er solle sich für den Termin mit einer stabilen Plastiktüte ausrüsten und einen Mauerstein mitbringen. «Ich bin allein - du kannst reinkommen!» «Hab's eilig!» «Nur zum Aufwärmen!» Widerstrebend folgte Assel ihm in die Küche, er legte zwar seine Jacke auf die Heizung und ließ sich eine Erfrischung vorsetzen, betonte jedoch unablässig, daß er gleich wieder fortgehen müsse. Tono schob den Teller mit Franzbrötchen zu ihm hin. «Sie sind noch frisch!» «Ich bin voll im Einsatz», sagte Assel, der eine schwere Tasche mit Drucksachen bei sich trug. «Da steht was Schärferes drin als in Wedemeiers Käseblatt!» Er nahm sich ein Stück vom Teller und biß hinein. «Weißt du schon mehr über die Aktion?» fragte Tono ohne Umschweife. «'s wird nicht drüber gesprochen und schon gar nicht mit dir. Fred hat's verboten!» «Aber dich hat er eingeweiht - und Kess?!» «Er braucht eben Leute, auf die er sich verlassen kann, keine Kritiker und Besserwisser!» «Wenn ihr mich ausschließen wollt, bleibe ich heute nacht zu Hause», sagte Tono hoffnungsvoll. «Das würd ich dir nicht raten - an deiner Stelle würd ich genau das tun, was Fred für uns organisiert hat.» «Mit Mauersteinen?» 120
«Du kannst auch noch andere Teile einpacken... aber nicht mehr als drei.» «Mit Mauersteinen gegen Wedemeier?» «Wenn der merkt, daß es ernst wird, läßt er sich versetzen», sagte Assel. «Dann sind wir ihn los mit seinem Gequatsche von Rassismus und Neofaschismus. Wohnt in der Weststadt, verdient 'n dickes Gehalt, hat keine Ahnung von Arbeitslosigkeit und stellt sich auf die Seite der Ausländer, die wie Heuschrecken bei uns einfallen und uns alles wegfressen!» «Fred wohnt auch in der Weststadt», sagte Tono. «Ja», sagte Assel. «Denk mal an - war auch auf'm Gymnasium, genau wie Wedemeier. Aber er stellt sich auf unsere Seite. Wer - glaubst du wohl - hat mir den Job in der Druckerei verschafft?» «Wärst du bis zur zehnten gegangen, hättest du 'ne Lehrstelle gekriegt», sagte Tono. «Darum geht's doch nicht... Es geht um die Sache!» «Welche Sache?» «Die Nordstadt... klar?! Keine Arbeit, kein Geld, keine Wohnung, massenweise Ausländer, Asylanten. Du kannst ja nicht mal aus'm Haus gehn, ohne über 'n zu stolpern... Und es werden immer mehr. Sie müssen raus hier!» «Das hört sich an wie 'n Parteiprogramm!» «So ungefähr», sagte Assel bescheiden. «Davon hab ich nichts gewußt.» «Nichts gewußt!» rief Assel. «Du bist doch selbst dabeigewesen, du hast mitgemacht!» Er zog sich, noch kauend, seine Jacke über und klemmte sich die Tasche unter den Arm. «Seit ich bin, war nie von 'ner besonderen <Sache> die Rede, immer nur von Aktionen», sagte Tono. 121
«Wir reden eben nicht so viel, wir handeln lieber... Heute nacht um zwei - komm bloß nicht wieder zu spät!» sagte Assel. In dieser Nacht ging Tono nicht über die Brücke. Er stieg an der Busstation <Mailänder Tor> aus und gelangte ohne Umwege zum Haus in der Töpferstraße. Oben in der Wohnung lief alles wie am Schnürchen: Vier handliche, fest verkorkte Bierflaschen waren mit einem Gemisch aus Öl und Benzin gefüllt, die Hälse mit Baumwollfetzen umwickelt.* Jeder verstaute eine Flasche in seinem Gepäck, dazu ein Sturmfeuerzeug, anschließend kostümierten sie sich in Schwarz. «Wir nehmen unsere Sachen mit», sagte Fred. «Nach der Aktion ziehen wir uns sofort wieder um.» Auf dem Tisch lag ein Geländeplan, auf dem das Haus, in dem Wedemeier wohnte, eingezeichnet war, im Erdgeschoß drei Zimmer in verschiedenen Farben. «Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer. Ziel ist das grüne an der Seite zum Garten!» Das Arbeitszimmer! Tono begriff nun sofort, was von ihm erwartet wurde. «Haltet die Masken griffbereit», sagte Fred. «Wir tragen sie erst, wenn wir losschlagen!» Im Trubel der Vorbereitungen hatte Tono noch kein Wort mit Kess gesprochen und ihr nicht einmal einen Blick zuwerfen können. Als sie jetzt ihr Gesicht enthüllte, bemerkte er eine Platzwunde über dem rechten Auge und eine Prellung der Wange in blau und grün. Der Aquamarin fehlte. Schon wieder die <Snakes>? Er wollte sie fragen, aber sie wich ihm aus, tat sehr beschäftigt mit ihrer Tüte, und Fred gab das Zeichen zum Start. * Molotowcocktail 122
