Wiebke Lohfeld (Hrsg.) Gute Schulen in schlechter Gesellschaft
Schule und Gesellschaft Band 40 Herausgegeben von Fran...
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Wiebke Lohfeld (Hrsg.) Gute Schulen in schlechter Gesellschaft
Schule und Gesellschaft Band 40 Herausgegeben von Franz Hamburger Marianne Horstkemper Wolfgang Melzer Klaus-Jürgen Tillmann
Wiebke Lohfeld (Hrsg.)
Gute Schulen in schlechter Gesellschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15837-2
Inhalt
Vorwort................................................................................................................. 7
Wiebke Lohfeld Gute Schulen in schlechter Gesellschaft....................................................... 9 I.
Gesellschaft: Strukturen für Schulentwicklung Wolfgang Böttcher und Nina Hogrebe Gute Schule statt guter Schulen Wettbewerb von Schulen unter Heterogenitätsbedingungen ..................... 21 Isabell van Ackeren Schulentwicklung in benachteiligten Regionen. Eine exemplarische Bestandsaufnahme von Forschungsbefunden und Steuerungsstrategien ... 47 Susann Burchardt Schulen im Sozialraum. Strukturelle Grenzen und institutionelle Chancen im lokalen Kontext............................................... 59
II.
Gute Schulen: Perspektiven und Ansätze Heiner Ullrich Ursprünglich für die Schwachen Die Schulen der klassischen Reformpädagogik – was sie waren und was aus ihnen geworden ist........................................................................ 79 Gabriele Erlenwein Die Goethe-Grundschule in Mainz Schulporträt einer Schule in einem multikulturellen Stadtteil ................ 108 Isabel Neto Carvalho Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz Das Beispiel: Goethe-Grundschule in Mainz........................................... 114
Kirsten Keppeler Der Hauptschulpreis 2007 „Wir suchen Deutschlands beste Schulen mit Hauptschulabschluss!“ .... 122 Frauke Choi Schulwettbewerbe. Chancen für die Schulentwicklung ........................... 140 III. Schulkultur und Schulleistung – empirische Befunde Heiko Breit und Annette Huppert Demokratie in der Schule Zwei Fallstudien zu Schulkulturen und der Etablierung von Demokratie in der Schule ............................................................................................ 149 Sara Fürstenau und Britta Hawighorst Gute Schulen durch Zusammenarbeit mit Eltern? Empirische Befunde zu Perspektiven von Eltern und Schule .................. 170 Alexander Schulze und Rainer Unger Bildungschancen an Grundschulen in prekärem Umfeld Lernumweltmerkmale der Schule und deren Bedeutung ......................... 186 Autorinnen und Autoren .................................................................................. 207
Vorwort Franz Hamburger
Die öffentliche Diskussion über Schulen und Bildung setzt seit den PISA-Studien deutliche negative Akzente; überwiegend werden Vorzüge der Schulen in anderen Ländern thematisiert. Die fachliche Auseinandersetzung hebt Leistungen und Versäumnisse gleichermaßen hervor, betont allerdings in besonderem Maße den Reformbedarf. Einen Schwerpunkt der Diskussion bildet dabei die soziale Selektivität des Bildungssystems. Unabhängig davon, ob die öffentliche Klage über die Selektivität der Schule und die Benachteiligung insbesondere von Kindern „mit Migrationshintergrund“ mehr ist als die Beschwörung einer der Grundlagen der sozialen Demokratie (Chancengleichheit) und die politische Diskussion als Ersatzhandlung für strukturelle Schulreformen anzusehen ist, stellt sich die Frage, wie Schulen pädagogisch konstruktiv mit Ungleichheiten und ungünstigen Ausgangssituationen umgehen. Diese Frage stellt sich insbesondere im Hinblick auf Schulen in Stadtteilen „mit besonderen Belastungen“, mit „Entwicklungsbedarf“, mit „sozialen Brennpunkten“ oder wie die Bezeichnungen auch sein mögen. Aufmerksam wird die Öffentlichkeit auf solche Schulen in der Regel nur dann, wenn die Probleme und Konflikte eskalieren (Rütli-Schule-Syndrom). Pädagogisch von besonderem Interesse sind diese Schulen, wenn sie Problembelastungen als konkrete Aufgaben für ihre pädagogische Arbeit definieren, also sowohl eine gute Schulatmosphäre schaffen als auch Schulerfolg für ihre Schüler und Schülerinnen ermöglichen. Wie solche Konstellationen aussehen, wurde bei einer Tagung des Zentrums für Bildungs- und Hochschulforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 6. Juli 2007 diskutiert. Bei der Beantwortung der Frage, was gute Schulen unter ungünstigen Bedingungen auszeichnet, sind verschiedene Forschungsstränge zu berücksichtigen. Die Untersuchungen zur Qualität der Einzelschule heben die Relevanz der Schulleitung, den Konsens des Kollegiums, die Binnen- und Außenkommunikation und die Konsistenz des pädagogischen Konzepts hervor. Diese Faktoren zeigen sich bei den Schulen „in schlechter Gesellschaft“. Auch die gute Ausstattung solcher Schulen, insbesondere in materieller (Ausstattung) und personeller (Personalschlüssel, multiprofessionelle Teams) Hinsicht ist bedeutsam. Aber es gibt keine kausale Beziehung zwischen solchen Bedingungen und dem Erfolg der Schulen. Auch lokale Traditionen spielen eine Rolle, ebenso die kommunale Einbettung und Kooperation.
Gleichzeitig lassen die verschiedenen Schulwettbewerbe und ihre Ergebnisse erkennen, dass es nur wenige generalisierbare Tendenzen gibt und immer Schulen ausgezeichnet werden, die in kein Schema passen. In praktisch-politischer Hinsicht bedeutet dies, dass die Unterstützung solcher Schulen sich nach den je spezifischen Bedürfnissen einer Schule richten soll – zusätzlich zu den generalisierbaren Parametern der Ressourcensteuerung. Zudem wurde deutlich, dass jede Schule, die ihre eigenen Voraussetzungen analysiert und auf diese bezogen ihr Handlungskonzept entwirft, zu einer guten Schule werden kann. Zwar sind auf Dauer die Ressourcen von zentraler Bedeutung, aber das pädagogische Handeln von ihnen abhängig machen zu wollen, scheint auch keine Antwort auf die „schlechte Gesellschaft“ zu sein. Für die erziehungswissenschaftliche Forschung sind ebenso vertiefte Fallstudien wie systematische Surveys erforderlich – ein beruhigendes Ergebnis, mit dem sich weitere Untersuchungen begründen lassen. Franz Hamburger
I. Gesellschaft: Strukturen für Schulentwicklung
Gute Schulen in schlechter Gesellschaft Wiebke Lohfeld
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Einleitung
Mit dem Titel dieses Sammelbandes ist ein Cluster an Begriffen aufgefächert, das spannungshaltiger in der aktuellen Debatte um Schule in Deutschland kaum sein kann. Die Beiträge in diesem Buch nehmen divergierende Positionen zu ‚Guter Schule’ – bzw. ‚Guten Schulen’ – und ‚schlechter Gesellschaft’ ein, sie bilden einen diskursiven Kanon, der einen Beitrag leistet, um die Frage nach ‚guter Schule’ in einer gesellschaftlichen Situation sich steigernder Ungleichheiten zu beleuchten. Die Debatte um schulische Entwicklung ist längst schon kein Exklusivthema des bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Betriebes mehr. Vielmehr ist die Diskussion in den einschlägigen Medien soweit vorangetrieben, dass sämtliche Beteiligten am Bildungssystem – Kinder, Schulen, Lehrer, Eltern, Kultusministerien – daran partizipieren und zu ‚informierten und kritischen Experten’ geworden sind. Darin liegt eine große Chance: Entwicklung und Veränderung ist gefragt. Nur geht genau mit dieser Formel eine Verunsicherung einher, die sich aus der nach wie vor schwer zu beantwortenden Frage ergibt, was eine ‚gute Schule’ und was eine ‚schlechte Schule’ ist. Was wissen wir darüber, was eine Schule zu einer guten Schule macht? Und: wie kann Schule angesichts schwieriger Ausgangslagen ein Ort für Schülerinnen und Schüler sein, an dem sie ‚gute’ Bildungschancen erhalten? Eine elementare und aus meiner Perspektive die gesamte Debatte zugrunde liegende Feststellung wurde von Helmut Fend schon 1989 formuliert. In seinem Beitrag „Was ist eine gute Schule“ in dem gleichnamigen Sammelband herausgegeben von Klaus-Jürgen Tillmann, fasst er zusammen: „Somit wird deutlich, wie sehr unsere Vorstellungen von einer guten Schule mit unseren Bildern darüber verwoben sind, wie menschliches Zusammenleben insgesamt aussehen sollte“ (ebd. 1989: 24). Dieser Hinweis hat meiner Ansicht nach nicht an Aktualität verloren. In seinem gerade erschienenen Buch „Schule gestalten“ nimmt Fend ausgehend von dem Ziel, das gesamte Bildungswesen zu verstehen, d.h. es in seinen Strukturkernen auf Makro– Meso– und Mikroebene zu erfassen, auf die Aussage von 1989 Bezug: „Es [das Bildungswesen, W.L.] muss Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit ebenso verbinden wie Humanität und Fürsorge (caring).
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Es sollte allen gerecht werden, Bevorzugung und Partikularität verhindern und den unhintergehbaren Wert jedes Einzelnen im Auge haben. Durch bloße Reglementierung wird dies aber ebenso wenig erreichbar sein wie es durch eine abstrakte ‚Liebe zum Kind’ auf Dauer gestellt sein kann. Es ist eine Verbindung gefragt, also eine institutionell gestützte und verstetigte Optimierung von Lernprozessen und Erfahrungschancen für heranwachsende Menschenkinder und individuellen Kompetenzen und Einstellungen der Akteure“ (ebd. 2008: 14; Hervorhebungen i.O.). Eine Bestimmung von ‚guter Schule’ kann dann gelingen, wenn klar ist, worin sich Schule überhaupt begründet. Und das ist nach Fend an eine ‚doppelte Realität’ des Bildungswesens geknüpft, die sich in den Vorgaben und deren praktischer Ausgestaltung darstellt. Beides führt auf die geschichtlich entstandenen Vergesellschaftungsformen zurück und bringt uns letztlich zu einer Betrachtung der ‚Regeln des Zusammenlebens’ (vgl. ebd. 2008: 18). Daran anknüpfend kann man festhalten, dass eine ‚gute Schule’ genau zu diesem Punkt explizit Stellung nimmt, also ihren eigenen Bestehensgrund als Programm expliziert. Gleichzeitig sollte der Rahmen, in dem eine Schule sich mit einem eigenen Programm darstellt, jeweils aktuell in den Blick genommen werden. Schließlich haben sich die Anforderungen an Schule und die ihr zur Verfügung gestellten Möglichkeiten gewandelt. Wenn also ‚Schule’ betrachtet wird, so kommt man um die aktuelle Ausgestaltung unserer Gesellschaft nicht herum. Das schließt nicht nur die Bevölkerungsstruktur ein, sondern auch die Werte und Normen der Gesellschaft. Insbesondere angesichts der zunehmenden Internationalisierung von Bildungssystemen wächst der Druck, das je nationale Bildungssystem nicht mehr nur im eigenen nationalen Kontext zu sehen. Vielmehr richtet sich der Fokus auf die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich. Dass sich gleichzeitig auch im nationalen Rahmen die Verhältnisse wandeln, unter denen Schule agiert und sich gestaltet (vgl. Fend 2008), verstärkt die Problematik, der sich Schule heute gegenüber sieht. Speziell angesprochen sei hier die steigende Produktion sozialer Ungleichheit (Braun 2006), die dazu führt, dass eine „wachsende Gruppe grundsätzlich vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen wird“ (ebd. 2006: 189). Die daraus resultierenden Probleme auf der Handlungsebene der betroffenen Subjekte ist dann einer der Faktoren, die Schule nachhaltig fordern, auf die sie reagieren muss und auch reagiert. Darüber hinaus ist eine Ausdifferenzierung der Lebensläufe zu verzeichnen, Biografien werden verstärkt zu Gestaltungslandschaften der Subjekte selbst bei immer weniger Einfluss auf die Bedingungen, in denen sich eine Gestaltung vollzieht.
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Die Frage nach ‚guter’ Schule ist in einem Bereich verortet, der sowohl eine Makro- als auch eine Mikroperspektive auf den Bildungsbegriff erzwingt. Schließlich geht es um zwei Dinge:
Welche Lern- Wissens- und institutionalisierten Selektionssysteme stehen in Deutschland bereit? und Wie können sich Bildungsprozesse bei Individuen möglichst positiv und effektiv vollziehen, also: wie können die einzelnen Schüler ‚optimal’ in ihren individuellen Bildungsprozessen gefördert werden? Oder: „Welche organisatorischen Bedingungen des Erziehungssystems – hier: der Schule – werden den Entwicklungs– und Lebenslaufbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen am ehesten gerecht?“ (Braun 2003: 183).
Die Frage nach ‚guter Schule’ in ‚schlechter’ Gesellschaft verschiebt diese Perspektive dahingehend, dass zu fragen ist.
Welche Lern- Wissens- und Selektionssysteme schaffen es, die gesellschaftlich offen liegenden Ungleichheiten positiv zu bearbeiten; und: unter welchen strukturellen Bedingungen? Sowie: Wie werden Kinder und Jugendliche in sozial benachteiligten Umfeldern in ihrem Bildungsprozess optimal gefördert; und: mit welchen Konzepten und unter welchen strukturellen Bedingungen?
In diese – hier etwas verkürzt dargestellten – Fragen will dieser Sammelband mit einer forschenden Haltung eindringen: Einerseits wird nach den bestehenden Bedingungen für Schule in der heutigen Gesellschaft gefragt. Speziell jene Teile der Gesellschaft, die sich allgemein unter Begrifflichkeiten wie ‚sozialer Brennpunkt’, ‚benachteiligte Quartiere’, ‚challenging circumstances’ u.ä. versammeln, geraten hier in den Fokus. Andererseits wird das Augenmerk auf bestehende positive Entwicklungen von Schule gelegt, die sich aller widrigen Umstände zum Trotz durchgesetzt haben. Dafür sind Beiträge hier versammelt, die beispielhaft ‚gute Schulen’ skizzieren sowie reformpädagogische Schulen (wieder) in die Diskussion führen. Darüber hinaus wird auch nach allgemeinen Bestimmungsmerkmalen von ‚guter Schule’ gesucht, die sich in einem internationalen Forschungsüberblick abzeichnen lassen. Ferner wird den Möglichkeiten der Entwicklung von Qualitätsstandards für Schule nachgegangen, die sich nicht nur im Rahmen einer Wettbewerbskultur bzw. den sozio-kulturellen Bedingungen für Schule bestimmen lassen sollten, sondern bildungsstrukturell diskutiert werden. Grundlage der hier versammelten Beiträge bildet eine Tagung mit gleichnamigem Titel, die an der Johannes Gutenberg Universität im Sommer 2007 im
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Rahmen der Veranstaltungen des Zentrums für Bildungs- und Hochschulforschung durchgeführt wurde1. Die oben geschilderten Aspekte der Diskussion gaben Anlass, ein Spektrum der Bildungsdebatte zu versammeln, das sich sowohl den strukturellen Bedingungen von Schule, den gesellschaftlichen als auch den praktischen Beispielen für engagierte und gelingende Arbeit von Schulen widmet. Insbesondere wird in den Blick genommen, was unter schwierigen gesellschaftlichen Umständen für Schule möglich ist. Damit wird eine Diskussion eröffnet, die Potenziale in den Vordergrund stellt bei gleichzeitiger Einsicht, dass eine Bestandsaufnahme dessen, was im Bereich schulischer Entwicklung auf den unterschiedlichsten Ebenen geschieht ebenso notwendig ist, wie eine begründete Beibehaltung und Entwicklung von Visionen für ‚gute Schule’. Dieses Buch reflektiert die auf der Tagung anregend begonnene Diskussion.
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Zum Aufbau des Buches
Die Beiträge in diesem Buch sind in drei Teile gegliedert. Der erste Teil, ‚Gesellschaft: Strukturen für Schulentwicklung’ nimt die die strukturellen Voraussetzungen für schulische Entwicklung mit unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. Im zweiten Teil, ‚Gute Schulen: Perspektiven und Ansätze’, werden Konzepte und Schulen vorgestellt, die beispielhaft für ‚Gute Schule’ stehen. Im dritten Teil, ‚Schulkultur und Schulleistung’, wird schließlich anhand von aktuellen empirischen Studien auf den Zusammenhang von ‚schlechter’ Gesellschaft und Schulleistung sowie auf Schulkultur und konkrete Schularbeit Bezug genommen.
2.1 Gesellschaft: Strukturen für Schulentwicklung Der Beitrag von Wolfgang Böttcher und Nina Hogrebe betrachtet mit einer kritischen Haltung gegenüber der in Deutschland zunehmenden Wettbewerbskultur von Einzelschulen untereinander den Ertrag, den diese Wettbewerbe für eine Qualitätsverbesserung von Schule leisten können. Mithilfe einer wirtschaftswissenschaftlichen Sicht auf die Wettbewerbskultur kommen sie zu dem Schluss, dass die wettbewerbsorientierten Reformen „kein Umfeld schaffen, in dem Schu1 Als Initiator der Tagung ‚Gute Schulen in schlechter Gesellschaft’ ist Professor Franz Hamburger hier besonders hervorzuheben. Er hat mit großem Engagement die Tagung gestaltet und auch diese Veröffentlichung mit auf den Weg gebracht. Sein Interesse, auf einen medial verzerrten Diskurs um Schule ‚heute’ mit neuen Perspektiven zu reagieren, hat sich in der Zusammenstellung dieses Bandes mehr als ausgezeichnet. Für seine Anregungen und seinen Einsatz möchte ich ihm an dieser Stelle meinen Dank aussprechen.
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len mit ungünstigen kontextuellen Bedingungen gute Möglichkeit haben, sich qualitativ zu entwickeln“ (ebd.: *). Gleichwohl betonen sie, dass es durchaus Unterstützungssysteme gibt, in denen sich auch Schulen mit schlechteren Ausgangslagen positiv entwickeln können. Das durchgängige Plädoyer dieses Beitrages für ‚Gute Schule’ statt ‚Guter Schulen’ richtet sich an eine Bildungspolitik, die jene Programme von beispielhaft guten Schulen auch programmatisch umzusetzen habe; und zwar im Sinne eines Co-opetition und einer modularisierten Unternehmensführung. Isabell van Ackeren zeigt in ihrem Beitrag den internationalen Stand der Forschung zur Schulentwicklung in benachteiligten Regionen auf. Sie bringt Ergebnisse der Schulentwicklungsforschung und der Schulwirksamkeitsforschung zusammen, deren Ergebnisse verdeutlichen, dass man insgesamt davon auszugehen hat, dass Schulen in schwierigen Kontexten Benachteiligung erfahren, die bis in den Unterricht hinein wirken. Die vertiefende Betrachtung anhand von theoretischen Anätzen wie des Kontingenzansatzes, des Kompensationsansatzes und der Additivitäts-Hypothese lässt allerdings den Schluss zu, dass es sehr wohl Anhaltspunkte dafür gibt, dass Schulen auch mit schwierigen Rahmenbedingungen effektiv arbeiten können. Die Merkmale von guten bzw. effektiven Schulen sind schon benannt (z. B. professionelle Schulführung, geteilte Visionen und Ziele innerhalb der Institution, gutes Schulklima, Einbindung der Schülerinnen und Schüler, zielgerichtetes Unterrichten, Partnerschaft zwischen Schule und Eltern). Diese aber zu Merkmalen von deprivierten Schulstandorten werden zu lassen, bedarf der Einschätzung van Ackerens nach noch weiterer Forschungsarbeit. Einen ganz anderen Fokus nimmt der Beitrag von Susann Burchardt ein, der sich der Schule im Sozialraum widmet. Schulen in sogenannten sozialen Brennpunkten stünden in besonderem Maße unter der konkreten Anforderung, sich mit kommunalen Akteuren zu vernetzen, d.h. sich in den Sozialraum hinein zu öffnen. Die dafür zur Verfügung stehenden Steuerungsmechanismen im Sinne von Governance sind Blickfang des Beitrages von Susann Burchardt. Anhand einer empirischen Untersuchung zeigt Burchardt auf, dass Schulen mit gleicher Voraussetzung durchaus ganz unterschiedlich im sozialen Raum agieren und über vollkommen unterschiedliche Modi der Steuerung verfügen. Der Vorschlag dieses Beitrages deutet an, dass Steuerungsmechanismen im Sinne von Governance in schulischen und kommunalen Zusammenhängen eine Zunahme von partizipativen und politikfeldübergreifenden Verfahren ermöglichen, die durchaus vielversprechend für eine schulische Entwicklung in sozial schwierigen Stadtteilen sind.
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2.2 Gute Schulen: Perspektiven und Ansätze Einen Einblick in die Reformpädagogik und ihre verschiedenen Ansätze verschafft Heiner Ullrich, in dem er aufzeigt, wie sich die Ansätze und die Schulen von Maria Montessori, Rudolf Steiner (Waldorf-Schule), Peter Petersen (JenaPlan-Schule) und Célestin Freinet entwickelt haben und heute verwirklicht werden. Die ausführliche und differenzierte Darstellung birgt eine Hinführung zu der starken Anfrage, warum jene Reformpädagogiken heute vorzugsweise von den bildungsnahen Schichten adressiert werden, obgleich sie allesamt aus einer Motivation heraus entstanden sind, die eher bildungsfernen schwachen Schichten aufzunehmen. Die heute als ‚exklusive Bildungsorte’ bekannten Montessori-, Waldorf-, Jena-Plan- und Freinet-Schulen, so zeigt Heiner Ullrich, haben einen Aufstieg „in die soziale Exklusivität eines gesellschaftlichen Leitmilieus“ (ebd.: 96) vollzogen, der im Grunde den ursprünglichen Zielen der Reformpädagogiken widerspricht. Seinen Stellenwert in diesem Band bekommt dieser Beitrag darüber hinaus dadurch, dass er in besonderem Maße deutlich macht, dass reformpädagogische Praxiselemente von vielen Regelschulen heute übernommen werden und insbesondere ‚gute Schulen’ auszeichnen. Das Schulporträt der Goethe-Grundschule in Mainz von der Schulleiterin Gabriele Erlenwein thematisiert vor dem Hintergrund der schwierigen Ausgangslage dieser Schule mit einem sehr hohen Anteil der Schülerschaft aus bildungsfernen Familien (sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund) die konzeptionellen Antworten, die die Schule als Ganztagsschule gefunden hat. Einen Schwerpunkt der Arbeit an der Goethe-Schule setzt Gabriele Erlenwein in der notwendigen und umfangreichen Vernetzung und Kooperation mit lokalen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Weiterhin ist ihrer Ansicht nach die Ganztagsbetreuung ein wesentlicher Baustein, der eine umfangreiche Förderung der Kinder garantiere. Das Beispiel des Schulporträts gibt einen Einblick in die schulischen Konzepte, die auf vielfältige Problemlagen der Schülerschaft reagieren, so dass die Schule ein ‚umfängliches Förderzentrum’ darstellt. Dass Ganztagsschulen eine mögliche Alternative für gesellschaftliche Herausforderungen darstellen und welche Konzepte es gibt, veranschaulicht Isabel Neto Carvalho in ihrem Kommentar zu dem zuvor skizzierten Beitrag. Anhand des Ganztagschulprogramms in Rheinland Pfalz ordnet sie kritisch die Stellung der Goethe-Grundschule in die Entwicklungen des Bundeslandes ein. Eine besondere Betonung legt Isabel Neto Carvalho auf den Anspruch, den Ganztagsschulen verfolgen, als ‚Lebensraum’ gestaltet zu sein und nicht als reiner ‚Lernraum’. Das Potenzial von Ganztagsschule wird von Isabel Neto Carvalho fern einer
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Debatte familienpolitischer Betreuungs’offensive’ gesehen, die sich von politischer Seite her findet. Die Goethe-Schule stelle sich als additive Ganztagsschule dar, die ihre Stärke vor allem im Bereich der Vielfalt der Arbeitsgemeinschaften bezeuge. Exemplarisch für positive Entwicklungen in der Schullandschaft von vornehmlich belasteten Schulen durch eine schwierige Schülerschaft – wie man es von Hauptschulen gemeinhin annimmt – steht der Beitrag von Kirsten Keppeler. Sie stellt die drei Gewinner-Schulen aus dem deutschen Schulwettbewerb der Hauptschulen im Jahr 2007 dar. Dabei werden überraschende neue pädagogische Wege gezeigt, die deshalb entstehen, weil sich diese Schulen auf besondere Weise ihren Schülern verschrieben haben. Kirsten Keppeler hebt hervor, dass die notwendige Orientierung dieser Schulen auf den Arbeitsmarkt zu einer vielgestaltigen Schul- und Unterrichtsstruktur führt, in der sich die einzelnen Schüler z.B. in Projektarbeiten entfalten können. Der Bezug zu reformpädagogischen Ansätzen und insbesondere einer musisch-kulturellen Bildungsarbeit wird anhand der beispielhaften Vorstellung der drei ‚Siegerschulen’ evident. Die Einordnung von Schulwettbewerben in den Kontext von Schulentwicklung kommentiert die Ausführungen des vorherigen Beitrags. Frauke Choi konterkariert eine kritische Haltung zu Schulwettbewerben indem sie deren Stärke für einen Einfluss auf eine positive Entwicklung von Schule hervorhebt. Wettbewerbe würden zwar Schulen in den Vordergrund rücken, die jeweils nur ‚besonders gute’ Einzelfälle darstellten. Diese zeigen sich aber darüber hinaus als Beispiele für andere Schulen, die Entwicklungsbedarf haben und sich an anderen wirkungsvollen Konzepten orientieren könnten. Gleichwohl betont Choi, dass eine wissenschaftliche, vor allem qualitative, Forschung die Bedeutung von Schulwettbewerben für Schulentwicklung noch durchzuführen sei, damit man die Zusammenhänge genauer skizzieren kann und schließlich gezielter im Hinblick auf eine breiter angelegte Schulentwicklung Schulwettbewerbe zu nutzen in der Lage ist.
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2.3 Schulkultur und Schulleistung: empirische Befunde Um ‚gute Schule’ machen zu können, bedürfe es einer Schulkultur, die „Raum für die Ermöglichung von demokratischen Umgangs- und Anerkennungsformen“ schaffe, so Heiko Breit und Annette Huppert in ihrem Beitrag zu diesem Band. Sie stellen, ausgehend von einer Bestimmung der Begriffe Schulkultur und ‚active citizenship’ zwei deutsche Fallstudien eines europaweiten Forschungsprojektes zur Entwicklung von ‚active citizenship’ in Schulen vor. Dabei wird explizit der Zusammenhang von Schulkultur und einer Bereitstellung des Erlernens bzw. Lebens von ‚active citizenship’ aufgezeigt, wobei Schule dann für alle Beteiligten ein Lernen von demokratischen Umgangs- und Anerkennungsformen fördern kann, wenn sie selbst einen Ort der Autonomie, Verständigung und Auseinandersetzung darstellt. Voraussetzung ist eine Schulkultur, die Vertrauen bildet und Mitentscheidung sowie Partizipation beinhaltet; oder, um auf Helmut Fend zurückzukommen, das Zusammenleben und dessen Gestaltung zum Ziel erklärt. Einen Schwerpunkt, der weitestgehend ein Randthema im Diskurs um Schulentwicklung darstellt, wird von Sara Fürstenau und Britta Hawighorst aufgegriffen: die Elternarbeit an Schulen. Sie stellen Ergebnisse aus zwei empirischen Studien an Hamburger Schulen vor, wobei sie davon ausgehen, dass Elternarbeit, wenn sie als explizite Aufgabe von Schule verstanden wird, den Schulerfolg der Kinder stärken kann. Anhand von drei theoretischen Ausgangspunkten beleuchten Fürstenau und Hawighorst Interviewmaterial. Dies sind: (1) Anerkennungsprozesse zwischen Schule und Eltern, (2) Schule und Eltern als Erziehungspartner und (3) Elternbildung als Empowerment. Sie zeigen anschaulich, dass die Zusammenarbeit dann gelingt, wenn sich auf Seiten der Schule eine reflexive Haltung der Anerkennung findet, die in der Lage ist, eine gemeinsame Übernahme von Verantwortung für die Erziehung der Kinder zu gestalten. Das gilt vor allem für die Ergebnisse der untersuchten Schulen in prekären sozio-kulturellen Umfeldern. Alexander Schulze und Rainer Unger diskutieren in ihrem Beitrag Ergebnisse einer Studie, die alle Wiesbadener Grundschulen in den Blick genommen hat, unter besonderer Berücksichtigung derjenigen Schulen, die sich in einem prekären Umfeld einordnen lassen. Sie gehen davon aus, dass „eine gute Schule […] also eine Schule [ist], die im Rahmen ihres sozialstrukturellen Umfeldes besser abschneidet als erwartet“(ebd.: *) Betrachtet werden die Lernumweltmerkmale im Zusammenspiel mit der sozio-strukturellen Zusammensetzung der Schülerschaft. Schulen, die sich in einem sogenannten ‚schlechten’ Umfeld befinden
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und die sich nach der hier entworfenen Maßgabe als ‚gute’ Schulen bezeichnen lassen, zeigen, dass es insbesondere die ‚weichen und klimatischen’ Faktoren sind, die die Effektivität einer Schule beeinflussen und weniger die ‚harten’ Faktoren. So kommen Schulze und Unger schließlich zu dem Schluss, dass es eventuell gerade die schwer messbaren Faktoren, wie z.B. die Klassenstruktur oder der Einfluss des Klassenlehrers, die Bildungschancen beeinflussen. Aber, sie merken auch an, dass es hierzu noch weiterer Untersuchungen bedarf.
Literatur Braun, Karl-Heinz (2006): Ziele institutioneller Entwicklung der Schule in der ‚zweiten Moderne’. In: Rihm (Hrsg.) (2006): 183-212 Fend, Helmut (2008): Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und Unterrichtsqualität. Wiesbaden:VS-Verlag Fend, Helmut (1994): Was ist eine gute Schule? In: Tillmann (Hrsg.) (1994): 14-25 Rihm, Thomas (Hrsg.) (2006): Schulentwicklung. Vom Subjektstandpunkt ausgehen…. Wiesbaden: VS-Verlag Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.) (1994; 1. Aufl. 1989): Was ist eine gute Schule? Hamburg: Bergmann und Helbig Verlag
Gute Schule statt guter Schulen Wettbewerb von Schulen unter Heterogenitätsbedingungen Wolfgang Böttcher und Nina Hogrebe
Das deutsche Schulwesen und seine Leistungsfähigkeit wurden in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Dabei erfuhren nicht nur die Struktur des Schulsystems und seine bildungspolitische Steuerung, sondern auch die Schulen selbst und die darin arbeitenden Lehrer und Lehrerinnen deutliche Kritik. Selten wurden dabei auch Vorzüge der deutschen Schule thematisiert, in der Regel stand ihre für kaum ausreichend empfundene Qualität im Vordergrund der Debatten. Inmitten dieser Krisenstimmung lassen sich allerdings Initiativen ausmachen, die bemüht sind, in der Öffentlichkeit das Bewusstsein zu schaffen, dass es durchaus leistungsstarke Schulen in Deutschland gibt, die ihren Schülern und Schülerinnen ein qualitativ hochwertiges Lernumfeld bieten. Zu diesen gehören Wettbewerbe, die für Schulen ausgeschrieben werden, wie z. B. der Deutsche Schulpreis.2 So sollen Qualitätsentwicklungsprozesse ausgelöst werden, die „von innen“ kommen, d.h. die von den in den Einzelschulen arbeitenden Lehrern und Lehrerinnen selber initiiert und getragen werden. Gewinnerschulen des Deutschen Schulpreises wie die Robert-BoschGesamtschule in Hildesheim oder die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden belegen, dass deutsche Schulen offenbar in den Qualitätsdimensionen des Wettbewerbs (Leistung; Umgang mit Vielfalt; Unterrichtsqualität; Verantwortung; Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner; Schule als lernende Institution) Hervorragendes leisten können. Es ist aber überraschend, dass die Preisträger sich in der Regel dadurch auszeichnen, dass sie genau das nicht tun, was ihnen ihre Schulminister/innen abverlangen, dass sie im Gegenteil häufig gegen ihre politische Führung haben ankämpfen müssen (vgl. Sack 2008). Sie sind unkonventionell, sie experimentieren, sie führen Projekte nicht nur in einigen wenigen Wochen durch oder sie arbeiten mit gezielter Förderung von Schülern und Schülerinnen aus nachteiligem Umfeld oder sozialen Brennpunkten, wie 2 Der Deutsche Schulpreis wurde durch die Robert Bosch Stiftung und die Heidehof Stiftung in Kooperation mit stern und ZDF eingerichtet und im Dezember des Jahres 2006 zum ersten Mal durch Bundespräsident Horst Köhler verliehen (siehe zum Deutschen Schulpreis Fauser et al. 2007).
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z.B. die Grundschule Kleine Kielstraße Dortmund. Dass gerade Gesamtschulen besonders erfolgreich sind, ist ebenso bemerkenswert. All diesen Schulen ist gemeinsam, dass sie „ebenso fantasievolle wie überzeugende Antworten auf die Herausforderungen gefunden haben, denen sich Schulen heute gegenübersehen“ (Hamm/Madelung 2007: 3). Aber nicht nur die Gewinnerschulen sollen durch die Einrichtung derartiger Schulwettbewerbe profitieren. Da sie zeigen können, „was nach fachlicher Überzeugung gute Schule ausmacht“ (Fauser et al. 2007: 8), können die preisgekrönten Schulen eine Vorbildfunktion für andere Schulen übernehmen. Letztere sollten motiviert werden, ähnliche Entwicklungsprozesse anzustoßen. So soll nach und nach Schule um Schule verbessert und ein deutschlandweiter „Häuserkampf um gute Bildung“ (Boldebuck/Barth 2007: 265) angezettelt werden. Eine ganz besondere Art des Wettbewerbs hält in der deutschen Schullandschaft Einzug. Es ist in verschiedener Hinsicht irritierend, dass diejenigen Schulen, die Wettbewerbe gewinnen, anderes tun als die standardisierenden und zentralisierenden Reformen (wie Schulzeitverkürzung oder Leistungstests) der Politik offenbar anstreben. Sollen diese Schulen also tatsächlich andere zur Kreativität und ein wenig auch zur Subversivität anregen? Belegen sie die Unfähigkeit der Politik, Qualitätsentwicklung zu erzeugen, die nur aus der Eigeninitiative wachsen kann? Vielleicht zeigen sie auch, dass man sogar in einem schlechten System gut sein kann, wenn man sich nur hinreichend anstrengt. Mehr noch: Dass das System ja gar nicht schlecht sein kann, wenn es so gute Schule hervorbringt. Und zeigen die Wettbewerbe also all den erfolglosen Schulen, dass es eben an ihnen selbst liegt und sie Unterstützungssysteme für ihre schwierige Arbeit nicht erwarten können? Eines aber zeigen sie gewiss: Wettbewerb ist im Schulsystem hoffähig. Selbst die „linken“ Gesamtschulprotagonisten beteiligen sich und sind erfreut über Plätze auf dem Siegertreppchen. Mal sehen, wer morgen gewinnt. Auf jeden Fall ist die Tür geöffnet für (weitere) wettbewerbsorientierte Elemente im Schulwesen und die Konkurrenz zwischen Einzelschulen. Der folgende Beitrag wird zunächst einige Gründe, Wirkungserwartungen und Funktionsweisen wettbewerbsorientierter Reformen im Schulwesen skizzieren und dabei einigen negativen, wahrscheinlich nicht intendierten Effekten nachgehen (Kapitel 1). Dennoch wird nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass wettbewerbliche Anreize im Schulwesen kein Potenzial für Qualitätsverbesserungen aufweisen können. Vielmehr soll ein Blick in die Wirtschaftswissenschaften helfen, mögliche Unterstützungssysteme für die Gestaltung eines fairen Wettbewerbs aufzuzeigen (Kapitel 2), der Anreizmechanismen für eine Verbesserung der gesamtsystemischen Schulqualität fördert.
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Wettbewerbsorientierte Reformen im Schulwesen
Nicht nur die in Deutschland durch internationale Vergleichsstudien diagnostizierte „Qualitätskrise“ im Schulwesen, sondern auch Steuerungsprobleme und finanzielle Engpässe, Zweifel an der Wirtschaftlichkeit staatlicher Bildungsproduktion sowie bildungspolitische Legitimationsprobleme (vgl. z. B. von Recum 2006: 39; Weiß 1993: 307) haben dazu geführt, dass in der deutschen Bildungspolitik zahlreiche Reformen diskutiert und umgesetzt werden. Hierbei kommen auch Instrumente ins Spiel, die eine Verstärkung des Wettbewerbs zwischen den Einzelschulen bedeuten (vgl. van Ackeren 2006: 301; Arnhold/Bellenberg 2005: 400-404). Die Einführung von markt- und wettbewerbsorientierten Elementen in das Bildungswesen ist keine eigens für das deutsche Schulwesen entwickelte Lösungsstrategie. Im Gegenteil: Die deutsche Schulpolitik ist wieder in der Rolle des Nachahmers, denn Reformen, die zu der Entstehung sogenannter ’Quasi-Märkte’3 im Schulwesen führen und Wettbewerb zwischen den Schulen initiieren, sind seit Jahren internationaler Trend und werden von vielen Regierungen – auch unterschiedlicher politischer Färbung – initiiert. Dabei ist ihr Erfolg bisher noch fraglich. Wesentliche Forschungsergebnisse zur Einführung von Wettbewerb in das Schulwesen legen eher Zurückhaltung und Vorsicht nahe.
1.1 Quasi-Märkte im Bildungsbereich An der Marktlogik orientierte bildungspolitische Leitbilder sind vor allem „parent empowerment“ – die Stärkung der Nachfragermacht durch die Ausweitung der Einflussmöglichkeiten der Eltern –, (freie) Schulwahlmöglichkeiten sowie eine Erhöhung der Angebotsvielfalt und -flexibilität durch Dezentralisierung, Deregulierung und Stärkung der Autonomie der Einzelschule. Das Ziel solcher Reformen ist es, einen Wettbewerb der Schulen um Schüler und Schülerinnen einzuleiten, der „eine hohe Innovationsbereitschaft sowie eine effiziente und präferenzgemäße Versorgung mit Bildungsleistung“ (Weiß 2001: 69) anregt und so flächendeckend für die Entstehung qualitativ guter Schulen sorgt (ebd.: 69f.). 3 Geht es um die Einführung von Wettbewerb und Markt im Schulbereich, so ist immer von ’QuasiMärkten’ (Le Grand 1991; Glennerster 1991; Le Grand/Bartlett 1993) die Rede. Alternativ werden auch Begriff wie „administered market“ (Ranson 1993: 338), „mixed economies“ (Thomas 1994) oder „public markets“ (Woods et al. 1998) verwendet. All diese Bezeichnungen tragen dem Sachverhalt Rechnung, dass Schulmärkte immer nur zu einem Teil Marktelemente enthalten, während sie zugleich auch den freien Markt einschränkende Elemente aufweisen. So wird das Marktparadigma in der Bildungspolitik durch die weiter existierende staatliche Steuerung relativiert. Was jedoch grundsätzlich bestehen bleibt, ist die Wettbewerbsorientierung (vgl. Weiß 2001: 70).
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Erhöhte Wahlmöglichkeiten der Schüler und Schülerinnen bzw. ihrer Eltern eröffnen sich zum einen durch die Aufhebung fester Einzugsbereiche von Schulen und die damit verbundene freie Schulwahl, zum anderen durch die Bereitstellung einer größeren Auswahl an unterschiedlichen Schulen durch die Schaffung spezieller Schulangebote und die Stärkung des Privatschulsektors. In Kombination mit einer den Preismechanismus ersetzenden Art der wettbewerbsgesteuerten Schulfinanzierung, z. B. in Form einer schüler- oder leistungsorientierten Finanzierung, wird der Nachfrager mit einer den Wettbewerb steuernden Kaufkraft ausgestattet. Schulen müssen demnach als Anbieter auf die Entwicklungen am Markt und die Präferenzen der Nachfrager4 reagieren und sich der Konkurrenz mit innovativen Ideen stellen; letztlich müssen die Einzelschulen die Verantwortung für die Qualität ihres Leistungsangebotes selbst übernehmen. Um Schulen hierzu in die Lage zu versetzen, erhalten sie – wenn auch bislang noch eher im Sinne erster Schritte – verstärkte Autonomie. Auch eine funktionierende Infrastruktur in Form eines Informationssystems, das für Markttransparenz auf Seiten der Anbieter und Nachfrager sorgt, eines Evaluationssystems zur Qualitätssicherung – das derzeit durch Vergleichsarbeiten, zentrale Abschlusstests oder Systeme externer Schulevaluation (Inspektion) aufgebaut wird – sowie eines leistungsfähigen Transportsystems muss gewährleistet sein (ebd.: 71f.). In anderen Ländern hat sich eine solche marktwirtschaftliche Entwicklung im Bildungssystem schon weitergehender vollzogen als in Deutschland (vgl. Händle 2001: 154). Während eine Markt- und Wettbewerbsorientierung im öffentlichen Schulwesen in einigen Ländern – insbesondere in angloamerikanischen Ländern wie England und den USA, aber auch in europäischen Ländern wie z. B. den Niederlanden – schon seit mehreren Jahrzehnten mehr oder weniger fest verankert ist, haben vor allem seit den 1980er und 1990er Jahren immer mehr Staaten ihre bis dato vorwiegend staatlich (bürokratisch) gesteuerten Schulsysteme – zum Teil radikal – reformiert (vgl. Walford 1996: 7). Hierzu zählen auch Länder, die zuvor für eine besonders zentralisierte Planung und Steuerung des Bildungssystems sowie ihre egalitären oder sozialdemokratischen Überzeugungen bekannt waren, wie z. B. Schweden (vgl. Miron 4 Problematisch ist, dass in Schulmärkten viele Anspruchs- oder Interessensgruppen interagieren. Neben den Schülern und Schülerinnen bzw. ihren Eltern stellen auch die Steuerzahler und Akteure in Politik und Wirtschaft unterschiedliche Ansprüche an die Ergebnisse schulischer Bildung. Reformen, die lediglich die Präferenzen der Eltern/Schüler und Schülerinnen beachten, berücksichtigen nicht die Bedürfnisse der anderen Anspruchsgruppen. Dies hätte zur Konsequenz, dass Schulen sich in ihrem Angebot nur an diesen Ansprüchen orientieren. Das Resultat sind Veränderungen in den Ergebnissen, die Schulen versuchen hervorzubringen (vgl. Adnett/Davies 2003: 396). Es ist zudem kritisch zu hinterfragen, ob sich die Präferenzen der Eltern/Schüler und Schülerinnen immer mit den Anforderungen guter Bildung decken.
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1996), Neuseeland (vgl. Gordon 1996), Frankreich (vgl. van Zanten 1996) oder Finnland (vgl. Sepännen 2003). Wenn auch die eingeleiteten Reformen in den Ländern jeweils unterschiedliche bildungspolitische Schwerpunktsetzungen erkennen lassen, so ist ihnen doch vieles gemeinsam: die Einführung von (freien) Schulwahlmöglichkeiten und wettbewerbsorientierten Finanzierungsmodellen (häufig kombiniert in Form von Bildungsgutscheinsystemen); Dezentralisierungstendenzen und damit einhergehende stärkere Eigenverantwortung und Autonomie der Einzelschulen; simultane Rezentralisierungstendenzen durch zentrale Vorgaben und Kontrollmechanismen5 (vgl. Böttcher 2007: 186f.); sowie die Stärkung des Privatschulsektors. Während in einigen Ländern (z. B. in der Schweiz; vgl. Buschor 1998: 6773) mit Wettbewerb verbundene neue Steuerungsmodelle gezielt in das Schulsystem eingeführt wurden, haben die Reformen in anderen Ländern (z. B. in Finnland; vgl. Sepännen 2003) nicht das Ziel, die bisherige staatliche Steuerungsstrategie vollständig zu ersetzten. Zum Teil (z. B. in Frankreich) nehmen sie nicht einmal „die Etablierung bildungsmarktähnlicher Elemente zum Ausgangspunkt“ (van Ackeren 2006: 304). Aber unabhängig davon, ob dieses von Bildungspolitikern intendiert war oder nicht, haben die oben aufgezeigten Reformen in allen Ländern die Rolle der Eltern als ’Schulkonsumenten’ gestärkt und die Konkurrenz unter den Schulen erhöht. Dadurch ist eine marktähnliche Situation entstanden, die zwangsläufig auf die Schulen zurückwirkt (vgl. Flitner 1998:.103f.). Die Schulsysteme der verschiedenen Länder haben zwar jeweils auf eine etwas andere Art auf diesen Vorstoß der Markt- und Wettbewerbsorientierung in das Bildungswesen reagiert. Dennoch ist insgesamt die Tendenz eines verstärkten Wettbewerbs zwischen konkurrierenden Schulen in zahlreichen westlichen Ländern erkennbar (vgl. Walford 1996: 9). Dabei überrascht jedoch die schnelle und zum Teil radikale Umsetzung entsprechender Reformen in vielen Ländern. Nicht nur auf einen wissenschaftlichen Vorlauf, sondern auch auf eine wissenschaftliche Begleitung der durch diese Reformen ausgelösten Prozesse wird weitestgehend verzichtet. Dieses trifft nicht nur auf die angelsächsischen Länder zu, in denen das „Tempo und [die] Radikalität der bildungspolitischen Umorientierung“ (Weiß 2001: 70) überraschte. Ein weiteres Beispiel hierfür ist Schweden, wo die Schnelligkeit der Planung, Billigung und Umsetzung der markorientierten Reformen keine entsprechende Pilotphase erlaubte (vgl. Miron 1996: 33).6 Bestehende Zusammenhänge zwischen Einzelreformen werden nicht immer gründlich durchdacht. 5
Vgl. zum Begriffspaar „Dezentralisierung – Rezentralisierung“ auch Böttcher 2002: 97–138. Ungeachtet der Tatsache, dass die Reformen auch in Schweden hauptsächlich auf Wirkungsvermutungen beruhen, die bisher einer empirischen Überprüfung nicht stand halten, behaupten Befürworter dieser Reformen dennoch, „die in der PISA-Studie unter Beweis gestellte hohe Leistungsfähig6
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Auch in Deutschland entsteht in diesem Zusammenhang ein bildungspolitisches „Experimentierfeld“, das nicht in hinreichendem Ausmaß evaluiert wird: Möglicherweise unerwünschte Konsequenzen dieser Reformen und ihres Zusammenspiels werden nicht auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Forschung und den bereits gemachten Erfahrungen berücksichtigt (vgl. van Ackeren 2006: 302). Anscheinend basieren die bildungspolitischen Argumente für die Einführung von wettbewerbsorientierten Reformen nach wie vor „auf idealisierenden Annahmen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des Marktes (…) und stützen sich auf Glaube und Hoffnung statt auf empirische Evidenz“ (Weiß 1995: 606). Umso wichtiger ist daher eine Annährung an die Frage, ob „dieser ‚Vertrauensvorschuss’ durch die inzwischen vorliegende empirische Befundlage zu rechtfertigen“ (Weiß 2004: 1) ist.
1.2 Einige Folgen von Wettbewerb im Schulwesen Eine inzwischen viel zitierte Studie, die für die wissenschaftliche Fundierung der Marktsteuerung im Schulwesen große Bedeutung erlangt hat, ist die Untersuchung von Chubb und Moe (1990) (vgl. hier und im Folgenden auch Weiß 1993). Die Autoren erheben darin den Anspruch, den empirischen Nachweis für die Überlegenheit eines Schulsystems, das durch Markt und Wettbewerb gesteuert wird, erbracht zu haben. In ihrer Untersuchung stellen sie heraus, dass Privatschulen eher die Merkmale leistungseffizienter Schulen aufweisen als staatliche Schulen. Die höhere Leistungswirksamkeit von Privatschulen sei auf ihren hohen Autonomiegrad und dieser wiederum auf die Marktsteuerung zurückzuführen: „Bureaucratic autonomy and effective school organization are natural products of the basic institutional forces at work on schools in a marketplace. They are products of school competition and parental choice“ (Chubb/Moe 1990: 182).
Zwar wird sowohl die methodische Durchführung der Studie als auch die Glaubwürdigkeit und Logik der Schlussfolgerung, die die Autoren aus den Ergebnissen ziehen, vielfach in Frage gestellt und kritisiert (vgl. z. B. Weiß 1993; 1995: 606; 2001: 74; 2004: 2)7, aber auch andere Untersuchungen kommen zu keit des schwedischen Schulsystems sei in erster Linie eine Folge der schwedischen Reformen hin zu einer stärkeren Entbürokratisierung und Dezentralisierung sowie der Einführung von Wettbewerbselementen“ (Bellmann/Waldow 2004: 282). 7 Der Haupteinwand ist, dass es in der Realität keine vollständig privatisierten, marktgesteuerten Schulsysteme gebe und es nicht möglich sei, deren Funktionsweise und Leistungsfähigkeit anhand der Ergebnisse zwischen staatlichen und privaten Schulen in Mischsystemen vorherzusagen. Dieser
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dem Urteil, dass ein (direkter) Zusammenhang zwischen erhöhtem Wettbewerb und Leistungssteigerungen der Schulen besteht.8 Vor allem im USamerikanischen Raum existiert inzwischen eine Vielzahl an Studien, in denen der Intensitätsgrad von Wettbewerb gemessen und sein Einfluss auf Schülerleistungen eingeschätzt wird. Nach einer Analyse dieser Studien kommen Belfield und Levin (2001) zu folgendem Schluss: „Increased competition and higher educational quality are positively correlated“ (ebd.: 297). Die These, dass Wettbewerb zu einer Verbesserung von Schulqualität führt, stützen auch empirische Studien aus England: „The most striking result is that increased competition between schools has indeed led to a significant improvement in performance“ (Bradley/Taylor 2002: 311). Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Ergebnissen gibt es ebenso zahlreiche Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass Wettbewerb keinen positiven Einfluss auf die Schulqualität ausübt. So schließt sich Weiß (2001) nach einer Analyse zahlreicher empirischer Studien dem Resümee der Autoren einer dieser Untersuchungen an: „Die Behauptung, dass Wettbewerb Schulen verbessere, lässt sich empirisch nicht belegen“ (ebd.: 76). Adnett und Davies (2003) erläutern, warum verbesserte Schulleistungen nicht unbedingt als Erfolg von marktorientierten Reformen angesehen werden können: Zum einen seien Schulen Organisationen mit vielfältigem und heterogenem Input, die die unterschiedlichsten Ergebnisse produzieren. Dysfunktionale Reaktionen auf die Einführung simpler Marktmechanismen seien daher wahrscheinlich. Darüber hinaus könne der Zusammenhang zwischen verbesserten Leistungen und den Wettbewerbselementen rein zufällig sein (ebd.: 399f.). Insgesamt stellt sich das Bild der empirischen Forschung somit keineswegs eindeutig oder einheitlich dar. Das Forschungsfeld zum Einfluss von Wettbewerb auf Qualitäts- und Effizienzverbesserungen im Schulwesen zeichnet sich nach wie vor durch eine Vielzahl an widersprüchlichen Ergebnissen aus. Ob Wettbewerb tatsächlich zu Qualitätsverbesserungen im Schulsektor führt, bleibt eine kontroverse und viel diskutierte Frage. Nähert man sich ihr jedoch mit einem etwas differenzierteren Blick, so fällt auf, dass sich zwar durchaus „Hinweise auf qualitätsfördernde Wettbewerbseffekte“ (Weiß 1995: 609) finden lassen. Vor allem gesamtsystemische Qualitätswirkungen des Wettbewerbs sind hingegen eher zurückhaltend einzuschätzen. Es kommt durch die Einführung gelte insbesondere, da Privatschulen in dem gegebenen System sowohl einen besonderen Status als auch eine ausgewählte Klientel aufweisen. 8 Levacic (2004) stellt einen direkten Zusammenhang in Frage. Sie kommt vielmehr zu dem Ergebnis, dass es nicht die Wettbewerbsintensität der Marktstruktur selbst, sondern die von Schulleitern empfundene Wettbewerbsintensität sei, die einen statistisch signifikanten und positiven Einfluss auf die Testleistungen der Schüler und Schülerinnen habe.
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von Wettbewerb in das Schulwesen nicht – wie es auf Grundlage der Funktionsweise des Wettbewerbsprozesses zu erwarten wäre – zu einem allgemeinen Qualitätsanstieg aller Schulen, also des gesamten Schulsystems. Vielmehr entstehen durch Wettbewerb erhebliche Varianzen in der Leistungsqualität der einzelnen Schulen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass einige Schulen standortbedingten Wettbewerbsnachteilen z. B. durch ein sozialstrukturell ungünstiges Umfeld ausgesetzt sind (vgl. Weiß 1995: 608 f.). Bagley et al. (1996) zeigen deutlich auf, dass nicht alle Schulen gleichermaßen in der Lage sind, auf die Wettbewerbssituation und den Markt zu reagieren. Vielmehr hinge diese Fähigkeit in hohem Maße von einer Vielzahl sowohl schulinterner als auch -externer Faktoren ab (vgl. auch Woods et al. 1998: 210). Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass Wettbewerbselemente in lokale Schulmärkte eingeführt werden, die in Folge einer langen Tradition und Entwicklungsgeschichte bereits klare Rangordnungen gebildet haben (vgl. Adnett/Davies 2003: 396), so dass die Marktpositionen von vornherein festgelegt sind. Viele Schulen haben so einen erheblichen Nachteil und kaum die Ressourcen, aus ihrer bereits festgelegten Position effektiv zu agieren. Die Schulen, die einen Schülerzuwachs aufweisen, sind selektive, mittelständische Schulen, während unterprivilegierte Schulen Schüler und Schülerinnen verlieren (vgl. Boyd 1993: 65). Dadurch stellen sich aber auch die erwarteten Wohlfahrtsgewinne für alle Bildungsnachfrager durch die Bereitstellung eines Bildungsangebots, das ihren Präferenzen entspricht, nicht ein. Vielmehr gibt es Hinweise auf ein ausgeprägtes Sozialschicht-Bias bei den Wohlfahrtserträgen zugunsten der Familien mit besserem ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital (vgl. Weiß 2001: 80). Insgesamt ist es also eher fraglich, ob die Einführung von Wettbewerb zu der erhofften Qualitätsverbesserung im gesamten Schulsystem beiträgt und die Entstehung guter Schulen fördert. Vielmehr scheint Wettbewerb zu einer Vergrößerung von Leistungsunterschieden zwischen Schulen und verstärkter Chancenungleichheit zu führen. Wettbewerb kann also dazu dienen, „gute“ Schulen zu entwickeln, aber das dürfte nur auf Kosten der weniger guten Schulen gelingen, indem Gewinner und Verlierer produziert werden. Damit wird aber die Ungleichheit im Gesamtsystem verschärft und die Lernbedingungen der Schüler polarisiert. In diesem System können – ceteris paribus – nur diejenigen profitieren, die an den guten Schulen lernen. Weiß (2001) kommt daher zu dem Schluss, „dass die Funktionalisierung von Wettbewerb (…) für die Erreichung von Effizienzzielen in diesem Bereich bislang nirgendwo überzeugend geschehen ist“ (ebd.: 2) und Wettbewerb „kein uneingeschränkt einzusetzendes Universalmodell“ (Weiß 2004: 4) sei. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wettbewerbliche Elemente im Schulwesen grundsätzlich nicht – wie sie es in der Wirtschaft tun – auch Anreize für die Einzel-
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schulen schaffen können, Qualitätsentwicklungsprozesse in Gang zu setzen. Marktkräfte, die in den Schulsystemen verschiedener Länder wirken, unterscheiden sich zwar einerseits in einigen fundamentalen Aspekten von den klassischen Märkten der freien Wirtschaft.9 Andererseits haben sie aber möglicherweise auch einige Effekte mit diesen gemein (vgl. Walford 1996: 8).
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Wettbewerb und Märkte in der Wirtschaft
Im Folgenden soll zunächst die Funktionsweise von Wettbewerb in der freien Wirtschaft erläutert werden, bevor anschließend aufgezeigt wird, dass, sofern dieser „funktionieren“ soll, es auch hier Regelungen und Unterstützungssysteme gibt und geben muss, die den Wettbewerb fair gestalten.
2.1 Das Prinzip des Wettbewerbs in der freien Wirtschaft Folgt man Definitionen von gängigen Wirtschaftslexika, so wird wirtschaftlicher Wettbewerb beschrieben als „Leistungskampf zwischen Wirtschaftseinheiten am Markt“ (o.V. 1979: 2179): „W. als Leistungskampf bietet Gewähr für Belieferung des Marktes mit besseren Produkten zu niedrigsten Preisen: Nachfrage wandert zum leistungsfähigsten Angebot. Der W. fördert den technischen Fortschritt, weil jeder Betrieb versuchen muß, zur Sicherung seiner Position am Markt seine Leistungen immer mehr zu verbessern [Hervorhebung durch N.H. und W.B.]“ (ebd.). 9 Dieses trifft sowohl auf die Anbieter- als auch Nachfragerseite zu. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass kein direkter Austausch von monetären Mitteln stattfindet. Zudem steht es den Nachfragern aufgrund der Schulpflicht nicht zur Wahl, darüber zu entscheiden, ob sie ein Schulangebot wahrnehmen möchten, sondern nur welches. Auf Anbieterseite sind die Produktionsfaktoren nicht zwangsläufig in privatem Besitz. Zudem streben Schulen nicht Gewinnmaximierung als oberstes Ziel an. Da der Markteintritt und -austritt staatlich kontrolliert und reguliert wird, können die Nachfrager nur Angebote wählen, die staatlich gesetzten Kriterien entsprechen. Auch ist der „Käufer“ von Schulleistungen nicht unbedingt der Konsument derselben. Vielmehr bestehen QuasiMärkte aus einer Vielzahl unterschiedlicher Käufer und Konsumenten. Auch ist eine einmal getroffene Entscheidung nur schwer rückgängig zu machen: Zum einen bestehen hohe Wechselbarrieren, zum anderen ist die Güte der Entscheidung häufig erst nach Abschluss der Schullaufbahn erkennbar. In der Regel gehen Schüler und Schülerinnen nur auf eine Schule, um ihre Grundbildung zu erhalten. Wenn diese erste Entscheidung falsch ist, sind damit hohe persönliche Kosten verbunden. Die Schulwahl kann letztlich auch dazu führen, dass das „Produkt“ verändert wird: Entscheiden sich viele Eltern/Schüler und Schülerinnen bewusst für eine kleine Schule, kann es sein, dass diese expandiert, um der verstärkten Nachfrage Rechnung zu tragen. Die Schüler und Schülerinnen dieser Schule erhalten dann nicht mehr das eigentlich nachgefragte Angebot einer kleinen Schule (vgl. Walford 1996: 8).
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Wettbewerb ist folglich ein Prinzip, das zur stetigen Leistungsverbesserung anregen soll. Er vollzieht sich als ein dynamischer und sich wiederholender Prozess, dessen End- bzw. Zwischenergebnis jeweils eine verbesserte Marktversorgung darstellt (vgl. Abb. 1). Die Marktanbieter versuchen beständig, durch das Erbringen einer im Vergleich zu ihren Konkurrenten besseren Leistung, Nachfrager auf Kosten der Mitwettbewerber für sich zu gewinnen. Ausgelöst wird dieser Prozess durch die Unzufriedenheit eines Marktteilnehmers mit seiner Marktposition und entsprechende Bestrebungen, diese durch die Veränderung relevanter Aktionsparameter wie z. B. die Senkung des Preises, die Verbesserung der Qualität oder des Services sowie die Ausweitung des Angebots zu verbessern. Aus diesem Grund treten Anbieter in eine Innovationsphase ein, in der sie versuchen, durch entsprechende Neuerungen einen Wettbewerbsvorteil zu realisieren. Im Falle eines erfolgreichen Wettbewerbsvorstoßes sehen sich die anderen Marktanbieter wiederum in ihrer Position bedroht und, um Wettbewerbsvorteile zu vermeiden, sind sie gezwungen, zu reagieren; sie müssen ihrerseits versuchen, ihre Marktleistung zu verbessern. In der Regel treten sie daher in eine Imitationsphase ein, in der sie bestrebt sind, die erfolgreiche Innovation nachzuahmen. Der zunächst vorhandene Wettbewerbsvorsprung des zuerst vorstoßenden Anbieters, des sogenannten Pioniers, wird so im Laufe der Zeit von seiner Konkurrenz aufgeholt. Das Endergebnis eines solchen Prozesszyklus’ ist eine insgesamt verbesserte Marktversorgung, da nun alle Anbieter eine höherwertigere Leistung erbringen (vgl. Berg 1993: 2354f; Berg 1995: 242).
