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Das Buch Barry Gifford gehört zu den originärsten, aufregendsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur, ein ungewöhnlicher Erzähler, den Kritiker nicht von ungefähr mehr als einmal in die Nähe des großen William Faulkner gerückt haben. Ungewöhn lich sind auch die vier locker miteinander verknüpften Erzäh lungen dieses Bandes, bizarre, ins Surreale umkippende Liebes geschichten aus dem täglichen Alptraum der amerikanischen Gegenwart. Ihre Helden sind Frauen, die im Schatten leben, am Rande der Gesellschaft, eigenwillige ausgebrannte Typen, die eines gemeinsam haben: Es sind Frauen, die gewaltsam ihre Unschuld verloren haben und jetzt mit Gewalt zurückschlagen: Die beiden Lesben Big Betty Stalcup und Miß Cutie Early sind geradezu besessen von einer aberwitzigen Mission: »Miß Jesus hat uns befohlen, die Welt von der Spezies Mann zu be freien.« Zwei peruanische Seeleute haben schon dranglauben müssen, das nächste Opfer ist ein Anwalt, der im Namen von Miß Jesus sein Leben lassen soll. Es wird keinen Frieden geben, ehe nicht der letzte Mann von der Oberfläche des Planeten verschwunden ist ... Trotz aller Vergewaltigung, Rassen diskriminierung, religiösem Wahn und Kindesmißbrauch, hebt sich in den Erzählungen jedoch das Motiv der Liebe stark hervor í und macht aus den Geschichten aus der Tiefe der Nacht in der Tat höchst ungewöhnliche Liebesgeschichten.
Der Autor Barry Gifford, 1946 in Chicago geboren, hat mehrere Bände mit Poesie, Essays und Biographien veröffentlicht. Seine Romane wurden in fünfzehn Sprachen übersetzt und mehrfach ausge zeichnet. Mit großem Erfolg hat Kultregisseur David Lynch »Wild at Heart« verfilmt. Gifford lebt heute in Berkeley.
BARRY GIFFORD
GLEISSENDES
LICHT
Geschichten aus der Tiefe der Nacht Aus dem Englischen von Walter Ahlers Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nr. 01/9428
Titel der Originalausgabe
NIGHT PEOPLE
Redaktion: Werner Heilmann
Copyright © 1992 by Barry Gifford
Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1995
Umschlagillustration: Comstock, Berlin
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Gesamtherstellung: Elsnerdruck, Berlin
ISBN: 3-453-08254-0
Dieses Buch widme ich meiner Schwester Randi
Es liegt etwas Wildes über dem Land, das nur die Nacht menschen spüren ... - Tennesee Williams Orpheus steigt herab
Inhalt
I Nachtmenschen ..................... 7
II Das geheime Leben der Insekten...........74
III Die Ballade von Easy Earl...............116
IV Das Verbrechen der Marble Lesson.........141
I NACHTMENSCHEN
Apachen 8 Umstände 11 Die folgende Generation 14 Wilde Tiere im Dschungel 17 Urteil 20 Zusammenfluss 24 Miss Cutie: Ihre frühen Jahre 27 Big Betty: Wie es dazu kam 31 Jeder macht sich sein Bett nach seiner Fasson 36 Wanzen 43 Das Versteck 48 Waveland, Mississippi 50 Dukes Koffer 53 Das Tier 55 Schneebälle 57 Schweine 59 Das Buch des Werdens 61 Noch einen für unterwegs 64 Die Hand einer Frau 68 Überall Mitternacht 72
Frauen sind unempfindlich gegen das Böse William Faulkner
APACHEN Big Betty Stalcup küßte Miss Cutie Early beim Fahren auf das rechte Ohrläppchen, und das kitzelte so, daß Cutie mit dem schwarzen Dodge Monaco einen Schlenker nach rechts machte, weil sie sich sofort seitlich am Kopf kratzen mußte. »Verflucht, Bet, laß das bleiben, wenn ich fahre.« Big Betty lachte und sagte: »Sind wir nun schwule Schwestern oder nicht? Manchmal kann ich mich nicht beherrschen, und ich will’s auch gar nicht. Vorsicht war bei mir noch nie die Mutter der Porzellankiste.« Cutie grinste, als sie den Wagen wieder auf Kurs brachte. »Das weiß ich schon lange«, entgegnete sie. »Was weißt du? Daß wir schwule Schwestern sind?« »Nee, das kam erst später. Das mit der Vorsicht. Du bist nie so richtig berechenbar gewesen, Bet, nicht mal als Kind.« Big Betty und Miss Cutie hatten die vergangene Woche in New Orleans und das Wochenende in Gulf Shores, Alabama, verbracht und fuhren über Perdido Key zurück nach Florida. Der Golf von Mexico lag an diesem wind stillen, sonnigen Februarmorgen glatt wie eine Glasscheibe neben ihnen. »Großer Gott, Cutie, morgen ist Valentinstag!« »Und?« »Da müssen wir was Besonderes auf die Beine stellen.« »Letzten Valentinstag saßen wir noch in Fort Sumatra und haben den lieben langen Tag Blut und Pißflecken aus der Bettwäsche gebleicht.« »Kann’s immer noch nicht glauben, daß wir drei Jahre und ‘n paar Zerquetschte in dem Laden überlebt haben.« 8
»Weiß nicht, ob ich das ohne dich geschafft hätte, Bet. Diese fetten alten Mamas hätten sich den Arsch mit mir abgewischt, wenn du nicht meine Beschützerin gewesen wärst.« Big Betty wuchtete ihren zweihundert Pfund schweren, einsfünfundsiebzig großen Körper auf dem Beifahrersitz soweit herum, daß sie Cutie in die Augen blicken konnte. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Cutie zwölf Jahre jünger als Betty, und Miss Cuties gertenschlanke, eins fünfundfünfzig große Figur ließ in Big Betty so richtig mütterliche Gefühle aufkommen. Ein Liebespaar waren sie seit dem Augenblick, als Miss Cutie auf Zehenspitzen in Big Bettys Zelle geschlichen war í dort in der Frauen strafanstalt Fort Sumatra, die auf halber Strecke zwischen Mexico Beach und Wewahitchka, Florida, liegt, gerade noch innerhalb der zentralen Zeitzone. Cuties lockiges ro tes Haar, ihre Sommersprossen, die großen dunklen Augen und das zarte Gesicht waren genau das, wonach Bet ty Stalcup immer gesucht hatte. Beinahe so, als hätte das Strafvoll-zugssystem des Staates Florida die Bestellung aufgenom-men und ihr das Gewünschte auf einem silber nen Tablett serviert. Big Betty schob mit der Unken Hand ihr schulter-langes braunes Haar zurück, legte die andere Hand auf Cuties rechte Brust und massierte sie zärtlich. »Du bist mein kleines schwarzäugiges Mäuschen, das ist mal sicher«, sagte Betty. »Wenn’s nach mir geht, bleiben wir für immer zusammen.« »Mir soll’s recht sein.« »Cutie, was sind denn wir schon andres als zwei Apa chen, die ziellos auf dem Lonely Highway dahinreiten, von dem Hank Williams immer gesungen hat.« »Kann mich nicht erinnern, schon mal davon gehört zu haben.« »Wenn man immer auf Achse ist, wie wir, ohne Heim und ohne einen Grund, irgendwo zu bleiben í dann ist 9
man auf dem Lonely Highway unterwegs. Die meisten Leute wissen nicht, was sie wollen, Cutie, und meistens wissen sie nicht mal, daß sie’s nicht wissen. Manchmal denken sie, daß sie es wissen, aber gewöhnlich hat sich dann nur ihr Magen gemeldet oder ihre Möse oder ihr Schwanz. Und dann werden sie gefüttert oder gefickt, und alles ist wieder beim alten. Das Geld macht sie widerlicher als Scheiße, das wissen wir doch ganz genau. Geld ist die größte Ausrede für Sauereien, die es auf der Welt gibt. Aber ich glaube, du und ich, wir bringen’s noch gemeiner als diese Arschlöcher.« »Und wie soll das gehen?« »Indem wir einfach zwei und zwei zusammentun, Mäuschen, und dann das subtrahieren, was obendrauf liegt í einen nach dem anderen.« »Bin nicht sicher, daß ich dich verstehe, Bet, aber ich bin immer bereit, was dazuzulernen.« Big Betty warf ihren Kopf in den Nacken, kniff die grü nen schmalen Wolfsaugen zusammen und lachte kurz und trocken. »Jung und immer bereit, was gibt’s Schöneres im Le ben«, sagte sie. »So mußt du’s machen, solange du es noch kannst.« »Und dann?« Betty grinste, legte Cutie ihren massigen linken Arm auf die zarten Schultern und rückte näher an sie heran. »Dann mußt du den Schaden in Grenzen halten«, sagte sie. »Was andres bleibt dir dann nicht mehr übrig.« »Und so ganz nebenbei ‘n paar Hälse durchschneiden, meinst du wohl.« »Siehst du, Miss Cutie, Schatz, du bist mir’n ganzes Stück voraus.«
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UMSTÄNDE Rollo Lamar lehnte sich in seinen Schaukelstuhl aus Eiche zurück, hob die rote, emaillierte Hopalong-Cassidy-Tasse an die Lippen und trank einen Schluck Bustelo. Er spülte sich mit dem heißen, pechschwarzen Espresso den Mund aus, bevor er ihn herunterschluckte; dann betrachtete er Bobby Dean. Wenn er noch jünger wäre, dachte Rollo, dann würde er es mal versuchen bei ihr. Aber mit seinen vierundsechzig Jahren, sechs Monate nach einem fünffa chen Bypass, konnte er sich solche Gedanken aus dem Kopf schlagen. Eigentlich durfte er nicht einmal Kaffee trinken, geschweige denn sich mit einer deliziösen Beina he-Geschiedenen wie Bobby Dean Baker übernehmen. Bobby Dean mußte so um die Dreißig sein, schätzte Rol lo. Mit fünfundzwanzig hatte sie schon den zweiten Ehe mann begraben, und jetzt saß sie hier in seiner Kanzlei, um ihn zu bitten, sie von Nummer drei zu scheiden. Bobby Dean sah atemberaubend aus mit ihrem weißblonden Haar, das sie sich wie ein Hotelhandtuch um den Kopf gewickelt hatte, den blauen Schatten über und unter ihren funkelnden wasserblauen Augen, den langen, schmalen Lippen, die sich von der einen Seite des Gesichts zur anderen zogen, als hätte der Schöpfer begonnen, Bobby Deans Kopf wie eine Grapefruit zu schälen und ihn nach dem ersten Handgriff wieder weggelegt. Sie war gebaut wie eine Coca-Cola-Flasche, wie Lightnin’ Hopkins das mal ausge drückt hatte. Rollo Lamar nahm die Kaffeetasse vom Mund und stellte sie auf den Schreibtisch. »Glaub’ kaum, daß wir damit große Probleme kriegen, Bobby Dean«, sagte Rollo. »Das Einkommen Ihres Ehe manns hat sich in den beiden letzten Jahren mehr als ver 11
doppelt. Und Paisley Marie dürfen wir auch nicht außer Acht lassen. Wie alt ist sie jetzt? Zwei?« »Wird nächste Woche drei.« »Glaube kaum, daß sie vor Gericht erscheinen muß. Überlassen Sie das mir.« Bobby Dean erhob sich, schenkte Rollo ein verführe risches Lächeln und gab ihm Zeit, einen ausgiebigen Blick auf ihre Figur zu werfen. »Bobby Dean, Sie könnten einen toten Mann zum Leben erwecken.« Bobby Dean lachte. »Keine Ahnung, wie das mit Toten ist, Mr. Lamar, aber ich war schon froh, wenn ich was hätte, um einem Mann das Leben lebenswert erscheinen zu lassen, wenigstens für eine Weile.« Nachdem Bobby Dean gegangen war, schaltete Rollo den Admiral-Mittelwellenempfänger ein, den er schon als kleiner Junge bekommen hatte. »Aus Alice Springs, Australien, erreicht uns folgende Meldung«, sagte der Nachrichtensprecher gerade. »Ein paar Aborigines haben in einer entlegenen Stadt des Nor thern Territory Polizisten mit tiefgefrorenen Känguruh schwänzen angegriffen und die Beweismittel anschließend verspeist. Das wurde gestern während einer Gerichtsverhandlung bekannt. Senior Constable Mark Coffey sagte vor dem Gericht in Alice Springs aus, die fünfzehn Aborigines seien auf drei Beamte losgegangen, nachdem sie sich in einem örtlichen Lebensmittelladen mit den Schwänzen versorgt hatten. Coffey äußerte die Vermutung, der Angriff könnte mögli cherweise im Zusammenhang mit einem früheren Versuch der Polizei stehen, einen Mann vom Highway zu entfernen, der sich in offensichtlich selbstmörderischer Absicht mitten auf die Fahrbahn gesetzt hatte. Als der Mann sich diesen Bemühungen widersetzt habe, sei es zum Kampf gekommen, berichtete Coffey. 12
Nach dem Angriff auf die Polizisten waren sechs der Männer festgenommen und wegen Körperverletzung an geklagt worden. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, konnten die Känguruhschwänze jedoch nicht als Beweismittel vorgelegt werden, weil sie, wie man vermutet, von den Aborigines verspeist wurden.« Dämliche Arschlöcher, dachte Rollo. Höchstwahr scheinlich hatte dieser Abo seinen Hintern auf den High way gepflanzt, weil es eine heilige Stätte war, die sie ihm zubetoniert hatten. Überall dasselbe; diese Scheißbullen würden eher die Urbevölkerung ausrotten, als sich um Verständnis zu bemühen und die Dinge im Gespräch zu klären. Man hätte dort auch eine Umgehungskurve ein bauen können. Nach so langer Zeit haben sie immer noch nicht kapiert, daß es einen leichteren Weg gibt. Rollo Lamar nahm seine Blechtasse zur Hand und trank den Bustelo aus. Er schloß die Augen; das eintönige Mur meln des Radios hörte er kaum noch. Bevor er unters Messer gekommen war, hatte er sein Testament gemacht; nahezu sein gesamtes Vermögen war der American Heart Association zugedacht, und für den Fall seines Ablebens, das hatte er veranlaßt, sollten die letzten Worte von Studs Lonigan in seinen Grabstein gemeißelt werden: »Mutter, es wird dunkel.« Das fiel ihm jetzt ein, als er es sich in sei nem Sessel, bequem machte. Ein passendes Epitaph für den Zustand dieser Welt, dachte Rollo noch, bevor er ein nickte.
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DIE FOLGENDE GENERATION Die beiden peruanischen Seeleute Ernesto und Dagoberto Reyes, ein Brüderpaar aus Callao, schlenderten von der Madrugada í einem Dreißigtausend-Tonnen-Container schiff unter liberianischer Flagge, das für achtzehn Stun den am Esplanade-Pier festgemacht hatte í direkt zur Saturn Bar an der Ecke St. Claude und Clouet Street im Neunten Bezirk. Seit Encanta’s Tijuana, ihr früheres Stammlokal in New Orleans, vor zwei Jahren zugemacht hatte, gingen die Reyes-Brüder í wenn sie in der Stadt waren í regelmäßig ins Saturn, das von den Einheimi schen auf der zweiten Silbe betont wurde. Es war ein le bendiger und manchmal auch tödlicher kleiner Laden, wo die Brüder etwas trinken, mit einem Sortiment Nutten und sich herumtreibender College-Mädchen aus dem Viertel tanzen, ein bißchen Poolbillard spielen oder sich anderweitig vergnügen konnten, bevor es wieder auf See hinausging. Auf dieser Reise sollte Port of Spain in Trini dad der nächste Anlaufhafen sein, eine Stadt, auf die weder Ernesto noch Dagoberto besonders scharf war, und vielleicht war das der Grund, weshalb die beiden sich im Saturn ein paar Abitas zu viel genehmigt und mit Jim Beams nachgespült hatten. Die beiden Frauen, mit denen die Brüder das Lokal ver ließen, sagte der Barkeeper Bosco Brouillard später vor der Polizei aus, seien ihm unbekannt gewesen. Die eine war groß, sagte Bosco, etwa einsfünfundsiebzig, ein Schwergewicht mit richtigen Muskeln, stämmig, vielleicht Ende dreißig. Die andere war klein, mal gerade über einsfünfzig, jungenhaft, flachbrüstig und um einiges jünger. 14
»Die Weiber haben sich über die Kerle hergemacht wie Hypnos und Thanatos«, sagte Bosco. »Wer sind’n die?« wollte der Cop wissen, der die grau sam zugerichteten Leichen der Reyes-Brüder hinter Swindles Eisenschmiede an der Burgundy Street drüben im Achten Bezirk gefunden hatte. »Schlaf und Tod«, erklärte ihm Bosco, »die Zwillings söhne von Nyx. Der Nacht, Sie wissen schon.« »Nee, weiß ich nicht«, antwortete der Cop, der kein Auge mehr zugekriegt hatte, seit er die beiden braunen peruanischen Köpfe gesehen hatte, hohl wie zwei ausgekratzte Beutelmelonen auf einem Cajun-Pick nick. »Die Mädchen hatten sie gründlich mit Beschlag belegt.« »Ist sonst noch jemand mit ihnen aufgebrochen?« Der Barkeeper schüttelte den kahlen Kopf. »Könnte natürlich sein, daß Morpheus draußen gewartet hat«, fügte Bosco hinzu. »Meistens ist der nicht weit.« »Wer ist dieser Morpheus?« »Der Gott der Träume, ‘n Kumpel von Nyx. Ihr Jungs von der Polizei habt’s wohl nicht so mit der Mythologie, was?« »Nicht so besonders.« »Dann wißt ihr wohl auch nicht, was sonst noch wichtig ist.« Der Cop sah den Barkeeper an, und der grinste sich eins. Die vier Fernsehgeräte über der Bar, von denen jedes ohne Ton auf einen anderen Sender geschaltet war, flimmerten über seinem spiegelglatten Kopf. »Was denn?« fragte der Cop. »Schlaf, Traum und Tod, die gehören alle zur Genera tion, die auf das Chaos folgte.« Der Polizist, dessen Name Vernon Duke Douglas lautete und der ein direkter Nachfahre von H. Kyd Douglas 15
war, dem Autor des Buchs Ich ritt mit Stonewall, klappte sein Notizbuch zu und steckte es weg. »Danke, Mr. Brouillard. Ich bin sicher, wir kommen nochmal wieder.« Bosco zwinkerte dem Urururenkel des konföderierten Schriftstellers mit dem schwachen Lid seines linken Auges zu und sagte: »Sir, ich bin keiner, der viel auf Achse ist.«
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WILDE TIERE IM DSCHUNGEL
Big Betty und Cutie lagen auf dem Doppelbett in ihrem Zimmer in Jim & Jesse’s Birth Of A Nation Motel in Alli gator Point. Im Fernsehen lief Jaguar, ein Sabu-Film aus dem Jahre 1956. »Das ist ja nicht gerade übermäßig geistreich«, sagte Cutie, die auf dem Bauch lag, mit dem Kopf am Fußende des Bettes. »Was meinst du, Kleines?« fragte Big Betty. Sie war mü de von der vielen Fahrerei und saß mit geschlossenen Au gen auf dem Bett, Kopf und Oberkörper gegen die beiden Kissen vor dem Kopfbrett gelehnt. »Verstehst du, da schleicht dieser seltsame Stamm von Jaguarmännern durch den Dschungel und terrorisiert die Arbeiter auf diesem Ölfeld in Südamerika, ja?« »Ja, und?« »Und da gibt’s diesen jungen Typen, diesen Sabu, der wurde schon als Baby von seinem Stamm getrennt, und jetzt will der Vormann auf dem Ölfeld ihm allen Ernstes einreden, daß er sich í Sabu, mein ich í, daß Sabu sich in sein natürliches Ich zurückverwandelt, wenn er in so eine Art Trance fällt, und daß er dann alle diese Kerle zerreißt, dabei macht der Vormann das in Wirklichkeit selber, als Jaguarmann verkleidet.« »Und warum macht er das?« »Weil er dem großen Boß das Projekt wegnehmen will oder so, was weiß ich? Außerdem glaub’ ich, daß der Vormann scharf auf Chiquita ist, so ‘ne Eingeborenentus si, das Liebchen von diesem Sabu.« »Ich glaub’, den hab’ ich gesehn, Cutie. Der Böse wird zum Schluß von den Piranhas gefressen.« 17
»Oh, wow, Bet! Jetzt haben sie Sabu in ein hautfarbenes Trikot gesteckt, und er soll dem Jaguargott so ein kleines, zappelndes Tier opfern, aber er schafft’s einfach nicht, ihm den Hals durchzuschneiden. Schau nur, jetzt wirft er das Messer weg und kriegt ‘n Anfall oder sowas. Chiquita rennt hinter ihm her.« Betty schlug für ein paar Sekunden die Augen auf und sah hin. »Die Kleine erinnert mich an das Cappucino-Mädchen aus dem C-Block, Perline Nail. Erinnerst du dich?« »O ja, und ob. Die hat doch Rupee Moreno aufgeschlitzt, als Rupee gesagt hat, ‘n Baptist, das ist jemand, der nicht gerne am Sonntag jemand lyncht.« Cutie stand auf und schaltete den Fernseher aus. Sie hob den Talahassee Democrat auf, den Betty auf den Boden geworfen hatte, und blätterte ihn durch. »He, Bet, ist das nicht süß? Hör mal, was unter den To desanzeigen in der Zeitung steht: »Im liebenden Gedenken an Blackie Lala. Geboren am 15. November 1925 í ge storben am 10. Februar 1991. Papa, wir werden dich nie vergessen. Ach, in dieser schrecklichen Nacht, als du so still dagelegen hast, da haben wir Gott nach dem Grund gefragt, und er hat zu uns gesagt: ›Er ist jetzt bei mir, er ist nicht tot. Ich weiß, ihr habt ihn geliebt, so wie ich. Ich hab’ ihn heimgeholt, drum weinet nicht. Das Böse zerstört die Menschen, an jeder Ecke lauert es. Wenn die Lie be überlebt, was sie sicherlich vermag, dann nimmt sie den Trauernden den Schmerz.‹ Deine ganze Familie ver mißt dich sehr. DeLeon, Felda, Birdie Dawn, Tequesta und Waldo Lala.« »Ist schon was anderes, wenn man richtige Blutsver wandte hat, die einem was bedeuten«, sagte Betty. »Ich hatte nie welche.« Cutie legte die Zeitung zur Seite und rollte sich neben Big Bettys Beinen zusammen. 18
»Weißt du, Bet, wir beide sind durch Blut verbunden. Das spür’ ich irgendwie.« Bettys rechte Hand fand Cuties Kopf und streichelte ihn. »Und ob ich das weiß, Mäuschen. Du bist das kleine Lämmchen, das sich neben die alte Löwin gelegt hat, und die hat noch fast alle ihre Zähne.« »Mehr brauch’ ich nicht, Lady«, sagte Cutie und schloß die Augen.
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URTEIL Rollo Lamar hat sein ganzes Leben in Egypt City, Florida, verbracht, einmal abgesehen von den vier Jahren, in denen er an der Universität von Chicago studierte, und seinen vier New Yorker Jahren, als er hinterm Tresen von Hartley’s Luncheonette, Ecke 116te Straße und Amster dam Avenue, arbeitete, wenn er nicht gerade Vorlesungen an der juristischen Fakultät der Columbia Universität hörte, an der er sein Examen ablegte. Seine Mutter, Purity Mayfield, war bei Arthur und De lia Lamar zehn Jahre lang als Hausmädchen beschäftigt gewesen í vom fünfzehnten bis zum fünfundzwanzig sten Lebensjahr í und hatte in dieser Zeit ihr einziges Kind zur Welt gebracht. Da der Vater des Kindes, ein Bar pianist namens Almost Johnson, mit einer anderen Frau verheiratet war und einem Mord zum Opfer fiel, kurz nachdem Puritys Schwangerschaft augenscheinlich ge worden war, und da Purity Mayfield keinerlei Verwandt schaft in dieser Gegend hatte, adoptierten die Lamars í die selber kinderlos geblieben waren í den Jungen und zogen ihn auf wie ihren eigenen Sohn, obwohl sie weiß waren und er schwarz. Nach Arthurs Vater und Rollos Mutter nannten sie ihn Rollo Mayfield Lamar. Die Lamar-Familie gehörte seit langem zu den Verfechtern gleicher Rechte für alle Menschen, egal welcher Hautfarbe oder Religion. Rollo Leander Lamar, Arthurs Vater, hatte es als erster Richter des Distrikts, zu dem Egypt City gehörte, zum Bundesrichter gebracht, eine Position, die eine Generation später auch Arthur erreicht hatte. Sowohl Arthur als auch sein Vater hatten an der Columbia Universität Jura studiert, und so war es 20
kein Wunder, daß der junge Rollo ihrem Beispiel gefolgt war. Young Rollo, wie er in Egypt City auch noch als er wachsener Mann genannt wurde, hatte bereits zuhause, vor seinen Jahren an der Universität, eine Ausbildung durch Richter Lamar und seine Frau erhalten. Schwarze waren zu jener Zeit an den Universitäten des Südens nicht zugelassen í von den Institutionen für Farbige ein mal abgesehen í, deshalb schickte man Young Rollo nach Chicago, einer Stadt, gegen die er sehr bald eine Abnei gung entwickelte. Seine Jahre dort verbrachte er meistens zurückgezogen in seinem Studentenzimmer; er lernte und wagte sich nur selten vom Campus der Universität herunter. Auch an New York fand er kaum mehr Gefal len. Beide Städte waren ihm zu kalt, zu verdorben und zu unfreundlich, und die Schwarzen waren ihm zu aggressiv. Rollo war erleichtert, als er mit dem Studium fertig war und für immer nach Egypt City zurückkehren durfte. Zuhause trat er in die Kanzlei Lamar, Forthright & Lamar ein. Abe Forthright í Arthur Lamars bester Freund und siebenundzwanzig Jahre lang sein Kompagnon í war kurz nach Young Rollos Rückkehr an einer Rippen fellentzündung verstorben, auf den Tag genau vier Jahre nach dem tödlichen Herzanfall, der den Richter während der Wahl zur Miss Egypt City ereilt hatte, einem Schön heitswettbewerb, bei dem der ältere Lamar selbstver ständlich als einer der Juroren fungiert hatte. In dem Au genblick, als Breezy Pemberton mit nichts am Körper als ihrem Zebrabikini und den rubinroten Pumps auf die Bühne des Gasparilla Livestock Center gestöckelt kam, kippte Richter Lamar auf die Seite und fiel von seinem Stuhl. Nach Aussage des Arztes war er bereits tot, als er auf dem Fußboden aufschlug, gestorben an einer schweren Koronarthrombose. Breezy Pemberton, die am folgenden Tag von den vier 21
verbliebenen Juroren einstimmig zur Miss Egypt City be stimmt wurde, hielt damals folgende Dankesrede: »Ich fühle mich tief geehrt, weil ich gewonnen habe, und gleichzeitig bin ich tief bestürzt darüber, daß meine Schönheit möglicherweise die Ursache war für den Tod eines so prominenten Bürgers unserer großartigen Stadt, wie Richter Lamar einer war. Ich möchte der Familie La mar versichern, daß es keinesfalls meine Absicht war, den Richter mit meinem Zebrabikini aus der Fassung zu brin gen, und schon gar nicht wollte ich eine solche Tragödie herbeiführen, wie sie sich gestern ereignet hat. Aber ich glaube, manchmal passieren solche Dinge einfach. Natür lich kann ich nicht beurteilen, ob der liebe Gott das so ha ben will, aber einem Menschen kann man nicht die Schuld dafür geben. Ich bin sechzehneinhalb Jahre alt, und ich weiß, daß Richter Lamar viel, viel älter war, und daß er eine junge Dame, nämlich mich, in dieser Aufma chung gesehen hat, das hat seinem müden Körper einen Schock versetzt, mit dem er nicht mehr fertiggeworden ist, und das ist sehr schlimm. Es tut mir so leid für die hinterbliebenen Lamars, und gleichzeitig bin ich glücklich darüber, daß ich gleich beim ersten Versuch den Titel der Miss Egypt City gewonnen habe, und ich möchte euch sagen, daß ich meine Regentschaft dem Andenken des toten Richters widmen werde. Ich danke euch allen, ihr seid wunderbar.« Rollo wurde von den Leuten als ein Lamar akzeptiert, und man behandelte ihn, soweit er das beurteilen konnte, wie jeden anderen Mann auch, obwohl er ein Schwarzer war. Es gab nur sehr wenige schwarze Bürger in Egypt City, dessen Bevölkerung konstant bei etwa 15 000 Ein wohnern lag. Rollo hatte nie geheiratet; seit Delias Tod bewohnte er das Haus der Lamars ganz allein. Delia hatte auf dem Flügel im vorderen Zimmer ein paar Jahre lang ein signiertes Photo von Breezy Pemberton stehen gehabt, 22
das Breezy ihr in einem vergoldeten Rahmen geschenkt hatte, aber in dem Moment, als in Egypt City bekannt wurde, daß Breezy in einem Zimmer des Las Sombras Motel in Hermosa Beach, Kalifornien, an akuter Alkohol vergiftung gestorben war, hatte Delia das Photo genommen und mitsamt seinem vergoldeten Rahmen in den Mülleimer geworfen. »Warum hast du das gemacht, Mama?« hatte Rollo sie gefragt. »Dafür gibt es viele gute Gründe, mein Sohn«, hatte De lia geantwortet.
