Markus K. Korb
Grausame Städte
Blitz
© 2003 by BLITZ Verlag Redaktion: Markus K. Korb Copyright „Carnevale a Venezi...
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Markus K. Korb
Grausame Städte
Blitz
© 2003 by BLITZ Verlag Redaktion: Markus K. Korb Copyright „Carnevale a Venezia“ 1999 by Gerald Meyer Verlag
Grafische Gestaltung und Cover: Mark Freier Innenillustrationen: Gustav Wölkl Lektorat: TTT, Mallorca Satz: A. Nikolaus, Italien Druck und Bindung: Drogowiec, Polen www.BLITZ-Verlag.de ISBN 3-89840-921-X
Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Die Buchreihe ist dem amerikanischen Schriftsteller Edgar Allan Poe und seinem literarischen Andenken gewidmet. Innerhalb der Reihe erscheinen sowohl internationale wie auch nationale Autoren, deren Werke einen inneren Bezug zu Poes Ideenwelt haben. Sie greifen z.T. Poesche Motive auf und variieren diese, erschöpfen sich aber nicht in bloßen Nachahmungen, sondern besitzen Eigenständigkeit und Originalität; sie sind innovativ und entwickeln die Phantastische Literatur fort. Innerhalb der Reihe werden auch ältere Werke der deutschsprachigen Phantastik erscheinen, welche entweder kaum oder nur sehr schwer dem Kenner und Liebhaber des Genres zugänglich sind. Markus K. Korb (Autor und Herausgeber) Wenn das Licht des Tages stirbt und sich das Totenhemd der Nacht auf Pflastersteine und Asphaltstraßen herabsenkt, geht ein Raunen durch alte Ziegelmauern. Es ist die Zeit des Zwielichts, in welcher die Gebäude im Mondlicht zu träumen beginnen… Die schiefen Palazzi von Venedig flüstern einander längst vergessene Geheimnisse zu. In den verfallenen Häuserblocks von Berlin ertönt ein Wispern. Beide Städte erzählen dem Leser unheimliche Geschichten. Grotesk, bizarr, durchwoben von Schmerz und Angst… Markus K. Korb führt den Leser durch düstere Labyrinthe aus Gassen und Hinterhöfe, bis hinein in die modrigen Herzen von Venedig und Berlin. Beide Städte sind Schauplätze phantastischer Ereignisse, welche von der Gegenwart bis in archaische Zeiten hinabreichen. Dorthin, wo fleischlose Schädel ihre ewig bleckenden Zähne entblößen.
„Terror is not of Germany – it’s of the soul.“ Edgar Allan Poe
„Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ Franz Kafka
„Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.“ Howard Philipps Lovecraft
Für Moni, Philipp und Lisa – ihr wisst am besten, warum ;-) Eure liebevolle Zuneigung ließ dieses Buch erst möglich werden! Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern – ihr wart immer für mich da! Gewidmet auch allen Menschen, die über die Jahre fest an mich geglaubt haben und von denen manche vielleicht gar nicht wissen, dass es dieses Buch gibt. … habt Dank – wo immer ihr auch sein mögt!
Markus K. Korb im Februar 2003
Der Venedig-Zyklus
Concetta
Ich kann sie fühlen, Concetta! Sie kommen, um uns zu holen. Sie werden uns trennen – es gibt keinen Ausweg… nein, nein! Ihre nasse Gier kriecht schon aus dem Kanal, umspült die Anlegestelle und spritzt wie ätzender Geifer auf die Steintreppen. Wir haben nicht mehr viel Zeit für uns… Aber du? Du liegst ruhig da, Concetta, drapiert in dein Hochzeitskleid, umgeben von Rosen und weißen Satinkissen. Der köstliche Duft deiner Haut schwebt als unsichtbarer Hauch durch die stickige Kammer. Deine Hände scheinen das weiche Tuch des Bettes kaum zu berühren, so sanft liegen sie auf. Man könnte fast meinen, die Fingerkuppen würden knapp über dem Laken schweben. Ich sitze nackt zu deinen Füßen und streiche mit zitternden Fingern über deine Schenkel. Ich zucke kurz zusammen. Es fühlte sich für einen Moment so an, als ob sich Myriaden von winzigen Lebewesen unter der Hautoberfläche winden würden, doch das war sicher nur eine Täuschung der Sinne, ausgelöst durch meine Erregung oder durch das Opiat, das ich in Rotwein aufgelöst trinke, so wie es mir der Arzt vor Jahren empfahl. Du kennst mein Leiden, Concetta. Es ist nicht körperlicher Natur, nein – ich leide an dir! Ich tat es schon immer und so tue ich es auch noch jetzt! Mein Begehren ist so groß, dass es die Grenze überwand, die das Immaterielle von der Welt der Dinge trennt und einen Weg fand, dein Herz zu erobern. Für immer zu erobern. Und nun liegst du hier, Concetta, in unserer Hochzeitsnacht in einem Palazzo in Venedig, ein wenig abseits des Canale Grande, wo die Wellen der Lagune sanft gegen die Fassaden anbranden – wie Hände, die zu unserer geheimen Heirat verhalten applaudieren. Dein Gesicht ist mit dem Wenigen, das wir haben, geschminkt, ein Lächeln umspielt deine Lippen. Du
lächelst, du lächelst immer. So bist du Concetta, du kannst gar nicht anders! Dieses Lächeln war es auch, das mich auf dich aufmerksam gemacht hat, weißt du noch? Damals – auf dem Markusplatz im Regen? Als ich dich sah, wie du mit nassen Haaren in Richtung Campanile ranntest? Du suchtest Schutz vor der Nässe und fandest einen Beschützer in mir, meine Concetta! Seit diesem Tag habe ich dich keine Minute aus den Augen gelassen, das weißt du noch, oder? Sicher! Ich folgte dir, wohin du auch gingst – wie bitte? Lauter! Das war nicht in Ordnung, sagst du? Ach so, ich verstehe: Du hattest Angst. Du fühltest dich verfolgt. Aber jetzt ist alles anders, oder? Jetzt hast du doch verstanden, worum es mir ging. Ich wollte, dass dir kein Leid angetan wird! Gerade in unserer heutigen Zeit, in der es von Psychopathen nur so zu wimmeln scheint, ist es wichtig, einen Beschützer zu haben. Hast du nicht gelesen, wie viele Halbstarke durch die Straßen schleichen – von Drogen berauscht, immer auf der Suche nach Geld. Pervers! Da lobe ich mir unsere Liebe. Sie war ja so rein, schon vom ersten Augenblick an. Nie habe ich dich berührt, geschweige denn in unsittlicher Weise. Stundenlang stand ich unter deinem Fenster und lauschte den Gesängen der venezianischen Nacht. Tagelang lief ich hinter dir die Straßen entlang, jeden deiner Schritte überwachend. Und wärest du gestrauchelt – ich hätte dich auffangen können… eine Wonne wäre es gewesen, dich endlich zu berühren. Eine Berührung, ja, das ist es, wonach es mich nun dürstet. Darf ich? Sehr schön, ich vergöttere dich. Aber – was war das? Concetta, Licht meiner grauen Tage in dieser Kammer, an deren Decke nachts die Lichtreflexe des Kanals miteinander Fangen spielen. Hast du das gehört? Nein? Gar nichts?
Seltsam, mir war so, als hätte ich ein Geräusch gehört. Unten, ganz unten… Es wird wohl nichts gewesen sein. Falls doch, müssen wir nicht ängstlich sein, denn ich habe einen Keil zwischen Tür und Türsturz geklemmt und eine brennende Kerze darauf gestellt. Sie wird uns warnen, sollten sie versuchen unsere Zweisamkeit zu stören. Ich zupfe einen Staubkrümel von deinem Kleid und frage mich, was wohl geschehen wäre, hättest du mir nicht an diesem Abend vor dreizehn Tagen die Tür geöffnet und mich hereingebeten? Mein Leben wäre weiterhin im Schatten deiner Existenz verlaufen. Ein furchtbarer Gedanke, obgleich ich damit hätte leben können, da du es ja warst, die mir wahres Leben verhieß! Was war mein Leben denn vorher? Nichts als ein kriechendes Dahinvegetieren im Zwielicht eines regnerischen Tages. Ein Umherirren zwischen den glänzend nassen Grabsteinen auf der Friedhofsinsel San Michele – die glitschig-moosigen Engelsstatuen umarmend, zwischen denen mich der Küster der Kapelle als Baby einst fand und die meine einsame Jugend als stumme Geschwister begleitet hatten. Doch die Einsamkeit hat ja nun ein Ende, dank dir, meine Concetta. Kannst du dich erinnern? Ich hatte mich endlich an einem dieser seltenen Tage, an denen das Licht der Sonne nicht nur meine Netzhaut, sondern auch das Gehirn erreicht, überwunden, dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, und glaube mir – das war alles andere als einfach für mich! Ich bin ja ein schüchterner Junge… Liegst du auch bequem? Ja? Gut. Nichts ist schlimmer, als eine Stellung einzunehmen, die irgendwann, vielleicht in ein paar Jahren erst, zu einem schmerzhaften Leiden führen kann. Glaube mir, das ist schrecklich! Das Bett, in welches mich der Küster brachte, war die unterste Schublade einer
venezianischen Kommode. In den ersten zehn Jahren meines Lebens war es nicht so schlimm – doch ich wuchs und wuchs, während die Ausmaße der Schublade gleich blieben. Jede Nacht war ein Alptraum aus Schmerz und Zorn! Jetzt verstehst du, warum ich so schief gewachsen bin! Wo war ich stehen geblieben? Ach ja: bei unserer Begegnung. Nun… vor diesem Tag hatte ich dir ja Hunderte von Blumen schicken lassen, zusätzlich mindestens ein Dutzend Liebesbriefe, aber nie hast du mir geantwortet. Doch jetzt weiß ich, warum du so furchtbar böse reagiertest. Du hast nur mit mir gespielt! Kokettiert hast du, das war es, ich verstehe dich jetzt viel besser. Nur damals konnte ich das alles nicht wissen! Ich war damals sehr verärgert! Wütend war ich – auf dich, auf die Welt, auf Gott! Auf alles! Das war auch der Zeitpunkt, als ich mir das Muskelrelaxans und die Spritze von meinem Vater besorgte. Doch alles der Reihe nach! Ich war also zu dir gegangen und hatte mich als Blumenbote ausgegeben. Nichts ahnend hast du die Tür geöffnet. Das war eine Überraschung, als ich plötzlich vor dir stand! Du warst so verblüfft, dass du vor Freude gar nichts sagen konntest. Ich betrat deine Wohnung, diese Wohnung hier, und wusste sofort, dass ich nie wieder weg wollte. Deine Reaktion auf mein Auftauchen beschäftigt mich noch heute! Kannst du mir noch einmal erklären, warum du diese seltsam harten Worte gebrauchtest? So – du warst also unsicher bei unserer ersten Begegnung. Das passt ja wunderbar zu mir, ich bin doch auch so schüchtern. Aber im Gegensatz zu dir werde ich nicht so ausfällig! Vor allem, nachdem ich dir sagte, dass ich es war, der die Blumen schickte, hättest du ruhig etwas milder gestimmt sein dürfen!
Aber ich bin nicht nachtragend. Du hast dich ja entschuldigt, ich weiß, ich weiß! Ich soll nicht immer auf den negativen Seiten unserer Beziehung herumhacken. Aber wenn’s doch so war? Nimm’s hin! Siehst du, ist doch gar nicht so schwer, den Mund zu halten. Frauen müssen wissen, wann sie ihren Mund zu öffnen haben und wann sie lieber schweigen sollten. Sei froh, dass ich dein Lehrmeister in diesen Dingen war und nicht ein anderer! Der wäre anders mit dir umgesprungen, glaube mir! Ich kenne die Strafen für Ungehorsam – wenn ich wieder einmal die aufgebahrten Menschen in der Friedhofskapelle berührt hatte (nachdem der Leichenbestatter gegangen war, den ich stets gerne bei seiner schwierigen und kunstvollen Arbeit beobachtete), auf eine anzügliche Art und Weise berührt hatte, so wie man die Toten nicht anfassen darf, da hat mich meine Stiefmutter auch immer streng bestraft! Zu Recht, denn ich hatte ganz schlimme Dinge mit den Aufgebahrten getan – doch sie waren so schön kühl… Sie fanden es auch gar nicht schlimm, sagte ich dann immer, wenn man mich erwischt hatte. Aber es war dennoch falsch, erwiderte meine Mutter immer. Dann musste ich nächtelang nackt auf den Steinplatten des Kellers liegen. Und dort war man ganz nahe bei ihnen – im verschlossenen Nebenraum lagen die Aufgebahrten. Wenn ich den Atem anhielt, konnte ich sie flüstern hören. Ja, Concetta, sie flüsterten einander zu. Sie redeten über viele unsaubere Dinge, musst du wissen… Aber ich komme vom Thema ab. Du warst abweisend zu mir, als ich vor deiner Tür stand. Du fauchtest wie eine Katze. Aber ich vergalt nicht Gleiches mit Gleichem. Ich hatte Geduld. Ganz langsam. Ganz behutsam ging ich bei deiner Eroberung vor. Leider musste ich bei meiner heißen Umarmung die Unverletzlichkeit deines Körpers antasten, doch du nahmst diese Winzigkeit des Stiches kaum wahr.
Weißt du noch, wie dein Blick glasig wurde, als sich das Relaxans in Sekundenbruchteilen in deinem Blutkreislauf verteilt hatte und zu wirken begann? Jeder Muskel in deinem Körper erschlaffte und du sacktest unbeweglich zusammen. Selbst deine Augäpfel konntest du nicht mehr drehen. Dann hatte ich dir mein geplantes Vorgehen kurz erklärt – du widersprachst mir mit keiner Regung. Nachdem ich die Natronsäcke geholt und in die Badewanne entleert hatte, zog ich dich aus und legte dich auf den Stubentisch. Hier, ja – ich fühle es jetzt im Moment mit meinen Fingern – hier ist die rote Linie an der rechten Seite deines Alabasterkörpers. Sie ist das Einzige, das von meinem Eingriff übrig geblieben ist – du warst schön und bist nun ein Kunstwerk für die Ewigkeit geworden. Hier, schau! In diesen Vasen am Kopfende des Bettes, unseres Hochzeitsbettes, ruhen all die kläglichen überflüssigen Dinge, die ich aus deinem Körper geholt habe. Ich bin mir sicher, dass du das zu würdigen weißt, du hast ja die überwiegende Zeit des Eingriffes mit einem wachen Hirn erlebt! Aber schließlich übermannte dich der Schlaf. Wie verständlich, das Malen mit dem Metallpinsel dauerte ja viele Stunden. Danach trug ich dich in dein Natronbett und schloss leise die Tür. Und als ich sie nach Tagen wieder öffnete, warst du ewig – schön – unvergänglich geworden. Und du wirst immer bei mir sein… Ich gehe kurz ins Badezimmer und sehe nach dem Natronsalz in der Badewanne, das deine überschüssige Körperflüssigkeit aufgesogen hat wie ein Schwamm – deswegen riecht es auch ein wenig streng im Bad. Aber sei unbesorgt. Ich habe hier in der Kammer genügend Parfüm verteilt, so dass kein Gestank dich jemals erreichen wird. Du kannst dich also sicher fühlen. Auch die Kerzen vertreiben ja den schlechten Geruch, so heißt es.
Ich wasche meine Pinsel, das Kunstwerk ist vollendet. Hallo, Concetta, hörst du mich, ich komme gleich wied… Da – horch! Schon wieder ein Geräusch, diesmal fordernder, eindringlicher! Hörst du wirklich nichts, nein? Glaube mir, das seltsam klingende, dumpfe Pochen ist real und ist keineswegs mein Herz, das mir in den Ohren schlägt! Nein, nein. Das ist etwas anderes… Hab ich dir schon von IHNEN erzählt? Soso, du behauptest, dich schwach an eine Erzählung erinnern zu können, die ich dir vor drei Tagen schon einmal vortrug. Aber egal, ich erkläre es dir gerne noch einmal: Wenn der Mond dicht über dem Wasser des Kanals tanzt, dann erwachen die Wasserleichen, die unter den Häusern Venedigs treiben, zu neuem Leben. Sie recken und strecken sich unter den Fundamenten und tasten sich blind durch den Wald von Pfählen. Ich kann sie sehen! Ich kann sie sehen, aber sie wenden nur die Köpfe hin und her – denn sie sehen nicht. Die Fische waren es, ja meine Geliebte, die Fische – sie haben den Toten die Augenhöhlen leer geschabt. Mit ihren kleinen Mündern, die so unschuldig gespitzte Lippen haben, aber deren großes O in Verbindung mit den prallen, glänzenden Fischleibern den Ausdruck unendlicher Blödheit ergibt. Aber die Toten können weder sehen noch schmecken – einzig erfühlen können sie. Hörst du sie nicht, Concetta? Aus diesem Grund sind sie eifersüchtig. Eifersüchtig sind sie auf dich, weil du perfekt bist, nicht so wie sie. Und sie sind neidisch auf unsere Liebe. Die Toten haben nicht diese Behandlung erfahren dürfen, die du durch mich erfahren hast – sie verwesen langsam. Und das macht sie neidisch. Neidisch und wütend – sie wollen dich. Sie wollen uns trennen…
Ich bitte dich inständig, Concetta! Sag mir, dass auch du sie hörst – wen? Die Toten! Sie grabschen mit ihren aufgeschwemmten, löchrigen Händen an den rissigen Steinen der Fundamente entlang. Sie sind unruhig, rastlos – so wie ich es früher mal war. Doch nun bin ich ruhig, das macht deine Liebe, Concetta! Welch ein furchtbares, röhrendes Geräusch schwillt dort draußen auf dem Wasser an, kommt näher und hält schließlich vor unserem Fenster? Eine Gondel kann das nicht sein – diese würde lautlos durch das Wasser gleiten… und dann diese farbigen Lichter im Fenster… Sind das schon die Toten? Die Toten wissen, dass wir hier sind. Die Toten sind immer auf der Suche nach uns! Aber ich habe dafür gesorgt, dass sie uns nicht kriegen. Psst, aufgepasst! Die Tür ist von innen mit Brettern vernagelt. Außerdem steht deine schwere Kommode davor. Weiterhin – der stechende Geruch hier im Raum ist dir sicherlich aufgefallen. Es ist Isopropanol – reiner Alkohol. Damit habe ich alle Kleidungs- und Möbelstücke in diesem Raum getränkt. Die Kerze, die dort auf dem Scheit balanciert, welcher zwischen Türstock und Tür festgeklemmt ist, brauchen wir für den absoluten Notfall! Falls es jemandem gelingen sollte, in diese Kammer einzudringen, wird die Kerze herabfallen, direkt in den alkoholgetränkten Wäschehaufen darunter, und dann… dann können wir für immer zusammen sein! Sobald nun die ersten Toten aus dem Wasser geklettert sind und die Häuserwände erklommen haben, werden sie nicht nur durch die Fenster, sondern auch durch den Haupteingang ins Gebäude eindringen. Dann torkeln sie im Mondlicht die Steintreppe empor, stehen vor der Tür und verlangen Einlass. Geradeso wie der Vermieter bei seinen häufigen Besuchen in den letzten Wochen. Kann er denn nicht verstehen, dass ich die
Miete nicht zahlen kann? Du lebst doch jetzt mit mir zusammen – und wir sind verliebt, da muss man sich doch Urlaub gönnen! Wenn man Kunst schafft, kann man nicht Geld verdienen. Nun ist es soweit, ich fühle, wie sie die Wasser verlassen und rasch empor klettern. Ich muss handeln! Ich setze mich an das Fußende und warte voller Geduld. Ein leichter Luftzug weht durchs Schlüsselloch und ich freue mich. Schon klopft es drängend an der Tür, die Kerze darauf zittert. Doch ich öffne nicht, da ich weiß, dass sie es sind! Was ist das? Schau! Blaue und rote Lichtblitze zucken durch das offene Fenster und verwandeln unsere Kammer in ein stroboskopartiges Kaleidoskop aus Farbsplittern. Vielleicht das Wetterleuchten eines nahenden Gewitters? Hörst du das – vor der Tür? Sie rufen. Sie behaupten, dass sie die Polizei wären, doch ich lächle nur wissend. Sie sollen nur kommen! Die Kerze auf dem Keil wackelt und vibriert unter den Schlägen gegen die Tür. Doch noch tanzt sie nur leicht auf dem Holz hin und her… Hei, wenn jetzt die Tür geöffnet wird – das wird eine gewaltige Stichflamme geben! Nun gut, wappnen wir uns für das Unvermeidliche! Ich küsse deine Stirn, Concetta. Unsere Zeit war kurz, doch nichts ist ohne Sinn. Wir werden uns wieder sehen, an einem anderen Ort, wo die Zeit nichts mehr bedeutet. Nichts kann uns jetzt mehr trennen! Die Toten helfen uns sogar bei unserer Vollendung. Sie schlagen gegen die Tür. Immer wieder zittert das wurmstichige Holz. Schon wackelt die Kerze auf der Tür – sie hüpft ein letztes Mal auf dem Scheit, er kippt unter ihr weg, sie torkelt und fällt sich überschlagend in die mit Alkohol getränkte Wäsche. Wie eine große Linie aus Dominosteinen
fangt ein Wäschehaufen nach dem anderen zu brennen an, und dann… … dann schließe ich die Augen, drücke deine Hand und lausche entrückt der intensiven Musik des Feuers…
Carnevale a Venezia
„Du sagtest, du hattest einen Alptraum, doch du irrst – dein Traum war die Realität und wir alle leben ihn!“ unbekannter Verfasser
Die letzten Flocken des Neuschnees umtanzen als weiße Nachzügler die zum Leben erwachten Träume des venezianischen Karnevals, welche mit lautem Gesang im Tarantellaschritt über den Campo La Fenice der Piazza San Marco entgegentorkeln. Als ich in die kalte Nacht der moribunden Schönheit hinaustrete und das Teatro La Fenice mit seiner in Goldtönen gehaltenen Pracht hinter mir lasse, stehe ich plötzlich inmitten des Schneemenuetts wie ein ungeladener Gast – steif, den schlanken Körper in einen schwarzen Radmantel gehüllt und erschrocken ob meiner Dreistigkeit, in eine Welt einzudringen, die nicht die meine ist. Ich prüfe den Sitz meiner bauta, jener wächsern weißen Gesichtsmaske, die mit spitzem Kinn in die Kälte hinausragt. Dann ziehe ich den Dreispitz tief ins verdeckte Gesicht, stecke die Hände unter den Mantel und lehne mich gegen den Wind, der aus ungezählten Gassen und Kanälen über den Platz fegt und die Flocken zu einem Veitstanz auffordert. Mein Blick heftet sich an die Karnevalsgruppe, die in einiger Entfernung über den Campo schreitet: Arlecchinos buntes Fetzenkostüm umschwirrt eine unsicher Pirouetten drehende Colombine, die von den eifersüchtigen Augen eines buckligen Pantalone beaufsichtigt wird. Sein angeklebter Spitzbart zittert im Wind. Diese Traumgestalten der Commedia del’Arte sind heute, am letzten Abend des Karnevals, unterwegs, um auf
dem größten Platz der Stadt das Feuerwerk mitten unter ihresgleichen zu bestaunen – den Kopf in den Nacken gelegt und mit offenen Mündern. Danach werden sie die Masken mit einer Geste der Trauer abnehmen und wieder sie selbst sein. Doch dieser Augenblick ist noch zu weit entfernt, um an den Emotionen der Maskenträger rühren zu können, deshalb hüpfen und springen die Geschöpfe der Phantasie voller Übermut in grotesk anmutenden Bewegungen über die Plätze und Straßen. Die Freude und die Unbekümmertheit sind aus ihren Gefilden herabgestiegen und haben sich in Menschen verwandelt – Leben, eingefroren im Augenblick der Zeit. Die Ausgelassenheit des Festes hat auch mich erfasst, so dass ich zunächst der Gestalt in Schwarz keine Aufmerksamkeit schenke. Abseits des Gedränges eilt sie einsam auf eine Seitenstraße zu und kann erst vor einem Augenblick die Karnevalsgruppe verlassen haben, wie mir die kurze Wegstrecke der sich trennenden Spuren im Schnee verrät. Ich kneife die Augen zusammen. Ist dieses leichte Nachziehen des linken Beines nicht typisch für meinen venezianischen Schwager Fortunato? Welch eine Überraschung! „Sior Maschera!“, rufe ich traditionsbewusst über den Platz, doch es erfolgt keine Reaktion seitens des ‘Herrn Maske’. Was ist los mit ihm? Ich habe ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, auch meine Schwester hat sich seit geraumer Zeit nicht mehr bei mir gemeldet. Ich muss ihn sprechen! Ich laufe quer über die schneebedeckte Fläche des Campo Fenice. In meinem erregten Gemütszustand breche ich das Tabu der Namensnennung und rufe keuchend durch die klirrende Kälte: „Fortunato… bleib doch… stehen! Ich… bin es… dein Schwager Alessandro!“
Der Angerufene, wie ich in ein anonym machendes Kostüm gekleidet, wendet den Kopf in meine Richtung und beginnt ebenfalls zu rennen. Er verschwindet um eine Ecke. Enttäuscht und schwer atmend bleibe ich stehen. Was ist nur mit Fortunato los? Es muss etwas geschehen sein, er würde mich doch nicht meiden wollen, nur weil ich ein Bewohner des Festlandes und damit im Karneval unter all den Venezianern ein Fremder bin. Ein schrecklicher Gedanke frisst sich unbarmherzig in mein vom Alkohol umnebeltes Gehirn: Wie geht es meiner Schwester? Die angespannte Ehesituation der beiden ist kein Geheimnis und ein beliebtes Thema der Schwätzer unserer Familie. Mit dem festen Entschluss, meinen Schwager zur Rede zu stellen, biege ich ebenfalls um die Ecke, den Blick abwechselnd auf die Spuren im Schnee und den in diesem Labyrinth aus Wasser und Stein immer versperrten Horizont gerichtet. Zwei überdimensionale Vögel aus Boafedern, rotem Stoff und gelbem Plastik schweben mir flügelschlagend entgegen – sie scheinen in einen aussichtslosen Kampf mit der Schwerkraft verwickelt zu sein. Als die Vögel an mir vorbeigehüpft sind, durch einen agnostischen Gott der Flugfedern beraubt, kann ich keine schwarze Gestalt auf der Calle Cuoridoro sehen. Ich habe sie aus den Augen verloren. Doch halt! Die Schneespuren sprechen deutlich zu mir: Da sind die zwei Spuren der menschlichen Vögel. Klar und deutlich durch ihre weit aufgesetzten und kreisrunden Schritte zu erkennen. Daneben befindet sich eine trapezförmige Spur, der meinen nicht unähnlich. Die einzelnen Fußstapfen sind weiter als gewöhnlich voneinander entfernt, weshalb ich auf ein schnelles Laufen des Urhebers schließe. Ein paar Meter weiter verringert sich die Distanz zwischen den Spuren im Schnee. Die kürzeste
Seite des Trapezabdrucks weist auf eine vor mir liegende Brücke und die sich dahinter anschließende Frezzeria-Straße. In diese Richtung war der Flüchtende also gelaufen! Ein Instinkt dringt aus den Tiefenschichten meines Bewusstseins herauf, ererbt aus einer archaischen Zeit, in welcher selbst der aufrechte Gang dem Menschen noch unbekannt war und die Jagd den Hauptinhalt des Lebens darstellte. Adrenalin pumpt durch meine Adern und verursacht eine Kettenreaktion, an deren Ende ein leichtes Zittern durch meine angespannten Muskeln geht. Leicht nach vorne gegen den Wind geneigt, mache ich mich auf den Weg und erklimme die breiten Stufen der Brücke, welche durch den Schnee schlüpfrig sind und eiskalt durch meine dünnen Schuhsohlen in meine Füße empor frosten. Doch die Sorge um meine Schwester lässt mich weitergehen und der Alkoholnebel in meinem Kopf betäubt jedes Gefühl von Kälte. Am Ufer angekommen, entdecke ich nicht weit voraus einen Schatten, der mit ruhigen Schritten nach links in eine mir unbekannte Straße einbiegt. Vorsicht jetzt! Solange mein Schwager mich nicht bemerkt, wird er nicht versuchen, mich in diesem Wirrwarr aus Kanälen und Brücken abzuhängen, das er natürlich um einiges besser kennt als ich, obwohl ich schon oft wegen meiner Tätigkeit als Professor für Kunstgeschichte diese von ihren Bewohnern Serenissima genannte Stadt besucht habe. Zweimal im Jahr ergehe ich mich in ihren engen Straßen, ducke mich sommers in die Kühle der Schatten und verliere mich in der Betrachtung des sich ständig wandelnden Lichtes, das in einem geheimen Garten mit der glitzernden Oberfläche eines Brunnens spielt. Es waren Gärten, die sich mir nur durch überhängende Buschzweige oder mittels ewig über den Mauerrand spähenden Amoretten verrieten.
Nun jedoch halten die Statuen unter einer weißen Kappe aus Schnee ihren Winterschlaf. Ihr müder Blick starrt ins Leere. Ich frage mich, wie lange die Verfolgung noch andauern wird. Kann ich sie nicht vorzeitig beenden? Mein Schwager und ich – wir beide sind die einzigen Passanten, die in Gegenrichtung Piazza San Marco unterwegs sind. Mein Schwager? Ich komme beim Überqueren des Rio Fuseri ins Grübeln: Als sich vorhin die Gestalt auf mein Rufen hin umdrehte, sah ich da nicht in ihren Augen ein verschlagenes Funkeln? Aber natürlich, es ist nicht mein Schwager – es ist Giovanni Francesi! Dieser schmierige Schnüffler ist schon wieder im Auftrag meiner eifersüchtigen Frau unterwegs; immer bereit, aus dem Hinterhalt ein mich kompromittierendes Foto zu schießen – deshalb auch die überstürzte Flucht. Oh, du Aasgeier von einem Privatdetektiv! Du bist nur der Handlanger von Abfindungsjägerinnen, die jahrein – jahraus vor dem Fernseher sitzen und fett und fetter werdend in ihre Särge hineindämmern. Gut, Gut! Wir drehen das Spiel mal um – dann sehen wir ja, wie du es nun spielst! Durch die Calle del Fuseri über den Campo San Luca in die Calle Forno, dann rechts in die Calle Teatro. Als Träume verkleidete Menschen eilen noch vereinzelt dem Markusplatz zu – diesmal Mickey Mäuse und Schwäne, Lemuren und Aussätzige, ein Mond mit silbern schimmernder Haut, die Hand um die Hüfte einer Sonne mit goldgeschminktem Gesicht und gleichfarbigem Pappkragen gelegt, der ihr wie ein übergroßer Diskus um den Hals hängt. Und immer sind die Spuren leicht zu erkennen, denn kaum einer trägt die Maschera-nobile-Kostüme mehr. Die große Zeit des traditionellen Karnevals ist schon lange vorbei. Die Bürgersteige leeren sich mehr und mehr, je weiter wir uns vom Epizentrum der Festivitäten entfernen. Die Spuren verlieren sich hinter Hausecken, Türen und Pforten, nur eine
zieht sich weiter wie ein eingeprägtes Band durch die Straßen der nun schlafenden Stadt. Doch halt! Auf dem Schnee zeichnen sich vier kleine Löcher in Folge ab, die eine einsam und mit unbekanntem Ziel durch die Nacht streunende Katze hinterlassen hat, von der es hier wohl Tausende geben mag. Ich bin also nicht allein in dieser Februarkälte, welche die von Haus zu Haus gesponnenen Wäscheleinen mit einer glitzernden Eisschicht überzieht – singende Saiten im Wind, Sirenenstimmen, die mich durch die Nacht locken. Weiter – immer weiter, bis ans Ende der Welt. Unmerklich bin ich bei der Chiesa San Salvatore angelangt. Diese Renaissancekirche, deren massive Fassade erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dem Bau vorgeblendet wurde, fasziniert mich schon seit langem. Sie beherbergt das Grabmal des Dogen Francesco Venier, außerdem Tizians Verkündigung aus den 1560er Jahren. Ein Gemälde, das durch seine asymmetrische Komposition im Zusammenwirken mit retardierenden Elementen und den Goldtönen eine Gesamtwirkung von Feierlichkeit erzeugt. Ah! Ich liebe die Kunst. Sie überdauert den Künstler und die folgenden Generationen – sie ist zeitlos, unsterblich, für die Ewigkeit geschaffen, wie diese Stadt, die sich seit tausend Jahren erfolgreich gegen die Kräfte der Natur stemmt. Sie selbst ist ein einziges, großes Kunstwerk, wie früher schon der deutsche Schriftsteller Thomas Mann anmerkte. Freudig erregt erkenne ich, dass mein Weg auch an der Kirche San Bartolomeo vorbeiführen wird. Eine gute Gelegenheit, noch einmal im Vorübergehen den heute dreischiffigen Bau aus dem 18. Jahrhundert intensiv zu betrachten. Doch dazu kommt es nicht. Die Spur führt nach links, hinein in ein Gewirr aus engen Gassen, die zum Teil direkt an einer Wasserstraße liegen. An beiden Seiten des kleinen Kanals
wiegen sich Boote und träumen ihre weißen Winterträume unter einer vom Mondlicht beleuchteten Diamantdecke aus Schneekristallen. Die Häuser neigen sich in wagemutigen Verbeugungen über den Kanal. Mein Magen krümmt sich zusammen – derart körperlich befürchte ich ein Über-Mich-Herfallen der Palazzi, während das leise Glucksen des salzig riechenden Wassers die Anwesenheit einer anderen Spezies verrät. Klein, vierbeinig, mit langem, nacktem Schwanz. Diese ständigen Begleiter der Menschheit sind ihr auch in diese schwimmende Stadt gefolgt – immer bereit loszuschlagen, falls sich eine Möglichkeit ergibt. Noch tiefer hinein in das Adergeflecht, dessen Häuserfassaden den Gesetzen der euklidischen Geometrie trotzen. Über Dachränder und Freskenköpfe hinweg beobachten mich kleine rote Augen, die jede einzelne meiner Bewegungen mit einem Gurren quittieren. Myriaden von Tauben arbeiten durch ihre Exkremente am langsamen Zerfall der Häuserwände mit. Die hässlichen Rücken der Serenissima entblättern ihr einstmals buntes Farbenkleid und geben den Blick auf pilzbefallene Häute frei – von morschen Pfählen getragene Fundamente, die nun nackt und verwundbar im Nebel der Kanäle frieren. Die Schindeldächer sind fehlerhaft wie Greisengebisse. Die glaslosen Augen der Palazzi weinen einer stolzen Vergangenheit nach – lange schwarze Tränenspuren weisen in das Spiegelbild ihrer Gesichter im Wasser. Die Spur im Schnee hetzt mich über Brücken – mit Eiszapfen bewehrte Mäuler, aufgerissen zu einem stummen Schrei. Sie führt um verfallende Hausecken, in enge Straßen hinein, wieder ab in Gassen und neuerliche Uferbefestigungen – der Schnee und das Wasser in scharfem Schwarzweiß-Kontrast.
