Marian Bernhardt - Griff nach dem Pa radies
Paradies
Marian Bernhardt Bernhardt
Griff nach dem dem
Paradies Paradies
Marian Bernhardt - Griff nach dem Pa radies
Paradies
Ulrich Kiesow gewidmet,
für die Schaffung Aventuriens und
meines schreiberischen Vorbilds
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P Prolog rolog Prol og
W
orüber ich jetzt zu berichten gedenke, es liegt lange zurück.
Viele Götterläufe herrschte Satinav über den Lauf der Zeit, bis ich mich endlich getraue, jenes niederzuschreiben, was sich einst ereignete, und die Zwölfe wissen, daß auch ich bei alledem Schuld auf mich geladen habe. Selbst nun, nachdem so viele Sommer ins Land gegangen sind, fällt es mir schwer, mich darüber zu äußern, verweigern die Gebote des Praios doch den Bruch eines Schwurs, wie lange er auch zurückliegen mag. Und geleistet habe ich ihn, auch wenn die Bedingungen für ihn nicht die günstigsten waren. Wieder packt mich jene Unsicherheit und ich überlege, ob ich weiter schreiben oder dieses Papier Ingerimms Element übergeben und über jene Geschehnisse den ewigen Mantel des Vergessens breiten soll. Ja, ich habe geschworen, niemals einem Menschen etwas darüber zu erzählen, aber an dieser Stelle schreibe ich ja bloß und wer weiß, ob jemals jemand dies hier findet. Bei den Zwölfen, welch schwache Ausrede! Vor Borons Gericht wird sie mich auch nicht retten, wenn die Götter beschließen, diesen Bruch des Schwurs mir anzulasten. Doch ich spüre auch, wie Tsas Macht meiner entgleitet und die Körner in der Sanduhr meines Lebens allmählich durchgefallen sind. Ich spüre, wie meine Existenz auf Dere bald ihr Ende finden wird, und das veranlaßt mich dazu, die letzte Gelegenheit zu nutzen, mich zu jenen Ereignissen zu äußern, denn weiter kann ich das nicht hinausschieben. Eine weitere Möglichkeit wird es für mich in dieser Sphäre nicht mehr geben. Also werde ich sie erzählen, die Geschichte vom Traum von Ruhm, Reichtum und Wohlstand, den Wahn vom Güldenland, von Freundschaft und Verrat, Liebe und Haß, Treue und Intrigen und dem größten Abenteuer, was ich je erlebt habe... was man überhaupt erleben kann. Also gehe ich es an! Mögen die Zwölfe mir noch genügend Zeit bescheren, dieses Werk zu vollenden und zu berichten, was damals weit draußen im Meer der sieben Winde wirklich geschah, denn was auch immer Ihr erwartet, werter Leser, diese Geschichte übersteigt eure Vorstellungskraft.
Papa Abogali saß auf dem größten der unnatürlich runden Felsbrocken, die in der schier endlos weiten Steppe um das Dorf die einzige Abwechslung zwischen endlosem Grasland darstellten. Und es war mehr als ein Steinhaufen über den man sich wundert, weil man sich fragt, wie in diese Landschaft solch mächtige Steine kommen, zumal deren Größe und Beschaffenheit keinen der wenigen örtlich „heimischen” Steine auch nur annähernd ähnelte. Für Papa Abogali war das nichts ungewöhnliches, denn es waren die Steine der Erkenntnis, die den Kundigen der geheimnisvollen Mächte so manchen Blick in die Zukunft, Vergangenheit und andere Orte gewähren konnten. Seine Hände ruhten auf der glatten Oberfläche des Felsens, seine Augen waren geschlossen und er saß aufrecht mit gekreuzten Beinen. Bilder strömten durch seinen Geist, langsam und sanft, wie ein ruhiger Bach, der bei wenig Gefälle gemächlich sich fortbewegte, so daß ein in ihm treibendes Blatt ohne Mühe und verträumt vom menschlichen Auge verfolgt werden konnte. 3
Es war nichts besonderes für ihn, denn der Besuch dieses Ortes gehörte zu seinen Grundaufgaben, besser gesagt zu seinen Lebensgrundlagen. Hier gewann er Erkenntnis, hier verstand er die Dinge, hier klärten sich Verhältnisse. Diese Steine ermöglichten es den Auserwählten ihren Geist zu entfalten, zu reinigen und aufzuräumen. Papa glaubte, daß er ohne diesen Ort deutlich verwirrter und unkontrollierter wäre und seine Handlungen weniger von Ruhe und Gelassenheit bestimmt wären. Er kannte diese Situationen, wenn er zu lang den Steinen der Erkenntnis entbehrt hatte. Dann wurde er unruhig, unbeherrscht und seine Kontrolle über seine Mächte schwand. Vielmehr begannen diese ihn zu kontrollieren. So etwas war nicht ungefährlich, denn unkontrollierte Ausbrüche der Macht waren nicht selten die Folge von Wut, Haß oder anderen starken Gefühlen. Doch sein Geist war wie die Oberfläche eines ruhigen Sees. Nur, wenn er lange nicht mehr hierher kam, schlugen dessen Wellen hoch. Aber da er oft hier war, bestand diese Gefahr nicht. Und da das Leben an diesem Ort einen begrenzten Spielraum hatte, war es auch nicht schwierig, diesen Platz öfters aufzusuchen. Die Bilder, die heute vor seinem inneren Auge abliefen, waren ausgesprochen interessant. Er hatte selten so wundersames gesehen. Als er von dem Stein herabkletterte, blickte er sich verwirrt um, als müßte er erst wieder feststellen, wo er eigentlich war. Tatsächlich hatten die Visionen derartige Obskuritäten gezeigt, daß ihm deren Existenz beinahe unglaubwürdig vorkamen. Aber Papa Abogali wußte, daß sie Wahrheit waren, wie alle Zeichen, die er empfing. Er hatte intensiv ein Leben lang auf einem relativ kleinen Raum gelebt, so, daß das seine Bestrebungen nicht wie das der Menschen, die uns als Lesern vielleicht bekannt sind, expansiv waren, sondern er sich in sich kehrte und ein nahezu perfektes Verständnis für die inneren Geheimnisse entwickelt hatte. Und überhaupt trug der Wind aus der Richtung Wodiesonneaufgeht einen Geschmack der Veränderung heran, gravierender Veränderung, die sein Leben, das Leben des Dorfes und des ganzen Landes auf ewig in Mitleidenschaft ziehen würden. Nur das Ende war nicht klar. „Was ist, Papa?”, erkundigte sich Maligali, der junge Abogali, der geduldsam auf seinen Meister gewartet hatte. „Seltsame Dinge offenbarten sich mir”, sagte er zu seinem Lehrling, „Ich sah Menschen aus dem Himmel herabsteigen. Sie kamen in Kanus mit riesigen weißen Flügeln. Aber sie waren nicht wie wir. Ihre Haut war nicht braun, sie war bleich und sie hielten sich für Götter.” Er blickte den Jüngeren verwirrt an. Dieser schaute etwas ungläubig zurück. „Solche Menschen gibt es aber gar nicht”, meinte dieser. Papa Abogali nickte. Richtig. Solche Menschen gab es ja gar nicht. Aber er hatte sie gesehen. „Was meinst du?”, fragte er seinen Schüler. Dieser sog tief den Wind ein, blickte in den Sonnenaufgang und meinte: „Es riecht nach Veränderung. Ruhm. Ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Ruhm, Wunsch nach der Wiederherstellung alter, besserer Verhältnisse. Jemand will etwas wieder, was er verloren hat.” Papa nickte zufrieden. Maligali hatte gelernt. Eines Tages würde er seine Stellung im Dorf übernehmen. „Sie werden kommen und bringen Ungewisses. Ich sehe viele Dinge auf einmal. Es werden sehr viele sein, viele Male mehr als wir Seelen sind. Alle mit anderen Motiven. Da ist Ruhm, da ist Ehre, Träumen, Liebe, Selbstverwirklichung, Wissensdurst ... Abenteuerlust!” Der Lehrling nickte und Papa Abogali wußte nicht recht, ob er es wirklich auch spürte oder nur seinen Meister betonte. „Das klingt nach großer Veränderung”, meinte der Jüngere nachdenklich.
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Papa nickte. „Veränderungen bringen immer Gefahr mit sich. Deshalb fürchten sie viele. Wir sollten es im Dorf zur Ansprache bringen. Wenn die Fremden mit der bleichen Haut tatsächlich kommen, müssen wir darauf vorbereitet sein!” Maligali nickte und sie kehrten gemeinsam dem heiligen Ort den Rücken zu, um ins Dorf zurückzukehren.
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Wir schreiben das Jahr 5 Hal
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Buch 1
Havena
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Kapitel 1
D
er Blick des Mannes, der auf dem Halplatz in Havena stand, war starr gen Praios
gerichtet. Nicht nur mit seiner Kleidung hob er sich deutlich von den Menschen um ihn ab, auch die beiden spitzen Ohren, die aus dem wallenden blauschwarzen Haar hervorragten, verrieten, daß hier nicht sein wahres Zuhause war. Ein langer, dunkelgrüner Mantel, dessen Innenseite - wie man in der Kapuze erkennen konnte mit Fell gefüttert war, verdeckte das braune Jagdhemd genauso, wie das wild, aber irgendwie auch elegant wirkende Barbarenschwert, auf dessen Klinge nahe am Heft in Rologan der Name „Silberschweif” eingraviert war. Der schlanke, große Elf schien schon einige Lebenserfahrung zu haben, immerhin fand man seine Rasse selten in den überfüllten Straßen der Großstädte an der Westküste. Auf seinem Rücken befand sich über dem langen Kampfstab ein großer Reiserucksack, wie man ihn von jenen Helden kennt, die ihr Leben lang durch Aventurien ziehen und für Frieden und Ehre streiten. Doch er gehörte zweifellos nicht zu diesen. Nein, der übermäßig lange Bogen, der dort über seinem Rücken bei dem Köcher mit dem reich verzierten Pfeilen hing, wies zauberhafte Verzierungen auf, die sicher nicht von Menschenhand stammten. Und damit machte er keineswegs den Eindruck eines strahlenden Helden. Was war es, was ihn dort so mit dem Blick an den Fürstenpalast fesselte? Vermutlich Schwäche, dachte sich Zordan. Zordan war Dieb und zwar ein ausgesprochen guter. Und wenn sich dieser fremde Elf, der wider aller Erwartungen an einen seiner Rasse einen prall gefüllten Geldbeutel trug und der dummerweise auch gerade seinen Mantel so zurückgeschlagen hatte, daß man diesen wunderbar erreichen konnte, sich so für den Palast faszinierte, mußte er auch den Preis dafür zahlen. Spürt man es denn, wenn große Ereignisse bevorstehen? Wenn überragende Veränderungen sich für einen selbst und für andere anbahnen? Was fesselte diesen Abenteurer mit dem Namen Alarion Wolfslied damals so an den Palast, daß er eine ganze Weile nur so da stand und diesem prächtigen Bauwerk im Angesicht ruhte? Er wirkte nicht wie jemand, der so etwas noch nie in seinem Leben gesehen hatte... Zordan rückte seinen Strohhut tiefer in sein Gesicht, zog sein Messer unauffällig und schlenderte von hinten auf den Elfen zu. Eigentlich lief alles gut und er selbst entledigte des öfteren Menschen auf diese Art ihres Vermögens. Stolpernd stieß er den Waldläufer an, der ein Stück wegstolperte und wie aus einem Traum gerissen sich verwundert umsah und sofort wieder den Palast fixierte. „Vergebt mir”, meinte Zordan entschuldigend und machte - mit dem Geldbeutel des Elfen in der Hand - kehrt. Mit zügigem, aber nicht auffälligem Schritt entfernte er sich und ließ den Schatz unter seiner Weste verschwinden. Er lächelte. Er hatte einen Elfen bestohlen, wobei diese doch so viel achtsamer sein sollten, als die Menschen! Das mußte man erstmal schaffen. Naja, er war eben ein Meisterdieb.
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Ein seltsames surrendes Geräusch und ein Knistern. Es war von hinten gekommen und als sein
Blick auf die Pfeilspitze fiel, die vorn aus seinem Strohhut herausragte, wußte er auch, was das
Knistern gewesen war - das Durchschlagen seiner Kopfbedeckung.
Vorsichtig drehte sich der Dieb auf dem Absatz um und warf einen zaghaften Blick auf den
Bestohlenen. Dieser blickte ihn im Moment nicht direkt an, sondern zog nur in aller Seelenruhe
den nächsten Pfeil aus dem Köcher.
Es lagen gut zwanzig Schritt zwischen den beiden, doch Zordan war klug genug, nicht zu fliehen.
Er nahm seinen Hut ab und schluckte. Der Pfeil hatte ihn genau in der Mitte aufgespießt. Aber
Moment... Sein Blick fiel wieder auf den Elfen. Kannte er ihn nicht?
Jedenfalls sollte er sich schleunigst etwas einfallen lassen, wie er erstens den Schützen beruhigte
und zweitens den Diebstahl vor den durch den Pfeil auf ihn aufmerksam gewordenen Bürgern
Havenas erklärte.
Vorsichtig ging er auf den Bestohlenen zu, der ihn mittlerweile direkt auf den Kopf zielte. Doch
dann hielt er inne. Auch er hatte Zordan erkannt.
„Zordan?”, kam es ungläubig und er senkte den Bogen.
Dieser nickte fröhlich und stürmte auf Alarion zu, um ihn zu begrüßen wie einen alten Freund:
„Alarion, wir haben uns aber lange nicht gesehen!”
Zwei eiserne Griffe hielten ihn unsanft in seinem Bestreben auf und als er sich drehte, erkannte er
die beiden Personen, die ihn da aufhielten: Stadtgardisten!
„Moment mal! Was ist hier los?”, donnerte der eine mit eiserner Stimme.
Nur allmählich - viel zu langsam - schlenderte der Elf auf Zordan zu, um den Anblick seiner
Situation zu genießen. Auch zum Ärger der Wächter, die sich nicht ewig mit diesem Straßendieb
aufhalten wollten.
„Hat dieser Mann Euch bestohlen?”, fragte der offenbar höherrangige Gardist knapp.
Alarion lächelte belustigt. „Bestohlen ... naja, wie soll ich sagen...”
„Ja oder nein?”, intensivierte der Gesetzeshüter seine Aufforderung.
Wieder eine Kunstpause seitens des Elfen. Dann: „Nein. Wir sind alte Freunde.”
Nahezu zeitgleich stießen die beiden den Dieb weg, so daß dieser beinahe stürzte und den
Bogenschützen mitnahm. Dieser fing seinen alten Bekannten aber geschickt auf.
Doch die Gardisten hatten offenbar noch nicht genug. „Wie kommt Ihr zu derartigem
Waffengebrauch innerhalb Havenas?”
Jetzt wurde Alarion zur Zielscheibe. Doch er hatte nicht vor sich lange mit diesen Männern zu
streiten. Seine Hand griff unter seinen Mantel und zog ein Schriftstück hervor, dessen
gebrochenes Siegel unverkennbar das der Bennains, der albernischen Herrscherfamilie, war.
Der Gardist überflog das Schriftstück kurz und richtete sich dann deutlich strammer aus.
„Jawohl! Willkommen in Havena, Alarion Wolfslied!”
Dieser lächelte und nahm den Brief zurück. Er nickte. „Danke.”
Damit wäre das erste Problem also geklärt. Die Gardisten zogen ab und Zordan setzte seine
Begrüßungsszenerie fort. „Mensch ... ähm, ich meine: Elf! Was machst du denn hier?” Er breitete
die Arme aus und fing einen Faustschlag Alarions ab.
Verwirrt blickte er ihn an. „Hey!”
„Albere hier nicht rum und gib mir mein Eigentum zurück!”
Der „Meisterdieb” nickte beschämt und reichte seinem Freund den Geldbeutel. Doch dieser hielt
immer noch die Hand auf. Unverständlich starrte Zordan zurück. Der Fingerdeut auf seinen
Strohhut erklärte alles. Widerwillig zog er den verzierten Pfeil daraus heraus und übergab auch
den dem jetzt endlich zufriedenen Elfen.
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Der Fürstenpalast in Havena war ein wahrhaft prunkvolles Gemäuer. Doch Alarion faszinierten weniger die verputzten Wände oder die Türme an dem achteckigen Wehrmauerring, als viel mehr die Gartenanlagen. Zwar hatte er im Moment, als er und der völlig veränderte Zordan, der jetzt in Lederkleidung wie ein richtiger Edelmann aussah, zu weit weg, um diese näher anzusehen, doch der Duft von Blüten und das Gezwitscher von Vögeln, die in wunderbar verzierten Bauern dort hausten, wurde vom Wind zu ihm herübergetragen. Auch ein Springbrunnen zierte den Garten, dessen Fontäne kunstvoll in zwölf Richtungen sich in einzelne Wasserstrahlen aufteilte. Zordan war offenbar bei Alarions Einladung nicht eingeplant gewesen und sie wurden beide in einem Besucherappartement untergebracht. Dieses war ausgesprochen großzügig ausgestattet. Die Wände zierten kostbare Bilder, exotische Blumen standen in wertvollen Kristallvasen und auch der Teppich war mit Sicherheit kein Sonderangebot gewesen. An Luxus fehlte es hier gar nicht. Es gab sogar eine Badewanne, die Betten waren keine dieser gewöhnlichen, harten Schlafstätten, wie man sie aus Herbergen kannte. So manche Suite in Hotels hätte man gegenüber diesem Appartement als Schlafsaal abtun müssen. Der Elf setzte seinen Rucksack ab und entledigte sich seines Mantels. Dann warf er seinen Bogen, seinen Kampfstab und „Silberschweif” auf das Bett und schlenderte zum Fenster. Sein Blick fiel auf den Garten und er hatte Lust, sich dieses Blumenparadies einmal von der Nähe anzusehen. „Was meinst du, was das hier wert ist?”, erkundigte sich Zordan, der die ganze Zeit ein Bild anstarrte. Ein wenig müde drehte Alarion den Kopf. „Das spielt keine Rolle. Jedenfalls wirst du hier alles dort lassen, wo es ist, klar?” Zordan nickte, gespielt enttäuscht. Er wußte, daß er nur aus Freundlichkeit seines alten Mitstreiters in diesen Palast gekommen war, denn er hatte keineswegs eine Einladung zum Fürsten. Also wandte er sich ab von dem Bild und machte sich daran, sich auf das saubere Bett zu werfen, sich über die Federung dessen zu freuen und die Decke anzustarren. „Was will denn der alte Bennain von dir?”, erkundigte er sich. Achselzuckend erwiderte der Elf: „Keine Ahnung. Ich frage mich nur, wie er auf mich kommt. Ich meine, ich gehöre zweifellos nicht zu den berühmtesten aventurischen Persönlichkeiten.” Zordan lachte. „Ach nein? Ich denke, du spielst dich selbst herab! Alarion Wolfslied, der Meisterschütze! Bist du dir im Klaren darüber, was du alles gemacht hast? Sowas erlebt ein Aventurier nicht in zehn Leben! Erinnerst du dich noch an das Tal der tausend Blumen? Du hast die Zyklopeninseln und deren Zauberwald gerettet, Taldorf mit errichtet, dieses Kaff beim Orkland, zwischen Arsingen und Teschkal, im Alleingang den Schwarzmagier aus seiner Festung vertrieben, dort nördlich dieser verfluchten Khomwüste...” „Und dabei die ganze Festung niedergebrannt. Das war ja echt eine Heldentat”, meinte Alarion ironisch. „Naja, sicher hätte Falk damals gern dort sein eigenes kleines Königreich mit der Burg aufgemacht, du mußt diesem verkorksten Krieger...” „Er ist mittlerweile Ritter...” „... ja nicht alles gönnen! Und dann wie war das mit Larimor? Erzähle mir bitte, welcher Aventurier eine Brieffreundschaft mit einem Kaiserdrachen pflegt?” „Naja, aber das sind ja alles Dinge, wegen denen man nicht so bekannt wird, daß einer der größten Helden und erfolgreichsten Herrscher Deres dich einlädt. Und überhaupt, was will er von mir?” 10
„Vielleicht ein Buch über dich schreiben, deine Heldentaten hören. Du hast damals mitgeholfen
Endi Warren Hork, einen der gefürchtetsten Meuchelmörder zu stellen, du hast die Tochter von
Athavar Friedenslied befreit und bist mit ihr zusammen...”
„Das weiß aber nun wirklich keiner!”
Zordan überlegte einen Moment. „Gut, aber du hast wirklich eine Menge Sachen gemacht. Und
du bist einer der besten Schützen im Lande!”
Alarion nickte besonnen. Sein Blick heftete immer noch auf dem Springbrunnen in der
Gartenanlage. Irgend jemand ging dort unten herum und beschnitt einige orange blühende
Sträucher.
„Und was ist mit dir, alter Freund? Zordan der Meisterdieb. Du bist ja auch nicht gerade
unbekannt!”
Eine selbstzufriedenes Lächeln umspielte die Lippen des anderen. „Ja, sicher. Aber zum einen ist
meine Bekanntschaft positiv anerkannt nur in phexischen Kreisen und zum anderen lädt man
mich nicht gern ein. Überhaupt...”
Es klopfte dreimal. Die drei klopfenden Töne waren so einheitlich von Lautstärke und Rythmik,
daß Alarion sich sicher war, es handele sich um einen Diener, der das schon sein Leben lang tat.
„Herein!”
Die Tür öffnete sich und ein ordentlich gekleideter Hofdiener trat ein. Er verneigte sich höflich
und meinte: „Die Zwölfe zum Gruße! Euer Gnaden Fürst Cuanu Ui Bennain ist bereit Euch zu
empfangen!”
So schnell? Die beiden waren gerade erst angekommen und schon erhielten sie Audienz.
Nicht schlecht dachte sich der Elf. Vielleicht würden sich jetzt einige Fragen klären...
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Kapitel 2
S
o, lest ihr also immer noch? Dabei ist doch noch gar nichts spannendes passiert!
Was erwartet ihr von meiner Erzählung? Denkt ihr, daß es wirklich so faszinierend und
herausragend sein wird, daß ihr zum Schluß lächelnd dieses Buch schließen und euch sagen
könnt, ich hätte es mir alles nur ersponnen?
Nun gut, lest weiter!
Alarion hatte erwartet in einen Audienz- oder Thronsaal geführt zu werden. Irrtum. Der Diener führte sie zielsicher auf einem am Rande des Gartens befindlichen Kiesweg entlang und schließlich auf eine leicht erhöhte Terrasse, der einen guten Ausblick auf die fürstlichen Grünanlagen bot. Am Fuße der Treppe, die hinauf zu diesem Ort führte, deutete der Diener ihnen an stehenzubleiben. Er schritt hinauf und kündigte „die Herren Wolfslied und Zordan” an. Dann durften auch die beiden kommen. Als Alarion einen Schritt auf den Boden der Terrasse setzte, fielen ihm die wertvollen Marmorplatten auf, die dort den Boden zierten. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn und ein wenig die Befürchtung, er würde mit seinen schweren Stiefeln das Gestein beschmutzen oder gar beschädigen. Zordan schien sich darüber deutlich weniger Sorgen zu machen und er schaute sich gleich die Anwesenden an. Dort saßen in in Halbkreisform aufgestellten Stühlen acht Personen, plus dem Fürsten und seiner Gemahlin, die verständlicherweise die günstigste Position mit dem besten Ausblick hatten. Das Fehlen jeglicher Etikette verschaffte dem Halbelfen hier wieder ein paar Bedenklichkeiten. Also verließ er sich auf sein Anstandsgefühl und verneigte sich einfach leicht vor dem Fürsten. Zordan ließ sich zu einer überschwenglichen Verbeugung hinreißen, bei der er wild mit seinem Hut herumfuchtelte und ihn dann wieder aufsetzte. „Ich grüße Euch! Mich kennt Ihr sicher und das ist meine Gemahlin Idra Bennain”, meinte Cuanu Ui Bennain und deutete den beiden auf sie vorgesehenen Stühle. Sie ließen sich nieder. Jetzt sah der Halbelf zum ersten Mal sich alle in der Runde befindlichen an und er erkannte auch sogleich den Grund seines Daseins: Magister Irian Sturmfels. Dieser war der Inbegriff eines Magiers, mit langem, grauem Bart, brauner Robe und Zauberstab. Und er war ein alter Bekannter des Meisterschützen. Sie lächelten sich zum Gruße zu. „Sicher seid Ihr gespannt darauf, was ich von Euch möchte, und ich will Eure Geduld auch nicht länger auf die Probe stellen”, meinte der Fürst und lächelte warm. „Darf ich zuerst kurz vorstellen...” Er begann bei dem Mann, der ganz links außen saß, einem Thorwaler, der mit seinem vernarbten Gesicht und wilden strohblonden Zöpfen irgendwie überhaupt nicht in diese exquisite Kleidung paßte, die er trug. „Das ist Lealoarn Hermson, der Mann, dem Ihr Euren Aufenthalt hier und Havena auch bald neuen Ruhm zu verdanken hat.” Soso. Neuer Ruhm. Das fing ja gut an. Der nächste Mann schien seine besten Jahre bereits hinter sich zu haben. Alarion schätzte ihn obwohl ihm das bei Menschen immer schwerfiel - auf fünfzig bis sechzig. Sein Haar war einst schwarz gewesen, doch jetzt war es zu großen Teilen ergraut. Eine kleine Narbe im Gesicht und eine Miene, die es gewohnt war zu herrschen, waren die ersten Dinge, die an ihm auffällig waren. 12
„Das ist mein langjähriger Gefolgsmann und Vertrauter Admiral Elwick Roggunder.” Dieser lächelte gespielt freundlich. Sein Sitznachbar war genau das Gegenteil von ihm: Ein Jungspunt, vielleicht Mitte zwanzig, der vermutlich noch von Ideen und Träumereien lebte und zwischen all diesen erfahrenen Helden und Gelehrten irgendwie deplaziert wirkte. „Christophian Columb, aus dem albernischen Adel. Er ist ein hervorragender Organisator und Logistiker, der uns diese gigantische Unternehmung möglich macht.” Es schien dem Fürsten zu gefallen Alarion im Unklaren über die Art der „Unternehmung” zu lassen und wenn er ehrlich war, interessierte es ihn brennend, worum es hier ging und was all diese Leute damit zu tun hatten. „Harion Ui Bennain ist mein ältester Sohn und neben Admiral Elwick meine direkte Vertretung auf der Reise ist, einer Reise, bei der wir, wie wir erkannten, auch ein gewisses geistiges Potential benötigen, was uns zu diesen Herrschaften führt.” Er wandte sich zu den auf der anderen Seite von ihm sitzenden Personen. „Es handelt sich um ausgewählte Meister der magischen Künste.” „... angeheuert von einem Regenten, in dessen Reich die Magie verboten ist - was für eine Ironie!” Der Mann, der diese provokatorische Aussage gemacht hatte, saß als zweites, direkt neben Irian. Er war vermutlich etwas über dreißig und wirkte für einen Magier ausgesprochen kräftig und vital. Er strahlte irgendwie Leben aus und nicht verstaubte Bücher und theoretisches Wissen. Cuanu Ui Bennain, dem diese Aussage offenbar ein wenig peinlich war, wandte sich diesem daher zuerst zu. „Das ist Magister Alix Zander von der Schule des Wandelbaren zu Tuzak.” Ein Magister? Nun, Alarion hatte nicht viel Ahnung von der Titulatur der Magier, aber er wußte, daß ein Magistertitel höchst selten von so jungen Magi getragen wurde. „Magister Irian Sturmfels aus Punin kennt Ihr sicher. Auf seine Empfehlung habe ich Euch mit herangezogen.” Er räusperte sich und das Unbehagen über Zanders Aussage schien ihm immer noch im Nacken zu sitzen. So befaßte er sich eilig mit der nächsten Person. Sie war neben Alarion die einzige elfische Person in der Runde. Sie war - selbst für eine Elfe ausgesprochen attraktiv und es dürfte bei ihren für einen Halbelfen relativ langen Ohren für einen Menschen kaum ersichtlich sein, daß auch menschliches Blut durch ihre Adern floß. Ihr golden glänzendes, schulterlanges Haar fand Halt durch ihre außerordentlich elfisch ausgeprägten Spitzohren und ihre Augen funkelten hell wie zwei Smaragde und sie strahlten Lebensfreude und Freundlichkeit aus; ganz im Gegensatz zu ihrer ernsten, fast uninteressierten Miene. Alarion erkannte, daß diese vermutlich nur gespielt war, aber was sollte man schon von Elfen erwarten, die Magier wurden? Aber warum auch nicht. Immerhin war Alarion auch ein ganzes Bißchen badoc, bei seiner Lebensweise und seiner Waffensammlung, ja bei seinem ganzen Leben unter Menschen. „Fiana Eichenblatt, Adepta der weißen Gilde, mit besten Empfehlungen der Akademie der Herrschaft zu Elenvina. Und zu guter Letzt Adeptus Tulef Winterkalt, der Vertreter der schwärzeren Zauberei. Wir hielten es für angebracht, einen Ausgleich zwischen den Ausrichtungen der Gilden zu schaffen.” Irgendwie paßte die schwarze Magie zu Tulef. Sein Haar war schwarz wie die Nacht und wurde nur noch durch die unergründliche Schwärze seiner Augen übertroffen wurde. Er lächelte leicht und rückte seinen ebenso boronschwarzen Mantel zurecht. „Um welche Art von Unternehmung handelt es sich denn?”, erkundigte sich Alarion, der nicht so recht wußte, ob er noch ein „Eure Eminenz”, „Mein Fürst” oder so etwas hinzufügen hätte sollen. Dieser lehnte sich lächelnd zurück und machte eine spannungssteigernde Pause. „Ihr müßt wissen, einst war Havena die führende Seemacht Aventuriens überhaupt. Wir hatten die prächtigsten Flotten, die besten Schiffe und waren führend im Güldenlandhandel. Doch eines 13
Tages geschah es: Es war 291 vor Hal, als das Große Beben ganz Havena, ja große Teile Albernias gar, vernichtete. Und mit einem Schlag war die Wirtschaft, die Güldenlandbeziehungen und aller Prunk und Ruhm dahin und wir mußten praktisch von ganz vorn beginnen. Meine Väter und Großväter richteten das Fürstentum wieder auf, doch es wart niemals mehr so prächtig wie einst. Unlängst haben die Karacken des Lieblichen Feldes die Führung im Güldenlandhandel übernommen und Albernia steht dagegen eher als kleine Seemacht da. All der Glanz der Vergangenheit ging verloren.” Der Fürst vollführte eine bedauernde Geste. Aber? „Aber neues Licht zeigt sich an unserem Horizont! Und Ihr sollt uns bei seiner Ergreifung helfen. Die Zwölfe haben uns ein Wunder gesandt und wir werden ihrem Aufruf nicht schmähen! Es geht um eine Insel, die in etwa auf halben Wege zum Güldenland liegt und genügend Platz und Vorräte für eine Kolonisation bietet!” Seine Begeisterung war nicht zu verkennen. Er mußte das jetzt schon unzähligen Leuten erzählt haben, aber es schien ihn immer wieder aufs neue zu freuen! Alarion beäugte den Regenten etwas mißtrauisch. „Und wo kommt diese Insel auf einmal her?” Cuanu Ui Bennain nickte Lealoarn, dem Thorwaler, zu und dieser begann fachkundig zu berichten: „Die Güldenlandfahrer nutzen gewohnheitsmäßig Meeresströme, die die Fahrt über das Meer der Sieben Winde ausgesprochen erleichtert. Ich war auf einer dieser Fahrten dabei und wir kamen in einen Sturm und wurden dadurch von unserer ursprünglichen Route abgebracht. Und wir stießen auf diese Insel! Ein Alveran auf Dere, sage ich Euch, sie hatte Wälder, ein Gebirge und in einiger Ferne auch Steppen. Sie mochte gut hundert Meilen lang sein. Das Holz der Bäume eignete sich ideal zum Bearbeiten und so konnten wir die Schäden an unserer Otta beheben.” Was davon nun Wahrheit und was Übertreibung war, entzog sich Alarions Kenntnis. Offenbar aber war seine Geschichte abgeschlossen. Christophian, der Jungspunt, mischte sich ein: „Bedenkt, edle Herren, was eine Kolonie zwischen dem Güldenland und Aventurien bedeuten würde! Man könnte dort Werften bauen, in denen die Güldenlandfahrer ihre Schiffe reparieren können, man bräuchte nur die Hälfte der Nahrungsmittel transportieren, weil der Stützpunkt immer ein Anlaufhafen sein könnte. Der gesamte Güldenlandhandel würde über eine Insel unter der Herrschaft Havenas laufen und wir könnten die Zölle so hoch setzen, wie wir wollen: Sie würden alles zahlen!” Es war offensichtlich, daß die Ansprache des finanziellen Gesichtspunkt und der Bereicherung sowieso schon reicher Leute bei Alarion wenig gut ankam. „Ganz Aventurien könnte durch einen geregelten Güldenlandhandel um Jahrzehnte in Wissenschaft und Technik nach vorn geschleudert werden”, gab Admiral Elwick zu bedenken, um einen gemeinnützigen Aspekt anzubringen. Die Schöpfer dieser Unternehmung schienen begeistert von ihren Ideen! Sie grinsten freudig über beide Wangen und das war für den Halbelfen auch verständlich. Fürst Cuanu würde für Albernia eine ausgesprochene Machtausbreitung schaffen, Christophian würde als Jüngling bereits ein Projekt organisieren, für das er Staatsheld wäre und den Rest seines Lebens in einer Führungsposition verbringen könnte und Elwick würde vermutlich auch irgendeinen noch höheren Posten erlangen. Doch welche Motive verfolgte Lealoarn Hermson, der doch auf einer thorwalischen Otta die Insel entdeckt hatte? Zwar waren die Beziehungen zwischen Albernia und Thorwal angeblich gut, doch deshalb verschenkten die Thorwaler doch nie so eine Entdeckung! „Erlaubt mir die Frage, Hermson, weshalb steht ihr hier im Dienste Havenas und was ist mit den anderen Thorwalern Eurer Otta? Werden diese nicht auch eine Kolonisierung versuchen?”
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Der Seemann lächelte bitter. „Das werden sie bei Swafnir nicht”, meinte er sarkastisch, „wir kamen in einen weiteren Sturm auf der Heimfahrt und diesmal hatten wir weniger Glück...” Der Halbelf nickte. Eine ausgesprochen interessante und aventurienbewegende Sache, die die Albernier da vorhatten. Selbstverständlich reizte auch ihn die Entdeckung und Besiedelung einer fernen, fremden Welt und auch er würde seinen Namen gern in den Chroniken Aventuriens als Mitverantwortlicher für den wissenschaftlichen Fortschritt sehen. „Was haltet Ihr davon?”, erkundigte sich der Fürst, der die wachsende Begeisterung Alarions vermutlich spürte oder erriet. Dieser nickte entschlossen. „Ich soll Aventurien in die Zukunft führen, an der Seite meines alten Freundes Irian? Ich bin dabei!” Er lächelte. Plötzlich - völlig unerwartet und zum ersten Mal - meldete sich Zordan zu Wort. „Entschuldigt, die Herren, aber ich glaube, wir haben einen wichtigen Faktor vergessen.” Cuanu warf dem Meisterdieb einen gespielt verärgerten Blick zu, aber er wußte, wie die Regeln in solchen Fällen waren und meinte deshalb sachlich: „Ihr erhaltet für die treuen Dienste ein eintausend Rechtsschritt großes Stück Land und einen Lohn von zwei Dukaten pro Tag. Ist das angemessen?” Zordan schien zu rechnen, während Alarion bereits nickte. Dann schien der Dieb seine Kalkulation beendet zu haben und grinste phexisch. „Mehr als das!” Die Gartenanlagen des Palastes faszinierten nicht nur der Halbelfen. Auch Irian und Alix, der alte und der junge Magister, fanden ihn anziehend. So schlenderten die drei im schwindenden Lichte Praios durch die farbigen Meere exotischer Blüten und das Gezwitscher der Vögel begleitete jeden ihrer Schritte. Der Kies knirschte unter ihren Füßen und Alarion empfand es als störendes Geräusch. Hatte man nicht einfach Erde lassen können? Oder Gras oder Moos? Das machte wenigstens keine störenden Geräusche, wenn man darauf wandelte. Er lächelte. Sein Leben bei den Waldelfen hatte ihn verändert. Früher hatte ihn so etwas nie gestört. Ein Mensch würde nie verstehen, wie knirschender Kies das Gezwitscher der Vögel beeinträchtigen konnte. „Das mit dem Magieverbot hättest du dir aber nicht leisten müssen”, meinte Irian, der in der Mitte lief. Alix, zu seiner Rechten, zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Ist doch so!” „Sicher, ich finde einen Magieverbot auch wider der Natur und entgegen allen Regeln der Freiheit. Aber das sagt man dem Regenten eines Fürstentums doch nicht ins Gesicht!” Der Jüngere, der an einer seltsamen Blume stehenblieb, die gerade vor seinen Augen langsam die Blüte verschloß, schien immer noch wenig beeindruckt. „Ich komme aus Tuzak. Da lernt man kein Schönreden.” Er unterstrich oft seine Herkunft. Ja, er war zweifellos stolz darauf, aus der Tuzaker Akademie zu stammen, weil diese sich von den gewöhnlichen ja um einiges unterschied. „Aber er hat schon recht”, ergänzte Alarion, „Es paßt in ein Lustspiel: Ein Fürst verbietet in seinem Land die Anwendung von Magie und holt sich gleich eine ganze Hand voll Zauberer an die Seite und das auch noch weise gewählt aus allen Gilden.” Der ältere Magister nickte fröhlich lächelnd. „Und das wobei die Fürstin magisch begabt ist...” „Ehrlich?”, erstaunte sich der Halbelf. Irian nickte bestätigend. Alix blickte die beiden nur kurz an. Ob er es auch gewußt hatte oder nicht, wurde dadurch nicht klar. „Sag”, erkundigte sich Alarion, „was hat es mit dem Großen Beben auf sich?” 15
Sein Freund überlegte kurz. „Vor etwa dreihundert Jahren war Albernia in einer solchen Blüte,
daß Hochmut und Arroganz breit machten.”
„Erinnert uns das nicht an das Liebliche Feld?”, meinte Alix spöttisch grinsend.
„Jedenfalls spaltete es sich sogar vom Mittelreich ab. Havena ist ja - wie du sicher weißt - die
Stadt des Efferd. Der Hochgeweihte damals wollte Efferd zum höchsten aller Götter erheben
lassen, aber er selbst war wohl noch wenig fromm. Es gab wohl eine Menge Unzucht und die
Zwölfe wurden nicht so geachtet, wie es seien sollte. Man erzählt sogar, daß man damals Wunder
kaufen wollte und mit Spenden den Gott der Meere besänftigen wollte.
Das führte dazu, daß Efferd irgendwann mit einer riesigen Flutwelle Havena dem Erdboden
gleich machte und damit war es vorbei mit der Vormachtstellung auf See.”
Alarion war zwar kein Anhänger der Zwölfe, er hatte aber auf seinen vielen Reisen gelernt, daß
ihre Existenz zumindest nicht auszuschließen war. Und möglicherweise hatte Efferd damals
tatsächlich Albernia diesen Schlag versetzt, von dem es sich bis heute nicht erholt hatte.
„Und jetzt will Fürst Cuanu ein zweites Mal eine solche Blüte herbeiführen.”
Irian nickte zustimmend und blickte versonnen der Elfenmagierin entgegen, die mit großen
eleganten Schritten auf die drei zukam. Nickend begrüßte sie sie der Reihe nach.
„Sanyasala. Magister...” Dann wandte sie sich an den Tuzaker: „Entschuldigt, Magister, aber habt
ihr etwas Zeit für mich?”
Alix blickte zu seinen beiden Begleitern und nickte dann. „Aber sicher.” Damit verließen die
beiden Irian und Alarion, welcher ihnen verträumt nachblickte. Doch die Blicke des Menschen
schienen anderer Natur zu sein als die des Meisterschützen.
„Die bewegt sich aber, ujujujujuj ... Da besinnt man sich doch der Importanz Rahjas...”
Der Meisterschütze lachte. „Irian! Du hast den Traviabund geschlossen!”
Dieser nickte und lachte ebenfalls. „Darf man deshalb keinen anderen Frauen mehr
hinterherschauen?”
Der Elf lächelte. „Nun ja, Menschen halt!”
„Rede nicht so herablassend über meine Rasse”, schimpfte der Magister gespielt, „Immerhin bist
du auch zum Teil einer von uns. Obwohl ich mir dem nicht mehr so sicher bin, seit du bei den
Waldelfen warst...”
Der Halbelf nickte verträumt. „Da hast du allerdings recht.”
Er hatte in den letzten Monden viel Zeit bei seinen elfischen Verwandten in den
Salamandersteinen verbracht, nachdem er zuvor sein ganzes Leben unter Menschen gelebt hatte.
Irian erhaschte einen letzten Blick auf Fianas Rundungen und stieß dann ein zischendes Geräusch
aus. „Warum läßt der Traviabund eigentlich nur eine Partnerin zu?”
Alarion wußte, daß es ein Scherz war, aber er spielte mit. „Wieso? Kommst du mit Rondriane
nicht klar?”
Der Magister lächelte. Dann entstanden künstliche Sorgenfalten auf seiner Stirn. „Naja, wie soll
ich’s sagen? Sie ist Kriegerin, ich bin Magier.”
„Meine Mutter war Waldelfe und mein Vater Praios-Geweihter”, meinte der Meisterschütze mit
ironischem Unterton. Irian wußte auch warum. Der Praios-Priester hatte jegliche Beziehung zu
Alarions Mutter geleugnet, als er erfuhr, daß sie schwanger war. Tja, leider war er jetzt schon tot,
daß der Halbelf ihm dafür keine Abreibung mehr geben konnte. Er mochte Praios-Priester nicht.
„Naja, aber sie ist irgendwie so...”
„Wie?”, wollte Alarion wissen.
„Naja, so ... grob?”
„Oh.”
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„... oder besser gesagt ... irgendwie unersättlich...”
„Ohhhhhh...”
„... man könnte vielleicht sagen einnehmend...”
„Ohhhhhhhhhhhhh...”
„... ja, ein wenig dominant!”
„Ohhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Hält der arme alte Irian etwa nicht mehr mit, wenn es um
Rahjas Kunst geht?”
Empört starrte der Magister seinen alten Freund an. „Ich? Und ob ich mithalte, ich sage dir,
manchmal bittet sie um eine Pause und nicht ich...”
Pause.
„Ach ja?” Mißtrauisches Beäugen seitens des Halbelfen.
„Jaaaaaa!” Irian nickte überschnell.
Grübelnd kratzte sich Alarion am Kopf. „Aber sie”, meinte er und sprach alles langgezogen aus,
so, daß es wie schwer überlegt klang, „ist dominant.”
„Mmh!”, machte der Magier. „Jedenfalls bin ich noch so jugendlich und vital wie...”
„... dieser Alix mit dem Fisch als Nachnamen?”
Verblüfft starrte Irian den Elfen an. „Wieso gerade der?”
Ein Nicken in die Richtung, in die die beiden verschwunden waren, sagte alles. „Er läuft dir wohl
gerade den Ruf ab!”
„Aber nein; Alix und Fiana? Nein. Da irrst du dich.”
„Wieso?”
„Das weiß ich. Ich bin der ältere von uns beiden...”
„Du siehst nur älter aus!”
„Jetzt wird’s beleidigend! Jedenfalls nicht Alix und Fiana. Das stimmt so nicht! Es geht um
Magietheorie ... oder so...”
Alarion lächelte. „Das ist es doch immer; Magietheorie, Mathematikübungen oder
Bogenschießen. Und zum Schluß sind sie ein glückliches Paar. Irgendeinen Vorwand brauchen
sie doch.”
„Trotzdem!”
„Hat Alix eine Partnerin?”
„Nein.”
„Ist Fiana schon vergeben?”
„Grummel ... Nein!”
„Siehst du?”
„NEIN!”
„Gut.”
„Hä?”
„Gut?”
„Wie meinst du das?”
„G-U-T!”
„Ach laß mich doch in Ruhe”, schimpfte Irian und stieß Alarion davon. Er stampfte den selben
Weg weg, wie Alix und Fiana gegangen waren.
„Verfolgst du sie jetzt?”, belustigte sich Alarion.
Auch der Magister lachte aus ganzem Herzen. „Nein. Ich gehe schlafen. Gestern war es spät!”
Der Halbelf nickte. Nun stand er alleine im Garten. Praios war nicht mehr zu erkennen, nur noch
ein Schimmer von Licht kam aus seiner Richtung. Die Vögel zwitscherten kaum noch und
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plötzlich hörte Alarion auch deutlich den Wind. Das Knirschen von Irians Schritten entfernte sich und verschwand irgendwann, als er ins Gebäude ging. Tief atmete der Elf ein und fühlte sich plötzlich als Teil der Natur. Er gehörte zu der Umgebung, auch wenn sie so fremdartig war und im Zentrum einer Menschenstadt lag. Er spürte die Gegenwart der Vögel in ihren Bauern, das Sprechen des Windes, das Wispern der Pflanzen und er hatte das Gefühl, er würde Schaukeln, obwohl er kerzengerade stand. Diese Gefühl der Einigkeit mit der Welt erinnerte ihn schlagartig an die Elfen. Beinahe war es so, als würde er auf der Lichtung am Bächlein stehen und er bräuchte nur die Augen öffnen und würde die anderen Waldelfen bei ihren Unterkünften sehen. Es war ihm sogar fast so, als hörte er ihre Stimmen. Er glaubte, sich nur nach rechts drehen zu müssen und Vesivitar zu sehen, der den ganzen Tag wie versteinert im Bach stehen konnte und dann, wenn ein Fisch kam, blitzschnell seinen Speer niedersausen ließ. Doch er war nicht im Elfendorf in den Salamandersteinen. Er war hier in diesem bezaubernden Garten im Fürstenpalast in Havena und das wurde er urplötzlich gewahr. Es dauerte noch einen Wimpernschlag, dann erkannte er auch, warum er aus seinem Hinfortschweifen erwachte. „Ich hoffe ich störe nicht.” In Gedanken zuckte Alarion zusammen, sein Körper behielt aber beherrschte Ruhe. Er erkannte auf Anhieb die Frau, die hinter ihm aus dem Dunkeln trat - es war die Fürstin. „Nein”, meinte er knapp. Und wieder rasten ihm Gedanken über Verhaltensnormen bei Hofe durch den Kopf und er wußte nicht, ob er sich jetzt verbeugen sollte oder etwas zu sagen angebracht war. Also blieb er reglos stehen und betrachtete die attraktive Frau. Ja, sie war attraktiv, aber auf eine eigentümliche Art und Weise. Sie war nicht der Typ von Frau wie Fiana, für die manche Männer töten würden, nur um sie eine Nacht lang zu besitzen und sagen zu können: „Mit der war ich zusammen!” Sie hatte eine eigene, bezaubernde Art und Alarion fühlte sich ihr seltsam verbunden. Es war nicht die Liebe zu einer Geliebten, genauso wenig die zu einer Mutter, es war ein seltsames, fremdartiges Gefühl innerer Verbundenheit. „Es ist schön hier draußen”, meinte sie ruhig und schritt ein Stück an dem Halbelfen vorbei, den Blick auf Praios letzten Schimmer gerichtet. Sie trug eine hellgraue Robe, nicht mehr die fürstliche Kleidung wie beim Empfang vorhin. Und irgendwie paßte das auch besser zu ihr. „Ja”, erwiderte er ehrlich. „Ich liebe diesen Garten. Er ist so ein Hoffnungsträger, eine eigene Welt in Mitten staubiger Straßen und protziger Palastsäle. Hier finde ich mein Gleichgewicht wieder, meine Harmonie.” Der Springbrunnen plätscherte und der Wind trug eine feine Brise Wasser herüber. Alarion zwinkerte und betrachtete dann wieder Fürstin Idra. „Ihr seid keiner von diesen Gelehrten, wie diese Magier, die Cuanu geholt hat, nicht wahr?” „Nein. Das bin ich wahrlich nicht.” „Und ihr seid auch keiner dieser strahlenden Helden, die mit Schwert und Faust zu den Lieblingen der Menschen werden, stimmt’s?” „Das ist wahr.” Sie wandte sich zu ihm um und sah zu ihm hoch in die Augen. „Ich glaube, Euch schickten die Götter.” Der Meisterschütze überlegte kurz. Was konnte sie wollen? Ja, er war weder ein Gelehrter, noch einer dieser typischen Haudegen. Aber wofür qualifizierte ihn das? Eigentlich war es immer ein Nachteil keinem von beidem anzugehören. „Weshalb?” Sie schwieg einen Moment. „Ihr habt heute meinen ältesten Sohn gesehen.” 18
„Harion Ui Bennain. Ja, ich erinnere mich.”
„Cuanu will, daß er einmal Fürst wird, aber er besitzt nicht diese Tugenden und Eigenschaften
wie Güte, Barmherzigkeit und Weisheit.”
Wieder eine kleine Pause. „Nicht jeder wird als Herrscher geboren”, gab Alarion zu bedenken.
Sie nickte. „Es geht mir auch nicht um Albernia und ihn als Herrscher. Es geht mir um ihn selbst!
Er hält sich für stark, als könne er zu den Göttern steigen und ihnen Alveran abkaufen. Er ist jung
und unerfahren, aber genauso draufgängerisch.”
Unwillkürlich mußte der Elf lachen. „Ich war auch einst so.”
Doch ihr Blick ließ sein Lächeln auf Anhieb verschwinden. Sie schaute traurig, ein bißchen
verzweifelt.
„Er ist nicht nur das. Er ist oftmals gedankenlos und unüberlegt. Ich fürchte, daß er auf dieser
Reise in Gefahr geraten wird durch seine Torheit.”
Er wußte nicht recht, worauf sie hinauswollte, also wartete er ab. Langsam schritt sie auf ihn zu
und schließlich waren sich ihre Körper keine zwei Halbfinger mehr entfernt. Ein unbehagliches
Gefühl überkam Alarion, als sie ihm mit dieser Mischung aus Verzweiflung, Traurigkeit und
Liebe in seine Augen blickte.
Liebe zu ihrem Sohn erkannte er.
„Werdet Ihr auf ihn aufpassen? Es gibt keinen besseren Menschen dafür.”
Er lächelte innerlich - war er doch ein Elf - erkannte aber, wie ernst es ihr war.
„Ja”, versicherte er ehrlich, „ich werde auf ihn aufpassen. Ich werde mich um ihn kümmern und
ihn beschützen; auch vor sich selbst, wenn es nötig ist.”
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, ein Lächeln der aufflammenden Freude und Hoffnung.
Trotzdem wich die Sorge nicht aus ihren Zügen.
„Ich danke Euch”, sagte sie und beugte sich vor. Alarions gesamter Körper verspannte sich dabei
und er erschrak beinahe, als sie ihn sanft auf die Wange küßte.
„Die Zwölfe seinen mit Euch, Alarion Wolfslied. Ihr werdet in meinen Gebeten sein.”
Damit drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Und jetzt war Alarion wirklich alleine im Park.
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Kapitel 3
E
s war nicht ganz ersichtlich, ob es Skepsis oder Neugierde war, die sich in den
Zügen Magister Irian Sturmfelses abzeichnete, als er zusammen mit Alix Zander und Alarion Wolfslied Chistophians großzügig ausgestattetes Arbeitszimmer betrat. Hier erhofften sie einige Details über die Mission zu erfahren, die mehr aussagen, als schönes Geschwafel eines berauschten Fürsten, der nichts sah, als den Erfolg dieser Unternehmung und den damit verbundenen Ruhm und die Vorteile für sein Land. Der Raum war weniger ein Zimmer als viel mehr ein kleiner Saal, dessen Wände und Decke mit teuren Tropenholzplanken verziert waren und dessen Teppich zweifelsfrei aus tulamidischer Handarbeit stammte. An den hohen Wänden standen Bücherregale aus Steineiche, in denen alte und überaus wertvolle Bücher in einer Menge standen, die der junge Christophian in seinem bisherigen Leben kaum alle gelesen haben konnte. Der Schreibtisch bot zahlreiche Schubfächer mit vergoldetem Schloß und auch der Polstersessel mit Schwarzbuchenholz entbehrte keinem Prunk. Ein Sternenfernrohr stand, von einer Plane vor Staub geschützt, neben dem Fenster und das kleine Astrolabium gehörte wohl auch zu den Dingen, die ein normaler Mensch in seinem ganzen Leben kaum bezahlen konnte. Dafür, daß die Götter ihm solchen Reichtum gönnten, so fand Irian, hielt der Organisator der Expedition aber ausgesprochen wenig Ordnung. Einzelne Papierblätter, beschrieben, zerknüllt, lagen wild verstreut auf Tisch und Boden, wertvolle Bücher waren achtlos auf zu Boden geworfen worden und lagen nicht selten angerissen, umgekrempelt oder gar zerbrochen herum. Das teure Holz des Schreibtisches hatte schon mehr als einmal ein umgefallenes Tintenfässchen zu „verarbeiten” gehabt und die Kratzer auf der Tischplatte stammten sicherlich von dem verschnörkelten Brieföffner. „Fühlt Euch wie zu Hause”, meinte Christophian und seine Begeisterung war allzu offensichtlich. Jetzt war er gerade wieder in seinem Element und konnte von seiner genialen Planung in diesem grandiosen Unternehmen erzählen! „Es wird für mich schwierig mich hier zu Hause zu fühlen, zumal selbst mein fünfjähriger Sohn mehr Ordnung hält...” Alix schmunzelte über Irians Kommentar und sah sich sogleich einmal die Bücher im Regal an. Alarion machte einen Satz über einen Stapel beschriebener Blätter und beäugte Christophian verwundert. Dabei fiel ihm ein präparierter Falke auf einem der Regale auf. Angewidert schüttelte er den Kopf. Es war so eine perverse Art der Menschen Tiere auszustopfen und sich ihres Anblicks zu erfreuen. Sie stellten Leichen in ihre Zimmer! Man sollte ihnen vielleicht einmal eine ausgestopfte Menschenleiche vor die Tür legen, dann würden sie gewiß kein Gefallen mehr daran finden... Der Organisator sortierte flink einige Notizzettel und rutschte die Frachtbücher zurecht. Das dauerte natürlich einen Moment. Einen Moment zu lange, wie der alte Magister fand, und diesen nutzte er gleich aus, um Christophian auf die Schlechtigkeit dessen Unordnung hinzuweisen. „Also, was habt ihr uns zu bieten?”, fragte er, um den armen jungen Mann in seinen Bemühungen auf der Suche nach irgend etwas anzutreiben.
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Alix hatte offenbar seine Inspektion der Bücher abgeschlossen. Alles geographische,
landeskundliche und weltliche Bücher, die einen Magier nicht so sehr anzogen wie welche über
Magiekunde.
Der Angesprochene unterbrach seine Bemühungen und zog sich ein Blatt heran. Er räusperte sich
und lächelte freudig.
„Wir haben drei völlig neue Schiffe, gebaut von der Werft Saordubh und finanziert vom Fürsten,
der Efferdkirche, dem Praiostempel und Gerad Ongswin, sowie diversen anderen Händlern, deren
Läden bevorzugte Konditionen in der neuen Kolonie erhalten werden. Die Schiffe sind von bester
Qualität und vollkommen hochseetüchtig.”
„Ich habe keine Ahnung von Schiffen”, warf Alix ein wenig unfreundlich ein, „erzählt uns etwas,
worunter wir uns was vorstellen können! Wie ist das Ausmaß der Expedition?”
Der junge Adlige überlegte einen Moment und begab sich dann (unter dem Augenrollern Irians)
auf Suche nach einem anderen Notizblatt ... nein, diesmal sogar ein Buch!
„Also wir haben da einmal die Havenas Stolz, unser Flaggschiff. Sie ist eine Schivone und ganze
einunddreißig Schritt lang, neun Schritt breit und faßt eine Besatzung von insgesamt knapp
zweihundert Seelen. Davon sind etwa fünfzig Matrosen um diesen Pott in Fahrt zu halten,
fünfzehn Krieger und fünfundzwanzig Schiffsschützen für die Bewaffnung. Diese besteht aus drei
500er Rotzen steuerbordwärts, bugwärts und backbordwärts ausgerichtet, sowie zwei leichte Aale
steuerbord- und backbordwärts. Der Rest der Besatzung sind Siedler, die Fracht sind
Nahrungsmittel und Grundrohstoffe.
Die Efferds Zorn habe ich für die militärische Sicherheit eingeplant, auch wenn Admiral Elwick
davon zweifellos über mehr Ahnung verfügt als ich. Wir bieten eine vierundzwanzig Schritt lange
und reichlich fünf Schritt breite Karavelle, bewaffnet mit vier 300er Rotzen, steuerbordwärts,
bugwärts, backbordwärts und achtern, sprich: rundherum!”
Christophian schien sich regelrecht in seine Erzählung hineinzusteigern. Mit immer mehr
Begeisterung erzählte er von der ausgezeichneten Bestückung der Efferds Zorn, die wohl noch
aus vier leichten Aalen, zwei Hornissen und vier schweren Aalen bestand, alle wohl ideal in
verschiedene Richtungen ausgerichtet. Diese Richtungen gehörten allerdings zu den Dingen von
seiner Erzählung, die sich keiner der Anwesenden merkte.
„Rechnet ihr denn mit militärischen Auseinandersetzungen?”, wollte Alarion ein wenig naiv
wissen.
Der Organisator sah einen Moment auf und meinte dann kurz: „Nicht direkt. Aber wir müssen
schon auf Sicherheit aus seien. Ich denke da an Piraten, Thorwaler und wer weiß schon, wer auf
dieser Insel vorzufinden ist?”
Der Halbelf nickte versonnen.
„Und zu guter Letzt die Fürstes Gold, das Kernstück unserer Besiedlungsplanung.
Zweihundertundfünfundachzig Männer und Frauen sind dort untergebracht, aber der Kahn ist
auch wirklich groß! Dreißigeinhalb Schritt lang und zwölfeinhalb Schritt breit, dafür auch mit
einem mordsmäßigen Tiefgang. Aber dafür besitzt sie auch ordentlich Ladefläche für Werkzeuge
und Baumaterialien.”
Er schaute auf und wartete auf rege Freude seitens der Zuhörer, diese blinzelten ihm aber eher
skeptisch entgegen.
„Wieviel Seelen fahren da nun insgesamt mit?”, erkundigte sich Alarion.
„Rund sechshundertundzwanzig”, antwortete Irian.
Der Halbelf war sichtlich erstaunt. „Blickst du etwa durch seine Aufzeichnungen durch?” Er
zeigte auf die wirren Notizen, die der Organisator in den Händen hielt.