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ZUSAMMENFLUSS
1934 hatte Rollo Leander Lamar auf Trocadero Island das Heim für farbige Waisenkinder gegründet. Dreißig Jahre später wurde der Name í einem Absatz der Bürgerrechts gesetze zur Rassengleichheit entsprechend í in R.-L.-La mar-Waisenhaus für die bedürftigen Kinder Floridas ge ändert. Young Rollo stattete dieser Institution regelmäßige Besuche ab, meistens am dritten Samstag eines jeden Monats. An diesem Samstag lenkte Rollo seinen blaugrünen Chrysler um zwanzig nach zehn auf den State Highway 98, um noch vor Mittag auf Trocadero Island zu sein. Der Himmel war bedeckt, aber Rollo trug aus alter Gewohnheit seine Sonnenbrille. Er schaltete das Radio ein. »Aus Miami erreicht uns die Nachricht, daß Piero Turino im Alter von zweiundsechzig Jahren gestorben ist. Mr. Turino, ein Forscher, der die Anden eroberte, der Maschi nengewehrfeuer sowie einen Angriff fleischfressender Fi sche überlebt hat, ist einem Herzanfall erlegen. Turino, ein europäischer Graf, der diesen Titel ererbt, aber niemals geführt hat, erblickte in Istrien, das später zu einem Teil Jugoslawiens wurde, das Licht der Welt. Seine letzten Unternehmungen galten medizinischen Forschun gen, bei denen es um Substanzen ging, die er aus dem Amazonasgebiet mitgebracht hatte und von denen er glaubte, daß sie Anti-Krebs-Wirkstoffe enthielten. 1940 war Turino als blutjunger Soldat der italienischen Armee auf dem Balkanfeldzug unweit der griechischen Grenze unter Maschinengewehrbeschuß geraten und hatte eine Brustverletzung davongetragen. Man transportierte ihn zurück nach Albanien, wo er auf ein Lazarettschiff 24
gebracht wurde, das nach Italien auslief. Auf halbem Weg Übet das adriatische Meer wurde das Schiff von einem UBoot versenkt. Auch diesen Angriff überlebte Turino, der von einem vorbeikommenden Schiff aus dem Meer gerettet wurde. In den späten vierziger Jahren emigrierte er nach Kana da, wo er als Schriftsteller und Rundfunkjournalist arbei tete. Später erfand er den nach ihm benannten ZielflugFallschirm, den ihm die amerikanische Regierung abkaufte, und einmal überlebte er sogar einen Testsprung, bei dem er mitten auf einer Schnellstraße in Boston landete. Piero Turino und seine Frau zogen in den sechziger Jah ren nach Miami, und kurz darauf begann er mit seinen Expeditionen nach Südamerika. In Venezuela wurde er beim Tauchen in einem morastigen See von Fischen ange griffen, die ihm die linke Hand und das Handgelenk zer fetzten. Der unerschrockene Turino verlor sehr viel Blut und delirierte bei hohem Fieber, doch wieder überlebte er. Seine Witwe, Isabella Lanapoppi Turino, überlieferte uns seine letzten Worte: ›Ich kann euch nur den Rat geben, so lange wie möglich am Leben zu bleiben, denn wenn man stirbt, verschwindet man für immer. Niemand behält einen Mann so im Gedächtnis, wie er wirklich war.‹« »Und dafür gibt’s auch keinen einzigen gottverdammten Grund«, sagte Rollo laut. Weil als nächstes ein Werbespot kam, stellte er einen anderen Sender ein. »My girl«, sangen die Temptations, »talkin’ ’bout my girl«. Rollo ließ sie singen. Big Betty und Cutie waren an diesem Morgen früh aufge wacht, hatten einander geliebt, waren zusammen unter die Dusche gegangen, hatten sich angezogen, ihre Sachen gepackt und ihre Motelrechnung bezahlt. 25
»Wir trinken unterwegs Kaffee, okay?« sagte Big Betty, als sie in den schwarzen Monaco kletterten. »Hinten liegen noch ein paar Kuchenstücke, wenn du willst.« »Bin nicht besonders hungrig, Bet, danke. Wo fahren wir eigentlich hin?« »Trocadero Island, da wollt ich schon immer mal hin. Da gibt’s ein Vogelschutzgebiet. Und außerdem wird’s langsam Zeit, daß wir uns wieder an die Arbeit machen, findest du nicht?« »Ordnung schaffen für Gott?« Betty lachte. »Ja, meine Kleine hat’s gern ordentlich.«
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MISS CUTIE: IHRE FRÜHEN JAHRE
Cutie Early kam in Daytime, Arkansas, 1150 Einwohner, als Tochter von Naureen (geborene Härder) und Arien »Left« Early zur Welt. Kurz nach ihrer Geburt zogen die Eltern nach Plant City, Florida, wo Arien bei der Seabord Eisenbahnlinie eine Arbeit als Brückenwart gefunden hatte. Im Laufe der nächsten vier Jahre kamen noch zwei Kinder: ein Junge, Ewell, genannt You, und noch ein Mädchen, Licorice. Da Cutie die Älteste war, fiel ihr die Aufgabe zu, sich um ihre Geschwister zu kümmern, sobald sie dazu in der Lage war, besonders nachdem Naureen ihre unglückselige Zuneigung zu Southern Comfort entdeckt hatte. Etwa zur selben Zeit, als seine Frau in der Flasche eine Freundin fand, fand auch Arien eine, am anderen Ende der Stadt, eine geschiedene Frau mit Namen Vanna Munck, mit der er schon bald mehr als nur gelegentlichen Umgang pflegte. Als Cutie zehn war, verließ der Vater die Familie, um zu dieser Munck zu ziehen. Ein Jahr später, an einem Abend zur Essenszeit, fuhr Naureen ihren gelben Voláre hinüber zu Vanna Muncks Haus, ließ ihn mit lau fendem Motor davor stehen, ging hinein und erschoß Left Early und seine Geliebte mit einer Faustfeuerwaffe vom Kaliber 38, die ihr pflichtvergessener Ehemann ihr einmal gegeben hatte, damit sie sich verteidigen könne, wenn sie allein im Haus wäre. Nachdem sie Arien und Vanna er mordet hatte, stieg Naureen í die zu diesem Zeitpunkt an scheinend stocknüchtern war í wieder in ihr Fahrzeug und fuhr mit Vollgas frontal gegen eine Backsteinmauer hinter der Baptistenkirche von Reach Deep. Die Polizei kam zu dem Schluß, daß sie auf der Stelle tot war. 27
Arlens Bruder Tooker und seine Frau Fairley, die in Tampa lebten, nahmen die Kinder zu sich. You und Lico rice schafften einen beinahe nahtlosen Übergang, aber Cutie hatte Anpassungsprobleme. Ihr erster gravierender Fehltritt ereignete sich, als sie zwölfeinhalb war. Cutie hatte ein Rendezvous mit einem siebzehnjährigen kuba nischen Jungen namens Malo Suerte, und sie waren in Malos Mercury ins Seminole-Autokino gefahren. Turp Puhl, der Wachmann des Kinos, früher einmal Gefängnis wärter in Starke, hegte eine besondere Abneigung gegen Kids, die sich reinschummeln wollten, ohne zu bezahlen. Nachdem er den roten Merc entdeckt hatte, der ohne Licht auf einen der freien Plätze rollte, zog Turp Puhl seinen Revolver und lief schnurstracks auf den Eindringling zu. Sobald der illegale Ankömmling den Motor abgestellt hatte, befahl der Wachmann Malo und Cutie mit vorge haltener Waffe, aus dem Wagen zu steigen. Malo stieß die Fahrertür mit aller Kraft gegen Turp, dem der Revolver aus der Hand fiel. Während der Junge und der Mann mit einander kämpften, lief Cutie um das Heck des Wagens herum, hob die Waffe auf und schoß Turp Puhl einmal in die linke Kniekehle, was diesen dazu veranlaßte, laut zu fluchen und Malo loszulassen. Malo riß Cutie die Kanone aus der Hand, sprang wieder in den Wagen und fuhr davon. Cutie ließ er mit dem verwundeten Wachmann zurück, der sie überwältigte und so lange festhielt, bis die Polizei eingetroffen war. Sie schickten Cutie für achtzehn Monate in die Nabo kov-Jugendverwahranstalt für Mädchen in Thanatossa. Bald darauf durchbrach Malo Suerte das Geländer der Grandy Bridge und ertrank in seinem Mercury, nachdem ihm auf der Flucht vor der Highway Polizei ein Vorder reifen geplatzt war. Mit sechzehn hatte Cutie sich sowohl für ihre Familie als 28
auch für die Polizei von Tampa zu einem Dauerproblem entwickelt. You und Licorice liebten sie, aber da sie genug mit ihren eigenen kleinen Problemen zu tun hatten, blieben sie auf Distanz. Nachdem Tooker unter Cuties Bett ein Messerversteck entdeckt hatte, das einen Hib ben Double Shadow Dolch, eine Mamba mit 15-ZollKlinge, ein Gurkha MK3 und verschiedene italienische Springmesser enthielt, konfiszierte er die Waffen und lieferte sie zusammen mit Cutie bei der Polizei ab. Die Messer hatte ein Freund von ihr gestohlen, ein gewisser Harley Reel, der nebenberuflich als Krabbenverkäufer arbeitete und mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einem Wohnanhänger in Oldsmar lebte. Er hatte Cutie gebeten, die Messer für ihn aufzubewahren, bis er einen Kunden gefunden hätte. Harley Reel bekam vier Jahre in Raiford, und Cutie í die Tooker und Fairley, wie sie dem Richter beteuerten, nie mehr wiedersehen wollten í wurde bis zur Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres nach Thanatossa zurückgeschickt. Seitdem hatte Cutie sich vornehmlich als Kellnerin durchgeschlagen, mit gelegentlichen Gastrollen als Soft nutte. Eine Softnutte war nach ihrer Definition ein Mäd chen, das ohne Zuhälter arbeitet und ihre Verabredungen persönlich trifft, ohne Anzeigen aufzugeben oder sich an Straßenecken zu stellen. Für gewöhnlich nahm Cutie ältere Männer mit, denen es leichtfiel, die vereinbarte Zeit zu bezahlen. Die meisten von ihnen kriegten, wie Cutie fest stellen konnte, ohnehin keinen mehr hoch, was ihr den Job erleichterte, auch wenn den einen oder anderen Freier die Frustration über die eigene Unfähigkeit dazu veranlaßte, sie körperlich zu mißhandeln. Cutie begriff sehr schnell, daß sie das Geld am Beginn des Abends í zu dem in der Regel ein Abendessen gehörte í kassieren mußte, wenn sie sich nachher unangenehme Szenen ersparen wollte. Die Arbeit ohne Zuhälter, der einen beschützte, 29
hatte auch ihre Nachteile, aber Cutie wollte von niemand anderem abhängig sein. In Fort Sumatra war Cutie nach einem unglücklich ver laufenen Rendezvous gelandet, in dessen Verlauf sie sich gezwungen gesehen hatte, einem Kunden ein TantooStiefelmesser zwischen die Rippen zu stoßen. Der Freier hatte Cutie hundert Dollar dafür bezahlt, daß sie ihn auf ihr Haar pissen ließ. In der Regel ließ sie sich nicht auf Perversitäten ein, aber der alte Knacker war schon über siebzig; er schien ganz nett zu sein und hatte ihr verspro chen, daß nichts von dem Urin an ihr Gesicht kommen würde. Trotzdem verlor er die Kontrolle und spritzte sie von oben bis unten voll, und als sie aufsprang, bevor er fertig war, wurde er wütend. Der alte Mann begann, auf sie einzuprügeln, also stach sie zu. Zufällig stand gerade ein Cop vor dem Motelzimmer, als der angestochene Kunde zu brüllen anfing, und Cutie, noch immer triefnaß von dem goldenen Schauer, rannte hinaus. Jetzt paßte Big Betty auf sie auf. Cutie wußte, daß sie ihr vertrauen konnte, daß sie einander vertrauen konnten, und das war í Cutie spürte es í so ziemlich das Beste, was eine Frau von einer anderen erhoffen durfte. Das hatte noch kein Mann bei ihr erreicht, dachte sie, und jetzt war es dafür zu spät. Von den Männern hatten sie und Betty endgültig die Nase voll.
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BIG BETTY: WIE ES DAZU KAM Dubuque »Big Boy« Stalcup, Bettys Vater, maß als ausge wachsener Mann zwei Meter und zwanzig Zentimeter und wog bereits als Sechzehnjähriger zweihundertfünf unddreißig Pfund. Er wuchs auf einer Farm am Suwa noochee Creek im Süden Georgias auf, unweit der Stelle, wo der Suwannee River sich aus den Okefenokee Sümp fen quält. Das Haus der Stalcups war eigentlich keine richtige Farm, sondern ein heruntergekommenes Schlupf loch für Verbrecher. Big Boys Eltern, Mayo und Hilda Sapp, hatten ein berüchtigtes Refugium für gesuchte Diebe, Alkoholschmuggler und Mörder unterhalten. Immer wenn die Hüter des Gesetzes mal ihren Mut zusammen genommen hatten und über das Sanktuarium der Stalcups hergefallen waren, was nicht oft vorkam, hatten die lichtscheuen Logisgäste sich über einen geheimen Tram pelpfad in die Sümpfe verzogen, wo sie sich so lange ver steckt hielten, bis eines der Stakup-Kinder kam, um ihnen zu verkünden, daß die Luft wieder rein sei. Die Stalcups hatten gar nicht ernsthaft versucht, ihr Land zu bearbeiten, das im Jahre 1850 in ein pfändungsfreies Anwesen umgewandelt worden war. Der Krieg zwischen den Staaten war am Stalcup Clan vorbeigegangen; sie waren viel zu große Außenseiter, und die Männer galten bei den wenigen Menschen, die etwas mit ihnen zu tun hatten, als vollkommen verrückt und so gefährlich, daß man lieber darauf verzichtet hatte, sie in den Dienst der Konföderation zu zwingen. Big Boy und seine Frau, Ella Dukes, hatten vier Kinder, von denen Betty das jüngste und das einzige Mädchen war. Ihre drei Brüder, Sphinx, Chimera und Gryphon í 31
die Namen der drei hatte sich Big Boy aus Bulfinch’s Göt ter- und Heldensagen herausgesucht, dem einzigen Buch neben der Bibel, das er besaß í blieben ihr Leben lang auf der Farm. Betty, die von Ella nach ihrer Großmutter Eliza beth Hispanola benannt worden war, einer Nichte des se minolischen Kriegsherren Osceola, war bereits im Alter von vierzehn Jahren mit Duval und Sordida Head davon gelaufen, einem Geschwisterpaar aus Cross City, Florida, die in Valdosta eine Bank ausgeraubt und die Stalcups dafür bezahlt hatten, daß sie sich auf der Farm verstecken durften. Ihre Schilderungen des Lebens in der Stadt hatten Betty fasziniert, deshalb beschloß sie, mit ihnen fort zugehen, als die beiden die Zeit für gekommen hielten. Betty verabschiedete sich weder von ihren Eltern noch von ihren Brüdern, und sie kehrte auch nie wieder auf die Farm zurück. Nachdem Duval sie mehrere Male mißbraucht hatte, wurde er ihrer überdrüssig und gab sie an seine Schwe ster weiter, deren sexuelle Neigungen vor allem Frauen galten. Sordida führte die heranwachsende Betty, die mit vierzehn Jahren schon eine recht stattliche Person war, in die Freuden der Liebe zwischen Frauen ein, der Betty ein deutig den Vorzug gab gegenüber den brutalen Praktiken der Männer, die sich bisher mit ihr befaßt hatten, und das waren außer Duval Head ihre Brüder gewesen, die sie be reits defloriert hatten, als sie neun Jahre alt war, und die sich danach regelmäßig ihrer bedienten, wann immer ei nem oder mehreren von ihnen danach zumute war. Betty erzählte Sordida, daß Sphinx, Chimera und Gryphon ei gentlich den Analverkehr untereinander vorzogen und sie deshalb wohl kaum vermissen würden. Big Betty blieb ein paar Monate lang bei den Heads, und in dieser Zeit überfielen sie Dutzende von Drugstores und Tankstellen und verübten überall in Florida Einbrüche. Eines Tages gingen Duval und Sordida los, 32
um eine Bank in Fort Walton Beach zu überfallen. Betty sollte in der Greyhound-Station auf sie warten, aber sie kamen nicht wieder zurück. Ein Mann und eine Frau, die nach Miami unterwegs waren, gaben Betty das Geld für bdie Fahrt nach New Orleans, einer Stadt, die sie dem Ehe paar aus ihr selber unerfindlichen Gründen als Reiseziel genannt hatte. Betty sollte nie erfahren, daß Duval und Sordida bei einem Frontalzusammenstoß mit einem sechsachsigen Peterbilt Fernlastzug ums Leben gekom men waren, als Duval ihren 72er Dodge Coronet in falscher Richtung auf eine Ausfahrt der Interstate 10 lenkte, um einen Streifenwagen abzuhängen, der sie verfolgte. Betty fand in New Orleans Arbeit als exotische Tänzerin im Club Spasm an der Opelousas Avenue im Stadtteil Algiers. Sie war groß genug, um für einundzwanzig durchzugehen, und niemand fragte nach ihrem Alter. Zwischen ihren Auftritten und gelegentlichen Nebenjobs als Prostituierte ließ Betty es sich gutgehen. Sie rührte we der Drogen noch Alkohol an, weil ihr beides nicht bekam, und hatte statt dessen einige lesbische Beziehungen zu anderen Tänzerinnen und Prostituierten. Viele der Frauen, mit denen Betty verkehrte, waren verheiratet oder hatten feste Freunde, eine Situation, die Betty ganz gele gen kam, denn sie hatte keinerlei Interesse mehr daran, sich an einen Menschen zu binden, nachdem sie entdeckt hatte, wie gern sie allein lebte. Das Alleinsein, ein Zu stand, den sie nie kennengelernt hatte, weder zu Hause noch mit den Heads auf der Landstraße, wurde zu ihrem größten Vergnügen. Schließlich zog Betty weiter nach Houston und nach Dallas, wo ein betrunkener Gast namens Feo Lengua, ein Illegaler aus Nueva Rosita, ihr ein kleinkalibriges Projektil ins Fußgelenk schoß, während sie in Rough Harvey’s Have Faith Sho-Bar auf der Bühne stand. Nach dieser Schußverletzung war Bettys Zeit als Schönheitstänzerin 33
vorbei, und sie arbeitete als Barkeeperin, Kartenausteilerin, Kellnerin, Näherin, Autowaschanlagen-Kassiererin und Nutte í sie ließ so ziemlich keinen Job aus, während es sie von Texas über Louisiana und Mississippi nach Alabama und wieder zurück nach Florida verschlug. Während eines Jobs für eine Gebäudereinigungsfirma in Orlando í sie mußte in einem Ärztehaus nach den Dienststunden saubermachen í wurde Betty eines Abends bei der Arbeit von zwei ihrer männlichen Kollegen brutal vergewaltigt und zusammengeschlagen. Betty zeigte den Angriff bei der Polizei an, von der sie ein paar Tage später darüber aufgeklärt wurde, daß die Beweise nicht ausreichten, um den Fall weiter zu verfolgen. Also kaufte sie sich in Emmett’s Swap City am Orange Blossom Trail in der Nähe der Tupperware International Headquarters eine Beretta Automatic, Kaliber 25, ging zur Wohnung eines ihrer Peiniger, einem leimschnüffelnden Freak namens Drifton Fark, traf ihn mitten in einem olfaktorischen Stupor an und schoß ihm kurz unterhalb des Herzens in die Brust. Danach spürte sie Drifton Farks Kumpan Willie »Call Me Israel« Slocumb auf, einen Schwarzen, der von sich behauptete, ein Miccosukee In dianer zu sein, und der von den Jüngern Christi zum jü dischen Glauben konvertiert war, nachdem er Sammy Davis Jr.’s Bericht über dessen eigene Konversion in sei ner Autobiographie Yes, I can! gelesen hatte. Sie schoß ihm einmal ins rechte Knie und dann in den Unterleib, als er an der Bar der The Blind Shall Lead Lounge gegenüber dem Flying-Tigers-Kampfflieger-Museum saß. Nachdem Betty auf Willie »Call Me Israel« Slocumb ge schossen und ihm dabei zugesehen hatte, wie er zu Boden gestürzt war, wo er sich vor Schmerzen wand und sich die verletzten Körperteile hielt, legte sie die Beretta auf die Theke und forderte den Barkeeper auf, die Polizei zu rufen. Sie kletterte auf den Barhocker neben dem, auf 34
dem ihr Opfer gerade noch gesessen hatte, nahm das Glas, aus dem er hatte trinken wollen, bevor er unterbro chen worden war, und leerte dessen Inhalt í einen dop pelten Johnny Walker Black Lable on the rocks í in einem Zug. Kurz bevor die Polizei eintraf, sagte Betty zum Bar keeper: »Weißt du, das war das erste Mal, daß ein Schnaps mir richtig gut geschmeckt hat.« Betty wurde in die Frauenstrafanstalt Fort Sumatra ein geliefert, wo sie í bis sie Cutie Early begegnete í die mei ste Zeit über für sich blieb. Miss Cutie war wie für sie ge macht, fand Betty, der einzige Mensch, auf den sie sich bis in alle Ewigkeit verlassen konnte, die ideale Freundin für sie. Natürlich hatte Betty noch was vor, aber Cutie, das schwor sie sich, würde auf der großen Hitliste des Le bens immer einen so hohen Platz einnehmen wie sie selbst.
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JEDER MACHT SICH DAS BETT
NACH SEINER FASSON
Auf der Fahrt nach Trocadero Island dachte Rollo Lamar über B. Traven nach, den Schriftsteller, der Zeit seines Le bens darauf bestanden hatte, die Einzelheiten seiner Exi stenz geheimzuhalten, einschließlich seiner Abstam mung, seines richtigen Namens und seiner Herkunft. Rollo, der sich seit jeher für erfundene Geschichten begei stert hatte, war ein großer Bewunderer von Travens Bü chern wie Der Schatz der Sierra Maare, Das Totenschiff, Die Baumwollpflücker, den Romanen seiner Dschungelserie und vielen anderen. Traven hatte alles darangesetzt, seine Spuren zu verwi schen, und das aus gutem Grund, denn in seiner Heimat Deutschland war er ein radikaler Journalist und Aktivist gewesen und von der Polizei gesucht worden. Er flüchtete nach Mexiko, änderte mehr als einmal seinen Namen, arbeitete als Matrose und in den Mahagoniwäldern, bis er schließlich heiratete und sich als Romancier und Kurzge schichtenschreiber in Mexico City niederließ. Traven und seine Frau zogen dort zwei Töchter groß, und als der Re gisseur John Houston seinen Roman Schatz der Sierra Ma dre mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle verfilmte, er langte Traven einen gewissen Grad an Berühmtheit, auch wenn er während seines Engagements als technischer Be rater der Produktion versuchte, sich als ein Freund Travens mit Namen Hai Croves auszugeben. Rollo gefielen nicht nur Travens Romane, sondern auch seine wiederholte Aussage, daß der Mann, der ein Werk geschaffen habe, nicht von Bedeutung sei, daß immer nur das Werk Gegenstand von Untersuchungen sein sollte, 36
nicht aber das Leben des Autors. Natürlich litt Traven un ter Verfolgungswahn und machte sich Sorgen, daß sein Vorleben und eventuelle Straftaten ans Licht kommen könnten. Ob man ihn immer noch wegen irgendwelcher Brandstiftereien zur Rechenschaft ziehen wollte, war mehr als fraglich, und dennoch entwickelte »der Mann, den niemand kennt« í wie er sich selbst hochstilisierte í eine strikte Philosophie, die auf dem Postulat der Bedeu tungslosigkeit des Autors basierte. Das leuchtete Rollo ein, und während er so dahinrollte, überlegte er sich, daß es auf der Welt wahrlich Schlimme res gab, als völlig anonym und nur noch sich selbst bekannt zu sein. Auf diese Weise würde das reale Geschehen unwichtig, und übrigbleiben würde nur noch das elementare Zeugnis eines Lebens, das die eigentliche Wahrheit dokumentierte, die nachzuprüfen nicht nötig wäre. Das Leben selbst ist schwer genug, dachte Rollo. Retrospektive Ermittlungen, das wußte Traven, konnten nichts von wirklichem Wert ans Licht bringen, und so hatte er sich eben nach Kräften bemüht, seine Herkunft zu verschleiern. Kein leichtes Unterfangen, berücksichtigte man Umfang und Qualität seines Werks und die Tatsache, daß es für die Öffentlichkeit bestimmt war. Rollo, der mit seinen vierundsechzig Jahren eine un heimliche Ähnlichkeit í wenn auch von dunklerem Farb ton í mit dem Schauspieler Broderick Crawford in dem 1955 gedrehten Film Blutgeld hatte, verspürte weder den Wunsch zu verschwinden, noch hätte es einen Grund dafür gegeben. Es gab nichts in seiner Vergangenheit, das er hätte verbergen müssen. Eigentlich, so mußte er zugeben, war sein Leben sogar ziemlich eintönig verlaufen, durch keinerlei emotional wirklich bedeutsame Ereignisse ge prägt; trotz des Todes seiner Mutter, als er noch ein kleiner Junge war, und der ungewöhnlichen Umstände sei ner Erziehung durch die Lamars. Er hatte keinerlei 37
Verpflichtungen, außer sich selbst gegenüber, und auch keine erwähnenswerten Beschwerden. Während er seinen Wagen über die Trocadero Island Bridge lenkte, fragte er sich, ob es wohl schon zu spät sein mochte, noch etwas daran zu ändern. Als er die Brücke hinter sich hatte, fuhr Rollo auf den Vorplatz von Jasper Pasco’s Angelsteg und Gemischtwa renladen, einem regelmäßigen Zwischenstop auf seiner Fahrt hierher. Rollo wollte sich die Beine ein wenig ver treten, und normalerweise hatte er Spaß an seinen Besu chen bei Jasper Pasco, den er kannte, seit ihn der Richter vor dreiundfünfzig Jahren zum erstenmal auf die Fahrten zum Waisenhaus mitgenommen hatte. Jasper mußte in zwischen mindestens achtundachtzig Jahre alt sein, schätzte Rollo, aber er war immer noch mehr als in der Lage und bereit, wie ein Wasserfall auf einen einzureden, ohne daß man ihn dazu ermuntern mußte. Rollo streckte Arme und Beine und beugte so gut es ging den Rumpf, bevor er den Laden betrat. Noch bevor das Fliegengitter hinter ihm zugeklappt war, hatte Jasper ihn schon am Wickel. »Siehst aus wie einer, der ‘ne Quetsche gebrauchen könnte, um ‘ner Bisamratte das Fleisch aus dem Pelz zu drücken!« rief der Alte zu ihm herüber. Er thronte auf ei nem hohen Hocker hinter einem Tresen aus Holz, der mit einer kunterbunten Mischung von Waren vollgepackt war, Dingen wie lilafarbenen Tennisschuhen, einem Eimer gebrauchter Golfbälle, Imprägniermittel zur Behand lung von Schleppnetzen, Laiben von Wonder Bread, Nä geln verschiedenster Art und Größe, roten Kartoffeln, einer LP mit Conway Twittys Greatest Hits, grünen Base ballmützen mit der Aufschrift Red Man Tobacco und vie lem mehr. An der Wand hinter Jasper hing ein 24 x 30 cm großes, gerahmtes Photo von John F. Kennedy, vom er mordeten Präsidenten handsigniert und mit der Wid 38
mung: »Für J. Pasco, in dessen Köder noch so mancher Katzenfisch beißen möge«. »Hab’ schon als kleiner Junge keine Lust mehr auf Bi samratten gehabt«, sagte Rollo. »Dann mach’ ich jede Wette, daß du auf Hühnerhälse aus bist«, sagte Jasper. »Wülste angeln?« »Nein, danke, Jasper. Bin unterwegs, um nach den Wai sen zu sehen, wie gewöhnlich. Verstehst du, die sind nicht in die Welt gesetzt worden, damit sie jede Nacht auf denselben vollgepißten Bettlaken schlafen müssen.« Jasper brummte. »Hab’ seit sechs, sieben Jahren nicht mehr ins Bett gepißt, seit ich ‘n verstopften Schwanz hab’. Damals war ich nur mit Schnaps voll, jetzt bin ich voll mit Pisse und Schnaps. Hä!« Rollo lächelte und schüttelte Pasco die von Leberflecken übersäte rechte Hand. Mit der Linken langte Jasper nach unten und massierte seinen nackten linken Fuß. »Hab’ Fußpilz, Rollo. Der Doktor sagt, ich soll Socken tragen, aber ich kann Socken nicht ausstehen. Ich kann Socken nicht ausstehen, genausowenig wie ich es ausste hen kann, daß meine Nachbarn mich alle wegen dem Pig gly Wiggly im Stich gelassen haben, gleich als der aufge macht hat oben am Highway. Bin damals ‘ne Seele von ‘nem Menschen gewesen, Rollo, hast mich ja gekannt. Und dann kam dieses verlogene Arschloch Scaramouche í als der Senator werden wollte, hat er mir den Job als Wildhüter versprochen, wenn ich die Wähler hier auf seine Seite bringe, und später dann kein Wort mehr davon. Damals ging das richtig los mit meinem Pech. Als er dann nach Washington rauf ist, innen Kongreß, da hab’ ich ihn gebeten, ob er das mit dem Piggly Wiggly nicht verhin dern kann, weil der mir das Geschäft kaputtmacht, aber das Arschloch hat nich mal geantwortet. Und am Telefon wollte er sich auch nicht melden. Nein, nein, meine gute 39
Laune ist beim Teufel, das kann ich dir flüstern. Aber ich bin derjenige, der zuletzt lacht. Wirst schon sehn.« »Ach, Jasper, halt die Klappe«, sagte eine dürre Frau mit Adlernase, die auf dem anderen Hocker hinter dem Tresen thronte. Sie rauchte eine filterlose Zigarette und schien so um die zehn, fünfzehn Jahre jünger als Jasper zu sein. »Hallo, Hermina«, sagte Rollo zu der Frau, die seit sechsundvierzig Jahren mit dem alten Pasco verheiratet war. »Wie geht’s denn so?« Hermina stieß ihre Version eines Lachens aus, ein lang gezogenes Kreischen, als hätte ihr jemand von hinten einen Eimer Eiswasser über den Kopf gegossen. »Diesen Idioten da vor sich selber schützen, zu was an derm komm ich ja nich«, sagte Hermina. »Kein Mann auf der ganzen Welt macht einem mehr Kummer als dieser Mr. Pasco, das kann ich dir flüstern.« »Was erwarteste denn, wo die Welt doch immer mehr vor die Hunde geht?« keifte Jasper. »Wo die Leute nicht mal mehr ‘n Versprechen halten! Seht ihr den Pritschen wagen, der da vorbeifährt?« sagte er und deutete hinüber zur Straße. »Fischt Garnelen mit dem Schmetterlingsnetz, der Kerl. Schmetterlingsnetze sind der Untergang der Zivilisation! Den Kühlschrank-Mann krieg ich nich mehr dazu, daß er hier zu mir rauskommt. Der Tabak-Mann kommt zu spät. Remar, der Cracker-Mann, hat sich seit zwei Wochen nicht blicken lassen. Und die krummbeinige Linda, das Napfkuchen-Mädchen, haben wir nicht mehr zu sehn gekriegt, seit sie nach Pensacola ist, um ihre Mama unter die Erde zu bringen.« »Um ihre Mama unter die Erde zu bringen, daß ich nicht lache«, krächzte Hermina. »Die Kleine läßt sich von der halben US-Marine flachlegen, so sieht das aus.« »Ich hab’ was gesehn von der Welt«, sagte Jasper. »Dogpatch USA, Six Flags Over Texas, Rock City, Disney 40
World. Ich bin rumgekommen. In Dothan, Alabama, hab’ ich mal mit Connie Francis ‘n Coke getrunken. Oder war’s ‘n Bier mit Crystal Gayle in Calhoun, Georgia? Wie war das noch, Hermina?« Hermina kreischte und hustete und stieß dabei ihre kleinen Rauchwölkchen aus. »Lach du nur, Frau! Rollo, die ganze Golfküste rauf und runter kannste die Leute nach diesem Laden hier fragen, und wenn sie mich nicht kennen, dann hamse von nix ‘ne Ahnung.« »Bin nur vorbeigekommen, um guten Tag zu sagen, Ja sper«, sagte Rollo, »und um ‘ne Rolle Spear-o-mint Ret tungsringe mitzunehmen, wenn du welche hast.« Japser wühlte in einem Haufen herum und brachte etwas zum Vorschein. »Hab’ nur noch Pep-o-mint«, sagte er. »Auch recht«, sagte Rollo, nahm die Rolle Pfefferminz von Jasper und gab ihm vier Zehner dafür. »Dank dir, Rollo. Und daß du dich bald wieder mal blicken läßt.« »Wenn ich das nächste Mal herkomme, Jasper. Paß auf dich auf, bis dahin. Und du auch, Hermina.« Jaspers Frau saß da und rauchte, die Augen hinter den Runzeln ihrer schlaffen Haut versteckt. »Jeder macht sich sein Bett nach seiner Fasson«, sagte sie. Auf dem Weg zu seinem Wagen wickelte Rollo die Ret tungsringe aus, steckte sich einen in den Mund und wollte gerade einsteigen, als ihn von hinten eine Stimme fragte: »Was meinen Sie, Mister, braucht der Teufel einen Komplizen?« Als Rollo sich umdrehte, stand dort eine große Frau mit teigigem Gesicht und kleinen rosa Äuglein, die eine Schußwaffe in der rechten Hand hielt. Sie zielte damit auf Rollos Bauch. 41
»Nicht aufregen, Schätzchen«, sagte Big Betty, »Du darfst selber fahren.« Betty öffnete die Fahrertür, stieg ein und rutschte hinüber auf den Beifahrersitz. »Nun komm schon, steig endlich ein«, befahl sie. Rollo gehorchte und ließ dabei die Pfefferminzrolle auf den Bo den fallen. »Also, wie denken Sie nun darüber?« fragte sie, als Rollo den Motor anließ und den Gang einlegte. »Worüber?« »Na darüber, ob der Teufel einen Komplizen braucht.« »Ich habe keine Ahnung.« »Sie werden’s erfahren«, sagte Big Betty.