Als ich längst die Orientierung verloren zu haben glaube, wird der Salzgeruch stärker, der Nordwind treibt Nebelfetzen vor mir her und ich kann die klagenden Schreie der Möwen hören, die den Kampf um den Besitz der Stadt noch nicht aufgegeben haben. Ich nähere mich demnach dem Nordrand von Venedig, befinde mich in Richtung der Friedhofsinsel San Michele. Vor mir beschreibt die Fußspur im Schnee einen weiten Bogen, so als ob der Besitzer nicht wissen würde, wohin er sich wenden solle. Der Besitzer? Warum sollte ich mich da nicht wieder täuschen? Aber natürlich – die Gangart, die kleinen Schuhe, die zierliche, schlanke Statur, alles deutet auf eine Frau hin. Ist es am Ende sogar meine eigene Frau, die mich hier auf Untreue hin kontrolliert? Doch je länger ich laufe, desto mehr Zweifel kommen auf. Warum verfolge ich eigentlich diese Spur im Schnee? Ich kann meine rationalen Begründungsversuche nicht mehr vor der Logik aufrechterhalten: Wenn es nicht mein Schwager Fortunato ist, der seine Stiefel in die Kristalle senkt, auch nicht der Privatdetektiv, dann ist es unwahrscheinlich, dass meine letzte Schlussfolgerung richtig ist und mir tatsächlich meine Frau in das verschneite Venedig gefolgt ist. Angewidert spucke ich aus. Ich bin zu betrunken, alles verschwimmt in meinem Kopf, das Denken fällt schwer. Die Spur verliert sich im Weiß meines Gedankenschneesturms. Genug jetzt! Konzentriere dich! Die Spur ist wichtig, zu welchem Besitzer sie mich auch führt. Nur nach unten auf die Spur sehen, nur die Spur sehen, nur die… Erstaunt reiße ich den Kopf hoch und bleibe stehen. Ich befinde mich in einem der wenigen Hinterhöfe Venedigs. Der Wind hat aufgehört zu heulen. Dieses Fehlen eines Geräusches hat mich aus meinen Gedankengängen aufgeschreckt.
Als ich zurückblicke, erkenne ich, dass ich die letzte Wegstrecke genau in den fremden Fußabdrücken zurückgelegt haben muss, denn meine Abdrücke sind nicht mehr von denjenigen zu unterscheiden, die ich verfolgte. Einzig und allein eine trapezförmige Spur führt zu mir hin und endet an meinen Absätzen. Ein Blick nach links und rechts zeigt mir, dass ich mich genau in der Mitte des Hofes befinde. Keine Tür in Reichweite, keine Feuerleiter, kein Balkon. Das Dunkel umarmt mich, die Welt endet hier, doch über den schwarzen Dächern der Palazzi kann ich die tröstlichen Sterne funkeln sehen. Die Maske ist spurlos verschwunden. Hat sie überhaupt je existiert? Habe ich halluziniert? Bin ich einem Phantom gefolgt? Möglich, doch – tat ich das nicht schon seit Jahren? Habe ich nicht stets eine Idee, eine menschliche Vorstellung von Unsterblichkeit gejagt? Kann es sein, dass diese Idee für eine kurze Zeit in der magisch aufgeladenen Luft des venezianischen Karnevals Gestalt angenommen hat? Die Frage nach dem „Warum“ hat mich endgültig eingeholt und wirft sich nun mit reißenden Wolfszähnen auf mein ungeschütztes Bewusstsein. Meine selbstgeschaffene Welt zerbricht in eine Fläche aus irisierenden Glasstückchen – Puzzleteile, die sich neu zusammensetzen und mir folgendes Bild zeigen: Der ewige Traum des Menschen von der Unsterblichkeit: Zeitlose Kunst, Erhabenheit der Natur überlegen – wie anmaßend das auf einmal wirkt, so denke ich, angesichts der Tatsache, dass selbst diese magische Stadt nicht den Gewalten der Natur standzuhalten vermag und sich jedes Jahr tiefer in den schlammigen Grund der Lagune senkt. Der Mensch ist trotz seiner Bemühungen ohnmächtig zu verhindern, dass in einer nicht fernen Zukunft die Touristen mit U-Booten anreisen
werden und die von Lichtmasten erleuchteten Sehenswürdigkeiten der Vergangenheit durch das trübe Dunkel des Wassers hindurch betrachten, die Gesichter eng an die dicken Glasscheiben gepresst, während das U-Boot geräuschlos an den mit Seegras überwucherten Palazzi vorbeischwebt, die nur noch den ein- und ausschwimmenden Fischen ein vorübergehendes Zuhause bieten können. Die Gondeln werden als halb im Schlamm versunkene Särge ihre geigenförmigen Verzierungen in das mit Schwebstoffen angereicherte Wasser emporrecken – bis der Verfall endgültig gesiegt haben wird. Korallen und Fische werden selbst die höchsten Gebäude als rechtmäßige Eigentümer in Besitz genommen haben. Einzig der Glockenturm auf der Piazza San Marco wird als kleine Seltsamkeit das Bild der wieder zu Natur gewordenen Lagune stören. Die einstigen Bewohner der versunkenen Stadt, dieser nun dem Meer wieder zurückerstatteten Perle, sie werden wieder das Festland zu schätzen wissen und es nicht zum Anlass des Spotts missbrauchen. Festlandbewohner, die sie selber vor langer Zeit gewesen waren und in einer nicht ganz so fernen Zukunft wieder sein werden. Überwältigt von der Erkenntnis eines sinnlosen Lebens falle ich hart auf die Knie. Meine Hände wühlen krampfhaft im Schnee, der jedoch nicht zu fassen ist, der immer wieder auf den Handflächen zerschmilzt. Ich blicke verstört auf meine kalten Hände, die nass und leer im wieder auflebenden Wind frieren. Dann bricht sich ein irres Lachen einen Weg aus den Tiefen meiner Kehle. Ich lache – lauter und immer lauter, mein weit geöffneter Mund saugt verzweifelt Luft in die berstenden Lungen. Ich bestehe nur noch aus Lachen, ich bin das Lachen! Ich hebe die Handflächen gen Himmel und lege den Kopf in den Nacken. Als ich die gleichgültigen Sterne betrachte, die glanzlos am Himmel hängen, beginnen auf einmal
Generationen von Feuerblumen zwischen ihnen aufzusprießen. Sie brechen auf und verblühen – immer und immer wieder, begleitet vom fernen Raunen und Jubeln der Menge, zwischen das sich ein leises Gelächter von jenseits der Sterne mischt. Mein Lachen wandelt sich übergangslos zu einem Schluchzen. Als ich mein Gesicht in den Händen vergrabe und meine Tränen der Hoffnungslosigkeit in den Schnee fallen, da trägt der Wind die Fetzen eines schweren Klangs in den Innenhof. Vom Campanile her verkündet die Glocke Mitternacht – der Karneval ist zu Ende…
Das Ikarus-Prinzip
„Suisite-Tours ist in der erfreulichen Lage, der einzige Anbieter von Reisen zu solch ausgefallenen SelbstmordPlätzen zu sein“, sprach der italienische Professor für Kunstgeschichte, der sich als Reiseleiter in Venedig ein Zubrot verdiente. Seine Worte klangen kaum überzeugend, so als hätte er den Satz auswendig lernen müssen. Genauso abrupt, wie er aufgekommen war, legte sich der venezianische Nebel wieder und die Umrisse des Palazzo Dario tauchten schwankend und unwirklich aus dem Nichts auf, während die drei Gondeln vom Wellengang leicht hin- und hergeschaukelt wurden. Drei Gondeln mit je zwei Personen waren es, die auf den sich bedenklich zur Seite neigenden Palazzo zusteuerten. In der ersten saßen die beiden Geschäftsleute aus Prag, welche zwar noch nicht alle touristisch erschlossenen Winkel der Erde gesehen, aber schon mindestens ein Buch darüber gelesen hatten. Im zweiten Boot saß der brasilianische Lehrer, der unbedingt etwas Abwechslung in sein Leben bringen wollte, das er im Angesicht trostloser Armut verbrachte. Neben ihm streckte sich eine deutsche Architekturstudentin mit schwarzgeränderten Augenhöhlen und dunkelbraunem Lippenstift. In der ersten Gondel saßen der Reiseleiter und Mario. „Meine Damen und Herren, vor uns liegt der Palazzo Dario, erbaut um 1478 von Pietro Lombardo. Wie Sie sehen können, ist es einer der ersten Renaissancepaläste, denn er besitzt klassisch-römische Rundbogenfenster!“ Der Reiseleiter wies nach oben, wo schwarze Löcher auf die Gruppe herunterstarrten. Auf der linken Seite des Palazzos ragten sie in Viererreihen empor. Die rechte Fassadenwand war nahezu leer. Wie ein Maul mit verfaulten Zahnstummeln, dachte Mario.
Er saß neben dem Reiseleiter, einen schweren Rucksack auf den Knien. Mich kratzt diese morbide Schaulust überhaupt nicht. Hätte ich mich doch einer anderen Reisegruppe angeschlossen, verdammt! Die Gondolieri ließen ihre Boote an einen Kai treiben, vertäuten sie sorgfältig, und sechs Personen verließen die Wassertaxis. Der Reiseleiter stand mit dem Rücken zum Palazzo und beschrieb mit seinen Armen einen großen Bogen. „Wie Sie sehen können, besitzt der Palazzo eine asymmetrische Struktur, ähnlich der Ca’d’Oro. Auf eine Gliederung mit architektonischen Mitteln, wie Säulen oder Pilaster, wurde fast ganz verzichtet, stattdessen dominieren die verschiedenfarbigen Ornamente aus Marmor und Porphyr. Hier rechts kann man beispielsweise deutlich die kreisförmige Plakette an der Mauer erkennen. Sie wird Tondo genannt. Leider ist sie schon sehr verschmutzt.“ Die Miene des Kunstprofessors verfinsterte sich. „Es ist eine grauenhafte Tatsache, dass Venedig dem Untergang geweiht ist. Ich selbst bin immer noch zutiefst davon erschüttert. Genau heute vor einem Jahr habe ich im venezianischen Karneval eine Vision gehabt, welche mir die Vergeblichkeit allen Strebens der Kunst nach Unsterblichkeit vor Augen führte…“ Der Reiseleiter versank in grüblerischem Schweigen. Mario musterte die Fassade. Die hat auch schon bessere Zeiten gesehen… Die Fresken auf der Vorderseite waren durch das Seeklima bis zur Unkenntlichkeit verblichen. Knapp über der Wasseroberfläche griffen Algen an die Mauer und krallten sich in den Stein. Sie sahen aus wie im Todeskampf verkrampfte Hände von Ertrinkenden. Auf dem Dach sah Mario vier
tonnenförmige Schornsteine, die wie riesige, eingemauerte Zylinderhüte in die Lagunenluft ragten. Kann ich später…? Diese Kamine…? Der Reiseleiter begann wieder zu sprechen: „Der Palazzo Dario ist ein prachtvoller Bau und stolzer Ausdruck des Reichtums der Familie. Doch er wurde im Laufe der Jahrhunderte der Schauplatz vieler Tragödien, welche ihm einen zweifelhaften Ruhm einbrachten…“ Eine bedeutungsschwangere Pause. Zehn Augen musterten den Italiener aufmerksam. Mario hingegen kämpfte mit der Müdigkeit. Komm zur Sache, Junge! „Kurz nach Beendigung des Baus traten ungewöhnliche Klopfgeräusche im Haus auf. Man suchte alles ab, doch nirgends fand sich ein Hinweis auf den Ursprung des Hämmerns. Schließlich ignorierte man das Klopfen. Doch eines Tages fand man das Oberhaupt der Familie, Alfredo de Teschi, tot im marmornen Bad. Sein Gesicht, so sagen die Venezianer, habe einen derart grausigen Anblick geboten, dass sofort einige der anwesenden Damen in Ohnmacht fielen. Sogar der Sarg musste später auf Wunsch des Pfarrers geschlossen bleiben. Als Todesursache wurde Herzstillstand diagnostiziert…“ Alle Reisenden, außer Mario, blickten gebannt auf den Italiener. Was für Idioten! Der Reiseleiter genoss die Situation sichtlich. Lächelnd fuhr er fort: „Doch damit war die tragische Geschichte des Palazzo Dario noch nicht zu Ende. Als man nach fünf Jahren die Decke des Ballsaales im obersten Stockwerk erneuerte, fand man die mumifizierte Leiche eines Schreinermeisters, welche unter der Holztäfelung der Decke festklemmte. Der Gesichtsschädel war zertrümmert. Offensichtlich war der Schreiner bei den
ursprünglichen Bauarbeiten von einem gedungenen Mörder erschlagen und unter der Täfelung versteckt worden – Tatmotiv unbekannt. Doch der Handwerker war nicht sofort tot gewesen, sondern versuchte noch verzweifelt, über mehrere Tage hinweg mit seinem Hammer auf sich aufmerksam zu machen…“ Mario konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Als habe er Mario nicht bemerkt, erzählte der Reiseleiter weiter: „Seit dieser Zeit kam es immer wieder zu… Unfällen. Diese blieben aber nicht auf die Familienmitglieder beschränkt, sondern ereilten auch Personen, die sich nur als Gäste im Palazzo Dario aufhielten. Beispielsweise fand man am Morgen nach einem rauschhaften Gelage den Dogen Franchesi vor dem Brunnen im Innenhof kniend vor. Sein bleiches Gesicht blickte mit weit geöffneten Augen und aufgerissenem Schlund durch das trübe Wasser hinab zum moosbedeckten Grund. Allgemein wurde angenommen, dass er sich im Rausch selbst ersäuft habe. Man munkelte, dass seine Mätresse einem anderen Dogen ihre Dienste während des Festes angeboten habe. Wegen diesem Vorfall haben die Venezianer dem Palazzo Dario einen Spitznamen gegeben: Suizidpalast.“ Nach einer kurzen Pause, welche die Dramatik erhöhen sollte, schritt der Reiseleiter wortlos durch das Eingangsportal. Als die Gruppe ihm folgte, erhob er wieder die Stimme. „Hier unten befindet sich das Erdgeschoss, Pianterreno genannt. Durch die ganze Ebene zieht sich das Portego – die große Halle. Hier wurden früher die Waren gelagert, die aus dem Osten angeliefert wurden: Stoffballen, Gewürzkisten, Zuckersäcke und vieles mehr. Auch befindet sich hier die Waffen- und Jagdtrophäensammlung der Familie.“ Sie betraten einen weithin offenen Raum, von dem Türen nach links und rechts zu den Lagerräumen führten. An den
Wänden hingen Schwerter und Feuerwaffen, aber auch Hirschgeweihe, Eberköpfe und stolze Fasane. Für einen Antiquitätenhändler wäre dies hier ein Traum. Niemand war zu Hause, denn die Gruppe begegnete auf der Wanderung durch die Halle keinem Menschen. Allein die übermächtige Architektur schien sie zu belauern. Doch Mario erklärte sich dies dadurch, dass hier alles den Eindruck des Lebendigen machte. Das Spiel mit dem Schein und der Illusion war in der Renaissance sehr beliebt gewesen, wie er wusste. In der Gefängnisbibliothek hatte sich Mario gut vorbereitet. Die Gruppe gelangte in den Innenhof und stoppte am Brunnen. Um sie herum spähten aus der Höhe Amoretten mit lüsternem Blick herab. Eine breite, elegant verzierte Marmortreppe führte hinauf in den ersten Stock, der – wie Mario gelesen hatte – Piano nobile genannt wurde. Sie wurde von antiken Heldenstatuen getragen, welche mit kräftigen Armen die Stützsäulen packten. Auf der Spitze des Brunnens thronte eine Putte. Sie hielt ein Füllhorn in den fleischigen Armen, aus dem das Wasser in das oberste Becken floss. Von dort aus schwappte das kühle Nass in die Schale darunter, die etwas größer war und von Fischen mit speienden Mündern gesäumt wurde. Das letzte Becken ähnelte einer gigantischen Muschel. Der Italiener wischte sich mit einem fleckigen Taschentuch über die schweißnasse Stirn. „Die alten Venezianer glauben, dass dieser Brunnen einem alten Gott geweiht ist, welcher in der Tiefe der Lagune wohnt. Angeblich stellt das letzte Becken keine Muschel, sondern das Maul des mythischen Lagunengottes dar – aber das ist nur eine lokale Sage. Hier!“ Der Touristenführer wies mit der Hand auf die Steinplatten zu ihren Füßen. „Sehen Sie sich den wundervollen Terrazzoboden an! Sie werden ihn überall im Palazzo wieder finden.“
Mario presste die Lippen aufeinander. Dieses Brunnenbecken muss ein betrunkener Bildhauer gemeißelt haben – völlig unförmig und verzerrt! „Begeben wir uns aber nun hinauf in die Wohnräume“, lockte der Reiseleiter mit einem schmeichelnden Tonfall in der Stimme. Während alle emporstiegen, strich Mario zärtlich über das kalte Treppengeländer, das mit einem dünnen Goldüberzug versehen war. Nur noch dieses eine Mal! Dann höre ich auf… Die Gruppe wurde durch verschiedene Räume geführt, welche teilweise Deckenhöhen von über sechs Metern erreichten. Da war die Bücherei mit den roten Plüschsesseln, das Salonzimmer mit dem Kamin aus Carraramarmor, das freskenverzierte Studierzimmer im Halbdunkeln mit den beiden großen Holzgloben in der Mitte. Diese waren durch die Berührungen unzähliger Hände völlig glattgerieben. Ihre Holzform war im Laufe der Zeit etwas verzogen. Daher ließen sie sich nur schwer drehen – unrund torkelten sie in ihren metallischen Aufhängungen. Bald darauf erreichte die Gruppe auf ihrem Rundgang das sagenumwobene Badezimmer. Seine Pracht war für die staunenden Touristen schier überwältigend. Eher geringschätzig tätschelte Mario eine Goldsäule und sah sich um. Eigentlich kein schlechter Platz, um von der Bühne abzutreten. Immerhin besteht auch hier alles aus echtem Marmor. Die Wanne ist durch blattgoldverzierte Säulen mit der Decke verbunden. Selbst die Wasserhähne sind goldüberzogen. Und… was haben wir denn da? Seine geübten Augen fanden die Lichtschranke im Türrahmen schnell. Jeder Raum des Palazzos war mit Diebstahlsicherungen versehen worden: Hier eine
Lichtschranke, dort ein Bewegungsmelder, am anderen Ende ein Berührungssensor an einem Gemälderahmen, nahezu unsichtbar für ein ungeschultes Auge. All dies registrierte Mario zwar mit fachmännischem Interesse, doch erst als sich die Reisegruppe dem dritten und damit letzten Stock zuwandte, erwachten seine Sinne ganz. Der Reiseführer stoppte an einer zweiflügligen Holztür. Auf ihr stellte eine meisterhafte Kombination aus eingelegten Intarsien- und Reliefarbeiten die Hochzeit von Kanaan dar. Die Schnitzarbeiten wirkten auf Mario so lebendig, dass er meinte, die Figuren könnten geradewegs aus dem Holz herausgreifen. Den Türrahmen beherrschte hingegen ein phantasievoller Blumen- und Ornamentschmuck. Einzelne Fratzen grinsten daraus hervor. Der Rahmen wurde von zwei Flügelschwingen gekrönt, zwischen denen das Wappen der Familie prangte. Marios Lippen wurden trocken und er musste sie immer wieder mit der Zunge befeuchten, wenn er an das dachte, was hinter diesem Portal auf ihn wartete. „Meine Damen und Herren, kommen wir zum Höhepunkt unserer Führung – dem berühmten Festsaal des Palazzo Dario!“ Mit diesen Worten warf der Italiener die Türflügel auf und ließ den dahinterliegenden Glanz auf die Netzhäute der Besucher fallen. Diese stolperten benommen in den Raum, von dem alle schon viele sagenhafte Beschreibungen gehört hatten. Der Festsaal war gut dreißig Meter lang und nahm nahezu vollständig das gesamte Stockwerk in Beschlag. Der Terrazzoboden spiegelte das gedämpfte Licht dreier Kronleuchter wider, die mit starken Ketten von der Rundbogendecke herab hingen. Diese war mit den Rauten einer kunstvollen Holztäfelung bedeckt, die nur in der Mitte des Saales Platz für ein Deckenfresko freihielt, direkt über der riesigen Festtafel. Auf dieser befanden sich Kerzenständer der
filigransten Art, begleitet von samtbezogenen Stühlen, deren Holz gelbgolden glänzte. Statuen und Büsten reihten sich in einer Linie an der Wand auf, nur unterbrochen von einem Tisch, der überladen mit alten Goldchronometern prunkte. In der gegenüberliegenden Ecke narrte eine aufgemalte Tür den Blick, auf welcher herein- und herauseilende Boten in Renaissancekleidung dargestellt waren. Spärliches Licht fiel von der Kanalseite her durch große Rundbogenfenster und machte den Saal zu einem Panoptikum schwacher Lichtreflexe – einer davon strahlte für Mario besonders heraus. Es war ein rotes Glimmen in der Höhe, ausgelöst durch ein Funkeln des aufgehenden Mondes, das auf einen ganz bestimmten Punkt der Decke fiel. Der Reiseleiter drehte einen Schalter und Licht flammte auf – Marios Pupillen zogen sich schmerzhaft zusammen. Die Strahlen der Kronleuchter wurden durch eine Reihe von Spiegeln auf der den Fenstern gegenüberliegenden Wand zurückgeworfen und tanzten über Kristallkaraffen, Gläser und Geschirr, ehe sie sich hoch oben an der Decke im unsichtbaren Netz eines roten Rubins verfingen, der mitten in das Deckenfresko eingelassen war. Mario verschlug es die Sprache – so hatte er sich den Edelstein nicht vorgestellt. Obwohl er sich seit Monaten im Schlaf ausgemalt hatte, wie es wohl sein würde, endlich den sagenhaften Dionysos-Rubin zu sehen, war der Anblick doch überwältigend. Wie ein Zyklopenauge blickte der Rubin aus sechs Metern Höhe auf Mario herab und sein Funkeln schien ein verlockendes Zwinkern zu sein. Ich bin am Ziel! Mario dachte an die Worte eines Kumpels von früher. Luigi war sein Zellenkumpan gewesen. Mario konnte noch dessen schlechten Atem riechen, als er sich daran erinnerte, wie Luigi ihn mit einem Mund voller fauliger Zahnstümpfe anlachte.
Beide befanden sich in einer kleinen Zelle im Mailänder Staatsgefängnis. „Das is’n todsicheres Ding, Mario! Den Rubin kannste für kurze Zeit in die Schweiz schaffen und dort dem Dieter geben, der betreibt zum Schein einen Trödlerladen.“ Das Grinsen von Luigi wurde noch breiter. „Dann kannste das Teil so’nem Koksbaron aus Kolumbien verkaufen!“ „Aber ich bin über vierzig, Luigi. Wie soll ich das mit dem Raufklettern machen?“ Luigi grinste und hockte sich mit angezogenen Beinen auf das Bett. „Tja, Kumpel – das is’ dein Problem…“ „Hm. Einmal noch, Luigi, ein letztes Mal noch. Danach will ich aufhören“, meinte Mario. Ein muskulöser Arm ergriff seinen Ellenbogen. „He – was issn los mit dir? In unserm Job gibt’s kein Rentenalter.“ Mario riss sich los. „Ich bin ‘s leid, Luigi. Ich fühl’ mich müde, alt – verbraucht. Ich hab einfach gemerkt, dass es an der Zeit ist aufzuhör’n.“ Luigi sah ihn betreten von der Seite her an und murmelte: „Du hast einfach nur Schiss…“ Die Worte des Reiseleiters schleuderten Mario in die Gegenwart zurück: „Dieser Festsaal ist der einzige Raum, in welchem noch alle Gegenstände und baulichen Details original aus der damaligen Zeit stammen. Man hat diesen Kunstschatz mit dem verloren gegangenen Bernsteinzimmer verglichen, doch nichts kann der Einmaligkeit dieses Renaissancesaals das Wasser reichen!“ Wahrscheinlich war nur deswegen auf den Einbau von Elektronikkameras an den Wänden verzichtet worden, wie Mario mit einem Blick an die Decke erkannte. Hoch oben krallten sich die Schatten wie Tiere in die runden Holzornamente der Täfelung.
Luigi hatte Recht: Ich habe Angst davor, den Job weiterzumachen. Irgendwann schnappen mich die von der TPA-Carabinieri-Truppe. Die haben sich schließlich auf Kunstdiebstahl spezialisiert. Aber was mach’ ich dann – nachher? Kann ich denn überhaupt etwas anderes machen? Soll nicht jeder das machen, was er am besten kann – das, was er im Blut hat? „Meine Damen und Herren“, der schlechte englische Akzent des Italieners riss Mario schon wieder aus seinen Tagträumen, „ich schlage vor, Sie erkunden selbstständig den Raum. Aber bedenken Sie, dass der Palazzo in einer Viertelstunde geschlossen wird! Wir bedanken uns für Ihr Interesse an der SuiSite-Tour. Hoffentlich treffen wir uns ein andermal wieder! Denken Sie daran, dass ,SuiSite-Tours’ auch Reisen nach Asien oder Afrika anbietet! Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend!“ Der Reiseführer verbeugte sich linkisch und nahm die ihm angebotenen Geldstücke. Dann verschwand er durch die Tür. Mario sah ihm nach. Da geht er hin und lässt uns unbeaufsichtigt. Das kann er auch nur tun, weil die Tür elektronisch gesichert ist und jeder Gegenstand im Raum eine unsichtbare Magnetmarkierung trägt. Geht man damit durch die Lichtschranke, wird ein Großalarm ausgelöst, alle Türen des Palazzo schließen automatisch und die Carabinieri sind mit ihren lauten Motorbooten zur Stelle. Aber mich kriegen die nicht! Er bummelte durch den Saal und blickte scheinbar gleichgültig um sich, während die anderen Reisenden begeistert Fotos machten. Die Manager aus Prag standen lange da und sahen nach oben. Mario bemerkte lächelnd, dass sie vom Deckenfresko besonders angetan waren. Er stemmte die Fäuste in die Seiten und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick erklomm die Höhe und traf auf die ovale Aussparung in der Täfelung, welche von den
Lichtkreisen der drei Leuchter erhellt wurde. Marios Kennerblick erfasste die Einzelheiten. Auf einer Fläche von vierzig Quadratmetern wirbelte ein Reigen von grotesken Seltsamkeiten an der Decke. Das Fresko wurde von den Kunsthistorikern „Das Festmahl des Dionysos“ genannt. Es stellte ein Kaleidoskop an polychromen Körperlichkeiten dar, was in der italienischen Kunst dieser Epoche nicht selten war, wie Mario aus den Büchern wusste. Eine imaginäre pastorale Landschaft mit Ackerflächen und einem Heiligen Hain bildete den Hintergrund für einen Reigen von illustren Figuren. In der Mitte saß ein nackter Mann auf einem goldenen Gespann, das von zwei zahmen Tigern gezogen wurde – Dionysos. Die Fettpolster der Figur wölbten sich überdimensional und das rotbackige Gesicht mit der geäderten Nase lachte weinselig – eine Krone aus Weinblättern war ihm ins Gesicht gerutscht. In der Hand hielt er ein Rebenbündel, von dem heimlich ein junger Satyr naschte, der frech neben dem Wagen herlief. Der fleischige Arm des Dionysos lastete auf einer feisten Schönheit, die den Betrachter anlächelte und ein Tamburin mit flatternden Bändern schwang. Aber nicht nur sie erhielt die Gunst des Gottes, auch eine Bocksgestalt, die ihm neckisch in die Fettfalte zwicken durfte und das auch sehr angenehm fand, wie ihr seliges Grinsen verriet. Neben ihr ritt ein in sich zusammengesunkener Mann auf einem Esel, wobei er sich schwer auf dem Tier aufstützen musste, um nicht im Rausch herab zu fallen. Links lagerte eine bezaubernd schöne Frauengestalt im Gras, nackt und mit übereinander geschlagenen Beinen. Sie hatte die Augen genussvoll geschlossen, ebenso wie die männliche Figur dahinter, die auf einer Bank saß. Der Mann hielt einen Krug, der herunterzufallen drohte. Es näherten sich zahme Elefanten, Löwen und ein Schaf, mit dem zwei wohlbeleibte Putten
spielten. Der Eindruck des Ganzen war geprägt von einer geradezu überwältigenden Körperlichkeit, von Lust an Rausch und Sexus. Doch für Mario prägte etwas anderes das Fresko: Der handtellergroße Rubin, der als drittes Auge in die Stirn des Dionysos eingelassen war. Nach und nach verließen die übrigen Reisenden den Schauplatz und es wurde still im Saal. Niemand bemerkte, dass Mario fehlte. Er lief zum großen Kamin, der die Stirnseite des Saals beherrschte, kroch hinein und packte seinen Rucksack aus. Zum Vorschein kamen zwei Bergsteigerhaken, Steigstiefel, ein Seil und ein Hammer. Aus einer Hosentasche kramte Mario zwei grüne Pillen, die er von einem windigen Hinterhofapotheker in Rom erstanden hatte und welche dem Dieb zu gesteigerter Körperkraft und verringertem Schlafbedürfnis verhelfen sollten. Mario wog die beiden Ovale kurz in der Hand. Ihr beiden wisst, dass ich nicht mehr der Jüngste bin. Daher bin ich auf eure Hilfe angewiesen – auf gute Zusammenarbeit. Er warf die Pillen in seinen Mund und drückte sie mit der Zunge in die Speiseröhre. Mario sah nach oben. Er stand direkt im Kamin, der zum Schornstein führte. Hier waren die Steine nicht dicht verfugt und er konnte die Haken weit oben einstecken, ohne viel Lärm zu machen. Vorsichtig drehte er die Haken in den porösen Mörtel. Dann zog er das Seil durch, knotete es sich um die Hüfte und wechselte die Schuhe. Er schulterte den Rucksack und zog sich am Seil hoch, während die Spikes seiner Stiefel in den verkohlten Kaminwänden Halt fanden. Als neugierige Blicke ihn nicht mehr erreichen konnten, zog er einen Haken aus der Wand und setzte ihn unten wieder ein, so dass sein Stiefel sicheren Halt fand, während der andere noch mit der Spitze in der Rußschicht steckte. Seine Arme stemmte er gegen die Mauern.