«Du siehst aus wie 'ne Leiche», murmelte Assel, der hinter Tono die Treppen hinuntersprang. Fred führte den kleinen Trupp im Dauerlauf abseits der Hauptstraße auf Schleichwegen um die Wohnhäuser herum, durch einen Park, über einen Spielplatz, eine Strecke am Kanal entlang, bis sie nach einer Viertelstunde eine Bahnbrücke erreichten, unter der sie sich sammelten. «Wir haben es nicht mehr weit - maskiert euch», flüsterte Fred, trieb sie zur Eile an und zeigte ihnen am Ausgang die Richtung zum Tatort, den Tono zunächst nur als dunkle Masse vor sich sah, aus der nach längerem, angestrengtem Schauen die Umrisse von Gebäuden hervortraten. Wie Schattenfiguren verschwammen die vier in der Nacht, mit unsichtbaren Fäden fixiert an den Anführer, der ihnen leise Befehle erteilte und an der Spitze das Tempo bestimmte. Der Hinterhalt war perfekt ausgewählt in sicherem Abstand von der Nachbarschaft und nahe genug an Wedemeiers Arbeitszimmer. Fred hatte für alles gesorgt - wenn sie die Initiative vertrauensvoll ihm überließen, brauchten sie kein Risiko einzugehen, keine Bestrafung zu befürchten. Niemand würde herausfinden, daß Tono an dem Anschlag beteiligt war, er würde niemandem Rechenschaft ablegen müssen - außer sich selbst. Auf ein Handzeichen von Fred klickten die Feuerzeuge, die Stoffstücke an den Bierflaschen fingen an zu brennen. «Los!» kommandierte Fred, da ließen sie ihre Mauersteine durch das splitternde Fenster krachen; ein zweites Kommando, und die Brandsätze flogen hinterher, anschließend suchte jeder das Weite. Einzige Zeugin für einen kleinen, aber entscheidenden Vorfall am Rande des Geschehens war Kess, die sich neben Tono 123
hinter einen Holzstapel geduckt hatte. Im Moment des Abwurfs schlug er plötzlich ihren Arm zur Seite, so daß ihre Flasche vor dem Haus im Gras landete — gleichzeitig hielt er sein eigenes Geschoß zurück und löschte die Lunte. Minuten später befanden sie sich schon wieder in Sicherheit unter der Brücke und demaskierten sich, während am Tatort die Flammen hellauf loderten und das Zimmer in Brand setzten. Zu Hause, vor dem Badezimmerspiegel, mochte Tono sich selbst nicht mehr ins Gesicht sehen. Warum hatte er sich erst in letzter Sekunde heimlich widersetzt, warum war er zu feige gewesen, sich vor allen offen zu seiner Weigerung zu bekennen?
Zu Beginn der Politikstunde am Montag war Tono auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß Wedemeier den Unterricht genauso sachlich wie immer durchführte und sich nicht so verhielt, als habe er am Wochenende einen erhalten. Er verzichtete auch nicht auf seine Veranstaltung im , sondern kündigte sie extra noch einmal an und schrieb den Beginn um 15 Uhr deutlich an die Tafel. Dann bat er Achim, die Hefte mit den Hausaufgaben zu verteilen, die er von Sonnabend auf Sonntag korrigiert habe. «Leider wurde ich zwischendurch gestört», sagte er. «Bei meinem Nachbarn, der unter mir wohnt, ist mitten in der Nacht ein Feuer ausgebrochen.» Aus den Zeitungsmeldungen hatten die Schüler erfahren, daß es Politiker und Journalisten gab, die die gewaltsame Unterdrückung der Wahlen in Algerien für richtig hielten oder 124
mindestens duldeten. «Wegen der »,* sagte Achim und erklärte gleich das Wort. «Sie sind fanatisch und zerstören die Demokratie, wenn sie an die Regierung kommen.» «Aber dann gibt es ja keinen Unterschied mehr zwischen dem Geist und dem Schwert!» rief Bernd. «Oberflächlich betrachtet, könnte man diesen Eindruck gewinnen», sagte Wedemeier. «Deshalb wünsche ich mir, daß wir zusammen lernen, tiefer nachzudenken, und biete euch hin und wieder Texte von einer Dichterin oder einem Dichter wie Albert Camus an, der dies sein Leben lang getan hat.» «Viel zu schwierig!» rief Bernd. «Stimmt!» sagte Wedemeier. «Aber wie könnte ich Lehrer sein, wenn ich euch nicht zumuten würde, den Geist der unabhängigen Meinungsbildung kennenzulernen.» «Wedemeier predigt, und keiner hört zu», sagte Achim in der Pause. «Seine Veranstaltung könnt ihr vergessen!» Ein Schüler der Studienstufe, der in einer Duftwolke von <Egoiste>-Parfum vorüberrauschte, stimmte ihm zu: «Politik im ... abartig! Dafür wird Wedemeier doch gar nicht bezahlt!» Für war die Teilnahme an einer Schuldiskussion mit dem Lehrer selbstverständlich verboten. Tono ging trotzdem hin. Im Cafe fanden etwa fünfzig Personen Platz, ohne sich zu drängen, sechs waren gekommen. Jan-Lukas, der Schulsprecher, übermittelte Entschuldigungen: einige durften ihren * Fundamentalisten - strenggläubige Anhänger von Religionsgemeinschaften 125