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Abbildung 1:
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Wettbewerb als dynamischer Prozess (Quelle: eigene Darstellung)
Im Unterschied zu anderen Lenkungs- oder Steuerungsprinzipien hat Wettbewerb die Vorteile, Handlungsspielräume und Wahlmöglichkeiten zu eröffnen sowie Innovationsaktivität und Anpassungsflexibilität zu bewirken. Zudem kann durch Wettbewerb auf den Einsatz staatlicher Hoheitsgewalt verzichtet werden (vgl. Berg 1993: 2355). In der Wirtschaft erfüllt Wettbewerb als Koordinationsmechanismus eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen. Zum einen garantiert er die Handlungs- und Wahlfreiheit der Individuen, indem er Anbietern die Möglichkeit gibt, bezüglich der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen eigenverantwortlich zu handeln, und die Verbraucher zwischen alternativen Angeboten frei wählen lässt. So wird individuelle Freiheit und damit ein Grundwert demokratischer Gesellschaften gesichert (Freiheitsfunktion). Durch die Konkurrenz alternativer Anbieter und Nachfrager und die damit verbundenen Wahlmöglichkeiten der Marktteilnehmer werden diese gleichzeitig vor der wirtschaftlichen Macht einzelner Anbieter und Nachfrager geschützt. Wettbewerb ist somit auch ein gesellschaftliches Verfahren zur Begrenzung und Kontrolle von wirtschaftlicher Macht (Kontrollfunktion). Des Weiteren soll durch Wettbewerb eine gute Marktversorgung gewährleistet werden, indem Unternehmer gezwungen sind, ihr Angebot an den Konsumentenpräferenzen auszurichten (Steuerungsfunktion), effiziente Erstellungsverfahren anzuwenden (Allokationsfunktion), ständig nach Innovationen im Sinne kostengünstigerer Produk-
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tionsverfahren sowie neuer, besserer Produkte zu suchen (Innovationsfunktion) und sich flexibel an die sich verändernden Rahmenbedingungen und Umweltfaktoren anzupassen (Anpassungsfunktion). Die Suche nach Innovationen und ihre Imitation führen über die Schaffung und Ausbreitung neuen Wissens letztlich zu Wohlstandssteigerungen. Schließlich sorgt Wettbewerb auch für Leistungsgerechtigkeit, da Gewinne nicht aufgrund dauerhafter Machtstellungen oder durch staatliche Subventionen entstehen, sondern nur durch das Angebot einer besseren Leistung für den Nachfrager erwirtschaftet werden können. Gewinne und Verluste spiegeln somit die Leistungen der Anbieter wieder (Verteilungsfunktion) (vgl. Berg 1995: 241; Kerber 2007: 372). Als erfolgreiches Steuerungskonzept der Wirtschaft entlehnt, sollen die oben beschriebenen Funktionen und Effekte von Wettbewerb durch Konkurrenz zwischen den Einzelschulen auch im Bildungswesen ihre Vorteile entfalten. Betrachtet man die Argumentationslinien der bildungspolitischen Diskussionen, die zur Begründung für die Einführung von wettbewerbsorientierten Reformen im Schulwesen herangezogen werden, lassen sich einige der oben aufgezeigten Wettbewerbsfunktionen identifizieren. So soll der erhöhte Handlungsspielraum auf der Ebene der Einzelschule in Verbindung mit der freien Schulwahl (Freiheitsfunktion) dazu führen, dass die Schulen ihr Bildungsangebot flexibel an die Bedürfnisse der lokalen Gegebenheiten (Anpassungsfunktion) und die Präferenzen der Eltern/Schüler und Schülerinnen anpassen können (Steuerungsfunktion). Die Stärkung der Konsumentensouveränität soll gewährleisten, dass Schulen dieses auch tun (müssen), da sie andernfalls mit negativen Sanktionen rechnen müssen. Diese können sich z. B. in Form von mangelnder Nachfrage oder Abwanderung von Schülern und Schülerinnen und damit verbundenen finanziellen Verlusten äußern. In letzter Konsequenz spiegeln die Schulwahlentscheidungen der Schüler und Schülerinnen bzw. ihrer Eltern die Leistungen der Schulen wieder: Durch eine schülergesteuerte Finanzierung der Schulen können Gewinne nur durch das Angebot einer guten Leistung erwirtschaftet werden (Verteilungsfunktion). Durch eigenverantwortliche Mittelerwirtschaftung werden Schulen zudem dazu angeregt, möglichst effizient mit ihren Ressourcen umzugehen (Allokationsfunktion). Im Schulwesen soll sich Wettbewerb als Qualitätswettbewerb entfalten, d. h., Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen konkurrierenden Schulen können im Idealfall nur durch eine Verbesserung der Qualität des Leistungsangebots realisiert werden.10 Um sich einen Wettbewerbsvorteil zu 10 Dieses setzt allerdings auch ein entsprechendes Marktverhalten auf Seiten der Nachfrager voraus, die Entscheidung für die Wahl eines Angebots an Qualitätskriterien anzulehnen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass das tatsächliche Schulwahlverhalten der Eltern wesentlich komplexer ist und häufig nicht Qualitätspräferenz sondern Wohnortnähe das ausschlaggebende Kriterium für die Wahl einer bestimmten Schule ist (vgl. Weiß 1995: 606f.). Auch suchen Eltern – wenn überhaupt – nach einer
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verschaffen, sollen Schulen Profile entwickeln und Schwerpunkte setzten, so dass es letztlich insgesamt zu einem diversifizierten und vielfältigen Angebot kommt (Innovationsfunktion).11 Marktsteuerung und der damit verbundene Wettbewerb ist nur eine Form der System-Governance (Die Hierarchie ist eine weitere und bislang durchaus dominante Form.) (vgl. Ahlert/Evanchitzky 2003: 38). Es ist aber offensichtlich, dass lediglich radikal marktorientierte Ansätze vollständig auf Regelungen und Steuerung verzichten. Die Nachteile einer reinen Wettbewerbs- und Marktsteuerung sind auch in der Wirtschaft bekannt, so dass – nicht nur aufgrund wettbewerbspolitischer Eingriffe, sondern durchaus auch von Seiten der Marktteilnehmer und der für die Steuerung von Unternehmen Verantwortlichen selbst – Ansätze entwickelt wurden, diese zu überwinden. Praktisch zeigt sich, dass es eine Vielzahl von steuernden und korrigierenden Instrumenten gibt, um die zufrieden stellenden Alternative, aber nicht nach der optimalen Lösung auf der Basis einer großen Auswahl an Schulangeboten (vgl. Boyd 1993: 65). Die Idee der Schulwahl kann sich zudem in dem Moment umkehren, in dem Schulen „übersubskribiert“ sind, d.h. mehr Nachfrager als Plätze haben. In dem Fall können sich die Schulen die Schüler und Schülerinnen aussuchen, nicht die Schüler und Schülerinnen oder Eltern die Schule. Dabei werden sie versuchen, diejenigen Schüler und Schülerinnen nicht aufzunehmen, die ihr Abschneiden bei den Rankings verschlechtern würden (vgl. Glennerster 1991: 1271). Da die Auswahlkriterien der Schulen üblicherweise auch den sozioökonomischen Hintergrund der Familien einschließen, kann die freie Schulwahl dadurch soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit fördern. Aber auch wenn Schüler und Schülerinnen sowie ihre Eltern die Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Schulangeboten zu wählen, kann es zu sozialer Segregation kommen (ebd.: 1270). Elterliche Schulwahl ist ein „sozial und kulturell bestimmtes Konzept, das für unterschiedliche Familien eine unterschiedliche Bedeutung hat“ (Walford 2004: 56) und von sogenannten „cultural resources“ abhängt, die ungleich verteilt sind (vgl. Kristen 2005). Dieses bestätigen Gewirtz et al. (1995), die aufgrund empirischer Untersuchungsergebnisse drei Schulwahltypen („privileged/qualified“, „semiqualified“ und „disconnected“) unterscheiden, die sich auf verschiedene Schultypen verteilen. Demnach bevorzugen die Mittel- und Oberschicht Eliteschulen, während die Arbeiterklasse hauptsächlich lokale Gesamtschulen auswählt (ebd.: 24– 55). Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass freie Schulwahl Ungleichheit und Klassenunterschiede verstärkt (ebd.: 55). 11 An dieser Stelle zeigt sich eine mit der Übertragung von Wettbewerb verbundene fehlgeleitete Wirkungserwartung. Folgt man der Wettbewerbstheorie, so führt die Existenz von Wettbewerb in erster Linie dazu, dass erfolgreiche Innovationen imitiert und nicht zahlreiche unterschiedliche Leistungsangebote und Lösungsstrategien entwickelt werden. So überrascht es auch wenig, dass die meisten Schulen sich nach wie vor kaum in ihren Profilen unterscheiden, sondern in der Regel eher konservative oder traditionell verankerte Schwerpunkte setzten. Dass die Mehrheit der Eltern zu „pädagogischem Konservatismus“ neigt, verleitet Schulen dazu, ihren Schwerpunkt auf traditionelle Lerninhalte zu setzen (vgl. Weiß 2001: 81). Hinzu kommt, dass der Anreiz, Innovationen zu entwickeln, in erheblichem Maße davon abhängt, welche Vorteile damit für den Pionier verbunden sind. In der Regel entstehen solche Vorteile, wenn ein Anbieter in der Lage ist, seine Konkurrenten davon abzuhalten, sich das Wissen anzueignen oder über die Ressourcen zu verfügen, die für die Imitation der Innovation notwendig sind. Diese Voraussetzungen sind jedoch im Schulbereich eher weniger gegeben (vgl. Adnett/Davies 2003: 395). Auch wird der Handlungsspielraum für Innovationen von Schulen durch die Kontrolle des Staates zumindest über Kerncurricula und Bildungsstandards unmittelbar wieder eingeschränkt (ebd.: 401).
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Nachteile des Wettbewerbs einzuschränken. Die Konsequenz aus Defiziten marktlicher Governance ist jedoch aktuell nicht der Aufbau von Hierarchien. Vielmehr lassen sich in der Wirtschaft Entwicklungen ausmachen, die sich durch Dezentralisierung und Entflechtung von Hierarchien anstelle eines weiteren Auf- und Ausbaus zentral geführter Systeme auszeichnen.
2.2 Kooperative Netzwerke und Co-opetition Ein Ergebnis dieser Entwicklungen ist die Entstehung interorganisationaler Netzwerke, sogenannter hybrider Systeme, die sich zwischen den beiden Extremen der Hierarchie und dem Markt verorten lassen (vgl. Abb. 2). Während der Markt die Handlungen der Unternehmen und ihre Beziehungen zueinander durch (reine) Marktprozesse koordiniert und hierarchisch gesteuerte Unternehmungen die Koordination durch (zentrale) Planung und Anweisung vollziehen, können interorganisationale Netzwerke als Gefüge zwischen Unternehmen betrachtet werden, die auf dem Kontinuum der Organisationsformen ökonomischer Aktivitäten zwischen Markt und Hierarchie angeordnet werden können (vgl. Evanschitzky 2003: 39). Diese Netzwerke entstehen, indem zuvor hierarchisch gesteuerte Organisationen einen höheren Autonomiegrad erhalten, während bei marktgesteuerten Unternehmen der Bindungsgrad durch Kooperationen gestärkt wird. Kooperative Netzwerke bezeichnen die auf die Erbringung einer Leistung ausgerichtete Zusammenarbeit von mehr als zwei selbständigen Partnern, die jedoch zumindest in Bezug auf den Kooperationsbereich nicht unabhängig voneinander sind. Die Beziehung zwischen den die Leistung erbringenden Organisationen geht dabei über rein marktliche Beziehungen hinaus, da sie eine gewisse Beständigkeit aufweisen und ihre Leistung dauerhaft am Markt anbieten. Zur Optimierung der Leistungserbringung findet zwischen den beteiligten Netzwerkpartnern ein zielgerichteter Austausch von Ressourcen statt (vgl. Ahlert/Evanschitzky 2003: 46). Kooperative Netzwerke – in der Regel als Franchisesysteme konfiguriert – erweisen sich nicht nur den völlig eigenständig am Markt operierenden Organisationen, sondern auch den hierarchischen Organisationsstrukturen zunehmend als überlegen. Sie sind in der Lage, Synergieeffekte über eine Vielzahl von Organisationen hinweg besser auszuschöpfen und können so trotz widriger Rahmenbedingungen attraktive und bezahlbare Leistungsangebote entwickeln (ebd.: IX). Die Überlegenheit diese Systemform gründet darauf, dass die Vorteile sowohl der marktlichen als auch der hierarchischen Koordination miteinander verbunden werden können, ohne deren Nachteile in Kauf nehmen zu müssen (ebd.: IX und 43).
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Abbildung 2:
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Alternative Koordinationsformen (Quelle: in Anlehnung an Ahlert/Evanschitzky 2003: 300).
Wollen derartige Netzwerke erfolgreich sein, ist eine zentrale Steuerungseinheit, der sogenannte Systemkopf, unabkömmlich. Dieser trägt die Verantwortung für die institutionelle Systemführung, d. h. die Führung des Netzwerkes als Ganzes (vgl. Ahlert/Evanschitzky 2003: 412). Netzwerkmanagement, also „die zielgerichtete Steuerung einer Organisation“ (ebd.: 409), ist ein wesentlicher Faktor für den Erfolg eines kooperativen Netzwerkes (ebd.: 192 und 73–168). Eine kompetente Führung kann das gesamte Netzwerk auf ein gemeinsames Ziel ausrichten und auch die Zielerreichung kontrollieren, um gegebenenfalls steuernd einzugreifen. Managementdefizite wie eine fehlende klare Systemführung verhindern hingegen den langfristigen Erfolg eines Netzwerkes, da sich fehlerhaftes Verhalten der Einzelorganisationen negativ auf die Leistungsfähigkeit aller auswirkt (ebd.: 409). Kernaufgabe des Netzwerkmanagements ist es, die Einzelaktivitäten der im Netzwerk verbundenen Organisationen zu koordinieren (ebd.: 192–197). Der Systemkopf ist somit verantwortlich für die Entwicklung und permanente Verbesserung der Gesamtkonzeption, während die Einzelorganisationen im Netzwerk die Aufgabe haben, den lokalen Zielmarkt zu bearbeiten (ebd.: 412). Ein kooperatives Netzwerk zeichnet sich demnach einerseits durch einen dezentralistisch-flexibilitätsorientierten Marktauftritt vor Ort und andererseits durch eine zentralistisch-effizienzorientierte Gestaltung der Hintergrundsysteme aus. „So werden die Vorteile von Markt und Hierarchie miteinander kombiniert: Dezentralität der operativen Arbeit durch das Partnerunternehmen mit einem effizient organisierten Systemhintergrund führen aus Sicht der Verbraucher zu
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einer individuellen Behandlung ‚vor Ort’ bei geringen Kosten und großer Systemkompetenz“ (Ahlert/Evanschitzky 2003: 407). Vergleicht man die Ursachen, die die Entstehung kooperativer Netzwerke in der Wirtschaft gefördert haben, mit den Gründen, die zu der Einführung von Wettbewerb in das Bildungswesen geführt haben, so fallen deutliche Parallelen auf. Kooperative Netzwerke verfolgen hauptsächlich zwei Ziele: zum einen, kostengünstige Transaktionen zu ermöglichen (Effizienz), und zum anderen, einen Mehrnutzen beim Kunden zu schaffen (Effektivität) (vgl. Evanschitzky 2003: 39). Während im Bildungsbereich versucht wird, diese Ziele durch die Einführung von Wettbewerbselementen in die Schulsysteme zu erreichen, haben zur gleichen Zeit in der Wirtschaft kooperative Unternehmensnetzwerke seit den 1980er Jahren stark an Bedeutung gewonnen, um den negativen Auswirkungen von Wettbewerb zu entgehen (vgl. Ahlert/Evanschitzky 2003: 267). Die Idee, auch im Schulwesen das Paradigma der Kooperation und nicht des Wettbewerbs zu fördern, um eine Steigerung der „Qualität, Flexibilität und Produktivität der Schule“ (Lehner/Widmaier 1992: 159) zu erreichen, wurde bereits vor 15 Jahren von Lehner und Widmaier geäußert (vgl. hier und im Folgenden Lehner/Widmaier 1992: 159f und 174–176). Kooperative Netzwerke für Schulen bestehen aus zwei sich ergänzenden Komponenten: flexible Spezialisierung auf Seiten der einzelnen Schulen einerseits und Kooperation mit anderen Schulen im Sinne eines Austauschs von Bildungsangeboten andererseits. Wenn jede Schule ein spezifisches Profil aufweist, das sie flexibel an veränderte Rahmenbedingungen anpasst, und diese flexibel spezialisierten Schulen gleichzeitig untereinander ihre Leistungsangebote austauschen, stehe den Schülern im Rahmen einer integrierten Schulstruktur ein vielfältiges Bildungsangebot zur Verfügung. Aber nicht nur quantitative Verbesserungen der Schulqualität können laut den Autoren auf diesem Wege erreicht werden. Aufgrund der Entlastung durch die kooperative Zusammenarbeit – es müssten nicht mehr für alle Fächer und Unterrichtsgebiete Kompetenzen und Kapazitäten bereitgehalten werden – werden Kapazitäten frei, die für die Entwicklung spezifischer Profile genutzt werden können. So können Schulen in diesen Leistungsbereichen eine hohe Kompetenz aufbauen und eine hohe Unterrichtsqualität gewährleisten. Durch den zielgerichteten Austausch von Ressourcen zwischen den Netzwerkpartnern können Schulen sich auf ihr spezielles Schwerpunktprofil konzentrieren und in diesem eine hohe Leistungsfähigkeit entwickeln. Die Voraussetzung für das Funktionieren dieser kooperativen Schulnetzwerke ist, dass nicht alle Schulen die gleichen oder ähnliche Profile entwickeln. Vielmehr müssen sie sich „in wechselseitiger Abstimmung [Hervorhebung durch N.H. und W.B.] auf jeweils spezifische Angebotsprofile und Kompetenzen konzentrieren“ (Lehner/Widmaier 1992: 159). Dadurch entsteht ein erheblicher
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Koordinationsbedarf, so dass kooperative Netzwerke auch im Schulbereich auf einen Systemkopf angewiesen sind, der das Management und die Führung, die Organisation und Koordination des Netzwerkes übernimmt. Anders als in einem durch Wettbewerb gesteuerten Schulsystem, in dem Einzelschulen die Verantwortung für die Qualität ihres Leistungsangebotes übernehmen sollen, ist es in auf Kooperation angelegten Netzwerken von Schulen der Systemkopf, der für die Entwicklung und permanente Verbesserung der gesamtsystemischen Leistungsqualität verantwortlich ist. In diesem Fall wäre es die Aufgabe des Schulministeriums oder anderer lokaler übergeordneter Instanzen, über ein adäquates Netzwerkmanagement für eine Steigerung der Schulqualität zu sorgen. Die Umsetzung dieser Form der Kooperation im Schulwesen ist jedoch mit einigen Problemen behaftet. Sollen kooperative Netzwerke ihre Vorteile entfalten, müsste sich eine Schule z. B. nur auf den künstlerisch-musischen Bereich, eine andere Schule auf mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer und wieder eine andere Schule auf sprachliche Schwerpunkte konzentrieren. Den Schülern dieser Schulen kann zwar so ein breites Schulangebot auf hohem Qualitätsniveau angeboten werden. Dies setzt aber voraus, dass sich alle Schulen in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Die Auswahl an zur Verfügung stehenden Kooperationsschulen wird zudem durch die gegliederte Struktur des deutschen Schulwesens noch weiter eingeschränkt. Solange unterschiedliche Schulformen bestehen, ist eine angebotsorientierte Kooperation lediglich unter Schulen der gleichen Schulform möglich. Wenn überhaupt, ist diese Form der Kooperation somit nur im städtischen Raum zu realisieren (vgl. auch Böttcher 2002: 121); sie wird sich unter Wettbewerbsbedingungen aufgrund der darin entstehenden konkurrierenden Beziehungen zwischen den Schulen aber kaum entwickeln (vgl. Adnett/Davies 2003: 397). Eine andere Form der Kooperation schlagen daher Adnett und Davies (2003) vor: Co-opetition. Dieses Konzept gründet auf der Annahme, dass sowohl Konkurrenz als auch Kooperation positive Auswirkungen auf die Qualität von Schulen haben können: Während Wettbewerb kurzfristig zu Effizienzsteigerungen führen könne, sorge Kooperation für die langfristige Ausbreitung innovativer und leistungsfähiger Angebote. Da Konkurrenz und Kooperation nicht zwangsläufig zwei sich gegenseitig völlig ausschließende Prinzipien seien, schlagen die Autoren eine Kombination von Konkurrenz und Kooperation im Schulbereich vor: Schulen soll es möglich sein, in einer Arena mit Schulen zu konkurrieren und in einer anderen Arena mit Schulen zusammenzuarbeiten (vgl. Abb. 3). Co-opetition – „competing in some markets and co-operating in others“ (Adnett/Davies 2003: 393) – sei die optimale Strategie und das dominante Prinzip in vielen Wirtschaftsbereichen (vgl. Adnett/Davies 2003: 393f.). Unter bestimmten Voraussetzungen können Schulen sich Marktkräften ausgesetzt sehen,
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die sie dazu veranlassen, mit anderen Schulen zu kooperieren, um erfolgreiche Innovationen zu generieren. Derartige Kooperationen sind zwischen Schulen denkbar, die in unterschiedlichen lokalen Märkten operieren. In einem Netzwerk könnten diese Schulen in ihrem jeweiligen regionalen Wettbewerb davon profitieren, Fachkompetenzen in speziellen Bereichen zu bündeln und Informationen über Märkte und damit verbundene Prozesse zu teilen (ebd.: 397). Die folgende Abbildung stellt die strukturellen Unterschiede zwischen Konkurrenz, Kooperation und Co-opetition im Schulbereich vereinfacht dar:
Abbildung 3:
Co-opetition im Schulwesen – überregionale Netzwerke als Unterstützungssysteme (Quelle: eigene Darstellung)
Diese Art der Zusammenarbeit zwischen einer Gruppe von Schulen – ausgelöst durch bestehenden Wettbewerb mit einer anderen Gruppe von Schulen – könnte geeignet sein, die Vorteile beider Koordinationsmechanismen zu vereinen und
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gleichzeitig die mit Wettbewerb verbundenen Nachteile zu vermeiden. Schulmärkte haben eine Entwicklungsgeschichte, die eine etablierte Hierarchie unter lokalen Schulen generiert hat. Das Einleiten von die Marktkräfte stärkenden Maßnahmen findet daher in einem Kontext statt, in dem klare Rangordnungen bestehen (vgl. Adnett/Davies 2003: 396). Die Existenz beständiger Marktführer schränkt dynamischen Wettbewerb und die Entwicklung von Innovationen ein. Für Schulen, die in der lokalen Hierarchie einen oberen Platz einnehmen, stellen Marktmechanismen keinen Anreiz dar, teure und riskante Innovationen zu entwickeln. Zudem verhindert die bestehende Konkurrenz, dass Wissen geteilt und erfolgreiche Innovationen unter anderen Schulen verbreitet werden. Für Schulen, die weniger erfolgreich im Markt operieren und an Schülerzahl verlieren, stellt der Wettbewerb zwar ein Anreiz zu Angebotsinnovationen dar, nimmt ihnen aber gleichzeitig die dafür notwendigen Ressourcen. Wenn es Schulen in dieser misslichen Lage an den notwendigen Ressourcen mangelt, um Innovationen zu entwickeln und sich eine bessere Marktposition zu erkämpfen, beginnt für sie eine Abwärtsspirale. Aufgrund erhöhter Autonomie und Eigenverantwortung fehlt den Schulen zudem Zugang zu externer Expertise (ebd.: 401). Erhalten jedoch die ’weniger guten’ Schulen die Möglichkeit, sich außerhalb ihres lokalen Marktes in übergeordneten regionalen Netzwerken zu organisieren, können sie die Expertise von anderen Schulen nutzen und weiter am Marktgeschehen teilnehmen. Diese überregionalen Organisationen könnten so jeweils in den verschiedenen lokalen Märkten konkurrieren, dadurch Innovationen zur Qualitätsverbesserung anregen und diese weitreichend verbreiten. Im Unterschied zu ausschließlich wettbewerbsorientierter Steuerung, die zwar vereinzelt die Entstehung guter Schulen fördert, könnte es so systematisch und gesamtsystemisch zu einer Steigerung der Schulqualität kommen. Die Aufgabe, die Entstehung dieser Netzwerke zu ermöglichen und zu fördern, müsste jedoch wiederum bei den Schulministerien oder anderen übergeordneten Instanzen liegen.
2.3 Modularisierte Unternehmensführung Mit der Einführung wettbewerblicher Elemente und der Stärkung der Selbstständigkeit der Einzelschulen sowie ihrer Verpflichtung zur Rechenschaftslegung verfolgt die Schulpolitik eine Alternative zur bürokratischen Hierarchie. Diese Steuerungskonzeption kann am Modell der modularisierten Unternehmensführung gespiegelt werden. Diese zeichnet sich nämlich wie die schulische Steuerungsphilosophie durch Dezentralisierung aus und beinhaltet eine Wettbewerbsorientierung. Ein modularisiertes Unternehmen versammelt einzelne Organisationen mit vergleichbaren Aufgaben unter einer Führungsspitze. Dabei
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kann es durchaus im Sinne des Gesamtunternehmens sein, die Module in Wettbewerbssituationen zu stellen. Ein Vergleich mit dem Schulsystem dürfte sich anbieten, wenn man ein staatlich gesteuertes und verantwortetes Schulsystem in ähnlicher Weise versteht: das Schulministerium als oberste Managementebene in einem System von aufgabenähnlichen operativen Einheiten, den Einzelschulen, die sich nunmehr trotz staatlichem Gesamtauftrag, profilieren (vgl. zum Folgenden Böttcher 2007). Mit der Steigerung von Autonomie wird die klassische Entscheidungskaskade eines Unternehmens, welche die Funktionen Zielvorgabe, Kontrolle und Aufgabenausführung trennt und hierarchisch ordnet, abgelöst (vgl. Wildemann 2003: 337). Im Falle eines aus Modulen (oder Filialen) bestehenden Unternehmens bedeutet dies, dass erstere eine erweiterte Kompetenz für eine Vielzahl von Aufgaben bekommen. Die teilautonomen organisatorischen Leistungszentren sind – knapp gesagt – für das operative Geschäft (Kernkompetenzen) und seine Qualitätsverbesserung zuständig. Diese Delegation der Zuständigkeit soll helfen, hierarchieorientierte Verhaltensweisen zu überwinden, Kreativität freizusetzen Produktverantwortung zu entwickeln und sie stellt in Rechnung, dass die Akteure vor Ort mehr über ihre Kunden wissen als die Unternehmensspitze. Diese Kompetenzerweiterung führt aus Unternehmenssicht geradezu automatisch zu einem Vergleich der Erfolge oder Misserfolge der Module; für diese ergibt sich genauso automatisch hieraus eine Situation der unternehmensinternen Konkurrenz. Wichtig festzuhalten aber ist, dass die Aufgaben der operativen Einheiten sehr klar definiert sind. Gleiches gilt für die Aufgaben der Unternehmensführung. Im Modell werden Strategie und Operation unterschieden, für erste ist die Führung der Gesamtorganisation verantwortlich. Beim Modell der modularisierten Führung werden gerade auf Ebene der zentralen Unternehmensfunktionen die notwendigen Veränderungen am deutlichsten sichtbar. Die Unternehmensspitze ist vor allem für die Strategieformulierung zuständig. Sie hat auch die Aufgabe, die Unternehmenseinheit trotz Autonomie der Teile zu sichern. „Die strategische Unternehmensführung erstreckt sich (...) auf einen Ausgleich von Kreativität und Freiheit der Module“ (Wildemann 2003: 337). Unter anderem gelingt das auch durch die Formulierung solcher Unternehmensvisionen oder Leitbilder, „welche die Chance eröffnen, neue Werte, Prozesse und Produkte schaffen zu können“, die eine „Abkehr von Altgewohntem und Sicherem bedeuten“ (ebd.: 338). Folgt man Wildemann, so lassen sich als weitere Aufgabenschwerpunkte der Führung u.a. benennen: Ressourcenallokation bezüglich der Finanzmittel, Koordination von Querschnitts- und Schlüsseltechnologien, Koordination zur Realisierung von Größen- und Synergieeffekten, Ermöglichung eines aussagefähigen Berichtswesens oder die Überwachung der Ergebnisentwicklung (vgl.
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Wildemann 2003: 338). Weitere Aufgaben sind die Beratung der autonomen Einheiten sowie Führungskräfteentwicklung (ebd.: 339). Auch ist das Verbinden der Module durch Netzwerkstrukturen, die durch Informationsaustausch zur Erfahrungsakkumulation und Wissensvermehrung beitragen, von der Führung her zu sichern. Aufgabe der Führung wäre es auch, den Zugriff auf zentrale Datenbänke zu sichern, um so den Entscheidungsaufwand zu reduzieren und schnelle Reaktionen zu ermöglichen. Im Prinzip sind alle Funktionen zentral organisiert, die „kerngeschäftsrelevant für die Führung aus der Einheit des Ganzen heraus sowie für die langfristige Entwicklung des Unternehmens von entscheidender Bedeutung sind“ (ebd: 339). Auch Sonderegger und Allgoewer (2003) machen deutlich, welche zentralen Aufgaben (u.a.) der Unternehmensspitze zukommen: „ Es muss die notwendige Klarheit über die mittel- und langfristige strategische Stoßrichtung des Unternehmens bestehen oder hergestellt werden. Deshalb muss man zuerst wissen, welche Geschäftsfelder gehalten, abgebaut oder forciert werden, welche Aktivitäten neu begonnen werden, welche Märkte, Produkte, Dienstleistungen etc. pro Geschäftsfeld forciert werden und welche Technologien, Kernkompetenzen vertieft werden“ (ebd.: 1185 f.). Unternehmerische Führung ist eine Dienstleistung, die alle Mitarbeiter befähigt und motiviert, Unternehmensziele zu erreichen (vgl. Wildemann 2003: 338). Als Voraussetzung für brauchbare Zielvereinbarungen muss im Unternehmen eine klare Unternehmenspolitik oder Strategie bestehen. Erst Klarheit betreffend übergeordneter Ziele oder auch Teilziele ermöglicht eine Sicherung der Aufgabentreue (vgl. Malik 2003: 1026). Bei der Erstellung von Zielen muss die Umsetzung mitgedacht werden: „Man darf es nicht bei den Zielen allein bewenden belassen, sondern man muss auch den zu ihrer Erreichung notwendigen Ressourcen durchdenken“ (ebd.: 1024). Es ist also nicht nur nötig, Ziele realistisch zu formulieren, sondern sie konkret an Mittel und (mögliche) Maßnahmen zu koppeln. Diese Skizze eines dezentralisierten Unternehmens mit entsprechend (relativ) autonomen Einheiten sollte verdeutlichen, dass auch hier das Prinzip der Koordination und das Management des Gesamtsystems im Vordergrund steht und eine Vielzahl von zentralen Steuerungsaufgaben erledigt sein muss, damit es eine (kontrollierte) wettbewerbliche Situation für die Module geben kann. Uns scheint die Vorstellung nicht unplausibel zu sein, das Schulsystem eines Bundeslandes als ein modularisiertes Unternehmen zu verstehen, seine Unternehmensspitze im Ministerium zu verorten und die Einzelschulen als Module
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bzw. „Filialen“ zu begreifen. Mit dem skizzierten Dezentralisierungskonzept wäre eine staatliche Haltung nicht vereinbar, die Konkurrenz initiiert, ohne sie zum Nutzen des Gesamtsystems zu koordinieren. Braun warnt eindringlich vor dem Missverständnis, zentrale Verantwortung werde durch Dezentralisierung abgeschafft (Braun 2003: 40). Die „Übertragung eines fallspezifisch als sinnvoll betrachteten Anteils von Entscheidungskompetenzen an die operativen Einheiten“ (ebd.: 40) definiert im Gegenteil präzise die notwendigen Aufgaben auch der strategischen Unternehmensführung. Eine empirisch begleitete Umstrukturierung der „verwalteten Schule“ könnte es sich zum Ziel setzen, am Gegenstand Schulsystem die Aufgaben der strategischen Führung und die der operativen Einheiten präzise zu beschreiben und in ihren Wirkungen zu analysieren. Es ist das Ziel der modularisierten Unternehmensführung, das Gesamtsystem zu verbessern und das Interaktionssystem von Systeminputs, Prozessen und ihrer Wirkungen zu analysieren – nicht die es kompilierenden Einheiten gegeneinander auszuspielen.
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Fazit
Wenn bildungspolitisch die Überzeugung bestehen bleibt, dass Wettbewerb im Schulwesen positiv sein kann, und wenn mit dieser Position Vorbildern aus der Wirtschaft nachgeeifert werden soll, dann muss sich die politische Führung daran messen lassen, wie sie mit diesen Vorgaben umgeht. Ein naiver Wettbewerbsglaube dürfte dem Schulsystem eher schaden als nutzen und darüber hinaus die ohnehin zu großen Ungleichheiten im System verstärken. Das jedenfalls wird der wahrscheinliche Ausgang einer Dezentralisierung sein, die die Ansicht vertritt, ein Quasi-Markt einzelschulischer Konkurrenz könne das Gesamtsystem verbessern. Diese – wenigstens im Ansatz – erfolgte Reduktion staatlicher Steuerung entspricht nicht den Modellen der Dezentralisierung und Autonomisierung, die wir in diesem Beitrag skizziert haben. Im Gegenteil erfordert die Gesamtverantwortung für ein Unternehmen eine bedeutende Umstrukturierung und Neuzuschneidung der Führungsaufgaben. Wenn auch letztlich durch Dezentralisierung die Unternehmensspitze Kompetenzen abgibt, so sind die verbliebenen umso wichtiger. Wer einem Modell folgt, das womöglich ohnehin nicht auf den Bereich der Schule oder des Bildungswesens übertragbar ist12, sollte besondere Sorgfalt bei der Umsetzung und Analyse der Wirkungen walten lassen.
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Diese These zu prüfen, war nicht Aufgabe unseres Beitrags.
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Wenn es der Fall ist, dass Co-opetition – die Kombination aus Konkurrenz und Kooperation – die Vorteile beider Koordinationsmechanismen, der Hierarchie und der Dezentralisierung, miteinander vereinen kann, dann hätte dieses bedeutende bildungspolitische Implikationen für alle Länder, die zur Zeit mit markt- und wettbewerbsorientierten Reformen im Schulwesen experimentieren (vgl. Adnett/Davies 2003: 403): Es müssten Maßnahmen eingeleitet werden, die dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass Wettbewerb in lokalen Märkten kurzfristig zu effizienten Innovationen im Bereich der Schulqualität führen kann und (über)regionale kooperative Netzwerke die langfristige Verbreitung dieser Innovationen fördern können. Es müssten Marktanreize geschaffen werden, die eher in der Lage sind, eine effiziente Kombination aus Konkurrenz und Zusammenarbeit hervorzubringen und so Schulqualität weitreichend zu verbessern. Während wettbewerbsorientierte Reformen, wie sie derzeit im Schulwesen eingeführt werden, kein Umfeld schaffen, in dem Schulen mit ungünstigen kontextuellen Bedingungen gute Möglichkeit haben, sich qualitativ zu entwickeln, sind durchaus Unterstützungssysteme möglich, die diesen hinderlichen Ausgangsbedingungen entgegenwirken können. Allerdings müsste sich dann die politische Führung der Aufgaben bewusst sein, wie sie etwa von der Führung im modularisierten Unternehmen übernommen werden: Strategische Führung, Personalentwicklung, Wissensmanagement oder ein Ressourcenmanagement zum Vorteil von Modulen mit ungünstigen Ausgangsbedingungen. Die bildungspolitische Ausrichtung auf beispielhafte Schulen, denen es in besonderer Weise gelingt, auf die Herausforderungen der heutigen Zeit zu reagieren, dürfte hingegen eher die Existenz von Leistungsdisparitäten zwischen den Schulen legitimieren, als dass sie Anstoß für eine allgemeine Qualitätsentwicklung ist. Wer die besseren von den schlechteren unterscheidet, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, zeigt nur, dass „das gute Lernen im schlechten System“ möglich ist. Wenn es Überzeugung der politischen Spitze ist, dass die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Schulen wirklich vorbildlich sind, dann sollten Strategien entwickelt werden, alle Schulen in diese Richtung zu verbessern. Aber wer glaubt schon daran, dass die Politik Projektunterricht, offenes Lernen, Umgang mit Heterogenität, Stärkung der Schwachen oder das Verhindern von Selektion zu strategischen Leitzielen erheben will. Den Preisträgern gebührt freilich hohe Anerkennung, das sollte hier nicht verschwiegen werden.
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Schulentwicklung in benachteiligten Regionen Eine exemplarische Bestandsaufnahme von Forschungsbefunden und Steuerungsstrategien Isabell van Ackeren
Im Kontext der tiefgreifenden Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte in vielen Staaten gibt es in jüngerer Zeit insbesondere international ein zunehmendes Forschungs- und bildungspolitisches Interesse am Thema der improving schools in challenging circumstances (vgl. z.B. Muijs u.a. 2004; McBeath u.a. 2005; Clarke 2005; Harris u.a. 2006) oder – um es mit dem Titel des Sammelbandes zu formulieren – an guten Schulen in schlechter Gesellschaft. Das Thema hat drei zentrale Schubkräfte, und zwar
ausgehend von einem zumeist regional konzentrierten Handlungsbedarf an so genannten Brennpunktschulen, dem die empirisch fundierte Erkenntnis zugrunde liegt, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Hintergrundmerkmalen der Schülerschaft, dem Schulstandort sowie dem schulischen Kompetenzerwerb gibt, ausgehend von dem Befund, dass es Schulen gibt, denen es – trotz vergleichsweise schwieriger Zusammensetzung der Schülerschaft – gelingt, einen signifikanten Mehrwert (added value) im Vergleich zum Ausgangsniveau ihrer Schülerschaft zu erreichen (in diesem Zusammenhang wird auch von ‚erwartungswidrig‘ guten Schulen gesprochen) sowie ausgehend von der Annahme, dass die spezifischen sozioökonomischen Rahmenbedingungen solcher Schulen möglicherweise andere Schulentwicklungsstrategien erfordern als in sozial günstigen Milieus.
Gleichwohl ist die Forschungslage mager, zumal die Sichtung geeigneter empirischer Datensätze auf effektive bzw. weniger effektive Schulen und die Durchführung von Zusammenhangsanalysen auf der Ebene der Einzelschule hierzulande ein vergleichsweise neues Vorgehen darstellt.13 Eine weitere Begründung 13 Optimal wäre – in Anlehnung an die Definition von „Optimalklassen“ nach Weinert und Helmke (1997) – ein hoher Leistungsdurchschnitt einer Schule bei geringer Streuung der Schülerleistungen unter optimaler Nutzung des jeweiligen Leistungspotenzials der Schüler und Schülerinnen. In diesem Zusammenhang können beispielsweise Schulen verglichen werden, deren Eingangsbedingun-
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Isabell van Ackeren
liegt sicherlich in der methodischen Komplexität des Forschungsfeldes, etwa hinsichtlich der Frage, wie sich solche international als improving schools bezeichneten Schulen im Entwicklungsprozess identifizieren und begleiten lassen. Hier werden die Berichte der Schulinspektion, die in vielen Bundesländern implementiert wird, in der Verknüpfung mit den schullaufbahnbegleitenden Vergleichsarbeiten und Lernstandserhebungen orientierende Daten liefern. Gleichzeitig besteht die Schwierigkeit der Analyse in der Vielzahl möglicher Einflussgrößen. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel des Beitrags die Sichtung themenbezogener Forschungsbefunde einschließlich zentraler Ansätze ihrer theoretischen Einbettung, um das Forschungsfeld für die deutsche Perspektive zu explorieren und darüber hinaus mögliche Handlungsperspektiven zu skizzieren. Damit ergeben sich die Schritte der Gliederung: Zunächst wird der Theoriehintergrund zur Entwicklung von Schulen, die unter besonderen Herausforderungen arbeiten, skizziert, um daran anschließend zentrale, in der Literatur beschriebene Qualitätsmerkmale und Ansatzpunkte für Steuerungs- und Entwicklungsprozesse auf der Ebene der Einzelschule im Sinne einer inneren Schulreform herauszuarbeiten.14 Die Ausführungen zu den einzelschulischen Steuerungsstrategien basieren auf einer Sichtung internationaler Arbeiten der Schulwirksamkeitsforschung (school effectiveness research) sowie der Schulentwicklungsforschung (school improvement research), wobei es international deutliche Integrationstendenzen beider Forschungsansätze gibt, indem die Wirksamkeit von schulischen Prozessen an ihren Ergebnissen gemessen wird und umgekehrt Lernerträge im Kontext der vorgelagerten Arbeitsprozesse betrachtet werden (vgl. z.B. Townsend 2007). Recherchiert wurde, auf der Grundlage einer entsprechenden Verschlagwortung des Themas15, in einschlägigen Datenbanken wie der ERIC16gen ähnlich sind. Die relative Schuleffektivität kann man – sofern entsprechende Leistungstestdaten vorliegen – zudem errechnen, nämlich als Differenz des Bruttoleistungswertes (als rohe, nicht korrigierte Daten) und des Leistungswertes, der angesichts der Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule zu erwarten wäre (Erwartungswert). Bei diesem Kennwert handelt es sich um einen in der internationalen Schulforschung verbreiteten Ansatz zur Messung der Schulwirksamkeit (vgl. die PISA-Auswertungen). Dabei finden folgende Merkmale Berücksichtigung, die angesichts empirischer Befunde den unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen und dem differierenden sozialen Hintergrund der Schülerschaft Rechnung tragen: kognitive Grundfähigkeiten der Schüler, Geschlecht der Schüler, Kindergartenbesuch, Muttersprache, höchster Schulabschluss in der Familie, berufliche Stellung des Vaters und der Mutter, familiale Unterstützung der Arbeit für die Schule sowie Besitz von Wohlstandsgütern und Besitz von Kulturgütern (vgl. Watermann & Stanat 2004). 14 Der Text beruht auf einem Vortrag im Rahmen der Tagung „Gute Schulen in schlechter Gesellschaft“, gehalten am 6. Juli 2007 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 15 “challenging circumstances”, “low achievement”, “change strategies”, “educational improvement”, “disadvantaged schools” u.ä.
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Literaturdatenbank und Journals wie „School Effectiveness and School Improvement“.17
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Theoretische Ansatzpunkte
Die recherchierten Forschungsbeiträge nehmen vergleichsweise wenig Bezug auf theoretische Ansätze, vermutlich deshalb, weil diese empirisch kaum geprüft sind. Beiträge, die eine Theorieanbindung herstellen, rekurrieren insbesondere auf die Kontingenztheorie, das Kompensationsmodell und die Additivitätshypothese (z.B. Creemers/Scheerens/Reynolds 2000; Reynolds/Teddlie 2000; Teddlie/Stringfiled/Reynolds 2000 sowie zusammenfassend Muijs et al. 2004). Die ursprünglich in der Managementlehre entwickelte, auf den Bildungsbereich übertragene Kontingenztheorie geht – nach dem Verständnis von Creemers et al. 2000 – davon aus, dass die Schuleffektivität von spezifischen situationalen Faktoren innerhalb und außerhalb der Organisation abhängig ist. Hinsichtlich ineffektiver Schulen in benachteiligten Regionen wird angenommen, dass die Aktivitäten der am Bildungsprozess beteiligten Akteure unzureichend zwischen den schulischen und unterrichtlichen Arbeitsprozessen einerseits sowie den situationsbezogenen Faktoren andererseits vermitteln. Demnach gibt es eine fehlende, situationsspezifische Adaptivität. Dies führt zu der These, dass Schulen in deprivierten Regionen durch ganz bestimmte Organisationsmerkmale charakterisiert sind und sich in diesen von anderen Schulen unterscheiden und entsprechend differenziert agieren müssen. In diesem Sinne ist die Kontingenztheorie ein situativer Ansatz, der ein offenes, flexibles und innovatives Handeln impliziert. In der Unternehmensführung ist der Bezug zum Führungs- und Entscheidungshandeln prominent, etwa im Hinblick auf die Nutzung unterschiedlicher Führungsstile entsprechend dem Bedarf unterschiedlicher organisatorischer Situationen oder im Hinblick auf die Menge relevanter Informationen im Besitz von Führungspersonen und Mitarbeitern. Das Kompensationsmodell (in Anlehnung an Teddlie et al. 2000) besagt, dass Brennpunktschulen zunächst Kompensationsleistungen für fehlende außerschulische Unterstützungsleistungen ihrer Schülerschaft erbringen müssen, um verbesserte Lernerträge zu erzielen. Dazu müssen sie sich zunächst auf grundlegende Bedarfe konzentrieren, wie eine geordnete Lernumgebung oder eine hohe Erwartungshaltung, mit denen Schüler/-innen außerschulisch kaum konfrontiert werden, bevor in einem zweiten Schritt strukturelle, längerfristige Entwicklungsprozesse eingeleitet werden. Dies impliziert, dass Lehrkräfte an so genann16 17
Education Resources Information Center, http://www.eric.ed.gov/ in Orientierung an Muijs u.a. 2004
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ten low SES-schools18 mehr arbeiten müssen, um entsprechende Resultate zu erzielen, da sie zunächst ‚kompensieren‘ müssen. Entsprechende Befunde werden z.B. bei Whitty (2001) berichtet. Im Rahmen des kanadischen Projektes „Improving Student Achievement in Schools Facing Challenging Circumstances“ des OISE-Institute Toronto (McDougall et al. 2006) wurden zunächst 20 Schulen identifiziert, die unter herausfordernden Rahmenbedingungen arbeiten und zugleich ihre Testresultate in landesweiten Vergleichsarbeiten verbessern konnten. Mit Hilfe quantitativer und qualitativer Evaluationsinstrumente wurden Merkmale der schulischen Arbeitsprozesse herausgearbeitet. Über alle Schulen hinweg zeigte sich die von den Beteiligten formulierte große Herausforderung, sich zunächst mit sozialen, emotionalen und verhaltensbezogenen Defiziten zu befassen, um im Anschluss akademische Ziele realisieren zu können: „The findings reveal that all twenty sampled schools are doing more than providing students with the academic basics. [...] Principals, teachers and parents all agree that academic objectives can only be realized once social and behavioural issues are addressed […]” (McDougall et al. 2006: 2). Die Additivitätshypothese meint, dass Schulen in benachteiligten Regionen ein höheres Risiko niedriger Lernerträge haben, und zwar auch nach Kontrolle des sozioökonomischen Hintergrunds (Reynolds/Teddlie 2000). Dahinter steht die Annahme einer abnehmenden Motivation der Lehrkräfte (z.B. vor dem Hintergrund einer name-and-shame-Politik im Rahmen von Leistungsrankings) bzw. auf der Seite der Schüler/-innen ein fehlendes Anregungsmilieu durch die Abwesenheit leistungsstarker Schüler/-innen, so dass negativ kumulative Effekte der Kontextmerkmale benachteiligter Schulen und der Reaktion auf die Lehrund Lernvoraussetzungen durch die schulischen Akteure erwartet werden können. In der Zusammenschau dieser Ansätze kann von einer kumulativen Benachteiligung der Schulen in schwierigen Kontexten ausgegangen werden, die in den schulischen und unterrichtlichen Alltag hineinwirkt. Dementsprechend bedarf es ausgleichender Maßnahmen, die im Vergleich zu Schulen mit günstigen Voraussetzungen mehr personelle und materielle Ressourcen erfordern. Die jeweils spezifischen Konstellationen am lokalen Standort erfordern zugleich eine adaptive Reaktion des organisationalen Handelns.
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SES = socioeconomic status, niedriger sozioökonomischer Status der Schülerschaft
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Merkmale effektiver Schulen und Hinweise auf Steuerungs- ansätze
In der Literatur sind Charakteristika von Schulen, die verbesserte Lernergebnisse erzielen konnten, dokumentiert (vgl. z.B. Stoll/Fink 1996; Harris 1999). Viele Studien haben insbesondere im angloamerikanischen Raum Merkmale herausgearbeitet, die einen Wandel in Schulen befördern können. Im Rückgriff u.a. auf Scheerens und Bosker (1997) fassen beispielsweise MacBeath und Mortimore (2001) – auf der Grundlage von Forschung zur Ermittlung solcher Faktoren, die am meisten zur Aufklärung der Varianz von Schülerleistungen beitragen – folgende Charakteristika effektiver Schulen zusammen:
professionelle Führung der Schule (‚leadership‘), geteilte Visionen und Ziele innerhalb der Institution, lernende, unterstützende Umgebung, Konzentration auf Lernen und Unterrichten, hohe Erwartungshaltung, positive Verstärkung im Kontext eines guten Schulklimas, Einbindung der Schüler/-innen (Verantwortungsübernahme) zielgerichtetes Unterrichten, Schule als lernende Organisation sowie die Partnerschaft zwischen Schule und Elternhaus.
Muijs u.a. (2004) kommen auf der Grundlage ihres „Review of Research Evidence“ zu folgenden Merkmalen:
teaching and learning, leadership, creating an information-rich environment, creating a positive school culture, building a learning community, continuous professional development, involving parents, external support and resources.
Die in vielen Beiträgen in ähnlichen Listen zusammengefassten sowie die herausgearbeiteten Merkmale von improving schools in den recherchierten Forschungsbeiträgen konzentrieren sich im Kern insbesondere auf das Handeln der Schulleitung, die internen und externen Beziehungen und Netzwerke (einschließlich einer professionellen Schulkultur und eines guten Schulklimas) so-
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wie auf das Kerngeschäft von Schule, nämlich das Lehren und Lernen einschließlich der Professionsentwicklung in diesem Bereich. Dabei wird der Leitung und dem Management von Schule zumeist besondere Bedeutung beigemessen, da diese auf die anderen Qualitätsdimensionen besonderen Einfluss nehmen und Vernetzung herstellen kann. Gleichwohl versteht sich die Auflistung solcher Merkmale nicht als Prioritätenliste, zumal in vielen Fällen Angaben zu Effektgrößen fehlen. Die identifizierten Felder ‚Führung‘, ‚Interne und externe Netzwerke‘ und ‚Fokus auf Unterrichtsqualität‘ werden nachfolgend hinsichtlich ihres Beitrags für die Entwicklung deprivierter Schulstandorte knapp skizziert.
2.1 Führung Das Führungsverhalten nimmt eine zentrale Rolle im Hinblick auf schulische Effektivität ein. Dabei bleibt jedoch unklar, welcher Führungsstil effektiv ist. In jüngerer Zeit gibt es die Wahrnehmung, dass ein größeres Potenzial in einer ziel- und leistungsorientierten Haltung (insbesondere im Hinblick auf das Lehren und Lernen), gleichwohl aber auch in demokratischen, kollegialen und transparenten Entscheidungsprozessen liegt (anstatt eines autoritären Führungsstils). So werden positive Effekte von Schulen berichtet, die versucht haben, einen entsprechenden partizipativen Führungsstil zu realisieren (z.B. IESP 2001, New York Networks-Projekt) und in „Leadership Teams“ arbeiten (McDougall et al. 2006; Flintham 2006). In der Memphis Restructuring-Initiative ergaben sich auch Hinweise auf die Effektivität von Arbeitsgruppen, die sich – im Sinne von Steuergruppen – speziell mit Schulentwicklungsprozessen beschäftigen (Ross et al. 2001). Zentral erscheinen dabei wiederum der Fokus auf die Unterrichtsentwicklung (z.B. Stoll 1999) sowie die Entwicklung einer gemeinsamen Vision. In der Erhebung von McDougall et al. (2006) berichteten einige Schulleiter von der Bedeutung einer möglichst strategischen Rekrutierung von Lehrkräften mit spezifischen Eigenschaften: „open cognitive dispositions, critical thinking abilities, and a desire für professional development“ (McDougall et al. 2006: 4). Die Professionsentwicklung wird dabei in ihrer Bedeutung noch einmal besonders herausgehoben, und zwar hinsichtlich der Erwartung der Schulleitung, dass neu gewonnene Expertise dem gesamten Kollegium zugänglich gemacht und gemeinsam geteilt wird. In diesem Zusammenhang wird auch herausgestellt, dass Steuerung und Entwicklung die Verfügbarkeit von Daten voraussetzen, mit denen sich Ist- und Soll-Zustände evidenzbasiert differenzieren lassen. Einen entsprechenden Zusammenhang für Schulen, die unter schwierigen Bedingungen arbeiten, haben
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z.B. Hopkins 2001 und Reynolds et al. 2001 beschrieben. Solche data-rich schools sammeln an zentraler Stelle Daten, z.B. Ergebnisse von Abschlussprüfungen, von standardisierten Fragebögen für Schüler und Lehrkräfte, qualitative Daten etc. Die Daten werden hinterfragt und somit zu Indikatoren, indem sie z.B. für spezifische Gruppen – etwa nach Geschlecht, Migrationshintergrund – aggregiert und in anspruchsvolle aber realistische Zielsetzungen im Sinne eines Evaluationszyklus überführt werden. Thomas et al. (1998) führen in diesem Zusammenhang aus, dass sich Schulen, die sich vergleichsweise stark verbessern konnten, dadurch auszeichnen, dass sie relevante Expertise und Beratung im Umgang mit Daten und ihrer schwierigen Situation mobilisieren konnten. Hinsichtlich der Effekte des Schulleitungshandelns bleibt jedoch unklar, inwieweit sich der Führungstyp an Schulen, die unter schwierigen Bedingungen arbeiten, von anderen Schulen unterscheidet. Möglicherweise ist insbesondere die Fähigkeit ausschlaggebend, im Sinne der Kontingenztheorie den spezifischen Bedarfen entsprechend Prioritäten zu setzen, eine Zielrichtung für die Schulentwicklung zu begründen, das Kollegium zu motivieren und materielle sowie personelle Ressourcen optimal zu nutzen (vgl. Keys et al. 2003).
2.2 Interne und externe Netzwerke Die Bedeutung der Anzahl und Art von Kontakten zwischen Organisationsmitgliedern für die Effektivität von Schule ist vielfach formuliert. Dies lässt sich mit der Teilhabe an gemeinsamem Wissen, der Erhöhung der Produktivität, der Entwicklung von Expertise, bessere Beziehungen, von Kohäsion und der Förderung des Selbstvertrauens erklären (Cavanagh 1997). Es geht darum, gemeinsame Visionen zu entwickeln und durch das gemeinsame Handeln auch komplexere Lernerfahrungen für Schüler/-innen zu ermöglichen. Dafür erweist sich eine positive Schulkultur als wichtige Rahmenbedingung der schulischen Arbeit, die frei von Vorwürfen und durch eine offene Kommunikation gekennzeichnet ist (Joyce et al. 1999). Ainscow et al. (2006) konnten in ihrer Analyse von „schools-to-school collaboration“ im Rahmen der englischen Initiativen „Excellence in Cities“, „Leadership Incentive Grant“, „Networked Learning Communities“ und „School Federations“ herausarbeiten, dass die Netzwerkarbeit, z.B. zwischen „successful schools“ und „schools with serious weaknesses“ dazu beitragen kann, Probleme unmittelbar zu lösen und höhere Erwartungen an eine vermeindlich „un-teachable“ Schülerpopulation zu entwickeln: „Most often, such re-assessments involve a process of rethinking one’s definition of ‚engagement‘ and ‚control‘ in the light of practice seen elsewhere with similar student groups. They also involve dialogue with colleagues about the assump-
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tions that underpin the aspirations and actions of teachers in partner schools“ (Ainscow et al. 2006: 195). Gleichwohl werden erfolgreiche Kooperationen als komplex und zeitintensiv beschrieben. Einen speziellen Zielbereich besitzt dabei die unterrichtsbezogene Lehrerkooperation. Sie umfasst sämtliche Aspekte der Kooperation zwischen Lehrkräften, welche einen Bezug zur Planung oder Organisation der unterrichtlichen Handlungen von Lehrkräften und Schüler/-innen aufweisen. Demgegenüber ist unter programmatischer Kooperation die Tendenz zur Schaffung von Kohärenz und Konsistenz im Hinblick auf grundlegende pädagogische Fragen innerhalb der jeweiligen Gesamtkollegien zu verstehen. Dazu gehört insbesondere das Streben nach gemeinsamen pädagogischen Zielen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen innerhalb des Kollegiums. Die Bedeutung dieses Aspektes der kollegialen Zusammenarbeit für die Schuleffektivität unterstreichen z.B. Scheerens und Bosker (1997) in ihrer Metastudie. Hinsichtlich der Interaktion zwischen Schule und ihrer Umgebung erscheinen folgende Gesichtspunkte bedeutsam für eine effektive Gestaltung schulischer Lehr- und Lern-Prozesse, nämlich die Intensität von Außenkontakten, die dazu beitragen, dass Schülern und Schülerinnen inhaltlich erweiterte Lernmöglichkeiten geboten werden, sowie die Vielfalt von Außenkontakten, die Lernenden andere Lernwege eröffnen als die, die ihnen durch den traditionellen im Klassenzimmer vertraut sind. In einer Interview-Studie von Seeley et al. 1990 benannten die befragten Schulleiter erwartungswidrig guter Schulen besonders häufig die Einbindung der Eltern in ihre Arbeit. Eine Studie von Barth et al. 1999 konnte positive Effekte der Stärkung fachspezifischer Kompetenzen von Eltern aufzeigen, die ihre Kinder besser häuslich unterstützen konnten. Ähnliche Programme finden sich im Bereich der Förderung der Unterrichtssprache (Bormann et al. 2000). Zugleich wird deutlich, dass die Einbindung der Eltern in ökonomisch benachteiligten Regionen eine der schwierigsten Aufgaben ist. Schließlich wird auch die Einbindung von Schulen in Schul-Netzwerke, in denen im Sinne professioneller Lerngemeinschaften Ideen und Konzepte für die Praxis ausgetauscht werden, als qualitätsfördernd beschrieben (Hopkins & Reynolds 2002; vgl. auch Berkemeyer u.a. 2008).
2.3 Fokus auf Unterrichtsqualität Der instruktionale Fokus auf den Unterricht wird als zentrales Merkmal effektiver Schulen beschrieben (z.B. Reynolds et al. 2001). Was selbstverständlich klingt, steht nicht immer ganz oben auf der Prioritätenliste innerer Schulreform.