In dieser Position konnte ich früher stundenlang ausharren, wenn es sein musste. Hoffentlich hob ich heute noch die Kraft dazu – aber ich hab ja die Pillen! Die dürften auch gleich zu wirken beginnen… Nach einer halben Stunde bemerkte er die Schritte des Wächters, der seine erste Runde drehte. Mindestens eine weitere halbe Stunde musste Mario im Kamin aushalten und versuchen, die Regelmäßigkeiten der Kontrollgänge ausfindig zu machen. Dabei kam ihm der Umstand zu Hilfe, dass die Türflügel offen gelassen wurden, er also Geräusche schon von weitem hören konnte. Wenn er sich konzentrierte, vermochte er sogar die Schritte der Wache im Stockwerk unter ihm wahrzunehmen. Mario achtete penibel auf die Reihenfolge, in welcher die Wache die Räume abschritt und wie lange sie sich jeweils in den Zimmern aufhielt. Aber nichts war so wichtig, wie das Verhalten der Wache zu erforschen, wenn sie den Ballsaal kontrollierte. Ab und zu geisterte der grelle Strahl einer Taschenlampe unter Mario vorbei und traf die hintere Kaminwand. Doch nie kam jemand, um in den Schornstein zu sehen. Aus dem Lauterund-Leiser-Werden der Schritte folgerte Mario, dass die Wache nur einmal um die Tafel lief und sich dann entfernte. Der Dieb lauschte den Schlägen des Campanile auf dem Markusplatz. Für einen Moment wurde ihm schwindelig und er drohte abzustürzen. Seine Sicht verschlechterte sich zusehends und Mario schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können. Was war das? Bin ich vielleicht doch zu alt? Oder vertrage ich die Pillen nicht? Kurz vor Mitternacht machte er sich an den Abstieg. Als er an den Wandteppichen und stummen Torsi vorbeilief, stellten sich ihm die Nackenhaare auf.
Unheimlich ist das hier – aber trotzdem fühle ich wieder das alte Kribbeln in den Fingern. Ich bin wieder jung. Könnten mich doch die anderen Kumpels hier arbeiten sehen! Die würden Bauklötze staunen… Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm ragte die bleiche Erscheinung eines jungen Mannes an der Wand auf. Der Jüngling lehnte an einem dunklen Pfahl und hatte die Arme hoch über seinen Kopf erhoben. Sie waren mit einem Seil festgebunden. Der muskulöse Körper reckte sich lasziv dem Betrachter entgegen und trug nur ein knappes Tuch um die Hüften. Der Blick des Mannes war der Welt entrückt und hatte etwas Ekstatisches an sich, obwohl deutlich erkennbar zwei Pfeile in seinem Brustkorb steckten. Erleichtert atmete der Dieb auf. Es war ein Zeichen seiner angespannten Nerven, dass ihn das Bildnis des Heiligen Sebastian derart schockieren konnte. Marios Blick wanderte in die Höhe. Das sind gut sieben Meter. Soll ich es über die Kronleuchter probieren? Aber nein, meine Arme würden von dort aus nie an den Rubin reichen. Dann also lieber die längere Strecke über die Außenseite des Kamins und die Decke. Mario lief zurück zum Kamin, zog die Handschuhe an und schwang sich auf den Sockel. Dort stand er breitbeinig und setzte vorsichtig seine Haken in die Ritzen des Kamins ein. So stieg er empor, erreichte die Holztäfelung und wechselte die Richtung. Nun klemmte er die Haken in die Fugen der hölzernen Rauten und quetschte die Spikes seiner Schuhspitzen ebenfalls ins Holz. Mario ähnelte nun einer Stubenfliege an der Decke des Raumes. Nichts übereilen – wenn ich mich nicht fest genug in dem Holz verankere, ist das der Freiflug – und nur im günstigsten Fall zurück ins Gefängnis!
Marios Schweiß wurde aus allen Poren getrieben: Haken herauspulen – neu einsetzen, dann der nächste Haken; die Schuhspitze vorsichtig freibekommen – neu festklemmen, dann der nächste Schuh. Wenn er seinen Kopf in den Nacken legte, konnte er die Entfernung zum Deckenfresko abschätzen. Langsam kam er näher. Plötzlich war eine Bewegung unter ihm – Mario hatte sie mehr erahnt als gehört. Still hing er in der Holztäfelung. Er drehte den Kopf, so weit er konnte, und sah den Lichtfinger einer Taschenlampe über den Kamin huschen. Der Lichtklecks kroch immer höher und erreichte die Decke genau an der Stelle, wo sich Mario in die Täfelung begeben hatte. Verdammt – viel zu früh! Bin ich entdeckt worden? Hab ich Lärm gemacht? Hoffentlich sind nicht irgendwelche auffälligen Spuren meiner Schuhe oder meiner Haken in der Täfelung zu sehen! Der Dieb blickte zwischen seinen Beinen hindurch nach hinten. Das Licht kam auf ihn zu. Immer näher kroch es wie eine gelbe Riesenspinne an der Decke entlang. Doch es erlosch, bevor es Mario erreicht hatte, und die Schritte des Wachmannes entfernten sich. Mario atmete auf. Puh – das hätte auch schief gehen können! Ich muss mich jetzt beeilen! Verbissen kletterte er weiter und erreichte das Fresko. Der Dieb bewegte sich etwas nach links, um die kürzeste Distanz zwischen seinem Halt in der Täfelung und dem Kopf des Dionysos mit dem Edelstein zu erreichen. Langsam löste er seinen Griff und streckte den rechten Arm aus. Mario dehnte seinen Körper, bis er glaubte, er würde zerreißen, während seine Finger wie kleine Käfer über den bemalten Mörtel krabbelten und gierig nach dem Edelstein suchten. Ein kalter
Schock traf seine Nervenenden – die Fingerspitzen hatten den Rubin erfühlt. Mario biss sich die Unterlippe blutig. Noch ein wenig mehr, komm schon… Die Finger erkämpften sich jeden Zentimeter, waren nun über dem Edelstein und jetzt fasste er den Rubin! Was ist das? Der aufgemalte Dionysos verdrehte die Augen. Das darf nicht sein, das kann nicht sein… Die Erinnerung an eine serbisch-orthodoxe Kirche im ungarischen Mohacs, die er vor Jahren ausgeraubt hatte, schoss ihm durch die Hirnwindungen. Damals hatten ihn die Augen der Ikone bei seinem Weg durch das Kirchenschiff verfolgt. Aber damals war das eine optische Täuschung gewesen! Hier jedoch ist die Bewegung der Augen echt! Marios Hand schwang zurück, denn er fühlte nun die Wärme, welche von der Stirn des Dionysos ausging. Die ruckartige Bewegung seines Armes brachte die wohlabgestimmte Einheit seiner Balance an der Decke durcheinander. Er versuchte noch, den Haken zu ergreifen, doch da rutschte auch schon ein Bein aus der Holzraute. Seine Kräfte ließen nach und er musste auch seinen anderen Arm loslassen. Für einen kurzen Moment hing er an einem Bein von der Decke – dann fiel er! Mario sah sich wie in Zeitlupe dem Boden entgegenstürzen, den Blick dabei unverwandt nach oben zur Decke gerichtet. Er glaubte zu bemerken, wie ein Zittern das Gemälde durchlief. Ein Flimmern zeigte sich, zunächst an den Randbezirken, dann strömte es nach innen und erzeugte eine Art Dreidimensionalität auf der Oberfläche des Freskos. Die Farben veränderten sich, unterlagen dem Wechselspiel des künstlichen Sonnenlichts auf der gemalten Szenerie und Wolkenschatten huschten über das vom Wind gewellte Gras. Nun begannen sich auch die Figuren aus dem Fresko zu lösen.
Sie veränderten ihre Haltung und schwebten Mario langsam entgegen – da krachte der Kunstdieb auf die lange Tafel und verlor das Bewusstsein, während das Porzellangeschirr unter dem Gewicht seines Körpers zersprang und die Scherben über den Tisch zu Boden tanzten.
Das erste, was Mario wahrnahm, war ein gedämpftes Lachen, das aus einem undefinierbaren Geräuschpegel herausragte. Dann flutete roter Schmerz durch seine Kopfhaut, als seine Haare in Büscheln gepackt und in die Höhe gezogen wurden. Das Lachen wurde schallend laut und heißer, nach Wein und morschen Zahnstümpfen stinkender Atem umwölkte seine Nase. „Nimm endlich den Kopf von der Lammkeule und trink noch mehr Wein! Concetta – schenk unserem Freund einen Becher ein!“ Die dröhnende Stimme bewirkte, dass Mario erstaunt die Augen aufriss und ungläubig in die Runde starrte. Er saß auf einem der hohen Stühle des Festsaals und hatte einen reich verzierten Porzellanteller vor sich. Darauf lag eine goldgelbe Keule, daneben stand ein leerer Becher. Ein bleicher Arm kam ins Blickfeld – er hielt eine Karaffe, aus welcher Wein in das Trinkgefäß floss. Marios umnebelter Blick nahm den Weg am Arm hinauf und erkannte, dass dieser zu einer schönen Frau mit ausladenden Brüsten gehörte. Sie lächelte ihn an, drehte den Kopf, so dass ihn das blonde Haar an der Nase kitzelte und er dessen Geruch wahrnehmen konnte. Es roch nach Rosmarin und Lavendel. Dann schwang sie ein Tamburin, woran bunte Bänder flatterten und tanzte weiter den Tisch entlang. Erst jetzt vermochten Marios Augen Dinge in weiterer Entfernung wahrzunehmen. Ihm gegenüber saß, auf dem Stuhl eingesunken, ein alter Mann. Er hielt den Kopf fest auf die
Brust gepresst. Ein Esel drängte sich zu ihm, welcher wiederum von einer braunhaarigen Nackten gekrault wurde. Sie kicherte und lachte jedes Mal laut auf, wenn ihr Begleiter, den Weinkrug an den Lippen, sie fest in die Brust zwickte. Doch den alten Mann neben dem Esel schien das alles nicht zu stören – er schlief weiter. Um die Stühle schlichen zwei Tiger und rieben sich an nackten Waden, während im Hintergrund die Elefanten im Halbdunkel des Saales aufragten. Ein Blöken und ein orgiastisches Jauchzen kam aus einer nicht einsehbaren Ecke. Um den Tisch tanzten bocksbeinige Gestalten mit Hörnern auf der Stirn und sangen verruchte Lieder voller Obszönitäten und Blasphemie. Im Hintergrund schienen die Lichter des Canale Grande durch die hohen Rundbogenfenster. „Na, mein Junge, du scheinst ja ein bisschen zu viel gebechert zu haben. Hast du gut geträumt?“ Noch benommen wandte der Dieb seinen Kopf nach links. Es war die Stimme, die ihn so unsanft empor gerissen hatte und mit ihrem schallenden Gelächter sein Trommelfell strapazierte. Weingeruch umwaberte seine Sinne. Neben ihm ließ eine fleischige Hand eine Weintraube aus der Höhe fallen. Sie stürzte in ein breites Gesicht mit wulstigen Backen und rotgeäderter Nase, wo sich ein Mund wie ein schwarzes Loch auftat, aus dem es übel roch. Üppige Lippen schlossen sich wieder und kleine Schweinsaugen blitzten Mario gewitzt an. „Alfredo, was ist los? Lass uns auf das Leben und den Rausch anstoßen!“ Ein feister Arm ergriff einen goldenen Kelch, der vor Wein überquoll. Die Gestalt setzte Unmengen von Fleisch in Bewegung und – lächelte. Das Wort „Masse“ vermittelte als Ausdruck nur einen unzureichenden Eindruck jenes Berges aus Muskeln, Fett und schwitzenden Körperfalten. Die Gestalt
thronte neben Mario wie ein unverrückbarer Fels. Den Anblick ironisierte ein Kranz aus Weinblättern, die ein Scherzbold dem Titanen um den haarlosen Schädel gewunden hatte. „Nein, du bist nicht wirklich der Gott des Rausches. Niemals! Du kannst nicht Dionysos sein!“, schrie ihn der Dieb an. Der Mann legte die Stirn in Falten. „Wer soll ich nicht sein? Dionysos? Du hast Recht, ganz klar – ich bin nicht Dionysos! Ich bin der Doge Franchesi!“ In Marios Kopf schwirrte es. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Namen. Verdammt – das war ja… „Unsinn – der Doge starb 1490 im Brunnen des Palazzo Dario“, hörte sich Mario sagen. Der Berg bebte, als ihn ein Lachen durchrüttelte. „Hahaha! Der Wein verwirrt deine Sinne, Alfredo! Wir schreiben doch gerade erst das Jahr 1487!“ Verwirrt blickte der Dieb auf die Tafel, wo sich die Braunhaarige lang ausgestreckt hatte und ihren Körper mit allerlei Obst bedeckte. Die übrigen Gäste griffen gierig zu. Die Frau kicherte. „Wie haben Sie mich genannt? Alfredo? Sie irren sich, mein Name ist Mario…“ Die Augen des Dogen sahen ihn ernst an. „Du träumtest, du seiest ein anderer. Deine studierten Schriften hast du hoffentlich nicht vergessen – sie haben uns nämlich zu Ruhm und Reichtum geführt. Auch einen alten Menschheitstraum hast du uns durch deine Entdeckung in den verstaubten Büchern erfüllt!“ Applaus und wohlwollendes Nicken der anderen Gäste. Der Doge lächelte in die Runde und hob anerkennend das Kinn. Dann neigte er sich zu Mario und auf sein Gesicht legte sich der Schatten einer düsteren Wolke. Etwas leiser fügte er hinzu:
„Und vergiss nie, dass ich dich fürs Maulhalten bezahle und nicht fürs Reden…“ Der Dieb schluckte. In der Stimme lag eine unterschwellige Drohung, die man nicht überhören konnte. „Was feiern wir eigentlich?“ versuchte er abzulenken. „Haha – heute ist der Tag, an dem dieser Bau – euer Bau – vollendet wurde: Palazzo Dario.“ Der dicke Mann wies mit einer gönnerhaften Handbewegung in die Runde. „Die Handwerker haben erst heute Mittag die Täfelung fertiggestellt, ich habe noch persönlich mit dem Schreinermeister geredet…“ Er wandte sich ihm zu und legte die Hand an den Mund während er flüsterte: „… den du nicht mehr bezahlen musst. Dafür haben ich und meine Männer schon gesorgt…“ Mario zeigte sich verwirrt. Der Doge rollte mit den Augen. „Du hast aber ganz schön einen Zacken in der Krone – oder war nur der Aufschlag auf der Keule sehr hart? Aber du kannst dich glücklich schätzen, Alfredo – den Palazzo hier und alles andere verdankst du deinem kleinen Fund in der Klosterbibliothek…“ „Fund? Klosterbibliothek?“, fragte Mario und nahm noch einen kräftigen Schluck. Sein Sichtfeld war inzwischen stark eingeschränkt. „Halt deinen Mund, Alfredo“, knurrte ihn der Fette leise an. „Greif an deine Stirn und fühle den Anteil, den du bekommen hast! Vielleicht weißt du ja dann Bescheid!“ Der Dieb tat wie ihm geheißen und erspürte ein kaltes, glattes handtellergroßes Ding an einem Goldreif auf der Stirn – er nahm ihn ab: Es war der Rubin! Mit ungläubigem Staunen und bar jeglicher Vernunft setzte sich der Dieb den Reif schnell wieder auf. Dabei war er dermaßen ungestüm, dass ihm der Kopfschmuck nach hinten rutschte.
Jetzt muss ich eigentlich nur noch unbemerkt aus diesem Treiben der Verrückten herauskommen… Er versuchte aufzustehen. „Wo willst du hin?“, stoppte ihn der Dionysos-Darsteller. „Jetzt kommt gleich der Höhepunkt des Abends. Ich habe ihn speziell für dich arrangieren lassen!“ Eine Fleischpranke des Dicken senkte sich auf Marios Schulter und zwang ihn nieder. Was soll’s? Ich kann ja später noch gehen! Sind das Schauspieler hier? Wollen mir meine Kumpels einen Streich spielen? Marios Blick schweifte ab und er sah durch ein Fenster hinunter auf den Canale Grande. Ihm fehlten die Worte und sein Mund klappte auf. Wie kann das möglich sein? Unten auf dem nachtschwarzen Wasser fuhren stolze Handelsgaleeren mit vom Wind geblähten Segeln. Ihre Signallampen schaukelten im Wind hin und her. In ihrem schwankenden Licht konnte der Dieb Stoffballen und Gewürzkisten auf Deck erkennen. Einige hielten vor den Palazzi, um ihre Güter abzuladen. Andere strebten weiter, möglicherweise dem Arsenal von Venedig zu. „1487“, der Fette strich über die Intarsien des Tisches. „So hast du es in alle Holztische deines Palazzos einarbeiten lassen, hier schau!“ Doch Marios Blick hing am Fenster. „Was bist du doch für ein Spielverderber, Alfredo. Es ist Carnevale a Venezia – genieße ihn! Gleichzeitig kannst du die Fertigstellung deines Palastes feiern. Es gibt Wein, Fleisch, Obst aus aller Herren Länder – was willst du mehr?“ Ein Zwerg und ein Krüppel hüpften froschartig über die Tafel. Der Krüppel sah die Tamburinspielerin Concetta gierig an. Diese zeigte jedoch dem Missgebildeten die kalte Schulter.
Der Zwerg flüsterte dem Dicken etwas ins Ohr. Dann sprang er auf die Schultern des Missgebildeten. Er langte in die Höhe, packte ein Seil, das von der Decke hing, und zog sich hoch – der Mann mit dem Buckel folgte ihm. Oben angekommen ergriffen sie die schwere Kette, mit welcher der Lüster an der Decke festgezurrt war, und schwangen sich nach oben in einen Bereich, den die Kerzen nicht ausleuchten konnten. Der als Dionysos verkleidete Mann nickte dem Dieb neckisch zu. „Jetzt sind sie soweit – es folgt eine kleine Darbietung!“ Er klatschte in die Hände. Das Murmeln im Saal verstummte. Der Mann erhob erneut seine Stimme: „Meine lieben Freunde! Unser Gastgeber Alfredo ist, wie ihr sicherlich wisst, seit geraumer Zeit ein Büchersammler und Liebhaber der wieder entdeckten Literatur der griechischen Antike. Doch es gibt eine Sage, die es Alfredo besonders angetan hat“, bei diesen Worten lächelte er dem Dieb zu. „Und diese Geschichte möchte ich ihm heute als kleines Theaterstück schenken! Meine Damen und Herren, lieber Alfredo: der Flug des Ikarus!“ Applaus setzte ein – die Lichter erloschen – Stille. Von oben hörte man ein knarrendes Geräusch. Alle blickten hinauf in die Schwärze, aus der sich langsam ein geflügelter Schatten löste – es war der Zwerg. Er hing in einer Art Geschirr, das seinen Brustkorb und seinen Rücken umfasste und von dem eine Kette hinauf in die undurchdringbare Dunkelheit führte. An dem Rücken des Zwerges war ein Paar mächtiger Flügel angebracht, die bei jedem Weitersinken des Körpers auf und ab wippten. Ein angebundener Bart verlieh dem Gesicht des Kleinwüchsigen den Anschein von Alter. Der Zwerg steckte in einem griechischen Kostüm, bestehend aus einem weiten Gewand und geschnürten Sandalen. Nach einem letzten Nachwippen der Schwingen stoppten das Knarren und
gleichzeitig auch das Herabsinken des Zwerges. Er sah nach unten und begann zu sprechen: „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst! Vor meiner Kunst beuge dein Knie, senke das Haupt! Denn wer außer Daedalus vermag solch Kunstwerk zu schaffen? Mag mich König Minos noch gefangen halten – getrennt vom Festland durch das Meer – so kann er doch nicht der Luft gebieten! Mein Sohn, Ikarus, folge mir mit deinen Flügeln, doch achte der Höhe! Auf dass du nicht zu tief fliegest und sich das Gefieder mit Wasser beschwere, noch dass du zu hoch schwebest und die Sonne das Wachs ausbrenne, welches die Federn zusammenhält!“ In diesem Moment begann das Knarren von neuem und ein zweiter Körper kam in Sicht. Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Mario vermutete zunächst, dass dies nun der Bucklige war, aber das stimmte nicht. Der neue Schauspieler war um ein Vielfaches größer als der Zwerg, steckte aber auch in einem Schwingengeschirr. Seine Arme baumelten schlaff neben dem Körper herab und der Kopf hing träge auf der Brust. Die Zuschauer raunten auf – er war nackt! Als auch diesmal das Knarren beendet wurde, sprach der Zwerg weiter: „Ikarus, mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Sieh, wir fliegen nach Haus und enteilen dem Gefängnis des Minos – wir sind frei!“ Bei diesen Worten packte der Zwerg die Hand des Ikarus-Darstellers und vollführte seltsame Schwimmbewegungen. Bald pendelten sie in der Höhe wie Zirkusartisten hin und her. Dann ließ der Zwerg die Hand des Mannes los. „Mein Sohn! So schwebe nicht zu hoch empor – Zeus zürnt! Er gebietet der Sonne doch! Erhöre mein Flehen, Ikarus! Komm zurück an die Seite deines Vaters!“
Der schlaffe Mann im Geschirr schwang nun in einem anderen Pendelrhythmus als der Zwerg und wurde von diesem bei jedem Vorbeischwingen noch stärker angestoßen. Er rührte sich immer noch nicht. „Zeus – sei mir gnädig! Ich habe mir angemaßt, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, doch mein Sohn ist nicht schuld daran! Verschone ihn, er ist noch fast Kind!“, schrie der Zwerg mit sich überschlagender Stimme. Die Zuschauer starrten gebannt in die Luft. Plötzlich knallte es an der Decke und ratternd sauste der nackte Schwingenmann in einer immer tiefer führenden Pendelbewegung auf die Zuschauer zu. Die Luft fauchte durch das Gefieder und ließ es wild erzittern. Die Frauen am Tisch kreischten laut auf. Da ging ein gewaltiger Ruck durch den Körper und er stoppte mitten in der Bewegung. Seine Füße baumelten knapp über den Kerzen, eine Flüssigkeit tropfte zischend in das heiße Wachs. Alle starrten auf den Mann, der noch schwache Pendelbewegungen vollführte, sich aber immer noch nicht regte. Eine rote Linie zeichnete sich an dessen Wade bis zur linken großen Zehe ab. Der Blick von Mario verfolgte den Lauf der dünnen roten Linie hinauf über die Wade zur Hüfte, wo sie unterbrochen wurde und erst wieder an der Brustwarze einsetzte. Dort führte sie empor zum Hals, wand sich hinauf zum Kinn und endete im herabhängenden Mundwinkel. Der Dieb blickte in ein totes Gesicht – sein eigenes totes Gesicht! Jede Falte, jeder einzelne Gesichtszug war gleich. Bevor Mario schreien konnte, wurde der Schwingenmann auf einen Wink des dicken Dionysos-Darstellers rasend schnell nach oben und aus dem Blickfeld aller gezogen.
Tosender Applaus – Aufflackern der Kerzen – Gemurmel. Der Fette schwitzte und flüsterte mit dem unkostümierten Krüppel, der irgendwie aus der Höhe wieder herabgeklettert war. Mario konnte das Gespräch nicht hören, aber der Doge wirkte zornig. Der Missgebildete duckte sich mehrfach unter unsichtbaren Schlägen, ehe er eine Reihe von Verbeugungen zelebrierend nach hinten verschwand. Der Dicke wandelte seinen wütenden Gesichtsausdruck blitzschnell in ein Lächeln um: „Na, war das nichts?“ Der verwirrte Blick des Diebes wurde vom DionysosDarsteller als Rührung interpretiert und mit Gönnermiene klopfte er dem Entsetzten auf die Schulter. „Bedanke dich nicht!“ Die Festgäste waren, durch den Wein und die Darbietung angestachelt, in einen Taumel der Fleischesfreuden geraten. Die braunhaarige Frau saß auf dem Mann mit dem Krug und ritt forsch aus, während die blonde Tamburinspielerin unter dem Tisch näher kroch. Die männlichen Satyrn vergnügten sich mit sich selbst und sogar der alte Mann war aufgewacht, packte den Esel und verzog sich in eine stille Ecke. Überall war die Luft erfüllt von Schreien und Stöhnen, welches das Gejohle des Bacchanals von vorhin an Lautstärke bei weitem übertraf. Schon blutete der Himmel die Schwärze der Nacht aus und am Horizont zeigte sich eine rote Linie. Die Tamburinspielerin streichelte Marios Schoß. Er wollte sie zurückhalten, aber seine Lust übermannte ihn. Kurze Zeit später verkrampfte er sich und krallte die Hände in die Tischplatte, bis die Knöchel weiß hervor traten. Er stöhnte heftiger, biss sich die Lippe blutig und genoss den kupfernen Geschmack, bis eine Welle der Erschöpfung seinen zuckenden Körper durchpulste. Mario strich der blonden Tamburinspielerin über den Kopf, der in seinem Schoß ruhte.
Der Doge erhob sich schwerfällig. „Meine Freunde, es ist Zeit! Der Tag bricht an, wir müssen fort!“ Aus allen Ecken und Winkeln kroch es zur Fensterreihe hin. Die Gestalten erklommen die Simse und öffneten die Fenster weit nach außen, bis sie klirrend gegen die Fassade schlugen und in ihren Rahmen erzitterten. Dann standen sie mit geschlossenen Augen und glücklichen Gesichtern im Morgenwind, der ihre Körper umschmeichelte. Auch der Dieb war glücklich. Er akzeptierte die vorgefundene Realität, die man ihm angeboten hatte. Er wollte nur noch eines – niemals diese ausgelassene Gesellschaft verlassen. Er fühlte sich bei ihnen wohl, so als ob er schon immer zu ihnen gehört hatte. „Wohin wollt ihr?“, fragte der Dieb. Der Dicke wuchtete sich auf einen Stuhl, den er an ein Fenster geschoben hatte und der unter dem ungewohnten Gewicht ächzte. „Aber Alfredo – dein Gedächtnis hat beim Sturz auf die Lammkeule doch mehr gelitten als ich dachte!“ Der Dieb machte ein verwundertes Gesicht, daher seufzte der Dicke und verdrehte die Augen. „Wir wollen nach Hause! Was dachtest du? Sollen wir etwa Gondeln für die Heimreise bestellen, wo wir doch alle fliegen können?“ Wie vom Schlag getroffen stand der Dieb da. Fliegen? Der spinnt völlig – oder war das Getränk in den Bechern gar kein Wein, sondern Laudanum gewesen? „Aber natürlich, mein lieber Alfredo!“ Dionysos lächelte. „Wir können fliegen – alle Menschen können das! Man hat es uns nur die ganze Zeit verheimlicht. Die Wahrheit war in antiken Büchern verborgen – du fandest sie bei der Lektüre der Ikarus-Sage in den schwer zugänglichen Klosterbibliotheken der Alpen. Der Text enthielt einen verschlüsselten Passus, der
dir das Geheimnis enthüllte und auf die Kräuterkunde verwies! Weißt du das nicht mehr – das ist nicht dein Ernst?“ Der Dieb erbleichte. „Nun, dann muss ich dir auf die Sprünge helfen, komm!“ Wie in Trance bewegte sich der Dieb auf das Fenster zu, von der Tamburinspielerin gestützt. Er stieg auf das Sims und stand frierend im Wind. Inzwischen hatten alle Festgäste die Simse erklommen. In jedem Fenster standen sie zu zweit. „Siehst du die Lichtstrahlen? Kannst du die Wärme der Sonne erahnen? Das ist doch etwas Wunderbares – den Sonnenaufgang erleben!“, sagte der Dicke und schloss genießerisch die Augen. „Fliegen – das ist nicht der ewige Traum der Menschheit! Es ist deren Bestimmung! In Mailand lebt ein gewisser Leonardo da Vinci – er versucht Flugapparate zu konstruieren. Pah, welch ein Banause. Hier in Venedig kennen wir das Geheimnis des Fliegens. Es liegt in einem Pilz verborgen, dessen Wirkstoff wir alle heute Nacht, im Wein aufgelöst, eingenommen haben. Und du hast das Rezept in einem Folianten für Kräutermedizin gefunden. Hoch oben in diesem Alpenkloster wollten die Mönche zunächst das Buch nicht rausrücken, aber etwas Geld – und ein wenig Nachdruck meiner Männer – machte sie willig. Dafür danken wir dir!“ Alle klatschten begeistert in die Hände. Der Dicke beugte sich an Marios Ohr. „Und diese Rezeptur aus dem antiken Folianten haben wir als Wundermittel in ganz Europa verkauft – alles klar?“ Er zwinkerte dem Dieb vertraulich zu. „Meinst du, er tut es?“, raunte Concetta dem DionysosDarsteller ins Ohr, das Tamburin mit den im Wind flatternden Fähnchen in der Hand. „Wir werden sehen!“ zischte der Dicke und zwinkerte ihr zu. Davon bekam der Dieb nichts mit. Er sah nach unten auf die bewegte Wasseroberfläche. Es war ein gigantischer Ausblick
auf den Canale Grande und die Palazzi von Venedig, die sich wie ein minoisches Labyrinth bis weit zum Horizont ausdehnten, wo gerade die Sonne geboren wurde. Der Gesang der Vögel hob an und die ersten Strahlen fielen auf die Gesichter der Gäste. Sie schlossen einer nach dem anderen die Augen, sogen genussvoll die Morgenluft in die Lungen und breiteten die Arme aus. Dann ließen sie sich fallen. Einer nach dem anderen. Und sie fielen nicht – sie schwebten in der Luft. Marios Kinnlade klappte herunter. Sie können tatsächlich fliegen! Und als der Dicke an der Reihe war, zwinkerte er ihm zu und sagte: „Wir sehen uns drüben!“ Dann schwebte auch er hinaus, gefolgt von der Tamburinspielerin, die dem Dieb einen sehnsüchtigen Blick aus blauen Augen nachsandte, ehe sie den anderen folgte und in Richtung aufgehender Sonne flog. Die Gestalten am Himmel wurden kleiner und verschwanden schließlich im Osten – in der Nähe der Friedhofsinsel San Michele. Soll ich dem Dicken glauben? Bin ich Mario, bin ich Alfredo? Mario – wie seltsam das klingt, wenn man es öfters ausspricht… Mario, Mario… Ich kann mich kaum daran erinnern, den Namen schon mal gehört zu haben. Er schwingt nur noch als leises Echo durch mein Gedächtnis. Ein Ruck durchlief seinen Körper. Egal, ich will dazugehören, will mit ihnen fliegen, will für immer bei ihnen sein! Er schloss die Augen, hob den Kopf und spürte die angenehme Wärme der Sonne auf der Haut. Der Wind trug den Geruch von Rosmarin und Lavendel mit sich, was eine Erinnerung in Alfredo wachrief. „So warte doch auf mich, Concetta! Ich komme!“
Er breitete die Arme weit aus, so als wolle er die ganze Welt umfassen; stellte sich auf die Zehenspitzen und spannte seine Oberschenkelmuskulatur an. Mit verklärtem Gesichtsausdruck sprang er weit hinaus in den venezianischen Morgen… Die Morgensonne kletterte an den Dächern in den Himmel empor und erwärmte die noch schlafende Lagunenstadt. Währenddessen ging jedoch der Karneval in Venedig munter weiter. Bunte Paradiesvögel zogen torkelnd durch die engen Straßen, auf welchen sich noch für kurze Zeit die Schatten der Nacht festzukrallen vermochten. Polizeischnellboote mit zuckenden Blaulichtern kontrollierten die Wasserwege. Niemand achtete auf die rußgeschwärzte Gestalt, welche sich hoch oben auf dem Dach des Palazzo Dario aus einem Schornstein quälte. Sie schwankte benommen einige Schritte auf den glitschigen Ziegeln in Richtung Abgrund, blieb stehen und ging leicht in die Knie. Als der Körper aus der Höhe fiel und mit Wucht auf dem Wasser des Canale Grande aufschlug, schaukelten die Gondeln schläfrig hin und her. Keiner hatte den Springer bemerkt, der nun mit dem Gesicht nach unten treibend aus der Lagune gespült wurde. Schon diente sein zerschmetterter Hinterkopf den Möwen als willkommene Abwechslung im Einerlei ihres Speiseplans.
Insel der Gräber
Ohne ein Geräusch tauchten die Ruder ganz sachte in das tiefblaue Wasser des Meeres. Sie wurden nach vorne gedrückt und schwebten geräuschlos unter der Oberfläche dahin. Dann zog man sie wieder vorsichtig heraus und vermied das Abtropfen der Feuchtigkeit, indem sie in die Waagerechte und nach hinten gebracht wurden, wo das Spiel wieder von neuem begann. Dichter Nebel kroch über das Wasser. Das Holz des Sarges war umhüllt von einer weißen Spitzendecke bester venezianischer Qualität. Es vibrierte leicht bei den Bewegungen des Bootes, gab aber kein Knarren von sich. Selbst die über dem Wasser kreisenden Möwen schienen ihr schrilles Kreischen vergessen zu haben. Möglicherweise erschien es ihnen unpassend, an einem Ort wie diesem Lärm zu machen. Dem jungen Ministranten, der auf der Bootsbank saß und die Ruder bediente, war das alles egal. Er wollte nur so schnell wie möglich wieder zu Hause sein. Vorn am Bug stand die hoch aufgeschossene, hagere Gestalt des Priesters im schwarzweißen Talar. Der Pater stand unbeweglich und still – die Arme vor der Brust gekreuzt. Einzig seine Augen wanderten rastlos umher und suchten den Horizont ab. Da erschütterte ein Schlag das Boot und ließ es auf den Wellen tanzen. Der Pfarrer musste sich mit beiden Händen auf dem Sarg abstützen, der quer vor ihm auf dem Boot balancierte. Erstaunt blickte der Pater nach vorn. Auch der Ministrant äugte über den Bootsrand – und erblickte die von Fischen ausgefressenen Augenhöhlen eines aufgedunsenen Körpers – irgendetwas hatte seine Mundwinkel nach oben hin aufgerissen, so dass ein schiefes Grinsen das Gesicht dauerhaft entstellte.