Konfirmanden-, ihren Musikunterricht, Computerkurs, ihr Fußball- oder Ballettraining nicht versäumen, andere ließen bestellen, sie müßten Sondertermine mindestens zwei Monate vorher in ihrem Kalender notieren - außerdem würde doch die Versicherung den Schaden im Medienraum bezahlen, wozu noch Worte darüber verlieren! «Da haben wir's», sagte Wedemeier ruhig. «Die Vorstellung fällt mangels Publikum aus.» Nur ihm zuliebe und weil es ihnen peinlich war, gleich wieder fortzugehen, blieben die sechs auf ein Getränk. Bald darauf erhob sich einer nach dem anderen, um sich zu verabschieden Tono als letzter. «Würdest du noch einen Eiscafe mit mir zusammen trinken?» fragte ihn der Lehrer. «Lieber 'n heißen Kakao», sagte Tono. Da das für die Dauer der Veranstaltung geschlossen war, konnten sie nach Belieben über die schönsten Sitzecken verfügen. So viel Raum für zwei Personen! Noch dazu in diesem Cafe, das für Tono mit angenehmen Erinnerungen verbunden war. An der Wand gegenüber ihrem Tisch entdeckte er ein gerahmtes Bild, auf dem das Felsmassiv um den Grand Canyon* abgebildet war. «Neulich hab ich bei meinem Freund Plakate davon gesehen», sagte er. «Irgend etwas war da anders...» «Kannst du die Signatur auf dem Bild erkennen?» fragte Wedemeier. «Max Ernst!»
* Grand Canyon - enges, tief eingeschnittenes Tal in Nordwest-Arizona/ USA. 126
«Ein interessanter Surrealist*... Er hat das Bild in Paris gemalt, ohne die Landschaft zu kennen. Jahre später war er in den USA und hat dort gesehen, daß seine phantastischen Vorstellungen in der Natur wirklich existieren.» «Das ist verrückt!» «Surrealistisch!» «Mein Freund will nach Florida oder New York — aber die Flüge sind sehr teuer!» «Die Maler haben's besser!» sagte Wedemeier lachend. «Sie brauchen nur die Kunst, um den Ort ihrer Phantasie zu erreichen!» «Farben und Leinwand kosten bestimmt auch 'ne Menge Geld!» wandte Tono ein. «Na ja - die Phantasie kostet natürlich nichts!» Sie holten sich die Getränke von der Theke, suchten sich eine behagliche Ecke in der Nähe der Heizung, und Tono wußte nicht mehr, was er sagen sollte. Auch Wedemeier ließ sich Zeit mit seiner nächsten Bemerkung. «Ich hab nicht geglaubt, daß so wenige Schüler bereit sind, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.» «Vielleicht kann man über Gewalt nicht reden?!» «Wie kommst du darauf?» «Ich weiß nicht... einfach so», sagte Tono. «Es wäre schlimm, wenn wir verlernen würden, miteinander zu sprechen», erwiderte Wedemeier. «Die Zerstörung des Medienraumes war nämlich kein schlechter Scherz, sie galt vor allem der Stadtteilzeitung. Nach dem Einbruch habe ich das
* surrealistisch - traumhaft, unwirklich - Surrealist - Künstler, der das Unbewußte, Traumhafte darstellt. 127
Layout* für die neue Ausgabe nur noch in Fetzen vorgefunden.» Tono blickte auf den Tisch - auf seine Uhr — aus dem Fenster. «Das Blatt wird von mindestens zehntausend Menschen in der Nordstadt gelesen. Niemand hat das Recht, mit Gewalt zu verhindern, daß sich zehntausend informieren!» Das mußte ja kommen! dachte Tono. Jetzt sitz ich hier fest und darf mir die ganze verdammte Geschichte, die ich besser kenne als er, auch noch anhör'n! «Die Redaktionsgruppe hat mir die Veranstaltung übertragen. Alle anderen arbeiten heute, damit die Nummer noch rechtzeitig ausgeliefert werden kann - sie wird übrigens auch im verkauft.» «Ja», sagte Tono mechanisch. Nachdem er seine Schokolade ausgetrunken hatte, brachte er den Becher zum Tresen zurück. Wedemeier bezahlte, und sie gingen zusammen zur Tür. «Bis morgen dann!» sagte