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Im Sinne des Kompensationsmodells zeigt sich, dass lernschwache Schüler und Schülerinnen stärker strukturierter Lernprozesse und eines kleiner portioniertes Curriculums in Verbindung mit einem unmittelbaren Feedback bedürfen (Ledoux/Overmaat 2001). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass effective low-SES schools eine begrenztere Anzahl an Lernzielen und auch kurzfristigere Lernziele formuliert haben (Teddlie et al. 1989), was auch der Produktion von Erfolgsgeschichten und der Motivation der Beteiligten dient. In diesem Sinne können schwache Schüler/-innen von einer stärkeren Lebensweltorientierung und von Praxisbezügen profitieren (z.B. Hopkins/Reynolds 2002). Zugleich gilt es, Unterforderung zu vermeiden und anspruchsvolles Lernen zu fördern. Verschieden Studien konnten zeigen, dass Schüler/-innen durchaus in der Lage sind, höhere Kompetenzstufen angesichts ihrer kognitiven Grundfähigkeiten zu erreichen, als vorher angenommen wurde (Guthrie et al. 1989; Leithwood/Steinbach 2002). Auch PISA hat hier entsprechende Hinweise gegeben. Die Autoren fordern z.B. gerade für den Unterricht an Hauptschulen und für Risikoschüler weniger Kalkülorientierung, stärkere Förderung von Denkaktivitäten und eigenen Konstruktionen der Schüler/-innen, Offenheit für vielfältige Lösungsmöglichkeiten sowie eine Stärkung der Anwendungsorientierung und Lebensweltbezüge (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Schließlich gibt es Hinweise, dass improving schools mehr Zeit und Anstrengungen in die professionelle Entwicklung, insbesondere durch unterrichtsbezogene Fortbildung mit starkem Praxisbezug bei gleichzeitiger theoretischer Fundierung und individuellem Feedback, investiert haben (Freeman 1997; Henchey 2001; Reynolds et al. 2001). Lehrertrainings sollten demnach unterrichtsbegleitend eingesetzt werden und sich auf eine empirisch hinreichend überprüfte Theorie stützen.
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Fazit
Es wäre einfach, die Ursachen für Lernergebnisse allein auf die Rahmenbedingungen zurückzuführen und davon auszugehen, dass Schulen unter ungünstigen Kontextbedingungen wenig Einfluss haben, etwa im Sinne der ernüchternden Colemanschen Aussage „schools do not matter“ (Coleman 1966). Stattdessen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sich bestimmte schulische Strategien in diesem Zusammenhang durchaus als erfolgreich erweisen können. So gibt es – in Anlehnung an die Kontingenztheorie – einige Hinweise darauf, dass effektive Schulen in benachteiligten Regionen durch spezifische Handlungsmuster gekennzeichnet sind, die sie von anderen Schulen unterscheiden, insbesondere im Bereich von Lehr-/Lernstrategien und der Schulleitung. Gleichwohl sind die
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Befunde möglicherweise nicht vorbehaltlos vom angloamerikanischen auf den deutschen Raum übertragbar. Auch das kompensatorische Modell erfährt eine gewisse Bestätigung. Einerseits müssen Schulen stärker kompensatorisch arbeiten, andererseits müssen nicht alle Schulen von diesem Punkt aus starten; es gibt durchaus graduelle Unterschiede. Wahrscheinlich ist ein eher flexibles, adaptives Entwicklungsmodell gefragt, das an Stärken und Schwächen anknüpft, die z.B. im Rahmen von Schulinspektionen offensichtlich werden. Die Additivitäts-Hypothese ist schließlich schwierig einzuschätzen, zumal wenige Untersuchungen als Vergleichsstudien angelegt sind. Entsprechende Hinweise finden sich in der PISA-Studie: „Auch bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und identischem sozioökonomischen Status ist die Leistung eines Gymnasiasten um 49 Punkte höher als die Leistung eines Hauptschülers“ (Deutsche PISA-Konsortium 2001: 182). Dieser Unterschied ist etwas größer als der zwischen den Durchschnittswerten von Finnland (536) und Deutschland (490). Als Erklärungsmuster wird die Wirkung so genannter differenzieller Lernmilieus beschrieben. Demnach stellen sowohl Schulformen als auch Einzelschulen innerhalb derselben Schulform institutionell vorgeformte Entwicklungsmilieus für die in ihnen lernenden Kinder und Jugendlichen dar. So erhalten Schüler/innen gleicher Begabung, gleicher Fachleistungen und gleicher Sozialschichtzugehörigkeit je nach Schulform und Einzelschule unterschiedliche Entwicklungschancen. Wenngleich es konsensfähige Anhaltspunkte für effektive Entwicklungsstrategien gibt, lassen sich daraus jedoch keine schnellen Lösungsansätze ableiten. Vielmehr bedarf es weiterer Forschung, die beispielsweise auch die Aufrechterhaltung effektiven Arbeitens über längere Zeiträume analysiert sowie die Effektstärken der Faktoren differenziert. Gleichwohl erscheinen eine Fokussierung auf die Unterrichtsqualität und ein adaptiver Führungsstil, der die Kapazitäten aller Kollegiumsmitglieder sowie externe Unterstützung zu mobilisieren vermag, erfolgversprechend. Zugleich liegt die Aufgabe der Schulverwaltung darin, innere Schulreform zu stützen, beispielsweise indem kontextspezifische Weiterbildungsangebote auf die Schulen zugeschnitten werden, indem professionelle Schulnetzwerke initiiert und unterstützt werden und indem Ressourcen nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden, sondern z.B. Teamteaching an bestimmten Standorten gestärkt wird.
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Schulen im Sozialraum Strukturelle Grenzen und institutionelle Chancen im lokalen Kontext19 Susann Burchardt
Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, welche institutionellen Möglichkeiten es gibt, Schulen in Kooperations- und Entwicklungsprozesse im lokalen Raum einzubinden. Ausgangspunkt der Überlegungen sind die besonderen Anforderungen an eine Kooperation von Schulen mit außerschulischen Partnern in sogenannten „sozialen Brennpunkten“ bzw. „Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf“ sowie die strukturellen Hindernisse einer solchen Kooperationspraxis, die sich aus der unterschiedlichen politischen Ebenenanbindung der beteiligten Institutionen ergibt. Anders gefragt: Wie können lokale und kommunale Akteure Entwicklungen für „Gute Schulen“, die in lokalen Kooperationsstrukturen eingebunden sind, gestalten? Auf welche Art und Weise können sie Einfluss nehmen und welche institutionellen Voraussetzungen müssten gegeben sein? Der Beitrag kann sicherlich keine abschließenden Antworten geben. Er gibt aber empirisch begründete Hinweise darauf, dass kommunale Steuerungsmechanismen im Sinne von Governance, die im Kern eine Zunahme partizipativer und politikfeldübergreifender Verfahren und Regelungen beinhaltet, erfolgversprechende Ansatzpunkte bieten.
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Untersuchungsrahmen
Das in den Jahren 2000 bis 2006 umgesetzte Bundesprogramm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ (E&C) verfolgte das Ziel, kommunale Ressourcen zur Förderung der Kinder- und Jugendhilfe zu mobilisieren, zu vernetzen und nachhaltig, im Sinne längerfristig wirksamer Angebots- und Hilfestrukturen in benachteiligten Stadtteilen, zu gestalten. 19 Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine in wesentlichen Zügen überarbeitete Fassung des Artikels „Schulen und Stadtteilorientierung – strukturelle Grenzen und institutionelle Chancen“ In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 1/2008.
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E&C20 stellte eine Projektplattform dar, die verschiedene Bausteine21 beinhaltete, welche so umgesetzt werden sollten, dass Synergieeffekte möglich werden, um entstandene Hilfestrukturen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe nachhaltig zu entwickeln. Zentral war dabei die Idee einer institutionen- und ressortübergreifenden Zusammenarbeit, um die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen in den als „soziale Brennpunkte“ ausgewiesenen Stadtteilen zu verbessern. Diese übergreifende Perspektive ist auch durch die Anbindung an das Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ geboten. Zielsetzung war, dem vorwiegend investivinfrastrukturell ausgelegten Programm „Soziale Stadt“ eine Fördermöglichkeit für nicht investive Maßnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik zur Seite zu stellen. Zielstellung der wissenschaftlichen Begleitstudie des Deutschen Jugendinstituts22 war, spezifische Merkmale und Aspekte lokalpolitischer Entscheidungsund Steuerungsstrukturen herauszuarbeiten, welche die sozialräumlichen Intentionen von E&C befördern oder diesen entgegenstehen. Um lokalpolitische Steuerungsmodi inhaltlich so umfassend wie möglich abbilden zu können, wurde die Analyse auf drei spezifische Policybereiche lokaler Politik bezogen. Neben der Analyse (a) der Umsetzung des E&CProgrammbausteins LOS sowie (b) der Auswirkungen der Neuregelungen des Sozialgesetzbuchs (SGB II) für unter 25jährige in „sozialen Brennpunkten“ stand die Untersuchung (c) der Grenzen und Möglichkeiten einer sozialräumlichen Einbindung der Institution Schule in kommunale Kooperationsprozesse im Kontext von E&C im Blickpunkt der wissenschaftlichen Begleitung. Die qualitativen und quantitativen Befunde des zuletzt genannten Untersuchungsbereiches bilden die inhaltliche Basis des vorliegenden Beitrags. Grundlegend für die Darstellung sind zum einen qualitative Befunde aus Gesprächen mit lokalen Schlüsselpersonen aus zwölf ausgewählten west- und ostdeutschen Modellstandorten, in denen E&C-Bausteine umgesetzt wurden, sowie zum anderen quantitative Befunde aus der als Querschnittsuntersuchung angelegten Totalerhebung. Als Untersuchungsgebiete wurden alle 286 Quartiere 20
Die Programm- und Projektplattform E&C bestand in den Jahren 2000 bis 2006. Die wissenschaftliche Begleitung des Programms durch die Projektgruppe E&C des Deutschen Jugendinstituts konzentriert sich 2007auf die Berichterstattung und internationale Einordnung der Ergebnisse. 21 Z.B. das Programm LOS – Lokales Kapital für Soziale Zwecke – welches durch spezielle Mikroprojektförderungen in den Stadtteilen Beschäftigungswirksamkeit erreichen soll. Andere Bausteine waren das Freiwillige soziale Trainingsjahr (FSTJ) oder auch Kompetenz und Qualifikation (KundQ). 22 Die Gesamtstudie mit dem Titel „E&C im Kontext neuer kommunalpolitischer Strategien“ wurde vom Projektteam E&C ( S. Burchardt; H. Förster; T. Mögling, P. Bischoff, C. Harmsen, F. Tillmann) – im Zeitraum März 2004 bis März 2007 am Deutschen Jugendinstitut erstellt.
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einbezogen, in denen der E&C-Baustein LOS umgesetzt wird. Da E&C komplementär zum Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Die soziale Stadt“ angelegt ist, sind diese ausschließlich in den darin erfassten 331 Sanierungsgebieten ausgewiesen worden. Schriftlich befragt wurden 1.030 lokale Schlüsselpersonen im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2005, darunter 161 Schulleiterinnen und Schulleiter, deren Angaben mit denen von Vertreter/innen freier Träger und der Kommunalverwaltung den Analysen zugrunde gelegt worden sind. Parallel dazu wurden Angaben der amtlichen Kommunalstatistik zur Abbildung von Standortmerkmalen herangezogen.
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Sozialräumliche Öffnung von Schulen – Begründungszusammenhänge und Handlungsgrundlagen
An dieser Stelle soll zunächst begründet werden, welche Relevanz die Frage nach einer stärkeren sozialräumlichen Öffnung von Schulen bzw. der sozialräumlichen Kooperation von Schulen mit außerschulischen Partnern gerade in benachteiligten Stadtteilen besitzt. Dabei geht es vor allen Dingen darum, herauszustellen, dass hinter den Schlagworten „Sozialraumorientierung“ und „Kooperation“ im Bereich schulischer Bildung kein Selbstzweck steht, sondern die Notwendigkeit handhabbare Konzepte zur Problembearbeitung an Schulen sozialer Brennpunkte zu entwickeln. Schule als eine auf der kommunalen Ebene angesiedelte zentrale gesellschaftliche Institution ist in besonderem Maße von sozialen Problemlagen betroffen. Vor allem Schulen in „sozialen Brennpunkten“ führen ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag unter einem erheblichen äußeren Problemdruck aus. So gerät die Bildungseinrichtung Schule vor allem in benachteiligten Quartieren in Situationen, die eine geregelte und normgerechte Wissensvermittlung kaum mehr gewährleisten. Schulen sind aber nicht nur in besonderer Weise von den Problemen benachteiligter Stadtteile betroffen. Als staatliche Sozialisationsinstanzen, als Bildungseinrichtungen und auch als kulturelle Lebensräume von Kindern und Jugendlichen stellen sie eine wichtige Ressource zur Überwindung von individuellen Benachteiligungen dar. Die Prekarität der Problemlagen in benachteiligten Quartieren begründet die Notwendigkeit einer Einbindung von Schulen in kommunale Kooperationsnetze. Politischer und gesellschaftlicher Handlungsbedarf sowie strukturelle Hindernisse für eine Erfolg versprechende Bearbeitung der Problemlagen sind in Bezug auf „soziale Brennpunkte“ offensichtlich (vgl. Projektgruppe E&C 2006, Burchardt/Tillmann 2007).
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Wenn von kooperativer Einbindung von Schulen die Rede ist, so meint dies in erster Linie die Kooperation von Schulen mit außerschulischen Partnern, hier insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe. Die wissenschaftliche und fachpraktische Debatte zu Fragen schulischer Kooperationen auf der lokalen Ebene ist sehr ergiebig in der Hinsicht, dass sie die Notwendigkeit der sozialräumlichen Einbindung von Schulen aus sozialpädagogischer und bildungssoziologischer Sicht detailliert und sachlich nachvollziehbar darstellt (vgl. etwa: Mack/ Raab/Rademacker 2003, Schirp/Schlichte/Stolz 2004, Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht 2005). Forderungen nach mehr Schulautonomie oder auch einer „Kommunalisierung“ von Schulen (vgl. Deinet/Icking 2006) kennzeichnen weitere Stichpunkte der Debatte. Neue Anforderungen an eine Kooperation von Schulen und Trägern der Jugendhilfe werden auch unter dem Gesichtspunkt eines veränderten Verständnisses von Bildung und Lernkultur (vgl. stellvertretend: Rauschenbach 2006) sowie neuer Handlungs- und Bildungskonzepte diskutiert. Offen bleibt hingegen oft die Frage, ob und wie institutionelle Grenzen und gesetzliche Restriktionen im Rahmen dieser Überlegungen zu berücksichtigen sind und wie diese gegebenenfalls durch neue institutionelle und strukturelle Arrangements in Teilen überwunden werden können. Denn die notwendige sozialräumliche Öffnung von Schulen impliziert die Forderung nach wirksamen Kooperationsbeziehungen von Akteuren, die anderen gesetzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen folgen und somit anderen Funktions- und Handlungslogiken ausgesetzt sind. Im Hinblick auf die Einbindung von Schulen in sozialräumliche Kooperationsprozesse ist dies evident: Die Institutionen der Jugendhilfe und die Schule weisen einen unterschiedlichen ’locus of control’ auf. Liegen Entscheidungen über die Arbeitsinhalte von Schulakteur/innen politisch auf der Landesebene, so ist das lokale Handeln von Trägern der Jugendhilfe durch das kommunale Jugendamt bzw. das beschlussfassende Organ des Jugendhilfeausschusses bestimmt und wird durch die gesetzlichen Regelungen des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) gerahmt. Eine sozialräumliche Öffnung der Schule wird erschwert, weil die Art der sozialräumlichen Einbettung der Schulen von den zuständigen Entscheidungsträgern auf der jeweiligen Landesebene nicht berücksichtigt wird. Der kommunale Jugendhilfeausschuss, der über etwaige Kooperationsvereinbarungen zwischen Jugendhilfe und Schule „vor Ort“ zu befinden hat und somit eine sozialräumliche Öffnung befördern könnte, kann die Schulen als Institutionen aber gar nicht ansteuern, d.h. für sie keine verbindlichen Entscheidungen treffen. Dies ist ein Punkt, der bei der Suche nach Problemlösungen für eine verstärkte und auf Dauer gestellte Kooperation von Jugendhilfe und Schule oft vernachlässigt wird. Lösungsvorschläge besitzen daher geradezu einen Appell-
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charakter an das Engagement der verantwortlichen Personen auf beiden Seiten (vgl. Rhiemeier 2006, Burchardt 2006). Das Miteinander von Schulen und außerschulischen Partnern ist vielfach abhängig von den Personen, die aus unterschiedlichen Gründen über entsprechende individuelle Ressourcen verfügen; es stellt keine normale und strukturell verankerte Verfahrensweise bei der Regelung kommunaler Angelegenheiten in diesem Bereich dar. Um Kooperationsstrukturen nachhaltiger zu gestalten, müssen institutionelle Strukturen auf der kommunalen Ebene entstehen, die Kooperationen von Schulen mit außerschulischen Partnern ermöglichen und nicht behindern, d. h. Strukturen, die zwar von Personen getragen werden, aber nicht vom Engagement Einzelner existenziell abhängig sind. Vor dem Hintergrund der beschriebenen strukturellen Grenzen der Einflussnahme der Kommune in diesem Bereich muss gefragt werden, welche Möglichkeiten überhaupt bestehen, das lokale Schul- und Bildungswesen zu beeinflussen. Anders gefragt: Wie kann die Institution Schule in kommunale Steuerungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden werden? Wie können die passenden Voraussetzungen für eine kontinuierliche Kooperation von Schulen mit ihren außerschulischen Partnern geschaffen werden?
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Theoretischer und analytischer Kontext
Um diese Fragen beantworten zu können, ist eine übergreifende Perspektive auf die Verfahren und Strukturen, in denen die beteiligten Akteure agieren, notwendig. Diese Perspektive wird durch die Anwendung von Governance-Konzepten möglich (vgl. Mayntz 2005, Benz 2004, Fürst/Zimmermann 2005, Schuppert 2005). Sie beinhaltet einen erweiterten Steuerungsbegriff, der von dem akteurtheoretisch geprägten Begriff abweicht und die klassische Subjekt-ObjektPerspektive aufgibt (vgl. dazu: Lange/Braun 2000). Die Governance-Diskussion trägt der Tatsache Rechnung, dass die Zahl der an Entscheidungsprozessen mitwirkenden Akteure auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen zunimmt und diese nicht mehr hierarchisch, d.h. „top down“ steuerbar sind. Die Anwendung der Governanceperspektive für den Bereich Schule und Bildung auf der kommunalen Ebene ist durch den dort anzutreffenden Einfluss unterschiedlicher politischer Entscheidungsträger und getrennter Zuständigkeiten naheliegend. Diese Konstellation erfordert nicht nur eine veränderte Analyseperspektive im Sinne von Governance, sondern auch einen erweiterten Steuerungsbegriff (Benz 2004).
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In der vorliegenden Verwendung des Governance-Konzeptes als Steuerungsmodus (vgl. Burchardt etal. 2007; Burchardt/Förster 2005) stehen somit die Organisation und Regelung von Verfahren, Prozessen und Strategien zur Ermöglichung von Steuerung im Sinne der Leistungserbringung im Mittelpunkt. Diese Perspektive erlaubt es, die Akteure und Institutionen auf den verschiedenen politischen Entscheidungsebenen, die zunehmend als Adressaten politischer Steuerung in Entscheidungsprozesse eingebunden sind, zu erfassen. Die Adressaten bringen ihre kollektiven Interessen in diese Prozesse ein und beeinflussen sie im Zweifelsfall nicht unwesentlich. Dadurch entstehen neue Steuerungs- und Regelungsstrukturen. Governance-Strukturen sind charakteristische Ausprägungen dieser veränderten Steuerungs- und Regelungsstrukturen und durch folgende Merkmale gekennzeichnet (vgl. Benz 2004, Burchardt/Förster 2005):
Abnehmende Bedeutung hierarchischer Strukturen/ Dezentralisierung, sektorübergreifende Ämterkooperation, Steuerung als Prozess der Interaktion zwischen kollektiven Akteuren, Kooperation von staatlichen, privaten und gesellschaftlichen Akteuren in netzwerkartigen Strukturen, gegenseitige Interessenbefriedigung bei der Umsetzung von verbindlichen Entscheidungen, Verständigung über gemeinsame Problemdefinitionen und Handlungsziele.
Das konkrete Akteurshandeln wird in dieser Perspektive in Bezug auf strukturierende Wirkungen – Institutionalisierung neuer Verfahren, Handlungen im Sinne der Etablierung neuer Interaktionsformen, wie z.B. Kooperation, Verhandlung und Vernetzung – betrachtet. Der handelnde Akteur, ob nun der freie Träger der Jugendhilfe, der/die Verwaltungsangestellte in Schul,- Sozial- oder Jugendamt, der/die Schulleiter/in, Lehrer/in oder andere lokale Akteure, agieren gemäß dieser Betrachtungsweise innerhalb institutioneller Grenzen und prägen als Individuen mit entsprechenden Motivationen, Interessen und Einstellungen die jeweiligen Handlungen. Wesentlich für die Analyse kommunaler Steuerungsmechanismen ist die Betrachtung der Ergebnisse dieser individuellen Handlungen als Merkmal und Bestandteil einer Struktur, in unserem Falle eines spezifischen kommunalen Steuerungsmodus (vgl. das Konzept des akteurszentrierten Institutionalismus bei Mayntz/Scharpf 1995). Die Annahme ist, dass kommunale Steuerungsmodi im Sinne von Governance eine sozialräumliche Öffnung von Schulen in „sozialen Brennpunkten“ befördern und entsprechende konkrete Handlungserfolge im kommunalen Schul- und Bildungsbereich nach sich ziehen und damit die Lebens- und Bil-
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dungsbedingungen für Kinder und Jugendliche in „sozialen Brennpunkten“ positiv beeinflussen können. Um zu ermitteln, ob die Steuerungsprozesse in den Kommunen im Bereich von Schule und Bildung Governance-Merkmale aufweisen, wurden auf der Grundlage der Leitfadeninterviews explorativ Kriterien und Indikatoren entwickelt, die dann in einer quantitativen Erhebung in den Kommunen geprüft wurden. Ein zentraler Punkt war dabei, die strukturelle Asymmetrie zwischen der Institution Schule und den kommunal angebundenen Institutionen bei der Kriterienentwicklung zu beachten. Diese ergibt sich aus der politischen Zuordnung der Schulen zur jeweiligen Landesebene und den unterschiedlichen Funktionsund Handlungslogiken zwischen Schulen und kommunalen Akteuren. Durch die Etablierung von Vermittlungsstrukturen ist es grundsätzlich möglich, Handlungssysteme, die unterschiedlichen Funktionslogiken unterliegen, strukturell so miteinander zu verbinden, dass gegenseitige Kommunikation im Sinne gemeinsamer Problemdefinitionen und kooperatives Handeln im Sinne gemeinsamer Problemlösungen verbessert werden (vgl. grundlegend: Schmitter/Lehmbruch 1979). Unter Berücksichtigung der vorher angestellten Überlegungen kann das Vorhandensein eines Vermittlungsgremiums, einer Vermittlungsstruktur zur Ermöglichung einer besseren Kooperation, bspw. zwischen den Trägern der Jugendhilfe sowie der Schule, bereits als Indikator für kommunale Governance angesehen werden, da über derartige Vermittlungsstrukturen verhandlungsförmige und von hierarchischen Beziehungen entkoppelte Verfahren und Kooperationen möglich werden. Ein Kriterium für die Identifizierung von Governance-Strukturen im Bereich Schule und Bildung ist demnach das Eingebundensein von Schulvertreter/innen in kommunale Netzwerke und Gremien und eine Zusammenarbeit mit anderen kommunalen Akteuren. Weitere Kriterien beziehen sich auf die Art und Weise der Bearbeitung des Themas Schule und Bildung in der Kommune: Wird es ressortübergreifend bearbeitet? Sind Schulen aktive Kooperationspartner der Kommune? Werden Schulen als institutionelle Ressource für die Stadtteilentwicklung, insbesondere in „sozialen Brennpunkten“, betrachtet? Entscheidend ist z.B. ob die Schulentwicklungsplanung Teil der Stadtentwicklungsplanung und somit erkennbar ist, ob eine integrierte Bearbeitung von Problemen stattfindet.
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Susann Burchardt Empirische Befunde
4.1 Qualitative Befunde Die Auswertung der qualitativen Leitfadeninterviews hat verdeutlicht, dass es große Unterschiede in den Modellstandorten im Hinblick auf die Einbindung von Schulen in kommunale Steuerungsprozesse gibt. Im Folgenden werden zwei typische lokale Steuerungsprofile dargestellt, die im Spektrum der vorgefundenen kommunalen Steuerungsmuster die jeweiligen Extreme darstellen. Dabei werden die jeweils bestimmenden Merkmale qualifiziert und konkret aufgezeigt.
4.1.1 Standort A Dieser Typ ist durch zumeist fehlende Ansätze einer sozialraum-orientierten, kooperativen und netzwerk-bezogenen Steuerung im Bereich Jugendhilfe und Schule gekennzeichnet. Einer der wesentlichen Gründe, dass die Einbindung an diesem Standort nicht gelingt, ist der Bezug der Entscheidungsträger auf traditionelle Steuerungsverfahren, innerhalb derer der schulische Bildungsbereich nicht dem kommunalen Aufgabenspektrum zugeordnet wird. Die Realschule an Standort A stand zum Zeitpunkt der Untersuchung vor der drohenden Schließung, obwohl zum Beginn des Schuljahres 2004/2005 die Klassenstufe 7 hätte dreizügig eröffnet werden können. Um die Schließung abzuwenden, war der Förderverein des Stadtteils, in dem ca. 60 Personen, Initiativen und Vereine vernetzt waren, sehr aktiv: Er organisierte z.B. Demonstrationen zum Schulerhalt. Die Schule selbst hat sich dabei aber zurückhaltend gezeigt, was mit dem Status der Lehrerschaft als Landesbedienstete und dem damit einhergehenden Demonstrationsverbot zu erklären ist. Abgesehen davon, wurde das Potenzial an Trägern, wie es sich im Förderverein des Stadtteils zusammenfand, nicht für den Schulerhalt oder anderweitige Möglichkeiten einer Kooperation mit außerschulischen Akteur/innen wahrgenommen. Die fehlende Zusammenarbeit wurde seitens der Schule damit begründet, dass zuviel geredet und zu wenig getan werde. Aus der Standortuntersuchung war bekannt, dass der Verein, der im Rahmen der Programme „Soziale Stadt“ und „Lokales Kapital“ für soziale Zwecke (hier als Begleitausschuss) über Handlungsfreiheiten und finanzielle Mittel verfügte, trotz der Trägervielfalt durch kommunale Vertreter dominiert wurde. Diese trafen Entscheidungen ohne die Mitglieder des Vereins einzubeziehen. Nicht nur in Gesprächen mit den Schulvertreter/innen, sondern
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auch mit vor Ort tätigen Trägern wurde deutlich, dass die kommunalpolitisch dominierten Entscheidungsverfahren im Verein dazu geführt hatten, dass er bei mehreren Akteuren im Stadtteil nicht als ernstzunehmendes Gremium zur Durchsetzung spezifischer Stadtteilinteressen wahrgenommen wurde. Die mangelnde Einbindung der Schule in stadtteilrelevante Kooperationsprozesse lag nicht an mangelnder Kooperationsbereitschaft oder ausgeprägter Zurückhaltung der Schule. Diese zeigte durchaus Kooperationsbereitschaft und Öffnungswillen. Es wurden allerdings Kooperationen mit Trägern eingegangen, die nicht im Stadtteil, ja nicht einmal in der Kommune tätig waren. Die Kooperationsbereitschaft der Schule, der große Problemdruck und die dennoch nicht stattfindende Zusammenarbeit mit dem Stadtteilverein und den darin vernetzten Trägern konnten zweierlei bedeuten:
Entweder wurde die Schulentwicklung im Stadtteil durch die vorhandenen Akteure nicht entsprechend priorisiert, so dass eine aktive Einbindung nicht notwendig erschien und auch nicht stattfand; oder die betonte Kooperationsbereitschaft der Schule stellte lediglich ein Lippenbekenntnis dar.
Beide Argumente scheinen aber nicht stichhaltig, wenn man die durch den Förderverein veranstalteten Protestaktionen zum Erhalt der Schule sowie die Zusammenarbeit mit anderen außerschulischen Akteuren bedenkt. Eher scheint der Förderverein, trotz seiner Protestaktionen, nicht der richtige Ansprechpartner für die Schule gewesen zu sein. Dies wird u.a. daran deutlich, dass der Schulvertreter sich nach anfänglicher Teilnahme an den Vereinssitzungen wieder zurückgezogen hat. Weitere Gespräche zum Erhalt der Schule wurden nur noch direkt 23 mit der Oberbürgermeisterin geführt . Die Ressourcen für eine positive Stadtteilentwicklung sind an Standort A also nicht kooperativ miteinander verbunden, was eine problemadäquate Arbeit erschwert und den Akteur Schule bei der Umsetzung verschiedener Stadtteilprojekte in diesem Stadtteil ausgeschlossen hat. Die Jugendamtsleitung benannte eine der wesentlichen Ursachen wie folgt: „…einfach weil jeder sein eigenes Süppchen kocht, und weil Jugendhilfe eben Jugendhilfe ist, das heißt kommunal angebunden und weil die Schule nur zu einem Teil, nämlich in Bezug auf die Schulverwaltung kommunal ist, alles andere aber auch staatlich, also durch das staatliche Schulamt bedingt ist“.
23 Die Schule wurde mittlerweile geschlossen, stattdessen aber ein Gymnasium außerhalb des Standortes eröffnet.
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Auf Seiten der Kommune war zudem eine ambivalente Haltung gegenüber der Schulentwicklung im Stadtteil festzustellen. Es wurden zwar strukturelle Anreize - z.B. die Aufhebung der Grundschulbezirke – diskutiert, die dazu führen sollten, dass sich die Schulen konzeptionell zu verändern und zu profilieren hätten, aber es gab keine gemeinsam entwickelten Vorstellungen, welche Konzepte integrativ für die Entwicklung des Stadtteils – unter der Maßgabe, auch die Schulstandorte zu sichern – sein könnten. Hinzu kamen die Entscheidungsverfahren innerhalb des Fördervereins, die verwaltungsdominiert und intransparent waren. Diese Entscheidungsstrukturen führten in Standort A dazu, dass die Kooperationsbemühungen die Akteure der Schule überforderten. Zusätzliche Kooperationsaufgaben konnten durch Lehrkörper und Schulleitung nicht erbracht werden, weil deren vorrangiges Ziel darin bestand, den normalen Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. Die Schule begab sich alleine auf die Suche nach Partnern, die eine „unkompliziertere“ Zusammenarbeit versprachen. So kam es lediglich zu punktuellen Kooperationen, eng begrenzt auf konkrete Problemfälle, die es zu bearbeiten galt. Eine Stärkung der Institution Schule als Ressource im Stadtteil ist auf diesem Wege nicht gelungen.
4.1.2 Standort B Dieser Typ entspricht dem berühmten „Leuchtturm“. Er repräsentiert im Rahmen der untersuchten Standorte eine Kommune, in der es offenbar gelungen ist, Schulen in kooperative Verfahren der Entscheidungsfindung und kommunaler Steuerung einzubinden. Warum war es hier möglich, über Bundes- oder Landesförderungen hinaus, finanzielle Mittel für eine integrierte Schulentwicklung für den „sozialen Brennpunkt“ bereitzustellen, obwohl ansonsten eine finanziell ähnliche Ausstattung wie in anderen Kommunen bestand, in denen solche Projekte nicht realisiert wurden? Was waren die entscheidenden Punkte und Aspekte des Erfolgs im Vergleich insbesondere zu Standort A? Zunächst stellte sich Standort B anders dar, was die Schulsituation betraf, denn es gab im „sozialen Brennpunkt“ keine Schule. Zwei Schulen am Rande des Stadtteils standen zur Verfügung, erwiesen sich aber nicht als ausreichend für die Aufnahme der Kinder aus dem fraglichen Stadtteil. Mit einem politischen Wechsel im Jahr 2002 und im Rahmen der Umsetzung des Programms „Soziale Stadt“ wurden am Standort B konzeptionelle Überlegungen in Gang gesetzt, einen Schulneubau zu errichten und die beiden außerhalb des Gebietes liegenden Schulen gezielt für eine integrative Stadtteilentwicklung zu nutzen. In den Gesprächen mit den zuständigen Kommunalvertreter/innen, Jugendhilfeträ-
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gern und Schulakteur/innen wurde deutlich, dass dem Thema Bildung und Schulen gesamtkommunal eine im Vergleich zu Standort A wesentlich höhere Priorität zukam. Eine der Leitaussagen der stattfindenden kommunalpolitischen Debatte war dabei, dass der „Rohstoff Bildung“ gerade für die Kinder und Jugendlichen im „sozialen Brennpunkt“ nahe liegen muss, und zwar nicht nur im Sinne kürzerer Schulwege. Kinder am Standort B dürften demnach bei den Bildungschancen gegenüber den Kindern aus den anderen Stadtteilen – mangels einer eigenen Schule – nicht benachteiligt sein. Die vorhandene Tradition der Einbindung gesellschaftlicher Akteure in kommunale Steuerungsprozesse, die sich darin widerspiegelt, dass die Schulen in einer Reihe von Stadtteilarbeitskreisen dauerhaft vertreten waren und so Einfluss auf die Stadtteil- und Schulentwicklung nehmen konnten, da eine enge Verbindung zur Stadtratsebene realisiert wurde, setzte sich im Verfahren zur Konzeption der Stadtteilschule fort. So wurde ein ressourcenstarker Akteur gewonnen: die städtische Wohnungsbaugesellschaft. Mit ihr wurde eine öffentliche Nutzung eines Karrees von nicht mehr sanierungsfähigen Altbauwohnungen ausgehandelt. Probleme traten hinsichtlich der Festlegung des Einzugsgebietes für die neue Schule sowie im Hinblick auf latent vorhandenes Misstrauen der innerschulischen Kräfte gegenüber der Öffnung der Institution Schule für externe Kultur- Bildungs- und Begegnungsangebote auf, vor allem wegen des Koordinierungsaufwands mit unterschiedlichen Nutzern der geplanten Schule. Hier galt es in Gesprächen mit allen Beteiligten die Idee eines integrierten Angebotes, welches über die reinen Schulaufgaben hinaus geht, nachdrücklich zu vermitteln. Die Vorstellungen der Kommune waren hier eindeutig durch ein bildungspolitisches Leitbild geprägt, welches über ein klassisches Bildungsverständnis hinausgeht und Schule in einem Setting verschiedener Angebote und Lernorte betrachtet. Hinzu kam, dass es ganz eindeutig ebenfalls darum ging, einen sozial und strukturell benachteiligten Stadtteil durch ein derartiges Unterfangen aufzuwerten. In die Verhandlungen waren Schule, Stadtteilbewohner/innen und freie Träger, Stadtregierung – insbesondere das Jugend- und Sozialreferat – die Bezirksregierung und das staatliche Schulamt sowie die öffentliche Jugendhilfe einbezogen. Die Verhandlungen erbrachten die einvernehmliche Lösung, die Einzugsbereiche der am Rande des Quartiers liegenden Schulen neu und wohnortnäher zu ordnen. Auch konnte die Idee, die Schule als „Zentrum für Bildung und soziale Kultur“ im Stadtteil zu konzipieren, die anfängliche Skepsis bei allen Beteiligten überwinden. Diese Skepsis resultierte zum einen aus dem bereits genannten hohen Koordinierungsaufwand im gesamten Planungs- und Umsetzungsprozess. Jede neue Kooperation kostet zunächst einmal Ressourcen
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personeller und auch materieller Art. Ressourcen, die z.B. bei Trägern der Jugendhilfe aber auch auf Seiten der Schulverantwortlichen nicht in jedem Falle vorhanden sind, insbesondere in Stadtteilen, die als benachteiligte Quartiere bzw. soziale Brennpunkte charakterisiert werden können. Ein positiver Ausgang der Gespräche und Verhandlungen war nur möglich, weil es eine klare kommunalpolitische Priorisierung dieses Projektes durch ein entsprechendes Leitbild gab und der Entscheidungsprozess konsequent partizipativ gestaltet wurde. Die Finanzlage der Stadt, die ihren kommunalen Anteil am Schulneubau von ca. 5 Mio. Euro eigentlich nicht verkraftet hätte, war letztlich kein Hinderungsgrund zur Durchsetzung des Schulprojekts. Auch in diesem Punkt bewährten sich die etablierten Partizipationsstrukturen, die in Verbindung mit der klar formulierten kommunalpolitischen Priorisierung des Bildungsthemas zu guten Ergebnissen führten. Während der Finanzierungsverhandlungen erfolgten parallel die Vorbereitungen für die Organisationsstruktur der künftigen Schule. In Hinblick auf die Vergabe der Hortträgerschaft ganztägiger Angebote und integrierter Stadtteilmaßnahmen wurde engagierten Organisationen aus dem Stadtteilnetzwerk der Vorrang gegeben. Des Weiteren wurde ein Modell für die Kooperation von Schule und außerschulischen Partnern erarbeitet, um die Kooperationsbeziehungen langfristig und nachhaltig zu gestalten. Im Ergebnis bot sich uns ein Bild, in dem die Schulentwicklung in die strategische Stadtteilentwicklung einbezogen war und so über die reine schulische Einrichtung hinaus ein integrierter Bildungsort für die im Stadtteil befindlichen Kinder und Jugendlichen realisiert wurde. Diese integrierte Einrichtung versprach aus Sicht der am Planungs- und Umsetzungsprozess beteiligten Personen und Institutionen genügend inhaltliche und organisatorische Flexibilität, um sich den speziellen Lern- und Lebensbedingungen in einem benachteiligten Stadtteil anzupassen, wie sie in Abschnitt 2 ausführlich dargestellt wurden. Die wesentlichen Unterschiede in den kommunalen Steuerungsstrukturen des Standorts B im Vergleich zum Standort A lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Das vorhandene Stadtteilnetzwerk aus Trägern, Vereinen und Initiativen ist in die kommunalen, stadtteilbezogenen Entscheidungsprozesse einbezogen, und die Schulen sind Bestandteil dieses Netzwerkes; die Kommunalpolitik hat übergreifende Arbeits- und Kommunikationsstrukturen im Stadtteil und auf Ämterebene etabliert, die einen kontinuierlichen Austausch der auch an Standort B nicht immer übereinstimmenden
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Perspektiven der beteiligten Akteure und somit von allen getragene Beschlüsse ermöglichte; Dieser Arbeit ging die kommunalpolitische Priorisierung des Themas „Schule und Bildung“ voraus. Das ermöglichte spezielle finanzielle Wege und Konzeptionen, die ohne die Priorisierung nicht möglich gewesen wären.
Das Beispiel des Standorts B verdeutlicht, dass schulische Ressourcen in kommunalen Steuerungsprozessen unter Einbezug relevanter politischadministrativer und gesellschaftlicher Akteure im Umgang mit individuellen Benachteiligungen zum Tragen kommen können. Und zwar ist dies dann möglich, wenn maßgebliche Veränderungen bei der Gestaltung kommunaler Verfahren und Entscheidungsprozesse erfolgen. Dabei können die Spielräume, die die landesgesetzlichen Regelungen für die kommunalen Akteure und Schulen in ihren Kooperationsbemühungen bieten, konkret ausgenutzt sowie eigene Veränderungspotenziale erschlossen werden.
4.2 Quantitative Befunde Die Identifizierung und Qualifizierung verschiedener Typen von SchulGovernance bildete die Basis für die Entwicklung der quantitativen Erhebungsinstrumente, anhand derer geprüft wurde, welche Muster von Steuerungsmodi sich in allen E&C-Standorten darstellen lassen und welchen Einfluss eine lokale Steuerung nach Governance-Prinzipien auf die Kooperationspraxis der Schulen in den E&C-Standorten hat. Es wurde betrachtet, in welchen Bereichen und in welchem Umfang Schulen eine Einbindung durch die Kommune zuteil wird. Dass Schulen im Stadtteil eine besondere Bedeutung besitzen, gaben jeweils über drei Viertel der befragten Vertreter/innen der freien Träger sowie des Quartiermanagements an. Die folgende Abbildung stellt die Felder dieser Einbeziehung dar, die die befragten Schulleiter/innen nannten. Es wird ersichtlich, dass in erster Linie punktuelle Aspekte der Einbindung dominierten, wie Stadtteilfeste, Aktionswochen und Projekte. In strategische Prozesse hingegen, wie die Stadt- und Schulentwicklungsplanung, war nur eine Minderheit der Schulen einbezogen.
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Dies deutet darauf hin, dass Schulen vorrangig als Partner der Umsetzung, weniger als Partner der Gestaltung kommunaler Entwicklungen angesehen werden. Darüber hinaus ist der Bereich "Schule, Bildung und Kultur" nur in etwa jeder dritten Kommune (35%) Gegenstand strategischer Zielvereinbarungen. Bildungspolitische Politikfelder, anders als z.B. sozialpolitische (57%), werden seltener als Kernbereiche kommunaler Steuerung wahrgenommen. 80
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Abbildung 4:
Bereiche der Einbeziehung von Schulen durch die Kommune (in Prozent)
Aufgrund der föderalen Zuständigkeiten im Bildungsbereich ist dieser Befund nicht ungewöhnlich. Es ist eher zu hinterfragen, unter welchen Umständen bildungspolitische Politikfelder in etwa jeder dritten Kommune die befragt wurde, trotzdem Gegenstand strategischer Zielvereinbarungen sind oder gar – wie für den Standort B ausführlich berichtet, tatsächlich Kern und Leitbild kommunaler Entwicklungen. Aus verschiedenen Aspekten der Einbeziehung von Schulen und kommunalpolitischer Steuerung wurde ein Governance-Index für diesen Policy-Bereich erstellt. Darin sind Aspekte der ressortübergreifenden Abstimmung von Schulund Bildungsfragen und der Beteiligung von Schulen an kommunalen Planungs-
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und Entscheidungsprozessen durch die Kommune eingeflossen – Merkmale, von denen anzunehmen ist, dass sie die notwendige Kooperation von Schulen mit außerschulischen Partnern befördern. Aus den Angaben zur Kooperationspraxis der Schulen in den E&C-Standorten wurde ein entsprechender Kooperationsindex gebildet. Zudem wurden Daten der amtlichen Statistik herangezogen, um verschiedene sozioökonomische Merkmale und deren Einfluss abbilden zu können. So konnte z.B. festgestellt werden, dass Governance im Politikfeld "Bildung", ein typisches Phänomen von Mittelstädten ist. Darin mag sich womöglich ein strukturelles Optimum der Mittelstädte in Bezug auf das Vorhandensein und die Einbindung etablierter gesellschaftlicher Interessen widerspiegeln. Es zeigte sich auch, dass diese Form der Steuerung tendenziell in solchen Kommunen auftrat, die eine höhere Migrationsquote in der Bevölkerung aufwiesen. Möglicherweise werden klassische „Top-Down“-Strategien gerade dort erfolgreich durch neue, partizipative Steuerungsmodelle abgelöst, wo die Integrationsanforderungen gesellschaftlicher Akteure an die Kommunalpolitik besonders hoch sind. Welchen Einfluss üben nun lokale Steuerungsstrategien auf die Kooperationspraxis zwischen Schulen und außerschulischen Partnern aus? Es ist festzuhalten, dass das Ausmaß der eingangs dargestellten Kooperationsbeziehungen (vgl. Abb. 1) zwischen den Schulen und ihren Partner/innen im Stadtteil neben den beiden oben erwähnten Bedingungsfaktoren erheblich von den in der Kommune vorhandenen Governance-Strukturen im Bereich Bildung profitiert. Typische Governance-Kommunen weisen wesentlich engere Formen der Zusammenarbeit in diesem Feld auf, weil diese strukturell von der Kommune initiiert und institutionalisiert werden. Dies ist als direkter Zusammenhang ablesbar. Außerdem werden schulbezogene Kooperationen in jenen GovernanceKommunen indirekt über eine Förderung von Ganztagsschulen vermittelt, welche wiederum in der Regel eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit außerschulischen Akteuren betreiben (vgl. Behr-Heintze/Lipski 2005). Auch kann gezeigt werden, dass eine intensive Kooperation der Schule mit externen Partnern letztlich den Adressaten, also den betroffenen Schüler/innen, zugute kommt. Zur Messung dieses Effekts wurde als harter Indikator der Anteil eines Jahrgangs herangezogen, der die „Brennpunktschule“ ohne Schulabschluss verließ. Im Durchschnitt lag dieser Wert bei ca. 7 Prozent. Schulen, die eine intensive Kooperationspraxis aufwiesen, hatten deutlich geringere Schulabbrecherquoten. Die bisher dargelegten Zusammenhänge können vereinfacht in folgendem Wirkungsmodell nachgezeichnet werden.
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MigrantenAnteil
Governance
Mittelstadt Positiver Zusam menhang
Abbildung 5:
Migrantenanteil der Schule
Ganztagsschule
Intensität Kooperationspraxis
Schlabbruchquote
Negativer Zusammenhang
Wirkungsmodell kommunaler Governancestrukturen
Die Kooperationspraxis kann somit als intervenierende Variable zwischen dem Auftreten von Governance-Strukturen und der Verbesserung der unmittelbaren Lebenssituation der Jugendlichen in der Schule gelten.
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Fazit
Kommunale Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Schulbereich sind stark von den schulgesetzlichen Regelungen der jeweiligen Bundesländer geprägt. Diese stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen die kommunalen Akteure und die Schulen gemeinsam aktiv werden können. Die referierten qualitativen und quantitativen Befunde verdeutlichen, dass kommunale, sektoren-übergreifende und kooperative Steuerungsmechanismen im Sinne von Governance – vermittelt über eine ungleich höher ausgeprägte Kooperationspraxis im Schulbereich – konkrete positive Auswirkungen auf die
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Bildungs- und Lernchancen der Kinder und Jugendlichen in den „sozialen Brennpunkten“ der Kommunen haben. Governance-Mechanismen befördern Strukturen, die eine kontinuierliche Zusammenarbeit von Schulen und außerschulischen Akteuren im Sozialraum gewährleisten, da sie eine Art Kontext- bzw. Struktursteuerung darstellen. Diese zeichnet sich vor allen Dingen dadurch aus, dass die eigentlichen Steuerungsadressaten Bestandteil des Steuerungsprozesses sind. Konkret bedeutet das: Schulen bzw. Schulakteure sind partizipativ in kommunale und stadtteilbezogene Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Ergebnisse zeigen, dass wichtige Bestandteile dieses Steuerungsmodus inhaltlich übergreifende Arbeitsstrukturen sind, wie z.B. inter-institutionell zusammengesetzte Lenkungsgruppen auf Dezernats- und/oder Amtsleitungsebene unter Beteiligung aller relevanten Ämter bzw. Ämternetzwerke; weiterhin intermediäre Instanzen zur Sicherstellung effektiver Kommunikationsstrukturen zwischen den beteiligten Institutionen. Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse wird deutlich, dass Governance-Mechanismen in kommunalen Steuerungs- und Entscheidungsprozessen eine Integration kommunaler Planungen unter Einbezug der staatlichen schulischen Ebenen sowie eine sinnvolle, den lokalen Gegebenheiten angepasste, stadtteilorientierte Verknüpfung der Institution Schule mit anderen Bildungsund Lernorten ermöglichen können. Die dargestellten empirischen Hinweise können als Anhaltspunkte für relevante Zusammenhänge gewertet und interpretiert werden. Weitere empirische Analysen sind in diesem Feld allerdings notwendig. Eine „Umsteuerung“ im Sinne kommunaler Governance setzt ein hohes Maß an Einigkeit in der Kommune über den hohen Stellenwert von Bildung in unserer Gesellschaft voraus sowie das Bewusstsein der Verantwortung, die auch Kommunen für die Gestaltung von Schul- und Bildungsentwicklungen – vor allen Dingen für Kinder und Jugendliche in „sozialen Brennpunkten“ – haben. Hier könnten Veränderungsprozesse in Gang gesetzt werden, die dazu führen, dass das Miteinander von Schulen und außerschulischen Partner/innen nicht eine anstrengende Ausnahme ist, sondern zur normalen Verfahrensweise bei der Regelung kommunaler Angelegenheiten in diesem Bereich wird.
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II. Gute Schulen: Perspektiven und Ansätze
Ursprünglich für die Schwachen Die Schulen der klassischen Reformpädagogik – was sie waren und was aus ihnen geworden ist Heiner Ullrich
Gemeinhin bezeichnet man als „Reformpädagogik“ (Neue Erziehung, Education Nouvelle, Nuova Educazione, Progressive Education etc.) die von kulturund gesellschaftskritischen Motiven inspirierten, gegen die Schwächen des verstaatlichten Bildungssystems und die Zwänge der bürgerlichen Erziehungspraxis protestierenden pädagogischen Reformgruppen, Programme und Initiativen in Europa und Nordamerika im Zeitraum von etwa 1890 bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Während der Reformpädagogik in Deutschland schon 1933 offiziell ein abruptes Ende gesetzt wurde, löste sich die amerikanische Progressive Education Association erst im Jahre 1955 selber auf. In der jüngeren Fachliteratur wird dieser geschichtliche Komplex als „klassische“ Reformpädagogik bezeichnet und von einer „neuen“ Reformpädagogik abgegrenzt, welche im Gefolge der radikalen Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre in den modernen westlichen Gesellschaften entstanden ist (vgl. Flitner 1990; Skiera 2003; Oelkers 2004)24. Es ist schon mehrfach versucht worden, als den einheitsstiftenden Kern der klassischen Reformpädagogik einen spezifischen Typus reformpädagogischen Denkens – in bewusster Kontrastierung etwa zum Typus konservativen Erziehungsdenkens – historisch zu rechtfertigen und systematisch zu explizieren (vgl. dazu u.a. Tenorth 1989: 127 u.131; Röhrs 1994: 11ff; Flitner 1999, Kap. 11; Skiera 2003: 22ff; Baader 2006). Eine tiefer gehende ideengeschichtliche Analyse (vgl. Ullrich 1999) legt es nahe, diesen reformpädagogischen „sensus communis“ als ein Gefüge aus mehreren Ebenen zu begreifen: (1.) Das Fundament bildet eine positive Anthropolo24
In dieses Umfeld gehören hierzulande vor allem die aus basisdemokratischen, pazifistischen und ökologischen Impulsen hervorgegangenen Kinderläden und Freien Alternativschulen. Die „neue“ Reformpädagogik unterscheidet sich von der „klassischen“ vor allem durch (1.) eine multipersonale Urheberschaft, (2.) eine eher sozialisationstheoretische als anthropologische Fundierung, (3.) eine größere konzeptionelle Flexibilität, (4.) eine stärkere Elternpartizipation und (5.) eine eher urbane als naturhafte Ausrichtung der Lernumgebung (vgl. Göhlich 1998) und (6.) ihren Ursprung in bildungsbürgerlich-postmateriellen sozialen Milieus.
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gie des Kindes und des Jugendlichen, in welcher der Heranwachsende als ursprünglich schöpferische Individualität vorgestellt wird. (2.) Darauf baut sich als zweite Ebene eine Vorstellung von der pädagogischen Beziehung auf, welche – um den Edukanden in seinem Eigenwert verstehen und anerkennen zu können – von einem „geborenen Erzieher“ als Dialog, Begegnung, als erfüllte Gegenwart gestaltet werden soll. (3.) Für das Unterrichten resultiert daraus eine Methode des Lehrens und Lernens, die zugunsten der Selbsttätigkeit und des vielfältigen Ausdrucks der Schüler nicht systematisch, sondern „genetisch“ vom ursprünglichen Verstehen zum exakten Denken führt. (4.) Die Schule fungiert nicht mehr nur als Organisation des Lernens, sondern wird zum Lebensraum der Kinder. Sie begreift sich selbst als familienähnliche Lebensform, als Gemeinschaft gleicher pädagogischer Orientierung, in der das Unterrichten umrahmt wird von einem reichhaltigen Schulleben aus Arbeit, Spiel, Gespräch und Feier. (5.) Die Lerninhalte schließlich werden nicht mehr nur durch den Kanon der Lehrfächer generiert. Sie werden, um subjektrelevante und lebenspraktische Erfahrungen zu ermöglichen, in offenen, überfachlichen Zusammenhängen gesamtunterrichtlich oder projekthaft mit den Schülern erarbeitet. Dieses reformpädagogische Denkmuster begleitet sowohl als kritischer Diskurs wie auch als Reformimpuls die Moderne von Anfang an. Es hat sich mit Rousseau und Herder herausgebildet, bringt mit Fröbels Kindergarten und Tolstojs kurzlebigem Schulexperiment Jasnaja Poljana erste singuläre erziehungspraktischen Realisierungen hervor, ehe es in der klassischen Reformpädagogik Erziehungs- und Schulreformen im internationalen Maßstab generiert, welche uns bis heute begleiten.
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Die sozialistischen25 Anfänge: eine neue Schule für alle Kinder
1.1 Die Schule Maria Montessoris Die bis heute in Deutschland maßgeblichen Schulen (und Vorschulen) der klassischen Reformpädagogik sind – mit Ausnahme der Landerziehungsheime (vgl. Hansen-Schaberg/Schonig 2002, Bd. 2; Skiera 2003: 163ff.) – vorrangig für die benachteiligten Kinder aus den unteren sozialen Schichten gegründet worden. Die italienische Ärztin, Heilpädagogin und Pionierin der Friedens- und Frauenbewegung Maria Montessori (1870-1952) übernimmt im Jahre 1907 in einem 25
Der zukunftsorientierte Bewegungsbegriff „Sozialismus“ wird hier vortheoretisch gebraucht für Ideen, Initiativen und Organisationen, die eine Gesellschaftsordnung herstellen wollen, in der die Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle Gesellschaftsmitglieder realisiert sind.
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sozialen Brennpunkt in Rom die Leitung der neu eingerichteten „Casa dei bambini“, einer Tagesheimstätte zur Erziehung von Vorschulkindern. Die italienische Hauptstadt erlebt zur damaligen Zeit durch den Zuzug zigtausender Landarbeiter einen gewaltigen Bauboom mit gewagten Spekulationsgeschäften. „Geplante Wohnbauten können nicht zu Ende gebaut werden. In den Bauruinen machen sich Kriminalität und Prostitution breit. In San Lorenzo, wo sich diese Entwicklung besonders drastisch vollzieht, werden halbfertige Bauten im Rahmen eines Stadterneuerungskonzeptes notdürftig saniert und den Familien der unteren Schichten zugewiesen. Das Problem ist die Betreuung der noch nicht schulfähigen Kinder, da aus Gründen der Mietsicherung darauf geachtet wird, dass auch die Frauen dieser Familien durch ihre Arbeit zum Unterhalt der Familie beitragen. Die Leitung der Sanierungsgesellschaft (‚Römische Gesellschaft für zweckmäßiges Bauwesen’ – H. U.), eine Gruppe von Bankiers, tritt an Maria Montessori heran mit der Bitte, eine Betreuungsperson zu besorgen. Da Maria Montessori schon lange beabsichtigt, ihre Arbeitsmethode mit Behinderten auf normale Kinder zu übertragen, nimmt sie selbst diese Stelle ein und leitet die erste Casa dei bambini“ (Heiland 1997: 47ff.). Durch ihre professionelle Betreuung können nicht mehr nur die „besseren Kreise“ der Gesellschaft ohne häusliche Belastung und mit ruhigem Gewissen ihrer Arbeit nachgehen, sondern auch die armen Familien des städtischen Proletariats. Für das pädagogische Handeln in der Casa dei bambini erwiesen sich viele Schwierigkeiten vor Ort als produktive Herausforderungen. Da für schulmäßiges Mobiliar die nötigen Geldmittel fehlten, wurden die vorhandenen Tische und Stühle auf kindliche Proportionen zurechtgesägt. „Mit der Beweglichkeit des Mobiliars nahm man spätere flexiblere Einrichtungsformen in Schulräumen vorweg, die durch die Umstellungen jeweils verschiedene Ordnungen für stille Einzelarbeit, Gruppentätigkeiten oder chorische Kreisbildung der ganzen Klasse ermöglichen. Die Vorschulkinder, die sich in den Wohnblocks ‚wie kleine Vandalen’ aufzuführen gewohnt waren, […] mussten also einerseits eine klare, verständliche, sie aus ihrem eigenen Interesse auch bindende Ordnung vorfinden, in der sie andererseits Gelegenheit zur freien Entfaltung ihrer Eigentätigkeit hatten“ (Erlinghagen 1979: 143f.). Das Kinderhaus wird am 6. Januar 1907 – an Epiphanias, dem Fest der Erscheinung des Herrn bzw. der Geburt Christi in der Ostkirche – eingeweiht. Als Motto ihrer Eröffnungsansprache wählt die Christin und Theosophin Maria Montessori ein Bibelzitat das von der Erscheinung der künftigen Herrlichkeit Gottes vor den Heiden spricht26, und verleiht damit ihrer Gründung eines Hauses für Kinder den Rang eines messianischen Heilsgeschehens. Montessori sieht ihr pädagogisches Engagement für die benachteiligten Kinder der Armen 26
„Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!“ (Jesaja Kap. 60)
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zugleich als reformerisches Wirken im Geiste des Sozialismus. Ohne Mitglied der Partei zu sein, fühlt sie sich wie viele andere Intellektuelle ihrer Zeit von der sozialistischen Bewegung und von der Zielsetzung einer Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft im Sinne der drei Leitbegriffe der Französischen Revolution angesprochen (vgl. Böhm 1969: 91). Die erfolgreiche Arbeit mit den römischen Proletarierkindern erregt bald die Aufmerksamkeit von Gleichgesinnten, dann der italienischen und schließlich der Weltöffentlichkeit. Die Casa dei bambini wird zum Mekka von Reformpädagogen aus aller Welt. Es folgen neue Gründungen in Rom und in anderen italienischen Großstädten, dann auch im Ausland. Die „Montessori-Methode“ wird ab 1911 in italienischen und schweizerischen Volksschulen eingeführt; die ersten Montessori-Schulen werden im Jahre 1919 in den Niederlanden gegründet, in Deutschland fünf Jahre später.