Der Junge zuckte zurück, beugte sich über die andere Bootsseite und übergab sich. Der Pfarrer kniete sich zu ihm herab und nahm ihn in den Arm. „Paulo, geht es wieder?“ Der Angesprochene wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. „Ja, Monsignore Montresor. Kommt der von der Friedhofsinsel?“ „Ja – der Tote kommt von San Michele! Ab und an geschieht es, dass die Wellen, die seit Jahrhunderten den Friedhof unterspülen, einen Sarg ergreifen, umkippen und entleeren. Dann werden die Toten ins Meer abgetrieben.“ Der Pater seufzte. „Tja, mein Junge! Das ist wohl nur ein weiterer Preis, den wir Venezianer an die Lagune zahlen müssen!“ Der Ministrant atmete tief durch. Die Leiche war schon längst weitergetrieben, da nahm er das Rudern wieder auf. Er hob den Blick und sah am Pfarrer vorbei. Sie waren schon sehr nah. Der Nebel lichtete sich. Vor ihnen hob sich ein Felsmassiv aus dem Wasser der Lagune, das nicht hierher zu passen schien. Als hätte Gott einen ungeformten Lehmklumpen ins Wasser geworfen, kam es dem Jungen in den Sinn. Rote Gesteinsmassen stiegen steil hinauf in den Abendhimmel. Sie endeten stumpf und breit. Eine Bucht öffnete sich zu den Besuchern hin, bestanden von Zypressen, die weit über den höchsten Punkt des Eilandes hinausragten. Kein Lufthauch bewegte ihre Zweige – kein Vogel sang ein Lied. Von oben gesehen musste die Insel das Aussehen eines sichelförmigen Halbmondes haben. Nichts rührte sich – es herrschte ein drückendes, schwer auf der Seele lastendes Schweigen. Aber was den Ausdruck vollkommener Stille so endgültig machte, waren die Grabkammern. Sie waren vor langer Zeit aus dem Fels
gehauen worden, unterteilten die Insel in zwei Ebenen und beherbergten mit Steinquadern verschlossene Räume aus etruskischen Zeiten. Die Kammern standen in einer langen Reihe von links nach rechts über die gesamte Inselbreite. Sie sahen wie die schläfrigen Augen der Toteninsel aus. Der Ministrant brach das Schweigen. „Wieso ist niemand der Angehörigen bei der Beerdigung auf San Michele dabei?“ „So will es die Tradition, mein Junge.“ Monsignore Montresor sah ihn milde lächelnd an. Aber seine Augen wirkten müde. „Du kannst das noch nicht wissen, da du heute zum ersten Mal mit mir einen Verstorbenen überführst. Wir übergeben die Verstorbenen dem Totengräber und dieser richtet sie zur Beerdigung her. Ich halte eine kurze Messfeier in den Katakomben, aber keine Angst. Dabei brauche ich dich nicht.“ Der Junge atmete hörbar auf. Der Pater registrierte es mit einem Lächeln. „Du kannst dich ja derweilen mit dem Sohn des Totengräbers unterhalten, falls er nicht seinem Vater helfen muss.“ Dem Ministranten lief es kalt über den Rücken. Die Leute erzählten sich die wildesten Gerüchte über den Totengräber und seinen Sohn. Der Totengräber sei mit dunklen Mächten im Bunde, die ihn und seine Frau vor den Leichen beschützen sollten, die ab und zu aus den Gräbern stiegen. So sei auch der Sohn in Wirklichkeit gar nicht der leibliche Sprössling des Paares, sondern ein Wechselbalg, der dem Totengräber und seiner Frau in einer stürmischen Novembernacht vor die Schwelle gelegt worden sei, wo der kleine verkrümmte Körper in der Kälte gewimmert habe. Sein Gebrechen soll sich nicht nur auf seine Gestalt, sondern vor allem auf seinen Geist erstrecken – doch sagen einige, dass dies die Schuld des
gewalttätigen Totengräbers sei, der seinen Schüler bei jedem Fehler grausam züchtige. „Wie Sie wünschen, Monsignore.“ „Hab keine Angst vor ihm, mein Junge. So schlimm er auch aussieht, er ist doch ein menschliches Wesen. Begegne ihm mit Respekt!“ Der Pater sah den Ministranten streng an. Dieser wandte den Kopf zur Seite und nickte kurz. Bald spürten sie Sand unter dem Kiel schleifen und sprangen heraus, um das Boot den Rest des Weges auf den Strand zu ziehen. Zwei Gestalten lösten sich aus dem Dunkelgrün der Zypressenwand und kamen auf die beiden zu. Der Junge bemerkte, dass einer der Männer schwer hinkte – sein Laufen sah eher wie das Hüpfen eines Frosches aus. Er musste sich sehr Mühe geben, um mit seinem Gefährten Schritt zu halten. Der andere war in einen schwarzen Mantel gehüllt, dessen Kapuze sein Gesicht zur Gänze in Schatten tauchte. Als der Totengräber und sein Sohn vor den beiden Besuchern standen, erkannte der Ministrant, dass die Füße von beiden in Gummistiefeln steckten – eine gute Idee, wie der Junge zugeben musste, dessen Beine vom Bootziehen ganz nass und klamm waren. Der Sohn stand mit krankhaft verdrehtem Körper neben seinem Vater und verehrte ihn mit abgöttischem Blick. Er konnte dem Totengräber kaum ins Gesicht sehen, da der Buckel seinen Kopf nach unten zwang. Seine hervortretenden Augäpfel rollten unruhig in den schwarz umrandeten Höhlen. Hinter den beiden Inselbewohnern lugte ein weißes Haus zwischen den Bäumen hervor, wo eine hagere Frau geschäftig hin und her lief. Monsignore Montresor richtete einige Begrüßungsworte an die beiden. Der Totengräber nickte und deutete schweigend auf
das Boot und die Fracht. Alle wandten sich dem Sarg zu und wateten durch das knöcheltiefe Wasser. Priester und Junge nahmen die Tragegriffe an der rechten, Totengräber und Sohn die an der linken Seite. Gemeinsam wuchteten sie den Sarg hoch. Dabei hatte der Sohn sichtlich Mühe, den Griff nicht wieder loszulassen. Der Pfarrer lächelte dem Jungen unsicher zu. Wieso ist er so nervös? Der Ministrant begann zu zittern. Sie trugen den Sarg über den Kiesweg eine kleine Anhöhe hinauf und in das Haus des Totengräbers, wo schon seine Frau wartete: eine bleichgesichtige Person, die schweigsam und mit vor der Schürze verschränkten Händen in der Diele stand. Sie gingen an ihr vorbei und durch die Küche. Ein grober Tisch mit sechs schmucklosen Holzstühlen, im Hintergrund eine primitive Feuerstelle mir Rauchabzug. Auf einer Pfanne tanzte heißes Fett, worin ein halbes Dutzend Würste schwitzten. Der Junge sog den Geruch der frisch gebratenen Würste in seine Nase. Dann durchschritt die Sargprozession eine mit orientalischen Vorhängen dick vermummte Türöffnung und setzte ihre Fracht langsam und vorsichtig auf den Teppich. Eine Ecke des Raumes wurde durch einen Paravent verdeckt. Davor ließen sie die Totenkiste zurück unter ihrem Schneekleid aus venezianischer Spitze. Alle betraten wieder die Küche. Dann wandte sich der Pfarrer mit finsterer Miene an den Ministranten: „Den Rest erledigen ich und der Totengräber. Ab jetzt hast du Freizeit, mein Junge. Geh an den Strand – vielleicht hat der Sohn des Totengräbers Lust mitzukommen?“ Der Geistliche sah blass aus. Sein unruhiger Blick wanderte zum Totengräber, doch der schüttelte den Kopf. Ohne den Sohn des Totengräbers zu beachten, ging der Ministrant hinaus zum Strand. Dort setzte er sich, nahm Kieselsteine auf und ließ sie über das Wasser hüpfen. Nach
einiger Zeit war ihm das Spiel zu langweilig und er beschloss, auf eigene Faust die Insel zu erkunden. Er schlenderte hinüber zu den Zypressen, wo das kleine Haus des Totengräbers weiß aus dem Schatten funkelte. Er betrachtete still den Boden, auf dem das braune Gras schütter wie auf dem nahezu kahlen Schädel eines verwesenden Toten wuchs. Ein schmaler Weg führte den Hang hinauf zur Terrasse der Grabstätten. Soll ich dort hinaufgehen? Die Gräber sind faszinierend, aber sie machen mir auch Angst. Er blickte hinauf ins blasser werdende Sonnenlicht. Da waren sie – rechteckige Öffnungen, von wuchtigen Steinen verschlossen. Plötzlich sprang ein Schatten aus der Höhe herab und an dem Ministranten vorbei. Dieser wirbelte herum und sah dem Sohn des Totengräbers in die funkelnden Augen. Der Verkrüppelte grinste und sein Speichel troff zu Boden. Die Arme baumelten schlaff neben dem Körper. „Was suchst?“, ächzte er. Paulo war die Situation unangenehm. Er versuchte wegzusehen, doch der Sohn des Totengräbers nahm mit pendelnden Kopfbewegungen seinen Blick gefangen. „Ich, ich…“ „Ha, ich weiß, was’d willst!“, unterbrach ihn der Missgebildete. „Suchst sie, hä? Willst se seh’n – die Toten! Oder?“ Der Ministrant fühlte sich ertappt. Er nickte und rote Flecken bildeten sich in seinem Gesicht. „Komm“, sagte der Totengräbersohn und winkte mit einer übergroßen Hand dem Jungen zu. Dann verschwand er mit froschartigen Hüpfern den Felsweg hinauf. Der Angesprochene folgte ihm rasch. Der Pfad war steil und führte schnurstracks zur Terrasse empor, welche in die letzten roten
Strahlen der Abendsonne getaucht war. Paulo sah sich um – der Verkrüppelte war verschwunden. Er trat an den Abgrund und torkelte schnell zurück. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, hinunterzustürzen. „Aufpassen!“ Der Junge sah einen schwarzen Schatten vor sich auf dem Boden. Als er den Blick hob, erspähte er den Missgebildeten. Er hockte hoch oben auf einem steinernen Türstock, hüpfte auf und nieder und rieb sich die Hände vor Freude. „Komm, komm! Willst sie sehen, willst sie sehen? Wirst sehen, oh ja, wirst sehen!“ Der Knabe wurde nicht schlau aus den Worten des älteren Jungen. Wie soll das gehen? Will er sie aufbrechen? Aber ich will sehen, was hinter den Platten ist! Wie sehen die Toten wohl aus? Er legte seine Hände auf eine Steinplatte. Sie war noch warm von der Hitze des Tages. „Wie willst du das aufmachen?“, fragte er den Totengräbersohn ungläubig. Der Angesprochene kicherte nur mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf, dann machte er eine schnelle Bewegung mit den Händen an der Unterseite der Steinplatte. Sie schob sich eine Winzigkeit nach oben und ein schwarzer Spalt zeigte sich. Mit offenem Mund stand der Ministrant da. Ein versteckter Mechanismus – ja, das war das Geheimnis! Paulo schob zusammen mit dem Sohn die Platte weiter nach oben. Als der Spalt groß genug war, legte sich der Ministrant flach auf den Boden und schlüpfte hindurch. Er richtete sich auf und stand in einem engen Raum, der mit stickiger Luft gefüllt war. Fast glaubte er nicht mehr atmen zu können. Er zuckte zusammen, als die Stimme des Missgebildeten hinter ihm ertönte.
„Geh nur zu und schau!“, hauchte der Wechselbalg heiser und presste sein Gesicht in den Türspalt. Neben dem Eingang lag ein schwerer Steinblock. Ein eiserner Griff war hineingetrieben, woran ein Seil befestigt war, das über dem Türstock an einem Flaschenzug hing. Der Stein hatte demnach als Gegengewicht die Tür nach oben gezogen, während er selbst herabgeglitten war. Paulo bewunderte die Schlichtheit der primitiven Konstruktion und sah sich weiter um. Der Ministrant erkannte, dass der in den Fels gehauene Raum vollkommen leer war. Will der mich auf den Arm nehmen? „Haha – nun siehst’s: Grab leer – Lazarus auferstanden! Alle Gräber leer – alle weg!“, gluckste der Totengräbersohn. Der Junge kroch verwirrt hinaus an die frische Luft. „Wie kommt das? Das darf doch n…“ „Psst!“ Der Missgebildete legte den Finger an die Lippen. „Leise – sie können hören!“ Damit deutete er auf den Boden unter ihren Füßen. Nach einer Weile, in der er mit geschlossenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf zu horchen schien, packte er den Ministranten am Arm. „Ich zeig dir’s!“ Und er rannte mit ihm den Felsweg hinunter, übersprang die Felsbrocken und blieb vor dem Haus stehen. Es war Nacht geworden. Der Mond am Horizont beleuchtete die Szenerie. Der Sohn legte den Finger an die Lippen und führte den Knaben durch die Zimmer. Dann stoppte er vor dem Paravent. Der Junge sah, dass der Sarg verschwunden war. Sie umrundeten den Sichtschutz und hielten vor einer dunkelblauen Tür. „Hinter Tür wohnt mein Mädchen. Benimm dich!“, warnte der Sohn den Ministranten mit ernstem Gesicht. Er kramte umständlich nach einem Schlüssel und öffnete die Tür.
Mondstrahlen erfüllten den dahinter liegenden Raum. In einer Ecke des Zimmers, völlig verhangen von Damast, stand ein arabischer Kiosk. Daneben befand sich ein kleines Schränkchen, auf dem sich die abgebrannten Kerzen mit dem Holz vereinten. Ihr Wachs war zu weißen Blutfaden geronnen. Über dem Schränkchen konnte der Junge ein ovales Ölportrait an der Wand hängen sehen. Es zeigte eine melancholisch dreinblickende Zigeunerin – sicher nur eine billige Kaufhauskopie, wie Paulo annahm. „Das iss sie, meine Geliebte – Concetta!“ Der Sohn schmeichelte dem Bild mit Blicken. „Sie lebt in der Stadt aus Wasser und Stein, die ihr Venedig nennt. Dort ist sie eine Gefangene ihres einsamen Lebens – ein minoisches Labyrinth aus Alltäglichkeiten. Doch eines Tages werde ich sie befreien und dann werden wir auf ewig beieinander sein!“ Diese Sätze muss er einstudiert haben! Der Ministrant sah den Jüngling an, der träumerisch zum Ölbild blinzelte. Da erwachte der Missgestaltete aus seiner Trance und riss den Knaben mit sich zum Kioskpavillon. Hinter den hastig zurückgeworfenen Vorhängen war eine weitere Tür – diesmal in roter Farbe. „Und der Herr sprach zu den Israeliten: Der Engel des Herrn wird umhergehen, Ägypten zu schlagen; sieht er dann das Blut an den Türpfosten, dann wird er diese Türe übergehen und wird es dem Würger nicht gestatten, in eure Häuser einzutreten, um euch zu schlagen, Zweites Buch Mose zwölfdreiundzwanzig!“ Der Totengräbersohn war sichtlich stolz auf diese Sätze, denn er hob sein Kinn so hoch er konnte und sah dem Knaben ins Gesicht. Er griff hart an die Klinke und stieß die Tür mit einem Ruck auf. Eine Wendeltreppe wurde sichtbar, die in steilen Windungen hinabführte. Paulo fröstelte.
Was ist dort unten? Das Geheimnis, wohin alle Toten verschwunden sind? Ich will es wissen! Der Totengräbersohn ging voraus und der Ministrant folgte ihm hinunter in die Eingeweide der Erde. Salpeter kroch über die feuchten Mauern und leuchtende Algen krallten sich in die Ritzen. Nach einer langen Zeit in stockfinsterer Nacht drang ein Lichtschein von unten herauf und ein Gemurmel schwoll in den Ohren an. Paulo erschrak heftig, als sich der behinderte Junge umdrehte und ihm mit einer unmissverständlichen Handbewegung klarmachte, dass er auf keinen Fall einen unbedachten Laut von sich geben durfte. Dann betraten die beiden eine Holzgalerie. Sie erstreckte sich in leichtem Bogen entlang der gewölbten Wand eines unterirdischen Raumes, der domartig nach unten abfiel. Die Galerie folgte dem Gefälle und beschrieb so eine abwärts führende Spirale. Groteskerweise wurde sie von wuchtigen Bücherschränken gesäumt, welche sich mit ihren geraden Formen gegen die Krümmung der Wand auflehnten. Dadurch erschien alles verzerrt und schief. Die Bücher in den Schränken wirkten auf den Knaben sonderbar alt und rochen pfeffrig. Ihre lederartigen Einbände schimmerten feucht. Der Ministrant fuhr mit der Hand über die Buchrücken, zog wahllos einen Band heraus und schlug ihn auf. Er enthielt eine Unmenge an tabellarisch geordneten Namen. Das ist eine Totenliste! Im Buch wird genau aufgeführt, wann der Tote hergebracht und der Insel übergeben worden ist. Aber wozu lagert der Pater diese Bücher hier auf San Michele? Eine kräftige Hand packte Paulo an der Schulter und zerrte ihn zu Boden. Der Totengräbersohn legte zum Zeichen des Schweigens den Finger an den Mund und deutete stumm durch die Ritzen des kunstvoll geschnitzten Geländers nach unten. In der Tiefe standen der Totengräber, seine Frau und Monsignore
Montresor. Letzterer hielt einen großen schwarzen Folioband unter den Arm geklemmt. In der Mitte der Personengruppe lag ein Steinbecken, in welchem ein Toter ruhte. Seine bleiche Haut schimmerte wächsern. Wieso haben sie ihn aus dem Sarg genommen? Der Totengräber stand vor einer gigantischen schwarzen Tür, die von einer schweren Eisenkette verschlossen wurde. Diese war in knäuelartigen Windungen um zwei übergroße Eisengriffe gewickelt. Die Ausmaße der Tür erstaunten Paulo. Das Portal ragte gut zehn Meter in die Höhe und erreichte damit fast die Kuppel des unterirdischen Domes. Die lederne Oberfläche der zweiflügeligen Tür glänzte feucht und dem Ministranten kam bei diesem Anblick unwillkürlich das Wort „schwitzen“ in den Sinn. Ganz sachte vibrierte das Holz des Türblattes vor und zurück, wenige Zentimeter nur, aber Paulo konnte es sehen. Es kam ihm so vor, als „atme“ das Portal. Auf ihm prangten Dutzende geschnitzter Fratzen. Mit weit geöffneten Mäulern schickten sie unhörbare Schreie in den Dom. Der Totengräber stand neben einem der Fratzengesichter, welches als Holzrelief besonders stark aus dem mit Patina überzogenen Portal herausragte. Er hatte die Hand auf einen Korken gelegt, der eine Öffnung im Maul verschloss. Vor der Tür war eine Rinne in den Boden eingelassen, die zum Steinbecken mit dem Toten führte. Dort stand die Frau des Totengräbers und murmelte einen monotonen Sprechgesang. Der Geistliche hatte inzwischen das Buch auf ein Steinpult gelegt und es aufgeschlagen. Er sprach mit eindringlicher Stimme: „Thleoth-angwa! Seth uckba gibdo!“ Dann gab er dem Totengräber ein Zeichen. Dieser zog am Pfropfen, drehte den Korken hin und her, bis er sich aus dem
Holzmaul löste. Weißlicher Schleim schoss als Fontäne durch die Öffnung, erreichte die Rinne und jagte zum Becken. Die beiden Eindringlinge duckten sich tiefer hinter das Holzgeländer und horchten aufmerksam. Paulo konnte sich nicht erinnern, den Monsignore jemals in einer derartigen Sprache reden gehört zu haben. Was immer das auch für eine Sprache war – es war kein Latein! Der Pater blickte kurz zur Seite, als das Becken langsam geflutet wurde und die scharf riechende Flüssigkeit den Toten umspülte, doch dann las er weiter: „Magh-Thot! ShubNiggurath, sive sive!“ Die Flüssigkeit hatte den Toten erreicht. Sie entließ Dampfschwaden in die Luft, als sie die Kleidung auflöste. Danach berührte sie die blanke Haut. Es zischte und stank nach verbranntem Fleisch. Der Schleim durchweichte den Körper und verwandelte ihn zu Brei. Ein gellender Schrei echote durch den Raum. Paulo hatte ihn ausgestoßen. Die Frau reagierte als erste. Sie packte den Pater am Ärmel und wies nach oben zwischen die Holzplanken. Dort oben stand Paulo an der Brüstung und hatte die Hände um das Geländer geklammert – Augen und Mund weit aufgerissen. Der Pater unterbrach seine Beschwörungsformeln. Er sah den Jungen traurig und wütend zugleich an. Der Totengräber sprang herbei, packte Monsignore Montresor am Arm und krächzte: „Nicht… aufhören! Machen Sie… weiter!“ Paulo konnte hören, mit welch unmenschlicher Anstrengung der Totengräber die Satzfetzen hervorwürgte. Der Pater hingegen blickte wie versteinert nach oben. Der Totengräber riss dem Geistlichen ärgerlich das Buch aus den Händen und führte die Beschwörungsformel weiter: „Shub-Mickurak…“
Ein unmenschliches Brüllen donnerte durch die Luft. Es schien seinen Ursprung hinter der Tür zu haben. Der Totengräber blickte den Pfarrer vorwurfsvoll an, dann rannte er wutentbrannt zum Portal und presste den Stöpsel wieder in das Spundloch. Sein Sohn irrte auf der Galerie wie ein Irrwisch hin und her und rief: „Was soll ich armes Mensch denn nun machen? Was soll ich armes Mensch tun?“ Plötzlich straffte sich sein Körper. Er kletterte auf die Brüstung und sprang hinab zu seinem Vater. „Ich nicht wollen das – wollt’ nur zeigen! Nicht böse – Vater, gut?“ Er traf mit voller Wucht auf und riss den Totengräber mit sich fort. Der Sohn hatte die Beine um die Hüfte des Vaters geschlungen. Dieser torkelte durch den Aufprall nach hinten und seine Kapuze fiel ihm in den Nacken. Für einen Moment konnte Paulo das Gesicht des Totengräbers sehen. Lidlose Augen rollten in schuppigen Höhlen umher, anstatt der Nase pulsierten zwei längliche Schlitze im nach vorn gewölbten Schädel. Der sieht ja mehr wie ein Fisch als ein Mensch aus! Dann verbarg der Rücken des missgebildeten Sohnes das Gesicht seines Vaters. Beide stolperten gegen das Säurebecken, als der Sohn von seinem Vater abließ. Der Totengräber ruderte mit den Armen, konnte aber die Balance nicht wieder gewinnen und stürzte rückwärts in den weißen Schleim. Schreiend eilte ihm seine Frau zu Hilfe. Der Pater blickte Paulo an. Er formte mit den Lippen die Worte „Lauf schnell!“ – der Lärm war inzwischen zu einer Kakophonie angeschwollen, so dass Paulo die Wörter nicht mehr hören konnte. Etwas rammte die Tür, sie wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Das ständige Vibrieren der Luft ging jetzt in ein Erdbeben über.
Die Tür schwitzte stärker und erzitterte unter starken Stößen. Die Kette klirrte und schwang vor der sich aufblähenden Tür. Der Pater rannte die Spirale hoch und ergriff den Jungen, der sich nicht rühren konnte, und riss ihn vom Geländer los. Das Brüllen hinter der Tür steigerte sich in ein Crescendo des Schmerzes und der Agonie, als der Monsignore und Paulo die Treppe hochhetzten. Der Ministrant sah, wie sich die Tür in den Raum wölbte und Splitter geschossartig umherflogen. Ein scheußlicher Geruch erfüllte die Luft. Tausend Fragen schossen Paulo durch den Kopf. Was für ein Ritual ist hier unterbrochen worden? Was bedeutet dies alles? Irgendwo unter ihnen schrie die Frau des Totengräbers irrsinnig vor Schmerz auf. Doch da war noch etwas anderes zu hören. Es war ein Scharren, Knacken und Krachen, als würden Gliedmaßen an den Felswänden entlang schaben. Der Pater schleifte Paulo den kurzen Gang zur roten Türe. Dort angekommen setzte er den Jungen ab. Paulo blickte nach hinten. „Monsignore, beeilen Sie sich! Schnell! Es kommt!“ Der Angesprochene rüttelte vergeblich an der Tür – sie klemmte. Die Augen des Knaben zuckten rastlos hin und her. „Jetzt kann ich es sehen! Oh mein Gott! Es füllt den ganzen Gang aus!“ Es war eine Bewegung im dunklen Gang hinter ihnen. Aber sie war keine Veränderung der Stellung, kein Vorwärtskommen im eigentlichen Sinn. Das, was die beiden verfolgte, war eine zähflüssige Masse. Sie wurde vom Zentrum nach außen gedrückt und presste ihre festen Bestandteile, die wie verkrümmte Äste aussahen, gegen die Wand. Dort wurden sie eingequetscht, schleiften an den Steinen entlang und
versanken nach hinten. Ein schmatzendes Geräusch begleitete diese Bewegungen. Der Pater warf sich gegen die Tür und sie fiel aus den Angeln. Die beiden Menschen stürzten in den vom Mondlicht beleuchteten Raum, rappelten sich auf und rannten los. Nichts wie weg hier! Hinunter zum Strand und dann ins Boot! Hinter dem Ministranten wucherte die Masse näher. Der Brei presste sich aus der Türöffnung und platzte in den Raum, wo er in den Mondstrahlen feucht glänzte. Die Verfolgten eilten durch die blaue Tür und rissen den Paravent um. Monsignore Montresor war als Erster auf den Beinen und schloss die Tür hinter ihnen. „Hilf mir, Junge!“ Der Pater lehnte mit dem Rücken an der Seitenwand des hohen Schranks, der sich neben der Tür befand. Paulo begriff, packte zu und gemeinsam schoben sie das Möbel vor die blaue Tür. „Komm jetzt!“ Der Geistliche kreiselte herum und beide durchquerten die Küche. Sie verließen das Haus, erreichten den Kiesweg zum Strand und liefen um ihr Leben, während sie hinter sich das inzwischen schon vertraute Krachen und Schieben hörten. Mit vereinten Kräften schoben sie das Boot ins Wasser. Sie stapften noch einige Meter, bis es tief genug war, um zu rudern. Dann wälzten sich die beiden an Bord und Paulo paddelte mit kräftigen Stößen weg von der Insel. Keiner wagte es, sich umzudrehen. Schmatzen, Schlürfen und ersticktes Gurgeln drang von der Gräberinsel herüber. Als sie eine Weile gerudert waren, hörten sie ein zischendes Getöse und drehten sich um. Die Flüchtenden erstarrten. Die Insel der Gräber hatte sich verändert. Alle Steinplatten der Grabstätten waren gesprengt und es drängte sich eine
fleischrote, breiige Masse heraus. Aus ihr ragten einzelne Gliedmaßen in jeder Phase der Verwesung: Arme, Beine, Köpfe, Torsi. Doch am Schlimmsten sahen die vollständigen Körper aus, die hervorgequält wurden. Sie wiesen die Zeichen einer furchtbaren Krankheit auf, welche als Epidemiewelle vor wenigen Monaten in Venedig gewütet und einen hohen Blutzoll unter den jungen Bewohnern der Lagunenstadt gefordert hatte. Nun waren sie alle in miasmatischer, stinkender Umarmung ineinander verschlungen. Von den Nachrückenden bedrängt, fielen sie ins Meer und trieben als Armee der Finsternis in der kleinen Bucht der Insel. Aus dem Chaos geometrischer Verwesung tauchte eine dampfende Gestalt auf. Sie ging stark gekrümmt und humpelte mühsam auf den Rand der Terrasse zu. Der Schemen des Totengräbersohnes schien noch einmal zum Boot zu blicken, dann wuchtete er sich kräftig vorwärts – hinein in das salzige Wasser. Sein Kopf tauchte über den Wellen auf und er machte sich mit kräftigen Schwimmbewegungen daran, Venedig zu erreichen. Paulo rutschte auf der Ruderbank hin und her. Schließlich wandte er sich an den Pater. „Monsignore, bitte – was ist hier passiert?“ Der Pater sah mit traurigen Augen über den Jungen hinweg. „Es tut mir leid, aber ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen!“ „Wieso?“ Der Geistliche seufzte tief. „Du kennst die Entstehungsgeschichte unserer Stadt?“ Paulo schüttelte den Kopf. Monsignore Montresor holte tief Luft. „Zur Zeit der Völkerwanderung wurde Venedig von Menschen gegründet, die auf der Flucht vor den Westgoten waren.“ Der Knabe runzelte die Stirn und nickte.
„Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte rückt das Geschehen von heute Abend in ein neues Licht. Die Gründerväter hatten nämlich einen hohen Preis zu zahlen: die Lagune war nicht unbewohnt! Es gab einen Bewohner – schon seit unendlich langer Zeit. Und dieser Bewohner liebt es, Fleisch zu essen – die ersten Venezianer mussten versprechen, dem Lagunenbewohner ihre Toten zu bringen. Dafür zog er sich weiter in Richtung des Meeres zurück und riss keine Schiffe in das Verderben.“ Der Pater machte eine Pause und blinzelte eine Träne aus dem Auge. „Und so geschah es bis heute. Doch das Ritual wurde gestört, unterbrochen…“ Paulo senkte den Kopf. „Ich trage die Schuld!“ „Nein – ich! Ach, hätte ich nur nicht nach oben gesehen, sondern weiter die Besänftigungsformeln vorgelesen. Alles wäre gut gewesen, aber so…“ Der Pfarrer warf einen verzweifelten Blick übers Wasser. „Was ist so schlimm daran?“ Paulo blinzelte. Monsignore Montresor blickte finster zum Horizont, wo die Lichter der Lagunenstadt blinkten. „Ich habe möglicherweise das Ende von Venedig heraufbeschworen, törichter Bengel! Das Wesen ist ungehalten darüber, dass seine Mahlzeit gestört wurde. Es kann sein, dass es wieder auftauchen wird, um sich lebendige Opfer zu holen. Und dann ist es vorbei mit unserer Stadt. Und vielleicht nicht nur mit dieser…“ „Ich verstehe nicht? Wieso fühlt es sich gestört…?“ Der Pater seufzte hörbar. „Ach, Junge! Du weißt nichts über die alten Wesen, die da lauern am Grunde von Brunnen und Zisternen oder schweigend sitzen auf dem Dachgebälk alter von Sturm
umtoster Häuser. Du kennst ihre Launen und Tischsitten nicht! Und dieser Lagunenbewohner hier hat einen übernervösen Magen, der leicht reizbar ist und auf Störungen mit Erbrechen reagiert… deshalb muss man ihn mit diesen archaischen Formeln besänftigen. Er isst sozusagen im Halbschlaf.“ „Aber… ist das ein Riesenfisch, oder so was?“ Der Pater lächelte, doch seine Augen blieben kalt. „Nein, aber du hast ihn schon gesehen. Die ganze Zeit über hast du ihn beobachtet.“ Paulos Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Ich verstehe nicht…“ Monsignore Montresor strich ihm über das nasse Haar. „Ach, mein Junge, wie unwissend bist du! Als du über den Kiesweg zum Boot gelaufen bist, da hat das Wesen deine Füße gespürt. Für die Kreatur war es, als ob eine Fliege auf ihrem Rücken entlang liefe…“
Der Berlin-Zyklus
Insomnia
Sicher – nervös, überaus nervös war ich und bin es auch jetzt noch, da ich vor dem großen Garderobenspiegel stehe und meine Kleidung zurechtzupfe. Aber ist das denn verwunderlich? Schließlich bin ich kurz davor, das Haus zu verlassen, um mich in den zahlreichen Etablissements Berlins zu amüsieren. Sitzt meine Fliege auch richtig? Hier braucht mein Hemdkragen noch etwas mehr Betonung, so! Und meine Lackschuhe – glänzen sie auch wie zwei schwarze Spiegel? Ein letzter prüfender Blick. Ich drehe mich zur linken und dann zur rechten Seite. Ein paar Utensilien noch in die Taschen – so, prima. Ein jeder Künstler braucht gewisse Dinge, wenn er abends das Haus verlässt. Auch das Bärtchen will noch gezwirbelt sein – etwas Bartwachs dazu, fertig. Ja, so kann ich mich sehen lassen! Ich bin schön wie ein englischer Dandy vom Schlage eines Oscar Wilde – und meine Seele dürstet nach Sensationen. Ich will das Leben spüren und es in vollen Zügen genießen. Aus diesem Grund trieb es mich heraus aus meinem Gutshof in Ostpreußen und mit einem Koffer voller Geld hinein in die Großstadt! Hier, wo die Pferdekutschen immer seltener und die Automobile immer zahlreicher werden. Hier, wo die Menschen tagsüber mit leeren Gesichtern durch die Straßen hetzen. Genau hier will ich leben! Mitten unter all den herausgeputzten Verkäuferinnen, dreckigen Fabrikarbeitern und gebückt laufenden Juden. Das Leben pulsiert hier mit einer gesteigerten Herzfrequenz. Das Blut kocht einem unentwegt, und sobald man den tristen Hinterhof verlassen hat, in den nur im Sommer die Sonnenstrahlen hineinfallen, und hinaus auf die Straße tritt, so fühlt man sofort den Schlag deines Herzens – Berlin. Deine Frauen sind schöner, sie blicken mir direkter in die Augen als
anderswo – nicht einmal Paris kann da mithalten! Die zarten Wesen umschwirren einen wie Elfen, sobald man auch nur wenige Schritte gegangen ist – und dann riecht man im Vorbeigehen ihr Parfüm, diese schweren, orientalischen Düfte, welche gerade in Mode sind und die an Gewürze erinnern und die wohl auch in der Luft einer dunklen chinesischen Opiumhöhle umherschweben mögen. Oh – Leben! Gesteigertes Leben! Es ist eine Lust zu leben! Ich atme tief ein und fühle die frostige Kälte der Novemberluft, die sich schwer auf meine Lunge legt. Doch das ist egal – es zählt nur die Nacht und ihre Sensationen. Jeden Tag eine andere, jeden Tag größer – gewagter – gefährlicher… lustvoller. Mal sind es Frauen, mal sind es Männer, doch allen ist eines gemein – sie sind Suchende wie ich. Suchend nach Wundern, nach Lust und Hingebung an das Unendliche. Wir suchen das nicht nur in Eros und Sexus. Auch andere Arten der Unterhaltung dienen dem gesteigerten Leben. Die Tanzpaläste, Theater, Kabaretts und Kaffeehäuser sind unsere Kirchen und Tempel, auf denen wir dem Gott der neuen Zeit opfern. Unsere Opfergaben sind Geld, Kreativität und vor allem – Schlaf. Ständig hat man das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen, denn irgendwo passiert immer etwas in dieser Stadt. Weiterhetzen, von Cafe zu Cafe, von Privatfeier zu Privatfeier – sehen und gesehen werden. Jeder ein Künstler. Just in diesem Moment laufe ich an einem zerfetzten Zirkusplakat vorbei. Vor einer Woche gastierte er in der Stadt. Das in Streifen wogende Plakat zeigt eine Schlangentänzerin in aufreizender Pose. Ich habe sie damals nach der Premiere kennen gelernt. Sie war eine Augenweide – ein Alabasterkörper, umschmiegt von einem Hauch Chanel No. 5. Später, in einem Hotelzimmer, wand sie sich unter meinem
Körper wie eine Kobra – ebenso schön wie giftig. Noch vor dem ersten Morgenlicht war sie verschwunden. Ebenso der Billettabreißer des kleinen Kinos an der Ecke. Auch er verliebte sich in meine schöne Erscheinung und verbrachte die Nacht mit mir. Sein Männerkörper war hart und fest – eine wohltuende Abwechslung nach dieser Frau. Auch er verließ mich vor Sonnenaufgang. Doch es ist gut so! Man hat keine Verpflichtungen, keine Tränen – nur den vollen Genuss! Und keinen Schlaf… Wir haben keine Zeit dazu, das Leben erscheint so kurz! Wir müssen genießen, verbrauchen, in uns aufsaugen. Gerade jetzt ist das wichtig, nach diesen vier furchtbaren Kriegsjahren. Vier lange Jahre. Wenn ich darüber nachdenke, so kommt es mir vor, als sei unser aller hektisches Treiben in diesem Ameisenhaufen nur ein Reflex auf die innere Angst, dass der Friede, dieses trügerische Gut, nur vorübergehend sein könnte. Denn gestern noch putschten die Kommunisten, heute sind es die Freikorps. Wer wird es morgen sein? An der Ecke Tauentzien/Budapester Straße ist das Romanische Cafe. Ich kann durch die hohen Fensterscheiben sehen. Dort sind die Dichter, Denker und Schnorrer, die noch nie ein Buch veröffentlicht haben. Aber gerade die sind es, welche die renommierten Künstler zu neuen Charakterzeichnungen inspirieren. Diese Originale reden mit knabenhaften Damen, welche Monokel in den tiefschwarz umrandeten Augen tragen. Die Brüste sind der Mode entsprechend durch einen Gürtel unter den Blusen flach an den Körper gepresst, was ihre jungenhafte Erscheinung noch betont. Androgynität ist en vogue. Die Haare der Frauen sind glatt und kurz, wie die Frisur des Pariser Tanzstars Josephine Baker.