Tono. «Wenn Sie mir drei Wochen Zeit geben, könnte ich über Theo Albers vielleicht doch 'n Artikel schreiben.» «Abgemacht!» sagte Wedemeier. «Die Redaktion ist sicher damit einverstanden.» Am Mittwoch, genau zur angegebenen Zeit, fand Tono sich zur Schulung in Freds Wohnzimmer ein, wo ihn außer Assel noch Hermann aus dem begrüßte und ein zweiter älterer Mann, den sie Bernhard nannten. Fred sagte: «Tono kommt neu in unseren Kurs - ich bürge für ihn!» «In Ordnung», nickte Hermann. «Dann laßt uns jetzt fahren!» Am Straßenrand vor dem Haus öffnete er für Fred die Tür * Layout - Text- und Bildgestaltung, hier einer Zeitung. 128
zum Beifahrersitz seines Wagens, die anderen stiegen hinten ein. «Warum bleiben wir nicht hier?» fragte Tono und empfing von Assel als Antwort einen Stoß mit dem Ellenbogen. Nach einiger Zeit gelangten sie in eine Gegend, die Tono merkwürdig bekannt vorkam - spätestens beim Anblick der Telefonzelle neben der Bushaltestelle ging ihm dann ein Licht auf, und er fühlte sich plötzlich wie in der Falle. Natürlich hätte er sich absetzen können, die Gelegenheit dazu ergab sich nach dem Aussteigen vor dem Gartentor Nummer 16, doch seine Begleiter drängten voran, und er, mit unguten Gefühlen, jedoch seiner selbst noch nicht sicher, trottete mit ihnen durch Bernhard Krämers Garten, hinter das Haus und die Kellertreppe hinunter. Unter dem Haus war ein großer Raum ausgebaut und mit einem langen Tisch für etwa 20 Schüler eingerichtet, außerdem gab es Regale, wo Flugblätter, Broschüren, Zeitungen und Schulungsmaterial auslagen, an den Wänden hingen Plakate sowie Fahnen mit großen und kleinen schwarzen Hakenkreuzen. Wie bei den lief alles nach bestimmten Regeln ab, nur führte hier nicht Fred den Vorsitz, sondern Bernhard. Er zeigte auf einen Kasten mit Flaschen, «Freibier für alle... bedient euch!» und wandte sich zuerst an Tono: «Ich freue mich über den Nachwuchs in unseren Reihen. Jeder Deutsche ist uns willkommen!» Nach dieser Einleitung knallte er die Hacken seiner Stiefel zusammen, hob den rechten Arm schräg in die Höhe, die anderen taten es ihm nach und riefen: «Heil Hitler!» außer Tono, der prompt von Assel einen Tritt versetzt bekam. «Wir beginnen mit Paragraph 8», sagte Bernhard. «Die To129
ten des Krieges.»Jeder Teilnehmer mußte ein Kapitel vorlesen und den Inhalt Satz für Satz interpretieren. Wenn Fehler gemacht wurden, griff Bernhard ein und stellte sie richtig, er wußte ganz genau, wie die Worte im Text gemeint waren. Tono kam mit § 10 an die Reihe: . Er trug die ersten beiden Sätze vor: «Auch diese Behauptung ist völlig aus der Luft gegriffen und mit nichts zu widerlegen. Hitler hatte von Anfang an immer wieder gefordert, daß die Juden in Deutschland aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet werden müßten, mehr hat er niemals gesagt.» Alle schauten ihn erwartungsvoll an - er sollte wieder eine Prüfung bestehen, sollte sich einfügen und plappern, was von ihm verlangt wurde. Wie leicht wäre es zu gehorchen, um weiter dazugehören zu dürfen, wie schwer fiel es ihm, sich vor dieser kleinen Gruppe Gleichgesinnter unbeliebt zu machen! Zunächst noch schüchtern fing er an, das Ergebnis seiner eigenen Gedanken so präzise wie möglich zu formulieren: «Hier wird gesagt, es sei eine frei erfundene Behauptung, daß Hitler von Anfang an alle Juden umbringen wollte.» «Richtig!» sagte Bernhard, und Fred nickte Tono aufmunternd zu. «Aber im zweiten Teil heißt es, daß diese Behauptung wahr ist, nämlich nicht widerlegt werden kann.» Tono schwieg einen Atemzug lang und bemerkte, daß die beiden älteren Männer sich durch einen schnellen Blick verständigten. «Der nächste Satz erklärt dann, warum die Behauptung wahr ist... Hitler wollte alle Juden aus dem Leben ausschalten... Aus dem Leben ausschalten bedeutet, daß sie nicht mehr leben, also tot sein sollten.» Die Schlußfolgerung war so laut aus ihm herausgesprudelt, daß schon die anschließende beklemmende Stille ihm deutlich 130