1.2 Die Freie Waldorfschule Im gleichen Jahr 1919, als nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs in deutschen Großstädten revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte für eine kurze Zeit die Macht ausübten, eröffnet Rudolf Steiner (1861-1925) für die Kinder der Arbeiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart die „Freie Waldorfschule“ – die erste koedukative Gesamtschule (Einheitliche Volks- und Höhere Schule) in Deutschland. Der promovierte Philosoph, Goetheforscher, Vortragsredner und Begründer der anthroposophischen Weltanschauung (vgl. Ullrich 2008) hatte sich im März 1919 mit einem „Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt“ gewandt, in dem er seine Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus als einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus proklamierte. Die politische Katastrophe, den Kampf der sozialen Klassen und den kulturellen Niedergang in Deutschland führt er zurück auf eine „Verwirrung“ der drei sozialen Systeme des Rechts-, Wirtschafts- und Kulturlebens. Diese können „sich nur dann gesund entwickeln […], wenn ihre je spezifischen Lebensbedingungen zur Geltung kommen. Das Geistesleben kann nur in Freiheit gedeihen, im Rechtsleben muss Gleichheit herrschen, das arbeitsteilige Wirtschaftsleben steht unter der Notwendigkeit brüderlicher Kooperation“ (Lindenberg 2000: 116). Steiner versucht, in der damaligen Auseinandersetzung um die zukünftige Rolle der revolutionären Betriebsräte vor allem in Württemberg die Arbeiterschaft und die Geschäftsführungen mittelständischer Unternehmen durch eine intensive Vortragstätigkeit für sein Konzept eines bürgerlich-genossenschaftlichen Sozialismus zu gewinnen. Nachdem seine „Dreigliederungsbewe-
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gung“ nach wenigen Monaten politisch gescheitert ist, finden seine Ideen nur noch Resonanz innerhalb seiner anthroposophischen Anhängerschaft. Auf Initiative seines langjährigen Anhängers, des Stuttgarter Unternehmers Emil Molt beschließt der Betriebsrat seiner Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik am 23. April 1919, Rudolf Steiner mit der Gründung und Leitung einer Schule für die Kinder der Fabrikarbeiter zu beauftragen. Das damals noch geltende württembergische Privatschulgesetz aus dem Jahre 1836 lässt die Einrichtung einer solchen Fabrikschule zu, für die Molt aus eigener Tasche das Gebäude samt Gelände mitten in Stuttgart besorgt. Steiner stellt im Sommer 1919 das Kollegium seiner neuen Schule aus zwölf jungen anthroposophisch orientierten Menschen zusammen, von denen übrigens nur eine Person ein staatliches Lehramtszeugnis besitzt. Zur Vorbereitung des Kollegiums auf seine neuen Aufgaben hält der pädagogische Autodidakt Steiner einen zweiwöchigen allgemeinpädagogischen und didaktisch-methodischen Einführungskurs, mit dem er zugleich den eigentlichen Grundriss der Waldorfschulpädagogik schafft27. Am 7. September 1919 wird als einziges greifbares Resultat der Dreigliederungsbewegung für 191 Arbeiterkinder und 65 Kinder aus anthroposophischen Elternhäusern die „Freie Waldorfschule“ feierlich eröffnet. In seiner Eröffnungsansprache wendet sich Rudolf Steiner leidenschaftlich an die ersten Praktiker seiner neuen anthroposophischen Pädagogik: „Und ist es nicht schließlich eine höchste heilige, religiöse Verpflichtung, das Göttlich-Geistige, das ja in jedem Menschen, der geboren wird, neu erscheint und sich offenbart, in der Erziehung zu pflegen? Ist dieser Erziehungsdienst nicht religiöser Kult im höchsten Sinne des Wortes? […] Lebendig werdende Wissenschaft! Lebendig werdende Kunst! Lebendig werdende Religion! – das ist schließlich Erziehung, das ist schließlich Unterricht“ (Steiner GA 298: 23, zit. n. Lindenberg 1997: 673f.). Durch diese pathetischen Worte Steiners erhält die Freie Waldorfschule eine kosmisch-universelle spirituelle Sendung. Bis zum Ausbruch seiner schweren Krankheit nimmt er – stets von Dornach bei Basel anreisend – an ca. siebzig Lehrerkonferenzen teil und leitet die Geschicke einer Schule, deren Schülerzahl schnell auf das Dreifache ansteigt. Der Ruf der Schule verbreitet sich schnell, die Zahl ihrer Besucher und Hospitanten steigt an. Bereits im Jahre 1920 wird Steiner veranlasst, vor Schweizer Lehrern seine Pädagogik zu entwickeln. In den folgenden Jahren hält er Kurse in den Niederlanden und in England, wo es im Anschluss daran zur Gründung von Waldorfschulen kommt. Als er im März 1925 mitten in der Arbeit an seiner Autobiographie stirbt, haben neben der Stuttgarter Mutterschule bereits fünf weitere Waldorfschulen ihre Pforten geöff27
Vgl. Steiner, R.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. 1919. GA 293. Dornach 1992; ders.: Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches. 1919. GA 294. Dornach 1990; ders.: Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge. 1919. GA 295. Dornach 1984
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net – drei in Deutschland und je eine in den Niederlanden und in England. Danach folgen viele weitere Schulgründungen in Europa und in Übersee.
1.3 Die Jena-Plan-Schule Im Jahr nach seiner Berufung zum Professor für Erziehungswissenschaft an die Universität Jena eröffnet Peter Petersen (1884-1952) am 14. Mai 1924 die „Universitätsschule Jena“, die zu fast gleichen Teilen von Akademikerkindern und von Kindern der Arbeiter der Zeiss- und Schottwerke besucht wird (vgl. Kluge 2002: 38). Die späterhin „Jena-Plan-Schule“ genannte Versuchsschule umfasst als „freie allgemeine Volksschule“ von der 1. bis zur 10. Klasse alle Schularten in sich und beginnt erst in der 7. Klasse mit der Differenzierung der Schüler nach ihren Leistungen und Begabungen (vgl. Petersen 1927; 1974: 26f.). Der philosophisch-systematisch und psychologisch-empirisch interessierte schleswigsche Bauernsohn Peter Petersen hatte zunächst über den Entwicklungsbegriff Wundts promoviert und sich dann über den Aristotelismus in Deutschland habilitiert. Von 1909 bis 1920 war er als Oberlehrer am Johanneum in Hamburg tätig. Zusammen mit dem Münchener Schulrat Georg Kerschensteiner wurde er 1911 in den „Bund für Schulreform“ gewählt, dessen Sekretär er dann wurde. Im Rahmen dieser Aufgabe kam Petersen mit allen bedeutsamen Ansätzen der damaligen deutschen und internationalen Reformpädagogik in Berührung. Peter Petersen wurde 1920 durch die Übernahme der Leitung der Lichtwarkschule zu einem der Protagonisten der Hamburger Schulreform, die u. a. vom Einheitsschulgedanken und von der Idee der universitären Ausbildung aller Lehrer bestimmt war (vgl. Fiege 1970; Rödler 1987). Die Lichtwarkschule war als „Deutsche Oberschule“ eine der Hamburger Versuchsschulen, die im Gegensatz zu den regulären Höheren Schulen den muttersprachlich-musischen Bereich und eine moderne Fremdsprache in den Mittelpunkt der Arbeit stellte. Andere Profilelemente dieser reformpädagogischen Oberrealschule waren der Verzicht auf das Sitzenbleiben durch die Zugehörigkeit der Schüler zu dreijährigen Stammgruppen, die Differenzierung in Kern- und Kursunterricht, das selbständiges fächerübergreifendes Lernen, die tägliche Turnstunde, ein vielfältiges künstlerisch-praktisches Lernen und ein reichhaltiges Schulleben in der „Schulgemeinde“ (vgl. Arbeitskreis Lichtwarkschule 1979). In diesen Hamburger Jahren reifte in Petersen die Vision einer Einheitsschule für alle Kinder, in der sich ihre Selbsttätigkeit im Rahmen einer sich als Erziehungsgemeinschaft verstehenden Schule frei entfalten kann. Die Idee der Schulgemeinde, welche für die Gestaltung der neuen Schule bei Petersen noch größere Bedeutung als
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der aktive Unterricht besitzt, entspringt auch seinem konservativkulturkritischen, christlich inspirierten Sozialismus, mit dem er sich politisch zwischen alle Lager stellte. Das neue Gemeinschaftsbewusstsein soll sich solidarisch über die ganze Menschheit erstrecken, sich aber zugleich durch die Verwurzelung in der nationalen Tradition der „Volksgemeinschaft“ gegen den Liberalismus, Rationalismus und Individualismus der modernen Kultur wenden (vgl. Retter 1995). Mit der Übernahme der aus der herbartianischen Tradition stammenden Universitätsübungsschule in Jena ergreift der damals vielleicht beste deutsche Kenner der internationalen Reformpädagogik die historisch einmaliger Chance, seine „Lebens- und Arbeitsgemeinschaftsschule“ als Synthese aus den verschiedenen Neuansätzen als staatliche Versuchsschule zu verwirklichen. Die seit ihrer Präsentation auf dem Kongress der „New Education Fellowship“ in Locarno 1927 sogenannte „Jena-Plan-Schule“ leitet Petersen bis zu ihrer Schließung durch das DDR-Regime im August 1950. Als er zwei Jahre später verstirbt, arbeiten im Westen Deutschlands 16 Volksschulen nach dem Jena-Plan (vgl. Chiout 1955). Eine regelrechte Renaissance und weitere Ausbreitung seiner Reformschulkonzeption sollte erst später von den Niederlanden aus erfolgen (vgl. Skiera 1982).
1.4 Die Schule Célestin Freinets Ebenfalls im Jahre 1924 beginnt der damalige stellvertretende Volksschullehrer an der armseligen Jungenschule in Bar-sur-Loup in den südfranzösischen Alpen Célestin Freinet (1896-1966) damit, für die Arbeiter- und Bauernkinder in seiner Klasse eine Druckerei einzurichten, in der seine Schüler freie Texte erstellen und die Fibeln und andere Schulbücher verbannen können. Mit ihren freien Texten sollen sie mit gleichaltrigen Schülern in anderen Teilen Frankreichs in eine regelmäßige Korrespondenz treten. Weitere Elemente der von Freinet unter dem Motto „Pour la vie, par la vie, par le travail“ Schritt für Schritt entwickelten „Ecole moderne“ sind u. a. der wöchentliche Klassenrat, die autodidaktischen Materialien, die Schülerateliers und die Wochenpläne. Ähnlich wie in den Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen, die ja auch das Vorbild für Petersen waren, sollen die Schüler Freinets in der Schulklasse nicht mehr rezeptiv und vereinzelt dem Unterricht des Lehrermonarchen Folge leisten, sondern ihren Gedanken freien Ausdruck verleihen und ihre Arbeit selbsttätig in der Gemeinschaft vollbringen. Freinet, der zur zweiten Generation der Reformpädagogen gehört, hat im Rahmen seiner Mitwirkung in der „New Education Fellowship“ die deutschen Versuchsschulen und andere innovative Entwicklungen persönlich kennen
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gelernt (vgl. Hagstedt 2002). Als Eklektiker erprobt er in seiner alltäglichen Praxis die Elemente der „neuen Schule“, die sich für die Bildungsprozesse seiner Schüler als produktiv erweisen. Freinet, der in einer vielköpfigen Krämer- und Bauernfamilie in der Provence aufgewachsen ist, wird nach dem Abschluss des Lehrerseminars als Soldat in den Ersten Weltkrieg eingezogen und erleidet an der Front eine lebensgefährliche Lungenverletzung, die ihn lebenslang beeinträchtigen wird. Nach Kriegsende ist er Pazifist und klassenkämpferisch ausgerichteter Sozialist. Er wird 1920 Mitglied in der anarcho-syndikalistischen Lehrergewerkschaft, gehört von 1926 bis 1948 der Kommunistischen Partei Frankreichs an und ist 1928 Mitbegründer der Lehrerkooperative C.E.L („Coopérative de l’Enseignement Laïc“), in der er seine Auffassung einer Volkserziehung zum Frieden im Geist der Aufklärung und der Republik vertritt (vgl. Skiera 2003: 311ff.). Von den langjährigen Querelen mit der Schulaufsicht wegen der erbärmlichen Zustände an seiner Volksschule in St. Paul gesundheitlich zermürbt, scheiden Célestin Freinet und seine Frau Elise 1935 aus dem staatlichen Schuldienst aus und gründen im selben Jahr in Vence die private „Ecole Freinet“, die erste reformpädagogische Internatsschule für Kinder aus dem städtischen Proletariat. Die Freinets nehmen hier zuerst Arbeiterkinder aus den Pariser Vororten auf, später auch Kinder republikanischer Flüchtlinge aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Freinet leitet sein sozialistisches Landerziehungsheim bis zu seinem Tode im Jahre 1966. Zu Beginn der neunziger Jahre wird diese Privatschule als Experimentalschule in staatliche Trägerschaft überführt (vgl. Schlemminger 2002). Freinet hat der Nachwelt anders als Montessori, Steiner und Petersen kein neues Schulmodell hinterlassen, sondern eine auf freien Ausdruck, lebensnahe Arbeit und gerechte Gemeinschaft ausgerichtete Unterrichtspraxis, welche primär durch Lernwerkstätten und Lehrerkooperativen bis heute transferiert und in Reformschulen unterschiedlichster Ausprägung eigenwillig adaptiert wird (vgl. Hagstedt 2002). Rückblickend kann man als eine fundamentale Gemeinsamkeit der „Neuen Schulen“ Montessoris, Steiners, Petersens und Freinets festhalten, dass sie primär für Kinder aus sozial benachteiligten Milieus des städtischen oder ländlichen Proletariats gegründet worden sind – aus einer im weitesten Sinne sozialistischen Grundhaltung heraus. Die weltanschaulichen Ausprägungen ihres Sozialismus sind dabei äußerst unterschiedlich; sie reichen von einer christlichkonservativen über eine bürgerlich-genossenschaftliche bis zu einer marxistischklassenkämpferischen Position. Gemeinsam ist indes das Ziel, durch die Gründung einer „neuen Schule“ einen Beitrag zur Herstellung einer auf Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit beruhenden Gesellschaft zu leisten.
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Die Schulen der klassischen Reformpädagogik heute
Zu Beginn des neuen Jahrtausends, nachdem ihre prominentesten akademischen Kritiker die Reformpädagogik als „Schnee vom vergangenen Jahrhundert“28 vermeintlich beiseite geräumt haben wollen, erfreuen sich die Schulmodelle Steiners, Montessoris, Petersens und Freinets einer Wertschätzung und Verbreitung, von denen ihre Gründer zeitlebens nur träumen konnten. Parallel dazu und noch verstärkt durch die Aufbruchstimmung in den neuen Bundesländern und in Osteuropa hat sich – ungeachtet des langjährigen kritischen Diskurses in der Disziplin – in der pädagogischen Profession eine neue Form der unmittelbaren Akzeptanz dieser reformpädagogischen Schulkonzepte herausgebildet und eine weitere Welle von Praxisdarstellungen ausgelöst (vgl. insbes. Flitner 1999[1992]; Hellmich/Teigeler 1995[1992]; Hansen-Schaberg/Schonig 2002; Skiera 2003). Die größte Beachtung finden dabei übereinstimmend die oben eingeführten vier Schulbewegungen, die sich hierzulande in einem bemerkenswert expansiven Entwicklungsprozess befinden: (1.) die Freien Waldorfschulen, deren Zahl bis heute in Deutschland auf mehr als 200 (weltweit auf ca. 1000) angewachsen ist; (2.) die Montessori-Schulen, die unter der Obhut Maria Montessoris ab ca. 1910 zunächst in der Schweiz, in England und Italien gegründet worden sind, sich inzwischen in 110 Länder ausgebreitet haben und deren Zahl sich in Deutschland im Jahre 2000 auf 336 (242 Grund-, 72 Sekundar- und 22 Sonderschulen) belief; (3.) die nach dem Modell der von Peter Petersen an der Universität Jena gegründeten Versuchsschule arbeitenden 46 Jenaplan-Schulen in Deutschland (ca. 220 in den Niederlanden) und (4.) die inzwischen mehr als 20 Freinet-Schulen und die ungezählten Klassen in Deutschland, in denen Lehrerinnen und Lehrer heute nach dem von Célestin Freinet entwickelten pädagogischen Konzept arbeiten. Die Rudolf-Steiner-Schulen arbeiten in freier Trägerschaft und haben sich im Bund der Freien Waldorfschulen zusammengeschlossen; dieser bietet eine eigene grundständige Lehrerausbildung an, deren Abschluss für die Tätigkeit als Waldorfklassenlehrer vorausgesetzt wird. Die Montessori-Schulen werden sowohl von freien Initiativen als auch von kirchlichen und staatlichen Organen getragen; von der Lehrerschaft wird hier in der Regel zusätzlich zu den staatlichen Lehramtsexamina das Montessori-Diplom erwartet, welches in Weiterbildungskursen der beiden deutschen Montessori-Dachorganisationen (DMG, MV) erworben werden kann. Der überwiegende Teil der Jenaplan- und der Freinet28
Vgl. den unter dem gleichnamigen Titel erschienenen Sammelband von Böhm u.a. (1994), der sich mit diesem merkwürdigen Widerspruch von theoretischer Überalterung und praktischer Aktualität auseinandersetzt.
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Schulen (bzw. –Klassen) befindet sich als Regel- oder Versuchsschule in staatlicher Trägerschaft. Über die Gründe für die Anziehungskraft dieser klassischen Reformschulen auf heutige Eltern und LehrerInnen lassen sich erst dann genauere Vermutungen anstellen, wenn man sich deren programmatische Gestaltungstendenzen bezüglich der Schulorganisation, der Lernkultur und der pädagogischen Beziehungen vergegenwärtigt. Diese lassen sich auf der Basis der o. a. Praxisdarstellungen wie folgt skizzieren.
2.1 Von der großen bürokratischen Unterrichtsanstalt zur kleinen selbstverantworteten Schulgemeinde Waldorfschulen sind in der Regel einzügige Schulen in freier Trägerschaft eines Schulvereins, dem die meisten Eltern angehören (Schulgeld!) und der mit den Lehrern ein kündbares Arbeitverhältnis unterhält. Die Lehrerschaft berät und entscheidet in wöchentlichen Konferenzen gemäß der menschenkundlichen Vorgaben Steiners über die pädagogischen Belange der Schule und leitet diese in kollegialer Selbstverwaltung. Die Elternschaft wird durch monatliche Elternabende, durch vereinzelte Hausbesuche des Klassenlehrers sowie durch ein reichhaltiges Schulleben und durch zahlreiche Arbeitskreise zu intensiver Kooperation und Identifikation mit der Schule veranlasst. Auch die Montessori-Schulen setzen – unabhängig von der Art ihrer Trägerschaft – ein überdurchschnittlich hohes Interesse der Eltern an der besonderen Prägung ihres Unterrichts und Schullebens voraus und erwarten von ihrer Lehrerschaft eine innere Entschiedenheit für die Grundsätze der MontessoriPädagogik. Die Jenaplan-Schulen begreifen sich explizit als „Familienschulen“, die sich in ihrem Schulleben zur Elternschaft öffnen und diese sogar zur aktiven Mitwirkung im Unterricht animieren. Freinet-Pädagogen verstehen die Schulkasse – innerhalb einer Freinet- oder Regelschule – primär als eine autonome Schüler-Kooperative, welche zu ihrer täglichen Lernarbeit nicht die Eltern einbeziehen muss. Gleichwohl ist die ideelle Identifikation der Eltern mit den pädagogischen Normen und Formen der Freinet-Pädagogik für das Gelingen der selbsttätigen Lernprozesse ihrer Kinder in der Klasse unabdingbar.
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2.2 Vom Belehrungsraum zur Schulwohnstube In der Waldorfschule gibt es für jeden Altersjahrgang einen Klassenraum, der durch seine Farbgebung und die Bildmotive sowie den Jahreszeitentisch die Schüler „entwicklungsgemäß“ beheimatet. Die Farbgebung der Wände schreitet vom ersten bis zum achten Schuljahr das Farbspektrum vom Rot übers Gelb, Grün, Blau bis zum Violett ab; die Bildmotive orientieren sich an der Abfolge der Erzählstoffe des Kulturstufenlehrplans. In der Montessori-Pädagogik ist die Abkehr von der Schulbank und die Einrichtung eines kindgerechten Lern- und Lebensraumes („vorbereitete Umgebung“) von zentraler Bedeutung. Hier findet man z.B. Teppichböden, auf denen liegend gelernt werden kann, niedrige Regale mit den Arbeitsmaterialien, Gruppentische, Lese- und Computer-Ecken und eine kleine Küche; der Lernraum einer Montessori-Klasse erstreckt sich sogar auf die Flure und Emporen. Auch in der Jenaplan-Schule wird der Klassenraum in den „ganzheitlichen“ Erfahrungsraum der Schulwohnstube transformiert, welchen die Schüler mit Bildern, Büchern, Werkzeugen, Pflanzen und Aquarien ausgestalten. Anders als im Hintereinander der Bankreihen, wo jeder beim Lernen nur egoistisch „nach vorne“ auf die Lehrperson gerichtet ist, können die Schüler in den Tischgruppen auch Verantwortlichkeit für einander entwickeln. Die Freinet-Klasse ist sowohl Schulwohnstube als auch vorbereitete Lernumgebung. Sie bietet um die Gruppentische herum mehrere Arbeitsecken („ateliers“), die zweckrational mit Geräten (z.B. Druckerpresse, Computer), Werkzeugen und Arbeitsmitteln ausgestattet sind, etwa für graphisches Gestalten, Beobachten und Experimentieren, Holz- und Metallbearbeitung, künstlerisches, musisches und hauswirtschaftliches Tun sowie für die Sammlung von Texten und Dokumenten. Für die Pflege und Wartung der Ateliers sind die Schüler selbst verantwortlich („Ämter“).
2.3 Von der leistungshomogenen Jahrgangsklasse zur altersgemischten Stammgruppe In den Waldorfschulen werden die Schüler zwar noch strikt nach dem kalendarischen Jahrgangsprinzip gruppiert, das Sitzenbleiben aber ist abgeschafft. Die Schüler lernen in dieser historisch ersten koedukativen Gesamtschule Deutschlands gemeinsam von der ersten bis zur zwölften Klasse nach einem spezifischen Waldorfcurriculum, ohne dabei nach ihren Leistungen äußerlich differenziert zu werden. Auf Wunsch erhalten sie aber auch an dieser Schule die Mög-
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lichkeit, danach den Weg zu den staatlich anerkannten Schulabschlüssen (z.B. Abitur) einzuschlagen. In den Montessori-Schulen gehören die Schüler in der allmorgendlich zweistündigen Phase der „Freiarbeit“ – der eigentlichen Montessori-Lernzeit – einer jahrgangsübergreifenden Lerngruppe (z.B. 1.-3. bzw. 4.-6. Schuljahr) an, um auch besser mit- und voneinander lernen zu können. In den übrigen Stunden des Vormittags erfolgt der gebundene Fachunterricht in traditionellen Jahrgangsklassen. Durch die in der Freiarbeit gegebenen Möglichkeiten individuellen und zieldifferenten Lernens eröffnen Montessori-Schulen seit langem besondere Chancen für die Integration von Kindern mit Lernbehinderungen. In der Jenaplan-Schule ist die konstitutive soziale Einheit nicht mehr die Jahrgangsklasse, sondern durchgängig vom 1. bis zum 6. bzw. 10. Schuljahr die zwei bis drei Alterjahrgänge umfassende Stammgruppe, in welcher jeder Schüler zunächst „Lehrling“, dann „Geselle“ und schließlich „Meister“ ist. Ein zweites soziales Ordnungsprinzip ergibt sich aus der Leistungsdifferenzierung in den lehrgangsmäßig erteilten Kursen. Das Jahrgangsprinzip wird mithin in dieser Reformschule in doppelter Weise aufgehoben – durch die gewollte Differenz der Altersstufen in der Stammgruppe und durch die Homogenisierung nach den Leistungsniveaus in den Kursen. Auch aus den Freinet-Schulen sind das Jahrgangsprinzip und das Sitzenbleiben verschwunden; die soziale Einheit bildet die altersgemischte, in sich selber flexibel nach je aktuellen Interessenzentren differenzierte Gruppe.
2.4 Vom beziehungslosen Fetzenstundenplan zum organisch gegliederten Wochenarbeitsplan Der Unterrichtsalltag gliedert sich an den Waldorfschulen in den allmorgendlich zweistündigen Haupt- bzw. Epochenunterricht, den vom ersten bis zum achten Schuljahr der Klassenlehrer in allen traditionellen Hauptfächern erteilt. Nach dem Grundsatz des „ganzheitlichen“ Lernens mit Kopf, Herz und Hand folgen auf den eher kognitiv orientierten Hauptunterricht in den folgenden Unterrichtstunden zuerst die künstlerischen Fächer, die Fremdsprachen und Religion, bevor der Vormittag mit den handwerklich-praktischen Fächern abgeschlossen wird. Im übrigen soll auch jede Unterrichtsstunde in sich so gestaltet werden, dass in einem rhythmischen Teil der Wille, im mittleren Teil der Gefühlsbereich und im ruhigen Abschluss das konzentrierte Denken der Schüler angesprochen wird. Der Lernalltag der Montessori-Schule wird bestimmt vom Wechsel zwischen Freiarbeit und Fachunterricht. Jeder Tag beginnt für die Schüler mit einer
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ca. zweistündigen Phase selbsttätigen überfachlichen Lernens in der altersgemischten Gruppe, welche vom lehrerzentrierten gebundenen Fachunterricht in Jahrgangsklassen abgelöst wird. In der Freinet-Klasse gibt es keinen Stundenplan im üblichen Sinne. Jeder Schüler organisiert seine Lernvorhaben nach seinem individuellen Wochenplan, den er mit dem Lehrer zu Beginn der Woche im Rahmen der Anforderungen des Jahresarbeitsplanes aufgestellt hat. Am Ende der Woche wird Bilanz gezogen: die Arbeiten aller Klassenkameraden werden vor der Klasse präsentiert und gemeinsam beurteilt. Jeder einzelne Wochentag beginnt mit dem Morgenkreis, einer Art gesamtunterrichtlichen Gesprächs; dann wechseln sich Phasen der Einzelarbeit und des Gruppenunterrichts ab, und am Ende jeder Woche tagt der Klassenrat, in welchem die Schüler über die Probleme beraten, die inzwischen auf der Wandzeitung notiert worden sind.
2.5 Vom rezeptiven fachlichen Lernen im Gleichschritt zum selbstbestimmten produktiven Arbeiten in fächerübergreifenden Erfahrungsbereichen In der Waldorfschule werden die Schulfächer zumeist noch „frontal“ unterrichtet; dabei wird allerdings bewusst auf Lehrbücher verzichtet. An ihrer Stelle führt jeder Schüler Epochenhefte, in dem er für jedes Fach die wichtigsten Sachverhalte festhält, welche ihm nach „goetheanistischer“ Methode vom Lehrer erschlossen worden sind. Die Waldorfschule ist in ausgeprägter Weise ein Ort praktischen, d.h. handwerklichen, künstlerischen und sozialen Lernens. Neben den zahlreichen außerschulischen Praktika haben die individuellen Jahresarbeiten und das gemeinsame Theaterspiel in bestimmten Altersstufen eine besondere Bedeutung. Gelegenheiten zur Präsentation der Lernergebnisse des Unterrichts bieten die regelmäßigen „Monatsfeiern“ im Rahmen der Schulgemeinde. Den Fokus des Montessori-Lernens bildet die Freiarbeit der Schüler in einer vorbereiteten Umgebung mit vielfältigem autodidaktischem Material. Hier hat jeder Schüler Wahlfreiheit bezüglich der Lerninhalte, -partner und -zeiten. Das Montessori-Material ist so konzipiert, dass damit selbsttätig gearbeitet werden kann; es wird immer eine Schwierigkeit isoliert, auf deren Lösung sich der Lernende konzentrieren muss. Erfolg und Misserfolg werden direkt erfahrbar. Die vom Material gestellten Aufgaben sind unbeschränkt wiederholbar. Im Primarbereich liegen für die Kulturtechniken, die Mathematik und die Sachkunde („Kosmische Erziehung“) standardisierte Arbeitsmaterialien vor; für den Sekundarbereich müssen sie häufig erst von den Fachlehrern zusammengestellt werden.
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In der Jenaplan-Schule tritt an die Stelle frontaler Belehrung das „gruppenunterrichtliche Verfahren“. Hierin werden die frei sich zur Bearbeitung eines fächerübergreifenden oder projektorientierten Themas bildenden Tischgruppen in ihrem eigenständig geplanten Arbeitsprozess von der Lehrperson nur beraten und begleitet. Ergebnisse dieser Gruppenarbeiten können in den regelmäßigen Wochen- und Monatsfeiern vor der Schulgemeinde präsentiert werden. Das lehrerzentrierte fachliche Lernen tritt in der Jenaplan-Schule nur noch in den Kursen, in denen z.B. Kulturtechniken, oder Fremdsprachen geübt werden, in Erscheinung. Auch aus den Freinet-Schulen ist das Lehrbuch verbannt. Die Schule soll sich wieder an der „natürlichen Methode“ des Lernens orientieren und den freien Ausdruck kultivieren, indem sie „den Kindern das Wort gibt“. Gemäß einer Synthese aus Gesamtunterricht und Arbeitsschule steht im Zentrum der FreinetSchule (bzw.-Klasse) die Kooperation der Schüler im Rahmen selbstgewählter Arbeitsvorhaben („centres d’intérêt“). Die materiellen Voraussetzungen hierfür bieten die den Gruppenarbeitsraum umschließenden Ateliers sowie die Arbeitskarteien, die Lernprogramme, die Bibliothek, die Druckerei und der Computer. Das Drucken freier Texte für die Klassenzeitung und für die Korrespondenz mit der Partnerklasse ist traditionell die wichtigste gemeinsame Arbeitstechnik der Klasse. Zur „natürlichen Methode“ des forschenden Lernens gehören auch die vielfältigen Erkundungen außerschulischer Lernorte. 2.6 Vom selektierenden Zensurenzeugnis zum motivierenden Lernbericht29 Waldorfschulen sind Einheitsschulen, in den die Schüler ohne Zensuren und Sitzenbleiben vom ersten bis zum zwölften Schuljahr im stabilen Klassenverband gemeinsam vorrücken. Statt der amtlichen Notenzeugnisse erhalten die Schüler jährlich eine Charakteristik im freien Wortlaut. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht nicht der Vergleich der Lernleistungen, sondern die Beschreibung und Beurteilung der individuellen Lernprozesse. Bis zum Ende der achten Klasse sollen dabei nicht nur die fachlichen Leistungen, sondern das „Ganze“ der Schülerpersönlichkeit und ihre Entwicklung (z.B. Konstitution, Temperament, Position in der Klasse) vom Klassenlehrer in den Blick genommen werden. Auch in der Montessoripädagogik wird das Zensurenzeugnis als Fremdkörper empfunden; denn hier gilt noch stärker die individuelle Lernentwicklung 29
Eine umfassende und differenzierte Darstellung der Formen der Leistungsbeurteilung in den verschiedenen Schulkonzeptionen der klassischen Reformpädagogik bietet die Studie von Thorsten Bohl (2005).
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des Schülers als Bezugsnorm für die Leistungsbeurteilung. Größtenteils deshalb verzichten die Montessori-Grundschulen auf die Notengebung zugunsten von verbalen Lernberichten. Vereinzelt wird sogar versucht, auf jede schriftliche Form der Bewertung zu verzichten zugunsten obligatorischer halbjährlicher Beurteilungsgespräche mit den Schülern und ihren Eltern. Die Jenaplan-Schulen lehnen die Zensur u.a. deswegen ab, weil sie die Lernmotivation der Schüler von der Sache auf die Person des Lehrers lenkt. An die Stelle des Notenzeugnisses tritt hier zum einen die regelmäßige pädagogische Rückschau im Unterricht und zum anderen der Lernbericht am Ende des Schul(halb)jahrs, der von einem persönlichen Brief des Lehrers an jeden Schüler begleitet sein kann. Schon Petersen hatte vorgeschlagen, zwischen einer objektiven Charakteristik für die Eltern und einer subjektiven Form für den Schüler zu unterscheiden. Schließlich lehnen auch die Freinet-Lehrer das herkömmliche, den Lernerfolg hierarchisierende Notensystem mit seinem Selektionszwang ab und suchen nach spezifischen Formen einer individualisierenden Leistungsrückmeldung und -beurteilung. Diese reichen im Primarbereich von einer Prämierung einzelner Leistungen durch das Klassenkollektiv (z.B. den besten freien Text) über die Ausstellung von Lernpässen („brevets“) für das Erreichen einer bestimmten Fähigkeit bis zum periodischen Bericht über den Leistungsstand an das Elterhaus (Rückmeldebögen). Auf der Sekundarstufe lassen sich solche Praktiken gegen das Notensystem nur noch im Rahmen staatlicher Schulversuche aufrecht erhalten.
2.7 Vom Fachlehrer zur schulischen Bezugsperson In den Freien Waldorfschulen begleitet ein waldorfpädagogisch ausgebildeter Klassenlehrer „seine“ Schüler in der Regel kontinuierlich vom ersten bis zum Ende des achten Schuljahres. Er erteilt im täglichen zweistündigen „Hauptunterricht“ nahezu alle üblichen Schulfächer mit Ausnahme der Fremdsprachen, der Religion und der musisch-praktischen Fächer. Der Waldorfklassenlehrer begreift sich programmatisch als richtunggebendes Vorbild und haltgebende Autorität für die ihm anvertrauten Heranwachsenden. Die pädagogische Beziehung wird hier also von starker Kontinuität und umfassender Nähe bestimmt; sie ist explizit hierarchisch bzw. asymmetrisch strukturiert. Die konsequente Durchsetzung des Fachlehrerprinzips im neunten Schuljahr bedeutet für die Schüler die Ablösung von ihrer engen Bindung an eine zentrale Lehrperson hin zum selbständigen Umgang mit den Ansprüchen der Fächer.
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Die in die Montessori-Pädagogik initiierten LehrerInnen sollen sich im Unterricht allen Belehrens enthalten, um die Schüler dabei unterstützen zu können, möglichst alles selbstständig zu tun. Die „vorbereitete Umgebung“ ist ja schon ein großer, wenn auch unbeseelter Lehrer; und die Schüler, die das Material verstanden haben, gelten als die besseren Lehrer ihrer Mitschüler als die offizielle Lehrperson. Dieser bleibt allerdings trotz der auferlegten Zurückhaltung die zentrale Rolle des Garanten des methodischen Arrangements und der sozialen Ordnung. Sie wartet das Arbeitsmaterial, weist in seinen Gebrauch ein, unterstützt die Schüler bei ihrer Arbeit, beobachtet, dokumentiert und beurteilt ihre Lernprozesse. Auch hier ist die pädagogische Beziehung von „Liebe“ bestimmt, aber noch stärker von „Demut“ vor dem Können des Kindes; das LehrerSchüler-Verhältnis erscheint – zumindest in der Freiarbeit – stärker symmetrisch strukturiert. An der Jenaplan-Schule fungiert der Lehrer nur noch in den Kursen als Fachmann für effektives und zeitökonomisches Lehrern. Im Gruppenunterricht der Stammgruppe begreift er sich als zweifaches Glied der Gemeinschaft: als „bester Kamerad“ ist er der Wahrer der „Vor-Ordnungen“, der Quell des Wissens und der Berater im Methodischen; zum „Führer“ wird er durch sein Vorbild, sein Vortun, sein rechtes Fragen und durch seine vollendete Rede. In Petersens Bild der Schüler als „um ihren Führer gescharten Rechtsgemeinde Freier“ verschlingt sich die asymmetrische Beziehungsform der Gefolgschaft mit der symmetrischen der Kameradschaft. In den Freinet-Klassen soll den Schülern von der Lehrperson ein Maximum an Mitbestimmung und Mitverantwortung zugestanden werden. Sie sind Miturheber ihrer Bildungsprozesse und demokratischer Souverän im Klassenzimmer zugleich. Im Klassenrat entscheiden die Schüler in eigener Regie über die Regeln des sozialen Miteinanders; die Lehrperson ist hier nur stimmberechtigtes Mitglied und Garant für die Ausführung der Beschlüsse. Auch im Unterricht kommt ihr die Rolle des „maître-camarade“ zu, des verantwortungsvollen Anregers, Begleiters, Beraters und Beurteilers der kooperativen Arbeitsprozesse der Schüler im Rahmen der Jahres-, Monats- und Wochenpläne. Die Lehrperson ist nicht nur Tutor in der Kooperative ihrer Schüler, sondern auch Mitglied in der Kooperative der Lehrer, welche nach denselben pädagogischen und politischen Prinzipien Freinets beruflich mit- und voneinander lernen.
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Der pädagogische Erfolg und sein soziales Milieu
Die dargestellten Aspekte lassen die Schulen der klassischen Reformpädagogik übereinstimmend als Schulkulturen erscheinen, in welchen den Lehrern, Eltern und auch den Schülern ein höherer Grad an Partizipation und Vergemeinschaftung ermöglicht wird, die pädagogischen Beziehungen zwischen den Lehrpersonen und den Schülern stärker von Konstanz und personaler Nähe bestimmt sind, die Inhalte des Unterrichts den Rahmen der einzelnen Schulfächer transzendieren, die Methoden des Lernens eine größere Vielfalt und „Lebensnähe“ aufweisen und bei den Schülerleistungen bewusst eine größere Heterogenität akzeptiert wird. Die Aufgaben der Schule erschöpfen sich nicht in den gesellschaftlichen Funktionen der Qualifikation und Selektion – im Kern geht es vielmehr um die Prozesse der personalen Entfaltung und der Gestaltung des Sozialen. Diese durchgängige Tendenz einer pädagogischen Entgrenzung betrifft nicht nur die Schulkultur, sondern auch die Ausformung der pädagogischen Professionalität an diesen Reformschulen. Denn programmatisch sollen hier Lehrerinnen und Lehrer „mit Biographie“30 arbeiten, die als Bezugspersonen der Schüler ihr pädagogisches Handeln mit einem höheren Grad an affektivem Engagement verbinden und als Klassenlehrer oder Kameraden ihre Berufsrolle nicht primär spezifisch und partikular verstehen, sondern diffus und ganzheitlich. Der Stand der Forschung über diese Reformschulen ist thematisch und methodisch unterschiedlich weit entwickelt (vgl. Idel/Ullrich 2008; Ullrich/ Idel/Kunze 2004). Die quantitativ verfahrenden empirischen Untersuchungen über die Lernkultur, den Bildungserfolg und die Lehrerarbeit erbringen durchweg positive Befunde. Durch standardisierte Unterrichtsbeobachtungen und Interaktionsanalysen belegen u. a. Fämel (1981) und Meisterjahn-Knebel (1995), dass in der Freiarbeit an Montessori-Schulen viele SchülerInnen tatsächlich konzentriert und kooperativ lernen. Die Befunde der qualitativen Untersuchungen veranlassen zu wichtige Differenzierungen: Den Fallanalysen der ethnographischen Studie Henrys (2001) lässt sich u. a. entnehmen, dass die Freiarbeit nicht für alle Schüler die wirksamste Form des Lernens darstellt; gerade die leistungsschwächeren sind auf eine stärkere Vorstrukturierung im Unterricht angewiesen. Silke Allmann (2007) rekonstruiert auf der Grundlage von Feldprotokollen, Video-Tran30
Die Bezeichnung „Lehrer mit Biographie“ hat Hellmut Becker geprägt, um solche Lehrer an reformpädagogischen Schulen in freier Trägerschaft zu kennzeichnen, die nach einer längeren Arbeit in einem anderen Berufsfeld sich aus freiem Stücken diese pädagogische Tätigkeit erwählt haben (vgl. Becker 1980, S. 487 f.). Ich halte diesen Ausdruck auch dafür geeignet, die Entschiedenheit zu betonen, mit der viele Lehrer sich die Reformschule als ihr berufliches Wirkungsfeld gesucht haben.
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skripten und offenen Interviews an einer traditionsreichen Montessori-Schule die unterschiedlichen Lernpraktiken von Schülerinnen und Schülern in den Rahmungen von Freiarbeit und Fachunterricht in zwei Fallstudien über Drittklässler. Dabei ergibt sich, dass für Tina, „die Assistentin der Lehrerin“ die Freiarbeit der hauptsächliche Unterricht ist, für Peter, „den Künstler“ das eigentliche Lernen aber erst im Fachunterricht beginnt. An Montessori-Hauptschulen erfahren sich im Übrigen die weniger erfolgreichen Schüler stärker im Bereich des projektorientierten praktischen Unterrichts als Selbstgestalter ihrer Lernprozesse als in der Freiarbeit (vgl. Meyer 2001). Aus den Studien der Begleitforscher der Lübbenauer Jenaplan-Schule (vgl. Lambrich/Steinberg 2001) ergibt sich u. a., dass die Lernleistungen von Jenaplan-Schülern nicht hinter denen der Regelschüler zurückbleiben, dass jene aber in einer Lernorganisation und in einem sozialen Klima leben und lernen, welche zu höherer gegenseitiger Anerkennung führen und selbst dann Schülern noch Halt in der Gruppe gewähren, wenn jene beim Lernen häufig Misserfolge erleben. Interessant ist der Befund, dass die Zugehörigkeit der Schüler zu altersgemischten Lerngruppen wenig Einfluss auf die Bildung von Freundschaften hat; denn diese werden weiterhin in erster Linie mit den Gleichaltrigen eingegangen. Das für die Jenaplan-Schule zentrale Prinzip des Lernens in altersgemischten Stammgruppen wird im Übrigen von ehemaligen Schülern nach ihrem Übergang in die staatlichen Regelschulen rückblickend eher kritisch beurteilt (vgl. Spahn 2000). Zu deutschen Freinet-Schulen liegt bislang nur die qualitative Studie von Uta Fuhrmeister (2007) über den Umgang der Lehrerinnen und Lehrer mit verhaltensauffälligen Schülern vor. Aus teilnehmenden Beobachtungen im Unterricht und Gruppendiskussionen mit den Lehrern an zwei sehr unterschiedlichen Freinet-Schulen ergibt sich ein beeindruckendes Bild über das Spektrum der ressourcenorientierten Haltungen, mit denen die Freinet-Pädagogen im Rahmen ihrer Schulkultur die Heterogenität im Verhalten ihrer Schülerschaft, darunter auch Formen von „Verhaltensauffälligkeit“ bearbeiten. Am weitesten und in vielseitiger Weise hat sich innerhalb der beiden letzten Jahrzehnte die empirische Forschung zu Freien Waldorfschulen entwickelt. Im Folgenden können deshalb nur einige zentrale Studien erwähnt werden. Die Fragebogenuntersuchung von Dirk Randoll (1999) über die Urteile von OberstufenschülerInnen an Gymnasien und an Freien Waldorfschulen über ihre Schule erbringt durchweg deutlich positivere Einschätzungen des Schulklimas, der Lernkultur und der pädagogischen Generationsbeziehungen an Waldorfschulen als an Regelschulen; irritierend und interpretationsbedürftig bleibt dabei allerdings der Einzelbefund, dass Waldorfschüler in hohem Maße zusätzlichen Nachhilfeunterricht in Anspruch nehmen (müssen).
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Eine Interviewstudie mit Waldorflehrern (vgl. Barz 1994) zeigt zum einen Überforderungstendenzen und ein hohes Maß an Selbstkritik sowie zum anderen Diskrepanzen zwischen offiziellem pädagogischen Selbstverständnis und tatsächlichen Orientierungen im Berufsalltag. Diese letzteren sieht Barz u. a. gekennzeichnet durch den Versuch, die eigenen „libidinösen Defizite“ durch eine enge Bindung an die Schüler und eine besondere „pädagogische Militanz“ zu kompensieren. Leider belässt es diese Studie bei solchermaßen riskanten Generalisierungen; eine individuelle Differenzierung der beruflichen Deutungsmuster der Waldorflehrer und ihre Rückbindung an ihre sehr unterschiedlichen Professionalisierungspfade bleibt deshalb weiterhin ein Forschungsdesiderat. Eine erste, methodisch noch wenig elaborierte qualitative Studie über die Bildungswirkungen einer zugleich allgemein- und berufsbildenden Waldorfschule (Hibernia-Schule Herne) zeigt im Spiegel von Bildungsbiographien ausgewählter SchülerInnen, dass sich hier durch die enge Verbindung von kognitivem und (berufs-)praktischem Lernen besondere Entwicklungschancen für Schüler, welche zuvor an Gymnasien von schulischem Versagen bedroht waren, ergeben haben (vgl. Gessler 1988). Einschränkend muss allerdings gesagt werden, dass die befragten AbiturientInnen mit Doppelqualifikation einseitig die Gruppe der erfolgreichsten Schüler repräsentierten. Abbrecher und „Problemschüler“ dieser Waldorfschule fanden in der Studie keine Berücksichtigung. In einer, die Ansätze der Biographieanalyse und der Schulkulturforschung verbindenden Studie rekonstruiert Till-Sebastian Idel (2007) auf der Basis von narrativen Interviews mit ehemaligen Waldorfschülern und deren früheren Verbalzeugnissen drei unterschiedliche Passungsverhältnisse zwischen Biographie und Schulkultur: ein harmonisch-entwicklungsproduktives, ein diskrepantleidvolles und ein ambivalent-inkonsistentes. Eine wesentliche Voraussetzung für gelungene schulbiographische Passungen, d.h. für die identitätsförderliche Anerkennung des Schülerselbst, ist die Anschlussfähigkeit familialer Habituspräferenzen und des Schülerhabitus an die waldorfpädagogische Bildungswelt. Die Nähe von Familie und Schule im Schulkollektiv kann bei Schülern psychosoziale Probleme abmildern, von anderen aber auch als unheilvolle Allianz erlebt werden. Die sich auf über zwölf Schuljahre erstreckende Kontinuität der Klassengemeinschaft bietet eher distanzierten und auch problematischen Schülern die Möglichkeit einer sukzessiven stabilisierenden Integration, die aber auch zum Problem werden kann, wenn Schüler dauerhaft ausgegrenzt werden. Die waldorfpädagogische Leistungskultur scheint exemplarisch für reformpädagogische Tendenzen der Nivellierung von Leistungspotenzialen zu sein. Es herrscht eine starke Orientierung der Waldorflehrer an einer kompensatorischen Förderung der Leistungsschwächeren bei gleichzeitig geringer Binnendifferenzierung vor. Kehrseite davon ist, dass Bildungsansprüche leistungsstarker Schü-
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ler zurück gewiesen werden. Im positiven Sinne können durch eine solche wenig leistungsorientierte Unterrichtskultur überstarke Fixierungen auf die schulische Leistungsbewährung verhindert und Freiräume für informelle Lern- und Bildungsprozesse im außerschulischen Raum geschaffen werden (z.B. auch durch außercurricularen Aktivitäten wie Klassenspiele, Praktika, Jahresarbeiten u .a. m.). Idel formuliert abschließend die durch Folgestudien noch zu überprüfende riskante These, dass Waldorfschulen von einer starken habituellen Selektivität und spiegelbildlich dazu von einer eingeschränkten habituellen Toleranz geprägt sind. Die umfangreiche qualitative Studie von Werner Helsper, Heiner Ullrich, Bernd Stelmaszyk, Davina Höblich, Gunther Graßhoff und Dana Jung (2007) fokussiert Klassenlehrer-Schüler-Beziehungen an Waldorfschulen zu Beginn der Adoleszenz. Auf der Grundlage von videographischen Unterrichtsaufzeichnungen, Verbalbeurteilungen, narrativen Interviews mit Schülern und Klassenlehrern in der achten Jahrgangsklasse sowie Gruppendiskussionen mit dominanten pädagogischen Akteuren an drei unterschiedlichen Waldorfschulen wird die achtjährige Beziehung zwischen Waldorfklassenlehrern und ihren Schülern in kontrastiv ausgewählten Fallstudien mehrebenenanalytisch rekonstruiert. Damit wird ein pädagogisches Konzept qualitativ evaluiert, das auf Dauer angelegt ist, umfassende Zuständigkeit reklamiert und – in bewusster Opposition zu den sich wandelenden Bedingungen des Aufwachsens heutiger Kinder – auf personale Autorität und Vorbildwirkung setzt. Die Ergebnisse fördern ein außerordentlich breites Spektrum pädagogischer Beziehungen zu Tage, in denen Waldorfklassenlehrer für psychisch stabilisierungsbedürftige Schüler auch noch in der achten Klasse die Rolle von „signifikanten Anderen“ spielen und Entwicklungsräume eröffnen können, bei anderen aber durch ihren auf Nähe und affektive Verbundenheit gerichteten berufsbiographischen Habitus das Autonomieverlangen in dieser jugendlichen Altersphase behindern, ihre Motive verkennen und daraus entspringende Bildungsprozesse blockieren. Waldorflehrer beschreiten unterschiedliche Professionalisierungspfade und ermöglichen bzw. behindern dadurch bestimmte Weltzugänge für die ihnen acht Jahre lang anvertraute Schülerschaft. Aus diesen Befunden ergeben sich Anfragen an die Professionalität von Waldorfklassenlehrern und Anforderungen an ihre Reflexivität. In der aufwändigen aktuellen Absolventenstudie (vgl. Barz/Randoll 2007) geht aus 1127 Fragebögen (Rücklauf 32,2%) u. a. hervor, dass mehr als 80% der ehemaligen Waldorfschüler dreier Geburtskohorten (von 1939 bis 1974) sich an der Waldorfschule wohl und von den Lehrern geachtet gefühlt sowie die dort vermittelten Inhalte als sinnvoll erlebt haben. Dabei hat die Steinersche Anthroposophie für die meisten kaum eine besondere Rolle gespielt. Die Hälfte der Befragten hat die ihre eigenen Kinder inzwischen wieder dieser Schule anver-
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traut bzw. dort angemeldet. Der allergrößte Teil der Befragten sieht die positive Bedeutung der Schule in der Entwicklung von kreativen Fähigkeiten (88%), Selbstbewusstsein (75%), sozialer Rücksichtnahme (70%) und einer sinnvollen Lebensperspektive (59%). Von geringerer Bedeutung sind die Leistungsanforderungen, insbesondere in den Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Politik und Sport. Die aktuelle Absolventenstudie bestätigt im übrigen die Befunde einer älteren repräsentativen Befragung von Leber (1981), wonach die ehemaligen Waldorfschüler der Geburtsjahrgänge 1946/47 einen hohen Grad an beruflicher Mobilität aufweisen, eher soziale und kreative Berufsfelder bevorzugen und stärker bildungsorientierte Freizeitinteressen entwickeln. Von besonderem Interesse sind für unseren Zusammenhang die Befunde über die soziale Herkunft, die Bildungsabschlüsse und die berufliche Entwicklung der ehemaligen Waldorfschüler. Die Auswertung zu den Berufen der Eltern ergibt, dass die ehemaligen Waldorfschüler in Deutschland überwiegend aus der gehobenen, akademisch ausgebildeten Mittelschicht stammen, dem sogenannten „Bildungsbürgertum“. Während der Anteil der Akademiker in der deutschen Bevölkerung im Mikrozensus des Jahres 2004 bei 12% lag, gehörten mehr als 40% der Väter der ehemaligen Waldorfschüler dieser Gruppe an. Fast ein Fünftel der Waldorfeltern – mit steigender Tendenz in den jüngeren Alterskohorten – waren Lehrerinnen und Lehrer (aller Schulstufen und -arten); bei den Vätern folgten ihnen in der Häufigkeit die Ingenieure vor den Warenkaufleuten und den Unternehmern bzw. Organisatoren. Bei der größten Elterngruppe der Lehrer handelt es sich hauptsächlich um solche, die an staatlichen Schulen tätig sind. Die Waldorfschule hat es hier mit einer Klientel zu tun, die als kompetente „interne Öffentlichkeit“ hohe Bildungs- und Erziehungsansprüche an die Schule stellt, zugleich aber auch die erzieherische und unterrichtliche Arbeit der Waldorflehrerschaft in vielfältiger Weise unterstützen kann. Auch unter den Waldorfabsolventen stellen heute die Lehrerinnen und Lehrer mit 14,6% die größte Berufsgruppe dar. Wie bei ihren Vätern steht an zweiter Stelle der Beruf des Ingenieurs (9,8%); auch die Anteile der Gesundheitsdienstberufe (8,6%) sowie der Ärzte und Apotheker (7,7%) sind bei den Absolventen und ihren Vätern bzw. Müttern identisch. Dreifach so hoch wie bei ihren Vätern ist heute der Anteil der geistes- und naturwissenschaftlichen Berufe (9,5%) und doppelt so hoch ist die Zahl der Künstler (7,2%) unter den ehemaligen Waldorfschülern. Viel niedriger ist dagegen bei Ihnen der Anteil der Warenkaufleute. Im Vergleich mit der deutschen Gesamtbevölkerung sind also der Anteil der Lehrer unter den Waldorfschulabsolventen fast um das Fünffache und derjenige der Ingenieure um das Vierfache höher. Noch größer ist die Differenz bei den geistes- und naturwissenschaftlichen Berufen, bei Ärzten, Apothekern und bei Künstlern. Insgesamt ergibt sich, dass die ehemaligen Waldorfschüler fast vier-
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mal häufiger als die Grundgesamtheit (46,8% vs. 12%) eine Hochschulausbildung absolviert und überdurchschnittlich häufig akademische, künstlerische, medizinisch-therapeutische und sozialpflegerische Berufe erlernt haben. Unterdurchschnittlich seltener gehen sie in Berufe aus den Gruppen der Warenkaufleute und Bürofachkräfte, was auf eine eher wirtschaftsferne berufliche Orientierung hindeutet. Als wichtige Ergebnisse kann man festhalten: (1.) Die Waldorfschulen befähigen, trotz des Verzichts auf die Selektionspraxis und Leistungsdifferenzierung der staatlichen Schulen, ihre Schülerschaft zu erfolgreichen beruflichen Karrieren; (2.) Waldorfschulen sind Schulen für eine pädagogisch kompetente Elternschaft (mit einem frappierend hohen Lehreranteil), welche aufmerksam über die pädagogische Qualität ihrer Schule wacht; (3.) Die Waldorfschule ist heute keine Schule mehr für alle Kinder, sondern zentral eine Schule des akademisch-bürgerlich Milieus, welches sich hier habituell reproduziert.
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Exklusive Bildungsorte – mit dem Stachel ihres sozialistischen Ursprungs
Der pädagogische Erfolg der Waldorfschulen und ihr soziales Milieu lassen sich wahrscheinlich nicht völlig auf die anderen Schulmodelle der klassischen Reformpädagogik übertragen. Gleichwohl lässt sich die – programmatisch ungewollte – besondere Nähe von Reform- und Alternativschulen zu Elternhäusern aus der akademisch gebildeten oberen Mittelschicht selbst noch für staatliche Versuchsschulen konstatieren – z.B. für die Glocksse-Schule Hannover (vgl. Köhler-Krammling-Jöhrens 2000) und für die Helene-Lange-Schule Wiesbaden (vgl. Köller-Trautwein 2003). Allein schon durch die hohe Zahl der Anmeldungen und die Notwendigkeit von Auswahlgesprächen, in denen eine Erziehungspartnerschaft von Familie und Schule hergestellt wird, werden reformpädagogische Schulen zu exklusiven Bildungsorten. Von der weniger auf hohe Leistung als auf personale Bildung ihrer Kinder achtenden Elternschaft wird in der Regel erwartet, sich für die selbst gewählte Schule auch ideell und finanziell (durch Schulgeld und Spenden) persönlich zu engagieren. Die hohe Qualität und die nachhaltigen Wirkungen der reformpädagogischen Schulen lassen sich deshalb auch nicht allein aus der Wirkung ihrer kind- und gemeinschaftsorientierten „ganzheitlichen“ Lernkultur erklären. Bedeutsam ist das Ensemble der Sozialisationsbedingungen und Erziehungsmaßnahmen, die auf den Schüler an einer solchen Schule wirken. Stark vereinfachend könnte man in den Orientierungen der Elternschaft von Reform- und Alternativschulen – und exemplarisch in denen der Absolventen von Waldorfschulen (s. o.) – den Lebensstil der Leitkul-
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tur des postmateriellen Milieus erkennen (vgl. Merkle/Wippermann 2008: 94ff.): eine liberale Grundhaltung: Weltoffenheit, Toleranz, kritische Auseinandersetzung mit Übertechnisierung und Globalisierung unter dem Primat der Lebensqualität; einen postmateriell geprägten Individualismus: Freiräume für freie Entfaltung eigener Ideen, Zeitsouveränität und Entschleunigung, Harmonie zwischen Körper, Seele und Geist; ein hohes Selbstvertrauen: souveräner Umgang mit beruflichen und familiären Fragen; Leistungsbereitschaft, materieller Erfolg, aber keine klassische Karriereorientierung; ein humanistisches Verständnis von Bildung: anspruchsvolle kulturelle Interessen und soziale Engagements, Aversion gegen die hedonistische Konsum- und Mediengesellschaft. Die Vereinnahmung der ursprünglich "proletarischen" Schulmodelle durch die gesellschaftliche Leitkultur des postmateriellen Milieus – diese auch den Reformpädagogen selber Kopfzerbrechen bereitende soziale Vereinseitigung – findet vermutlich ihre hauptsächliche Ursache in der "kontrastiven" sozialpolitischen und pädagogischen Funktionsbestimmung insularer privater Schulen und Modellschulen inmitten eines staatlichen Regelschulsystems. Überall dort, wo Reform- und Alternativschulen aus einer radikalen Kampfansage gegen die Selektionspraxis und den „middle class bias“ des staatlichen Schulsystems hervorgegangen sind, kann man schon nach einigen Jahren praktischer Arbeit eine starke soziale Einseitigkeit zugunsten der schon immer schulisch erfolgreichen Kinder aus den pädagogisch ambitionierten liberalen Milieus der oberen Schichten erkennen. Insbesondere die Elternschaft des postmateriellen Milieus scheint sich in den reformpädagogischen Schulen jenen sozialen Halt zu schaffen, den ihr die traditionellen Institutionen der Kirche, der Parteien, Vereine und – wegen der erhöhten Mobilität – der lokalen Gemeinde nicht mehr geben können. Reform- und Alternativschulen wie z.B. die Montessori-, Waldorf-, Jena-Planund Freinet-Schulen erhalten nun einmal unter den modernen Bedingungen eines auch soziale Statuszuweisungen regelnden Schulwesens – wenn auch programmatisch ungewollt – spezifische Funktionen der sozialen Differenzierung und Auslese zugespielt. Zwar handelt es sich im Falle dieser Schulen um solche mit einer besonderen pädagogischen Prägung, die sich als Angebot formell an alle richtet, faktisch aber nur die wenigen erreicht, die es aufzunehmen wissen. Schon aufgrund der impliziten Selektionsprozesse, die sich aus dieser spezifischen sozialen Resonanz ergeben, dürften diese Reformschulen von vielen Problemen von vornherein weitgehend freigesetzt sein, die sich aus den Aufga-
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ben einer "Normalschule für jedermann" ergeben müssen und zu deren Lösung sie ursprünglich gegründet worden sind. An die Stelle des Drucks, gleichzeitig Schülerkontingenten sehr unterschiedlicher Herkunftsmilieus und Befähigungsniveaus gerecht werden zu sollen, tritt tendenziell die Möglichkeit, individuellen Unterschieden und Entwicklungen Raum zu geben, die aus einem homogeneren Einstellungs- und Lebenszusammenhang hervorgegangen sind. Die zusätzlichen Motivations- und Identifikationsmöglichkeiten, die schon die freie Schulwahl bzw. die Entscheidung für eine nicht alltägliche und dadurch exklusive Schulkultur bei Schülern und Lehrern mit sich bringt, sind ein weiterer Faktor, über den die reguläre staatliche Schule nicht ohne weiteres verfügt. Die reformpädagogischen Schulen erleichtern das schulische Lernen, indem sie im Vergleich zur staatlichen Regelschule vom unmittelbaren Selektionsdruck der Tests und Zensuren entheben; gerade schwächeren Schülern gewähren sie dadurch zusätzliche Hilfen. Die Entwicklung der Kinder verläuft auch anscheinend ohne größere Probleme, weil sie durch den engeren Kontakt von Lehrern und Eltern länger im Gesichtskreis der letzteren verbleiben und weil durch die gemeinsamen Erziehungsnormen der "polyvalente Pluralismus" des gesellschaftlichen Umfeldes in diesen pädagogischen Provinzen vorläufig eingegrenzt wird. Schule kann hier durchaus, wie bis ins 19.Jahrhundert hinein, als eine Verlängerung des Elternhauses erlebt werden, als eine primäre Gruppe, obwohl sie generell zur sekundären Zweckorganisation geworden ist. Die vier großen Schulbewegungen der klassischen Reformpädagogik sind in unterschiedlichem Maße von dem „Aufstieg“ in die gesellschaftlichen Leitmilieus betroffen, der sich an den Freien Waldorfschulen empirisch am klarsten aufzeigen lässt. Im Vergleich hiermit und mit den Jena-Plan- und FreinetSchulen weisen vermutlich die Montessori-Schulen – bedingt durch ihre vielfältigen staatlichen, kirchlichen und privaten Trägerschaften sowie durch die Pluralität der Adaptationen der Vorgaben Montessoris – ein breiteres Spektrum an Schulkulturen auf. Es reicht von einer traditionsreichen Grund- und Hauptschule in einem kleinbürgerlichen Stadtviertel einer rheinischen Großstadt bis zu einem erst kürzlich gegründeten Internationalen Ganztagsgymnasium in einem bevorzugten Wohngebiet im Umkreis einer polyglotten Bankenmetropole im RheinMain-Gebiet. Einige der heutigen Reformpädagogen betrachten seit langem mit Unbehagen den Aufstieg ihrer Schulen in die soziale Exklusivität eines gesellschaftlichen Leitmilieus und erinnern an die gänzlich entgegen gesetzten Absichten der Gründer. So spricht z.B. Peter Schneider ganz unverblümt von der „schwerwiegenden Fehlentwicklung“ der Waldorfschule zu einem „patentgeschütztem Alternativgymnasium […] mit einer entsprechend bildungsprivilegierten Elternschaft“ (Schneider 2006: 116). Der Waldorfschule sei auf ihrem Weg zum Erfolg der soziale Auftrag abhanden gekommen. Eine solche
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selbstkritische Rückbesinnung auf den sozialistischen Anfang muss in einer saturierten Schulbewegung wie ein Stachel im Fleisch wirken. Diese gedankliche Wiederbelebung der Ursprungssituation hat im Kreise engagierter Waldorfpädagogen im Jahre 2003 zur Gründung der ersten interkulturellen Waldorfschule im sozialen Brennpunkt Mannheim-Neckarstadt geführt (vgl. Brater et al. 2007). Mehr als die Hälfte (53%) der Schülerschaft dieser Schule ist im Jahr 2006 ausländischer Herkunft; ihre Eltern sind aber nicht nur aus der Türkei zugewandert, sondern aus insgesamt elf Nationen. Auch das Lehrerkollegium ist interkulturell zusammengesetzt; etwa die Hälfte der Pädagogen hat selbst das Schicksal der Migration erfahren. Ein sehr großer Teil (41%) der Schülerschaft hat mit Lernproblemen zu kämpfen, z.B. mit Legasthenie, ADHS und anderen Verhaltensauffälligkeiten. Etwa 60% der Eltern haben die Haupt- oder Realschule besucht, nur in 37% der Familien besitzt ein Elternteil das Abiturszeugnis. Fast alle Kinder dieser gebundenen Ganztagsschule (mit Hortbetreuung) kommen aus dem sozialen Brennpunkt Neckarstadt-West. Die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim ist also – wie die erste Waldorfschule in Stuttgart – eine Stadtteilschule für sozial und kulturell benachteiligte Kinder und Jugendliche. Man kann sie als eine neue und zugleich genuin reformpädagogische Antwort auf zentrale soziale Fragen der Gegenwart betrachten.