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Der Magister schüttelte den Kopf. „Mitgerechnet!” Magier! dachte er sich. „Das ist aber eine umfangreiche Expedition”, stellte Alix fest, „Was ist mit der Problematik von Efferd und dem Güldenland?” Es klopfte an der Tür. Mit einem „Herein” würgte Christophian die Frage des Tuzaker Magisters ab. Das auffälligste an dem Mann, der nun eintrat, war zweifellos sein stolzer, aufrechter Gang und die Narbe, die ihm von der linken Geheimratsecke über die Augenbraue bis an die Nase reichte und dabei dem Auge bedenklich nahe kam. Er konnte den Zwölfen danken, daß diese Kriegsverletzung ihn nicht das Augenlicht gekostet hatte. Er trug einen teuren Plattenharnisch, der mit blau und weiß die Loyalität zu Albernia aufzeigen sollte, Streifenschurz und an der Seite in einer ebenfalls blauen Schwertscheide ein Barbarenschwert, was irgendwie zu seiner wilden Natur paßte. Zwei Orden und diverse Rangabzeichen schmückten seine Brust und er gehörte vermutlich zu den Streitkräften Havenas. Trotz aller Kriegerhaftigkeit lächelte er freundlich und in Christophians fröhlichen Zügen konnte man auch lesen, daß sich die beiden bereits gut kannten. „Efferd zum Gruße, Growin! Meine Herren, das ist Hauptmann Growin Cann Cor, meine direkte Kontaktperson zur Armee und unglaubliche Unterstützung bei dem Unterfangen.” Der Soldat schloß die Tür hinter sich und trat zu den vier Anwesenden. „Rondra und Efferd zum Gruße! Ich bin sozusagen derjenige, der all das durchsetzt, was sich Christo so ausgesponnen hat.” Es klang freundlich, nicht herablassend oder nicht anerkennend; offenbar waren die beiden so etwas wie Freunde. „Das sind Magister Irian Sturmfels, Magister Alix Zander und Alarion, der Meisterschütze”, stellte der Planer seine Gäste vor, „wir unterhalten uns gerade über die Expedition.” Growin nickte. „Zweifellos ein geniales und herausragendes Unterfangen! Ich bin stolz darauf bei der Vorbereitung eines solchen historischen Ereignisses behilflich seien zu dürfen.” „Ihr fahrt nicht mit?”, wollte Alarion wissen. „Nein”, entgegnete der Soldat kopfschüttelnd, „das militärische Potential ist mehr als gering und ich habe eben das Los nicht gezogen.” Sicherlich wurde in der Armee befohlen, wer mitfuhr - da Fürst Cuanu auch auf ein gewisses Maß Geheimhaltung erpicht war - aber es war gut möglich, daß unter den Offizieren tatsächlich ausgelost worden war. Der ältere Magister musterte den Neuankömmling von oben bis unten. „Kennen wir uns?” Offenbar hatte er ein Thema angeschnitten, was dem Hauptmann unwohl war, aber dieser konnte sich beherrschen. „Nicht persönlich, vermutlich kennt ihr meinen Vater.” Alix und Alarion sahen Irian verwundert an. Sie assoziierten mit Growin Cann Cor überhaupt nichts. „Arnfried Cann Cor, der Meuchler!” Jetzt verstanden die beiden auch, was den anderen Magister störte. Ein wenig geschockt sahen sie sich den Hauptmann an. Dieser nickte betroffen. „Ja. Ich schäme mich zutiefst für meinen Vater, aber leider kann man sich seine Eltern nicht aussuchen. Und ich bin ein treuer Anhänger Rondras und ehrenvoller Krieger, also bitte ich euch meine Familienverhältnisse nicht Vorwand unbegründeter Antipathien oder Mißtrauens zu sein.” Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann meinte Alix: „Ich habe einmal von einer Studie gehört, daß Kinder krimineller Eltern oftmals auch...” 22
„Ich denke, daß das in diesem Fall ausgeschlossen ist”, mischte sich Christo energisch ein. Der Magister öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, aber Growin war schneller: „Ich persönlich habe meinen Vater zur Strecke gebracht!” Erneut herrschte Schweigen. Aber diesmal ein betroffenes, mitleidendes. Die Magister suchten nach Worten, aber der Hauptmann unterband mit einem Kopfschütteln jeglichen Versuch der Entschuldigung. „Das ist Vergangenheit. Und wir arbeiten jetzt an einer glorreichen Zukunft, also laßt uns gemeinsam für ein goldenes Havena und eine wissenschaftliche und kulturelle Blüte Aventuriens streiten!” Damit bot er den dreien die Handfläche und sogleich schlugen drei Hände zusammen, um Frieden, Einheit und vielleicht sogar Freundschaft zu besiegeln; und das mit einem Mann, dessen Vater einst einer der gefürchtetsten Gesetzlosen Aventuriens war und den sie vielleicht nun gerade das letzte Mal ihn ihrem Leben sahen. Wenn er nicht mit zur Insel fuhr, war es unwahrscheinlich, daß er ihnen jemals wieder über den Weg laufen würde. Jedenfalls empfanden die drei Gäste eine tiefe Schuld, Growin Unrecht getan zu haben, und dies war für sie die beste Möglichkeit, das auszudrücken... Die Frühlingssonne strahlte unbehindert durch die Wolken hinab auf das Land. Beinahe wie ihr zukünftiger Ruhm leuchteten die Straßen der großen Hauptstadt und ließ sie prunkvoller erscheinen als sie eigentlich wirklich war. Das spielte wenig eine Rolle, denn alle Menschen in Havena, die vom fürstlichen Vorhaben eingeweiht waren, sahen ihre Heimat schon in neuem Aufschwung und auf einem neuen geschichtlichen Höhepunkt. Auch wenn die Informationsversorgung für das gemeine Volk auf Gerüchten über die große Fahrt basierte, ahnten viele dieses und das war nur zum Vorteil für ihren Regenten Cuanu ui Bennain. Die Albernier waren ein freiheitsliebendes Volk und mochten es recht wenig, indirekt vom Kaiserhof in Gareth regiert zu werden. Zwar war der Fürst dem Reich und Kaiser Hal treu ergeben und beabsichtigte keinen neuen Unabhängigkeitskrieg wie vor dreihundert Jahren, aber es schadete nichts, das Volk in diesem Irrglauben zu lassen. Und die Vorbereitungen auf die Expedition liefen auf Hochtouren. Praios sollte nur noch wenige Male auf- und untergehen, bis die drei mächtigen Hochseeschiffe in See stachen, dem Horizont der Freiheit und des Erfolges entgegen. Emsig waren Hafenarbeiter, Tagelöhner und Bedienstete des Königshauses damit beschäftigt, die Ladungen in die Bäuche der Havenas Stolz, Efferds Zorn und Fürstes Gold. Gerade die mächtige Karracke mit ihren drei mächtigen Masten und dem dicken Bauch schien eine unendliche Kapazität zu haben. Ständig trugen Menschen Kisten, Fässer und Säcke hinein und immer wieder kamen sie sogleich wieder heraus und schafften neue Ladung heran. Es waren einige Lagerhallen des Südhafens extra für diese halbe Güldenlandfahrt vom König wieder in Stand gesetzt worden lassen, so daß es ideal möglich war, die Schiffe zu beladen. In dieser Hinsicht blühte der alte Hafen wieder auf, der seit geraumer Zeit wenig ausgelastet war. Ja, Havenas Wirtschaft mußte in diesem Moment einen gehörigen Aufschwung erleben. Was erst für eine Blüte folgen würde, wenn man über Albernisches Territorium Güldenlandhandel abwickelte... Soweit die Expedition so funktionierte, wie sie wollten... Nachdenklich saß Magister Irian Sturmfels auf der Wiese am Bennaindamm und sog an seiner Meeresschaumpfeife. Ihn beschäftigte das geschäftige Treiben dort hinten weniger, er machte sich über dieses historische Ereignis in naher Zukunft Gedanken. Es würde immense Auswirkungen auf die aventurische Politik haben. Die Macht Havenas würde anwachsen und es war nur eine 23
Frage der Zeit, bis sich ein albernischer Herrscher entschloß sich erneut vom Reich loszusagen, wie damals vor dem Großen Beben. Und was hatte es zur Folge gehabt? Efferd hatte diese Stadt und das halbe Königreich dem Erdboden gleich gemacht. Gottlosigkeit, Raffgier und Unzucht in der Bevölkerung, wie in der Efferdkirche und den Fürstenhäusern waren die Ursache gewesen. Würde das vielleicht ein zweites Mal passieren? „Was meinte Alix vorhin mit Efferd und dem Güldenland?”, erkundigte sich Alarion, der neben ihm saß, den die vielen Menschen und ihre Tätigkeiten aber mehr faszinierten. Irian blies einen Rauchkringel in die Luft. „Das ist eine schwierige Geschichte. Laut der Überlieferung will Efferd nichts aus dem Güldenland nach Aventurien lassen. Deshalb müssen die Güldenlandfahrer ihre Schiffe auch sehr in Stand halten, weil sie sie dort nicht reparieren lassen können. Was Efferd nun konkret zu Havenas neusten Ideen meint, weiß niemand.” „Direkt ist es ja kein Verstoß dagegen”, überlegte der Halbelf laut. Irian schmunzelte. „Meinst du etwa, ein Gott wird mit sich um direkte und indirekte Verstöße verhandeln lassen? Die Albernier haben es sich schon einmal mit ihm verspielt gehabt.” Alarion überlegte. Er mochte ein Halbelf und gleichzeitig kein Anhänger der Zwölfe sein, aber auf seinen vielen Reisen hatte er erfahren, daß irgend etwas schon dranseien mußte, an ihrer Existenz. Deshalb nahm er die religiösen Erzählungen und Gedanken der Menschen ernster als so mancher anderer Elf. Sein Blick fiel auf zwei wenig elegant wirkende Transportschiffe, die an einem anderen Port beladen wurden. „Wie ist es damals geschehen?”, wollte er wissen. Der Magister klopfte seine Pfeife aus und blickte ebenfalls auf die beiden Frachter. „Efferd sandte drei Warnungen: Zuerst verkam der Fisch auf dem Markt, dann schwamm eine Gruppe toter Delphine in den Hafen und zu schlechter Letzt ließ er es von der See aus grollen.” „Das heißt ja, wir würden es möglicherweise vorher feststellen, wenn er uns zürnt. Dann könnten wir es vielleicht verhindern.” Irian nickte. „Im Prinzip hast du recht, aber glaubst du nicht, das hat damals auch jemand versucht?” Der Halbelf schwieg einen Moment. Dann sah er auf und bemerkte, wie der Magister intensiv auf die beiden Schiffe sah, die er eben eher unbewußt angeblickt hatte. Jetzt erkannte auch er, warum: Dort schienen sich einige Gardisten mit der Besatzung des Schiffes zu streiten. Wild gestikulierend brüllte ein dicklicher Mann von der Reling herunter und der Anführer der Garde drohte mit dem Schwerte. „Was ist denn da los?” Die Garde schien allerdings aufgrund ihrer Bewaffnung dann doch das letzte Wort zu haben. Noch während die Matrosen eifrig die Ladung, die noch auf dem Steg lag, zusammensuchten, wurden die Taue gelöst und beinahe überstürzt fuhren die beiden Schiffe aus dem Dock. Irian und Alarion, die das Schauspiel die ganze Zeit verfolgt hatten, wunderten sich zu Recht. Es sah beinahe so aus, als hätte die Garde diese beiden Kähne verjagt. Dabei mußte in Havena - trotz des momentanen Aufschwungs - doch jeder Händler willkommen sein. So gut stand es um die Hauptstadt Albernias doch auch nicht. Wenn man mal genau betrachtete, wie viele Lagerhäuser und Ladekräne hier unbenutzt standen und nur Obdach für Bettler, Gesetzlose, Ratten und Katzen boten, war es paradox, wie man überhaupt daran denken konnte, auch nur einen Handelskahn davonzujagen.
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„Haben die Albernier jetzt Höhenflüge?”, wunderte sich der Magister ernsthaft. Er erhob sich und sein Freund folgte ihm. Alix hätte jetzt sicher wieder einen Kommentar über „Hochmut wie im Lieblichen Feld” abgelassen, aber derartige Antipathien auszuleben gehörte - wie Irian meinte nicht in das Bild eines weisen Mannes. Sie schlenderten auf dem Bennaindamm entlang und verfolgten die beiden Schiffe noch einige Zeit mit den Augen, während diese nachdem sie das Delta durchquert hatten, die Segel setzten und gen Firun Kurs hielten. Irgendwann wandten sich die beiden Beobachter von den Schiffen ab, die ihnen solches Kopfzerbrechen bereiteten, und machten sich zurück auf den Weg in den Fürstenpalast. Prinz Harion ui Bennain war nicht allein in seinen Gemächern. Während er aufrecht vor dem körpergroßen goldenen Spiegel stand und seine blau-weiße Uniform mit dem Wappen der Bennains zurechtrückte, bewegte sich im Hintergrund, bei seinem Bett, eine andere Person. Es war Sysia. Sie war gerade fünfzehn Götterläufe alt und arbeitete als Bedienstete im Palast. Auffällig war, daß sie nicht selten gerade sich um Harions Wohlergehen sorgte, in fast jeder Hinsicht, ein Umstand, der am Hofe mittlerweile kein großes Aufsehen mehr erregte. Gerade war sie damit beschäftigt ihr Kleid wieder anzuziehen und sie bemühte sich, es möglichst glatt zu streichen. Sie war offensichtlich etwas erschöpft und auch der Prinz hatte eine leichte Rötung im Gesicht, die aber, da er sich soeben gewaschen hatte, weniger auffiel, als bei der Bediensteten. „Du fährst also ins Güldenland”, meinte sie schwelgerisch. Der Prinz nickte knapp und friemelte an einem Orden herum. Sysia schlüpfte in ihre Schuhe und tappelte zu ihm herüber, um ihn von hinten aus im Spiegel zu betrachten. „Du siehst gut aus”, meinte sie und lächelte glücklich. Er nickte wieder und sein Lächeln wirkte eher etwas gezwungen. „Ich werde Albernia zu neuem Ruhm führen! Immerhin wird es irgendwann einmal mein Reich sein und dann werden wir so mächtig sein, daß selbst Kaiser Hal uns nicht mehr unterdrücken kann!” Traurig blickte das Mädchen an ihm vorbei. Sie kam aus bürgerlichem Hause und sie interessierten die politischen Probleme und Machenschaften der gehobeneren Schicht nicht. Ihre Gedanken gingen in eine ganz andere Richtung. „Aber du bist so lange weg!” Harion drehte sich um und küßte Sysia auf die Stirn. Er faßte sie an den Schultern und sagte: „Ach was! Bald werde ich wieder da sein und dann werde ich dich wieder von deiner Arbeit im Palast abhalten.” Sie nickte wissend und biß sich auf die Unterlippe. „Darauf freue ich mich schon.” Der Prinz küßte sie kurz und ging dann ans Fenster, um hinab auf die Gartenanlage zu werfen, die der Palast seiner Mutter zu verdanken hatte. Ein Blitz durchfuhr ihn, als er dort unten die beiden Personen sah, die ihn zusammen doch immer so störten! Es waren dieser eine Magister, der jüngere (er erinnerte sich an seinen Namen nicht mehr), und diese atemberaubende Elfe, deren Fach wohl auch die Magie war. Fiana Eichenblatt war ihr Name; den hatte sich Harion gemerkt! Ein solche wunderbarer Name, wie ihn nur die Elfen trugen, kombiniert mit diesem natürlichen Klang des zweiten. Ja, sie versprühte trotz ihrer Tätigkeit als Gelehrte so einen zarten Hauch Natur. Harion stellte sich sich selbst und sie ganz allein auf einer zauberhaften Lichtung in einem Elfenwald vor... 25
Oh, diese Figur! Fiana hatte alles, was eine Frau nur haben konnte und das so offensichtlich perfekt ausgeprägt, daß es einen Mann schon beim ersten Anblick wahnsinnig machen konnte. Und wenn sie sich bewegte, so leichtfüßig, als würde sie schweben, dann bewegte sich ihr ganzer Körper mit einer fließenden Grazie... Harion wollte sie. Er wollte diese Frau und er wollte sie schnell. Nur leider dürfte das schnell nicht so einfach werden. Und da war ja dieser verfluchte Magier - ach, der war doch viel zu alt für sie! So eine Frau brauchte einen jungen, vitalen Mann, so wie ihn, Harion ui Bennain! Was sollte sie mit so einem verloren Denker wie diesem dort unten? Alix wandte sich dieser bestimmten Blume neben ihm zu, deren farbige Blüte ungefähr ein Dutzend mit goldenem Blütenstaub glitzernde Staubblätter enthielt und deren violetter Stempel ausgesprochen kunstvoll gewachsen war - beinahe wie von der Hand eines Künstlers geschaffen und nicht wie aus der Natur. Er pflückte die Blüte und reichte sie Fiana. „Seht ihr, daß ist eine Sinodalilie. Es wundert mich, daß die Fürstin sie in ihrem Garten hat, ist sie doch selbst auf Maraskan selten. Ich habe in meiner Zeit dort vielleicht viermal eine gesehen.” Die Elfe nahm die Blüte und schnupperte daran. Der süßliche Duft löste ein wohliges Gefühl in ihr aus und sie sah den Magister lächelnd denkend an. Dieser schlenderte währenddessen schon langsam weiter und erst als er schon drei Schritte entfernt war, riß sie sich von ihren Gedanken los und folgte ihm. „... und das vierte Mal, als ich sie sah, war im Hafen von Tuzak, als ich mich auf den Heimweg ins Mittelreich machte.” Sie hatte überhaupt nicht wahrgenommen, was er zuvor gesagt hatte, zu sehr hatten diese Blüte und ihre Gedanken beschäftigt. Sie hielt sie ganz fest, als würde ihr Leben von der Existenz dieser Blume abhängen. „Wo kommt ihr wirklich her?” „Aus Andergast. Meine Eltern starben früh, so zog ich zu meinem Onkel in Greifenfurt. Ein Magier entdeckte schließlich die Gabe bei mir und er verschleppte mich mit sechs Jahren nach Tuzak. Im Prinzip bin ich mehr Maraskaner als Mittelländer.” Fiana folgte Alix und lauschte seiner Erzählung, wobei sie unbewußt immer noch mit der Blüte spielte... Harion ui Bennain tobte innerlich vor Wut. Während er hier oben mit einer unbedeutenden Dienerin Rahja gefrönt hatte, schenkte dieser Magier dieser umwerfenden Frau schon Blumen! Der Prinz wußte schon, warum er Zauberer nicht leiden konnte. Bei Fiana würde er eine Ausnahme machen. Ob Magierinnen sich ihrer Magie auch im Bett bedienten? Das müßte man mal herausfinden! Innerlich fluchte Harion. Aber warum regte er sich eigentlich auf? Er war ein Prinz und zwar der Sohn des albernischen Fürsten, der diese Fahrt gen Güldenland angeordnet hatte und dieser Magier war nichts als ein simpler Gelehrter! Er würde schon noch klären, wer hier das Sagen hatte. Immerhin hatte er ja die ganze Reise lang Zeit. Er lächelte siegessicher, dreht sich um sah Sysia hinter sich, die ebenfalls gerade einen Blick aus dem Fenster erhaschen wollte. Doch jetzt, wo ihr Geliebter sich zu ihr umgewandt hatte, gab es wichtigeres als einen Blick aus dem Fenster. Sie schmiegte sich an ihn und lächelte glücklich. „Bringst du mir was mit aus der neuen Welt?” Harion nickte und lächelte. „Sicher. Ich werde den schönsten Edelstein für dich mitbringen, den wir dort finden werden.” „Gibt es denn dort überhaupt Edelsteine?” 26
„Ganze Felder”, versicherte er.
„Wirklich?”, sie sah ihm überrascht in die Augen.
Er nickte und lächelte zärtlich. Dann drückte er sie wieder an sich, wodurch der Augenkontakt
unterbrach.
„Liebst du mich?”, fragte sie.
„Aber natürlich liebe ich dich”, erwiderte der Prinz; mit den Gedanken bei Fiana.
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Kapitel 4
G
rowin war einer der wenigen Offiziere, die in einer von Albernias Kasernen
lebten und kein Haus besaßen. Für ihn war es nie notwendig gewesen. In den Anfangsjahren
seiner militärischen Karriere hatte er wie jeder Soldat hier seine Lebens- und Ruhestätte gehabt
und für ihn kam auch später nie etwas in Frage, auch wenn sein Sold ausreichend genug war, um
sich eine Unterkunft in der Stadt zu leisten. Wie auch?
Sein Vater war tot - durch Growins eigene Hand, seine Mutter kannte er nicht und Geschwister
besaß er keine. Auch hatte er weder Frau noch Kinder, also warum sollte er nicht bei den
Kameraden bleiben? Immerhin war das unterhaltsamer als einsam in einem Haus zu wohnen.
Sein Rang als Offizier brachte den Vorteil mit sich, daß seine Unterkunft großzügiger und
privater war als die der Mannschaften und Unteroffiziere. Aber er nutze diesen Vorzug wenig.
Growin war stets ein praktischer Mensch gewesen, der für Schmuck und Prunk nicht zu haben
war. So bestand die Ausstattung auch nur aus dem Wesentlichsten: Ein Bett, ein Schrank, ein
Tisch, zwei Stühle und ein Regal an der Wand.
Wenn man bedachte, daß er immer hier lebte, fragte man sich, wieso er es sich nicht gemütlicher
gemacht hatte. Immerhin dürfte jemand, der hier das erste Mal einen Blick hinein warf denken, er
sei beim Umräumen oder würde bald ausziehen.
„Du hast einen absonderlichen Namen”, meinte der Fremde mit freundlicher, seltsam anmutender
Stimme. Growin war sich nicht über Raum und Zeit im klaren, er nahm nur diesen Mann, mit der
hellbraunen Haut, der seltsam platten Knollnase, dem grauen, gelockten Bart und seinen
boronschwarzen Augen wahr.
„Growin”, meinte er und der Fremde nickte. Er hatte ihn noch nie gesehen, aber irgendwie
fürchtete er sich nicht vor ihm oder mißtraute dem anderen.
„Ich bin Papa Abogali”, stellte sich der Alte vor.
Growin war leicht schwummrig zu Mute und das Bild vor seinen Augen verschwamm.
„Kennen wir uns?”, wollte er wissen.
Papa nickte.
„Ich habe Euch aber noch nie gesehen”, beteuerte der Hauptmann.
„Das wirst du aber noch”, versicherte der Farbige.
Der Soldat wunderte sich. „Aber dann kenne ich euch jetzt noch nicht...”
Er war sich der Bedeutung seiner eigenen Worte nicht ganz bewußt. Kurzzeitig wechselte er in
eine externe Betrachterperspektive, kehrte dann aber wieder in seinen Körper zurück, der
symmetrisch zu dem des Fremden in der selben Haltung saß: Aufrecht und mit gekreuzten
Beinen.
„Zeit spielt keine Rolle”, garantierte der Fremde weise lächelnd.
Irgendwie kam Growin die Expedition des Fürsten in den Sinn. Hatte Papa Abogali vielleicht
etwas damit zu tun?
„Wann werde ich Euch treffen?”
„Du wirst von Himmel herabsteigen; mit Kanus mit Flügeln. Ich habe dich bereits gesehen.”
Dieses Gerede über Satinavs Dinge verwirrte den Hauptmann allmählich. Und selbst wenn der
Fremde recht hatte, wie konnte er ihn gesehen haben?
„Ich muß Euch leider enttäuschen, aber ich werde nicht mitfahren...”
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Mit einem Mal war ihm, als packten ihn zwei Arme und rissen ihn aus einer angenehmen Umgebung zurück in die sich irgendwie grob und unschön anfühlende Realität. Es war das Zuschlagen seiner Tür und es dauerte einen Moment, bis er sich klar war, daß er auf seinem zerwühlten Bett lag und sich in der Kaserne befand. Erst nach einigen Momenten fiel ihm der Mann auf, der in seinem Zimmer stand und sich scheinbar interessiert umblickte. „Na, Growin. Unruhiger Schlaf, was? Das kommt davon, daß ihr kein Weib habt!” „Admiral?!” Tatsächlich. Es war Admiral Elwick Roggunder. Er kannte ihn gut und wußte, daß er, wenn er jetzt aufsprang und einen militärischen Gruß ausführte, würde er bei diesem Mann nur Mißbilligung ernten. Nicht in solchen Situationen bei dem Admiral! Hier wollte er seine Kumpelhaftigkeit unter den Männern bestätigt sehen. Roggunder ließ sich auf einem der Stühle nieder und ließ seinen Blick langsam durch das Zimmer schweifen. „Etwas mehr Dekoration wäre aber auch nicht schlecht, oder?” Growin setzte sich auf und rieb sich den Kopf. Er begann seine Stiefel anzuziehen. „Was soll ich mit Zierrat? Er nimmt nur Platz weg und verstaubt.” Elwick lachte auf. „So kenne ich Euch. Ein Wunder, daß ihr mit Christophian klarkamt, der doch Zierrat über alles liebt.” Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. „Befehl ist Befehl. Und wenn ich mit dem örtlichen Rahjageweihten zusammenarbeiten soll, so lange es ein Befehl ist, werde ich mich darüber nicht beschweren.” Der Admiral lächelte. Über Rahjageweihte machten Soldaten gerne Witze, weil diese ihrer Ansicht nach das völlige Gegenteil von ihnen, den echten, rauhbeinigen Kämpfern, darstellten. „Außerdem ist Christo eine angenehme Persönlichkeit”, ergänzte Growin, „Er hat Ideen und Innovation. Man sollte ihn für die Armee engagieren.” „Es freut mich, daß ihr mit ihm gut klarkamt. Ich wußte schon, warum ich ihn euch anvertraut habe. Ihr habt Stil, ihr seid zuverlässig. Seid ihr eigentlich enttäuscht darüber, daß ihr nicht mitfahren dürft?” Was wollte der Admiral eigentlich von ihm? Ihn trösten, weil er nicht das richtige Zündholz gezogen hatte? Aber was spielte es schon für eine Rolle? Growin war Hauptmann und Elwick Admiral. Also konnte dieser fragen und er würde antworten, ganz gleich, worum es ging. „Es ist die größte Ehre, die ein Mann haben kann, aber allein die Ehre bei der Organisation ausführende Kraft gewesen zu sein, erfüllt mein Gemüt mit Stolz, auf das ich all den Kameraden in der neuen Welt ihre Position und Erfolge gönne.” Elwick schüttelte lächelnd den Kopf. Hauptmann und so dumm! Aber was sollte es. Auf solchen Leuten baute die Armee auf und solche Leute waren es, denen er seine absolute Befehlsgewalt zu verdanken hatte. Patriotismus, Loyalität und bedingungsloser Gehorsam waren drei Dinge, die ein funktionierendes Befehlssystem ausmachten. Er hatte es. „Ich muß Euch enttäuschen”, meinte er und stand auf, um im Zimmer auf und ab zu spazieren, „aber ihr wißt zuviel und man hat beschlossen Euch zu liquidieren.” Er blieb stehen und wartete Growins Reaktion ab, der auf dem Bett sitzend, langsam ungläubig den Kopf erhob. Der Admiral lachte schallend auf, ging zu dem Hauptmann und schlug ihm auf die Schulter. „Sagt bloß, ihr habt es geglaubt?” Keine Antwort. „Erinnert ihr euch an die Kriegstaube?”, wechselte Elwick rasch das Thema.
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Growin nickte. „Mit diesem Schiff vernichteten wir einst die Piraten von Kellun. Ihr wart noch Kapitän und ich Leutnant. Wir haben sie geentert und besiegt.” Daß Elwick damals die Tötung der überlebenden Piraten angeordnet hatte, nachdem diese bereits kapituliert und ihre Waffen übergeben hatten, erwähnte er nicht. Es war ein Befehl gewesen, vertröstete er sich, er hatte keine Schuld und Roggunder hatte im Sinne Albernias gehandelt. „Wir laufen wieder aus!”, meinte der Admiral freudig. Growin musterte ihn - immer noch ruhig, ohne ähnliche begeisterte Züge. „Wurde sie nicht vor vier Götterläufen außer Dienst gestellt?” Elwick nickte. „Jawohl, aber jüngste Umstände erfordern eine höhere militärische Präsenz während der Expedition. Der Fürst hat mich persönlich beauftragt und die besten Schiffszimmermänner arbeiten zur Praios- wie zur Phexensstund an ihr. Allerdings heißt sie nicht mehr Kriegstaube, sondern Harion Ui Bennain.” „Nach dem Prinzen”, stellte der Hauptmann trocken fest. Elwick setzte sich wieder auf den Stuhl. „Wir haben einhundertundzwanzig Krieger, die wir gleichzeitig auch als Ruderer einsetzen, aus Marine und Landstreitkräften rekrutiert. Achtundzwanzig ausgesuchte Gefechtsschützen bedienen vier Rotzen und vier Böcke und wir haben neben einer Menge Waffen auch Gestelle mit, die unsere Schiffsgeschütze auch landtauglich machen. Eine richtige kleine Armee sozusagen.” Ihn schien das sehr zu erfreuen. Auch wenn er aus dem Alter heraus war, in dem er wie Christophian euphorisch herumsprang, befriedigte ihn seine neue Macht wohl sehr und er brachte es auch durch die Schwingungen in seiner Stimme zum Ausdruck. „Ich soll mit?”, erkannte Growin sehr richtig. „Ich brauche Männer wie Euch. Männer auf die Verlaß ist. Packt Eure Sachen, ihr werdet dieses Gebäude die nächsten Wochen nicht wiedersehen.” Der Hauptmann nickte befehlsgewohnt. Die Abfahrt war für morgen vorgesehen, was ihm nicht mehr viel Zeit auf dem Festland ließ. Der Admiral erhob sich und klopfte dem alten Kameraden erneut auf die Schulter. „Und tut mir den Gefallen und bindet nicht jedem auf die Nase, daß es die einstige Kriegstaube ist.” Diese Aufforderung wunderte Growin wenig. Als das Schiff vor vier Götterläufen außer Dienst gestellt wurde war dies nur der Fall, weil Schiffszimmermänner erhebliche Materialschäden festgestellt hatten, die eigentlich als weitestgehend irreparabel galten. Es gab wohl mehrere Beinahe-Lecks und einige Unstimmigkeiten in der Gewichtsverteilung. Er kannte jemanden in der Werft und daher wußte er es. Damals hatten sie noch gemeinsam eine Ziehung gemacht und der Bekannte hatte Growin gesagt, daß es mehr Phexens Hand als Efferds war, die ihn sicher nach Hause gebracht hatte. Damals, nach der Geschichte mit den Piraten... Elwick drehte sich um und verließ den Soldaten, der sogleich die wichtigsten Dinge einzupacken begann.
Es war schon eine seltsame Stimmung an diesem letzten Abend auf dem festen Boden der heiligen Mutter Sumu. Was uns bevorstand zählte zu den Dingen, von denen ein Bauernjunge nur träumte, für die Halbwüchsige - fast noch Kinder - ihren Eltern davonliefen, um Abenteuer zu erleben, reich zu werden und berühmt in den Liedern der Barden. Der Ruhm eines Mannes, so sagte mein Großvater immer, kann ihn heute vergessen machen oder aber seinen Namen unsterblich in ferne Generationen vorantragen. 30
Mir selbst lag es nie so sehr am Ruhm. Ich war eigentlich immer froh, wenn ich meine Ruhe von vornehmen Adelshöfen oder heldenhaften Rittern hatte. Auch die Erkundung der neuen Welt reizte mich mehr aufgrund meiner Neugier als wegen des Auftauchens meines Namens in den albernischen Chroniken. Nun, ich bin nunmal kein Krieger (auch wenn manche Freunde es von mir behaupten) und so sehr ich auch die Herrin Rondra schätze, so schwer tue ich mich mit der Würde, den Ruhm oder dem heldenhaften Tod im Kampf. Aber das ist eine andere Geschichte. An jenem Abend jedenfalls, so mag der Leser vielleicht erwarten, rannten wir alle vor Aufregung alle paar Herzschläge zum stillen Örtchen. Nein. Es war seltsam, aber irgendwie war niemand von allen, denen ich begegnete wirklich aufgeregt; seien es die weisen Magier oder der Elf, der Admiral oder der Thorwaler. Bloß der junge Christophian - und ja, ich glaube gern, daß des Magisters Sohn auch der Selbstbeherrschung mehr besaß - war aufgeregt als erwarte ihn am nächsten Morgen Rahja persönlich, um ihn in die ... entsprechenden Dinge einzuführen. Jedenfalls ging sein ununterbrochenes Gerede allen ziemlich auf die Nerven, so, daß viele es vorzogen, den Abend allein oder in beliebterer Gesellschaft zu verbringen. Schließlich wollten wir diese letzte Nacht alle in guter Erinnerung behalten, würden die folgenden doch deutlich wäßriger und unruhiger ausfallen... Ein letzter Schimmer von Praios großzügigem Licht glitzerte in weiter Ferne draußen auf dem Ozean. Die rötliche Färbung der Wellen leuchtete, als läge dort draußen auf den Wellen ein Film von Rubinen, die durch das ständige Auf- und Abbewegen immer neue Lichtstrahlen einfingen und tausendmal in verschiedenste Richtungen zurückwarfen. Und als würden sie von der Weltenscheibe fallen und zeitgleich dem Lande das Licht entreißen, wurden es Minute um Minute weniger. Lange hatten die Menschen nicht mehr einen solch prächtigen Untergang gesehen und sie genossen ihn - zumindest alle, die ein Auge für solche Naturfreuden hatten und noch nicht so lange an der See wohnten, daß sie sich an diesen Anblick ganz und gar gewöhnt hatten. Adepta Fiana Eichenblatt und Magister Alix Zander hatten vom Efferdplatz im Fischerort Havenas einen guten Platz. Sie saßen auf einem Hügel neben der Stadtmauer und ihre Blicke lagen bedächtig auf dem prachtvollen Sonnenuntergang. Bis der letzte, auch nur noch zu erahnende Schimmer, völlig verschwunden war, hielten sie an diesem alltäglichen Schauspiel fest, ohne ein Wort zu sagen. Dann senke Alix langsam den Kopf und meine: „Tschüss, Praios! Morgen sehen wir uns wieder.” Fiana lächelte über den Magister. Er war schon ein faszinierender Mensch. Und er redete so selbstverständlich mit einem Gott wie mit den Menschen. Viele andere, vor allem vom gewöhnlichen Volke, hatten viel zuviel Respekt und Angst, dieser könnte das als Beleidigung oder Witz ansehen... nun, vielleicht war es ja einer... „Das war also der letzte Sonnenuntergang bei dem der Boden unter unseren Füßen nicht wackelt”, stellte die Elfe mit zauberhafter Stimme fest. Alix bekam unwillkürlich eine Gänsehaut. Ob es von dem leichten Nachtwind war, der ihn am Rücken streifte, oder von Fianas samtiger Stimme, war ihm nicht klar. Er sprang auf, wobei seine Begleiterin erschreckt zusammenzuckte. „Zumindest bei dem wir die Bewegung von dem, auf dem wir stehen, nicht merken”, ergänzte er und erntete einen fragenden Blick der Magierin, die noch immer im Gras kniete. Er reichte ihr die Hand. Sie lächelte zu der Geste, ergriff sie aber wortlos und erhob sich elegant. Mit einem Nicken deutete Alix zurück in Richtung Stadt und sie schritten langsam den kleinen Hügel herab, zu dessen Fuß das große Haus, an dem das Schild mit der Schrift 31
S EGELMACHEREI SCANLAIL TEIDHIR SEGELMACHEREI TEIDHIR prangerte, stand. Was die Örtlichkeiten doch so für grundlegende Verschiedenheiten aufzeigen konnten, wunderte sie sich. Segelmacher. Diesen Beruf hatte sie sich nicht im entferntesten ausdenken können; im Inland brauchte man sie ja auch nicht. Aber hier an der Küste waren sie selbstverständlich und nicht selten. „Ich meine, wer weiß schon, wie fest Aventurien wirklich ist?”, riß Alix sie aus den Gedanken. Worum ging es noch mal? Ach ja, die Beweglichkeit des Untergrundes auf dem man aufwacht. Fiana lächelte unwillkürlich. „Ihr zweifelt an der Standhaftigkeit von Sumus Leib?” „Oh nein”, lachte Alix und hob gespielt schützend die Hände, „das meine ich nicht. Gehören die Meere nicht auch zu Sumu? Ist das Güldenland nicht ebenfalls eine Landmasse? Sie liegt auch auf Dere, aber die Welt selbst ist größer als nur ein Kontinent. Das ist eines der größten Mißverständnisse: Sumu ist nicht nur Aventurien. Was ich aber eigentlich sagen wollte ist, daß es im Efferdglauben auch Ansichten gibt, die Landmassen würden auf Seinem Element schwimmen.” Sie erreichten den Efferdplatz und passierten einige ältere Fischerhäuser. Rechts von ihnen ragte der Efferdtempel, eines der ältesten Gebäude in ganz Aventurien. Der Magister hielt inne, um das Gotteshaus etwas genauer zu betrachten. Auch Fiana blieb stehen, in Gedanken über Alix’ Aussage. „Wie steht ihr zu Efferd?”, wollte der Magister nach einigen gedankenversunkenen Herzschlägen wissen. Diese Frage überraschte Fiana. Zwar paßte sie ungefähr ins Thema, aber sie hatte nicht mit einem solchen von locker-plaudernd in ernsthaft-nachdenklich umschwingenden Themenwechsel gerechnet. Sie las mehr aus seiner Stimme als nur die Frage und die Tatsache, daß er zu grübeln schien. Besorgnis und vielleicht sogar Angst schienen in der Stimme des jungen Magisters zu schlummern, den sie bis jetzt nur locker und fröhlich oder abweisend und rebellisch gesehen hatte. „Nun ich mag zwar Elfe sein, aber ich bin in erster Linie Magierin. Ich diene den Zwölfen, hauptsächlich Hesinde.” Mit einer wedelnden Handbewegung schüttelte Alix den Kopf. „Ich zweifle nicht an eurer Loyalität zu den Zwölfen. Was ist mit Efferd?” Sie schwieg einen Moment und fixierte den Tempel. Das Bauwerk war uralt. Es befand sich auf einem einen halben Schritt hohen Marmorpodest, der den gesamten Tempel trug. Die prächtigen Verzierungen an den rund fünfundzwanzig langen und zwanzig Schritt breiten Mauern strahlten eine große Weisheit, ein Alter und eine Kühle aus, so daß ein jeder sogleich spürte, daß es kein gewöhnliches Gebäude war. Die beiden Delphine über dem Portal luden in eine Reise in längst vergangene Zeiten, in die Ewigkeit Efferds ein. „In Elenvina gab es einen Efferdtempel. Ich hatte nie mit Seefahrt und dem Meer zu tun.” Sie schwieg einen Moment. „Ich habe ihn nicht einmal betreten”, fügte sie etwas leiser hinzu. „Was für Erfahrungen machtet ihr mit Efferd?”, fragte sie schließlich. Alix drehte sich zu ihr herum und lächelte bitter. „Auf der Fahrt von Tuzak nach Khunchom kenterte das Schiff, mit dem ich fuhr. Wir lagen nicht mehr fern von der Küste, so konnte ich mich retten...” „Ihr scheint ein aufregendes Leben zu haben, Magister”, stellte die Elfe fest. Er zuckte mit den Achseln. „Danach suchte ich das erste Mal in meinem Leben einen Efferdtempel auf. Seither nie wieder...” Er verfiel wieder in grübelndes Schweigen.
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Er zuckte unbewußt, als Fiana ihn sanft am Arm griff und auf das heilige Gebäude zuzog. „Wir können das Versäumte nicht nachholen. Es liegt in der Natur unseres Geistes, daß wir die Wichtigkeit der Dinge erst erkennen, wenn sie uns fehlen oder wenn es bald zu spät ist.” Alix nickte. „Ich war nie ein sonderlich göttergefälliger Mensch. Ums genau zu sagen bin ich Anhänger der Magierphilosophen...” Er klang so seltsam, so hilflos. Fürchtete er sich vor den Göttern? Fiana lächelte warm. „Das schließt aber den Glauben und das Vertrauen in die Zwölfe nicht aus.” Der Magister nickte schnell. „Ja, schon ... aber ich möchte nicht, daß es so aussieht, als wollte ich mich bei Ihm einkratzen...” Er nickte in Richtung des Tempels des Meeresgottes. Die Elfe mußte lachen, ihm war aber nicht dazu zu Mute. Ein wenig war er wie ein kleines Kind, der Magister Alix Zander. Sah er die Götter denn wirklich wie Menschen? Auch vorhin dieses naive Verabschieden Praios, war es wirklich nur gespielt gewesen? „Es sind Götter, Alix.” Sie nannte ihn zum ersten Mal beim Vornamen. Richtig bewußt war ihr das nicht, ihr war nur klar, daß er offenbar ein seltsam gestörtes Verhältnis mit den Zwölfen hatte, welches ihm jetzt vor dieser gefahrvollen Reise, wo man lieber noch einmal seine Gebete zu ihnen sandte, bewußt wurde. „Götter! Sie wissen alles was du denkst. Und wenn du ihnen deine Gefühle, deine Lage und deine Probleme tausendmal mit Worten beschreibst, so haben sie es schon beim ersten begriffen.” Ein wenig verwirrt warf er ihr einen immer noch unsicheren Blick zu. „Aber dann brauche ich es ja gar nicht erzählen...” „Darum geht es nicht! Allein die Bereitschaft mit ihnen deine Geheimnisse und Probleme zu teilen ist Ausdruck deines Vertrauens in sie. Und wenn du kein Namenloser oder Ketzer bist, so werden sie dich verstehen, dir glauben und dir helfen. Vertrau mir!” Der Magister schüttelte sich. Es war schon ungewöhnlich: Da erzählte ihm eine Elfe was vom Götterglauben! Aber er spürte, daß sie in vielerlei Hinsicht, daß sie recht hatte. Langsam nickte er. „Ich bin mein Leben lang irgendwie vor den Göttern weggelaufen ... nein, ich bin neben ihnen hergelaufen. Die Wahrheit aber ist, daß sie etwas sind, was man bedingungslos anerkennen muß, weil sie in ihrer Form existieren, wie sie es eben tun und weil man sie nicht wissenschaftlich untersuchen oder bestätigen kann. Sie sind nicht logisch, sie sind nicht zu verstehen und nicht durchschaubar. Sie wissen alles und sie können alles und sie werden ewig Leben, solange der Glaube der Menschen - und vor allem derer, deren Glauben rein und von bedingungsloser Akzeptanz sind - sie in ihren Herzen trägt. Denn jeder, der an die Götter glaubt, macht sie zu einem Teil von sich.” Er schwieg. Diese Erkenntnis, die ihn auf dem stillen Efferdplatz in Fischerort getroffen hatte, bewegte nicht nur Alix, sondern auch seine Begleiterin zutiefst. Sie blieben eine Weile stehen, sie hatte die Hand immer noch an seinem Arm und schaute ihn an, während er an ihr vorbei auf das Portal des Gotteshauses starrte. Dann - irgendwann - löste er sich aus seiner Starre und die Elfe reagierte sofort: „Laß uns jetzt zu Efferd gehen...” „Womit wir mittlerweile beim ‘Du’ wären”, meinte er mit der alten Geckenhaftigkeit und dem alten Charme. Fianas Wangen färbten sich zunehmend rot und sie ließ den Magister los, welcher verschmitzt grinsend langsam voranschlenderte.
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Einsam spazierte Alarion durch Havenas Nacht. Er hatte es vorgezogen ohne weitere Begleitung diesen besonderen Abend zu verbringen. Seine Wahrnehmungen waren seltsam intensiv. Er lauschte den Geräuschen der Stadt, des Meeres und dieses faszinierenden Hafens. „Und bin ich auch noch so weit fort, stets denk ich an dein Fischerort Haveeeeeeeeeeeeenaaaaaaaaaa a!” Der Mann, der in der Ferne dieses Lied sang, schien nicht mehr ganz Herr seiner Sinne zu sein. Vermutlich hatte er seine Sorgen in billigem Fusel ertrunken. Aber wer hatte schon keine Sorgen? Beim Durchqueren der Straßen war ihm allzu oft Armut und Verfall zu Gesicht gekommen. Allein die vielen leeren Lagerhäuser im Hafen, sie wurden einfach nicht mehr benötigt, weil der Handel schwach war. Zwar mochten diese alten Gemäuer wunderbare Spielplätze für die Kinder sein, von denen sie sich Gruselgeschichten erzählen konnten und die ideal für Mutproben waren, aber für die Stadt selbst wären sie hilfreicher, wenn sie bis zur Rand gefüllt mit Waren aus Riva bis Brabak und in bestem Zustand wären. Vor einem kleinen, unscheinbaren Wohnhaus, was zwischen zwei alten, großen Lagerhallen Platz gefunden hatte, blieb er stehen und lauschte. Er hörte, wie eine Frau gerade zwei Kinder ins Bett brachte, die aber mit allen Mitteln versuchten sie davon zu überzeugen, daß es viel zu früh war. Teller klirrten im Nebenzimmer. Jemand schloß einen Schrank. Eine Ratte raschelte in einer der Lagerhallen und spielte mit irgend etwas metallischem. Zu alle dem fielen ruhig und gleichmäßig die Wellen des Meeres an die Hafenwand. Alarion warf einen Blick auf den Hafen. Ein einsamer Ruder bewegte dort in der Mitte des Stroms sein Boot in Richtung Südhafen. Nahmen die Menschen all das überhaupt war? All die Geräusche, Gerüchte und Bilder des Stadtlebens? Der Halbelf bezweifelte das. Sie hatten sich gewiß an das gewöhnt, was ihm einen leichten Schauer über den Rücken sausen ließ. Aber er nahm es alles war, dank seiner feinen Sinne und der Tatsache, daß Städte für ihn nicht Alltag waren. Alarion passierte die Brückstraße und setzte seinen Spaziergang durch den Stadtteil Nalleshof fort. Zwei größere Schiffe lagen in einiger Entfernung am Dock und ihre Masten schaukelten sanft. Ein leichtes Lüftchen wisperte unverständliche Worte, irgendwo stritten zwei Männer. Wie viele Menschen mochten hier Leben, auf so kleinem Raum? Wie viele Streitigkeiten, wieviel 34
Disharmonie entstand daraus? Wenn die Menschen nicht fähig waren vernünftig zusammenzuleben, warum taten sie es dann? Alarion runzelte verwirrt die Stirn und blieb stehen, um seinen Blick ein weiteres Mal über das weitläufige Hafenbecken streifen zu lassen. Eine Harfe. Die Person, die darauf spielte, fing ihr Stück langsam an. Zaghaft betätigte sie einige Saiten einer harmonischen Melodie, die - wie der Elf meinte - irgendwie zu der Szene des nächtlichen Hafens paßte. Eine gewisse Melancholie strahlte aus dem Stück, aber auch Kraft und eigentümliche Schönheit. Er blieb stehen und schloß die Augen. Sein Körper begann im Takt der Musik zu wippen. Eine Harfe. Dieses Instrument paßte eigentlich überhaupt nicht in eine Stadt und zu den Menschen und doch interpretierte der Musiker - mit immer sicherer werdenden Griffen - die Szene der Nacht, als sei er mehr als nur ein tumper, grobfühliger Mensch, als hätte er ein wenig den Hauch der elfischen Sensibilität. Wer war dieser Spielmann? Alarion öffnete die Augen und wandte sich zu der Melodie, die selbstsicher in hörbarer, aber nicht lästiger, Lautstärke aus der Ecke einer Gasse drang. Es war eine Frau, die den Elfen so fasziniert hatte. Nein, er sah sie nicht, aber sie begann mit einem Male, wo sie sich im Harfenspiel sattelfest genug fühlte, zu singen. „Die Wellen tragen das Schiff redlich gut gut Fahrt, Seemann, es trägt dich die Flut.” Alarion blieb stehen. Er sah nur ihren Schatten, wie sie dort, an eine Hauswand gelehnt, gefühlvoll ihr Werk darbrachte. Er wandte sich wieder zum Wasser, um das Gefühl der Musik und ihrer Atmosphäre vollkommen mitzubekommen. „Die Winde steh’n günstig, die Segel prall gut Fahrt, Seemann, wie Donnerschall!” Er schloß die Augen, sog die salzige Seeluft ein und begann leise im Takt der Musik zu schwanken. Er tanzte nicht, er bewegte sich nur leicht hin und her. „Das Steuer fest, die Taue straff,
gut Fahrt, Seemann, bald wiegt dich der Schlaf.”
Ihm gefiel die Melodie ausgesprochen. Aber es war nicht die Melodie selbst, es war die Harmonie, die sie ausstrahlte. Alarion beschloß dieses Lied auch einmal zu spielen, bei Gelegenheit. „Der Horizont schließt und Efferd sieht Dein, gut Fahrt, Seemann, in die Ewigkeit ein.” In die Ewigkeit... Er mußte lächeln. Wie paßte dieses Lied doch zu ihm und all seinen Begleitern, die morgen bereits auf gigantischen Schiffen in ein großes Abenteuer fuhren, mit dem sie in die Ewigkeit eingehen würden. Ja, doch. Es wäre schon nett einer der berühmtesten Entdecker Aventuriens zu werden.
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„Dort schlingt die See, wo endet das Sein,
gut Fahrt, Seemann, du kommst nicht mehr heim,
gut Fahrt, gut Fahrt, du kommst nie mehr heim!”
Ein paar - viel zu kurze - ausklingende Akkorde und die Frau hatte das Lied beendet. Alarion stand wie angewurzelt da. Die Wende im Text der Musik hatte ihn mehr als erschreckt. Völlig starr blickte er aufs Wasser mit einem Entsetzen im Gesicht, was seines gleichen suchte. Eben hatte er dieses Lied auf sich bezogen, eben hatte er darin das Gloriose an der Reise gesehen. Jetzt sang sie vom Untergang! War er vielleicht wirklich gemeint? Wieso erfaßte ihn dieses Lied so? Er wirbelte herum. Dort wo eben die Frau noch gesessen hatte, war jetzt nur noch der Schatten der Nacht. Ein leichter Wind pfiff, die Melodie klang in seinem Ohr. Schnellen Schrittes, ohne sich noch einmal umzudrehen, kehrte er zum Palast zurück.
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Buch 2
Sieben Winde
37
Kapitel 5
W
ieder senkt sich meine Hand zum Schreiben. Viele Wochen lang hinderte mich
die Krankheit daran und in mancher fiebrigen Nacht war es mir, als hörte ich bereits Golgaris
Schwingen, mich zu holen und von dieser bedrückenden Existenz befreien...
Doch nein, ich will mich nicht beschweren. Größer den je ist meine Entschlußkraft dieses Werk
zu Ende zu bringen, als Lebenswerk, was ich erst spät in meinem Leben begann.
Tag für Tag bete ich zu den Zwölfen, mich meine Aufgabe beenden zu lassen und mir noch die
Tage zu schenken, die ich für dieses Werk benötige.
Wäre ich reich, oh was würde ich Euch für Tempel bauen lassen. Doch ich bin arm und alles,
was ich zu bieten habe, ist mein Glaube und meine Hoffnung...
Und meine Erinnerungen an jenes zurückliegende Ereignis, über das noch immer geschwiegen
wird. Das ist nun endgültig vorbei! So lest weiter und erfahrt, wie es sich einst begab. Ihr werdet
staunen...
Es war als wollten die Zwölfe ihre Zustimmung und Gutheißung der Expedition zum Ausdruck bringen. Es war der erste sommerliche Tag im Jahre 5 Hal und die ganze Stadt, ja das ganze Land regte sich vor Leben und Freude. Die Vögel zwitscherten munter Lieder, während die Menschen die Sonne genossen. Nur die jüngsten Knaben und Mädchen spielten in den Straßen der Havenas, unbeeindruckt von dem, was beinahe die ganze Stadt in den Hafen gelockt hatte. Überall gafften Menschen, stritten um bessere Beobachtungspositionen und spekulierten über das Ziel der Schiffe. Längst hatte sich herumgesprochen, daß es um die Eroberung des Güldenlandes ging, nur wie und auf welche Weise, das war der Phantasie der Bevölkerung überlassen. Schon seit Wochen war dies das Thema Nummer eins in Havenas Schenken. Auf der Straße, bei Familienfesten und auf dem Marktplatz redete man über nichts anderes mehr. Doch stets war von den fürstlichen Gefolgsleuten nur Schweigen ausgegangen, bestenfalls ein wissendes Schmunzeln. Cuanu Ui Bennains Untergebene hatten bei Höchststrafen schwören müssen, daß sie weder Ziel, noch Abfahrtstag der Expedition verraten durften. Und wer wollte schon wegen Verrats sein Leben lassen, wo er doch durch diese Reise berühmt werden konnte? Sobald sie zurückkehrten, würde man das Volk sowieso über alles aufklären und dann würde man als Nationalhelden gefeiert werden! Als nun die Schiffsbesatzungen am Morgen dieses warmen Perainetages an Bord gingen, hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen; die mehreren hundert Frauen und Männer hatten kaum unbemerkt auf die vier Schiffe gelangen können. In ihren besten Kleidern - die Soldaten in herausgeputzten Uniformen und jeder seine Abzeichen und Orden zur Schau tragend - sammelten sie sich im Südhafen. In einem von hohem Gardistenaufgebot, aber auch Hellebardieren der Hafenwehr und Soldaten der Fürstlichen Garde, gesicherten Bereich fanden sich nun diejenigen ein, denen die abenteuerliche Fahrt vergönnt war. Lange Schlangen bildeten sich an den Stegen zu den vier Schiffen. Fürstliche Beamte überprüften die Identität eines jeden und stellten somit die Anwesenheit fest. Es schien beinahe, als ließen sie sich besonders Zeit, damit die Havenaer schön lang die langen Schlangen vor den Schiffen anschauen, Verwandte und Bekannte unter denen oder ausgefallenere Exemplare der Spezies Güldenlandfahrer - wie Magier, Offiziere und andere Nationalitäten - anschauen konnten. 38
Zu denen gehörte zweifellos auch Alarion. Er und Irian hatten sich entschlossen etwas später zu kommen, da sie nicht in diesen endlosen Schlangen enden wollten und die Schiffe sowieso erst am Nachmittag auslaufen konnten, wenn Efferds Element das Delta des Großen Flusses hinaufdrängend die Hafenbecken füllte. Momentan flaute der Wasserspiegel wieder ab; das Morgenhochwasser hatte seinen Höhepunkt wie immer um die vierte Stunde gehabt und die Wasserstraßen waren nun kaum noch befahrbar. Selbst Schiffe mit relativ niedrigem Tiefgang wagten sich erst wieder zur vierten Stunde nach der Praiosstund hinaus, um mit Hilfe der Lotsen das tückische Delta zu durchqueren. Irian und Alarion hatte selbst eine Stunde Verspätung daher auch nicht viel gebracht, da die endlosen Menschenketten nicht kürzer zu werden schienen. Während der Halbelf schon ein gewisses Kribbeln verspürte und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat, schien der Magister eher in sich gekehrt. Versonnen blickte er geradeaus zu den Stegen und regte sich kaum. Alarion bemerkte das, als er sich gerade mal wieder nach seinem alten Freund umdrehte, sagte aber nichts. Es beunruhigte ihn etwas und irgendwie kamen nun auch in ihm die Sorgen und Bedenken auf, die seine Euphorie und Spannung eben noch völlig überspielt hatten. Die Reise war alles andere als gefahrenlos und sie konnten nicht einmal erahnen, was ihnen alles begegnen würde. Dies hatte eine sonderbaren Reiz, aber wer ein wenig weiser war als die patriotischen Soldaten oder kurzsichtigen Abenteurer, der wußte, daß sie sich alle in Lebensgefahr begaben. Allein die Tatsache, wie lange sie nur über die See fahren würden ... was war, wenn Efferd ihnen eine Sturm sandte? Und was war mit all den Bedenken, was war mit dem Zeichen, was Alarion am Vorabend sich gezeigt hatte? Der Gedanke an die Harfenspielerin regte noch mehr den Unmut in ihm. Doch er hatte in seinem Leben bereits viel erlebt. Noch einmal sah er vor seinem inneren Auge sich und Irian mit anderen Begleitern gegenüber dem Höhlendrachen, am Hofe großer Fürsten, auf der Jagd nach Mördern, beim Befreien von Entführten und bedrohten Dörfern, bei den Orks und bei gemütlicher Konversation am abendlichen Lagerfeuer, in Tavernen oder Irians Turm. Oh ja, sie beide hatten viel erlebt. Richtige Helden waren sie. Alarion lächelte. An dieser Stelle war die letzte Gelegenheit nicht mit auf diese so fragliche und ungewisse Reise zu gehen. Sie hatten wirklich viel erlebt, sie waren schon Helden, man mußte es ja nicht übertreiben! Ein weiser Mensch würde hier bleiben, nach Hause zu Frau und Freunden gehen und ruhig den Rest seines Lebens in einem Elfendorf oder einem Gehöft verleben. Aber nicht er. Und genauso wenig Irian. Auch wenn dieser eigentlich ein sehr kluger und erfahrener Mann war, so war er doch in gewisser Hinsicht noch genauso abenteuerwild und unstetig wie ein junger Abenteurer. Und mit Alarion war es genauso. Sie beide hatten alles, was sie sich wünschen konnten: Irian hatte eine Magierturm, eine riesige Bibliohek, seine Frau war die Tochter von Graf Helme Haffax und war eine ganz wunderbare Person, er hatte einen Sohn, war angesehen und hatte Einfluß. In allen Kreisen, ob den Magiergilden oder an Fürstenhöfen, war sein Rat stets sehr willkommen und seine Hilfsbereitschaft führte viele Verzweifelte zu ihm. Alarion hatte heim zu den Elfen gefunden, was den wenigsten Halbelfen vergönnt war, er liebte und lebte mit Ariana Friedenslieb, dem wunderbarsten Menschen, den er sich vorstellen konnte, und bald könnte er sich auch ein Haus mit einer Bogenbauerei und Instrumentenwerkstatt leisten. Doch beide riskierten dies alles und fuhren hinaus ins Abenteuer. Warum eigentlich? Auch wenn viele Menschen behaupten würden, sie täten es wegen des Geldes und des Ruhmes, so wußte jeder, der die beiden näher kannte, daß es ihnen um dies wirklich nicht ging. Warum tun wir das? fragte sich Alarion ein weiteres Mal.
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„Entschuldigt“, meine die Knabenstimme. Der Halbelf schüttelte seine Gedanken ab und sah zu
dem kleinen Jungen, der neben ihm stand und eine - für den Kleinen riesige - Harfe mit beiden
Händen umklammert hielt.
„Ja?“, meinte Alarion.
Der Kleine streckte ihm die Harfe entgegen.
Fragend blinzelte ihm der Meisterschütze entgegen.
„Für euch“, betonte der Knabe.
„Wie? Von wem?“
Der Kleine nickte über die Schulter nach hinten. „Von der Frau.“
Alarion schaute suchend in die Menschenmenge. Es war ihm, als wäre gerade eine Person in eben
diesem Mantel in die Gasse gehuscht, den die Harfenspielerin letzte Nacht getragen hatte.
„Sie sagt, die hier ist für euch und soll euch auf der Reise beschützen. Ihr werdet nicht vergessen
werden, weil Ihr ihre Harfe habt.“ Vermutlich wußte er die Bedeutung der Worte nicht, die er von
der Fremden ausrichtete. Aber das mußte er auch nicht. Er hatte zwei Heller und der Elf sein
Instrument. Was warfen sich da für einen elfjährigen Straßenjungen noch für Fragen auf?
„Woher weißt du, wer ich bin?“, wollte der Halbelf wissen.
„Weiß ich doch gar nicht.“
„Und woher weißt du dann, daß du mir die Harfe bringen solltest?“
„Ihr seid der Mann mit den spitzen Ohren“, erklärte der Kleine klar.
Der Halbelf nahm das Instrument behutsam in die Hände und sah es intensiv an. Ehe er sich
versah, war der Bote wieder in den Menschenmengen verschwunden.
Irian, der die ganze Szene aufmerksam beobachtet hatte, lächelte. „Die Reise fängt schon sehr
mysteriöse an, was?“
Alarion nickte immer noch sichtlich verwundert. „Oh ja...“
Denn die Fremde, wer immer sie auch war, hatte ihm nicht nur eine Harfe überlassen.