machte, was er angerichtet hatte. Bernhard schien zu versteinern, Assel griff nach seiner Flasche, schluckte, verschluckte sich und krümmte sich unter einem Hustenanfall. «Ruhe!» schrie Fred ihn an, dann ergriff Hermann das Wort und sagte: «Ein pfiffiges Kerlchen... Er findet Fehler heraus, so einen könnten wir als Lektor gebrauchen.» «Falls Fred sich wirklich für ihn verbürgen kann!» fügte Bernhard in schneidendem Tonfall hinzu. «Er ist 'n Verräter! Darauf könnt ihr euch verlassen!» sagte Assel eifrig. «Oder was haltet ihr davon, daß er Montag nachmittag zu Wedemeier ins rennt und stundenlang nicht wieder rauskommt!» Es war an der Zeit zu gehen. Als Tono seinen Stuhl zurückschob und erwog, ob noch ein Wort des Abschieds angebracht sei, fühlte er sich nicht nur abgelehnt und ausgeschlossen von den vier Augenpaaren. In Freds Miene las er noch etwas anderes, eindeutig Feindseliges. «Kerstin!» brüllte der Mann an der Tür. «Da ist jemand für dich!» Er war älter als der Techniker damals im Badezimmer und auch nicht so ablehnend, sondern ließ Tono in den Wohnungsflur eintreten und auf Kess warten, die binnen kurzem in Jacke und Schal aus ihrem Zimmer zu ihm herauskam. «Laß uns irgendwohin gehen!» «Nach Hannover!» sagte er, obwohl ihm zum Scherzen gar nicht zumute war. «Ich muß in 'ner halben Stunde wieder zu Hause sein, sonst gibt's Probleme!» «Prügel?» fragte Tono behutsam, erhielt aber keine Antwort. Kess lief ihm einfach davon über die Straße und in den nächsten Seitenweg, er mußte sich beeilen, um ihr zu dem 131
amerikanischen Schnellimbiß zu folgen, vor dessen hellerleuchteten Fenstern sie stehenblieb und die Gäste beobachtete, die im Gänsemarsch Tabletts mit fleisch- oder fischgefüllten Brötchen, Tüten, prall gefüllt mit Kartoffelstäbchen, und Pappbecher voll wäßriger Limonade zu den Plastiktischen trugen. Kess und Tono ordneten sich in die Menschenreihe ein, die Zentimeter um Zentimeter zur Kasse vorrückte. «Hast du den zweiten Aquamarin auch schon wieder verloren?» fragte er besorgt. «In Sicherheit gebracht!» «Vor den <Snakes>?» Sie antwortete wieder nicht, faßte in eine Geheimtasche ihrer Jeans und zog einen kleinen Lederbeutel heraus, in dem sie ihren Schmuck verwahrte. «Halt mal!» Die Wunde an der Augenbraue war verschorft, die Prellungen um ihr rechtes Auge zeigten veränderte Farben: hellbraun, gelb - auch die leichte Schwellung des Nasenflügels war zurückgegangen, so daß sie den Edelstein vorsichtig wieder befestigen konnte. Da sie so feinfühlig auf alles reagierte, was sie selbst betraf, wagte Tono nicht mehr, sie auf ihre Verletzungen anzusprechen. «Wie war's in der Schulung?» fragte Kess, nachdem sie ihr Tablett abgestellt hatten. «Du hättest dabeisein sollen! Warum haben sie dich nicht eingeladen?» Kess zuckte die Schultern. «Ich kann in Diskussionen nicht so gut meine Meinung vertreten.» «Deine Meinung?!» rief Tono höhnisch. «Die wird dort gar nicht gewünscht! Sie verlangen, daß du ihre auswendig lernst! Aber ich hab genau das gesagt, was sie nicht hören wollten!» 132
«Treib's nur weiter so und mach dich unbeliebt bei Fred», sagte Kess. «Du kennst ihn nicht! Er kann sehr unangenehm werden... Stell dir bloß mal vor, er wüßte, was wir uns bei der letzten Aktion erlaubt haben!» Kess hatte ihn nicht verraten! Sein Herz tat einen kleinen Sprung, und er sagte forsch: «Es geschieht ihm ganz recht!» Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, dann legte sie die Fingerspitzen über ihre wunden Hautstellen. «Jetzt hab ich ihn schon zum drittenmal blamiert», sagte Tono. «Aber heute hab ich's öffentlich getan!» «Das läßt er dir nicht durchgehn!» «Was kann er schon machen? Mich bei nächster Gelegenheit rauswerfen?» fragte Tono. «Da haben auch noch andere mitzuentscheiden!» «Wenn er sauer auf dich ist, kann's noch viel schlimmer kommen», sagte Kess. Es hörte sich an, als würde sie sich Sorgen machen. Um ihn? Sein Herz tat drei große Sprünge! Und obwohl sie persönliche Fragen nicht hören wollte, nahm er noch einmal seinen Mut zusammen und fragte so unpersönlich wie möglich: «Ist er auch auf dich sauer geworden?» «Wenn man nicht will, was sie wollen, fangen sie an zu schlagen.» «Fred?» «Alle!» Aber ich doch nicht! dachte Tono. «Das kommt überhaupt nicht in Frage!» sagte er aufgebracht. Ihre Antwort wurde von den lärmenden Stimmen einiger Fußballfans fast verschluckt. «Bestimmst du etwa, wer dich schlagen darf - deine Eltern oder Fred?» «Meine Mutter prügelt nicht!» «Ich hab keine Mutter», sagte Kess. 133