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Ausblick
Die Bedeutung der klassischen Reformpädagogik für die Weiterentwicklung des Schulwesens wird kontrovers beurteilt. Auf der einen Seite stehen die notorischen Kritiker der Reformpädagogik, für die sie „weder eine reine Erfolgsgeschichte noch ein einfaches Vorbild [ist], und es ist sehr die Frage, ob mit ihren Konzepten auf die Modernisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts reagiert werden kann. Auf Globalisierungsprozesse in postindustriellen Gesellschaften mit hohen Risiken von Arbeit, Lernen und Beschäftigung wird man kaum mit normativer ‚Kindzentrierung’ antworten können“ (Oelkers 2003: 25). Auf der anderen Seite ist zu fragen, ob nicht gerade die Schulen der klassischen Reformpädagogik zentralen pädagogischen Herausforderungen des reflexiven Modernisierungsprozesses eher gewachsen sind: (1.) der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft und des damit ansteigenden Betreuungsbedarfs, (2.) der stärkeren Notwendigkeit, jeder Schülerperson individuelle Unterstützung zukommen zu lassen und dabei kreative Methoden zur Lernmotivierung und aktivierung zu nutzen, (3.) der wachsenden Bedeutung von Kommunikation, Partizipation und Evaluation an der Einzelschule als einer Organisation mit größer werdender Gestaltungsautonomie (vgl. Kultusministerkonferenz 2003,
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insbes. die Seiten 81, 115, 145, 155 u. 234). Die immer häufiger zu registrierenden Übernahmen reformpädagogischer Praxiselemente in staatliche Regelschulen (insbes. in Grund-, Gesamt- und Ganztagsschulen) spricht eher für diese zweite Auffassung. Eine Fallstudie von Hummrich/Helsper/Graßhoff (2007) zeigt, dass auch und gerade in städtischen Hauptschulen, die schulisch gescheiterte Jugendliche mit erheblichen Leistungsdefiziten aus häufig problembelasteten instabilen Familien zusammenführen, langjährig kontinuierliche und emotional fürsorgliche, personzentrierte pädagogische Beziehungen – wie wir sie sonst nur in reformpädagogischen Schulen antreffen – Schülerinnen und Schüler aus Selbstzweifeln und Gleichgültigkeit herausführen können. Als „Schulfamilie“, die den Jugendlichen die familiär ausfallende „Lebenshilfe“ geben kann, wird die Hauptschulklasse zur Eröffnung von Zukunft. Eine ähnlich produktive Wirkung wie diese reformpädagogische Entgrenzung im Sozialen kann auch eine entsprechende Entgrenzung im Fachlichen auslösen, wenn z.B. in Klassenprojekten und an beruflichen Lernorten außerhalb der Schule das Lernen wieder als unmittelbar relevant erfahren werden kann.
Literatur Allmann, Silke (2007): Lernalltag in einer Montessori-Schule – Kinder zwischen Selbstständigkeit und Anpassung. Münster u. a.: Waxmann Arbeitskreis Lichtwarkschule (Hrsg.) (1979): Die Lichtwarkschule. Idee und Gestalt. Hamburg: Christians Verlag Baader, Meike Sophia (2006): Der heilige Kosmos der Reformpädagogik. Der Lehrer als Priester, das heilige Kind, der Jüngling als Novize, der Unterricht als Weiheveranstaltung. In: Hofmann et al. (2006): 75-97 Barz, Heiner (1994): Anthroposophie im Spiegel von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung. Zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Barz, Heiner/Randoll, Dirk (Hrsg.) (2007): Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. Wiesbaden: VS-Verlag Bauer, Horst Philipp/Schneider, Peter (Hrsg.) (2006): Waldorfpädagogik. Perspektiven eines wissenschaftlichen Dialogs. Frankfurt a. M.: Peter Lang Becker, Hellmut (1980): Die verspätete Lehrerbildung. In: Neue Sammlung 20. 1980. 478-491 Benner, Dietric/Oelkers, Jürgen (Hrsg.) (2004): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz Böhm, Winfried (1969): Maria Montessori. Hintergrund und Prinzipien ihres pädagogischen Denkens. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Böhm, Winfried/Harth-Peter, Waltraud/Rjdl, Karel/Weigand, Gabriele/Winkler, Michael (Hrsg.) (1994): Schnee vom vergangenen Jahrhundert. Neue Aspekte der Reformpädagogik. Würzburg: Ergon Bohl, Thorsten (2005): Leistungsbeurteilung in der Reformpädagogik. Analyse und Gehalt der Beurteilungskonzeptionen . Weinheim/Basel: Beltz
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Ursprünglich für die Schwachen
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Die Goethe-Grundschule in Mainz Schulporträt einer Schule in einem multikulturellen Stadtteil Gabriele Erlenwein
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Die Ausgangslage für die schulische Arbeit an der GoetheGrundschule in Mainz
Die Goethe-Grundschule in Mainz ist eine vier- teilweise fünfzügige Schule in einem multikulturell geprägten Stadtteil. Sie wird derzeit von ca. 300 Kindern aus ca. 35 verschiedenen Nationen besucht. Den Schwerpunkt bilden mit fast 40 % die türkischen Kinder, ca. 20 % der Kinder sind deutscher Abstammung, der Rest verteilt sich über den gesamten Erdball. Dennoch ist die GoetheGrundschule keine der Schulen, für die ambitionierte Eltern Schulgeld bezahlen würden, um ihren Kindern dieses internationale Flair angedeihen zu lassen. Es sind eben nicht die Kinder ausländischer Professoren, Ärzte oder Manager, die diese Schule besuchen. Es sind zu einem großen Teil Migrantenkinder, deren Eltern auch in ihren Heimatländern eher zur bildungsfernen Schicht gehören. Viele Eltern, vor allem die Mütter, haben selbst nur wenige Jahre eine Schule besucht, manche sind auch Analphabeten. Bücher, aus denen den Kindern regelmäßig vorgelesen würde, sind in deren Haushalten selten, dies gilt auch für viele der deutschen Familien. Das vielfach beschriebene Problem der Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern ist m. E. kein Migrations-, sondern vielmehr ein Schichtenproblem. Die Arbeitslosenquote im Stadtteil wächst kontinuierlich an und geht einher mit einer zunehmenden Armut, die sich für die Schulkinder unter anderem in fehlenden Unterrichtsmaterialien und nicht bezahltem Mittagessen ausdrückt, ganz zu schweigen von den durch die Lehrer nur mühsam einzusammelnden Beträgen für Theaterbesuche und Ausflüge. Für das Mittagessen stellt das Land Rheinland-Pfalz mittlerweile zwei Fonds zur Verfügung: einen Fond für Leistungsempfänger und einen für Eltern mit geringem Einkommen. Den Eltern bleibt in diesen Fällen ein Eigenanteil von einem Euro pro Mahlzeit, aber auch der wird nicht immer bezahlt.
Die Goethe-Grundschule in Mainz
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Damit dennoch kein Kind aus finanziellen Gründen vom gemeinsamen Mittagessen oder auch anderen Aktivitäten ausgeschlossen wird, betrachtet es die Schule als ihre Aufgabe, Spendengelder zu akquirieren und bereitzustellen. Darüber hinaus benötigen immer mehr Eltern Beratung und Unterstützung sowohl bei der Förderung als auch bei der Erziehung ihrer Kinder. Eine Vernetzung mit anderen Berufsgruppen und Institutionen wie Kinderärzten, Therapeuten, Logopäden, Jugendämtern und Erziehungsberatungsstellen ist mittlerweile unerlässlich. Sozialarbeit und -pädagogik rücken zusehends in den Arbeitsalltag der Lehrerinnen und Lehrer, ohne dass dieser Aufgabenbereich in der Berufsbeschreibung und Arbeitszeitregelung Berücksichtigung finden würde.
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Spracharbeit als durchgängiges Unterrichtsprinzip
In diesem Abschnitt wende ich mich dem „Kerngeschäft“ von Schule zu: dem Unterricht. Unabhängig vom Fach liegt an der Goethe Grundschule der Schwerpunkt im Unterricht auf der Spracharbeit. Sie ist durchgängiges Unterrichtsprinzip in allen Fächern. Dies ergibt sich zum einen aus dem mittlerweile über 80 % liegenden Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, aber auch aus dem hohen Förderbedarf vieler deutscher Kinder. Auch bei ihnen ist häufig eine intensive Wortschatz- und Satzstrukturarbeit notwendig. Es würde nicht ausreichen, diese Spracharbeit nur auf den Deutschunterricht zu beschränken, sie muss in allen stattfindenden Kommunikationssituationen bedacht werden. Im ersten Schuljahr z. B. wird für den Lese- und Schreiblehrgang der Wortschatz herangezogen, der den Kindern aus ihrer Schul- und Wohnumgebung sowie ihrer Lebenswelt bekannt ist, und der durch die Beschäftigung damit im Unterricht auch in ihren aktiven Wortschatz übergeht. Das heißt, es werden Straßen und Plätze, die Geschäfte, die möglichen Aktivitäten, bekannte Personen u. v. m. in den zu erarbeitenden Wortschatz aufgenommen. Methodisch werden dabei Anleihen bei der Sprachförderarbeit der umliegenden Kindertagesstätten genommen, so dass die Kinder auch dabei an Vertrautes anknüpfen können. Aber auch in Fächern wie Mathematik, Sport, Musik etc. wird auf eine bewusste Spracharbeit geachtet. Jegliches Tun soll nach Möglichkeit verbalisiert werden, wobei auf vollständige und grammatikalisch richtige Sätze geachtet wird. Auf diese Weise wurde die Spracharbeit natürlich auch in den Focus des schuleigenen Qualitätsprogramms genommen und zieht sich somit als Querschnittsaufgabe durch alle Arbeitspläne.
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Gabriele Erlenwein
Eigens für die Kinder mit Migrationshintergrund gibt es darüber hinaus auch noch Fördermaßnahmen in dem Bereich „Deutsch als Zweitsprache“. Diese reichen von der integrativen Begleitung im Klassenverband über äußere Differenzierungsmaßnahmen in Kleingruppen bis hin zu eigenständigen Lehrgängen für Seiteneinsteiger. Da wir mittlerweile wissen, wie wichtig die gute Beherrschung der Muttersprache für den erfolgreichen Erwerb einer Zweit- oder gar Drittsprache ist, legt die Schule großen Wert darauf, dass die Schülerinnen und Schüler auch den muttersprachlichen Unterricht besuchen. Mit 40 % bilden die türkischstämmigen Schülerinnen und Schüler, die größte Sprachgruppe. Der Schule steht für diese Kinder ein eigener Lehrer zur Verfügung, der sie in türkisch unterrichtet. Um die Muttersprache und die Zweitsprache enger zu verzahnen und füreinander nutzbar zu machen, finden enge Absprachen zwischen dem Türkischlehrer und den Klassenlehrerinnen und -lehrern statt. Pro Schulhalbjahr wird auf jeder Klassenstufe für die beiden Sprachgruppen mindestens ein Unterrichtsprojekt gemeinsam vorbereitet und parallel durchgeführt. Konkret bedeutet dies, dass die türkischen Kinder an einem Thema gleichzeitig den türkischen und den deutschen Wortschatz erarbeiten sowie grammatikalische Strukturen einüben und gegebenenfalls auch Vergleiche anstellen. Im „deutschen“ Unterricht erfahren über diese Einbeziehung auch die deutschen bzw. anderssprachigen Kinder etwas über die Unterschiedlichkeiten oder auch Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachen. Dies ist ein Baustein der interkulturellen Bildung, die bei jeder Unterrichtsplanung ebenfalls immer mitbedacht wird.
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Die Goethe-Grundschule als Ganztagsschule
Als die rheinland-pfälzische Landesregierung vor einigen Jahren das Programm „Ganztagsschule in Angebotsform“ aufgelegt hat, gehörte die GoetheGrundschule zu den ersten Schulen, die sich darum bewarb. Mittlerweile arbeitet sie im fünften Jahr als Ganztagsschule, die Teilnehmerzahlen sind vergleichsweise stabil und liegen kontinuierlich bei etwas über 50 %, d.h. ca. 150 Kinder nehmen das Angebot an, die Tendenz ist steigend. Die Ganztagsschule ist eine wichtige Maßnahme, um notwendige Kompensationsaufgaben zu leisten. Dies bezieht sich sowohl auf das regelmäßige warme Mittagessen, als auch auf die Betreuung der Hausaufgaben sowie auf die Bildungs- und Freizeitangebote in Form von Arbeitsgemeinschaften. Im Grunde
Die Goethe-Grundschule in Mainz
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übernimmt die Schule hier die Bereitstellung von Aktivitäten, die in bildungsorientierten und ambitionierten Elternhäusern durch die Familie organisiert werden. In diesem Rahmen wird in den letzten Jahren auch verstärkt sozialpädagogische Förderarbeit angeboten und geleistet. (siehe auch unter Punkt 4) Vielfach wird im Zusammenhang mit der Ganztagsschule die Frage gestellt, inwieweit sie tatsächlich schulische Verbesserungen erzielen könne. Häufig wurde ihr sogar der Vorwurf gemacht, dass sie nur Betreuungsarbeit leisten würde. In den ersten Jahren unserer seit nunmehr 5 Jahren bestehenden Ganztagsschule konnten wir diese Frage immer nur ’nach unserem Eindruck’ beantworten. Es zeigte sich deutlich, dass die Kinder viel regelmäßiger ihre Hausaufgaben erledigen und dadurch natürlich auch entspannter zur Schule kommen. Auffallend ist auch eine Verbesserung des Sozialverhaltens, obwohl es nicht immer die ‚einfachen’ Kinder sind, die in der Ganztagsschule angemeldet werden. Mittlerweile wissen wir es genauer: In den letzten beiden Jahren haben wir in einer Statistik erfasst, welche Kinder zu welchen weiterführenden Schulen empfohlen werden. Es hat sich gezeigt, dass deutlich mehr Ganztagskinder im Vergleich zu Halbtagskindern eine Realschulempfehlung erhalten: GTS HTS
HS 36 % 47 %
Real. 49 % 28 %
Gym. 15 % 25 %
Tabelle 1: Auswertung nach GTS/HTS (Schuljahr 2006/07) Auch die Auswertung nach Nationalitäten bestätigt die eingangs aufgestellte Behauptung, dass es nicht unbedingt die Nationalität, sondern vielmehr die Schichtzugehörigkeit ist, die über den Bildungserfolg entscheidet:
Migrationsh. Deutsch
HS 35 % 56 %
Real. 43 % 31 %
Gym. 22 % 13 %
Tabelle 2: Auswertung nach Nationalität (Schj. 2006/07)
112 4
Gabriele Erlenwein Zusammenarbeit mit anderen Institutionen
Über die Ganztagsschule vollzog sich in besonderer Weise eine Öffnung der Schule nach außen. Durch die verschiedenen Kooperationen mit anderen Einrichtungen und Institutionen entstand u.a. der Kontakt zu anderen Berufsgruppen, die gerade im Bereich der Sozialerziehung eine umfassende Rolle für die gesamte Schule spielen und mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind. Als Beispiel sei das in Kooperation mit dem Deutschen Kinderschutzbund durchgeführte Projekt „Kurve kriegen“ genannt. Im Rahmen der Ganztagsschule werden sozialpädagogische Gruppen für Kinder, die wiederholt durch Regelverstöße und unangemessenes Verhalten auffallen, angeboten. Es ist ein eher niedrigschwelliges Angebot im Bereich der Präventionsarbeit, das gute Erfolge verzeichnet. Deutlich intensiver und umfänglicher ist das sogenannte Schulinterventionsprogramm (SchiP), das die Schule 2004 gemeinsam mit dem Deutschen Kinderschutzbund und dem städtischen Jugendamt ins Leben gerufen hat. In diesem Projekt sind eine Diplompsychologin und zwei Sozialpädagoginnen direkt an der Schule beschäftigt. Sie arbeiten mit Kindern für deren Verhalten das Methodenrepertoire und die Möglichkeiten einer Grundschullehrerin nicht mehr ausreichen. In Form von Einzel- und Kleingruppenmaßnahmen erhalten diese Kinder Unterstützung bei der Bewältigung ihrer schulischen Aufgaben. Dazu gehört auch eine intensive Zusammenarbeit mit den Eltern, da dies eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg solcher Maßnahmen ist. Ein weiterer wichtiger Baustein unserer Zusammenarbeit mit Organisationen und Trägern außerhalb der Schule ist die enge Verbindung mit Kindertagesstätten. Viele Kinder nehmen dort bereits an Sprachfördermaßnahmen teil, deren Methodik mittlerweile von der Schule für die Arbeit in den ersten Klassen aufgegriffen wird, so dass die Kinder an Vertrautes anknüpfen können. Innerhalb der Zusammenarbeit mit den Kindertagesstätten wurde darüber hinaus ein Projekt installiert, das den Übergang vom Kindergarten in die Schule gestaltet. Dabei werden die Kinder in ihrem letzten Jahr vor der Einschulung allmählich an die Schule herangeführt, indem sie jede Woche für zwei Stunden in kleinen Gruppen in die Schule kommen. Über entsprechende Aktivitäten, z. B. vorlesen und experimentieren im Klassenzimmer, turnen in der Turnhalle, spielen auf dem Schulhof, Mittagessen im Speisraum der Ganztagsschule etc., lernen sie die Räumlichkeiten, die Personen sowie die Abläufe der Schule kennen. Bei ihrer Einschulung treffen sie auf Bekanntes und Vertrautes und wissen sich zu orientieren. Geleistet wird diese Arbeit gemeinsam von Mitarbeiterinnen der Schule und Erzieherinnen der Kindertagesstätten. Die schulischen Mitarbeiterin-
Die Goethe-Grundschule in Mainz
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nen sind pädagogische Fachkräfte aus dem Nachmittagsbereich der Ganztagsschule, die am Vormittag noch Kapazitäten frei haben.
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Fazit
Durch die mittlerweile mehrjährige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen hat sich eine Anfangsvermutung besonders bestätigt: Für den Erfolg von Förder- und Unterstützungsmaßnahmen ist es in besonderem Maße wichtig, dass sie nicht isoliert nebeneinander her stattfinden, sondern dass sie dort verortet sind, wo die Probleme auftreten und wo sie benötigt werden. Schulen, gerade die ‚in schlechter Gesellschaft’, müssen umfängliche Förderzentren werden, in denen verstärkt auch andere Professionen arbeiten und in die Kollegien integriert sind. Dazu gehören in erster Linie Berufsgruppen wie Sozialarbeiter und -pädagogen, aber auch Logopäden und Ergotherapeuten. Vorbild könnten in diesem Zusammenhang auch die englischen Schulen sein, in denen in jeder Klasse Assistenzkräfte die Lehrerinnen und Lehrer in der täglichen Arbeit unterstützen.
Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz Das Beispiel: Goethe-Grundschule in Mainz Isabel Neto Carvalho
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Geschichte der Ganztagsschule in der BRD „Seit Beginn des Schuljahres 2002/2003 gibt es in Rheinland-Pfalz Ganztagsschulen in neuer Form. Bis zum Schuljahr 2006/2007 entstanden bereits 360 Ganztagsschulen in Angebotsform. Damit ist das Ziel, bis zum Jahr 2006 insgesamt 300 Ganztagsschulen in neuer Form in Rheinland-Pfalz einzurichten, bereits übertroffen worden. Für die laufende Legislaturperiode sind weitere 200 Ganztagsschulen geplant, von denen im Schuljahr 2007/2008 etwa 40 Ganztagsschulen dazukommen werden.“31 „Insgesamt besteht das Netz der Ganztagsschulen in Angebotsform zum Schuljahr 2007/2008 aus 178 Grundschulen, 83 Hauptschulen, 45 Förderschulen, 41 Regionalen Schulen, 22 Gymnasien, 21 Realschulen, 7 Integrierten Gesamtschulen und 6 Dualen Oberschulen.“32 (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz)
In der bundesrepublikanischen Bildungslandschaft nimmt das Bundesland Rheinland-Pfalz mit diesem weit gespannten Netz an Ganztagsschulen durchaus eine Sonderrolle ein. Die Ganztagsschule in Deutschland ist allerdings kein Phänomen des neuen Jahrtausends, denn im 19. Jahrhundert galt die ganztägige Beschulung als Normalform. Während am Vormittag Unterricht nach Stundentafel stattfand und am Nachmittag die dazugehörigen Hausaufgaben erledigt wurden, gingen die Kinder, angelehnt an den Alltag der handwerklichen Betriebe, zum Mittagessen nach Hause. Um die Jahrhundertwende wurde der Schulunterricht allerdings, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, zumeist auf den Halbtag beschränkt. Einige Gründe dafür waren die langen Schulwege zu den weiterführenden Schulen oder die Einführung des Schichtunterrichts in den überfüllten Klassen der Elementarschulen. Mit Beginn des 1. Weltkrieges endete jegliche ganztägige Förderung und wurde auch vorerst nicht wieder aufgenommen, da das nationalsozialistische Regime die außerschulische Jugendarbeit 31
URL: http://www.mbwjk.rlp.de/bildung/ganztagsschule.html [17.07.07] Pressemitteilung vom 20.03.07; URL: http://bildungsklick.de/pm/51930/gruenes-licht-fuer-43neue-schulstandorte/
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Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz
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ausbaute. Mit Gründung der ersten Reformschulen in Deutschland wurde die Ganztagsschule wieder zum Thema gemacht, die nun auch sozialpädagogische und sozialpolitische Aufgaben erfüllen sollte. 1955 wurde der Ganztagsschulverband (GGT) gegründet und in den 1960ern sprach der Bildungsrat eine Empfehlung für die Ganztagsschule aus, deren ganzheitlicher Ansatz als besonders förderlich für das Lernen angesehen wurde. Trotzdem waren im Jahr 2002 nur 2% aller Schulen in Deutschland Ganztagsschulen. Vorgebrachte Positionen gegen die Einführung der Ganztagsschule sind folgende (siehe auch Wunder 2007: 5356): Kirchen und andere eher konservativ ausgerichtete Institutionen konstatieren, dass der Nachmittag den Kindern und ihren Eltern gehört und durch die Ganztagsschule die Erziehungskraft der Familie geschwächt wird. Eine weitere, vor allem aus der Jugendarbeit entstandene Position fordert, dass der Unterricht nicht auch noch auf den Nachmittag ausgeweitet werden soll, denn dies würde zu einer Verschulung der Freizeit und damit zu einer Überlastung der Schülerinnen und Schüler führen. Befürworter der Ganztagsschule nehmen an, dass eine verlängerte Schule auch eine bessere Schule ist, wozu aber reformpädagogische Neuerungen und eine damit einhergehende Bereicherung der Lernkultur notwendig ist. Vor allem nach dem schlechten Abschneiden in den internationalen Leistungsvergleichsstudien („PISA-Schock“) wurde im neuen Jahrtausend von Seiten der Bildungsministerien Maßnahmen zur Einführung von mehr Ganztagsschulen ergriffen, indem zum Beispiel das Bundes-Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) eingerichtet wurde, welches den Aufbau von Ganztagsschulen durch ein auf ganz Deutschland verteiltes Fördervolumen von 4 Milliarden Euro unterstützen soll. Heute gehen etwa 15% aller Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen auf eine Ganztagsschule.
2
Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz – Rahmenbedingungen und pädagogische Ziele
Die Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz bilden auch vor diesem Hintergrund eine Ausnahme, denn die Einführung der ersten Ganztagsschulen in neuer Form fand schon vor der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Jahr 2003 statt. Das Vorantreiben des Ausbaus von Ganztagseinrichtungen hatte vor allem familienpolitische Hintergründe und sollte die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten und zu mehr Chancengleichheit beitragen. In einer Regierungserklärung aus dem Jahr 2005 gibt Landesbildungsministerin Doris Ahnen folgende Erklärung ab:
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Isabel Neto Carvalho „Mit dem neuen Programm wollen wir die Kinder- und Familienfreundlichkeit weiter ausbauen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern, die demografische Entwicklung aktiv gestalten, Kindertagesstätten wohnortnah erhalten, soziale Benachteiligung abbauen, Menschen mit Migrationshintergrund gezielt unterstützen, Chancengleichheit fördern, früher mit der Bildung beginnen, das Bildungssystem konsequent weiterentwickeln und möglichst viele Menschen qualifizieren.“ (Plenarprotokoll 14/89. 25.Februar 2005)
Die Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz kann, wie zuvor, in verpflichtender Form oder in der neu hinzugekommenen Angebotsform geführt werden. Diese findet an vier Nachmittagen der Woche bis 16 Uhr statt, die sich, neben dem Mittagessen, durch vier verbindliche Gestaltungselemente, welche in ausgewogenem Verhältnis stehen sollen, auszeichnen sollen: 1. 2. 3. 4.
unterrichtsbezogene Ergänzungen themenbezogene Projekte Förderung Freizeitgestaltung
Die Ausformung dieser Elemente ist dennoch jeder Ganztagsschule selbst überlassen, denn das Programm des Ministeriums in Rheinland-Pfalz setzt auf lokale Entwicklung, was jeder Einzelschule einen individuellen Gestaltungsraum eröffnet. Die Teilnahme am Nachmittagsangebot muss eine freiwillige sein, die nach der Anmeldung aber für ein Jahr verbindlich ist, wodurch die Schulpflicht auf den Nachmittag ausgedehnt wird. Diese Entscheidung wird meistens stellvertretend von den Eltern getroffen, was zu dem von Idel und Kunze (ebd. 2008: 99) so genannten Paradox der „freiwilligen Verpflichtung“ führt. Andererseits unterliegt die Teilnahme an dem Ganztagsangebot auch der Akzeptanz durch die Schülerinnen und Schüler, welches sich daher jedes Jahr neu beweisen muss. Zurzeit können in der Ganztagsschullandschaft in Rheinland-Pfalz drei Formen der Ganztagsgestaltung ausgemacht werden: Bei der additiven Form handelt es sich eher um ein strukturkonservatives Modell, bei dem die Nachmittagsgestaltung häufig außerschulischen Fachkräften überlassen wird. Idel und Kunze (ebd.: 101) sprechen hier von „zwei Schulkulturen in einer Schule“, da beides maximal über die Hausaufgaben verbunden nebeneinander existiert. Zudem lässt sich aber ein weiteres additives Modell in Verbindung mit unterrichtsbezogenen Projekten ausmachen. Hier werden die Nachmittagsangebote in der Hauptsache von Lehrern oder in Kooperation mit Außerschulischen gestaltet, wodurch deren beider Zuständigkeitsbereich erweitert werden kann. Hier bleibt aber, ebenso wie im anderen additiven Modell das Problem bestehen, dass die Schülerinnen und Schüler einer Schule einen sehr unterschiedlichen Tagesablauf haben, was das
Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz
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gemeinsame Schulleben erschwert. Zuletzt gibt es auch das zügige Modell, welches am meisten Transformationsmöglichkeiten enthält, da es einen rhythmisierten Schulalltag ermöglicht, der sich durch ganze Klassen zieht, welche in diesem Modell entsprechend zu einem Ganztagszug zusammengefasst werden. Die dadurch gegebene Möglichkeit einer rhythmisierten Zeitgestaltung gestattet es, das Problem der Hausaufgaben, welches von den Akteuren meist als zentral angesehen wird, besser zu bearbeiten, da die Lernzeit in den Unterricht integriert werden kann. Neben der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf nennt Doris Ahnen die „Qualitätssteigerung in der Bildung und mehr Chancengleichheit“33 als zentrale Ziele von Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz. Es zeichnet sich also neben der familienpolitischen Dimension eine zweite Dimension ab: dass durch Ganztagsschule eine Steigerung von Leistungserträgen erreicht werden soll und zwar nicht nur bei den Hochbegabten, sondern vor allem auch bei Kindern aus bildungsfernen Milieus und aus Migrantenfamilien. Dies soll, laut der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung in der Ganztagsschule folgendermaßen umgesetzt werden: Schule soll nicht mehr nur als Unterrichtsraum, sondern als Lebensraum gesehen werden, in dem ganzheitliche Erfahrungen gesammelt werden können. Dies soll zu einer anderen Lernkultur führen, in der auch neue, zeitintensivere Lernformen Berücksichtigung finden. Zudem soll sich Schule außerschulischem Personal öffnen und damit unter anderem eine sinnvolle Freizeitgestaltung anbieten, besser auf Probleme der Kinder reagieren und ihre Lebenswelt besser mit einbeziehen können. Bei dem Personal handelt es sich laut Arnoldt (2007: 94-98) um einen sogenannten „Personalmix“, was auf die Heterogenität in Bezug auf die Anbieterorganisationen (freie, öffentliche und gewerbliche Anbieter) und das Angebot zurückzuführen ist. In Grundschulen werden Erzieherinnen, legt man die Wochenstundenzahl zugrunde, am häufigsten eingesetzt. Zudem gibt es einen vergleichsweise hohen Anteil an Personen ohne Hochschulabschluss und ohne pädagogisch einschlägige Qualifizierung, die an Grundschulen 22,6 % des Ganztagspersonals ausmachen. Jedoch „im Mittelpunkt aller pädagogischer Arbeit steht die Förderung eines jeden Schülers. Ganztagsschule bietet mehr Zeit und Raum für die individuelle Förderung des Einzelnen. Lehrkräfte können gemeinsam mit Schülern und Kollegen Förderkonzepte erstellen.“34
33
www.mbwjk.rlp.de/aktuelle-nachrichten/browse/4/article/ahnen-gemeinsam-mit-eltern-fuerbessere-chancen-in-der-bildung.html?tx_ttnews%5BbackPid%5D=11&cHash=d43a01942c 34 Institut für schulische Fortbildung und schulpsychologischer Beratung; http://ifb.bildungrp.de/themen/ganztagsschule/unser-angebot-fuer-sie/eine-foerdernde-schule.html (Stand: 17.07.07)
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Unter anderem ist hier die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund einbegriffen, die gezielten Sprachunterricht erhalten sollen. Gleichzeitig soll Interkulturalität als Bereicherung wahrgenommen werden und in das Lernen integriert werden. Auch durch das gemeinsame Mittagessen, welches als neuer elementarer Bestandteil zur Ganztagsschule hinzugekommen ist, sollen pädagogische Ziele verfolgt werden: „Das gemeinsame Mittagessen ist […] ein integraler Bestandteil des Ganztagsschulangebots. Es ist nicht nur wichtig, um den Hunger zu stillen und Kraft zu tanken, sondern es schafft Zusammengehörigkeitsgefühl, Tischsitten, Regeln und Tischmanieren werden eingeübt, es erzeugt Geborgenheit in der Gemeinschaft, es gibt Gelegenheit, mit anderen Kindern und Lehrkräften zusammen zu sein als am Vormittag.“35
Holtappels (2006: 9-11) fasst zusammen, dass es also mehrere Begründungszusammenhänge zur Einführung der Ganztagsschule gibt. Erstens soll durch sie ein erhöhter Bedarf an erzieherischer Versorgung abgedeckt werden. Zweitens soll die sozialerzieherische Funktion von Schule gestärkt werden, indem die Schule familienunterstützend und integrativ wirksam wird. Drittens soll sie auf die gewandelten Bildungsanforderungen36 reagieren und viertens soll sie die Verbesserung der Begabungsausschöpfung und der Chancengleichheit als Reaktion auf PISA und andere Leistungsvergleichsstudien gewährleisten.
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Die Goethe-Grundschule in Mainz als Beispiel einer Ganztagsschule
Die Goetheschule ist seit dem Schuljahr 2003/2004 eine Ganztagsschule. Diese ist in Angebotsform und additiv organisiert. D. h., dass nicht alle Schülerinnen und Schüler der Schule, laut Angaben der Schulleitern etwas über 50%, und auch nicht ganze Klassen an dem Nachmittagsangebot teilnehmen. Aus dem Ganztagsschulkonzept der Goetheschule ist folgende Zeittafel zu entnehmen:
35 Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend des Landes Rheinland-Pfalz (o.J.): Alles über die Ganztagsschule: http://www.mbfj.rlp.de/fileadmin/Dateien/Downloads/Bildung/ganztagsschule.pdf (Stand: 25.07.07) 36 Hier sind die folgenden Aspekte zu nennen: höhere formale Bildungsabschlüsse, zunehmende Bedeutung von komplexen Zusammenhängen, zentrale Lebensfragen als Bildungsinhalte.
Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz
Uhrzeit 11.55/12.10-13.00
14.00-15.00
1. Klasse Mittagessen Betreute Spielzeit Angeleitetes Lernen Betreute Spielzeit
15.00-16.00
Betreute Spielzeit
13.00-14.00
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2. Klasse Mittagessen Betreute Spielzeit Angeleitetes Lernen Betreute Spielzeit
3./4. Klasse VHTS Mittagessen Betreute Spielzeit Angeleitetes Lernen AGs
Betreute Spielzeit oder AGs Tabelle 3: Das Ganztagsschulkonzept der Goethe-Grundschule in Mainz
Der Nachmittag ist so organisiert, dass er für die erste und zweite Klasse und für die dritte und vierte Klasse mehr oder weniger parallel verläuft. Dies ist organisatorisch bedingt, da die dritten und vierten Klassen eine Schulstunde länger den Vormittagsunterricht besuchen. Aber auch die ersten und zweiten Klassen verbringen ihre Zeit nur zum Teil miteinander, denn um Wartezeiten zu vermeiden, essen zuerst die ersten und wenn diese fertig sind die zweiten Klassen. Auch die Tischgemeinschaften, die Arbeitsgemeinschaften (AGs) und die Gruppen, in denen die Hausaufgaben erledigt werden, werden klassenweise oder zumindest stufenweise gruppiert. Um eine „klare und übersichtliche Struktur“37 zu etablieren, findet also eine äußere Differenzierung statt. Hier deuten sich die konzeptuellen Begrenzungen in der additiven Strukturierung des Nachmittags an: Die zeitlichen Vorgaben des Vormittags haben auch Auswirkungen auf die Rhythmisierung des Nachmittags, so dass das Lernen voneinander, welches auch in altersheterogenen Gruppen stattfinden kann, eher unterbunden wird, so dass die Strukturen des Vormittags reproduziert werden. In der Konstruktion der Akteure erscheint das integrierte System ebenfalls als bessere Alternative38 und eine rhythmisierte Form als Tor zu neuen pädagogischen Möglichkeiten, die aus finanziellen Gründen aber noch nicht in Erwägung gezogen worden ist. Was die Goethe-Grundschule auszeichnet, ist das umfangreiche und ausgewogene AG-Angebot, welches die Schülerinnen und Schüler in vielfältiger Form ansprechen und fördern soll. Die meisten Angebote beschäftigen sich mit neuen Medien (Video-AG, Computer etc.), an zweiter Stelle stehen die Sportangebote (Fußball, Schwimmen etc.) und sozialpädagogische Angebote (Mädchen- und Jungentreff, sozialpädagogische Gruppenarbeit etc.). Hinzukommen AGs zu den Themen „Tanz und Musik“, „Malen“ und „Lesen und Sprache“. Die Gruppen 37 38
Ganztagsschulkonzept der Goethe-Schule (2007): 6 Ebd.: 14
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Isabel Neto Carvalho
werden zu großen Teilen von Lehrern, pädagogischen Fachkräften und externen Übungsleitern betreut, was neben der Quantität des Angebots auch für dessen Qualität spricht. Die Schülerinnen und Schüler können Präferenzen für die jeweiligen AGs nennen, die Entscheidung über den AG-Besuch ist aber den Lehrkräften vorbehalten. In der Konstruktion der Schule (siehe Beitrag Erlenwein) soll die Ganztagsschule „Kompensationsaufgaben“ leisten. Es geht hier also nicht darum, lediglich Betreuungs- und Versorgungsaufgaben zu übernehmen, sondern bildungsbürgerliche Ideale und Vorstellungen zu vermitteln. Es wird postuliert, dass die Schule eigentlich das tut, was ‚früher’ in den Familien ohnehin getan wurde und meint damit eine stereotype Praktik bildungsnaher Schichten ihren Nachmittag zu gestalten. Im Zentrum des Nachmittagsangebots der Goethe-Grundschule stehen deshalb erstens die pünktliche Einnahme des Mittagessens von Kleingruppen in Familiengröße, zweitens die Betreuung der Hausaufgaben ebenfalls in kleinen Gruppen, die eine Eins-zu-Eins-Situation, also die dyadische Arbeit zwischen Erzieher und Kind ermöglichen und drittens Freizeitangebote mit erzieherischem Inhalt.
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Schlussbetrachtung
Die Goethe-Grundschule in Mainz kann als typische Ganztagsschule in Rheinland-Pfalz bezeichnet werden, denn sie nimmt sich den ihr zugestandenen Freiraum, den Schultag ihren Bedürfnissen und Erfahrungen entsprechend zu gestalten und zu konzipieren. An der Schule gibt es laut der Schulleiterin viele Kinder, die in eher bildungsfernen Familien und in nicht-deutschen kulturellen Kontexten aufwachsen. In der Konstruktion der Akteure liegt die Aufgabe von Schule vor allem darin, diese Kinder zu fördern, um ihnen damit bessere Chancen für ihr weiteres Leben zu verschaffen. Das Anderssein und die daraus resultierenden verschiedenen Interessen werden thematisch in den AGs aufgegriffen und damit wertgeschätzt (z.B. AG Jungen- und Mädchentreff, „Türkische Tänze“ oder „Fußball“), gleichzeitig wird eine Interessensgemeinschaft der Gleichaltrigen und Klassenkameraden angenommen. Die Heterogenität der Gesamtgruppe der Ganztagsschüler, welche sich aus der Individualität jedes Einzelnen ergibt, wird als Problem wahrgenommen, welchem strukturell, der Konstruktion ‚bessere Förderung durch homogenere Gruppen’ folgend, entgegen gewirkt werden soll. Hier werden Formen des Vormittags, nämlich die Einteilung nach Jahrgangsstufen und Klassen fortgeschrieben, was durch das additive System und die damit fehlende Möglichkeit der Rhythmisierung des Schulalltags noch verstärkt wird.
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Damit wird aber eine Möglichkeit ausgelassen von dem Anderen, in seinem Anderssein, zu lernen.
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Der Hauptschulpreis 2007 „Wir suchen Deutschlands beste Schulen mit Hauptschulabschluss!“ Kirsten Keppeler
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Der Hauptschulpreis
Zahlreiche (Haupt)schulen sind starke Schulen, denn trotz widriger Bedingungen bereiten sie ihre Schülerinnen und Schüler auf die zukünftige Arbeits- und Lebenswelt vor. Um dies erfolgreich zu bewerkstelligen, gehen die Schulen oftmals neue pädagogische Wege: So werden innovative und praxisorientierte Schulkonzepte entwickelt und umgesetzt, Kooperationen mit Dritten eingegangen, Eltern verstärkt in den Schulalltag eingebunden. Der „Hauptschulpreis 2007 – Deutschlands beste Schulen mit Hauptschulabschluss“, der von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Robert Bosch Stiftung und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im Rahmen der Initiative Hauptschule ausgeschrieben wurde, nimmt herausragende Schulleistungen – starke Schulen – in den Fokus und zeichnet sie aus. An der bereits fünften Ausschreibung konnten sich bundesweit alle Schulen beteiligen, die zum Hauptschulabschluss führen. 353 Schulen bewarben sich um den mit insgesamt 240.000 € dotierten Preis. 36 Schulen wurden auf Landesebene von den jeweiligen Kultusministern geehrt. Die 16 Landessieger zeichnete Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2007 im Schloss Bellevue in Berlin aus. Der Hauptschulpreis wurde 1999 von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Initiative Hauptschule ins Leben gerufen und in einem Abstand von zwei Jahren ausgeschrieben, seit 2003 gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung und seit 2007 außerdem zusammen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
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1.1 Anforderungen, Kriterien und Bedingungen Bei der Auswahl der Preisträgerschulen standen die pädagogischen Spitzenleistungen der Schulen im Vordergrund. Die Jury, die sich aus Lehrkräften, Wissenschaftlern sowie Vertretern aus der Wirtschaft und von Stiftungen zusammensetzte, beurteilte die Bewerbungen unter anderem nach folgenden Fragen:
Wie bereiten die Schulen ihre Schülerinnen und Schüler auf die Ausbildung vor und wie qualifizieren sie diese für den Arbeitsmarkt? Wie fördern die Schulen Persönlichkeitsbildung, Leistung und Verantwortung? Welche Qualität haben Unterricht und Bildungsangebote? Wie geht die Schule mit Unterschiedlichkeit um? Welche Kooperationen betreibt die Schule, wie setzt sie diese um? Wie sieht die Zusammenarbeit innerhalb der Schule aus?
Mit seinen Auszeichnungen wollte der Wettbewerb vor allem den Lehrerinnen und Lehrern, aber auch Schülerinnen und Schülern Anerkennung und Ermutigung aussprechen und sie in ihrem Engagement bestärken. Weitere Ziele bestanden darin, die Siegerschulen untereinander zu vernetzen und ihre Arbeit, die oft in einem schwierigen Umfeld erbracht wird, der Öffentlichkeit bekannt zu machen. An den Schulen mit Hauptschulabschluss stellt die pädagogische Arbeit für die Lehrkräfte oft eine große Herausforderung dar: Ein Großteil der Schülerschaft hat einen Migrationshintergrund und spricht die deutsche Sprache nur unzureichend. Leistungsschwache Schüler benötigen intensive individuelle Betreuung und sozial schwache Schüler häufig finanzielle Unterstützung, damit sie sich beispielsweise eigene Bücher kaufen können. Eine besondere Begleitung benötigen die Jugendlichen bei der Vorbereitung auf das Arbeitsleben. Hauptschülerinnen und Hauptschüler müssen sich vergleichsweise früh beruflich orientieren, um sich gezielt für eine entsprechende Ausbildungsstelle bewerben zu können. Zusätzlich zu diesen erschwerenden Lehr- und Lernbedingungen kommt die leider oftmals mangelnde gesellschaftliche Anerkennung der Lehrtätigkeit an Schulen mit Hauptschulabschluss.
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Kirsten Keppeler Bausteine schulischer Arbeit: Schulen fördern und unterstützen
Bei den Bewerbungen um den Hauptschulpreis und vor allem bei den Siegerschulen des Wettbewerbs fielen immer wieder nachfolgende Bausteine der schulischen Arbeit besonders auf:
2.1 Individuelle Förderung der einzelnen Schüler Die Schülerinnen und Schüler stehen bei den Schulen im Zentrum der Aufmerksamkeit: Sie werden von den Schulen in den Blick genommen. Dabei werden die Schüler quasi als ‚Kunden’ gesehen, die während ihrer Schulzeit bestmöglich begleitet werden. Ausgehend vom individuellen Leistungsstand bzw. der jeweiligen Problemlage des Schülers wird der notwendige Unterstützungsbedarf u.a. anhand von entsprechenden Fragebögen ermittelt. Die Lehrkräfte sind Lernbegleiter, die den einzelnen Schüler individuell und optimal fördern und fordern. Die Leistungsschwachen werden verstärkt unterstützt, die leistungsstärkeren Schüler erhalten entsprechende Herausforderungen.
2.2 Frühe und realitätsnahe Berufsorientierung Um die Chancen der Schüler auf eine Ausbildungsstelle zu erhöhen, qualifizieren Schulen ihre Schüler zunehmend früher und intensiver für den Arbeitsmarkt, oftmals schon ab dem 5. Schuljahr. Unterricht ist dabei allerdings nur ein Baustein unter anderen. Schulen entwickeln spezielle Programme, deren Bausteine – von Bewerbungstrainings über Praktika bis hin zu Coachings – eine systematische Vorbereitung auf die Arbeitswelt darstellen. Um eine realitätsnahe Förderung zu gewährleisten, kooperieren die Schulen mit der Wirtschaft – mit (Handwerks-)Betrieben und Unternehmen. Auch Eltern werden verstärkt über das Thema Ausbildungsreife und Anforderungen der Arbeitswelt informiert und bei der Begleitung der Schüler einbezogen.
2.3 Nachhaltiges Projektangebot Schulen entwickeln Projekte, die ihren Schülerinnen und Schülern neben dem Unterricht vor allem in den Bereichen Theater/Musik/Kunst, Umwelt und Sport individuelle Erfahrungen ermöglichen und sie in ihrer Persönlichkeit bestmöglich fördern und unterstützen. Bei der Durchführung aber auch Finanzierung
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solcher Projekte werden die Schulen oft von weiteren (regionalen) Institutionen und Partnern unterstützt. Dieses erweiterte Bildungsangebot ist fester Bestandteil des Schulalltags, das im Unterricht und darüber hinaus für die Schülerinnen und Schüler angeboten wird. Es wird kontinuierlich verbessert und weiterentwickelt.
2.4 Konsequente Öffnung zum sozialen Umfeld und zur Region – Externe Kooperationen Schulen werden zu gesellschaftlichen Akteuren und gehen mit externen Partnern gemeinsam innovative Wege. So kooperieren Schulen nicht nur mit Betrieben und Unternehmen, sondern auch mit lokalen Vereinen und sozialen Institutionen. Vorrangiges Ziel ist es, den Kindern und Jugendlichen durch eine verstärkte Vernetzung, berufliche Kontaktmöglichkeiten und Arbeitsplatzchancen zu eröffnen sowie deren soziale und kognitive Kompetenzen zu fördern. Gleichzeitig wird dadurch die kommunale Gemeinschaft generationsübergreifend gefördert und angeregt. Um Schulen die Weiterentwicklung ihrer Arbeit zu erleichtern, werden sie häufig von Universitäten als externe Partner wissenschaftlich begleitet.
2.5 Systematisches Arbeiten Die Schulen arbeiten zunehmend systematisch. Wurde sonst vieles dem Zufall überlassen (z.B. beim Übergang Schule – Beruf, bei der Förderung von Schülern usw.), fördern und begleiten Schulen ihre Schüler nun mit System und mit einem ganzheitlichen Blick. So wird z.B. der Unterricht mit sonstigen Angeboten stärker verbunden und Unterrichtseinheiten stärker aufeinander abgestimmt. An diesem Punkt investieren die Schulen besonders in die Qualifizierung der Lehrkräfte und Schulleitungen.
2.6 Erfolgskontrolle und ständige Weiterentwicklung Immer mehr Schulen verfolgen den beruflichen Werdegang ihrer Schüler. Sie halten Kontakt, erfassen die Vermittlungs- und Abbrecherquote und ziehen aus den Ergebnissen Konsequenzen für die schulische Arbeit im Gesamten, insbesondere aber für den Unterricht. Darüber hinaus evaluieren sie ihre Arbeit, reflektieren im Team und entwickeln ihre Tätigkeit und das Schulprogramm fort.
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Starken Schulen ist dies bewusst: Sie müssen wandlungsfähig sein, um den Schülern und den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.
2.7 Kreative Wege Schüler finden keine Ausbildungsstelle oder bewegen sich in Kreisen, die für die eigene persönliche Entwicklung gefährdend sind. Um den verschiedenen Problemlagen der Jugendlichen gerecht zu werden und den Schülerinnen und Schülern Perspektiven und Raum für ihre Entfaltung zu geben, werden von den Schulen eigenverantwortlich Antworten gesucht. Sie gehen kreative Wege, die oft über rein schulinterne Aufgaben hinausgehen. Für den Erfolg pädagogischer Arbeit sind neben diesen Bausteinen noch weitere Faktoren bestimmend und wichtig: z.B. eine sehr gute Zusammenarbeit innerhalb des Kollegiums, das sich einem schulumfassenden Konzept verpflichtet. Denn Lehrkräfte sind die tragenden und umsetzenden Akteure in der Schule. Darüber hinaus ist aber auch der Einbezug der Eltern sehr bedeutend39. So wird mit weiteren Zielen und Ansätzen die pädagogische Arbeit kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert. Beachtet werden sollte darüber hinaus auch der schulische Kontext: Das soziale Umfeld der Schule muss in den Blick genommen und bei der Entwicklung von Konzepten und deren Umsetzung berücksichtigt werden. Zudem sind die politischen Bedingungen bedeutend: Wie werden die Schulen unterstützt und gefördert? Welche Möglichkeiten der schulischen Entwicklungen erhalten sie?40 Wie Schulen sich darstellen und auf diese Herausforderungen und Aspekte Antworten gefunden haben, wird im folgenden Abschnitt beschrieben.
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Einblick in die drei Bundessiegerschulen
Der “Hauptschulpreis 2007 – Deutschlands beste Schulen mit Hauptschulabschluss“ hat eine große Fülle an innovativen Ideen und Praxisbeispielen zusammengetragen. Anhand der drei Bundessiegerschulen werden ausgewählte pädagogische Konzepte und schulische Projekte dargestellt.
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Vgl. dazu den Beitrag von Sara Fürstenau und Britta Hawighorst in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Susann Burchardt in diesem Band.
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3.1 Erster Bundespreis 2007: Möhnesee-Schule, Nordrhein-Westfalen 3.1.1 Daten Internet: www.moehnesee-schule.de Schulform: reine Hauptschule, Halbtagsschule Schülerschaft: 250 Schülerinnen und Schüler, davon 8,4 % mit Migrationshintergrund Vermittlungsquote in den Arbeitsmarkt: ca. 75%
3.1.2 „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“: Das SiebenSäulen-Modell Ihren Schülern eine realistische Zukunftsperspektive zu geben, das ist das Hauptziel der Möhnesee-Schule. Um es zu erreichen, entwickelte die Schule ein Sieben-Säulen-Modell zur Berufs- und Arbeitsweltorientierung, das die Kinder und Jugendlichen differenziert und individuell begleitet – auch über die Schulzeit hinaus: Von der Potenzialanalyse über Information, Beratung, Förderung von Schlüsselkompetenzen, Praktika bis hin zur Unterstützung in der Bewerbungsphase und Nachbetreuung. Dafür entwickelte die Schule ein systematisches Modell, das hier kurz vorgestellt wird. Mit dem Sieben-Säulen-Modell wurde eine solide Basis geschaffen, um Schüler berufsorientiert zu unterrichten, ihre Kompetenzen zu entdecken und zu entwickeln sowie die Persönlichkeit zu stärken. Zukunftstraum und realistische Aussichten, Kompetenzen und Voraussetzungen, Arbeitskraft und Marktanforderungen werden immer wieder abgeglichen. Durch das ganzheitliche und flexible Modell wird die möglichst passgenaue Berufswahl erreicht – und damit dem Hauptgrund für Ausbildungsabbrüche entgegen gearbeitet: nämlich der Enttäuschung, die sich einstellt, wenn der gewählte Beruf nicht den idealisierten Vorstellungen entspricht, die der Auszubildende hatte. Möglichst bei allen Faktoren soll immer wieder der Kontakt zur konkreten Arbeits- und Lebenswelt realisiert werden. Das braucht seine Zeit. Und deshalb beginnt die Berufs- und Arbeitsweltorientierung in der Möhnesee-Schule bereits in der 5. Klasse.
Säule I: Bausteine der Potenzialanalyse Das Projekt „Starke Seiten“ fördert die Entwicklung der Persönlichkeit und die realistische Selbsteinschätzung mit Hinblick auf die spätere Berufsfindung. In
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Klasse 5 legen die Schüler eine Kompetenzenmappe an, die der Langzeitanalyse ihrer Fähigkeiten aus den verschiedenen Lebenswelten – Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis, Verein und Schule – dient. In der „Arena der unbegrenzten Möglichkeiten“ präsentieren die Schüler der 5. bis 7. Klasse ihre Kompetenzen in Form von kleinen Darbietungen, z.B. Tanz oder Theater. Diese Kompetenzen fließen ab Klasse 8 in den Berufswahlpass ein, in dem Maßnahmen zur Berufsorientierung, Bescheinigungen, Zertifikate und Bewerbungsunterlagen gesammelt und aufgeführt werden. In dieser Stufe findet auch ein Kompetenz-Check in Form eines Berufsorientierungsseminars – Mädchen und Jungen in kleinen Gruppen getrennt – außerhalb der Schule statt. Bis Klasse 10 folgen Berufsorientierungsseminare, mehrere Berufswahltests und Praktika.
Säule II: Bausteine der Information Die Schüler der Möhnesee-Schule informieren sich nicht nur über die ab Klasse 5 mindestens einmal im Jahr stattfindenden Betriebsbesichtigungen über mögliche Berufsfelder, sie können ebenso ab Klasse 8 die Angebote der Arbeitsagentur von Broschüren bis zu Gesprächen mit der Berufsberaterin nutzen. Die einmal jährlich stattfindende Berufs-Info-Börse bietet Informationen aus erster Hand: von ehemaligen Schülern und Eltern, die bei diesem Anlass als Fachleute für bestimmte Berufe auftreten. Für die höheren Klassen werden einmal im Jahr Firmenchefs sowie Unternehmer aus verschiedenen Branchen eingeladen, die mit den Schülern über Berufsbild und Arbeitsanforderungen diskutieren. Das „Möhnesee SchulCenter für Berufs- und Arbeitsweltorientierung“ wurde eingerichtet, um Information und Beratung einen festen Ort zu geben: In den Pausen, nach dem Unterricht, bei Bedarf auch an Wochenenden und in den Ferien können die Jugendlichen in den Beratungs- und Arbeitsraum kommen oder telefonisch bzw. per E-Mail Hilfe erhalten. Davon sind ehemalige Schüler nicht ausgenommen. Vor allem bietet das MCB – wie es kurz genannt wird – computerunterstützt Informationen über Berufe an, die als Entscheidungsgrundlage für die Berufswahl dienen können. Über die Datenbanken können weitere Informationsquellen selbstständig erschlossen und genutzt werden.
Säule III: Bausteine der Beratung Im „Möhnesee SchulCenter für Berufs- und Arbeitsweltorientierung“ sind tägliche Beratungssprechstunden für Schüler ab der 7. Klasse durch den schulischen Berufsorientierungslehrer und die Schulleitung selbstverständlich. Damit haben die Jugendlichen kurzfristig kompetente und individuelle Unterstützung – nach
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Bedarf, ohne Zeitdruck. Auf Probleme kann schnell reagiert werden. Dieses und die nun folgenden Beratungsangebote ergänzen sich:
Für Klassenstufen 8 bis 10: Beratung unterer Schülerjahrgänge durch Schüler der 9. und 10. Klasse, einmal jährlich. Die Schüler der oberen Jahrgänge sind hier Experten für Betriebspraktika und Bewerbungen. Für Klassenstufe 9 und 10: Beratung durch Lehrer des Berufskollegs an der Möhnesee-Schule und am Berufskolleg selbst zweimal pro Jahr oder nach Vereinbarung. Beratung durch die Berufsberaterin der Arbeitsagentur in der MöhneseeSchule sowie im Berufsbildungszentrum, zwei bis dreimal pro Klassenstufe in der Schule oder nach Vereinbarung. Beratung durch ehemalige Schüler und Eltern, einmal pro Jahr. Beratung durch Firmenchefs in der Schule, einmal pro Jahr. Veranstaltungsreihe „Lebenswege“ – Ehemalige erzählen über ihren Werdegang nach dem Verlassen der Möhnesee-Schule, mehrmals pro Jahr.
Säule IV: Bausteine der Förderung In den unteren Klassenstufen werden Kompetenzen entwickelt und gefördert, zum Beispiel beim Projekt „Respektvoller Umgang“ oder beim Führen eines „Lerntagebuchs“, das unter anderem die Methodenkompetenz und die Selbstorganisation dokumentiert und festigt. Schülerhelfer aus höheren Jahrgängen üben mit Fünft- und Sechstklässlern für die Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch einmal pro Woche – was wiederum die Kompetenzen der beteiligten Neunt- und Zehntklässler fördert. In Kooperation mit den Eltern erwerben Jungen der Klassen 6 bis 8 den „Haushaltshelfer-Pass“, der die Selbstständigkeit im Haushalt zum Ziel hat sowie die Reflexion über das Rollenverhalten. Schlüsselkompetenzen, von der Teamfähigkeit bis zur Verantwortungsbereitschaft werden ab Klasse 7 in Projekten gefördert, so z.B. Streitschlichter, Busguides, Patenschaften für Schüler der unteren Jahrgänge, Mitarbeit in der Schülerfirma, Schülerhelfer. Die Mitarbeit in diesen Projekten wird zertifiziert und kann so Bewerbungen beigefügt werden. Darüber hinaus werden Schlüsselkompetenzen wie Ausdauer, Toleranz, Team- und Kommunikationsfähigkeit in einem Kulturprojekt gefördert, das ein Theaterpädagoge leitet und das zur Aufführung eines Schwarzlicht-Theaterstücks führt, welches sich mit Lebenswelten, -wegen und -wünschen der Schüler auseinandersetzt. Zusätzlich gibt es Wahlpflichtfächer und AG’s mit berufsbezogenen Schwerpunkten, wie zum Beispiel Schneidern, Frisieren, Gärtnern, Maurern und
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mehr, die von außerschulischen Fachkräften geleitet werden. Kooperationsprojekte mit Unternehmen – vom Industrieunternehmen über ein Restaurant bis zu einem Wohn- und Pflegeheim – lassen die Schülerinnen und Schüler das Zusammenspiel von Unternehmensabteilungen erleben und bringen ihnen vorberufliche Kenntnisse verschiedener Aufgabengebiete bei. So wurde beispielsweise in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen des Anlagen- und Maschinenbaus von Schülern eine automatische Sortiermaschine gebaut, die dann in einer fiktiven schülergeführten Firma vermarktet wurde.
Säule V: Bausteine der Praktika Unverzichtbar für die Orientierung in der Berufs- und Arbeitswelt sind die Einblicke in die Praxis, das Trainieren von Bewerbungsgesprächen sowie das Dokumentieren und Sammeln von Erfahrungen. ‚Girlsday’, ‚Boysday’, ‚Schnupperpraktika’, Kurz- und Ferienpraktika, von freiwilligen bis zu verbindlichen dreiwöchigen Betriebspraktika: immer wieder werden die Schülerinnen und Schüler der Möhnesee-Schule mit der Wirklichkeit konfrontiert und erhalten damit eine realistische Einschätzung ihrer selbst und der Berufe, die sie ausprobieren. Die schuleigene Schüler-Praktikumskartei des „Möhnesee SchulCenters für Berufs- und Arbeitsweltorientierung“ beinhaltet nicht nur mögliche Praktikumsplätze in der Umgebung, sondern auch Erfahrungen und Bewertungen von ehemaligen Praktikanten. Mit und an dieser Kartei wird regelmäßig weitergearbeitet.