Sie hatte ihm ein Lied geschenkt.
Vergiß mich nicht, wohin ich geh,
gut Fahrt, gut Fahrt, so weit ist die See!
Ganz unpassend zu der Stimmung derjenigen an Bord schleppten sich die vier gigantischen Schiffe eher träge durch das Hafenbecken. Die Besatzung drängte an der Reling, um die rufenden und winkenden Menschen am Ufer zu sehen. Alle waren vergnügt und die Glückwünsche der Havenaer erfüllten die Siedler mit Stolz und Freude. Es gab an diesem Tag nur ein paar Menschen, die sich nicht mit den auslaufenden Schiffen beschäftigten und an dem Jubel und Rufen keinen Anteil haben konnten: Die Lotsen, deren Aufgabe es war, diese riesigen Schiffsbäuche sicher durch das Delta zu geleiten. Zwei bis drei von ihnen waren an Bord von jedem und gemeinsam steuerten sie sicher durch das tückische Wasser. Die besten Lotsen Albernias waren hierfür bestellt worden, auch wenn eigentlich ein jeder Seelotse Havenas dazu in der Lage gewesen wäre und mit überaus großer Wahrscheinlichkeit jedes dieser Schiffe sicher hinaus aufs Meer geleiten hätte leiten können. Doch hier durfte nichts schiefgehen. Es war die wichtigste marinare Mission seit Ewigkeiten und es wurde nicht dem dümmsten Zufall oder Unglück auch nur die kleinste Chance gelassen. Dafür hatte Fürst Cuanu Ui Bennain schon gesorgt. Er beobachtete mit seinen engsten Getreuen von einem Wachturm aus das Auslaufen der
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Schiffe und ihn als Herrscher erfüllte diese Begeisterung im Volk natürlich mit noch größerem Stolz. Admiral Elwick sah hinauf zu jenem Turm von dem er wußte, daß der Fürst sich gerade dort befand. Auch er war sehr zufrieden. Er blickte von der Kastell hinab auf seine Besatzung und lächelte. All diese Menschen, ihm bedingungslos untergeben und gehorsam. Er würde sie und ihr Land im Namen des Fürsten in eine glorreiche Zukunft führen. Und die Zukunft war auch alles, was zählte in Satinavs Spiel. Die Vergangenheit war düster und konnte man nicht mehr ändern und in der Gegenwart mußte man diese wunderbare Zukunft herbeiführen, von der alles abhing. Admiral Elwick hatte eine große Verantwortung. Aber er würde auch diese Herausforderung annehmen und meistern, zum Besten für sein Land und seine Leute. „Da stehen sie nun alle und denken, sie werden berühmt“, sagte Harion Ui Bennain, der neben ihm stand. Beinahe hatte der Admiral im Angesicht dieser glücklichen und zielstrebigen Menschen dessen Gegenwart vergessen, doch nun wurde er sich ihm wieder bewußt. „Dabei wird nicht der Name eines Einzelnen von ihnen in den Chroniken auftauchen.“ Der Prinz lachte auf. Elwick runzelte skeptisch die Stirn. „Aber wir beide“, führte Harion seinen Gedanken fort, „wir werden gemeinsam dort stehen: Prinz Harion Ui Bennain und Admiral Elwick Roggunder. Wir werden berühmt für die Ewigkeit!“ Der Admiral stutzte einen Moment. Dem Prinzen lag überhaupt nichts an seinen Leuten. Sie waren für ihn nur Werkzeuge. Das wurde ihm zum ersten Mal richtig bewußt. Er selbst war zwar auch für seine Strenge bekannt, aber Elwick tat stets nur, was nötig war, wenn er schwieriges oder gar unmenschliches von seinen Untergeben forderte. Aber er lebte trotzdem irgendwie mit ihnen. Er war kein Tyrann, alles was er tat, hatte Gründe. Harion aber würde jeden Einzelnen Kiel holen lassen, wenn ihm dessen Gesicht nicht gefiel. „Ist das alles, was euch interessiert, Ruhm?“, fragte er den Jüngeren. Der Prinz sah weiterhin nach unten und antwortet, ohne sich dem Admiral zuzuwenden: „Was sollte mich sonst interessieren? Ich bin Sohn eines der größten Fürsten Aventuriens. An Reichtum wird es mir nie fehlen, Wohlstand habe ich und Macht auch. Ich werde einmal sein Nachfolger sein. Doch in den Chroniken stehe ich da als ein Herrscher wie jeder andere. Ein gesichtsloser Name, verbunden mit Taten, die man an einer Hand abzählen kann. Es gibt nur wenige wirklich große Herrscher, die derartige Dinge vollbracht haben, daß sie im gesamten Mittelreich und über seine Grenzen hinaus berühmt sind. Und ich möchte dazugehören.“ Ihm lag wirklich nichts an den Leuten oder am Wohl des Landes. Er wollte seinen persönlichen Triumph. Das Ansehen des Prinzen in Elwicks Augen durchschlug gerade den Meeresspiegel und näherte sich bedenklich Efferds Palast. Aber was sollte es. In gewisser Hinsicht - so mußte er sich eingestehen - war er nicht anders als Hauptmann Can Corr. Nur das er nicht aus bedingungslosem Gehorsam mit dem Prinzen kooperierte, sondern aus Freundschaft zu dessen Vater. Natürlich war dieser auch sein Vorgesetzter, doch ein Mann mit Elwicks Ansehen und Einfluß wurde schnell zum Freund eines Herrschers; selten aber zu einem Vertrauten. Und es war weit mehr als ein reines HerrscherUntergebener-Verhältnis zwischen ihnen. Sie waren beinahe richtige Freunde ... so weit wie ein Fürst Freund zu einem Admiral sein konnte. Verachtend schüttelte Harion den Kopf über die Dummheit und Blindheit der Menschen, als sie an Deck begannen, die albernische Hymne zu singen. Zuerst nur vereinzelt, dann stimmten sie alle ein. Und bestimmt sangen die Menschen, die am Ufer den Schiffen nachliefen, ebenfalls mit. „Albernia - wie schön ist dein Land, 41
der Feen Wald, des Efferds Reich,
durch weisen Herrschers gute Hand
das Glück für Tausende zugleich!
In goldner Städte Einigkeit
gemeinsam Freiheit zu erstreben
bin ich für alle Ewigkeit
in Treu’ und Liebe dir ergeben.
In was auf Efferds Wort entstand
Seine volle Schönheit erkennen.
Die Zwölfe segnen dieses Land
ich darf es mit Stolz Heimat nennen!“
Papa Abogali und Maligali saßen in einem kleinen Wäldchen nahe dem Dorf. Sie hatten ein kleines Feuer gemacht und darin verbrannten einige Kräuter, deren beißender Rauch wohl berauschende und transzendale Wirkung entfaltete. Jedoch war die Dosis relativ gering und für sie beide nicht von ausreichender Stärke, so daß sie noch bei recht gutem Bewußtsein waren. Im Prinzip war es eher ein Rauschmittel, was sie im Moment nicht für ein Ritual verwendeten, sondern als Genußmittel mißbrauchten. So saßen sie da und aßen an ihren Heuschrecken, welche eine reichliche Handlänge lang waren und deren dünner gelber Panzer durch grünliche Verfärbungen markant wurde. Während Maligali das Fleisch vorzog, kaute Papa auf einem länglichen Panzersplitter und gaffte abwesend ins Feuer. Beinahe hätte der Jüngere vermutet, der Schamane wäre schon von den Dämpfen benebelt. Würde der Splitter nicht durch das Kauen ständig bewegt, hätte man denken können, er schliefe im Sitzen. „Meister“, begann er zaghaft. Nur allmählich wandte Papa Abogali ein Stück den Kopf. „Ich habe seltsame Träume in letzter Zeit.“ Papa schien endgültig aufzuwachen. Er spuckte das Stück Panzersplitter ins Feuer und wandte sich seiner längst ausgegessenen Heuschrecke zu. Ziellos stocherte er mit einem kleinen Ästchen darin herum. „Ach ja?“ Maligali war nicht ganz wohl dabei, aber er fuhr fort: „Ich habe auch Kanus mit Flügeln gesehen. Und viele Menschen. Aber ganz bleich...“ Er schwieg einen Moment. „Beinahe so, wie du deine Vision beschrieben hast.“ Papa nickte. „Ich dachte, du hättest sie damals auch gesehen!“ Ein wenig verunsichert sah der Schüler auf. „Ich sah nur ihre Schatten, ihre Spiegelbilder. Sie waren so weit weg, wie Phantasieträume und ich dachte, ihr Ursprung läge damals vielleicht bei dir.“ „Du dachtest also, ich hätte mir etwas ausgesponnen und es sei auf deinen Geist übergesprungen?“, faßte der Schamane zusammen. Beschämt senkte Maligali den Blick. Seinen Meister kümmerte das wenig. Er hatte gehofft, er hätte sich geirrt und das Problem dieser großen Veränderungen läge im Reich der Träume, doch es war Realität, wenn sein Schüler es nun bereits spürte. Ihn störte es weniger, daß Maligali ihm einst nicht geglaubt hatte, als daß diese 42
große Vision von den Fremden wahr werden würde. Und eins war sicher: Was Maligali im Moment sah, waren verschwommene Bilder. Doch die Fähigkeiten, die sein Schüler erlernte, waren bei weitem noch nicht so ausgeprägt, wie die seinigen, die er sie schon viele viele Sommer nutzte. Denn was er sah, war mehr als nur Visionen der Ankunft der Fremden. Er sah ihre Absichten. Und das war es, was ihn so sehr beunruhigte. Die prallen Segel voll Stolz strotzend jagten die vier Havenaischen Schiffe über das Meer der Sieben Winde, der untergehenden Praiossonne entgegen. Die Menschen an Deck standen aufrecht, gespannt den Horizont betrachtend, während hinter ihnen die Landmassen immer kleiner wurden. Es war ein seltenprächtiger Sonnenuntergang. Wie ein Feuerball schien die Praiosscheibe in die Wassermassen des Ozeans zu stürzen, den Reisenden den Weg anzeigend gen Efferd. Tapferkeit, Stolz und Entschlossenheit regierten in den Gemütern der Menschen, die neugierig und aufgeregt gespannt das größte Abenteuer ihres Lebens vor sich sahen. Viele von ihnen standen an der Reling, der Wind umspielte ihre Haare und zwang sie, die Augen zusammenzukneifen und die Wellen teilten sich vor den Bugen der rasenden Schiffe. Beinahe war es, als würde man fliegen und das Meer wäre nur ein Stück unter dem Kiel, doch das Gischt schlug oftmals so hoch, daß vereinzelte Wassertropfen die Neugierigen trafen. Und während Zordan am Bug stand, die Arme ausbreitete und in das Lärmen der Wellen und des Windes „Ich bin der König der Welt!“ rief, blickten Irian und Alarion eher bedächtig und gedankenversunken in das Rote Praios’. Wenige an Bord dürften ihre Bedenken haben, wenige die wahre Gefahr sehen. Viel mehr waren Abenteuerlust, Nationalstolz und Heldenmut die Feuer, die in den Herzen der Menschen brannten. Sie würden einige Zeit fahren, bis sie die besagte Insel erreichen würden, doch dann - so war sicher - waren sie an einem Ziel, was all die Generationen vor ihnen seit dem Großen Beben nicht erreichen konnten: Einer neuen Zukunft für Albernia. Denn von hier und heute ging eine neue Zeit aus. Und dieser Geschmack des Neuen war es, der so anregend war und dessen Faszination bald jeden beherrschte. Aventurien würde revolutioniert werden und was auch immer geschah, gemeinsam würden sie die Feind besiegen, die Gefahren beseitigen und den Ruhm und die Ehre ihrer Heimat wieder herstellen. Dies war der Beginn eines neuen Zeitalters. Und sie waren dabei!
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Kapitel 6
I
n der Kombüse herrschte reges Treiben. Nur seine breiten Schulterblätter
und die Abzeichen einen Hauptmanns hatten Growin einen bequemen Platz nahe der Essensausgabe zusichern können. Es war allen klar, daß das Essen nicht die ganze Fahrt so lecker seien würde, wie es heute war. Doch nach einem solchen glorreichen Start hatte man wohl beschlossen die Mannschaft und die Siedler mit Braten, Kartoffeln und Sauerkraut zu verköstigen. Und um so mehr ließ man es sich schmecken, denn jeder war sich über die Länge der Fahrt und dem immer schlechter werdenden Essen bewußt. Growin jedenfalls genoß den Braten und blickte kauend zu den beiden Magistern und den Elfen auf, die mit ihren Tellern zu seinem Tisch kamen. „Ist hier noch Platz?“, erkundigte sich Irian, der offensichtlich gerade ein Gespräch mit Alix für diese Anfrage unterbrochen hatte. Der Hauptmann machte eine gebietende Geste. Neugierig horchte er, worüber die Magier stritten. Alarions Miene sagte aus, daß es vermutlich etwas war, worüber sich nur Zauberer und Gelehrte streiten konnten, die zuviel Zeit hatten, und worüber sich ein normaler Mensch - oder Elf - nicht den Kopf zerbrechen würde. Fiana wirkte eher teilnahmslos. „Von dir hätte ich das am wenigsten erwartet, Alix. Solche Sturheit und Uneinsichtigkeit, wo die Fakten doch auf der Hand liegen!“ „Wo liegen denn da die Fakten auf der Hand“, gab der jüngere Magister zurück, „Du behauptest etwas und jeder mit gesundem Menschenverstand weiß, daß es in Wirklichkeit gar nicht so ist!“ „Natürlich ist es so, du hast nur noch nie darauf geachtet! Nicht wahr, Adepta?“ Die Elfe reagierte nicht. Growin lauschte weiter belustigt dem Streit der beiden. „Du greifst da irgendeine wüste Theorie aus dem Leeren, die überhaupt nicht empirisch verifizierbar ist.“ „Dir mangelt es nur an kognitivem Verständnis!“ „Das ist eine böswillige Unterstellung! Du bist kein bißchen objektiv mehr, nur eingenommen von deinen wilden Hypothesen, kein offenes Auge mehr für die Wirklichkeit...“ „Darf ich den Herren einen Vorschlag machen?“, mischte sich Growin ein. Mit grimmiger Miene starrten sie den Hauptmann an. „Was?“, riefen sie zweistimmig. Er deutet auf ihre Teller mit dem dampfenden Essen. „Warum eßt Ihr nicht erst und streitet danach? So einen schönen Braten gibt es die nächsten Monde nicht mehr. Und all diese Monde habt Ihr Zeit euch darüber zu zerreißen, worum auch immer ihr streitet. Eßt doch also erst und schlagt euch danach.“ Alarion nickte zustimmend - sichtlich genervt - und Fiana lächelte leicht. „Er hat recht“, stellte Alix fest. „Ja“, meinte Irian. Was sollte das nur noch werden? fragte sich Alarion. Wenn sie schon am ersten Tag stritten, wie wäre es dann auf einer derartig langen Seefahrt??? Ihm stand einige nervliche Belastung seitens der beiden bevor. Hungrig stürzten sich die Magister über den Braten. Growin lächelte über diese seltsame Art von Naivität bei den so „weisen“ Leuten. 44
„Aber worum geht es denn nun“, wollte er wissen. Schließlich war er auch nur ein Mensch und
da diese beiden nicht Mitglieder des militärischen Systems waren, konnte er auch Neugierde
zeigen.
„Es geht um das Fallen von Steinen.“
„So?“, machte der Hauptmann stirnrunzelnd.
Alix nickte. „Irian meint, daß ein in die Lüfte geworfener Stein immer gerade nach unten fällt,
egal von wo aus“, erklärte er.
„Solange er senkrecht nach oben geworfen wird, ja. Und ansonsten aber unabhängig zum
Abschußsystem...“
„?“
„... zum Werfer.“
Alix erläuterte weiterhin: „Jedes Kind weiß, daß ein in die Luft geworfener Stein auch wieder
beim Werfer ankommt.“
Growin nickte. „So sehe ich das auch.“
„Ja!“, rief Irian und beugte sich verschwörerisch vor. „Was ist aber, wenn der Werfer sich
bewegt?“
„Das Gleiche. Warum sollte es da anders sein?“
„Eben“, meinte Alix.
Der ältere Magister grinste. „Ihr irrt! Wenn ihr auf einer Kutsche oder einem Schiff fahrt und
werft etwas in die Luft, so kommt es hinter euch auf dem Boden auf.“
„Wieso sollte es denn nur? Dann müßte es ja eine horizontale Bewegung ausführen“, gab Alix
zum überlegen.
„Eben nicht“, versicherte Irian, der wieder einmal seinen Braten vergessen hatte, „Das ist ein
Trugschluß. Für den Werfer ist es hinter ihm, aber für jemanden, der beide beobachtet fällt der
Stein tatsächlich gerade hinunter.“
„Wieso sollte der Beobachter etwas anderes sehen als der Werfer?“, warf Growin ein.
„Richtig“, meinte Alix kauend und erschöpft von der Streiterei.
„Ich beweise es euch“, entschloß sich Irian.
„Gut, aber nun eßt wirklich erstmal!“, schloß Fiana die Diskussion.
Der Hauptmann war sichtlich amüsiert über die Magister. Und sowas nannte sich nun intelligent?
Mit dem größten Geist und der größten Weisheit? Da konnte man sich nur wundern, wie kindlich
sie stritten und welch weltfremde Themen sie hatten. Die Göttin Hesinde mußte allen Klugen
wohl auch eine gewisse Macke mit auf den Weg gegeben haben, vielleicht als Ausgleich dafür,
daß sie mehr wußten, als alle anderen.
Wie auch immer. Growin war froh diese Macke nicht zu haben. Gemütlich aß er weiter seine
Mahlzeit.
Plötzlich wurde er auf etwas anderes aufmerksam. Am Nachbartisch saßen einige der
Seesoldaten, die an Bord er Havenas Stolz zum Schutz und zur Sicherheit stationiert waren. Eine
Köchin hatte ihnen gerade ihr Mahl gebracht - warum auch immer (schließlich gab es ja eine
Essensausgabe). Eine ausgesprochen gutaussehende Frau, wie er sich eingestehen mußte. Sie
hatte ihre lockigen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und besaß einen
wahrlich beträchtlichen Körperbau. Eins seltsames Gefühl überkam ihn...
... zusammen mit einem Unbehagen, was in ihn aufquoll, als er sah, wie zwei Soldaten die Frau
festhielten.
„Warte doch noch einen Moment...“, meinte einer.
„Genau, lauf nicht weg“, sagte ein anderer am Tisch.
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Einer derjenigen, die sie aufhielten, stand auf und hielt sie an beiden Armen fest, zerrte sie an sich und flüsterte irgend etwas. „Ich bin Leutnant, aber ich würde dir gern mal meinen General zeigen...“ Growin stand ruckartig auf. Sein Stuhl flog nach hinten und sein Hintermann jaulte kurz auf. Es
war eindeutig ersichtlich, daß die Köchin, von der das Bringen des Essens eigentlich eine
großzügige Geste war, sehr weit weg von diesen Typen wollte. Wut stieg in Growin auf.
Es mußte große Wut sein, denn so wie er jetzt auf seine Kameraden losging, hätte er es eigentlich
nicht tun müssen. Ein Befehl hätte gereicht - schließlich war er Hauptmann - doch hier war mehr
als nur eine Order verlangt. Unsanft packte er den Aufgestandenen an den Schultern und zerrte
ihn zurück. Dieser wußte gar nicht, wie ihm geschah, als er rückwärtsstolpernd den Ellenbogen
mitten ins Gesicht geschleudert bekam. Der Soldat, der die Köchin festgehalten hatte, sprang
entsetzt auf und Growins Faust flog ihm direkt ins Gesicht, so daß er rücklings auf den
Nachbartisch stürzte. Der Kamerad, der sich links von ihm erhob, hob schützend die Hände, ein
Umstand, der in Verbindung mit dem Wiederhinsetzen ihm vermutlich einige däftige Prügel
ersparte.
„Noch Fragen?“, sprach der Hauptmann mit einem vernichtenden Blick in die Runde der
Seesoldaten. Keine Antwort. Ein schmerzvolles Stöhnen hinter ihm.
Die Köchin stand sichtlich erschrocken, an einen Tisch gelehnt, da und sah entgeistert das
Szenario an. Die Soldaten halfen ihren beiden verletzten Kameraden auf und brachten sie nach
draußen, während ihr „Retter“, auf sie zukam.
Dieser, der eben noch völlig von sich selbst überzeugt und eiskalt die Krieger eingeschüchtert
hatte, stand nun - etwas hilflos und nervös - vor ihr.
„Ähm ... die ... diese ... diese Leute werden Euch nicht mehr belästigen.“
Sie nickte und sah dem Mann in die Augen. Eine lange Narbe kennzeichnete das eigentlich recht
hübsche Gesicht.
„Ich danke Euch“, war das einzige, was sie hervorbrachte.
Growin nickte. „Macht nichts, ich meine: Keine Ursache! Es ist nur so, müßt Ihr wissen, Ihr sollt
nicht denken, daß alle Soldaten so sind und so ich sehe ich es sozusagen auch als meine Aufgabe,
derartige Übergriffe meiner - eigentlichen - Kameraden zu unterbinden.“
Stille.
Stille.
S-t-i-l-l-e!
„...“
„?“
„Was ich sagen wollte ist, Ihr braucht Euch nicht mehr vor ihnen fürchten.“
Sie nickte. „Ich danke Euch. Wem habe ich eigentlich meine Rettung zu verdanken?“, fragte sie
schon etwas lockerer.
„Wie?“
„Wie ist Euer Name?“, lachte sie.
„Achso!“ Growin lief leicht rötlich an. „Grown Can Corr.“ Er streckte die Hand aus und sie
schlug ein.
„Verena Blumfold.“
Was für ein Name!!!
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„Diagnose?“, sagte Irian.
„Akuter Befall von Rahjaria in Kombination mit temporärer kognitiver Konsternation“, stellte
Alix fest.
Irian nickte. „Definitiv!“
Verwirrt stürzte Alix von einer Ebene des Denkens in eine andere. Wilde Farben umspielten ihn
in reißenden Strudeln und Energiekneule stießen ihn in unbestimmte Richtungen. Im Sturm des
irrealen Sichtbaren tauchten verwischte Gesichter auf: Irian, Fiana...
Er tauchte auf und ertrank sogleich wieder, wildes Chaos durchjagte seine Wahrnehmung. Er
schien zu zerbersten, doch ohne Schmerz. Sein Erinnerungsvermögen schränkte sich
unkontrolliert ein, so daß er in einem Moment nicht wußte, was gerade vor einer Sekunde war
und im anderen Äonen in die Vergangenheit blickte.
Und in all dem Wahnsinn tat sich ein riesiges Tor auf. Um ihn herum, all die Ströme, Strudel und
Wellen, verwandelten sich in Wasser und sie flossen ab in dieses gigantische Tor. Sie bildeten
dahinter einen gigantischen Strudel.
„Was?“, fragte Alix unkontrolliert.
„Du!“, donnerte der Strudel und es klang wie der Ruf eines Herren zu seinem Sklaven, den er für
irgend etwas bestrafen wollte.
Der Magister wurde herumgewirbelt, flog auf dem Kopf und hatte Mühe sein Sichtfeld in
Richtung des Tores zu halten. Ständig fürchtete er irgendwo anzustoßen und sich den Kopf
aufzuschlagen, doch nichts hier hatte die nötige Konsistenz, um ihm wirklich etwas anzuhaben.
Er lallte und war sich nicht mehr klar über das, was er denken sollte oder nicht.
„Was?“, brüllte er zügellos der Stimme entgegen, die so gewaltig und erdrückend wirkte, daß
Zander wußte, sie würde ihn zermalmen können, wenn sie wollte und es wäre nicht einmal eine
große Anstrengung.
„Dachtest, würdest heimkehren können?“
Er verstand nichts. Seine Gedanken waren verworren wir ungekämmtes Elfenhaar und er hatte
Mühe geradeaus zu schauen.
„Ich meine es doch nicht so“, stammelte er, sich seiner Worte nicht bewußt. Er fühlte sich wie ein
kleines Kind, was eine Strafe erwartete.
„Wachst über euch hinaus, greift nach dem Horizont, vergeßt Meine Worte!“, schallte die
Stimme.
Alix fixierte das Tor und kam urplötzlich zum Stillstand, wobei ihm nicht bewußt war, ob er
richtig herum oder auf dem Kopf schwebte.
„Nie könnte ich Deine Worte vergessen“, erwiderte er urplötzlich konzentriert.
„Der rechte Weg ist schwer, der rechte Weg ist weit, doch Wort ist Wort und hält Bestand!“
Was wollte der Strudel sagen?
„Niemand zweifelt an Deiner Beständigkeit“, versicherte der Magister.
„Höre nun, ein einziges Mal will ich zu euch sprechen: Was ich stets sagte galt, der Weg zurück
ist euch versagt, sofern ihr dortiges für eures erachtet. Das Spiel könnt ihr spielen, doch geht nicht
zu weit. Nicht einen von euch werd’ ich lassen ans andere Ufer, wo das Güldene wächst!“
Schlagartig zog sich das Tor zusammen und all die Wassermassen waren weg. Alix stand im
dunkeln und er flehte, jemand würde eine Kerze anzünden. Er wagte sich nicht zu rühren und
fürchtete namenlose Schrecken überall.
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Dann - scheinbare Äonen später - klang ihm eine ferne, vertraute Stimme ans Ohr: „Alix! Alix!
Aufwachen! Jetzt wach schon auf!“
Irian stand neben ihm. Ringsumher war immer noch die Schwärze. Doch in der Gegenwart seines
Freundes fürchtete sich Alix plötzlich nicht mehr. Der ältere Magister lächelte ruhig, gelassen
und freundlich - wie immer. Dieser vertraute Gesichtsausdruck untermalte die sanfte,
beruhigende Stimme und verlieh ihr Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft: „Alix. Es ist gut.
Die Menschen dort draußen haben arge Angst um dich.“
„Was soll ich tun?“, fragte er verunsichert.
„Wach doch bitte auf“, bat Irian.
Im nächsten Augenblick sah er nur das Gesicht seines Freundes vor sich, keineswegs gelassen
und ruhig, wie in seinem Traum, sondern hochrot, aufgeregt und ernsthaft besorgt. Alix fehlte
jede Orientierung. Er fühlte sich endlos schwach und ein unglaublicher Lärm tönte in seinen
Ohren, wie Rauschen von tausend Ozeanen.
Es dauerte einige Zeit, bis ihm klar wurde, daß dieses Rauschen nur in seinem Kopf existierte. Er
verstand Bruchteile von Wörtern und Sätzen, die sein Freund zu ihm sprach und allmählich
flachte das beklemmende Gefühl ab und die Erinnerung an seinen Aufenthaltsort - die Kajüte auf
der Fürstes Gold - kehrte zurück.
„Was ... ist los?“ stammelte er zusammen und er merkte, daß er Probleme hatte seine Sprache zu
koordinieren.
„Du warst völlig weggetreten“, erklärte Irian besorgt, „Du hast plötzlich angefangen furchtbare
Krämpfe zu bekommen und dann bist du aus deiner Koje gestürzt. In zehn Minuten habe ich dich
nicht munterbekommen. Was ist nur los mit dir?“
Alix schüttelte den Kopf. Eine erschöpfte Müdigkeit verweigerte ihm viele Worte und er sagte
nur ganz knapp, daß er schlafen müsse. Irian befühlte seine Stirn und sagte besorgt etwas, dessen
Inhalt der jüngere Magister nicht verstand.
Irgendwie kam er in seine Hängematte und schlief einen langen, ruhigen Schlaf.
„Ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären. Du hattest kürzlich Fieber, daß ich fürchtete,
du würdest Feuer fangen und nun bist du wieder völlig gesund?“
Nun, völlig gesund war er nicht. Alix fühlte sich noch schwach und er war noch etwas wackelig
auf den Beinen, ansonsten ging es ihm aber recht gut. Er stand mit Fiana und dem anderen
Magister an der Reling und hatte gerade von seinem seltsamen Traumerlebnis erzählt. Danach
hatte er offenbar knapp zwanzig Stunden durchgeschlafen, war dann schlaftrunken aufgestanden,
um die nächste Nacht auch noch durchzuschlafen. An die kurze Wachphase, die dazwischen
gelegen hatte, erinnerte er sich nicht mehr.
„Ich kann das eigentlich nur durch eine Sache erklären“, grübelte Irian, „Efferd hat dir ein
Zeichen gesandt.“
„Das hätte er auch freundlicher machen können“, meinte Alix ironisch. Doch Fiana nickte.
„Warum nicht? Die Worte, die er sprach, weisen definitiv auf eine Warnung hin. Wir sollen nicht
auf diese Insel fahren...“ Alix hatte die Prophezeiung wortgetreu wiedergeben können - allein das
grenzte an ein Wunder.
Der alte Magister schüttelte den Kopf. „Was er stets sagte gilt. Es geht um das Güldenland.
Nichts, was aus dem Güldenland kommt, läßt Efferd nach Aventurien. Er erinnert uns daran. Es
geht gar nicht um die Insel.“
„Weiß Efferd vielleicht nicht, daß wir nur auf die Insel wollen?“, warf Alix ein.
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„Wir können davon ausgehen, daß er die Beweggründe jedes Einzelnen kennt“, behauptete die Elfe. Irian nickte zustimmend. „Der Punkt ist nicht der Grundgedanke der Expedition. Wenn Efferd uns als Güldenlandfahrer ansieht, so sollten wir uns fragen, woher seine Ansicht kommt.“ Zander runzelte die Stirn. „Ich dachte, man kann über Götter nicht so denken wie über Menschen, weil man dann auf das ‘An-sich’ schließt, was nicht möglich ist, weil unser Denken aufgrund unserer Erfahrung entstanden ist und unsere Erfahrungen beinahe ausnahmelos nicht transzendal sind.“ Sein Freund nickte versonnen. „Wir können nicht unsere Logik auf die Götter anwenden, weil deren Logik unserer übergeordnet ist und unsere ihre nicht einschließt, das ist richtig. Aber man muß auf irgendeine Weise Schlüsse ziehen und sie würden keine Zeichen geben, wenn sie nicht wöllten, daß wir sie in irgendeiner Weise erkennen. Also denken wir, wie wir denken und hoffen, daß es richtig ist.“ „Was ist, wenn sie denken, daß wir denken, daß wir denken sollen, wie sie denken, weil wir wissen, daß unser Denken dem ihrigen nicht gleich ist und sie deshalb uns zum Anders-Denken anhalten wollen?“ Fiana sah Alix verwirrt an. „Das ist aber die schwierigere und unberechenbare Variante. Laßt uns doch zuerst davon ausgehen, daß wir sie mit unserer Logik deuten. Was will uns der Gott der Meere dann damit sagen?“ Irian zog unter seinem Mantel seine Pfeife hervor und begann sie sich zu stopfen. Seelenruhig zündete er sie an und seine Zuhörer warteten auf seine Worte, die sie - da er der Weiseste unter ihnen war (und das zweifellos genoß) - hören wollten, bevor sie sich ihre eigene bildeten. „Als erstes“, begann er und stieß einen Rauchkringel aus, „könnte es sein, daß Efferd Albernias Expansionsfreude und die ‘Verschmelzung’ zwischen Güldenland und Aventurien sieht.“ „Fraglich ist nur, ob solch weltliche Dinge ihn interessieren“, gab die Adepta zu bedenken. Alix nickte. „Könnte es nicht sein, daß bereits Pläne bestehen, die eine Besiedelung oder wenigstens einen Besuch im Güldenland vorsehen?“ Er sah skeptisch hinüber zur Kapitänskajüte. Irian sog an seiner Pfeife, als käme dort die pure Weisheit heraus. „’Spielt das Spiel’, hatte er gesagt. Das Spiel ist diese nette Expedition, die kindliche Freude Neuland zu entdecken. Er sieht uns selbst im Moment nicht als Bedrohung seines einstigen Schwurs und damit der Selbstverständlichkeit des Güldenlandes an. Wir sollen nur nicht zu weit gehen...“ „Moment“, warf Fiana ein, „wenn diese Mission Erfolg hat, wird das auf Kurz oder Lang eine gewaltige Änderung für Aventurien geben. Wenn Efferd das mit seinem Satinav unabhängigen Blick nicht sieht, heißt das, daß wir von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind?“ Alix sah Irian an, der schweigend auf seiner Pfeife kaute und zurückstarrte. Dann zuckte er mit den Schultern. „Was doch viel wichtiger ist“, interpretierte er die Prophezeiung weiter, „er erweitert seinen einstigen Schwur nichts aus dem Güldenland nach Aventurien zu lassen. Sagte er nicht eindeutig, er würde keinen einzigen von uns dorthin lassen?“ Alix nickte heftig. „Das ist ein ernstzunehmendes Problem. Einmal auf der Insel ist der Weg dorthin nur noch halb so weit. Wer weiß, wer dann auf dumme Gedanken kommt. Informieren wir die anderen darüber?“ Der ältere Magister überlegte. „Würden wir denn auf große Glaubwürdigkeit stoßen?“ Ein kurzes Schweigen.
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Dann schien Fiana diese Aussage auf einen anderen Gedanken gebracht zu haben. „Warum bekommt aber gerade Alix diese Vision? Wir werden von zwei Efferdpriestern begleitet, diese wirken nicht sehr bedrückt.“
Der Magister sah sie an. „Vielleicht wegen unserem Tempelbesuch neulich?“
„Ihr wart im Tempel?“, erkundigte sich Irian.
Zander nickte. „Ja, ich habe mein gespanntes Verhältnis zu den Zwölfen ein wenig versucht aufzulockern. Aber ich bin niemals der frommste Mensch hier an Bord.“
Irian zuckte lässig mit den Schultern und meinte: „Die Wege der Zwölfe sind unergründlich.“ Dann klopfte er seine Pfeife aus und sah vor zum Bug. Dort stand Zordan mit ausgebreiteten Armen und rief: „Und ich bin immer noch der König der Welt!“
„Laßt mich euch beweisen, was ich vorgestern in der Komüse behauptete“, schlug der ältere Magister mit einem verdächtig kecken Grinsen vor und klopfte seine Pfeife aus.
„Ach, Zordan...“
„Ja?“
„Du willst mir doch sicher bei einem wissenschaftlichen Experiment behilflich sein, oder?“
Der Dieb beäugte seinen alten Bekannten mißtrauisch. Wenn er schon so ankam, konnte das nur
gefährlich werden...
„Das kommt ganz darauf an...“
Irian zog ihm den Strohhut vom Kopf und sah ins Wasser. Die Fürstes Gold jagte ganz an der
Spitze der kleinen Flotte über das Meer und teilte die Fluten vor sich. Der scheinbare Gegenwind
bewies ihre hohe Geschwindigkeit.
Urplötzlich warf der Magister den Hut schräg nach vorn in die Luft, Zordan schrie auf und wollte
gerade auf Irian losgehen, als er sah, wie das Schiff unter dem Hut sozusagen entlangsauste und
er nicht - wie erwartet - in die Fluten stürzte, sondern rasch aber irgendwie doch elegant auf dem
Deck landete und entlangschlitterte. Ein Matrose, der gerade das Deck schrubbte sah auf,
entdeckte den Hut und wandte sich mit einem „Diese Magier!“-Kopfschütteln wieder seiner
Arbeit zu.
Alix stand da und guckte dumm. Irian grinste heldenhaft, zog ein Zigarillo und Zunder hervor,
steckte sich das Rauchwerk in den Mund, entzündete das Zunderholz an Alix’ Mantel und steckte
sich lässig das Zigarillo an.
Damit drehte er sich um und ließ seine Begleiter allein.
50
Kapitel 7
E
s war ein sonniger Tag, eine frische Brise wehte und trug die vier großen Schiffe
über die See. Aber es war nicht richtig stürmisch, wie Zordan feststellte, als er gutgelaunt am Morgen auf Deck kam. Er gähnte herzhaft und streckte sich. Am Himmel waren nur vereinzelte, schneeweiße Schäfchenwolken und das Sonnenlicht glitzerte im klaren Wasser des Meeres der sieben Winde. Glücklich und zufrieden schlenderte der Meisterdieb zur Reling und schaute hinab zu den Wellen. Der Bootsmann rief irgendeinen Befehl übers Deck und einige Matrosen sprangen auf, um diese sofort Folge zu leisten. Interessiert drehte sich Zordan um und betrachtete lässig an die Reling gelehnt das Treiben an Deck. Es war ruhiger geworden. Wenn er sich noch an das Gewimmel und Gehetze beim Start erinnerte, war es heute wirklich ruhig. Trotzdem freute er sich über die arbeitenden und eilenden Matrosen und war froh, nicht auch mitmachen zu müssen. Im Prinzip war er ja so eine Art SWP (Sehr wichtige Person). Das gefiel ihm. Er hatte schon vieles erlebt und vollbracht in seinem Leben, an der Seite der größten Helden und strahlendsten Ritter, doch stets hatte man ihn eher mit Mißtrauen betrachtet und nur gebilligt, weil ein Falk Rondralon, Rondriane Haffax oder Irian Sturmfels sagten, er sei ihr Freund. Dieses Erlebnis verdankte er ja auch nur einem Freund. Hätte Alarion ihn nicht mitgenommen, würde er jetzt in Havenas Straßen Menschen bestehlen, in Banken einbrechen oder für irgendeine Gilde, Kirche oder einen Fürsten etwas stehlen. Ja, auch diese Institutionen und Menschen brauchten manchmal die Hilfe von lichtscheuem Gesindel wie ihm. Doch er war glücklich sich hier in der Sonne sonnen zu können und die salzige Meeresluft zu schmecken. Wider erwarten war er nicht einmal seekrank geworden. Was war er doch für ein glücklicher Mensch? „Seht doch mal, dort unten!“ Zordan drehte sich um und sah eine junge Frau, die nur ein Stück von ihm entfernt, sich weit über die Reling lehnte und mit dem Finger zum Bug der Havenas Stolz zeigte. Einen Moment lang blieb sein Blick an dem schönen Gesicht seines Gegenübers hängen, dann wandte blickte er auch ins Wasser. „Was?“ Er sah nichts. „Na dort!“ Sie beugte sich noch weiter vor und plötzlich schwankte sie. Zordan machte zwei Sätze, während die Fremde mit dem Gleichgewicht zu ringen schien. Sie wedelte mit den Armen und wollte sich festhalten, doch dabei rutsche sich kopfüber von der Reling. Zordan packte zu und er hätte schwören können, daß wenn er einen Wimpernschlag später gekommen wäre, sie nun in den Fluten schwimmen würde. Doch er hatte sie gepackt und versuchte sie zurück an Bord zu zerren. „Zu Hilfe!“, rief der Dieb und „Laßt mich bitte nicht los!“, rief die Fremde panisch und Zordan nickte entschlossen. Er war nicht der Stärkste, aber er war fest entschlossen, diese Dame nicht den Efferd zu überlassen. Auch sie zog an ihm. Mit einem Ruck zog er sie zurück über die Reling. Sie stürzten rückwärts auf die Planken, immer noch an einander gekrallt und schwer atmend. Zordan, der unter ihr lag (was ihn nicht gerade störte) blickte ihr ins Gesicht. Ihre goldenen Haare glänzten wie auch die Wellen im Licht von Praios. 51
Einige Matrosen waren herangeeilt und blickten jetzt nicht unbelustigt auf das Paar hinab. Die
Fremde schien sich erst jetzt darüber im Klaren zu werden, daß sie auf Zordan lag. Ihr Gesicht
färbte sich leicht rötlich, doch es wäre noch peinlicher gewesen, wenn sich jetzt beschämt
aufsprang. Sie schluckte.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Zordan - der Situation bewußt - und lächelte.
Sie nickte. „Ja, ich glaube schon.“
„In der Lage würde es mir auch gutgehen!“, rief irgendein Matrose von weiter hinten. Schwere
Schritte kamen an und die Menge teilte sich.
„Was ist hier los?“, herrschte der dunkelhaarige Mann mit der Augenklappe die Menschen an.
Zordan kannte ihn. Es war der Bootsmann.
„Es ist alles wieder in Ordnung“, versicherte Zordan. Der Bootsmann blickte zur Reling und zu
den beiden auf dem Boden und es schien, als verkniff er sich gerade ein Grinsen.
„Zurück auf eure Posten!“, rief er und die Matrosen begannen sich zu verstreuen. Sie liefen
zurück zu den fallengelassenen Gerätschaften, den Tauen und Winden und all den Dingen, die
ihre Beschäftigung an Bord waren. Zwischen alledem lagen Zordan und die Gerettete aufeinander
und lächelten sich an.
„Zordan ... ohne Nachnamen“, stellte er sich vor.
„Verena. Ich bin Köchin.“
Der Dieb lächelte verschmitzt. „Ach deshalb schmeckt das Essen hier so gut ... bei solchen
Köchen.“
Langsam erhob sich Verena und sie verzog das Gesicht wegen des Komplimentes. „Wer seid ihr,
der schiffseigene Herzensbrecher?“
Auch Zordan stand auf. Beide lächelte sich an. „Nein. Ich bin der schiffseigene Köchinnenretter.“
Sie nickte. „Ach so...“
Einen Moment lang wußten beide nicht so recht, was sie sagen sollten. Zordan sah ihr ins Gesicht
und sie flüchtete mit ihrem Blick auf dem Boden, dann auf die Kapitänskajüte. Zwei Männer
traten dort gerade ein. Ein dritter, der sie geführt hatte, hielt ihnen die Tür auf, folgte ihnen aber
nicht.
„Was wolltet Ihr mir denn zeigen?“
„Wie?“, fragte sie verwirrt.
„Na eben an der Reling.“
„Delphine“, meinte sie und zeigte mit dem Daumen hinaus aufs Meer, „sie schwimmen an
unserem Bug.“
Zordan ging zur Reling und blickte hinüber. Er lehnte sich weit nach draußen und ... tatsächlich -
dort schwammen sie! Sie tummelten sich in Efferds Element, sprangen und tanzten mit dem
Schiff und den Wellen. Welche ein Schauspiel! So etwas hatte er noch nie gesehen.
Urplötzlich spürte er ihre Hände, wie sie ihn am Oberkörper festhielten. Er drehte sich fragend
um.
„Ich will doch nicht, daß ihr auch noch über Bord fallt“, meinte sie schmunzelnd, „ich könnte
euch nicht auffangen.“
Zordan lachte auf. Dann meinte er: „Wenn Ihr schon meinen Nachnamen nicht kennt und mir
euren auch nicht verraten habt, so könnt Ihr auch ‘du’ zu mir sagen.“
Erstaunt sah sie den Meisterdieb an. Dann nickte sie und ihre goldenen Haare schienen im
Fahrtwind zu schweben.
„Efferds Tiere“, meinte sie und meinte damit die Delphine, „Das ist ein gutes Omen.“
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„Ein sehr gutes“, versicherte Zordan. Er wollte gerade noch etwas ergänzen, da meinte sie: „Aber
ich muß jetzt unter Deck. Die Mannschaft braucht ja etwas zu essen.“
Er streckte die Hand aus, sie machte aber einen spielerischen Schritt zurück. Mit einem großen
Satz stand er direkt vor ihr und meinte leise: „Sehen wir uns heute Abend?“
Verena zuckte mit einem pfiffigen Lächeln mit den Schultern. „Wer weiß“, meinte sie und biß
sich auf die Unterlippe. Damit drehte sie sich um und tänzelte beinahe davon.
Zordan blieb noch eine Weile so stehen. Ja, heute war ein guter Tag!
Admiral Elwicks wichtigster Raum, die Kapitänskajüte, war einem Herrscher würdig ausgestattet.
Man merkte, daß es des Admirals letzte große Reise war. Er hatte alle seine Auszeichnungen und
Utensilien mitgenommen. Verschiedenste Gerätschaften hatten in einer sorgfältigen Ordnung
ihren Platz. Eine prächtige Ausführung des Folianten, mit goldberandetem Edelholzumschlag und
Praios und Mada als Goldgravuren auf der Frontseite lag auf dem Blutulmenschreibtisch.
Verschiedenste Pergamentrollen mit technischen Zeichnungen der vier Schiffe und allerlei Daten
über sie fanden in einem Regal Platz und exotische Ziergegenstände zeugten von den unzähligen
Fahrten des alten Veterans.
Im Moment stützte er auf seinem Schreibtisch über einer Karte. Neben ihm stand Bootsmann
Ferdek mit der Augenklappe, Lealoarn Hermson, Christophian Columb und ein sichtlich
uninteressierter Harion Ui Bennain.
Schon als Irian und Alarion den Raum betraten und ihre Blicke flüchtig über die schöne und nicht
ungemütliche Einrichtung schweifen ließen, wußten sie, daß ihr Herbeirufen nichts Gutes
verheißen konnte.
Nickend grüßten sie in die Runde. Der Magister stellte sich neben den Admiral und riskierte
einen Blick auf die säuberlich gezeichnete Karte, die sicherlich nicht der Organisator gezeichnet
hatte, für den Ordnung wohl etwas anders definiert war.
„Haben wir ein Problem?“, erkundigte sich Irian auf sehr direkte Art und Weise.
Christophian zuckte mit den Schultern. Der Admiral schwieg und schien zu überlegen. Lealoarn
hatte seine übliche teilnahmslose Miene und Harion schien an irgend etwas anderes zu denken.
Schließlich ergriff doch Roggunder das Wort: „Wir liegen gut in der Zeit, das Wetter stimmt und
die Moral ist die höchste, die ich je auf einer Fahrt erlebt habe.“
„Das ist kein Wunder bei einem solchen Vorhaben“, meinte Alarion.
Irian nickte. „Richtig. Kritisch wird es erst, wenn wir die Erwartungen der Mannschaft und der
Siedler nicht erfüllen.“
„Das stimmt. Aber wir hatten heute morgen in den frühen Stunden eine Begegnung“, erklärte
Elwick.
„So?“
Er nickte. „Wir hatten ein Schiff, was sich uns genähert hat. Dann hat es den Kurs geändert und
fuhr davon.“
„Und?“, wollte der Halbelf wissen.
„Das Schiff fuhr ohne Flagge“, erklärte Christo.
Alarion schien immer noch nicht zu verstehen.
„Piraten“, riet der Magister.
„Vermutlich.“
„Ich sehe darin keine Bedrohung“, meinte Harion, „Wir haben die Harion Ui Bennain an unserer
Seite. Was sollten die uns tun?“
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„Ich denke unsere kleinste Sorge ist dieses Kriegsschiff“, erläuterte Irian, „Was ist mit der
Fürstes Gold, unserem Siedlungschiff? Ich denke es geht weniger darum, daß wir alle vernichtet
werden, was kaum möglich ist durch nur ein Piratenschiff, aber wenn ein Schiff zerstört wird,
kann das die ganze Kolonisation zunichte machen.“
„Ohne die Fürstes Gold können wir wieder umkehren“, gestand der Admiral.
„Unsinn!“, rief Harion aus, „wir werden siedeln, egal was passiert. Wir sind Albernier, wir
schaffen alles.“ Elwicks Züge verfinsterten sich. Irian glaube, gleich würde er den Prinzen
angehen. Aber nichts dergleichen geschah.
„Das mag ja sein“, meinte Christophian beschwichtigend, „aber es wäre viel besser, wenn wir alle
heil zur Insel kommen.“
„Was gibt es konkret für Lösungsmöglichkeiten?“, wollte der Magister wissen.
„Punkt eins: Wir ändern den Kurs. Die Verfolger können ihn durchaus nun wissen, wobei sie
mehrere Möglichkeiten hätten uns anzugreifen. Wenn sie unseren Kurs wissen, könnten sie uns
zum Beispiel auch überholen. Wir sind zwar relativ schnell, aber mit der Fürstes Gold können
wir niemals die Havenas Stolz volle Fahrt machen lassen.“
Irian überlegte. „Finden wir denn zurück zu unserem ursprünglichen Kurs?“
„Theoretisch schon“, erklärte Hermson, „aber da wir den genauen Weg zur Insel nicht kennen
könnten wir dadurch Stellen verpassen, die ich mir im Ozean gemerkt habe und so würde ich gern
den Weg fahren, den ich auch mit den Thorwalern gefahren bin.“
„Wir wissen nicht genau, wo es liegt?!“, entfuhr es Alarion entgeistert.
Der Admiral sah ihn streng an. „Erzählt das nicht der Besatzung, sonst gibt es eine Panik! Wir
wollen noch eine Weile von der guten Moral leben!“
Irian rollte mit den Augen. Er drehte sich um und schlendert ein Stück durch den Raum, während
er mit beiden Händen seine Schläfen massierte. Es war unfaßbar! Sie fuhren sozusagen beinahe
ins Blaue. Und keiner wußte es!
„Wie viele Menschen wissen dann, daß wir den genauen Weg nicht haben?“, fragte er schließlich.
„Nur diese Runde“, gestand der Thorwaler.
„Und ... der Fürst?“, fragte Alarion vorsichtig.
Ein Kopfschütteln seitens Elwicks.
Einen Moment lang herrschte Stille. Dann nickte Irian. Warum sollte er sich aufregen? Sie
würden damit sowieso nichts am Tatbestand ändern. „Gut. Also halten wir den Kurs.“
Der Rest nickte. Im Prinzip wollte man nur die Bestätigung vom weisesten Mann an Bord haben,
damit man sein Gewissen entlastete und im Notfall ihn vielleicht sogar dafür schuldig machen
konnte.
„Wir verändern die Formation und holen die Fürstes Gold in die Mitte zwischen die anderen
Schiffe. Außerdem erhöhen wir die Matrosen im Ausguck, versetzen mehr Schiffsschützen in
Bereitschaft und stellen mehr Nachtwachen auf. Das ist alles, was wir tun können.“
Der Magister nickte. „Ja. Gibt es noch etwas, was ihr vor uns verheimlicht habt?“
Der Admiral schüttelte den Kopf. Damit war das Gespräch beendet.
Die Tür zu Irians und Alix’ Kajüte war ein Stück geöffnet. Weit genug, daß man den jüngeren Magister dort mit freiem Oberkörper auf den Fäusten seine täglichen Liegestütze machen sehen konnte. Im Prinzip war dies nichts besonderes, wenn man mal außen vorließ, daß Magier für gewöhnlich kaum normale Liegestütze konnten. Dieser Zander war anders. Er durfte schon über fünfzig haben und das auf den Fäusten!
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Den durch den Gang eilenden Matrosen interessierte das wenig. Es gab da allerdings eine Person,
die Alix gern dabei zusah...
Fiana lehnte mit dem Kopf an der Wand und schaute aus ein paar Schritt Entfernung dem
Magister zu. Sie lächelte und schien mit ihren Gedanken nicht ganz im Hier und Jetzt zu sein.
Erst als Alix sich schnell atmend erhob und den Schweiß mit einem Tuch abwischte, ging sie auf
ihn zu. Er entdeckte sie erst, als sie zaghaft an der Tür klopfte.
„Guten Morgen, Magister.“
„Morgen, Fiana!“ Er lächelte und hob sein Hemd von einer Truhe auf, in der die beiden Zauberer
ihr Hab und Gut verstaut hatten.
„Wie viele waren das denn?“, wollte sie wissen.
„Siebzig ... wie jeden Tag.“ Er rückte sein Hemd zurecht.
„Du bist außergewöhnlich“, meinte sie versonnen.
Der Tuzaker Magier sah sie verwundert an. „Wieso denn das?“
„Ich kenne keinen Magier, der derartig auf seinen Körper achtet wie du.“
Er lächelte. „Soso ... wie dem auch sei. Laß uns doch ein Stück über Deck spazieren gehen. Da
gibt’s zwar nichts, was wir noch nicht gesehen hätten, aber immerhin ist dort frische Luft.“
Sie nickte und beiden liefen zum Ende des Ganges, wo sie die Leiterplanken hinauf an Deck
stiegen. Sogleich wehte der Fahrtwind den beiden einige Wassertropfen vom Bug her entgegen.
Die salzige Luft schmeckte frisch und der Himmel war klar.
„Du wolltest mir weiter von dieser Lebenslehre erzählen...“
Alix nickte. Sofort war er wieder bei dem Thema, was sie gestern abend unterbrochen hatten.
„Die Lehre des mittleren Weges. Es ist relativ einfach: Lebe in der Mitte zwischen den
Extremen.“ Er lief zur Reling, wo ein Stück entfernt auch Zordan stand und ungewöhnlich
verträumt zum Horizont sah. Der Magister wollte grüßen, ließ es aber, da der Dieb offenbar nicht
ganz zurechnungsfähig war.
„Für jede Tat gibt es Extrema. Du kannst beim Reiten dein Pferd zu Tode schinden oder du
kannst so langsam herumgammeln, daß du nie im Ziel ankommst. Der wahre Weg ist der
mittlere. Wenn du im richtigen Tempo reitest, schadest du damit nicht deinem Pferd und kommst
auch relativ gut voran. Und das kann man auf alles beziehen. Du kannst fressen bis zum Umfallen
oder so wenig, daß du beinahe verhungerst. Oder du ißt, bis zu satt bist.“
„Das muß man aber differenzieren“, warf Fiana ein, „Ein Bettler, der nie weiß, wann er das
nächste Mal etwas zu beißen bekommt, wird sich vollstopfen bis es nicht mehr geht. Ein Adliger,
der nicht einmal weiß, was Hunger überhaupt bedeutet, kann stets geregelt essen.“
Der Magister lächelte. Er mochte es, wenn sich seine Gesprächspartner aktiv beteiligen und
kritisierten. Ein wenig gesunde Kritik konnte nie schaden, so fand er. Und wenn Theorien von
anderen kritisiert wurden, war das eine Möglichkeit, auch einmal deren Standpunkte anzuhören
und die Theorie zu verbessern und zu variieren.
„Richtig. Deshalb ist es auch so schwierig den rechten Weg zu finden. Es gibt praktisch keinen
Menschen, der immer genau in der Mitte zwischen allen Extremen lebt.“
„Wozu dient sie dann?“
„Sie ist eine Lebensphilosophie, ein Ideal, ein Leitfaden. Man sollte seine Entscheidungen immer
nach diesem Gesichtspunkt versuchen zu treffen. Es gelingt nie wirklich. Das hat auch der
Urheber erkannt. Er sagte, daß es in der Hand eines jeden Einzelnen liege, in wie weit er wann
seine Entscheidungen so trifft. Und der vernünftige Mensch wird meistens richtig handeln, wenn
er danach handelt.“
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Der Magister sah seine Zuhörerin an. Die Elfe, die Alix die ganze Zeit angesehen hatte, wandte
sich abrupt ab und fixierte einen imaginären Punkt im Meer. „Wer... war denn der Erfinder der
Theorie?“
„Sie ist eigentlich unter den Druiden sehr verbreitet. Ich habe mal eine Weile bei einem Druiden
gelebt...“
„Keiner Druidin?“, wollte sie grinsend wissen.
Zander lachte. „Nein. Aber keine Sorge, ich begehre keine Männer. Wir waren nur Freunde.“
Eine kurze Pause. „Ursprünglich stammt die Idee von einem weisen Druiden der Vergangenheit
mit dem Namen Aristotéles. Er schrieb seine Gedanken im ‘Corpus Aristotelicum“ nieder.“
„Ein Druide der schreibt?“, fragte Fiana erstaunt.
Alix nickte. „Sicher. Druiden sind nicht nur Wurzelzwerge mit langen grauen Bärten. Es gibt
viele verschiedene Individuen. Ich bin mal einem begegnet, der überzeugter Koranhänger war...“
Sie blickten eine Weile schweigend aufs Meer. Fiana war ein wenig unbehaglich zu Mute, doch
schließlich meldete sie sich wieder zu Wort: „Was ist mit einem Mord? Ist die Tat denn gut,
wenn ich ihn nicht zu sehr verletze dabei oder ihn nicht zerfetze? Ist ein ‘normaler’ Mord denn
dann moralisch?“
„Da gibt es eine weitere Einschränkung. Moralisch schlechte Taten sind immer schlecht, weil es
bei ihnen keine Mitte gibt, die man als gut empfinden kann.“
„Das ist ja alles sehr eine Frage der Definition, nichts Konkretes...“
Alix lächelte. „Das ist in der Philosophie immer so. Du findest nie wirklich Konkretes und auch
scheinbar eindeutige Beweise können durch andere in Frage gestellt werden. Das ist ja das
Faszinierende. Man findet nie ein wirkliches Ende, kommt der Lösung aber immer näher.“
„Oder man entfernt sich von ihr.“
„Richtig“, meinte er.
„Du beschäftigst dich gern mit Philosophie, was?“
Alix nickte.
„Was...“, begann Fiana merklich langsam, „sagt die Philosophie über Liebe?“
Natürlich entging Alix ihr fordernder Blick. Er sah lediglich aufs Meer und antwortete poetisch:
„Liebe ist ein Gefühl, was man nicht versucht zu ergründen!“
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da knallte es hinter ihnen. Sie drehten sich um und
sah, wie zwei Matrosen zusammengestoßen waren. Der eine trug ein sorgfältig
zusammengerolltes Tau, was ihm nun von der Schulter gerutscht war und sich - Phex war wohl
nicht mit ihm - nun ein ganzes Stück auseinandergerollt hatte. Der andere wollte wohl gerade das
Deck schrubben und die gesamten Fluten seines Eimers hatten sich auf die Hose des Seilträgers
ergossen. Dieser stieß ihn sofort grob an. „Du dämlicher Orkenpudel!“
Der andere erkannte, was er angerichtet hatte und wollte offenbar beschwichtigen: „Entschuldige,
das war ja...“
„Was war das? Die Hose hab ich von meiner Frau in Handarbeit bekommen und das dämliche
Tau...“
„Von deiner Frau?“, giftete der andere zurück, „So sieht sie auch aus.“
„Dir werd’ ich...“ Er stürzte sich auf den Deckschrubber und schlug wild auf ihn ein. Einige
Matrosen rundherum sahen zu, andere feuerten ihn an, aber keiner ging dazwischen. Der
Angegriffene merkte erst nicht so recht, was los war, wehrte sich dann aber auch mit Händen und
Füßen.