Ihre Beine formen sich aus kurzen Charleston-Röckchen heraus – ein wunderbarer Anblick! Doch das ist heute nicht mein Ziel. Denn ich bin Künstler und will mich im Erschaffen von Kunstwerken üben. Und doch bin ich auf der Suche nach etwas weitaus Pikanterem. So eile ich am Kurfürstendamm vorbei, lasse all die politischen Kabaretts hinter mir und biege in die nächste Straße ein. Dort führt eine glitschige Steintreppe hinunter in den muffigen Keller des „Künstlerecks“. Als ich die verrauchte Luft in die Lungen sauge, die vermischt ist mit dem Duft von Schweiß und billigem Alkohol, da weiß ich, dass ich an meiner ersten Station des Abends angekommen bin. Ich stehe noch einen Moment auf dem Treppenabsatz hinter dem Eingang und schaue mich nach Bekannten um. Eine Melodie steigt aus den nebligen Schwaden zu mir auf – Johannes, der blinde Klavierspieler, ist wieder da. Man kann seine gebückte Gestalt nur schemenhaft durch den Rauch im hinteren Teil des Kellers erkennen, doch diese Töne in der Luft sind unverwechselbar seine Handschrift! Nun erspähe ich einen jungen Mann an der Bar. Er scheint einsam zu sein – niemand sitzt auf dem Hocker neben ihm und auch sein Blick verrät noble Langeweile. Der Jüngling scheint zwei Damen in modischen Kleidern zu beobachten, welche sich eine Linie Kokain – Engelsstaub, wie es von der noblen Gesellschaft genannt wird – auf den Tisch legen. Die eine nimmt ein perlmuttfarbenes Röhrchen, steckt ein Ende in die Nase, das andere setzt sie auf den weißen Strich – die zitternden Finger presst sie auf den freien Nasenflügel und verschließt ihn somit. Sie atmet kräftig ein. Das Pulver schießt durch das Röhrchen in die Nase und bedeckt die Schleimhäute. Die Lady zuckt kurz zusammen, blinzelt mehrmals und lehnt sich zurück. Sie beginnt laut zu lachen.
„Hallo!“, sage ich. Der Jüngling wird aus seinen Beobachtungen gerissen und erschrickt. Seine Wangen bekommen hektische Flecken. „Oh, uh-hallo!“ Seine Augenlider flattern schüchtern. Er scheint noch nicht sehr lange in der Stadt zu sein. Genau mein Typ! Groß, gut gebaut, nicht zu dünn, gepflegt, sauber – das alles ist wichtig. Ich schaue ihm tief in die Augen, er windet sich unter meinem Blick und zündet sich eine langstielige Zigarette an. „Darf ich mich vorstellen?“, beginne ich leise. „Mein Name ist George, aber nenn mich ruhig Gerd, wenn dir die französische Sprache schwer fällt!“ Er lächelt unsicher. Wie wunderschön er aussieht! Ich will ihn! Innerhalb der nächsten halben Stunde erfahre ich alles von ihm: Sein tristes Leben in einem Vorort Berlins und wie er beschloss, nach Kriegsende endlich sein Leben zu genießen. Und das wollte er hier im Stadtmoloch tun – hier toleriert man sein offensichtliches Interesse an Männern. Es dauert keine weitere Viertelstunde, da habe ich ihn dazu überredet, mit mir auf ein Atelierfest eines bekannten Künstlers zu kommen. Wir verlassen Arm in Arm das Lokal und sind ein paar Minuten später bei meiner zweiten Station des Abends – dem Atelier in der Budapester Straße. Das Haus war in den Gründerjahren ein stark frequentiertes Hotel. Doch dann kamen die schlechten Zeiten nach dem Krieg – Depression, Inflation – und es wurde verkauft. Eine ältere Dame mit falschen Haaren und gelben Zähnen soll es dann als Bordell benutzt haben. Das Etablissement wurde aber von der Polizei geschlossen, nachdem sein Zweck ruchbar geworden war. Anschließend stand es einige Monate leer, bevor sich eine Gruppe von Dada-Künstlern einmietete, um es als Basislager der komischen Weltrevolution zu machen. Zu diesem Zweck
betreiben sie im Keller ein dadaistisches Kabarett. Die Hotelzimmer sind von Künstlern bewohnt, von Musen, Gigolos und anderen Bohemiens. Im Dachgeschoss liegt ein riesiges Atelier, in welchem gemalt und gedichtet wird, aber auch regelmäßig orgiastische Feiern abgehalten werden. Das ist unser Ziel. Wir betreten den Lift nach oben. Als er hält und wir die eisernen Scherentüren öffnen, schwappt eine Welle Grammophonmusik zu uns herüber. Wir werden mitgerissen, froh hinein in eine Flut von wippenden Federboas, schwingenden Perlenketten, dem endlosen Gelächter und dem undurchdringbaren Kauderwelsch Hunderter Kehlen. Eine Bilderflut stürmt auf uns ein – kaum zu verarbeiten, wenn man so etwas nicht schon einmal gesehen hat. Ich und mein neuer Begleiter, ich habe ihn Jean getauft, werden von der Menschenwoge an eine Balustrade gespült, welche sich über einem Saal erhebt. Jean steht mit offenem Mund an der Brüstung und blickt auf das bunte Treiben zu seinen Füßen. „Das ist das Paradies des Fleisches!“, ruft er entzückt aus. Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und kraule mit den Fingern seine Nackenhaare. „Ja, mon Ami! Das ist es!“ Unter uns breitet sich eine Landschaft zuckender Leiber aus, sich ekstatisch verbiegend zu der aufpeitschenden Musik eines Grammophons mit riesigem Schalltrichter. Sie alle tanzen durch die Nacht in einem endlosen Strom aus Rausch und Leidenschaft. Sie bewegen sich um ein Epizentrum, das aus einer Liegefläche mit Podest besteht. Auf diesem Podest zelebriert eine moderne Salome den Schleiertanz, umgeben von sich wollüstig auf den Polstern räkelnden Sklavinnen, deren einzige Kleiderstücke ihre übergroßen Halsketten sind. Am Rand des kreisförmigen Raumes stehen die Gäste, die sich über Politik, Mode, Musik und Kunst unterhalten. Damen
kichern kokainbetäubt und Männer reiben sich mit überreizten Nerven ständig über die Nasenflügel. An den Wänden und von der Decke hängen expressionistische Bilder und dadaistisch verfremdete Kopien von Klassikern. Wir gehen über eine Wendeltreppe hinab in die Menge. Ich werde gesehen, man grüßt mich – ein Lächeln hier, ein Lächeln da! Meinen Freund kennt niemand, aber ein Männerkreis in der gegenüberliegenden Raumecke beobachtet ihn mit wachem Interesse. Endlich erreichen wir einen Nebenraum und können einen Cocktail „Ohio“ ergattern. Nach einer halben Stunde ist mein Jean stockbetrunken. Wir tanzen noch einen Schieber, Wange an Wange, lachen verstohlen und schauen uns tief in die Augen. Er weicht meinem Blick nicht mehr aus – und da fasse ich ihn am Arm. „Lass uns gehen!“ Ich führe ihn heraus aus dem Atelier und hinunter in ein anderes Stockwerk. Dort wanken wir in ein Zimmer, das mit einem roten Kreuz auf dem Türstock markiert ist. Aufgrund der Markierung weiß ich, dass der Raum unbewohnt ist und für erotische Spielchen benutzt werden darf. Wir fallen auf einem bereits zerwühlten Bett übereinander her. Wild, ekstatisch, leidenschaftlich – ausgehungert. Als wir miteinander fertig sind, ist Jean ganz erschöpft. In der Mitte des geräumigen Badezimmers steht eine grüne Badewanne. Ich überrede ihn, ein Bad zu nehmen, und lasse warmes Wasser ein. Er sinkt müde hinein und ich greife in meine Smokingtaschen. Dort befinden sich die Utensilien, die ich mir in weiser Voraussicht für den Genuss des Abends mitgebracht habe. In einem Moment der Unaufmerksamkeit überwältige ich meinen Freund. Ein blitzendes Messer im schwankenden Schein des elektrischen Lichtes. Zehnmal fährt meine Hand
hoch und wieder hinab. Dann ruht tödliche Stille über dem szenischen Tableau.
Jean schläft jetzt ganz lange. Nachdem ich ihn eine Weile mit schiefgelegtem Kopf betrachtet habe, beginne ich mit dem Werk. Ich wickle ihm ein weißes Handtuch wie einen Turban um den Kopf. Es soll unbeschwert aussehen – gar nicht künstlich! Jeans linke Seite schiebe ich etwas nach vorne. Damit sie in dieser Position bleibt, klemme ich Badetücher hinter seinen Rücken. Den rechten Arm lege ich behutsam auf den Boden. Der Kopf lehnt nun sacht zur rechten Seite und weist in Richtung Badezimmertür. Ich stelle mich dorthin und überlege – es fehlen noch einige Details. Ich rücke ein Holzschränkchen vor die Wanne, lege ein weiteres Handtuch unter Jeans rechten Arm. Dann ergreife ich einen Notizblock schreibe einige französische Worte auf einen Zettel. Den Block lege ich unter den linken Arm, der auf dem rechten Wannenrand ruht, und stecke ihm das Papier zwischen seine Finger. Weitere Zettel, ein schwarzes Glas und eine Feder auf das Schränkchen daneben. Ein Gänsekiel wird in der rechten Hand festgeklemmt. Ich nehme das Messer aus meiner Hosentasche und schneide mir in den Daumen. Mit dem hervorquellenden Blut beträufle ich das Handtuch am Wannenrand. Ich kratze noch etwas auf Französisch in das Schränkchen, drehe es ins Licht und lege das blutige Messer vor die Badewanne. Dann trete ich seufzend zurück in den Durchgang zum Badezimmer und betrachte das Arrangement: Es ist perfekt!
Wenige Minuten später bin ich wieder zurück auf der Party. Durch meine Adern fließt eine rauschhafte Ekstase. Ich habe es mir wieder bewiesen, ich kann es immer noch. Begehrt bin ich und schön – und ich brauche keinen Schlaf! Nein, ich nicht! Mein Liebling schon! Wie hieß er noch gleich…? Egal! Es geht weiter! Als ich im Atelier auftauche, beginnt gerade eine Vorstellung: Die großen Türen zum Gang öffnen sich und knallen gegen die Wände. Im hohen Rahmen steht ein Pferd, worauf eine nackte Schöne reitet. Eine Federboa umschmeichelt ihre Alabasterschultern. Eine Gasse bildet sich zur Linken und Rechten. Die Menge teilt sich wie das Rote Meer und wogt hinter der Reiterin wieder zusammen. In der Mitte angekommen vollführen beide – Pferd wie Reiterin – akrobatische Kunststücke. Im künstlichen Licht glänzt das Fell des Schimmels, es funkeln die Augen der nackten Reiterin. Doch dann ist alles viel zu schnell vorbei und sie reiten wieder hinaus. Tosender Applaus geleitet Akrobatin und Pferd aus dem Saal. Während der Beifallsstürme erblicke ich die Frau – sie klatscht vorsichtiger als die anderen um sie herum. Ihre schönen Hände haben keine hellroten Fingernägel. Sie ist noch nicht so lange in der Stadt, um sich auf die Mode eingestellt zu haben. Ich versuche ein erregtes Zittern unter Kontrolle zu bekommen, als ich den bläulichen Schimmer sehe, der über ihre langen, schwarzen Haare streicht. Wunderschöne, lange Haare! Genau wie ich es mir erhofft hatte. Meine Vorstellung fällt diesmal etwas uneleganter aus, ich bin zu nervös – sie ist das perfekte Rohmaterial für mein Meisterwerk!
Wir kommen uns schnell näher. Beim Tanzen steckt mir ein Bekannter ein Silberkästchen zu. Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet, denn der Inhalt der Dose ist meine Garantie für einen perfekten Abend! Beim Büffet erzählt man sich, dass das Pferd, welches die Akrobatin vorhin so grazil getragen hat, einem Maler gehöre, der hier wohnt. Das Tier besäße sogar ein eigenes Zimmer, die Nr. 614 im sechsten Stock. Da ich erfahren habe, dass Eva – meine neue Bekannte – immer davon geträumt hat, einmal im Leben ein Pferd zu besitzen, lade ich sie zu einem Besuch des Zimmers ein. Die Tür von 614 ist nur angelehnt. Das Pferd sieht kurz auf, dann langweilen wir es schon wieder. Es steckt seinen länglichen Schädel zurück in den Hafersack, der auf einem Himmelbett liegt, und fährt fort zu fressen. Eva geht näher an das Tier heran und streichelt behutsam über das zuckende Fell. „Es ist etwas feucht!“, sagt sie und zieht die Hand weg. Ich stehe hinter ihr und ergreife diese Gelegenheit, ihr meine Vorstellung eines gelungenen Abends zu unterbreiten. Der Engelsstaub aus dem Silberkästchen wirkt sofort auf uns beide…
Ihr Kreislauf ist kollabiert – sie ist bewusstlos. Ich muss alles herrichten, und schnell muss es gehen, denn das Pferd wird unruhig! Hurtig die Kleinigkeiten auf den Nachttisch gestellt: Flasche, kleiner Topf, darunter ein Buch. Die Decken des Bettes verwildert, den Überwurf bis auf den Boden gezogen. Dann bette ich die Frau darauf. Das linke Bein unter das rechte geschoben; der Oberkörper hängt über die Seite des Bettes, die Haare fließen am Stoff entlang zu Boden. Der linke Arm mit dem Band am Handgelenk erreicht den Teppich, der rechte ist
unter dem Kopf angewinkelt. Zwischen den Vorhängen schaut das Pferd herein. Ich trete zurück und seufze tief. Etwas fehlt – ja, ein hockendes Wesen auf der Brust der Frau, das nachdenklich in Richtung Betrachter schaut! Eine tiefe Enttäuschung macht sich in meiner Brust breit. Es will mir diesmal nicht gelingen. Wütend will ich alles zerstören und ich trete den Futtersack des Pferdes vom Bett. Doch was ist das? Mein Hass schlägt in Ideenreichtum um – ich gehe zum Pferd, öffne mein Silberkästchen und tauche die Hand hinein. Dann ergreife ich blitzschnell das Zaumzeug, packe fest zu und reiße den Kopf des Tieres herum. Ich klatsche meine staubbedeckte Hand auf sein Maul und reibe ihm das weiße Pulver in die Nüstern. Das Pferd zuckt wild aufkreischend zurück. Seine Flanken zittern von der gewaltigen Anstrengung, als ein Nieskrampf das Tier erschüttert. Dann wird es ruhiger und bläht die Nüstern mächtig auf. In seinen Augen ist nur noch das Weiße zu sehen. Blind und nur dem Fresstrieb gehorchend sperrt es sein triefendes Maul auf und stürzt sich auf den vermeintlichen Futtersack, der da auf dem Bett liegt. Es wiehert laut auf, als es den berauschenden Geschmack auf der Zunge spürt, und von seiner Schnauze tropft das Rot in langen Fäden…
Sicher – nervös, überaus nervös war ich und bin es auch jetzt noch, da ich vor dem nächsten Objekt meiner Begierde stehe: eine ältere Dame. Sie ist mir vom ersten Augenblick verfallen – ihr Alter und ihre Sehnsucht machen sie für mich empfänglich. Aber kann man mir die erregten Nerven verdenken, da ich soeben etwas Neues empfunden und getan habe? Etwas derart Neues, dass ich es selbst kaum begreife. Aber ich weiß, dass
ich auf dem richtigen Weg bin – es fehlt nur noch ein kleines Stück. Bis jetzt habe ich dem Arrangement nur ein neues Teilchen hinzugefügt – das ist noch nichts Originelles. Die Dame folgt mir in ein leeres Zimmer. Dort befehle ich sie auf einen Stuhl. Sie soll die Augen schließen und den Mund leicht öffnen, den Kopf nach hinten neigen. Aber nein, das ist nicht das, was ich will! Ich trete seufzend zurück – nein, das sieht nicht gut aus. Sie soll ihre Hände hinter dem Nacken verschränken – gut! Und jetzt? Ach ja, die Beine übereinanderschlagen. Verdammt, was tue ich? Das ist ja ein furchtbarer Anblick! Ich werde wütend und will alles abbrechen, da fällt mein Blick durch die offene Zimmertür auf den Gang hinaus. Dort hängen eine Brandaxt und ein Feuerwehrschlauch. Und da ist sie – die Idee! Die Idee, auf die man ein Leben lang wartet. Ihretwegen schlägt man sich die Nächte um die Ohren, wartet… schlaflos. Und schlaflos wandert man durch die dunklen Gassen – gefangen zwischen Apoll und Dionysos. Wenn dann diese Idee da ist, dann muss man sie ausführen – koste es, was es wolle – oder sie ist auf immer verloren! Ich habe nicht vor, diesen Moment ungenutzt verstreichen zu lassen… Mit einem Schrei der Verzückung stürme ich auf den Gang, reiße die Axt von der Wand und renne wieder zurück zur alten Dame. Unser beider Schreie vermischen sich, so unterschiedlicher Art sie auch sein mögen… Befriedigt ist nicht das passende Wort, um das Gefühl zu beschreiben, das meine Nerven elektrisiert, so dass die Gesichtsmuskeln unkontrolliert zucken. Ich stehe in der Eingangstür und seufze tief. Dann blähe ich meine weiß geränderten Nasenlöcher und sauge den Duft des
Lebens und der Kunst in mich ein. Die Partygesellschaft ist noch in vollem Elan – schließlich ist die Nacht noch jung. Ein junges Ding stolpert an meine Brust. ,,’Tschuldigung“, stammelt sie erschrocken. Ein scheues Lächeln aus Rehaugen. „Kein Problem!“, wiegele ich ab. Sie schwankt leicht im unsichtbaren Wind. Ich rieche Alkohol. „Sind Sie ein Journalist?“ Sie ist arglos. „Nein!“ Meine Stimme ist weich wie Samt. „Ich bin ein Künstler!“ Sie zuckt mit ihrem Kopf und tut verstehend: „Oh, aha!“, und dann: „Welche Kunstrichtung bevorzugen Sie denn?“ Ich schließe die Augen, konzentriere mich durch den Schneesturm in meinem Kopf hindurch und antworte langsam und bedächtig: „Nun – zunächst habe ich fleißig Meisterwerke kopiert. Sie wissen schon – Jacques-Louis Davids ,Die Ermordung des Marat’, Johann Heinrich Füsslis ,Nachtmahr’ und so weiter! Doch nun bin ich endlich ein richtiger Künstler. Ich habe eine neue Art zu arbeiten geschaffen…“ Ihr Blick ist ebenso ahnungslos wie rührend naiv. „Was haben Sie denn… geschaffen?“ Ihr Mund ein fragendes „O“. Ich lege den Kopf zur Seite und lächle ihr zu. „Ich hänge keiner bestehenden Kunstrichtung mehr an, Expressionismus und Dadaismus waren gestern! Ich aber, ich arbeite an einer neuen Richtung. Sie ist abstrakt!“ Ihr leerer Blick – sie versteht immer noch nicht! „Ich habe ein festes künstlerisches Ziel vor Augen – es ist die Auflösung der menschlichen Formen…“
Der Schlafgänger
Die Tage zwängen sich in niedre Stuben, Wo heisres Feuer krächzt in großen Öfen. Wir stehen an den ausgefrornen Scheiben Und starren schräge nach den leeren Höfen. Georg Heym „Der Winter“
Ich erinnere mich derartig genau an jedes Detail des Abends, an dem ich den Schlafgänger zum ersten Mal sah, als ob sich jeder einzelne Gedanke und jede einzelne Wahrnehmung wie mit einem glühenden Eisen in mein Gedächtnis eingebrannt hätten. Dieses Wissen um jede Facette der Begebenheit aus meinen Kindertagen, als das Kaiserreich schon langsam alt wurde und meine männlichen Sinne gerade zu erwachen begannen – dieses Wissen lässt mich Nacht für Nacht schreiend in die monochrome Dunkelheit meines Zimmers erwachen und jagt mich im schweißnassen Zustand hinaus auf die knöcheltief mit Pferdedreck beschmutzten Straßen. Ich lehne mich gegen den stürmischen Wind, wandere scheinbar ziellos durch das schwarzverschleimte Labyrinth der Gassen, um dann doch wieder im Hafenviertel Moabit zu landen, wo mich der faulige Geruch des Brackwassers angenehm betäubt. Und hier suche ich in den fleckigen Armen einer asthmatischen Dirne das gnädige Vergessen, welches mir das gestreckte Opium schon nicht mehr zu geben vermag. Auf dem Heimweg steige ich wieder angeekelt über den Pferdemist und torkele in mein Bett, wo ich die feuchten Laken weit über meinen Kopf ziehe. Sobald mich Morpheus mit gnädigen Armen umfängt, ist sie wieder da – die Erinnerung an eine ferne Kindheit im Arbeiterviertel Wedding, der ich mich tagsüber durch meinen
Beruf entronnen wähne. Aber wenn die Schatten der Schornsteine lang wie Spinnenbeine über die Dächerlandschaft staksen und die unwirkliche Zeit zwischen Tag und Nacht herandämmert, dann löst das orangerote Licht der untergehenden Sonne die Schutzschicht des Erwachsenen in groben Schlackestreifen von meiner Seele und offenbart eine verborgen gehaltene Kindheit – nackt, frierend und hilflos gegenüber einer feindlichen Welt, von der ich geglaubt hatte, dass sie sich mir in einem der zahllosen Hinterhöfe Berlins in menschlicher Gestalt manifestiert habe – heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Doch damals wusste ich nichts. Ich ahnte nur etwas – an einem kalten Abend im Dezember des Jahres 1892…
Der Winter hätte seine Zeichen nicht deutlicher als in den gefrorenen Eisblumen an dem kleinen Fenster unserer Wohnung hinterlassen können. Meine Nase war schon ganz kalt vom ewigen An-die-Scheibe-Pressen. Wo sie das Glas berührte, schmolz ein Kreis aus warmem Dunst die Blumen zu Wasser zusammen, das tränengleich zur Fensterbank rann, wo es jedoch nie ankam, da es der unbarmherzige Frost sofort wieder zu eisigen Diamanttropfen erstarren ließ. Mein kleiner Bruder Josef zwängte sich gegen meinen ausgemergelten Körper und versuchte durch Hüpfen wenigstens ab und zu ein Stück Ausblick auf den von Schatten erfüllten Hof zu erhaschen. Unablässig fiel aus eisiger Höhe der Schnee in dieses dunkle Viereck und breitete einen weißen Teppich aus. „Wann kommt er denn endlich?“, war meine immer wiederkehrende Frage an den Vater, der neben dem Fenster saß und Löcher in die Luft starrte. So konnte er stundenlang dasitzen, nur vom Seufzen unterbrochen, das sich langsam und
von weit her aus den Untiefen seines frühzeitig gealterten Körpers heraufquälte. „Ach ja, er wird schon noch kommen.“ Meine große Schwester Anna würde ihn verpassen, soviel stand fest. Sie war vor zwei Stunden „spazieren gegangen“, wie meine Eltern dazu sagten. Sie ging meist abends um sieben Uhr und kam erst spät in der Nacht wieder heim. Ich habe sie einmal gesehen, als sie leise die Wohnungstüre aufsperrte und auf Zehenspitzen an der Wohnküche vorbei in ihre kleine Kammer schlich – sie hatte blaue Flecken unter den Augen und lange Tränenspuren glänzten im Schein des Lichtes, das aus dem Ofen fiel. Und dann legte sie einige Geldscheine in unsere Vase, die im Flur auf einem hohen Regal stand. Doch mit welch bittertraurigem Ausdruck sie das tat, das werde ich nie in meinem Leben vergessen. Mutter sah vom Herd zu mir herüber und ließ ihren Kochlöffel für einen Moment sinken. Er schlug sanft gegen den großen Topf mit den Kartoffeln. Mutter wusste immer, wie sie uns glücklich machen konnte – so auch heute, an dem Tag, an welchem unser neuer Schlafgänger kommen sollte. Sie raffte ihre Schürze, griff darunter und holte zwei leuchtende Äpfel hervor – unsere Münder blieben staunend offen. Josef biss herzhaft in seinen Apfel, so dass es krachte, Vater lachte einen seiner seltenen Lacher und ich stieg gutgelaunt darauf ein. Während wir dastanden und uns gegenseitig anlachten, blickte Mutter über unsere Köpfe hinweg auf den Hof und für einen Moment huschte ein Schatten über ihr Gesicht. „Er kommt!“ Diese zwei Worte genügten, um die Atmosphäre in der Stube völlig zu verwandeln. Wir Kinder schossen mit unseren Nasen an die Scheibe, wobei Josef von Mutter hochgehoben wurde, um besser sehen zu können.
Und tatsächlich – da unten war er, der Schlafgänger. Zunächst hatte ich ihn gar nicht gesehen, doch dann erkannte ich, dass sich dort unten ein Schatten im Hof bewegte. Ein Stück Mantelstoff wogte aus dem Schlund des Hofbogens wie eine zischelnde Schlangenzunge hervor, welche die Luft nach Gefahren abschmeckte. Dann löste sich eine dunkle Gestalt ruckartig aus den Schatten und betrat mit langsamen Schritten unseren Innenhof. Ein langer, schwarzer Mantel flatterte um schwere Lederstiefel, die bis knapp an die Knie reichen mussten, wie ich aus dem etwas steifen Gang des Mannes schloss. Er schien auch ein wenig zu hinken, doch das konnte täuschen, da der Schnee mehr als knöcheltief lag und so das Gehen erschwerte. Ich kniff die Augen zusammen, um den Schlafgänger durch das wilde Schneetreiben besser erkennen zu können. Etwas flatterte um seinen Hals wie eine zerfetzte Fahne – aber zu mehr Beobachtungen kam ich nicht, denn da hob die Gestalt den Kopf und blickte uns geradewegs in die Augen. Eine nie gekannte Furcht fraß sich in meine Eingeweide. Ein unbekannter, schmerzhafter Schrecken durchzuckte mich bis in das Innerste meiner Seele und krallte sich dort fest. Und ich ahnte, nein ich wusste – dieser Mann war anders als alle anderen Schlafgänger, die wir jemals beherbergt hatten. Dabei war an seinen Augen nichts Auffälliges, oder gar etwas Erschreckendes, nein. Ich konnte sie gar nicht sehen. Da war nur dieses dunkle Loch, wo seine Augen sein mussten – ein großes ovales Loch, als wäre dort gar nichts. Und direkt darunter verbarg ein Schal den größten Teil seiner Nase und die gesamte untere Gesichtshälfte. Der herabfallende Schnee fiel in das Loch unter der Kapuze des Schlafgängers und hörte dort auf zu sein. Von oben sah es so aus, als würden die Schneeflocken auf geradezu magische Weise davon angezogen und aufgesogen.