Säule VI: Bausteine der Bewerbung und Vermittlung Ab Klasse 8 geht es richtig los: im MCB werden Einstellungstests trainiert, wobei Internet-Angebote genutzt werden. Die Schule bietet vielfältige Veranstaltungen an, z.B. Bewerbungstipps durch Firmenchefs in der Schule, eine Einführung in die Internetplattform „Ausbildungsplatzsuche“ auf der Homepage der Arbeitsagentur oder Tagesseminare mit externen Bewerbungstrainern. Der von der Schule in Kooperation mit der Handwerkskammer, der IHK, der Kreishandwerkerschaft und der Gemeinde Möhnesee erstellte „Ausbildungsatlas Möhnesee“ hilft beim zielgerichteten Suchen nach Ausbildungsplätzen in der Region. Beim Schreiben und Gestalten von Bewerbungen und bei der Vorbereitung auf ein Vorstellungsgespräch werden die Schülerinnen und Schüler unterstützt. Die Berufsberaterin der Arbeitsagentur, der Berufsorientierungslehrer und die Schulleitung führen bei Bedarf Vermittlungsgespräche zwischen Suchenden und möglichen Ausbildungsbetrieben. Das Ziel ist auch hier die möglichst passge-
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naue Ausbildung für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler zu finden und zu vermitteln.
Säule VII: Bausteine Übergang und Nachbetreuung Das MCB ist auch für ehemalige Schüler eine Anlaufstelle und Stütze: Wenn Ehemalige noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, wenn sie beispielsweise Probleme in der Übergangsphase zwischen Schule und Beruf haben. Es wird weiterhin versucht, ihnen zu helfen. Dabei können sie alle Möglichkeiten des MCB nach wie vor für sich nutzen. Genauso können sich wiederum Ehemalige nützlich machen, zum Beispiel wenn sie ihre Erfahrungen an die nachfolgenden Jahrgänge weitergeben. Ein virtueller Ehemaligen-Klassenraum wurde in Kooperation mit ‚Lehrer Online’ (www.lehrer-online.de), einer Initiative des Vereins Schulen ans Netz e.V. (www.Schulen-ans-Netz.de), eingerichtet. Er dient dazu, den Kontakt mit und auch zwischen den ehemaligen Schülerinnen und Schülern zu halten.
3.1.3 Die Regionale Verantwortungsgemeinschaft Möhnesee Um der Zusammenarbeit und Vernetzung mit kommunalen und regionalen Partnern – vor allem auch Betrieben – einen Rahmen zu geben, initiierte die Möhnesee-Schule die „Regionale Verantwortungsgemeinschaft Möhnesee“. Dieser Rahmen macht die Kooperation ein Stück weit offizieller, verbindlicher – und auch wichtiger. Wie der Name schon sagt, geht es um die gemeinsame Verantwortung für die nächsten Generationen. Denn die Schule kann anstoßen, initiieren, dann aber braucht sie Unterstützung und fordert sie von der Gesellschaft ein: Verschiedene Vereine, der Bürgermeister, die Arbeitsagentur, auch die Kirche, Handwerker, Betriebe, Unternehmen und Lehrkräfte von außen, wie z.B. eine Rechtsanwältin, die über das Jugendschutzgesetz eine zehnteilige Unterrichtsreihe veranstaltete – sie alle bekennen sich zu ihrer Verantwortung. Das strahlt zurück: Wenn die Umgebung zu ihnen hält, fühlen sich Schülerinnen und Schüler ernst genommen, als ein Teil des Ganzen, nicht allein gelassen, und zwar über die Schule hinaus. Das motiviert unter anderem dazu, selbst Verantwortung zu übernehmen und ein aktives Mitglied der Gesellschaft zu sein.
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3.2 Bundespreis 2007: Hauptschule Weinbergerstraße in Neumarkt, Bayern
3.2.1 Daten Internet: www.weinbergerschule.de Schulform: reine Hauptschule, Ganztagsschule Schülerschaft: 593 Schülerinnen und Schüler, davon 14,8 % mit Migrationshintergrund Vermittlungsquote in den Arbeitsmarkt: 38,3 % Übergang in weiterführende Schulen: 48,9 %
3.2.2 „Beziehung statt Macht – Schatzsuche statt Defizitsuche“ Zahlreiche Schüler der Hauptschule Weinbergerstraße in Neumarkt stammen aus den sozialen Brennpunkten der Stadt. Bis zu 70% der Schüler leben mit alleinerziehenden Eltern, für ein Fünftel kann das Büchergeld nicht bezahlt werden. Häufig setzt sich das Kollegium mit Straftaten von Schülern auseinander, man arbeitet eng mit Einrichtungen der Jugendhilfe zusammen. Die relativ große reine Hauptschule kämpfte von Anfang an mit sogenannten ‚schwer erziehbaren’ Kindern, chronischen Schulschwänzern, kaum sozialfähigen, teils milieugeschädigten und lernunwilligen Jugendlichen. Dementsprechend war das Image in der Öffentlichkeit. Im Jahre 1999 wechselte die Schulleitung und ein Schulentwicklungsprozess begann, der große Veränderungen bewirkte und einen enormen Imagewandel mit sich brachte, auch wenn die Schülerschaft nach wie vor schwierig blieb. Die Schule fungiert, gerade auch wegen der eingerichteten Praxisklassen, als buchstäbliche ‚letzte Chance’ für gescheiterte Hauptschüler aus dem Landkreis. Andere Schulen, Eltern und zuweilen Jugendeinrichtungen versuchen, schwierige Jugendliche aus Neumarkt und Umgebung an der Hauptschule Weinbergerstraße unterzubringen. Dieses wird nicht als Last, sondern als Herausforderung gesehen. Vor diesem Hintergrund eine systemisch-systematische41 Schulentwicklung weiter zu betreiben, auf einer guten Zusammenarbeit im Kollegium und einem angenehmen Klima sowie Qualität im Unterricht zu bestehen – das erscheint besonders bemerkenswert. 41
Mit großer Systematik und Methodik geht die Schule die schulische Qualitätsverbesserung an, setzt diese um, evaluiert diese und optimiert sie fortlaufend. An den Prozess sowie an den nachhaltigen Maßnahmen sind alle Lehrerinnen und Lehrer beteiligt.
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Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit ist folgerichtig das Stärken der Jugendlichen, deren Talente aufzuspüren, zu fördern und damit den Willen zur Leistung zu wecken – der erste Schritt zu Ausbildungsfähigkeit und -reife.
3.2.3 Lions-Quest-Programm „Erwachsen werden“ Das Lions-Quest-Programm „Erwachsen werden“42 wurde vom Lions Club International bereits in 40 Ländern der Welt eingeführt und auf regionaler Ebene oft auch mitfinanziert. Es basiert auf der Erkenntnis, dass die Vermittlung von Lebens- und Sozialkompetenzen die wirkungsvollste Vorbeugung gegen Suchtgefährdung, Gewalt- und Suizidbereitschaft ist. „Erwachsen werden“ ist ein Programm zur Persönlichkeitsentwicklung und richtet sich an Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren. Ziele des Programms sind die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sowie ein positives Sozialverhalten: Dies soll durch einen bewussten Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen, durch Solidarität mit Andersdenkenden sowie durch das Erlernen von Kritikfähigkeit gefördert werden. Lehrkräfte, die das Programm einsetzen, müssen ein dreitägiges Einführungsseminar absolvieren, das von einem speziell ausgebildeten Trainer durchgeführt wird. In diesem Seminar lernen die teilnehmenden Lehrer das Konzept sowie die Unterrichtsmaterialien handlungsorientiert kennen und bekommen die notwendigen Kompetenzen vermittelt, das Programm in der eigenen Schule durchzuführen. Wenn „Erwachsen werden“ ein Element des Schulprofils sein soll, und damit das gesamte Kollegium inklusive Schulleitung eine Ausbildung erhält, müssen je nach Schulgröße zwischen zwei bis fünf Jahre dafür eingeplant werden. Lehrkräfte der Hauptschule Weinbergerstraße nehmen seit sechs Jahren an diesen Seminaren teil. Inzwischen sind alle Klassenlehrer und viele Fachlehrer ausgebildet. Um „Erwachsen werden“ zu einem integralen Bestandteil des Schullebens weiter auszubauen, erarbeitete ein Arbeitskreis eine Synopse zwischen Lehrplan und Programm. Auf dieser Basis können die Inhalte in Fächern wie Deutsch, GSE (Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde), PCB (Physik, Chemie, Biologie), Religion und AWT (Arbeit, Wirtschaft, Technik) behandelt werden und prägen damit unmittelbar den Unterrichtsalltag. Zum Beispiel kann das Thema „Sich auf Regeln einigen“ hervorragend in eine Sportstunde integriert werden oder „Kommunikation in der Familie“ im Deutschunterricht, wenn es ganz nach Lehrplan um Kommunikation in Alltagssituationen geht. 42
Weitere Informationen unter www.lions-quest.de.
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3.2.4 Miteinander: Teamarbeit Ambitionierte, integrierte pädagogische Arbeit kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten motiviert sind. Im Rahmen der systemisch-systematischen Schulentwicklung der Hauptschule Weinbergerstraße wird die Kommunikations- und Organisationsstruktur im Kollegium permanent optimiert: Die Schulleitung versteht sich als Team. Eine Steuergruppe, die kontinuierlich rotiert, unterstützt die Leitungsarbeit. Ausdrücklich bezeichnet sich die Schulleitung als Dienstleister, der bestmögliche Rahmenbedingungen schafft. Arbeitsbelastung und Verantwortung sind im Kollegium gleichmäßig verteilt. Supervision wird ebenso angeboten wie intensive und regelmäßige Fortbildungsmaßnahmen, mit dem Ziel, die Unterrichtsqualität ständig zu verbessern. Dazu gehört ebenfalls die offene Reflexion der gemeinsamen Arbeit von Schulleitung und Kollegium, die stets die Prozesse im Schulalltag begleitet. Der kontinuierliche Entwicklungsprozess überprüft Erfolge und Misserfolge fortlaufend und macht Verbesserungen schnell möglich. Auf diesem Wege wurde die Praxisklasse43 eingeführt. Teamarbeit – ein Thema auch für die Schülerinnen und Schüler – wird bestens von den Lehrern vorgelebt: Eigenständige Jahrgangsstufenteams der Lehrer treffen sich in frei gewählten, aber regelmäßigen Zeitabständen. Am Schuljahresbeginn legen diese Lehrer-Teams die Stoffverteilung fest. Gemeinsame Unterrichtssequenzen werden vorbereitet, Probearbeiten erstellt, fächerübergreifende Projekte geplant und sich über schwierige Schüler ausgetauscht. Ziel ist die einheitliche Vorgehensweise innerhalb einer Jahrgangsstufe und die Entlastung der einzelnen Lehrkraft durch Zusammenarbeit. Dadurch einsteht eine Vergleichbarkeit, die hilft, die Leistungsstände einer Jahrgangsstufe transparent zu gestalten. Die Stärken jeder Lehrkraft können optimal genutzt, Schwächen ausgeglichen werden. Das möglichst selbstständige und verantwortungsvolle Arbeiten stärkt die Motivation des Kollegiums, so ist z.B. der Krankenstand unter der Lehrerschaft sehr gering. Viele Lehrer begeistern sich auch am Freitagnachmittag und am Wochenende für Projekte und wirken aktiv mit.
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In der Praxisklasse befinden sich Schülerinnen und Schüler, die sich im letzten Schuljahr der Hauptschule befinden und große Lerndefizite besitzen. Durch überwiegend praxisbezogene Aufgaben sollen sie eine positive Arbeits- und Lernhaltung entwickeln. Neben der individuellen Förderung im Unterricht werden sie zudem auch von Sozialpädagogen betreut.
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3.2.5 Zusammenarbeit: Integrative Landschule Dietkirchen Die Hauptschule Weinbergerstraße setzt sich zielgerichtet für ein außerschulisches, aber an die Schule angebundenes Erfahrungs- und Lernfeld ein: die Integrative Landschule Dietkirchen. Die Schulleitung und das Kollegium wollen mit einer solchen Einrichtung:
die soziale Kompetenz und die Konflikt- und Erlebnisfähigkeit der Schüler fördern, ihnen in ihren Grundbedürfnissen Zuwendung, Wertschätzung, Beachtung und Zugehörigkeit entgegenkommen lassen, Vertrauen und damit Zutrauen schenken sowie reale Erfahrungsfelder bieten.
Viele Gründe sprechen für die Idee eines kleinen Landschulhauses. In der Pfarrei Dietkirchen, die nur 12 Kilometer von der Schule entfernt liegt, soll auf einem bereits zur Verfügung gestellten Bauplatz ein ökologischer Holzbau entstehen. Mit viel Eigenleistung durch Schüler, Eltern und Lehrer soll dort gebaut werden. Träger wird der eigens dafür gegründete Verein sein. Finanziert werden soll das Landschulhaus durch Sponsoren, die zum Teil bereits gefunden, andererseits noch gesucht werden. Im Landschulhaus Dietkirchen (www.wir-landschule.de) sollen die Schüler – von denen viele nicht in den Urlaub fahren können – Natur erleben, sich selbst und andere versorgen, aktiv sein, zur Ruhe kommen. Eine Schulklasse kann Gemeinsamkeit lernen, in Kernfächern besonders gefördert werden, den Umgang mit regenerativen Energien kennen lernen, für nur einen Tag oder eine ganze Woche. Dieses Landschulhaus soll mit all seinen Möglichkeiten auch anderen Schulen zur Verfügung gestellt werden können. Mit allen anderen Programmen, Projekten und Möglichkeiten, welche die Hauptschule Weinbergerstraße anbietet, von einer systematischen Berufs- und Arbeitsweltvorbereitung bis zu individuellen Fördermaßnahmen, erhalten die Schüler ein kompaktes Rüstzeug für das Leben nach der Schule – in einer Gesellschaft, die eine gewisse Sozialisierung, Leistungswillen und ‚Know-how’ voraussetzt.
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Kirsten Keppeler
3.3 Bundespreis 2007: Grund- und Hauptschule Schafflund, Schleswig-Holstein
3.3.1 Daten Internetauftritt: www.ghs-schafflund.lernnetz.de Schulform: Grund- und Hauptschule, Ganztagsschule Schülerschaft: 477 Schülerinnen und Schüler Vermittlungsquote (Ausbildung und weiterführende Schulen): 100 %
3.3.2 „Schule als Lebensort – Schule in der Gemeinde“ Erstes Ziel der Grund- und Hauptschule Schafflund für ihre Schüler ist der gelungene Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Aus dieser Zielsetzung leiten sich alle pädagogischen Ansätze der Schule ab: unter anderem differenzierte Lernangebote zur Vorbereitung auf ein „lebenslanges Lernen“, Benachteiligtenförderung oder berufs- und arbeitsweltbezogene Angebote. Selbstständigkeit und soziale Kompetenzen werden durch vielfältige Unterrichtsformen und -methoden gelehrt. Das Trainingsprogramm reicht vom Frontalunterricht über Wochenplanarbeit bis zu Stationslernen sowie Projekt- und Teamarbeit. Ab der Klassenstufe 7 können die Schüler Wahlpflichtkurse wählen, die gezielt auf praktische Arbeitsfelder vorbereiten. Um all das leisten zu können, aber ebenfalls aktiver Teil ihrer Umgebung zu sein (mitzuwirken und mitzubestimmen), hat sich die Schule neu positioniert und entfaltet: Sie hat sich vom Lern- zum Lebensort entwickelt. Dem liegt ein ganzheitliches Selbstverständnis der Schule zugrunde, das die ganzheitliche Lebensplanung von Kindern und Jugendlichen ermöglichen soll.
3.3.3 Lebensort Schule: ein verbindlicher Anspruch für alle Beteiligten In einem langen Prozess, nunmehr seit 12 Jahren, verwandelt sich die Grundund Hauptschule Schafflund in einen Lebensort. Mittlerweile ist sie eine offene Ganztagsschule, die von 7.00 Uhr morgens bis 17.00 Uhr am Nachmittag mit Mittagstisch und vielfältigen Freizeitangeboten geöffnet hat. Sie ist im Sinne des Wortes ein „offenes“ Zentrum, nicht nur für die Schülerschaft und Lehrerschaft, sondern auch für Eltern und Kooperationspartner. Viele Menschen kommen gern in die Schule und engagieren sich, so dass die Schule ständig weiterentwickelt werden kann.
Der Hauptschulpreis 2007
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Durch dieses Gesamtprojekt „Lebensort Schule“ haben sich viele unterschiedliche Partner zusammengeschlossen, um auf der Basis vernetzter Denk- und Arbeitsstrukturen bestmögliche pädagogische Arbeit zu leisten und das Projekt gemeinsam weiterzuentwickeln. Dazu gehören die umliegenden weiterführenden Schulen, die Berufsschulen, die regionale Wirtschaft, Kirchen, die Polizei, die Jugendhilfe, die Bundesagentur für Arbeit, verschiedene Einzelpersonen und viele mehr. Sie alle arbeiten unter diesem (Schul-)Dach zusammen. Aus einem ganzheitlichen Ansatz heraus engagiert sich die Grund- und Hauptschule Schafflund über den normalen Schulbetrieb hinaus. Die Schule ist integraler Bestandteil ihres Umfelds, was sie beispielsweise mit offenen Angeboten ihrerseits unter Beweis stellt. So bietet das Beratungsbüro der Grund- und Hauptschule Schafflund Schülern, Eltern und auch Lehrern an einem festen Tag im Monat Hilfe von außerschulischen Fachkräften an: von medizinischem Rat, Familien- oder Erziehungshilfe bis zu Berufs- oder Jugendhilfeberatung. Gerade die Familienberatung ist für benachteiligte Familien eine große Hilfe und wird immer wieder in Anspruch genommen. In besonderem Maße engagieren sich die Eltern der Schülerschaft an der Schule. In einem Familienforum organisieren Eltern z.B. regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen für Eltern. Mehrere „Elternschulen“ wurden schon durchgeführt, die sich u.a. dem Thema „Elternschaft lernen“ widmen. Eltern sind es auch, die vor allem an den Wochenenden in der Nacht durch das Dorf wandern und bei Bedarf Jugendlichen als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Die Hilfe der „Nachtraben“, wie sich das Projekt nennt, wird gern angenommen.
3.3.4 Dorf für alle: Visionen fördern und Ernst nehmen Die Teilnahme am Bundesmodellprojekt „Dorf für Kinder – Dorf für alle: kinderfreundliche Dorferneuerung durch Partizipation“44, in dessen Rahmen die Schülerinnen und Schüler in Zukunftswerkstätten Visionen für Schafflund entwickelten, bestärkte die Grund- und Hauptschule Schafflund in ihrem Ziel, sich am Geschehen in der Gemeinde stark zu beteiligen. Die Pläne der Kinder und Jugendlichen wurden bei dieser Dorfentwicklung berücksichtigt – und ihre Wünsche werden heute noch aufgegriffen. Zum Beispiel, wenn es um kindgerechte Verkehrsplanung geht, die Gestaltung und Vernetzung der Spielplätze im Ort oder die Steigerung der Attraktivität des örtlichen Freibads. In Schafflund haben Kinder und Jugendliche etwas zu sagen, eine erfolgreiche Haltung, die unbedingt 44 Das Bundesmodellprojekt zur kinderfreundlichen Dorferneuerung wurde von 1998-2000 unter der Trägerschaft des Deutschen Kinderhilfswerks und mit Unterstützung des Landes Schleswig-Holstein durchgeführt.
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Zukunft hat. Zentral bei der Entwicklung dieser Einstellung war die Schule, die mit ihrem partizipatorischen Ansatz diese Entwicklungen stark beförderte. Die Schule ist somit ein starker gesellschaftlicher Motor. Denn zählte man im Dorf Schafflund 1996 etwa 1.500 Einwohner, sind es heute etwa 2.500. Im gleichen Zeitrahmen stieg die Schülerzahl im gesamten Schulzentrum um etwa 300 Kinder und Jugendliche an, die Kindergärten sind voll belegt, neue Arbeitsplätze sind entstanden. Durch das Projekt „Lebensort Schule“ wurde die Arbeit der Hauptschule enorm aufgewertet. Sowohl Eltern, als auch Schüler erkennen die Arbeit an, die in der Schule täglich geleistet wird. Regionale Betriebe und ihre Verbände unterstützen das Engagement der Schule nachhaltig. All diese Erfolge konnten nur mit Hilfe des von der Schule initiierten ganzheitlichen Netzwerks erreicht werden. Ein weiterer Grund ist die Weiterentwicklung zur offenen Ganztagsschule, in der nicht nur ganzheitlich gelehrt, sondern ganztägig gelernt wird – was vor allem lernschwachen Schülern Vorteile verschafft. Eine tatkräftige Schule kann weit über den Unterricht ihrer Schüler hinaus wirken, das zeigt das Beispiel der Grund- und Hauptschule Schafflund: Mit Hilfe des Netzwerks nimmt sie Einfluss auf die Familien der Schüler, auf Betriebe, Unternehmen, Einwohnerzahlen – ja, auf ein ganzes Dorf. Die drei dargestellten Bundessieger des „Hauptschulpreises 2007 – Deutschlands beste Schulen mit Hauptschulabschluss“ sehen, wo Kinder und Jugendliche Unterstützung benötigen und erkennen, welche Chancen Schule bieten kann. Diese Schulen setzen sich für ihre Schülerinnen und Schüler ein, indem sie innovative und kreative Wege einschlagen und Projekte durchführen, die auch Einfluss über die Schule hinaus haben. Sie beweisen Stärke: Sie geben sich nicht mit `schlechten` gesellschaftlichen Entwicklungen zufrieden, sondern engagieren sich für ihre Schülerinnen und Schüler und tragen somit wesentlich zur gesellschaftlichen Entwicklung bei.45
45
Weitere Beschreibungen von innovativen Ideen und Praxisbeispielen finden sich in: „Starke Schule. Aus der Praxis – Deutschlands beste Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“. Herausgegeben von: Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Frankfurt 2007.
Der Hauptschulpreis 2007 4
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Vom Hauptschulpreis zur starken Schule: der Wettbewerb entwickelt sich weiter
Seit 1999 hat sich Deutschlands Schullandschaft stark verändert. In vielen Bundesländern wurden Haupt- und Realschulen zusammengelegt oder neue vergleichbare Schulformen geschaffen. Diese Schulen eint die Aufgabe, ihre Schüler zur Ausbildungsreife zu befähigen. Der Wettbewerb trägt dieser Entwicklung Rechnung und spricht unter neuem Namen eine erweiterte Zielgruppe an: „Starke Schule. Deutschlands beste Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“ lädt alle Hauptschulen und je nach Bundesland auch (teil-) integrierte Schulformen und Förderschulen ein, sich an dem Wettbewerb zu beteiligen. Für den Wettbewerb 2009 konnten die Bundesagentur für Arbeit und die Deutsche Bank Stiftung als weitere Partner gewonnen werden. Zudem wird der Wettbewerb um ein Netzwerk zur Qualifizierung und Vernetzung der Schulen sowie um eine wissenschaftliche Studie ergänzt werden46.
46
Vgl.: www.StarkeSchule.ghst.de.
Schulwettbewerbe Chancen für die Schulentwicklung Frauke Choi
Spricht man von „Guten Schulen in schlechter Gesellschaft“ kommt man an den Ergebnissen von Schulwettbewerben nicht vorbei. Schulwettbewerbe avancieren in Deutschland zunehmend zum festen Bestandteil der Schulentwicklungslandschaft. Und dies umso mehr, je intensiver die Auseinandersetzungen in Öffentlichkeit und Politik um die Leistungen und Ressourcen des Bildungssystems geführt werden. Während sich die bildungspolitische Diskussion einerseits auf Grundlage von Schulleistungsvergleichsstudien und Bildungsberichten um die Leistungen des Gesamtsystems dreht, wendet sich der Blick im Rahmen von Schulwettbewerben auf die Leistungen von Einzelschulen.47 Aber welche Chancen ergeben sich daraus für die Schulentwicklung? Mit der Ausschreibung von Wettbewerben versuchen gemeinnützige Stiftungen, Akteure aus der Wirtschaft, Verbände und Politik gestaltend auf die Schullandschaft einzuwirken, indem sie teilnehmenden Schulen außerschulische Unterstützungsangebote für ihre Arbeit in Aussicht stellen. Die Ausgestaltung solcher Anreizsysteme variiert: Siegerschulen können neben einer Auszeichnung vor allem auf mehr oder weniger zweckgebundene Fördermittel hoffen, mit denen der oft angespannte schuleigene Etat aufgebessert werden kann. Die Preise reichen von der Überweisung von Geldbeträgen über Projektfinanzierungen, der Finanzierung von externen Beratern und schuleigenen Fortbildungsveranstaltungen bis hin zu Gutscheinen für Maßnahmen oder Ausstattung, die die Schule für ihre Weiterentwicklung gebrauchen kann. Daneben spielt aber auch der Zugang zu Wissens- und Beratungsressourcen eine zunehmende Rolle, nicht zuletzt, um das Veränderungspotenzial von Wettbewerben stärker auszuschöpfen.48 Dabei beziehen sich die Ausschreibungen der Wettbewerbe traditionell auf Ergebnisse und Wirkungen von Schule. Hier sind beispielsweise zahlreiche Schülerwettbewerbe einzuordnen, bei denen die Leistungen, Ideen und Konzepte von Schülerinnen und Schüler prämiert werden. Daneben etablieren sich aber 47 zu den unerwünschten Effekten einer solchen Perspektive vgl. auch den Beitrag von Böttcher/Hogrebe in diesem Band 48 zu einer kritischen Sicht zunehmender Aktivitäten von Stiftungen und Unternehmensberatungen im Bereich Schule, Schulentwicklung und Bildungspolitik vgl. Bank 2007
Schulwettbewerbe
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immer mehr Schulwettbewerbe, bei denen nicht nur der Output von Schule, sondern vor allem Prozesse auf allen Ebenen schulischer Entwicklungsarbeit im Fokus stehen. Exemplarisch sei hier der Ausschreibungstext des Wettbewerbs „Zeigt her Eure Schule“ im Rahmen des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung angeführt: „Daher legt die Jury beim diesjährigen Wettbewerb ‚Zeigt her Eure Schule’ einen besonderen Schwerpunkt auf eure gemeinsamen Such- und Findungsprozesse. Natürlich freuen wir uns, wenn euer Vorhaben, z.B. euer Klassenratsprojekt, ein Erfolg wird. Wichtig ist uns jedoch zu erfahren, wie euer Vorhaben zustande gekommen ist, welche Schritte wer gegangen ist, welche Herausforderungen es gab und wie ihr diese angenommen habt. (…) Wir möchten von euch anhand eures Projektes lernen, wie sich unterschiedliche Menschen zusammenfinden, auf ein Vorhaben einigen, es Schritt für Schritt umsetzen und auswerten.“ (DKJS 2007: 2)
Im Fokus steht also die Praxis der Schulentwicklung selbst. Gesucht werden Best Practice-Schulen, die vor dem Hintergrund zentraler Leitvorstellungen von Schulentwicklung nachahmenswerte und innovative Lösungen aufzeigen, von denen wesentliche Impulse für die Schulentwicklung erwartet werden können. So heißt es im Rahmen des Deutschen Schulpreises 2006: „Gute Schulen sind anders. Sie eröffnen einen Blick in die pädagogische Zukunft und zeigen, wie es geht. Lernen wir von ihnen!“ (Fauser/Prenzel/Schratz 2007: 9)
Vor diesem Hintergrund sind prämierte Schulen modellhaft, innovativ und kreativ, decken Schulwettbewerbe Veränderungspotenziale und Ideenreichtum auf.49 Aber wie kann dies die Schullandschaft verändern? Mit der Ausrichtung an Best Practice zielen Schulwettbewerbe auf neue Standards in der Schulentwicklung. Prämierte Schulen werden zu „Musterbetrieben“ schulischer Praxis erklärt, an denen sich andere Schulen mit ihrer Arbeit orientieren und von deren Erfahrung sie profitieren können. Hier geht es nicht um die theoretisch beste Praxis, sondern um beste realisierte Lösungen (vgl. Bühner 2001: 80; Motzel 2006: 38). Allerdings gestaltet sich eine einfache Adaption von Maßnahmen erfolgreicher Schulen aufgrund der differenzierten Interdependenzen von schulischen Prozessen und Strukturen sowie Bereichen und spezifischen Qualitäten als schwierig. Schließlich wäre eine vollständige Übertragung der Prozessstruktur einer Best Practice-Schule Voraussetzung für den Erfolg. Halbherzige Veränderungen scheitern in der Regel. Realistischer erscheinen hingegen Konzepte des Good Practice. Hier konzentriert man sich auf die Realisierung bereichsspezifi49
vgl. z.B. auch van Ackeren/Thierack 2004: 9f., Keppeler in diesem Band.
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Frauke Choi
scher Maßnahmen, um zumindest in Teilgebieten deutliche Verbesserungen zu erreichen. Dazu ist ein Benchmarking nötig, um vergleichbare Problemlagen, Ziele und Bedingungszusammenhänge von Schulen zu identifizieren. Erst ein Vergleich von Schulen, die unter ähnlichen Strukturbedingungen arbeiten (müssen), macht Gestaltungsoptionen für die Praxis sichtbar. Dies gilt insbesondere für Schulen, deren Bedingungen als eher ungünstig einzuschätzen sind. Vor diesem Hintergrund finden bei Schulwettbewerben vermehrt Rahmenbedingungen von Schulen Beachtung: „’Starke Schule. Deutschlands beste Schulen, die zur Ausbildungsreife führen’ zeichnet lernende und innovative Schulen aus, die sich systematisch mit den jeweils spezifischen regionalen und lokalen Bedingungen auseinandersetzen und auf Veränderungen in ihrem Umfeld aktiv reagieren. Prämiert werden Schulen, die - insbesondere auch in der Vernetzung mit dem außerschulischen Umfeld - eine nachhaltige Weiterentwicklung des Lehrens und Lernen betreiben.“ (Gemeinnützige HertieStiftung 2008: 6)
Häufig sind in den Wettbewerbsprogrammen zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen vorgesehen, die die Übertragbarkeit und Verbreitung schulpraktischen Erfahrungswissens fördern sollen. Neben Medien, wie Bücher und DVDs, in denen innovative Ansätze und Praxisbeispiele präsentiert werden50, werden Veranstaltungen wie „Netzkonferenzen“, Fachtagungen und Fortbildungsveranstaltungen mit Siegerschulen, Wettbewerbsteilnehmern und interessierten Schulen angeboten. Sie dienen dazu, Lehrkräfte weiter zu qualifizieren, Schulen miteinander zu vernetzen, den Erfahrungsaustausch zu befördern und das Sozialkapital der Akteure zu erweitern. Die Ergebnisse von Wettbewerbsevaluationen untermauern die zentrale Rolle, solcher Veranstaltungen für das Veränderungspotential von Schulwettbewerben. Sie tragen nach Aussage von Lehrkräften erheblich zur Verbesserung der eigenen Arbeit bei und erhöhen damit die Wirksamkeit des Wettbewerbs auf die Schulpraxis. Die Lehrkräfte schätzen die Möglichkeit zu Kontakten und Kooperationen im Rahmen solcher Veranstaltungen, die sich unter den Wettbewerbsteilnehmern teilweise zu langfristigen Arbeitsbeziehungen verfestigen können (vgl. Oestreicher et al. 2007: 41). Der gegenseitige Austausch stellt für viele Lehrkräfte sogar eine der wichtigsten Entwicklungshilfen dar. Für die Entwicklung der eigenen Schule sei es überaus förderlich, „über den Zaun“ in andere Schulen und Bundesländer zu schauen. Insbesondere der Vergleich mit anderen Schulen trage zu einer verbesserten Selbstwahrnehmung und -positionierung
50
vgl. z.B. Gemeinnützige Hertie-Stiftung 2007, Fauser/Prenzel/Schratz 2007
Schulwettbewerbe
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bei. Darüber hinaus erhalte man ein „breites Feld an Ideen“ und Anregungen (vgl. ebd.: 43). Andererseits steht bei diesen flankierenden Veranstaltungen vor allem die Praxisrelevanz solcher Veranstaltungen im Vordergrund des Interesses und zwar möglichst unter Berücksichtigung der eigenen schulischen Bedingungen. Sie rangiert bei den Wünschen der Lehrkräfte noch vor dem Ziel der Wissensaneignung. Aus den Rückmeldungen wird immer wieder deutlich, dass sich die Lehrkräfte möglichst „passgenaue“ bzw. regional relevante Bezüge wünschen. Dies löse am ehesten relevante Impulse zur Veränderung der eigenen Arbeit aus (vgl. ebd.: 44f.). Erfolgreiche Schulen, die ihre eigenen Leistungen in der Öffentlichkeit präsentieren können, berichten über einen „ungeheuren Motivationsschub“, den das positive Feedback ausgelöst hat. Die Lehrkräfte geben an, dass sich die Präsentation der Schule positiv auf das Ansehen und das Selbstbewusstsein aller an Schule Beteiligten in der eigenen Region ausgewirkt hat (vgl. ebd.: 43). Offensichtlich stärken solche Arrangements für Schulen eine motivierende Anerkennungskultur in einem System, das herausragende Leistungen in der Regel kaum flexibel zu honorieren vermag. Dies dürfte insbesondere für solche Schulen gelten, die erwartungswidrig gute Leistungen bringen. Die Teilnahme an Wettbewerben bietet den Schulen somit eine attraktive Chance, sich mit ihrem Engagement und ihren Leistungen öffentlichkeitswirksam zu profilieren und im Sinne eines „Best Practice“ neue Standards auf allen Ebenen der Schulentwicklung zu setzen. So verwundert es nicht, dass es für die Schulen bei der Entscheidung für eine Wettbewerbsteilnahme durchaus eine Rolle spielt, welchen Ruf der Wettbewerb und die entsprechende Stiftung in der Öffentlichkeit genießt. Außerdem wird die Aussicht auf attraktive Preisgelder und Fördermittel als wichtiger Anreiz für eine Wettbewerbsteilnahme angegeben. Nicht zuletzt lassen sich viele Entwicklungsvorhaben mit einer zusätzlichen materiellen Ausstattung besser realisieren und auch die Möglichkeit, bei externen Stellen wie Land, Kommune und Schulträger Fördermittel für eine Wettbewerbsteilnahme einzuwerben, wird gerne angenommen (vgl. ebd.: 42). Befragt man relevante Akteure aus den Schulen über die Rolle von Schulwettbewerben für die eigene Arbeit, wird allerdings deutlich, dass ihnen neben den Unterstützungsangeboten und dem Imagegewinn Beispiele guter Praxis tatsächlich am wichtigsten sind. Daneben wünschen sie sich Beispiele von „Worst Practice“, um aus den Fehlern anderer Schulen lernen zu können (vgl. ebd.: 43). Gerade aus der Dynamik von Scheitern und Erfolg lässt sich wertvolles Erfahrungswissen darüber erschließen, wie Probleme an Schulen gelöst werden können. Auch in Worst Practice-Beispielen liegt die Chance, ein Best Practice zu erreichen, indem Fehler erkannt und potenziell vermieden werden können.
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Dieses Anliegen versucht beispielsweise der Wettbewerb „Zeigt her eure Schule“ zu berücksichtigen, indem die Schulen aufgefordert werden, nicht nur über ihre Erfolge, sondern auch über aufgetretene Schwierigkeiten und deren Lösungsversuche zu berichten (vgl. DKJS 2007). Darüber hinaus ergeben sich durch die Teilnahme an einem Wettbewerb weitere Anreize für die schulische Entwicklung. Es eröffnet die Chance, die eigene Leistung zu dokumentieren und das schuleigene Profil zu schärfen. Und darin liegt sicherlich auch ein Potenzial für die Qualitätsentwicklung und Selbstevaluation der Schulen. Durch die Präsentation der eigenen Schule mit ihren Prozessen, Leistungen und Erfolgen sind die Lehrkräfte vor dem Hintergrund der Schwerpunkte und Leitziele des Wettbewerbs gezwungen, sich mit dem eigenen Schulprogramm auseinanderzusetzen. So geben die Lehrkräfte im Rahmen des Wettbewerbs „Zeigt her eure Schule“ an, dass die Wettbewerbsbeteiligung den Schulen einen hervorragenden Anlass zur internen Reflexion biete. Die Schulen könnten sich bei der Darstellung ihrer Arbeit selbst vergewissern, wo sie sind und wo sie stehen (vgl. Oestreicher et al. 2006: 35). Außerdem fordern die Bewerbungsverfahren in der Regel Teambildungsprozesse heraus. Von befragten Lehrkräften wird die Arbeit an einem solchen Gemeinschaftsprodukt positiv hervorgehoben. Insbesondere auch unter dem Aspekt, dass hierdurch Verbindlichkeiten in der Umsetzung von Schulentwicklungsprozessen geschaffen werden können (vgl. ebd. 2007: 42). Umgekehrt können auch die Wettbewerbspraxis und -erfolge einer Schule selbst ein wichtiger Bestandteil in der Dokumentation schulischer Leistung und Qualität im Rahmen der Schulprogrammarbeit sein. Jedenfalls findet man in manchen Bundesländern die Teilnahme an Wettbewerben auch in den Konzepten externer Evaluationsagenturen, wo sie als möglicher Indikator für die Ergebnisse und Wirkungen von Schulen aufgeführt sind (vgl. z.B. MBWJK 2007: 34). Insgesamt liegt das Potenzial von Schulwettbewerben in allen Bereichen der Schulentwicklung: von der Organisations-, Personal-, Team- und Unterrichtsentwicklung bis hin zu Schulprogramm, -profil und Leitbild. Allerdings hat eine systematische wissenschaftliche Erforschung der Wirkungen solcher Wettbewerbe bisher nicht stattgefunden. Zwar gibt es in der Literatur vereinzelt Arbeiten zu den Wirkungen von Schülerwettbewerben auf die Unterrichtsentwicklung und die Lerneffekte auf Seiten der Schülerschaft (vgl. Fauser et al. 2007, Beutel/Tetzlaff 2007, Friege et al. 2006). Grundlagenorientierte wissenschaftliche Arbeiten zur Frage nach den Wirkungen und Effekten von Schulwettbewerben auf die Schulentwicklung und ihrer Rolle für die Schulentwicklungslandschaft liegen jedoch kaum vor. Lediglich vereinzelt trifft man auf wettbewerbsspezifische Veröffentlichungen im Rahmen von Evaluationsstudien (vgl. z.B. van
Schulwettbewerbe
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Ackeren/Thierack 2004, Scheck/Schuch 2007, Meyer-Guckel 2007, MerzFoschepoth 2007). So fließen auch in den hier vorliegenden Beitrag vor allem Erfahrungen mit Wettbewerben unter dem Dach des Zentrums für Bildungs- und Hochschulforschung der Universität Mainz ein.51 Ferner birgt der Fundus an Wettbewerbsbeiträgen selbst ein Potenzial für die Bildungsforschung. Durch das öffentliche Interesse und die Fokussierung auf Prozesse der Schulentwicklung legen immer mehr Träger von Wettbewerben Wert auf eine wissenschaftliche Begleitung durch die Bildungsforschung und eine fachlich ausgewiesene Jury. Dadurch ist mit einer Steigerung der Qualität schulischer Wettbewerbsbeiträge zu rechnen, möglicherweise entwickeln sich sogar künftig Standards, an denen sich die Wettbewerbe ausrichten können. Für die Bildungsforschung ergäben sich hier zahlreiche Anknüpfungspunkte. Durch die Analyse von Teilnehmerschulen könnten Prinzipien „guter Praxis“ herausgearbeitet werden, die das derzeitige Wissen über Gelingensbedingungen schulischer Prozesse sicherlich erweitern könnten. Insbesondere eine qualitative Schulentwicklungsforschung könnte über vertiefende Analysen aus der Fülle an praxisrelevantem Wissen schöpfen.
Literatur Ackeren van, Isabell/Bos, Wilfried/Choi, Frauke/Grossart, Anne/Springer, Ruth/Willmann, Silke (2008): „Starke Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“ - Indikatorisierung der Leitmotive, Entwicklung des Bewerbungsbogens und Konzipierung des Bewertungsverfahrens im Auftrag der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Unveröff. Manuskript. Dortmund und Mainz Ackeren van, Isabell/Bos, Wilfried/Choi, Frauke/Grossart, Anne/Springer, Ruth/Willmann, Silke (2008): „Starke Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“ - Entwicklung eines Rahmenkonzeptes und der Wettbewerbskriterien im Auftrag der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Unveröff. Manuskript. Dortmund und Mainz Bank, Volker (2007): Stiftungen und Unternehmensberatungen - Unterstützung von Schulentwicklung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Verantwortung und ökonomischer Effizienz. In: van Buer/Wagner (Hrsg.) (2007): 273-283 Benz, Winfried/Kohler, Jürgen/Landfried, Klaus (Hrsg.) (2007): Handbuch Qualität in Studium und Lehre. Berlin: Raabe Fachverlag für Wissenschaftsinformation Beutel, Wolfgang/Tetzlaff, Sven (2007): Schülerwettbewerbe und Schulentwicklung. In: Fauser/Messner (Hrsg.) (2007): 141-153 Büchner, Rolf (2001): Managementlexikon. München/Wien: R. Oldenbourg Verlag Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) (2007): Wettbewerb „Zeigt her eure Schule“ im Schuljahr 2007/08 zum Thema Beteiligung. (Wettbewerbsunterlagen) Berlin 51 z.B. die Wettbewerbe „Zeigt her eure Schule“ (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung u.a.), „Starke Schule. Deutschlands beste Schulen, die zur Ausbildungsreife führen“ (Gemeinnützige HertieStiftung u.a.), „Qualität schulischer Arbeit“ (Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend Rheinland Pfalz), „Lehrpreis ‚Wissen schafft Zukunft’“ (Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz)
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Frauke Choi
Fauser, Peter/Messner, Rudolf (Hrsg.) (2007): Fordern und Fördern. Was Schülerwettbewerbe leisten. Hamburg: Edition Körber-Stiftung Fauser, Peter/Prenzel, Manfred/Schratz, Michael (Hrsg.) (2007): Der Deutsche Schulpreis 2006. Was für Schulen! Gute Schulen in Deutschland. Seelze-Velber: Klett Kallmeyer Friege, Gunnar (Hrsg.) (2006): Wettbewerbe: Impulse für Schule und Unterricht. In: Naturwissenschaften im Unterricht Physik. 2006 (96). 4-36 Gemeinnützige Hertie-Stiftung (Hrsg.) (2007): Starke Schule. Aus der Praxis - Deutschlands beste Schulen, die zur Ausbildungsreife führen (mit DVD). Frankfurt a.M.: Gemeinnützige HertieStiftung Gemeinnützige Hertie-Stiftung u.a. (Hrsg.) (2008): Starke Schule. Deutschlands beste Schulen, die zur Ausbildungsreife führen. Der Wettbewerb 2009. (Broschüre) Frankfurt a.M. Meyer-Guckel, Volker (2007): Best Practice als Methode. Funktion, Bewertung und Kommunikation von Beispielen guter Praxis im Rahmen von Wettbewerben im Hochschulsystem. In: Benz et al. (Hrsg.) (2007): Teil E 7.9 Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur (MBWJK) (2007): Orientierungsrahmen Schulqualität für Rheinland-Pfalz. Mainz: Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Motzel, Erhard (2006): Projektmanagement Lexikon. Begriffe der Projektwirtschaft von ABCAnalyse bis Zwei-Faktoren-Theorie. Weinheim:Wiley-VCH Merz-Foschepoth, Christine (2007): Viele Wettbewerbe - viele Gewinner! Über innovative Ideen und den großen Ruck, der durch Deutschlands Frühpädagogik geht. In: Kindergarten heute. 2007 (5). 22-23 Oestreicher, Wencke/Post, Daniela/Choi, Frauke/Hamburger, Franz/Idel, Till-Sebastian/Schmidt, Uwe (2006): Zwischenbericht. Evaluation des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ Unveröff. Manuskript. Mainz Oestreicher, Wencke/Post, Daniela/Choi, Frauke/Hamburger, Franz/Idel, Till-Sebastian/Schmidt, Uwe/Busch, Thomas (2007): Abschlussbericht. Evaluation des Programms „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ Unveröff. Manuskript. Mainz und Berlin Scheck, Johanna/Schuch, Klaus (2007): Wirkungsanalyse des Schulwettbewerbs „Jugend innovativ“, Wien. http://www.bmwa.gv.at/NR/rdonlyres/1FE0FB87-5F8C-4CB5-84F095A3CFB08D73/0/WirkungsanalyseJugendInnovativ.pdf (aufgerufen am 15.8.2008) van Ackeren, Isabell/Thierack, Anke (2004): Der Projektwettbewerb. Ideen für die Kooperation von Schule und Wirtschaft. Weinheim/München: Juventa van Buer, Jürgen/Wagner, Cornelia (Hrsg.) (2007): Qualität von Schule. Ein kritisches Handbuch. Frankfurt a.M.u.a.: Peter Lang
III.
Schulkultur und Schulleistung – empirische Befunde
Demokratie in der Schule Zwei Fallstudien zu Schulkulturen und der Etablierung von Demokratie in der Schule Heiko Breit und Annette Huppert
1
Einleitung
Wesentliche Kriterien, die eine gute Schule ausmachen, finden sich in den informellen Strukturen von Schulkultur. Diese beeinflussen maßgeblich die wechselseitigen Umgangs- und Anerkennungsformen der schulischen Akteure. Ziel einer guten Schule sollte es sein, Raum für die Ermöglichung von demokratischen Umgangs- und Anerkennungsformen zu schaffen. Im Rahmen des EUProjektes „The development of active citizenship on the basis of informal learning at school” wurden pro beteiligter Nation auf der Basis von Einzel- und Gruppeninterviews zu diesem Thema sechs Fallstudien erarbeitet. Beteiligt waren neben den Niederlanden, als Projektkoordinator, England, Dänemark, Rumänien, Italien, Zypern und Deutschland. Ziel war es, Lerngelegenheiten für demokratische Kompetenzen – als Vorraussetzung von ‚active citizenship’ – im informellen Lernkontext von Schulen zu erfassen. Grundlage der Arbeit aller Länder bildete ein gemeinsam erstellter konzeptioneller Rahmen, in dem neben Klassenklima, Schulleitung und Beteiligungsstrukturen für Schüler/innen der Begriff der Schulkultur eine zentrale Rolle spielte. Die Fallstudien wurden im Abschlussbericht miteinander verglichen (Scheerens 2007). In diesem Artikel wollen wir zwei der sechs deutschen Fallstudien kontrastierend darstellen. Bei ähnlichen Rahmenbedingungen (Schulform, Einzugsgebiet, Anteil an Schüler/innen mit Migrationshintergrund) unterstreichen sie die Bedeutung von Kultur als symbolischem Handlungskontext innerhalb der Organisation Schule. Sie repräsentieren andere Typen von Schulkultur und unterscheiden sich vor allem auch im Hinblick auf die Entwicklung von ‚active citizenship’ bzw. von ‚Demokratie in der Schule’.
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Heiko Breit und Annette Huppert Der theoretisch-methodische Rahmen
Theoretisch-methodisch orientiert sich die Analyse der Fallstudien einerseits an dem konzeptionellen Rahmen des Projekts, andererseits weist sie auf der Grundlage eines ‚kulturpsychologischen Ansatzes’ stehend einige Besonderheiten auf, die im Folgenden kurz erläutert werden. Darüber hinaus werden wir näher auf die Bestimmung des ‚active citizen’ und seiner Beziehung zur demokratischen Schulkultur eingehen. Konstruktive Erfahrungen demokratischer Prozesse, Normen und Institutionen, eine Voraussetzungsbedingung von guter Schule, benötigen die dazu passende Praxis, die Anerkennung gewähren und Fairness demonstrieren und selbstwirksames Handeln gewähren muss (Edelstein/Fauser 2001).
2.1 Der Begriff der Schulkultur Der Begriff der Schulkultur wurde wegen seiner Unschärfe, vielfältigen Verwendung (Houtten 2005; Glover/Coleman 2005), vor allem aber auch im Hinblick auf seine Affinität zu einer normativen Soll-Konstruktion von Schulen diskutiert und kritisiert. Begriff und Konzepte der Schulkultur legen allzu leicht positive Konnotationen nahe (Terhart 1994, Keuffer etal. 1998). In der vorliegenden Arbeit wird Kultur aber weder als ein wertender Zugang zu kulturellen Phänomenen verstanden, noch ethnisch definiert. Der Begriff dient vielmehr der Beschreibung einer symbolischen und strukturellen Wirklichkeit, die entsprechend der vorhandenen kulturellen Grundlagen stark variieren kann. Auf ihr bauen Schulen ihre Entwicklungsperspektiven auf. Mit Helsper et al. (1998) verstehen wir Schulkultur „als das Ergebnis der kollektiven und individuellen Auseinandersetzungen und Interaktionen der schulischen Akteure mit äußeren Vorgaben und damit als die über Handlungen einzelschulspezifisch ausgeformte, regelgeleitete Struktur (…), die ihrerseits wiederum konstitutiv für die schulischen Mikroprozesse ist und in den einzelschulspezifischen Interaktionen der schulischen Akteure reproduziert und transformiert werden kann“ (vgl. auch Helsper 2008).
Um die genannte interaktive Qualität von Schulkultur abbilden zu können, orientieren wir Methodik und theoretischen Hintergrund an der interaktionistischen bzw. phänomenologischen Soziologie einerseits (Mead 1968, Berger/Luckmann 1969) und an der kulturpsychologischen Handlungstheorie (Boesch 1991, Eckensberger 1995) anderseits. Schulen können auf diese Weise als kulturell
Demokratie in der Schule
151
strukturiertes Handlungsfeld rekonstruiert werden, das durch äußere Bedingungen schulischen Handelns, schulische Institutionen (Schul-, Lehrerkonferenz, Schülervertretung) und Regelpraxen bis hin zu Rhetoriken geprägt ist, die den öffentlichen Auftritt der Schule wie auch den Schulalltag charakterisieren. Dabei konstituieren sich Handeln der Akteure und Schulkultur wechselseitig. Die zum Verständnis der interaktiven Herstellung dieser Ordnungen verwendeten qualitativen Erhebungsmethoden ermöglichen Einblicke in relevante Tiefenstrukturen schulischen Handelns, z. B. in Macht- und Autoritätskonzepte, die Kernpunkte jeder Organisationskultur bilden.52 Die zentralen Einsichten eines solchen Ansatzes basieren darauf, dass in jeder Schule eine ihr eigene Schulkultur existiert, eine intersubjektive institutionelle Ordnung, an der unterschiedliche Individuen durch unterschiedliche Rollen teilhaben und die durch deren alltägliche soziale Praxis lebendig wird. Diese Rollen basieren auf wechselseitigen Erwartungshaltungen, die informell kulturell eingeübt werden (Primärsozialisation, peers, Medien etc.) und die formell in Regelordnungen und -systemen festgehalten werden. Sie sind keineswegs fest definiert, sondern bieten als Knotenpunkte zwischen Individuen sowie zwischen Individuen und Institutionen Spielraum für Interpretationen und Aushandlungsprozesse. In wieweit dieser Rahmen eher flexible und kreative oder eher starre und rigide Interaktions- und Beziehungsformen induziert, ist abhängig vom jeweiligen Kontext jeder Schulkultur, die durch die gelebte Alltagspraxis immer wieder erneuert oder auch verändert wird. Beim Blick auf die ‚weichen’ symbolischen Sinnwelten darf allerdings die ‚Hardware’ objektiver Handlungsbedingungen nicht vergessen werden. Sie begrenzt den kulturellen Variationsspielraum. Zu ihr gehören ökonomische Handlungsvoraussetzungen ebenso wie rechtliche Rahmenbedingungen des schulischen Handelns. Auch Schultypus sowie die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft und des Kollegiums mit den jeweiligen generationell oder regional bedingten Hintergrundsüberzeugungen zählen dazu, schließlich verfügt eine Hauptschule in einem großstädtischen Brennpunkt über andere kulturelle Handlungsbedingungen als ein Gymnasium in einer bevorzugten Wohnlage. Trotz dieser objektiven Handlungsbedingungen zeigen sich wesentliche Unterschiede bei der Interpretation und bei der Nutzung von Handlungsspielräumen. Die sich trotz ähnlicher Handlungsbedingungen herauskristallisierenden Unterschiede in den Schulen manifestieren sich im Wesentlichen durch den Gegensatz Offenheit vs. Geschlossenheit für intersubjektive Aushandlungsprozesse. 52
Selbst unter den Schülern gibt es Macht- und Autoritätsbeziehungen, diese schlagen sich auch in Freundschaftsverhältnissen nieder. Wir verwenden eine interaktionistische Vorstellung von Macht und Autorität, die auf gegenseitiger Anerkennung beruht, wie sie u. a. von Hannah Arendt (1995) vertreten wird.
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Sie variieren darin, in welchem Maße sie subjektive und intersubjektive Konstruktionsleistungen sowie Reflexionsmöglichkeiten auf Rollenstrukturen und soziale Ordnung gewähren und fördern. Diese Sicht auf den informellen Schulkontext bietet Anschluss an empirische Forschungen zum kontextualisierten moralischen Urteil (Eckensberger/Breit/Döring 1999), in der autonome und heteronome Orientierungen unterschieden werden. Demnach zielt Autonomie auf Beziehungsfähigkeit und Kooperation und begünstigt dadurch Interesse an Interaktion und Kommunikation. Heteronomie dagegen drängt auf Konformität und Ähnlichkeit aufgrund von unreflektierten Vorgaben (vgl. Piaget 1981/1954). Den unterschiedlichen Orientierungen autonom und heteronom entsprechen verschiedene Konfliktlösungs- und Anerkennungspotentiale. Strukturierend für diese unterschiedlichen Interpretationen ist das Wechselspiel zwischen objektiven Strukturen, kulturellen Schemata und interpersonaler Interaktion als Triangel (Haste 2008). Wir gehen also von einem vielschichtigen (Schul-)Kulturbegriff aus, der implizite und explizite Strukturmerkmale, Haltungen und symbolische Ordnungen ebenso enthält wie Wissensrepertoires und an materiellen Ressourcen orientierte analytische Beschreibungen. Schulkulturen variieren also demnach, ob sie in heteronomer Weise bei gegebenen Rahmenbedingungen menschliches Verhalten durch Routinisierung und Sanktionierung äußerlich steuern und kanalisieren oder ob sie in autonomer Weise kognitives, normatives und motivationales Handeln sozialer Akteure als Input aufnehmen, fördern und verarbeiten (siehe auch Breit 2007).
2.2 ‚Active Citizenship’ und Autonomie Auf der Grundlage dieses Verständnisses von Schulkultur kann im Kontext der Studie zur Entwicklung von ‚active citizenship’ genauer geklärt werden, welche Bedingungen bereitgestellt werden müssen, um eine Entwicklung des demokratischen ‚active citizen’ in einer Schule zu ermöglichen: Der Begriff der ‚active citizenship’ entspricht einer autonomen Auffassung von Institutionen und Kultur und kann sich nur in einem entsprechenden institutionellen Kontext entwickeln. Bei der Frage danach, was den ‚active citizen’ moderner demokratisch verfasster Zivilgesellschaften auszeichnet, ist zwischen dem Wissen über demokratische Institutionen und ihren Funktionsweisen einerseits und der Befähigung zu demokratischen Lebensformen andererseits zu unterscheiden. Das Ziel schulischer Bildung und Erziehung umfasst demnach nicht nur die Vermittlung von Wissen, sondern darüber hinaus die Befähigung, in modernen demokratisch verfassten Gesellschaften nach Möglichkeit nicht nur zurechtzukommen, sondern diese kritisch beurteilen zu können und – wo möglich und gewollt – gestal-
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tend an Institutionen und Gremien teilzuhaben. Innerhalb von Gruppen ist ein autonomer Standpunkt an wechselseitigen Anerkennungsformen durch intersubjektive Normen orientiert, ermöglicht die Aufrechterhaltung von Beziehungen, entsteht aber nicht durch reflexionslose Übernahme von kollektiven Werten. Auf dieser Grundlage wird auch Konfliktfähigkeit ermöglicht, die die Vermittlung unterschiedlicher Perspektiven und der Anerkennung unterschiedlicher Positionen erfordert. Die Schaffung von Entwicklungsbedingungen so verstandener Autonomie erscheint als Voraussetzung der Entwicklung von ‚active citizenship’. Solche Entwicklungsbedingungen entstehen in Handlungsrahmen, in denen Vertrauen unterstellt, zu Mitentscheidung und Partizipation angeregt und kooperatives Arbeiten ermöglicht wird (vgl. Lempert 1988). Dies beinhaltet Konflikte, Enttäuschungen und möglicherweise auch das Bestehenbleiben divergierender Positionen (Oser 1998), die auszuhalten emotionaler Ressourcen bedarf. Inwiefern die Ziele letztlich verwirklicht werden können, ist aber nicht nur eine Frage persönlicher Kompetenzen von Lehrenden, sondern hängt wesentlich damit zusammen, wie im Umfeld – ihren Institutionen und (un-) ausgesprochenen Strukturen der Schule – autonomes Handeln gefördert und gefordert wird, in welches ‚Klima’, in welches ‚Milieu’ oder in welche ‚Kultur’ Demokratielernen eingebettet ist.
2.3 Schulkultur und ‚citizenship education’ Stellt man nun die Frage nach der Realisierbarkeit einer so verstandenen ‚citizenship education’ in Schulen, so geraten zwei Dimensionen der oben beschriebenen Schulkulturen in den Blick. Das eine ist der Umgang mit und die Relevanz von Konflikten und deren (demokratische oder vielmehr demokratiekompatible) Bearbeitung in der Schule. Dass Konflikte an Schulen eine erhebliche Rolle spielen ist nicht neu, schließlich gilt es nicht nur unterschiedliche Generationen, sondern auch intragenerationell unterschiedliche Normen und Werte zu vermitteln. Schließlich bilden sich in pluralistischen Gesellschaften verschiedenste Milieus aus, gewinnen internationale Kooperationen an Bedeutung und gewinnt Deutschland als Einwanderungsland mit der zunehmenden Vielfalt der kulturellen Hintergründe der hier lebenden Menschen andere Denktraditionen und Wertstrukturen dazu. Die Natur von Konflikten und den Formen ihrer Bearbeitung erhält deshalb auch für Schulkulturen eine entscheidende Bedeutung. Die zweite hiermit eng zusammenhängende Dimension, die Schulkulturen unter ihrer Relevanz für Demokratie-Lernen (oder demokratische Bildung) auszeichnet, ist die der Anerkennung. Das Prinzip der Anerkennung wurde von Honneth
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(1994) als interpersonale Grundlage einer autonomen Entwicklung der Person interpretiert. Autonomie ist das Kennzeichen eines reifen Bürgers und Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens.53 In unterschiedlichsten Handlungskontexten entstehen an Schulen Konflikte, bei deren Lösung die Qualität der Anerkennungspraxis wesentliche Funktionen übernimmt. Beispiele bilden die Handhabung von Regeln (ihre Entstehung, Kontrolle, Einhaltung und Durchsetzung), die mehr oder weniger faire Beurteilung der Schülerinnen und Schüler, sowohl im Hinblick auf ihre Leistungen, als auch auf ihre Integration bzw. Integrierbarkeit in der Schulgemeinschaft, die konkreten Kooperationen sowie die formalen und informellen Partizipationsmöglichkeiten an der Schule insgesamt wie in der zentralen Einheit Unterricht. Nach diesen grundsätzlichen Vorüberlegungen, wollen wir nun empirische Ergebnisse aus unserer Forschung darstellen. Wir werden uns auf zwei Fallstudien konzentrieren, die durch ihre Ähnlichkeit hinsichtlich ihrer strukturellen Ausgangsbedingungen und Differenz in Schulkultur und Praxis von besonderem Interesse sind.