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WANZEN Cutie hielt sich mit dem schwarzen Monaco dicht hinter dem blaugrünen Chrysler, als die beiden Autos in Kolonne an der Abzweigung zum R.-L.-Lamar-Waisenhaus für die bedürftigen Kinder Floridas vorbeifuhren. Big Betty drückte Rollo vorne im Chrysler die Mündung ihres Re volvers gegen die rechte Kniescheibe, während er sich beim Fahren an ihre Anweisungen hielt. Rollo stellte keine Fragen. Er dachte an Bobby Dean Baker, daran, wie sie ge stern ausgesehen hatte, als sie in seinem Büro vor ihm stand, und für den Fall, daß er lebend aus dieser Situation í und was auch immer daraus werden würde í heraus kommen sollte, beschloß er alles daranzusetzen, aus dieser geschäftlichen Verbindung auch eine private zu machen. Immerhin war Bobby Dean frei, und zweifelsohne war sie ihm freundlich gesonnen. In Egypt City, dachte Rollo, gab es nicht viele Frauen í egal, welcher Altersgruppe í die ei ne so tolle Figur wie Bobby Dean Baker hatten. Er fragte sich, ob sie wohl von seinem fünffachen Bypass erfahren hatte und ob eine solche Information sich zu seinen Gun sten oder gegen ihn auswirken würde. Schließlich gewann die Neugier aber doch die Oberhand in ihm. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie frage, was das alles soll«, sagte Rollo. »Hoffnung, genau darum geht’s«, antwortete Big Betty. »Biegen Sie hier links ab.« Rollo befolgte die Anweisung, und jetzt fiel ihm der dunkle Dodge auf, der sich seinem Chrysler an die Fersen geheftet hatte. »Die nächsten zehn Meilen fahren Sie immer geradeaus, dann sage ich Ihnen, wie’s weitergeht.« 43
»Gehört die Person, die uns nachfährt, zu Ihnen?« Betty lachte. »In jeder Hinsicht, so als wären wir zusam mengewachsen. Schon mal was von den Zwillingen aus Belle Farouche in South Dakota gehört? Darlene und Do lores?« »Was ist mit denen?« »Die standen sich wahrscheinlich genauso nah wie Cu-tie und ich. Übrigens, ich heiße Betty Stalcup. Und Sie?« »Rollo Lamar.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Rollo. Für ‘n kaffeebraunes Modell älteren Baujahrs sehn Sie gar nicht mal so übel aus. Jedenfalls, die beiden Mädchen in Belle Farouche waren angeklagt, einen Mann ermordet zu haben, den jede der beiden Schwestern zweimal geheiratet hatte. Ich hab’ den Zeitungsausschnitt, falls die Einzel heiten Sie interessieren.« »Von mir aus.« Big Betty zog den Artikel aus ihrer Hemdtasche, faltete ihn auseinander und begann zu lesen: »›Die Geschworenen befanden die eine Frau für schuldig des gemeinschaftlich begangenen Mordes, sprachen ihre Zwillingsschwester jedoch von der Anklage frei, zum Mord an dem fünfundachtzigjährigen Mann, den beide zweimal geheiratet hatten, Beihilfe geleistet zu haben. Darlene Phillips wurde der schwersten Anklage für schuldig befunden, von allen anderen Anklagen jedoch freigesprochen. Ihre Schwester, Dolores Christenson, wurde in allen Anklagepunkten für nicht schuldig befun den. Phillips erhielt eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Phillips und Christenson, 46, waren beide viermal ver heiratet. Beide waren bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten, bevor man sie der Tötung des Walter Gibbs an klagte, der am 1. April 1990 in seinem Haus in Lemmon ermordet worden war. ›Walter war ein richtig netter Kerl, bevor er sich mit 44
diesen schwachsinnigen Zwillingen einließ‹, sagte Lillian Burns aus Morristown, deren Ehemann George ein enger Freund von Gibbs war. ›Die sind ja verrückter als ein Bett voller Wanzen.‹ Jerome Phillips, 38, ein vorbestrafter Viehdieb, der mit Darlene verheiratet ist und behauptet, in ihre Schwester ver liebt zu sein, gestand, Gibbs mit einem Kopfkissen erstickt zu haben. Bei der Verhandlung gegen die Zwillinge sagte er diese Woche aus, Darlene habe ihm dabei geholfen, das Opfer festzuhalten. Am 21. Mai bekannte Phillips sich des gemeinschaftlich begangenen Mordes für schuldig. Die Zwillinge wurden angeklagt, den Mord mitgeplant und dabei geholfen zu haben, den gebrechlichen Gibbs zu töten. Phillips sagte aus, er und die Zwillinge hätten meh rere Diskussionen darüber geführt, wie der Mord an Gibbs auszuführen sei, der Christenson als Alleinerbin seines Vermögens von 178 000 Dollar eingesetzt hatte. Christensons Verteidiger Bob Van Norman machte den Geschworenen gegenüber geltend, daß seine Klientin über die geistige Kapazität einer Zweitklässlerin verfüge und nicht genug Verstand besitze, um Gibbs’ Tod geplant zu haben oder auch nur zu wissen, daß man es den Behörden melden müsse, wenn man von einem solchen Mordplan erfährt.‹ In dem Punkt unterscheiden Cutie und ich uns natürlich von denen«, flocht Big Betty ein, bevor sie den Artikel weiter vorlas: »›Gibbs war achtundfünfzig Jahre alt, als er die Christenson, die damals erst achtzehn war, zum er stenmal heiratete. Ungefähr zehn Jahre später wurden sie geschieden, und er heiratete Darlene. Eine weitere Schei dung, zwei Wiederverheiratungen mit den Zwillingen und eine andere Ehe summierten sich zur Gesamtzahl von insgesamt fünf Ehen. ›Selbst ihre Bekannten kommen damit durcheinander.‹ sagte Burns. 45
Darlene Phillips sitzt bereits eine Haftstrafe von fünfzig Jahren ab, weil sie im Jahre 1989 versucht hatte, Gibbs Bauernhaus in Brand zu stecken, während er auf der Couch schlief. Ein Nachbar entdeckte das Feuer und konnte Gibbs rechtzeitig in Sicherheit bringen. Wegen der Brandstiftung wurde sie im August 1990 verurteilt, vier Monate nach Gibbs Tod. Die Polizei glaubte zunächst, daß Gibbs eines natürlichen Todes gestorben sei. Ein Verdacht kam erst auf, als man mehrere Monate später den Hinweis erhielt, Darlene Phillips plaudere im Gefängnis Einzelheiten über einen Mord aus. Gibbs Leiche wurde 13 Monate nach der Beer digung exhumiert. Bis dahin waren die Behörden davon ausgegangen, daß er im Krankenhaus von Lemmon ge storben sei, einer Stadt mit 1600 Einwohnern im Nordwe sten South Dakotas, nur drei Blocks von der Grenze nach North Dakota entfernt. Man brachte seine Leiche zwar ins Krankenhaus, stellte später jedoch fest, daß er bereits tot war, als der Krankenwagen ihn abgeholt hatte. Jerome Phillips sitzt eine achtjährige Gefängnisstrafe für einen Schaf- und Schweinediebstahl ab, den er im letzten Jahr begangen hat. Christenson mußte sechzig Tage im Gefängnis bleiben, weil sie ihm dabei geholfen hatte. Darlene Phillips hatte ihren gegenwärtigen Ehemann vor ein paar Jahren im Staatsgefängnis für Männer und Frauen kennengelernt, wo sie eine Strafe absaß, weil sie ein Haus in Bison niedergebrannt hatte, während er wegen Scheckbetrugs einsaß. ›Die Zwillinge sagen, ich sei wie ein Bruder für sie‹, be richtet Lemmons Polizeichef Nick Schaefer. ›Ich habe kei ne Ahnung, warum, schließlich hab’ ich sie schon ein paarmal eingelochte« »Sie und Ihre Freundin Curie haben dieselbe Philosophie wie diese Frauen, stimmt’s?« fragte Rollo. »Von Philosophie versteh’ ich nichts«, antwortete Big 46
Betty, »aber wir leben nicht mehr in einer reinen Männer welt, oder haben Sie das noch nicht bemerkt?« Sie entdeckte ein verwittertes Hinweisschild mit der Aufschrift: ANGEL- UND SCHIESSCLUB TROCADERO ISLAND í ZUFAHRT NUR FÜR MITGLIEDER.
»Fahren Sie da rein«, befahl Betty. »Wir sind da.«
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DAS VERSTECK Das Gebäude des Angel- und Schießclubs von Trocadero Island stand seit siebzehn Jahren leer, seit jenem Tag, an dem ein gecharterter Autobus mit allen zweiunddreißig Clubmitgliedern an Bord von der Trocadero Island Bridge in den Golf von Mexiko gestürzt war. Der Fahrer, ein dreiundfünfzig Jahre alter, einäugiger honduranischer Staatsbürger namens Eusebio Refrito, war kurz nach Mit ternacht des Tages, an dem die Clubmitglieder von ihrem alljährlichen Wochenendausflug nach New Orleans zu rückkehrten, am Steuer eingeschlafen. Mehr oder weniger die gesamte Reisegesellschaft war sinnlos betrunken, als der Bus die Leitplanke durchbrach. Alle Passagiere ertranken, auch Eusebio Refrito, der eingeschlafen war, während er träumerischen Gedanken an seine siebzehnjährige Cousine zweiten Grades nachhing, Nefaria Reina, die immer noch in Tegucigalpa lebte und mit der Eusebio eine sexuelle Beziehung angefangen hatte, als sie zwölf und er achtundvierzig war. Er hatte Nefaria seit sieben Monaten nicht gesehen, weil er der wirtschaftlichen Katastrophe in seinem Land den Rücken gekehrt hatte und in einem SASHA Jet í versteckt in einer Kiste, die zur Hälfte mit Macheten gefüllt war í über Mia mi illegal in die Vereinigten Staaten eingereist war. In dem Augenblick, als die Schnauze seines Zwei-MillionenMeilen-Veteranen auf amerikanischen Fernstraßen das Brückengeländer durchbrach, malte Refrito sich gerade aus, wie die halbnackte Nefaria mit ihrer violetten Zun genspitze an der pulsierenden, dunkelroten Vene seines auf Lineallänge erigierten Penis entlangfuhr. »Mi primal« rief Eusebio eine Millisekunde nach dem Aufprall aus, als 48
er noch nicht wußte, daß die Nervenstränge seines Rückenmarks bereits durchtrennt waren. Big Betty und Cutie waren in der Nacht vor Rollo La mars Entführung in den Club eingezogen. Betty ließ Rollo und Cutie beim Betreten des Gebäudes den Vortritt. In der großen Eingangshalle gab es nichts als das zusam mengerollte Bettzeug der beiden Frauen, einen Camping kocher und Kochgeschirr. »Wo sind wir hier?« fragte Rollo. »Aaron reckte seine Hand aus mit seinem Stabe und schlug in den Staub der Erde, und es wurden Läuse dar aus«, sagte Cutie. »Der Staub ward zu Läusen überall in Ägyptenland. Das steht im Exodus.« »Männer sind Läuse«, sagte Betty. »Und an Ihnen füh ren wir unser ganz privates Experiment der Umerzie hung durch, Mr. Lamar. Wir wollen herausfinden, ob wir einen Mann auf den rechten Weg zu Gott bringen kön nen, bevor das Schwert sein rasches Werk vollendet.« »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren würde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen«, fügte Cutie hinzu. Big Betty nickte und fiel ein: »Nikodemus aber sagte zu ihm: ›Wie kann ein Mann geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn ein zweites Mal in den Bauch seiner Mutter kriechen und geboren werden?‹« Cutie schloß die Augen und fuhr fort: »Jesus aber antwor tete: ›Wundert euch nicht, daß ich zu euch sage: Ihr müßt von neuem geboren werden.‹ Das steht bei Johannes.« »Mein Gott«, sagte Rollo. Big Betty schlug Rollo die Waffe an die linke Schläfe, und er fiel zu Boden. »Sie haben keinerlei Anspruch, Mr. Lamar«, erklärte sie. »So läuft das hier nicht. Schon Eimer Ernest Southard hat in seinem Buch Das Königreich des Bösen geschrieben: ›Be vor du den Gral bekommst, mußt du den Drachen töten.‹«
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WAVELAND, MISSISSIPPI »Hab’ mal gesehen, wie ein Mädchen in Waveland, Mis sissippi, am Strand von einem Blitz erschlagen worden ist«, sagte Cutie. »War mal gerade zehn oder so, ungefähr so alt wie ich damals. Hab’ gesehn, wie sie ihren Leuten geholfen hat, das ganze Strandzeugs hinten ins Auto zu packen, und da hat der Blitz sie getroffen. Hat ihr den Ei mer direkt aus der Hand geschlagen. Hat das Mädchen gegrillt, und dabei hätt ich’s sein können.« Es war zwei Uhr nachts; Big Betty und Cutie lagen zu sammen in einem Doppel-Schlafsack. Auf ihrem Transi storgerät hatten sie einen UKW-Sender eingestellt. Mit sanfter Falsettstimme sang Clyde McPhatter gerade »Warm Me Up«. Rollo schlief ein paar Meter entfernt in einem Extraschlafsack. »Muß schrecklich für dich gewesen sein, Mäuschen, wo du noch so klein warst und so leicht zu beeindrucken und so. Wenn sowas passiert, das prägt einen Menschen fürs Leben, und ein Kind ganz besonders.« »Glaub nicht, daß es mir seelisch geschadet hat, falls du das meinst.« Betty strich Miss Cutie durch die Locken. Es war so dunkel im Raum, daß sie Cuties Haar nicht sehen konnte. »Ich schwöre dir, Mäuschen, ich kann das Rot spüren. Es kommt aus dem Inneren und explodiert in den Haaren.« »Kann mich an einen Kerl erinnern, Cleon Tone, damals in Arkansas, der hatte ‘ne Gemeinde, die nannte sich Kirche des Neuanfangs.« »Hört sich gut an.« »Hm-hm. Er hat immer gesagt: ›Euch allen will ich je 50
den Tag einen Neuanfang gewähren. Jeder soll seine neue Chance kriegen.«« »Hört sich irgendwie gerecht an«, sagte Betty. »Ist es so gekommen?« Cutie kicherte im Dunkeln. »Hätt er wohl gern gehabt! Unter die Räder gekommen ist er, der saubere Cleon, und das lag an den dynamischen Reizen von Aristidia Quenqui, der Frau eines Diakons. Cleon Tone hat den Ehemann losgeschickt, Wolldecken für die Armen sammeln, und währenddessen hat der mächtige Pastor Saubermann Mrs. Quenqui etwas mehr als nur eine neue Chance geboten. Eines schönen Samstagnachmittags ist Mr. Alford Quenqui wohl etwas zu früh nach Hause gekommen.« »Muß ‘n hübscher Anblick gewesen sein.« »Er hat sie beide erwürgt. Das Übliche. Zuletzt saß Mr. Quenqui zum Abkühlen in der staatlichen Besserungsan stalt in Seagoville, Texas.« »Es gibt keine Happy-Ends mehr, Miss Cutie.« »Und du glaubst, daß wir bei diesem Farbigen ein Wunder bewirken können?« »Ein großes Jauchzen hebt an, wenn der Gerechteste so gleich in heiliges Fleisch verwandelt wird und gen Him mel fährt, um dem Herrn zu begegnen. Und dann das Durcheinander hinterher, Cutie, wenn das Gesuche nach all den verschwundenen Leuten losgeht. Unser Mr. Lamar wird entweder gen Himmel fahren oder vergessen werden.« »Und was dann, Bet?« »Jauchzende heilige Bräute von Miss Jesus, so wie wir, werden sich sieben Jahre lang auf dem Hochzeitsfest ver gnügen, während über den Rest der Welt, einschließlich der Idioten, die sich Christen nennen, das große Leid kommen wird, und die meisten werden dahingemetzelt.« »Wie?« 51
»Gewitterstürme, nehme ich an, wie bei der Kleinen am Strand von Waveland, Mississippi. Die Gerechten werden errettet, doch diejenigen, die nicht bereuen, gehen zu grunde. Wir werden unter den Schuldlosen sein, Miss Cutie. Nicht einmal jeder Zehnte wird gerettet werden.« Curie schloß die Augen und flüsterte: »Und weil du lauwarm bist, weder heiß noch kalt, spucke ich dich aus meinem Mund.« Big Betty rutschte nach unten und leckte den erigierten Nippel an Cuties linker Brust.
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DUKES KOFFER Vernon Duke Douglas konnte das Bild der beiden ent haupteten peruanischen Seeleute nicht aus seinem Ge dächtnis tilgen. Duke, wie seine Freunde ihn nannten, war sechsunddreißig Jahre alt und ledig. Er lebte in einem schmucklosen Bungalow an der Coffee Street in Chalmette, einem Arbeitervorort von New Orleans, wo er regelmäßig bei Rocky & Carlo’s am St. Bernard Highway speiste. Seine einsamen Drinks nahm er in Checkerboard Chucky’s Change of Heart Bar im nähegelegenen Arabi zu sich, an der Grenze nach Little Saigon. Wenn er keinen Dienst hatte, widmete Duke den Großteil seiner Zeit dem Studium der Astronomie, wobei er sich besonders auf die Kometen spezialisiert hatte. Es war sein Ehrgeiz, eines Tages einen periodischen Kometen zu entdecken, der dann nach ihm benannt würde, so wie nach De Cheseaux, Biela, Di Vico, Encke, Donati, Tuttle, Coggia, Swift, d’Arrest und í der berühmteste von allen ínach Halley. Eine Zeitlang hatte Duke sich vor allem für kleinere Planeten, für Planetoiden interessiert í Ceres, Pallas, Ju no, Vesta, Iris, Flora, Hygiea, Astraea usw. í aber dann, als er erfuhr, daß sich ein Komet in einer Umlaufbahn von so niedriger Exzentrizität befand, daß es beinahe schon die Umlaufbahn eines kleinen Planeten sein konnte, erwachte seine Begeisterung für den Kometen Schwassmann-Wachmann I. Auf den ersten Blick kann man Kometen natürlich nicht von kleineren Planeten un terscheiden, aber zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter geschieht etwas Seltsames: Die Umrisse des Kometen erscheinen weniger deutlich, und dann, wenn 53
er sich dem Mars nähert, bekommt der Komet seinen Schweif. Girolamo Fracastoro í zusammen mit Tycho Brahe und dessen Mitarbeiter Johannes Kepler, den Entdeckern der Gesetze der Planetenbewegungen, gehörte er zu Dukes Helden í hatte herausgefunden, daß ein Kometenschweif immer von der Sonne wegzeigt, wenn der Komet sie um rundet. Im Perihel, in großer Sonnennähe, verliert der Ko met seinen Schweif womöglich ganz, um dann einen neuen auszubilden; und auch wenn ein solcher Schweif am Nachthimmel deutlich zu erkennen ist, so ist er doch bei nahe ephemer. Duke war verblüfft zu erfahren, daß der Schweif des Halleyschen Kometen, wenn man ihn auf die Materialdichte von Eisen komprimieren könnte, in dem kleineren seiner beiden Samsonite Koffer Platz hätte. Die Köpfe von Ernesto und Dagoberto Reyes kamen Duke wie Kometen vor, die man aus ihrer Umlaufbahn ge rissen und der Schweife beraubt hatte. Als er in der TimesPicayune über eine ganze Serie von Enthauptungen las, die entlang der Westküste von Florida í ausschließlich an Männern í verübt worden waren, beschloß Duke, seine Freizeit zu opfern, um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Es war natürlich möglich, daß es sich um eine nicht periodische Aktivität handelte, aber sein Instinkt, der sich in anderthalb Jahrzehnten Forschungsarbeit und Beobach tung herausgebildet hatte, sagte ihm, daß die Vermutung einer Verbindung zu den beiden ausgehöhlten Köpfen aus Callao sich als stichhaltig erweisen würde, mochten die El lipsen auch noch so eng oder exzentrisch sein. Duke wußte, daß die Erscheinung eines Kometen im alten Rom als böses Omen galt, dem die Leute die Schuld an so mancher verlorenen Schlacht gaben. Duke wußte auch, daß er mit Sicherheit nicht als erster auf die Idee ge kommen war, daß die Sieger der Schlacht anderer Mei nung sein könnten. 54
DAS TIER »Die Wolken hier sind wunderschön.« »Sie waren schon immer die größte Attraktion Floridas, Mäuschen. Besonders bei Sonnenuntergang.« »Ich glaube, auf einer Insel sieht der Himmel anders aus«, sagte Cutie. »Wenn man auf einer ist, mein ich. So gar die Düsenflugzeuge fliegen einfach so drüber, als wenn wir hier unten verloren wären, vergessen von der Welt.« Betty lachte und legte ihrer Freundin die Arme um die Schultern. »Die Welt vergißt uns schon nicht, Mäuschen, wir müs sen ihr nur genug Souvenirs hinterlassen, Beweise dafür, daß wir es ernst meinen.« »Werden wir Mr. Lamar heute vormittag tätowieren?« »Wie geplant. Wir müssen ihn kennzeichnen, bevor wir mit den Lektionen beginnen.« »Und Er veranlaßte sie alle, den Kleinen und den Gro ßen, den Reichen und den Armen, den freien Mann und den Sklaven, sich ein Zeichen auf die rechte Hand oder auf die Stirn setzen zu lassen.« Betty nickte und antwortete: »Hier ist die Weisheit. Las sen wir ihn, der Verstand besitzt, die Zahl des Tiers be- rechnen, denn es ist die Zahl des Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.« »Miss Jesus ist unsere Zeugin«, sagte Cutie, und dabei funkelten ihre großen schwarzen Augen, »wenn jemand das Tier und sein Abbild anbetet, und dafür ein Brandmal auf die Stirn oder die Hand empfängt, dann muß er den Urin des göttlichen Zorns trinken, der in voller Stärke in den Becher der Wut gemischt wird, und man wird ihn 55
mit Feuer und Schwefel foltern, in der Gegenwart der Heiligen Engel í das sind wir í und in der Gegenwart des Lamms.« Als Cutie und Betty, die nackt auf der Veranda des An gel- und Schießclubs von Trocadero Island standen, sich in die Arme fielen, verdunkelte gerade eine große Regen wolke die Sonne. »Und der Rauch von ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit«, sagte Betty, »und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht, die das Tier anbeten und sein Bild, und wer das Zeichen seines Namens annimmt.« Die Frauen lösten sich voneinander, traten zurück und blickten sich an. Gleichzeitig schössen ihnen die Tränen in die Augen. »Wie machen wir’s?« fragte Cutie. »Rasiermesser. Das, mit dem ich die Seeleute behandelt hab’. Ist noch scharf genug.« »Kopf oder Hand?« »Beides. Mr. Lamar ist gerissen. So ‘n überflüssiges Teil schneidet er sich womöglich ab.« Cutie lächelte und sagte: »Du bist noch gerissener, Bet.«
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SCHNEEBÄLLE »Was sagen Sie zu dem Fünfhundert-Pfund-Mann, den sie am Flughafen in Miami erwischt haben bei dem Versuch, über dreihundert Gramm Crack unter den gewaltigen Speckfalten seines Bauchs reinzuschmuggeln? Hunde haben den Stoff gerochen í Schäferhunde. Den größten Teil seines Gewichts wird der Junge im Gefängnis verlie ren; wahrscheinlich das Zweitbeste, was ihm passieren konnte. Kommt als neuer Mensch wieder raus.« Vernon Duke Douglas sah auf seine Timex. Noch zwanzig Minuten bis zur Landung in Tallahassee, dann würde er der Frau auf dem Nebensitz nicht länger zuhören müssen. Sie war etwa in seinem Alter, spindeldürr, eine Brünette mit grünen Augen und nicht einmal ganz unattraktiv, aber sie hatte schon vor dem Start in New Orleans zu quasseln angefangen und seitdem nicht wieder aufgehört. Ihr Name war Petronia Weatherby, und sie hatte sich Duke mit den Worten vorgestellt: »Ich sage Ihnen meinen Namen, aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie mich nicht fragen: ›Was wir wohl für ‘n Wetter haben werden?‹ oder ›Wie das Wetter wohl wird?‹ Das kriege ich ständig zu hören.« Sie hatte Duke den Grund ihrer Reise mitgeteilt, aber der war längst vom Konto seines Gedächtnisses abgebucht. »So ein Gespräch läßt die Zeit schneller vergehn, finden Sie nicht, Mr. Douglas?« sagte Petronia. »Sie sind doch nicht etwa... jetzt kommt’s mir erst, Sie sind doch nicht zufällig mit den filmschauspielemden Douglas verwandt, oder?« »Nein, bin ich nicht.« »Ach, nie hab’ ich Glück. Ich war nicht mehr zu halten, wenn mir mal jemand richtig Berühmtes über den Weg 57
laufen würde. Ich würde mir glatt in die Hose machen, das weiß ich. So bin ich. Wenn was richtig Verrücktes passiert, laß ich’s laufen. Wissen Sie eigentlich, daß ich noch nie Schnee gesehn hab’? Eis zählt nicht; ich meine richtigen Schnee, der vom Himmel fällt. Wenn ich das mal zu sehen kriege, mach ich mir in die Hose. Ich würd für mein Leben gern mal einen Schneeball werfen, für mein Leben gern.« »Kometen sind Schneebälle«, sagte Duke. »Sie meinen diese Dinger, die durch die interplanetare Luft zischen?« Duke nickte. »Sie bestehen aus gefrorenen Gasen, hauptsächlich aus Kohlenmonoxyd, Methan oder Was serstoff. Nur ganz wenig festes Material. Ihr Verhalten ist das eines Balls aus gefrorenem Gas, der von der Sonne aufgeheizt wird.« »Ich muß Ihnen sagen, Mr. Douglas, ich hab’ sie ja gleich für einen wissenschaftlichen Menschen gehalten, aber jetzt wird mir klar, daß Sie ein noch tiefsinnigerer Mensch sind als die meisten Menschen, die ich bis jetzt im Flugzeug kennengelernt hab’. Darf ich Ihnen eine ganz besonders wissenschaftliche Frage stellen?« »Nur zu.« »Denken Frauen anders als Männer? Ich meine, arbeitet ihr Gehirn auf eine andere Weise? Technisch gesehen, meine ich.« Duke lachte. »Das weiß ich nicht, Mrs. Weatherby. Aber dafür weiß ich, daß der Dialog zwischen Männern und Frauen die Konsistenz eines Schneeballs zu haben scheint. Natürlich steckt in einigen mehr Eis als in anderen.« Petronia starrte Duke an, und dabei kniff sie ihre grünen Augen zusammen. Gleich fängt sie zu zischen an, dachte er. »Schnell, bevor wir landen«, sagte sie. »Ich will die Wahrheit wissen. Kann es in der Hölle tatsächlich so etwas wie einen Schneeball geben?« 58
SCHWEINE
Mano und Boca Demente waren mindestens so erregt wie die Hunde. Die beiden Vettern waren keine hundert Meter von der befestigten Mülldeponie entfernt, als Casanova, ihr Catahoula, einen kräftigen Keiler í gute dreihundert Pfund kampflustigen Wildschweins í aufgestöbert und vor einer vier Meter hohen Abfallhalde gestellt hatte. Sowie sie die Lichtung erreicht hatten, ließ Boca ihren hundert Pfund schweren Pitbull-Terrier Diablo von der Leine, der sofort zum Angriff überging und den Keiler oberhalb der linken Schulter packte. Diablo versenkte seine Schneidezähne tief im Muskelfleisch und hielt fest, während Casanova im Halbkreis herumlief, bellte und die Beute fixierte. Der vor Wut rasende Keiler konnte den Pitbull weder abschütteln noch mit seinen Hauern erreichen, und weil Diablo mit seinem ganzen Gewicht an ihm hing, hatte er auch keine Chance, vor dem geschmeidigen Catahoula zu flüchten. Der unbewaffnete Malo ging vorsichtig um das schnau bende, hilflose Wildschwein herum, packte es an beiden Hinterläufen und hob es bis auf Brusthöhe. Boca kam her über, wickelte dem Keiler ein kräftiges Stück Nylon schnur um die Läufe, verknotete die Enden und trennte Diablo von dem Tier. Als Mano das Schwein zu Boden fallen ließ, hing ihm ein großer Fetzen Fleisch und Fell lo se von der linken Schulter. Der Keiler wälzte sich im Dreck, schnaubte und prustete durch Nüstern und Maul. Mano und Boca traten ein paar Schritte zurück. Während sie mit den linken Händen die Hunde festhielten, klatschten sie die rechten Handflächen gegeneinander. »Un puerco grande, primo, hey?« sagte Boca. 59
»Gäbe ‘n riesigen Haufen Rippen-Sandwiches, seguro«, sagte Mano. Die Vettern, die beide zweiundzwanzig waren, jagten seit ihrem achtzehnten Lebensjahr auf diese Weise Wild schweine í ohne Waffen, nur mit Hunden. Sie waren beide einsachtzig groß und wogen jeder so um die zweihundert Pfund. Die meisten Leute hielten sie für Brüder, weil sie sich so ähnlich sahen; beide hatten schwarzes Haar, braune Augen und einen dunklen Teint. Unter der Woche betrieben die Demente-Vettern ihren Malereibetrieb in Tallahassee, und an den Wochenenden jagten sie Wild schweine, nur so als Sport. Normalerweise gingen sie in Taylor County auf die Jagd, in der Gegend von Perry, oder weiter südlich, in der Nähe von Chiefland; aber heute hatten sie es mal in einem anderen Gebiet probiert und waren nicht enttäuscht worden. Die Hunde waren unverletzt, und Mano brachte sie jetzt zum Pritschenwagen zurück, den sie eine halbe Meile von dort geparkt hatten. Boca zog das Bowiemesser aus der Scheide, ging um das quiekende Tier herum und schnitt, nachdem er aus Aberglauben mit der Messerspitze gegen beide Hauer getippt hatte, das Seil durch. Das Schwein sprang auf und flüchtete in den Wald. Boca warf einen Blick auf die Blutflecken am Boden und scharrte mit dem Schuh etwas Erde darüber. Das abgerissene Fell warf er in die Büsche. Das hier war ein guter Jagdgrund, und Boca wollte keine unnötigen Spuren für den Wildhüter zurücklassen. Er steckte das Messer wieder in die Scheide, klaubte die Reste der Schnur vom Boden auf und machte sich auf den Weg zum Wagen. Boca hatte ordentlich Hunger bekommen, und er nahm an, daß es seinem Vetter nicht anders ging.