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„Du Schwaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain!“, brüllte er und hieb wie verrückt nach dem Seilträger. Doch dieser hatte wohl die gnadenloseren Schläge und versetzte seinem Opfer einen Hieb nach dem anderen. „Siehst du“, meinte Alix zu den Raufbolden nickend, „hätten die sich an die Lehre des mittleren Weges gehalten, hätten sie diese Probleme nicht. Er hätte ja nicht gleich so überreagieren brauchen...“ Er stieß sich von der Reling los, um hinüber zu den beiden zu gehen und sie auseinanderzubringen. „SCHLUß!“, brüllte Bootsmann Ferdek, der gerade aus der Kapitänskajüte geeilt kam. Doch die beiden dachten nicht daran. Der Deckschrubber hatte sich gefangen und setzte auch ordentlich dem Angreifer etwas entgegen. Wild prügelnd rollten sie sich über den Boden. „Schluß!“, brüllte es ein zweites Mal. Doch um so stärker schienen sie aufeinander einzuschlagen, weil sie ja wußten, daß sie gleich getrennt werden würden und dem Gegner noch ordentlich etwas verpassen wollten. „Verrecke, du Schwein!“, brüllte der Angegriffene wieder. „Trennt sie, aber plötzlich!“, donnerte Ferdek. Keiner der Matrosen schien sich angesprochen zu fühlen. Fünf der an Bord stationierten Seesöldner stürzten heran. Sie hatten wohl mitbekommen, was geschah. Zeitgleich mit Alix erreichten sie die Streithähne und zerrten sie auseinander. Beide wiesen verschiedene Platz- und Schürfwunden auf, wollten sich aber wieder aufeinander stürzen. Die Soldaten zerrten sie auseinander. Doch der Seilträger war kein schwacher Mann und in einer günstigen Sekunde riß er sich los und sprang auf seinen Gegner los ... und direkt in Zanders Faust hinein. Der Schlag traf mitten ins Gesicht und war so heftig, daß der Matrose schwungvoll rückwärts hinflog und sich schmerzerfüllt seine Visage hielt. Er stöhnte und schimpfte, wurde aber sogleich wieder von den jetzt auch wütenden Soldaten gepackt. „Sperrt sie ein“, befahl Ferdek, „der Admiral wird über sie entscheiden.“ Die Seesöldner nickten und schafften beide fort. Der Bootsmann nickte Alix anerkennend zu. „Guter Schlag ... für einen Magier.“ Dieser lächelte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war nicht einfach gewesen die beiden Raufbolde zu trennen. Dann folgte Ferdek den Seesöldnern unter Deck. Sie schleppten die beiden kraftlosen Matrosen in eine Kammer, wo sie sie auf den Boden fallen ließen. Auf ein Zeichen Ferdeks warteten sie mit dem abschließen. Der Bootsmann trat ein. Der Seilträger sah mit seinem blutigen Gesicht auf und blinzelte. Ein kräftiger Tritt traf ihn in die Magengegend. Er keuchte. „Was habt ihr euch dabei gedacht, ihr Goblinvergewaltiger?“ Er packte den einen an den Haaren und zerrte den jämmerlich winselnden brutal nach oben. „Ihr wahnsinnigen Penner!“ Er rammte seine Faust mit aller Gewalt in das Gesicht des Opfers, dabei flog dieser zurück und Ferdek behielt einige Haare in der Hand. Angewidert ließ er sie fallen. Dann erhob er sich. Zweimal trat er noch zu, dann verließ er die Kammer und die Söldner verriegelten die Kammer. „Das gefällt mir vielleicht...“, meinte der Bootsmann sarkastisch, „wißt ihr, was ich mir vom Elwick jetzt wieder anhören darf? Dann fängt er wieder an, ich hätte meine Männer nicht unter Kontrolle. Und dieser eklige Bennain! Uns regiert ein Großvater, ein Schönling und eine Hand voll Gelehrter... darf nicht wahr sein!“
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Einer der Soldaten nickte. „Dabei sind wir es letztendlich, die hier die Ordnung auf dem Schiff halten. Ohne uns wären die doch aufgeschmissen!“ Ferdek hielt kurz inne. Er wußte, daß die Männer genauso wie er dachten. Er überlegte kurz. „Du hast recht“, gestand er, „wir sind die Macht auf diesem Schiff. Fünfzehn Krieger und ich, der Rest sind doch entweder Befehlsempfänger oder unfähige Befehlsgeber. Aber die wahre Macht haben wir!“ Ein anderer meldete sich zu Wort. „Und die bilden sich sonst was ein! Ich erinnere nur an die Geschichte mit dem Hauptmann in der Kombüse.“ „Das war vielleicht eine Orkenkotze“, erinnerte sich ein weiterer, „mir tut immer noch alles weh. Was bilden die sich eigentlich ein?“ Der Bootsmann nickte. „Kann es seien, daß wir als eigentliche Macht auf diesem Kahn ganz schön unterdrückt wird Die anderen nickten zustimmend. Ferdek lehnte sich an die Wand des Ganges und überlegte weiter: „Denken wir das doch einmal kurz durch. Was täte das Schiff ohne Führung?“ „Es bräuchte eine neue“, meinte der eine Soldat verschwörerisch. Ferdek nickte. Es war eine schwierige Situation gewesen, denn niemand wußte, ob der andere vielleicht doch loyaler war, als man dachte. Doch durch den Streit der Matrosen und den gemeinsamen Ärger, hatte man sich schnell über seine Ansichten verständigt. „Aber was ist mit den anderen Schiffen?“, gab einer zu bedenken. „Die können uns nichts. Wir sind das Flaggschiff. Kritisch wird es nur, wenn wir dort ankommen und von Bord gehen. Dann schnappen die uns und schicken uns zu Boron!“ „Das ist noch eine ganze Weile“, überlegte jemand, „Bis dahin könnten wir unsere Macht hier derartig ausgebaut haben, daß die gesamte Besatzung hinter uns steht. Außerdem haben wir alle wichtigen Pläne und Dokumente an Bord.“ Ferdek nickte und grinste böse. Ihm gefiel der Gedanke als Kapitän dieses Schiffes endlich das Joch dieser inkompetenten Führungspersonen abzuwerfen. Er nickte langsam und meinte: „Ja, die Reise wird Veränderungen mit sich bringen. Vielleicht sogar mehr, als sich so manch einer wünscht...“
58
Kapitel 8
D
iese Nacht sollte wohl die aufregendste und überraschendste der ganzen Fahrt werden.
Auch, wenn es im Vergleich zu den Dingen, die wir auf der Insel sehen würden, eher wenig derebewegend war, so geschahen doch einige Dinge, die die Einstellung und Ansichten einiger Personen ebenso veränderten wie die Herrschaftsverhältnisse an Bord. Diese Nacht hatte für einige von uns große Wichtigkeit, Dinge geschahen, die nur Einzelne etwas angingen, doch ebenso passierte etwas, was alle an Bord, ja die ganze Expedition in große Gefahr brachte und für einige das frühe Ende einer eigentlich doch so langen Reise bedeutete. Aber genug von dem Geschwafel eines alten Mannes. Lest weiter und ihr werdet sehen, was ich meine. Prinz Harion Ui Bennain schritt würdevoll und stolz mit aufrechtem Gang über das Deck der Havenas Stolz. Das Flaggschiff lag nicht mehr so weit vor den anderen dreien, man hatte die Formation enger zusammengezogen, aber trotzdem war es die elegante und kraftvolle Spitze der kleinen Schiffskolonne, die am majestätischsten über die Wellen zu fliegen schien. Das richtige Schiff für einen Prinzen, so fand Harion. Man hätte dieses und nicht den alten Kriegskreuzer Harion Ui Bennain nennen sollen... aber nun gut. Besser als gar nichts. Der Prinz lächelte über die Matrosen, die hier und da ihrer Arbeit nachgingen. Es müßte schon einiges passieren, damit er sich zu solcher Arbeit hinabließ. Er hatte doch so einen graziösen und gutaussehenden Körper, daß er diesen doch nie durch derartige Goblinarbeit beschädigen würde. Dadurch nicht, aber vielleicht durch einen Kampf! Ja, eine kleine Kriegsnarbe - vielleicht auf der Wange - würde ihn doch viel männlicher aussehen lassen. Die Frauen wären sicher noch erfreuter über ihn... Dann vielleicht noch einen kräftigen Vollbart und er sähe aus wie ein richtiger Held! Dann könnten ihm nicht einmal solche selbstüberzeugten Schönheiten wie diese Fiana widerstehen. Wer weiß, vielleicht konnten sie es selbst jetzt noch nicht. Harion lächelte bei dem Gedanken, daß sie ihn stets nur so ignorierte, weil sie total heiß auf ihn war und es nicht zeigen wollte. Es war doch eigentlich immer so, oder? Harion entsann sich an all die Frauen und Mädchen, die über die Jahre gegangen waren, seit er sich für das weibliche Geschlecht interessierte. Alle hatten ihm zu Füßen gelegen und ihn am liebsten nicht mehr gehen lassen wollen. Er war eben der Inbegriff eines Mannes, ein Idealbild, dem keine Frau widerstehen konnte. Es gab nur wenige Ausnahmen, aber diese hatte er meist irgendwie gefügig gemacht oder aus der Stadt werfen lassen. Ja, er war ein richtiger Herrscher. Sein Wort wurde von zahllosen stumpfsinnigen Soldaten, Dienern, Bütteln und Gefolgsleuten bedingungslos ausgeführt. Sie liebten ihn doch für seine Stärke und Entschlußkraft. Er erinnerte sich an den Blick des Bootsmanns diesen Morgen in der Kapitänskajüte; er war erfüllt gewesen mit Ehrfurcht und Aufopferungsbereitschaft nur für ihn: Harion Ui Bennain! Ja, Ferdek bewunderte ihn sicher. Das rote Licht des sinkenden Praios reflektierte auf der Wasseroberfläche des Meeres, dessen Wellen sich stetig und in einer großen Ordnung gleichmäßig, aber scheinbar durcheinander Muster in den Ozean spielten. Stolz sah der Prinz hinaus in den Abend. Praios, du wirst die Zeit meiner Herrschaft mit guten Augen sehen, prophezeite er, bald werde ich Fürst von Albernia seien und dann gehört mir nicht nur das Land des Efferd, sondern auch das Güldenland! Und was man in entfernterer Zukunft alles machen könnte... Kolonisation und 59
Eroberungskriege in der neuen Welt - alles Dank der neuen Insel, dem Handelsposten, der unter seinem Kommando errichtet werden würde. Aber das war noch ferne Zukunft und man mußte nicht immer Ungeduld gegenüber Satinav offenbaren, zumal in der Gegenwart oftmals auch viele interessante Dinge waren. Harion erkannte das nun, wo Fiana Eichenblatt das Deck betrat und mit ihren beinahe schwebenden, sanften Schritten, ihre Hüfte aufreizend schwingend und ihre Augenlider verführerisch zuschlagend langsam auf die Reling zuschlenderte. Es wurde dunkler und ein Matrose entzündete die Laterne, die an der Kapitänskajüte hing. Doch das Licht drang nicht an diesem Ausbau des Schiffes vorbei und ließ einige dunkle Stellen dahinter, wo das Kielwasser der Havenas Stolz rauschte. Eben dieses Rauschen schien Fiana sehr zu faszinieren und sie ging langsam dort hin. Harion fühlte große Begierde in sich aufsteigen und durch seinen Kopf jagten die wildesten Phantasien, was er und Fiana dort hinten in der dunklen Ecke machen könnten... Fürwahr war sie im Moment viel zu einsam für eine so attraktive Frau. Er stieß sich lässig von der Reling ab und folgte der Elfe über das ruhige Deck. Es waren nur noch wenige Menschen da, nur ein paar Matrosen, die weiter vorn am Bug ein Tau austauschten, zwei Seesöldner, die in ihrer Nähe plauderten und die Ausgucker im Mastkorb. Nur noch ein ganz dünner Streifen rubinrotes Licht zeichnete sich im Westen am Horizont ab. Es war Abend und ein leichter Windhauch jagte Harion wieder eine Welle von schier unbändiger Begierde durch den Körper. Er blieb stehen als er Fiana gerade so sehen konnte und selbst in dem schwachen Licht erkannte er die Vorzüge ihres Körperbaus. Oh, Rahja hatte die Elfen mehr mit ihren Gaben gesegnet als die Menschen. Der Prinz hatte nie eine solch gutaussehende Frau gesehen, aber die Elfen schienen nur Frauen zu haben, die dem Ideal einer jeden Menschenfrau glichen. Nein, noch besser... Er richtete sich auf und drehte die Ölzufuhr der Laterne ab, so daß die Flamme beinahe augenblicklich erlosch. Selbstverständlich entging das Fiana nicht, so daß sie sich verwundert umdrehte und „Ja?“ fragte. Siegessicher grinsend und auf möglichst leisen Sohlen schlich der Prinz auf seine Angebetete zu. Seine Lust war unbändig und er wünschte sich und Fiana ganz schnell in einen stillen Raum an Bord des Schiffes. „Kann ich Euch helfen?“, wollte die Elfe wissen und unterschwellig schien Angst in ihrer Stimme zu vibrieren. „Mehr als Ihr glaubt“, versicherte Harion, griff ihre Hand und küßte sie kavalierisch. Fiana atmete erleichtert auf, als sie die Stimme des Prinzen erkannte. Etwas nervös schien sie schon gewesen zu seien, so merkte man, als sie erleichtert lächelnd sagte: „Ich dachte schon es wäre ein Überfall oder so etwas...“ Er lächelte zurück. „Lächelt noch einmal für mich!“ „Was?“, fragte sie unförmlich. „Ihr sollt für mich lächeln.“ Sie mußte Lachen. Nicht weil er es sagte, sondern weil er so lächerlich auf sie zukam. Er rückte nahe an sie heran, beinahe zu nah. Ihre langen Finger drückten nicht kraftlos gegen seinen Bauch und hielten ihn so zurück. „Vielleicht ist es ja auch eine Art Überfall“, meinte er vielsagend lächelnd. Sie lächelte noch durch ihr Lachen von kurz davor und sah ihn aber eher ungläubig an. Doch er wußte sogleich, was er zu sagen hatte: „Wir werden bald neues Land erreichen. Ein neues Land mit einem neuen König. Ihr könntet Königin seien...“ 60
Sie nickte schelmisch lächelnd. „Ja. Aber nur wenn ich und der König ein Paar wären.“ Der Prinz fühlte sich bestätigt und glaubte Fuß bei Fiana gefaßt zu haben, so setzte er sogleich noch einen drauf: „Vielleicht könntet ihr das ja.“ „Das glaube ich nicht“, meinte die Elfe kurz entschlossen. Harion stockte und sah sie dann fragend an. „Wieso nicht?“ „Nun“, erklärte Fiana, „Roggunder ist wirklich nicht ganz mein Alter...“ Sie lachte fröhlich und nun war auch klar, warum sie so schelmisch gelächelt hatte. Harion schien wenig begeistert, wahrte aber die Verführermiene und ging sogleich darauf ein. „Eine kluge Frau wie Ihr dürfte erkannt haben, daß der wirkliche Herrscher dieser Expedition niemals ein solcher Greis seien kann. Es bedarf Jugend und Stärke und...“ Er grinste selbstherrlich. „... wie Ihr sicher gemerkt habt bin ich derjenige, der hier wirklich das Ruder in den Händen hält, wie man unter Seemännern so sagt.“ Die Adepta ließ sich nicht beeindrucken und meinte hingegen ernst: „Vielleicht solltet Ihr das junge Kind zur Prinzessin machen, was so viele Tränen geweint hat um Euch, als Ihr aufbracht, und was ganz offensichtlich schon länger mit euch das Bett teilt als ich es jemals tun werde.“ „Oh, Sysia“, erinnerte er sich und winkte abwertend ab, „sie ist nicht wirklich meine Gefährtin. Sie ist eher so eine Art...“ „Mätresse?“ „Zeitvertreiberin“, knurrte er zähneknirschend. Offenbar gefiel ihm die Titulierung Mätressen wenig, sei es weil er sie wenigstens ein bißchen mochte oder einfach weil er nicht wollte, daß sie als Ersatz für Fiana von dieser hingestellt werden konnte. Er rückte wider dem Fingerdruck Fianas näher an sie heran. „Es gibt Dinge“, flüsterte er verlockend in ihr Ohr, „die selbst die Gefühlswelt einer Elfe durcheinander bringen kann und für die selbst Elfen dankbar sind. Elfen sind die Kinder Rahjas und sie brauchen Liebe ebenso wie die Menschen...“ Fiana versuchte ihn wegzustoßen, doch er preßte seinen Körper an ihren. „... wenn nicht gar noch mehr.“ Seine Hände berührten ihre Hüften und sein Mund näherte sich in einer fließenden Bewegung ihrem Hals. Doch plötzlich vernahm er ein Flüstern und er sah, wie sich ihre Lippen bewegten und wie sich ihre Hand zu einer Faust ballte. Sie schloß die Augen zur Konzentration und er verstand sofort, was hier geschah. Schnell packte er ihre Hände und hielt sie so fest, daß sie sie kaum noch bewegen konnte. Sie stöhnte und es schien ihr weh zutun, doch das war für Harion kein Grund sie loszulassen. Mit vor Begierde verrückten Augen grinste er ihr entgegen. „Aber nein, meine Liebe. Keine Magie!“ Sie rüttelte ihre Hände und zischte ihm einen Fluch entgegen, doch er ließ nicht locker. Einmal überflog er ihre Figur von oben bis unten, dann preßte er sich an sie und drückte seine Lippen auf ihre. Sie stieß einen wütenden Laut aus, doch er ließ sie nicht los und stieß seine Zunge in ihren Mund. Doch sie biß zu und er zuckte jaulend zurück. Er wollte sich wieder auf sie stürzen und ihr weh tun, genauso wie sie ihm, doch etwas riß ihn herum und mit einem Mal blickte er in die haßerfüllten Augen seines einzigen Konkurrenten: Diesem verfluchten Magister Zander! Dieser holte mit der geballten Faust aus und zog gnadenlos durch. Ein Schlag von unglaublicher Wucht krachte mörderisch in Harion Visage und er flog regelrecht zurück. Direkt bei dem Aufprall vernahm er ein Knacken, doch erst einen Augenblick später spürte er diesen höllischen Schmerz und verstand, daß seine Nase gebrochen war. Er krachte bedrohlich gegen die Reling und nur der
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Reflex, daß er sich vor Schmerz zusammenkrümmte verhinderte, daß er das Gleichgewicht in die falsche Richtung verlor und in das schäumende Kielwasser stürzte. Erst gab er einen erstickenden Laut von sich, dann jaulte er laut auf. Wut, Schmerz und Haß erfüllten ihn mit einem Mal und er schrie quiekend übers Deck: „Du elender Goblinschänder! Du hast mir ... du hast mir ... aaahhhhhhhhhh!“ Er sank auf die Knie und landete unsanft auf dem Boden. Es dauerte keinen Wimpernschlag, da spürte er, wie Zander ihn an den Schultern packte, um ihn hochzureißen. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, haßerfüllt und gnadenlos, dann rammte ihm der Magister das Knie zwischen die Beine. Der Prinz heulte auf und schwor sich in dem Moment, daß dieser verfluchte Zauberer gerade sein Todesurteil unterschrieben hatte. Während ein kräftiger Faustschlag in die Magengrube ihn wieder zu Boden gehen ließ sah er Zander bereits vor den Bug des Schiffes gespannt nach Luft japsend und das Peitschen des Wassers blutig dahinsiechend. „Du faßt nie wieder eine Frau an, du dreckiger...“ Die wütend flüsternde Stimme wurde rar unterbrochen und Harion vernahm einen Schmerzensschrei. Irgend etwas geschah. Er hatte Mühe die Augen zu öffnen und zu verstehen, welche Szenerie ihm sich gerade bot, doch dann erkannte er es. Zander war unter dem Schlag mit irgend etwas stumpfen ohnmächtig zusammengesunken und zwei Gardisten umklammerten Fiana, wobei sie darauf bedacht waren, ihre Hände stillzuhalten und ihr Mund und Augen zu verschließen. Ein dritter Mann in einer Kutte, die selbst in der Finsternis der Nacht noch als noch dunkler erschien, riß ihr das Gewand auf drückte seine Hand zwischen ihre Brüste. Er schloß die Augen und schien ebenfalls etwas zu murmeln. Ehe Harion wieder auf den Beinen war uns sich seine Wunde haltend auf ihre entblößten Busen starrte, hatte der Magier offenbar sein Werk beendet. Er nickte und die Gardisten ließen die Elfe los, die kraftlos in sich zusammensank. „Was tut Ihr da?“, herrschte der Prinz den Kuttigen an, der zufrieden lächelte, „Sie gehört mir. Was wagt Ihr Euch sie zu entblößen...“ „Nur ruhig“, meinte der Angesprochene. Es war Tulef, der Schwarzmagier, der ebenfalls mit auf dieser Fahrt war. „Ich habe ihr nur ihre magische Kraft genommen. Jetzt kann sie Euch und uns nichts mehr entgegensetzen!“ Harion blickte zu ihr hinab und sie blinzelte nur kraftlos. Sein Schmerz rückte kurzzeitig in den Hintergrund. Er schien Gefallen an dem Gedanken zu finden. „Aber sie ist gesund?“ Tulef nickte. „Sie fühlt sich nur etwas schwach, weil das Gefüge ihrer geistigen und körperlichen Kraft in sehr kurzer Zeit in arges Ungleichgewicht gebracht wurde. Aber sie ist völlig ... einsatzfähig.“ Er grinste bösartig. Harion grinste zurück. „Zieht sie aus“, meinte er spontan. Die Soldaten starrten ihn entgeistert an. Der Prinz überlegte kurz, dann meinte er: „Nun gut, bringt sie in mein Quartier!“ Der Schwarzmagier verbeugte sich. „Stets zu Diensten!“ Der Verwundete lächelte und nickte dankend. „Ihr sollt wohlwollend in meiner Erinnerung bleiben.“ Er trat einmal gewaltig auf den am Boden liegenden Zander ein ohne ihn dabei anzusehen. Ein zweites Mal. Ein Söldner hob schon - Fianas Blöße nicht aus den Augen lassend die Elfe an einem Arm an, doch der andere tat einen Schritt auf den Prinzen zu. „Was?“, herrschte dieser ihn an, da er moralischen Einspruch vermutete. „Mein Prinz, Revolte ist im Aufbruch. Man plant einen Umsturz, ihr seid in....“ Die Spitze eines Schwertes durchdrang den Körper des Gardisten und ragte vorn aus seiner Brust. Röchelnd sackte er zusammen und ehe sich Tulef versah knallte ihm die Fläche der selben Schwertklinge an den 62
Kopf. Er schwankte und stürzte ebenfalls zu Boden. Der zweite Seesöldner hatte nicht geschlafen
und die Hand schnell bei der Klinge gehabt.
„Gefahr wollte er wohl sagen“, meinte er grinsend und bedrohte den verletzten Harion mit dem
Schwert. Dieser wußte anfangs gar nicht so recht, wie ihm geschah, doch er erkannte, daß er
töricht wäre nun zu schreien.
Der Söldner trat ohne ich eines weiteren Blickes zu würdigen über seinen toten Kameraden, um
den herum sich eine große Blutpfütze bildete, und zog Harion seinen Dolch aus dem Gürtel.
„Ich fürchte heute ist nicht euer Tag, Hochwohlgeboren.“ Harion nickte selbstironisch Er hatte
sich den Abend in einem wilden rahjagefälligen Spiel endend vorgestellt mit einer nackten Elfe
an seiner Seite, doch das hier glich wirklich nicht seiner Vorstellung von einem guten Tag.
„Der Schärler löscht das Licht“, stieß der Soldat in die Dunkelheit aus und machte sich daran
Harions Hände hinter dessen Rücken zu fesseln. Dieser dachte noch an eine tollkühne
Befreiungsaktion, was sich änderte, als Bootsmann Ferdek mit den übrigen Seesöldnern
auftauchte.
„Ferdek, gut daß ihr kommt“, stieß der Prinz hervor, „seht nur, was euer Mann hier mit mir tut...“
Sehr schnell wurde ihm klar, daß der Bootsmann keinesfalls gekommen war, um ihn zu befreien.
Er war aufgrund der Parole erschienen, die Harions Bezwinger gerufen hatte. Er grinste nur
gehässig und deutete auf die Kapitänskajüte. Drei der Krieger zogen ihre Schwerter und öffneten
dann ruckartig die Tür, um kampfbereit in den Raum zu stürmen...
... und ruhig wieder herauszukommen.
„Niemand hier!“
Ferdek nickte. „Gut, dann warten wir eben.“ Sein Blick erspähte den toten Soldaten.
„Was ist mit Durex?“
„Er war uns wohl nicht treu“, erklärte der Krieger, der Harion gefesselt hatte.
Der Bootsmann nickte und deutete auf die Kajüte. „Bringt die Verwundeten dort hinein und
fesselt sie. Der junge Prinz kommt mit, Durex schmeißt ihr über Bord... und deckt die Blutlache
mit irgendwas ab! Wir warten drinnen auf den Admiral.
Hochwohlgeboren...“ Er richtete sich damit mit vor Sarkasmus triefender Stimme an Harion. „...
die Zeit eurer Herrschaft ist wohl vorbei. Schade. Dabei hat sie noch gar nicht angefangen.“ Die
Männer amüsierten sich köstlich über den Kommentar, vergaßen dabei aber nicht mit
militärischer Präzision den Befehlen Folge zu leisten.
„Wenn ihr mich in eine Zelle sperrt“, bat Harion, „so bitte in eine mit ihr.“ Er nickte hinunter zu
Fiana, die sich den Kopf rieb und erst langsam wieder die Orientierung gewann.
Der Söldner, der ihn gefesselt hatte, rammte dem Prinzen gewaltig den Ellenbogen in den
Rücken, so daß dieser keuchend zusammensank.
„Du dreckiges Schwein! Du wirst nie wieder eine Frau anfassen!“ Irgendwo hatte der Prinz das
heute schon einmal gehört...
Ferdek nickte zustimmend. Ein Krieger, der gerade den Arm voll Netze heranschleppte, um diese
auf den Blutfleck zu plazieren, ließ das Getragene fallen und trat vor den knienden Prinzen.
„Urdenia. Erinnerst du dich vielleicht an sie?“
Harion antwortete nicht.
„Sie wurde schwanger von dir und du hast sie weggeschickt. Die ganze Stadt hat ihr gespottet, sie
bekam keine Arbeit mehr.“
Brutal stieß er dem Prinzen sein Knie ins Gesicht. Dieser heulte nur kurz auf und stürzte
rückwärts um. Er hatte keine Kraft mehr. Nicht zum Schreien und erst recht nicht zu Widerstand.
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„Sie hat sich vor Verzweiflung das Leben genommen“, fauchte der Soldat wütend und trat
zweimal kräftig in Harions Weichteile. „Sie war meine Schwester!“, zischte er.
Einen Moment schwiegen die Revoltierenden mitleidend. Nur ein Keuchen des Prinzen.
„Genug jetzt“, hielt der Bootsmann ihn zurück, „macht weiter, bevor jemand was mitkriegt!“
Fiana sah das große Gesicht eines der Soldaten vor sich und merkte, wie er sie berührte. Doch er
tat nichts schlechtes, er verschloß ihren Ausschnitt wieder. Kopfschüttelnd blickte er sie an: „Hat
er Euch etwas getan?“
Ihr Kopf dröhnte leicht, doch die Besinnung wuchs an. „Nein“, meinte sie leise und kraftlos, „es
war nur wegen dem Zauber. Sie haben mir die Zauberkraft entzogen und dazu mußten sie meine
Haut berühren...“ Träge schloß sie die Augen.
Der fremde Krieger nickte. „Es tut mir leid, aber ich muß euch jetzt fesseln.“
Fiana nickte, dankbar für die freundlichen Worte des Fremden, bei dem sie sicher besser
aufgehoben war, als bei Harion.
Es platschte leise im Rauschen des Kielwassers als die Leiche des loyalen Seesöldners Efferds
Element übergeben wurde. Und mit ihm versank der einzige führungstreue Soldat an Bord der
Havenas Stolz im Ozean.
„Die Zwölfe mit Euch, Admiral“, grüßte Growin seinen Vorgesetzten, der gerade von einer
Waffeninspektion kam und sich die Schiffsgeschütze vorführen lassen hatte. Offenbar
beunruhigten den Mann die Piratengeschichten sehr. Eigentlich war es wenig wahrscheinlich, daß
dieses fremde Schiff erneut auftauchte, aber wenn ein solch erfahrener Seefahrer wie Roggunder
persönlich die schweren Waffen des Schiffes auf ihre Tauglichkeit überprüfte, so konnte man
seinem Instinkt glauben ... oder ganz normal weiterleben wie zuvor.
Elwick blinzelte. Er war in Gedanken versunken gewesen und hatte Growin und seine Begleiterin
nicht gesehen. Erst jetzt erkannte er die beiden, wie sie in einem Seitengang standen.
„Oh, Grüße zurück...“
Als er da so diese junge Frau an der Seite des Hauptmanns sah, mußte er unwillkürlich lächeln
und fühlte sich in seine väterliche und mannschaftsnahe Führungsrolle versetzt.
„Wer ist Eure schöne Begleiterin, Growin?“
„Verena Blumfold, Schiffsköchin, Admiral!“, gab sie sichtlich aufgeregt zu erkennen.
Elwick nickte. Er kannte nicht alle Köche an Bord - es waren wohl ein halbes Dutzend - er hatte
sich nie allzusehr für die Verpflegung interessiert und deren Aufsicht anderen Leuten überlassen.
In diesem Fall war es Christophian Columb, der in dieser Hinsicht nach dem Rechten sah.
Zu Growin jedenfalls fühlte sich der Admiral väterlich hingezogen. Er selbst hatte keine Kinder
und der Hauptmann war das Musterbeispiel eines Soldaten und noch dazu mit der richtigen Was-
Ihr-sagt-ist-richtig-Einstellung. Irgendwie fühlte er sich bewegt, seinem treuen Gefolgsmann
heute irgend etwas Gutes zu tun und ihm eine Ehre zu erweisen.
Und er hatte auch eine Idee welche.
Er lächelte freundlich und meinte: „Darf ich euch beide heute abend zu einem Tee in meine
Kajüte einladen?“
Die beiden schienen sichtlich überrascht. Wie kam der Admiral dazu sie beide einzuladen?
„Ähh ... selbstverständlich gern!“, erwiderte Growin, der als erster sein Erstaunen überwunden
hatte.
„Gut“, nickte der Admiral amüsiert über die beiden, „ihr könnt dann kommen, wann ihr wollt.“
Damit nickte er zum Abschied und schritt davon in Richtung Deck.
„Passiert dir so etwas öfters?“, wollte Verena erstaunt wissen.
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Growin schüttelte den Kopf. „Nein, das ist das erste Mal... seltsam. Du hast doch heute abend
hoffentlich noch nichts vor, oder?“
Der Köchin wurde leicht unbehaglich zu Mute. Sie erinnerte sich an diesen Zordan, der ihr heute
morgen beinahe das Leben gerettet hatte. Sie konnte ihn doch nicht einfach sitzen lassen...
„Nun...“
„Es ist der Admiral!“, meinte Growin überzeugend lächelnd.
Einen Moment stockte sie noch, dann nickte sie, wenn auch nicht wirklich von ihrer
Entscheidung überzeugt. „Nun denn...“
Es war bereits dunkel auf Deck. Admiral Elwick ging mit gewohnt straffem Schritt auf seine
Behausung zu und erkannte schon von weitem die Unordnung. Irgendein arbeitsfauler Matrose
hatte offenbar eines der Fischfangnetze unweit der Kapitänskajüte einfach liegen gelassen.
„Ich dachte hier wären nur die Besten mit“, schimpfte der Admiral für sich selbst. Und jetzt ließ
man sogar die Netze einfach liegen. Was war denn das für eine Ordnung? Verärgert blickte er
sich nach einem Matrosen um, doch er sah niemanden auf dem dunklen Deck. Sollten hier nicht
zwei Wachen stehen? Er blickte hinauf zum Ausguck, doch seine alten Augen erkannten nicht
recht, ob dort jemand war oder nicht. Und er wollte sich auch nicht die Blöße geben zuzugeben,
daß er sie nicht recht erkannte.
Grummelig ging Elwick weiter. Er hatte jetzt keine Lust durchs halbe Schiff zu rennen, um einen
Matrosen vollzuschnauzen. Morgen würden da ein paar Köpfe rollen. Heute wollte er nur noch
seine Ruhe. Er war sowieso so nervös.
Er stieß die Tür auf und ihm bot sich ein seltsamer Anblick: In seiner Kajüte saßen, standen und
lagen die gesamten Seesöldner, spielten mit ihren Waffen oder seinen Accessoires. Drei der
Magier saßen aneinandergefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen in der Ecke und rührten
sich kaum. Einer drehte seinen Kopf in Elwicks Richtung, sah aber natürlich trotzdem nichts.
Etwas abseits lehnte Prinz Harion, fürchterlich angeschlagen. Ein Blutfaden hing von seiner
Nase, doch er hatte entweder nicht die Kraft oder die Besinnung, um sich dessen gewahr zu
werden.
Zur Krönung saß Bootsmann Ferdek in seinem Lehnstuhl mit einem uralten Admiralshelm auf
dem Kopf, den einst ein hoher Würdenträger der albernischen Vergangenheit getragen hatte.
„Was ist hier los?“, fragte Roggunder barsch.
Zwei der Soldaten packten ihn und zerrten ihn nach drinnen, um hinter ihm die Tür wieder zu
verschließen.
Ferdek grinste über beide Backen und wippte erfreut in dem Stuhl. „Das wüßtet Ihr wohl gern?“
„Nehmt diesen Helm ab!“, herrschte der Admiral den Bootsmann an.
Dieser Sprang wie aus Reflex auf. Einen Moment schien es, als gehorche er Elwick, als hätte der
Befehl die alte Macht des Admirals über ihn wieder aufgeweckt, doch sofort besann er sich seiner
Lage. Langsam nahm er das wertvolle Stück vom Kopf.
„Den hier?“ Er schleuderte ihn in das Regal und irgend etwas Gläsernes stürzte von der Wand
und zerschellte klirrend am Boden.
Ferdek machte einen Satz auf den Admiral zu und herrschte ihn wütend an: „Euer Wort hat nicht
länger Gewicht! Wir sind die neuen Befehlshaber.“ Er zeigte in die Runde. Einige Krieger nickte
zustimmend, andere hatten ihren Respekt gegenüber dem erfahrenen Seemann noch nicht
überwunden. Sie schwiegen lieber.
„Das ist Meuterei!“, flüsterte Elwick.
Ferdek nickte grinsend.
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„Dafür werdet ihr sterben. Alle!“ Der Admiral war eiskalt, trotz seiner verzweifelten Lage.
Der Bootsmann nickte lächelnd. Er wandte sich um und zog einem der Krieger das Schwert aus
der Scheide. Er richtete es gegen seinen einstigen Vorgesetzten.
„Ihr solltet nicht vergessen“, flüsterte er, „wer hier in der Machtposition ist.“
Die Klinge drückte gegen Elwicks Kehlkopf, doch er ließ sich nicht erschrecken. Und plötzlich
lachte er. Die meisten der Revoltierenden blickten sich verwirrt und verunsichert an. Er lachte aus
ganzer Seele. Wieso lachte er bloß?
Auch an Ferdek ging es nicht vorbei. Er schien kurz zu zögern, dann brüllte er Roggunder an:
„Was lachst du so???“
Mit einem Male, von Schlag auf Schlag, wurde der Admiral furchtbar ernst, nicht ohne ein
siegessicheres Lächeln aufzuzeigen. „Was meint ihr“, sprach er leise und ausgedehnt, „auf wen
die Mannschaft hören wird?“
Einen Moment lang war Totenstille. Bei einigen Kriegern schienen sich arge Bedenken zu
melden und niemand wagte es etwas zu erwidern, sei es wegen dem Respekt vor ihrem alten
Befehlshaber oder weil sie die Wahrheit seiner Wort fürchteten.
Nur Ferdek gewann wieder das Wort: „Was meinst du, wer die einzige wirkliche Macht auf
diesen Schiffen in den Händen trägt? Wenn nicht wir, wer dann?“
...
Irian Sturmfels steckte sich irgendwo an Bord der Havenas Stolz eine Pfeife an, legte die Füße auf
eine Kiste und versuchte beim Rauschen der Wellen zu entspannen...
66
Kapitel 9
T
ja, so schnell war es geschehen. Ehe man sich versah war die Führung unserer
Expedition und ein Großteil der Magier in die Gewalt von den Meuterern gekommen und das ohne daß die Mannschaft es auch nur im entferntesten erahnte. In wessen Verschulden es stand vermag ich heute nicht mehr zu beurteilen. Ob es nun reine Korruption seitens des Bootsmannes war oder ob der Admiral seine Dienste wirklich nicht richtig anerkannt hatte oder ob letztendlich Harions idiotisches Verhalten mit zu dem Desaster geführt hatte, kann und will ich an dieser Stelle nicht verurteilen. Fakt ist nur, daß es uns in große Gefahr brachte und beinahe die gesamte Expedition vernichtete. Doch an jenem Abend wußte niemand an Bord von dem, was geschehen war und was noch geschehen würde. Die meisten auf der Havenas Stolz bemerkten den Führungswechsel sowieso erst, als alles vorbei war. Kein Wunder also, daß Growin und Verena völlig unerwartet in eine sehr mißliche Lage stürzten, als sie dann zur Kapitänskajüte gingen, um der Einladung Elwicks nachzukommen... Ehe sich Growin versah bedrohten ihn drei Schwerter – eins am Hals und zwei an der Brust.
Verena starrte entsetzt in den Raum und wurde sofort von einem der Seesöldner gepackt. Der
Hauptmann hatte schon die Hand an seinem Schwertknauf, doch der erhöhte Druck der
bedrohenden Klingen ließ ihn Einsicht erhalten. Einer der Krieger zog ihm das Schwert aus dem
Gürtel, die anderen beiden packten ihn und zerrten ihn in den Raum. Die Tür wurde wieder
geschlossen.
Growin fing den von einer Mischung aus Enttäuschung und Erwartung geprägten Blick des
Generals auf. Ferdek grinste herrscherisch über das Erstaunen des Hauptmanns. Lässig schwang
er sich von dem Sessel auf und tänzelte auf ihn zu.
„Oh“, meinte er, „nun haben wir wohl die gesamte militärische Gewalt in einem Raum vereint...
willkommen, Hauptmann! Darf ich mich vorstellen: Kapitän Ferdek!“
Er lachte und setzte sich mit einer parodierenden Geste wieder den alten Admiralshelm auf.
Growin faßte sich wieder während man ihm die Hände hinter dem Rücken fesselte.
„Was ist hier los?“, wollte er wissen.
Ferdek lachte amüsiert. „Die Herrschaftsverhältnisse“, erklärte er langsam, als wolle er für einen
stupiden Krieger alles schön gemäßigt erklären, „haben sich geändert. Jetzt herrscht die wahre
Macht und nicht mehr diejenigen, die ihre Macht nur auf ihrem Stand begründen.“ Er drehte sich
mit ausgebreiteten Armen im Kreis. „Irgendwie“, meinte er schwelgerisch, „ist das doch nur
Gerechtigkeit...“
Er fuhr herum. Jetzt sah er seinem neuen Gefangenen tief in die Augen. „Göttliche Gerechtigkeit,
wie ich finde. Die Götter segneten diese Reise von Anfang an...“
Einer der Magier nuschelte etwas. Man konnte ihn aufgrund des Knebels nicht verstehen, aber es
wurde deutlich, daß er etwas sagen wollte. Ein Krieger ging zu ihm hin.
„Nein!“, befahl der Bootsmann, „Nicht die Knebel! Er will uns nur verhexen.“
Der Soldat blieb stehen und überlegte kurz. Ohne seinen neuen Vorgesetzten noch einmal
anzusehen machte er einen Schritt zu Fiana herüber und nahm ihr den Knebel ab. Er hatte es
sowieso vorgehabt, nun hatte er einen Grund.
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Ihr Gesicht war schmerzlich verzerrt und die Striemen des Knebels waren deutlich zu sehen. Für
die Elfe war es wie eine Erlösung. Die Blindheit und Stummheit waren für sie furchtbare
Einschränkungen in ihrer Freiheit gewesen – um einiges schlimmer, als es bei einem Menschen
der Fall war - und das erste, was sie nun sah, war das ernste, aber nicht unfreundliche Gesicht des
dunkelhaarigen Kriegers, der ihr vorhin diese Dinge angelegt hatte. Sie war froh ihn zu sehen,
denn er machte den besten Eindruck von all den Rabauken auf sie.
„Widersetzt Ihr Euch meinen Befehlen?“, donnerte Ferdek.
Elwick lachte aus seiner Ecke. „Was habe ich gesagt?“
Blitzschnell sprang der Bootsmann herum und donnerte dem älteren Mann die Faust ins Gesicht.
Mit einem Keuchen sackte dieser weg. Growin stürzte beim Anblick dieses Geschehens auf
Ferdek los, doch die Söldner bekamen ihn zu greifen und hieben so lange auf ihn ein, bis er
wehrlos am Boden lag und sich kaum noch regte. Verena schrie, der Bootsmann fauchte und
Fianas Augen gewöhnten sich wieder an das Licht, so daß sie die Szene erkennen konnte.
Der Hauptmann lag am Boden, ein Tropfen rotes Blut fiel von seiner Lippe auf die Dielen. Mit
einem kurzen Schlag stellte Ferdek auf rabiate Weise Verena still, die sich wimmernd an der
Wand zusammenkauerte.
„Was denkst du dir eigentlich?“, brüllte der Bootsmann den Soldaten an, der Fiana von ihrem
Knebel und ihrer Augenbinde befreit hatte.
„Es tut ihr weh“, meinte er knapp ohne dem tobenden Vorgesetzten ins Auge zu sehen,
„außerdem hat ihr der andere Magier die Zauberfähigkeit entzogen.“
‚Es tut ihr weh‘ – beinahe eine ironische Begründung, wenn man mal betrachtete, wieviel
Schmerz soeben durch diese Handlung ausgelöst worden war.
„Woher wollt Ihr das wissen?“
Einen Moment lang schwieg der Krieger. Dann meinte er: „Sie hat es gesagt.“
„Und Ihr glaubt ihr?“ Ferdek konnte es nicht fassen wie leichtsinnig seine Leute hier mit solchen
gefährlichen Gefangenen umgingen.
Doch der ignorierte ihn und sah Fiana in die Augen. Die Elfe hatte zweifellos gelitten und er
wollte das nicht zulassen. Er lächelte sie aufmunternd an und sagte: „Ich bin Granjor Kursar.“
Sie nickte und lächelte ebenfalls, wenn auch etwas verhalten. „Fiana, Fiana Eichenblatt.“
„Schön“, meinte der Bootsmann, „können wir die Liebesspiele auf später verlegen?“
Granjor ging nicht auf ihn ein. „Was wollte er uns sagen?“, fragte er und deutete auf Alix, der mit
erhobenem Kopf dem Geschehen lauschte.
Irgendwie faßte Fiana eine seltsame Art von Vertrauen zu diesem Mann, der eigentlich ihr
Peiniger, aber von den ganzen Meuterern am freundlichsten zu ihr war. Sie fühlte sich auf
seltsame Weise zu ihm verbunden. Und was konnte es schaden, wenn sie es ihm erklärte?
„Die Götter haben diese Reise nicht gesegnet. Efferd sandte ihm eine Vision, in der er uns
ausdrücklich warnte.“
„Warnte?“ Es war Elwick. Auch wenn er verletzt war, so hielt seine Wille ihn doch bei
Bewußtsein und sein Interesse an ihrer Aussage war groß. „Wovor?“
„Wir sollen nicht ins Güldenland. Wir sollen nicht ins Güldenland...“ Sie schloß die Augen und
lehnte ihren Kopf erschöpft gegen Alix‘. Dieser streichelte mit seinen ganz leicht und beruhigend
an ihrem, um ihr zu signalisieren, daß sie noch lange nicht verloren waren. Sie bewegte ihren
Kopf nicht und sah Granjor in die Augen.
Dieser erhob sich und sah ausdruckslos zu Ferdek hinüber. „Und? Bin ich jetzt verzaubert?“
Der Bootsmann blickte kurz zurück und wandte sich dann ab. Es verlief alles langsam in
ungewollte Bahnen. Er war doch jetzt der Kapitän!
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Gelangweilt saßen die beiden Männer im Mastkorb der Havenas Stolz vor ihren Karten und
spielten Phex-Skat. Es war wie immer nichts los, zumindest nichts, von dem sie etwas
mitbekamen. Was eigentlich kein Wunder war, da sie ja sitzend überhaupt keinen Ausblick nach
draußen hatten. Aber was sollte dort auch schon passieren? Sollte vielleicht der Prinz die
Magierin verführen wollen oder sollten gar die Seesöldner den Admiral gefangennehmen und
eine Meuterei durchführen? Ach was, wieso sollten sie das denn? Also brauchte man auch nicht
aus dem Ausguck schauen. Phex-Skat war sowieso viel spannender.
Der eine schob drei Hellermünzen zu dem anderen und dieser strich freudig seinen Gewinn ein.
„Irgendwas stimmt hier doch nicht“, beschwerte sich der Verlierer, „immer gewinnst nur du. Das
finde ich nicht gerecht.“
„Tja“, meinte der Gewinner, „Phex ist eben mit mir.“ Er grinste freudig.
Plötzlich war ein dumpfer, langgezogener Ton zu vernehmen. Erst dachten sich die beiden nichts
dabei und sortierten die Karten, doch dann ertönte er erneut.
„Was ist das?“, wollte der eine wissen. Der andere zuckte mit den Schultern. „Wer weiß...“ Er
steckte einen Herzkönig in den Stapel, den er in der Hand hielt. Urplötzlich schien er hellwach
und blickte in das Gesicht des anderen, der auch gerade zu verstehen schien.
„Das Signalhorn!“, riefen beide gleichzeitig. Sie sprangen auf und warfen dabei die ganzen
Karten durcheinander. Sie blickten in die Nacht. Wieder ertönte das Horn. Es kam von der
Efferds Zorn!
Hektisch blickten sie sich um und sahen, wie ein Ausgucker im Mastkorb des Kriegsschiffs mit
Fackeln Signale gab. Eilig bemühten sie sich den Inhalt der Nachricht zu verstehen. Dann wies
der Mann in eine Richtung.
„Was ist dort?“
Mit zusammengekniffenen Augen stierten die beiden in die Nacht.
„Bei den Zwölfen“, keuchte der eine.
Sofort starrte er hinunter aufs Deck, wo ein paar Matrosen bereits über die Bedeutung des
Signalfeuers rätselten.
„Schiff voraus!“, brüllte einer der beiden Ausgucker.
„Was ist es für eine Flagge, was ist es für eine Flagge?“, wollte der andere hektisch wissen.
Gemeinsam starren sie voraus. Das Schiff näherte sich unaufhaltsam. Noch waren es ein großes
Stück entfernt, aber man konnte bereits erkennen, wie es frontal auf das Flaggschiff zuraste.
„Efferd steh‘ uns bei ... Thorwaler!“ Beim Anblick des Drachenkopfs am Bug des fremden
Schiffes verging den beiden das letzte Interesse am Kartenspielen.
„Sie fahren unter Piratenflagge!“
„Ich dachte Phex sei mit dir...“
„PIRATEN!“, kreischte der andere los.
Unten auf Deck kam es zu schnellen Regungen. Beinahe sofort stürmten einige Matrosen auf
Deck und eilten wild herum, unkoordiniert. Wo war der Bootsmann, wo war der Admiral? Was
sollten sie tun?
Der Kommandant der Efferds Zorn stand mit einigen unübersehbaren Sorgenfalten am Bug seines
Schiffes. Sein Bootsmann, ein junger tüchtiger Seemann, kam gerade von hinten herangeeilt.
„Es sind Piraten, Kapitän. Thorwaler!“
Der Kapitän nickte. Seine düstere Vermutung hatte sich bestätigt. Bis eben hatte er in Gedanken
noch die Zwölfe angefleht, es mögen doch keine Thorwalerpiraten sein. Aber sie waren es und
nun war es Gewißheit!
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„Was sollen wir tun?“, wollte der Bootsmann wissen.
Fragend starrte der Kommandant hinüber zum Flaggschiff, was allerdings unverändert weiter
über die Wellen glitt. Kein Signal aus dem Mastkorb, keine Kursänderung. Ja, sogar die
Geschützklappen waren geschlossen. Was ging dort vor sich?
„Warten wir einen Wimpernschlag. Der Admiral wird sich sicher gleich melden“, versicherte der
Kapitän.
Ferdek stürzte aus der Kapitänskajüte. Zwei Söldner folgten ihm, wobei einer es nicht versäumte
die Tür wieder zu schließen, damit niemand sah, was drinnen los war. Eilig stürzte der
Bootsmann der Havenas Stolz zum Bug und gaffte in die Dunkelheit. Auf einiger Entfernung
erkannte er schemenhaft etwas, aber nichts konkretes.
Unbeherrscht stürzte er herum und stürmte zurück in die Elwicks Unterkunft. Es dauerte eine
kleine Weile bis er wieder mit einem Fernrohr bewaffnet nach draußen kam. Die Matrosen sahen
ihn fragend an, wartend auf Befehle. Sie alle fürchteten die Thorwaler, aber den meisten war auch
klar, daß sie drei kampffähige Schiffe hatten, die – wenn man sie nur richtig koordinierte – gegen
diese thorwalische Otta eine gute Chance hatten... wenn man sie koordinierte.
„Piraten“, brüllte der Mann im Mastkorb noch mal, „Thorwaler!“
„Was sollen wir tun?“, wollte ein Seesöldner wissen, der nervös hinaus in die Dunkelheit blickte,
wo er das Schiff vermutete.
Ferdek zitterte merklich. Er taumelte ein Stück und drehte sich dann zur Mannschaft um. Sein
Blick visierte den Mann im Ausguck an, der sich panisch gefährlich weit über die Brüstung lehnte
und mit dem Finger bugwärts zeigte. Der zweite Späher war gerade dabei eine Signalfackel
anzuzünden.
„Nein!“, brüllte Ferdek und sofort stellte der Mann sein Tun ein, „kein Signalfeuer! Wir bleiben
regungslos, vertraut mir!“
Entgeistert blickte die Mannschaft ihrem Bootsmann entgegen. „Aber...“, meint einer.
„Schweigt! Vertraut mir...“ Er rannte zu ihm hin und sah ihn mit wirren Augen und euphorisch
lächelnd an. „So vertraut mir doch. Ich bin doch euer Ferdek! Hab ich euch jemals schlechtes
getan?“
„Sollten wir nicht die Geschütze bereitmachen?“ Es war Granjor Kursar. Auch er war
herausgekommen und er überblickte die Lage sachlicher und beherrschter als die meisten an
Bord.
Sein Auftauchen erfüllte Ferdek mit unterdrückter Wut.
„Nein“, meinte er zähneknirschend. Und zur Mannschaft: „Vertraut mir doch...“
„Sie kommen näher, Kommandant! Wir müssen etwas tun.“
Der Kapitän der Efferds Zorn nickte. Er wußte es. Aber ohne Befehl Elwicks durfte er rein
rechtlich nichts unternehmen. Der Admiral hatte eindeutig angeordnet immer auf seine
Instruktionen zu warten und keine eigenmächtigen Handlungen zu unternehmen. Wenn er jetzt
einen Fehler machte, verlor er vielleicht nicht nur seinen Rang, sondern auch seinen Kopf...
„Wieso sagt der nichts?“
Der Bootsmann zuckte mit den Schultern und blickte kurz auf die regungslose Havenas Stolz.
„Die Harion Ui Bennain meldet, daß sie Order erwarten, Kapitän. Wir müssen etwas tun!“
Langsam erkannte man schon mit bloßem Auge die Umrisse des nähernden Schiffes.
„Sie halten genau auf das Flaggschiff zu“, stellte der Kommandant fest.
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Sein Bootsmann nickte. „Richtig! Und deshalb müssen wir etwas unternehmen! Wenn schon
nicht die Havenas Stolz, dann doch auf jeden Fall wir. Es geht um die Sicherheit von allen!“
Der Kapitän nickte bedächtig. „Aber was ist, wenn es ein Loyalitätstest von dem Admiral ist?“,
fragte er sich versonnen.
„Ein was?“ Der Bootsmann verlor allmählich die Beherrschung. „Was sollte das für ein orkischer
Test sein? Niemals würde Roggunder dafür das Leben der Mannschaft aufs Spiel setzen. Der
Admiral ist ein erfahrener Seemann...“
„Eben“, meinte der Kapitän, „was ist, wenn er etwas einkalkuliert, an das wir nicht denken?“
Der Bootsmann sah besorgt dem fremden Schiff entgegen. „Irgend etwas läuft da drüben schief!
Wir müssen etwas tun!“
Der Kapitän schwieg. Sein Gesprächspartner erkannte, welche Schwierigkeiten sein Vorgesetzter
mit einer eigenmächtigen Handlung hatte, die ja dann ein Verstoß gegen Roggunders
Anordnungen war.
„Soll ich die Geschütze klarmachen lassen, Kapitän?“, fragte er beherrscht.
Dieser nickte nur knapp, kaum merklich. Ob es wirklich ein Nicken war oder ob der Bootsmann
es nur sehen wollte, war wohl nicht so genau festzustellen. Jedenfalls wirbelte er herum und rief
übers Deck: „Geschütze klarmachen!“
Und zum Mastkorb: „Die Harion Ui Bennain soll sich kampfbereit machen!“
Die Mannschaft bestätigte mit einem doppelt starken Ruf der Erleichterung: „Geschütze werden
klargemacht!“
Ferdek war zurück in die Kapitänskajüte gestürzt. Elwick blickte ihn ernsthaft besorgt entgegen.
Doch der Bootsmann ließ sich in seinem Wahnsinn in den Sessel fallen und setzte den
Admiralshelm erneut auf.
Granjor stand in der Tür. Kurz traf sich sein Blick mit Fianas, dann blickte er dem Bootsmann
entgegen. „Das ist eine ganz schlechte Idee!“
Ferdek sprang auf. „Welche Ideen gut und schlecht sind entscheide ich“, herrschte er den Krieger
an.
„Ferdek“, meinte der Admiral ruhig. Dieser schien ihn nicht zu hören.
„Ferdek!“
„Was?!“
Sie blickten sich an. Ferdek unbeherrscht und wütend, Elwick ruhig und gemäßigt. „Du solltest
das Schiff in Kampfbereitschaft versetzen.“
„Ach und wieso?“, wollte er wissen. Seine Stimme klang wie die eines Verrückten.
„Es wird zu einer Kampfhandlung kommen. Und wir sollten darauf vorbereitet sein.“
Unbeherrscht griff sich der Bootsmann Growins Schwert und fuchtelte wild damit herum.
„Warum vertraut ihr mir nicht? Ich fahre schon seid unzähligen Götterläufen zur See und ihr
vertraut mir trotzdem nicht!“
„Das ist schwer, wenn man einmal bugwärts auf das angreifende Schiff blickt und bedenkt, daß
wir nichts tun, um uns zu wehren“, warf Granjor ein.
Wütend sprang Ferdek vor und drückte ihm das Schwert an die Kehle. „Ich weiß was ich tue!“
„Dann erklärt uns doch Euren Plan“, forderte Fiana, der die Situation langsam zu heikel wurde.
Der Bootsmann nickte. Endlich verstand ihn jemand und handelte nicht blind gegen seine
Bestrebungen. Wieder völlig ruhig setzte er sich wieder in den Sessel.
„Wenn die Feinde die Efferds Zorn und die Harion Ui Bennain vernichtet haben, wird der Rest
der Expedition bedingungslos uns gehorchen! Der Machtwechsel wäre gesichert, weil wir die
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einzige militärische Macht in der Flotte blieben. Dann können die Soldaten dort drüben uns nicht
mehr gefährlich werden...“
„Was soll dieser Schwachsinn?“, platzte es aus Granjor heraus.
Ehe der Bootsmann etwas erwidern konnte, sagte Elwick mit aufbrausender Stimme: „Ferdek!
Wir fahren an der Spitze der Flotte, nicht die Efferds Zorn oder die Harion!“
Christophian stürzte durch die Tür herein. „Was ist los? Warum tut niemand was? Wir werden
angegriffen!!!“ Entsetzt erkannt er die Lage.
„Schließt die Tür!“, kreischte Ferdek. Sogleich tat Christophian, wie ihm befohlen.
Der Matrose draußen, der sah, wie die Tür geschlossen wurde winkte einen Kameraden heran.
Gemeinsam näherten sie sich vorsichtig der Kapitänskajüte.
„Hier stimmt doch was nicht. Der Admiral würde das Schiff nie so in Gefahr bringen!“
Verwundert blieb er vor dem Netz stehen, was dort völlig deplaziert nahe der Kajüte lag. „Was
macht das überhaupt dort?“
Der andere Matrose zuckte mit den Schultern. Mit einem Ruck zogen sie den Plunder weg und
starrten entsetzt auf die mit Blut gefärbten Holzplanken.
„Hier stimmt wirklich etwas nicht“, bestätigte der andere entgeistert.
Ihr Erstaunen war nur kurz. Ein Blick auf das nahende Thorwalerschiff ließ sie aus ihrem Schreck
erwecken.
„Wir müssen etwas tun...“
Vom Mastkorb brüllte ein Ausgucker: „Die Efferds Zorn macht sich kampfbereit!“
Der Matrose blickte hoch und nickte. Entschlossen lief er zur Kapitänskajüte, atmete tief durch
und trat ohne Anzuklopfen ein.
Sofort verstand er die Szenerie. Allzu offensichtlich waren der Admiral, die Magier und der
Hauptmann doch gefesselt. Der wütende Blick Ferdeks ließ ihn zusammenfahren, doch er war
klug genug sich nicht gegen die Meuterer zu stellen.
„Habe Meldung: Die Efferds Zorn macht sich kampfbereit!“ Mit einem kurzen Seitenblick fing er
ein hoffnungsvolles Lächeln des Admirals auf. Etwas zaghaft lächelte er zurück. Es war nur ein
kurzes Lächeln, aber nicht das von einem Untergebenen zu einem Vorgesetzten, sondern das von
zwei gleichgestellten Männern in einer gefährlichen Situation.
Ferdek nickte. „Wegtreten!“
Der Matrose hielt einen Moment inne, eilte aber dann heraus. Das Piratenschiff näherte sich
weiter. Nun erkannte man schon deutlich den Drachenkopf am Bug.
„Hier ist eine Meuterei im Gange. Ferdek ist der Anführer“, informierte er seinen Kameraden.
Dieser blickte ihn nervös an. „Wirklich? Was tun wir?“
„Die Soldaten meutern alle mit. Gegen die haben wir aber keine Chance im Kampf. Wir brauchen
jemanden, der mit allen fertig wird!“
„Die Magier?“
„Drei sind dort drin gefangen.“
„Bleibt einer übrig.“
Er nickte. „Suchen wir ihn. Aber schnell!“
„Geschützklappen sind geöffnet, Geschütze geladen und besetzt. Die Seesöldner sind in Waffen
und bereit für einen möglichen Enterkampf“, meldete der Bootsmann der Efferds Zorn. Ein
zögernder Blick zur Havenas Stolz brachte auch keine neue Erkenntnis: Keine Regung auf dem
Flaggschiff.
Der Kommandant nickte.
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„Wir rufen den Admiral weiter mit Signalfeuer an. Die Harion Ui Bennain macht sich ebenfalls
bereit.“
Wieder kein Wort vom Kapitän. Er hatte sich an der Reling festgekrallt und starrte den nahenden
Piraten entgegen und blickte beschwörend zum Flaggschiff hinüber.
Der Bootsmann räusperte sich, doch sein Kommandant war offenbar nicht bereit von sich aus
eine eigenmächtige Handlung durchzuführen. Er rückte näher an ihn heran und meinte leise:
„Wenn es ein Loyalitätstest war, so wäre er doch spätestens an dieser Stelle zu Ende. Der
Admiral würde uns nie so sehr gefährden, findet Ihr nicht?“
Reglos blickte der Kapitän geradeaus.
„Tut etwas!“, rief Fiana.
Ferdek wurde bald wahnsinnig. „Schweigt!“
„Sie hat recht“, beschwor Elwick seinen Bootsmann, „du mußt etwas unternehmen.“
„Sprich mich gefälligst mit Kapitän an!“, brüllte er mit vorgehaltenem Schwert seinem einstigen
Vorgesetzten entgegen.
„Ihr wollt doch nicht sterben, oder?“, rief Christophian panisch.
„Jetzt reicht’s, Ferdek“, rief Granjor. Mit entschlossenem Schritt kam er auf den Bootsmann zu.