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Die deutschen Fallstudien
Für die Fallstudien wurden sechs Schulen nach folgenden Kriterien ausgewählt: eine breite Streuung im Anteil an Schüler/innen mit Migrationshintergrund, ein großstädtisches Milieu als Einzugsgebiet und die Unterrichtung von Hauptschülern und -schülerinnen). An den sechs Schulen wurden geführt: semi-strukturierte Interviews mit der Schulleitung (in der Regel mit der Schulleiterin/dem Schulleiter) und – wo möglich – semi-strukturierte Interviews mit Sozialpädagoginnen und– pädagogen; semi-strukturierte Gruppeninterviews mit jeweils bis zu sechs Lehrenden der Schulen (nach Möglichkeit waren dies Politik-, Sozialkundlehrer/innen oder Lehrende thematisch verwandter Fächer der Klassen, aus denen die Schüler/innen ausgewählt wurden, und die Klassenlehrer/innen beteiligt); semi-strukturierte Gruppeninterviews mit bis zu acht Schülerinnen und Schülern aus der Klassenstufe 8 (die Schüler/innen waren aus jeweils einem Klassenverband (oder äquivalente Struktur). Die Auswahl erfolgte teils durch die Intervier/innen und Selbstauswahl, teils durch die Lehrer/innen und Selbstauswahl. Außerdem wurden öffentliche oder 53
Henkenborg (2002) und Helsper (2001) haben das Anerkennungskonzept aufgegriffen und für den Schulkontext und die Frage seiner Demokratietauglichkeit fruchtbar interpretiert.
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von den Schulen zur Verfügung gestellte Dokumente (Schulprogramme, Schulordnungen, Homepages) zur Analyse herangezogen. Die leitfadengestützten Lehrer- und Schülerinterviews wurden als Gruppeninterviews geführt. In beiden Fällen handelt es sich um sogenannte natürliche Gruppen (vgl. Loos/Schäffer 2001), in denen die Interviews phasenweise den Charakter von Gruppendiskussionen annahmen, insbesondere bei den Lehrer/innen. In der Durchführung wurden den Inhalten und Schwerpunktsetzungen der Interviewpartner/innen, sowie der jeweiligen Gesprächsdynamik Raum geboten. Die Leitfäden dienten der Unterstützung der Gesprächsführung. Fragen im Stil eines „Advocatus Diaboli“, wie Oser (1998) sie beschreibt, wurden ebenfalls eingesetzt, insbesondere dann, wenn die Interviewer/innen im Gespräch den Eindruck hatten, dass Themen systematisch vermieden werden. Diese wurden angesprochen und ihre weitere Geschichte im Gespräch den Interviewten überlassen. Dies lässt sich auch als ein Aufsuchen von Barrieren beschreiben, die Reflexion provozieren (Eckensberger et al. 1999).
3.1 Auswertung Die Interviews wurden mit Hilfe eines Codierschemas bearbeitet, das auf international vereinbarten Gesichtspunkten der Projektdurchführung aufbaut und diese auf der Grundlage der Interviewerfahrung erweitert. Die sich daraus ergebenden thematischen Ordnungen in den Interviews wurden dann, neben der intensiven Analyse der kompletten Interviews dazu herangezogen, Zusammenfassungen zu schreiben, die in der Zusammenschau als Fallbeschreibung aufgearbeitet wurden.
3.2 Kontrastierende Fallstudiendarstellung Die beiden ausgewählten Kontrastschulen zeigen bei der Betrachtung ihrer äußeren Merkmale große Ähnlichkeiten. Beide Schulen haben einen hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Sie liegen beide inmitten eines sozialen Brennpunktes und vereinen mehrere Bildungsgänge kooperativ unter einem Dach sowie bieten nachmittägliche Betreuung an. Allerdings haben die Schulen völlig unterschiedliche Formen von Schulkultur entwickelt.54 Alle
54 Bei der Darstellung kann aus Platzgründen nicht auf alle Details (z. B. auf die für Demokratie in der Schule durchaus wichtige Elternpartizipation) eingegangen werden. Siehe auch Fürstenau/Hawighorst in diesem Band.
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Einzelpersonen werden in den Fallstudien in männlicher Form benannt: dies erhöht die Lesbarkeit und dient gleichzeitig der Anonymisierung. 3.3 Fallstudie 1 Es handelt sich um eine integrierte Gesamtschule, die Ganztagsbetreuung anbietet. Der Anteil an Schülern/Schülerinnen mit Migrationshintergrund ist mit ca. 66% sehr hoch55, aber der Stadtteil hat sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einem „Ghetto“ (Lehrer) entwickelt. Lehrer/innen und Leitung beklagen neben Leistungsschwierigkeiten der Schüler/innen deren Disziplinlosigkeit. Das Verhalten der Schülerschaft wird als „weit von gängigen Normen entfernt“, „äußerst unangenehm“ und „psychisch belastend“ beschrieben. Diese Lehrersicht findet eine gewisse Entsprechung in Aussagen der interviewten Schülergruppe, die zu den Merkmalen der Schule „dreckig“ „unfaire Lehrer“ und „teilweise so brutale Schüler halt, die sich ständig kloppen“ assoziiert. Aus Schülersicht spiegeln sich in ihren Noten die Launen der Lehrer/innen wider. Auch einer der befragten Sozialpädagogen berichtet von mangelnder Transparenz bei der Notengebung und kann nicht verstehen, dass Schüler/innen ihren Notenstand hartnäckig nachfragen müssen. Die Notengebung beeinflusst Klassen- und Schulatmosphäre und führt zu Frustration bei den Schülern und Schülerinnen, die sich nicht für anerkannt halten. Lehrer/innen würden Schüler/innen als „Nullnummern“, „unmenschlich“, „Scheiß-[Name der Schule]Schüler“ beschimpfen, selbst ausländerfeindliches Verhalten sei in Einzelfällen beobachtbar: „Ihr könnt noch nicht mal einen richtigen Satz sprechen, scheiß Ausländer. Wo unterrichte ich eigentlich?“ lasse ein Lehrer verlauten. Einzelne Lehrer/innen und ein Sozialpädagoge werden jedoch von den Schülern und Schülerinnen geschätzt, weil sie nett und streng zugleich sind. Sie sagen offen, was sie denken, äußern gleichzeitig ihren Respekt, indem sie beispielsweise die Schüler/innen grüßen.
3.3.1 Das Kollegium Das Kollegium ist durchschnittlich recht alt und fühlt sich hinsichtlich des schwierigen Schülerklientels unter Stress. Projektarbeit und konstruktive Schulentwicklung sind kaum möglich, weil nach eigener Aussage die Lehrer/innen in 55
Die Schätzungen der Schulleitungen und Lehrer/innen gehen in der Regel über diese Zahl hinaus. Tatsächlich dürften die Zahlen den Anteil unterschätzen, weil beispielsweise Kinder sogenannter Spätaussiedler aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion aufgrund ihrer deutschen Pässe darin nicht enthalten sind. Dies gilt auch für Fallstudie 2.
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schulischen Alltagsproblemen ersticken und keine Kraft mehr für außergewöhnliche Aktivitäten aufbringen. Viele Lehrer/innen sind schon vorzeitig ausgestiegen, gingen aus gesundheitlichen Gründen in Rente oder haben die Möglichkeit der Frühpensionierung wahrgenommen. Viele derjenigen, die noch an der Schule tätig sind, haben innerlich gekündigt, weil für sie der tägliche Kampf mit den Schülern und Schülerinnen sowohl auf dem Gebiet der Disziplin als auch auf dem Gebiet der Leistung zu aufreibend ist. Die Kraft lasse nach, Konflikte durchzustehen, heißt es. Früher habe man noch Eltern einbestellt, einen Ausschuss einberufen. Doch weder von den Institutionen noch von den Eltern fühlen sich die Lehrer/innen unterstützt. Untereinander haben die Lehrer/innen ein gutes Verhältnis. Das nehmen auch die Schüler/innen wahr. In ihren Augen sind die Lehrer/innen alle „Freunde“, sie gehen anders als mit den Schülern und Schülerinnen friedlich miteinander um, „lästern über die Schüler“, „lachen immer“ und „sind nie traurig“. Die tatsächliche Kooperation zwischen Lehrern ist dennoch eingeschränkt, was sich besonders beim Versuch der Regelsanktionierung zeigt (s.u.). Lehrer/innen, so ein Beteiligter seien eben Einzelkämpfer, seien es nicht gewohnt, im Team zu arbeiten, mit einem offenen Klassenraum. Jeder mache „sein Ding“ in seiner Nische. Auch die Kooperation mit den Schulsozialpädagogen/-pädagoginnen ist eher randständig, was auch den Schüler/innen auffällt.
3.3.2 Offene Konflikte zwischen Schülern und Schülerinnen und Lehrer/innen: Der Kampf um die Hausordnung Deutlicher und häufiger als Konflikte zwischen Schülern und Schülerinnen bestimmen die zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen bzw. Sozialpädagogen/-pädagoginnen die Schulkultur. Kernpunkt der Auseinandersetzung sind die Themen Rauchen und Handy- und MP3playernutzung, die laut Schulordnung untersagt sind. Der befragte Sozialpädagoge bemängelt allerdings, die besagten Regeln und Sanktionen stünden nur auf dem Papier, was von den befragten Schülern und Schülerinnen bestätigt wird: Niemand achte im Alltag darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Die meisten Schüler/innen machten, was sie wollten. Geraucht wird hinter einem Haus, Handys bleiben an. „Man kommt zwei Minuten, oder drei Minuten später von der anderen Richtung und sieht den wieder immer noch, ne. Wenn man es ihm dann abknöpft, da gibt es schon richtig Stress mit den Schülern, ne“ (Sozialpädagoge). Das führt dazu, dass Kollegen und Kolleginnen wegsehen, auch wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Es ist den Lehrern und Lehrerinnen zu aufwendig, auf die Einhaltung von Regeln zu beharren. In der Schülerwahrnehmung fehlt es Lehrer/innen
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an Macht und Mut: „Das einzige, was die Lehrer machen, ist mal in die Ecke kommen. Dann gehen alle raus, kommen aber wieder, sobald die Lehrer weg sind. Die Lehrer sind eigentlich chancenlos“ (Schüler). „Wenn Lehrer vorbei gehen und es sehen, dann drehen sie sich wieder um und gehen, weil sie Angst haben“ (Schüler). Dies wird aus der Perspektive der Lehrer/innen bestätigt, von denen sich Manche durch die Schüler/innen bedroht fühlen. Die Angst scheint begründet, denn schließlich, so rühmt sich einer der Schüler, sei vor Jahren schon einmal ein Lehrer in der Mülltonne gelandet und ein Sozialpädagoge berichtet von einer selbst erlebten handgreiflichen Auseinandersetzung, bei der ihm keiner der anwesenden Lehrer/innen beistand. Da es kein Klima gegenseitiger Unterstützung gibt, heißt die Devise wegsehen, wer Ärger mit den Schülern und Schülerinnen sucht, ist selber schuld. „Es gucken einfach zu viele, viel zu viele Kollegen weg.“ Die, die sich bemühen, „das sind dann die Deppen“ (Sozialpädagoge).
3.3.3 Führungsstil: Schulleiter Das Verhältnis zur Schulleitung aus Sicht der Lehrer/innen ist gut, schließlich sitze man in einem Boot. Die Lehrer/innen betrachten sich als anerkannt von der Leitung; auch die Sozialpädagogen/-pädagoginnen sehen sich von der Leitung unterstützt. Im Vergleich zu den anderen Fallstudien fällt allerdings auf, dass Leitung und Führungsqualität nicht eigenständig von den Lehrern und Lehrerinnen zum Thema gemacht werden. Den befragten Schülern und Schülerinnen ist der Schulleiter als Person nicht bewusst, und sie können sich nur schwer darauf einigen, wer Schulleiter, wer Mittelstufenleiter oder wer der „Zweitgrößte und Viertgrößte“ ist. Offensichtlich nimmt die Leitung keine eigentliche Führungsrolle in der Schule wahr. Der Schulleiter selbst sieht sich in zu viele Verwaltungsaufgaben verstrickt und erkennt, dass zu geringe Kontakte zu Schülern und Schülerinnen bestehen. Im Interview gibt er nur ein formales Bild der Schule mit ihren Möglichkeiten, Regeln und dem vorhandenen Sanktionsinstrumentarium wieder, das in keiner Weise die Schulrealität widerspiegelt.
3.3.4 Strukturen der Schülervertretung und Praxis der Schülerpartizipation Das Interesse an Schülervertretung ist unter Schüler/innen gering. Das Engagement der Einzelnen hänge davon ab, inwieweit Treffen, in der Mittagspause oder im Anschluss an den Unterricht stattfinden. Auch von den Mitschüler/innen in
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der Klasse würden die Vertreter/innen nicht in die Pflicht genommen; „es ist, sagen wir mal, auch der Dödeljob“ (Sozialpädagoge), das ganze laufe nach dem Prinzip „wir suchen jetzt irgendeinen und der macht das schon“ (Lehrer). Häufig treten die gewählten Vertreter/innen nicht mehr in Erscheinung. Wenn Vertreter/innen aktiv werden, dann werden nicht Schülerinteressen, sondern ihre eigenen oder die der eigenen Gruppe artikuliert. Klassensprecher/innen werden zwar pro forma gewählt, ihre Vertretungswirksamkeit hängt aber entscheidend von ihrer jeweiligen Persönlichkeit ab. „Und dann gibt es dann wieder Jahre, da ist der Haussprecher dann der Schönste aus dem Haus, oder der die größte Klappe hat“ (Lehrer). Teilweise werden aus Sicht der Lehrer/innen kommunikativ völlig inkompetente Schüler/innen gewählt, statt derjenigen, die „Feeling für die Klassenkameraden“ (Sozialpägagoge) haben, und die als Vermittler zwischen Klasse, Lehrer/innen und Sozialpädagogen/-pädagoginnen fungieren könnten. Manche Vertreter neigen dazu, „Sheriff oder Hilfssheriff“ (Sozialpädagoge) zu sein. Entsprechend werden die derzeitigen Schülervertreter/innen auch von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen als: „MöchtegernLehrer/innen“ beschrieben. Dies ist vielleicht auch dadurch bedingt, dass Lehrer und Lehrerinnen versuchen, die Klassensprecherwahl zu lenken, „sonst wird der größte Kasper gewählt, nur damit Unterhaltungsprogramm ist in der Kerngruppenstunde“ (Lehrer). Auch die Wähler/innen müssten lernen, den Vertreter kompetent als ihren Vertreter zu verstehen und ihn als solchen zu nutzen. Das ginge nicht ohne Konfliktfähigkeit, nämlich „der Großschnauze, die Klassensprecher ist, widersprechen zu können“ (Sozialpädagoge). Angesichts dieser Realität der Schülervertretung, vertreten die Lehrer/innen die Einstellung, Schülermitbestimmung grundsätzlich ja, aber nicht mit diesen Schüler/innen. Ihr Engagement für die Schülervertretung und für ‚active citizenship’, das die Lehrer und Lehrerinnen mit Sicherheit vor etlichen Jahren noch an den Tag legten ist zum Erliegen gekommen, und sie haben sich im Lehrerzimmer wie in einer Burg verschanzt.
3.4 Fallstudie 2 Auch die nächste Fallstudie, eine Schule, an der Grund, Haupt- und Realschüler/innen unter einem Dach unterrichtet werden, arbeitet mit ihrer Schülerpopulation auf einem relativ niedrigen Leistungsniveau. Sie liegt ebenfalls in einem sozialen Brennpunkt mit vielen alleinerziehenden Elternteilen, einem hohen Ausländeranteil (62%), hoher Arbeitslosigkeit und vielen Empfängern von Arbeitslosengeld II (auch ALG2 oder Hartz IV). Dennoch bereiten die Schüler/innen in den Augen der Lehrer/innen wenige Probleme, sind „sehr friedlich“ und „auffallend freundlich“. Die Schülerbindung an die Schule ist hoch, was
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auch daran liegt, dass die Schule ab Klasse 5 ganztägig ausgelegt ist und am Nachmittag eine Reihe von Freizeitaktivitäten anbietet (Teestube, Billardraum, Disko), die von den Schüler/innen gut angenommen werden. Dies wird durch Lehrer/innen als sehr positiv bewertet, denn Schule sei daher ein Freizeitraum der Schüler/innen. Allerdings stünde durch Sparmaßnahmen der Spaß gegenüber der Wissensvermittlung immer mehr zurück. Die Schüler/innen berichten über ein gutes Verhältnis zu Lehrer/innen und fühlen sich vor allem in Konfliktfällen durch den jederzeit ansprechbaren Beratungslehrer gut vertreten. Auch der Schulsozialpädagoge hat seinen Anteil an dem Vertrauen, das die Schüler/innen ihrer Schule gegenüber aufbringen. Ihm erzählen Schüler/innen mit Migrationshintergrund auch von familiären Problemen. Abschottung zwischen den üblichen Cliquen unter den Schüler/innen gibt es keine, auch deshalb nicht, weil keine Gruppe dominiert, auch keine ethnische. Die ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft wird als „gute Mischung“ bezeichnet und als verbindende Sprache sprechen alle deutsch. Kommt es zu Konflikten, dann nehmen die Schüler/innen immer häufiger ihre Konfliktregelung selbst in die Hand. Vor allem finden Lehrer/innen es bemerkenswert, dass im Gegensatz zu früher, Prügeleien heute von den Umstehenden unterbunden, und nicht mehr aus Schaulust noch angefacht werden.
3.4.1 Das Kollegium Das Kollegium pflegt trotz der Konflikte untereinander, die hin und wieder auftauchen, einen offenen, teilweise freundschaftlichen Umgang. So setzt sich der Beratungslehrer auch für die Schüler/innen ein und gerät dadurch in Konflikt mit einzelnen Lehrern und Lehrerinnen. Der sozialpädagogische Dienst ist integriert und anerkannt. Die Lehrer/innen stehen hinter den Projekten, die die Schule anbietet und engagieren sich. Sie sind regelrecht begeistert von einem Musikprojekt, in dessen Kontext auch eine CD aufgenommen wurde. Das war „toll, richtig schön, richtig super war das“. Den Schulzielen entsprechend führen die Lehrer/innen Gruppenunterricht auf breiter Ebene durch. Die Notengebung gilt auch unter Schüler/-innen als fair und transparent, alle drei Monate verteilen die Lehrer/innen Zettel mit dem jeweiligen Notenstand.
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3.4.2 Regeln als Gegenstand eines schulöffentlichen Diskurses / wechselnde Koalitionen im Umgang mit Regeln Wie an anderen Schulen bestehen Verbote für Handy und MP3-Player-Nutzung, wobei die Schülervertretung die Erlaubnis aushandelte, das Handy in den Pausen auf dem Schulhof benutzen zu dürfen, und somit auf Erfolge verweisen kann. Die Verhaltensregeln sind schriftlich festgehalten und bilden einen festen Bestandteil der für alle verbindlichen Hausordnung. Zuvor hatte jeder Lehrer und jede Lehrerin eigene Regeln etabliert, z. B. über Essen und Trinken im Unterricht. Natürlich, so erzählen die Lehrer/innen, opponieren die älteren Schüler/innen auch „aus Protesthaltung“ gegen Regeln. Verstöße werden aber nicht als Negieren jeglicher Ordnung schlechthin verstanden, sondern mit einer gewissen Gelassenheit, mit Verständnis für die Entwicklung der Jugendlichen und mit Humor aufgenommen. „Aber das denke ich so, bei einigen, da sind die festgewachsen die Mützen“(Lehrer). Dennoch werden Verstöße klar sanktioniert, so dass im Kollegium selbst, aber auch von Schülerinnen und Schülern, Kritik an Inkonsequenz und mal an rigider Auslegung der Regeln geäußert wird. Selbst Lehrer/innen ‚müssen’ insofern Regeln brechen, als dass sie selbst ‚heimlich’ direkt vor dem Schulhof rauchen und dadurch in eine ‚Komplizenschaft’ mit den Schülern und Schülerinnen geraten. „Es gibt auch einige Lehrer die sagen gar nichts, die sagen nur ‚Lasst euch von anderen Lehrern nicht erwischen.’ Also die selbst rauchen und wissen wie das ist, wenn man in der Schule nicht rauchen darf“ (Schüler). Die Spanne zwischen Norm und Durchsetzung der Norm ist explizites Thema in den Gesprächen. „Manchmal sehe ich gar nicht, ob da drei Mützen auf sind und manchmal komme ich rein ‚Mütze ab’. Aber manchmal komme ich rein und dann geht es los und da fällt mir das gar nicht auf“ (Lehrer). Die Konsequenz in der Kontrolle der Regeleinhaltung wird auf Lehrerkonferenzen immer wieder aufs Neue thematisiert und ist somit Bestandteil einer Schulöffentlichkeit, in der Bildung und Einhalten von Regeln diskutiert werden. Es existiert auch ein von Schüler/innen selbst erarbeitetes schriftlich fixiertes Schulethos. Dieses Ethos wird öffentlich verbreitet und immer wieder neu besprochen. Neben der übergreifenden Schulordnung geben sich auch die Klassen in Kooperation zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen spezifische Umgangs- und Arbeitsregeln. Zentrales Element der Regelsanktionierung stellt die klare Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Geltungsansprüchen von Regeln dar. Es gibt Regeln, die man offensichtlich auch mal brechen darf, ernsthafte Regelbrüche werden hingegen konsequent sanktioniert: „Da gibt es auch keine weiche Welle, keine faulen Kompromisse“ (Lehrer). Deutlich ausgesprochen wird, dass Gewalt und Drogen nicht geduldet werden. Werden andere bedroht, eingeschüchtert oder
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„abgezogen“ (Bestehlen unter Androhung von Gewalt), gibt es kein Pardon. Zwei Dinge sind in diesem Zusammenhang wichtig. 1. Die Lehrer/innen verfolgen solche Fälle auch über Schulgebäude und Unterrichtszeiten hinaus. Und 2. es wird in solchen Fällen die Polizei eingeschaltet. Letzteres wird dadurch erleichtert, dass es einen „bürgernahen Beamten“ gibt, der schnell kommt, der die Schule kennt und den die Schüler/innen persönlich kennen. Die klare, anerkannte und im Alltagshandeln deutlich gemachte Normstruktur funktioniert sogar bei gravierenderen Normbrüchen, denn da diese weder die Normstruktur an sich noch die Autorität der Lehrer/innen in Frage stellen, kann die ursprüngliche Situation wieder restauriert werden. Dies sollen folgende ‚critical incidents’ verdeutlichen: Zwei Lehrerinnen greifen in eine massive Schlägerei zwischen zwei Schülern in der Cafeteria ein, sind der Situation aber körperlich nicht gewachsen und werden von den Kontrahenten sogar angegriffen. In diesem Moment kommen ihnen andere Schüler zu Hilfe. Die Kontrahenten entschuldigen sich später bei den Lehrerinnen für ihr Verhalten. Wie wichtig die ordnende Hand von Lehrern bei Konflikten ist, lässt sich auch an der nächsten Szene ablesen, die die Lehrer als ‚wichtig’ erzählen: Ein Schüler der Grundschule gerät in Streit mit einem Mitschüler und erhält eine Platzwunde am Kopf. Er rennt außer sich über den Flur. „Da kommt seine alte Grundschullehrerin, nimmt diesen Jungen an die Hand, und dieser Kerl, das werde ich nicht vergessen, dieser Kerl geht mit seiner alten Grundschullehrerin brav an der Hand über den Flur, um mit dem anderen Jungen den Konflikt zu klären (Lehrer).“ Als Ergebnis gehen beide Kontrahenten gemeinsam zum Arzt, der Täter begleitet das „Opfer als Hilfe“. Der Täter sagt: „Es ist alles in Ordnung Frau B., ich begleite ihn jetzt und das ist meine Wiedergutmachung, wir gehen jetzt zusammen zum Arzt“. Der hinzugezogene Beratungslehrer ist besorgt, die beiden alleine ziehen zu lassen. Aber der weitere Verlauf ist positiv und auch am nächsten Tag treten keine erneuten Probleme auf.
3.4.3 Führungsstil: Schulleiter Der Schulleiter gibt sich zielorientiert und durchsetzungsfähig und setzt auf Professionalität und Führung sowie auf bürgerschaftliches Handeln. Es gibt aus seiner Sicht zwei von einander unabhängige Stränge der Erziehung: a) erfolgreich Zukunft bauen und b) demokratische Grundwerte erlangen, die Bildung der Person erreichen. „Wo sollen Schüler so kompakt demokratisches Verhalten lernen, wenn nicht in den Schulen, ja, wo es Rechte und Pflichten gibt, wo man in einer großen Gemeinschaft lebt, ja, und wo die Schüler viel Zeit verbringen“.
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„Schulleben kann nur funktionieren und fröhlich und gewinnbringend sein, wenn man Regeln einhält und Regeln sind […] ein Grundbestandteil auch einer demokratischen Ordnung, wo alle ihren Part spielen, alle Teilnehmer sind und dafür verantwortlich sind, was für ein Klima, was für ein Miteinander entsteht“. Die Lehrer/innen seien nicht nur für die Noten da, sondern für die gesamte Breite erzieherischen Handelns. „Und da geht es auch darum, friedlich miteinander zu leben und auch eine vernünftige Lernatmosphäre zu haben“. Von Seiten der Lehrer/innen wird allerdings der deutlich strukturierende Führungsstil der Leitung als wenig demokratisch und dadurch als Widerspruch zu den erklärten Zielen empfunden. Es werde nicht ernsthaft delegiert, und es gäbe keine genügende Transparenz der Entscheidungen. Offenbar gibt es einen offenen Konflikt zwischen Leitung und Kollegium, der sich vor allem an der Frage der Arbeitszeit und Anwesenheitspflicht entzündet. Der Schulleiter gibt rückblickend zu, bei der Durchsetzung der neuen Arbeitsordnung Fehler gemacht zu haben. Lehrer/innen müssten aber andererseits mehr Kritik ertragen lernen, was diesen schwieriger zu vermitteln sei als den Schülern und Schülerinnen. „Lehrer sind über viele Jahre gewohnt, die Türen zuzumachen. ‚Das ist meine Klasse, mein Unterricht, da redet mir keiner rein.’ Und man mag auch nicht gerne Leute hinten sitzen haben, die zugucken, weil die ja irgendeinen Schwachpunkt, irgendeine Schwachstelle feststellen könnten“ (Schulleiter). Lehrer/innen müssten auch lernen, den Leistungsaspekt strikt von Fragen der Demokratieerziehung zu trennen, was aber deshalb schwer zu vermitteln sei, weil Lehrer/innen Schüler/innen nicht als Partner sehen, und glauben, man müsse sie „in Schach halten“. Die Schule ist also alles andere als frei von Konflikten. Das Vorhandensein solcher Konflikte in der Schule wird jedoch von der Schulleitung nicht als Widerspruch zur Demokratieerziehung, sondern als lehrreich für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/innen empfunden. Ursache für die Qualität der unterschiedlichen Beziehungen und die in der Schule herrschende Friedfertigkeit sei der offene Umgang mit Konflikten. Sie werden artikuliert, abgearbeitet und nicht unterdrückt und verdrängt. Zwar gebe es Stress, Streit und Beleidigungen, aber „es gelingt immer wieder das abzuarbeiten, es aufzufangen und ne neue Basis zu finden und das finde ich sehr ermutigend hier an der Schule“(Schulleiter).
3.4.4 Strukturen der Schülervertretung und Praxis der Schülerpartizipation Schulleitung und Lehrer/innen stehen den Schülern und Schülerinnen und ihren Mitwirkungsinstitutionen positiv und unterstützend gegenüber. ‚Active citizens-
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hip’ wird sowohl als wichtiges Bildungsprinzip verstanden, als auch als gelebte Schulpraxis gefordert. Es besteht aber kein Zweifel, dass die Schülervertretung angeleitet werden muss, indem man sie auf bestimmte Themen hinweist (z.B. die Sitzordnung in der Cafeteria), und indem man sie systematisch auf ihre Vertreterrolle vorbereitet. Es gibt Trainingseinheiten für Schulsprecher/innen und auch für Klassensprecher/innen. Dadurch ist die Qualität der Vertretung spürbar besser geworden. Klassensprecher/innen fordern heute ihre Zeiten ein, um den Klassen Informationen zu geben, und kennen bestimmte Rechte, die Schüler/innen haben. Die Schüler/innen können sich für einen Schulsprecherkurs bewerben, in dem sie systematisch auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Sie durchlaufen ein eigenes ‚Ausbildungsprogramm’ mitsamt Redetraining. Danach kandidieren sie und führen Wahlkämpfe mit ‚Wahlversprechen’: Raucherecke, Colaautomat und Disko. Bislang ist jedes Team in der Wahl bestätigt worden. Das Engagement, insbesondere die aktive Anleitung der Schülervertretung, wird von außen nicht unkritisch gesehen, berichtet der Schulleiter. Er besteht aber auf einer „kompetenten“ Vertretung, auch wenn diese teilweise gelenkt wird. „Die ganze Schülervertretung funktioniert ja nur, wenn sie von den Lehrern und Lehrerinnen unterstützt wird. Das ist vielleicht an einem Gymnasium anders, aber hier müssen die Vertreter/innen an die Hand genommen werden“ … „Sie [die Schüler/innen] wachsen da rein und sind dann eben auch kompetent und können was bewegen und das dient letzten Endes allen Schülern und Schülerinnen und insofern, Demokratie hin oder Demokratie her“. Der Schulleiter ist davon überzeugt, dass der Wert einer ‚gelenkten’ Demokratie in der Entwicklung demokratischer Fähigkeiten liegt, weniger in einer politischen Demokratie mit Machtgleichgewichten, die an einer Schule mit den getrennten Statusgruppen Lehrer/Schüler/Eltern ohnehin schwerlich vorstellbar sei. Zur Förderung der Schülervertretung gehört, dass sie beim Erlass neuer Regeln oder bei Regeländerungen einbezogen wird. Im Alltagsgeschäft achtet sie auf Ordnung und Sauberkeit, z.B. ob der Müll richtig sortiert wird, verteilt Pokale oder Rügen und ist „sehr streng“(Lehrer). Es gibt Veranstaltungen wie Lehrerquiz, Ausflüge, in der Grundschule eine ‚Misswahl’ auch ohne Lehrer, weil dieser krank wurde. Die Vertreter/innen der Schüler/innen gehen zu Veranstaltungen, zu Schülerforen, nehmen an städtischen Veranstaltungen zur Demokratie in der Schule teil, ebenso an Wochenendseminaren im Rahmen eines Demokratieprojekts. Die Vertreter/innen tun sich durch kommunikative Kompetenzen hervor und trauen sich öffentlich aufzutreten. Die Routine im Reden und die öffentlichen Präsentationen machen die Vertreter/innen selbstsicher und „unheimlich mutig“ (Lehrer). Sie sind auf der Schulkonferenz aktiv, sie besuchen die Lehrerkonferenzen. „Also die haben überhaupt keine Angst vor Erwachsenen,
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vor Eltern, vor Lehrervertretern zu reden, Vorschläge zu unterbreiten und kritisch zu sein“ (Lehrer). Grundsätzlich werden Partizipation, Integration und soziales Handeln auch außerhalb der Gremien durch Sozialkurse verstärkt. Beispielsweise haben Streitschlichter/innen jeden Tag Dienst im Demokratieraum. Sie patrouillieren auch in der Grundschule und haben am Arm eine Binde. Sie gehen auch nachträglich hin, wenn es Streit gegeben hat, und versuchen zu schlichten. Sie trösten auch mal einen, der da sitzt und weint. „Das ist eine ganz wichtige Sache“ (Lehrer). Allerdings stehen die befragten Schülerinnen und Schüler ihrer Vertretung skeptischer gegenüber. Die Begeisterung, die von den befragten Lehrer/innen und der Schulleitung geäußert wird, teilen sie nicht. (Eine befragte Schülerin ist selbst in der Vertretung). Sie nehmen die SV als Gremium wahr, das Ausflüge organisiert, zur Interessenvertretung brauchen sie es nicht, weil sie sich an den Vertrauenslehrer wenden. Mitwirkungsmöglichkeiten, die sie formal und nach Auskunft der Lehrer/innen auch faktisch haben, erkennen die Schüler/innen kaum. Die Regeln seien immer schon da.
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Schulkultur als konstituierendes Moment des Schulalltags und Grundlage für ‚active citizenship’ in der Schule
Der Zugang über qualitative Interviews und das Augenmerk auf interaktive Strukturen des Umgangs unterschiedlicher sozialer Akteure ermöglicht die Rekonstruktion offener und latenter Konflikte, normativer Erwartungen und der Art und Weise der Regelpraxis. Deren Analyse erlaubt es, Autoritätsstrukturen und Anerkennungsformen in ihren unterschiedlichen Qualitäten sichtbar zu machen, und damit zum Kern von Schulkultur vorzudringen. Schulkultur kann – wie die Fallstudien belegen – bei sehr ähnlichen Rahmenbedingungen (Schulform, Einzugsgebiet, materielle und personelle Ressourcen) beträchtliche Unterschiede bei der Nutzung und Gewährung von Handlungsspielräumen für die Entwicklung von ‚active citizenship’ aufweisen. Für die Unterschiede sind – auch im Vergleich zu den hier nicht präsentierten Fallstudien – folgende Dimensionen wesentlich: 1. Der praktizierte Führungsstil sowie das demokratische Selbstverständnis der Person des Schulleiters wirken in entscheidender Weise auf die Formulierung gemeinsamer Ziele, auf die Teilhabe von Schülerinnen und Schülern sowie auf den Umgang mit Konflikten. 2. Als hiervon abgeleitet kann die Regelpraxis verstanden werden. Zentral sind dabei die Transparenz von Regelsetzung, die prinzipielle Anerkennung der Regeln durch die beteiligten Akteure und die konsequente Um- bzw. Durch-
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Heiko Breit und Annette Huppert setzung. Die Tatsache, dass Regeln deutlich spürbar sein müssen, dass sie nicht aus Bequemlichkeit übersehen werden dürfen, ist nicht einer „law and order“ – Haltung gleichzusetzen. Vielmehr bildet eine solche Orientierung an gemeinsamen Regeln das normative Fundament des gegenseitigen Umgangs, das erst die Standards setzt, an denen Regelverletzungen gemessen werden können. Selbstverständlich müssen Regeln für alle gelten, auch für Lehrer/innen. Es ist allerdings wichtig, unterschiedliche Regeltypen zu differenzieren. Verstöße gegen Konventionen wie ‚Handy-Nutzung’ o.ä., gegen moralische Normen wie ‚Gewaltlosigkeit’ oder gegen rechtliche wie Drogenbesitz bzw. –verkauf können nicht in gleicher Weise behandelt werden. Während Konventionen Spielraum und Augenmaß bei ihrer Festlegung und ihrer Verletzung benötigen, sind Verstöße gegen moralische Normen klar, deutlich und konsequent zu sanktionieren. Ist dieses Normbewusstsein fest in der Schulkultur verankert, dann können a) Schüler/innen selbst Normverstöße klären, und b) es können, wie die ‚critical incidents’ in Fallstudie 2 verdeutlichen, anerkannte Normsysteme, Anerkennungsverhältnisse und Autoritätsbeziehungen Raum für ‚Wiedergutmachung’ bieten. Das ist selbst dann der Fall, wenn moralische Normen gebrochen werden, denn Gewalt und Missachtung sind – in gewissen Maßen – Bestandteil des Schüleralltags. Damit ein solcher Umgang mit Regeln und Regelverstößen funktioniert, sind ein sicheres und transparentes normatives Fundament, eine demokratische Grundeinstellung sowie eine Schulöffentlichkeit notwendig, die sich als Netzwerk von Informationen und Meinungen versteht und in der die Schule und ihre Regelsysteme thematisiert und diskutiert werden. Nur dann können Konflikte sowie unterschiedliche Rollen und Perspektiven problematisiert werden. Fairness bei und Transparenz von Leistungsbewertungen bilden eine wesentliche Grundlage für eine gelungene Schulkultur. Zentraler Ausdruck und wesentliche Voraussetzung für die Förderung von ‚active citizenship’ ist das Ernstnehmen und die Anerkennung der Schülervertretung und ihrer Gremien. Sie sollte aber nicht in ihrer Wirkung überschätzt werden. Nur in seltenen Fällen wird sie ihre formale ‚Macht’ wie ein Betriebs- oder Personalrat wahrnehmen. Um auf ihre Aufgabe vorbereitet zu werden, ist die Unterstützung der Schülervertreter/innen auch durch die ‚Gegenseite’ also durch Lehrer (in unterschiedlichem Maße) notwendig. Vertrauenslehrern kommt hierbei eine immense Bedeutung zu. „Gelenkte Demokratie“ bedeutet keinen Widerspruch zur Demokratisierung von Schulen und zur Förderung von ‚active citizenship’, denn es geht in der Schule immer darum, Formen des demokratischen Umgangs miteinander zu lernen.
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In diesem Kontext kann Schule Vorbild sein und Lehrer/innen können sich hierfür engagieren. Defizite im demokratischen Umgang der Schüler/innen sollten nicht als Argument dafür benutzt werden, Schülern und Schülerinnen grundsätzlich die Fähigkeit dazu abzusprechen, sondern können auch als Aufforderung interpretiert werden, die Entwicklung dieser Fähigkeiten zu fördern. Es geht immer um die Balance von Führung, Teilhabe und Freiheit. Nicht an der Unterrichtung beteiligtes pädagogisches Personal, das in besonderer Weise für die Belange der Schülerschaft verantwortlich ist, kann wesentliche Vermittlungsfunktionen vornehmen, Vertrauen schaffen und damit ein stabilisierendes Element für die Schulkultur darstellen.
Die Gestaltung dieser zentralen Elemente der Schulkultur vollzieht sich nicht isoliert von objektiven Rahmenbedingungen. Sie ist abhängig von der Finanzlage der Schulträger, der Schulform, den Schülern und Schülerinnen und dem ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital ihrer Eltern, von dem kulturellen Hintergrund der Lehrer (soziale und fachliche Kompetenz, aber auch Alter und Region), dem individuellen Engagement einzelner Persönlichkeiten, institutionellen / organisatorischen Richtlinien wie Gesetzen, Stellen (Schulsozialpädagogen/-pädagoginnen) und institutionellen Netzwerken sowie nicht zuletzt von den zivilgesellschaftlichen Standards, in die die Erwartungen der sozialen Akteure über Lehren und Lernen, Erziehung und Bildung sowie über Autorität, Führung und Mitbestimmung eingebettet sind. Dieses Selbstverständnis ist wesentlicher Bestandteil von Schulkultur und kann in ihr belebt (Autonomie) oder ignoriert (Heteronomie) werden. Soll ‚active citizenship’ gefördert werden, um einerseits die drohende Politikverdrossenheit junger Menschen zu verhindern und andererseits eigenverantwortliches Handeln im Rahmen demokratischer Institutionen zu fördern, müssen Schulkulturen einen Raum zur Entwicklung von ‚active citizenship’ enthalten. Nur so können die Partizipationsfähigkeiten von Schülerinnen und Schülern ernst genommen, und sie in ihrem demokratischen Handeln unterstützt und ermutigt werden. Das kann nur dann gelingen, wenn die Schule selbst ein Ort der Autonomie, ein Ort der Verständigung und Auseinandersetzung über Schulangelegenheiten ist und entsprechend eine Schulöffentlichkeit besitzt, die ein Handlungsfeld für Information, Interaktion und Kooperation darstellt. Dies darf und muss nicht auf Kosten des Auftrags der Wissensvermittlung gehen, erfordert aber aufgrund des unübersehbaren Leistungsdrucks an den Schulen bei fehlenden finanziellen Mitteln einen schwierigen Balanceakt.
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Gute Schulen durch Zusammenarbeit mit Eltern? Empirische Befunde zu Perspektiven von Eltern und Schule Sara Fürstenau und Britta Hawighorst
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Einleitung
Eltern beeinflussen den schulischen Erfolg ihrer Kinder. Sie vermitteln im familiären Alltag wichtige Ressourcen für den Bildungserfolg und die Möglichkeiten, den schulischen Anforderungen gerecht zu werden (vgl. z.B. Bittlingmayer/Bauer etal. 2005; Büchner/Brake 2006). Die Weitergabe von „inkorporiertem kulturellen Kapital“ in der Familie begünstigt oder begrenzt die Möglichkeiten der Bildungsaneignung und des Bildungserfolgs auf Seiten der Kinder (vgl. Bourdieu 1997). Der Zusammenhang von familiärem Hintergrund und schulischem Erfolg, der durchgängig in den vorliegenden Statistiken der Bildungsforschung abgebildet ist (vgl. zusammenfassend etwa Becker/Lauterbach 2007), hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass zunehmend darüber diskutiert wird, auf welche Weise die Schule und der Unterricht im Sinne einer ‚Chancengleichheit’ verbessert werden können. Die Frage, welchen Beitrag intensiv(er)e Kooperationspraktiken von Schule und Eltern leisten können und sollen, stellt dabei nur ein Randthema dar. Dass eine Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule der schulischen Entwicklung der Kinder zu Gute kommen kann, ist aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Konsens und durch empirische Arbeiten belegt (vgl. zusammenfassend Gomolla 2008, Rüesch, P. 1999; Krumm 1996). Bemühungen um eine Kooperation mit Müttern und Vätern werden von der Schule jedoch häufig nicht als Aufgabe wahrgenommen. Dies ist in dem folgenden Zitat einer russischsprachigen Mutter reflektiert: „Das sehe ich als ein Problem: Die Lehrer wollen es gut machen. Sie wollen sich um unsere Kinder kümmern egal ob sie aus Russland kommen, aus Afghanistan oder aus der Türkei. Aber sie denken nicht darüber nach, dass es nicht nur um die Kinder
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geht. Es geht auch um die Eltern. […] Wenn sie die Eltern einbeziehen, wird es auch mit den Kindern besser.“56
Diese Mutter nimmt den fehlenden Einbezug der Eltern als ein Versäumnis in der schulischen Bildung ihrer Kinder wahr. Eine stärkere Beachtung und Hinwendung zu den spezifischen Ausgangs- und Lebenslagen der Eltern – so lässt sich der Interviewausschnitt positiv wenden – ist eine Voraussetzung dafür, gleichberechtigte Ausgangsbedingungen für schulischen Erfolg zu schaffen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf zugewanderte Familien, in denen die Vermittlung der (schul-)bildungsrelevanten Kapitalien und Ressourcen unter spezifischen, oftmals unter erschwerten, Bedingungen stattfindet (vgl. ausführlich Gogolin 2005: 344ff.). Hierzu kann etwa gehören, dass – abhängig von der sozialen Lage der Herkunftsfamilie – die Möglichkeiten zu direkten Unterstützungsleistungen fehlen (vgl. ebd.). Auch können in den Familien und in den Schulen unterschiedliche Sichtweisen darüber existieren, auf welche Weise und mit welchen Zielen schulisches Lernen erfolgt (vgl. Conteh 2006). Unser Beitrag geht von der Prämisse aus, dass die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule grundsätzlich allen Eltern soziale Partizipation auf Schulebene eröffnen sollte. Eine Zusammenarbeit, in der Eltern unterschiedlicher sozialer Herkunft mit ihren mannigfachen Bedürfnissen, Interessen, Fähigkeiten und Strategien der Mitarbeit als Partner in der Gestaltung von Erziehungs- und Bildungsprozessen ernst genommen und an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, kann als eine Form der demokratischen politischen Partizipation von Eltern betrachtet werden (vgl. Vincent/Tomlinson 1997). Sie entspricht dem Anspruch, dass Schule als öffentliche Institution die Inklusion aller sozialen Gruppen zu gewährleisten hat. In der Rhetorik über Elternbeteiligung in der Schule sehen Vincent und Tomlinson ein Spannungsverhältnis zwischen einem Konzept der sozialen Partizipation von Eltern und einem anderen Modell, in dem Eltern das schulische Geschehen durch ihr Verhalten als ‚Kunden’ steuern. Eltern als Kunden beteiligen sich aus privaten Interessen an der Gestaltung des Schullebens, indem sie sich für die individuellen Interessen ihrer Kinder einsetzen. Ob Eltern eine solche Kundenrolle einnehmen, hängt aber in hohem Maße von ihrer Ausstattung mit sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital ab.57 In unserem Beitrag stehen die Interessen von Eltern im Vordergrund, die kein Selbstverständnis als Kunden zum Ausdruck bringen und ihre Interessen in 56 Das Zitat stammt aus dem Interviewmaterial einer Untersuchung zu elterlichen Sichtweisen auf mathematische Bildung, das eine der Grundlagen dieses Beitrags ausmacht. Das Interview wurde auf Deutsch geführt. 57 Vgl. zur sozio-ökonomischen Prägung elterlicher Einstellungen und Verhaltensweisen die soziologischen Analysen van Zantens im Kontext des französischen Bildungssystems (2003, 2005).
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Sara Fürstenau und Britta Hawighorst
der Schule aus unterschiedlichen Gründen nicht von vornherein selbstbewusst vertreten. Wir stellen Ergebnisse aus zwei unabhängig voneinander durchgeführten qualitativen Untersuchungen vor, die zum einen Aufschluss darüber geben, wie Eltern und Lehrkräfte ihre Zusammenarbeit im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität bewerten und welche Erwartungen sie an eine optimale Zusammenarbeit haben. Zum anderen geht es um die Frage, welche Formen der Zusammenarbeit eine Beteiligung dieser Eltern ermöglichen und soziale Partizipation auf Schulebene unterstützen. Die erste Studie „Mathematische Bildung im Familienrahmen – eine interkulturell vergleichende Untersuchung elterlicher Bildungsorientierungen“ untersucht die Perspektiven von Eltern unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft auf Schule und Bildung.58 Auf der Grundlage von leitfadengestützten qualitativen Interviews wird danach gefragt, welche mathematikbezogenen Bildungskonzepte und Bildungsprozesse aus der Sicht der Eltern im familiären Alltag wirksam werden und Auswirkungen auf das schulische Mathematiklernen ihrer Kinder haben können. In die Untersuchung eingebunden sind Eltern von Schülerinnen und Schülern der 7. Jahrgangsklasse, die aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion ausgesiedelt sind, solche, die einen türkischsprachigen Hintergrund besitzen sowie einheimisch deutsche Eltern. Mit der Absicht, Einblicke in möglichst mannigfaltige lebensweltliche Erfahrungen zu erhalten, wurden Eltern von relativ bildungserfolgreichen und weniger bildungserfolgreichen Kindern befragt: Die Kinder besuchen entweder die 7. Klasse eines Gymnasiums oder einer Gesamtschule (unteres Leistungsniveau in Mathematik). In dem Themenfeld der Untersuchung – mathematische Bildung – spielen für die Eltern, wie sich deutlich in den Interviews niederschlägt, Kooperationsbeziehungen mit der Schule eine wichtige Rolle. Teils herrschte bei den befragten Müttern und Väter diesbezüglich großer Gesprächsbedarf. In vielen Fällen brachten die Eltern das Thema der Kooperation ein, wenn es z.B. um ihre Unterstützungsleistungen ging oder um ihren Einblick in den Mathematikunterricht. Die zweite Studie untersucht die Qualität von Schulen im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität. Es handelt sich um das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Schulqualität im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität. Fallstudien von Grundschulen“, das an der Universität Hamburg durchgeführt wurde (vgl. Fürstenau 2008a). Grundlegend für das Projekt waren die folgenden normativen Prämissen: a) Eine „gute Schule“ stellt sich inhaltlich und organisatorisch auf die unterschiedlichen sprachlichen und sozio-kulturellen Erfahrungen 58 Die Untersuchung ist eingebunden in das Forschungsprojekt „Mathematiklernen im Kontext sprachlich-kultureller Diversität“ (vgl. hierzu den DFG-Abschlussbericht: www.erzwiss.unihamburg.de/Matheprojekt).
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der Schülerinnen und Schüler ein. b) In einer „guten Schule“ hängen die Leistungserfolge der Schülerinnen und Schüler nicht von ihrer sprachlichen oder sozio-kulturellen Herkunft ab. Im Fokus der Untersuchung stand die empirische Erkundung von schulischen Konzepten und Arbeitsweisen, die im Sinne dieser normativen Prämissen als konstruktiv und Erfolg versprechend betrachtet werden können. Im Rahmen ethnographischer Feldforschung wurde die Prozessqualität zweier ausgewählter Grundschulen untersucht. An beiden Schulen wurden Leitfaden-Interviews mit Eltern, Lehrkräften und weiterem Personal der Schule durchgeführt, und es gab mehrmonatige Phasen Teilnehmender Beobachtung am Schulleben (Unterricht, Elternabende, Konferenzen u.a.). Als Ergebnis liegen Fallstudien über ausgewählte Konzepte des institutionellen und pädagogischen Umgangs mit sprachlich-kultureller Heterogenität vor (vgl. z.B. Fürstenau 2008b, Fürstenau/von Redecker 2008). Die Ergebnisqualität der Schulen wurde anhand der Ergebnisse aus der Hamburger Leistungsvergleichsstudie KESS (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern, vgl. Bos/Pietsch 2005) berücksichtigt. Beide Fallschulen befinden sich in Hamburger Stadtteilen, in denen die Arbeitslosenquote und der Anteil von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit überdurchschnittlich hoch sind. Die Themenschwerpunkte der Auswertung waren der Umgang mit Mehrsprachigkeit und die sprachliche Bildung. Ein weiteres Thema, das vertieft analysiert wurde, ist die Zusammenarbeit mit Eltern. Dieser Arbeitsbereich wurde an beiden Schulen ernst genommen, weshalb die Ergebnisse Aufschluss über konstruktive Momente der Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern geben. Mit Rückgriff auf empirische Ergebnisse aus beiden Untersuchungen betrachten wir im Folgenden drei Aspekte der Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern: die Anerkennung zwischen Schule und Eltern (2.1), Schule und Eltern als Erziehungspartner (2.2) und die Bedeutung von Elternbildung und Empowerment (2.3).
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Momente der Zusammenarbeit aus der Perspektive von Eltern und Schule
Während die Elternstudie aus Sicht von Migranteneltern vor allem auf Schwierigkeiten und Barrieren der Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern verweist, geben die Fallschulen ausgewählter Grundschulen Aufschluss über Momente einer konstruktiven Zusammenarbeit. Mit dem Ziel, Bedingungen gelungener Kooperation herauszuarbeiten, stellen wir Ergebnisse aus beiden Studien gegenüber.
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2.1 Anerkennung zwischen Schule und Eltern In der Interkulturellen Pädagogik gilt die ‚Anerkennung der Anderen’ als ein Leitmotiv (vgl. Auernheimer 2006). Theoretische Ansätze befassen sich mit den unauflösbaren Ambivalenzen von Anerkennung in pädagogischen Prozessen im Allgemeinen (vgl. Balzer/Künkler 2007) und im Umgang mit sprachlichkultureller Heterogenität im Besonderen (vgl. Mecheril 2005). Sowohl Balzer und Künkler als auch Mecheril verweisen auf den Umstand, dass in pädagogischen Anerkennungsprozessen gesellschaftliche Normen und Machtverhältnisse reproduziert werden. Dass sich gesellschaftliche Machtverhältnisse insbesondere auch in den Kooperationsbeziehungen zwischen Eltern und der Schule manifestieren, kommt in den Interviews der Elternstudie deutlich zum Ausdruck. Mehrere der befragten zugewanderten Eltern artikulieren, dass sie die Schule als Raum wahrnehmen, zu dem sie nur schwer Zugang finden, sodass sie ihre Potentiale in der schulischen Begleitung ihrer Kinder nicht so ausschöpfen können, wie sie es gerne wollten. Ein Grund für die wahrgenommenen Barrieren – so lässt sich aus den Interviews schließen – ist die im schulischen Raum erfahrene Nicht-Berücksichtigung der spezifischen Voraussetzungen, unter denen die Mütter und Väter die Schule wahrnehmen und erleben. Dies wird von den Eltern insbesondere mit Blick auf ihre sprachlichen Voraussetzungen thematisiert. Ein Beispiel ist Frau Berger, eine russischsprachige Mutter, die fehlende Deutschkenntnisse als Grund für ihre Zurückhaltung, an Elternabenden teilzunehmen, anführt. „Die Elternversammlungen haben mir dort [in Kasachstan] besser gefallen. Hier gefallen sie mir gar nicht. Dort haben sich immer die Eltern der ganzen Klasse getroffen, und wir haben immer viel gemacht. […] Und hier? Ich weiß nicht. Vera hat mir gerade wieder eine Einladung mitgebracht. Sie schreiben, dass nur wenige Eltern kommen. Das ist richtig, weil hier viele Russen leben. Russen gehen nicht zu den Versammlungen. Weil wir wirklich nichts tun können. Wir können die Sprache nicht. Wir sitzen da, plinkern mit den Augen und gehen wieder weg. Wenn es Dolmetscher gäbe, vielleicht würden wir dann hingehen. Aber so? Wissen Sie, ich bin einmal hingegangen. Da haben mir die Deutschen nicht gefallen. Sie haben uns nicht einmal wahrgenommen.“(Interview auf Russisch)
Fehlende Deutschkenntnisse stehen für Frau Berger im Zusammenhang mit eingeschränkten kommunikativen Möglichkeiten, zugleich aber auch mit einer ‚Unsichtbarkeit’ („sie haben uns nicht einmal wahrgenommen“). Sie fühlt sich auf dem Elternabend, zu deren Zielgruppe sie gehört, nicht angesprochen und ausgegrenzt. Die Nicht-Berücksichtigung der sprachlichen Voraussetzungen von Müttern und Vätern bei schulischen Veranstaltungen lässt sich vor diesem Hinter-
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grund als indirekte Form sozialer Ausgrenzung aus dem schulischen Raum verstehen. Ein weiteres Beispiel, in dem eine türkischsprachige Mutter ihr Engagement als Elternvertreterin thematisiert, soll diesen Zusammenhang verdeutlichen: „Bei Ergül und Hamit [die älteren beiden Söhne] waren zum Beispiel zehn oder neun türkische Kinder und Ausländer, und die anderen waren deutsche Kinder. Da wollte ich das nicht so gern machen. Weil ich ja nicht so gut Deutsch kann. Mit Ihnen kann ich jetzt reden, aber wenn viele Deutsche da sind, bin ich zurückhaltend. Also da wollte ich nicht. Da hätten sich alle gewundert. Da haben das immer deutsche Eltern gemacht. Aber in Seyrans Klasse [der jüngste Sohn] war kein einziges deutsches Kind da. Das waren alles Albaner, Italiener, türkische Kinder. Und da wollten die anderen nicht so gern Elternvertreter sein. Deswegen habe ich das dann gemacht. Das habe ich gerne gemacht.“ (Frau Yanar, Interview auf Deutsch)
Frau Yanar, die seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland lebt und in der Interviewsituation ein flüssiges Deutsch spricht, erklärt ihr anfängliches zögerliches Verhalten mit sprachlichen Aspekten. Anzunehmen ist jedoch, dass es vielmehr als um konkrete Deutschkenntnisse um eine tief verinnerlichte Unsicherheit angesichts der monokulturellen Ausrichtung der Schule geht: „Wenn viele Deutsche da sind, bin ich zurückhaltend.“ Ihr Verhalten lässt sich als Reflex auf schulische Praktiken interpretieren, mit denen sprachlich-kulturelle Differenzen nivelliert werden und die monolingual und monokulturell ausgerichtete dominante Kultur als Handlungsmaßstab gesetzt werden (vgl. hierzu die Analyse von Sichtweisen Lehrender in Weber 2004). Frau Yanar hat augenscheinlich die von schulischer Seite gestellten Assimilationsanforderungen an Eltern, sich an diese Kultur anzupassen, übernommen. Die beiden Interviewausschnitte sind ein Beispiel dafür, wie zugewanderte Mütter und Väter Prozesse der indirekten Ausgrenzung erleben. Die Grundschulstudie enthält demgegenüber Beispiele dafür, wie Lehrkräfte Eltern aus sprachlich-kulturellen Minderheiten mit einer ‚anerkennenden’ Haltung begegnen. Die oben erwähnte Ambivalenz des Anerkennungsansatzes ist darauf zurückzuführen, dass bei der ‚Anerkennung der Anderen’ hierarchische Unterscheidungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, z.B. anhand der Kategorie ‚Kultur’, reproduziert werden. Der Anspruch, die sprachlich-kulturelle Herkunft von Kindern und Eltern zu berücksichtigen und ihnen gleichzeitig als gleichberechtigte Handlungssubjekte begegnen zu wollen, kann zum Dilemma werden. Im Umgang mit diesem Dilemma kann ‚Anerkennung’ als eine aufmerksame (Balzer/Künkler 2007), bedächtige und reflexive (Mecheril 2005) Haltung im pädagogischen Handeln gefasst werden. Beispiele dafür finden sich
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in den Fallstudien unter anderem in den Aussagen der Lehrkräfte über ihre Zusammenarbeit mit Eltern:59 Zu einer reflexiven Haltung der Anerkennung gehört, dass Pädagoginnen und Pädagogen die Lebens- und Ausdrucksformen der Menschen, mit denen sie arbeiten, differenziert wahrnehmen, Defizitorientierungen überwinden und pauschale kulturelle Zuschreibungen vermeiden. Ein Schulleiter berichtet zum Beispiel: „Was für mich das Erstaunliche ist in unseren Zeugniskonferenzen: Die Klassenlehrerinnen könnten über jedes Kind aus dem Stand heraus einen ViertelstundenVortrag halten, was die soziale Situation dieses Kindes ist, und zwar treffend genau, nicht irgendwelche Vermutungen, treffend genau. Und da ist so eine ungeheure Kompetenz, die da dahinter steckt, und natürlich auch Arbeit und Aufmerksamkeit.“
Die Lehrkräfte machen sich ein Bild von den sozio-kulturellen, sprachlichen und ökonomischen Ausgangslagen in den Familien der Kinder, um ihre Arbeit an den Bedürfnissen der Familien ausrichten zu können. Zu einer reflexiven Haltung der Anerkennung gehört es weiterhin, sich auch die eigenen kulturellen Prägungen und Normalitätserwartungen bewusst zu machen; dazu als Beispiel das Zitat einer Lehrerin, die über zugewanderte Eltern in ihrer Klasse spricht: „Sie sind eigentlich auch regelmäßig da, um ihr Kinder abzuholen und hinzubringen, sind aber ein bisschen verhaltener, insgesamt. Ich glaube einfach, weil man dann sehr unterschiedlich wiederum auch ist. Ich habe so ein paar deutsche Eltern in der Klasse, die kennen sich untereinander, sind untereinander befreundet [...]. Mit denen könnte man einen Kneipenabend verbringen und sieht die gleichen Filme. [...]. Wo man sich dann fast auch versucht zu duzen. [...] Das schafft natürlich viel Motivation, etwas zusammen zu machen. Wenn ich dann irgendwo hingehe, dann fragen die gleich, ‚Soll ich mitkommen?’ Und dieser Kontakt entsteht nicht unbedingt mit den türkischen Müttern.“
Die Lehrerin reflektiert die Bedeutung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Lebensstilen für die Begegnungen zwischen Lehrkräften und Eltern. Mit Bourdieu geht es um die Wirkungsmacht des Habitus, also der sozial geprägten Vorlieben, Deutungsmuster und Wertvorstellungen (vgl. ebd. 1976). So macht sich die Lehrerin bewusst, dass das schulische Engagement Eltern, mit denen sie 59
Die Ergebnisse aus den Schulfallstudien werden im Folgenden anhand von Interviewzitaten vorgestellt; die Beobachtungen während der teilnehmenden Beobachtung bestätigen die in den Zitaten zum Ausdruck gebrachten Einschätzungen weitgehend.