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DAS BUCH DES WERDENS
»Was war das für ‘n Schild, an dem wir auf der Herfahrt vorbeigekommen sind?« wollte Betty von Rollo wissen, dem sie Hände und Füße mit einer Wäscheleine gefesselt hatten. Er saß in einem Sessel. Betty und Cutie hatten sich vor und hinter ihm aufgebaut. »Keine Ahnung«, antwortete Rollo. »Welches Schild?« »Auf dem einen stand: ›Gönn dir ‘n paar Titten zu den Fritten.‹ Werbung für ‘nen Arschbacken-Schuppen für die Fernfahrer. Club Minislip. An der Interstate gibt’s ne ganze Reihe von solchen Schuppen. Bei mir heißen die ›McSex‹. Gehört sich denn das? Finden Sie, daß es in diesem Land so zugehen sollte?« »In diesem Land stimmt einiges nicht«, sagte Rollo. »Die größte Schweinerei ist es, daß es keine staatliche Ge sundheitsfürsorge gibt und immer weniger Geld für Aus bildung da ist. Wenn ein Mensch mal am Leben ist, sollte er auch einen Anspruch auf die beste medizinische Ver sorgung und eine ordentliche Ausbildung haben, ohne dafür bezahlen zu müssen. Alles andere läßt das Konzept einer zivilisierten Gesellschaft zur Farce werden.« »Hör dir das an, Bet«, sagte Cutie. »Der redet wie ‘n Anwalt.« »Ich bin Anwalt«, sagte Rollo. »Gut, dann woll’n wir Ihnen mal ein paar Gesetze na hebringen, Mr. Lamar. Cutie, du kannst jetzt mit der ersten Lektion anfangen.« Cutie, die vor Rollo stand, nickte und räusperte sich. In der Hand hielt sie einen großen, pfirsichfarbenen Ring hefter. »Das hier ist das Buch des Werdens«, sagte sie, »das ein 61
ige, das es gibt, und das haben wir. Was eigentlich nicht weiter verwunderlich ist, schließlich haben Betty und ich s geschrieben. Als wir im Gefängnis saßen. Wir haben’s infach zwischen die Zeilen der Briefe geschrieben, die vir bekommen haben und die schon durch die Zensur varen, so haben wir’s mit nach draußen gekriegt.« »Wir schreiben immer noch dran«, sagte Big Betty. »Da kommen noch mehr Teile dazu, ganz sicher.« »Vom Anfang an«, ordnete Betty an. Cutie las laut vor: BUCH DES WERDENS
Erste Lektion
JEDER Mensch ist ein SÜNDER. Wäre da nicht die ewige Gegenwart der Miss Jesus, unserer Heiligen Mutter und einzig Wahrhaften Gefährtin, wir, die Gewöhnlichen, die wir alle Versager sind, bekämen niemals eine zweite Chance. Die Weibliche Seite wird explodieren und den Mann Vernichten, der von Anbeginn alles falsch gemacht hat. Der Mann hat den Planeten mit Schmutz überzogen und die Weibliche Seele zerstört. Jetzt aber werden wir Zeugen der Auferstehung der Weiblichen Seele, so daß der Planet doch noch gerettet werden kann. Das sagen wir, die Jünger der Miss Jesus. Wenn diese Warnung mißachtet wird, sind die letzten Tage nicht mehr fern. Die Bestie der Offenbarung wird auf ihren Hinterbeinen voranschreiten und Gläubige wie Ungläubige auf ihrem Weg zertrampeln. Aus SÜNDERN müssen GLÄUBIGE werden, und die Männlichen Verbrecher müssen der Weiblichen Seite Platz machen, oder es wird KEINE HOFFNUNG geben. Wie von Matthäus, der ein Schwuler Mann war, verheißen, wird es ein wirkliches Leid geben, wie es seit dem Beginn der Welt keines mehr gegeben hat und es bis in 62
alle Ewigkeit keines mehr geben wird. Dieses Leid wird die Männliche Seite befallen, die ihrer Natur nach die Seite der Ungläubigen ist, trotz allen Leugnens, und es wird in der schrecklichsten Form der Zerstörung über sie herfallen, die die Menschheit jemals erlebt hat. Wie in der Offenbarung verheißen, wird es unvorstellbare Leiden und Schmerzen für die Ungläubigen geben. Die Sonne wird schwarz sein und der Mond rot wie Blut. Und darauf werden Kriege und schwere Erdbeben folgen und Seuchen und Hagel und mit Blut vermischtes Feuer, das die halbe Erde versengt. So werden Berge und Inseln von ihren angestammten Plätzen gerissen und Meere werden zu Blut und Wasser, das zum Trinken zu bitter ist. Die Männlichen Ungläubigen sollen verdursten, und es wird nichts bleiben als die Weibliche Seite, um Miss Jesus zu grüßen. Der Triumph der Gläubigen Frauen wird offenbar in ihrem Überleben. Miss Jesus wird ihnen Ihre Hand reichen, denen, die befreit wurden von der Herrschaft des Unheiligen Mannes, dessen Name Satan ist. Nur ein Einziger Mann, der wiedergeboren wird mit einem Reformierten Charakter, darf der Weiblichen Gestaltung einer Neuen Welt nach dem Willen von Miss Jesus beiwohnen. Dieser Zeuge soll die Prüfungen bestehen und Selig Sterben. Amen. Amen«, sagte Betty. »Sind Sie im Bilde, Mr. Lamar?« Er nickte. »Ich hab’ den Negativabzug.«
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NOCH EINEN FÜR UNTERWEGS Vernon Duke Douglas mietete sich am Flughafen von Tallahassee einen Mercury Cougar und fuhr los in Rich tung Golfküste. In Sopchoppy kehrte er im Love Nest Cafe ein und genehmigte sich einen Hamburger und ein Dr. Pepper, bevor er weiter nach Apalachicola fuhr, wo er im Gorrie Inn übernachtete, der nach John Gorrie benannt war, dem Erfinder der Eismaschine. Am nächsten Morgen war Duke früh aus dem Bett und nahm Kurs auf Egypt City, wo er auf eine Spur zu stoßen hoffte. Während der Fahrt erinnerte ihn die Szenerie an Irisch Bayou, wo er dabei geholfen hatte, vier Leichen aus einem Sumpf zu ziehen. Ein kambodschanischer Flüchtling hatte sich in der Nähe des unvollendeten Ferienschlosses zum Angeln hingesetzt und dabei mit der Zehn-Pfund-Schnur eine rechte Hand herausgezogen. Der Kambodschaner hatte die Hand, an der der kleine Finger fehlte, in ein vietnamesisches Restaurant in der Nähe von Arabi gebracht und die Kellnerin gefragt, ob man sie ihm nicht aufkochen könne. Der Besitzer des Restaurants rief die Polizei, die sehr schnell zur Stelle war und sich von dem Kambodschaner zu dem Platz bringen ließ, wo er die Hand gefunden hatte. Duke, der gerade an einem Vermißtenfall arbeitete, wurde benachrichtigt und fuhr nach Irish Bayou. Nur vierzig Minuten mußten sie diesen Teil des Sumpfes ab suchen, bis sie vier aufgequollene Leichen zum Vorschein gebracht hatten. Keinem der Toten í es waren alles Män ner í fehlte eine rechte Hand, dafür hatte man sie alle ent hauptet, den ausgefransten Schnittflächen nach zu urteilen mit einer schartigen Handsäge. Die Köpfe hatte man 64
nicht gefunden, und die Person, nach der Duke gesucht hatte, war auch nicht dabei. Der Kambodschaner, daran konnte sich Duke erinnern, hatte darum gebeten, die Hand behalten zu dürfen. In Egypt City stieg Duke im Hernando Cortes Motor Court ab, einem Laden, der in den vierziger und fünfziger Jahren ein beliebter Schlupfwinkel für Kokainschnüffler gewesen war, der jetzt jedoch von den Planungen für ein Einkaufszentrum bedroht wurde. Jedenfalls war er billig, und genau so etwas suchte Duke Douglas í einen Platz, wo er sich aufs Ohr hauen konnte. Es war acht Uhr, als er auf einem Muschelpfad die sechzig Schritte zum Polynesia zurücklegte, einem kleinen Restaurant, in dem í das hatte ihm der Alte am Empfangsschalter versprochen í eine ordentliche Fischsuppe gekocht würde. »Schläfst du auch alleine?« Duke sah von seiner Suppenschüssel auf in das Gesicht einer Frau, die ihm gegenüber auf die Sitzbank gerutscht war. Sie war um die Dreißig, eine übergewichtige Brünette mit dem hübschen Gesicht einer Indianerin und gewaltigen Brüsten. »Auch?« fragte er. »Du ißt doch allein, oder etwa nicht?« »Ich hab’ allein gegessen.« »Nun, ich frag’ ja nur. Darf ich rauchen?« Bevor Duke antworten konnte, steckte sie sich eine Vi ceroy an, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch zur Seite. »Dieses Restaurant ist zu hundert Prozent Raucherzone«, sagte sie. »Hast du das Schild an der Tür gesehn?« »Ist mir nicht aufgefallen.« »Du rauchst nicht, oder?« »Nein.« »Vögelst du?« »Lady, gehört Ihnen der Laden hier?« 65
»Mm-mm. Bin zum erstenmal hier. Bin ein großes Mäd chen auf Achse, weiter nichts.« »Warum setzen Sie sich dann nicht woanders hin, damit ich in Ruhe essen kann?« »Für zwanzig Bucks bums ich dich, daß dir Hören und Sehen vergeht, Mister. Und für fünfzig kannste mich die ganze Nacht haben und mich in den Arsch ficken, wenn’s dir Spaß macht. Hab’ schon so manchem Jungen mit schmalem Geldbeutel damit Freude gemacht. Und falls du’s noch nicht gemerkt haben solltest, ich hab’ zwei Rie seneuter, an denen kannst du herumturnen wie ‘n Schim panse.« Die Frau lächelte Duke an und zeigte ihm dabei eine vollständige Reihe von gleichmäßigen, nikotingefärbten Zähnen. Duke mußte zugeben, daß sie gar nicht mal so unattraktiv war. »Wie heißt du?« wollte er wissen. »Wapiti Touche. Von Mamas Seite bin ich seminolisch irisch, und frankokanadisch-dänisch von Daddys Seite. Interessierst du dich für Genealogie? Ich schreibe an einem Buch über die Geschichte der Großen Roten Könige von Irland.« Wapiti Touche zog heftig an ihrer Viceroy. »Iß deine Suppe, Schätzchen, sie wird kalt.« Duke beugte sich über die Schüssel, durchaus belustigt von dieser seltsamen Person. »Mit Tabasco war sie besser, meinst du nicht?« sagte sie. »Ich tu immer so viel Salz, Zitronensaft und Chili rein, daß mir hinterher die Nase läuft. So mag ich’s eben, kann ich auch nichts machen. Was ist nun, wolln wir zwei Hübschen ‘n bißchen Zeit miteinander verbringen? Vierzig für die Nacht oder bis du die Nase voll hast.« Wapiti hob unterm Tisch ihren nackten Fuß und drückte ihn Duke sanft zwischen die Beine. Sie massierte seinen Penis mit den Zehen und fühlte, wie er sich rührte. 66
»Bist doch richtig aufgeschlossen«, meinte sie und lä chelte wieder. »Laß uns mal bei zwanzig anfangen«, sagte Duke. Sobald sie in Dukes Zimmer im Hernando Cortes Motor Court waren, sagte Wapiti, sie müsse sich für einen Augenblick zurückziehen und huschte flink ins Badezim mer. Duke setzte sich in den einzigen Sessel und schnürte sich die Schuhe auf, ein wenig fassungslos darüber, daß er diese zweihundert Pfund schwere Halbindianerin vögeln durfte. Er zog sich die Schuhe gerade aus, als er die Klospülung hörte. Schnell erhob er sich aus seinem Sessel und öffnete den Gürtel. Wapiti Touche erschien splitter nackt und hüpfte aufs Bett, die riesigen Brüste prallten ihr gegen die Rippen wie stramm aufgepumpte Volleybälle auf Eichenparkett. Sie öffnete Duke den Reißverschluß, streifte ihm die Hosen ab und zog ihn unter sich. Sein Schwanz war bereits steif, als sie sich breitbeinig auf ihn setzte und ihm ihre Titten um die Backen klatschte. Duke war wie betäubt, und bevor er so richtig wußte was los war, spürte er, wie es ihm kam. »Warte, Wapiti!« rief er. »Nicht so schnell!« Wapiti drückte ihm das Kopfkissen ins Gesicht, um ihm das Maul zu stopfen. Sie war unheimlich kräftig und fünfundzwanzig Pfund schwerer als er. Wapiti spürte sei nen Schwanz noch zweimal zucken, und dann war er tot.
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DIE HAND EINER FRAU Rollo hatte beschlossen, einen Herzanfall zu simulieren. Wenn die Frauen ihm das abkauften, dachte er, dann wür den sie ihn entweder hier liegenlassen oder ihn vor einem Krankenhaus absetzen. Es war zweifellos einen Versuch wert. Er wollte es während der nächsten Lektion tun, wenn Cutie wieder mit ihrem »Miss-Jesus-sagt«-Gefasel loslegte. Rollo konnte es einfach nicht länger ertragen. Es war kurz vor Sonnenaufgang. Er lag in seinem Schlafsack und dachte über seinen Plan nach, als er die Motorräder hörte, die vor dem Haus eine Vollbremsung machten. »Scheiße, Bet, was ist das?« fragte Miss Cutie. »Hört sich an wie ‘n paar heiße Öfen.« Big Betty sprang auf, zog sich was an und griff nach ih rem Revolver. »Komm, Cutie. Da werden gleich ein paar Jungs ihr blaues Wunder erleben.« Jump Start und Badger, Mitglieder des Lucky-DogsMotorradclubs in Bon Secour, Alabama, hoben gleichzeitig ihr zweites Bein vom Bock und reckten und streckten ihre Glieder, als die Sonne gerade über den Horizont kippte und das erste Licht heruntersickern ließ. Auf den Rückseiten ihrer Jeansjacken trugen sie í innerhalb eines Hufeisens aus Buchstaben, mit denen sie auf geographische Herkunft und Art ihrer Motorisierung hinwiesen ídie serigraphierte Abbildung einer Bulldogge, die eine blutige, abgerissene Hand im Maul hielt. »Scheint mir ‘n ganz ordentlicher Platz zu sein, um ‘ne Runde zu knacken, Badg, was meinst du?« Badger rieb sich mit der dreckverkrusteten Innenfläche seiner rechten Hand den Sechs-Tage-Bart, rieb sich die 68
Brust über der Aufschrift BILLY’S SEAFOOD COUNTY ROAD 10 WEST auf seinem T-Shirt, kratzte sich den Mit telscheitel seines fettigen, schulterlangen braunen Haars und gähnte. Er blickte hinüber zu Jump Start, dem er í von einem kirschroten linken Glasauge und dem fehlenden linken Ohr einmal abgesehen í wie ein Zwilling dem anderen glich. Sowohl das Auge als auch das Ohr waren ihrem angestammten Sitz während einer Kneipenschläge rei im Town ‘n’ Country am Stadtrand von Tampa entris sen worden, an einem Samstagabend vor ein paar Jahren. Jump konnte sich kaum noch daran erinnern, wie das Le ben vor dem Verlust dieser beiden Einzelteile ausgesehen hatte. Umso besser konnte er sich an den dreihundert Pfund schweren Bevo Rubber erinnern, den inzwischen auf Null gedrehten Typen, der ihm dieses Leid zugefügt hatte. Nachdem Jump aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatten er und Badger eines Morgens in aller Herr gottsfrühe Bevo Rubbers Wohnanhänger einen Besuch abgestattet und dessen Bewohner bei dieser Gelegenheit beide Hände mit ihren Macheten abgehackt, bevor Bevo Zeit hatte, seine abgesägte Mossberg Kaliber 12, die er im mer unter dem Kopfkissen liegen hatte, mit frischen Fin gerabdrücken zu versehen. Dann hatte Badger den kon sternierten Rubber festgehalten, während Jump Start seine Taschenpinzette an den Augen des Ochsen ausprobierte. Sie ließen Bevo Rubber allein und brüllend in seinem Blechdosen-Domizil zurück, dessen Tür Badger ver rammelte, während Jump Start eine Propangasflasche unter den Wagen rollte und die Lunte in Brand steckte, die er mit deren Ventil verbunden hatte. Die Lucky Dogs saßen schon wieder auf ihren Böcken, als der Airstream in die Luft flog und wahrscheinlich noch ein paar von Be vos schlummernden Nachbarn mit sich in die Hölle der weißen Unterschicht riß. 69
»Könnt ‘ne Verschnaufpause gebrauchen, J.S.«, sagte Badger. »Der alte Versammlungsschuppen hier sieht ziemlich verlassen aus.« Im Angel- und Schießclub von Trocadero Island warteten Cutie und Betty geduldig auf die Eindringlinge. Cutie hatte Rollo einen breiten Streifen Isolierband über den Mund geklebt. Er lag völlig bewegungslos auf dem Boden, Arme und Beine sorgfältig mit Wäscheleine verschnürt. Jump Start öffnete die Tür, und Bettys Kugel traf ihn genau in das Glasauge. »Scheiße!« rief Badger, warf sich auf den Boden und rollte aus der Schußlinie. Dann rannte er zu seiner Harley, trat auf den Anlasser und dröhnte hinaus auf den Highway, wo ihn ein liebevoll restaurierter 56er-Ford-Pickup mit zwei Männern im Führerhaus und zwei Hunden hinten auf der Ladefläche voll auf der Breitseite erwischte. Badger stürzte, und der Pritschenwagen machte eine Vollbremsung; sowie er zum Stehen gekommen war, sprangen die beiden Hunde her unter und machten sich über den gestürzten Motorradfahrer her. Noch bevor einer der beiden crash-geschock-ten Demente-Vettern Diablo zurückhalten konnte, hatte der rasende Pitbull Badger totgebissen. Mano Demente hielt Diablo am Halsband fest, während sein Vetter Boca hinter Casanova herstürzte, dem Catahoula, der völlig durchgedreht war und jaulend und quiekend auf dem Asphalt hin und her lief. Ein paar Augenblicke später schwenkten Betty und Cutie in ihrem schwarzen Monaco mit schleuderndem Heck auf die Staatsstraße. Mano sprang aus dem Weg, ohne Diablo loszulassen, und mußte hilflos mitansehen, wie der schlingernde Dodge, der Boca gerade noch ausweichen konnte, Casanova erwischte und den Hund mit ge brochenem rechten Vorderlauf zu Boden streckte. Als Big Betty über die Brücke raste, das Rotlicht an der 70
Kreuzung mit der Interstate überfuhr und den Dodge in Richtung Pensacola lenkte, fuhr der Streifenwagen los, der auf dem Seitenstreifen vor Jasper Pasco’s Angelsteg und Lebensmittelladen gestanden hatte, und jagte mit Sirene und flackerndem Blaulicht hinter ihr her. »Warum hast du Mr. Lamar nicht abgeknallt, Bet?« fragte Cutie. »Jetzt kann er uns identifizieren.« »Weißt du, Mäuschen, ich hatte das Gefühl, er nimmt sich die Lektion zu Herzen.« Betty lachte, sah in den Rückspiegel und erblickte die beige-weiße Gefahr, die ihnen hart auf den Fersen war. »War nur Spaß, Cutie«, sagte sie und sah wieder nach vorne. »Hab’ ihn in der Aufregung ganz vergessen, das ist alles. Ist ja auch egal. Miss Jesus ist unsere Führerin, und wenn diese Schießerei vorbei ist, werden die Männer uns Frauen kennengelernt haben.«
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ÜBERALL MITTERNACHT
Easy Earl chauffierte den Mercury Monarch langsam, nicht schneller als mit dreißig, die St. Claude Avenue in New Orleans entlang. Es war zwei Minuten vor zwölf, schon fast Mittwoch, und es hatte wieder zu regnen angefangen. Tag und Nacht Gewitter in letzter Zeit. Earl stellte die Scheibenwischer an. Auf den Nummernschildern seines feuerroten 78er Merc stand EZY EARL, nicht EASY, weil sie nur sieben Stellen zu vergeben hatten und nicht acht, aber Earl, der mit Nachnamen Blakey hieß, wie der berühmte Jazz-Schlagzeuger, war’s auch so recht. Earl, der mit seinen sechsundvierzig Jahren noch nie verheiratet gewesen war, fuhr von seinem Haus in der St. Roach Street zu seinem Arbeitsplatz im Postamt an der Camp Street, wo er als Ladearbeiter beschäftigt war. Seine Schicht begann um Mitternacht, und er wußte, daß er ein bißchen zu spät kommen würde, aber der Regen war eine gute Ausrede. Er hatte im Autoradio WWOZ eingestellt. Sam Coke und die Soul Stirrers sangen »That’s Heaven to Me«. Ent setzlich, so ums Leben zu kommen wie Sam Cooke, dachte Earl. Von einer älteren Frau in einem Motel erschossen. Die Frau hatte behauptet, er hätte ein Mädchen mißbraucht. Kein Zweifel, der Mann hatte eine tolle Stimme. Die Platte war zu Ende, und der Deejay sagte: »Ein neu- er Tag in der Crescent City. Aus Florida hören wir, daß zwei Frauen unter dem Verdacht verhaftet worden sind, seit vergangenem Jahr eine Serie von Morden, ausschließ lich an Männern, begangen zu haben. Bettina Stalcup und Carol Early wurden heute in Pensacola aufgrund von Haftbefehlen festgenommen, die in den Staaten Florida, 72
Alabama und Louisiana gegen sie vorliegen. Die beiden Frauen í Ex-Häftlinge í haben nach Mitteilung der Be hörden ausgesagt, die Bräute von Jesus zu sein, bei dem es sich, wie die Verdächtigen behaupten, um eine Frau handeln soll. ›Miss Jesus‹ habe ihnen befohlen, die Welt vom männlichen Geschlecht zu befreien, teilten sie den Behörden mit. ›Man kann die Männer nicht mehr umer ziehen. Die Seuche hat sich zu weit ausgebreitet, sagte Ms. Stalcup. ›Für sie ist jetzt überall Mitternacht.‹« Easy Early schüttelte den Kopf, zog eine Kool aus seiner Hemdtasche, steckte sie sich zwischen die Lippen und drückte auf den Zigarettenanzünder am Armaturenbrett. »So sicher wie Scheiße«, brummte er, »laufen schon ‘n paar selbstgerechte Weiber da draußen rum.«
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II DAS GEHEIME LEBEN DER INSEKTEN Beatifica 75 John Brown's Wunsch 79 Die Belohnung 81 In grauer Vorzeit 85 Eine gute Wahl 87 Magnolien 89 Opfer der allgemeinen Meinungsmache 91 Schlaftrunk in Ruby's Caribbean 94 Der Besuch 97 Betrogen 99 Mit freundlichen Grüßen von Miss Brown 101 Die Erweckung 105 Das geheime Leben der Insekten 107 Blutroter Mittag 110 La Verdad 113
Der Schönheit fern kann niemand sein, Denn Schönheit ist unendlich. Die Macht, endlich zu sein, sie schwand, Als das Schicksal uns verband. Etnily Dickinson 74
BEATIFICA »Daß eine Frau nicht über ihren eigenen Körper bestimmen soll, hat Gott garantiert nicht gewollt«, sagte Beatifica Brown zu Easy Earl Blakey, der in der High Heaven Bar an der Burgundy Street im Achten Bezirk von New Orleans neben ihr am Tresen hockte. Beatifica Brown, geboren in La Ceiba in der Repüblica de Honduras, war im Alter von drei Jahren zusammen mit ihren Eltern Fäbula und German Morena nach Tam pa, Florida, emigriert. Ihren Namen hatte sie vor sechs Jahren anglisiert, während ihrer Haft in der Frauenstraf anstalt Fort Sumatra, an ihrem 30. Geburtstag am 9. Mai, einem Datum, das sie mit ihrem Helden John Brown teilte, dem Abolitionisten* aus Kansas. John Brown hatte sich die Freiheit der Sklaven auf die Fahnen geschrieben, Beatificas Mission war die Freiheit des Gewissens. Sie war eine Abtreiberin, auch wenn sie keine medizinische Ausbildung hatte, und schon in Florida hatte sie wegen illegaler Abtreibung im Gefängnis ge sessen. Beatifica war nach New Orleans gekommen, nachdem der Gesetzgeber des Staates Louisiana die re pressivsten Abtreibungsgesetze im ganzen Land verab schiedet hatte. Sie war gekommen, um das zu praktizieren, was für sie eine Berufung war, und weil sie das Evangelium des Rechts der Frau auf die eigene Entschei dung verkünden wollte. »Ich werde dem Dämon in die Augen spucken«, hatte Beatifica Brown ein paar Tage vor ihrer Entlassung aus Fort Sumatra zu ihren Mithäftlingen Big Betty Stalcup * Abolitionismus = Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei 75
und Miss Cutie Early gesagt. Betty und Cutie, die sich ihr eigenes Konzept zurechtgelegt hatten, das auf einer selbstgestrickten Philosophie basierte, hatten Beatifica ih ren Segen gegeben und sie gebeten, niemals zu vergessen, daß Miss Jesus auf jedem Schritt ihres Weges an ihrer Sei te sei. Beatifica hatte ihre eigenen Erfahrungen zur Grundlage ihrer Pläne gemacht, ohne Rücksicht auf diese Miss Jesus. Kinder konnte sie keine mehr bekommen; das war das Resultat einer verpfuschten Abtreibung, die man an ihr vorgenommen hatte, als sie sechzehn war. Beatifica war von einem Jungen namens Delbert Bork geschwängert worden, einem Klassenkameraden auf der High School. Delbert hatte sie auch zu diesem Wohnanhänger eines Mannes gebracht, der sich als Arzt ausgab und dem sie 150 Dollar dafür bezahlt hatten, daß er sie fürs Leben ruinierte. Seit jener Zeit trug Beatifica das Schwert in der Hand, wild dazu entschlossen, anderen Frauen mit ungewollten Schwangerschaften das zu ersparen, was sie erleiden mußte. Beatifica hatte eine Frau namens Basenji Jones kennen gelernt, eine zugelassene Krankenschwester in Tampa, die ihre Überzeugung teilte und die Beatifica beibrachte, wie man eine Abtreibung fachgemäß durchführt. Basenji war es auch, die Beatifica in den feministischen Untergrund des tiefsten Südens einführte, in dessen fundamen-talistisch aufgeputschter Atmosphäre die Abtreibung als ebensogroße Ungeheuerlichkeit angesehen wurde wie die Rassenvermischung. German und Fäbula, beides gläubige Katholiken, reagierten entsetzt, als ihre Tochter ihnen von ihrer Mission erzählte, doch angesichts von Beatificas Fanatismus waren sie machtlos. »Eine Frau soll tun, was für sie gut ist«, stimmte Earl ihr zu und setzte seinen Crown Royal mit Milch an die Lip pen. »Tatsache ist, Miss Brown, daß ich wegen meiner Al 76
ten mit Ihnen reden wollte. Sie hat schon vier Kinder, und noch eins kann sie nicht brauchen.« »Wie weit ist sie denn schon?« »Zwei, zwei’nhalb Monate, meint sie. Ich hab ‘n prima Job bei der Post, Miss Brown. Am Geld soll’s nicht lie gen.« »Ich nehme nicht’s für mich, Earl, nur für die Sache. Sie zahlen mir, was Sie mir zahlen können.« Easy Earl spülte sich den Rest seines Drinks durch die Kehle. Jemand hatte Percy Sledge gedrückt, der sein »When A Man Loves A Woman« aus der riesigen RockOla schnulzte, die unter einer 10 x 13 cm großen Repro duktion von Cezannes Une moderne Olympia stand. »Sie sind ganz sicher von Gott gesandt, Miss Brown«, sagte ein erleichterter Earl. Beatifica nahm ihr Glas Tanqueray pur mit einem Tee löffel Zucker zur Hand und prostete ihm zu. »Auch ich zweifle keinen Moment daran, Mr. Blakey. Haben Sie Vertrauen«, sagte sie und trank ihr Glas leer.
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JOHN BROWNS WUNSCH Beatifica hatte das Lied von John Brown zum erstenmal gehört, als sie noch ein kleines Mädchen war, aber sie mußte erst ihre Berufung finden, um den Text zu verste hen. Mehrmals täglich sang sie es sich selber vor: »John Browns Body lies a-mouldering in the grave.« Zu ihren Habseligkeiten zählte F. B. Sandborns Buch Leben und Briefe des John Brown, das 1885 erschienen war, und seit acht Jahren machte sie sich Notizen zum Expose für eine Monographie, die den Titel John Brown und die göttliche Idee tragen sollte. Beatificas Abhandlung basierte auf Wendell Phillips Feststellung, daß die »Kaperbriefe von Gott« die Grundlage von John Browns Überzeugung seien, daß er dazu ausersehen wäre, die Sklaverei mit Mitteln der Gewalt zu zerschlagen. John Brown, ein direkter Abkömmling der MayflowerPuritaner, war in Connecticut zur Welt gekommen und in Ohio aufgewachsen. Im Alter von 49 Jahren war er in den Staat New York gezogen, wo er ein Stück Land bearbeite te, das direkt an die Felder schwarzer Siedler angrenzte. Seinem Abscheu gegenüber der Sklaverei hatte er bereits deutlichen Ausdruck verliehen, und schon bald folgte John Brown seinen fünf Söhnen nach Kansas, dem Nach barstaat, von dem aus er seinen Feldzug gegen die ver haßte Institution startete. Nach blutigen Auseinanderset zungen mit Verfechtern der Sklaverei in Kansas führte John Brown seine Anhänger nach Kanada, Massachusetts und schließlich nach Virginia, wo er eine Bastion errichten wollte, um flüchtigen Sklaven Unterschlupf zu bieten. In der Nacht zum 16. Oktober 1859 führte John Brown mit nur achtzehn Mann í fünf von ihnen waren Neger 78
sklaven í einen Angriff auf ein Arsenal der Bundestruppen in Harpers Ferry an. Sie eroberten das Arsenal und nahmen sechzig angesehene Bürger der Stadt als Geiseln. Während der nächsten beiden Tage wurden die Abolitio-nisten von einer Einheit US-Marines unter der Führung von Colonel Robert E. Lee belagert. Schließlich überwältigten die Marines die Freistaatler und töteten zehn von ihnen, darunter zwei von John Browns Söhnen. Brown ergab sich und wurde bei seiner Gefangennahme schwer verletzt. Innerhalb eines Monats machte man ihm den Prozeß: er wurde des »Hochverrats, der Konspiration mit Sklaven und anderen Rebellen sowie des Mordes« angeklagt und für schuldig befunden. Am 2. Dezember wurde er gehängt. John Brown hatte mit zwei Ehefrauen zwanzig Kinder gezeugt. Beatifica fühlte eine tiefe Verbindung zu ihrem Namens vetter aus dem 19. Jahrhundert, und sie war überzeugt da von, daß auch sie die »Kaperbriefe Gottes« in sich trüge. Wie seinerzeit John Brown, so hatte auch Beatifica ihre di rekten Feinde ausgemacht; unter ihnen war ein militanter Verfechter des Rechts auf Leben, ein Priester aus New Or leans namens Dallas Salt, der in der Kirche der Einen Hand in der Elysian Fields Avenue seine Predigten hielt. Dallas Salt hatte eine Schwester, Dilys, eine nicht minder militante Verfechterin der Selbstbestimmung für Frauen, die sich mit ihrem Bruder über die Frage der Abtreibung entzweit und ihre eigene Gemeinde gegründet hatte, die Kirche der Anderen Hand, gleich gegenüber dem Haupt quartier ihres Bruders. Jeden Sonntag ermahnten die SaltGeschwister ihre jeweiligen Gemeinden, sich mit geistiger Nahrung gegen die Feinde zu wappnen. Beatifica war in Versammlungen beider Gemeinden ge wesen: In Bruder Dallas’ Kirche der Einen Hand, um ihren Feind aus nächster Nähe kennenzulernen, in Schwester Dilys’ Kirche der Anderen Hand, um sie ihrer Unterstüt 79
zung zu versichern. Natürlich war es Bruder Dallas, der über die größere Gemeinde verfügte und sich Zutritt zu ei nem Radiosender verschafft hatte; sonntags um Mitter nacht durfte er über die Station WGOD eine Stunde lang senden. Die Kirche der Anderen Hand stand unter ständi ger Belagerung, regelmäßig wurden ihre Räumlichkeiten verwüstet und ihre Mitglieder í in der Mehrzahl Frauen íbedroht und terrorisiert. Schwester Dilys durfte keine Mi nute lang ohne Bewachung bleiben; ihre Leibwache rekru tierte sich aus den hartgesottensten Amazonen des Motor radclubs Schwestern der Klytemnestra. Beatifica Brown wußte genau, daß sie ihre Rolle nur dann mit Erfolg spielen konnte, wenn sie bei ihrer Mission möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ihr recht, daß andere Frauen wie Dilys Salt den Kampf auf der öffentlichen Bühne ausfochten, während sie ihre Dienste all jenen zur Verfügung stellte, die sie brauchten, und nur bei Gelegenheit missionarisch tätig wurde. An einer Wand ihres Zimmers in der Decateur Street, an der Grenze zum Quarter, nahe der Esplanade, hatte Beatifica eine gerahmte Photographie von John Brown aufgehängt. Feurige Augen leuchteten aus einem bärtigen Gesicht. Quer über den unteren Rand des Bildes ihres Helden hatte sie geschrieben: »His Soul Goes Marching on.« In ihrer neunten Nacht in New Orleans í die Zahl Neun war ihnen gemeinsam í hatte John Brown im Schlaf zu ihr gesprochen, und danach wußte Beatifica, daß sie, die unbekannte Kämpferin, dazu ausersehen war, Dallas Salt zu töten. Beatifica war erwacht, hatte sich im Bett aufgesetzt, ihr schulterlanges rotes Haar geschüttelt, und nachdem ein Schauer ihr durch den ganzen Körper gelaufen war, hatte sie mehrmals mit dem Kopf genickt und laut vor sich hingesagt: »Ja, ja, es ist auch mein Wunsch!«
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DIE BELOHNUNG
Dilys Salt stand im ersten Stock des Hauses in der Pauger Street am Schlafzimmerfenster ihrer Wohnung und starrte hinunter auf die Gruppe von ungefähr zehn Leuten, die dort unten auf dem Gehsteig ihre Transparente auf und ab trugen: TÖTET DIE BOTSCHAFTERIN, NICHT DEN FÖ TUS; DAS LEBEN IST ZU GUT FÜR SCHWESTER DILYS; DIE ANDERE HAND MUSS VERBOTEN WERDEN und BABYS SCHREIEN: TÖTE UNS NICHT, DILYS.