Du könntest mich haben. . . Ich bin zwar keine Mutter, aber auch keiner wie Fred! Eigentlich war er noch gar nichts. Was sollte sie mit einem anfangen, der ihr nichts weiter zu bieten hatte als die Bereitschaft, sich gegen Bernhard Krämer und Alfred Paschke aufzulehnen? «Kann sein, daß ich aussteige bei den », sagte er. «Ob wir uns trotzdem manchmal treffen können?» Der Aquamarin sprühte Feuer, als sie sich zu ihm hinüberbeugte und ihn vor allen Leuten auf den Mund küßte. «Aufhörn!» schrien die Fußballfans. Im November und Dezember wurde in allen Etagen des Einkaufszentrums von morgens bis abends Weihnachtsmusik aus Lautsprechern gesendet. ... «Wünsch dir was Schönes in diesem Jahr, es darf auch etwas teurer sein», hatte Anke ihrem Sohn gesagt. Da Tono seit fast zwei Wochen keine Aufforderung mehr zu den geheimen Versammlungen der Gang erhalten hatte, verfügt er über viel Zeit, die er an einem Sonnabend dazu nutzte, um sich in den Läden sein Geschenk auszusuchen. Zuerst prüfte er die Angebote in den Abteilungen für Kassettenrecorder und Computer, dann wechselte er in den dritten Stock zu den Gesellschaftsspielen und ließ sich das amerikanische Würfelspiel vorführen, in dem Dollarnoten in Milliardenhöhe von den Mitwirkenden eingesetzt werden mußten. Wer mit Geschicklichkeit und Kombinationsgabe ferngesteuerte Raketen über das Feld zu den Zielpunkten beförderte, konnte siegen und Kontinente gewinnen. Vertieft in die Spielregeln, wurde er erst durch einen Knuff in den Rücken darauf aufmerksam, daß Assel neben ihm stand.
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«Um 22 Uhr im Waggon!» bestellte der Bote und schoß gleich darauf wieder ab ins Gewühle. Endlich! Man legte also doch noch Wert auf Tonos Anwesenheit oder wollte ihn zumindest davon in Kenntnis setzen, daß er aus der Gang <entlassen> sei. «DIE NEUE WELTORDNUNG, bitte!» sagte er und ließ sich das Spiel zurücklegen, damit Anke es später abholen und bezahlen konnte. Kess und Panzer wiedersehen! Schon wegen dieser erfreulichen Aussicht erwartete er mit Ungeduld den Abend und war fast so aufgeregt wie bei seiner <Mutprobe> im September. «Irgend etwas geht dir durch den Kopf!» meinte Anke, die ihm gegen sieben wie üblich ein Schinkenbrot zum Kühlschrank hinüberreichte und sich selbst mit einem Becher Tee in der Hand gegen die Fensterbank lehnte. «Wo bleibt Karl-Heinz?» Sie lächelte hintergründig und fragte: «Fehlt er dir?» «Ich kann ganz gut ohne ihn auskommen so wie er ohne mich! Mir ist bloß aufgefallen, daß er dich kaum noch besucht » «In letzter Zeit gab's zwischen uns ein paar Krisen.» «Wollt ihr euch etwa trennen?» «Wer weiß? Jedenfalls hat Konrad mich heute zum Essen eingeladen!» Erst wird ihm der Laster geklaut und dann die Frau! dachte Tono erbarmungslos. «Konrad? Sieht er etwa auch so aus?» «Wie bitte?» «'s war nicht so gemeint», sagte er. «Hauptsache, er ist nett!» 135
«Wenn du später 'ne Freundin hast, werde ich mir ebenfalls häßliche Bemerkungen über sie ausdenken!» drohte Anke ihm an. «Ich kann Kess ja mal mitbringen, wenn sie will», sagte Tono und war erstaunt über die Wirkung dieses einfachen Satzes. Sprachlos hantierte Anke mit dem Messer, schnitt in ihrer Verwirrung den Rest des Brotes in Scheiben und stapelte auf jedem Stück wahllos Wurst, Käse und Schinken übereinander. «Ich kann nichts mehr essen», sagte Tono. «Ich muß noch was für die Schule tun - außerdem hab ich 'ne Verabredung!» «Mit deiner Freundin?» Hoffentlich kommt sie! dachte er. Zum Treffen mit den kleidete er sich streng nach Vorschrift in Uniform und Stiefel. Er trug auch das Stück Eisenrohr bei sich, das Fred ihm damals zugesteckt hatte. Heute wollte er ihm die Waffe zurückgeben. Die Abstellgleise lagen friedlich unterm mondlosen Himmel, an dem