„Gebt das Schwert her! Wir werden jetzt die Waffen klarmachen und...“ Mit einer gezielten
Bewegung stieß Ferdek das Schwert durch Granjors Brust. Entsetzt starrte der Krieger den
Bootsmann an und blickte dann auf das Schwert, was beinahe bis zum Schaft in seiner Brust
steckte. Ruckartig zog Ferdek die Klinge wieder heraus. Der Krieger sackte auf die Knie, mit der
linken die Wunde haltend und mit der rechten sich auf dem Boden abstützend. Ein großer
Blutschwall tränkte sein Gewand und seine Hand. Sein Blick sah dem unbeeindruckten Ferdek
ein letztes Mal in die Kälte seiner Augen, dann fand er die von Fiana. Sie sah ihm mit der selben
Fassungslosigkeit und Verzweiflung entgegen, die in diesem Moment in seinen Zügen
geschrieben stehen mußte. Langsam verlor Granjor die Kraft im Arm und rutschte weg. Ihm war
als fiele er viel zu langsam und bräuchte viele Wimpernschläge, bis er endlich das dumpfe
Aufprallen seines Kopfes auf die Dielen vernahm, was tausendfach wiederschallte. Und während
sein Blick von Fianas schönen Augen nicht loslassen wollte, vernahm er über sich schon das
Schlagen von Schwingen... Golgari kam, um ihn zu holen.
„Gut“, meinte der Kommandant der Efferds Zorn urplötzlich unerwartet entschlossen. Der
Bootsmann sah ihn verwundert an, dann drehte sich sein Kapitän zu ihm um und meinte mit Stolz
und Kraft: „Zeigen wir diesen Thorwalerschweinen einmal Efferds Zorn!“
Mit einer Handbewegung waren alle Befehle erteilt. Erleichtert, beinahe freudig lächelnd drehte
sich der Bootsmann um und rief die Anordnungen übers Deck: „Volle Fahrt voraus! Wir gehen
zum Angriff über!“
„Wir schnappen uns diese Schweine von beiden Seiten!“ Der Kapitän selbst übernahm jetzt die
Rolle des Bootsmanns mit, indem er seine Worte direkt an die Mannschaft richtete: „Die Harion
Ui Bennain soll auf der anderen Seite an der Havenas Stolz und der Fürstes Gold vorbeiziehen!
Geschütze feuerbereit machen, Bogenschützen in Positionen! Die Krieger bereit für einen
Nahkampf und jetzt aber Tempo!“
Mit zustimmendem lauten Geschrei machte sich die Besatzung daran die Expedition zu retten.
„Das ist nicht Euer Ernst?“ Irian Sturmfels marschierte in seinem eilig übergeworfenen Mantel
mit energischen zielsicheren Schritten durch die Gänge des Flaggschiffs. Der Matrose, der ihn
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geholt hatte, hatte Mühe dem entschlossenen Magier zu folgen. Sicher hätte er von dem alten Mann ein solches Schrittempo nicht erwartet, aber der Magister war wütend; einmal darüber, daß seine Freunde in der Hand dieser Spinner waren und zum anderen darüber, daß Havena nicht fähig war eine loyale Mannschaft aufzustellen. Desweiteren gefiel ihm der Gedanke einer Seeschlacht nicht, da er – wie er sich eingestehen mußte – kein sonderlich guter Schwimmer war. Nun gut. Dann würde er eben als letzter das Schiff verlassen... Der Leichtmatrose, der vor ihm gerade die Leiter zum Deck nehmen wollte, sprang behende beiseite, als er den Magier näherkommen sah. Mit der Geschwindigkeit eines Luftelementars nahm Irian die Sprossen und war sogleich auf Deck. Sein Auftauchen, was sonst eher Unbehagen bei den Alberniern hervorgerufen hatte, schien die Besatzung nun zu beruhigen und das war auch gut so. Mit zusammengekniffenen Augen sah er hinaus aufs Meer und erkannte auch das schon bedenklich nahe Thorwalerschiff. Kurz blieb er stehen und legte die Hände auf die Schläfen. Mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte er sich auf eine alte, aber überaus praktische Zauberformel. Mit einem Mal nahm er das ganze Schiff viel intensiver wahr. Er hörte die Schritte der Matrosen, ja beinahe sogar ihre Herzschläge. Jemand hustete irgendwo unter Deck und in der Kapitänskajüte klopfte jemand nervös mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum. Er öffnete die Augen und erkannte deutlich wie sich unzählige wilde Thorwaler mit erhobenen Äxten und Hämmern am Bug des fremden Schiffes drängten, um die Havenaschen Schiffe zu entern. Ja, sie waren bedenklich nah. „Sofort runter mit den Segeln und Ausweichkurs!“, wandte er sich an den Matrosen, der ihn geholt hatte. Dieser nickte und machte sich daran entsprechende Befehle übers Deck zu brüllen. Niemanden interessierte es in diesem Moment, daß der Matrose dazu überhaupt nicht autorisiert war. Alle waren froh endlich etwas gegen den Angriff tun zu können. Sofort stürmten sie los, um alles möglichst schnell auszuführen. Irian hingegen stampfte auf die Kapitänskajüte zu. Die Tür wurde aufgerissen und Ferdek stürmte heraus, um nachzusehen, wieso die Mannschaft plötzlich anfing irgendwas zu tun. Irian packte den Bootsmann und stieß ihn in den Raum. Dann folgte er ihm und verschloß die Tür, jedoch nicht ohne sich zu vergewissern, daß auch keiner der Matrosen ihm folgen wollte. Er hatte seine Gründe für diese Sicherheit. Ferdek war zu Boden gefallen und starrte haßerfüllt zu demjenigen auf, der es gerade gewagt hatte Hand an ihn zu legen. „Tötet ihn!“, rief er. Irian hob beschwichtigend beide Hände. „Aber halt. Ich bin doch nur hier, um drei Worte zu euch zu sprechen...“ Sie Soldaten hielten inne. Fiana sah den Magister an, der ihr warm entgegen lächelte. Sein Lächeln wirkte so deplaziert in diesem Chaos aus Meuterei und Seeschlacht. Und dennoch lächelte der Magier und sein Lächeln weckte Vertrauen und eine Gewißheit, daß alles ein gutes Ende nehmen würde. Schließ deine Augen, ertönten Alix‘ Worte in ihrem Kopf. Er hatte nicht gesprochen (wie sollte er auch mit Knebel), aber die Nachricht hallte in ihrem Geist wieder und sie verstand, daß sie zu ihrem Schutz war. Also schloß die Elfe die Augen. „Was für Worte sollten das denn sein?“, wollte Ferdek skeptisch wissen. Er war wieder auf den Beinen und hielt Growins Schwert zum Kampfe bereit. Irian lächelte hinterhältig: „Panik überkomme euch!“ Mit einem Male verloren die stolzen Krieger und der wahnsinnige Bootsmann all ihre Beherrschung, sie sahen Irian und schienen den Dämonensultan persönlich in ihm zu erkennen. 74
Ohne auch nur noch an ihre Waffen zu denken sprangen sie davon und stürmten schreiend in die
äußerste Ecke der Kajüte. Sie drängten sich allesamt dort hin und jeder wollte weiter weg von
Irian seien. Sie hieben auf die Wand ein und versteckten sich unter dem Schreibtisch, hinter dem
Sessel und (Ferdek) unter dem Admiralshelm – sehr zu Irians Belustigung.
Ein Matrose wollte von außen die Tür öffnen, um nachzusehen, was geschehen war, doch Irian
hielt die Klinke von innen fest. Mit einem Fingerschnippen hob er den Zauber auf und ließ die
Tür los. Ein paar Mannschaftsmitglieder stürmten herein. Mit einem Fingerdeut ordnete Irian die
Festnahme der Meuterer an. Diese, gerade aus ihrer Beherrschung erwachend, hatten Mühe sich
wieder zurechtzufinden, zumal ihnen nicht klar war, wie sie alle an die Orte kamen, wo sie gerade
verkrochen hatten. Schnell packten die Matrosen die Soldaten und den Bootsmann und fesselten
sie. Irians erste Sorge galt seinen Freunden. Alix stieß erstickende Laute aus, die sich nach
Abnahme des Knebels als schallendes Gelächter entpuppten. Irian befreite die drei Magier von
ihren Fesseln.
Der Tuzaker Magier kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. „Ich wußte es! Ich wußte es genau,
daß du diesen Zauber wieder anwenden würdest.“
Irian nickte. Fiana rieb sich die Hände. Die Fesseln hatten Spuren hinterlassen. „Ist es nicht ein
borbaradianischer Zauber?“
Der ältere Magister lächelte verschmitzt. „Nun, ich denke nicht, daß du deswegen jetzt Einspruch
erheben wirst.“
„Nieder mit den Borbaradianern!“, parodierte Alix mit Froschstimme. Fiana lachte nicht über
seinen Kommentar. Sie lief zu Granjor hinüber und blickte ihm in seine kalten, toten Augen.
„Boron sei deiner Seele gnädig!“ Sie schloß seine Augen wünschte ihm aus ganzen Herzen, daß
Boron in ein Paradies und nicht in die Niederhöllen schicken würde...
Dann erhob sie sich und verließ den Raum. Elwick, den ein Matrose befreit hatte, stürmte hinaus
an Deck. Und dort wurde er auch benötigt. Auch wenn die Seemänner wußten, was sie wollten,
lief alles nicht so glatt. Der Ausweichkurs hatte dazu geführt, daß die Harion Ui Bennain, die
seitlich überholen wollte, nun einen Kollisionskurs gegen sie fuhr.
Elwick rannte zum Ruder und nahm das Steuer selbst in die Hand. Befehle rufend – ganz ohne
Bootsmann – brachte er das Flaggschiff mit einem haarigen Manöver außer Gefahr.
Später dann, als alle in Sicherheit waren, fand er endlich Zeit festzustellen, wie tief die Fesseln in
seine Hände geschnitten hatten. Doch ehe er seine Gelenke verarzten ließ, wollte er noch etwas
tun.
„Magister...“
Irian blieb stehen.
„Ich möchte Euch im Namen der gesamten Expedition für Euren Einsatz danken.“ Er atmete tief
durch und meinte absolut ehrlich: „Wir verdanken Euch unser Leben.“ Er streckte die Hand aus
und Irian schlug ein.
„Wenn es irgend etwas gibt, was ich für euch tun kann, so laßt es mich wissen.“
„Für mich könnt Ihr etwas tun“, meldete sich Fiana zu Wort. Der Admiral sah sie erwartungsvoll
an.
„Der tote Soldat, der in Eurer Kajüte liegt, war keinesfalls ein wirklicher Meuterer, das könnt Ihr
mir glauben. Ehrt ihn als einen der eurigen, nicht als Verräter!“
Elwick nickte. „Ich werde ihm die Ehre zukommen lassen, die er verdient und ich denke, daß
Euer Wort genügt, um mir glaubwürdig zu machen, welche Ehre ihm zusteht.“
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Auch Growin kam heran. Er hatte gerade Verena geholfen und führte sie nach draußen. Mit
einigen kurzen Worten entschuldigte er sein kurzes Verschwinden und eilte zum Admiral.
„Admiral! Ich wollte mich bei Euch entschuldigen...“
Elwick lächelte väterlich über die Reuegefühle Growins. „Aber wieso denn? Ich ernenne Euch
hiermit zum neuen Bootsmann der Havenas Stolz!“
„Bitte?“
„Ihr seid der neue Bootsmann!“
Der Hauptmann war sichtlich überrascht. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet, nachdem es
ihm nicht gelungen war den Admiral zu schützen. „Aber wieso?“
Elwick klopfte seinem Gefolgsmann auf die Schulter und erklärte lächelnd: „Ich brauche Männer,
die am Puls der Mannschaft liegen, Männer, denen die Leute vertrauen und vor allem...“ Jetzt sah
er ihm tief in die Augen. „... brauche ich Männer, denen ich vertrauen kann!“
Damit nickte er und zog sich zurück, um endlich seine Gelenke versorgen zu lassen.
Growin überlegte kurz über seine neue Lage, zuckte dann mit den Schultern und drehte sich um.
Doch wo war Verena geblieben? Sein Blick suchte sie auf dem ganzen Deck.
Und er fand sie auch, auf einer Kiste sitzend, vor Zordan, der sich gerade liebevoll um ihre
Verletzungen bemühte und beruhigend auf sie einsprach.
Der Hauptmann ballte die Fäuste, doch hielt sich zurück. Im Moment war der Zeitpunkt noch
nicht gekommen, um mit Zordan abzurechnen. Aber er würde kommen, ganz sicher...
Ferdek hatte einen gravierenden Fehler gemacht. Er hatte gedacht, daß das übermitteln von Befehlen und die Organisation ihrer Ausführung das selbe war, wie die Entscheidungen selbst zu treffen. Daran war er gescheitert und hatte uns damit alle beinahe umgebracht. Denn Koordination war alles und hätten die beiden Kriegsschiffe nicht Eigeninitative ergriffen, ich wüßte nicht, ob ich das hier heute noch schreiben könnte. Elwick jedenfalls zeichnete die beiden Kapitäne für ihr selbstsicheres Handeln aus. Die Order mit dem ‚Abwarten bis Befehl von Admiral eintrifft‘ änderte er allerdings nicht. Die Meuterer schickte man gleich am nächsten morgen zu Efferd. Die Söldner wurden schlicht und ergreifend über Bord geworfen, Ferdek schleppten wir noch drei Tage an einem Tau hinter uns her. Ich muß ehrlich gestehen, daß ich in diesen Tagen das Deck mied. Selbstverständlich mochte ich Ferdek nicht, nein ich haßte ihn beinahe, aber diese Halbleiche dort im Wasser zu sehen gefiel auch mir nicht gerade. Und sicher wollt ihr jetzt auch wissen, was aus der thorwalischen Otta geworden ist. Wo sie herkam und ob ihr Auftauchen etwas mit Lealoarn Hermson zu tun hatte, erfuhren wir nie; jedoch war es so weit draußen auf See schon seltsam, daß wir auf dieses Schiff trafen. Vielleicht war dies auch eine Ursache für die Veränderung der Stellung des Thorwalers an Bord. Wenn er zuvor immer als Navigator und Wegbereiter angesehen wurde, wurden immer mehr Stimmen laut, daß er vielleicht irgendwie doch in Verbindung mit den Angreifern stand und desöfteren hörte ich, wenn ich übers Deck schlenderte, wie sich die Leute fragten, ob wir diese Insel je erreichen würden, ja ob sie gar existiere. Und der Kampf mit der Otta? Nun, die Efferds Zorn erledigte das Geschehen letztendlich allein. Die Harion Ui Bennain war durch das Ausweichmanöver mit der Havenas Stolz derart vom Kurs abgekommen, daß sie erst nach dem eigentlichen Kampfgeschehen eintraf. Der Kapitän der Efferds Zorn machte kurzen Prozeß mit der Otta. Die Schiffsgeschütze feuerten aus allen Rohren und die Bogenschützen sandten einen Hagel aus tödlichen Pfeilen über die 76
Thorwaler. Es kam zu gar keinem Enterkampf. Das Schiff sank und über die Überlebenden und Trümmer fuhr man so lange mit den mächtigen Bäuchen der Kriegsschiffe hinüber, bis sich niemand mehr regte. Ja, daß Handwerk des Tötens ist eines der seltsamsten und schwierigsten. Ich habe es nie wirklich richtig verstanden; und noch heute sehe ich in meinen Träumen manchmal das blutverschmierte Gesicht des Thorwalers, der uns schreiend verfluchte, kurz bevor die Efferds Zorn über ihn hinüberfuhr und so seinem Geschrei ein Ende setzte...
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Kapitel 10
W
as wirst du in deinem nächsten Leben, Papa?“, fragte Maligali seinen Meister.
Papa Abogali wandte seinen Kopf bedacht in die Richtung seines Schülers und entgegnete dann
ruhig: „Ein Vogel. Dann kann ich vor allen Sorgen und Feinden davonfliegen.“
Beide sahen sich kurz an und schwiegen dann weiter.
Erschöpft stöhnend lehnte sich Growin auf die Reling. Bootsmann sein war schwieriger, als er es
sich anfangs vorgestellt hatte. Zwar gab es einige erfahrenere Matrosen, die ihm hilfreich zur
Seite standen und ihn mit dem technischen und seemännischen Unbekannten vertraut machten,
aber dennoch war es für den Hauptmann eine völlig neue Position. Für jemanden, der sein Leben
mit dem Gehorchen von Befehlen, mit dem Kämpfen, dem Feiern und dem Lieben fremder
Frauen, die man meist nach einer Nacht nie wieder sah, verbracht hat, dem fällt es natürlich
schwer sich in völlig neuen Aufgabenbereichen zurechtzufinden.
Ein wenig neidisch sah der Krieger zu den beiden Magistern herüber, die auf einer Holzkiste ein
Rivaschachspiel aufgebaut hatten und nun schon den vierten Tag am selben Spiel saßen. Den
beiden wäre das hier sicher deutlich leichter gefallen. Ihr Leben war vielfältiger und hatten mehr
Gesichter gehabt als seines.
„Der Turm stand vorhin aber noch nicht dort!“, protestierte Zander. Irian sah ihn mit unschuldiger
Miene an. „Wie? Aber nein, der stand schon die ganze Zeit...“
Alix war aufgesprungen und ein Schwall von Schimpf und Ärger brach aus ihm heraus. Irian
beteuerte immer zu, er habe das Spiel nicht manipuliert, während der jüngere Magister den beiden
etwas zu essen geholt hatte. Doch Alix nahm ihm das nicht ab.
„Du, na warte!“
Jetzt sprang auch Irian auf und stolperte vor dem wild herumspringenden Magister zurück.
„Ich werf’ dich über Bord!“, drohte Alix und einen Moment schien es, als würden beide gleich
wie kleine Kinder übers Deck rennen und sich gegenseitig ins Wasser verfrachten.
Aber dem war nicht so. Trotz allem sah Growin in den beiden deutlich die verspielte
Kindlichkeit, die sie trotz ihres Alters sich gewahrt hatten.
Hatte er sie? Nein. Schon als Knabe hatte er kämpfen gelernt und man hatte ihm gepredigt, daß
spielen etwas für Schwache sei. War es das wirklich? Die beiden Magier waren keinesfalls
schwach. Irian war mit fünfzehn Kriegern fertig geworden, gegen die man wenigstens ebenso
viele Soldaten gebraucht hätte und unter besseren Umständen hätte sicher auch Alix einiges
anrichten können. Und trotzdem scherzten und spielten sie und das manchmal wie Kinder.
So schlecht konnte doch diese Eigenschaft aber gar nicht sein, so fand er jetzt. Es war seltsam.
Erst seit dieser Reise begann der Hauptmann am Absoluten von Disziplin und Gehorsam zu
zweifeln. Und war es denn Disziplin? Auf dem Schlachtfeld herrschte das selten. Dann schlug
man blind auf die Feinde ein, anfangs mit dem Gedanken bloß nicht selbst verletzt zu werden,
später in einem wilden Rausch des Wahnsinns. Disziplin bedeutet Selbstkontrolle. Nein, die
wenigsten haben in der Schlacht so etwas. Und nach der Schlacht? Ausgelassene Gelage,
schmutzige Scherze und dann in eine dunkle Ecke mit irgendeiner Hure. War das Selbstdisziplin?
Er hatte es von Anfang an gespürt. Schon bei der Begegnung mit den Magiern in Christos
Arbeitszimmer, dann beim Auslaufen aus dem Haufen und auch als er in der Kantine Verena
begegnete: Seine Welt geriet ins Schwanken. Diese Reise würde viel verändern.
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Wenn er zu diesem Zeitpunkt schon gewußt hätte wieviel, wäre er wohl sogleich über Bord gesprungen und nach Hause geschwommen... Eine laute, beinahe aufdringliche, gutgelaunte Stimme war zu vernehmen. Growins Hände ballten sich zu Fäusten - es war Zordan! Und neben ihm Verena. Sie blickte kurz zu ihm herüber, tat dann aber so, als hätte sie den Hauptmann nicht gesehen. Das Paar ging zu einem dieser typischen kurzen belanglosen Gespräche zu Irian und Alix, die über die korrekte Aufstellung der Figuren stritten. Was war mit Verena? Hatte sie sich wirklich nie für ihn interessiert? Growin wurde wütend. Zum einen wegen Zordan und zum anderen, daß sie ihm nicht klar sagte, wie es um sie stand. Entschlossen schritt er auf die beiden zu. Sie sah ihn aus einem Blickwinkel kommen, Zordan hatte ihm den Rücken zugewandt. „Können wir reden?“, fragte Growin direkt. Zordan drehte sich um, sah zuerst wenig erfreut und lächelte dann übertrieben. „Oh. Unser Held“, meinte er beinahe spöttisch. Alix warnte mit dem Zeigefinger - ohne vom Schachbrett aufzusehen - und sagte: „Vorsicht, Zordan. Hier ist kein Ritter Falk, der dich rettet, wie er es sonst immer gemacht hat, wenn du irgendwo wieder was ausgefressen hattest.“ „Falk Rondralon?“, fragte Growin interessiert. „Ja“, grinste Zordan zurück, „wir reisten zusammen.“ „Ein Wunder“, meinte der Hauptmann zähneknirschend. Falk Rondralon war ein recht angesehener, wenn auch unbeherrschter Diener Rondras und für ihn entbehrte es jeder Logik, wie dieser sich mit so einem Tagedieb abgeben konnte. Vielleicht war es, um einen offenen Streit zu verhindern, vielleicht lag ihr auch etwas daran, die Standpunkte klar zu machen. Jedenfalls nahm Verena den kämpferisch hervorgelehnten Growin am Ärmel und zog ihn weg. „Ja. Wir können reden.“ Ohne den Meisterdieb eines weiteren Blickes zu würdigen wandte sich der Hauptmann ab und beide schlenderten in Richtung Heck. „Ich wollte dich einmal sprechen, um zu erfahren, wie es denn - von deiner Seite aus - um uns steht.“ Verena schien ein wenig aufgeregt, aber sie hatte sich schon ihre Sätze vorher gedanklich zurechtgelegt: „Ich weiß nicht, wo da noch eine Frage ist. Du hast mir damals in der Kantine geholfen und ich bin dir sehr dankbar dafür.“ Sie erreichte genau, was sie wollte. „Mehr nicht?“, wollte Growin wissen. „Sagen wir’s mal so...“ Jetzt sah sie ihm in die Augen und blickte ihn beinahe giftig an. „... da dir dein Admiral, dein Schiff und dein Albernia dir offenbar tausendmal wichtiger ist als ich, glaube ich kaum, daß es mehr seien kann.“ Der Hauptmann schwieg einen Moment. Lange hatte es niemand mehr geschafft ihn mundtot zu machen. Zordan wäre das sicher nicht passiert kam es ihm in den Sinn. Dieser Strolch hatte sicher für alles eine passende Antwort. Der Gedanke an den Dieb erfüllte ihn einerseits mit Wut, andererseits kam eine seltsame Art von Verzweiflung in ihm auf, als er Verena in die Augen blickte. „Aber... du bedeutest mir viel mehr!“ „So? Neulich abend hast du mich zu deinem Admiral eingeladen ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, daß ich vielleicht etwas anderes vorhatte...“ 79
„Du wolltest etwas anderes mit mir machen?“ Sie antwortete nicht, um nicht lügen zu müssen,
schließlich war sie mit Zordan, nicht mit ihm verabredet gewesen.
„Als wir in die Kajüte marschierten tatest du nichts, als sie mich festhielten, aber als der
Bootsmann deinem Admiral ins Gesicht schlug hättest du dich dafür beinahe töten lassen...“
„Ich konnte nicht anders. Sie ...“
„Als der ganze Schrecken, den ich - falls du dir das noch nicht durch den Kopf gehen lassen hast -
einzig und allein dir zu verdanken habe, vorbei war, fiel dir natürlich nichts anderes ein, als mich
verwundet und erschüttert stehen zu lassen und zu deinem Admiral zu stürmen, um mit ihm deine
Ernennung zum Bootsmann auszuhandeln! Ist es nicht so?“
„Nein...“
„Wie ‘nein’?“
„Es ging noch gar nicht um den Bootsmann. Das hatte er gesagt. Ich habe nur...“
„Was?“ Sie sah ihn wütend erwartend an.
Growin wurde leiser. „Ich habe mich für mein Verhalten entschuldigt.“
Sie nickte und die Bosheit wich aus ihren Zügen. Vielmehr brachte sie Traurigkeit ans Licht und
es schien, als hätte sie feuchte Augen als sie sagte: „Hast du dich jemals bei mir entschuldigt?“
Growin ließ den Kopf sinken.
Zordan seiner erhob sich - beinahe schadenfroh.
„Sag mal, Zordan“, meinte Irian, „darf ich dir in Alix’ Gegenwart eine persönliche Frage
stellen?“
Der Dieb nickte ohne von Growin und Verena den Blick zu lassen und meinte: „Ich denke nicht
mich vor Alix vor irgend etwas scheuen zu müssen. Er ist wenigstens genauso ein böser Bube wie
ich.“ Er schmunzelte.
„Meinst du es mit Verena ernst oder geht es mit ihr zu wie mit allen deinen Frauen?“
Ein wenig erstaunt nahm Zordan seinen alten Freund in Augenschein und wirkte ungewöhnlich
ernst. Energisch erwiderte er: „Die Frauen, die ich hatte, haben sich nie beschwert und mit mir
immer seine sehr schöne Zeit gehabt.“
„Meine Zeit mit Rondriane beträgt ein Leben“, gab Irian wenigstens genauso ernst zurück.
„Es ist ein Unterschied, ob deine Beziehung unter dem Schutzstern Travias oder Rahjas steht.
Rahjas wird es bei dir ja kaum noch sein!“ Mit diesem schwer beleidigenden Satz wirbelte
Zordan herum und stampfte unter Deck.
Irian war zu alt um sich auf derartige Provokationen einzulassen, ein junger Mann wäre auf eine
derartige Anzweiflung seiner Männlichkeit sicher sofort mit gezogenem Degen über die
Tischkante gestolpert. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder dem Schach zu, sah noch einmal
kurz zu Growin und Verena auf und konzentrierte sich wieder aufs Spiel.
„Ich mag zwar ein böser Bube sein“, meinte Alix, „aber von einer ganz anderen Art als er.“
Im Laderaum der Havenas Stolz herrschte eine ganz andere Atmosphäre als auf Deck. Es war
nicht nur so, daß ihr Unmengen an Werkzeugen, Baumaterialien und Nahrungsmittel in Kisten,
Fässern und Säcken aufbewahrt wurden, zudem kam noch, daß der Raum auch als Unterkunft
genutzt wurde. Nur die Offiziere und die Magister bekamen an Bord einzelne Kabinen, die sie
sich allerdings auch zu teilen hatten. Die Mannschaften und der Rest lebten in den Laderäumen in
Hängematten und Schlafsäcken überall dort, wo die Ladung Platz freiließ. Es war nicht selten,
daß die niedrigrangigeren Seeleute sich zu zweit oder gar zu dritt eine Schlafstätte teilen mußten.
Fiana kam hier nicht herunter, weil sie hier leben mußte (die Organisation hatte ihr ein Zimmer
mit zwei Offizieren zugeteilt), sondern weil sie jemanden suchte. Aufgrund der vielen Ecken und
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Winkel war es sehr schwierig hier den Überblick zu behalten. Überall saßen, schliefen oder gammelten ganz einfach nur Menschen herum, rauchend, redend oder Kautabak kauend. Manche spielten Karten (offenbar unter Seeleuten auf langen Reisen eine beliebte Tätigkeit, was wenig verwunderlich war: Karten paßten in jede Tasche und man konnte sie einfach transportieren und hatte weitläufige Möglichkeiten der Beschäftigung), andere unterhielten sich (auffälligerweise zumeist über die Themen Frauen und das schlechte Essen). Fiana interessierte weniger die Aktivitäten der Besatzung, als einen Mann: Adeptus Tulef Winterkalt. Und sie sollte ihn auch finden. Er saß, die Beine an den Körper gezogen, in der - passenderweise dunkelsten Ecke des Laderaums zwischen vier Kistenstapeln. Eigentlich sah man nur sein Gesicht, was nicht schwarz war, wie alles an ihm. Sein Gewand und seine Schuhe, ja sogar die Hände hatte er in den Ärmeln vergraben, um nur ein Schatten in der Ecke zu sein. Dort saß er nun mit geschlossenen Augen und tat nichts, was für einen Außenstehenden hätte als Handlung erkennen können. „Ich grüße Euch, Verstoßene der Wälder“, meinte er seelenruhig, ohne die Augen nur einmal aufgeschlagen zu haben. Ein wenig unheimlich was Fiana schon, daß er sie einfach so erkannte, doch ihr Anliegen war von solcher Entschlußkraft geprägt, daß sie das nicht hätte einschüchtern können. „Lieber verstoßen von den Wäldern als verstoßen von der eigenen Gilde!“ Der Schwarzmagier öffnete die Augen und verzog seine Lippen zu einem leichten, beherrschten Lächeln. Sein Blick bohrte sich in Fianas Augen, wie der ihrige in seine, doch wer der Stärkere in diesem geistigen Gefecht war, war nicht klar herauszufinden. Fiana tat einen Schritt auf seine Unterkunft zu und verschwand ebenfalls in der Dunkelheit von Tulefs Ecke. Dieser lächelte gespielt freundlich. „Was führt Euch zu mir?“ „Wie konntet Ihr es wagen auf solche Weise Hand an mich zu legen, Ihr notgeiler Oger? Es wundert mich gar nicht, daß Ihr es nicht zum Magister geschafft habt!“ Das Gesicht des Schwarzmagiers spielte eine Miene des Bedauerns und er erhob sich langsam. Nun standen sie sich gegenüber und fixierten - sie wütend, er ruhig - ihre Augen. „Ihr haltet mich also für notgeil“, begann er mit Ruhe und Gelassenheit des Wissenden, „Glaubt Ihr etwa ich wollte Euch tatsächlich diesem sexsüchtigen Prinzen ausliefern, der sich durch Aventurien vögelt wie ein kranker Rahjageweihter?“ Etwas verwirrt blickte Fiana ihr ernst sprechendes Gegenüber an, sagte aber nichts. „Ich fürchte Ihr mißversteht meine Absichten. Es liegt mir nichts daran dem Prinz mit ‘Nahrung’ zu versorgen, nur weil ihn der Hafer sticht. Es ist mir doch egal in welchen Betten er sich herumtreibt und ich werde mich da doch nicht einmischen.“ „Was ist es dann?“, wollte die Elfe entschlossen wissen. Tulef machte einen Schritt auf sie zu, so daß sie sich ganz nahe standen. Ihr wurde dabei leicht unbehaglich, aber sie war auch nicht hier, um sich wohlzufühlen (dafür würde sie zu Alix gehen). „In jener Nacht war ich nicht an Deck, um mich beim Prinzen einzuschmeicheln“, flüsterte der Schwarzmagier mit rauher Stimme, „ich war dort, um den Admiral gefangenzunehmen. Harion spielte für mich keine Rolle. Natürlich hielten sich diese Deppen von Kriegern nicht an den Zeitplan, genauso wenig wie der Bootsmann, aber was soll man von solchen Leuten schon erwarten? Das Problem war schlichtweg, daß ich allein mit zwei Söldnern an Deck war und der Rest sich alle Zeit der Welt ließ. Der eigentliche Punkt ist gewesen, daß Ihr und Euer Freund Alix Zander dort waren und ich mußte euch selbstverständlich ausschalten, damit mein Unternehmen glücken konnte.“
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„Und das soll ich Euch glauben?“ Fiana lachte spöttisch. „Und wieso schlug Euch dann der eine Soldat nieder, der auch Harion im Schach hielt, bevor Ferdek auftauchte?“ Tulef zuckte mit den Schultern und verkniff das Gesicht. „Das wiederum ist eine Frage, die ich auch nicht beantworten kann. Leider können wir ihn ja nicht mehr fragen...“ Er grinste sarkastisch. Die Elfe schüttelte den Kopf. „Ihr seid ein falsches Stück!“ „Vielleicht bin ich einfach nur schlau genug, um zu überleben.“ „Ich wette, daß ich Euch allemal überleben werde“, giftete Fiana den Magier an. Er grinste selbstsicher und meinte: „Die Wette gehe ich ein!“ Er streckte die Hand aus, damit Fiana einschlagen konnte. Doch sie drehte sie sich auf der Stelle um und schritt davon. Was für eine verrückte Geschichte! Das sollte sie ihm glauben? Er log doch. Er war nicht anders als Harion und der würde heute auch noch sein Fett abkriegen! Aber was, wenn er nicht log? Was, wenn er tatsächlich der einzige überlebende Meuterer war? Wieso hätte dann aber der Soldat ihn niedergeschlagen? Vielleicht hatte er Angst vor dem Magier und wollte in diesem Moment, wo er mit ihm allein war, die Gelegenheit ergreifen und ihn niederschlagen und ausschalten. Vielleicht beneidete er ihn um irgend etwas oder wollte einfach seine Macht sichern, die man durch einen mächtigeren Magier garantiert bedroht sehen konnte. Vielleicht hatte er einfach die Nerven verloren... Das Ganze war für die Elfe ein Rätsel, aber sie wußte, daß sie mehr als Tulefs Aussage nicht erhalten würde. Und manchmal war es ja wirklich so, daß die Dinge nicht so waren, wie sie schienen und ein wenig jeder Logik entbehrten. Wer war schon ruhig und gelassen, was logisch und was klar ersichtlich gewesen in jener Nacht? Vielleicht war es eine Überreaktion, vielleicht Willkür? Die Motive des toten Kriegers konnte sie heute kaum noch nachvollziehen ... wenn denn alles tatsächlich so gelaufen war, wie Tulef es sprach. Ruckartig blieb sie stehen. Da stand er vor ihr, gerade den Laderaum betretend: Harion Ui Bennain. Er war sichtlich erschrocken sie hier zu sehen, suchte kurz nach Worten, sah dann an ihr vorbei und wollte gehen. Doch sie machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihm den Weg. „Und, endlich auskuriert, mein Prinz?“ Harion schien zu überlegen. „Fiana, es tut mir ... ich wollte...“ „... nur einmal kurz mich ins Bett schleppen, am Besten in Fesseln, nicht wahr?“ „Du verstehst da was...“ „Oh nein, ich verstehe alles sehr richtig, Prinz Bennain! Wagt es nie wieder mich auch nur anzusehen, denn ansonsten werdet Ihr dankbar sein, wenn ich nur die langweilige Variante nehme und Euch nur bei lebendigem Leibe verbrennen lasse!“ Es johlte hinter ihr. Das heftige Gespräch entging auch der Mannschaft nicht, die interessiert hinhörte. Harion erkannte das. Und er erkannte auch, daß er bei Fiana auf normalem Wege keine Chance mehr hatte. Wütend, aber immer noch unsicher, wandte er sich zu ihr: „Ihr könnt froh sein, daß Euch die Mächte der Magie zur Verfügung stehen und daß ich hier nicht das oberste Kommando habe, denn sonst...“ Mit einem Male holte die Elfe aus und schlug dem Prinzen mitten ins Gesicht. Er stolperte zurück, ohne jede Gegenwehr stürzte er. Der Schlag hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen und jetzt hielt er sich die Wange und starrte sie entgeistert an. „Das war keine Magie!“, sagte Fiana gut hörbar. Hinter ihr kreischte die Menge. Spätestens jetzt wurde Harion klar, wie unbeliebt er auch bei der Mannschaft war. Ohne den Prinzen noch eines weiteren Blickes zu würdigen ging sie an ihm vorbei und verließ den Laderaum. Noch ein ganzes Stück weiter war das Lachen und Witzeln der Seemänner zu 82
hören und auch am abend in der Kantine sollte Fianas Schlag das Hauptthema werden. Sie störte das nicht und Harion um so mehr. Aber das war wieder etwas, was ihr sehr gefiel. Lealoarn Hermson stand mit erhobenem Blicke am Bug des Flaggschiffes und sah in den Sonnenuntergang. Der Wind wehte gut und dort bei der rötlich glühenden Praiosscheibe hingen schwarze, dicke Wolken am Himmel. Er runzelte die Stirn. Das war kein gutes Zeichen. Alarion Wolfslied trat neben ihn, geflohen von der Enge der Lagerräume und der Ungenießbarkeit der Luft unter Deck. Einen Moment lang sahen beide geradeaus, dann sprach der Halbelf: „Wie sieht es aus?“ Der Thorwaler zupfte sich an seinem Bart und blickte hinab in die Wellen, die sich am Kiel des Schiffes teilten. „Wir sind in der Nähe“, meinte er, „ich spüre sie schon deutlich.“ Alarion sah ihn an. „Ist es dieses seltsame Gefühl? Ich kann es schlecht beschreiben. Wie als wenn die Mächte des Seins sich im Gefüge der Welt verändern.“ Lealoarn zuckte mit den Schultern. „Davon verstehe ich nichts. Ich sehe es nur am Wasser, ich schmecke es an der Luft, ich sehe es an der Art, wie sich das Licht im Wasser spiegelt: Wir sind auf dem richtigen Weg!“ „Manche zweifeln daran“, meinte Alarion. Er hatte schon einige Matrosen unter Deck darüber sprechen hören. Viele bezweifelten, daß sie die Insel überhaupt finden würden, was nach einer so langen Fahrt nicht ungewöhnlich war. Der Thorwaler nickte. „Als wir damals in der Otta fuhren spürten wir es alle. Es liegt an der Natur dieser Menschen, ihrer Gesellschaft und der Art wie sie leben. Sie fühlen das Meer nicht mehr. Sie orientieren sich lieber an Sternen oder der Sonne, als ob diese wüßten, wo die Landmassen sich befinden. Wie sollen sie denn, sie sind doch so weit weg?“ Alarion zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht recht, aber vielleicht ist es gerade das, was es mich spüren läßt; daß ich eben nicht so bin.“ „Du bist ein Spitzohr“, erwiderte Lealoarn scherzhaft, „was verstehst du vom Wasser?“ „Ich höre mehr auf die Natur. Und der Ozean ist auch Natur ... wenn auch ein höchst wundersamer Teil davon.“ Beide schwiegen und sahen das letzte Licht von Dere schwinden. Die Laternen auf Deck brannten schon eine Weile. „Was ist mit den Wolken?“ „Ein Sturm“, erklärte Lealoarn. Der Halbelf wirkte erschreckt darüber, wie leichtfertig sein Gesprächspartner das nahm. „Ist das nicht gefährlich? Sollten wir ihm nicht lieber ausweichen?“ Der alte Seebär wandte sich um und sah ihn nun zum ersten Mal an. Er holte tief Luft und meinte dann: „Wenn du auf der Jagd bist und eine Fährte entdeckt hast, wirst du sie dann verlassen, nur um unwegsames Gelände zu umgehen?“ „Zweifellos nicht. Ich würde sie kaum wiederfinden, wenn ich nicht weiß, wo sie durch das unwegsame Gelände hinführt.“ Er hatte verstanden. Lealoarn wollte den Kurs nicht verlassen, weil er befürchtete die „Fährte“ zur Insel zu verlieren. Aber ob er sie in dem Sturm im Auge behalten würde, war eher fraglich. „Das letzte Mal, als wir sie besuchten, fanden wir sie auch nur durch einen Sturm.“ „Nur daß dabei euer Schiff in die Brüche ging“, gab der Halbelf zu bedenken. Der Thorwaler zuckte mit den Schultern und steckte sich eine Pfeife an. Der Wind war stärker geworden und er hatte Mühe, den Zunder zum Brennen zu bringen. Besorgt blickte Alarion in die Segel und an die wild wackelnde Fahne. Die Fürstes Gold sprang über eine Welle und das 83
Wasser spritze bei ihr beinahe bis an Deck. So etwas fürchtete er: Einen Sturm auf See. Der Boden unter ihm bewegte sich und man war nirgendwo wirklich sicher, alles schwankte und wankte im Getöse der See. Alarion schauderte bei der Vorstellung. Er entschloß sich unter Deck zu gehen. Zwar fühlte er sich dort nicht wohl, aber bei einem Sturm hatte er keine Lust an Deck mit den Wellen zu kämpfen. Wäre er gottesgläubig gewesen, so hätte er an dieser Stelle gebetet, aber ihn verfolgte hier wohl das Leid der Atheisten. Ein wenig zittrig setzte er seinen Schritt auf die Stufe der Leiter, die unter Deck führte, und kletterte hinab. Auf der Hälfte hielt er inne. Seine Augen gingen weit auf, sein Herz begann zu rasen und entsetzt starrte er auf den Spruch, der dort hinter der Leiter in die Holzwand geritzt war:
Vergiß mich nicht, wohin ich geh,
gut Fahrt, gut Fahrt, so weit ist die See!
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Kapitel 11
W
ild tobte der Sturm und spielte mit den Schiffen wie ein Unwetter
mit dem Laub der Bäume. Ein Blitz zuckte am stürmischen Himmel aus den Wolken heraus und für einen Moment war alles taghell. Nur einen Wimpernschlag später schlug ein Donner durch die Finsternis mit einem ohrenbetäubenden Lärm, daß man glauben mußte, die Welt würde zerbrechen. Die Havenas Stolz wurde von den gigantischen Wellen nach oben gerissen und nahm dabei eine bedrohlich schräge Lage ein. Überall schrien und kreischten die Menschen, ein Matrose an Deck verlor in einem Moment der Unachtsamkeit den Stand. Er griff nach einem Tau, verpaßte es und rutschte weg. Sein Schreien war beim Tosen der See kaum zu hören und als er viele Mannslängen tiefer auf die Wasseroberfläche traf, fraß das Unwetter auch jedes Geräusch. Die Havenas Stolz flog regelrecht und klatschte dann wieder auf die Wellen, wobei sie in alle Richtungen Wasser verspritzte. Die Werftarbeiter hatten einmalige Arbeit geleistet, denn selbst für die erfahrenen Seemänner schien es wie ein Wunder, daß das riesige Schiff nicht in Stücke brach. Nur wenige einsame Helden waren noch an Deck, unter ihnen der Steuermann, der zusammen mit Admiral Elwick und dem Seemann, der in der Nacht mit den Piraten die Meuterei entdeckt hatte, das Steuer hielt. Von Navigation konnte man nicht mehr sprechen. Die drei brüllten sich gegenseitig an, um sich zu verständigen und waren eigentlich nur bemüht das Flaggschiff der kleinen Flotte gerade zu halten und nicht ein Opfer der Wellen werden zu lassen. Alle Segel an Bord waren eingeholt worden und die Meisten waren unter Deck geflohen. Wacker hielt Elwick die Stellung. Es war bemerkenswert, wie der alte Mann mit Entschlossenheit und Willenskraft das Ruder lenkte, ohne auch nur einen Gedanken an sich und seine Sicherheit zu verschwenden. Seine ganze Sorge galt seinem Schiff und seiner Besatzung, im Moment nicht einmal den anderen dreien der Flotte. Nur wenige verstanden das selbstlose Auftreten des Admirals. Er war zwar ein guter Seemann und Befehlshaber, aber er vermied es eigentlich immer sich selbst den Kampfhandlungen und gefährlichen Situationen auszusetzen. Was brachte den Mann dazu sein Leben zu riskieren, wo er doch auch einen Matrosen an seine Stelle hätte ordern können? Niemals! Niemals würde er dieses Schiff aufgeben. Es war nicht nur die Ehre und die Erwartung diesen Kahn wieder zurück in den Heimathafen zu bringen. Für ihn war dies die letzte Chance in 85
seinem Leben noch größeren Einfluß und Ruhm zu erlangen und als derjenige in den Chroniken zu stehen, der Albernia zu neuem Ruhm verhalf. Denn mehr als jeder andere an Bord, ja sogar mehr als Harion Ui Bennain, war es wahrscheinlich, daß er als der Entdecker dort niedergeschrieben werden würde. Wenn sie jetzt hier draußen kenterten, würde niemand sie retten, das war völlig klar. Sie waren viel zu weit draußen auf dem Meer der Sieben Winde, um auf ein anderes Schiff zu treffen. Wenn sie jetzt untergingen, versanken mit ihnen auch Albernias Hoffnungen im Ozean. Und das würde Elwick nicht zulassen; nicht ohne alles getan zu haben, um es zu verhindern! Verbissen, alle Schmerzen ignorierend, klammerte er sich fester an das Steuer. Die Balken des Holzes ächzten, die Wellen schlugen unaufhörlich über die Reling und setzten alles unter Wasser. Alle Kisten, Fässer, Taue und Netze, die einst hier an Deck gelegen hatten, hatte sich Efferd bereits zu sich geholt. Wieder blitzte es und das Grollen eines Donners ließ die drei letzten Helden an Deck zusammenzucken. „Da!“, schrie der Steuermann und zeigte voraus. Elwick sah mit zusammengekniffenen Augen bugwärts. Ungläubig starrte er auf das, was sich ihm dort offenbarte: Eine Gestalt aus purem Wasser und mit dem Aussehen eines bärtigen Mannes mit Krone und einem Dreizack in der Faust. Wie aus dem Nichts war sie plötzlich da, vom Blitz geschaffen, von der See belebt und mit seinem ernst-wütenden Blick dem Schiff entgegenstarrend: Eine Efferderscheinung! „Ausweichen!“, brüllte der Admiral in seiner Panik und riß am Ruder. Der Steuermann stemmte sich mit aller Kraft dagegen. „Nein, Admiral! Wenn wir jetzt das Ruder umlegen, werden wir kentern!“ Einen Moment blickte der Admiral den ungehorsamen Seemann wütend an, dann fixierte er die Gestalt, der sie sicher immer mehr näherten. Die Spitze des Rammbocks des Flaggschiffes berührte die Erscheinung und mit einem Mal explodierte diese zu Tausenden Wassertropfen. Eine riesige Welle riß das Schiff erneut nach oben. Einen Moment hatten die drei den Eindruck, sie würden senkrecht in den Himmel fahren. Instinktiv klammerten sich Elwick und der Steuermann an ihr Ruder, doch der Matrose glitt ab. Der Admiral griff nach ihm, doch er griff ins Leere. Der entsetzte Gesichtsausdruck des Mannes ging Elwick bis ins Mark. Unaufhaltsam stürzte der Mann ins Tiefe, noch bevor die Havenas Stolz wenige Momente später wieder mit einem lauten Klatschen in waagerechte Lage kam. Unter Deck war ein wüstes Chaos. Den Zwölfen zum Dank war die Ladung gesichert und festgeschnallt, damit sie nicht verrutschen konnte, denn sonst wären viele Besatzungsmitglieder bei diesem Seegang und dem ständigen Geschaukel von den Kisten zerquetscht worden. Doch auf diesen positiven Umstand achtete keiner. Vielmehr machte sich die pure Panik breit. Alle waren sich bewußt, daß sie hier draußen jämmerlich ersaufen würden, wenn die Wände nicht hielten und Efferd entschied sie zu sich zu holen. Dieser Gedanke allein reichte schon, um viele jede Beherrschung und Ruhe verlieren zu lassen. Wenn dann noch selbst hier unten, zwei Etagen unter Deck Wasser durch die Tür kam und die Leiter hinabtropfte und überall Pfützen bildete, war dieser Anblick Grund für den totalen Wahnsinn. Die Panik, die ausbricht, wenn Menschen Angst haben zu sterben oder sich dessen gar sicher sind, ist wohl die fatalste von allen. Denn niemand von all denen dort unten dachte auch nur 86
entfernt daran, wie schön ihr Leben gewesen war und was sie alles erlebt hatten. Glaubt ihr, daß sich einer von ihnen in diesem Moment an sein erstes Spielzeug, seine erste Liebesnacht oder seinen Traviabund erinnerte? Nie im Leben. Für all die Verrückten galt nur eins: Sie würden sterben und wollten es nicht. Welch Idiotie sich da noch die Lunge aus dem Hals zu grölen... Sie alle kreischten nur, als würde es den Sturm stören. Doch der kreischte lauter und für die, die einigermaßen die Nerven behielten war das Kreischen der Menschen noch viel schlimmer als das Unwetter und die Gefahr selber. Fiana war kreidebleich und auch Alix hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, all dies würde ihn nicht
schlimm belasten und er hätte keine Angst. Sie saßen am Rande des Laderaums, geschützt durch
ein paar Kisten, mit dem Blick auf die kreischenden Menschen. Viele schrien wie verrückt,
andere kletterten sogar auf der Ladung herum, als wäre hinter einer dieser Wände aus
Nahrungsmitteln und Baumaterialien ein trockenes Plätzchen, was nicht hin und her schwankte;
wieder andere saßen da uns starrten mit leeren Augen ins Nichts.
Die beiden Magier zählten wohl noch zu denjenigen, die am normalsten waren. Sie waren aus
ihren Kabinen geflohen, als das Wasser dort aus allen Ritzen geflossen kam. Zwar hatte man die
Luke zum Deck verschlossen, doch der Holzbau des Decks bestand nur aus Dielen, die offenbar
nicht im Stande waren größere Mengen Wasser abzuhalten. Immer, wenn eine neue Welle über
die Reling trat, schwappte mehr und mehr Wasser durch Ritzen und undichte Stellen in den
Bauch des Schiffes und sammelte sich in Pfützen. Es wirkte bedrohlicher als es wirklich war,
doch daß das relativ wenige eindringende Wasser für das Schiff kaum eine Gefahr darstellten,
erkannten in ihrer Panik nur wenige.
„Ich hab etwas Angst“, gestand Fiana ihrem Freund besorgt anblickend.
Alix nickte und sah ihr in ihr schönes Gesicht. „Ich auch.“
Trotz der miesen Lage empfand Fiana eine gewisse Überraschung. Sie hatte nicht erwartet, daß
Zander das zugeben würde, nicht, weil er Komplexe damit hatte seine Gefühle auszudrücken,
sondern weil er ihr nicht den Mut hätte nehmen wollen.
„Aber mach dir keine Sorgen“, meinte er auf seine alte, lockere Art, „ich hab dir doch erzählt,
daß ich schon mal gekentert bin.“ Auch wenn er seine Rolle überzeugend spielte, merkte Fiana
doch, wie er um die Lässigkeit schwer zu kämpfen hatte.
Urplötzlich lächelte sie. Sie waren gerade dabei in den Weiten des Ozeans zu ertrinken und sie
lächelte. Der Magister, der sich unruhig umsah und die Menschen um sich herum betrachtete,
bemerkte es erst einen Moment später. Verwirrt sah er sie an. Jetzt hatte auch sie es geschafft ihn
zum Staunen zu bringen.
„Was ist so lustig?“, wollte er ernsthaft verwundert wissen.
Sie lächelte immer noch. „Du bist es. Immer, wenn irgendwas ist, versuchst du die Mißlichkeit
der Lager herunterzuspielen.“
Er runzelte die Stirn. „Du glaubst ich erkenne die Ernsthaftigkeit nicht?“
„Doch, durchaus. Nur du versuchst den anderen die Angst zu nehmen, die du selbst hast.“
„Jetzt beginnen wir hier inmitten einer Katastrophe ein pseudopsychophilosophisches Gespräch.
Ich glaub ich spinne!“
Fiana lachte kurz über ihn. „Dein Schiff damals war auf dem Weg von Maraskan zum Festland
und es ist kurz vor der Küste gesunken. Wir sind hier hunderte von Meilen draußen auf dem
Meer, ich denke, daß deine Seenoterfahrung dafür nicht ausreicht.“
Ungewöhnlich schnell wurden beide wieder ernst. Vielleicht war es angesichts der Lage,
vielleicht weil sie einfach nicht in der Stimmung zum Scherzen waren.
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Alix nickte besonnen. Wenn sie kenterten waren sie tot. Und es würde kein schöner Tod sein. Eigentlich war er hoffnungsloser Optimist, aber in diesem Fall ertappte er sich bei dem Gedanken, daß sie vermutlich garantiert sinken würden. So wie das Schiff unter der Belastung des Sturms ächzte, schien es jeden Moment auseinanderzubersten, und so wie es herumgewirbelt wurde, schien es sogleich in die Tiefe gerissen zu werden. „Ich möchte nicht sterben“, stellte Fiana fest. Alix nickte. Er auch nicht. Dann fügte sie noch leise bedächtig hinzu: „Aber wenn, dann bin ich froh es an deiner Seite zu tun.“ Ihre Blicke trafen sich und in diesem Moment geschah etwas, wozu die Seiten dieses Buches nicht ausreichen würden, um es zu beschreiben. Vielleicht beschrieb es ihre Geste ganz gut: Ohne genau hinzusehen fanden sich intuitiv ihre Hände und hielten einander fest. Fiana lächelte leicht, Alix hielt ihre Hand und sie blickten sich an. Irian kam heran. Hesinde wußte, wo er sich wieder herumgetrieben hatte, aber offenbar schien es ihm in seinem Quartier mittlerweile auch zu ungemütlich zu sein. Das erste Unterdeck war im Moment zweifellos ein feuchter und ungemütlicher Ort. Der Magister hatte noch seine Besitztümer in Sicherheit gebracht und die Luke zum Deck ordentlich verschlossen. Ihr Rivaschachbrett hatten sie leider auf Deck vergessen und der Sturm war so plötzlich über die Flotte hereingebrochen, daß sie nicht mehr dazu gekommen waren, es zu retten. Irian störte weniger der materielle Verlust als der des Spiels, was er mit Alix seit nunmehr einer Woche gespielt hatten. Unzufrieden mit der momentanen Situation ließ er sich zähneknirschend neben den beiden nieder. Er blickte auf die Besatzung, die panisch allerlei verrückte Dinge taten und schüttelte mit dem Kopf. Man mußte eben seinen Geist trainieren, nicht nur seinen Körper. Ein trainierter Körper brachte einem in Ausnahmesituationen nichts, ein ausgeprägter Geist konnte einen vor Wahnsinn und Panik schützen. Nein, ihm gefiel die Lage wahrlich nicht. Am liebsten wäre er jetzt daheim gewesen, bei Frau und Kind, einem guten Glas Rotwein und einem alten Buch, auf der Suche nach den letzten großen Geheimnissen. Aber hier fror und ängstelte er vor sich hin und ihm war naß und unwohl. „Das nächste Mal“, meinte er bitter, „buche ich erste Klasse!“ Irgendwo auf dem Grund des Meeres der Sieben Winde, wo kein Lichtschimmer von Praios Strahlen hinreichte und die Auswirkungen des Sturmes nicht mehr spürbar waren, sank eine hölzerne Figur. Sie war nicht größer als der Daumen eines Menschen und sank gemächlich immer tiefer. Dann, irgendwann, traf es sanft auf den weichen, schlammigen Grund und verharrte dort. Es war eine Schachfigur: Der schwarze König. Einen Moment, es schien wie eine Ewigkeit, blieb sie dort liegen, dann tauchte aus dem Dunkel des Ozeans mit einem Male ein großer, rundlicher Fisch mit einem riesigen Maul und messerscharfen Reißzähnen auf und schnappte zu. Der Schlamm wurde aufgewühlt und der Fisch drehte ab. Dort, wo eben noch der schwarze König gestanden hatte, war nun nicht mehr als eine kleine Schlammwolke, während der König in den Zähnen des Fischungetüms zermalmt wurde. Das Wasser klärte von selbst wieder auf und all Schlick legte sich wieder zum Grund, so daß niemand ahnte, daß hier einst ein König gelegen hatte...
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Buch 3
Neu-Havena
89
Kapitel 12
E
s war wie ein Wunder. Der Himmel teilte sich und wie durch die Hand
eines Gottes geleitet glitten wir auf ruhiger See. Die Morgensonne stand weit über dem Weltenrand und warf ein zauberhaftes Licht auf das idyllische Bild, was sich uns offenbarte. Als die Ersten an Bord es entdeckten, trauten sie ihren Augen kaum. Doch nur wenige Momente später riefen sie und das Schiff erwachte aus seinem seltsamen Schlaf. Erschöpfte Matrosen, zerrüttete Besatzungsmitglieder und müde Gesichter zeigten sich, als sich die Menschen langsam bewußt worden, daß sie noch lebten. Als ich auf Deck kam erkannte ich nicht gleich, was geschehen war. Mein erster Blick gehörte den drei Begleitschiffen. Wie durch ein Wunder hatten auch sie offenbar kaum beschädigt überlebt und waren in unserer Nähe geblieben. Wir waren gesegnet von den Göttern! Eine kleine Menschenmenge drängte sich an der Reling, sie redeten wild aufeinander ein und zeigten nach Steuerbord. Allmählich erkannte ich durch die Menschen hindurch, was sie so bewunderten: Das Land! Fassungslos, nur diese urwüchsige Insel betrachtend, drängte ich mich zur Reling. Sie war prachtvoll! Lealoarn Hermson hatte in seiner Beschreibung und Schwärmerei kein bißchen übertrieben. Sie war ein Alveran auf Dere! Einen Moment lang glaubte ich doch im Sturm letzte Nacht ertrunken und hier im Paradies angekommen zu sein. Aber nein! Wir hatten ein Unwetter auf See erlebt und überlebt. Ich weiß nicht, ob es mir nur so vorkam, weil ich keinen festen Boden hatte, aber mir schien es, als sei ein Sturm auf See um Welten schlimmer als einer an Land. Aber wir hatten ihn überstanden und hier war der Lohn, der süßeste Lohn, den man sich vorstellen konnte: Der goldgelbe Strand, die kleinen Riffe in der Brandung, das bißchen Grasland vor dem Dschungel und weit dahinter, vom Schleier des Nebels verhangene Gebirgsläufe offenbarten die ganze Schönheit dieser Insel. Vielleicht war es, weil ich lange kein Land mehr zu Gesicht bekommen hatte, aber dieser Platz auf Sumus Leib war wahrhaftig einer der schönsten und traumhaftesten überhaupt. Sie war riesig. Ich hatte sie mir wirklich um einiges kleiner vorgestellt, aber die Landmassen schienen schier endlos weiterzugehen und wer wußte, was sich hinter dem Gebirge noch offenbaren würde? Zweierlei Gefühle stiegen in mir auf: Das Glück wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren bekommen und eine unbändige Abenteuerlust dieses Neuland zu entdecken. Denn es war Neuland, mehr als so mancher Teil des Ehernen Schwertes, denn hier war wirklich kein Aventurier zuvor gewesen. Diese beiden Empfindungen ließen mich unruhig und tatenfreudig werden. Ich wollte dort hinüber und meine Hände in das Gold des Sandes graben, ich wollte die Früchte der Bäume schmecken und all das entdecken. Es war eine neue Welt. Unsere neue Welt! „Irian!“, schrie Alarion voller Freude. Er flog beinahe die Leiter herunter und stürmte in Richtung Laderaum. Alle Angst der letzten Nacht, alle Sorge wegen dem prophetischen Lied und alle Bedenken waren mit einem Male den Svelt hinunter. 90
Sein Freund kam ihm auf dem Weg entgegen. Der Halbelf überrannte ihn beinahe, doch der Magister sah ihn nur verständnislos an. Es schien ihm völlig unklar, wie sein alter Kumpane nach so einer Nacht so euphorisch seien konnte. Gut, sie lebten, aber das war auch die einzige gute Nachricht. „Mein Freund, Drogen sind dein Ende!“, tadelte der alte Magister. Alarion sah ihn etwas verwundert an, schüttelte dann den Kopf und meinte: „Land!“ Irians Augen hellten sichtlich auf. Alle Müdigkeit und Trägheit waren aus seinen Zügen gewichen und schnellen Schrittes eilte er an Deck. Es war nur eine Sache von Minuten, bis alle an Deck, in den Tauen oder im Ausguck waren, um die Insel zu erspähen. Die Freude und Euphorie, die sich breitmachte, übertraf selbst die beim Auslaufen aus dem Heimathafen. Und das war auch leicht verständlich, denn sie hatten überlebt, schlimmste Gefahren und größte Ungewißheiten, und sie hatten die sagenhafte Insel erreicht, einen Umstand, den viele schon nicht mehr erwartet hatten. Lealoarn Hermson lief schreiend und fröhlich über das Deck und rief: „Hab ich euch nicht gesagt? Hab ich es nicht gesagt? Da ist es! Das Land! Ich hab es doch immer gesagt, daß wir es erreichen!“ Selbst diejenigen, die einst arge Zweifel an Lealoarns Absichten und dem Erreichen der Insel gehabt hatten, vielen ihm nun in die Arme, klopften ihm freundschaftlich auf die Schulter und lachten und freuten sich mit ihm. Die ganze Spannung, die sich während der langen Fahrt auf dem Schiff aufgestaut hatte, schien mit einem Male verflogen und alle wollten nur noch eins: Auf festem Boden stehen! Es war wohl irgendein Idealist, der damit anfing die Hymne zu singen, doch bald stimmten alle mit ein und sangen in lautem, stolzem und kräftigem Chor: „Albernia - wie schön ist dein Land,
der Feen Wald, des Efferds Reich,
durch weisen Herrschers gute Hand
das Glück für Tausende zugleich!