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selbst gern in die Kneipe gehen würde, leichter fällt, bzw. dass andere Eltern eine höhere Hemmschwelle haben (vgl. ausführlich Lieb 2007). Die folgenden Zitate sind schließlich Beispiele dafür, dass Lehrerinnen als Voraussetzung für eine konstruktive Zusammenarbeit unterschiedliche Formen der Elternbeteiligung anerkennen, und zwar auch solche, die von den traditionellen Erwartungen der Schule abweichen; eine Lehrerin sagt über die Eltern in der Schule: „Sehr spontan hilfsbereit. Man kann schlecht planen. Solche Sachen wie Cafeteria, da kriegt man keinen Zettel zurück, wie viele Kuchen gebacken werden. [...] Dann denkt man eigentlich, die Cafeteria kann man dicht machen. Aber es sind dann Unmengen von Essenssachen, die kommen. Das ist alles so ein bisschen undogmatisch, finde ich.“
Eine andere Lehrerin sagt über ‚türkische’ Eltern: „Ich finde, dass auch gerade türkische Eltern sich sehr viel bedanken. Und das vergessen manchmal die deutschen, finde ich [...], sie fordern auch mehr, während die türkischen Eltern sich sehr oft bedanken.“
Sowohl die „undogmatische“ Unterstützung (keine Zettel, aber viele Kuchen) als auch die Art der „türkischen“ Eltern, sich zu bedanken, werden von diesen Lehrerinnen als wertvolle Erfahrungen beschrieben. Die unauflösbare Ambivalenz pädagogischer Anerkennung wird in der (hier wohlmeinenden) Rede über bestimmte Eigenschaften „türkischer“ Eltern deutlich. Wenn pädagogische Anerkennungsprozesse die Unterscheidung gesellschaftlicher Gruppen anhand von Kategorien wie ‚Kultur’ oder ‚Nationalität’ bestätigen, besteht immer die Gefahr, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduziert werden. Grundlegend für eine reflexive Haltung der Anerkennung ist ein Bewusstsein der Pädagoginnen und Pädagogen über diese Ambivalenz. Die Erfahrungen in den Fallschulen zeigen, dass eine reflexiv-anerkennende Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern der Reproduktion sozialer Hierarchien in der Schule entgegenwirken kann. In den Fallschulen konnten wir wiederholt beobachten, wie gesellschaftlich dominante, defizitorientierte Diskurse über Familien mit Migrationshintergrund von den in der Schule Tätigen in Frage gestellt wurden. Besonders deutlich wurde dieser Prozess in einer Fallstudie über die Zusammenarbeit zwischen Schule und Roma-Familien (vgl. Fürstenau/von Redecker 2008).
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2.2 Schule und Eltern als Erziehungspartner Fehlt im schulischen Raum eine gegenseitige anerkennende Haltung, wie sie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde, sind die Möglichkeiten, gemeinsam und abgestimmt im Sinne der Kinder und Jugendlichen zu handeln, eingeschränkt. In der Elternstudie artikulieren die Mütter und Väter weitere Schwierigkeiten, die dem in der Literatur häufig formulierten Anspruch an Lehrkräfte und Eltern entgegenstehen, sich als „Erziehungspartner“ (vgl. etwa Keck 2001) zu finden. Ein wichtiges Thema ist die fehlende Unterstützung durch die Schule. Mehrere Eltern fühlen sich mit der Förderung und Unterstützung ihrer Kinder allein gelassen. Sie berichten, dass die Schule selbst kaum Anstrengungen unternimmt, auftretenden Lernschwierigkeiten der Kinder entgegenzutreten. Ein Beispiel ist der folgende Textauszug, in dem eine Mutter die Sichtweise eines Lehrers auf den Leistungsabfall ihrer Tochter am Gymnasium referiert: Frau Yilmaz: „Bahar hat Probleme mit Mathematik. Aber sie arbeitet den ganzen Nachmittag. Immer wenn sie hier ist, lernt sie. Und dafür kriegt sie dann schlechte Noten. Das verstehe ich nicht.“ Interviewerin: „Haben Sie denn mit Herrn Frank [dem Klassenlehrer] gesprochen?“ Frau Yilmaz: „Ich habe mit ihm gesprochen. Ich habe gesagt, dass das so viel ist. Er sagt: ‚Ich kann nichts dafür. Das ist eben so. Jetzt in der siebten Klasse wird es noch schlimmer‘, hat er gesagt, also noch schlimmer mit Mathe.“ (Interview auf Deutsch)
Der Lehrer vermittelt in dem geschilderten Gespräch, dass von ihm keinerlei persönliches Engagement hinsichtlich Bahars Situation zu erwarten ist: „Ich kann nichts dafür.“ Diese Reaktion lässt sich als Ausdruck eines schulischen (insbesondere gymnasialen) Selbstverständnisses verstehen, das den schulischen Leistungsanspruch absolut setzt und in dem die Bringschuld für den Ausgleich von Leistungsschwierigkeiten einzig auf Seiten außerschulischer Sozialisationsinstanzen, zuvorderst also in den Familien, verortet ist. Die Frage, ob und auf welche Weise die einzelnen Familien in der Lage sind, die nötigen Unterstützungsleistungen zu erbringen, wird in diesem Selbstverständnis ausgeblendet. Vor diesem Hintergrund erleben mehrere Eltern – wie es auch in dieser Textpassage deutlich wird – die Schule selbst oftmals nicht als Ort, an dem sie Anregungen und Hilfe für ihr eigenes Engagement finden können. Eine weitere von den befragten Eltern thematisierte Schwierigkeit ist es, einen vertieften Einblick in die schulische Situation ihrer Kinder zu gewinnen. Ein Beispiel ist Frau Kaymaz:
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„Wenn ich Deutschkenntnisse hätte, dann wären hier erstens die Gespräche mit den Lehrern viel besser. Ich könnte mehr über meine Kinder sprechen. Zum Beispiel wo und in was sind die Kinder schwach und wo nicht. Ich könnte sie diesbezüglich besser steuern. […] Also ich würde mehr helfen können. Aber jetzt, wenn ich nicht mit dem Lehrer richtig reden kann, verstehe ich die Situation nicht. Weil ich kein Deutsch verstehe, bringen sie so oder so nicht alles zu mir. Und was passiert auf diese Weise? Sie sind auf sich gestellt und versuchen ihre Sachen selbst zu regeln. Aber wenn ich Deutsch könnte, dann würde alles anders laufen, denke ich.“ (Interview auf Türkisch)
Frau Kaymaz erklärt die durch Schwierigkeiten gekennzeichnete Situation ihrer Kinder in der Schule mit ihren eigenen Schwierigkeiten, im familiären Kontext Lerndefizite aufzugreifen und auszugleichen. Ihre Handlungsmöglichkeiten sieht sie durch fehlende Deutschkenntnisse stark eingeschränkt, die es ihr nicht erlauben, sich mit den Lehrkräften intensiv auszutauschen, um auf diese Weise zu einem besseren Einblick in die schulischen Lernbedingungen ihrer Kinder zu gelangen. Es ist also die Informationslage, die hier dazu führt, dass schulische Lernprozesse auf der einen Seite und das lebensweltliche familiäre Sozialisationsgeschehen auf der anderen als weitgehend isoliert wahrgenommen werden. Eine weitere zentrale Barriere ist aus Sicht vieler Eltern, dass die Schule nur wenig Bereitschaft zu Gesprächen zeigt, die über institutionalisierte Gesprächsformen wie etwa den Elternsprechtag hinausgehen. Ein türkischsprachiger Vater, Herr Yanar, fasst das folgendermaßen zusammen: „In der Türkei kann man die Lehrer fragen. Weil die Kinder mehr Zeit mit ihnen verbringen als mit Mutter und Vater zu Hause. Zum Beispiel, was das Kind macht am Tage in der Schule. Die Lehrer wissen das besser als die Eltern. Und dann sagen sie: ‚Okay, da und da müsst ihr was dagegen machen.“ Als ich zum Beispiel meinen ersten Sohn hier zur Schule geschickt habe, habe ich erwartet, dass seine Lehrerin irgendwas über meinen Sohn erzählt. Gutes, Schlechtes, irgendetwas wollte ich hören. Aber man hört nichts. ‚Alles läuft bestens’, sagen sie immer. Aber dann gibt es doch immer Probleme.“ (Interview auf Deutsch)
Herr Yanar hebt insbesondere die Bedeutung informeller Gespräche als Möglichkeit hervor, sich kontinuierlich zu informieren und nicht etwa erst beim Auftreten von Schwierigkeiten. Er erfährt – so lässt sich das geschilderte Ausbleiben informeller Gespräche interpretieren –, dass er von schulischer Seite nicht als pädagogisch relevantes Umfeld seiner Kinder wahrgenommen wird. Er selbst fühlt sich nicht als gleichberechtigter Partner angesprochen, sondern sieht sich lediglich mit schulischen Entscheidungen und Maßnahmen konfrontiert, in deren Entstehung er keinen Einblick hat.
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Die Grundschuluntersuchung zeigt, dass eine gelungene Kommunikation Voraussetzung für eine konstruktive Erziehungspartnerschaft von Schule und Eltern ist. In den Fallschulen beschreiben die Lehrkräfte in den Interviews die Erfahrung, dass sich bestimmte Eltern in der Schule, insbesondere bei den institutionalisierten Begegnungsformen wie dem ‚Elternabend’, zurückhalten; dabei handle es sich z.B. um zugewanderte Eltern oder Eltern mit geringer formaler Bildung bzw. Eltern, die den Habitus der Lehrkräfte nicht teilen (s.o.). Während der Feldforschung konnten wir beobachten, dass diese Zurückhaltung von Seiten der Fallschulen nicht als Desinteresse oder Defizit gedeutet wird, sondern versucht wird, Möglichkeiten der Begegnung zu schaffen. Das folgende Zitat einer türkischsprachigen Mutter zeigt zum Beispiel, dass informelle Kontaktmöglichkeiten gepflegt werden und für die Kommunikation zwischen Schule und Eltern bedeutsam sind: „Mit den Lehrern habe ich eigentlich keine schlechte Erfahrung. Wenn etwas ist, ich frage ja auch immer, und ich rede ja auch immer mit Frau Schmidt, der Lehrerin. Sie hat ja auch selber gesagt, dass ich das so gut mache, mit meinem Sohn, und dass wir das im Griff haben mit ihm. Ja, da freut man sich eben als Mutter.“ Interviewerin: „Also sind Sie im Austausch?“ „Ja. Ich kontrolliere auch alles, wie er da so ist und was er so macht. […] Ich hole ihn ja meistens ab. [...] Wenn was ist, dann kommt sie zu mir, die Lehrerin, und dann reden wir halt, wie er so war, und so.“
Es wird deutlich, dass ein relativ häufiger, persönlicher und informeller Austausch die Möglichkeit bietet, Missverständnisse zu vermeiden und sich zu verständigen, bevor es zu Schwierigkeiten kommt. Der informelle Kontakt wirkt wahrscheinlich sogar (konflikt-)präventiv. Die Mutter erhält außerdem Einblick in die schulische Lebenswelt ihres Kindes, und sie erfährt für ihre Erziehungsarbeit und -kompetenz Anerkennung durch die Lehrerin. Insgesamt beschreibt die Mutter einen guten Kontakt mit der Lehrerin, der sich durch genau die Merkmale auszuzeichnen scheint, die die oben zitierten Mütter und Väter aus der Elternstudie vermissen. Unsere beiden Studien weisen darauf hin, dass informelle Gespräche insbesondere sozial benachteiligten Eltern einen Zugang zur Institution Schule eröffnen und deshalb als wesentlicher Bestandteil einer konstruktiven Erziehungspartnerschaft angesehen werden können.
Gute Schulen durch Zusammenarbeit mit Eltern?
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2.3 Elternbildung als Empowerment Warum ist das Konzept der Elternbildung relevant, wenn die Schule die Elternschaft in ihrer Heterogenität als Erziehungspartner anerkennen soll (s.o.)? Gemäß dem Postulat der Anerkennung dürfen Bildungsangebote Eltern nicht bevormunden oder gar entmündigen. Dass ein Bedarf an Elternbildung besteht, lässt sich aus soziologischer Perspektive mit Bourdieus Kapitalbegriff erklären, der die individuelle Ausstattung mit kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Machtverhältnisse erfasst. Ausgehend von Bourdieus Kapitalbegriff skizzieren Rupp und Smolka (2006) die Qualität einer bedarfsgerechten Familienbildung, die gesellschaftliche Normierungen berücksichtigt: „Bedarfe lassen sich identifizieren als Differenz zwischen vorhandenen Ressourcen und bestehenden >gesellschaftlichen, S.F./B.H.@ Anforderungen und Belastungen“ (ebd. 2006: 210). Die Autorinnen plädieren weiter für einen Empowerment-Ansatz in der Familienbildung. Der Begriff Empowerment bezieht sich vor allem auf die psychosoziale Praxis. Empowerment soll Menschen in schwierigen Lebenslagen darin unterstützen, ihre eigenen Stärken zu entdecken und zu nutzen und ihre Lebenskontexte selbstbestimmt zu gestalten. Das heißt, die Bildungsarbeit setzt an den Ressourcen (mit Bourdieu an der Kapitalausstattung) der Menschen an. Notwendig seien insbesondere niedrigschwellige Angebote, um den „Mittelschichtbias“ vieler Bildungsveranstaltungen zu überwinden (vgl. Rupp/Smolka 2006: 212). Es geht also auch hier um Angebote, die Möglichkeiten der sozialen Partizipation unabhängig von sozialer Herkunft eröffnen. In diesem Sinne ist Elternbildung nicht als kompensatorisches Angebot für so genannte bildungsferne Eltern zu verstehen. Im Kontext der Institution Schule können entsprechende Angebote vielmehr alle Eltern in die Lage versetzen, sich Zugang zu Informationen zu verschaffen, ihre Bedürfnisse und Interessen in der Institution zu artikulieren, eigene Ressourcen einzubringen und an der Gestaltung der Erziehungs- und Bildungsprozesse und des Schullebens teilzuhaben und mitzuwirken. In den Fallschulen haben wir verschiedene Ansätze der Elternbildung und des Empowerment vorgefunden. Ein Beispiel für Elternbildung ist die Art und Weise, wie eine Lehrerin das Thema Sprachförderung auf Elternabenden thematisiert; die Lehrerin hat sich folgendes Programm zurechtgelegt: „Punkt eins, zu sagen, wie wichtig das ist, mit dem Kind zu sprechen, zu spielen, zu singen, vorzulesen egal in welcher Sprache. Also eine Verstärkung auch, dass die Herkunftssprache wichtig ist. [...] Punkt zwei ist zu sagen, der Fernseher bringt keinem Kind Deutsch oder sonst was bei. Sprache hat mit Beziehung zu tun. [...] Wenn fernsehen, dann ganz wenig, zusammen mit dem Kind, und dann darüber sprechen. [...] Der dritte Punkt ist erzählen, was ich zusammen mit den Erzieherinnen mache
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Sara Fürstenau und Britta Hawighorst [es geht um die Kooperation mit Kindertagesstätten bei der Sprachförderung, S.F./B.H.].“
Diese Lehrerin bestärkt die Eltern darin, die vorhandenen familialen Ressourcen, z.B. andere Familiensprachen als Deutsch, für die Sprachförderung zu nutzen, und sie nimmt die Eltern als Partner in der Sprachförderung ernst. Ein weiteres Beispiel für Elternbildung sind Deutschkurse für Mütter, die an der einen Fallschule in Kooperation mit der Volkshochschule angeboten werden. Alle Beteiligten bewerten diese Unterstützungsmaßnahme positiv. Die Deutschkenntnisse würden den Müttern bei der Kommunikation in der Schule helfen und sie dazu befähigen, die schulischen Inhalte besser nachzuvollziehen. Auf die Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern wirke es sich außerdem positiv aus, dass die Mütter sich regelmäßig in der Schule aufhielten, sich untereinander kennen lernten und dadurch die Hemmschwelle sinke, sich am Schulleben zu beteiligen. Ein drittes Beispiel sind so genannte Erziehungsvereinbarungen, in denen eine Lehrerin in Absprache mit den Eltern und dem Kind verbindliche Ziele formuliert; die Lehrerin berichtet: „Einige Eltern baten mich, auch noch mit aufzunehmen, dass die Kinder nicht mehr so viel fernsehen. Dann habe ich geschrieben, ‘bis 30 Minuten am Tag’. [...] Das habe ich mit den Kindern noch mal durchgesprochen, und die waren damit einverstanden. [...] Es waren Eltern da, die sagen, ‚Also, ich werde der Sache überhaupt nicht Herr. Der wacht morgens auf und macht den Fernsehapparat an‘. [...] Ich kann es nicht überprüfen, aber wir haben regelmäßige Gespräche. [...] ‚Wie ist das zu Hause mit dieser Sache?’. Dass man einfach darüber spricht und das einfach wieder in den Kopf bringt.“
Innovativ an dem Beispiel ist, dass die Elternperspektive individuell und explizit einbezogen wird. Es geht hier also nicht einseitig darum, dass Eltern auf schulische Anforderungen reagieren, sondern im Mittelpunkt der Vereinbarung steht die gemeinsame Übernahme von Verantwortung für Erziehung.
3
Zusammenfassung
Die oben dargestellten Ergebnisse aus einer Elternstudie und einer Grundschulstudie geben Aufschluss über Momente einer Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern, die allen Eltern soziale Partizipation auf Schulebene ermöglicht. Dass ein großer Bedarf an einer solchen Zusammenarbeit besteht, belegen die Aussagen der interviewten Eltern. Aus den Interviews mit russisch- und tür-
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kischsprachigen Müttern und Vätern geht hervor, dass Eltern im schulischen Kontext und in der Begegnung mit Lehrkräften häufig auf ihren Status als Angehörige einer gesellschaftlichen Minderheit verwiesen werden und so ihre Eingebundenheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse erfahren. Auf diese Konstellation reagieren viele Eltern mit Zurückhaltung; sie meiden offizielle Schulveranstaltungen, weil sie sich fehl am Platz fühlen, oder sie scheuen sich, ihre Interessen im Gespräch mit Lehrkräften zu vertreten, weil sie die ‚falsche’ Sprache sprechen. Ihr zurückhaltendes Verhalten steht jedoch im Widerspruch zu dem großen Interesse an der Schullaufbahn ihrer Kinder, das die Eltern in den Interviews eindeutig zum Ausdruck bringen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die interviewten Eltern das Verhältnis zur Schule ihrer Kinder mehrheitlich als problematisch beschreiben und sich andere Formen des Austauschs mit den Lehrkräften wünschen würden. Schulen, die sich um konstruktive Formen der Zusammenarbeit bemühen, so ließe sich folgern, rennen bei diesen Eltern offene Türen ein. Darauf weisen auch die Ergebnisse aus der Grundschulstudie hin. Sie geben Aufschluss über die Erfahrungen in zwei Fallschulen, in denen die Zusammenarbeit mit Eltern unterschiedlicher sozialer Herkunft als zentrales Aufgabenfeld begriffen wird und in denen die Lehrkräfte die Bedingungen für die Zusammenarbeit reflektieren und entsprechende Strategien entwickeln. An diesen Schulen werden zum Beispiel informelle Kontaktmöglichkeiten für Eltern und Lehrkräfte geschaffen und genutzt, die Eltern werden als Partner ernst genommen und von den Lehrkräften ermutigt, ihre kulturellen Ressourcen für Erziehungs- und Bildungsprozesse zu mobilisieren. Nichtzuletzt zeigen die Erfahrungen der Fallschulen, dass eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern unterschiedlicher sozialer Herkunft nicht auf kostspielige Programme angewiesen ist. Vielmehr wurde deutlich, dass die Qualität der Begegnung zwischen Schule und Eltern in hohem Maße durch das Selbstverständnis und die Einstellungen des Lehrerkollegiums geprägt ist. Eine gute Voraussetzung für eine konstruktive Zusammenarbeit ist eine reflexive Haltung der Anerkennung (s.o.). Dazu gehört ein Bewusstsein über die Bedeutung der eigenen sozialen Position als Lehrkraft und das Bestreben, die Reproduktion der gesellschaftlichen Ungleichheit zwischen autochthoner Mehrheit und sprachlich-kulturellen Minderheiten in der Begegnung mit den Eltern zu vermeiden. Eine reflexive Haltung der Anerkennung kann, wie die Beispiele aus den Fallschulen zeigen, dazu führen, dass kleine Schritte in der Zusammenarbeit mit Eltern große Wirkung zeigen und es so zu einem konstruktiven Austausch zwischen Schule und Eltern kommt. Der konstruktive Austausch mit Eltern aus sozial benachteiligten Minderheiten ist im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse – so folgern wir – Teil des transformatorischen Potenzials von Schulen, die einen Beitrag zum Chancenausgleich leisten.
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Sara Fürstenau und Britta Hawighorst
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Bildungschancen an Grundschulen in prekärem Umfeld Lernumweltmerkmale der Schule und deren Bedeutung Alexander Schulze und Rainer Unger
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Einleitung
Eine zunehmende Zahl nationaler und internationaler Arbeiten weist darauf hin, dass sich das schulische Umfeld ebenso auf die Bildungschancen der Schüler auswirkt, wie die bekannten individuellen Leistungs- und Herkunftsmerkmale der Schüler (vgl. Tiedemann/Billmann-Mahecha 2007; Kristen 2002; Lee/Bryk 1989). Dabei zeigt sich, dass vor allem das sozioökonomische Gefüge der Schülerschaft in den Schulen als bedeutsame Voraussetzung für den individuellen Bildungserfolg anzusehen ist (Stanat 2006; Hanushek et al. 2003; Ma/Klinger 2000; Caldas/Bankston 1997). So erreichen z. B. Schüler unabhängig von ihren individuellen Merkmalen an Grundschulen mit einem niedrigen durchschnittlichen Statusniveau der Schülerschaft seltener (im Vergleich zur Hauptschule) höherwertige weiterführende Schulformen (Schulze et al. 2008b). Insbesondere für Schüler an Grundschulen mit einem besonders hohen Anteil von Kindern aus sozial schwachen Familien ist das Erreichen chancenreicherer Bildungswege erschwert (Stanat 2006) und gerade schwache Schüler erbringen unter solchen Bedingungen tendenziell noch schlechtere Leistungen (Dills 2005). Andererseits haben zahlreiche Studien nachgewiesen, dass unterschiedliche Lernumweltmerkmale der Schule wie z. B. das Schulklima, die Bildungschancen der Kinder positiv beeinflussen können (vgl. Jerusalem 1997). Hinsichtlich der Auswirkung anderer globaler Faktoren zwischen einzelnen Schulen (auch innerhalb der einzelnen Schulformen) sind die Befunde allerdings uneinheitlicher. Teilweise werden z. B. signifikante Effekte von „School-Policies“ festgestellt (Holt/Campbell 2004), die jedoch in anderen Studien nach Kontrolle der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Schüler nicht bestätigt werden konnten (Weiß/Preuschoff 2006; Thomas 1995). Trotz dieser offenen Fragen weisen die vorliegenden Befunde insgesamt auf die potenzielle Bedeutung verschiedener schulischer Rahmenbedingungen für den Bildungserfolg hin. Möglicherwei-
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se entscheiden also die Bedingungen, gerade an Schulen, die sich in einem prekären Umfeld befinden, maßgeblich mit, ob trotz des schwierigen Umfeldes zukünftige Bildungschancen der Schüler offen gehalten werden können oder eben nicht. Letztendlich geht es also um die Frage, inwieweit zwischen Schulen, die sich in einem sozialstrukturell problematischen Umfeld befinden, Unterschiede des Bildungserfolges und der Bildungschancen der Schüler vorliegen und welche schulischen Merkmale abseits der individuellen Leistungen der Schüler hierfür verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund diskutiert der vorliegende Beitrag die Ergebnisse einer als Vollerhebung angelegten Befragung Wiesbadener Grundschüler der vierten Jahrgangsstufe des Schuljahres 2006/2007. Dabei sollen in einem ersten Schritt diejenigen Grundschulen identifiziert werden, die sich in einem prekären sozialstrukturellen Umfeld befinden, wobei zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Schulen (im Hinblick auf den Anteil der Gymnasialempfehlungen) unterschieden wird. Insgesamt stellen sich dabei folgende Fragen: (1) Was ist ein prekäres Umfeld und aus welchen Gründen? (2) Was ist eine „bessere“ und was ist eine „schlechtere“ Schule und welche Leistungsmerkmale (Output-Faktoren) können für eine solche Kategorisierung herangezogen werden? (3) Welche schulbezogenen Merkmale (Input-Faktoren) machen eine Schule zu einer vergleichsweise „besseren“ Schule? Um diese Fragen beantworten und angemessen diskutieren zu können, wird im Folgenden zunächst ein kurzer Überblick über die Schuleffektivitätsforschung (research on school effectiveness) und die Schulentwicklungsforschung (research on school improvement) gegeben (Abschnitt 2). Daran anschließend wird die Datengrundlage der eigenen Analysen vorgestellt (Abschnitt 3). Es folgt dann die Präsentation erster Ergebnisse (Abschnitt 4) sowie eine kurze Diskussion der Befunde (Abschnitt 5).
2
Was sind „gute Schulen“ und was ein „schlechtes Umfeld“?
Die Frage, wann man von einer „guten Schule“ und von einem „schlechten Umfeld“ sprechen kann, ist selbstverständlich nicht einfach zu beantworten (vgl. van Ackeren/Hovestadt 2003). Die Bestimmung möglicher Dimensionen und Merkmale hängt stark vom Erkenntnisinteresse, aber auch von den bildungsund gesellschaftspolitischen Werten ab, die ganz normativ plausibilisieren, was eine „gute Schule“ ist und welche Merkmale des Lern- und Schulumfeldes als prekär für den Bildungserfolg der betroffenen Schüler angesehen werden. Obwohl eine allgemeingültige Darstellung relevanter Faktoren damit kaum möglich ist, hat zumindest die im angelsächsischen Sprachraum hoch entwickelte Schuleffektivitätsforschung (Creemers 1994; Reynolds 1992; Aurin 1991;
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Alexander Schulze und Rainer Unger
Scheerens 1991) versucht, eine Antwort auf die Frage, woran man ‚gute’ bzw. ‚effektive’ Schulen erkennen kann, zu geben. Eine im Kern recht allgemeine, aber für das Verständnis dennoch sehr nützliche Definition zur Beantwortung dieser Frage gibt Scheerens. Er geht davon aus, dass „[s]chool effectiveness refers to the performance of the organizational unit called ‚school‘. The performance of the school can be expressed as the output of the school, which in turn is measured in terms of the average achievement of the pupils at the end of a period of formal schooling” (ebd. 2000: 18). Demzufolge lässt sich die Effektivität einer Schule also unter anderem an den (im Durchschnitt) erreichten Leistungen der Schüler einer Schule ablesen, aber auch an den am Ende der Schulzeit erreichten Ergebnissen. Im Bereich von Grundschulen wären hier z. B. der Anteil der Gymnasialempfehlungen bzw. der Anteil der tatsächlich realisierten Gymnasialübergänge zu nennen. D.h. umso höher der Anteil der Gymnasialempfehlungen und -übergänge an einer Schule ist, desto „effektiver“ hat die Schule ihren primären Bildungsauftrag, nämlich die Vermittlung von Wissen und die Ermöglichung von Lebenschancen, realisiert. Idealerweise sollte dabei ein hoher Leistungsdurchschnitt in „guten“ Schulen gleichzeitig mit einer niedrigen Streuung auf der Individualebene einhergehen (Weinert/Helmke 1997). Obgleich diese „harten“ Bildungsindikatoren teilweise nicht ausreichen müssen, um „bessere“ von „schlechteren“ Schulen unterscheiden zu können, wird davon ausgegangen, dass die genannten Leistungsmerkmale zur Beschreibung der Effektivität einer Schule notwendig sind. Wann genau, d.h. an welcher Grenze eine Schule aber anhand dieser Output-Kriterien als „gut“ bzw. „schlecht“ einzustufen ist, bleibt weiterhin offen. Dabei wurde schnell erkannt, dass Schulvergleiche alleine auf Basis der genannten Kriterien nicht zwingend „fair“ sind (Scheerens 2000; Scheerens 1991). Alleine die Tatsache, dass sich Schulen im Hinblick auf den durchschnittlichen Bildungserfolg ihrer Schüler unterscheiden, ist jedenfalls nicht ausreichend, um auf die „Schuleffektivität“ schließen zu können, da mögliche Differenzen (überwiegend) auf das individuelle Leistungsvermögen der Schüler an den verschiedenen Schulen und nicht nur auf die Organisation „Schule“ selbst zurückzuführen ist. Allein durch die Kumulation der individuellen Eigenschaften der Kinder steigt z.B. mit dem durchschnittlichen Sozialstatus der Schule in der Regel auch das Leistungsniveau der Schule an. Ursache hierfür ist der vielfach belegte Befund, dass Kinder mit steigender Schichtzugehörigkeit bessere Startchancen haben, da die erworbenen kognitiven Fähigkeiten in einem bildungsnahen Elternhaushalt die Realisierung guter Noten in der Schule erleichtern (Becker/Lauterbach 2007; Hinz/Groß 2006). Neben besseren Sprachund Lernfähigkeiten sind hier bessere Handlungs- und Sozialkompetenzen der Kinder aus „sozial starken“ Familien zu nennen. Diese durch das Elternhaus
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erzeugten Vorteile dürfen aber natürlich nicht als Hinweis auf eine „effektivere“ Schule gewertet werden. Das schlechtere Abschneiden von Schulen in einem prekären Umfeld im Vergleich zum durchschnittlich besseren Abschneiden von Schulen in einem sozial starken Umfeld ist also zunächst kein Beleg für eine mögliche „schlechtere“ Effektivität beispielsweise einer „Brennpunktschule“. Dies gilt insbesondere, da mittlerweile einzelne Arbeiten zeigen, dass Schulen mit einem hohen Schüleranteil aus sozial schwachen Familien nicht nur aufgrund der individuellen (Herkunfts-)Merkmale der Schüler schlechter abschneiden, sondern auch, weil die soziale Zusammensetzung der Schule einen eigenständigen Einfluss auf die Bildungschancen der Schüler hat. So kommt z.B. Kristen (2002) zu dem Ergebnis, dass nach der Kontrolle der individuellen Leistungen mit steigendem Migrantenanteil in einer Klasse die individuellen Chancen, von der Grundschule auf das Gymnasium zu gelangen, signifikant sinken. In ähnlicher Weise wirkt sich das durchschnittliche Sozialstatusniveau der Schulen auf den Bildungserfolg aus (Schulze et al. 2008b; Stanat 2006). Mit steigendem Sozialstatus der Schule, d.h. mit sinkendem Anteil von Kindern aus der Unterschicht, steigen die Chancen aller Kinder, auf ein Gymnasium überzugehen. So zeigen Schulze et al. (2008b), dass die Wahrscheinlichkeit für einen Schüler im mittleren Notenbereich ganz entscheidend davon abhängt, ob er sich auf einer „statushohen“ oder „statusschwachen“ Schule befindet: Beispielsweise erhält ein Schüler mit der Durchschnittsnote 2,5 (unter Kontrolle seines sozialen Status) auf einer Schule mit niedrigem Statusniveau nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent eine Gymnasialempfehlung. Der gleiche Schüler an einer statushohen Schule hingegen kann immer noch mit einer Wahrscheinlichkeit von über 65 Prozent auf eine Gymnasialempfehlung hoffen (vgl. Abb. 1). Dies bestätigt, dass schulische Kontexteffekte nicht nur statistisch, sondern auch substantiell von hoher Signifikanz sind. Ungleichheiten der Bildungschancen determinieren sich also nicht nur über individuelle, sondern in hohem Maße auch über kontextuelle Determinanten des Umfeldes. Als Ursache für den gezeigten (von individuellen Schülermerkmalen unabhängigen) sozialstrukturellen Kontexteffekt wird u.a. ein schlechtes Lernklima in Schulen mit einem hohen Anteil sozial schwacher Schüler genannt (Caldas/Bankston 1997). So ist beispielsweise in Schulen mit einer vornehmlich statusniedrigen Schülerschaft das durchschnittliche Aspirationsklima reduziert, was zusätzlich zu den individuellen Motivationen einen negativen Leistungsanreiz darstellen kann (Tiedemann/Billmann-Mahecha 2007). Ergänzend dazu besagt u.a. das Kompensationsmodell (Teddlie et al. 2000), dass Lehrer an Schulen in einem prekären sozialen Umfeld zusätzlich Kompensationsleistungen für die fehlende außerschulische (elterliche) Unterstützung erbringen müs-
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sen. Die hierzu nötige Vermittlung teilweise sachfremder Inhalte im Unterricht (Lernverhalten, Benehmen) vermindert den Anteil sachbezogenen Wissens und wirkt sich deshalb nachteilig auf die Leistungsentwicklung aller Schüler im Kontext aus.
Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasialempfehlung (in %)
100 90
statushohe Schule
80
normales Statusniveau
70
statusschwache Schule
60 50 40 30 20 10 0 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0 2,2 2,4 2,6 2,8 3,0 3,2 3,4 3,6 3,8 4,0 individuelle Durchschnittsnote (Mathematik & Deutsch)
Abbildung 1:
Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasialempfehlung in Abhängigkeit von individueller Note und Statusniveau der Schule (Umfeld). Quelle: Schulze et al. 2008b; alle Angaben sind für den individuellen Sozialstatus und den Migrationshintergrund der Grundschüler kontrolliert.
Da sich Schulen in einem sozialstrukturell prekären Umfeld also sowohl durch die individuellen Eigenschaften der Schüler als auch durch deren Kompositionseffekt mit erschwerten Bedingungen konfrontiert sehen, ist ein sinnvoller Vergleich der Effektivität dieser Schulen mit Schulen in einem besseren Umfeld nur schwer möglich. Um eine faire Vergleichbarkeit zu gewährleisten müssen also Schulen mit gleichen Umweltvariablen berücksichtigt werden. Die bereits eingangs gestellte Frage muss also dahingehend präzisiert werden: Inwieweit unterscheiden sich die durchschnittlichen Schulleistungen verschiedener Schulen,
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wenn die individuellen Fähigkeiten und der sozioökonomische Hintergrund der Schülerschaft sowie der Schule kontrolliert sind? Eine „gute Schule“ ist also eine Schule, die im Rahmen ihres sozialstrukturellen Umfeldes besser abschneidet als erwartet. Und besser als erwartet ist eine Schule, wenn sie im Vergleich zu Schulen mit ähnlichem Umfeld überdurchschnittliche Erfolge erzielt, d.h. beispielsweise ein überdurchschnittliches Leistungsniveau oder einen überdurchschnittlichen Anteil von Gymnasialempfehlungen aufweisen kann. Ausgehend von der Tatsache, dass es Schulen gibt, denen es – trotz vergleichsweise schwieriger Zusammensetzung der Schülerschaft – gelingt, einen signifikanten Mehrwert (added value) im Vergleich zum Ausgangsniveau ihrer Schülerschaft zu erreichen (vgl. Muijs et al. 2004), stellt sich die Frage, welche Ursachen hierfür verantwortlich gemacht werden können. Dabei fragt insbesondere die Schulentwicklungsforschung (research on school improvement) danach, welche Merkmale (Input-Faktoren) zur Erklärung für diese überindividuellen Schulunterschiede in Frage kommen (vgl. dazu auch den Beitrag von van Ackeren in diesem Band). Gesucht wurden dabei zunächst „harte“ Kriterien, die relativ einfach erfassbar sind (z.B. Lehrer-Schüler-Relation, Infrastruktur). In diesem Zusammenhang ist die Klassengröße eine besonders häufig untersuchte Variable (Bosker 1998; Hargreaves et al. 1998). Dabei wird berichtet, dass sich die Klassengröße vermutlich über das Klassenklima auf die sozio-emotionale Befindlichkeit der SchülerInnen und LehrerInnen und damit indirekt auf die Leistungen auswirkt. Mit zunehmender Klassengröße scheinen die LehrerInnen zudem mehr auf restriktive und direktive Unterrichtsführung zurückzugreifen (Kühn 1986). Allerdings treten positive Effekte kleiner Klassen in aller Regel erst dann deutlich zu Tage, wenn Klassengrößen auftreten, die im Schulalltag fast nie vorkommen (weniger als 10 SchülerInnen). Andererseits wird zudem vermutet, dass sich auch außerunterrichtliche Bildungsnagebote der Schule positiv auf die Leistungen der Schüler auswirken (Holt/Campbell 2004), wobei der Nachweis der Wirksamkeit konkreter Maßnahmen bislang ebenfalls kaum gelungen ist. Die Ergebnisse der Forschung zu „harten“ Input-Indikatoren waren damit in einem gewissen Sinn enttäuschend: Statt „harter“, politisch leicht beeinflussbarer Kriterien wurden fast durchwegs „weiche“ Qualitätskriterien gefunden, die eher „atmosphärischen“ Charakter haben und vom Klima an der Schule geprägt werden. Viele Studien, insbesondere im angelsächsischen Raum, haben solche „weichen“ Merkmale herausgearbeitet, die die Effektivität einer Schule fördern können (vgl. u.a. Scheerens/Bosker 1997). Dabei werden neben anderen Faktoren immer wieder eine lernunterstützende Umgebung (z.B. moderne Lehrkonzepte), ein gutes Schulklima (z.B. in Form der Schüler-, Elternund Lehrerzufriedenheit), Strategien für die Fortbildung und Weiterentwicklung der LehrerInnen, eine gute Partnerschaft zwischen Schule und Elternhaus und
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die Bedeutung von verschiedenen Ressourcen besonders betont (MacBeath et al. 2005; Muijs et al. 2004). Auch diese Ergebnisse sind durchaus kritisiert, differenziert und international verglichen worden (OECD 1989), allerdings blieb die Grundaussage bestehen, dass weiche Faktoren – ein Konglomerat von auf den ersten Blick schwammig erscheinenden Prozessmerkmalen – in der Regel in engerem Zusammenhang mit der Qualität einer Schule steht als so manche "harten" (weil quantitativ relativ problemlos erfassbare) Input-Faktoren.
3
Daten und Methode
Die Datengrundlage der folgenden Analysen wurde im Auftrag des Magistrates der Landeshauptstadt Wiesbaden durch das Institut für Soziologie der Universität Mainz erhoben (vgl. ausführlicher Schulze et al. 2008a). Die Feldphase fand im März 2007 statt und wurde als Vollerhebung aller Schüler der vierten Klassen an den staatlichen Grundschulen der Stadt Wiesbaden im Schuljahr 2006/07 durchgeführt (Querschnittsbefragung). Zusätzlich zu den Schülern wurden die Eltern und die Klassenlehrer der Kinder mit einem eigenen Erhebungsinstrument (Mehrebenenkonzept) befragt. Im Anschluss an diese Kernbefragungen wurden im Juni 2007 die realisierten Bildungsübergänge der Schülerinnen und Schüler erfasst und den bereits vorhandenen Daten zugeordnet (Verlaufsperspektive). An der Schülererhebung beteiligten sich alle 36 staatlichen Grundschulen in Wiesbaden (100 Prozent) und 103 der 105 vierten Klassen (98 Prozent). Von den 2.303 Grundschülern im vierten Jahrgang konnten 2.032 tatsächlich befragt werden (88 Prozent). Nur bei 271 Schülern (12 Prozent) war eine Befragung nicht möglich: 101 Schüler fielen krankheitsbedingt aus und 120 Kinder konnten nicht teilnehmen, da ihre Eltern der Befragung widersprochen hatten. 50 Schüler konnten nicht befragt werden, da zwei KlassenlehrerInnen zum Befragungstermin krank waren und deshalb keine Klassenerhebung stattgefunden hat. In der Elternbefragung konnten von den maximal möglichen 2.303 Elternhaushalten 1.788 erfolgreich befragt werden (78 Prozent). Insgesamt 515 Elternhaushalte (22 Prozent) konnten nicht erreicht werden. Hiervon wurden 271 Elternhaushalte aufgrund der Nicht-Teilnahme des Kindes bzw. der Klasse des Kindes überhaupt nicht kontaktiert und 244 Eltern(-haushalte) hatten zwar der Befragung ihres Kindes zugestimmt und deshalb einen Elternfragebogen erhalten, verweigerten jedoch letztendlich eine Beantwortung. Auch die gleichzeitig durchgeführte Lehrerbefragung ist durch eine hohe Rücklaufquote gekennzeichnet. Von den insgesamt 105 Klassenlehrern und Lehrerinnen konnten immerhin 91 (87 Prozent) gewonnen werden, den Lehrer-
Bildungschancen an Grundschulen in prekärem Umfeld
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fragebogen auszufüllen, der neben Fragen zur Lehrkraft auch zahlreiche Fragen zur Grundschule enthält. Zwei KlassenlehrerInnen waren, wie erwähnt, krank. Zehn KlassenlehrerInnen verweigerten die Teilnahme. Grundlage der folgenden Analysen ist der zusammengeführte, personenbezogene Schüler-Eltern-Lehrer Datensatz. Nach der Bereinigung um Fälle mit fehlenden Angaben bei den abhängigen und unabhängigen Variablen ergeben sich insgesamt 1.475 vollständige Datensätze. Für 1.475 Schüler (64 Prozent) aus 35 Schulen (97 Prozent) liegen mithin Angaben zum Elternhaus, zur Schulstruktur, zum Schulklima und weiteren schulischen Maßnahmen sowie zu den individuellen Noten und Bildungsempfehlungen vor. Zur Bestimmung der „Schuleffektivität“ wird in den folgenden Analysen auf den Anteil der Gymnasialempfehlungen der einzelnen Schulen zurückgegriffen, d.h. auf den schulbezogenen Anteil der Schüler mit einer Gymnasialempfehlung bezogen auf alle Schüler der Schule. Die Einkommenslage der Haushalte wurde im Einklang mit der fachlichen Literatur anhand des bedarfsgewichteten Äquivalenzeinkommen gemessen (vgl. Becker/Hauser 2003). Hierdurch ist es möglich, neben den Einkommensressourcen auch den Einkommensbedarf der Haushalte zu berücksichtigen. Das Äquivalenzeinkommen (AE) wird aus dem monatlich verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen (E) und der Haushaltsgröße (H) nach der Formel AE=E/(H0,73) berechnet. Der Gewichtungsfaktor von 0,73 erzeugt sehr ähnliche Ergebnisse wie die Anwendung der neuen OECD-Skala (vgl. Kohl 1992). Im Grunde simuliert dieser Gewichtungsfaktor Ersparnisvorteile großer Haushalte, die sich erstens aus der Teilung von Fixkosten (z.B. Strom und Miete) und den günstigeren Konsumbedingungen (z.B. Einkauf von günstigeren Großpackungen) sowie zweitens aus den niedrigeren Bedarfslagen von Kindern ergeben. Da das monatliche Haushaltsnettoeinkommen (E) nur in Einkommenskategorien vorliegt, wurde jeweils die Klassenmitte der Kategorien als Einkommen veranschlagt. Letztendlich konnte auf Grundlage dieser Vorgehensweise ein Indikator mit den Ausprägungen: 1 = weniger als 500 Euro, 2 = zwischen 500 und 999 Euro, 3 = zwischen 1.000 und 1.499 Euro, 4 = zwischen 1.500 und 1.999 Euro sowie 5 = mehr als 2.000 Euro Äquivalenzeinkommen gebildet werden. Die Analyse des Bildungsniveaus des Elternhaushaltes erfolgt vor dem Hintergrund desjenigen Elternteils mit dem höchsten Bildungsabschluss im Haushalt. Dabei wurde unterschieden zwischen den Ausprägungen: 1 = kein Elternteil verfügt über einen (anerkannten) Schulabschluss, 2 = mindestens ein Elternteil verfügt maximal über einen Hauptschulabschluss, 3 = mindestens ein Elternteil verfügt maximal über einen Realschulabschluss, 4 = mindestens ein Elternteil verfügt maximal über Abitur sowie 5 = mindestens ein Elternteil besitzt einen (Fach-)Hochschulabschluss.
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Alexander Schulze und Rainer Unger
Aus den jeweils in fünf Ausprägungen vorliegenden Variablen Einkommen und Bildung wurde abschließend ein sozioökonomischer Statusindex (SES) gebildet, der nach der Summierung beider Variablen Werte zwischen 2 (geringer Status) und 10 (hoher Status) annehmen kann. Lag eines der beiden Schichtmerkmale (d. h. entweder das Einkommen oder die Bildung) nicht vor, wurde dieses Merkmal durch den jeweils anderen Wert substituiert. Die unabhängigen Variablen gehen wie folgt in die Analysen ein. (1) Die Schülerzufriedenheit wurde mit der Frage: „Wie gefällt es Dir in der Schule?“ erhoben und liegt in den Ausprägungen von 1 = „gar nicht“ bis 4 = „sehr gut“ vor. Mit denselben Ausprägungen wurde die Elternzufriedenheit mit dem Klassenlehrer erhoben. (2) Die Frage nach der Zufriedenheit der Lehrer mit der Schule und dem Kollegium wurde mit den Ausprägungen 1 = „sehr gut“ bis 5 = „mangelhaft“ erhoben. (3) Eine Weiterbildung der Lehrerkräfte liegt vor, wenn sie an einer Fortbildungsmaßnahme zum Thema „Empfehlung und Übergang auf die weiterführenden Schulen“ teilgenommen haben. (4) Um zu ermitteln, wie viele Bildungsmaßnahmen an den einzelnen Schulen, außerhalb des Unterrichtes angeboten werden, wurden insgesamt sechs Kategorien (darunter Sprachkurs „Deutsch“, Sprachkurs „Fremdsprache“, Leseförderung, Hausaufgabenbetreuung, Nachmittagsbetreuung und naturwissenschaftliche AG) in einer neuen Variable zusammengezogen (0 = „keine Angebote“ bis 6 = „alle Angebote“ sind verfügbar). (5) Mit demselben Konzept wurden die abgefragten Unterrichtskonzepte in den Schulen (von mehreren Lehrern gemeinsam vorbereiteter und durchgeführter Unterricht, Unterrichtseinheiten mit Exkursionen, Freiarbeit, Projektlernen, Projektwochen) zusammengefasst. Die Verteilung der soziodemographischen (Kontext-)Merkmale der verwendeten Stichprobe ist in Tabelle 1 dargestellt. Es zeigt sich, dass etwa 50 Prozent der Schüler in der Stichprobe eine Gymnasialempfehlung erhalten haben. Der durchschnittliche sozioökonomische Status (SES) der Schüler in den Wiesbadener Grundschulen beträgt 5,9 (auf der SES-Skala von 2 bis 10). Die minimalen und maximalen Mittelwerte der unabhängigen Variablen auf der Schulebene sowie die diesbezüglichen Standardabweichungen (STD) belegen zudem eine deutliche Streuung. So hat in den „schlechtesten“ Schulen gerade einmal jedes sechste bis siebte Kind eine Gymnasialempfehlung erhalten, während dies in den „besten“ Schulen auf immerhin acht von zehn Schülern zutrifft. Der durchschnittliche Sozialstatus der Schulen beträgt im unteren Bereich weniger als vier Punkte, während im oberen Bereich ein Niveau von mehr als acht Punkten erreicht wird. Auch zahlreiche Lernumweltmerkmale der Schulen differieren z. T. deutlich. Während beispielsweise die Schülerzufriedenheit an manchen Schulen fast 3,7 Punkte beträgt (auf einer Skala von 1 bis 4), übersteigt dieser Wert gerade einmal 2,2 Punkte in den Schulen mit der schlechtesten
Bildungschancen an Grundschulen in prekärem Umfeld
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Schülerzufriedenheit. Ähnliche Streuungen ergeben sich auch bei der Elternzufriedenheit, wobei die Eltern im Durchschnitt mit der Schule und dem Klassenlehrer ihrer Kinder zufriedener sind als die Kinder selbst. Die Zufriedenheit der Lehrer variiert in den Extrempunkten zwischen sehr zufriedenen Lehrern und (im Sinne von Schulnoten) einer nur befriedigenden Zufriedenheit im Lehrerkollegium. Bei den abgefragten sechs außerunterrichtlichen Bildungsangeboten existieren sowohl Schulen, die alle sechs befragten außerunterrichtlichen Angebote anbieten, aber auch solche die kein einziges Angebot für die Schüler ihrer Schulen vorhalten. Auch Weiterbildungsmaßnahmen wurden in manchen Schulen von allen Lehrern und in anderen von keinem einzigen wahrgenommen. Ebene
Schüler
Gymnasialempfehlung
1)
2)
SES
Schülerklima
3)
Elternzufriedenheit3) Lehrerklima
4)
Schule 7)
Mean Maximal8)
STD
0,152
0,495
0,810
0,157
2,125
3,857
5,951
8,333
0,961
3,308
0,728
2,250
3,308
3,655
0,729
3,509
0,704
2,273
3,509
3,929
0,704
Mean
STD
Minimal
0,493
-
5,919
-
-
1,000
1,835
2,750
0,687
Weiterbildung1)
-
-
0,000
0,165
1,000
0,373
Anzahl der Angebote5)
-
-
0,000
3,000
6,000
1,665
Lehrkonzepte6)
-
-
3,000
4,916
6,000
0,874
Klassengröße
-
-
14,00
22,00
27,00
3,000
Fallzahl (N)
1475
35
Tabelle 1: Soziodemographische (Kontext-)Merkmale der Stichprobe 1)
Dummyvariable 1 = trifft zu; 0 = trifft nicht zu Variable von 2 = niedrigster Status bis 10 = höchster sozioökonomischer Status 3) Variable von 1 = „gar nicht gut“ bis 4 = „sehr gut“ 4) Variable von 1 = „sehr gut“ bis 5 = „mangelhaft“ 5) Variable von 0 = „keine Angebote“ bis 6 = „alle sechs Angebote verfügbar“ 6) Variable von 0 = „keine modernen Konzepte“ bis 6 = „alle abgefragten Konzepte angewendet“ 7) minimaler erreichter Mittelwert in einer einzelnen Schule 8) maximaler erreichter Mittelwert in einer einzelnen Schule 2)
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Alexander Schulze und Rainer Unger Ergebnisse
In einem ersten Schritt wird nun versucht, sowohl „gute Schulen“ von „schlechten Schulen“ als auch ein „gutes Umfeld“ von einem „schlechten Umfeld“ abzugrenzen. Hierzu sind in Abbildung 2 zunächst alle Grundschulen der Erhebung jeweils nach den Merkmalen soziales Statusniveau der Schule und Anteil der Gymnasialempfehlungen an der Schule abgetragen. Dabei wurde die Grenze zwischen einem „guten Umfeld“ und einem „schlechten Umfeld“ am Mittelwert der Sozialstruktur aller Grundschulen in Wiesbaden gezogen. D. h. alle Grundschulen, deren Schülerschaft im Durchschnitt einen besseren Sozialstatus als 5,9 (auf der SES-Skala von 2 bis 10) aufweisen, haben in Wiesbaden vorteilhafte Umweltbedingungen, während Schulen mit einem schlechteren Durchschnittswert vergleichsweise ungünstigere Ausgangsbedingungen im kommunalen Kontext aufweisen. 100
"schlechtes Umfeld"
"gutes Umfeld"
Anteil der Gymnasialempfehlungen (in %)
90 80 70
besser als im gegebenen Umfeld erwartet
60 50 40
schlechter als im gegebenen Umfeld erwartet
30 20 10
Mittelwert über alle Schulen
0 2,0
3,0
4,0
5,0
6,0
7,0
8,0
9,0
10,0
Durchschnittlicher Sozialstatus der Schulen
Abbildung 2:
Zusammenhang von Statusniveau der Schule und Anteil der Gymnasialempfehlungen an der Schule. Quelle: Vollerhebung der 4. Klassen der Stadt Wiesbaden im Schuljahr 2006/07
Bildungschancen an Grundschulen in prekärem Umfeld
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Gegenüber dieser Einteilung in ein „gutes“ bzw. „schlechtes Umfeld“ trennt die in der Abbildung abgetragene Regressionsgerade mit Blick auf den Anteil der Gymnasialempfehlungen „gute“ von „schlechteren Schulen“. Die Regressionsgerade spiegelt den Anteil von Gymnasialempfehlungen an einer Schule wider, die bei einer gegebenen Sozialstruktur der Schülerschaft statistisch erwartet werden kann. Dass dieser Anteil mit steigendem Statusniveau der Schule ansteigt, ist vor allem das Ergebnis der individuellen Herkunftseffekte der Schüler an den entsprechenden Schulen. Denn umso höher der durchschnittliche Sozialstatus einer Schule ist, desto mehr Schüler aus statushohen Haushalten lernen an der Schule, weshalb bei gegebenem Einfluss des Elternhauses auf die Leistungen der Kinder, der Anteil der Gymnasialempfehlungen an diesen Schulen höher ist. Zusätzlich ist der steigende Anteil von Gymnasialempfehlungen bei steigendem Statusniveau der Schulen aber auch auf die bereits angesprochenen statusbezogenen Kontexteffekte zurückzuführen. Die Tatsache, dass selbst die „besten“ Schulen in einem „schlechten“ Umfeld nicht den Anteil an Gymnasialempfehlungen erreichen wie die „schlechtesten“ Schulen in einem „guten“ Umfeld ist also v. a. auf die individuellen Merkmale der Schüler und die kontextualen Effekte des Umfeldes zurückzuführen, nicht aber auf die Schulorganisation. Für die nachfolgenden Analysen ist deshalb weniger die Steigung der Regressionsgerade von Interesse, als vielmehr die Anzahl und der Anteil der Schulen, die jeweils über bzw. unter der Regressionsgeraden liegen. Schulen, die über der geschätzten Geraden liegen, sind in unserer Konnotation „gute Schulen“, da sie besser als erwartet abschneiden, also einen höheren als erwarteten Anteil von Gymnasialempfehlungen vorweisen können (added value). Entsprechend sind Schulen unterhalb der Regressionsgerade als „schlechte Schulen“ einzustufen, da sie die mittleren (statistischen) Erwartungen nicht erreicht haben. Dabei haben die Schulen umso besser bzw. schlechter abgeschnitten umso weiter sie von der Gerade entfernt sind. 60 Tabelle 2 zeigt nun auf Basis von Abbildung 2, welcher Anteil der Wiesbadener Grundschulen sich in einem „guten“ bzw. „schlechten Umfeld“ befindet und welche Schulen „besser“ bzw. „schlechter als erwartet“ abgeschnitten haben. Bei einer solchen Klassifizierung ergeben sich entsprechend vier Kom60
In einem statistischen Sinn sind diese Interpretationen ungenau, da der Abstand der Schulen von der Regressionsgerade (1) Zufall sein kann; (2) auf nicht kalkulierte bzw. unbeobachtete Individualmerkmale zurückzuführen ist oder (3) durch die Schulorganisation bedingt ist. Nur wenn der an dritter Stelle genannte Punkt mindestens einen Teil der Varianz der Schulen erklärt, sind die getroffenen Aussagen korrekt. Dies zu prüfen ist hier kaum möglich. Nicht dokumentierte Analysen haben aber gezeigt, dass sich die Schulen durchaus signifikant nach der Kontrolle individueller Merkmale voneinander unterscheiden und zumindest ein Teil des Gesamtzusammenhangs auf die Schulen zurückzuführen ist. Zufallsschwankungen scheiden überdies aus, da es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine (zumindest kommunale) Vollerhebung handelt.
198
Alexander Schulze und Rainer Unger
binationsmöglichkeiten. Die meisten Grundschulen (31,5 Prozent) gehören dabei zur Kategorie „schlechtes Umfeld“ aber „gute Schule“, d. h. diese Schulen weisen zwar ein unterdurchschnittliches Statusniveau auf, gleichzeitig aber auch einen (in diesem Umfeld) überdurchschnittlichen Anteil von Gymnasialempfehlungen. Damit schöpfen sie die Potenziale der Schüler (vor deren sozioökonomischem Hintergrund und des Statusniveaus der Schule) deutlich besser aus als vergleichbare Schulen. In diesem Sinne haben ebenfalls 28,5 Prozent der Wiesbadener Grundschulen, die sich in einem guten Umfeld befinden, und damit beste Voraussetzungen für ein effektives Lernen haben gut, d. h. besser als erwartet abgeschnitten. Im Sinne einer schlechten Effektivität sind vor allem die 20 Prozent der Grundschulen zu nennen, die sich zwar in einem sozialstrukturell vorteilhaften (guten) Umfeld befinden, aber das damit verbundene Potenzial der Schüler nicht ausschöpfen können und nur unterdurchschnittliche Anteile an Gymnasialempfehlungen realisieren können (sog. under-performer). Aber auch im schlechten Umfeld gibt es Grundschulen, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen und hinter den Erwartungswerten zurückbleiben.
Schlechter als erwartet Besser als erwartet
Effektivität
Umfeld Niedriges Statusniveau
Hohes Statusniveau
Schlechte Schule in schlechtem Umfeld
Schlechte Schule in gutem Umfeld
(20,0 %)
(20,0 %)
Gute Schule in schlechtem Umfeld
Gute Schule in gutem Umfeld
(31,5 %)
(28,5 %)
Tabelle 2: Klassifikation der Grundschulen nach schulischem Umfeld und schulischer Effektivität. Quelle: Eigene Darstellung
Bildungschancen an Grundschulen in prekärem Umfeld
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Im Folgenden sollen nun nicht mehr alle Schulen betrachtet werden, sondern nur noch diejenigen, die sich in einem „schlechten sozialstrukturellen Umfeld“ befinden (1. Spalte von Tabelle 2). Diese Einschränkung wird unter anderem vorgenommen, da davon auszugehen ist, dass sich die Ursachen einer besseren oder schlechteren Schuleffektivität im Hinblick auf die spezifischen sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Schulen unterscheiden und deshalb je nach sozialem Schulmilieu (sozialstrukturellem Umfeld) andere Schulentwicklungsstrategien erforderlich sind. Beispielhaft wird die Bedeutung dieser These in Abbildung 3 anhand der Schülerzufriedenheit verdeutlicht. 100
"schlechtes Umfeld"
"gutes Umfeld"
Anteil der Gymnasialempfehlungen (in %)
90 80 70 60 50 40 30 überdurchschnittliche Schülerzufriedenheit
20
unterdurchschnittliche Schülerzufriedenheit
10 0 2,0
3,0
4,0
5,0
6,0
7,0
8,0
9,0
10,0
Durchschnittlicher Sozialstatus der Schulen
Abbildung 3:
Zusammenhang von Statusniveau der Schule und Anteil der Gymnasialempfehlungen an der Schule differenziert nach Schülerzufriedenheit. Quelle: Vollerhebung der 4. Klassen der Stadt Wiesbaden im Schuljahr 2006/07
Dabei entspricht Abbildung 3 im Kern genau Abbildung 2, mit der einzigen Ausnahme, dass zusätzlich diejenigen Grundschulen mit einer (im Wiesbadener Schuldurchschnitt) über- bzw. unterdurchschnittlichen Schülerzufriedenheit
200
Alexander Schulze und Rainer Unger
gekennzeichnet sind. Dabei zeigt sich, dass die Schülerzufriedenheit, als ein potenzielles Merkmal des Schulklimas, nicht über das gesamte Spektrum des sozialstrukturellen Umfeldes gleichmäßig verteilt ist. Während nahezu alle Schulen mit einer überdurchschnittlichen Schülerzufriedenheit im „schlechten Umfeld“ zu den „guten Schulen“ gehören, ist im „guten Umfeld“ kein solcher Zusammenhang nachweisbar. Hier gibt es zahlreiche Schulen mit einer überdurchschnittlichen Schülerzufriedenheit sowohl bei den „besseren“ als auch bei den „schlechteren“ Schulen. Die Zufriedenheit der Schüler hat deshalb in einem „guten“ Umfeld möglicherweise nicht dieselbe Bedeutung für den durchschnittlichen Schulerfolg wie vergleichsweise in einem „schlechten“ Umfeld. Daher ist es sinnvoll, sich für weitere Vergleiche von „guten“ und „schlechteren“ Schulen nur auf Schulen in einem konkreten Umfeld zu konzentrieren. Im Folgenden heißt das ausschließlich auf Schulen in einem prekären sozialstrukturellen Umfeld mit einem hohen Anteil von Kindern aus sozial schwachen Familien. Für diese Schulen sind in Tabelle 3 neben der Schülerzufriedenheit weitere Lernumweltmerkmale und deren Durchschnittswerte jeweils in „guten“ und „schlechten“ Schulen gegenübergestellt, wobei mittels t-Tests verglichen wird ob sich die entsprechenden Mittelwerte der „guten“ und „schlechten“ Schulen statistisch voneinander unterscheiden. Dabei zeigt sich zunächst, dass die „klimatischen“ Bedingungen an den „guten“ Schulen andere sind als an den „schlechten“. Sowohl die Schüler- als auch die Elternzufriedenheit ist an „guten“ Grundschulen höher als an Schulen mit einer unterdurchschnittlichen Schuleffektivität. Diese Unterschiede sind im Sinne eines Mittelwertvergleiches statistisch signifikant (auf dem Niveau von p