»Jeden Tag geht das jetzt so«, sagte Dilys. »Und die Cops sagen, sie können nichts tun, solange die Demon stranten auf der anderen Straßenseite bleiben. Freiheit der Rede. Ha! Vom Recht der Frau, über sich selbst zu be stimmen, wollen die Idioten nichts wissen, aber sie lassen es zu, daß man auf seinem eigenen Grund und Boden schikaniert wird.« »Vielleicht sollten wir ein paar von den Schwestern los schicken, damit sie die Bande mit ihren Motorrädern ein wenig aufmischen.« »Keine gute Idee, Terry. Man würde die Mädchen ein sperren und unter Anklage stellen. Am besten, wir lassen sie, gewöhnen uns dran und machen einfach weiter.« Dilys zündete sich eine Zigarette an und ließ sich in ei nem Korbsessel nieder. Abgesehen von ihrem roten Hös chen und Terrys schwarzen Chippewa-Motorradstiefeln war sie nackt. Sie schlug die Beine übereinander und rauchte. Terry saß auf dem Bett, nur mit ihrer ärmellosen Clubjacke bekleidet, und bürstete sich das lange Haar. Sie und Dilys waren jetzt seit einem Monat ein Liebespaar; Terry wußte, daß Dilys noch mit keiner der Schwestern Klytemnestras so lange zusammengewesen war. 81
«Woran denkst du, Dilys?« »Ach, an meine Tochter, glaub ich.« »Du hast ‘ne Tochter? Hab’ ich gar nicht gewußt.« Dilys nahm einen tiefen Zug aus ihrer Pall Mall und blies eine Rauchfahne von der Länge einer Klapperschlange in die Luft. »Morgen wird sie vierzehn, erster November. Hab’ sie mit sechsundzwanzig gekriegt.« »Wie heißt sie?« »Pillara. Hat ihr Daddy sich ausgedacht.« »Wo ist sie?« »Sie hat das Downs-Syndrom, früher nannte man das Mongoloismus, wegen der Gesichtszüge. Ich hab’ sie in ein Heim nach Piain Dealin’ gegeben, da in der Nähe, wo meine Mutter nach Daddys Tod hingezogen ist.« »Wo bist du aufgewachsen?« »Queen City, Texas. Mama ist nach Piain Dealin’ gezo gen, um näher bei ihren Leuten oben in Idaho zu sein. War ganz vernünftig, daß Pillara an einen Platz gekommen ist, wo Mama ‘n bißchen drauf achten kann, daß man sie gut behandelt.« »Du besuchst sie nicht so oft, oder?« »Seit zwölf Jahren nicht mehr. Pillara kennt mich gar nicht richtig.« »Und ihr Daddy? Geht der sie besuchen?« Dilys lachte kurz und böse auf. »Der hat sie nur einmal angeguckt. Als er gesehn hat, daß sie mißgebildet ist, hat er ihr den Namen gegeben und den Rest mir überlassen.« »Ihr habt euch aus den Augen verloren, nehm ich an.« »Oh, nein, aus den Augen haben wir uns nie verloren. Terry, du weißt, wie sehr ich dich mag. Ist schon lange her, daß ich jemanden so gemocht hab’. Wenn du mir versprichst, daß du es niemandem weitersagst, dann verrat ich dir jetzt ein großes Geheimnis.« 82
Terry hörte auf, sich das Haar zu bürsten, und sah Dilys an, deren kobaltblauer Blick sie durchbohrte. »Ich versprech’s dir«, flüsterte Terry. »Dallas Salt ist Pillaras Vater.« Terry fiel die Bürste aus der Hand. »Aber er ist doch dein Bruder.« Dilys nickte. »Inzucht ist ‘ne Wucht, pflegte er zu sa gen.« »Ich muß mal Pipi«, sagte Terry, sprang vom Bett und rannte ins Badezimmer. Dilys sog fest an ihrer Zigarette und drückte sie am Ab satz von Terrys Stiefel aus. Den Stummel schnipste sie weg, und als Terry wieder ins Zimmer kam, spreizte sie die Beine. »Komm, Schätzchen«, sagte Dilys, während sie ihr Hös chen abstreifte, »knie dich vor die Quelle und koste von der Frucht.« »Ach, Dilys«, sagte Terry und ließ sich nieder, »was du alles ertragen mußt!« Dilys schloß die Augen. Terry beugte sich zu ihr runter und entlockte ihrer hingestreckten Hirtin ein tiefes Stöh nen. »Schmerzen vergehen, Terry«, sagte Dilys und strei chelte ihrer Liebhaberin das glatte Haar. »Aber Glücksge fühle wie dieses erinnern uns immer daran, was für Be lohnungen auf uns warten.«
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IN GRAUER VORZEIT Dallas Salt war einsfünfundneunzig groß und wog zwei hundertfünf undfünf zig Pfund. Noch nie hatte er sich selbst und dem, was er tat, so sehr vertraut wie jetzt, mit seinen sechsundvierzig Jahren. Er hatte immer noch volles Haar, das er einmal im Monat schwarz färbte, und mindestens eine Stunde des Tages verbrachte er mit dem Universal-Fitness-Gerät im Kellerraum seines Kirchenge bäudes. Dallas Salt war nie verheiratet gewesen, aber er führte immer noch ein aktives Sexualleben; zur Zeit stand er auf analen Sex mit mageren schwarzen Nutten, die Sa bine Yama ihm besorgte, sein Adjutant, der halb Cajun, halb Pakistani und ihm seit fünfzehn Jahren ein treuer Diener war. Schon viele dieser Frauen hatten sich Dallas Salts Herde angeschlossen, ein Umstand, der ihn entzückte, auch wenn sie í wie er Sabine einmal erklärt hatte í seinen Samen nicht mehr empfangen durften, hatten sie erst einmal seinen Sermon empfangen. Seit die Anti-Abtreibungs-Kampagnen boomten, florierte die Kirche der Einen Hand. Die sonntäglichen Got tesdienste waren überfüllt, und die Missionierung über das Fernsehen breitete sich rapide aus. Sechsundfünfzig Kabelstationen verbreiteten Bruder Dallas’ Botschaften überall im Süden. Seine Schwester schüttete mit ihrer Mission Öl in sein Feuer. Dallas liebte Dilys von ganzem Herzen, er hatte sie immer geliebt, und als Privatmann hatte er nichts gegen ihre Predigten. Dallas machte sich jedoch Sorgen um Dilys Wohlergehen, deshalb hatte er Sabine Yama instruiert, ein waches Auge auf die fana tischsten seiner Anhänger zu werfen, auf jene, die am ehesten versuchen könnten, ihr körperlichen Schaden zu 84
zufügen. Aus dem innersten Kreis von Dallas’ Anhängern war nur Sabine über die Existenz von Pillara Salt in formiert, und über die Tatsache, daß Dilys die Mutter des Mädchens war. Sabine, der einsfünfundsechzig groß, fettleibig und fast vollständig kahlköpfig war, hatte seit seiner Geburt einen linken Klumpfuß und einen verkrüppelten rechten Arm. Er liebte Bruder Dallas über alle Maßen, ein Umstand, dessen Pastor Salt sich durchaus bewußt war und den er zu nutzen wußte, indem er Sabine rund um die Uhr in Einsatzbereitschaft hielt. Sabine war jetzt zweiunddreißig Jahre alt; er war kaum älter als zehn gewesen, als er unter den Einfluß der Salts geriet, nachdem seine Eltern das Entsetzen vor diesem grotesken Exemplar eines einzigen Sohns ergriffen hatte, umso mehr, als sich bei dem Zehn jährigen seltsame Vorlieben zu entwickeln begannen í Sa bine fing damit an, die Touristen auf der Bourbon Street auszunehmen. Er arbeitete für die Salts. Sie hatten in ihm die Tugend der Loyalität denen gegenüber erkannt, die ihm eine hilfreiche Hand entgegenstreckten. Als es zum Bruch zwischen den Geschwistern kam, wollte Sabine bei Dallas bleiben, vor allem wohl deshalb, weil er männliche Gesellschaft vorzog und weil er genau wußte, daß er in Dilys Kreis í trotz ihrer aufrichtigen Zu neigung zu ihm í nur eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen gehabt hätte. Sabine haßte die Schwestern der Klytemnestra, die í das spürte er í einen unseligen Ein fluß auf Dilys hatten und sie von ihrem erklärten Lebens ziel abbringen würden, nämlich den Menschen dabei zu helfen, ihr wahres Ich zu erkennen, ihr innerstes Wesen, das Gott allein gehörte. Dieses ganze Abtreibungsthema, davon war Sabine überzeugt, wurde sowieso schrecklich aufgebauscht. Man kam nicht an der Tatsache vorbei, daß auf den Straßen ei ne Menge Schießeisen ziemlich locker saßen und daß die 85
Welt ohne deren Besitzer zweifellos besser dran wäre, aber schließlich hatte er selbst einmal zu diesen Unerwünschten gehört, in grauer Vorzeit, und dieser Tatsache wollte Sabine sich immer erinnern. Dallas sagte, daß Jahr für Jahr in den Vereinigten Staaten zwei Millionen Abtreibungen í legale und illegale í vorgenommen würden. Diese Seelen, dessen war Sabine sich sicher, wurden überall im Universum recycelt, wenn nicht auf der Erde, dann auf anderen Planeten. Sabine fragte sich manchmal, ob er nicht besser dran wäre, wenn er die Gestalt eines í nun, vielleicht eines Marsmenschen hätte, und wie sein Penis dann wohl aussehen würde.
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EINE GUTE WAHL Beatifica betrat Elvis Steck’s Super Surplus Waffenladen in der unteren Magazine Street, und sogleich kam ein Mensch mit rosafarbenem Gesicht auf sie zu. Der Mann war Anfang dreißig, etwa einsachtzig groß und mußte nach Beatificas Schätzung mindestens dreihundert Pfund wiegen. Er trug eine grün getönte Vergrößerungsbrille mit verstellbaren Doppellinsen, einen roten Yosemite-SamBackenbart und eine Art Jogging-Anzug aus marineblauem Gummi; um den Bauch hatte er sich einen Sam-BrowneRevolvergürtel aus Stretchnylon geschnallt. Der braune Kolben des Revolvers, der in einem nicht festgezurrten Halfter griffbereit am Oberschenkel baumelte, sprang Beatifica gleich ins Auge. »N’ abend, Ma’am«, sagte der Riese. »Mit Elvis Steck immer auf der sicheren Seite. Womit kann ich dienen?« »Ich brauch’ was, womit ich schießen kann, Mr. Steck. Nichts, was mit Kugeln schießt, aber ‘n Stier sollte man damit schon aufhalten können.« Elvis Steck lächelte und zeigte dabei seine Vorderzähne; auf einem von ihnen prangte der Kopf des amerikanischen Adlers. »Da hätt’ ich was. Hier drüben.« Beatifica folgte dem Koloß zu einem Seitentresen, und irgendwie schaffte es Elvis Steck, sich dahinterzuquet schen. Er nahm eine Schachtel von einem Regal, öffnete sie und legte den Inhalt vor sie auf den Tresen. »Das hier is das Allerneuste, ‘n Stealth Bolzengewehr. Schießt auch unter Wasser, falls der Stier da hinläuft. High-Tech-Luftdruck-System, damit könnense jeden lä stigen Witzbold aussem Verkehr ziehn. Antrieb durch 87
komprimierte Luft, das heißt, durch CO2. Geschosse flie gen doppelt so schnell wie bei ‘ner normalen Armbrust. Stufenlos einstellbar. Manuelles Abzugsspannsystem, umzustellen auf Einzel- bis Vierfachschuß. Wasserdicht, wie gesagt, funktioniert unter und über Wasser. Flug zeugaluminium und rostfreier Stahl, schwarzes Oberflä chen-Finish. Breitkopf-Bolzen, Clapsbill-Schaft, Visiersy stem mit einskommafünffünf mal zwanzig Millimeter Zoom-Zielfernrohr, Ringe, Sieben-Unzen-Nachfüll-Zylin der mit Ventil, sechs 20-cm-Aluminiumpfeile und wasser dichtes Futteral, Maße 18 1/2 x 14 x 40 1/2 Zoll. Das ganze Paket wiegt vier Pfund, drei Unzen. Breitkopf-Bolzen für die Jagd gehn extra.« »Kostet?« »Mit oder ohne Extrabolzen?« »Ohne. Sechs müßten reichen.« »Fuffzehnhundert.« »Gekauft.« »Kreditkarte?« »Bar.« »So is richtig. Da hamse ne gute Wahl getroffen.« Elvis packte die Luftdruck-Harpune in die Schachtel, und Beatifica zählte fünfzehn nagelneue Hundert-DollarScheine auf den Tresen. Als sie den Blick wieder hob, fiel er auf ein Schild an der Wand. WENN SIE SICH RÜHREN,
KNALL ICH SIE AB
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MAGNOLIEN »Was kann ich für Sie tun, Miss?« Beatifica saß an der Bar des Chowtaw Cafe in der Ibervil le Street und studierte die Speisekarte. Als sie den Blick hob und in das häßlichste Gesicht schaute, das sie je gese hen hatte, erschrak sie so heftig, als hätte sie sich im Traum plötzlich in den Armen einer Leiche wiedergefunden, un fähig, die steifen, eisigkalten Hände von sich abzustreifen. »Ich meine, soll ich Ihnen was bringen oder brauchen Sie noch ‘n Moment?« Beatifica mußte sich zwingen, den Mann noch einmal anzusehen. Sein ganzes Gesicht war blaurot, die Haut war ein einziges Muttermal, das bis hinein in den Hemdkragen des Mannes reichte. Irgendwo in dieser epidermalen Maske schimmerten zwei Augen wie Gaslaternen in einer mondlosen Nacht. »Nur einen Kaffee«, sagte Beatifica und widerstand dem Impuls, aus dem Cafe zu laufen. Ein paar Hocker weiter redete ein kleiner, drahtiger, völlig kahlköpfiger Mann in einem schmutzigen weißen TShirt und gelben Bermudas mit roten Hosenträgern, dessen genaues Alter irgendwo zwischen siebzig und neunzig zu liegen schien, mit heiserer Stimme auf den Mann hinterm Tresen ein. »In Chi hab ich Kid Magnolia gegen Basilio in den Ring gestellt. Das hättste sehn solln, wie er ihn aufgemischt hat. Basilio hat ‘n paar Wochen lang den Sportteil nich mehr lesen könn’n. Und dann hat Kid geheiratet. Diese verfluchte Schlampe, die hat ihm den Mumm geraubt, was nich mal ein Tiger Flowers geschafft hat. Oder ein Sandy Saddler. Oder ein Gavilan, ein Pep oder ein Grif 89
fith in Hochform, als er noch keine Tüten geklebt hat. Keiner von denen hat das geschafft. Die ganzen Mäuse, die ich für ihn gespart hatte, hat sie ihm abgenommen und zwischen Canal Street und Michigan Avenue unter die Leute gebracht. Und als sie Lust auf die ganz große Kohle hatte, da hat sie ihn dazu gebracht, im Garden mit Sugar in den Ring zu klettern. Ich wollt ihn ja gegen La Motta schicken, dem hart er zwölf Runden lang zugesetzt, bis zum Schlußgong. La Mot ta war ‘n Tier, der wollte einfach nicht umfallen, und er war ‘n viel besserer Boxer, als die meisten sagen, aber Kid hätte ihn vermöbelt. Leider konnten wir von La Motta nich die Kohle kriegen, die Kids heiliger Hausdrachen brauchte, also haben wir mit Sugar abgeschlossen. Fünf Runden hat’s ge dauert. Und in der Zeit hatte Ray den Kid dreimal am Bo den. Er war noch nich so weit, war nich fit für den Kampf. Mit ihrer Muschi hat sie ihm den Kopf verdreht, weder auf mich noch auf Joe Falco hat er gehört, auf niemanden. Natürlich ist sie ihm weggelaufen. Mit ‘nem Loddel hat se angebändelt, aus Camden oder weiß der Teufel von wo. Aber Kid war erledigt. Hatte kein Selbstvertrauen mehr, war nix mehr zu machen. Kann man für Geld nich kaufen. Hab’ ihn mit Dynamite Daley in den Ring gestellt, als Da ley schon auf der Nadel war, und Kid hat sechs Runden gestanden. Sechs! Mit ‘nem Junkie! Hab’ ihm Virgil Akins besorgt, und er lag nach zwei Runden. Das letzte Mal war mit Giardello in Jersey, und es war schon vorbei, als Falco den Hocker aus der Ecke gehoben hatte. Im Nichts isser geendet, wie King Levinsky; der is in Mia mi von Swimmingpool zu Swimmingpool gezogen und hat handgemalte Schlipse verhökert. Dieses verfluchte Weib hat ihn so scheißselbstsicher gemacht, und das tut nicht gut. Dann fangen die Dinge an, dir aus den Händen zu gleiten.« Beatifica legte einen Dollar auf den Tresen und ging hinaus, ohne ihren Kaffee angerührt zu haben. 90
OPFER DER ALLGEMEINEN
MEINUNGSMACHE
Schwester Dilys Salt stand in der Kirche der Anderen Hand auf dem Podium und überblickte ihre Gemeinde. Alle 401 Plätze waren besetzt, und in den Seitengängen und im hinteren Teil drängten sich noch ungefähr hundert Leute. Vor der Kirche waren Lautsprecher aufgestellt worden, damit auch diejenigen Schwester Dilys Predigt hören konnten, die von den feuerpolizeilichen Vorschriften dazu gezwungen wurden, draußen auf der Treppe zu bleiben, zu deren Füßen sich an die fünfzig Demonstranten versammelt hatten, Anti-Abtreibungs-Aktivisten, die keine von Dilys Predigten ausließen. Eine Kette aus kräftig gebauten Schwestern der Klyemnestra hielt die De monstranten davon ab, in das Gebäude einzudringen, wie sie es früher schon einmal versucht hatten. »Vereinigte Schwestern!« begann Dilys, wie sie jedesmal begann. »Und ihr viel zu wenigen Waffenbrüder, willkommen in der Kirche der Anderen Hand. Und ihr da draußen, die ihr gegen uns seid, hört meine Warnung: Ihr dürft die Körperteile nicht verwechseln, vor allem nicht Hand und Wange. Wir werden weder schlagen noch hinhalten! Die nicht enden wollende Seuche der Un wissenheit wird von den Opfern der allgemeinen Mei nungsmache verbreitet, von Unglücklichen, die eine Beute der Angstmacher geworden sind. Laßt euch sagen: Die erleuchteten Anhänger der Überzeugungen der Kirche der Anderen Hand lassen sich nicht niedertrampeln! Wir stehen fest auf dem höheren Boden der freien Selbstbe stimmung. Es wird keinen Rückzug in die Finsternis mehr geben. Und unser Blut wird auf keiner Schwertklin 91
ge mehr zu begaffen sein! Die Eine Hand wird fallen, wenn die Andere Hand sich erhebt. Und dann rufen wir denen zu, die immer noch auf der Seite der Einen Hand stehen: Fahret dahin, ihr Verfluchten, in das Ewige Höl lenfeuer, seid bereit für den Teufel und seine Engel.« Während sich Dilys Salts Herde im Rhythmus ihrer Verkündigung wiegte, saß Dallas Salt auf der anderen Seite in seinem Ankleidezimmer und hatte die Augen ge schlossen. Fatima Verdad, eine fünfzehnjährige Prostitu ierte, die Sabine Yama mit dem Auto aus Algiers herüber geholt hatte, stand hinter dem Priester und massierte ihm die Ohren und den Nacken mit ihren schokoladenbraunen Brüsten, derweil er onanierte. Fatima Verdad war extrem dünn, ganz so, wie es Dallas’ Vorlieben entsprach, und ihre vergleichsweise großen Brüste betrachtete er als eine Art Bonus. Dallas zupfte träge an seinem halberigierten Schwanz herum, vollkommen entspannt, und hörte Fatima dabei zu, wie sie leise vor sich hinsummte. »Was ist das für eine Melodie, Kleines?« fragte er sie. »Soll ich aufhören?« »Nein, nein, Baby. Es gefällt mir. Kennst du den Titel?« »›Things That Make You Go Hmmm‹ heißt das, von der C & C Music Fact’ry.« »Und ob du mich dazu bringst, Hmm zu singen! Beug dich vor, Schätzchen, und schlag mir deine süßen Titten um die Ohren.« »Ich werd auch mal Sängerin«, sagte Fatima Verdad, während sie, auf ihren Zehenspitzen stehend, die Brüste mit den Händen anhob und Dallas Salt mit den Nippeln über das Gesicht strich. »Ne richtige Sängerin, nich wie manche Mädchen, die nur tanzen und so tun, als ob sie singen.« Der Priester streichelte sich schneller. »Ich kann auch so tanzen wie Paula Abdul. Gefällt dir Paula Abdul? Ganz hübsch isse ja, aber hat keine Titties.« 92
»Komm jetzt her zu mir, Baby«, sagte Dallas. »Mach schnell, Mädchen!« Fatima, die bis auf das Halsband mit dem Kreuz, das sie auf Anweisung Sabine Yamas angelegt hatte, bevor sie losgegangen waren, völlig nackt war, kniete vor Dallas Salt nieder, wie Sabine es ihr erklärt hatte, als er sie mit den Vorlieben des Priesters bekanntgemacht hatte, und lutschte vorsichtig an seinem Penis. Die Prostituierte blieb auch ganz ruhig, als Dallas Salt soweit war, sie zuckte nicht einmal zusammen. Der Priester blieb einen Moment lang mit geschlossenen Augen sitzen. Seinen schrumpfenden Schwanz hielt er immer noch in der Hand. »Hast du gut gemacht, Mädchen«, sagte er schließlich und sah Fatima Verdad an. »Sabine!« rief er. Sabine Yama hatte direkt vor der Tür gewartet. »Zeig ihr, wo sie sich waschen kann und gib ihr etwas Geld fürs Taxi. Wieviel Zeit hab’ ich noch bis zur Sen dung?« »Ungefähr fünfzehn Minuten.« Sabine reichte ihm ein Handtuch, mit dem Dallas sich die Hände und die Beine abwischte. »Puh! Früher hat’s nicht so lange gedauert, bis ich fertig war«, sagte Dallas und erhob sich. Er sah Fatima Verdad dabei zu, wie sie in ihren Slip stieg. »Sei gesegnet, Kleines«, sagte er. »Hoffentlich hör ich dich bald mal im Radio.« Fatima lächelte und entblößte dabei eine Reihe großer weißer Zähne. »Werd’s schon schaffen, wenn Gott mir hilft.« Dallas nickte und sagte: »Baby, war nicht das Schlechte ste, was er tun könnte.«
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SCHLAFTRUNK IN RUBY’S CARIBBEAN »Sabine, Herzchen, noch so eins, und ich leg mich sogar mit dir ins Bett!« Jimmy Sermo und Sabine Yama saßen in Ruby’s Carib bean Bar in der Poland Avenue an der Theke, tranken Bombay und hörten der Musicbox zu. Little Johnny Taylor hatte gerade sein »Love Bones« herausgeheult, und Fabrice Dos Veces, der transsexuelle Barkeeper, versprach dem jenigen einen Gratisdrink, der bereit war, für ihn »Looking for a Love« von den Valentinos zu drücken. Sabine hüpfte von seinem Hocker, warf ein paar Vierteldollarstücke in den Schlitz der Musicbox und drückte Fabrices Wunsch zusammen mit »The Things That I Used to Do« von Guitar Slim und »Nite Owl« von Tony Allen and the Champs in die Tastatur. Sabine war noch nicht wieder auf seinen Hocker geklettert, da stand bereits ein frischer Bombay on the Rocks mit einem Limettenschnitz für ihn bereit. »Gracias, Sabine«, bedankte sich Fabrice, als Bobby Wo macks schwermütige Stimme den Raum erfüllte. Jimmy Sermo rutschte vom Hocker auf den Fußboden und blieb zusammengerollt wie ein Fötus auf den braunen und weißen Fliesen liegen. Der kleine, dünne Mann von ein unddreißig Jahren hatte gewelltes blondes Haar, seine ha selnußbraunen Augen waren meistens blutunterlaufen, weil er Alkoholiker war. Jimmy und Sabine kannten sich seit ihrer Zeit als Strichjungen, und hin und wieder trafen sie sich in Rubys Caribbean oder im Saturn auf ein paar Drinks. Jimmy arbeitete jetzt in einem Waschsalon in der St. Ann Street, seine einst so engelhafte Erscheinung hatte im Laufe der Jahre schweren Schaden genommen. Tat sächlich machte sein ramponiertes, verlebtes Äußeres Sa 94
bine Sorgen. Vergeblich hatte er versucht, Jimmy dazu zu überreden, sich bei Dallas Salt Rat zu holen. Als Sabine zum letztenmal davon anfing, hatte Jimmy Sermo geantwortet: »Die Schwuchtel ist dein Erlöser, nicht meiner.« »Bruder Dallas ist keine Schwuchtel«, hatte Sabine ge antwortet. »Noch ‘n Grund mehr, keine Zeit für seinen Quatsch zu haben.« Fabrice Dos Veces, die in Stöckelschuhen nicht größer als einsfünfundfünfzig war und kaum über den Bartresen schauen konnte, wollte von Sabine wissen, wo Jimmy ge blieben wäre. »Schläft wie ein braver Junge hier unten auf dem Fuß boden.« »Nicht leicht heutzutage für ‘n Mann oder ‘ne Frau, ein bißchen Ruhe zu finden«, sagte Fabrice, befeuchtete die Spitzen der Zeigefinger und glättete ihre dicken schwarzen Augenbrauen, bevor sie die Enden nach oben bog. Gerade als Guitar Slim an Tony Allen übergab, ging die Tür auf, und herein kamen Terry Perez und Dogstyle Lou, die auch zu den Schwestern der Klytemnestra gehörte. Rubys Caribbean war nicht gerade das Stammlokal der Schwestern, deshalb waren Sabine und Fabrice erstaunt, die beiden hier zu sehen. »Werden hier auch richtige Frauen bedient?« wollte Dogstyle Lou von Fabrice wissen. »Wir servieren richtige Drinks an richtige Menschen, die dafür bezahlen können«, sagte Fabrice. »Du würdest ‘ne richtige Frau nicht mal erkennen, wenn sie hier auf der Bar hocken und dir ins Glas pissen würde.« Dogstyle Lou, die über einsachtzig groß und nicht gerade grazil gebaut war, lachte rauh und schüttelte den kurzgeschorenen Kopf. »Weißt du, Terry«, sagte sie, »das liebe ich so an New 95
Orleans, daß die Leute hier so geradeheraus sind. Wenn du hören willst, wie’s wirklich ist, gibt’s keine bessere Stadt im ganzen Land; der alte Aaron Neville wird ja nicht müde, uns das zu verkünden.« Dogstyle Lou warf einen Blick auf Sabine Yama, dann bemerkte sie Jimmy Sermo. »Doch, ‘n hübscher Laden, in den wir da geraten sind; ‘n Barkeeper, von dem man nicht weiß, isser nun Charo oder Bella Lugosi, und ‘n Kadaver und ‘n zusammenge schraubter Zwerg als Gäste.« Terry Perez ging hinüber zu Jimmy Sermo und stieß ihm die Spitze ihres rechten Stiefels gegen den Kopf. »Ich glaub, er atmet noch«, sagte sie. Fabrice schlug Dogstyle Lou so schnell mit dem Tot schläger nieder, daß die große Frau ihn gar nicht hatte kommen sehen. Sabine packte Terry Perez mit der kräfti gen, gesunden Hand an der Gurgel und drückte zu, bis Terry bewußtlos war, dann durfte sie sich zu Jimmy Sermo und Dogstyle Lou auf den Fußboden legen. Er drehte sich zur Bar um und trank sein Glas leer. »Noch eins, Sabine? Du bist mein Gast.« »Nein, danke, Fabrice. Ich muß noch fahren.« Sabine rutschte vom Barhocker und stieg vorsichtig über die liegenden Gestalten hinweg. »Is mir ‘n Vergnügen, dir beim Rausschaffen zu helfen«, sagte er. »Danke, Sabine, aber es muß nicht sein. Ich komm schon zurecht. Kannst mir trotzdem ‘n Gefallen tun, wenn du rausgehst.« »Und der wäre?« »Drück nochmal ›Lookin for a Love‹ für mich.« »Mach ich, Fabrice.« Sabine warf einen Vierteldollar ein, drückte den Buch staben H und die Ziffer 8 und ging hinaus auf die Straße.
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DER BESUCH Das war keine Ratte. Beatifica war ganz sicher. Eine Ratte hätte vielleicht eine Lampe umgestoßen, man hätte ein Krachen und anschließend ein huschendes Geräusch ge hört. Dies Geräusch stammte von einem größeren Wesen, kein Zweifel. Beatifica schlug die Augen auf, blieb aber absolut regungslos im Dunkeln liegen. Es bewegte sich etwas, begleitet von einer Art Rascheln oder Schlurfen. Zuerst hörte es sich wie Flügelschlagen an, und dann so, als würden Kartons hin- und hergeschoben. Beatifica setzte sich auf und sah eine große, gertenschlanke Gestalt, die auf der anderen Seite des Zimmers umherhuschte. Die Gestalt drehte sich zur Seite, und im gebrochenen Lichtschein, der von der Decatur Street hereinfiel, konnte sie deutlich die Konturen eines Vollbartes und eine Adlernase erkennen. Wie immer trug er einen schwarzen Gehrock. »John!« sagte sie, und die Gestalt blieb wie angewurzelt stehen. »Du bist es, John, du mußt es sein. Komm näher.« Die Gestalt wandte sich dem Bett zu, machte einen klei nen Schritt nach vorn und blieb dann stehen. »Ich wußte, du würdest zu mir kommen, John. Ich hab’ fest daran geglaubt, daß du mir eines Tages mehr von dir geben würdest als deine Stimme im Traum. Ich werde tun, was du von mir erwartest, John. Ich habe jetzt die Waffe. Jetzt muß ich nur noch auf den geeigneten Moment warten.« Beatifica zog die Träger ihres Nachthemds herunter und entblößte ihre Brüste. Sie breitete die Arme weit aus und winkte die erstarrte Gestalt zu sich. 97
»Nimm mich, John«, flehte sie. »Seit langer, langer Zeit gehöre ich nur noch dir. Schlaf jetzt mit mir, schnell, so lange noch Mondlicht ist.« Beatifica stand auf, ging zu ihm, griff nach seiner Jacke, zog ihn zum Bett, zog ihn zu sich herunter. »John Browns Körper liegt jetzt bei mir!« rief sie aus, als ihr Besucher begann, sich aus eigenem Antrieb zu bewe gen.