In goldner Städte Einigkeit
gemeinsam Freiheit zu erstreben
bin ich für alle Ewigkeit
in Treu’ und Liebe dir ergeben.
In was auf Efferds Wort entstand
Seine volle Schönheit erkennen.
Die Zwölfe segnen dieses Land
ich darf es mit Stolz Heimat nennen!“
Etwas abseits standen Admiral Elwick Roggunder und Prinz Harion Ui Bennain. Der junge Prinz schüttelte wieder den Kopf über den Nationalstolz der Leute. Er öffnete den Mund, um wieder irgendeinen abfälligen Kommentar darüber abzulassen, doch Roggunder erhob die Hand. „Schweigt!“ Er wandte sich zu Harion und blickte ihm mit vernichtendem Blick in die Augen. Vielleicht war es die Ankunft an diesem Ort, vielleicht die Ferne zum Fürstenpalast, die ihn nach den Anstrengungen der letzten Nacht doch diesen Mut und diese Entschlossenheit ermöglichten, 91
doch jedenfalls sprach er mit fester Stimme: „Ich will kein herabwürdigendes Wort mehr über meine Leute hören! Sie haben auf der ganzen Fahrt mehr geleistet, als Ihr es jemals tun werdet! Dies ist ein neuer Anfang für Albernia, ein neues Stück aventurische Geschichte und wir haben tüchtige und loyale Männer und Frauen hier und nun laßt sie ihre Hymne singen, denn ich zweifle, daß ihr dazu in der Lage seid!“ Harion wollte etwas erwidern, doch der Blick des Admirals duldete keinen Widerspruch. Einen Moment lang spielte der Prinz sogar mit dem Gedanken mitzusingen, um das Gegenteil zu beweisen, doch dann schwieg er lieber, wandte sich um und verschwand unter Deck. Elwick lächelte. Ein weiteres Mal hatte er sein Kommando bestätigt und außerdem erleichterte es ihn, seiner Antipathie gegen Harion endlich mal freien Lauf zu lassen. Er kratzte sich an seinem Bart. Ich sollte mich rasieren. Ein neuer Anfang für Havena, ein neuer für meine Körperpflege! Er grinste über sich selbst. „Admiral!“ Es war Growin, der an ihn herantrat. Der Hauptmann-Bootsmann nickte zum Gruß. Sein Haar war zerzaust und auch an ihm war der Schrecken der letzten Nacht nicht vorbeigegangen. „Wie lautet Eure Order?“. Elwick schüttelte den Kopf. „Laß sie doch genießen. Sie haben viel gelitten, jetzt laß sie erst einmal ihren Erfolg genießen.“ Er lächelte. Auch er genoß; das Wohlergehen der Mannschaft, die Freude über das Überleben und den Ausblick in die Zukunft. Er ging vor zur Reling, lehnte sich weit darüber und sog die frische Landluft ein, die von der Insel herüber wehte. Growin stand etwas verloren hinter ihm. Dann nickte er und wollte zu Verena gehen. Seine soldatische Angewohnheit sich sogleich Instruktion zu holen erinnerte ihn an das Gespräch mit ihr. Noch stand vieles offen und er wollte nicht mehr allzuviel für die Beziehung mit dieser wunderbaren Person riskieren. Ja, sie war wunderbar, auch wenn sie beinahe dämonisch gewesen war, gestern, als sich die Fronten etwas geklärt hatten. Aber sie hatte auch allen Grund dazu. Er war wahrhaftig nicht der geborene Lebenspartner! „Ich will zuerst Berichte über Verluste und Schäden an allen Schiffen“, meinte der Admiral urplötzlich, „Nachher werden wir die Beiboote zu Wasser lassen und das Land taufen und zu unserem Besitz erklären. Danach holen wir die Männer und Frauen an Land, erst mal schichtweise. Es wird ein wildes Gezanke darüber geben, wer zuerst hinüber darf, aber wir können ja die Schiffe nicht unbeaufsichtigt lassen, macht es über Losen oder so. Heute wird ein freier Tag. Die Mannschaften sollen einige freie Stunden an Land verbringen. Morgen beginnen wir mit der Besiedelung. Die Schiffszimmermänner sollen sich um die Reparaturen kümmern... und sag deinem Weib, daß viele neue Nahrungsvorräte da ist. Heute abend gibt es das erste frische Essen seit langem!“ Einem Moment zögerte der Hauptmann. Ihm ging sogar durch den Kopf den Admiral aufzufordern einen anderen zum Ausführen dieser Befehle zu holen, aber er schwieg. Roggunder hatte ihn aus seinem kleinen Traum vom problemlosen Leben in Liebe gerissen und nun war er wieder Growin der Soldat. Ein wenig ermattet nickte er. Kein Wunder, daß Verena so giftig reagiert hatte. Was war er für ein Mann? Ein Werkzeug der Obrigkeit, eine Marionette der Befehlshabenden. Elwick drehte sich zu ihm und sah ihn fragend an. Ihn wunderte, daß Growin noch hier verweilte. Der Hauptmann erwachte aus seinen Gedanken, nickte und machte sich daran die Befehle ausführen zu lassen. „Was wirst du in deinem nächsten Leben, Mutter?“, fragte der kleine Prinz Ruadh zu Hause am Hofe in Havena. Sein Mutter stand am Fenster des Palastes und überlegte kurz. Sie sah zur See 92
hin, dann ließ sie den Kopf sinken. „Ich werde ein Kämpfer. Dann sorgen sich alle um mich und
ich muß mich nicht immer um die anderen sorgen.“
Der Kleine nickte, wandte sich um und ging wieder spielen.
Noch schwankte das Beiboot unsicher in den Wellen der See, doch je näher sie dem lang
ersehnten Ufer kamen, um so ruhiger schien auch die Fahrt des Bootes zu werden. Ein letzter
kräftiger Zug der Ruderer und das kleine Boot glitt zielsicher und ruhig voran. Das kratzende
Geräusch des Kieles auf dem Sand im flachen Wasser der Brandung verriet die Ankunft an Land.
An Bord waren der Admiral, der Prinz und Organisator Columb, neben einem Geweihten des
Efferd, einer Praiosgeweihten und einem Perainegeweihten. Die Priesterschaft durfte ab dieser
Stelle keinesfalls fehlen, sollten die Götter doch wohl gestimmt werden und der Expedition einen
weiteren guten Verlauf sichern.
Die vier Magier, gerade noch Platz am Heck des Bootes, waren die einzigen Nicht-Albernier, die
bei diesem historischen Ereignis dabei seien durften.
Begleitet von zwei Offizieren, die zum eher prinzipiellen als nötigen Schutz dabei waren, setzte
Admiral Elwick den ersten Fuß aufs Neuland. Unglaublich behende für einen Mann seines Alters
hatte er sich vom Bord geschwungen. Die Wellen umspielten seine Füße, als wollten sie ihn
begrüßen. Und er empfing diese Begrüßung indem er bedacht stehenblieb und auf die Wiesen
sah, die sich dort hinter dem Sand des Strandes ausbreiteten und den vegetativen Übergang von
Sand zu Urwald ausmachten. Mit geschlossenen Augen sog der alte Mann die frische Luft ein,
schmeckte den Duft der Blüten, der Bäume und des Grases. Beinahe hätte eine Träne einen Weg
zu seinen Augen gefunden, doch er unterband dieses Zeichen der Schwäche. Dennoch war er
unsagbar gerührt, glücklich und stolz darüber, daß er das hier noch erleben durfte. In Gedanken
dankte er den Zwölfen für dieses Geschenk, denn - das war für ihn unbestritten - alles das war ein
Geschenk des Himmels; für Albernia und für ihn.
Langsam öffnete er die Augen, mit leicht verschwommener Sicht (die Träne hatte sich nicht
völlig verdrängen lassen) blickte er auf die Berge in der Ferne und sah dann zu Boden, wo seine
Fußabdrücke die ersten eines Aventuriers waren, sie dieses Land berührten... nach denen der
Thorwaler, aber was zählten diese Barbaren?
Bedächtig sah er auf seine Füße und wollte sie nicht von der Stelle bewegen, um ihre Abdrücke
noch tiefer in den Grund des Bodens zu graben.
„Das ist ein kleiner Schritt für einen Mann...“, meinte er würdevoll. Er drehte den Kopf nach
hinten zum ungeduldigen Rest, der auch endlich seine Hände in den Sand und seine Zähne ins
Fleisch der Früchte graben wollte, und vollendete einen historischen Satz: „...aber ein großer
Schritt für Albernia!“
Einen Moment verweilte er noch, dann machte er den anderen Platz. Die Priester fielen sogleich
auf die Knie und sprachen Gebete und Huldigungen zu ihren Göttern. Der Perainegeweihte tat
dies am inbrünstigsten, hatte ihm die Fahrt auf See doch am meisten zugesetzt.
Christophian, Harion und die Soldaten und Ruderer eilten ebenfalls begeistert von Bord, um
endlich wieder festen Boden unter den Sohlen zu haben. Irian, lässig an die Reling gelehnt, wollte
gerade irgendeinen herablassenden Kommentar über die ungemäßigte Ungestümheit der heutigen
Jugend loswerden, doch Alix hob fröhlich die Hand und meinte: „Laß ihnen doch den Spaß.
Wenn du nicht deine imaginäre Würde so pflegen müßtest wie die Wirbel in deinem Bart,
würdest du dich jetzt in den Sand werfen und Burgen bauen!“ Er ging zum Bug, sprang mit einem
Satz an Land und hielt Fiana dann charmant die Hand zum Aussteigen.
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Recht hast du gestand sich Irian besonnen lächelnd ein, machte sich dann aber - immer auf seine imaginäre wie Wirbel im Bart gepflegte Würde achtend auch los. Ja, im Herzen war er ein kleines Kind, doch als Magister mußte man doch ein wenig Respekt ausstrahlen, nicht so wie Alix. Er grinste. Wenn dieser gewußt hätte, was er gerade dachte, hätten sich beide wieder in ein total kindisches, aber lustiges Streitgespräch gestürzt, an dessen Ende sie seinen Auslöser nicht mehr gekannt hätten. Vielleicht versuchte er ja wirklich zu sehr das perfekte Idealbild eines Magiers mit langem grauen Bart, weisen Weisheiten und unverständlicher Ironie. Er kniete nieder, seine Hände berührten den goldenen Sand und die Körner rannen durch seine Hände. Der Wind wehte sie schräg davon und Irian schloß die Augen und genoß das Gefühl. Ein Gefühl, was mehr war als einfach nur Ruhe nach wochenlangem Schwanken an Bord eines Schiffes, ein Gefühl, was innere Ruhe brachte, Sicherheit und die Geborgenheit in der Natur und Umgebung. Er atmete tief und genoß jede Geruchsnote der Umgebung. „Und? Was sagt er Euch, Magister?“, wollte ein interessiert schauender Elwick Roggunder wissen. Irian öffnete die Augen und wurde sich jetzt erst seiner komischen Lage bewußt. Der Admiral mußte ihn die ganze Zeit beobachtet haben. Was er sagt? Der Sand? Er stand auf, klopfte sich den Sand von Händen und Kleidung und antwortete: „Guter Sand.“ Damit ließ er Elwick allein, um sich die Umgebung anzusehen. Eine Welle verwischte die letzten Spuren von Elwicks erstem Fußabdruck an Land und hinterließ nichts weiter als gleichmäßig verteilten, feuchten Sand... Erwähnte ich schon, daß es ein Paradies war? Ein Alveran auf Dere! Nun gut. Es war tatsächlich ein wunderbares Land und als wir es uns näher ansahen, so schienen es die fruchtbarsten Wiesen, die kräftigsten Bäume, die klarsten Bäche und das melodischste Vogelgezwitscher gewesen zu sein, was es gab. Hier würde also eine neue Heimat für hunderte Seelen entstehen. Eine wunderschöne Heimat, die es zu verteidigen allemale wert war! Wie gerne würde ich dort wieder leben! Ich fand nie wieder einen solch schönen Fleck auf Dere... Elwick hatte die große Flagge aus dem Boot geholt und war in die Mitte des Strandes gegangen, dort, wo er eine scheinbar geeignete Stelle gefunden hatte. Mit seinen Worten lenkte er sogleich alle Aufmerksamkeit wieder auf sich und brachte augenblicklich alle zum Schweigen, so daß er vor dem Gesang der Vögel, dem Flüstern des Windes und dem Rauschen des Ozeans die Sätze formulierte: „Dieses Neuland ist von nun an Teil des Fürstentums Albernia. Nach dem Erstentdeckerrecht, kraft meines Amtes, mit der Bevollmächtigung durch den Fürsten Cuanu Ui Bennain und dem Segen der Götter taufe ich diesen Flecken auf Sumus Leib mit dem einzigen Namen, der ihm gebührt und ihm die Blüte bringen wird, wie sein Mutterland es bereits hatte: Neu-Havena!“ Er stieß die Flagge in den Boden und wie durch ein Zauberwort kam mit einem Male ein kräftiger Windstoß, der das Zeichen Albernias kräftig präsentieren ließ. An Bord er viel Schiffe ertönte mit einem Mal stürmisches Jubelgeschrei, was deutlich bis hier her ans Ufer tönte. Stolz blickte der Admiral hinaus aufs Meer, wo ihm seine Mannschaft entgegen winkte und beinahe über die Reling sprang, um - wenn es seien mußte - an Land zu schwimmen. Er nickte zufrieden, deutete auf die Schiffe und rief seinen Begleitern zu: „Das ist Albernia!“ Dann deutete er auf das Inland und rief noch lauter: „Und das ist unser neues Land!“ „Lang leben Albernia!“, schrien die beiden Offiziere im Chor, womit sie sich sogleich spöttische oder kritische Blicke der Magier zuzogen. Etwas beschämt schienen wandten sie sich schnell 94
einem imaginären Tier zu, was einer von beiden wohl gerade durchs Unterholz krauchen gesehen
hatte.
„Havenaland - Havenarecht“, überlegte Alix, „gilt jetzt hier auch das Magieverbot?“
Es war eine absolute Meisterleistung, deren Aufwand kaum jemand kannte, die aber jeder der
Siedler zu schätzen wußte: Am Abend hatten die Köche und unzählige freiwillige Gehilfen ein
riesiges Festmahl vorbereitet. Für die Mannschaft, die in den letzten Wochen sehr intensive
Bekanntschaft mit Schiffszwieback gemacht hatte, war dies das reinste Königsmahl. Das Essen
bestand hauptsächlich aus exotischen Früchten und hatte daher mehr Erfrischungs- als Nährwert,
aber das war auch nicht so wichtig, denn die Gaumen freuten sich über all diese Leckereien:
Kokosnüsse, Ananas, Orangen, Limonen, Apfelsinen, Bananen und Melonen wurden ebenso
angeboten, wie Mais, Kürbis, Bohnen, Tomaten, Paprika und sogar Kakao. All dies wuchs hier in
Hülle und Fülle und dank der Kenntnisse eines Koches, der schon Schiffsbesatzungen durch eine
Güldenlandfahrt und unzählige andere Seereisen gebracht hatte, über die tropischen Früchte, war
es überhaupt auch nur möglich gewesen heute bereits so ein Mahl herzurichten.
Es wurde ein richtiges Gelage. Die Menschen feierten so ausgelassen wie lange nicht mehr; sie
schwatzten locker, tanzten und scherzten und das alles zum süßen Duft der Insel und dem
hintergründigen Rauschen des Meeres. Alarion hatte die Harfe mit von Bord genommen und
spielte mit ein paar musikalischen Seemännern leichte Lieder, die die Stimmung zudem
aufputschten und lockerten. Zur Feier des Tages hatte Roggunder Brandwein und Kautabak
ausgegeben und so hatten sie alle einen Abend, wie lange nicht mehr, ja vermutlich wie sie nie
wieder haben würden...
Letztendlich wurde die Stimmung auch sehr durch die Insel selbst und den immer näher rückenden Ruhm der Heimat beeinflußt. Dies war ein Faktor, den man an dieser Stelle keinesfalls vergessen darf. Albernia war einst die Blüte des Seehandels und das Herz der Schiffahrt gewesen, nach dem Großen Beben hatte es sich nie wirklich erholt. Die Albernier waren sehr nationalbewußte Menschen, denen es schon naheging, daß Kaiser Hal vom fernen Hof in Gareth ihr Geschehen lenkte und nicht der gute Fürst Cuanu Ui Bennain. Sie wollten nicht nur ihre Selbstbestimmung, sie wollten vor allem wieder anerkannt und geachtet werden und wieder die Herren der Meere sein, immerhin war ihr Land ja dem Efferd geweiht. Somit war es wenig verwunderlich, daß alles, was Albernier war, diese Nacht um so ausgelassener feierte und sich selbst schon durch den Aufschwung bereichert und in schickeren Kleidern sah... Die Abendsonne hatte sich schon seit einiger Zeit verabschiedet, doch die Feuer und Fackeln und letztendlich sicher auch die Gemüter der Menschen ließen alles hell erleuchten. Diese einsame Insel schien aus einem Schlaf geweckt worden zu seien, der Jahrhunderte, Jahrtausende oder gar seit dem Beginn der Zeit nicht gestört wurde. Daß man etwas, was so lang schläft, besser nicht aufweckt, sollten wir später noch deutlich zu spüren bekommen... Das Büfett war auf langen Tafeln plaziert worden, die aus den Tischen aus den Kantinen und Kisten aus den Lagerräumen gebaut worden waren. Man hatte sich alle Mühe gegeben, alles, was
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sich einigermaßen als Tisch eignete, so schnell wie möglich an Land zu bringen und durch tatkräftige Hand war dies auch gut gelungen. Hinter dem Stimmengemisch und Gelächter spielte eine Harfe ein fröhliches Lied, als Growin verschwitzt und erschöpft von den Vorbereitungen (deren Leitung zu großen Teilen bei ihm gelegen hatten) endlich Zeit fand, sich eine Schale voll Kokosnußmilch zu gönnen. Sich beruhigend stand er da und genoß die friedliche und harmonische Atmosphäre. Er nahm einen Schluck der köstlichen Milch und nickte zufrieden. Er war zufrieden mit den Männern und auch zufrieden mit sich, denn er hatte all dies ja mit organisiert und ihnen einen so schönen Abend ermöglicht. Ja, er konnte zufrieden mit sich sein. In seine neue Rolle hatte er sich wunderbar hineingefunden. Sie machte Spaß; nicht nur einfach Befehle ausführen, sondern selbst welche zu geben, Konzepte zu entwickeln und all das ermöglichen, was der Admiral anordnete. Es war eine kreative und selbständige Rolle, die ihm durchaus gefiel. Würde sich all das ändern? Sie waren angekommen und seine Stellung als Bootsmann hatte hier an Land kaum eine praktische Bedeutung. Aber war der Auftrag zur Organisation dieses Abends nicht bereits außerhalb des Aufgabenbereichs eines Bootsmanns gewesen? Wurde er vielleicht auch eine Art Organisator? Sein Blick suchte Christophian und er fand ihn, ebenfalls allein abseits stehend und genießend. Er verspürte sicher ähnliches. Auch er hatte heute mit alles in die Wege geleitet und sicher mochte er ebenso die Früchte seines Tuns wie Growin. „Gute Arbeit, Growin“, sagte Admiral Elwick, der sich von hinten herangeschlichen haben mußte. Doch seine Stimme enthielt den Klang einer Fortsetzung zu dem Lob und sein abwesender Gesichtsausdruck verriet, daß er in Gedanken schon ganz woanders war. Vermutlich in der Zukunft, bei den Details der Besiedlung erriet Growin. „Ich möchte, daß Ihr morgen eine Erkundungsfahrt auf der Efferds Zorn rund um die Insel leitet. Christophian kommt mit und wird die Gegend kartographieren. Ich möchte auf alle Fälle sicherstellen, daß wir durch keinerlei feindliche Zivilisation gefährdet sind...“ Der Hauptmann verlor mit einem Mal die Lust an diesem Abend. Aber nein, das wollte er nicht! Es war wirklich nicht der Zeitpunkt über Projekte der Zukunft zu sprechen, auch er brauchte mal eine Pause. Aber wie sagte man das einem Admiral? Sein Blick schweifte in die Ferne und wie durch Phexens - oder Rahjas - Hand fand sein Auge Verena, wie sie an einer Ananas kauend sich leicht im Rhythmus von Alarions Musik bewegte. Unwillkürlich mußte Growin lächeln. Ja, heute war ein Abend, den man genießen mußte! „... ihr habt volle Befugnisse, werdet ihr angegriffen oder sind feindliche Gesten abzusehen, erlaube und erwarte ich vollen militärischen Einsatz, wir können unsere Position keinesfalls durch feindliche...“ „Admiral?“, unterbrach Growin. Wie aus einem Traum blickte Roggunder ihn verwirrt an. Offenbar war das Letzte, was er jetzt erwartet hatte, in seinen Ausführungen unterbrochen zu werden. „Was?“ Growin lächelte und konnte seinen Blick erst einen Moment später von Verena reißen und den Admiral ansehen. „Sagtet Ihr nicht, heute sei ein freier Tag?“ Elwick sah den Hauptmann verwundert an und nickte. „Ja, wieso?“ Selbstsicher, beinahe freundschaftlich, drückte der Soldat seinem Vorgesetzten die leer getrunkene Kokosnußschale in die Hand und meinte: „Dann lassen wir ihn das auch sein.“ Unter dem sichtlich erstaunten Blick des Admirals wandte sich Growin ohne jede militärische Geste ab und lief hinüber zu Verena. Eigentlich hätte sich Roggunder jetzt aufregen müssen, aber seltsamer weise tat er das nicht. Es war zwar beinahe eine Geste von Ungehorsam, aber irgendwie störte es ihn kaum. Er sah Growin, sah Fiana und lächelte. Bei jedem anderen hätte er sofort 96
Disziplinarmaßnahmen ergriffen, doch in diesem Fall schien es anders. Er schmunzelte und bekam plötzlich eine ganz andere Idee, der er nach der Entdeckungsfahrt nachgehen würde. Growin erreichte Verena, die ihm einladend lächelnd entgegensah. Sie warf die Reste ihres Ananas ins Gebüsch und wischte sich instinktiv die Hände an ihrem Rock ab, was sie bewußt nicht merkte, weil sie - wie sie sich eingestehen mußte - etwas nervös war. Growin kam näher und erkannte ihre volle Schönheit. Beinahe wäre er stehengeblieben, um sie in dem Glanz, den ihr das nahe Feuer verlieh, langer anzusehen. Er hätte die ganze Nacht sehen können, doch jetzt hatte er etwas anderes vor; etwas viel besseres. „Ich hatte gehofft, daß du kommst“, gestand sie ihm lächelnd in die Augen sehend. Er lächelte auch. Es war ein befreites Lächeln; sie hatte ihn befreit. Nach dem Gespräch gestern hatte er alles erwartet, nur nicht, daß sie ihn auf diese bezaubernde Art und Weise empfing. „Ich hatte es die ganze Zeit schon vorgehabt“, erklärte er ihr. Sein Blick fiel zu Alarion, der konzentriert ein schnelles, fröhliches Lied spielte. Der Halbelf sah kurz auf und Growin wußte nicht, ob er ihn wahrgenommen hatte oder nicht, jedenfalls hoffte er trotz allem inständig, jetzt nicht nach diesem Tempo herumhüpfen zu müssen. „Möchtest du tanzen?“, fragte er ruhig. Sie nickte. Sie schluckte und es schien, als könnten beide ihr Glück kaum fassen. „Liebend gern!“ Langsam kamen sie sich näher und nahmen sich gegenseitig in die Arme. Es war der größte Moment, den Growin in seinem ganzen Leben gehabt hatte. Alles rundherum verlor an Bedeutung: Der Admiral, Alarion und jeder Matrose, der sich mit einem kurzen Sinnlosgespräch bei ihm einschleimen wollte. In diesem Moment wollte er sie nie wieder loslassen! Alarion war ein Engel für die beiden! Er mußte sie gesehen haben oder er spürte es intuitiv, jedenfalls spielte er in diesem Moment einen kurzen Übergang und plötzlich fanden sich die beiden Verliebten in einem ganz langsamen, ruhigen Schmuselied wieder. Die beiden anschauend zupfte der Elf die Harfe und lächelte. Liebe war etwas wunderbares! Er gönnte es den beiden richtig und nahm sich vor, diesen Abend nun etwas mehr auf ruhige Lieder umzusteigen. Arm in Arm tanzten Growin und Verena langsam miteinander, ihre Blicke nicht voneinander lassend und die Zeit in vollen Zügen genießend. Und wer auch immer sie ansah fühlte sich seltsam berührt und fühlte ihr Glück miteinander und es machte ihn noch glücklicher, als er sowieso schon war. „Ich bin nicht der beste Mann, den sich eine Frau vorstellen kann...“, flüsterte Growin leise und ehrlich entschuldigend. Sie schüttelte den Kopf und lächelte zauberhaft. „Schweig jetzt!“ Dann zog sie ihn an sich und sie tanzten eng umschlungen. Alle, die die beiden sahen waren glücklich an diesem Abend. Am glücklichsten aber, waren wohl mit Abstand sie selbst, die sich auf dieser Reise gefunden hatten und nun nicht mehr voneinander ablassen wollten...
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Kapitel 13
A
n eine der Palmen gelehnt beobachtete Irian das Treiben.
Im Moment gebührte seine Aufmerksamkeit Verena und Growin, wie sie Arm in Arm schmusend tanzten. Er mochte dieses Bild, es erinnerte ihn sehr an Rondriane, seine Angetraute, die er bei diesem Anblick doppelt so sehr vermißte. Dennoch fühlte er sich gut. Es war ein Gefühl großer Glückseligkeit, nicht für die Ewigkeit, aber wenigstens für einen Moment. Denn Alarions Harfenspiel löste bei ihm völlig andere Empfindungen aus als bei den anderen Siedlern. Zordan kam herangetänzelt, fröhlich, locker und frei. Er mußte schon ein etwas mehr Brandwein und Schnaps getrunken haben (für ihn durfte es ja kein Problem sein sich mehr als die gewöhnliche Ration zu „besorgen“), jedenfalls lief er nicht mehr ganz gerade und war ausgelassen und zufrieden. „Irian, mein Alter, was schaust du so griesgrämig?“ Er kam zu ihm und klopfte dem Magister auf die Schulter. Dieser verzog eine Braue. „Tue ich das denn?“ „Dafür, daß heute der erste wirklich freie Tag seit Wochen ist, stehst du hier am Rand wie ein Praiosgeweihter!“ „Nun, ohne den nötigen Alkoholeinfluß ist es nicht verwunderlich, daß ich nicht deinen Grad...“ „Hör doch auf immer alles zu kritisieren! Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich manchmal wie bei meinem Alten einst.“ Sein Blick schweifte zu Alarion hinüber. „Was spielt der denn auf einmal für lahme...“ Growin und Verena fielen in sein Auge. Mitten in der Bewegung hielt der Dieb mit einem Male völlig still und starrte – erwacht aus aller Heiterkeit – auf das Paar.
Irian musterte die Züge seines alten Freundes gespannt. Er wartete einen Moment, doch Zordan
schien die Szene entweder nicht zu begreifen oder nicht wahrhaben zu wollen. Er stand starr da
und wollte sich nicht regen.
„Sehe ich da eine Miene des Bedauerns?“, wollte der Magister wissen.
Zordan schien aus einem Traum aufzuwachen, als er Irian verwundert anschaute. Dann schüttelte
er sich und versuchte sich von dem Bild der tanzenden Verliebten losreißen. Doch so recht gelang
es ihm nicht.
„Was soll‘s“, meinte er gespielt lässig, „nur eine Frau von tausend anderen...“
Wieder fesselte die Szene seinen Blick. Irian, immer noch an den Baum gelehnt, begutachtete
gewohnheitsmäßig seinen Stab tätschelnd den Dieb. „Wirklich?“
Mit einem Male tat Zordan etwas für ihn völlig ungewöhnliches: Der sonst so beherrschte und
präzise Dieb riß seinem Freund in einem Moment der Unbeherrschtheit den Stab aus den Fingern
und schleuderte diesen ins Gebüsch. „Die Schlacht hab ich verloren, aber der Krieg ist noch nicht
vorbei!“, herrschte er den Magister an, warf einen kurzen, aber vernichtenden Blick auf Growin
und stampfte dann davon.
Vermutlich die erste Person, der dieser Abend nicht gefällt dachte sich Irian. Er hob die Hand
und wie durch Zauberhand erhob sich sein Stab aus dem Gebüsch und flog direkt in seine Faust.
Alarion saß unweit entfernt und er hatte die Szenerie ebenfalls beobachtet. Irian machte ein paar
Schritte auf ihn zu.
„Das wird unweigerlich zu einem Konflikt führen“, prophezeite der Halbelf.
Irian nickte. „Nicht nur das.“
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Alarion schien ihn nicht recht zu verstehen, hatte aber auch keine Lust jetzt näher darauf
einzugehen. Er genoß seit langem einmal wieder die Musik und hatte keine Laune zur
Weltuntergangsstimmung. Doch Irian ließ ihm keine Wahl:
„Ist es nicht bittersüße Ironie?“
„Was?“, wollte der Meisterschütze wissen.
Der Magier strich sich durch den Bart. „Du spielst zur Feier der Expedition mit dem Instrument,
was ihren Untergang prophezeite.“
Alarion schnaufte. „Mußt du denn immer Trübsal blasen?“
Irian schüttelte den Kopf. „Nur im Gegensatz zu den meisten ... zu allen in meiner Umgebung
denke ich zukunftsorientiert.“
„Mag ja sein“, sagte der Elf, „doch noch ist nichts geschehen. Es kann genauso nur irgendein
Lied einer Harfenspielerin gewesen sein, was zufällig gepaßt hat. Und die Harfe ein Geschenk.
Ganz Havena war in Feierstimmung und jeder wollte sich an der Reise beteiligen. Warum nicht
durch eine Harfe, um die Stimmung der Besatzung zu halten?“
Der Magister lächelte über die Naivität. „Du weißt genau, daß das nur ein Wunschtraum ist.“
Schmunzelnd sah er Alix und Fiana herannahen. Auch Alarion erkannte sie auch. Er lächelte und
dachte an das Gespräch mit Irian im Palastgarten.
„Und? Gilt immer noch, daß die beiden nur zusammen über Magietheorie philosophieren?“
Schnell spielte der alte Magister den ernsten Mann. „Nun, vielleicht auch über andere Dinge, aber
mehr ist es nicht.“
„Worum wettest du? Deinen Magierturm?“
„Pah! Nur, wenn du im Gegenzug sämtliche Elfenwälder einsetzt!“
„Wir wetten um unseren Lohn für die Expedition.“
Irian überlegte kurz. Dieses Geld verlief sich auf ein kleines Vermögen. Doch Geldnöte hatte er
nicht und Alarion hing auch nicht so sehr am Gold, er wollte nur gerne einmal später ein Haus
bauen, in dem er eine Bogenbauerei und eine Instrumentenwerkstatt haben wollte. Dafür brauchte
er natürlich entsprechende Finanzen und da Irian selbst, wenn es einmal schlecht um ihn stehen
würde, immer einen Platz unter Alarions Dach finden würde, willigte er ein. Der Halbelf war
sichtlich erstaunt darüber. Er schwieg einen Moment. Fiana und Alix waren bei Christophian
stehengeblieben und schwatzten über irgendwas.
„Warum reisen wir hier mit?“, überlegte Alarion, „Wir haben gerade nur zu deutlich bewiesen,
daß es das Geld nicht seien kann.“
Irian überlegte wieder über die Frage, die sie sich am Anfang dieser langen Fahrt schon einmal
gestellt hatten. „Das Abenteuer, die Entdeckung ... wer weiß. Vielleicht, weil es unsere Art ist zu
leben.“
Der Halbelf lachte. Irian wußte zwar keine Antwort, aber irgendwas hatte er ja sagen müssen,
sonst wäre er nicht der weise Magister. „Du weißt es aber genauso wenig wie ich.“
Der Magier nickte und schmunzelte über sich selbst. „Aber ich mußte ja etwas sagen!“
„Weil du immer das letzte Wort haben mußt.“ Alarion beschleunigte das Tempo seines Liedes
leicht und brachte damit neues Leben in die Tanzenden. Selbst Irian wippte mit - zumindest mit
dem Fuß.
Alix und Fiana lösten sich vom jungen Organisator und kamen nun zielstrebig auf die beiden
alten Freunde zu.
„Das darf doch nicht wahr sein“, rief der junge Magister schon von weitem. Fragend blickten ihm
sein alter Freund Irian und dessen Kumpel Alarion entgegen.
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„Es ist der Tag der Ankunft und alles feiert, nur ihr sitzt ruhig im Eckchen und grübelt über alles
Unwesentliche. Und wofür?“
„Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“, meinte Irian lächelnd.
„Und das an Tagen wie diesem! Genießt den Geruch von Tabak und Rausch, auf daß er euch eure
Lungen zerfrißt und an Atemnot sterben läßt.“
„Die typische zandersche Mischung aus Lebensfreude und Todeswahn“, stellte der alte Magister
fest.
Alix nickte. „Nun ja, aber trotzdem: Genießt das Leben!“
„Um Gefahr zu Laufen morgen so zu erwachen wie du es tun wirst? Lieber nicht“, witzelte Irian.
Der jüngere Magister zuckte mit den Schultern. Dann blickte er zu Fiana. „Willst du tanzen?“
„Uh“, machte Alarion, seiner Wette sicher.
Sie nickte fröhlich. „Sicher!“
Er nahm sie an der Hand und wandte sich dem Musikanten zu: „Jetzt leg mal was Flottes auf,
Alarion!“
Der Halbelf nickte und begann wieder mit einem Übergang, um diesen dann in ein schnelles
Tanzstück münden zu lassen. Rundherum begannen die Leute mitzuklatschen. Zander und
Eichenblatt fanden sich auf der Tanzfläche neben Growin und Verena wieder. Sie tanzten
ausgelassen und tanzten sich den ganzen Streß von der Seele, der nach der nervenaufreibenden
Fahrt auf ihnen lastete.
„Kommt jetzt der Spruch über die Ungehaltenheit der Jugend?“, fragte Alarion grinsend. Irian
verpaßte ihm einen freundschaftlichen Klaps zur Strafe und lachte dann.
Nach einigen wilden Tänzen hatten sich Fiana und Alix dann von der Tanzfläche zurückgezogen.
Am Rande des Geschehens, auf einem etwas abseits gelegenen umgefallenen Baumstamm, von
dem aus man die Feierlichkeiten dennoch gut beobachten konnte, hatten sie sich niedergelassen.
Alix war nun unterwegs, um etwas zu Trinken zu besorgen.
An einem speziell dafür aufgebautem Stand gab ein junger Matrose Schnaps und Brandwein aus.
Mit seiner typischen Art drängelte sich Alix an den Anstehenden vorbei und nickte dem Ausgeber
zum Gruß entgegen.
„Eine Flasche Weinbrand und eine Schnaps bitte“, meinte er wie selbstverständlich.
Der junge Mann sah ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und großem Respekt an.
„Eine Flasche Weinbrand und Schnaps, ist das so schwer verständlich?“
„Aber der Admiral hat für jeden einen Becher angeordnet, nicht mehr“, sagte der Matrose voll
Unbehagen.
„Aha. Siehst du hier irgendwo den Admiral?“
„Ja, dort hinten!“
„Hat er dir ausdrücklich gesagt, du sollst Alix Zander keine Flaschen geben?“
„Nein, aber er sagte...“
„Siehst du, also her damit!“
Der Ausgeber schluckte ängstlich, rang sich dann aber zu einem eher zaghaft entschlossenen
„Nein!“ durch.
„Wie bitte?“ Alix sah ihn mit vernichtendem Blick an und jeden Moment schienen Blitze aus
seinen Augen springen zu wollen.
„Ich habe Instruktion jedem nur einen Becher zu geben...“
100
„Jetzt hör mal zu, mein Jung, die Akademie, an der ich ausgebildet wurde, nennt sich Schule des
Wandelbaren. Also ehe ich dich jetzt in was Bares wandle solltest du mir ganz flink die Flaschen
geben!“
Für den Matrosen war das ein schwerer innerer Konflikt. Jedoch war dies ein Magier, der vor ihm
stand (und ein radikaler offenbar dazu), also war ihm sein Leben mehr wert als nur zwei Flaschen
Gesöff. Schnell griff er in zwei Kisten und zog zwei volle Flaschen hervor und reichte sie
möglichst unauffällig (aber unter den Augen aller Anstehenden) das Gewünschte.
„Danke“, meinte der Magister freundlich und nahm die „Beute“ mit.
Als er so mit den beiden Flaschen auf dem Arm durch das Lager ging, entdeckte ihn der Koch,
der schon viele Seefahrten durch tropische Gefilde erlebt hatte. Er lächelte als er Alix und dessen
offensichtliche Freude über den Alkohol sah und rief zu ihm herüber: „Hey, Magister! Wartet
eine Woche und ich mache Euch Kokosschnaps!“
Alix nickte fröhlich. „Darauf komme ich zurück!“ Selig schlenderte in Richtung Fiana, die dort
abseits auf ihn warten mußte. Mit erwartungsvollem Blick sah er in dorthin und plötzlich
rempelte er dadurch einen Seemann an, der gerade mit einem anderen Armdrücken machte.
Erschrocken rutschte der Mann ab und verlor sofort diese Runde.
„Verdammt!“ Wütend sprang er auf und funkelte den Zauberer wütend an. Als er sich jedoch
nach einem Moment Zorn gewahr wurde, wen er dort vor sich hatte, hielt er abrupt inne.
„Ihr seid es?“
„Scheint so“, entgegnete Alix und machte eine entschuldigende Geste. Er wollte gerade
weitergehen, da meinte der Seemann: „Moment, Magister! Ihr seid mir was schuldig! Immerhin
habe ich eine Wette verloren.“
Der Zauberer sah auf seine beiden Flaschen und sagte: „Nie im Leben!“ Verschmitzt grinsend
wandte er sich seinem Gegenüber zu. „Aber ... wie wäre es mit einer neuen Wette?“
Der Seefahrer runzelte die Stirn. „Wie sollte die aussehen?“
Überzeugt nickte Alix zu der Kiste, auf der die Matrosen das Armdrücken abhielten. Ungläubig
sah ihn sein Gegner an, dann lachte dieser. „Seid Ihr sicher? Nun gut, so sei es.“
Siegessicher setzte sich der Mann auf den kleinen Holzhocker. Alix hingegen drückte einem
nahestehenden Burschen die beiden Flaschen in die Hand und krempelte sich die Ärmel hoch.
„Aber wehe es fehlt auch nur ein Schluck“, warnte er, „dann verwandle ich euch alle in Frösche!“
Auch er ließ sich an der Kiste nieder und grinste selbstsicher. Allein schon diese Tatsache
verunsicherte sein Gegenüber etwas, da dieser eigentlich erwartete mit dem Magier leichtes Spiel
zu haben. Eigentlich hätte sich doch der Gelehrte Sorgen um seinen Sieg machen müssen...
„Aber keine Zauberei“, rief jemand.
Alix nickte. „Abgemacht!“
Irian trat an seine Seite. Er hatte das Gespräch belauscht und grinste den anderen Magister
hämisch an und meinte: „Ich werde das überprüfen!“
„Fünfzehn Heller auf Brautschek“, setzte jemand. Der Seemann drehte sich verwundert um:
„Was denn? So unsicher ist euch die Wette?“
Alix lächelte.
„Vier Silbertaler“, bot ein anderer.
„Drei.“
„Acht Silber!“
Wetten wurden abgegeben und der Bootsmann der Efferds Zorn sammelte die Wetten ein, um sie
zu verwalten.
101
„Fünfzehn Dukaten auf Alix“, meinte Irian schließlich ruhig. In der Runde wurde es ruhig. Mit
offenem Mund sahen die Matrosen wie der Magister die goldenen Taler abzählend dem
Bootsmann übergab. Das war ein kleines Vermögen für einen armen Seemann!
Alix grinste weiter vor sich hin. „So wenig bin ich dir mittlerweile Wert?“
Der Ältere lächelte wissend und meinte: „Wir wollen sie nicht gleich glauben lassen, daß du
vielleicht doch Chancen hast!“
Die Matrosen lachten und die beiden Kontrahenten nickten sich zu. Sie schlugen ihre Hände
ineinander. Der Bootsmann verstaute das Geld in einem Beutel und überprüfte, ob auch alles
stimmte. Dann legte er die Hand auf die der beiden und es wurde still rundherum. Man hörte die
Menschen aufgeregt atmen, Brautschek atmete tief und unruhig, Alix war die Ruhe in Person.
„Los!“, rief der Bootsmann und nahm die Hand weg. Sofort kniffen sich die Augen des
Seemannes zusammen und er drückte mit aller Gewalt gegen Alix‘ Hand. Dessen Arm bewegte
sich erst ein Stück in seine Richtung, dann stemmte er dagegen und glich das Ungleichgewicht
wieder aus.
„Brautschek! Brautschek!“, grölte die Menge. Er durfte ja nicht gegen diesen Nicht-Albernier und
noch dazu Magier verlieren, somit feuerten sie ihn an.
Alix wurde zwar nicht angefeuert, saß aber auch relativ ruhig da und schien äußerst konzentriert,
auch wenn er seine Augen nicht gleich wütend zusammendrückte wie sein Kontrahent.
Erwartungsvoll starrten alle auf den Kampf der beiden und auch Irian konnte es nicht unterlassen
neugierig zuzuschauen. Doch es regte sich kaum etwas. Beide Fäuste bebte, doch keine
vermochte wirklich die Oberhand gewinnen können.
„Das ist doch Magie!“, prustete Brautschek.
Irian schüttelte den Kopf. „Nein. Alix ist magielos wie ein impotenter Praiosgeweihter.“
Der junge Magister mußte lachen über Irians Scherz und verlor damit das Kräftemessen.
Ruckartig zuckte sein Arm zurück und Brautschek machte Punkte gut.
„Du Hund“, schimpfte Alix schnaufend, doch Irian schmunzelte nur: „Wir müssen ihm doch eine
Chance lassen!“
Alix, der gerade mühevoll zu Kämpfen hatte, um nicht seinen Arm herunterdrücken zu lassen,
nickte. „Richtig. Genug Chancen vergeben!“
Mit einem Male wendete sich das Blatt. Es war, als würde der Magier zum ersten Mal bei diesem
Armdrücken sich wirklich anstrengen. Mit angehaltenem Atem stemmte er gegen den Druck
seines Gegners. Dieser staunte nicht schlecht, als sein Vorteil mit einem Male wich und er
langsam, aber unaufhaltsam, herumgedrückt wurde.
Die Menge johlte, kreischte, schrie; verwundert, erstaunt und ungläubig. Stück für Stück drückte
Alix zielstrebig die Hand des Seemanns herum, bis dieser kurz bevor seine Handfläche die
Kistenoberfläche berührte, nachgab und resignierend seine Hand hinabschnellen ließ. Alix klopfte
zweimal mit der Hand des Verlierers auf die Kiste und riß dann die Arme zum Zeichen des
Sieges in die Luft.
Der Bootsmann der Efferds Zorn war ebenso erstaunt wie belustigt und rief den ungewöhnlichen
Ausgang der Wette aus: „Sieger ist der sagenumwogene Magier Alix Zander!“ Er überreichte ihn
seinen Anteil des Siegeshonorars und nickte gratulierend.
Irian lächelte vor sich hin und strich auch seinen Wettgewinn ein.
„Warum hast du nicht mehr gesetzt?“, wollte Alix schnaufend wissen.
„Wer wußte denn, ob du noch so kräftig bist wie früher? Du wirst auch älter.“
„Nein“, meinte Alix seine beiden Flaschen wieder nehmend, „ich nicht!“
102
Wo anders als in der dunkelsten Ecke der Festlichkeiten konnte Tulef Winterkalt wohl stehen?
Auf einem kleinen Felsbrocken sitzend betrachtete er mit seiner typischen unerklärlichen und
beängstigenden Gleichgültigkeit das Geschehen. Er nickte, als er sah, daß Alix gewonnen hatte.
Er mochte ihn zwar nicht unbedingt, aber immerhin war es gut, wenn mal jemand diesen
Hohlköpfen zeigte, daß Magier nicht die Schwächlinge waren, für die sie immer gehalten worden.
Alix erhob sich, strich zwar noch den Gewinn ein, zog sich dann aber relativ schnell zurück.
Auch Irian verschwand alsbald von der Bildfläche und im Zentrum des Geschehens waren
Gespräche und Witzeleien über Brautscheks Niederlage; das typische niveaulose Gelaber, was
minderbemittelte Menschen so an den Tag zu legen pflegten.
Tulef runzelte die Stirn. Zweifellos war Alix nun ein kleiner Volksheld, denn dieser Sieg würde
wie Fianas Schlag gegen Harion seinen Weg in die Erinnerungen der Leute finden. Es war schon
faszinierend, wie sich die anderen Magier so unter den rauhbeinigen Seefahrern etablierten.
Er tat das nicht. Tulef mochte mehr das Agieren hinter der Bühne, unauffällig, unerwartet und
wirksam. Denn noch kannte niemand auf dieser Expedition seine wirkliche Macht. Und das war
auch gut so.
Ah, da kam jemand auf ihn zu. Es war Harion, dieser eingebildete Prinz; obwohl er sich in letzter
Zeit etwas zu verändern schien. Offenbar hatte er gemerkt, daß er seine Lebenseinstellung hier
nicht so einfach durchsetzen konnte wie zu Hause am Hofe.
Der Prinz hatte ihn gesucht und gefunden. Etwas zaghaft näherte er sich dem düsteren Magier
und ihm wurde recht unbehaglich zu Mute. Dennoch kehrte er nicht um, denn er glaubte, daß
Tulef eine sehr wichtige Rolle für ihn spielen könnte.
„Magister...“
„Adeptus“, korrigierte Tulef gereizt, „ich bin kein Magister!“
Spielerisch lachend und besänftigend die Hände hebend nickte Harion. „Vergebt mir, Adeptus.
Ich kenne ich in der Titulatur der Magier nicht so gut aus.“
Genauso wenig, wie du dich mit allem anderen auskennst dachte der Schwarzmagier. Dennoch
beschloß er den Prinzen anzuhören, da dieser ihm vielleicht auch noch von Nutzen seien konnte.
„Was wünscht Ihr?“
Harion räusperte sich. „Nun, nach der Nacht neulich, wo Ihr sagtet, Ihr wäret mir stets zu
Diensten, dachte ich, Ihr könntet mir vielleicht helfen.“
„Helfen? Wobei?“
Der Prinz kratzte sich am Kopf. „Ich fürchte, daß man mir nicht den Respekt entgegenbringt, der
mir gebührt.“
„Woran mag das liegen?“ Es war nicht ganz ersichtlich, ob es eine rhetorische Frage war oder
nicht. Der junge Bennain faßte es jedenfalls nicht als eine auf.
„Weil man meinen Reichtum und meine Macht mir nicht gönnt. Ich glaube sie sind alle neidisch
auf mich...“
Der Magier hob die Hand und sein Gesprächspartner unterbrach seine Ausführung.
„Macht, mein Prinz, Macht ist der Schlüssel. Seid ehrlich zu Euch: Welche Macht habt Ihr
schon? Wenn Ihr einem Matrosen einen Befehl gebt, so tut er, als führe er ihn aus und sobald Ihr
ihm den Rücken zukehrt, macht er wieder etwas anderes. Mein lieber Prinz, Macht habt Ihr
beinahe überhaupt keine!“
Empört richtete sich Harion in ganzer Größe auf. „Ach nein? Ich bin ein Bennain, ich wurde mit
Macht geboren. Ich bin ein Prinz, ich bin adlig, ich habe durchaus Macht!“
Tulef lachte über die Naivität seines Gegenübers und schüttelte den Kopf. „Mein lieber Freund,
all dies ist theoretische Macht. Oder glaubt Ihr, daß Kaiser Hal das Reich lenkt? Das tun alles
103
Minister, Berater und Hintermänner, denn die wirkliche Macht trägt keine Titel. Macht ist im verborgenen, Ihr seid nur ein Repräsentant der Macht Albernias. Zu Hause mag das gehen, dort liegen Euch die Frauen zu Füßen, da gehorchen Euch alle. Hier draußen zählt praktische Macht und diese hat der Admiral durchaus, auch wenn sie durch die Meuterei sehr in Frage gestellt wurde. Er verkörpert etwas, er hat Dinge getan, die ihm Macht verleihen. Ihr, mein lieber Prinz, tatet nichts, aber auch rein gar nichts, was euch Respekt und Autorität verschafft. Ganz Albernia witzelt über Eure Liebeleien mit jedem Mädchen, jeder Frau, jeder Magd und jeder Köchin, die dumm genug ist, sich darauf einzulassen.“ Harion wollte sich beschweren, doch Tulef war noch nicht fertig. „Die Magister, diese Elfe, an die Ihr Hand anlegen wolltet, und sogar dieser komische Elf, ein Meisterschütze, so wie ich weiß, haben mehr Macht als Ihr. Hauptmann Can Corr und Organisator Columb sowieso. Seht es ein, mein Prinz, Ihr habt keine praktische Macht, die Euch hier draußen weiterhelfen würde.“ Der Prinz war still geworden. Unerwarteterweise schimpfte er nicht, sondern schwieg. Er schien nachzudenken und allmählich erkannte er, daß der düstere Zauberer recht hatte. Er senkte den Kopf. Er konnte es nicht ertragen all diese Menschen, von denen er kürzlich noch geglaubt hatte sie bewunderten und verehrten ihn, fröhlich zu sehen, ohne daß er daran Teil haben konnte. Er seufzte und Tulef grinste auf böse Weise. Doch das sah Harion nicht. „Was kann ich tun?“, fragte er zaghaft. Der Schwarzmagier kannte die Frage bereits. „Um aus dieser machtlosen Lage herauszukommen? Da gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder Ihr findet den Weg zu praktischer Macht, was durch Engagement, Mut oder Verbündung mit Mächtigen geschehen kann...“ „Wie mit wem?“, wollte Harion Hoffnung schöpfend wissen. Tulef lächelte leicht. Jetzt hatte er ihn, wo er ihn haben wollte. „Um selbst Macht zu bekommen, müßt Ihr Eure Macht vergrößern oder die Eurer Gegner schwächen oder am Besten beides.“ „Wer sind meine Gegner?“ „Die, die ebenfalls Macht ausüben oder das wollen, sprich: Roggunder – obwohl ich mich an den nicht heranwagen würde – Can Corr, Columb, Sturmfels, Zander, Eichenblatt und ich. Aus diesen solltet Ihr Euch nun Eure Verbündeten suchen, den Rest könnt Ihr getrost als Gegner auf der Jagd nach der Macht bezeichnen.“ Harion lächelte wissend. „Ich schätze Ihr wäret bereit mein Verbündeter zu sein.“ Tulef machte eine Geste, die zwar eine Antwort offen ließ, aber eine gewisse Bestätigung ausdrückte. „Was ist mit den Offizieren?“, fragte der Prinz. „Vergeßt das Militär! Kaum jemand dort ist wirklich in der Lage führende Macht auszuüben. Die nehmen Befehle von Euch wie von Can Corr, das spielt keine Rolle.“ Harion überlegte ein kleines Weilchen. Vieles hatte sich soeben geändert, aber es war besser, wenn er mit seinem neuen Wissen richtig umging als die Welt durch eine rosarote Achatscheibe zu sehen und die wirklichen Machtverhältnisse nicht zu begreifen. Und er hatte einen guten Lehrer gefunden, mit dessen Hilfe er seine Position gut festigen konnte. „Was muß ich tun?“, wollte er entschlossen wissen. Der Magier lächelte. Er hatte erreicht, was er wollte. „Schult Euch, übt Euch. Seid zu allem bereit, verbessert Euch wo Ihr nur könnt. Nehmt Kampfunterricht, für Euch dürfte dies ja kein Problem sein, habt immer die Augen offen und schaut nach den wichtigen Dingen, die Euch bedrohen oder helfen könnten, nicht nach den Busen fremder Frauen. Nutzt die Intrige, spielt sie, kontrolliert sie, aber tut eins niemals: Verlieren!“ 104
Harion nickte. „Ihr werdet mir helfen?“
Jetzt bestätigte der Schwarzmagier das unverkennbar mit einem heftigen Kopfnicken. „Ja!“
Damit stand erhob er sich und wollte gehen.
„Einen Moment noch“, sagte der Prinz. Tulef hielt inne und wandte sich um. „Ja?“
„Was ist die zweite Möglichkeit, um aus meiner Lage herauszukommen?“
Der Magier grinste mit einer böse durchwachsenen Miene. „Klettert auf eine Klippe und stürzt
Euch hinunter!“
Damit verschwand im Gemenge der Menschen.
Bereits etwas angeheitert kam Alix endlich zu Fiana, die ihn bereits lächelnd erwartete. „Das hat
aber ganz schön lange gedauert.“
„Jo“, bestätigte Alix etwas schwankend und ließ sich auf dem Erdboden nieder. Ein Moosbett
machte es gemütlich und der Magister nahm einen weiteren kräftigen Schluck aus der Flasche
und reichte Fiana den Brandwein. Er hatte auch eine Melone mitgebracht. Den Schnaps hatte er
allerdings schon zu guten Teilen selbst geleert.
„Dafür bist du jetzt der Held des Tages“, sagte sie. Alix zuckte mit den Schultern und nahm einen
weiteren Zug. Er legte seinen Kopf auf den Baumstumpf und sah die entfernten Lichter der
Fackeln und Feuer.
„Eine schöne Melone“, stellte sie fest. Der Magier nickte und zog ein Buschmesser aus der
Scheide, die an sein Bein geschnallt war, und schlug die Frucht mit einem Hieb in der Mitte
durch.
Die Elfe blickte die Waffe an. „Ein beträchtliches Messerchen. Wozu brauchst du sowas?“
„Zum Brotschneiden“, meinte Alix ernsthaft. Seiner Stimme nach zu urteilen war er schon nicht
mehr ganz Herr seiner Sinne.
„Aus Maraskan, nicht wahr?“
„Da braucht man so was.“ Wieder führte er die Flasche zum Mund, setzte dann aber ohne etwas
zu trinken ab. Einen Moment schien er zu überlegen. Es war als würde es ihn trotz seines
momentanen Zustands Überwindung kosten, denn er empfand es als sehr persönlich. Zweifellos
war Fiana diejenige, der er am ehesten Persönliches anvertrauen würde, obwohl er Irian viel
länger kannte, aber trotz allem scheute er. Schließlich rang er sich doch zu diesen Sätzen durch:
„Fiana, ich möchte dir was gestehen. Ich fahre nie wieder zur See! Der Sturm, die Meuterei und
diese elendige Atmosphäre unter Deck...“ Er hielt inne. „Ich bin wirklich froh wieder an Land zu
sein.“
Sie nickte. „Ja, das verstehe ich.“
„Weißt du“, fuhr er immer noch leicht benebelt fort, „ich möchte diese Flasche hier heute Abend
gern leer machen und damit die ganze Fahrt aus meinem Kopf spülen. Ist das schlimm?“ Er klang
naiv und unsicher und das unter dem Mantel der Trunkenheit.
Fiana sah ihn etwas besorgt, aber verständnisvoll an. „Nicht, wenn du es nicht ständig machst.“
Er nickte zustimmend. „Ich schätze mal, daß du als Elfe nicht so viel trinkst. Nach dem, was du
mir über deine Trinkgewohnheiten erzählt hast, fällt das bei dir etwas geringer aus.“
„Etwas“, scherzte sie.
„Was ich eigentlich nur will...“ Er trank wieder einen Schluck und betrachtete danach die Menge
des Rests in der Flasche. „Ich würde dich bitten, daß du – wenn du Zeit und Lust hast - dafür
sorgst, daß ich nicht im Lazarett oder in fremden Betten aufwache.“
Sie nickte lächelnd und strich ihm über sein dunkles Haar. „Einverstanden.“
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Einen Moment hielt sie inne, dann näherte sie sich vorsichtig seinem Ohr und flüsterte: „Ist mein Bett denn ein fremdes?“ Alix drehte seinen Kopf verwundert zu ihr um. Einen Moment schien es, als wäre er bei vollem Bewußtsein, doch der Schein trog. Er wandte sich ab und griff nach der einen Melonenhälfte. Dann nuschelte er leise, fast unverständlich: „In deinem Bett würde ich gerne aufwachen.“ Sie ging nicht näher darauf ein. Vielleicht war es, weil sie Alix nicht mehr ganz ernst nahm, vielleicht weil sie Angst vor dem hatte, was seien könnte. Später wußte sie es selbst nicht mehr. Alix jedenfalls schien die Fahrt mehr belastet zu haben, als er sich anmerken lassen hatte. Aber er war eben so ein guter Mensch, daß er während des Problemzustandes sich nichts von seinen Sorgen, Problemen und Ängsten anmerken ließ und damit Ruhe und Vertrauen ausstrahlte. Dafür mußte er es auf andere Art und Weise verarbeiten. Manche Leute beteten, andere schlugen sich in Kneipen, er trank eben einmal über seinen Durst hinaus. Es störte Fiana irgendwie nicht. Früher hatte sie es immer kritisiert und nicht verstanden, wenn Menschen mehr tranken als gut für sie war. Doch sie fühlte mit Alix mit. Wer waren die Menschen früher gewesen, die sie wegen ihres Trinkverhaltens getadelt hatte? Sie erinnerte sich an die Akademiezeit und die jungen Kerle, die dann oftmals randalierend, aufdringlich oder unausstehlich wurden, wenn sie zuviel tranken. Alix war anders. Er saß da, schüttete das Zeug in sich hinein und schwieg vor sich hin. Vermutlich träumte er dabei oder dachte über irgend etwas, auch wenn er sich am nächsten Morgen vermutlich kaum mehr daran erinnerte. Irgendwie hatte die Situation eine eigene Art von Romantik. Er saß da, den Kopf an den Stamm gelehnt und sie lag darauf, ihn betrachtend. Das Zirpen der Grillen im Hintergrund, das gelegentliche Rascheln im Unterholz vor dem Hintergrund des Rauschen des Meeres stand in widersinnigem Kontrast zu dem Rufen und Lachen der Menschen und dem Flackern der vielen Feuer am Strand. Doch hier, nur zwanzig Schritt von diesem Durcheinander entfernt, hatte die Welt einen Schimmer von Romantik und Idylle angenommen, der seltsam prickelnd und erstaunlich aufregend war. Fiana genoß diese Atmosphäre, Alix vielleicht auch, wenn er sie denn spürte. Was war mit ihnen, Alix und ihr? Sie mußte sich eingestehen, daß sie sich sehr nahestanden, aber was war es? War es Freundschaft oder hatten sie tiefere Gefühle füreinander? Sie konnte ja nicht einmal ihre eigenen Empfindungen erkennen, woher sollte sie wissen, was Alix fühlte? Wie stand er überhaupt zur Liebe? Sie hatten sich nie darüber unterhalten. Nun, es wurde Zeit dafür, so fand sie. Wenn es Freundschaft war, so mußten sie über alles reden können, wenn es mehr war, könnte ein solches Gespräch vielleicht mehr Aufschluß darüber bringen, wie sie zueinander standen. Jetzt, wo Alix nicht mehr ganz da war, war eine gute Gelegenheit eine solch schwierige Frage zu stellen und eine möglichst ehrliche Antwort zu bekommen, so fand sie. „Alix?“, fragte sie ruhig. „Mmh?“ Es war beinahe absterbend, wie kurz vorm Einschlafen. Sein Kopf lag jedenfalls schon ausruhend am Baumstamm. „Was meint denn Alix Zander zur Liebe?“ Eine Weile herrschte Ruhe. Die Elfe glaubte, er sei eingeschlafen und sie nicht mehr gehört, doch dann zuckte die Flasche und er trank den letzten Tropfen aus. Er setzte ab und blickte starr geradeaus. Dann regte er sich. „Die Liebe“, begann er verträumt, „ist der Vorläufer vom Schmerz. Sie läßt dich die süße Frucht kosten bevor du erkennst, daß sie giftig ist.“ 106
Schockiert starrte sie ihn an. Er hing weiterhin eher reglos da, ohne sich von Fiana beeindrucken
zu lassen. Wieso sprach er so etwas? Es paßte so gar nicht zu dem Bild des optimistischen,
lebensfrohen Menschen, den sie in den letzten Wochen kennengelernt hatte. Verwundert blickte
sie ihn an.