Der Mann wandte den Blick wieder zu Boden und bewegte sich mit seinem seltsamen Gang über den Hof hinweg. Und obwohl unser Hof kaum so breit war, dass ein Feuerwehrwagen hineinfahren und wenden konnte, kam mir die Strecke bis zur Haustüre wie eine Ewigkeit vor. Mit offenem Mund stand ich da und beobachtete sprachlos jede einzelne seiner Bewegungen. Dann wurde der Mann eins mit den Schatten, die den engen, schlecht durchlüfteten Hauseingang ausfüllten, und ich wartete darauf, die schweren Lederstiefel auf der Holztreppe zu hören. Da waren sie. Langsam und gleichmäßig. Bedächtig stieg der Schlafgänger durch das Haus. Die Schritte stoppten vor unserer Tür – eine kleine Pause, so, als ob er sein Aussehen noch einmal kontrollieren würde – dann pochte es laut. Ich erschrak und zitterte leicht. Vater erhob sich langsam und schritt gebeugt zur Tür. Er arbeitete eine Elf-Stundenschicht in der großen Eisenfabrik außerhalb Berlins – das viele Bücken hatte ihn krumm gemacht. Vater griff zur Klinke und öffnete die in sich verzogene Tür einen Spalt breit. Er blickte kurz nach draußen. „Hallo. Kommen Sie rein!“ Dann öffnete er die Tür ganz und ließ damit die Gestalt herein, die noch heute meine Albträume heimsucht – den Schlafgänger. Da stand er nun – groß und schlank, bestimmt zwei Meter hoch – ein Turm aus schwarzem Stoff, der die ganze Türbreite ausfüllte. Doch war der Mann nicht muskulös, im Gegenteil. Der Mantelstoff schlotterte geradezu verzweifelt um Halt ringend an der hageren Gestalt des Schlafgängers entlang. Er schien vollständig aus Schwärze zu bestehen – die Stiefel, der Mantel, der Schal. Nur die Augen waren nicht von dieser
Farbe. Sie wurden von einem alles durchdringenden Blau beherrscht. Diese Augen rollten unruhig in den Höhlen umher und mir war so, als tasteten sie das Zimmer wie mit bläulichen Strahlen ab und musterten kurz alle Anwesenden. Jeder wurde mit einem gesonderten Blick bedacht. Dann bückte er sich und tauchte unter dem Querbalken des Türstockes vorbei. Der Schlafgänger war in unsere Wohnung und in unser Leben getreten. Schweigend nahm er am Tisch Platz, wodurch seine imposante Größe keinesfalls litt. Vater bot ihm ein Glas Wasser an, doch der Schlafgänger bewegte leicht den Kopf zum Zeichen des Verneinens. Im Folgenden stellte sich heraus, dass er stumm war, sich aber hervorragend durch eine Zeichensprache verständigen konnte, die er mit den behandschuhten Händen ausführte. Seinen Mantel und seinen Schal wollte er anbehalten, wie er meiner Mutter versicherte. Vater hatte ihn auf dem illegalen Schlafstellen-Markt auf dem Ku’damm kennen gelernt, als er dort auf der Suche nach einem Untermieter gewesen war. Mein Vater und er waren schnell handelseinig geworden, sie klärten nun nur die Formalitäten. Der Schlafgänger würde jeden Abend um sieben Uhr kommen, die Schlafstelle bis um drei Uhr morgens einnehmen, um dann anschließend sofort die Wohnung zu verlassen. So könnten wir später noch einen zweiten Schlafgänger einmieten, der in einer anderen Schicht arbeitete. Der Schlafgänger hatte wöchentlich einen Betrag an uns zu zahlen, was unsere Mietskosten ein wenig senkte. Als Schlafplatz wurde ihm der Platz hinter dem Ofen zugeteilt. Der Schlafgänger ließ während der Ausführungen die Blicke schweifen, tastete sich an den Wänden entlang, wo das Soldatenbild meines Vaters hing, direkt unter dem des Kaisers. Der Mann suchte die Buchrücken unserer „Bibliothek“ ab (die
Memoiren von Lasalle waren darunter – was war, wenn dieser Schlafgänger ein Polizeispitzel war? In diesen unruhigen Zeiten musste man mit allem rechnen, sagte mein Vater immer) und nickte dann befriedigt zum Zeichen, dass er Vater verstanden habe und die Schlafstelle antreten wolle. Daraufhin unterzeichnete er ein Papier, das ihm Vater entgegenstreckte, und schüttelte dessen Hand. In diesem Moment glaubte ich einen Herzschlag lang ein Grauen über das Gesicht meines Papas huschen zu sehen. Er schien durch die Handschuhe etwas zu fühlen, das ihn zutiefst erschreckte. Aber der Gedanke an das Geld behielt die Oberhand, wie immer bei meinem Vater. Der Schlafgänger machte uns mit ausladenden Armbewegungen klar, dass er die Stelle sofort in Anspruch nehmen wolle, was meinen Eltern nur recht war. Josef sprang ohne Scheu herbei, griff dem seltsamen Mann an das Bein und hielt sich dort fest. „Mann wohnt jetzt bei uns?“ Um die Augenwinkel des Schlafgängers bildeten sich Falten. Er nickte feierlich und zog sich einen Handschuh aus. Mich durchzuckte es kalt – seine Fingernägel waren länger als bei einem anständigen Mann üblich. Sie waren aber weder spitz noch halbrund, sondern endeten stumpf. Unter den Nägeln sammelte sich schwarzer Dreck in fleckigen Mustern. Die Haut der Hand wirkte wie die eines Reptils – hart, trocken und krustig. Und mit diesen Fingern strich er über das strohblonde Haar meines Bruders. Die Bewegung war zwar vorsichtig und zärtlich, aber für mich sah es so aus, als wäre der Zärtlichkeit ein Bedauern beigemischt. Mir graute vor diesem Menschen. Ich fasste beherzt an Josefs Arm und zog ihn heftig zurück. Da verfinsterte sich der Blick des neuen Untermieters. Seine Hand, die sich noch einen Augenblick in der Luft befunden hatte, sank langsam herab. Die Falten im Gesicht glätteten
sich, während sich die Augen in die meinen bohrten. Ich fror innerlich unter diesem Blick, der nur Sekunden währte, denn augenblicklich erhob sich der Mann und erklärte somit ohne viele Worte, dass das Gespräch beendet war. Er legte zur Anzahlung ein paar Mark auf den abgewetzten Tisch und verneigte sich leicht. Dann ging er zum Ofen, kniete nieder und kroch in den Raum hinter der Wärmequelle. Er krümmte sich in seinen Mantel und sah nun wie ein Engerling tief unter der Erde aus. Für uns war es auch Zeit, schlafen zu gehen, und so machten wir Kinder unser Bett neben dem der Eltern und legten uns auf den Boden nieder. Mein Bruder schien keinerlei Probleme mit dem Schlafen zu haben, denn nachdem er den Eltern und mir eine „Gute Nacht“ gewünscht hatte, tat er dasselbe mit dem Schlafgänger, der zur Antwort leicht nickte, und schlief zufrieden ein. Ich aber lag noch lange wach und beobachtete den Schatten, der sich da hinter dem Feuerloch des Ofens hob und senkte wie der Brustkorb eines zum Sprung bereiten Panthers. Letztendlich übermannte mich die Müdigkeit, denn auch ich hatte an diesem Tag in der Fabrik gearbeitet. Das Gefühl, beobachtet zu werden, nahm ich jedoch in meine Träume mit… Als ich erwachte, war es schon kurz nach Morgengrauen – ich zuckte herum und sah in die Ofenecke. Der Platz war leer. Mein Bruder reckte sich verschlafen. „Andreas, bist du schon wach? Ich habe einen furchtbaren Traum gehabt, und mir ist schlecht.“ Ich strich ihm mit der Hand über den Kopf. „Du bist ja ganz heiß! Mama!“ Mutter streckte den Kopf über den Rand der Bettdecke und sah zu uns herunter. „Ja, was ist?“
„Josef ist krank!“ Mutter schwang die Beine über die Bettkante und nahm den Kopf meines Bruders in die Hände. Er hatte Fieber – doch Krankheiten konnten wir uns nicht leisten. Deswegen wurde mein Vater geweckt, der sofort aus dem Haus gehen sollte, weil er nicht erkranken durfte. Ein Ausbleiben seines Verdienstes würden wir kaum verkraften können. Auch ich musste raus aus der kleinen Wohnung. Ich weckte meine Schwester, die wie immer stark verschlafen war und nur schwer aus den Federn kam. Dann ging ich ausnahmsweise mal zur Schule. Aber die Sorge um meinen kleinen Bruder ließ mich auch dort nicht los.
Ich schreie und schreie meine Ängste und Sorgen in das Zwielicht der Nacht hinein und hoffe, sie dadurch zu lindern. Aber es ist jedes Mal nur ein schwacher Trost, der nicht lange anhält. Mein Herz klopft heftig in meiner Brust – vielleicht habe ich einen Herzfehler? Wohl kaum, denn ich habe schlimm geträumt und da schlägt mir immer das Herz bis in den Hals hinauf. So kann ich mir das alles erklären. Wenn jedoch Vierjährige Erklärungen für Krankheiten suchen, ist es nicht einfach, die richtigen Antworten zu finden, besonders, wenn man als Bruder selbst nur vier Jahre älter ist.
Damals sagte ich meinem kleinen Bruder, seine Beschwerden kämen von der feuchten Luft in unserer Wohnung, an deren schräger Zimmerdecke sich der Atem in Form von Eiskristallen sammelte. Meine wahre Meinung verschwieg ich ihm allerdings wohlweislich. – Ich glaubte zu wissen, dass es weder an der Kälte noch an der Feuchtigkeit lag. Nein – es lag am Schlafgänger.
Diese Gestalt mit dem flatternden und elektrisch knisternden Wollmantel war sicher der Auslöser. Seit er in unserer Wohnung lebte, ging es meinem Bruder von Tag zu Tag schlechter. Was zunächst ein leichtes Fieber gewesen war, wuchs sich zu einer Lungenentzündung aus – und uns fehlte das Geld für einen Arzt. Jeden Tag hörte ich dann um sieben Uhr abends die langsamen Schritte des Schlafgängers, der mit seinen hohen Stiefeln die knarrenden Stufen der wurmstichigen Holztreppe erklomm, einen Moment vor unserer Tür verharrte und dann dagegen klopfte. Wie war er mir verhasst. Jedes Mal, wenn er als imposante Erscheinung durch die Tür getreten war, neigte er leicht den Kopf in die Richtung meines Bruders und ich glaubte ein befriedigtes Glänzen in seinen Augen erkennen zu können. Ich wusste auch, wie er meinen Bruder krank machte. Der Schlafgänger saugte nämlich die Lebenskraft eines Menschen in sich auf, wie ein Vampir das Blut seiner Opfer, so mutmaßte ich. Von Vampiren hatte ich durch polnische Arbeiterkinder gehört. Und es sollte auch eine Sorte Wiedergänger geben, die nicht das Blut, sondern die Lebensenergie eines Menschen anzapften. Und einer von diesen war ganz sicher der Schlafgänger! Deshalb auch die Geheimniskrämerei mit dem Schal. Ließe er ihn fallen, so würde man einen lippenlosen Mund sehen, besetzt mit winzig kleinen rasiermesserscharfen Zähnen, die über einen herfallen. Doch wenn man das sähe, dann wäre es bereits zu spät. Dazu wollte ich es nicht kommen lassen und beschloss, in dieser Nacht wach zu bleiben. Angstvoll erwartete ich wieder die Stunde, in der er kommen sollte. Und tatsächlich – pünktlich um sieben Uhr betrat die schwarze Gestalt den Innenhof, durchquerte ihn mit eiligen Schritten, stieg die Treppe hoch und klopfte an die Tür. Meine Phantasie ließ mich
den Schlafgänger durch die Tür hindurch sehen. Seine überlangen Arme hingen affengleich an den Seiten des Mantels herab, der in knisternden Falten um einen skelettartigen Körper wogte. Meine Mutter schien nichts von der unheimlichen Aura unseres Untermieters zu bemerken, denn sie öffnete ohne Unbehagen die Tür. Mit schief gelegtem Kopf musterte der Schlafgänger meinen Bruder. Seine Körperhaltung drückte Zuneigung aus. Ich bin mir sicher, dass er ihn berühren wollte, aber er sah meinen angespannten Körper daneben im Bett liegen und zog seine Hand mitten in der Bewegung zurück. Er kroch hinter den Ofen und wartete – wie eine Schlange, die sich ihres Opfers sicher war. Ich legte meinen Arm um den fiebernden Körper meines Bruders. In den letzten Stunden hatte er Schüttelfrost bekommen und wand sich in wilden Fieberphantasien. Als alle im Bett waren, beobachtete ich den Schlafgänger genau. Sein Schal hob und senkte sich im Takt seiner Atemfrequenz – auch sein Brustkorb weitete sich langsam. Ein Auge war geschlossen, aber das andere war halb geöffnet und schien mich wachsam zu beobachten. Der Mann lag wie ein schwarzer Wurm in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers und bewegte sich nicht. So lange ich auch wach blieb – er schien zu spüren, dass ich ihn beobachtete – und rührte sich nicht. Ab und zu hatte ich das Gefühl, er habe seine Schlafposition gewechselt, doch konnte ich das nie mit Bestimmtheit sagen. Aber auch ein willensstarker Geist wird einmal schwach, und so musste ich wohl eingeschlafen sein, denn das nächste, was ich fühlte, war, dass sich ein schwerer Körper neben mir befand.
Ich konnte mich nicht bewegen, konnte kein Auge öffnen – die Panik hatte von meinem Herzen Besitz ergriffen. Ich hörte das rasselnde Atmen, das schwere Keuchen und das Geräusch von langen Fingernägeln auf Stoff. Er schien etwas zu suchen, zu fassen und – EINZUATMEN. Ich kann es nicht besser beschreiben, als dass es ein Atemgeräusch war, ein stetes gieriges Saugen – gleichzeitig durch Nase und Mund. Ich begann zu zittern – was war das? Was tat der Schlafgänger? Oh Gott! Er saugte die Seele meines Bruders aus dessen Körper! Das war der Moment, als mich das gnädige Vergessen einer Ohnmacht mit weichen Armen empfing. Als ich erwachte, stellte ich fest, dass sich mein Bruder unruhig neben mir in Albträumen wälzte. Doch niemand saß auf seinen Beinen und krallte dreckige Fingernägel in die Kinderbrust. Es war vier Uhr morgens – der Schlafgänger war verschwunden.
Verzweiflung ist das Gefühl, das bleibt, wenn man erkennt, dass alle Bemühungen gescheitert sind. Verzweiflung ist auch das Gefühl, das sich als klebrig schaler Nachgeschmack in die Erinnerungen einbrennt, die einen das ganze Leben begleiten. Sie tauchen in den unmöglichsten Momenten wieder auf, so auch jetzt, da ich auf dem Dach des Mietshauses sitze, den Sonnenuntergang über der herbstlichen Stadt betrachtend. Ich werfe den Kopf in die Hände und raufe mir die Haare. Während ich dasitze und sich meine Fäuste in den Haarbüscheln verkrampfen, denke ich an das letzte Kapitel meiner Begegnung mit dem Schlafgänger. Ich ritze mir wieder mit meinem Taschenmesser kleine Schnitte in die Arme, nur um mir durch den Schmerz jede
Einzelheit der Erinnerung deutlicher vor Augen treten zu lassen. Der Schmerz ist ein solch hervorragender Bildverstärker – durch seinen roten Filter erkennt man Dinge, die das normale Lichtspektrum verbirgt…
Ich erzählte die Sache meiner Mutter. Sie machte ein ernstes Gesicht und sagte, dass sie das mit unserem Vater bereden werde. Doch dieser kam abends mit seiner Blechtasse heim, in der er morgens den Kaffee mit zur Arbeit genommen hatte, und wollte nichts von allem hören. Er starrte nur Löcher in die Luft und seufzte. Ab und zu schaute er dann zu den Bildern an der Wand. Sein ganzes Trachten galt dem Moment, in welchem meine Mutter mit dem Kochen und dem Spülen fertig war und sich zu ihm ins Bett legte. Dann kam Leben in seinen Körper – ich hörte die beiden unter der Decke flüstern und leise lachen. Das Bett bewegte sich zunächst sachte, dann heftiger… plötzlich war Ruhe und wir waren allein… … mein Bruder, ich und der Schlafgänger. Meine Schwester war wieder „spazieren gegangen“, mein Bruder schlief, einzig ich hielt Wache, um das Leben und die Seele meines kleinen Bruders zu retten. Doch nichts passierte. Meine Blicke wanderten über die Einrichtung der Wohnküche. Über den Lattenfußboden, dessen Zwischenräume mit Packpapier ausgestopft waren. Sie glitten über die rauen und feuchtkalten Wände, deren fleckige Tapetenbahnen still vor sich hin schimmelten. Sie überflogen die wenigen Möbel, Tische, Stühle, Kommode und Bett – zum wiederholten Male repariert, geklebt, geleimt. Aber immer wieder kehrten meine Augen zurück zu der Ecke hinter dem
Ofen – dort lag er in sich verkrümmt wie eine Schnecke – der Schlafgänger. Sein Auge schaut mich an. Es ist von einem schmierigen Belag bedeckt, gerade wie das Auge eines Geiers. Stille herrscht im Raum, nur ab und zu knackst ein Scheit im Ofen, dessen Tür weit offen steht, so dass ein rötlicher Lichtbalken hinaus in die Dunkelheit fällt und die Stube mit einem warmen Licht notdürftig erleuchtet. Fast glaube ich, dass meine Augen zufallen, als ich plötzlich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnehme… Der Schlafgänger hat sich bewegt. Aber als ich hinsehe, bemerke ich keine Veränderung. Er ist ein Meister der Täuschung. Er beobachtet mich sehr geschickt und nutzt jede Sekunde, in der ich unaufmerksam bin. Ich versuche, mich durch Starren wach zu halten – es gelingt. Aber er bewegt sich schon wieder. Doch diesmal habe ich nicht mit einer unwillkürlichen Körperbewegung darauf reagiert. Deshalb hat er geglaubt, ich hätte es nicht bemerkt und hat gleich noch einmal eine Bewegung gemacht – ein Ausstrecken der Finger. Ja, und jetzt, oh mein Gott – jetzt kriecht er Millimeter um Millimeter näher heran. Ich kann mich nicht bewegen, sonst würde ich mich verraten und er würde sofort wieder zurück in seine Ecke kriechen. Dann hätte er die Chance, meinen Bruder zu erwischen, wenn ich wieder unaufmerksam werde. Doch das wird nicht passieren – ich werde dem Treiben dieses Wesens ein Ende bereiten. Dafür habe ich heimlich das große Schlachtermesser meines Vaters aus der Tischschublade gestohlen und unter meiner Bettdecke versteckt. Dort presse ich es nun dicht an mein wild pochendes Herz. Wie ein todbringender Käfer kriecht der Schlafgänger über den Boden, die Enden seines Schals wie abgestorbene Fühler
hinter sich herziehend. Er kommt nun in den Bereich des Ofenlichtes. Da fliegt ein Funke zwischen den Ritzen der Ofentür heraus und zischt ihm an den Schal. Hektisch löscht der Mann die Glut, aber ein Brandfleck ist geblieben. Nun bindet er den Schal noch enger um sein Gesicht. Einer Eidechse gleich schiebt sich der Schlafgänger über den Fußboden – er hat Zeit. Ich schaue auf die Uhr – es ist schon ein Uhr morgens. Als ich das letzte Mal auf die Uhr blickte, war es elf Uhr gewesen. Das war der Zeitpunkt, als ich die erste Bewegung bemerkte. Der Mann hatte sich in zwei Stunden ganze dreißig Zentimeter bewegt. So darf das nicht weitergehen! Es dauert viel zu lange – ich muss dem Ganzen doch ein schnelles Ende bereiten, denn da ich heute den Mut dazu geschöpft habe, muss ich es auch heute tun! Ich schließe die Augen, um den Schlafgänger aus der Reserve zu locken. Sofort höre ich, wie das Rascheln eines Mantels anhebt, anbrandet und zu einem steten Knistern im Hintergrund wird. Im Vordergrund wechselt sich ein Keuchen mit einem Schnauben ab. Ein Geräusch gesellt sich hinzu, als würden Schleimklumpen auf den Boden klatschen, dort zerplatzen und in alle Richtungen wegspritzen. Ich zittere vor Anstrengung. Ich will nicht einschlafen, nicht steif und bewegungsunfähig werden, jetzt, da sich das Ding so kurz vor seinem Ziel – meinem Bruder – befindet. Jetzt wälzt es sich über den kleinen Körper und atmet tief ein. Das ist der Moment, in dem ich die Augen aufreiße, die Decke hochschlage und das Messer im Halblicht des Mondes aufblitzt. Der Schlafgänger kniet in einer grotesk verrenkten Haltung über meinem Bruder, wendet ruckartig den Kopf und starrt
entsetzt zu mir herüber. Die Augen verraten seine große Überraschung und Erstaunen ob meiner Attacke. Der Schal ist ein wenig nach unten gerutscht und entblößt die ockergelben Zähne des morschen Oberkiefers, die im schwarz gefleckten Zahnfleisch stecken. Ich ändere meinen ursprünglichen Plan und wuchte dem Ding nicht das Messer zwischen die Rippen, sondern greife beherzt nach dem Schal.
Die Erinnerung treibt mich dazu, mein Gesicht in den Händen zu vergraben. Ich habe keine Ahnung, welcher Teufel mich in diesem Moment ritt. Ich griff den Schlafgänger an, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde an die möglichen Konsequenzen dieser Tat zu denken.
Ich erreiche den Schal, verkrampfe meine kleinen Finger darin, packe zu und reiße mit einem Ruck den Stoff von seinem Gesicht.
Ich war darauf vorbereitet, einen lippenlosen Mund zu sehen, der durch eine bösartige Laune der Natur gezwungen war ständig zu grinsen, der Rachen besetzt mit kleinen Katzenzähnen, die mühelos dazu in der Lage waren Kehlen durchzusägen. Ich wäre auch damit zurecht gekommen, einen Mund vorzufinden, dessen Lippen infolge eines Geburtsfehlers zusammengewachsen, oder zu unnatürlicher Größe geschwollen waren – doch was ich stattdessen sah, darauf war ich nicht gefasst.
Als ich den Schal des Schlafgängers heruntergerissen hatte, blickte ich in ein schwarzes Nichts. Dort, wo bei einem gesunden Menschen der Unterkiefer saß, befand sich beim Schlafgänger nur eine mit zerfetzten Fransen behangene Schwärze, in der ein rotes Zäpfchen an einer zugeeiterten Luftund Speiseröhre hin- und herzuckte. Aus dem Halbschatten, der gnädig den offenen Gaumen verbarg, troff in langen Fäden eine schleimige Flüssigkeit auf den Fußboden, durchsetzt mit grünen Klumpen. Der entstellte Kopf bekam sofort Übergewicht, da der Schal fehlte, der ihn ansonsten im Nacken stabilisierte. Der horizontal halbierte Schädel kippte nach vorn, direkt auf mein Gesicht zu. Ich schrie und stieß mit dem Messer zu. Ein unmenschlicher Laut gurgelte aus dem entstellten Gesicht. Blut floss warm über meine Hand. Mein Bruder schreckte auf und klammerte sich an mir fest, auch meine Eltern zuckten hoch. Der Schlafgänger war aufgesprungen und zerrte wie wild an dem Schaft des Messers, das in seine Seite eingedrungen war. Er taumelte im Zimmer umher, während aus der Wunde das Blut gegen Wände und Möbel spritzte und sie mit dem Muster meiner Schande auf ewig kennzeichnete. Schließlich zerrte der Mann das Messer aus seinem Fleisch. So schnell es seine Verletzung zuließ, rannte er aus dem Zimmer, stolperte die Treppe hinunter und aus dem Haus hinaus. Seine polternden Schritte verklangen und ich sprang zum Fenster. Der Schlafgänger taumelte über den schneebedeckten Hof. Eine dunkle Blutspur im Schnee kennzeichnete seinen Weg, den er torkelnd ging. In der Mitte des Hofes machte er kurz Halt, hob den Kopf und blickte empor zu unserem Fenster, so wie er es auch bei unserer ersten Begegnung getan hatte. Diesen letzten Blick
werde ich nie vergessen – es lag so viel Trauer, Schmerz und tiefste Verletzung der Seele darin, dass es für mehr als ein Menschenleben gereicht hätte. In diesem kurzen Augenblick hat der Schlafgänger mir genau diese Empfindungen tief in meine eigene Seele gesenkt. Sie brannten sich wie ein glühendes Mal in mir ein und haben mich seitdem nicht wieder verlassen – dies war sein Vermächtnis an mich. Dann verschwand er in der von frostigen Winden heimgesuchten Nacht. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Mein Vater behauptete, er sei ein Pferdeknecht gewesen, da er solch hohe Stiefel besessen hatte. Dieser Beruf würde auch die unmenschliche Verletzung seines Kopfes erklären (vielleicht durch einen Pferdetritt?). Doch ich weiß es nicht mit Bestimmtheit.
Ich weiß auch nicht, was gewesen wäre, hätte ich nicht in dieser Nacht mit dem Messer wachgelegen. Mein Bruder wurde im Lauf der nächsten Tage wieder gesund – aber war die Krankheit wirklich eine Folge des Schlafgängers oder war das nur meine fehlgeleitete Phantasie? War vielleicht gerade der Schlafgänger derjenige, der meinen Bruder heimlich in der Nacht mit einer Salbe aus geheimen Kräutern einrieb und so die Genesung einleitete? Ich vermag es nicht zu sagen, ich weiß nur eines: dass ich noch immer auf der Suche nach diesem Augenpaar bin, um mich mit einem Messer endgültig dafür zu rächen, dass es mich dermaßen tief in der Seele angerührt hat, so dass ich seit diesem letzten Blick im Hof keine Freude mehr im Leben empfinden kann. Oder bin ich auf der Suche, um herauszufinden, dass ich unter dem Blick dieser Augen um Verzeihung bitten muss. Verzeihung für eine Schuld, die aus der Unwissenheit und der Angst eines Kindes geboren wurde
und die nun den Erwachsenen im Schlaf mit klammen Alpträumen und im Wachzustand mit selbstzerstörerischen Zweifeln verfolgt… und nicht mehr loslässt, bis das Licht der Wahrheit in den tiefen Schlund des Brunnens fällt und möglicherweise das enthüllt, vor dem ich die meiste Zeit meines Lebens auf der Flucht bin – das Verborgene der Seele – das Scheusal – mich selbst!
Wir alle sehen besser aus in Schwarz & Weiß
für Eddie und Thomas
Ich stehe nackt und frierend auf dem schmalen Fenstersims und blicke hinab in die unauslotbare Tiefe, wo sich der Fußgängerweg am Rande der Bahngleise entlang windet. Mein vollständig mit weißer Farbe angemalter Körper zittert im finsteren Nachtwind, umweht von den hellen Gardinenfetzen des offenen Fensters, welche zwischen meinen Beinen in die Schwärze hinausflattern. Auf ihnen reflektiert sich das stroboskopartige Wechselspiel von Licht und Schatten, das vom laufenden Schwarzweißfernseher im Mansardenzimmer hinter mir herrührt. Der Ton ist abgeschaltet. Nur die dunklen Klänge einer CD lassen die schimmelfleckigen Wände erzittern. Tief unter mir flackern farbige Lichter. Es sind die Zeichen des Güterbahnhofs Berlin-Spandau. Sie ziehen sich bis in die Ferne des Horizonts, wo die dunklen Schemen der Züge rauschen. Wie ich diese Lichter hasse! Ihre Buntheit bringt mich zum Kotzen! Mutter hat dieses Farbenspiel immer geliebt. Sie stand früher jeden Abend zur Dämmerung am Fenster und beobachtete, wie die hereinbrechende Nacht die Lampenfarben erst richtig zur Geltung brachte. Nun kann sie es nicht mehr sehen. Sie sitzt unten im Wohnzimmer und sieht fern – auf ihren Farbfernseher war sie immer sehr stolz. Pah – was ist das schon? Ein Farbfernseher! Ich habe schon seit langer Zeit die Verwirrung satt, die durch das hektische Gewimmel der polychromen Bilder in mir
hervorgerufen wird. Mir wird in letzter Zeit immer schwindlig davon. Mama hat gesagt, sie hätte im Fernsehen einen Bericht gesehen. Im Farbfernsehen, wohlgemerkt! Wer glaubt schon an das, was in einem Farbfernseher gezeigt wird? Nicht einmal die Nuancen der Farbgebung sind da echt. Aber Mutter hat darauf bestanden, mir die Geschichte – besser gesagt: das Märchen – von den Strahlen zu erzählen, welche von den neuartigen Bahnüberleitungen ausgehen sollen. Im Fernsehen sagen sie, dass die Strahlen die Menschen krank machen, hat Mama gesagt. Was für ein Quatsch, sagte ich, und mich erfasste ein starker Schwindel wegen diesem Gerede. Sie hat mir nie geglaubt, meine Mama. Als Kind schon, wenn mich der Nachbarsjunge auf dem Nachhauseweg von der Schule geschlagen und getreten hatte. Meine blauen Flecken habe ich mir selbst zuzuschreiben, sagte sie dann. Ich hätte den Jungen wohl provoziert oder ich hätte mir die Blessuren selbst zugefügt, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich wolle wieder ihre Zuwendung erheischen, hat sie geschrien. Wie damals, so kreischte sie, als ich die Dinge über Papa erfunden habe, der mir immer zwischen die Beine gefasst hat. Ich sei ein ungezogenes Gör, hat Mama gesagt. Papa hat nur genickt, die Bierflasche auf dem Oberschenkel, während er in die Glotze starrte. Nie hat mir Mama geglaubt, auch nicht, als ich später von der Katastrophe erzählte, welche sich überall auf der Welt ereignet haben soll. Die Flutwellen, Erdbeben, die Massenunruhen, das Blut und der Tod; und das alles innerhalb weniger Tage – die Schuljungen flüsterten es hinter vorgehaltener Hand, denn die Lehrer sahen nicht gerne, wie sie sich darüber unterhielten. Die Erde sei am Umkippen, so sagten alle, doch Mama starrte nur auf den Fernsehschirm. Sie fragte mich, warum dann die netten
Menschen dort auf der flimmernden Mattscheibe kein Wort darüber verlören. Sonst haben sie jede Missernte, jeden Aufstand in den hintersten Regionen der Welt durchleuchtet, sagte Mutter. Damals wusste ich keine Antwort auf die Frage, doch heute denke ich mir, dass die schönen Leute, welche die netten Fernsehmenschen kontrollieren, glauben, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht ertragen kann. So ging der Tod auf Raten weiter und niemand nahm Notiz davon. Am allerwenigsten wir drei im Haus am Rande der Bahngleise, wo mich noch heute das Surren der Überleitungen in den Schlaf wiegt und heftige Bildstörungen im Fernsehen verursacht. Vor einigen Wochen habe ich Mama die Sache mit dem Schwarz-Weiß-Unterschied zu erklären versucht. Sie hat mir nicht geglaubt, deshalb musste ich ihr das Experiment vorführen. Ich denke, dass sie mir jetzt glaubt, auch wenn die Erkenntnis nicht sehr schön für sie war. Aber sind nicht alle großen Entdeckungen von Schmerz begleitet? Die GrippeEpidemie der Zwanziger Jahre und das Penizillin, die Grauen des Zweiten Großen Krieges und Hiroshima? Jaja, das ist schon so. Auch ich war erstaunt, als ich den Schwarz-WeißUnterschied erkannte. Im ersten Moment tat es auch weh, das ist sicher. Ich lag auf dem Bett, das vor meinem alten Fernseher stand, der nur monochrome Farbschattierungen kannte, und sah mir einen Film aus den Vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an. Auf einmal spürte ich ein Stechen im Kopf und der mir bekannte Schwindel setzte wieder ein. Doch diesmal war er stärker denn je. Ich presste mir die Hände an den Kopf, wälzte mich vor Schmerzen auf dem Laken hin und her und fiel schließlich aus dem Bett. Als ich wieder zu mir kam, hatte sich meine Wahrnehmung ein klein wenig verändert. Ich konnte nicht mehr verstehen, warum mir die alten Filme so dumpf und langweilig
vorgekommen waren. Ich verstand nun ihre einfache Sprache und sie war echter als alles, was in der Filmgeschichte danach gekommen war. Schwarz-Weiß kennt keine Lügen! In Schwarz-Weiß kann sich nichts hinter Farbschattierungen verbergen! Plötzlich log meine blumengemusterte Tapete. Mein roter Teppich wand sich wellenartig wegen seiner Lügen. Nur mein weißes Bettlaken verblieb in jungfräulicher Unschuld. Deshalb habe ich auch die nächsten Tage darin verbracht. Mutter dachte zunächst, dass ich krank geworden sei. Doch als ich das verneinte, schalt sie mich einen Lügner und arbeitsscheuen Faulpelz, denn sie verstand die Wahrheiten nicht. So sehr sie mich auch verfluchte, so sehr sie mir auch Leckereien versprach, ich blieb doch hartnäckig. Nach drei Tagen hielt ich es in meinem urinfeuchten und kotverschmierten Bett nicht mehr aus. Ich stand auf, ließ mir ein Bad ein und ging zu Mutter, um mich für mein ungebührliches Verhalten zu entschuldigen. Auf dem Weg ins Fernsehzimmer wurde mir klar, dass ich zwar Recht hatte mit dem Schwarz-WeißUnterschied, doch deshalb durfte man sich nicht so gehen lassen. Im Gegenteil, mir war eine Mission zuteil geworden. Durch die göttliche Eingebung, welche mir so schmerzhaft beim Fernsehen geschenkt worden war, musste ich die Wahrheit in die Welt tragen. Und Mama sollte mein erstes Missionierungsziel sein. Ich stand vor ihr, von meinem nassen Haare tropfte es auf den Wohnzimmersessel, wo Mama saß – die Augen geradeaus auf das trügerische Fernsehbild gerichtet. Ich erklärte ihr, dass ich wisse, dass ich falsch gehandelt habe, worauf sich ihrer hängenden Brust ein seufzender Ton enthob. Doch nicht alles, wonach ich gehandelt hatte, war falsch, so sagte ich weiter.