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BETROGEN »›Die Schlange betrog mich, so daß ich aß‹, sagte Eva. So steht’s jedenfalls in der Genesis. Aber war es auch so? Ich frage euch, wurde das Weib verfährt? Wurde es ganz und gar getäuscht? Ich glaube nicht, Leute. Als Eva sich an dem Apfel gütlich tat, biß sie mehr davon ab, als sie kauen konnte, oder was meint ihr? Und ich sage euch, Leute, auch wenn man es euch eigentlich nicht sagen müßte, aber ihr sollt wissen, daß ihr mit eurem Denken nicht allein seid: So etwas wie eine unbefleckte Empfängnis gibt es nicht. Die gibt es nicht! Eine Frau weiß, was sie tut, wenn sie es tut, genauso wie der Mann es weiß. Da gibt es keinen Unterschied, absolut keinen. Wenn eine Frau Ge schlechtsverkehr mit einem Mann hat, dann weiß sie, sie weiß es vorher, daß eine der Folgen dieser Handlung die Empfängnis eines Kindes sein kann. Und wenn ein solches Leben einmal existiert, dann hat es dieselben Rechte wie ihr oder wie ich, und an allererster Stelle hat es das Recht auf Leben. Wenn jemand dieses Baby tötet, dann ist das Mord. Punkt. Ich kenne die Argumente derjenigen, die für die ›Selbst bestimmung‹ eintreten: ›Was ist, wenn die Schwanger schaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist?‹ Oder: ›Was ist, wenn man vorher weiß, daß das Kind behindert sein wird?‹ Oder: ›Was ist, wenn die Geburt eine Bedro hung für das Leben der Mutter darstellt?‹ Oder: ›Was ist, wenn die Eltern zu arm sind, um das Kind zu ernähren?‹ Nun, ich sage euch, Leute í und auch das muß man euch eigentlich nicht sagen í, Töten ist und bleibt Töten. Steht es nicht ganz oben auf der Liste, zusammen mit ›Du sollst nicht stehlen‹ und den anderen Geboten? ›Du sollst nicht 99
töten.‹ Ich weiß, ihr rennt alle in diese Gangsterfilme, ihr seht euch diese albernen Serien im Fernsehen an oder lest Comics wie ›Der Rächen. Ich tu das auch. Und warum macht uns das Spaß? Weil es nicht wirklich passiert! Da habt ihr den Unterschied! Der entscheidende Unterschied im Hinblick auf das, worüber wir heute abend reden. Wenn ich euch das alles erzähle, dann weiß ich wohl, daß ich denjenigen predige, die bereits bekehrt sind, auch wenn die meisten von euch gar nicht erst bekehrt werden mußten. Nein, die meisten von euch hatten es von Anfang an begriffen. Deshalb will ich darüber keine weiteren Wor te verlieren. Wir müssen jedoch darüber reden, wie wir die Blinden sehend machen können. Gepriesen sei die Hand, welche die andere wäscht. Doch wie kann eine Hand das Rechte tun, wenn sie nicht weiß, was die andere tut? Man kann ein Mahl nicht ordentlich bereiten, wenn eine Hand ruhig, die andere jedoch unstet ist. Leute, mit dem Gebet allein werden wir das Ziel nicht erreichen. Ihr alle habt ei ne harte Zeit furchteinflößenden Lernens vor euch.« Beatifica Brown schaltete das Radio aus. Sie blickte auf die sechs Aluminiumpfeile, die sie í Spitze an Ende í vor sich auf dem Boden zu einem Kreis arrangiert hatte. In der Mitte dieses Kreises lag mit montiertem Zielfernrohr die Luftdruckwaffe, die sie zusammen mit den Pfeilen bei Elvis Steck gekauft hatte. In ihrer Wohnung an der Pauger Street hörte Dilys Salt der Absage der mitternächtlichen Predigt ihres Bruders zu. »Sie hörten eine Sendung von WGOD«, sagte der Spre cher, »der Stimme Gottes in New Orleans.« Dilys vermißte Terry Perez, die mit einer schlimmen Luftröhrenquet schung im Krankenhaus lag. Sie nahm ein Buch von Terry zur Hand, das auf dem Nachttisch lag: Les Fleurs du Mal von Charles Baudelaire. Dilys schlug es an irgendeiner Stelle auf und las: »De Satan ou de Dieu, qu’importe?«
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MIT FREUNDLICHEN GRÜSSEN
VON MISS BROWN
Easy Earl kletterte vorsichtig aus seinem Mercury Mon arch, blieb neben dem Wagen stehen und streckte den Rücken. Das jahrelange Be- und Entladen von Postsäcken forderte von Kreuzbein und Hüfte seinen Tribut. Earl fand es an der Zeit, sich einen leichteren Lebensunterhalt zu suchen. Wenn ein von der Post anerkannter Arzt ihn berufsunfähig schreiben würde, dann hätte er für den Rest seines Lebens Anspruch auf eine Berufsunfähigkeitsrente und obendrein viel Zeit, sich zu überlegen, wie er dieses Einkommen aufbessern konnte. Nachdem er seinen Rücken ein wenig gelockert hatte, betrat Earl Blakey das High Heaven und kletterte auf einen der Barhocker. »Crown Royal mit Milch?« fragte ihn der Barkeeper, ein neues Gesicht, das Earl noch nicht kannte. »Woher weißt du das?« »Von Buford. Hat mir gesagt, daß du regelmäßig rein kommst. Typ mit glatten Haaren und Ray-RobinsonSchnurrbart hat er gesagt. Ich bin Maceo.« »CR mit Milch ist genau richtig, Maceo. Was ist mit Bu ford?« »Kriegt ‘nen Backenzahn gezogen.« Maceo stellte Earls Drink auf den Tresen. »Ist ‘ne kleine braune Frau hier gewesen, nicht häßlich und ungefähr mein Alter?« Maceo schüttelte den gestriegelten Kopf. »Gut. Dann hab’ ich sie wenigstens nicht verpaßt.« Maceo ging einen anderen Gast bedienen, und Earl blickte hinauf in den Fernseher über der Bar. Dort redete ein makellos frisierter Nachrichtensprecher, dessen hell101
braunes Haar aussah, als sei es ihm auf den Kopf gesprüht worden. Der Scheitel von dem Typen, dachte Earl, sieht aus wie die Sandfalle auf einem Par-Vier-Loch, wenn nicht Par-Fünf. »Ein Bundesappelationsgericht hat sich heute geweigert, das bisher strengste Anti-Abtreibungsgesetz in die sem Land auf dem schnellsten Weg vor das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten zu bringen. Das US-Ap pelationsgericht in New Orleans verwarf einen Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, ein Hearing zu der Streit frage einzuberufen und bestimmte Punkte in der Sache zu bestätigen, um eine unmittelbare Revision durch den Supreme Court zu erreichen. Das aus drei Richtern beste hende Gremium sah keine Gründe für eine solche Ent scheidung. Das Gesetz, das in diesem Sommer von der Legislative des Staates Louisiana verabschiedet wurde, droht Ärzten, die illegale Abtreibungen vornehmen, Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren und Geldstrafen bis zu hunderttausend Dollar an. Legal wären Abtreibungen nur dann, wenn sie das Leben der Mutter retten würden und í nach strengen Richtlinien í in Fällen von Schwangerschaft, die das Resultat von Vergewaltigungen oder Inzucht sind.« Earl nippte an seinem Crown Royal mit Milch, stellte das Glas ab, zog sich eine Kool aus der Packung in seiner Brusttasche und steckte sie sich zwischen die Lippen. Er wartete, bis der Nachrichtensprecher mit seiner Meldung über das Abtreibungsthema fertig war, bevor er sich die Zigarette anzündete. »Ein Richter eines Bundesbezirksgerichts hatte Anfang dieses Monats entschieden, daß das Gesetz des Staates Louisiana nicht verfassungskonform ist. Die Entscheidung des Richters blockiert seinen Vollzug bis zur Revisi on durch einen höheren Gerichtshof. Der Generalstaats anwalt betonte heute: ›Louisiana hat nicht nur rationale 102
Gründe sondern auch ein zwingendes staatliches Interesse daran, das Leben Ungeborener zu schützen.‹« Earl nahm ein Heftchen mit Streichhölzern zur Hand, das auf dem Tresen lag, riß eines davon an, hielt es an die herunterbaumelnde Spitze seiner Kool und nahm einen tiefen Zug. Er warf einen Blick auf das Heftchen und las die Aufschrift: MIT GEDICHTEN EINEN HAUFEN GELD VERDIENEN! TEL: 1-800-RIMBAUD. Earl hatte sich mit Beatifica im High Heaven verabredet, um ihr die letzte Rate für Ritas Abtreibung zu zahlen. An Rita hat die Frau sicher kein Unrecht getan, dachte Earl, und was die Bezahlung betrifft, war sie mehr als geduldig. »Sie ham doch nichts dagegen, wenn ich der Quassel strippe die Luft abdreh’?« sagte Maceo zu Earl, langte nach oben und schaltete den Fernseher aus. »Hab’ genug gehört über die Probleme der Frauen.« Maceos Frage war offensichtlich rhetorischer Natur ge wesen, deshalb enthielt sich Earl eines Kommentars. Der Barkeeper ging um den Tresen herum zur Musicbox, warf mehrere Münzen in den Schlitz und drückte ein paar Tasten. Das geisterhafte Jaulen von Steve Ray Vaug hans Steel Guitar zu dem Song »Hillbillies from Outer Space« gab der Atmosphäre einen entschieden anderen Dreh. »Da schmeckt der Drink doch gleich viel besser«, sagte Maceo, als er wieder bei Earl war. »Soll ich schon mal nachfüllen?« Easy Earl lächelte und entblößte dabei sieben Goldzähne, für die er seinerzeit zwei Riesen auf den Tisch hatte le gen müssen, als Ersatz für die echten, die ein Mann na mens DeSoto Sturgis ihm vor zwanzig Jahren bei einer Auseinandersetzung in dem Nachtlokal Wig Hat Tippo’s oben im Itawamba County, Mississippi, mit dem silber nen, wie ein Hundekopf geformten Knauf eines Gehstocks aus dem Kiefer geschlagen hatte. Kurz darauf hatte 103
Earl gehört, daß DeSoto Sturgis in Angola in der Todes zelle saß, weil er in einem Hotelzimmer in Bossier City ei ner weißen Frau die Augen ausgeschossen hatte. Earl konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob DeSoto Sturgis tat sächlich auf dem Elektrischen Stuhl gelandet war oder nicht, aber er nahm an, daß man das Urteil an ihm voll streckt hatte, denn der Staat Louisiana schreckte ja nicht einmal bei Verbrechern weißer Hautfarbe vor einer Hin richtung zurück, geschweige denn bei einem Schwarzen vom Kaliber eines DeSoto Sturgis. »Schenk mir noch einen ein«, sagte Earl zu Maceo. »Hab’ ja nichts mit der Frau vor, mit der ich hier verabre det bin.« Maceo lachte und entblößte dabei seinen eigenen Ein bausatz metallischer Ersatzteile. Bei ihrem Anblick kam Earl der Gedanke, daß es wohl auch in Maceos Vergan genheit den einen oder anderen DeSoto Sturgis gegeben hatte. »Wenn da das glaubst«, sagte der Barkeeper, »dann hat die Frau dich genau da, wo sie dich haben will.« Easy Earl grinste wieder und trank seinen ersten CR mit Milch aus. Die Töne einer texanischen Steelguitar prallten in seinen zerebralen Hemisphären hin und her. »Normalerweise hättest du ja recht. Aber bei der, nein, nein. Die schwebt in höheren Gefilden.« »Na, Mr. Earl í dann wett ich einen Niggerdollar mit dir, daß wir ihren Namen in den Fernsehnachrichten hören.« Earl nickte und sagte: »Würde mich auch nicht wundern, Maceo, aber meinetwegen. Du bist dabei.«
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DIE ERWECKUNG Als Beatifica sieben war, ereignete sich ein Zwischenfall, der ihr für den Rest des Lebens im Gedächtnis blieb. Ihr Vater hatte geschäftlich mit einem Mann in der Okaloosa Street in der Nähe der Nebraska Avenue zu tun, und er nahm seine jüngere Tochter mit. Es war ein extrem heißer Sonntagnachmittag im August, und während sie in German Morenos graublauem Ford Galaxie von Ybor City, dem Stadtteil, in dem sie lebten, in nördlicher Richtung durch Tampa fuhren, kam es Beatifica so vor, als würde die ganze Stadt in Flammen stehen. Die dunstige Luft war gelb; braune Teilchen flogen darin herum, und das kleine Mädchen fühlte sich, wie ihr Goldfisch sich fühlen mußte, wenn er neues Wasser brauchte. An der Kreuzung Buffalo und Nebraska sprang Ger-man Moreno ein nackter Mann vors Auto. German machte eine Vollbremsung, und Beatifica, die auf dem Beifahrersitz saß und nicht angeschnallt war, wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert. Sie hatte eine Platzwunde auf der Stirn und eine geprellte Nase, aber sonst war sie unverletzt. Beatifica fiel in den Sitz zurück, und vorne auf der Motorhaube des Ford hockte der nackte Mann, der langes, zottiges Haar und einen Bart hatte, und der so mager war, daß man durch die Haut die Umrisse der Knochen erkennen konnte. Der Mann starrte ihr mit seinen roten Augen direkt ins Gesicht, streckte seine dicke schwarze Zunge heraus und bewegte sie hin und her. »Papa! Papa!« schrie Beatifica, warf sich ihrem Vater in die Arme und begrub ihr blutiges Gesicht an seiner Brust. Der nackte Mann stand jetzt auf der Motorhaube und urinierte gegen die Windschutzscheibe. German Moreno 105
saß wie angewurzelt hinter seinem Lenkrad, unfähig zu begreifen, was da vorne passierte. Beatifica wandte den Kopf und sah den verrückten Kerl, der da vorne auf dem Auto stand und den Strahl aus seinem Penis mit einer Hand gegen das ungetönte Sicherheitsglas richtete. Sie fühlte, wie ihre Tränen sich mit dem Blut vermischten, das an ihrem Gesicht herunterfloß, aber Beatifica wandte den Blick nicht wieder ab. German stellte die Scheibenwischer an, die sich mit lauten, klopfenden Geräuschen in Bewegung setzten. Der wilde Mann kippte auf die Seite, den Schwanz immer noch in der Hand, und landete neben dem linken Vorderrad des Galaxie auf der Fahrbahn. Beatifica starrte unverwandt auf die grünlichen Schmier streifen quer über der Windschutzscheibe. Als ihr Vater und sie vor dem Haus in der Okaloosa Street angekommen waren, war Beatifica eingeschlafen, mit dem Kopf auf Germans Schoß. Er weckte seine Toch ter vorsichtig auf, und nachdem Beatifica die Augen auf geschlagen hatte, waren ihre ersten Worte: »Papa, warum hat Jesus uns angepißt?«
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DAS GEHEIME LEBEN DER INSEKTEN »Du wirst es nicht glauben, Bruder Dallas.« »Was werd ich nicht glauben? Wer ruft mich um diese unchristliche Zeit an, Sabine?« »Deine Schwester Dilys.« Dallas Salt nahm Sabine das drahtlose Telefon aus der Hand und klemmte es sich oberhalb der gestickten golde nen Initialen auf der Brusttasche seines Seidenpyjamas unters Kinn. Er saß aufrecht im Bett, als Sabine ihm zwei Kissen hinter Rücken und Kopf stopfte. Dallas räusperte sich, bevor er den Hörer ans Ohr hielt. »Dilys? Wie komm ich zu dem Vergnügen? Weißt du, daß es halb vier in der Früh ist?« »Ich weiß, wie spät es ist, Dallas, und von Vergnügen kann keine Rede sein. Ich habe schlechte Neuigkeiten. Pil lara ist tot.« »Wie?« »Mama sagt, die Leute im Thelma Cates Palestine Hou se in Piain Dealin’, wo wir sie seit ein paar Jahren unter gebracht haben, hätten ihr erzählt, daß Pillara bei einem Picknick draußen am Red River war, und da ist ihr eine Tarantelwespe ins Ohr geflogen, hat sich verfangen und sie gestochen. Bis sie einen Arzt geholt hatten, war Pillara angeschwollen wie ein Preisbulle. Gestern nachmittag um vier ist sie gestorben.« »Und warum rufst du mich erst jetzt an?« »Ich wußte gar nicht, ob ich dich überhaupt anrufen will, schließlich hast du dich seit ihrer Geburt nicht mehr um deine Tochter gekümmert. Aber sonst hätte Mama dich angerufen, da hab’ ich ihr gesagt, daß ich es mache. Und jetzt hab’ ich’s gemacht.« 107
»Wo ist die Beerdigung?« »Es gibt keine. Den Palestiniern hab’ ich gesagt, daß Mama sie abholt, um sie auf einem Acker zwischen Ida und Mira zu begraben. Dann können Mama und ihre Leute sich um das Grab kümmern.« »Welche Konfession?« »Traditionelle Baptisten, wie Mamas Familie. Was denn sonst?« »Wir sollten dabei sein, Dilys. Ein paar Worte sagen.« »Und vielleicht noch Händchenhalten, während der Fichtensarg hinabgelassen wird, was? Du bist ‘n Wichser, Dallas.« Dilys legte auf. Vor Dallas Schlafzimmerfenster zuckte ein Blitz über den Himmel, aber es regnete nicht. »Sabine?« sagte Dallas, als er dem verkrüppelten CajunPakistani das Telefon zurückgab. »Kannst du dich noch an diese Imitatorin erinnern, diese beinahe einsneunzig große Terzeronin, die letztes Jahr von Lake Charles nach New Orleans gezogen ist? Hieß die nicht Mumbo Jumbo oder so ähnlich?« Sabine nickte. »Mumbo Degolas. Kam aus Lake Arthur. Arbeitet in Chataignier’s Monkey House im Quarter.« »Würdest du sie bitte anrufen, Sabine. Vielleicht kann sie rüberkommen und mir einen Gefallen tun. Und wenn ich schlafe, soll sie trotzdem anfangen; ich wach schon auf, wenn ihre dicken Lippen mir den Schwanz poliern.« »Und was ist mit Dilys?« »Vom Blasen hat die noch nie was verstanden, Sabine. Zu große Zähne. Mach schon, ruf diese Miss Mumbo an.« Dallas rollte sich auf die linke Seite und schloß die Au gen. Ihm fiel ein Bursche namens Larry Lucca ein, mit dem er zusammen beim Militär gewesen war, ein Italiener aus Brooklyn, der behauptet hatte, einer seiner On kels drüben in der alten Heimat hätte an einer Krankheit gelitten, die sich Tarantismus nennt, ein nervöser Zu108
stand, der durch Wechsel zwischen Melancholie, Erstar rung und dem unkontrollierbaren Wunsch zu tanzen cha rakterisiert ist. Dallas fragte sich, ob Larry Luccas Onkel sich diese Krankheit nicht vielleicht durch einen Stich der Tarantelwespe geholt hatte, und nicht weil eine Tarantel spinne ihn gebissen hatte, wie die Familie Lucca glaubte. Beim Einschlafen stellte Dallas sich ein junges Mädchen mit schräggestellten Augen und einem breiten, flachen Schädel vor, das ihre lange Zunge herausstreckte und mit unbeholfenen Bewegungen die Tarantelle tanzte.
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BLUTROTER MITTAG
Seit John Browns erstem Besuch wartete Beatifica voller Ungeduld auf seine Rückkehr. Nacht für Nacht lag sie wach, bis sie von der Müdigkeit überwältigt wurde und in einen kurzen, unruhigen Schlaf fiel. Beatifica hielt es durchaus für möglich, daß Regierungsmenschen dem Mann ihres Lebens auflauerten, weil sie Angst hatten, er könnte seinen Schwur wahrmachen und »eine ganze Reihe von Osawatomies« schaffen, gewalttätige Aktionen, mit denen er die Nester des Widerstands gegen Gleichheit und fortschrittliche Gesinnung ausheben wollte. Seitdem sie via telepathischer Kommunikation in seine wiedererwachte Streitmacht der Erleuchtung aufgenommen worden war, hatte Beatifica viel darüber nachgedacht, was es bedeutete, vom Geist des John Brown infiziert zu sein, und dabei war ihr klargeworden, daß seine Sehnsüchte jetzt durch sie und andere ihres Schlages weiterlebten. Selbst wenn er nicht noch einmal zu ihr käme í Beatifica wußte, sie würde sich aufmachen und seinen Erwartungen gerecht werden. Jeden Samstagmittag hatte Dallas Salt einen Termin in Dutz’s »Babierladen zum Tanzenden Kamm« in der Feli city Street. Seit Wochen schon hatte Beatifica die Ge wohnheiten des Priesters heimlich beobachtet, und sie war zu dem Schluß gekommen, daß Dutz Sanglants Stuhl genau der richtige Ort war, um die Schere an Bruder Dal las’ Lebenserwartung anzusetzen. Nach einer besonders unruhigen Nacht zum Samstag er hob sich Beatifica kurz nach Sonnenaufgang von ihrem einsamen Lager. Es war ein kühler, wolkiger 2. Dezember, der Jahrestag von John Browns Hinrichtung. Die Attentä 110
terin legte ihr Arsenal bereit. Die Waffe verbarg sie in einer großen Canal-Place-Einkaufstasche aus Segeltuch, dann kleidete sie sich langsam an. Sie trug ein Batik-T-Shirt mit dem Aufdruck WO DIPLOMATIE VERSAGT... unterhalb eines braunen Feldjacken-Einsatzstücks. Darüber zog sie einen Tarnanzug mit einem willkürlichen Muster aus braunen und olivgrünen Flecken und Gitternetzlinien auf einem olivgrünen Untergrund von etwas hellerer Tönung. Um die Hüften schnallte sich Beatifica einen Typ-13-Pilo tengürtel aus schwarzem Nylongewebe, und über den Kopf zog sie eine Heckenschützenmaske aus Polyester. Dazu legte sie schwarze Coolmax-Socken, Sta-Dri-Liners und ein Paar atmungsaktive Segeltuchstiefel mit nicht klumpenden Panama-Laufsohlen und Stegverstärkern an. Sie stand am Fenster und studierte den Himmel, aber zwi schen den Wolken war kein Gesicht zu erkennen. Bis elf Uhr blieb sie in ihrem Zimmer, dann nahm sie ihre Tasche und machte sich auf den Marsch zur Felicity Street. Dallas Salt war an diesem Vormittag ungewöhnlich mie ser Laune. Ein Traum hatte ihn schlecht schlafen lassen, ein Traum, in dem Dilys, in Lumpen gekleidet, sich ihm genähert hatte, als er in der Kirche der Einen Hand vor sei ner Gemeinde stand. Sie hatte den Mund geöffnet, als wollte sie sprechen, aber dann war í mit dem Kopf voran í ein mißgestaltetes Baby daraus zum Vorschein gekommen und vor seinen Füßen auf den Boden geklatscht. Das Baby hatte keinen Ton von sich gegeben, aber es hatte sich da vorne auf der Bühne in offensichtlicher Todesqual ge wunden und gekrümmt, und Dallas Gemeinde hatte ihn zur Rede gestellt und ihn wegen der unheiligen Handlung mit seiner Schwester gezüchtigt. In dem Moment war Dilys von der näherrückenden Menge verschluckt worden und seinen Blicken entschwunden. Dallas war schweißgebadet und mit steifen Armen erwacht. »Diesmal nur rasieren, Dutz«, sagte Dallas, nachdem er 111
seinen Platz auf dem Frisiersessel eingenommen hatte. »Hab’ heute keine Lust, hier lange rumzusitzen.« »Wie du willst, Pastor«, sagte Dutz Sanglant, ein spindel dürrer, haarloser Mann von fünfundfünfzig Jahren, dessen ockerfarbene Haut davon zeugte, daß er seit fünfund zwanzig Jahren nach Pernod süchtig war. Als Kind hatte man ihm den Spitznamen »Der Chihuahua« gegeben. Als Dutz gerade den Sessel nach hinten stellte, warf Dal las einen Blick auf den treuen Sabine Yama, der ihm m dem wandbreiten Spiegel direkt gegenüber saß und mit der gesunden Hand in der alten Ausgabe eines AbenteurerMagazins blätterte. In Dallas Bauch rumorte es, und plötzlich wurde ihm schlecht, aber er widerstand dem Drang, sich zu übergeben und schloß die Augen, als der Friseur ihm ein heißes Handtuch auf das Gesicht legte. Als erster bemerkte Sabine die Person, die durch die Tür hereinkam, das Gesicht von transparentem Stoff verhüllt. Als er das Rascheln der Einkaufstüte hörte, hielt Dutz mit seinen Verrichtungen inne und sah gerade in dem Moment hinüber, als dem Priester der erste metallische Blitz in den Bauch fuhr. Das nächste Geschoß flog durch Dutz Sanglants offenen Mund, durchschlug die Rückseite seines Schädels und blieb hinter ihm in der Wand stecken. Ein dritter Pfeil riß Sabine Yama einen Teil seines Gesichts weg und zwang ihn auf die Knie. Das vierte und letzte Projektil durchbohrte das Herz des blu tenden, schwankenden Priesters; die Spitze stand aus der Rückenlehne des Sessels heraus und fixierte den Körper. Als die verhüllte Gestalt sich umdrehte, war es dem halb blinden Yama gelungen, die 25er Beretta Automatik zu ziehen, ihre todbringende Mündung auf den Angreifer zu richten und so oft abzudrücken, wie er es noch vermochte bevor er unter Schmerzen mit schwindendem Bewußtsein zusammenbrach und sein geschundenes Fleisch auf dem ausgetretenen, kühlen Linoleum zur Ruhe bettete. 112
LA VERDAD Keine der Schwestern der Klytemnestra hatte etwas dage gen, daß Sabine Yama von Dilys eine Sonderbehandlung erfuhr. Seit dem Augenblick, als Dilys ihn aufgenommen hatte, war der verkrüppelte und scheußlich entstellte Mann zu einem unersetzlichen Mitglied der Kirche der Anderen Hand geworden. Für Schwester Dilys tat er alles, bei Tag und auch bei Nacht, denn er hatte es sich angewöhnt, auf dem Boden vor dem Fußende ihres Bettes zu schlafen. Sabine war Dilys Faktotum, ihr Leibwächter, ihr Vertrauter. Sie sei alles, was er auf dieser Welt noch an Familie habe, sagte Sabine. Als Terry Perez ihn Quasimodo nannte, nachdem sie in der Spätvorstellung Charles Laughton als Glöckner von Notre Dame gesehen hatte, mußte Sabine selber darüber lachen; auch wenn es nicht leicht war, es als Lachen zu identifizieren, denn der provisorische Mund, den die Ärzte ihm gebastelt hatten, war ein kleines Loch an der Stelle, wo sein Kinn gewesen wäre, wenn er noch eines gehabt hätte. Dilys versicherte den anderen jedoch, daß Sabine nicht beleidigt über Terrys Bemerkung gewesen sei; und außerdem fand sie den Vergleich gar nicht so un angemessen. Der Untergang der Kirche der Einen Hand war plötzlich gekommen; wie die Geier hatten rivalisierende Prie ster sich auf Bruder Salts Anhänger gestürzt, sobald be kannt wurde, daß er gefallen war. »DALLAS VON GEISTESKRANKER FRAU ERMORDET!« schrillte am Sonntag, dem 3. Dezember, die Schlagzeile von der Titel seite der Times-Picayune. Natürlich hatte die Frau auch Dutz Sanglant getötet, und Sabine Yama war zum Helden 113
gemacht worden, weil er die geistesgestörte Beatifica Brown niedergeschossen hatte. Die Nachricht von Sabines wundersamer Genesung, nachdem ihm der zwanzig Zentimeter lange Stealth-Pfeil quer durch das ganze Ge sicht geflogen war, hatte die Lokalpresse noch eine Zeit lang beschäftigt, aber als bekannt wurde, daß er unmittel bar nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zu Dilys Salt gezogen war, verschwand sein Name aus den Schlagzeilen. Unter Schwester Dilys neuesten Verehrerinnen war auch Fatima Verdad, die Sabine Yama in den Schoß der Kirche der Anderen Hand gebracht hatte. An ihrem sech zehnten Geburtstag hatte Fatima erfahren, daß sie HIVpositiv war, und daraufhin hatte sie ihren Job als Nutte an den Nagel gehängt. Da sie jetzt wußte, daß sie keine Zeit mehr zu verlieren hatte, wenn sie sich den Traum, ein berühmter Schallplattenstar zu werden, noch erfüllen wollte, gründete Fatima eine Gruppe namens Fatima Ver dad and The Band AIDS, die ausschließlich aus Musikern bestand, die mit dem Virus infiziert waren. Die Gruppe begann mit Auftritten bei Dilys Gottesdiensten, und schon bald wurde sie in New Orleans zur Attraktion. Die Medien stürzten sich auf solch ein verrücktes Phä nomen, und bald breitete die Popularität der Band sich bis nach New York und Los Angeles aus, wo man sie für Auftritte in landesweiten und regionalen Fernsehshows engagierte. Nachdem sie bei einer großen Plattenfirma ei nen Vertrag unterschrieben hatten, schoß ihr erstes Album »Fatima Verdad and The Band AIDS Take It One Day at a Time« innerhalb von zwei Wochen auf Platz Eins in der Hitparade. Bandmitglieder, die zu krank wa ren, wurden durch solche ersetzt, die ebenfalls HlV-infi ziert waren. Fatima Verdad verbrachte einen Großteil ihrer Zeit mit Besuchen bei AIDS-Patienten in Kranken häusern und Heimen, und sie und die anderen Mitglieder 114
der Gruppe spendeten beinahe ihr gesamtes Einkommen für die AIDS-Forschung und für die Kirche der Anderen Hand. Als Fatima dem Virus schließlich erlag, saß Sabine an ihrem Sterbebett. Bevor sie starb, sagte Fatima í die noch keine achtzehn war í zu ihm, daß sie vom Leben nicht mehr Befriedigung und Freude habe erwarten können, als sie bereits bekommen hätte, aber das solle nicht heißen, daß sie schon bereit sei zu gehen. Während sie Sabines verkrüppelte Hand in ihrer Rechten hielt, spürte sie, wie ihre Lungen sich plötzlich mit Flüssigkeit füllten und begann zu husten. »Oh, Scheiße, Baby«, keuchte sie, »das war’s dann wohl.«
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III
DIE BALLADE VON EASY EARL
Alfonzo's Mexkali 117
Hallo, Willie 121
Nachteule 124
Roadrunner 126
Frauen sind Frauen, aber Männer sind was anderes 129
Marble 134
Etwas Besonderes 138
Jesus sieht uns 139
»Alle quatschen sie, aber niemand weiß Bescheid. « Sonny Boy Williamson
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ALFONZO’S MEXICALI Easy Earl Blakey gondelte mit seinem 78er Mercury Mon arch die Louisiana Avenue entlang; er hatte alle vier Fen ster heruntergekurbelt, der linke Arm baumelte im Fahrt wind, während die rechte Hand das Lenkrad festhielt. Es war Samstagabend, kurz nach zehn, und Earl wollte mal sehen, was in Alfonzo’s Mexicali Club los war. Er über querte die La Salle Street, fuhr an den Randstein und stellte den Motor ab. Für Januar war es ungewöhnlich warm in New Orleans, das Thermometer zeigte immer noch über zwanzig Grad, die Luftfeuchtigkeit betrug mehr als achtzig Prozent. Mindestens zwei Dutzend Schwarze unterschiedlichen Alters lungerten vor Porky Muette’s Port, einem Schnapsladen der Storm-Kette her um, tranken aus ihren Flaschen billigen Fusel oder hielten sie í eingewickelt in braune Papiertüten í in den Händen. Die meisten von ihnen glotzten Earl an, als er aus seinem Wagen kletterte, den er nicht einmal abschloß und mit vier offenen Fenstern stehenließ. »‘n abend, Jungs«, sagte Easy Earl und nickte ihnen zu, als er auf Alfonzo’s Mexicali zusteuerte, das zwei Türen weiter war. Die Männer und jungen Burschen, die dort herumhin gen, wohnten in den Mietshäusern entlang der Straße oder in den heruntergekommenen Pensionen des Viertels. Es mochten ein paar schwere Jungs darunter sein, aber die meisten von ihnen waren arme Teufel, die sich mit billigen Drogen das Leben ein bißchen erträglicher zu machen versuchten. »Haste ‘n Dollar übrig, Paps?« fragte ihn ein junger Mann von etwa achtzehn Jahren. 117
Easy Earl blieb stehen und hielt ihm einen Fünfer hin. »Wer hat heutzutage schon was übrig, mein Sohn«, sag te Earl. »Aber ich würd’ meinen Wagen gern dastehn sehn, wie ich ‘n verlassen hab’, wenn ich wieder raus komm.« Der junge Mann grinste und nahm das Geld. »Viel Spaß, Käpt’n. Die Kiste rührt keiner an.« Earl betrat das Mexicali und setzte sich an die Bar. Ein paar Leute tanzten, andere saßen an den Tischen entlang der Wand, und ein paar Barhocker waren auch besetzt. Für einen Samstag war es noch früh. Gegen eins würde hier der Teufel los sein. »Wie geht’s, Fremder?« »Gut, Miss Alfonzo«, antwortete Earl der grobschlächti gen Frau mittleren Alters, die ihn begrüßt hatte, wie sie jeden ihrer Kunden begrüßte. »Jim Beam und Soda?« fragte sie ihn. »Crown Royal mit Milch und Eiswürfeln, wenn’s beliebt, Ma’am.« »JB gibt’s heut für einen Bück.« »Ich bleib bei CR mit Milch, danke.« Miss Alfonso lachte. »Nich jeder schmeißt’n halben Bück zum Fenster raus.« Sie stellte ihm seinen Drink hin, nahm die zwei Dollar, die er auf den Tresen gelegt hatte, und brachte zwei Vier teldollarstücke zurück, die Earl dankend ablehnte. Miss Alfonzo nickte lächelnd, drehte sich um und warf sie in ein Glas neben der Registrierkasse, bevor sie hinüber ans andere Ende der Bar ging. Earl trank von seinem Crown Royal mit Milch und hörte der Musik zu. Ein Discjockey spielte alte Sachen. Es lief gerade »If You Lose Me, You’ll Lose a Good Thing« von Barbara Lynn, einer Lokalgröße. Während Earl dem Song zuhörte, mußte er an seine Ex-Frau Rita denken. Die Ehe war gleich nach ihrer Abtreibung in die Brüche gegangen. 118
Sie war mit den Kindern zu ihrer Schwester nach Baton Rouge gezogen, und seitdem hatte Earl nicht mehr mit Rita geredet. Die Tür wurde aufgestoßen, und ein riesiger Latino, so um die dreißig Jahre alt, gekleidet in einen eiscremefarbe nen Anzug über dunkelbraunem Hemd und beiger Kra watte, der eine junge schwarze Frau untergehakt hatte, betrat das Mexicali. Sie gingen an Earl vorbei und stol zierten hinüber zur anderen Seite, wo sie direkt vor Miss Alfonzo stehenblieben. Earl hatte die ersten Worte zwi schen ihnen nicht verstehen können, aber dann hob Miss Alfonzo die Stimme, und die junge Frau ebenfalls. »Du miese Schlampe wagst es, mit deinem schmierigen Loddel hier aufzukreuzen?« brüllte Miss Alfonzo. »Raus auf die Straße, wo ihr hingehört!« »Luis und ich gehören zusammen, Mama! Gewöhn dich endlich daran!« »Dann gewöhn du dich an das hier!« sagte Miss Alfonzo und zog einen 38er Revolver hinterm Tresen hervor. »Nimm deine Nutte und verschwinde!« bellte sie Big Luis an und richtete die Mündung auf seine Brust. »Sie ist nicht mehr meine Tochter!« Was dann passierte, ging so schnell vor sich, daß Earl dem Ablauf nicht ganz folgen konnte. Mehrere Leute um zingelten Big Luis, dessen heller Anzug nur noch gele gentlich aufblitzte, während er mit ihnen kämpfte. Ir gendwie brachte Miss Alfonzos Tochter den Revolver an sich und stieß ihn über den Bartresen zu Earl hinüber, der einen großen Fehler machte: Er nahm ihn in die Hand. Hinter sich hörte Earl einen seltsamen Lärm, ein lautes, mahlendes Geräusch. Als er sich umdrehte, um dessen Ursprung nachzugehen, verlangsamte sich alles. Weiße Blitze explodierten in Earls Augen, als sei eine Reihe von Blitzlichtern abgebrannt worden. Der Boden schwankte und Earl verlor das Gleichgewicht. Sein erster Gedanke 119
war í daß ihm jemand den Barhocker unterm Hintern weggetreten hätte, aber er stürzte nicht zu Boden. Dann hörte er das Stöhnen í gedehnte, langsame Geräusche, wie er sie noch nie im Leben gehört hatte. Die Luft war erfüllt von bunten Federn, die auf alles herunterschweb ten. Easy Earl hatte keine Ahnung, wie er in seinen Wagen gekommen war, in dem er jetzt die Palmetto Street ent langfuhr, in Richtung Metairie Street. Seine linke Wange brannte, und er langte dorthin, dann sah er das Blut an seinen Fingern. Der 38er lag neben ihm auf dem Sitz. In Alfonzo’s Mexicali Club fragte der Polizist, den es am Unterleib erwischt hatte, die Frau, die neben seinem Kopf kniete, wie es seinem Partner ginge. Sie sagte zu ihm, der Officer habe einen ziemlich toten Eindruck gemacht, aber er müsse jetzt ganz ruhig liegenbleiben, der Krankenwagen sei unterwegs. »Wer hat auf uns geschossen?« fragte der verletzte Mann. »Und warum?« Die Frau schüttelte den Kopf und sagte: »Schätzchen, ich habe keine Ahnung.«
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HALLO, WILLIE »Earl, alter Junge, du kannst von Glück sagen, daß du so einen großen Schwanz hast«, sagte Easy Earl laut vor sich hin, als er neben der Straße zum Irish Bayou allein in sei nem Auto saß, »denn da oben in deiner Rübe haste ‘n ziemliches Spatzenhirn.« Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber er schätzte, daß es weit nach Mitternacht sein mußte. Er war seit seiner Flucht aus Alfonzo’s Mexicali ziellos durch die Stadt gefahren, und irgendwann hatte die Erschöpfung ihn zum Anhalten gezwungen. Was ist bloß in dem Laden passiert? fragte er sich. Er konnte sich nur noch an einen Streit oder sowas erinnern, am anderen Ende der Bar, und dann war ihm über den Mahagonitresen eine Schußwaffe in die Hand geschlittert. Hinter ihm hatte jemand Geräusche gemacht, und als er sich umdrehte, waren zwei Kanonen auf ihn gerichtet gewesen. Von da an war sein Gedächtnis leer. Er wußte allerdings, daß er den Revolver abgefeuert hatte, auch wenn er sich daran nicht mehr genau erinnern konnte. In seinem Gehirn war etwas durchgebrannt, als er die beiden Waffen gesehen hatte, die auf ihn gerichtet waren. Er atmete tief durch, dann zündete er sich eine Kool an. Wenig Verkehr hier draußen, dachte er und sah hinauf zur Sichel des Mondes. Wenn er sich jetzt erschießen würde, dann könnte es zwei, drei Tage dauern, bis man seine Leiche hier gefunden hätte. Earl saß da und rauchte. Als er genug hatte, warf er die Kippe aus dem Fenster, nahm den Revolver vom Sitz und stieg aus. Earl ging hin über zum Bayou und warf die Waffe ins Wasser. Er blieb dort eine Minute lang stehen und lauschte. Die Triebwer121
ke eines Flugzeugs am Himmel, sonst war alles still. Er ging zurück zum Mercury, stieg ein und ließ den Motor an. Wohin? fragte er sich und fuhr los. Aus irgendeinem Grund kam ihm das Gesicht von Wil lie Wong in den Sinn. Mit Willie Wong war Earl als klei ner Junge befreundet gewesen. Sie waren im achtzehnten Bezirk zusammen aufgewachsen, und bis zu Willies Tod im Alter von einundzwanzig Jahren waren sie Freunde geblieben. Willie war ein ganz normaler amerikanisch chinesischer Junge gewesen; er hatte in der Schule fleißig gelernt und nebenbei eine Reihe von Jobs gemacht, um seine Eltern zu unterstützen, die in der St. Claude Avenue einen kleinen Lebensmittelladen hatten. Und dann, als Willie achtzehn war, sah er den Film Der Wilde, in dem Marion Brando den furchtlosen, verschlossenen Anführer einer Motorradgang spielte. Willie verliebte sich in das Image, das von Marion Brando verkörpert wurde, kaufte sich aus dritter Hand eine Triumph Bonneville, ließ sich das glatte, schwarze Haar lang wachsen und kleidete sich in Lederjacke, Schaftstiefel und ölverschmierte Levi’s. Außerdem fing er das Rauchen an, etwas, das ihm vorher nicht in den Sinn gekommen wäre; man sah ihn nur selten auf seinem Motorrad herumfahren, ohne daß eine Lucky Strike ihm von der Unterlippe baumelte. Willie dachte sich sogar seinen eigenen Spitznamen aus, der »Wilde Wong«, und er bat alle seine Bekannten, ihn so zu nennen; sie riefen ihn weiterhin bei seinem chinesischen Namen, Zhao. Der Wilde Wong kam an einem regnerischen Donners tagabend ums Leben, als der angetrunkene Fahrer einer nagelneuen SAAB-Limousine auf dem Chef Menteur Highway zu dicht vor Willies Triumph die Spur wechselte, dabei deren Vorderrad streifte und den Wilden Wong mit dem Kopf voran in den Straßengraben katapultierte, wo er sich den Hals und das Rückgrat brach. Auf Willies 122
Begräbnis war Earl überrascht davon gewesen, daß die Familie Wong ihren Sohn in seiner Motorradkluft in den offenen Sarg gelegt hatte. Er hatte gedacht, daß die Wongs die Haare Willies schneiden und ihn in einen Anzug stecken würden. Als er an dem Sarg vorbeiging, fiel Earl die angebrochene Packung Lucky Strikes auf, die man Willie in die linke Hand gedrückt hatte. Earl wußte nicht, warum er in diesem schwierigen Au genblick seines eigenen Lebens an den Wilden Wong denken mußte. Irgend etwas war mit Willie passiert, als er diesen Film gesehen hatte, etwas, das sein Leben unwi derruflich veränderte. Earl wußte, daß auch für ihn nichts mehr so sein würde wie zuvor. Wahrscheinlich war das der Grund: Es war etwas passiert, das man sich niemals hätte vorstellen können, und hinterher sah die Welt vollkommen anders aus. Das Bild des Willie Wong, der vor fünfundzwanzig Jah ren in seinem offenen Sarg lag, wollte sich nicht vertreiben lassen, und Earl jagte seinen Monarch mit hoher Ge schwindigkeit über die verlassene Landstraße, ohne das Licht einzuschalten. »Jippiiee! Willie Wilder Wong, du blödes Arschloch!« brüllte Earl. »Ich werde dich finden, Bruder, ob’s dir nun paßt oder nicht!«
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NACHTEULE Es war kurz nach vier Uhr morgens, als Earl Blakey vor den Toren von Tornado, Mississippi, in eine Red Devil Tankstelle bog. Er war vom Irish Bayou aus auf dem alten zweispurigen Highway US-11 in nord-nordöstlicher Rich tung weitergefahren, über den Lake Pontchartrain und den Pearl River, vorbei an Picayune und Carriere bis nach Poplarville, wo er auf der Mississippi State Road 43 nach Westen weitergerast war und beschlossen hatte zu tanken, bevor er wieder nach Louisiana hinüber wollte. Im Häuschen der Tankstelle brannte Licht, und Earl hoffte, jemanden anzutreffen, damit er weiterfahren konnte. Er stellte den Motor ab, schaltete die Lichter aus und stieg aus dem Wagen. Ein Schwärm Stechmücken fiel in der Dunkelheit über ihn her, und Earl schlug nach ihnen, während er auf das Häuschen zuging- Durch das Glas in der Tür konnte Earl einen weißen Mann erkennen, der auf dem Fußboden saß, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Er hatte eine Schlinge um den Hals, ein dickes Stück Tau, das von einem großen Haken in der Decke herunterhing. Der Mann, dessen Brille mit coca-co laflaschendicken Gläsern ihm schief auf der Mase saß und der eine ölverschmierte schwarz-weiße Ole-Miss-Base ballmütze trug, mußte entweder eingeschlafen oder tot sein. Earl war sich nicht ganz sicher, auch wenn er keiner lei Bewegung erkennen konnte, kein Heben und Senken der Brust. Earl versuchte die Tür zu öffnen, doch sie war ver schlossen. Um hineinzukommen, hätte er die Scheibe ein schlagen müssen, aber die Nacht hatte ihm schon genug Ärger gebracht. Er warf noch einen letzten Blick auf den 124
Mann, der ungefähr Mitte vierzig sein mochte, und fragte sich dabei, wieso er tot sein sollte, wo er doch auf dem Fußboden saß und nicht in der Luft baumelte. Das Seil war oben mit dem Haken verknotet und hing bis zur Schlinge schlaff herunter. Dann erst bemerkte Earl die schwarzen Buchstaben auf dem Boden, am Ende der ausgestreckten Beine des Mannes, an denen keine Füße mehr waren. Er drückte die Nase fester gegen die Scheibe, um die Worte lesen zu können, die jemand mit einer Spraydose dort hingeschrieben hatte: EL MOCHUELO. »Scheiße«, sagte Earl. »Bis Bogalusa wird der Sprit schon noch reichen.« Er rannte zurück zu seinem Wagen und fuhr davon.