„Wieso?“, wollte sie wissen, „Was bringt dich zu dieser Einstellung?“
Zander hob den Kopf und sah sie nun zum ersten Mal wieder direkt an. Er schluckte und
schüttelte den Kopf, was ihm jedoch nicht den Schleier von der Seele jagte.
„Maraskan ist ein hartes Land. Es ist wunderschön, aber furchtbar hart. In der Akademie ging es
noch, da lief man keine große Gefahr... Sie war... so ein wundervoller, lebensmutiger Mensch.
Wir waren so glücklich gemeinsam, ich wollte nichts anderes als einfach nur mit ihr zusammen
zu sein. Irgendwie hatte es wohl nicht geklappt mit dem heimlichen nächtlichen Ausflug in den
Dschungel... ich hab sie verloren!“
„Einfach so?“, wollte Fiana wissen.
„Der Kaiman, das Monster, hat sie erwischt.“
„Und du konntest sie nicht retten?“ Die Elfe fühlte großes Mitleid für ihn.
Er stockte. Von dieser Sache zu erzählen schien ihm sogar im trunkenen Zustand schwerzufallen.
Nüchtern hätte er es nie erzählt, das war sicher.
„Sie schrie, sie schrie so fürchterlich. Sie schrie so voll Schmerz und vor Todesangst und sie
schrie auch noch als sie bereits wußte, daß sie sterben würde. Sein Kiefer zermalmte ihren
Körper. Dieser alptraumhafte Schrei, ihr Todesschrei, erstickte erst, als er ihr den Oberkörper
abriß. Wie widersinnig war es, daß diese wunderbare Stimme einen solchen Schrei formte, der bis
heute mein Alptraum ist... Wir hatten uns so geliebt...“ Tränen liefen über sein Gesicht. Er suchte
nach Schnaps, fand aber keinen mehr.
Fiana ging die Geschichte unglaublich nah. Ein eiskalter Schock ging ihr bis ins Mark und sie
war entsetzt über Zanders Erzählung. Der Magier sackte zusammen und faselte irgend etwas
unverständliches.
Die Elfe blickte ihn an. Er war schön, auch jetzt, wenn er mit Tränen auf den Wangen und
verwirrt vom Alkohol auf dem Boden lag und nicht mehr zurechnungsfähig war.
Sie wachte die ganze Nacht über ihn. Sie sah sein Gesicht, hörte seinen Atem und dachte an die
letzten Worte, die er ihr an diesem Abend anvertraut hatte.
Als er dann schlief und schnarchte, küßte sie ihn auf die Stirn in der Hoffnung, daß es ihm schöne
Träume bescheren würde...
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Kapitel 14
D
as gleichmäßige Pochen der Stiefel auf den Planken des Decks ließ alle
Anwesenden unwillkürlich den Kopf umdrehen. Es klang gleichmäßig und drängend, dennoch nicht militärisch oder bedrohlich. Vielmehr waren es die eiligen Schritte der Einigkeit und Entschlossenheit, die Begeisterung und Bereitschaft sprachen. Magister Irian Sturmfels, Magister Alix Zander, Adepta Fiana Eichenblatt und Meisterschütze Alarion Wolfslied stampften zielstrebig über das Deck der Havenas Stolz zu Admiral Elwicks Kajüte. Alix waren die Folgen der letzten Nacht deutlich anzusehen, doch er schlug sich wacker, auch wenn er im Gleichschritt der Gleichgesinnten immer etwas zurückhing. Fiana betrachtete das mit einem wissenden, aber nicht gehässigen Schmunzeln, Irian warf einen mißbilligenden Seitenblick auf seinen alten Freund und Alarion schien die Ursache von Alixs Schwerfälligkeit überhaupt nicht mitzubekommen. Mit einem kurzen Klopfen kündigte Irian sie an und dann traten sie ein. Elwick stand dort und lächelte ihnen freundlich entgegen. Er war glatt rasiert und nichts erinnerte mehr an seinen schwarzgrauen Bart, den er gestern abend noch getragen hatte. Er wirkte ohne diesen anders, jünger, irgendwie passend zu seiner neu gewonnenen Kraft, die er ausstrahlte. Zweifellos war er einer der Menschen, die sich über die Ankunft in der neuen Welt am meisten freuten. Der fehlende Bart nahm seinen Zügen jedoch keine Spur der Strenge und Befehlsgewohnheit. Er schien bereit für die Eroberung des neuen Landes und erwartete auch völlige Bereitschaft von seinen Untergebenen. „Da wären wir, Admiral“, sagte Irian erwartungsvoll. Alarion schloß die Tür und Elwick nickte dankend. „Ich freue mich, daß Ihr gekommen seid. Es geht um einen Auftrag. Wir sind nun hier gelandet und nach dem wirklich erholsamen Abend gestern ist es nun an der Zeit einige Erledigungen zu tun. Ich habe Euch aufgrund Eurer allseitigen Erfahrung und erprobten Schlagkraft für eine Erkundungsmission ins innere der Insel ausgewählt. Es handelt sich um eine strategisch ökonomische Mission, bei der Ihr die Gegend auskundschaften und Rohstoffe suchen sollt. Ihr bekommt drei Gesteinskundler an die Seite, die das Gebirge nach Mineralerz, Kohle, Gold und alles absuchen sollen, was es zu bieten hat. Desweiteren stelle ich Euch drei Soldaten, auch wenn ich denke, daß sie nur Ergänzung zu Eurer Stärke seien werden.“ Irian nickte. Der Magister hatte sich von Anfang an aufgrund seines Alters, seiner Erfahrung und seiner Fähigkeiten als eine Art Sprecher der Nicht-Albernier herauskristallisiert. „Wie sieht die Route aus? Wieviel Zeit haben wir?“ „Zeit habt Ihr, sagen wir zwei Wochen. Wenn mehr ist es auch nicht so schlimm, aber Hauptsache Ihr kommt überhaupt wieder. Der Weg ist Euch überlassen, Ziel sei das Gebirge. Sonst irgendwelche Wünsche oder Bemerkungen?“ Sie schienen nicht die Einzigen zu sein, die er heute persönlich einweisen wollte. „Wir hätten gern Hauptmann Can Corr zur Seite“, bemerkte Alix. Etwas verwundert sah der Admiral auf. „Tut mir leid, Hauptmann Can Corr startet heute auf eine Erkundungsfahrt mit der Efferds Zorn um die Insel. Er wird der Expedition nicht beiwohnen können.“ „Was ist mit Zordan?“, erkundigte sich Alarion. „Zordan?“ Elwick schien einen Moment nachdenken zu müssen, um zu verstehen, wer Zordan war. Bis auf dieses eine Mal auf der Terrasse bei Hofe hatte er ihn kaum zu Gesicht bekommen, 108
geschweige denn dieser zwielichtige Taugenichts hätte etwas geleistet. „Von mir aus könnt Ihr ihn mitnehmen.“ Der Halbelf nickte zufrieden. Zwar wußte er, daß der Dieb von Anfang an nicht von albernischer Seite für diese Reise eingeplant gewesen war, doch er trotzdem gefiel Alarion die Ignoranz der Befehlshaber gegenüber seinem (zugegebenermaßen nicht sonderlich geheuerem) Freund und er war eigentlich stets bemüht sich für diesen einzusetzen. „Wann geht es los?“, wollte Fiana wissen. Der Admiral lächelte, als würde er aus dieser Frage die Vorfreude seiner Zuhörer lesen. „Jetzt gleich“, antwortete er, „Ich habe Euch Vorräte zusammenstellen lassen, Eure Begleiter warten an Land. Der nächste Ruderer bringt Euch dorthin.“ Sie nickten. „Nundenn“, meinte Irian, „dann wollen wir mal sehen, was die Götter uns für Steine in den Weg gelegt haben.“ „Ich hoffe nur Kiesel“, knurrte Alix gespielt mürrisch, mußte dann aber selbst grinsen. Sie verließen den Admiral. Wie erwartet wartete ein Ruderboot bereits, um sie von dem Schiff herunterzubringen. Einen Moment verharrten sie noch an Deck und ließen ihre Blick durch die Masten schweifen, von denen aus Taue und Kletternetze gespannt waren, sie blickten auf die Segel, die eingeholt und zusammengeschnürt schliefen und blickten auf den Mastkorb, an dem man das leichte Schwanken des Schiffes am Besten beobachten konnte. Viele Wochen war dieses Schiff ihr – manchmal verhaßtes – Zuhause gewesen, jetzt schien die Trennung doch etwas schwer zu fallen. Immerhin hatte es sie durch Kampf und Sturm gebracht und letztendlich auch hierher. Es war Alix, der sich als erster von dem Anblick losriß und den ersten Fuß auf die Strickleiter setzte, die hinab zum Ruderboot führte. Dennoch konnte einer leugnen, daß er bei der Überfahrt zum Strand gelegentlich einmal zurück sah. Kleine Beiboote pendelnden permanent zwischen dem Ufer und der Schiffen, transportierten Ladung und Menschen. Ab heute war der Hauptwohnsitz aller nicht mehr an Bord sondern wieder auf einem Grund, der nicht schwankte. „Zordan“, winkte Alarion seinen Freund heran. Der Meisterdieb war etwas orientierungslos zwischen einigen Seemännern herumgestolpert und sah jetzt den Halbelfen. Schnell kam er auf ihn zu. „Weißt du, wo dieser Can Corr ist?“, fragte er eilig, bevor Alarion sein Anliegen vortragen konnte. „Der fährt doch jetzt zu einer Erkundungsfahrt um die Insel“, antwortete der Elf verwirrt. Zordans verwirrter Blick hellte auf und er schien urplötzlich guter Dinge zu sein. „Was ich dich eigentlich fragen wollte“, kam Alarion zur Sache, „ob du uns auf einer Erkundungsreise ins Innere der Insel begleiten willst.“ Verwundert blickte der Meisterdieb zurück. „Ich? Tückischer Wald, schreckliche Natur und ich dazwischen? Nein danke, ich bleibe lieber hier.“ Etwas enttäuscht nickte der Elf. Dann hatte er sich ein weiteres Mal mehr umsonst für Zordan eingesetzt. Der Meisterdieb ging, doch Irian kam. Absolut unbewußt hatte Alarion das entfernte Gebirge fixiert und starrte es gedankenverloren an. „Du hast Bedenken?“, erriet Irian. Er kannte den Halbelf nun so lange, daß er seinen Gemütszustand oftmals in den simpelsten Gesten ablesen konnte. „Zordan kommt nicht mit. Und vorallem sollte ich doch auf den Prinzen aufpassen...“ Der Magister lachte. „Hier wird ihm gewiß nichts passieren. Solange er bei den Siedlern bleibt ist er sicherer, als dort draußen. Da würde ich mir keine Sorgen machen.“ 109
Alarion nickte und gemeinsam gingen sie zum Treffpunkt, um ihre Ausrüstung zu holen. „Hauptmann Can Corr“, meinte der junge Offizier, der von einem der vielen gelandeten Ruderboote kam, „wir sind dann bereit zum Auslaufen.“ Growin nickte scheinbar abwesend. Manche nannten ihn Hauptmann, andere Bootsmann, andere nannten ihn nur beim Nachnamen. Es kam wohl daher, daß sein korrekter Rang nicht wirklich festgelegt war, aber allen war klar, daß er eine zentrale Rolle auf dieser Expedition eingenommen hatte. Ihm war seine Titulierung egal. Seltsamerweise. Einst hatte er sich über jedes kleine Abzeichen und jeden Orden gefreut; Beförderungen waren wie Feiertage für ihn gewesen. Doch nun spielte das alles offenbar keine große Rolle mehr. Ein weiteres Mal kam ein leichter Hauch Verwunderung über den Verlauf der Dinge in ihm auf, als er feststellen mußte, daß es ihn nicht einmal gestört hätte, wenn sie ihn einfach nur mit Growin angesprochen hätten. So wie es Verena tat. Auch sie war auf ihn aufmerksam geworden. Soeben hatte sie eine schwere Kiste Kokosnüsse abgestellt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein kurzer Blick zu den anderen Nahrungsbeschaffern und sie kam auf Growin zu. Auch er näherte sich ihr unter dem verwundert strengen Blick des Offiziers. „Du fährst weg?“, meinte sie freundlich. Er ahnte einen Vorwurf und daß ihm keinesfalls wohl war, erkannte man sofort an seinen Zügen. Zaghaft nickte er. „Ja. Ich will nicht, aber...“ Sie lächelte zauberhaft und legte ihm den Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Es macht doch nichts. Wir haben alle unsere Pflichten. Ich wurde mit der Anlegung der Äcker betreut. Ich werde eine Menge zu tun haben bis zu wiederkehrst ... aber ehrlich gesagt vermisse ich dich jetzt schon.“ Growin nickte und unwillkürlich mußte er lächeln. Es war so ganz und gar nicht die Szene des starken Mannes, als er leise hauchte „Ich auch“ und sie dann in die Arme schloß. „Ich bin bald zurück“, versprach er. Auch Verena hielt ihn fest und wollte ihn nicht gehen lassen. Doch beide wußten, daß das nicht ging. „Ich warte auf dich“, flüsterte sie in sein Ohr. Dann zwangen sie sich voneinander weg. Als sie ihre Umarmung lösten, streiften sich kurz ihre Lippen und erschrocken hielt Growin in der Bewegung inne. Unschlüssig verweilte er in der Position und auch Verena war sich nicht im Klaren darüber, ob sie ihn nun zum ersten Mal küssen sollte oder nicht. Er beugte sich leicht vor, doch Verena machte spielerisch lächelnd einen Schritt zurück. Seiner komischen Haltung bewußt richtete sich Growin schnell auf. Etwas verlegen zuckte er mit den Augenbrauen. Doch er fand schnell Rettung aus seiner ungeschickten Lage, schließlich wollte er auch nichts übereilen mit Verena und sie sollte nicht denken, er wolle sie zu irgend etwas drängen (ganz im Gegensatz zu Zordan, der ein Stück entfernt auf einer Kiste sitzend die beiden beobachtete) und so griff er ihre Hand und verneigte sich, um diese zu küssen. „Bis bald, meine Schöne!“ Sie lachte amüsiert. „Bis bald, mein Märchenprinz.“ Damit wandte sich Growin schweren Herzens um und schritt zu dem wartenden Offizier, um mit ihm zur Efferds Zorn zu fahren. Als ihn dann die beiden Ruderer mit kräftigen Zügen hinüber zum Schiff fuhren, hatte der Hauptmann nur Augen für eins: Nicht die wachsende Besiedlung, die gefällten Bäume und die ersten provisorischen Behausungen, die vielen fleißigen Menschen, die dabei waren diesen Urwald in ein wohnliches Zuhause zu verwandeln, nicht die Gruppe, die sich in weiter 110
Entfernung in das Dickicht des Waldes schlug, sondern nur eins: Verena. Und ja, er vermißte sie
schon jetzt.
„Was tut so eine schöne Frau wie Ihr allein an so einem schönen Tag?“
Verena beobachtete gerade, wie die Efferds Zorn ihre Segel setzte. Es war ein prächtiges
Schauspiel, wie die vielen Männer auf den Masten die Taue lösten und sich mit einem Male das
gesamte Segel entrollte und vom Wind aufgebläht wurde. Nun, eigentlich faszinierte Verena das
Schiff nur so, weil Growin dort war. Zordan faszinierte aber offenbar etwas anderes...
Sie wandte sich um und sah ihn, charmant lächelnd und mit einer wundervollen Blüte in der
Hand.
„Sie hatten hier keine Rosen, also hab ich das genommen“, gestand er lustig.
Verena sah auf die Pflanze. „So? Dann hebt sie mal gut auf, vielleicht ist sie ja was wert.“ Sie
ging zurück zu den anderen, um die Kokosnüsse in das kleine Boot zu bringen, was wartend am
Strand lag.
„Sie ist für Euch, schöne Frau.“
„Ah, ist der große Verführer wieder auf Jagd?“
Mit einem Satz sprang er ihr in den Weg und hielt sie so auf. „Der kleine Verführer mit dem
Gespür für die große Liebe!“ Er hielt ihr die Blume unter die Nase, doch sie lachte nur kurz auf
und schritt an ihm vorbei. Irritiert blieb er stehen und blickte verwundert. Was war los? Frauen
liebten doch solche Liebesbeweise!
Schnell eilte er ihr nach. „Was ist los Verena? Ist denn da gar nichts zwischen uns?“
„Doch“, antwortete sie, „Dankbarkeit!“
„Mehr nicht?“
Sie blieb stehen und funkelte ihn finster an. „Was erwartest du? Daß ich gleich mit dir ins Bett
steige, nur weil du mich damals gerettet hast?“
Wütend warf Zordan die Blüte zu Boden. „Du denkst, daß ich nur das will? Wer hat dir das in
den Kopf gesetzt? Irian, Alix ... Growin?“
„Wer bei den Niederhöllen ist Irian?“
„Pah“, rief der Dieb und trat mit dem Fuß auf die Blüte, „denkst du darauf falle ich herein?“
Zornig stampfte er davon.
Verwirrt und mit leichtem Schuldgefühl stand Verena nun da. Sie blickte auf die zertretene Blüte
und blickte dann ihn hinterher. Hatte sie ihn zu Unrecht verletzt?
Natürlich waren alle in der Umgebung auf das Gespräch aufmerksam geworden. Dennoch
versuchte sie ihren Blicken nicht zu begegnen und ging hinüber zu einem befreundeten
Küchengehilfen.
„Wer ist Irian?“, fragte sie leise.
„Magister Sturmfels“, antwortete der junge Mann, während er Zordan nachschaute.
111
Kapitel 15
W
ir reisten in halbwegs geordneter Formation durch den Wald,
der von stellenweisem Dickicht bis hin zu lichten Gegenden alle Vielfalt bot. Nachdem wir am Anfang auf dem sandigen Boden nur Nadelgehölze angetroffen hatten, erwartete uns weiter drinnen, wo der Boden zunehmend mehr aus Humus bestand, eine Fülle an Vegetation und Tierwelt, wie wir sie in unseren phantasiereichsten Träumen nicht erdacht hatten. Die blühende Pracht von Orchideen, die seltsame „Schreckpflanze“ (wie wir sie nannten, weil sie, sobald man sich ihr näherte, schlagartig die Blüte schloß), die Alarion einen ganz schönen Schrecken eingejagt hatte, als er sie als erster entdeckte, die Rotkiefer und all die anderen unbekannten Gewüchse hätten wohl eine ganze Magierakademie mondelang in Trab halten können. Was es hier zu erforschen gab, überstieg unsere Kapazitäten bei weitem. Dennoch ließ es sich Irian nicht nehmen in seinem Tagebuch die wichtigsten und exotischsten Pflanzen und Tiere mit Zeichnung und den bekannten Eigenschaften und Besonderheiten zu vermerken. Hier und da blieben die drei Herren Gesteinskundler stehen und bückten sich nach Steinen, um sie dann entweder ins Dickicht zu werfen oder sie stirnrunzelnd in ihre Tragetaschen zu stecken. Der Rest genoß einfach nur die Reise. Sicher hatten auch wir Augen für die wundersamen Dinge und auch wir hatten viele Fragen, doch konzentrierten wir uns mehr auf die frische Luft, das manchmal befremdliche Zwitschern der Vögel im Wind und die farbigen Schmetterlinge, die in großen Scharen durch die Luft von Blüte zu Blüte schwirrten. Es war eine traumhafte Welt und der doch kräftezehrende Marsch wurde von allen klaglos ertragen. Wer einmal ein paar Wochen nur auf einem Schiff verbracht hat, wird wissen warum... Vorn an der Spitze des Expeditionstrupps schritt Alarion. Er hatte seine Handharfe und zupfte ein fröhliches Lied zum Gesang der Vögel. Alle waren frohen Mutes und beinahe jeder hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen ... außer Irian und die Gesteinskundler, die manchmal mehr mit Wundern und Staunen beschäftigt waren. „Seht dort!“, rief mit einem Male Alix und deutete zu einer bewachsenen Felswand, von der Wasser in Strömen hinab lief. Er lächelte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich durch die anstrengende Wanderung angesammelt hatte. „Das kommt sehr gelegen“, kommentierte Fiana schnaufend. Sie eilten dorthin. Nur Irian, der gerade ein palastartiges Bienennest in den Zweigen eines Baumes erspäht hatte, blieb zurück, um sich dieses näher anzusehen. Alix und Fiana erreichten zeitgleich den Felsen. Erleichtert warfen sie ihre Rucksäcke ab und steckten ihre Köpfe ins kühle Naß.
„Puuuuuhh“, machte Fiana. Das war kalt! Sie legte die Hände zu einer Schale zusammen und
trank von dem klaren Süßwasser.
112
Auch Alarion kam heran. Er schien recht froh über die Pause, er schien besonders erschöpft. Ob
es daran lag, daß die Reise an ihm deutlich mehr gezehrt hatte als an den anderen, wußte niemand
so recht; jedenfalls beschwerte sich keiner über eine Pause. Er nahm auch einen Schluck Wasser
und machte sich dann daran seinen Wasserschlauch aufzufüllen.
„Eine Frage erhebt sich mir noch“, meinte der Elf schließlich.
Alix, der glücklich über beide Wangen strahlend seinen nassen Kopf schüttelte und so das Wasser
in alle Richtungen spritzen ließ, ging als erster darauf ein: „Welche denn?“
Alarion nahm großen Zug aus dem Wasserschlauch und stöhnte zufrieden. Dann blickte er zu
dem Magister hinüber und sprach für die jetzige Situation ungewohnt ernst: „Die Albernier haben
doch gleich am Ankunftsort angefangen ihre Siedlung zu bauen, nicht wahr?“
Fiana nickte. „Und?“
„Wir sind doch der Erkundungstrupp“, erklärte Alarion, „wir suchen doch jetzt nach Rohstoffen.
Damit suchen wir doch eigentlich auch den idealen Platz für eine Siedlung. Wieso bauen sie dann
bereits dort los?“
Alix überlegte einen Moment. „Sie müssen doch die Leute irgendwo unterkriegen.“
„Aber sie hoben bereits Fundamente aus“, erklärte der Elf.
„Ich denke es liegt an ihrem Glauben“, erläuterte Fiana, „Sie halten diese ganze Angelegenheit
für ein Geschenk der Zwölfe. Die Zwölfe haben sie sicher über das Meer der sieben Winde
geleitet und nun werden die Zwölfe sie schon zum richtigen Platz geleitet haben. Sicher gibt es
sicher strategisch und ökonomisch bessere Plätze auf der Insel, aber die Albernier haben großes
Vertrauen in die Zwölfe.“
Alarion blickte etwas unverständlich, zuckte dann mit den Schultern. Er jedenfalls würde sich
nicht blind auf höhere Mächte verlassen und mit dieser Ausrede seinen Verstand völlig
abschalten. Aber wenn selbst gebildete und erfahrene Menschen wie der Admiral so vorgingen,
mußten sie wirklich gute Erfahrungen mit ihren Göttern gemacht haben.
„Diese Bienen hier sind wirklich erstaunlich. Sie sind beinahe doppelt so groß wie die bei uns.“
Es war Irian, der etwas gedankenverloren an das Wasser trat.
„Die Flora und Fauna ist eine völlig andere“, bemerkte Fiana.
Irian nickte. „Aber dennoch erkennt man Grundzüge der Arten Aventuriens.“
„Nun stellt sich die Frage, ob die Götter überall auf Dere die selben Wesen schufen und diese sich
über die Äonen entwickelten oder ob die Tiere irgendwie hierher kamen“, überlegte Alix.
„Wie sollten sie das denn geschafft haben?“, wunderte sich Alarion.
„Vielleicht gab es mal einen Weg“, meinte der ältere Magister, „möglicherweise bewegten sich ja
die Landmassen. Efferds Macht ist groß, vielleicht verschiebt er auch die Lande.“
„Jedenfalls ist ein gemeinsamer Ursprung nicht verkennbar“, sagte Fiana sicher. Irian nickte. Es
war alles wie in Aventurien ... nur anders.
„Die großen Unterschiede zu ihren heimischen Verwandten lassen auf eine lange Zeit der
unabhängigen Entwicklung schließen“, bemerkte Irian, „wann auch immer die Arten vereint
waren, es muß sehr lange her sein. Außerdem ist scheint es nur relativ begrenzt natürliche Feinde
zu geben, sonst hätten sich die Arten nicht so sehr entfaltet.“
Fiana machte eine gespielt bösartige Grimasse. „In Aventurien ist nur eben der Mensch der
Feind! Den haben sie hier eben nicht.“
„Ist ja gut“, unterbrach Alarion die Überlegungen, „wir sind jetzt in der Gegenwart. Laßt und
weiterreisen und sehen, was diese Insel noch so für Geheimnisse verbirgt...“
Hätten wir nur damals schon gewußt was für welche... 113
Es war der Abend des ersten Tages. Das Licht Praios schwand langsam dahin und auch, wenn man ihn aufgrund der hohen Bäume nicht sah, konnte man sich doch seine rötliche Pracht vorstellen, wie sie gerade hinter diesem großen Lande im Ozean versank. In der Siedlung dürfte man die Sonnenscheibe sicher hinter den Bergen verschwinden sehen. Nun, dies war dem kleinen Erkundungstrupp nicht vergönnt gewesen. Dafür fanden sie etwas erstaunliches und überaus aufregendes, was kein anderer je zu Gesicht bekommen hatte. Es war eine größere Lichtung, auf der, wie man schon aus einiger Entfernung erkennen konnte, irgendwelche großen, farbigen Dinge standen. Das regte natürlich sofort Spekulationen an: Waren es vielleicht bemalte Felsen, die die Ureinwohner, die sich hier irgendwo versteckten, aufgebaut hatten, um ihren Götzen zu huldigen? Die Betrachter näherten sich, als sie erkannten, um was es sich handelte, mit vom Staunen offenen Mündern der Lichtung. Keiner sagte ein Wort und niemand hatte das jemals gesehen: Auf dieser sehr geräumigen Lichtung mit dem kniehohen, saftigen Gras und den vereinzelten Beerenbüschen, an denen hellblaue, pralle Früchte wuchsen, standen Pilze. Aber was für welche! Sie hatten weiße, feinporige Stiele, die einen Durchmesser von gut anderthalb Schritt und eine Höhe von gut einer Mannslänge hatten. Die Hüte waren ähnlich pompös: Hellbraun oder leuchtend rot waren sie ein regelrechter Schirm, der sicher einen Durchmesser von zwei Mannslängen hatte. Es war still. Ein paar Vögel zwitscherten ein letztes Abendgespräch vor dem Schlafengehen, der Wind wog die Halme des Grases sanft und ganz im Hintergrund hörte man von Ferne das Rauschen des Meeres. In alle dem standen die Reisenden fassungslos und erstaunt vor diesen Wunderwerken der Schöpfung und trauten ihren Augen kaum. Alix hätte beinahe gesagt „Irian, hör auf mit deiner Illusionszauberei!“, wenn er nicht gewußt hätte, daß der ältere Magister höchst selten zu Illusionen neigte und erst recht zu alt war, um solche Streiche zu spielen. Es war Alarion, der zuerst aus seinem Erstaunen aufwachte. Sei es, weil er wegen seiner Naturnähe vielleicht schon ähnliche Wunder des Waldes gesehen hatte, oder einfach, weil er müde vom Wandern war und sich endlich niederlassen wollte. „Ich denke, wir haben einen Rastplatz gefunden.“ Fiana nickte. „Und was für einen! Wenn’s regnet können wir uns hier sogar unterstellen.“ Doch es regnete nicht. Der Himmel war klar wie er hier schon die ganze Zeit gewesen war und als dann auch der letzte helle Schimmer Praios ihn verlassen hatte, glitzerten die Sterne prachtvoll am Himmel und zeigten sich in voller Schönheit. Es war warm. Das Feuer in der Mitte der Lichtung (wohlbedacht weit genug weg von jeglichem Pilz) war mehr als Lichtquelle als Wärmespender gedacht entzündet wurden. Alle hatten sich einen Platz im Schutz eines der Riesenpilze gesucht. Irian hatte sie sofort in seinem Tagebuch vermerkt. Nun aber saß er still da, abseits an einen Baum gelehnt und betrachtete den Himmel. Die Soldaten unterhielten sich in ihrer Runde, ebenso wie die Gesteinskundler. Die Gruppen waren so geblieben wie am Anfang und noch machte so jeder seines. Fiana und Alix (wie sollte es anders sein) saßen gemeinsam am Feuer und plauderten über die Zwölfe und die Welt. „Es steht schlecht um deinen Wetteinsatz“, meinte Alarion lächelnd, als er ruhig an Irian herangetreten kam. Der alte Magier nickte. Dann aber besann er sich und lächelte auf seine eigentümlich schelmische Art: „Wir werden sehen. Noch ist nicht das letzte Wasser den Yaquir hinunter.“ Der Elf nickte und setzte sich. Einen Moment schwieg er, dann lachte er auf. „Es gibt so viele Dinge, über die ich mit dir reden könnte und wollte, aber mir fällt keiner so richtig ein.“ 114
Irian nickte.
„Es ist alles so fremd und unverständlich“, erzählte Alarion weiter, „aber doch irgendwie
vertraut. Trotzdem hab ich so ein ungutes Gefühl, was gelegentlich in mir aufkommt. Ich meine,
wenn ich die Soldaten dort drüben sehe, die fröhlich und stolz, vielleicht manchmal auch
staunend, über ihr neues Land reden, dann frage ich mich, ob ich spinne, daß ich mir Sorgen
mache.“
Der Magister schüttelte mit dem Kopf. „Du hast nur die Gabe Ahnungen zu haben. Und du
hattest eine Prophezeiung, die dir allen Grund gibt in Sorge zu sein. Tu mir nur einen Gefallen
und sorge dich nicht zu sehr. Niemand weiß, was uns hier erwarten wird. Genieße die Ruhe,
solange sie da ist.“
Der Halbelf nickte. Dann erhob er sich und schlenderte zu seinem Nachlager. Auf halbem Wege
blieb er stehen und blickte hinüber zu dem nahe sitzenden Alix, der sich gerade mit Fiana
angeregt unterhielt.
„Alix!“
Der Magister sah auf. „Ja?“
„Was wirst du im nächsten Leben?“
Der Angesprochene guckte etwas verwirrt und meinte dann: „Ein großer Held. Ein Ritter, der
ganze Grafschaften von bösen Drachen befreit und den alle lieben und schätzen, der auf dem
Schlachtfeld steht und fällt und danach in riesigen Gelagen all seine Sorgen in Wein und Schnaps
ertränkt, während er rülpsend, einen fetten Braten kauend mit seinen Heldentaten prahlt.“
Alarion nickte leicht. Dann ging er ohne ein weiteres Wort, um sich schlafen zu legen.
Zwei Tage ging die Reise weiter, bis sich endlich etwas Neues abzeichnete, aber nichts, was sie
erwartet hatten. Der Wald war lichter geworden und auf einiger Entfernung erkannte man das
Meer. Es war Küste! Doch die Insel war keinesfalls zu Ende. Vielmehr mußten die Reisenden
feststellen, daß sie die ganze Zeit nur auf einer Vorinsel gewandelt waren und das wirkliche
Landmassiv erst hinter einem drei bis vier Meilen breiten Meeresarm begann.
Als Alix das sah, begann er unwillkürlich aufzulachen. „Juhu! Da bauen die also ihre Siedlung
auf einer Vorinsel!“
„Soviel zum Thema die Zwölfe und der Siedlungsort“, kommentierte Alarion ironisch.
Irian runzelte die Stirn und blickte seinen Freund tadelnd an. Einer der Krieger ließ seinen
Rucksack fallen und warf sein Schwert von sich. „Nein! Ich will jetzt nicht noch mal drei Tage
zurückreisen!“
„Es bleibt uns wohl kaum eine andere Möglichkeit“, sagte einer der Geologen, „wir haben nicht
das richtige Werkzeug mit, um ein Floß oder ähnliches zu bauen.“
Irian hob die Hand und brachte damit alle zum Schweigen. „Laßt das nur meine Sorge sein!
Zuerst gehen wir nun hinunter zum Strand, wo wir etwas mehr Freiraum haben.“
„Wie wollt Ihr das anstellen?“, fragte ein Soldat provokativ.
Irian grinste und sagte nur drei Worte: „Ich bin Magier.“ Damit schritt er los.
„Entschuldigt“, meinte ein anderer Krieger schlaff. Er machte einen seltsam erschöpften Eindruck
und schien Mühe zu haben, die Augen offen zu halten. „Ich sage das ungern, aber würde es Euch
etwas ausmachen, wenn wir erst einmal eine Rast einlegen?“
„Was ist los mit Euch?“, wollte Fiana wissen.
„Es geht mir nicht gut“, sagte dieser bloß. Irian wandte sich um und nickte. „Gut. Wir machen
eine kleine Pause. Ich gehe hinab zum Strand und kümmere mich um unsere Überfahrt. Der Rest
bleibt hier und rastet. Kümmert Euch um diesen Mann!“
115
Damit ging er los und verschwand, wie die mächtigen Magier so geneigt sind zu verschwinden:
Unerwartet und alle in Verwunderung zurücklassend.
Fiana wandte sich zu dem Kranken. „Was habt Ihr?“
Der Mann sank zusammen und sie nahm ihm seinen Rucksack ab und half ihm aus dem
Waffenrock.
„Ich hab schlimme Schmerzen im Bein. Außerdem ist mir so fiebrig...“
Alix kam und half ihr. Beide betten ihn auf ein nahes Moospolster. Sie fühlten seine Temperatur
und tatsächlich schien er deutlich erhitzt.
„Habt Ihr irgend etwas ungewöhnliches getan oder gegessen? Ist irgendwas passiert?“
Er schüttelte den Kopf. Es war klar ersichtlich, daß er sehr froh darüber war ruhig zu liegen.
„Mein Bein“, flüsterte er, „ich kann es kaum bewegen...“
Alix legte die Hand auf sein linkes Bein. „Das?“
Ein leichtes Nicken, mehr brachte er nicht als Antwort zustande.
Die beiden Helfer entledigten dem Mann seiner Hose und sofort sprang ihnen ins Auge, was nicht
stimme: An der linken Wade war ein großer, stark geröteter Fleck, der heiß wie Feuer zu seien
schien. In der Mitte davon saß ein fingerkuppengroßes Insekt.
Verwundert starrte Fiana das Tier an. „Habt Ihr das nicht gemerkt?“
Der Soldat antwortete nicht.
Alix blickte es sich näher an. „Das scheint eine Abart der Zecke zu sein. Wir müssen sie wohl
rausdrehen.“
Fiana nickte. Im gleichen Moment stöhnte der Behandelte. Sie wußten nicht, ob er sie
vernommen hatte, jedoch schien er sehr in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein.
Die beiden Behandelnden nickten sich zu und der Magister machte sich daran, das häßliche Vieh
zu packen und langsam herauszudrehen. Ein gewisses Maß an Ekel in seinen Zügen war nicht zu
übersehen, doch der Gedanke, daß das Tier diesem Menschen vielleicht des Lebens berauben
könnte, war stärker als aller Widerwillen.
Es war vermutlich mehr Phexens als Hesindes Werk, daß Alix die Zecke herausbekam, ohne daß
ihr Kopf in der Haut ihres Opfers steckenblieb. Das Tier war eklig fett und schien vollgesogen
mit dem Blut des Soldaten. Daß es lebte, war unübersehbar und es zappelte wild mit seinen vielen
Beinen. Fiana wandte sich ekelnd ab. Auch Alix schüttelte sich bei dem Anblick und diesen
Moment nutzt das Biest, um zu entkommen. Irgendwie war es ihm aus den Händen gerutscht und
nun huschte die Zecke über den Waldboden. Gerade noch einmal schien sie dem Tod entronnen.
Jetzt erstmal wollte sie sich irgendwo verstecken und sich ausruhen, um dann später neues Blut
zu holen, doch...
Eine kleine Flamme sprang aus Alix’ Zeigefinger und verbrannte die Zecke binnen eines
Wimpernschlages. Ihre verkohlten Reste zuckten noch einmal kurz. Vielleicht der letzte Moment
ihres Lebens, in dem sie es bereute, diese Fremden angefallen zu haben.
Angewidert erhob sich Alix und atmete erst einmal tief durch. Die beiden Soldaten, die das
Schauspiel beobachtet hatten, wichen zurück. Nur Alarion kam heran.
„Ein Stück zurück habe ich eine Quelle gesehen. Wir sollten ihm kalte Umschläge machen.“
Einer der drei Geologen wagte sich - wenn auch nicht ohne Unbehagen - an den Ort des
Geschehens. „Ich habe hier etwas“, meinte er und aus seinen Zügen war Mitleid für seinen
Landsmann zu lesen. Er griff in seine Tragetasche und zog eine Bronzeflasche hervor. „Ein
Heiltrank. Er wurde mir einst von einem Alchimisten geschenkt, dem ich ein wichtiges Mineral
besorgt hatte.“
116
Fiana nahm die Flasche und lächelte. „Das ist sehr großzügig von Euch!“ Sie alle wußten, daß ein
Heiltrank ein halbes Vermögen wert war und man sich ein solches Wundermittel nur für die
schlimmsten Fälle aufhob.
Doch der Gesteinskundler lächelte und sagte: „Es wurde einem Albernier geschenkt und ein
Albernier soll’s bekommen. Macht ihn wieder gesund, ja?“
Sie nickte.
Bald hatte Alarion auch die Umschläge gemacht und der Mann war auf mehrere Decken gebettet
worden. Man hatte ihn mit Umschlägen verbunden und ihm etwas Heiltrank eingeflößt. Er schien
in einen ruhigen Schlaf gefallen zu sein.
Alarion trat in die Runde. „Hört mir mal zu! Diese Zecken scheinen deutlich gefährlicher zu sein
als unsere heimischen. Hätten wir sie nicht entdeckt und sie mit unseren Mitteln und dem
Heiltrank den guten Mann nicht behandeln können, so wäre er vielleicht gar tot. Deshalb sollten
wir uns alle gegenseitig auf Zecken untersuchen.“
„Als ob man es nicht merken würde, wenn so ein riesiges Vieh einen anbeißt“, meinte ein Soldat.
„Er hat es nicht gemerkt“, bemerkte Alix, „wir wissen nicht, mit welcher Methode die Biester
vorgehen, aber wir sollten vom schlimmsten ausgehen und vorsorgen. Also sollten wir uns jetzt
gegenseitig untersuchen.“
Der Halbelf nickte, dankend für die Zustimmung.
„Nun gut“, sagte der selbe Krieger, der eben widersprochen hatte, „dann möchte ich aber die Frau
Magierin untersuchen.“ Er lachte.
Alarion schien entweder schlagfertig genug zu sein oder er hatte von den Soldaten etwas
derartiges erwartet: „Ich denke, daß wir die Frau Adepta von dem untersuchen lassen, mit dem sie
auch am meisten vertraut ist!“ Innerlich lächelte er. Irian hätte an der Stelle sicher irgendeinen
gekonnt versteckten Einspruch erhoben, doch er war nicht da, und so konnte der Halbelf seine
Wette ein wenig unterstützen. Außerdem fand er, daß die beiden ein echt schickes Paar abgaben.
Alix und Fiana, denen gerade bewußt zu werden schien, daß sie gemeint waren, erröteten leicht,
blieben aber beherrscht.
„Sie könnte sich ja auch allein untersuchen, wenn wir hier schon keine anderen weiblichen
Mitreisenden haben“, meinte der hartnäckige Soldat.
Alarion lächelte. „Also ich weiß nicht, wie es bei euch Menschen ist, aber wir Elfen haben hinten
keine Augen.“
Die Gruppe lachte und der Krieger fühlte sich leicht beleidigt.
„Nundenn“, meinte Fiana. Alix war ihr auf alle Fälle lieber als einer von diesen Trotteln. Trotz
allem behagte es ihr nicht so recht, sich ihm jetzt nackt zu zeigen.
„Es ist leider notwendig, da wir kein Risiko eingehen wollten“, fügte der Halbelf noch irgendwie
überflüssig hinzu.
Also verschwanden Fiana und Alix irgendwo im Gebüsch. Aber keineswegs mit dem Vorhaben,
was Ihr Euch gerade denkt, lieber Leser!
Irian schritt den leichten Hang hinab zum Strand. Der sandige Boden knirschte unter seinen
Füßen. Er verfolgte seinen Weg zielstrebig und hier im Sand - so fand er - war der perfekte Platz
für sein Vorhaben.
Urplötzlich hielt er mitten im Schritt inne, als zeigte sich vor seinem inneren Auge gerade ein
Bild oder in seinem Inneren ein Geschehnis, was sich an einem anderen Ort abspielte. Dann
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lächelte er und meinte: „Nicht dumm, Alarion, nicht dumm.“ Er ging weiter und schüttelte den
Kopf über die Gewitztheit seines elfischen Freundes.
Aber irgendwie wollte er die Wette auch gar nicht gewinnen.
Sie waren ein ganzes Stück abseits des Lagers. Unweit plätscherte eine Quelle, ein kleiner Vogel
saß sie beobachtend auf dem Ast eines nahen Liebesbaums, der eigentlich aus zwei
gewöhnlichen, aber ineinander verschlungenen Stämmen bestand und nur einige hundert Schritt
entfernt lief das Meer sanft auf die Brandung und machte dabei dieses beruhigende, gleichmäßige
Geräusch, das dafür typisch war.
Fiana und Alix waren in ihrem Inneren allerdings alles andere als ruhig, vielmehr aufgeregt und
durcheinander, doch sie versuchten sich nach außen hin so gewöhnlich wie möglich zu verhalten,
was letztlich aber eher dazu führte, daß beide wußten, die aufgewühlt der andere war. Es waren
gemischte Gefühle, die in ihnen aufkamen. Einerseits wollten sie die Zecken verfluchen,
andererseits empfanden sie den Umstand auch als aufregend angenehm.
Da standen sie nun, leicht zittrig sich kaum in die Augen schauend. „Meinst du hier ist es gut?“,
fragte Alix.
Sie zuckte erst mit den Schultern, nickte dann. „Ich denke, daß wir hier alleine sind.“ Sie
räusperte sich. Der Vogel auf dem Ast legte den Kopf schief und gaffte weiter.
„Tja“, meinte der Magister und räusperte sich ebenfalls, „gehen wir’s an?“
Sie nickte. „Wird wohl besser sein, bevor uns noch das Gleiche passiert wie dem armen Kerl
dort.“
Damit wandte sie sich von ihm ab und begann mit unruhigen Finger ihre Bluse aufzuknöpfen.
Der Vogel auf dem Ast machte mit einem Male große Augen und streckte den Kopf weit nach
vorn. Er zwitscherte kurz auf, aber ohne den Blick von den beiden Fremden abzulassen.
Je weiter sich Fiana entkleidete, um so mehr blieb Alix die Luft weg. Irgendwie war er froh, daß
sie ihm den Rücken zugewandt hatte. Nicht, weil er dadurch sie nicht von vorn sah (was ihn
sicher weniger gestört hätte), sondern weil sie so nicht sah, wie nervös er war.
Als die Elfe die Schnüre ihrer Hose löste, landete ein zweiter Vogel neben dem Spanner. Er
zwitscherte kurz etwas und dann starrten sie gemeinsam.
Der Magister faßte sich einigermaßen, als Fiana nur noch in einer Unterhose vor ihm stand. Er
näherte sich ihr einen Schritt und glitt mit den Fingern langsam über die bleiche, weiche Haut
ihres Rückens. Langsam fuhr er ihr mit der Hand den Rücken hinab, jedes Stückchen Haut und
jede Faser genau betrachtend. Seine Fingerkuppen spürten die leichten Auswölbungen ihrer
Gänsehaut und seine Ohren vernahmen nichts anderes als ihren Atem. Alix strich mit den Händen
über ihre Beine, bis an die Ferse. Dann atmete er aus. Er hatte die ganze Zeit die Luft angehalten
gehabt.
„Du...“, hauchte er, „bist wunderschön.“
Fiana öffnete ihre Augen wieder. „Wie?“, fragte sie unsicher.
Alix erhob sich tief einatmend und meinte dann: „Ich meinte, hier ist keine Zecke.“
Ein dritter Vogel war gelandet. Doch kaum sah er die beinahe nackte Elfe, geriet er ins
Schwanken und kippte vom Baum.
Die anderen beiden Vögel blickten sich an und nickten sich zu. Dann stürzten sie sich vom Ast
und schwebten davon, einen weiblichen Vogel ihrer Art zu suchen.
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Kapitel 16
D
as rötliche Licht der Abendsonne schimmerte über den Bergen Neu-Havenas.
Ein weiterer Tag harter Arbeit war geschafft und die Albernier kehrten sich langsam von ihren Arbeiten ab. Die Baumeister riefen den Zimmermännern und Tischlern ein paar Worte zu, die das Ende der heutigen Arbeit verkündeten. Die Bauern und Holzfäller kamen von den Rodungsflächen und allmählich sammelten sich die Menschen in ihren Zeltunterkünften, an den Anlegestellen der Boote und im „Schankwirt“, der provisorischen Kneipe, die die tüchtigen Frauen und Männer in ihrer Freizeit eingerichtet hatten. Es war eher ein etwas größerer Platz, den man Christophian abgerungen hatte und auf dem aus Kisten und Fässern, ein paar Stühlen und Tischen Sitz- und Eßgelegenheiten geschaffen hatte. Die Leitung hatte ein Teil der „KantinenStaffel“ übernommen, unter anderem Fermor, der erfahrene Schiffskoch, der schon mehr Reisen durch die Meere erlebt hatte, als die meisten Seefahrer. Ihm hatte Verena die Anstellung im „Schankwirt“ zu verdanken. Nachdem Christophian in einer seiner kreativen Phasen ihr die Aufgabe des Ackeranlegens entzogen und einem Perainegeweihten übergeben hatte (der sich vermutlich beschwert hatte, wie man diese Aufgabe ihm nicht hätte von Anfang an zugestehen können), hätte sie eigentlich zurück in die Kantine gemußt, um wieder die mehrere hundert Mäuler zu stopfen. Doch dank Fermor war sie nun hier und hatte eine deutlich abwechslungsreichere und spannendere Tätigkeit. Erst jetzt verstand sie die Faszination des WirtHandwerks. Denn im „Schankwirt“ wollten die Leute nicht nur Trinken und Essen, sie redeten auch über alles und so war Verena immer über alles informiert. Es war ein schöner Anblick sie dort zu sehen, wie sie glücklich und zufrieden etwas nachging, was ihr Spaß machte. Menschen sind immer dann am Schönsten, wenn sie glücklich sind und etwas tun dürfen, zu dem sie geboren sind. Daß ein Mensch in einer solchen Situation noch tausend mal schöner ist als sonst, erkannte auch Zordan. Er saß ganz am Rande des „Schankwirts“, der gut eine Fläche von einem halben Morgen beanspruchte, und beobachtete versonnen die Schankwirtin. Ja, dachte er, es müßte eigentlich „Schankwirtin“ und nicht „Schankwirt“ heißen. Verena macht sowieso alles. Fermor verbringt seine Zeit ja lieber damit, von seinen Reisen zu berichten und experimentelle Mischgetränke anzufertigen. Dennoch bereitete die Arbeit Verena große Freude, auch wenn sie dadurch ziemlich gestreßt wurde. Zordan blickte in sein Glas Premer Feuer und leerte den Rest mit einem Zug aus. Er machte zweifellos keinen glücklichen Eindruck, ganz im Gegensatz zu all den anderen, die hier lachend, schwatzend und Witze reißend im „Schankwirt“ ihren Feierabend verbrachten. Der Blick des Meisterdiebes fiel auf das Schiff, was vor knapp einer Stunde vor Anker gegangen war. Es war die Efferds Zorn, die von ihrer Erkundungsfahrt zurückgekehrt war. Und mit ihr Growin Can Corr! Drei Tage war er weg gewesen und was hatte Zordan getan? Nichts. Und jetzt, wo er da war, aber noch weit genug weg, damit er trotzdem noch einmal ungestört mit Verena reden konnte, saß Zordan trotzdem da und starrte geradeaus. Was war geschehen? Früher hatte er sich doch keine Gelegenheit entgehen lassen. Und heute? Da saß er tagelang da und fristete sein Dasein mit Premer Feuer und ein paar ertragsarmen Taschendiebstählen. Langsam erhob er sich. Er war nicht wie die anderen alle in irgendeine Gruppierung gefallen. Er war weder Bauer oder Handwerker, noch Seefahrer oder Krieger. Außerdem hatte er keine Aufgabe oder Funktion auf dieser Reise, so daß ihn alle links liegen ließen und er den Tag zwar 119
ohne Arbeit, aber dafür auch ohne Vorhaben verbrachte. Neulich, als sie über das Meer der
Sieben Winde gefahren waren, da hatte er sich gefreut, daß er nicht mit den Matrosen arbeiten
mußte; jetzt beneidete er sie irgendwie. Nicht dafür, daß sie sich täglich körperlich verausgabten,
sondern daß sie etwas zu tun hatten, was sie ablenkte und worauf sie sich konzentrieren konnten.
Abrupt erhob sich Zordan. Noch einmal blickte er zu Verena, um denn einer weiteren dieser
vielen ziellosen Spaziergänge durch die neue Siedlung anzutreten.
Growin blieb vor der Tür der Kapitänskajüte der Havenas Stolz stehen. Er hatte seine Rüstung
gegen eine dieser weißen Offiziersuniformen getauscht, die bei den warmen Temperaturen viel
angenehmer saßen und auch einen sauberen Eindruck machten. Unterm Arm trug er ein paar
Schriftrollen, die die Aufzeichnungen enthielten, die die Gelehrten auf der Umrundungsfahrt
gemacht hatten.
Er atmete tief durch und klopfte. Das knappe „Herein“ des Admirals ließ ihn eintreten. Er deutete
einen kurzen Salut an, den Roggunder nur mit einem knappen Nicken erwiderte. Der Admiral war
gerade über eine Karte der siedlungsnahen Umgebung gebeugt und machte an einer Stelle ein
Kreuz. Dann stellte er den Gänsekiel zurück ins Tintenfäßchen und lächelte dem Hauptmann
freundlich entgegen.
„Da seid Ihr ja wieder, Growin!“
Dieser nickte. Zwar lächelte er, doch irgend etwas schien Unbehagen in ihm hervorzurufen.
Vielleicht die Kunde, die er überbringen würde?
„Setzt Euch doch“, meinte Elwick und deutete auf einen nahe stehenden Stuhl. Der Hauptmann
nickte und ließ sich nieder.
„Wie sieht sie denn aus unsere schöne Insel?“, wollte der Admiral wissen. Die Neugier stand ihm
regelrecht in die Züge geschrieben und Growin wollte ihn nicht länger auf die Folter spannen.
„Sie ist wahrhaftig prachtvoll. Das Gebirge wird von mehr oder minder dichtem Waldland
umgeben. Dahinter erstreckt sich – so weit wir von Bord er Efferds Zorn aus sehen konnten –
weite Steppenlandschaft. Erst an der firunsnahesten Spitze, sicher einige Tagesmärsche entfernt
vom letzten Waldgebiet, erstreckt sich ein weiteres, aber viel feuchteres und sumpfartiges Stück
Wald. Wir fanden auch in einer Bucht einen riesigen Felsen, der sogar eine Art Eingang zu haben
schien...“
„Entdecktet Ihr irgendwelche Zivilisation?“, drängte Elwick. Seine Züge waren schlagartig
ernster geworden und Growin sah, daß er sofort eine Antwort wollte und ein Warten oder
Drumherumreden nicht duldete.
„Darüber“, fuhr Growin fort, „wollte ich Euch gerade berichten...“
„Verena?“
Die junge Frau hinter den provisorischen Tresen im „Schankwirt“ blickte auf. Sie füllte gerade
den von Fermor gebrannten Kokosschnaps ab. „Ja?“
Es war einer der Stammkunden. Sie kannte ihn vom flüchtigen Sehen.
„Der Bootsmann ist da“, meinte er lächelnd, „er sucht dich schon. Ich hab ihm gesagt, ich gehe
dich holen.“
Freude stieg in Verena auf. Endlich würde sie Growin wiedersehen!
Es war schon erstaunlich, wie verschieden man ihn sah. Die Soldaten nannten ihn immer den
Hauptmann, die Seeleuter den Bootsmann. Verena sah ihn einfach als ihren Growin.
Fermor, der mitgehört hatte, nickte der Schankwirtin zu. „Wir wollen es mal nicht so eng sehen
mit den Arbeitszeiten.“
120
„Danke“, rief sie und drückte dem alten Schiffskoch einen Kuß auf die Wange. Dann warf sie die
Schürze in die Ecke und folgte dem Mann.
„Wo ist er?“
„An der Anlegestelle, gerade von der Efferds Zorn gekommen“, wußte der Mann zu berichten.
„Die Efferds Zorn? Muß er nicht erst dem Admiral Bericht erstatten?“
Der Stammgast sah sie stirnrunzelnd an. Er verstand ihren Einwand nicht.
„Na der Admiral ist doch immer auf der Havenas Stolz.“
Ihr Gesprächspartner zuckte mit den Schultern und lachte. „Vielleicht war er auch erst beim,
Admiral. So genau hab ich auch nicht hingehört. Jedenfalls will er zu Euch!“
Verena nickte. Genau! Er will zu mir. Und das war auch schön so.
Sie kamen an einigen verlassenen Baustellen vorbei. Um diese Zeit arbeitete niemand mehr an
den Gebäudeskeletten. An einem dieser Häuser blieb ihr Begleiter stehen.
„Was ist?“
Er wandte sich zu ihr um und gähnte herzhaft. „Ach gar nichts.“
Mit einem Mal war ihr, als müßte sie auch gähnen. Nur übermannte sie eine solche Müdigkeit,
daß sie nicht mehr zum Gähnen kam. Sie wollte gerade fragen, was los ist, als Boron sie in seine
Arme zog.
Harion Ui Bennain kam aus seiner dunklen Ecke der Baustelle hervor und nickte zufrieden. Der
Stammgast aus dem „Schankwirt“ strich sich übers Gesicht. Sein Kopf flackerte kurz wie heiße
Luft, dann kam sein wahres Gesicht zum Vorschein: Tulef Winterkalt.
„Saubere Arbeit“, gestand Harion. Er hatte eine Decke mitgebracht und wickelte diese um die am
Boden liegende Verena.
„Ich hoffe Ihr habt Euren Teil des Plans ebenso sauber erfüllt“, meinte Tulef skeptisch, als traue
er dem Prinzen so etwas nicht zu.
„Sie müssen jeden Moment auftauchen.“
Der Magier sparte sich jeden Kommentar, doch seine Miene verriet die Mißbilligung der
Unpünktlichkeit. Doch tatsächlich näherten sich kurz darauf zwei Soldaten mit einem
Handkarren, den man eigentlich dafür nutzte, um schwerere Dinge aus den Schiffsladungen an
Land zu transportieren. Einer der Soldaten salutierte kurz und auf einen Fingerzeig Harions luden
sie den in die Decke gewickelten Frauenkörper auf den Handwagen. Dann legten sie noch ein
paar Decken darüber, die sie in ihrem Wagen mitgebracht hatten.
„Seht Ihr“, meinte Harion zu Tulef. Dieser sagte wieder nichts, dann liefen sie gemeinsam los in
Richtung Anlegestelle.
„Wird uns Growin auch nicht begegnen?“, fragte der Prinz etwas besorgt.
„Nein. Er unterrichtet gerade den Admiral von seinen Entdeckungen.“
„Woher wollt Ihr das so genau wissen?“
„Ich weiß es eben!“, fauchte Tulef genervt und sie entfernten sich vom Ort des Geschehens. Doch
etwas wußte der Schwarzmagier nicht: Daß ihnen eine flinke Gestalt auf sicherem Abstand, jeden
Schatten als Versteck nutzend folgte und sie gebannt beobachtete.
Während der Überfahrt zur Insel versuchte sich Growin innerlich umzustellen. Ihn belastete, was
er dem Admiral erzählt hatte, noch mehr Sorgen machte ihm aber dessen Reaktion. Er erinnerte
sich, daß er auf der Herfahrt das Gefühl gehabt hatte, seine Welt würde sich verändern. Nun war
er sich dem sicher. Er vermutete Ereignisse in naher Zukunft, die sein Weltbild und seine
Loyalität auf eine harte Probe stellen könnten. Denn wenn er die Reaktion des Admirals richtig
gedeutet hatte, würden dessen Vorhaben mit seinem Gewissen in einen Konflikt geraten.
121
Trotz allem versuchte er sich auf etwas anderes zu konzentrieren: Verena!
Die Sorgen könne er sich auch später machen, redete er sich ein. Jetzt wollte er erst einmal sein
Glück mit seiner Geliebten genießen und alles andere vergessen ... auch wenn das Vergessen
nicht so einfach war.
Versonnen blickte er auf die abendliche Siedlung. Überall brannten Feuer zur Beleuchtung. Und
dort wo sie waren, waren auch die Menschen, um sich nach ihrem harten Arbeitstag eine Pause zu
gönnen. Sie wußten nichts von den Vorhaben des Admirals. Sie wußten nicht, was sie auf der
Insel noch so erwartete. Sie wußten gar nichts! Und jetzt verstand der Hauptmann auch, warum
Unwissenheit etwas Erleichterndes und Frieden schenkendes seien konnte.
Das Ruderboot legte an einem der freien Stege an. Man hatte diese gleich als erstes
zurechtgezimmert, weil so das Ausladen der Schiffladungen einfacher war. Abwesend nickte
Growin dem Ruderer zum Dank zu und trat auf das Holz. Seine Schritte klackten auf dem Steg
und wurden erst leise, als sie den feinen Sand unter sich hatten.