kein einziger Stern blinkte, kein , keine und auch nicht die strahlende Venus. Tono stapfte schwerfällig über das verlassene Terrain und versuchte mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen, damit ihm Panzer und Kess nicht entgingen. Sie mußten ihm ja begegnen, wenn sie ebenso pünktlich wie er an Ort und Stelle sein wollten. Aber nichts rührte, niemand zeigte sich ringsum auf den Schienen. Nur manchmal segelte mit leisen Flügelschlägen hoch über ihm ein Vogel durch die Luft. Der Eisenbahnwagen stand mit geschlossenen Türen auf seinem Platz, und kein ließ sich blicken. Wahrscheinlich hatte Assel ihm wieder eine falsche Nachricht überbracht, um ihm in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, daß er nun 136
endgültig ausgeschlossen war von den Abenteuern der Gang und auch von ihren geheimen Orten — daß er wieder ganz für sich allein war. Es fiel ihm nicht leicht, auf all dies zu verzichten und seine neuen Freunde zu verlieren, Panzer und Kess. Ein wenig sentimental erinnerte er sich noch einmal an die verschiedenen Stationen seiner Mitgliedschaft von der Mutprobe bis zu dem Anschlag auf Wedemeier und war so eingesponnen in seine Gedanken, daß er die Geschehnisse in seiner Umgebung nur noch als bewegte Bilder wahrnahm: wie die Schiebetüren des Waggons sich langsam auseinanderschoben und zwei Unbekannte heruntersprangen, die mit weitausholenden Schritten auf ihn zustrebten. Erst in letzter Minute, als er endlich begriff, was vor sich ging, daß er gegen zwei viel größere, kräftigere Angreifer machtlos war, ergriff er die Flucht. Zu seinem Entsetzen waren die Kerle aber sehr geübt im Rennen und fingen ihn ein, bevor er die Straße erreichte. Sie trugen feinmaschige Kappen, die nur ihre Augen freiließen, und handelten stumm wie Fische. Mit hartem Griff rissen sie ihm die Arme auf den Rücken und stopften ihm, bevor er schreien konnte, ein Tuch in den Mund. Dann fingen sie an, ihm mit Riemen die Handgelenke zusammenzuschnüren. Wütend wehrte er sich mit Fußtritten, aber sie waren stärker, fesselten ihm auch die Beine, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Wie ein Postpaket schleiften sie ihn in den letzten Winkel der Gleisanlage - ein Knüppelschlag über den Kopf, dann warfen sie ihn in einen Container, verriegelten die Türen und suchten das Weite. Als Tono in seinem Gefängnis wieder zu sich kam, würgte und spuckte er den Knebel aus, anschließend rollte er sich auf eine Seite, auf die andere, auf den Bauch und versuchte, mit seinen einzig beweglichen Fingern eine Stelle an den Schnüren 137
zu finden, wo die Knoten sich lösen ließen - umsonst! Nach weiteren erfolglosen Bemühungen gelang es ihm schließlich, sich in der Nähe einer Wand zum Sitzen aufzurichten und anzulehnen - aufatmen, ausruhen und neue Kräfte schöpfen! Hilfe von außen erwartete er nicht, selbst Panzer und Kess würden ihn hier nicht vermuten. Assel und Fred aber, das war ihm klar, gönnten ihm diese Strafe! Im Finsteren, abgeschlossen von der Welt, mal schlafend, mal wach, verlor Tono sein Zeitgefühl, nur der quälende Durst zeigte ihm an, daß er sich bereits seit Stunden in dieser ausweglosen Lage befinden mußte. Sein Gehör verfeinerte sich und empfing von weither die ratternden Geräusche der Stadtbahnen, die in den Sonntag starteten. Endlos lange war er schon eingesperrt in diesem kahlen Behälter, von dessen metallenen Wänden nichts anderes ausging als Kälte. Er beugte seinen Oberkörper so weit wie möglich nach vorn und forschte mit den Lippen an seinen Beinen entlang nach den Fesseln. Sobald er ein dünneres Stück ausfindig gemacht hatte, packte er es mit den Zähnen und begann zu nagen. Das Leder war echt und zäh, es brauchte scharfe Bisse, um es zu durchtrennen, außerdem mußte Tono die Arbeit häufig unterbrechen, um sich aufzurichten und seine verkrampften Muskeln zu lockern. Längst hatte der Himmel seine dunklen Farben abgelegt, durch die Ritzen der Tür, die Rostlöcher und andere kleine Öffnungen schimmerte schwaches Tageslicht in Tonos Zelle. Undeutlich erkannte er, was er geschafft hatte: gemessen an der Menge, die noch vor ihm lag, viel zu wenig. Aber er gab nicht auf, plagte sich weiter, angestachelt von einem ungeheuren Zorn gegen Fred und dessen Handlanger, die sich anmaßten, ihn wie einen Sträfling gefangenzusetzen, weil er es abgelehnt hatte, nach ihrer Pfeife zu tanzen. 138