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ROADRUNNER
»Interessantes Kennzeichen haben Sie da«, sagte der Tankwart der 76-Tankstelle in Bogalusa. »EZY EARL. Das sind Sie?« Earl Blakey gab dem Jungen einen Zehner und einen Fünfer. »War ich mal, und vielleicht nicht mal das«, sagte Earl. Der Junge lachte. »Verstehe.« Earl wußte jetzt, wo er hinwollte. Er verließ die Stadt auf der 21er Richtung Süden. In Covington würde er die 190er nach Westen nehmen und sich von der Interstate fernhalten. Als er an Sun, Louisiana, vorbeiraste und den Bogue Chitto River überquerte, spielte Earl mit der Mög lichkeit, daß die vergangenen zwölf Stunden nur ein schlechter Traum gewesen seien. Vielleicht hatte er die beiden Polizisten in Alfonzo’s Mexicali nicht wirklich er schossen und auch den fußlosen weißen Mann mit dem Kopf in der Schlinge nicht wirklich auf dem Fußboden der Red-Devil-Tankstelle vor den Toren von Tornado, Mississippi, sitzen sehen. Vielleicht litt er an einem Krankheitszustand, den ein Arzt ihm erklären könnte. Rita und ihre Schwester, Zenoria Rapides, würden ihm schon helfen, dachte er sich, deshalb war er ja jetzt unterwegs nach Baton Rouge. Earl verstand immer noch nicht ganz, warum Rita sich ihm gegenüber nach ihrer Abtreibung so merkwürdig verhalten hatte. Sie hatten die Situation doch vorher gründlich durchgesprochen und waren sich einig gewe sen, daß es die beste Lösung wäre; schließlich war sie sechsunddreißig und hatte schon vier Kinder. Earl war für die Abtreibung aufgekommen und hatte sie gut be 126
handelt, aber Rita war sehr verbittert gewesen und zu Ze noria abgereist. Er hatte es nicht verstanden í aber jetzt war er es, Mr. Earl, der Hilfe brauchte, und er hoffte, daß Rita für ihn da sein würde. Earl schaltete das Radio ein. »Die lange verschwundene Schußwaffe, die im Zusam menhang mit dem sechsundfünfzig Jahre zurückliegen den Mord am damaligen Gouverneur von Louisiana, Huey P. Long, gesucht wurde, ist aufgetaucht. James Starrs, ein forensischer Wissenschaftler, der die Leiche des mutmaßlichen Mörders Carl Austin Weiss Sr. exhu mieren lassen will, sagte in Washington, D.C., wo er als Professor an der George-Washington-Universität arbeitet, daß die Handfeuerwaffe vom Kaliber .32, mit welcher der ›Kingfish‹ im Jahre 1935 im State Capitol von Louisiana erschossen worden sein soll, sich im Besitz von Mabel Guerre Binnings befand, der inzwischen fünfundsiebzig Jahre alten Tochter des Polizeibeamten, der damals mit den Untersuchungen betraut war. Mrs. Binnings lebt in New Orleans. Professor Starrs ist davon überzeugt, daß die Ent deckung der mutmaßlichen Tatwaffe sich als wahre ›Goldgrube an Indizien‹ erweisen wird. Die Entdeckung hat jedoch eine juristische Kontroverse darüber ausgelöst, wem die Waffe gehört und wer über die polizeilichen Ak ten des Falls verfügen darf, die ebenfalls seit 1940 vermißt wurden, als Louis Guerre, Mabel Binnings Vater, den Dienst quittierte. Die Louisiana State Police ist der Meinung, daß Waffe und Akten Eigentum der Bürger von Louisiana sind. In einem offenen Brief hat sie von Mabel Binnings deren Herausgabe gefordert. Die alte Frau hat sich dieser Forde rung bisher widersetzt und weigert sich auch, mit Repor tern zu reden. Seit der Schießerei in Baton Rouge sind die Gerüchte nicht verstummt, daß der damals zweiundvier 127
zigjährige Long in Wirklichkeit den Kugeln seiner Leib wächter zum Opfer fiel. Der neunundzwanzigjährige Weiss war von ihnen auf den Treppen des Capitols nie dergeschossen worden.« Easy Earl zündete sich eine Kool an, fand im Hand schuhfach eine Sonnenbrille und setzte sie auf. Sie gehörte Rita. Earl konnte sich erinnern, wie er sie ihr bei Wal green’s auf der Royal Street gekauft hatte. »In New Orleans«, fuhr der Nachrichtensprecher fort, »ging die Jagd nach dem Mörder eines Beamten der Metro Police weiter. Ein zweiter Polizist wurde bei dem Zwi schenfall verletzt, der sich in Alfonzo’s Mexicali Club in der Louisiana Avenue ereignete. Über die Umstände, die zu der Schießerei führten, ist noch nichts bekannt, teilte Polizeipräsident DuMont ›Du Du‹ Dupre mit. Bei dem Gesuchten handelt es sich um einen Schwarzen mittleren Alters, der einen bleistiftdünnen Schnurrbart tragen soll und möglicherweise mit einem Mercury aus den späten 70er Jahren unterwegs ist. Vorerst gibt es noch keine wei teren Informationen. Dazu haben wir gleich den passenden Song für euch bereit, Leute: ›I Am a Lonesome Fugitve‹, gesungen von unserem alten Bösewicht aus Ferriday, Louisiana í Jerry Lee Lewis. Aber zuerst müssen wir ein bißchen Geld ver dienen.« Earl drehte das Radio ab. Er fuhr durch bis Baptist, wo er an einem 7-Eleven hielt und sich einen Bic-Rasierer, einen Riegel Snickers und eine Playboy-Bunny-Baseball-mütze aus schwarzem Cordsamt kaufte. Im Auto rasierte er sich trocken vor dem Rückspiegel, dann aß er den Schokoriegel. Es war das erstemal seit seinem sechzehnten Lebensjahr, daß er keinen Schnurrbart trug. Er setzte die Bunny-Mütze auf, rückte die dunkle Brille zurecht und hoffte, daß er es bis zu Zenorias Haus in Baton Rouge schaffen würde, bevor die Cops ihn erwischten. 128
FRAUEN SIND FRAUEN, ABER MÄNNER SIND ETWAS ANDERES
Zenoria Rapides hatte nie geheiratet. Sie war jetzt sieben undvierzig und hatte í bis Rita und die Kinder gekommen waren í allein in dem Haus mit zwei Schlafzimmern gelebt, das sie von ihren Einkünften als Grundschullehrerin und Näherin gekauft und beinahe vollständig abbezahlt hatte. Unter den weißen Frauen von Baton Rouge genoß sie einen ausgezeichneten Ruf als Schneiderin; sie brachten ihr mehr Aufträge ins Haus, als sie erledigen konnte. Zenoria war froh, daß ihre jüngste Schwester, Rita Hayworth Rapides, zu ihr gezogen war, denn Rita nähte fast so gut wie sie selbst und war bereit, ihr im Geschäft zu helfen. Althea Yancey und Zelmo Baptiste Rapides waren sechs Kinder geschenkt worden: Zenoria, Zelma und Zo roaster hatten ihre Namen vom Vater bekommen, während Althea die drei anderen Kinder Lana Turner, Poca hantas und Rita Hayworth genannt hatte. Althea und Zelmo waren vor sechs Jahren ums Leben gekommen, als das Haus in der Evangeline Street, in dem alle Kinder aufgewachsen waren, mitten in der Nacht nach einem Kurzschluß niederbrannte. Zelma und Zoroaster í sie wa ren eineiige Zwillinge í wurden gemeinsam bei einem Autounfall getötet, auf der Rückfahrt von Port Allen, wo sie als Sechzehnjährige in einer Popeye’s-Filiale gearbeitet hatten. Lana Turner lebte jetzt in Memphis. Sie war dort mit einem radikalen weißen Anwalt namens Lucis Lamar Bilbo verheiratet, einem Großneffen des früheren Senators von Mississippi, der sich für eine Deportation aller Schwarzen aus den Südstaaten nach Afrika starkgemacht 129
hatte. Zenoria und Rita hörten nur noch selten von ihr. Pocahantas war im Alter von siebzehn Jahren mit einem Tellerwäscher aus dem Poteat Cafe’ in Downtown Baton Rouge verschwunden, einem Mann namens Leopard Johnny, der diesen Namen seiner seltsamen, schwarz und gelb gescheckten Gesichtshaut zu verdanken hatte, der Folge einer chronischen Leberschwäche. Die einzige Nachricht, die Zenoria oder Rita oder Lana während der letzten fünfzehn Jahre von Pocahantas erhalten hatten, war eine Postkarte vom Monogahela River, adressiert an Zenoria, abgeschickt in Pittsburgh, Pennsylvania: »Liebe Schwester, der Leopard hat seine Flecken verloren. Gruß und alles Liebe euch allen, Pokey.« Rita Hayworth Rapides vier Kinder waren die Nach kommenschaft von vier verschiedenen Vätern, von denen Rita keinen einzigen geheiratet hatte, auch wenn sie von mindestens zwei von ihnen darum gebeten worden war. Rita liebte ihre Unabhängigkeit und hatte darauf bestanden, daß jedes der Kinder seinen eigenen Familiennamen trug. Sie hatte sie nach vier Staaten im Westen genannt í Montana, Wyoming, Idaho und Colorado í, von denen sie keinen einzigen jemals besucht hatte oder auch nur besuchen wollte. Zenoria hatte sie mal erzählt, daß ihr der Klang der Namen so gut gefallen habe. Irgendwann mußte Rita feststellen, daß sie í abgesehen von gelegentlicher Gesellschaft í nicht viel mit Männern anfangen konnte. Sie zog es außerdem vor, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen; finanzielle Zuwendungen von dem einen oder anderen der Väter wies sie zwar nicht zurück, aber sie war nie abhängig davon. Bis Easy Earl Blakey aufgetaucht war, hatte sie sich niemals versucht gefühlt, mit einem Mann eine feste Freundschaft zu unterhalten. Blakey hatte etwas Unkompliziertes, fand Ri ta; nicht, daß er einfach gewesen wäre, aber es war ir gendwie angenehm, mit ihm zusammenzusein. Die Been 130
digung dieser letzten Schwangerschaft, ihre erste Abtrei bung überhaupt, war allerdings deprimierender für sie gewesen, als sie vorher geglaubt hatte. Sie war nach Baton Rouge zurückgekehrt, weil sie den Trost ihrer ältesten Schwester brauchte, und nicht etwa, weil sie vor Earl oder New Orleans weglaufen wollte. Earl fehlte Rita, und darüber wunderte sie sich. Als er an diesem Sonntagmor gen auf Zenorias Türschwelle stand, rasiert und mit dieser albernen Playboy-Bunny-Mütze auf dem Kopf, nahm Rita ihn wortlos in die Arme und spürte, wie ihr ganzer Körper sich dabei entspannte. »Sie sind hinter mir her, Rita«, sagte Earl, als sie im Haus waren. »Wo sind Zenoria und die Kinder?« »In der Kirche. Ich hatte keine Lust hinzugehen. In letz ter Zeit hab’ ich selten Lust, irgendwo hinzugehen. Ach, Earl, ich freu mich, dich zu sehen. Warum hast du deinen Schnurrbart abrasiert? Und was soll das heißen, sie sind hinter dir her? Wer ist ›sie‹?« »Polizei. Ich hab’ einen Cop erschossen, Rita. Zwei Cops. Der eine ist tot, der andere verletzt.« »Earl, du redst Quatsch. Easy Earl Blakey läuft nicht in der Gegend rum und legt Leute um, schon gar nicht Poli zisten.« »Ich weiß, Liebling, aber ‘s is’ nun mal passiert. Hab’ in Alfonzo’s Mexicali gesessen, ganz allein, und einen CR mit Milch getrunken, und dabei hab’ ich an dich gedacht und wie sehr du mir fehlst, und dann isses einfach passiert. Is’ alles einfach passiert. Dann weiß ich nur noch, daß ich weggerannt bin. Zuerst bin ich nach Mississippi rüber gefahrn, und da hab’ ich so was Schreckliches gesehn, ich weiß nicht mal, ob ich’s wirklich gesehn hab’.« »Halt mal, Baby. Nicht so schnell. Wieso bist du so si cher, daß du einen erschossen hast?« »Nachdem’s passiert war, lag die Kanone neben mir im Auto.« 131
»Du hast doch gar keine, Earl. Wo is’ diese Kanone?« »Hab sie in den Irish Bayou geworfen. War Miss Alfon zos Kanone.« »Keine gute Idee. Einer von diesen Kambos wird sie bald aus dem Bayou gefischt haben.« »Is’ doch egal, Rita. Wahrscheinlich war’s auch keine gute Idee, zu dir zu kommen, aber du hast mir so gefehlt. Die kriegen sowieso raus, wo ich bin. Die kennen das Au to, kam alles im Radio. Scheiße, Rita, das war doch alles nur ‘n verrückter Zufall, und jetzt isses aus mit meinem Leben.« »Pssst, Earl! Wir kriegen das wieder hin.« »Rita, ich hab’ dich lieb.« Earl küßte sie zärtlich auf die Lippen. »Aber da ist nix mehr zu machen, außer weglau fen. Hast du Kohle?« »Vielleicht neunzig Dollar. Die kannste haben.« Rita ging in ein anderes Zimmer, kam mit dem Geld zu rück und gab es Earl. Er küßte sie wieder, inniger diesmal. »Ich hab’ über unser Baby nachgedacht«, sagte er. »Und?« »Wir hätten’s behalten solln. Jetzt muß ich sterben und hab’ nicht mal ‘n eigenes Kind auf dieser Welt, das sich an mich erinnert. Und du wärst auch nicht nach Baton Rouge abgehaun, wenn wir das Baby nicht getötet hätten, und vor allem war ich nicht im Mexicali Club gewesen.« »Earl, hör auf. Wenn du meinst, Weglaufen ist die ein zige Lösung, dann lauf eben weg. Ich halte dich nicht zu rück, weder dich noch eins von meinen Kindern, die kön nen tun und lassen, was sie woll’n, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber solche Rechnungen führ’n doch zu nichts. Sieh mal, Earl, ich weiß, daß du ‘n guter Mann bist. Ich hätte das Baby ja haben können, wie du’s gesagt hast.« »Du könntest mit mir kommen, Rita. Die Kinder wär’n bei Zenoria gut aufgehoben, und wir hol’n sie später.« 132
»Fahr los, Earl. Damit nicht noch jemand der Polizei vorlügen muß, daß er weder dich noch mich gesehn hat.« Rita küßte ihn und berührte mit dem rechten Zeigefinger eine Stelle über der Oberlippe. »Und wenn du irgendwo angekommen bist«, sagte sie, »dann läßt du dir deinen Schnurrbart wieder wachsen.« Earl grinste. »Mach’ ich, Baby.« Rita sah ihn wegfahren, dann ging sie in das Schlafzim mer, das sie mit Idaho und Colorado teilte í Montana, ihre Älteste, schlief im Vorderzimmer und Wyoming bei Zenoria í, und legte sich hin. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde. Rita erinnerte sich an das, was ihre Mutter, Althea, zu ihr gesagt hatte, als sie noch keine acht Jahre alt war: Immer dann, wenn die Dinge einigermaßen ins Lot zu kommen scheinen, muß irgendeine dumme Kuh über den Mond springen. »Wessen Kuh, Mama?« hatte die kleine Rita damals gefragt. Die Rita, die jetzt auf ihrem Bett lag, mußte lachen, so wie auch Althea damals, als Antwort auf Ritas Frage, nichts anderes eingefallen war als zu lachen.
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MARBLE
Earl hatte mal gehört oder gelesen, daß die Mafia, wenn sie jemanden entführt und umgebracht hat, das Auto des Opfers auf dem Parkplatz eines Flughafens abstellt, und genau das tat Earl jetzt mit seinem Mercury Monarch í er ließ ihn am Baton Rouge Metro stehen und fuhr mit dem Bus zurück in die Stadt zum Greyhound-Terminal. Dort kaufte er sich eine Fahrkarte nach Tampa, Florida, einer Stadt, in der er noch nie gewesen war, die er jedoch für groß genug hielt, um Arbeit für ihn zu haben. Sein Bus fuhr erst in einer Dreiviertelstunde ab, also kaufte er sich an einem Kiosk eine Wurst und einen Delaware Punch und setzte sich in den Wartesaal. Ein schmales weißes Mädchen in Bluejeans und tauben blauem Sweatshirt der Louisiana State University kam herein und nahm auf der Bank gegenüber Platz. Sie war vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, hatte weißblon des Haar und trug eine Brille. In aller Seelenruhe nahm sie den Wartesaal in Augenschein, wobei ihr unauffälliges Gesicht keinerlei Regung zeigte. Earl bemerkte sie wohl, aber er war gedanklich mit seinen eigenen Angelegenhei ten beschäftigt. Er aß die Wurst, trank den Punsch und ging dann in den Waschraum. Als er von der Toilette kam, wo er sich Hände und Gesicht gewaschen hatte, war der Bus vorgefahren, und Earl kletterte an Bord. Er setzte sich in die hintere Hälfte des Busses, auf einen Platz am Mittel gang, gleich neben dem jungen weißen Mädchen. Der Bus rollte seit fünf Minuten auf der Interstate 12 aus Baton Rouge heraus, da sagte das Mädchen zu Earl: »Ich heiße Marble Lesson und bin aus Bayou Goula, aber mein Dad lebt jetzt oben in New Roads, und ich bin un 134
terwegs nach Jacksonville, Florida, zu meiner Mama und ihrem neuen Mann. Geboren wurde ich in Miami County, Kansas, wo die Familie meines Daddys in der Nähe von Osawatomie eine Farm hatte, aber die haben sie verloren, und deshalb sind wir nach Louisiana gezogen, wo Daddys Vetter Webb ihm einen Job in einer Raffinerie besorgt hat. Mama ist schon vor Monaten aus unserem Haus in Bayou Goula ausgezogen, aber ich wollte das Semester zu Ende machen, weil es ja schon angefangen hatte, also bin ich erstmal bei Dad geblieben. Er konnte mit so einem großen Haus nichts anfangen, deshalb hat er sich etwas in New Roads gesucht, in Labarre, um genau zu sein, in Pointe Coupee Parish, und gerade hat er mich am Busbahnhof abgesetzt. Ich möchte gerne mal Romane schreiben. Seit der vier ten Klasse hatte ich immer ein A in Englisch. Ich bin das, was man eine scharfe Beobachterin nennt, was natürlich nichts anderes heißt, als daß mir Dinge auffallen, die den meisten anderen nicht auffallen. Die Brille stört mich nicht weiter. Ich habe sie vor fünf Jahren bekommen, als ich neun war, um mein linkes Auge in Ordnung zu brin gen, das ein bißchen träge zu sein scheint. Aber wenn sie mich fragen, sehe ich damit die wirklich wichtigen Dinge, während ich das rechte nur brauche, um von hier nach dort zu kommen. Das Auge ist ein Photorezeptor, eine Kamera, wenn man dazu fähig ist, das, was man sieht, einzufangen und das Bild im Kortex aufzubewahren, der äußeren Schicht der vorderen Gehirnhälfte. Mein Kortex quillt nur so über von Eindrücken, wie der schwarzen Kotze zum Beispiel, einem der schlimmsten Symptome des Gelbfiebers, über dessen Opfer ich in der achten Klasse einen Film gesehen habe, den ich nicht wieder vergessen kann, und ich will’s auch gar nicht. Er wird mir sicher mal bei einer Geschichte oder einem Roman nützlich sein. Wo fahren Sie hin?« 135
»Tampa«, sagte Earl. »Dann müssen Sie in einen anderen Bus umsteigen, denn dieser hier fährt direkt durch bis Jacksonville. Haben die am Terminal Ihnen das gesagt? Manche Leute rücken nicht gerne mit Informationen heraus.« Earl nickte. »Ja, ja. Ich muß in Lake City umsteigen.« »Hab’ ich Ihnen meinen Namen gesagt? Marble Lesson? Ach, natürlich hab’ ich das. Mein Daddy heißt Wes-son, deshalb nennen die Leute ihn Wes. Meine Mama heißt mit Vornamen Bird. Ihr erster Familienname war Arden. Und dann hieß sie Lesson, wie Sie ja wissen. Und jetzt heißt sie Doig, und sie sagt, daß es kein Mensch richtig aussprechen kann, deshalb sagen viele Leute in Jacksonville Bird Dog zu ihr. Wie heißen Sie?« »Earl.« »Meine Freunde, die nennen mich Speedo, doch eigent lich heiße ich Mister Earl.« »Wie bitte?« »Das stammt aus einem Lied, das meine Mama immer gesungen hat, als ich noch klein war.« »Oh, ja, ja. Ich glaube, ich erinnere mich.« Earl schloß die Augen. »Sie scheinen müde zu sein, Mr. Earl.« »Ich glaub’, ja, Miss Lesson.« »Nennen Sie mich bitte Marble.« »Miss Marble. Bitte nicht böse sein, wenn ich ‘n bißchen einnicke, hab’ ‘ne anstrengende Nacht hinter mir.« »Ich werde Sie aufwecken, falls Sie in Lake City noch schlafen sollten, aber das bezweifle ich, denn bis dahin sind es noch Stunden.« Earl zog sich die Bunny-Mütze aus schwarzem Cord samt über die Augen und ließ sich hinübertreiben in eine Traumlandschaft, in der sich Rita í in schwarzer Spitzen unterwäsche í über eine flammenlodernde Grube beugte und mit einem langen Stock in etwas herumstocherte. 136
Earl versuchte zu erkennen, was dort in der Grube war, aber er kam nicht nah genug heran. Rita stach immer wie der mit dem Stock hinein, bis sie etwas aufgespießt hatte und es aus der Grube hob. Sie mußte den Stock mit beiden Händen packen. Dann hielt sie ein verkohltes Baby in die Höhe, die Glieder starr und regungslos. Teile des toten Körpers blätterten ab und wurden vom Wind weggetragen, bis nichts mehr übrig war. Rita warf den Stock ins Feuer.