Meine Rede wurde entflammt von heiligem Geiste der Mission, und ich redete mit meiner Mutter, wie ich noch nie gewagt hatte zu sprechen. Ich erzählte ihr, dass die Menschen in den Schwarzweißfilmen viel schöner sind als in den Farbfilmen, und das ist so, nicht weil es der Realität entspräche… „Oh nein! Das ist so, weil die Farbe die Menschen entstellt! Hinter der Farbe kann sich die Lüge verstecken – die vielen Farben, ihre Tönungen und Abschwächungen: Da ist es doch für die Lüge geradezu eine Einladung, ihre Gestalt immer wieder neuen Farbenspielen zu unterwerfen und sich chamäleonartig mit der Wahrheit zu verschmelzen! Die Lüge trägt nicht Schwarz, nein, sie ist rosa, violett, azurblau oder anthrazitfarben. Morgen könnte sie schon weiß sein! Weiß, nicht auszudenken! Nicht so im Schwarzweißfilm. Hier tragen die Bösewichter stets dunkle Anzüge, während die Guten in weichem Weiß wandeln. Alle verruchten Frauen rauschen in schwarzen Abendroben vorüber. Die zarten Jungfrauen schmachten in weißen Nachtgewändern auf gleichfarbigen Laken, so dass man kaum Bett von Körper unterscheiden kann. Und das ist auch nicht so wichtig, denn beide (Bett und Frau) verkörpern die Wahrheit. Ja, Mutter, auch Dinge können lügen! Deine Fototapete hinter dem Sofa ist der beste Beweis dafür – sie gaukelt dem Auge eine Waldlandschaft in bunten Herbstfarben vor, die in Wahrheit gar nicht existiert! Da ist nur eine Wand, kein Wald. Die Sprache macht es deutlich: Es ist nur scheinbar ein kleiner Unterschied zwischen den Buchstaben ,n’ und ,1’. Im Alphabet liegt allein ein ,m’ dazwischen. Und doch lügt das ,1’ im Wort ,Wald’, wobei das ,n’ die Wahrheit spräche. Aber befanden wir uns im Wald, wäre das ,n’ der lügnerische Buchstabe, siehst du? Es ist schon rein mit der Sprache
schwierig genug, warum sollen wir uns das Leben durch Farben noch komplizierter machen? Schwarz-Weiß wäre doch so schön! So einfach wären die Guten von den Bösen zu unterscheiden. Keine Zwischentöne! Die sind mir zuwider. Ein Ganove, der Skrupel hat, pah! Das nehme ich ihm nicht ab! Böse bleibt ewig böse, ist es nicht das, was dein Katechismus mich gelehrt hat, Mutter? Was ich dir damit sagen will, Mutter, ist Folgendes: Die Welt der Farben lügt, das Monochrome nicht. Sieh dir die Totenbilder von Papa an. Sie sind in Farbe. Er wirkt so, als würde er leben, dabei ist er doch tot! Er wirkt so friedlich, so gelöst, als sei er frei von Sünde, doch in Wahrheit…“ In diesem Moment erwischte mich die ungewohnt kraftvolle Hand von Mama im Gesicht. Meine Wange färbte sich rot, wo ihre gichtigen Finger aufgeschlagen waren. Sie spuckte mir ins Gesicht, schrie mich an, ich solle doch die hohe Standuhr aufmachen und nachsehen, was sich darin befindet. Ich tat, wie mir geheißen, und trat an das hölzerne Tafelwerk der Uhr. Ihr Pendel vertickte unser beider Leben, wie mir schien. Die eisernen Zeiger hatten sich zu einem hämisch grinsenden Winkel auf dem Gesicht des Ziffernblattes geschoben. Ich öffnete das schwere Türblatt und wäre fast vor Gestank ohnmächtig geworden. „Hier hast du es“, hat Mutter mit sich überschlagender Stimme geschrien. „Hier ist die Wahrheit. Siehst du die weißen Binden, eng geschlungen um den Inhalt? Siehst du, wie weiß sie sind? Weiß wie die Unschuld deines Vaters, der darin aufrecht stehend ruht. Und wie schwarz dagegen ist das Beil, das daneben lehnt. Voller schorfigem Blut ist die Schneide, die du damals gegen ihn geschwungen hast…“ Mir schwanden die Sinne, ich brach zusammen und kam erst durch die Kälte und den Gestank wieder zu mir, als ich mit
dem Gesicht in meinem ranzig gewordenen Erbrochenen aufwachte. Mutter saß unbeweglich auf der Couch. Ihre Hände und Füße waren gefesselt, ihr Mund war geknebelt. Ich wusste nicht, wer das getan hatte, nahm aber an, dass ich es gewesen war, da ich noch immer die Wut in meinem Bauch fühlte. Mutter war nicht mit Worten zu überzeugen gewesen – da fiel mir das Experiment ein, welches inzwischen alle meine Behauptungen bewiesen hat. Ich war glücklich, als ich es meiner Mama erklärte, die mich ab und zu mit gedämpften Lauten unterbrach und mit weit aufgerissenen Augen Begeisterung ausdrückte, so empfand ich es jedenfalls. Nun hat Mutter zwei Münder: Den einen vorne im Gesicht, den anderen im Hinterkopf, wo ihre schwarzen Haare ein faustgroßes Loch begrenzen. Der hintere Mund ist immer offen, ich kann durch ihn tief in Mutter hineinsehen, doch das macht mich schwindelig, weil es immer so furchtbar aus der Höhlung stinkt. Der vordere ist Mama für immer zugeklappt, als ich den rauchenden Lauf von Papas Schrotflinte herauszog. Schwarze Rauchkringel entstiegen der Nase und traten auch am Hinterkopf aus – ich wertete die Farbe als erstes Anzeichen für ein gelungenes Experiment. Doch noch viele Tage musste ich warten. Zunächst war ich enttäuscht, denn Mutters rote Gesichtfarbe wechselte erst in ein kränkliches Weiß, dann in ein bläuliches Violett und erst ganz am Ende – endlich ein Schwarz, auf dem sich schon wieder weißkriechendes Leben wand. Ich war begeistert und klatschte in die Hände – wie schön sie nun aussah mit den neu gewonnenen Schwarz-Weiß-Farben. Aber Mutter antwortete nicht auf meine Begeisterungsstürme, irgendetwas war schiefgegangen… Ich kann ohne Mama nicht leben! Sie sitzt noch immer unten im Wohnzimmer und rührt sich nicht. Lange habe ich die vielen Fliegen von ihrem Gesicht
verscheucht. Selbst in den Hinterkopf kriechen sie hinein, diese Biester. Doch nun bin ich es leid, sehe keine Chance mehr, dass Mama aus ihrem Schlaf erwacht. Die Fliegen bedecken sie nun als eine wimmelnde Masse aus Schwärze. Der Musiker auf der CD hat es immer gewusst. Er ist der einzige Verbündete, der mir noch geblieben ist. Leise kratzen seine Worte in mein Ohr: „We all look better in black and white…“ Wie Recht er hat. Damit meine Mission doch nicht fehlgeschlagen endet, habe ich mir einen Plan zurecht gelegt, der die ganze Welt von meinen Ideen überzeugen wird. Im modrigen Keller stand noch ein Rest von weißer Wandfarbe. Ich habe mich nackt ausgezogen und mir die Farbe in alle Falten und Runzeln der Haut gestrichen. Besonders in den Augen brannte es fürchterlich. Doch mir ist kein Opfer zu groß, denn ich bin ein Märtyrer der religiösen Wahrheit in Weiß. Ich taste mich mit den Zehenspitzen an den Rand des Simses. Obwohl ich durch die ätzenden Farbpigmente halb blind bin, weiß ich doch, dass sich unter mir der schwarze Asphalt des Fußweges befindet. Ihn muss ich mit meinem Sprung treffen. Dann wird die morgige Zeitung in ihrem Lokalteil ein Bild von mir drucken. Natürlich in krassem Monochrom-Kontrast. Und alle, die es sehen, werden sagen: „Er hatte Recht: Wir alle sehen besser aus – in Schwarz und Weiß!“
Tief unten
Woffo lehnte an der Wand des Bunkers und hielt die Bierdose lässig in der Hand, während er sich mit einer schwarz geschminkten Schönheit über die neuesten Piercing-Trends unterhielt. Die Party in dem alten Wasserreservoir unter dem Tiergarten war in vollem Gange. Überall brannten Teelichte auf dem feuchten Boden und ließen Lichtflecke über die Wände zucken. Die hämmernde Musik aus den Ghettoblastern veranlasste eine Gruppe von Sprayern dazu, sich wie Derwische ekstatisch hin und herzuwerfen. Auf fleckigen Couchgarnituren lümmelten LSD-Gesichter und träumten sich hinweg, während andere im Hintergrund einen Joint drehten. Woffo blieb heute clean, das hatte er sich streng vorgenommen, denn er wollte einen Kontaktmann treffen, von dem er über Umwege gehört hatte. Es gab einen neuen Spieler in der Stadt, so munkelte man. Dieser Cavingspezialist sei durch einen erstaunlichen Fund unter Tage überraschend zu Geld gekommen. Woffos Mittelsmann Gimli hatte ihm diesbezüglich eine schier unglaubliche Story aufgetischt. Doch wenn Gimli kein schlechtes Acid eingeworfen hatte, war er normalerweise verlässlich – und seine Quellen bezüglich Informationen waren weitaus besser als diejenigen für guten Stoff. Der neue Spieler sei ein Ungar und sein Kumpel habe eine alte Nazi-Karte in Budapest bekommen. Angeblich von einem sterbenden russischen Major a. D. der seit Jahren in einem stinkenden Hotelzimmer aufs Sterben gewartet hatte und nur unter Anwendung äußerster Mittel zum Herausrücken der Karte bereit gewesen sei, die er im April 1945 beim Endkampf um Berlin habe mitgehen lassen. Auf dem Plan sei ein noch unbekannter Nebenbunker der Nazis bei den Anlagen an der Wilhelmstraße verzeichnet – und darin stehe ein Tresor mit Unmengen an Yellow Money! Doch leider sei bei der
Untergrundaktion sein Partner draufgegangen und nun habe der Ungar zwar viel Geld, aber auch eine Höhlenparanoia – traue sich nur noch mit Speed vollgepumpt in die Schächte unter der Stadt, so sagte Gimli. Und das auch nur zu den Parties der Szene, wo er seinen neuerworbenen Reichtum mit vollen Händen ausgab. Woffo war seit vielen Jahren schon Caving-Fan. Was als kindliche Begeisterung für Tropfsteinhöhlen begonnen hatte, endete schon bald mit der Erstürmung des ersten Regendrainsystems. Von da an war er nicht mehr zu halten gewesen: die Erforschung aufgegebener Gebäude gehörte ebenso zu seinem Leben wie das Umschleichen von leerstehenden Fabrikgebäuden, um Schwachpunkte der Eisenzäune fürs Eindringen herauszufinden. Woffo blickte nachdenklich auf das Zungenpiercing der Lady vor ihm, nahm einen großen Schluck und bemerkte, wie drei Männer durch den Eingang traten. Er hasste sie vom ersten Augenblick an. Woffo war ein Solist. Es war nicht so, dass er die Mitmenschen nicht ausstehen konnte. Aber er hasste die Verpflichtung, sich nach anderen richten zu müssen. Er hasste Kompromisse – so wie all die faulen Kompromisse, die jeder Einzelne seiner Meinung nach in der Konsumwelt tagtäglich eingehen musste. Aus zivilisationsfeindlichen Motiven verbrachte Woffo zwei Drittel seines Lebens hier unten. Und nun musste er selbst Kompromisse eingehen. Er beschloss für sich, sie nicht zu weit gehen zu lassen. Das grüne „Radiohead“-Shirt von Woffo leuchtete erkennbar grell durch den Raum, so wie es mit dem Typen abgesprochen war. Die drei Glatzköpfe am Eingang wandten sich ihm zu. Die Lady machte ein säuerliches Gesicht, als Woffo ihren Arm packte und sie nach vorne in die tanzende Menge drängte.
Nachdem sie wütend untergetaucht war, standen die drei Typen schon vor ihm. „Woffo?“ Der kleine Dicke in der Mitte sprach mit deutlich osteuropäischem Akzent. Sein pickelnarbiges Mondkratergesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Klaro – und du bist…“ Das Grinsen wurde breiter. „Snuff!“ Der Händedruck des Ungarn war schlaff und feucht. „Gut, Snuff, was ist passiert, dass ich dich nicht mehr in den Röhren sehe?“ Der Angesprochene blickte kurz seine breitschultrigen Begleiter an, doch deren Augen stierten nur aus den kahlgeschorenen Schädeln in die Ferne. „Ich mag diese Gespräche nicht, aber da du Geschäftsfreund – okay! Ich kann nicht mehr. Die Sache mit Vlad hat mich zu sehr – weißt schon – wie sagt man – getroffen. Er ist auf Rückweg von Tresorexpedition durch eine Zwischendecke in einen U-See abgestürzt. Ich hab das auf der Karte eingezeichnet.“ Der Ungar drehte sich nervös hin und her. „Und da liegt jetzt das Gold?“ „Ja – und einiges ist noch im Tresor, konnten nicht alles schleppen, war zuviel! Willste Karte für Zweihundert haben?“ Der Mann schwitzte immer stärker und verdrehte die Augen. Woffo rieb sich nachdenklich das Kinn und lächelte kalt. „Einhundert?“ Woffo wusste von der Klaustrophobie des Ungarn, die sich zu seiner Höhlenparanoia gesellt hatte, und benutzte diese Information zum berechnenden Feilschen. Bald muss der Typ nach draußen an die frische Luft, das ist klar. Und zwar schon sehr bald! Gehetzt blickte sich der Ungar um. „Okay, okay, gut! Gib’s Geld her, schnell!“
„Moment noch – ich hab noch gar nichts von der Karte gesehen!“, meinte Woffo. Schweiß perlte auf der braungebrannten Stirn des ungarischen Cavers, welche im krassen Gegensatz zu Woffos wächsern bleicher Gesichtshaut stand. Der Ungar griff mit fahrigen Fingern in die Innenseite seiner Jacke und holte ein zusammengefaltetes Blatt heraus. Durch etliche Fettflecken entstellt, sah es noch älter aus, als der Ungar behauptete. Ein erster Blick in die Karte bestätigte Woffo deren Alter. Es waren wahrhaftig die Blaupausen für einen „neuen“ Bunker. Dieser besaß keinen oberirdischen Zugang. Er war mit dem Bunkersystem der Neuen Reichskanzlei im einstigen Gestapohauptquartier in der Wilhelmstraße verbunden und lag knapp neben dem Führerbunker. Woffo erinnerte sich an seine aktuellen Oberflächenkarten. Dieses Bunkersystem war schon lange wieder überbaut worden. „Wie kommt man überhaupt rein?“, fragte er deshalb. „Da musst mal die Karte umdrehen – da is ein kleines Plan, vom Reichstagsgebäude, über den Pariser Platz hin zu Bunkeranlage. Am Ende ist der neue Bunker: Er heißt ,Bunker an der Terrasse’“, antwortete der Ungar. „Nun aber – gib Geld, schnell!“ Woffo grinste und streckte dem Dicken das Geld so lässig entgegen, dass dieser es ihm nur aus der Hand nehmen konnte, indem er einen Schritt nach vorn machte. Ein schmieriges Grinsen erschien in seinem nervös zuckenden Gesicht, als er die Scheine in seine Jacke stopfte. „Viel Erfolg!“ Zwei Tage später hatte Woffo die Karte genauestens studiert. Sie schien echt zu sein. Die Aktion selbst hatte er auch schon in einigen Nachtsitzungen fixgemacht. Das Internet leistete ihm dabei hervorragende Dienste. Woffo hatte einige Kontakte mit
australischen und kanadischen Cavern geschlossen und über deren Website informierte er sich über die benötigte Ausrüstung. Dazu gehörte ein reichlicher Proviantvorrat, denn die Expedition würde lange dauern: Über die Regenabwässerkanäle vor dem Reichstagsgebäude ging es rein, dann hinüber zum Hotel Adlon am Pariser Platz, weiter zum IG-Farben-Bunker, am Goebbels-Bunker in der Behrenstraße vorbei und dann schließlich in das ehemalige NS-Versorgungsgebäude. Das hieß: fünf bis sieben Stunden, wenn alles gut ging. Woffo schaltete das Radio an und ging noch einmal seine Ausrüstung durch: Da waren zwei starke Taschenlampen, ein Rucksack mit Proviant, zwei lange Seile, ein Erste-HilfeKasten, einen Bergarbeiterhelm mit eingebauter Lampe. An den Händen trug er feste Handschuhe, am Körper eine hohe Anglerhose und grobe Stiefel. Er horchte auf. Die Stimme des Radiosprechers war nur ein Hintergrundrauschen während seiner Vorbereitungen gewesen, doch was er nun vernahm, ließ ihn aufhorchen: „… droht zwischen den USA und der Allianz aus Russland und China. Wie der Botschafter der USA gestern Nacht um drei Uhr Ortszeit mitteilte, seien die USA nicht mehr länger bereit, die Provokationen durch das Ost-Bündnis hinzunehmen. Den USA seien Informationen zugespielt worden, wonach die Allianz des Ostens einen neuen Trägerraketentyp an der Grenze zu Litauen stationieren wolle und damit ganz Europa und auch die USA bedrohe. Als Ziel eines möglichen Angriffs sollen nach Angaben der Geheimdienste die Städte Amsterdam, Paris und Berlin dienen. Der russische Präsident widersprach diesen Behauptungen auf einer eiligst angesetzten Pressekonferenz in Moskau und warf den USA wiederum vor, dass sie eine Flotte von Langstrecken U-Booten vor der Küste
Chinas in Position brächten. Dies bestritt der amerikanische Botschafter aufs Heftigste…“ Diese Verrückten werden uns alle noch ins Verderben stürzen. Wieder ein Grund mehr, in den Untergrund abzutauchen, wo es keine Feindbilder gibt. Nachts um drei Uhr verließ er die Wohnung und knatterte mit seinem altersschwachen Roller hinein in das Schneetreiben. Das erste Ziel seiner Expedition war der Reichstag. Wegen der für diese Jahreszeit außergewöhnlichen Kälte war wenig auf den Straßen los. Woffo konnte ohne Aufsehen zu erregen mit dem Brecheisen den großen Deckel zu den Regenröhren aufhebeln, der hinter den Büschen des nahen Parks verborgen lag. Das Wetter sollte laut Wetterbericht noch einige Tage halten: sehr kalt; kein Regen – so bestand keine Gefahr eines steigenden Wasserpegels in den Kanälen. Woffo fühlte den Biss der eiskalten Luft. Der Wind fauchte um die Winkel und Kanten des Reichstagsgebäudes und brachte den Geruch von Schnee mit sich. Der Caver hatte die Sonne schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen, aber alle Meteorologen gaben Entwarnungen ab: Das sei alles nur eine normale Abweichung von der Jahrhundertnorm. Aber Woffo glaubte nicht, dass dem so war. Er glitt hinab in das Dunkel und die feuchte Kälte der Regenrinne. Unten angekommen sprang er von der Eisensprosse und landete auf dem von Wasser bedeckten Beton. Das Geräusch des Aufpralls klatschte durch den Tunnel. Die Taschenlampe zuckte auf und enthüllte eine Rinne, in der dunkles Abwasser schwappte. Sie verlor sich in zwei Richtungen im Dunkeln. Der Caver orientierte sich kurz anhand der Karte und schritt dann los. Die Unterwelt einer Stadt übte einen besonderen Reiz auf Woffo aus. Schon in der Kindheit hatte er einen alten
Naziwaffenbunker entdeckt und drei Panzerfäuste sowie zwei Stabgranaten herausgeholt. Er hatte sie später bei der Polizei abgegeben, nach endlosen Nächten, in denen ihn Angstträume von sich selbst entzündendem Sprengpulver geplagt hatten. Als er älter wurde, gab er die Dinge nicht mehr ab, die er fand. Später, als seine Sprayergroup nichts mehr mit sich anzufangen wusste, schlug einer der Jugendlichen vor, in den Tiefbunker unter dem Alexanderplatz einzubrechen und dort ihre Logos zu sprayen. Alle fanden das stark und irgendwie hip. Das Gefühl bei dieser Aktion war für Woffo unbeschreiblich: Die Stille unter der Erde, die Verlassenheit und auch der allgegenwärtige Verfall übten einen besonderen Reiz auf ihn aus. Jetzt war er wieder auf Droge, ganz klar. Die Uhr zeigte inzwischen ein Uhr an. Der Caver vermutete, dass er die Hälfte der Strecke zum Pariser Platz schon zurückgelegt hatte. Aber hier unten konnte man sich nie sicher sein. Was mochte wohl dem Kumpel des Ungarn zugestoßen sein, so dass er durch das Loch in der Zwischendecke in den unterirdischen See gefallen war. War er abgelenkt gewesen? Woffo erinnerte sich noch zu gut an seine letzte Aktion – das NVA-Gebäude. Dort lagerten angeblich Stasi-Akten in einem Kellergewölbe. Das Gerücht stimmte, wie er herausfand. Die Stasi-Akten lagen in vielen kleinen Säcken verpackt im Gebäude – doch leider nur als Papierschnipsel aus dem Reißwolf. Auf dem Rückweg wäre er fast durch eine brüchige Bodenplatte gestürzt, weil er seinen Blick in einen Nebenraum gerichtet hatte. Woffo tastete sich weiter durch die Röhre. Nur noch ein paar Minuten, dann würde er den Durchgang zum Adlon-Bunker vor sich haben. Das Personal des Adlon ahnte wenig von den Aktivitäten hier unten, wie Woffo wusste. Er würde nicht Gefahr laufen, entdeckt zu werden.
Nach der nächsten Biegung blitzte ein Rechteck auf. Er konnte ein rostiges Gitter im trüben Wasser erkennen: der Zugang zum zweiten Untergeschoss des Adlon-Bunkers. Ab hier wusste Woffo die Anglerhose zu schätzen, denn aus seinen Recherchen ging einwandfrei hervor, dass dieser Bunker hochgradig überflutet war. Eine befreundete Gruppe jugendlicher Caver hatte ihn schon erkundet und mit acht von zehn erreichbaren Punkten bewertet. Mit einem kleinen Schraubenzieher drehte er die quietschenden Schlitzschrauben heraus und nahm das Gitter ab. Dann quetschte er sich durch die Öffnung. Nach einem halben Meter rutschte er in das kalte Wasser eines Ganges. Links und rechts zweigten Türöffnungen ab, Algen zeigten als grüne Linien den höchsten Wasserstand vor zwei Jahren an. Woffo schob seinen Körper leise durch das schaumgekrönte Wasser. Über ihm war vor langer Zeit die Deckenverkleidung abgefallen und entblößte die darüber liegenden Rohrsysteme. Schimmelpilze hingen in langen Fäden von dem Gitterskelett, das noch von der Decke übrig war. Der Bunker war nicht sehr groß und so hoffte Woffo zügig weiterzukommen. Zwei Stunden waren seit seinem Abstieg vergangen. Er sah sich etwas um. In den angrenzenden Räumen schimmelten alte Polstersessel und Bürostühle im brusthohen Wasser. Sie tanzten einen grotesken Verfallstango zu einer unhörbaren Musik und umkreisten sich langsam selbst, angeregt durch Woffos Heckwelle, die er nach sich zog. Der Caver versank beim Anblick der alten Räume in Gedanken:
Was mochte dieser tiefbraune Sud wohl in seinen Tiefen verbergen? Alte Akten möglicherweise, zerfressen von der Zeit und unlesbar geworden. Gästebücher aus den Zwanziger und
Dreißiger Jahren mit Namen von damals erst aufstrebenden Filmstars, wie Marlene Dietrich, oder auch von Starlets und Künstlern, die im Adlon-Hotel rauschende Silvesterpartys gefeiert hatten.
Seine Bugwelle erreichte die Eisentür zum Versorgungskriechgang. Dieser Kriechgang diente damals den Wartungselektrikern des Adlon dazu, die Stromanlage des Bunkers instand zu halten. Der Gang hatte aber den entscheidenden Vorteil, dass er auch vom IG-Farben-Bunker verwendet werden konnte, da die beiden Gebäude überirdisch eng beieinander lagen. So planten die Erbauer beider Bunker, den Gang aus finanziellem Interesse von beiden Bunkern aus nutzbar zu machen. Der Caver beschloss, an dieser Stelle Rast zu machen, aß ein wenig von seinem Proviant und verlor sich in Grübeleien, was er wohl mit dem Geld machen würde, sollte er es wirklich finden. Kurz darauf packte er seine Sachen in den Rucksack und brach auf. Der Wechsel vom einen in den anderen Bunker war unspektakulär. Doch dann folgte das Erstaunen. Woffo erkannte bei einem Blick auf seine Uhr, dass er schon seit drei Stunden unterwegs war. Aber hier unten verschätzte man sich leicht, wie er aus Erfahrung wusste. Im IG-Farben-Bunker stieg der Caver einige Stufen nach oben zu einer Eisentür mit Drehrad empor. Dahinter war eine Entseuchungskammer, die vollständig gekachelt war. Die Kacheln waren schon vielfach zu einem Spinnennetzmuster gesprungen und abgebröckelt, doch das Erstaunlichste war das, was von oben herabbaumelte: Durch die Decke war ein Gebilde gekrochen, das bis knapp über den Boden hing und wie ein zu Holz gewordener dicker
Wasserstrahl aussah. Es waren die mächtigen Wurzeln eines Baumes, der die Kacheln der Raumdecke gesprengt, durchbrochen und Halt gesucht hatte. Doch die Wurzelstränge hatten keinen Weg zurück ins Erdreich gefunden, so dass sie auf der Suche nach Wasser weitergewachsen waren und nun auf den nassen Bodenfliesen schleiften. Woffo umrundete die Wurzelstränge und ging auf einigermaßen trockenem Grund weiter. Hier waren schon andere Extrem-Caver gewesen, deren gesprayte Logos und Tags die Stützsäulen und Decken zierten. Woffo erkannte die Handschrift einiger Typen wieder, die meisten von ihnen waren beim Caven verschollen. ,In eine andere City ziehen’ nannten das die Insider. Meist warnten einige der Zeichen die Nachkommenden vor Gefahren wie brüchige Böden oder Blindstollen. Doch das taten sie nur für den, der die Kritzelhieroglyphen zu deuten wusste. Woffo kannte sie alle auswendig und umschiffte somit die Gefahrenzonen. Als er tiefer in die Eingeweide des Bunkers eindrang, wurden die Caver-Tags weniger, aber dafür erschienen andere Zeichen wie Menetekel an den Wänden: Fascho-Tags! Hakenkreuze und SS-Runenzeichen. Woffo blieb stehen. Diese verdammten Fascho-Skins! Sie waren also auch hier unten gewesen. Wo waren diese Typen inzwischen nicht? Woffo hatte vor einigen Monaten zum wiederholten Mal böse Bekanntschaft mit Vertretern der „Braunen Horde“ in Marzahn gehabt. Es war Nacht und er wankte vollgepumpt mit einem Mix aus Alkohol und Dope mitten auf der Straße hin und her – er war ihnen sofort aufgefallen. Ohne Worte hatten sie ihn umringt und zu Boden geprügelt, bis ihm das Blut aus Nase und Ohren quoll. Als Woffo sich nicht mehr wehren konnte, schleiften sie ihn zur nächsten Bordsteinkante und zwangen ihm die Kiefer auseinander. Sie drückten Woffo nach unten, so
dass er in den Stein beißen musste. Die ideale Position für einen „Bordsteinkick“ mit dem Stiefel in den Nacken. Schon holte ein bulliger Neonazi mit seinem Springerstiefel aus, doch eine sich nähernde Polizeistreife hielt ihn davon ab, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Woffo kam mit einer Gehirnerschütterung und gequetschten Rippen davon. Die Welt da oben erschien ihm immer ungemütlicher – die Übergriffe der Faschos waren in den letzten Jahren häufiger geworden und hatten dabei auch an Brutalität zugenommen. Was wollten sie nun hier unten? Genügte ihnen nicht die Kontrolle der Oberfläche, mussten sie nun auch noch in sein Reich eindringen? Der Caver biss sich auf die Unterlippe. Kalt war es geworden – zu kalt für diese Jahreszeit. Er stand nun vor dem Kriechgang, der an dieser Stelle das unterirdische Luftpostsystem Berlins begleitete. Um zum Bunker der Neuen Reichskanzlei zu kommen, musste Woffo auf allen Vieren gehen. Doch zunächst gönnte er sich eine weitere Pause und aß seinen mitgebrachten Vorrat auf: Brot und Schokolade. Nach einer kurzen Rast sah er auf die Uhr: Oben schien bereits die Sonne. Der Caver seufzte und kroch in den Gang hinein. Überall um ihn herum verliefen die rostigen Röhren der Luftpost. Er fragte sich, welche Nachrichten hier wohl in der Vergangenheit verschickt worden waren: Kriegsbefehle, oder gar die Kommandos zur Auslöschung ganzer Städte? Möglicherweise waren es nur Anfragen zwecks Versorgung der im Bunker ausharrenden Menschen gewesen. Woffo kam an einen Knotenpunkt der Luftpost. Hier konnte er sich aufrecht hinsetzen, was eine Wohltat für seinen Rücken war. Nach einer kurzen Rast kroch er schwitzend voran und stieß bald auf ein Eisengitter. Ein gezielter Tritt mit der Hacke des Stiefels und das Gitter flog in die Dunkelheit davon.
Der Lichtstrahl fraß einen kegelförmigen Ausschnitt aus dem Schwarz der ewigen Nacht und beleuchtete eine Bunkerwand, die mit NS-Zeichnungen von siegreichen Soldaten in arischer Heldenpose bemalt war. Muskelbepackte Bauern mit Sensen standen daneben und verkörperten die Heimat. Angeekelt wandte sich Woffo ab. Vor ihm lag das Labyrinth des Bunkers „Neue Reichskanzlei“. Woffos Stiefel fanden in einigen Mauerritzen Halt und er wand sich aus der Öffnung. Dann stand er in einem engen Gang. Beiderseits verlor sich der Weg in der Finsternis. Links und rechts zweigten Türöffnungen in leere Räume ab. Woffo musste sich neu orientieren. Wo war der so genannte „Bunker an der Terrasse“? Er wusste, dass über dem Bunker eine Wohnanlage errichtet und das Gangsystem demzufolge bis in eine Tiefe von sieben Metern zugeschüttet worden war. Doch noch immer blieben genügend Wege übrig, um sich zu verlaufen. Der Caver kramte die Karte hervor, drehte sie im 90-GradWinkel und erkannte, dass er sich nach links wenden musste. Dort schimmerte etwas grünlich aus dem Dunkel. Als Woffo darauf zuging, sah er, dass es sich um einen Orientierungspfeil aus Phosphorfarbe handelte, der auf die Wand gemalt worden war. Worauf weist er hin? Auf den Ausgang? Und warum leuchtet er? Der Caver erstarrte. Erst vor kurzem musste hier jemand mit einer Taschenlampe vorbeigekommen sein, sonst könnte der Phosphor nicht leuchten. Waren etwa die Faschos noch hier? Woffos drosselte seine Lampe, so dass sie nur mehr rotes Licht abgab, und schlich vorwärts.
Der Gang endete an einer Tür, die nur in einer Angel hing. Als Woffo sie zur Seite drückte, sah er einen weiteren Gang vor sich. Das ist ja der reinste Irrgarten! Der Caver kramte in seinen Taschen und zog ein Kreidestück heraus, das er für solche Fälle bereithielt. Beim Weitergehen markierte er nun seine Laufrichtung mit Kreidepfeilen, die er an die Wände malte. Sein Weg führte ihn an Räumen vorbei, in denen zerfressene Wände davon zeugten, dass hier Leichen aufgestapelt und mit Chlorkalk übergossen worden waren. Wer mochten sie wohl gewesen sein? Nazis? Juden? Eingeschlossene Bürger, die verschüttet worden und erstickt waren? Die weißlichen Mauern mit den zerbröselnden Steinen schwiegen. Die Räume waren ausnahmslos leergeräumt und nur einige Ratten flitzten über die gesplitterten Bodenplatten. Sobald sie das rettende Dunkel jenseits des Taschenlampenkegels erreicht hatten, blickten sie mit neugierigen Augen zurück auf den Eindringling. Links, rechts, dann links, wieder links – Kreidepfeil folgte auf Kreidepfeil in diesem Labyrinth. Fast so wie auf Kreta. Nur gibt es hier keinen Minotaurus. Diese Geschichte hatte den Caver schon seit der sechsten Schulklasse fasziniert. Ein Labyrinth, um ein monströses Wesen zu verbergen, gefangen zu halten und zu kontrollieren – genial krass. Wiederum wollte der Caver einen Kreidepfeil an die Wand malen, doch seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung. An der Mauer war schon ein Zeichen. Es sah so aus wie drei ineinander verschobene Dreiecke. War das noch von den alten Nazis? Oder schon von den Fascho-Skins?
Woffo suchte die Wand weiter ab und fand knapp daneben das Wort „Odin“ in Frakturschrift. Die Nazis haben den Wotankult neu belebt, das weiß ich. Odin war nur ein anderer Name für den höchsten germanischen Gott Wotan. Aber warum haben sie den Namen und das Zeichen hier verwendet? Das ist sehr ungewöhnlich. Ich habe so etwas noch in keinem Nazibunker gesehen! Verwundert schlich er weiter und wäre fast in das riesige gezackte Loch gefallen, das sich vor ihm auftat. Er ruderte wild mit den Armen und schaffte es gerade noch die Balance zu halten. Unter ihm ging es mehrere Meter durch die Zwischendecke hinab an den Rand eines unterirdischen Sees. Das ist es! Ich bin auf dem richtigen Weg. Woffo trat vorsichtig an den Rand des Loches und leuchtete nach unten. Nirgends war die Leiche des zweiten Ungarn zu entdecken. Der Kumpel des Freaks muss sich wohl mit gebrochenen Beinen weitergeschleppt haben. Mit dem Seil machte sich Woffo an den Abstieg. Er hatte es um eine massive Eisentürangel gewunden und ließ sich hinab. Doch auf dem letzten Meter rutschte er ab und fiel. Er landete im seichten Wasser, kam unsanft auf seinen Beinen auf und knickte weg. Roter Schmerz brandete in seinem linken Knöchel auf und ab. Verdammt! Hoffentlich ist er nicht gebrochen! Er fühlte das Anschwellen des Gewebes. Aber der Knochen war unter starken Schmerzen noch zu bewegen. Woffo sah sich mit gequälter Miene um. Der See erstreckte sich am Boden eines Höhlendoms, dessen Decke das Taschenlampenlicht nicht erreichte. Hier musste wohl mal so etwas wie ein Versammlungsraum gewesen sein.