Es wurde Nachmittag, bis er seine Beine wieder bewegen konnte - sein erster Erfolg, ein mächtiger Ansporn, die Aufgabe zu vollenden! Als nächstes probierte er einen Kopfstand, der ihm nach mehreren Verrenkungen und Stürzen auch gelang. In dieser Haltung konnte er das Eisenstück aus seiner Hosentasche schütteln, das er benötigte, um den schmalen Spalt zwischen den Türen zu vergrößern, zum Riegel vorzudringen und diesen hochzuhebeln. Doch dabei wurde er unterbrochen. «Komm da raus, du Hund!» krächzte eine Männerstimme. «Das ist meine Wohnung!» «Das ist ein Knast!» rief Tono. «Helfen Sie mir bitte, die Schweine haben mich eingeschlossen!» Er legte ein Ohr gegen die Tür und hörte durch die dünne Wand den rasselnden Atem des möglichen Retters. «Beeilen Sie sich!» «Nichts da! Zuerst das Geld für die Übernachtung!» «Häftlinge brauchen keine Miete zu bezahlen!» «Du hast meinen Schlafplatz besetzt, das genügt!» «Ich bin nicht freiwillig hier, man hat mich gezwungen!» «Zwanzig Mark!», sagte der Mann. «Das ist ein fairer Preis in diesen teuren Zeiten!» Tono zählte seine Münzen. «Drei Mark fünfundsiebzig, mehr kann ich Ihnen jetzt nicht geben.» «Ein Trinkgeld für das kostbarste Gut in deinem Leben? So billig ist die Freiheit nicht zu kaufen, mein Lieber! Eigentlich ist sie sogar unbezahlbar!» «Sagten Sie nicht, das Geld soll für die Miete sein?» «Papperlapapp! Du mußt besser zuhören, wenn man dir was erklärt!» Die Schlacke knirschte unter seinen Schuhen, als er sich schwankend entfernte. 139
«Halt! Warten Sie doch! Laufen Sie nicht fort! Wenn Sie mich freilassen, werde ich Ihnen das Geld sofort besorgen!» «Haha!» lachte der Mann. «Mit diesem Trick kannst du einen wie mich doch nicht reinlegen!» Auf allen vieren kroch Tono zu seinem Werkzeug zurück, nahm das breite Ende fest zwischen die Zähne und bemühte sich, das schmale wie einen Keil in den Türschlitz zu schieben. Anfangs scheiterten seine Versuche, der schwere Gegenstand ließ sich nicht halten, entglitt ihm bei jeder falschen Bewegung und fiel mit lautem Knall zu Boden. Mit unendlicher Geduld las er ihn wieder auf, machte sich von neuem ans Werk und näherte sich trotz aller Rückschläge im Schneckentempo dem letzten Hindernis. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit wurde er noch einmal gestört, diesmal durch ein leises Pochen, ein Hüsteln, der Unsichtbare räusperte sich: «Drei Mark fünfundsiebzig!» Noch zehn Zentimeter bis zum Ziel! Tono besann sich kurz und antwortete: «Ich habe es mir anders überlegt... Du kriegst keinen Pfennig für meine Freiheit!»
Literatur SPIEGEL-Serien 1990/1991 M. Stock/P. Mühlberg: im Juventa Verlag (Weinheim) Das Leben ist nicht totzukriegen. Straßensozialarbeit in Rahlstedt 1990/91. Interview mit einem ehemaligen Skinhead. Zu beziehen bei: Straßensozialarbeit, Rahlstedter Straße 38, 2000 Hamburg 73. Pädagogik und Fremdenfeindlichkeit. Vortrag von Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, Univ. Bielefeld, auf der Jahrestagung der deutschen Unesco-Modellschulen am 14.9.92 (Kurzfassung in «Frankfurter Rundschau» vom 22.10.92 — Sonderbeilage Schule und Hochschule). Weiterführende Literatur Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. Edition Suhrkamp Nr. 103 und Gesammelte Werke, Suhrkamp Jacques Derrida: Gesetzeskraft, Edition Suhrkamp Nr. 1645, 1991
Kein Platz für Tono in der Wohnung seiner Mutter. In der Schule immer dasselbe... tödliche Langeweile! Tono hält es nicht mehr aus, er will endlich selbst über sein Leben bestimmen und sucht Spannung und Abenteuer in einer Jugendgang, die Angst und Schrecken verbreitet mit ihren Aktionen gegen Ausländer, gegen alle, die nicht in das Weltbild des Anführers passen. Wer sich weigert, blind zu gehorchen, gilt als Verräter. Gibt es für Tono noch ein Zurück? ab 12 Jahre