Wieder atmete er durch, diesmal aber nicht, weil er etwas bevorstehendes mit Argwohn
betrachtete, sondern weil er die aromatische Luft des Landes genießen wollte. Und tatsächlich
vertrieb der Duft kurzzeitig seine Sorgen und Ängste.
Es war dunkel im kleinen Hafen. Nur entfernt brannten kleine Leuchtfeuer und am Ende des
Steges war eine Fackel an einem langen Brett befestigt, um den fahrenden Ruderbooten die
Position der Anlegestelle zu markieren.
Eine Gestalt huschte durch die Dunkelheit und näherte sich Growin. Er braucht einen Moment,
um zu begreifen wer dort war. Doch als die Gestalt nahe genug kam, erkannte er sie: Es war
Zordan.
„Nein.“ Growin schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde mich jetzt mit dir auf keine Streitereien
einlassen. Ich will...“
„Du wirst wohl“, meinte der Dieb mit sarkastischem, aber ernstem Ton. Die Stimmlage ließ den
Hauptmann aufhorchen, denn Zordan schien es ernst zu meinen.
„Was?“, fragte er verwundert.
„Es geht um Verena, aber nicht so, wie du denkst“, erklärte der Dieb, der sich nur einen halben
Schritt entfernt von ihm selbstsicher aufbaute.
„Was ist mit ihr?“, fragte Growin und es klang beinahe wie eine Drohung.
„Es ist mal wieder typisch du! Immer zur rechten Zeit am falschen Ort!“
Der Hauptmann runzelte die Stirn.
„Während du hier in der Weltgeschichte herumgeschiffert bist hat sie unserer Freund und Helfer
Harion entführt. Und Tulef gleich mit.“
„Wie, was?“ Er war fassungslos.
„Richtig. Sie haben sie verzaubert und weggeschleppt. Und zwar auf die Harion Ui Bennain.“
Entschlossen griff Growin zu seinem Schwertknauf. „Ich werde sofort mit dem Admiral
sprechen. Sie werden sie umgehend frei lassen müssen!“
Zordan schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. „Wie bist du denn drauf? Hast du noch
nichts von den fünf Regeln bei Entführungen gehört?“
„Bitte?“
„Mensch, ich bin ein Dieb, ein Krimineller, ich kenne mich mit so was aus!“
Der Hauptmann hielt inne, hin und her gezerrt zwischen Mißtrauen und Kooperationsbereitschaft.
„Die wären?“
„Regel Nummer eins: Informiere stets so wenig wie möglich Menschen. Je weniger Mitwisser,
um so größer sind deine Möglichkeiten. Regel Nummer zwei: Laß die Entführer im Glauben
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deiner Unwissenheit und spiele die ‚Ich mache alles, damit sie frei kommt’-Nummer! Regel
Nummer 3: Sei den Entführern immer einen Schritt voraus. Weiß, was sie nicht wissen. Suche
ihre Schwächen und nutze sie. Und Regel Nummer vier – eigentlich nur eine Erweiterung von
drei: Habe einen Partner, dem du bedingungslos vertrauen kannst, und der hinter dem Rücken der
Entführer diese überwältigen kann.“
Growin runzelte verwirrt die Schulter über diese beinahe schulisch auswendig gelernte
Erläuterung. „Du scheinst dich ja mit so was auszukennen.“
Zordan lachte verbissen. „Ich hab schon Leute entführt, da warst du nicht mal in der Armee.“
„Du hast Leute entführt?“
„Klar. Die kooperativste Geisel, die ich je hatte, war eine gewisse Jasmina. Sie war Prinzessin in
einem der südlichen Königreiche.“
„Was bedeutet kooperativ?“
„Sie wollte gar nicht mehr weg von mir. Ich mußte sie mehr oder minder gewaltsam ihrem Vater
zurückgeben. Dabei hätte er mich fast gemeuchelt. Aber ich konnte am Tag meiner Hinrichtung
fliehen. Hätte er gewußt, daß ich auf meiner Flucht nicht nur den teuren Diamantring seiner
Tochter, sondern auch ihre Unschuld mit mir nahm, hätte er es vermutlich gar nicht zu einer
Hinrichtung kommen lassen und mich gleich gemeuchelt. Jedenfalls haben weder Jasmina noch
ich die Entführung bereut.“ Er grinste verschlagen.
Growin war nicht zum Lachen zu Mute. „Nun gut. Aber was sollen wir tun?“
„Wie es sie getan haben: Hinter dem Rücken und kriminell. Wir stehlen uns jetzt ein Ruderboot
und setzen über. Dann gehen wir bei der Harion Ui Bennain an Bord und holen sie raus. Hast du
einen besseren Vorschlag?“
„Was ist mit dem Admiral...“
„Der Admiral“, prustete Zordan, „stell dir vor er macht nichts oder er macht es nicht schnell
genug. Dann können wir nichts ungesetzliches mehr machen, weil er sofort wüßte, daß wir es
gewesen wären.“
Das leuchtete ein. Trotzdem erfüllte Growin der Gedanke an Zordans Befreiungsaktion mit
Unbehagen. „Benötigen wir noch irgendwas?“, fragte er unsicher.
Zordan lächelte zufrieden. „Ich hab alles schon in unser Boot geschafft.“
„Unser Boot?“
„Jetzt ist es unser Boot!“
Sie glitten über das dunkle Wasser. Relativ sanft tauchte Growin die Ruder hinein, während
Zordan das Seil an dem Wurfhaken befestigte, mit dem er vorhatte – wie er sagte – die „Festung
zu stürmen“. Dieses nächtliche Vorhaben schien in dem Dieb eine Art Faszination zuwecken,
vermutlich jene Faszination, die ihn ein Leben lang bei seinem „Handwerk“ gehalten hatte.
Growin mußte sich eingestehen, daß es ein Nervenkitzel war, doch er war weniger gespannt
darauf als Zordan.
„Warum eigentlich?“, überlegte er plötzlich laut.
Der Meisterdieb sah auf. „Wie warum?“
„Warum entführen sie Verena?“
Zordan legte das Seil weg und dachte kurz nach. „Entzweien tun sie uns damit nicht. Das müßte
Tulef auch wissen, wenn er so schlau ist, wie er als Zauberer seien sollte.“
„Dann ist es eine Falle“, meinte Growin ernsthaft mit starrem Blick auf die Siedlung, von der sie
sich immer weiter entfernten.
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Zordan nickte, mit einem Schlag nicht mehr so aufgeregt. Ernst und bedrückt griff er wieder nach
dem Seil und prüfte dessen Stabilität, indem er daran zerrte. Er nickte. „Eine Falle.“
Sie schwiegen sich einen Moment an. Je näher sie der Harion Ui Bennain kamen, um so sanfter
machte Growin die Ruderbewegungen.
„Ich glaub ich weiß, wo sie sie festhalten“, sagte er schließlich. Zordan sah ihn fragend an.
„Ich hab mal an Bord dieses Schiffes gedient. Damals hieß es noch Kriegstaube.“
Der Dieb nickte. Sie kamen näher an das Kriegsschiff. Zwar waren sie noch weit genug entfernt,
daß man sie nicht hörte, doch der Hauptmann sprach dennoch in gedämpfter Lautstärke:
„Was ist eigentlich die fünfte Regel?“
Zordan schwieg einen Moment. Er hatte Regel Nummer fünf früher immer für eine Regel für
rondradumme Krieger oder Thore gehalten, doch jetzt erwähnte er seine einstige Einstellung dazu
nicht mehr. Schwermütig hob er den Kopf und sprach: „Wenn die Geisel stirbt, töte alle, die mit
ihrer Entführung zu tun hatten.“
Er versuchte möglichst gelassen zu wirken, doch Harion Ui Bennain betrat deutlich von
Unbehagen gezeichnet die kleine gemütlich eingerichtete Kammer an Bord des Kriegsschiffes,
welches seinen Namen trug. Tulef Winterkalt war das völlige Gegenteil: Er saß in seiner
markanten inneren Ruhe in einem alten Polstersessel und guckte seinem Kräutertee beim
Dampfen zu. Der Magier lächelte leicht als er Harions Unsicherheit erkannte. Immer wieder
erfüllte es ihn mit einer gewissen Befriedigung den Prinzen mit einem gewissen Maß an
Schwäche zu sehen.
„Sie ist in der Kammer“, meinte Harion beinahe beiläufig, als er sich in dem anderen Sessel
niederließ. Doch er hielt keinen Wimpernschlag lang ruhig, sogleich wandte er sich wieder
seinem Verbündeten zu: „Ich halte es trotzdem für töricht sie in die offizielle Arrestzelle zu
stecken.“
„Und wieso?“, erkundigte sich Tulef ohne den Prinzen anzusehen in einem leicht gelangweilten
Tonfall.
„Dort werden sie sie finden. Soll ich die Wachen an Deck verstärken?“
Der Magier schüttelte gelassen den Kopf und griff in aller Ruhe nach seinem Tee. Doch Harion
hielt nichts mehr in seinem Sessel. Er sprang auf und begann nervös auf und ab zu gehen.
„Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir mitteilen könntet, was Ihr im Schilde führt. Ihr seid
so klug und doch geht ihr so fahrlässig mit dieser Sache um.“
Tulef grinste in sich hinein. Er nahm einen Schluck Tee, stellte diesen wieder langsam auf den
Tisch und meinte dann: „Fahrlässig? Aha.“
Der Prinz blieb vor ihm stehen und starrte auf ihn hinab. „Ich dachte wir arbeiten zusammen.
Erklärt es mir!“
Der Zauberer nickte und wartete noch einen Moment, der die Nerven des Bennains zum
Zerreißen spannte. Doch er war kein dummer Mann, so daß er erkannte, daß er die Geduld des
Prinzen nicht überbeanspruchen sollte; schließlich brauchte er ihn noch.
„Nun gut. Ihr erinnert Euch sicher noch an das, was ich Euch nach unserer Ankunft in Neu-
Havena erzählt habe, mein Prinz.“
Dieser nickte und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
„Es ist ein Machtspiel. Und mit Verena haben wir jemanden an der Angel, der eine ganz
entscheidende Rolle im Machtgefüge dieses Unternehmens steht.“
„Growin Can Corr. Und?”
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„Es sollte unsere Bestrebung sein, diejenigen auszuschalten, die Macht besitzen, weil jeder
Machtverlust der gegnerischen Seite für uns einen Machtgewinn darstellen kann.“
Der Prinz pochte ungeduldig auf der Lehne des Polstersessel herum und machte eine fordernd
fragende Geste. „Eure magietheoretische Geschichte um Machtgewinn und –verlust hab ich
schon begriffen. Wie bitte darf ich mir das auf diesen Fall übertragen vorstellen?“
Du hirnloser Gernegroß, dachte sich Tulef und seine Züge verhärteten sich einen Moment lang,
bis es ihm gelang seine Maske der gespielten Gleichgültigkeit wieder aufzusetzen. Die Theorie,
die Tatsache über das Verhalten von Mächten zueinander hatte nicht einen Deut etwas mit Magie
oder Magietheorie zu tun. Mal wieder konnte man den Wissenschatz Harions aus seinen
Äußerungen lesen.
Gerade wegen der Ungeduld seines Zuhörers wandte Tulef eine deduktive Erzählform an:
„Stellen wir uns vor eine Figur mit elementarer Rolle wie Can Corr würde ausgeschaltet werden.
Auch wenn er ursprünglich nichts weiter war als ein fähiger Soldat, so ist er nun eine
Hauptperson in der gesamten Politik der Besiedlung. Er ist Hauptmann, Bootsmann und
ausführende Kraft gleichzeitig, ein Potential, was ihm zweifellos große Macht verleiht, über der
er sich aber – vielleicht glücklicherweise – nicht im Klaren zu seien scheint.“
„Und?“
„Wenn er wegfällt, was glaubt Ihr, wer seine Stelle übernehmen wird?“
„Columb?“, spekulierte Harion halbherzig.
Tulef lachte. „Denkt mal einen Moment nach. Wer wohl?“
Der Prinz lungerte in seinem Sessel herum und guckte Löcher in die Luft und er wartete auf eine
Antwort von dem Magier. Erst einige Momente später blickte er diesen an und rutschte
urplötzlich in eine aufrechte Sitzhaltung. Der Zauberer fixierte ihn die ganze Zeit.
„Ich?“, meinte er ungläubig.
Tulef nickte verschwörerisch lächelnd.
Auch der Prinz grinste plötzlich. „Das nenne ich Machtgewinn... Ihr seid ein kluger Mann,
Winterkalt.“
Der Angesprochene lachte. „Was eine der grundliegenden Tatsachen der dritten Sphäre seien
dürfte.“
Harion freundete sich gerade mit dem Gedanken an, als ihm eine Frage kam: „Wie realisieren wir
das?“
„Das ist einfach“, meinte der Schwarzmagier wie beiläufig, „Er ist auf dem Weg hierher. Wir
lassen ihn an Bord kommen und den Weg zu Verena finden. Ihr holt Eure treuesten Soldaten
erklärt denen das alberniafeindliche Verhalten des Hauptmanns. Dann fangen wir ihn ab und
machen ihn mit seiner kleinen Freundin rum. Der Admiral wird die Geschichte des
durchgedrehten Landesverräters zu hören bekommen...“
„Das glaubt er nie. Er steht recht gut zu Growin.“
„Was spielt das für eine Rolle? Wer sollte ihm denn die Wahrheit erzählen? Und solange er
nichts anderes weiß, wird er auch nichts anderen tun können, als uns die Sache zu glauben.“
Harion nickte und sprang auf. Er eilte zur Tür, um sofort alles in die Wege zu leiten. Die beiden
Soldaten, die Verena hierher gebracht hatten, würden vermutlich nicht reichen. Aber hier an Bord
gab es einige ergebene Idioten, die bedingungslos jeden Befehl eines Bennain ausführen würden.
„Harion!“
Er blieb stehen und wandte sich zu dem Magier um. Dieser starrte wieder auf den Tee. Erst einen
Wimpernschlag später sah ihn dann an und meinte todernst: „Nur wirklich loyale Männer, klar?“
Der Prinz nickte und verließ den Raum.
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Selten war es so gewesen. Selten hatte Zordan die Klinge seines Langdolches so schnell, präzise und ohne nachzudenken an die Kehle eines Mannes gesetzt. Selten hatte er so schnell die Leiche gedankenlos aus dem Weg geräumt und über Bord geworfen und selten war er so schnell wieder im Schatten verschwunden, um einen Moment – nur einen kleinen - abzuwarten und zu schauen, ob sich etwas in der Umgebung regte und ob jemand etwas mitbekommen hatte. Aber es war auch selten so einfach gewesen. Nur drei Wachen an Deck, davon zwei so weit am Bug, daß man es doch wagen konnte sich zur Luke zu schleichen, die unter Deck führte, ohne die beiden Wachen unbedingt ausschalten zu müssen. Growin tauchte hinter ihm auf. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Zweifellos gefiel ihm der Gedanke nicht, seine eigenen Kameraden zu töten oder sie durch seines Verbündeten Hand sterben zu sehen. Ob es die nötige absolute Ruhe oder der Gedanke an Verena war, der ihn dazu zwang den Mund zu halten, war ihm wohl selbst nicht richtig klar. Doch beide hatten sich vorher nicht abgesprochen, mit welchen Mitteln sie vorgehen würden und so versuchte sich der Hauptmann mit dem Gedanken anzufreunden, daß Zordan das Leben albernischer Soldaten nicht allzuviel wert war. Es war erstaunlich, mit welche Gewandtheit und welcher Schnelligkeit der Meisterdieb praktisch geräuschlos auf die Luke zuhuschte und sie vorsichtig öffnete. Langsam setzte er den ersten Fuß auf die Leiter, die abwärts führte, als Growin nachkam. Wie er das letztendlich das Geräusch ausgelöst hatte, was einen der beiden Soldaten hellhörig werden ließ, und wie Zordan die knarrende Diele gemieden hatte, verstand der Hauptmann nicht. Tatsächlich gingen aber die darauffolgenden Ereignisse mit großer Geschwindigkeit vonstatten. Einer der Wachen wandte sich um, Zordan zog noch während dieser in der Bewegung war einen Wurfdolch aus dem Gürtel und schleuderte ihm die Waffe entgegen. Der zweite Wächter wurde erst auf die Eindringliche aufmerksam, als sein Kamerad mit der Klinge des Messer in der Kehle in sich zusammensackte. Dieses verspätete Wahrnehmen Zordans war ein großer Fehler ... der letzte. Die eiserne Klinge eines weiteren Wurfdolches traf den Mann mitten ins linke Auge. Er wollte schreien, doch zu schnell entriß Golgari seine Seele dem Körper und auch er stürzte tot auf das Deck. Growin starrte auf die beiden Toten, dann blickte er zu Zordan. Dieser deutete mit einer für ihn sehr ungewöhnlichen ernsten Miene auf die beiden und machte eine Handbewegung, die dem Hauptmann klarmachte, was er tun sollte. Ein gewisser Schock saß in ihm, nicht nur weil er gerade zwei Genossen hatte blitzschnell sterben sehen, sondern weil er der Dieb in seinen Fähigkeiten wohl immer unterschätzt hatte. Schnell eilte er zu den beiden toten Soldaten, um sie über Bord zu werfen. Sicher würde es sobald jemand hierher kam auffallen, daß an Deck niemand Wache schob, doch zwei Tote waren deutlich verräterischer als ein leeres Deck. Also hiefte er die toten Körper über die Reling und als er sich zur Luke umdrehte war Zordan verschwunden. Hektisch, aber so leise wie nur möglich, folgte Growin dem Dieb. Er hatte Zordan im Boot erklärt, wo er Verena vermutete, so daß er dem Weg seines Gefährten auch ohne ihn zu sehen folgen konnte. Es war ein schmaler Gang, den er zu seiner Zeit auf der Kriegstaube wohl hunderte Male gegangen war. Dieser führte zur Kantine und an ihr vorbei zu den Arrestzellen. Growin hielt diesen Teil für den kritischsten in seiner Befreiungsaktion. Hier kamen eigentlich recht häufig Soldaten vorbei, die von der Kantine in ihre Kojen wollten oder anders herum.
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Und als ob seine Befürchtungen Wirklichkeit wurde hörte er, wie die Tür zur Kantine von innen geöffnet wurde und die Stimmen dreier Männer erklangen. Geistesgegenwärtig stieß Growin die naheliegende Tür auf und verschwand in der dunklen Kammer. Er schloß den Eingang hinter sich und hielt einen Moment ruhig. Draußen vernahm er die Stimmen weiter ungestört über belanglose Dinge reden. Sie passierten die Tür ohne Notiz von irgend etwas genommen zu haben. Der Hauptmann atmete auf, doch im selben Moment vernahm er ein ruhiges, regelmäßiges Atmen. Schlagartig wurde ihm klar, daß dieses schon die ganze Zeit hier bei ihm gewesen war. Erschrocken riß er sein Schwert aus der Scheide und wirbelte herum. Im selben Moment begann eine Kerze wie von allein an zu brennen und offenbarte den Fremden: Tulef Winterkalt, lässig in einen Lehnstuhl gelehnt und den Eindringling musternd. „Soso“, meinte der Magier grinstend, „Ihr seid also doch reingekommen. Wie viele Eurer kameradschaftlich verbrüderten Kameraden habt Ihr dafür zu Boron schicken müssen?“ „Ihr!“, fauchte der Hauptmann den Zauberer an. „Ja, ich bin es und Ihr wüßtet zu gern, warum ich Eure Liebste entführte...“ Der Krieger machte einen großen Schritt auf den Feind zu. „Nein“, meinte er kopfschüttelnd, „ich will es nicht wissen!“ Mit einem kräftigen Schlag mit der Fläche der Klinge gegen den Schädel des Magiers schickte er Tulef schlagartig in Borons Arme. Der Schwarzmagier sackte praktisch im selben Moment reglos zusammen. Growin nickte. Er hatte sich nicht auf ewiges perverses Diskutieren mit diesem Wahnsinnigen einlassen wollen. Jetzt mußte er erst mal Verena hier rausholen. Eilig stürzte er hinaus auf den Gang. Kampfeslärm! Ein Schrei kam ihm entgegen und sofort wurde ihm klar, daß dieser von Verena kam. Sturmartig rannte er zu den Arrestzellen, doch bevor er diese überhaupt erreichte, fiel ihm Verena entgegen. Einige Schritt hinter ihr, beim Eingang zu den Zellen, sah er Zordan. Zwei Soldaten hieben mit Schwertern auf ihn ein, während er immer wieder versuchte auszuweichen und mit seinem Dolch blitzschnelle Attacken austeilte. Drei weitere Soldaten kamen gerade in diesem Moment aus einer Tür, die sich zwischen Growin und dem Kampfgeschehen befand. Doch diese wollten nichts von dem Dieb, sondern von dem Hauptmann. „Bring sie hier raus!“, kreischte Zordan verbissen. Growin dachte nicht nach. Er schleuderte dem ersten Angreifer das Schwert entgegen und nahm Verena auf die Schulter. Sie gab ein quiekendes Geräusch von sich, doch der Krieger hielt nicht inne. Der letzte Blick auf das Kampfgeschehen, bevor er sich entgültig davon abwandte zeigte ihm, wie eine Klinge auf Zordan herabsauste und ihn schwer am linken Arm zu verletzen schien. Er schrie auf, sah Growin mit Verena auf der Schulter und brüllte: „Raus, du Spinner!!!!!!“ Von nun an rannte der Hauptmann. Ein Matrose, der ihm entgegenkam wurde überrannt und er eilte die Sprossen der Leiter herauf. Erst an der Reling setzte er Verena ab. Sie sah ihn völlig verzweifelt an. Hinter sich vernahm er die Schritte der drei Verfolger. „Spring!“, rief Growin und wirbelte herum, um sich den Angreifern zu stellen. Diese kamen, voll gerüstet, mit Langschwertern bewaffnet, auf ihn zugestürmt. In diesem Moment durchflutete ihn die Erkenntnis, daß er unbewaffnet gegen sie nichts ausrichten konnte. Und wer würde Verena an Land bringen? Er war Rondraanhänger, er lebte für den ehrenvollen Tod, doch in diesem Moment erkannte er, daß die Gebote seiner Göttin nicht nur seinen Tod, sondern auch den seiner Geliebten bringen würde. Er war bereit zu sterben, aber er war nicht bereit Verena sterben zu lassen.
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Und das brachte ihn zu der unrittlerlichen Entscheidung der Flucht. Mit einem Satz war er über der Reling und landete klatschend im kühlen Wasser. Verena war gleich neben ihm und umschlang ihn erst einmal. „Growin!“, sagte sie. Er sah das Ruderboot, mit dem er gekommen war, und sogleich schwammen sie gemeinsam darauf zu. Zu zweit waren sie gekommen, um eine dritte zu holen. Zu zweit kehren sie auch nur zurück. „Buarh!“, machte Tulef. Er brauchte einen Moment, um mitzuschneiden, was Harion von ihm
wollte, der wild vor ihm herumhampelte. Sein Kopf dröhnte wie von einem Zyklopen
durchgeschüttelt und er hatte Mühe sich zu orientieren.
„Sie sind weg!“, schrie der Prinz in einer Mischung aus Panik und Unverständnis.
„Wer?“
„Can Corr und die Frau!“
„Ups.“ Der Magier erhob sich, taumelte und sackte auf den Stuhl. Dieser elendige Growin hatte
ihm einen gewaltigen Hieb versetzt.
„Was tun wir?“, fragte der Prinz hektisch, „Was ist mit dem Admiral, wenn er es erfährt, was...“
„Schnauze!“, donnerte Tulef so sehr, daß ihm der Kopf noch mehr weh tat.
Er versuchte sich zu sammeln, seine Gedanken zu ordnen. Harion sah ihn erwartungsvoll, aber
endlich ruhig, an.
„Mein Kopf tut mir weh“, stellte der Magier mit atemberaubender Diagnostik fest. Wieder erhob
er sich und stand diesmal aber – wenn auf etwas wacklig - gerade auf den Füßen.
„Wie sieht’s sonst aus?“
„Die drei Wachen an Deck sind vermutlich tot und über Bord gegangen. Dafür haben wir diesen
kleinen, dreckigen Dieb.“
Tulefs Miene hellte auf. „Oh.“
Zordan war an einen Stuhl gefesselt und befand sich, wenn er sich nicht sehr irrte, in der
Arrestzelle, aus der er Verena befreit hatte. Die Angreifer hatten ihn tatsächlich überwältigt. Die
Wunde am linken Arm war recht tief und blutete vor sich hin. Der ganze Ärmel war naß, doch er
sah das Blut in der Dunkelheit nicht. Dennoch verriet der Schmerz, daß die Feuchte an seinem
Arm wohl eher kein Wein war.
„Dämonenscheiße“, meinte er zu sich selbst. Er war in einer echt schlechten Lage.
„Aber was soll’s“, machte er sich Mut, „Ich hab ja schon aus schlimmeren Situationen
herausgefunden. Hier find ich auch irgendeinen Ausweg.“ Er kniff die Augen zusammen und
versuchte vergeblich irgend etwas zu finden, was ihm bei seiner Flucht verhelfen könnte.
Schritte. Dann wurde das Schloß aufgeschlossen.
Das Licht der Laterne, die der junge Bennain trug, ließ Zordan erkennen, daß die beiden Besucher
Winterkalt und der Prinz waren. Durch das Licht sah er auch, wie schlimm sein Arm wirklich
aussah. Das dunkle Blut hatte den ganzen Ärmel in die tiefrote Farbe getränkt und trat immer
noch aus der Wunde aus, wo der Stoff von dem Stahl zerrissen war.
„Wen haben wir denn da“, begann Tulef mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. Dem
Meisterdieb entging nicht, daß er seltsam schwankte. Vermutlich war der Kampf auch an ihm
nicht spurlos vorbeigegangen.
„Den Helden des Tages“, gab Zordan zurück, „die werden mich zum Vizeadmiral ernennen,
wenn ich hier raus bin!“
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„So?“, lachte Tulef. Zordan nickte. „Deshalb solltet Ihr Euch auch um meine Wunde kümmern“, beschwerte er sich, „sonst könnte ich Euch negativ in Erinnerung behalten und als Vizeadmiral...“ Der Schwarzmagier machte einen Satz auf den Gefesselten zu und schlug ihm mit der Faust auf die Wunde. Zordan schrie auf, als der Schmerz seinen Körper zerreißen zu schien. Er brauchte einige Wimpernschläge, um den fürchterlichen Schmerz zu bändigen und konnte erst dann seinem Peiniger die wüstesten Beschimpfungen entgegenschleudern. Tulef amüsierte das sichtlich. Er schritt um den Dieb herum und lauschte gelassen der Ausführung von Schimpfworten des hilflosen Opfers. Als er einmal um Zordan herumgelaufen war, schritt er auf Harion zu und zog diesem sein Schwert aus dem Gürtel. Dann setzte er es in einer schnellen Bewegung dem Gefesselten an die Kehle. „Schweig!“, zischte er wütend. Einen Moment herrschte Stille. Dann ergriff der Magier das Wort: „Du hast den falschen Weg gewählt, Schattenläufer. Abgesehen davon, daß ich euch Phexenssöhne sowieso verabscheue, mußtest du auch noch den Fehler machen deine phexischen Mittel gegen mich einsetzen zu wollen. Das war unklug, wie du jetzt unschwer feststellen kannst. Bereust du es?“ Zordan funkelte Tulef zornig entgegen und zischte: „Du wirst das hier bereuen, du nekromantische Karkalacke. Wenn das hier vorbei ist werde ich dich eigenhändig in die Niederhöllen schicken!“ Tulef hielt einen Moment inne und grinste dann. „Nein“, meinte er mit furchterregender Ruhe, „das wage ich ernsthaft zu bezweifeln.“ Er nahm das Schwert von der Kehle und wandte sich Harion zu. Dann wirbelte er urplötzlich herum und trieb die Klinge in Zordans linke Brust. Die Rippen splitterten und der Stahl durchstach die Lunge des Diebes. Diese riß schmerzerfüllt die Augen auf und stieß einen erstickenden Schrei aus. Das Blut sprudelte aus seiner Brust und stieg ihm in den Rachen. Er bäumte sich soweit es die Fesseln zuließen auf und röchelte. Mit einem Ruck zerrte Tulef das Schwert aus dem Körper und dieser sackte nach vorn zusammen. Blut tropfte aus seinem Mund und fiel auf die Brust, wo es in einem roten Strom seinen Körper herabfloß. Harion starrte entsetzt auf das Bild, was sich ihm bot. Der Dieb hing blutüberströmt in seinen Fesseln und zuckte ein letztes Mal. Tulef wandte sich zufrieden zu ihm herum und drückte ihm die blutige Klinge in die Hand. „Soviel dazu“, meinte er lächelnd. Dann verließ er den Raum.
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Kapitel 17 „
D
as ist nicht Euer Ernst?!“
So entgeistert, wie Growin Admiral Elwick anstarrte, hatte er lange nicht mehr dreingeschaut. Roggunder hingegen blieb ruhig und gelassen, gerade so, wie es eine Führungsperson seien mußte, um sowohl seine Autorität als auch seine Glaubwürdigkeit zu wahren. „Doch, Growin, das ist es.“ „Aber es ist Mord! Eiskalter Mord!“ Einen Moment lang fixierte der ältere Mann seinen Untergebenen, der nicht mehr so militärisch stramm stand, wie am Anfang dieser Besprechung. Vielmehr zeigte Growin seine inneren Regungen und Gefühle auf eine Art und Weise, die der Admiral von ihm noch nie zu Gesicht bekommen hatte. „Und wie soll ich Eure Handlung nennen? Notwehr?“ Growin versuchte sich zu sammeln. „Bitte“, meinte er beschwörend, „was hätten wir denn tun sollen? Verena war in Gefahr und ehe wir mit dem Entscheidungsapparat etwas unternommen hätten, hätten sie ihr sonst etwas antun können.“ Verwundert sah Elwick auf. „Ihr haltet unseren Entscheidungsapparat für zu träge?“ „Nein“, wies Growin den Vorwurf zurück, „nur sind wir hier nicht auf dem Schlachtfeld, wo jeder Befehl nur wenige Wimpernschläge braucht, um überbracht zu werden. Ehe ich bei Euch gewesen wäre, sich die entsprechenden Truppen gesammelt hätten usw. hätte es zu spät seien können. Wir mußten handeln!“ „Und dabei drei unserer Männer töten?“ Elwicks Stimme war anklagend und vorwurfsvoll geworden. Growins freie Entscheidung und seine beinahe aufrührerische Stellungnahme schienen ihn unangenehm zu berühren. Doch auf diesen Punkt hatte der Hauptmann trotzdem keine Antwort. Die drei Menschenleben zu opfern war auch seiner Ansicht nach nicht ganz vertretbar; somit konnte er den Admiral zumindest in dieser Hinsicht verstehen. Dieser erhob sich und trat an den Hauptmann heran. Er hatte sich gesammelt und seinen Groll verborgen und wieder seinen väterlichen Tonfall gewählt. „Growin“, begann er langsam, „ich denke Ihr mißversteht meine Absichten. Ich kann es verstehen, daß Ihr Verena befreien wolltet und ebenso wie es sicher auch die Zwölfe tun, empfinde ich große Anerkennung für Eure Motive. Dennoch kann ich die Aussagen einen Prinzen, eines Gelehrten und einiger Unteroffiziere nicht einfach ignorieren, erst recht nicht, wenn sie übereinstimmend sind. Und diese Aussage meint nun mal, daß dieser Zordan und Ihr sich gewaltvoll Zutritt zur Harion Ui Bennain verschafft haben. Selbstverständlich bin ich mir darüber im Klaren, daß die Aufführung des Grundes der Bemächtigung von Waffen reine Mutmaßungen, wenn nicht gar üble Unterstellungen sind.“ Growin nickte. Es war töricht zu behaupten, er habe die Waffenkammer plündern wollen. „Auch weiß ich“, fuhr der Elwick fort, „daß all diese Aussagen sehr fraglich sind und nach meinem Empfinden nicht der Wahrheit entsprechen. Dafür kenne ich Euch zu lange. Dennoch müßt Ihr meine Lage verstehen: Auch Ihr habt unrechtmäßige Dinge von nicht zu gering einzuschätzender Bedeutung begangen, einmal ganz unabhängig von Euren durchaus verständlichen Gründen. Wenn ich also jetzt Adeptus Winterkalt und den Prinzen zur Rechenschaft ziehe - den Prinzen, stellt Euch das mal vor! - so müßte ich das auch mit Euch tun. Versteht Ihr?“ 130
Der Hauptmann nickte erneut. Er verstand den Einwand. „Der Punkt ist, daß ich Euch nicht schaden möchte. So seltsam es auch klingt, aber Euch zu liebe werde ich die Sache einfach auf sich beruhen lassen. Denn ich möchte Euch in der Schlüsselposition der ausführenden Macht behalten, denn Ihr seid wahrlich ein guter Soldat und talentierter Führer. Und vor allem kann ich Euch vertrauen. Ihr seid der beste Mann auf dieser Mission!“ Mit einem Male nahm Growin wieder Haltung an. Mit fester, entschlossener Stimme formulierte er die Worte, die seine Zukunft enorm verändern konnten: „Dann möchte ich vor den Praiospriester geführt werden und meine gerechte Strafe bekommen, wenn dies die einzige Möglichkeit ist Zordans Andenken in Ehren zu halten und seinen Mördern die Strafe zukommen lassen.“ Elwick stutzte. Er war beeindruckt. Während dieses Gesprächs hatte er die aufrührerische Laune des Hauptmanns für real gehalten, doch offenbar waren die Grundzüge seines Handelns viel mehr immer noch die Ehre und die Tugend. Das gefiel ihm. Denn wer für eine unwichtige Person wie Zordan, nach der kein Mensch daheim in Havena gefragt hätte, den Kopf hinhielt und diesem dabei nicht einmal wirklich half, dessen Wesen war zweifellos mit Mut und Ehre erfüllt. „Nein“, sagte er knapp und ging zurück zu seinem Sessel. Growin starrte ihn mit großen Augen an. „Denkt einmal etwas weiter als nur Euer persönliches Schicksal. Wer würde Eure Stellung einnehmen? Da blieben Christophian, der zwar ein ausgezeichneter Organisator ist, doch dem Macht wohl eher wenig bedeutet. Er würde sich nie um diesen Posten bemühen und überhaupt wäre er nicht entfernt fähig genug, um seine Projekte und Ideen auch selbst durchzusetzen. Und wer bleibt außerdem? Der Prinz natürlich! Und der wird sich sofort um diese Position reißen und wie sollte ich denn seine Ablehnung begründen, wenn ich doch keinen besseren Mann habe?“ „Es gibt Offiziere...“ „Growin“, meinte er ruhig, „denkt einmal realistisch. Keiner dieser Offiziere ist zu so etwas in der Lage. Sie können ganze Regimenter auf dem Schlachtfeld führen oder Schiffe kommandieren, doch Eure Aufgabe schließt viel zu viele Gebiete ein, denen man lernfähig und offen gegenüberstehen muß, weil man ja nichts verwirklichen kann, wenn man nicht weiß wie und womit. Man braucht Erfahrung dafür und die habt Ihr Euch in kürzester Zeit angelernt. Es gibt keinen besseren Mann als Euch!“ Elwick machte eine Pause und atmete einmal schwer. Dann fuhr er mit der selben Ruhe wie am Anfang dieser Unterredung fort: „Und aus diesem Grund werde ich Euch weder vor ein Gericht stellen, noch den Posten einem anderen überlassen. Ich fälle die Entscheidung für Euch zu Euren Gunsten, wenn auch gegen Euren Willen. Das wäre es dann. Wegtreten!“ Hoch konzentriert mit zusammengekniffenen Augen saß Irian im Sand. Die Geräusche der Welt um ihn herum waren für ihn verstummt, unmerklich. Doch jetzt, wo er langsam die Augen öffnete und verschwommen die Welt vor sich wahrnahm, spürte er sogar den Schweißtropfen, der seine Stirn hinabrann. Allmählich kehrten seine Orientierung und seine Wahrnehmung zurück und das erdrückende Gefühl starker arkaner Kräfte, die gebündelt durch seinen Geist ihre Manifestation in dem Etwas dort vor ihm fanden, schwand wieder. Er lächelte zufrieden. Was dort vor ihm in der Luft schwebte hatte weder feste Konturen, noch war es wirklich körperlich. Es war durchsichtig und bewegt, weder wirklich da noch nicht 131
vorhanden. Doch der Magister kannte dieses Wesen. Es war nicht das ersten Mal, daß er die
elementaren Urkräfte zu Hilfe holte, immerhin war das etwas, was er auf seiner Akademie in
Punin vor vielen Jahren speziell gepaukt hatte.
„Hallo“, meinte der Magier zu dem Dschinn.
„Hi“, antwortete das Elementarwesen flapsig, wie es es so an sich hatte.
Irian blickte sein Gegenüber verständnislos an, war ihm diese Begrüßungsformel doch noch nie
untergekommen. Es war nun einmal so, daß die meisten Magier ihr Leben lang stets den selben
Dschinn riefen und – wie sollte es anders sein – Irian hatte einen ganz besonderen Charakter
erwischt.
„Ich hab mal wieder ein kleines Problem...“
„Wie immer, wenn du mich rufst“, warf der Dschinn ein, „ich kann mich nicht daran erinnern,
daß du mir deine arkane Kraft auch nur ein einziges Mal ohne Gegenleistung überlassen
hättest...“
„So ist das Gesetz der Welt“, erklärte der Magister ruhig, „du lebst von meiner arkanen Kraft und
ich manchmal von deiner Hilfe. Ich sehe keinen Grund dieses Verhältnis zu ändern...“
Er grinste plötzlich. „... zumindest nicht zu meinen Ungunsten.“
„Ist gut, worum geht es?“
Innerlich beruhigte sich der Magister. Auch wenn er nach all den Jahren die Zauberformel zur
Beschwörung eines Dschinnes beinahe perfekt beherrschte, so war die Kooperationsbereitschaft
dieser Elementare stets von ihrer Laune abhängig. Heute schien es ihm wohl gesonnen zu sein.
„Ein Transport. Aber einen ruhigen, ohne Sturzflüge und Saltos.“
„Ach den Spaß willst du mir auch noch rauben?“
Es ist ein Urtraum aller Menschen: Das Fliegen. Schon so lange Menschen denken können wünschen sie sich so frei wie die Vögel bewegen zu können und denken sich dafür manchmal abenteuerliche Konstruktionen aus. Wir hatten es einfacher und ja, wir flogen. Irian hatte es vollbracht: Es war ihm gelungen einen Dschinn der Lüfte zu beschwören, mit dessen Hilfe die Überquerung des Meeresarmes nicht nur eine Leichtigkeit, sondern sogleich ein einmaliges Erlebnis wurde. Denn welcher Aventurier fliegt in seinem Leben schon einmal auf einem Dschinn? Sicher die wenigsten. Doch wir taten es. Wir flogen sozusagen auf der Luft durch die Luft, denn das Wesen bestand tatsächlich aus nichts anderem als aus reiner Luft, die wohl irgendwie konzentriert ein zusammenhaltendes Geschöpf bildete, was in der Lage war, selbst so viele Menschen wie uns gleichzeitig zu transportieren. Auch wenn die abergläubigen Albernier erst die Autorität des weisen Magisters forderten, rangen sie sich dann doch zu der einfachsten und besten Möglichkeit zur Überquerung des Wassers durch: Den Flug. Irgendwann habe ich einmal gehört Irians Dschinn sei ein sehr eigensinniger und verrückter; vielleicht Bestimmung, daß den so (früher natürlich noch viel mehr) abenteuerlustigen Irian dieses Schicksal ereilte. Aber manchmal konnten die Launen wohl wirklich unangenehm werden. Vielleicht ist es auch nur Legende und eine von den vielen Geschichten, die sich um den geheimnisvollen, aber dennoch wohl mit ewiger Jugend im Herzen gesegneten Magier ranken, jedenfalls tat der Dschinn diesmal nichts ungewöhnliches und brachte uns sicher und wohlbehalten an den Strand. Dort setzte er uns nach einer sanften Landung ab und löste sich sogleich wieder in dem Element auf, aus dem er bestand. Ein weiteres Hindernis war überwunden.
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Während die drei Magier und die Geologen das Lager im von der Sonne gewärmten Sand herrichteten, machten sich die drei Soldaten und interessanterweise auch Alarion an die Erkundung der näheren Umgebung. Die Krieger taten es wohl eher aus Routine, um „das Lager zu sichern“, doch Alarion schien von einer inneren Unruhe getrieben Anhaltspunkte zu finden für etwas, was es vermutlich gar nicht gab. „Wegen was macht er sich denn so einen Kohlkopf?“, fragte Alix, der gerade mit seinem Haumesser etwas Holz geschlagen hatte, damit sie am Abend auch ein Feuer und damit Licht hatten. Irian zuckte mit den Schultern. „Er hat wohl eine Art Prophezeiung empfangen, obwohl ich nicht sicher bin, daß es wirklich eine ist.“ Einen Moment lang hielt Alix abrupt in seiner Bewegung inne. Er erinnerte sich an die Vision, die Efferd ihm einst gesandt hatte. Die Erwähnung von Alarions Offenbarung lenkte seine Gedanken sofort auf sein Erlebnis. „Meinst du die blöden Albernier werden zum Güldenland wollen?“, fragte er ungewollt grob. Einer der Geologen sah auf, ersparte sich aber einen Kommentar. Fiana mischte sich ein. „Möglicherweise. Aber auch sie wissen von Efferds Gesetz und sie wissen, daß er kein Schiff aus dem Güldenland zurücklassen wird.“ „Ich denke nicht, daß es miteinander zusammenhängt“, erklärte Irian rasch. Die beiden sahen ihn fragend an. Schließlich fügte er noch hinzu: „Ist so ein Gefühl.“ Sie nickten. Auf Irians Gefühl war für gewöhnlich Verlaß. Ein Kreischen. Sofort schreckten die, die im Lager waren hoch. Es war Alarions Stimme und seine Stimme war von Verzweiflung und Panik geprägt. Es war nur eine Frage von Wimpernschlägen, bis Alix und Irian Seite an Seite ins Dickicht stürmten, in die Richtung, wo der Schrei hergekommen war. „Nein!“, heulte der Halbelf durch den Wald. Sie liefen schneller, angetrieben von Besorgnis und Hilfswillen, schließlich nannten beide Alarion einen Freund. Als sie zu ihm kamen, kniete er kraftlos vor einem an einen Baumstamm gezimmerten Schild, auf dem in perfekten Garethie folgender Spruch eingraviert war:
Vergeßt mich nicht, wohin ich geh’ so weit, so weit, so weit ist die See! In diesem Moment verstand nur einer von den Hinzugekommenen und das war Irian. Selbst der sonst so beherrschte Magier stand nun sichtlich zerrüttet mit offenem Mund da und gaffte auf die Schrift. Alarion kniete verzweifelt auf dem Boden und stützte sich mit den Händen ab. Er sank zusammen und schaffte es gerade noch sich herumzudrehen und am Stamm des Baumes Halt zu finden. Plötzlich begann er wie wahnsinnig zu lachen. Er lachte seinen ganzen Frust, seine Angst und seine Machtlosigkeit heraus und in Gedanken spottete er sich, den Ereignissen und der Zukunft. Seine Blicke suchten Irians und verrückt lachend meinte er: „Und du sagst mir, ich soll mir keine Sorgen machen?“ Er lachte und sein Lachen wandelte sich in Schluchzen und die Verzweiflung und die Erwartung des unabwendbaren Unbekannten gewannen wieder die Oberhand.
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„Für jeden von uns sehen die Zwölfe ein anderes Schicksal vor. Und ganz gleich wie uns unser Weg auch beschieden seien mag, so reichen sie uns immer wieder die Hand, um uns auf den Weg der Gerechten zu bringen. Ob wir diese Hand annehmen oder überhaupt die Gabe besitzen sie zu erkennen hängt von uns ab. Die einen tun es, die anderen nicht und irgendwie finden wir alle unsere Bestimmung in der Zeit, die uns auf dieser Seite des Nirgendmeeres vergönnt ist. Den einen trifft es eher, den anderen später, doch irgendwann entscheidet der barmherzige dunkle Gott, daß es Zeit ist zu gehen. Mag sein, daß wir den Sinn in seinem Tun nie wirklich verstehen, aber was wären wir auch, wenn wir Götter verstünden?“ Eine kurze Atempause. „Wenn ein Mensch von uns geht, so ist es stets eine schmerzhafte Erfahrung für alle Beteiligten. Und um so größer ist der Schmerz, wenn wir nicht verstehen, warum die Zwölfe ihn gerade jetzt zu sich holten und wenn die Umstände seines Dahinscheidens nicht schlüssig geklärt werden können. Doch ganz gleich ob wir Kenntnis darüber haben oder nicht, der Schmerz bleibt stets der gleiche; und lange verfolgen uns Schmerz und manchmal auch Schuldgefühle, doch wir können uns mit dem Gedanken trösten, daß unser Freund nun in einer besseren Welt ist und zweifellos in einem der zwölfgöttlichen Paradiese in Alveran die Wonnen erfährt, die keinem Sterblichen auf Dere je vergönnt seien werden. Auch wenn es unglaubwürdig erscheint, so ist der ungeheure Schmerz, der jetzt die Fasern unseres Geistes berührt und an ihnen nagt und zehrt, nicht von Dauer und wie alles wird auch er schwächer werden und irgendwann den Menschen Freiheit und Glücksseligkeit wiedergeben durch das Heilmittel, was selbst die tiefsten Seelenwunden zu kurieren mag: Das Vergessen. Und so laßt uns beten, um das Vergessen des Schmerzes und um die schönen Erinnerungen an den Verflossenen. Möge eines Tages euer geistiger Schmerz der Vorfreude weichen; der Vorfreude auf das Wiedersehen.“ Damit schloß der Boronpriester seine Rede. Es war eine außergewöhnliche Rede, auch wenn sie nur im Kreise weniger Anwesender gehalten worden war. Denn es war eine große Seltenheit, daß ein Borongeweihter eine längere Rede hielt, die etwas anderes enthielt als Gebete. Doch mit dieser persönlichen Rede hatte der junge Geweihte (der sich freiwillig bereit erklärt hatte Zordans Grabrede zu halten, während seine älteren Glaubensväter die Beerdigungen der Soldaten vorgezogen hatten) den wenigen Menschen, die wirklich Schmerz und Trauer fühlten, sehr geholfen und wie ein Balsam hatten sich seine ruhigen Worte über die Erinnerungen der letzten Tage gebreitet. Verweint hob Verena den Blick. Das warme, mitfühlende Lächeln des Geweihten war wie ein Sonnenschein in ihrem so zerrütteten und todtraurigen Inneren. Einen kleinen Wimpernschlag lang lächelte auch sie, ohne wirklich zu wissen warum. Ihr Blick sank wieder auf das schlichte Grab, was Zordans sterbliche Hülle beherbergte, und sie schluchzte. Es waren wirklich wenig Trauernde gekommen. Wer hätte auch kommen sollen? Wer trauerte hier schon um Zordan, den Dieb, den unwichtigen Taugenichts, der nichts wirklich Produktives auf der Expedition vollbracht hatte. Die komplette militärische Streitmacht hatte – über die Offiziersschaft als Sprecher – verlauten lassen, daß sie um keinen Preis zur Beerdigung dieses „verfluchten Hundesohnes“ erscheinen würden. Admiral Elwick war klug genug gewesen seine Untergebenen nicht dazu zu zwingen, denn er wollte sich so weit von Zuhause nicht auf eine Machtprobe mit dem größten Machtmittel – nämlich der Armee – einlassen. Somit war nur er erschienen und mit ihm Christophian Columb; und auch der Prinz und Adeptus Winterkalt. Growin erkannte die Provokation in dieser Handlung und vermied daher möglichst jeden Kontakt mit den Beiden, auch wenn er sie liebend gern gepackt und verprügelt hätte.
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Der Boronpriester weihte das Grab und die offizielle Zeremonie war beendet. Langsam bewegten sich die wenigen Anwesenden. Christophian wechselte einige bewegte Worte mit Elwick und auch Harion und Tulef schienen sich zu verständigen; jedoch machte diese Unterredung eher den Eindruck einer Lagebesprechung. „Wie geht es dir?“, fragte Growin vorsichtig. Verena, die er in seinen Armen hielt, schniefte. „Wie soll es mir wohl gehen? Hundeelend, was denkst du? Zordan...“ Sie deutete zitternd auf das Grab. “… er starb für mich und die letzten Worte, die ich mit ihm gewechselt habe, war die Unterstellung er hätte nichts anderes im Sinn als mich zu verführen.“ Growin schloß sie fester in seinen Arm. „Ja“, meinte er beherrscht, „aber sicher versteht er es jetzt. Er sitzt jetzt gerade in Alveran und schaut auf uns herunter und wünscht sich, daß du glücklich bist.“ „Wie sollte ich das?“, schimpfte sie, „Ein Mensch, den ich schlecht behandelt habe, hat sein Leben für mich gegeben und ich soll darüber glücklich werden? Er ist tot! Tot, verstehst du das!“ Sie brach in einen Weinanfall aus und krallte sich noch fester an Growin. Dieser erinnerte sich noch einmal seine Erinnerungen an Zordan. Anfangs hatten sie nichts miteinander zu tun gehabt, sie hatten sich ignoriert, aber nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Unkenntnis voneinander. Später dann, als sie sich beide begannen für Verena zu interessieren, brach beinahe eine offene Feindschaft aus. Erst als der Mensch, den sie vermutlich beide liebten, in Gefahr kam, wurden sie beinahe Blutsbrüder. Und ja, Zordan mußte Verena geliebt haben, ganz gewiß. Je mehr Zeit vergeht, um so mehr werden nur die guten Erinnerungen an ihn übrig bleiben dachte Growin. Und es war richtig so. Man sollte die Toten immer in Ehren halten und ihre guten Seiten in ewiger Erinnerung bewahren. Er blickte auf und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Nein! Es waren Tulef und Harion, die auf ihn und Verena zukamen. Das konnte praktisch nur Ärger bedeuten! Er wußte auch gar nicht, wie er Verena vorwarnen sollte, doch ehe er irgend etwas tat, waren die beiden schon da. „Entschuldigt“, meinte Tulef mit spürbar gespieltem Mitgefühl, „wir wollten beide unser größtes Mitleid aussprechen, wir...“ „Ihr!“, fuhr Verena den Magier an und dieser zuckte überrascht ein Stück zurück. „Ihr allein habt den Tod Zordans zu verantworten und wenn Albernia schon nicht in der Lage ist Euch Eurer gerechten Strafe zu unterziehen, so werden es die Zwölfe tun oder ich! Wendet mir bloß nie den Rücken zu!“ Sie hatte es in verzweifelter Wut ausgerufen und selbst Elwick, der ein ganzes Stück entfernt stand, war darauf aufmerksam geworden. Harion reagierte zuerst. „So?“, meinte er arrogant-spöttisch, „Da fürchte ich mich ja schon unheimlich. Ihr vergeßt, mit wem Ihr redet. Ein Wort von mir und Ihr...“ „Schweigt!“, donnerte Growin mit einem Male. Er ließ Verena los und schob sich an ihr vorbei auf den Prinzen zu. Nur wenige Halbfinger trennten nun das grimmige Gesicht des Hauptmann und die spöttische Fratze des Bennain. „Bevor die Segel sich gen Heimat setzen“, prophezeite er mit leiser, aber furchterregender Stimme, „werdet Ihr mein Schwert aus Euren Gedärmen ziehen müssen und wenn ich dafür den Rest meiner Tage in den Niederhöllen verbringen muß! Das schwöre ich bei den Zwölfen, bei meiner Ehre und bei meiner Liebe!“ „Meiner Liebe“, wiederholte Harion witzelnd. Mit einem Male wurde er von Growin mit einem kräftige Schupser beiseitegestoßen er stürzte rückwärts zu Boden. Tulef machte einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sich und den erzürnten Hauptmann zu bringen, doch er griff nicht in das Geschehen ein. Ein scheinbar amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. 135
„Komm, Verena“, sagte Growin und nahm ihre Hand, „wir gehen!“ Damit schritten sie zwischen
den beiden hindurch und gingen mit raschem, aber beherrschten Schritt davon.
Der Prinz starrte fassungslos den Magier an. „Warum habt Ihr mir nicht geholfen?“, schimpfe er
wütend.
„Ich?“, meinte Tulef und nun konnte er sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, „wie sollte ich?
Sollte ich ihn verzaubern? Hier ist ein Grab, das ist eine geweihte Stätte, davor habe ich
Achtung.“
„Ach Ihr!“, nölte der Prinz und stand auf, „Ihr habt doch vor nichts Achtung!“ Er klopfte sich den
Dreck von der Hose.
„Oh doch“, meinte der Schwarzmagier schlagartig ernst. Harion sah ihn an und schien noch etwas
zu erwarten. Und tatsächlich ergänzte Tulef noch etwas: „Aber nicht vor Euch!“
Und er begann schallend zu lachen.
Es war morgen. Alix war aufgewacht und auch wenn sie letzte Nacht bis spät geredet hatten, so
fühlte er im Moment nicht wirklich Müdigkeit. Ganz im Gegenteil: Er schien hellwach. Langsam
setzte er sich aufrecht und paßte dabei auf, daß er auch schön weiter in die Decke eingemummelt
blieb. Zwar war es hier wärmer als in Albernia, doch morgens spürte man die Kühle des Meeres
deutlicher.
Sein Blick fiel in Richtung der Vorinsel, auf der sie die letzte Nacht noch verbracht hatten. Dort
werkelten auf der von ihm im Moment nicht einsehbaren Seite sicher schon die ersten Siedler an
den Bauten. Doch von hier aus wirkte die Insel ruhig und verschlafen.
Aus dem Urwald nahe des Lagers drangen allerdings schon die ersten Tierstimmen. Verschlafen
begrüßten sich die Vögel, träge schlich ein Nasenbär durch das Unterholz und ein Affe
beschwerte sich mit müdem Gemecker. Offenbar wollte er noch schlafen, was nicht allen
Urwaldbewohnern so ging.
Alix’ Blick fiel auf das Lager. Hier schliefen sie alle noch fest. Selbst der Soldat, der die letzte
Wache diese Nacht gehalten hatte, war dabei eingeschlafen und schnarchte vor sich hin. Alle
schienen einen ruhigen, erholsamen Schlaf zu haben. Bis auf Alarion. Der Halbelf bewegte sich
ständig und er stöhnte und schmatzte im Schlaf. Er schien sich wie in einem bösen Traum von
einer Seite auf die andere zu wälzen.
Fiana erhob sich leise. Alix hatte gar nicht registriert, daß sie munter war, doch auf ihre
elfenhafte, beinahe schwebende Weise kam sie nun zu ihm hinüber. Die aufgehende Sonne legte
einen rötlichen Schimmer über ihr Antlitz und machte sie beinahe noch mysteriöser als sie auch
so schon wirkte.
Vorsichtig näherte sie sich ihm, stets bemüht niemanden aufzuwecken. Er lockerte seine Decke
und gemeinsam kuschelten sie sich darunter, den Blick zum Sonnenaufgang gerichtet. Fiana legte
ihren Kopf auf seine Schulter und guckte verschlafen geradeaus. Ihr Blick fiel auf Alarion.
„Was meinst du“, flüsterte sie, „was belastet ihn so?“
Auch Alix sah den Halbelfen an. „Angst. Er hat Angst vor der Zukunft und er weiß etwas, was
dem Rest entgangen ist. Nur kann er damit nicht richtig umgehen.“
„Das verstehe ich“, gab sie zurück, „Es ist alles so schön, beinahe zu perfekt. Mit dem Gedanken
leben zu müssen, daß diese Reise ein schlimmes Ende nimmt, muß unerträglich sein.“
Alix nickte. „Er möchte gern, daß alles so bleibt, wie es ist. Doch diese Prophezeiung - wie auch
immer sie aussehen mag - beschäftigt ihn zu sehr.“
Die Elfe nickte langsam und rieb damit an Alix’ Schulter. Dieser blickte sie kurz an und sah dann
zur Sonne, die nun schon über der Vorinsel zu sehen war.
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„Wir werden uns auch damit beschäftigen.“
Fiana stieß einen mißmutigen Ton aus. „Das möchte ich aber nicht. Ich möchte, daß sich alles
weiter so gut entwickelt, wie bis jetzt.“
Der Magister nickte. „Ich auch, doch seit gestern fühle auch ich mich seltsam beunruhigt. Wenn
ich sehe, wie sehr es Alarion mitgenommen hat nur dieses Schild zu sehen...“
Die Elfe verstand seine Gedanken. Zweifellos war allein die Anwesenheit des Schildes höchst
verwunderlich. Wo kam es her? Wer hatte es geschrieben und was bezweckte er damit? Sie hatte
das dumpfe Gefühl, daß sie das noch erfahren würden. Doch die Anzeichen standen nicht gerade
so, als würde dies positiv ausfallen.
„Wenn du einen Wunsch frei hättest“, begann Alix plötzlich, „was würde das sein?“
Die Elfe lächelte unwillkürlich. Sie schloß die Augen und stellte sich ihren Wunschtraum vor.
„Ich würde nackt durch diese Wälder streifen und sie Stück für Stück kennenlernen. Ich würde im
Meer baden und zeitlos im Sand dösen, befreit von allen Sorgen, Zwängen und dem Dreck an
meinen Kleidern.“
Der Magister lächelte. Ja, diese Freiheit wäre wahrlich schön. Auch ihn ergriff urplötzlich eine
innere Sehnsucht nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Er atmete schwer. „Und, würdest du mich
mitnehmen?“
Sie lachte leise. „Ja, aber nur dich.“
„So? Und warum?“
Sie stupste ihn spielerisch mit dem Finger an und meinte: „Na, weil du weißt, wie ich nackt
aussehe. All den anderen würden doch dabei die Augen rausfallen.“
Er lächelte. Dann blickte er versonnen auf die Praiosscheibe, die nun beinahe in ihrer ganzen
Fülle über der Vorinsel zu sehen war.
„Was wirst du im nächsten Leben?“, meinte Fiana auf einmal. Alix blickte sie einen Moment
lang an und lächelte dann. Die Frage war ihm kürzlich schon einmal gestellt worden. Doch jetzt
lächelte er auf einmal zufrieden, blickte wieder gen Sonnenaufgang und meinte leise: „Der selbe.
Genau der selbe Alix.“
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Das Leben ist voller Überraschungen. Das stellen auch Irian und die Mitglieder des Erkundungstrupp fest, als sie endlich den Fuß des Gebirges erreichen. Daheim in der Siedlung fällt Admiral Elwick eine folgenschwere Entscheidung, die Growin vor eine schwere moralische Frage stellt.
29.10.2000 9.10.2000 Alle, die wissen wollen, wie es weitergeht, finden am 2 29.10.2 000 wieder in Marians Welt ( www.marianswelt.de ) und natürlich exklusiv auf der RPG-Matrix ( www.rpg-matrix.de ), der deutschen Rollenspielseite, die Fortsetzung.
Bildnachweis: Seite 34: „DSA 3 - Schatten über Riva“ Seite 85: „LMK“ Seite 112: „Hoon Tech Soundtrack CD“ Seite 137: „Hoon Tech Soundtrack CD“
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alle Bilder wurden zu nicht-kommerziellen Zwecken und nur im Sinne der atmosphärischen Gestaltung
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