Woffo watete zum Rand des Sees, wo ein Gang in die Dunkelheit hineinführte. Dort angekommen, sah er ein Feuerzeichen an der Wand: Eine skizzierte Flamme leckte an den Steinen entlang. Das Wort „Loki“ war neben dem Zeichen in den Putz geritzt. Loki ist der verschlagene Bösewicht der nordischen Mythenwelt – und das Feuer ist sein Elementzeichen. Passt gar nicht zum See. Wer hat wohl dieses Zeichen hinterlassen? Sie sind nachträglich in die Wand geritzt worden – waren es also die Faschos? Woffo zwang sich vom Anblick weg, da er den Durst in seiner Kehle spürte. Er trat an den Rand des Sees, ging in die Knie und füllte seine geleerte Plastikflasche mit dem klaren Wasser. Dann tauchte er seine Hände ins Nass und trank mit geschlossenen Augen. Als er einen schalen Geschmack auf der Zunge wahrnahm, öffnete er schlagartig die Lider und blickte in leere, fransige Augenhöhlen, welche ihn von knapp unter der Seeoberfläche anstarrten. Der zerfressene Kopf einer Ziege lag verwesend vor ihm im seichten Wasser. Woffo sprang auf und würgte. Die Überreste seiner letzten Mahlzeit klatschten neben dem abgetrennten Ziegenkopf in den See und trieben auf dessen Oberfläche. „Verdammte Scheiße“, keuchte der Caver. Hoffentlich hol’ ich mir jetzt keine Vergiftung von dem Dreckswasser! Seine Knie zitterten und er musste sich auf den Felsboden setzen. Jetzt bloß keine Panik! Reiß dich zusammen! Du bist zu weit gekommen, um jetzt noch zu kneifen. Er richtete sich wieder auf und sah zurück zum Gang. Plötzlich stutzte er. Da waren die Spuren von Stiefeln am Boden zu sehen. Humpelnd trat er näher und folgte der Spur hinein in die Schwärze.
War das der zweite Ungar gewesen? Sein Magen schmerzte. Er musste sich wieder für einen Moment setzen und presste die Hände auf den Bauch. Welche abgefahrenen Spinner schleppen hier einen abgetrennten Ziegenkopf herein? Oder haben sie ein lebendes Tier hereingezerrt und geschlachtet? Wozu? Satanische Messen? Faschos und Satanische Messen, davon habe ich ja noch nie gehört! Als der Schmerz und das Schwindelgefühl nachließen, erhob er sich wieder vorsichtig und lief weiter. Nach einigen Metern endete der Gang an einer Eisentür. Auch hier prangte ein Feuerzeichen. Der Bunker an der Terrasse! Ziel erreicht! Woffo keuchte vor Anstrengung. Schweiß bedeckte sein Gesicht wie eine feuchte Maske der Angst. Was werde ich finden? Einen Toten? Er zog an der Tür. Sie gab quietschend nach. Woffo hatte einen Büroraum erwartet, doch was er erblickte, war etwas ganz anderes. Der Caver betrat einen unterirdischen Raum, in welchem eine Reihe von halb zerfallenen Stühlen vor einer blinkenden Schalttafel aufgereiht waren. Hinter dem Pult erhob sich eine mit Sprüngen übersäte Glaswand. Dahinter war es dunkel. Verdammt, das sieht wie die Leitstelle einer Flugabwehr aus. Doch woher bezieht sie immer noch ihren Strom? Haben die Nazis damals eine gigantische Energiequelle unter der Stadt errichtet? Eine Art Batterie? Vor einem der Drehstühle lagen verblichene Papiere auf dem Schaltpult. Woffo beugte sich über den Stuhl und ergriff die Dokumente. Er ließ sie auf dem Pult liegen und betrachtete den aufgedruckten Text. Sie trugen alle den Reichsadler als Logo in der oberen rechten Ecke. Es waren Blaupausen und
Bedienungsanleitungen. Sie beschrieben einen Raketentyp namens „V3“. Was? Ich kenne keine V3. Es gab doch nur die V1 und V2 – das ist ja unglaublich! Er nahm die Papiere an sich. Dabei bemerkte er ein Zählwerk, welches in das Schaltpult eingelassen war. Die vergilbten Plastikscheiben mit den schwarzen Zahlen darauf ratterten unablässig rückwärts. Was ist das nun wieder für eine Scheiße? Wie lange läuft das schon? Kann ich es stoppen – soll ich es stoppen? Wenn es mit den Nazis zu tun hat, kann es nichts Gutes sein… andererseits… wenn das nun ein Mechanismus ist, der ohne Sinn und Zweck jahrein jahraus vor sich hintuckert? Was soll’s! Ist wahrscheinlich harmlos… Der Caver sah dennoch umher, als könne er den verborgenen Sinn des Zählmechanismus mit bloßem Auge entdecken. Dabei fiel sein Blick auf die Glaswand. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf und drehte die Lichtstärke hoch. Das Strahlenbündel wurde als weißer Klecks vom Glas reflektiert. Woffo ging näher und presste die Lampe gegen die kalte Oberfläche. Das Licht fiel durch die nahezu staubblinde Scheibe und riss einen hochaufragenden Gegenstand dahinter aus der Dunkelheit. Der pfeilförmige Umriss im nächsten Raum war zwar weit von der Glaswand entfernt, aber dennoch konnte der Caver ein metallisches Schimmern auf dessen Oberfläche erkennen. Bei Gott! Das kann nicht wahr sein! Eine Rakete aus dem Zweiten Weltkrieg – ob sie noch… funktionstüchtig ist? Woffo biss sich auf die Unterlippe. Die Faschos werden doch nicht… das wäre völlig blödsinnig – vielleicht würde ein Stadtteil Berlins durch den Erdstoß verwüstet werden, aber was hätten sie dadurch gewonnen?
Der Caver wusste, dass er dennoch schnell handeln musste. Er eilte zurück zur Schalttafel, drückte wahllos Knöpfe, legte Hebel um, deren Zweck er nicht ahnte, einzig und allein aus dem Grund, das Zählwerk anzuhalten und damit die Detonation der V3-Rakete zu verhindern. Die Zahlen rasten unaufhörlich abwärts. Woffos Anstrengungen waren vergeblich. Der Mechanismus schaltete von der „1“ auf die „0“ und der Caver duckte sich unter das Pult. Er wartete auf die Explosion, die nicht kam. Als er minutenlang in der Kauerstellung ausgeharrt hatte und immer noch nichts geschehen war, wagte er es, sich aufzurichten. Ein Blindgänger, ha! Wie dumm sind die Faschos eigentlich, wenn sie annehmen, dass der Zündmechanismus nach über fünfzig Jahren immer noch reibungslos funktionieren soll? Woffo wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte auf. Er entdeckte eine zweite Tür am anderen Ende des Schaltraumes, worauf er sich zubewegte. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Dahinter sah der Caver einen altmodischen Bürotisch und einen vor Schimmel überquellenden Sessel. Woffo trat näher. Der Tisch war furchtbar zugerichtet. Seine Oberfläche war von tiefen Kratzern überzogen. Zusätzlich besudelte ihn ein großer roter Fleck. Woffo zog die Nase hoch. Die Flüssigkeit stank widerlich und tropfte zu Boden, wo sich bereits eine Pfütze aus schwarz geronnenem Blut gebildet hatte. Hier war also die Ziege geschlachtet worden. Auch an den Wänden klebte Blut. Die Spritzer bildeten ein abstraktes Muster mit nach unten abzweigenden Bahnen. Die dünnen Blutlinien führen wie Schnitte in darunter liegende Kritzeleien – Nazisymbole, SS-Runen und immer wieder die Worte „Loki“, „Midgard“ und „Fenris“. Letzteres war am häufigsten zu lesen, aber Woffo konnte sich nicht an die Bedeutung des Wortes erinnern.
Was für eine Sauerei geht hier unten ab? Wer feiert satanische Messen? Sind das etwa auch die Neonazis? Aber aus welchem Grund? Wollen sie den „Führer“ wiederbeleben, oder was? Der Caver wischte den Gedanken schnell zur Seite, als er in der hinteren Ecke den Tresor entdeckte. Woffo umrundete den Tisch und stoppte. Der Schatten eines Menschen kauerte an der Wand hinter dem Sessel. Ist das der tote Ungar? Er schlich näher. Und je näher er kam, desto mehr und mehr wurde der Schatten unplastischer. Es ging eine seltsame Wandlung mit ihm vor: Bei jedem Schritt verlor die Schwärze an Dreidimensionalität, ebnete sich ein. Sie wurde flacher und flacher, bis sie zu einem rein zweidimensionalen Schatten wurde, in den sich der verwirrte Woffo hineinsetzte. Er war zum Schatten geworden. Still saß er hinter dem Sessel und blickte in den offenen Tresor. Im Tresor glänzte kein Gold, nur einige Papierrollen wellten sich, von der Luftfeuchtigkeit aufgeweicht. Der Caver keuchte und rieb sich über die schweißnasse Stirn. Vor seinen Augen tanzten weiße und rote Schlieren. Der Schmerz im Fuß steigerte sich ins Unerträgliche. Das Herz raste und das Pochen des Blutes in den Adern war als Auf- und Abschwellen unter der Haut zu fühlen. Woffo fragte sich, was wohl passiert war. Ist mir jemand zuvorgekommen – die Neonazis? Wahrscheinlich. All diese Kritzeleien hier und die Fußabdrücke… Aber warum dieses Ziegenopfer? Welcher Gott der germanischen Mythologie verlangte danach? Odin oder Loki? Wohl eher Loki. Aber wozu das Ganze? Er hatte noch nie von derartigen Ritualen bei Neo-Nazis gehört – und Woffo hörte durch Gimli doch nahezu alles, was
neu und angesagt in der Berliner Szene war. Informationen waren lebenswichtig. Ein hässlicher Gedanke fraß sich wie eine Made tief in Woffos gepeinigtes Gehirn: Was aber, wenn die Informationen des Ungarn bewusst falsch waren? Wenn es gar kein Gold hier unten gibt? Dann bin ich heruntergelockt worden. Warum? Hatten den Ungarn etwa die Neonazis bedroht oder bestochen? Aber klar doch – wer sonst waren die beiden Bodyguards mit den kahlgeschorenen Schädeln, die der Ungar bei dem Treffen auf der Party dabei hatte? Das macht alles dennoch keinen Sinn, verdammt… Woffo sah noch einmal genauer im Tresor nach und zog zwei Landkarten heraus. Auf der Ersten befand sich eine Darstellung der chinesischen Küste, wie er der Legende entnahm. Sechs rote Kreuze waren im Meer zu sehen. Unter der Karte prangte wiederum ein rotes Kreuz, daneben ein mathematisches Ist-gleich-Zeichen und das Wort „Amerikanisches U-Boot“. Das zweite Papier zeigte die russisch-litauische Grenze. Hier waren ebenfalls rote Kreuze im Bereich von Weißrussland zu erkennen, darunter: „Trägerraketen des Östlichen Bündnisses“. Woffo fielen die Blätter aus den Händen. In ihm keimte ein Verdacht, der seine Kehle zusammenschnürte. Die Faschos stecken hinter allem! Sie haben Fehlinformationen an die USA und an Russland/China geschickt, bis diese den Schwindel geglaubt haben. Gott stehe uns bei! Auf einmal fühlte er eine Erschütterung der Wände und Schwingungen in der Luft. Das Licht seiner Lampe erstarb. Dunkelheit hüllte ihn ein. Panisch versuchte der Caver aufzustehen, doch der Schmerz im Knöchel hinderte ihn daran. So kroch er auf den Knien um den Tisch herum und hatte nur eine Sache im Kopf:
Raus hier! Den Griff zu seiner Ersatzlampe hätte er sich sparen können – sie funktionierte ebenfalls nicht. Als wäre ein elektromagnetischer Impuls über mich hinweggefegt! Woffo versuchte wieder aufzustehen, rutschte auf den glitschigen Algen aus, die in den Fugen der Bodenfliesen wuchsen, und rang nach Atem. Mit den ausgestreckten Händen fühlte er die Tischbeine, orientierte sich und kroch weiter in die Dunkelheit hinein. Er bekam den Türrahmen zu fassen. Daran schwang er sich nach draußen und stoppte. Unbewusst atmete er flacher. Vor ihm schälte sich ein riesiger Umriss aus der Dunkelheit. Die phosphoreszierenden Wasseralgen des Sees spendeten ein unwirkliches Grünlicht, gegen das sich die riesige Silhouette eines Tieres abhob. Woffo nahm an, dass es ein Tier war, denn die leuchtenden Augen waren zu Schlitzen verengt und standen schräg zueinander. Sein Buckel reichte hoch hinauf in den Höhlendom. Das aufgerissene Maul verströmte einen bestialischen Brodem. Es knurrte. Das Scharren von Krallen war zu hören. Woffo kroch hastig in den Tresorraum zurück. Er lief auf allen Vieren um den Schreibtisch an die entfernteste Ecke und wollte schier neben dem Tresor in die Wand hineinkriechen. Seine Füße schabten verzweifelt über den Boden. Die Fingernägel rissen an der Betonmauer. Er verharrte zitternd in dieser embryonalen Stellung. Das Ding ist zu groß für einen Hund, viel zu groß… Woffo griff sich die Lampe und schlug mehrmals darauf ein. Endlich schnitt Licht durch das Dunkel und leuchtete für einen kurzen Moment unter dem Schreibtisch hindurch auf ein speicheltriefendes Maul mit spitzen Fängen, das kaum in den
Türrahmen passte. Als der Lichtfinger das Tier berührte, knurrte es auf. Sofort zog sich das Raubtiergebiss zurück und eine überdimensionale Tatze schob sich in den Raum. Sie bewegte sich hin und her. Sie suchte nach ihm. Die Krallen kratzten mit einem markdurchdringenden Geräusch über die Steinfliesen. Nun erinnerte sich Woffo an die Sage von Loki und dem Fenris-Wolf, die er einmal gelesen hatte: Fenris, Lokis Sohn, war gefesselt. Die Fessel Gleipnir musste durch ein Opfer gelöst werden, und dann konnte man auch Loki befreien, der das Ende der Welt besiegelt. Könnten am Ende die Nazis versuchen… das ist absurd! Woffo dachte den Gedanken dennoch zu Ende und gefror innerlich. Was, wenn die Nazis nicht nur an einem Zerwürfnis zwischen den beiden Weltmächten interessiert waren, sondern durch ihre okkulten Opfer etwas viel Dunkleres über die Menschheit heraufbeschwören wollten? Und was weiter, wenn das Ziegenopfer nicht die endgültige Befreiung für Fenris von der Fessel brachte und die Faschos nach einem Weg suchten, ein größeres Opfertier herabzulocken? Das würde bedeuten, dass die Verdunkelung der Sonne und auch der kalte Winter als Zeichen der kommenden Götterdämmerung zu sehen sind – die Zeichen der nahenden Freiheit für Fenris! In diesem Moment erfasste die Tatze den schreienden Caver. Die Krallen rissen sein Fleisch auf und verhakten sich in seinem Brustkorb. Dann zogen sie den schreienden und wild um sich schlagenden Woffo aus dem Raum, hin zum wartend aufgesperrten Rachen des Wolfes.
Irgendwo im Dunkeln reißt Fenris die mit Geifer bedeckten Kiefer auseinander. Zwar hat er gerade erst ein Opfer gerissen,
aber sein Hunger ist noch lange nicht gestillt. Während die Bomben auf die oberirdische Stadt fallen, fletscht tief unten Fenris die Zähne und lässt ein siegreiches Heulen erschallen, das den Bunker und schließlich die ganze Welt erfüllt…
DIE MORIBUNDEN STÄDTE DES MARKUS K. KORB
„Wenn man Kunst schafft, kann man nicht Geld verdienen“ (Zitat aus „Concetta“)
In einer Zeit, da die deutschen Großverlage sich nur noch auf erprobte Massenware zu spezialisieren scheinen und auch vielen kleineren Verlagen der Mut fehlt, sich der vorhandenen, jungen Talente anzunehmen, wird es immer schwieriger, eine Sammlung wie die vorliegende zu veröffentlichen. Manchmal könnte der Eindruck entstehen, dass die Verleger an einer Verschwörung beteiligt wären, um die Entwicklung deutscher Autoren im Keim zu ersticken, bevor sie überhaupt die Möglichkeit gehabt haben, mit ihrem Werk an die Öffentlichkeit zu treten. Die Veröffentlichung dieses Buches bildet eine löbliche Ausnahme zu diesem einseitig gefärbten Bild. In einer Literaturlandschaft, die der eigensprachigen Phantastik abgeschworen zu haben scheint und sich auf angloamerikanische Best Selling Names versteift, die den Verlegern scheinbar hohe Absätze gewährleisten, ist ein Autor wie Markus K. Korb, der sich auf die Werte der deutschen Phantastik zurückbesinnt und ihre Stilmittel gekonnt einzusetzen vermag, so exotisch wie ein Goldfisch im Karpfenteich.
Zu Markus K. Korbs Werdegang sei soviel gesagt: Geboren 1971 in Werneck, wohnt er heute mit seiner Frau und zwei Kindern in Röthlein (Unterfranken) und arbeitet als Berufsschullehrer. Trotz seiner Affinität für berühmte Städte
zieht er das ruhige Landleben vor. Nach seiner Beziehung zur Phantastik befragt, sagt er von sich selbst, dass es ihn immer mehr zum Ungewöhnlichen hingezogen hat als zum AlltäglichBanalen, vielleicht, um auf diese Art eigenen Ängsten zu begegnen und sich damit zu konfrontieren. Er liebt das Spiel mit der Angst, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, „dass wir uns alle auf einer dünnen Eisschicht des Verstandes und der Zivilisation bewegen, worunter eine archaische Angst und tiefer Zweifel an der Realität stecken… Zweifel an der uns umgebenden Realität – wenn ich das in einem Leser nur für die kurze Zeit der Lektüre erreicht habe, bin ich zufrieden. Wenn dieser Zweifel über die Lektüre hinausgeht… dann ist das eine sehr gute Geschichte gewesen.“ Als erste Anregung und Inspiration gibt er Edgar Allan Poe an, für ihn unübertroffener Meister des Fachs. Schockiert hat ihn Lovecraft, und Ligotti bewundert er. Kafka ist für ihn der Meister des Absurden. Er bewundert ansonsten vor allem die vergessenen Phantasten der Weimarer Zeit (G. Benn, A. M. Frey, O. H. Schmitz und andere). Sein Traum, so behauptet er, wäre es, mit Poe, Lovecraft und Benn eine Tour durch das nächtliche Berlin der zwanziger Jahre zu machen…
Korbs Geschichten wurden bislang in verschiedenen Buchanthologien sowie auf deutschen und englischen Websites veröffentlicht. Darüber hinaus ist er auch als Rezensent und Herausgeber tätig. Im Herbst 2002 erschien die von ihm herausgegebene Anthologie „Jenseits des Hauses Usher – eine Hommage an Edgar Allan Poe“, ein mehr als deutlicher Hinweis auf seine Verehrung für den großen, amerikanischen Autor. Bewunderung für Poe spürt man bei Korb allerorten, immer wieder flicht er in seine Erzählungen Namen, Zitate und Anspielungen ein.
Jeder Autor lässt sich durch selbst erlebte oder angelesene Geschichten großer Vorbilder inspirieren. Jedoch braucht nicht befürchtet zu werden, dass Korb deshalb in pure „Pastiche“ verfallen würde. Er ist ein eigenständiger Autor und schon längst dem Plagiat entwachsen. Sein Talent zehrt von einer außerordentlich reichen Phantasie mit weitem Blickwinkel. So sind seine Geschichten niemals bloße Abklatsche großer Vorbilder, immer bindet er die erkennbaren Inspirationen in ein eigenes Metaphernnetz mit vielfältiger Färbung und eigenem Erleben ein. Seine Vielseitigkeit ist so groß und das Spiel mit den verschiedenen Stilen macht ihm ein so offensichtliches Vergnügen, dass man sie durchaus als seinen eigenen Stil bezeichnen könnte. Vor allem andern ist Markus K. Korb jedoch ein guter Erzähler. Sein Erzähltalent schafft farbenfrohe Szenarien, die so anschaulich geschildert werden, dass der Leser sie selbst wahrzunehmen glaubt. Situationsbeschreibungen sind seine Stärke, hier kann er die ihm eigene, üppige Imaginationskraft einsetzen, um die Geschichten fassbar, erlebbar und somit dem Gedächtnis anhaftend zu gestalten. Wir alle wissen, dass sich der menschliche Geist oft mehr an Details erinnert als an große Zusammenhänge. Bei Korb nun findet der Geist genügend Punkte, um sich festzuhalten und diese wie eine Momentaufnahme mit in die Tiefe zu nehmen, wo sie im geeigneten Augenblick wieder auftauchen. Er hat eine Vorliebe für pittoreske, auch groteske Szenarien und ist in seinen Erzählungen nicht auf die üblichen Monster, Vampire oder Gespenster festgelegt. Seine Schrecken steigen oft genug aus der Tiefe der Psyche ihrer Protagonisten auf, um als Trugbilder in einer entfremdeten Welt des Realitätsverlustes ihren seelischen oder gar körperlichen Untergang herbeizuführen.
Die vorliegende Sammlung wurde vom Autor bewusst als Themenanthologie konzipiert und trägt nicht rein zufällig den Titel „Grausame Städte“. In der Tat geht es in diesem Buch um zwei berühmte Städte – Venedig und Berlin –, zu denen jeweils vier Geschichten einen in sich abgeschlossenen Zyklus bilden. Diese Geschichten haben vielfältige Beziehungen zueinander und weisen Parallelen auf. Lassen Sie mich kurz die Verflechtung der Beziehungen zwischen den Geschichten beleuchten. Sie sind deswegen so besonders interessant, weil es meines Wissens in der Phantastik bislang keine Anthologie gegeben hat, die nach einem vergleichbaren Schema aufgebaut gewesen wäre.
Beide Zyklen sind horizontal nach dem gleichen Schema aufgebaut. In der ersten Erzählung verfällt der Ich-Erzähler dem Wahnsinn, in der zweiten leidet er an geistiger Verwirrung. In der dritten ist das Motiv Realitätsverlust und in der vierten geht es um Expeditionen ins Unbekannte – nach unten, in die Tiefen des Unbewussten. Concetta und Insomnia, die jeweils ersten Geschichten ihres Zyklus, handeln von Verbrechen, die hier aus Liebe, dort aus Lust und Gier begangen werden. Beide Täter betrachten sich als Künstler, sie glauben mit ihrem Verbrechen Kunst zu erschaffen: in Concetta durch die Bewahrung des menschlichen Körpers, in Insomnia durch seine Zerstörung beziehungsweise durch die „Auflösung der menschlichen Formen“. In beiden Erzählungen spielen Drogen eine tragende Rolle, morden die Täter unter der Einwirkung von Rauschmitteln. Carnevale a Venezia sowie Der Schlafgänger, die jeweils zweiten Geschichten ihres Zyklus, handeln von Masken. Sind es in der ersteren die bunten Masken des Karnevals, so trägt in
der zweiten der sinistre Untermieter, der sich bei der armen Arbeiterfamilie des frühindustriellen Berlins einnistet, die Maske eines harmlosen Mitbürgers. In beiden Geschichten sind die Anspielungen auf Edgar Allan Poe besonders ausgeprägt: In Carnevale eilt der Ich-Erzähler seinem Schwager Fortunato hinterher, in Der Schlafgänger belauert der Ich-Erzähler den scheinbar schlafenden Bösewicht nachts wie in Poes Erzählung „The Tell Tale Heart“, und ebenso wie in dieser hat der Belauerte ein von einem weißlichen Häutchen bedecktes Auge, ein „Geierauge“. Der Kunstprofessor, Protagonist von Carnevale, erkennt am Schluss der Geschichte, dass sein Leben eine sinnlose Jagd nach der Unsterblichkeit und Erhabenheit der Kunst war, die wie alles Irdische schließlich auch zum Untergang verdammt ist: „Bin ich einem Phantom gefolgt? Möglich, doch – tue ich das nicht unbewusst schon seit Jahren? Habe ich nicht stets eine Idee, eine menschliche Vorstellung von Unsterblichkeit gejagt?“ Die jeweils dritten Geschichten ihres Zyklus, Das IkarusPrinzip und Wir alle sehen besser aus in Schwarz und Weiß, erzählen von einer unwirklichen Welt der Sinnestäuschungen und des Realitätsverlusts, in der sich ihre Protagonisten verfangen haben, hier durch den Genuss zweier merkwürdiger grüner Pillen, dort durch die „Strahlen, welche von den neuartigen Bahnüberleitungen ausgehen sollen… die die Menschen krank machen“. In beiden Geschichten endet eine der Figuren mit einem Loch im Hinterkopf. In den jeweils vierten Geschichten wiederum, Insel der Gräber und Tief unten, werden wir in „minoische Labyrinthe“ tief unter der Erde entführt, in denen mächtige Wesenheiten lauern, die im Dunkeln schlummern und deren Erweckung große Gefahren verheißt. Hier wie dort sieht der Protagonist eine Leiche im Wasser treiben – in der ersteren einen Körper, der von der Friedhofsinsel weggespült wurde, in der zweiten
eine Ziege, die bei einer schwarzen Messe in einem alten Bunker unter der Stadt getötet wurde. Darüber hinaus tritt in allen Geschichten des Venedig-Zyklus bis auf die zweite eine weibliche Figur namens Concetta auf (deren „Geliebter“, ein buckliger Krüppel, auch der Sohn des Friedhofswärters der Insel der Gräber ist). Ob es sich bei ihr immer um dieselbe Person in eventuell verschiedenen Reinkarnationen handelt, ist unklar, da nur ihr Name erwähnt wird. Vielleicht ist diese rätselhafte Concetta die Personifizierung der Lagunenstadt selbst, die von den Einheimischen mit dem liebevollen Namen „Serenissima“ (die Heitere) gerufen wird?
Aber auch wenn man die Stories kreuzweise betrachtet, ergeben sich Parallelen: In Concetta (Venedig 1) sowie Tief unten (Berlin 4) geht es um die endgültige Auslöschung im Feuer (Auslöschung eines Individuums bei ersterer, globale Auslöschung bei der letzteren). Insel der Gräber (Venedig 4) sowie Insomnia (Berlin 1) handeln von Bildern; Anregungen für den Autor ergaben sich aus der Betrachtung von Gemälden (Davids „Ermordung des Marat“ und Füsslis „Nachtmahr“ bei Insomnia und Böcklins „Toteninsel“ sowie Weidenbachs „Leicheninsel“ bei Insel der Gräber).
In Carnevale a Venezia (Venedig 2) sowie in Wir alle sehen besser aus in Schwarz und Weiß (Berlin 3) spielen der Kontrast zwischen Schwarz und Weiß sowie das trügerische Spiel der bunten Farben eine tragende Rolle. Das Ikarus-Prinzip (Venedig 3) und Der Schlafgänger (Berlin 2) erzählen von Protagonisten, die einer selbst geschaffenen Realität verfallen
und daran zugrunde gehen – körperlich bei der ersteren, seelisch bei der letzteren Geschichte.
Die Erzählungen in dieser außergewöhnlichen Sammlung rangieren dabei stilistisch von der atmosphärischdesillusionierten Kontemplation (Carnevale a Venezia) über die Diebsstory (Das Ikarus-Prinzip) und die Hommage an H. P. Lovecraft (Insel der Gräber) bis zum Sittenbild des Berlin der zwanziger Jahre (Insomnia) und zur fatalistischen Dystopie (Tief unten). Der Grundtenor von Korbs Phantastik ist pessimistisch – alle Protagonisten der Erzählungen in dieser Sammlung kommen entweder um, verfallen dem Wahnsinn, ihre Familien werden zerstört oder sind von vornherein zerstört (in Wir sehen alle besser aus in Schwarz und Weiß muss der jugendliche Protagonist sexuelle Belästigungen von Seiten des Vaters über sich ergehen lassen, ohne Beistand von der Mutter zu erhalten, die den ganzen Tag über im Fernsehsessel sitzt und sich von der Schein-Realität auf der Mattscheibe berieseln lässt). Diese Geschichte entstand nach der Inspiration des Dark IndustrialSongs We All Look Better In Black & White von das pst (Thomas Wagner). Korb nützt den aberwitzig-irren Tonfall des Splatterpunk, um die geistige Krankheit unserer modernen, westlichen Zivilisation deutlich zu machen: Fernsehen ersetzt der Mutter die Realität, erzeugt beim Protagonisten jedoch Schwindelgefühle und so große geistige Verwirrtheit, dass es ihn zum Doppelmord seiner Eltern treibt, den er jedoch nicht einmal mehr als solchen wahrzunehmen vermag. Es geht ihm nur darum, die Farben als Symbol der allgegenwärtigen Lüge aus ihnen herauszuwaschen.
Die Charaktere dieser Sammlung sind Antihelden: der bucklige Krüppel, der Concetta nur dadurch zu gewinnen vermag, dass er sie tötet; der verträumte Kunstprofessor, der sich der Illusion der Unsterblichkeit der Kunst hingibt; der alternde Dieb, der davon träumt, seinen letzten großen Coup zu landen und sich dann zur Ruhe zu setzen; der ängstliche Ministrant, der nur widerstrebend dem Pastor auf die Friedhofsinsel folgt; der neureiche Dandy, der im Koksrausch mordet und sich selbst als Künstler des Todes sieht; der mittlere Sohn einer am Existenzminimum lebenden Arbeiterfamilie im wilhelminischen Berlin; der geistig derangierte Jugendliche, der seine kaputte Familie auslöscht; der misanthropische Caver, der lieber allein in dunklen Bunkern unter der Stadt herumkraxelt, als unter seinen Mitmenschen zu sein. Menschliches Miteinander scheint Krankheit zu bedingen oder auszubrüten; Menschen tun einander Schreckliches an, sie zerstören die Psyche und das Leben anderer, oftmals völlig ohne erkennbaren Sinn (in Tief unten versuchen Neonazis den dritten Weltkrieg herbeizuführen). Diese Protagonisten sind einsam, oder sie suchen die Einsamkeit. Ihr Blickwinkel ist oft verschoben, von der scheinbaren Realität, die uns tagtäglich umgibt, hin zu phantastischen und surrealen Orten, wo sie ihr Verderben finden.
Auch wenn zwei markante Städte die Schauplätze der beiden Zyklen bilden, so erzählen diese Geschichten doch nicht nur von Häusern oder Städten, sondern vor allem von den Menschen und (menschlichen?) Monstern, die darin leben. Die Stadt wird als Moloch geschildert, sie ist in beiden Fällen dem Untergang geweiht: Das schillernde Kunstwerk Venedig, das unaufhaltsam in der Lagune versinkt, sowie Berlin, die
kaputt-dekadente Metropole menschlicher Entgleisungen, unmenschlicher Verhältnisse zur Zeit der Frühindustrialisierung und des (neo-)nationalsozialistischen Größenwahns. Diese Städte, so ungleich sie auch sind, müssen untergehen, und sei es nur, weil sie von Menschenhand erschaffen wurden und kein Menschenwerk ewigen Bestand hat. Auffällig ist die Faszination des Autors an der Friedhofsinsel San Michele, die der Lagunenstadt vorgelagert ist. Am Anfang von Insel der Gräber ist es das berühmte Böcklin-Gemälde „Die Toteninsel“, die das sich nähernde Boot erwartet. Am Schluss derselben Geschichte hat sich das Bild gewandelt, ist zu der pervertierten Form der „Leicheninsel“ geworden, die mit ihren aufgerissenen Gräbern und hervorquellenden Kadavern hinter den Flüchtenden her droht. Jedoch geht es dem Autor nicht um das cthulhuide Monster im Innern der Insel (genauer gesagt ist das Monster die Insel), sondern um die Reise des jugendlichen Protagonisten Paulo in die Tiefe der Unterwelt, die gemeinhin in Horrorliteratur und -film schwer bestraft wird. Nur mit äußerster Anstrengung kann Paulo sein Leben retten. Aber was wird ihn in Venedig erwarten, wenn er in die Welt der Lebenden zurückkehrt? War es doch schon immer so, dass der Anblick der verbotenen Geheimnisse der Unterwelt denjenigen zeichnet, der sie erblickt hat. Sein Schicksal – und das von Venedig – ist damit besiegelt.
E. M. Angerhuber, September 2002