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ETWAS GANZ BESONDERES... BUS VERUNGLÜCKT. IM GEWITTERSTURM IN BRAND GERATEN. GULFPORT, 21. Jan. (SNS) í Ein Greyhound
bus, unterwegs von Baton Rouge, La., nach Jacksonville, Fla., wurde gestern gegen 16 Uhr auf der Interstate 10, nördlich von Bay St. Louis, Miss., von einem Blitz getroffen. Als Folge des Blitzschlags stürzte der Bus in einen Straßengraben, wobei zwölf Passagiere und der Fahrer, Dio Bolivar, 42, aus Phenix City, Ala., getötet wurden. Laut Zeugenaussagen wurde der Bus vom Se kundärkanal eines Doppelblitzes getroffen, einige Meilen vom Primärkanal entfernt, der westlich von Waveland, Miss., die Hütte eines Brückenwartes zerstörte. Zehn der Überlebenden wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Man hat sie in umliegende Krankenhäuser gebracht. Die einzige Passagierin, die dem Bus unverletzt entstieg, war Marble Lesson, 14, aus Bayou Goula, La. Als man sie am Unfall ort befragte, sagte Miss Lesson, die alleine unterwegs war, zu den Rettern: »Eine violette Ader des Höllenfeuers hat in den Bus gelangt und die Menschen gegrillt. Neben mir saß ein netter Schwarzer, der auf einmal leuchtete wie ein Weih nachtsbaum. Das war verdammt eindrucksvoll. Ich weiß nicht, warum ich verschont wurde. Vielleicht erwartet der Herr von mir, daß ich in diesem Leben noch etwas ganz Besonderes zustande bringe.« 138
JESUS SIEHT UNS Lieber Jesus ich zweifle keinen Moment daran daß ich es dem direkten Eingreifen von Gott zu verdanken habe lebendig und mit heiler Haut dem Autobus entkommen zu sein in dem so viele Unschuldige ihr Leben lassen mußten und so viele andere verletzt wurden. Daß ich jetzt wohlbehalten im Haus meiner Mama Bird Arden und ihres zweiten Ehemanns Fernando Doig am Trout River Boulevard in Jacksonville Florida sitze einer Stadt über die ich praktisch gar nichts weiß weil ich gerade erst hier angekommen bin. Das ist zweifellos ein Wunder. Und wenn die Erde sich noch so schnell oder langsam dreht es beunruhigt mich nicht denn von nun an kann mich nichts mehr beunruhigen. Du weißt vielleicht nicht besonders viel von mir auch wenn ich glaube daß Du uns alle beobachtest deshalb will ich dir erklären wer Dir diesen Brief schreibt. Ich heiße Marble Lesson (ohne zweiten Vornamen) und bin 14 Jahre alt. Bisher habe ich in Bayou Goula Louisiana gelebt dem Staat in dem mein Daddy Wes noch immer lebt. Jetzt will ich hier bei meiner Mama bleiben und als ich mit dem Greyhound hierher gefahren bin ist das Unglück passiert das mich davon überzeugt hat daß du Dir etwas von mir versprichst. Ich habe beschlossen Schriftstellerin zu werden um mich Deines Vertrauens und Deines Schutzes würdig zu erweisen. Was könnte so ein vierzehnjähriges Mädchen aus dem Süden schon Interessantes zu sagen haben? magst Du Dich fragen. Ich glaube Schreiben ist ein Prozeß der Selbstfindung und jeder Gedanke ist mein eigener. Sieh weiter auf mich herab Jesus dann erfährst Du vielleicht Dinge an die Du selbst niemals gedacht hättest. Ich mache mir um den Zustand der Welt Sorgen nicht nur 139
um mein eigenes Land die Vereinigten Staaten von Amerika sondern um den ganzen Erdball. Ich würde gerne von Dir wissen ob du auch die anderen Planeten siehst oder nur die Erde? Vor ein paar Tagen bevor ich mich auf diese schicksalhafte Reise begab hob ich ein Lied geschrieben, ich wünschte Du könntest hören wie ich es singe aber vielleicht kannst du es ja. Hier ist der Text. Jesus sieht uns, auch wenn wir Böses tun, und wenn ich daran denke, dann kann ich nachts gut ruh’n, mach mir nicht länger Sorgen und fühle mich geborgen, denn Jesus sieht uns, auch wenn wir Böses tun. Irgendwann werde ich noch ein paar Strophen hinzufügen aber wo ich schon mal dabei bin Dir einen Brief zu schreiben und die erste Strophe ja schon fertig ist da dachte ich es könnte Dich vielleicht interessieren. In unserem Haus wohnt zur Zeit ein Schwarzer der mit Fernando Doig befreundet ist. Der Mann heißt Mr. Rollo La-mar und er und Fernando sind Rechtsanwälte. Sie arbeiten zusammen für eine Gruppe von Frauen im Staat Florida die für die Selbstbestimmung sind das heißt sie sind dafür daß Frauen als freie Individuen entscheiden können ob sie ein Baby bekommen wollen oder nicht. Ich bin zwar erst 14 aber ich kann nicht verstehen wie irgendein Mensch einem anderen vorschreiben kann was er mit seinem Körper zu tun hat. Wenn ich schwanger wäre und das Baby nicht haben wollte weiß ich nicht genau ob ich eine Abtreibung machen lassen oder das Baby zur Adoption freigeben würde wie Lästima Denuedo in Bayou Goula es gemacht hat weil sie erst 15 war aber ich würde es selber entscheiden wollen weil das nur fair wäre. Andere sind da allerdings anderer Meinung. Gestern abend beim Essen hat Mr. Lamar meiner Mama und Fernando und mir von einem Prozeß in Georgia erzählt wo 140
ein Mann sein Ku-Klux-Klan-Kostüm getragen hat zu dem ein weißes Gewand gehört wie Du es auch getragen hast als Du hier unten auf der Erde warst und eine spitze Kapuze und eine Maske. Dieser Mann hat die Tracht des Klans í das ist eine Gruppe die jüdische Menschen (ich weiß daß Du auch einer bist) und Schwarze und Menschen anderer Hautfarbe haßt und gegen die Abtreibung in jeder Form ist í nur angehabt weil er das Gesetz auf die Probe stellen wollte nach dem es verboten ist diese Maskierung in der Öffentlichkeit zu tragen da bin ich ganz sicher. Natürlich darf auf dem Mardi Gras in New Orleans auf dem ich oft gewesen bin jeder ein Kostüm tragen deshalb wundert es mich nicht daß dieser Mann vom Ku Klux Klan den Prozeß gewonnen hat. Man hatte ihm vorgeworfen daß er den jüdischen und katholischen und schwarzen Men schen in der Stadt wo er mit seiner Maskierung herumgelaufen ist Angst einjagen wollte. Was Maskie rungen betrifft so bin ich der Meinung wenn alle Menschen dieselbe Maske tragen und genau gleich aussehen würden dann müßte man sich mehr damit beschäftigen wer der andere im Innersten wirklich ist und vielleicht wäre es gar keine so schreckliche Idee es eines Tages mal so zu versuchen. Dann wüßte man nicht vorher schon ob der andere Mensch unter der Maske schwarz oder weiß ist son dern er wäre einfach nur ein Mensch. Wie denkst Du darüber? Es ist schon sehr spät am Abend und ich bin müde deshalb will ich jetzt aufhören. Ich habe vor dir solange Briefe zu schreiben bis ich weiß wohin ich sie schicken kann oder wo ich sie persönlich abgeben kann. Das war alles für heute. Deine Freundin
Marble Lesson
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IV DAS VERBRECHEN DER MARBLE LESSON Der barmherzige Samariter 143
Die Mission 146
Schwestern 1 48
Lockrufe 153
Gute Leute 158
Bunk 161
Nur ein Augenzwinkern 164
Zu Jesus halten 169
Ich bin zerbrochen vom Schicksal, Zerschlagen, vom Sturm verweht. Du zahlst den Preis, Armes Volk, mit deinem frevlerischen Blut. Die Niedertracht wird euch verfolgen, Und erbarmungslose Strafe... euch ereilen. Doch wird es zu spät sein, zu den Göttern zu beten. Virgil, Lied vom Helden Aeneas
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DER BARMHERZIGE SAMARITER
Wesson Lesson kam aus der Saturn Bar heraus auf den Gehsteig getorkelt. Nachdem er in New Roads seinen Job verloren hatte, war er zu seinem Bruder Webb nach New Orleans gereist, nur um zu erfahren, daß man Webb we gen einem Steuerbetrug festgenommen und eingesperrt hatte, bei dem es um gefälschte Kaufverträge für Auto mobile ging. Für den Betrug bekam er zehn Jahre in der Besserungsanstalt von Atchafalaya aufgebrummt, und bereits eine Woche nach Wes’ Ankunft in der Stadt mußte er die Haft antreten. Wes zog in das Haus seines Bruders in der Rocheblave Street, doch schon bald darauf fiel er von dem Trittbrett einer Straßenbahn, auf dem er kurze Zeit mitgefahren war, wieder herunter. Maßlose Trinkerei und ausfallendes Benehmen hatten ihn seine Frau Bird, seine Tochter Marble und eine ganze Reihe von Jobs auf den Ölfeldern gekostet. Er war neununddreißig, sah aus wie fünfzig, und sein Weg führte steil nach unten. Als er gegen zwei Uhr morgens um die Ecke St. Claude Avenue und Clouet Street torkelte, wurde Wes Lesson plötzlich von Schuldgefühlen überwältigt, weil er seine Familie vernachlässigt hatte, und er sank auf die Knie und weinte. Marble, die jetzt vierzehn war, hatte sich nach Jacksonville, Florida, aufgemacht; sie war zu Bird und ihrem neuen Mann gezogen, einem Anwalt namens Fernando Doig, und Wes hatte die Hoffnung aufgegeben, sein einziges Kind jemals wiederzusehen. Er wußte, daß er ein schlechter Mensch war; die einzige Frau, die ihm je mals nahegestanden war, hatte er schlecht behandelt und gezwungen, ihn zu verlassen, und jetzt war ihm auch sei143
ne geliebte Tochter genommen worden. Wes war schluchzend auf dem schmutzigen Gehsteig zusammen gebrochen, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein, in der er sich befand. »Du solltest lieber aufstehen, mein Freund«, sagte ein großer, mondgesichtiger Mann, der sich heruntergebeugt hatte, um Wes Lesson auf die Beine zu helfen. »Scheinst dich mit der örtlichen Geographie nicht auszukeimen. Keine Viertelstunde, und die Eingeborenen haben dich gehäutet, wenn ich dich hier so liegenlasse.« Der Mann, der älter als fünfzig zu sein schien, aber im mer noch wie ein Geschäftsmann auf dem Höhepunkt seiner Karriere aussah, hob Wes mit einer Hand hoch und sah ihm in die verquollenen, blutunterlaufenen Augen. »Junge, du siehst aber gar nicht gut aus. Ich fahr dich nach Hause, falls du ein Zuhause hast.« »Rochebla’ Stree’«, lallte Wes und war bemüht, sich auf den Beinen zu halten. Der große Mann führte Wes zu einem nachtblauen Buick Roadmaster, schob ihn auf den Beifahrersitz, warf die Tür zu, ging herum auf die Fahrerseite und rutschte hinter das Lenkrad. »Ich weiß nicht, wie ein Mann es soweit mit sich kom men lassen kann«, sagte der Fahrer, während er den Buick in den spärlichen Verkehr auf der St. Claude Avenue lenkte. »Du riechst nicht gut, mein Freund. Das ist der Geruch der Niederlage.« Wes Lesson brachte nur ein Stöhnen zustande. Er hörte kaum noch, was sein Retter des Zufalls zu ihm sagte. »Ich heiße Defillo Humble. Vielleicht hast du von mir gehört. Hab’ vor ‘n paar Jahren ein Buch geschrieben. Stand zwanzig Wochen auf der Bestsellerliste des Picayu ne. Neger mit Autos. Daß die afrikanischen Amerikaner Zugang zum Automobil erhalten haben, das hat dem alten Süden endgültig den Rest gegeben, und darum geht’s 144
in dem Buch. Ich arbeite zur Zeit an einem neuen. Das sinnlose Sterben der Südstaaten-Frau. Kannst dir ja vorstellen, wovon es handelt.« Zu einer verständlichen oder gar vernünftigen Antwort war Wes Lesson nicht fähig. Er bekam gar nicht richtig mit, was vor sich ging, und als das Auto vor dem Haus seines Bruders hielt, fiel ihm nichts Besseres ein, als die Tür aufzustoßen und auf den Gehsteig zu kippen. Defillo Humble stieg aus, kam um den Wagen herum, half ihm auf, schleppte ihn bis zu seiner Veranda und setzte ihn auf der obersten Stufe ab. »Mehr kann ich nicht tun, Partner«, sagte Defillo Hum ble. »Wovor du auch Angst hast, es gibt Schlimmeres. Mi ster, solange man dich noch nicht gezwungen hat, Ratten frikassee aus der ausgehöhlten Schädeldecke eines liberianischen Rebellen zu löffeln, wie man’s mit mir ge macht hat, solange dir noch keine sechs Meter lange Ana conda in den Einbaum gehüpft ist und deinen fünfjährigen Sohn schon halb verschlungen hat, bevor du der Schlange ein Neun-Millimeter-Geschoß ins Rückgrat jagen kannst, wie’s mir passiert ist, solange hast du nix zu meckern, wenn du mich fragst. Ich komm mal wieder vorbei, um nach dir zu schauen.« Defillo Humble ging zurück zu seinem Roadmaster, stieg ein und fuhr weg. Noch bevor der große Mann die nächste Ecke umrundet hatte, war Wes Lesson genau an der Stelle eingeschlafen, wo Defillo ihn abgesetzt hatte.
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DIE MISSION Lieber Jesus Daddy hat heute abend aus N.O. angerufen wo er hingezo gen ist nachdem in New Roads nicht alles nach seinen Wünschen gelaufen ist aber Mama hat mir nicht erlaubt mit ihm zu sprechen also bin ich schnell nach oben gelaufen und hab’ das Gespräch über den Nebenanschluß belauscht. Jesus es war so schrecklich! Daddy hat geweint und hat Mama angefleht mich zu ihm zurückzuschicken weil er doch sonst niemanden hat und genausogut könnte er tot sein hat er gesagt. Außerdem ist Onkel Webb für zehn Jahre ins Gefängnis geschickt worden und Mama hat gesagt es wäre höchste Zeit daß ihn da drinnen jemand umbringt damit würde er dem Staat viel Ärger ersparen. Die Tränen liefen mir die Wangen herunter und tropften in die kleinen Löcher in der Sprechmuschel des Telefons und ich konnte sie nicht zurückhalten. Ich glaube es hätte sogar Dich aus der Fassung gebracht Daddy so weinen zu hören. Mama hat ihn angeschrien daß er noch nie was getaugt hätte und daß er mich wahrscheinlich eines Tages im Vollrausch verprügeln würde wenn ich wieder bei ihm wäre und wenn es nach ihr geht dann wird er mich nie wiedersehen. Daddy würde mich nicht schlagen Jesus das weiß ich genau. Jesus wenn ich mit Daddy zusammen war dann hat er die ganze Zeit nichts getrunken und wir sind immer prima miteinander ausgekommen. Ich wußte genau daß er jetzt wieder anfangen würde zu trinken und wenn ich bei ihm geblieben wäre hätte er es nicht getan deshalb bin ich auf die Idee gekommen nach N.O. zufahren. Er wohnt in Onkel Webbs Haus und ich kenne die Adresse und ich werde das Haus schon finden. Ich weiß nur nicht wie ich nach N.O. kommen soll. Da mein Geld 146
für den Bus nicht reicht habe ich beschlossen per Anhalter zu fahren was vielleicht nicht ungefährlich ist aber ich finde daß es meine Entscheidung ist und nicht Mamas. Da ich in Jacksonville sowieso noch keine richtigen Freunde habe wird mich hier auch niemand vermissen. Statt in die Schule zu gehen werde ich morgen einen kleinen Umweg machen. Bitte Jesus beschütze mich auf meiner Mission zu Daddy. Er ist kein schlechter Mensch und braucht mich mehr als Mama und weil ihm sonst niemand hilft muß ich zu ihm fahren. Jesus bitte paß auf daß mir nichts passiert damit es mir nicht leid tun muß.
Deine Freundin
Marble
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SCHWESTERN
»Danke, Ma’am. Hätte nicht geglaubt, daß jemand anhält.« Marble strich sich die weißblonden Strähnen aus dem Gesicht und lächelte der Fahrerin zu, von der sie gerade aufgelesen worden war. Die Frau war eine Schwarze, schon etwas älter í über sechzig, vermutete Marble í, und sie trug einen hautengen rosa Hosenanzug, eine mit Bergkristallen dekorierte dunkle Brille und eine Art Som brero, aus dem gelbe und grüne Federn hervorstanden. Sie fuhr einen nagelneuen Cadillac Eldorado mit creme farbenen Ledersitzen. »Wie lange hast du da schon gestanden, Kind?« wollte die Fahrerin wissen. Marble fand, daß sie eine ungewöhn lich tiefe Stimme für eine Frau hatte. »Schon über eine Stunde, glaub’ ich.« Marble trug rote Jeans, ein rotes Sweatshirt, rote Bas kettballschuhe und ihren Wendeblouson mit der orange farbenen Seite nach außen. Sie hatte sich nicht nur aus Gründen der Bequemlichkeit so gekleidet, sondern auch, um von den Autofahrern besser gesehen zu werden. Marble führte nur ihren blauen Schultornister mit sich, den sie mit Extraklamotten, Waschzeug, Schreibblöcken und Kugel schreibern vollgestopft hatte. »Zweifellos etwas ungewöhnlich, eine junge Dame wie dich mit ausgestrecktem Daumen an der Auffahrt zur In terstate stehen zu sehn. Es wundert mich, daß die State Trooper dich noch nicht aufgegabelt haben.« »Hab’ keinen gesehen. Wie weit fahren Sie?« »Ich fahre nach Chattahoochee, um meinen Sohn zu be suchen, der dort in der Anstalt sitzt. Und du?« 148
»Ich will zu meinem Daddy nach New Orleans.« »Meine Güte, ganz nach New Orleans, Louisiana! Ein langer Weg für eine Anhalterin. Es geht mich ja nichts an, aber wissen deine Eltern Bescheid?« »Nein, Ma’am, wissen sie nicht. Aber mein Daddy steckt im Schlamassel, und ich muß zu ihm. Er hat nie manden außer mir, ehrlich. Mama hat jetzt einen anderen, und sie und Daddy kommen nicht mehr miteinander zurecht.« »Ich weiß, wie das ist.« Die Fahrerin nickte. »Ich bin Mrs. Arapaho White. Wie heißt du?« »Marble Lesson.« »Und wie alt bist du, Marble?« »Vierzehn.« »Also, Marble, ich bin fünfzig Jahre älter als du, aber ich kann mich genau daran erinnern, wie ich in deinem Alter war. Das fünfzehnte Lebensjahr war sogar eines der wichtigsten in meinem Leben.« »Warum?« »Oh, meine Güte! Damals hab’ ich zum erstenmal ge merkt, daß ich ein Mädchen war, das in den Körper eines Jungen eingesperrt ist.« »Was? Wie eingesperrt?« »Äußerlich war ich ein Junge, aber innerlich ein Mäd chen. Nachdem ich wußte, daß Gott einen Fehler gemacht hatte, war alles viel einfacher für mich.« »Sie meinen, vorher haben die anderen Kinder sich über Sie lustig gemacht?« »Schätzchen, das war noch das wenigste. Nein, ich mei ne, daß ich sehr durcheinander war damals. Ich fühlte mich zu Jungen hingezogen wie jedes andere Mädchen auch, aber ich sah eben aus wie ein Junge.« »Doch, ich verstehe schon, daß sowas zu Problemen führen kann.« »Und ob! Ich mag gar nicht mehr dran denken!« 149
»Und was haben Sie gemacht? Ich meine, als Sie vier zehn waren.« »Ich hab’ einfach beschlossen, mein Leben als Frau zu führen. Ich wollte keine Operationen, um ganz und gar wie eine Frau auszusehen. Ich war zufrieden mit meinem Körper und wollte nicht, daß ein Arzt daran herum schnippelt. Es gab für mich keinen Grund, nicht einfach so weiterzuleben wie ich war. Ich kann mich erinnern«, fuhr Arapaho White nach einer Pause fort, »daß ich in der Kirche saß, als mir der Gedanke gekommen ist, daß Jesus und Maria Magdalena und Johannes der Täufer, daß sie alles Irrtümer sein könnten, so wie ich. Mißgeburten, eigentlich. Und dann mußten sie tun, was sie tun mußten, als sie es einmal begriffen hatten. Von dem Tag an habe ich als Frau gelebt.« »Und wie hat Ihre Familie darüber gedacht?« »Als ich meiner Mutter von meiner Entscheidung er zählte, ist sie glattweg in Ohnmacht gefallen. Einfach so umgekippt. Mein Vater war schon lange tot. Man hat mir erzählt, daß er kurz nach meiner Geburt nach Chicago ab gehauen ist. Meine Mutter und ich haben bei ihren Eltern in Egypt City, Florida, gelebt. Meine Mutter wohnt immer noch dort. Sie ist vierundachtzig.« »Und was haben Sie gemacht?« »Ich bin natürlich weggelaufen. Hab’ mir in Miami einen Job als Reinemachefrau in einem Hotel gesucht. Ich hab’ auch noch ein paar andere Sachen gemacht, um mich durchzuschlagen. Keine tollen Sachen. Aber ich wußte, wer ich bin, und ich war zuversichtlich, daß am Ende alles gut ausgehen würde. Und so ist es auch gekommen, mal abgesehen von Frenesi. Das ist mein Sohn, den ich in Chattahoochee besuchen will. Er war nie ganz richtig im Kopf, seit seiner Geburt nicht.« »Verzeihen Sie die Frage, aber sind Sie nun seine Mutter oder sein Vater?« 150
Arahapo lachte. »Gute Frage, mein Kind. Frenesis leib liche Mutter war eine Kubanerin namens Esquerita Alva rez. Sie war Sängerin, hatte eine phantastische Stimme, aber geistig fehlte ihr einiges. Ich glaube, das war schon eine vererbte Krankheit in ihrer Familie. Der Schwachsinn, meine ich. Esquerita und ich haben zwei Jahre lang zusammen gewohnt. In Belle Glade. Und dann, als Frenesi geboren wurde und Esquerita gemerkt hatte, daß er nicht ganz richtig war, ist sie einfach abgehaun und hat ihn bei mir gelassen. In Esqueritas Beziehung zu mir gab’s noch ‘n paar andere Ungereimtheiten, mit denen sie nicht zurechtgekommen war. Jedenfalls hab’ ich mich um Frenesi gekümmert, bis er alt genug war, um sich richti gen Ärger an den Hals zu schaffen. Damals war ich bereits verheiratet, mit einem wunder baren Mann, der meine Situation verstand und der begrif fen hatte, daß Liebe etwas mit der Person zu tun hat und nicht mit dem Körper und seiner Ausstattung. Mein Mann hat für Frenesi getan, was in seiner Kraft stand, aber es war ein vergebliches Unterfangen. Frenesi ist eines Abends losgezogen und hat mit einer Uzi ein Blutbad veranstaltet, sechzehn Menschen hat er in einem Winn-Dixie in Tampa erschossen. Der Polizei hat er erzählt, er wollte die Erde gegen Invasoren von einem anderen Planeten verteidigen, die das Winn-Dixie zu ihrem Hauptquartier gemacht hatten.« »Das muß eine große Enttäuschung für Sie gewesen sein, daß Ihr Sohn so viele Menschen erschossen hat. Aber Eltern sind nun mal nicht für alles verantwortlich, was ihre Kinder tun. Ich meine, wenn ich jetzt eine Bank ausrauben würde oder sowas, dann bin ich es gewesen, und nicht Bird oder Wes. Ich bin dafür verantwortlich, nicht meine Eltern.« »Du bist ein helles Mädchen, Marble. Du wirst es mal weit bringen.« 151
»Wie schade, daß Sie nicht ganz bis New Orleans fahren, Mrs. White. Es macht Spaß, mit Ihnen zu fahren und zu reden.« »Danke, Marble, ich finde es auch schade. Aber ich wer de dir den Weg dorthin ein bißchen leichter machen. Ich fahr dich zum Flughafen nach Tallahassee und kauf dir ein Ticket nach New Orleans. Dann kommst du schneller zu deinem Vater.« »Oh, Mrs. White, ich wüßte gar nicht, ob oder wann ich Ihnen das Geld zurückzahlen könnte!« »Darüber mach dir mal keine Sorgen, Schätzchen. Ich habe genug Geld. Außerdem, Schwestern müssen einander helfen, wann immer sie können. Vergiß das nicht.«
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LOCKRUFE »Hallo?« »Endlich! Wesson, ist Marble bei dir?« »Ach, du bist’s, Bird. Ja, sie ist hier. Wir kochen uns ge rade ein Abendessen.« »Mein Gott, Wesson! Wir waren verzweifelt, wir haben schon gedacht, daß Marble gestern morgen auf dem Schulweg entführt oder ermordet worden ist!« »Sie stand gestern abend hier vor der Tür. Ich war selber ganz von den Socken, Bird. Hab’ gedacht, daß du deine Meinung vielleicht geändert hättest.« »Wesson, hol Marble an den Apparat.« »Ist das zu glauben?« sagte Bird zu Fernando Doig, während sie darauf wartete, daß ihre Tochter an den Ap parat kam. »Marble ist seit gestern abend bei ihm.« »Hallo, Mama, mir geht’s gut.« »Marble, wie bist du so schnell nach New Orleans ge kommen?« »Eine nette Frau hat mich mitgenommen, als ich an der Schnellstraße stand, und mich nach Tallahassee zum Flughafen gefahren. Sie hat mir ein Flugticket gekauft.« »Ich glaub dir kein Wort. Das ganze hat sich doch dein Daddy ausgedacht, stimmt’s?« »Nein, Mama. Ich hab’ doch gesagt, diese Frau hat mir ein Ticket gekauft, nachdem ich ihr erzählt hab’, daß mein Daddy mich braucht und daß ich zu ihm fahre, ganz egal auf welchem Weg.« »Ist er betrunken?« »Nein. Wir machen uns Abendessen. Wir waren gerade im Lebensmittelladen.« »Marble, ich bin sehr froh darüber, daß es dir gut geht, 153
aber warum hast du mir keine Nachricht hinterlassen? Oder angerufen? Irgend etwas!« »Weil du mir dann nachgekommen wärst. Deshalb. Ich wollte dir morgen einen Brief schreiben.« »Gib mir noch mal deinen Vater.« »Ja, Bird?« sagte Wes. »Spätestens morgen nachmittag sitzt das Mädchen im Bus oder im Flugzeug í sonst sorgt Fernando dafür, daß du morgen abend hinter Schloß und Riegel sitzt, das schwöre ich dir.« »Bird?« »Was?« »Laß sie mir eine Weile. Ich versprech dir, daß ich sie bald nach Hause schicke.« »Wesson, sie muß hier in die Schule gehen. Und deine Versprechen sind nicht mehr wert als ein Haufen Scheiße.« »Eine Woche, Bird. Ich schwör’s dir, in einer Woche ist Marble wieder zuhause. Die paar Tage werden ihr in der Schule schon nicht schaden. Marble war nicht hergekom men, wenn es nicht wichtig für sie wäre.« »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, bring ich dich eigenhändig um. Hast du gehört?« »Ich trinke zur Zeit nichts, nicht, solange Marble hier ist. Danke, Bird. Das...« »Gib sie mir nochmal.« »Mama, ich bleibe hier.« »Nur eine Woche, Marble.« Marble antwortete nicht. »Marble, bist du noch da?« »Ja, Mama.« »Hast du gehört, was ich gesagt hab’? Eine Woche.« »Ich hab’s gehört, Mama. Sieh mal, ich muß hier einiges in Ordnung bringen. Tut mir leid, daß du dir Sorgen ge macht hast.« »Sorgen ist gar kein Ausdruck.« 154
»Bye, Mama«, sagte Marble und legte auf. Sie wandte sich zu ihrem Vater um, der neben der Spüle stand und durchs Küchenfenster hinaus in den Garten schaute. »Daddy?« »Ja, Marble?« »Warum hast du Mama so oft geschlagen?« »Weil ich krank war. Krank und auch dumm. Egal was ich sage oder tu, das kann ich nicht wieder gutmachen. Deine Mama hat mich verlassen, Schatz, und das war richtig so. Ich kann von Glück sagen, daß sie mich nicht totgeschossen hat. Oder wenigstens zugelassen hat, daß ich an meiner Kotze ersticke, wozu sie manches Mal Ge legenheit hatte.« Wes ging hinüber zu Marble und nahm sie in die Arme. »Marble, deine Mutter hat ganz recht; meine Verspre chungen sind nicht mal ‘n Haufen Scheiße wert, aber ich bin fest entschlossen, mein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Ich bin froh, daß du Zeugin dieses Entschlusses bist.« Es klingelte an der Tür. »Ich mach auf, Daddy.« Marble ging zur Haustür, öffnete sie und sah einen rie senhaften, mondgesichtigen Mann in einem pinkfarbenen Hawaiihemd mit einem Muster aus gelben Papageien. »N’abend, Miss. Mein Name ist Defillo Humble, und ich möchte den Herrn des Hauses besuchen. Ist er da?« »Daddy!« rief Marble. Wes Lesson kam an die Tür. »Sie sehen einen ganzen Wochenlohn besser aus als neulich«, sagte Defillo Humble. »Haben Sie mich nach Hause gebracht?« Humble nickte. »Wollt nur mal nach Ihnen schauen, wie versprochen. Sehn, wie’s Ihnen geht.« »Kommen Sie rein, Mr...?« 155
»Humble. Defillo Humble. Nennen Sie mich einfach Humble.« Er trat ein. Die beiden Männer gaben sich die Hand. »Ich bin Wes Lesson, Humble. Danke für den Gnaden akt. Ich hoffe, ich brauch’ Sie nicht nochmal aus demsel ben Grund. Das ist meine Tochter Marble.« Defillo Humble lächelte. Er hatte große gelbe Zähne. »Sie sind ganz schön groß, Mr. Humble«, sagte Marble. »In mancherlei Hinsicht«, erwiderte er. »In anderer wiederum nicht groß genug.« »Möchten Sie mit uns essen?« fragte Wes. »Wir machen uns gerade was.« »Vielen Dank, hab’ keine Zeit. Aber ‘nen Gutschein nehm ich gern. Sagen Sie mal, Wes, suchen Sie zufällig Arbeit?« »Ja, such’ ich tatsächlich.« »Ein Kumpel von mir hat mich angerufen. Er braucht jemanden, der ihm hilft. Hier ist seine Karte.« Humble nahm eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche und gab sie Wes, der sie laut vorlas. »›Bunk Colby’s Fesselballon- und Luftschiffakademie. Cuba, Alabama. Telefon: 205-FLY HIGH‹.« »Wie gesagt, is’n alter Kumpel von mir. Von Meridian, Mississippi aus liegt das Kaff gleich hinter der Grenze. Er braucht einen Mann, der handwerklich nicht ganz unge schickt ist.« »Ich hab’ auf den Ölfeldern gearbeitet, und ‘n Reifen wechseln kann ich auch«, sagte Wes, »aber von der Luft fahrt versteh ich nichts.« »Müssen Sie auch nicht. Darum kümmert sich Bunk. Hören Sie, ich fahr morgen zu ihm hin. Warum kommen Sie nicht mit und sehen Sie sich’s mal an. Marble kann auch mitkommen.« »Warum nicht, Daddy? Du brauchst mal ein bißchen Luftveränderung.« 156
Defillo Humble zeigte ihnen nochmal die gelbe Reihe iner Zähne. »Komme morgen um zehn vorbei«, sagte Humble und ging hinaus. »Das könnte doch eine gute Sache sein, Daddy. Die Wege des Herrn sind geheimnisvoll.« Wes warf einen Blick auf die Visitenkarte, dann sah er seine Tochter an. »Du hast recht, Marble«, sagte er. »Wolln wir nur hoffen, daß es auch der Herr ist, der hinter diesem Job eckt.«
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GUTE LEUTE »Was ist mit diesem Bunk?« fragte Wes, als Defillo Hum ble seinen Roadmaster auf der 59 nach Nordosten lenkte. Sie hatten gerade den Pearl River überquert, die Grenze zum Magnolien-Staat. Wes saß vorne neben Humble, und Marble war auf dem Rücksitz eingeschlafen. »Was soll mit ihm sein?« fragte Humble. »Was er für ei ner ist, woll’n Sie wissen?« »Ja. Wie lange leitet er diese Schule schon? Wer geht dorthin? Cuba, Alabama, liegt nicht gerade zentral.« »Wissen Sie, Wes, Bunk hat schon eine Menge Sachen gemacht in seinem Leben, das inzwischen auch schon fünfundsiebzig Jahre dauert. Aber so richtig zu Geld ge kommen ist er vor diesem Deal eigentlich nicht.« »Gibt’s denn so viele Leute, die lernen wollen, wie man mit Ballons und Luftschiffen fliegt?« Humble lachte. »Schläft Ihre Kleine?« Wes drehte sich nach Marble um. »Ja.« »Bunk hat vor allem ein Rollfeld, eine Landebahn. Die Ballonakademie ist nur Tarnung für sein richtiges Ge schäft, bei dem es darum geht, Drogen aus Mittelamerika einzufliegen, hauptsächlich Gras und Kokain von der Halbinsel Guajira in Kolumbien. Achtzig Prozent des Ma rihuanas, das in die Vereinigten Staaten geschmuggelt wird, stammt von dort. Die Marimbews bringen es her, zahlen Bunk für die Benutzung der Landebahn, wo der Shit ausgeladen und abgeholt wird, und dann fliegen sie wieder weg. Mit der Verteilung hat Bunk nichts zu tun. Er braucht einen Mann, der dafür sorgt, daß das Drum herum glatt läuft. Bunk weiß alles, was man über Flug zeuge wissen muß. Er war Pilot im Zweiten Weltkrieg, 158
dann in Korea, ist fünfzehn Jahre bei TWA gewesen und hat dann ein paar Jahre lang für Sheik Majeed in Abu Dhabi Privatjets geflogen.« »Darf ich fragen, warum es Sie gar nicht stört, daß Sie kaum etwas über mich wissen? Ich meine, Sie erzählen mir hier von der ganzen Sache und bringen mich zu dem Flugplatz. Woher wissen Sie, daß ich mit meinen Infor mationen nicht zur Polizei laufe?« Humble ließ sein gelbes Gebiß bis zu den Backenzähnen sehen. »Wenn Sie auch nur mit dem Gedanken spielen würden, Wes, dann wäre die kleine Marble da hinten nur noch eine Erinnerung. Und außerdem glaube ich, daß ich eine ganz gute Menschenkenntnis besitze. Glaub’ nicht, daß Sie ‘ne Singdrossel sind.« Wes blickte aus dem Seitenfenster in den grauen Him mel. Die Temperatur da draußen betrug weniger als zehn Grad, und gegen abend wurden starke Regenfälle erwartet. »Wie passen Sie in das Geschäft, Humble?« »Ich bin so ‘ne Art Investor, könnte man sagen. Ein An teilseigner an der Akademie. Mit den Tantiemen meines ersten Buchs, Neger mit Autos, hab’ ich dem alten Bunk ein bißchen unter die Arme gegriffen. Hab’ Ihnen ja er zählt, daß es ein Bestseller war, aber da waren Sie ganz schön hinüber; vielleicht können Sie sich nicht mehr erin nern. Das Schreiben ist mein Job, aber ein kluger Mann vergißt dabei das Investieren nicht. Diversifikation heißt das Zauberwort, Wes. Ich bin für Bunk da, wenn er mich braucht.« Die Fahrt nach Cuba dauerte etwa vier Stunden. Marble schlief praktisch während der gesamten Fahrt, und nach dem Wes erfahren hatte, was Bunk Colby da für ein Ge schäft betrieb, reduzierte er das Gespräch mit Humble auf das Nötigste und tat manchmal so, als wäre er auch am Einnicken. Eine oder zwei Meilen hinter Cuba, einem 159
winzigen Nest, bog Humble auf einen Feldweg, der zwi schen Äckern hindurch nach Süden führte. »Hier bauen sie den Silver-Queen-Mais an«, sagte er. »Geht nix über Silver-Queen-Mais aus ‘bama, mein Freund. Da vorne, Wes. Sehen Sie?« Ein weißes Schild spannte sich über die Einfahrt: BUNK COLBY’S FESSELBALLON- UND LUFT SCHIFFAKADEMIE stand in großen schwarzen Block buchstaben darauf. Und darunter ein Spruch: Mag der Fluch Gottes auf diese bösen Zwerge fallen. Als der große blaue Buick unter dem Schild hindurchfuhr und auf das Flugplatzgebäude zuholperte, das am Rande eines Rollfeldes stand, fragte Wes: »Woher stammt das Zitat?« Humble kicherte. »Bunk hat es während des Golfkriegs auf sein Schild gepinselt. Das hat Saddam Hussein gesagt, nachdem er die »Mutter aller Kriege« vom Zaun gebrochen hatte. Manche Leute finden ja, daß Bunk einen seltsamen Humor hat, aber mit mir hat er’s immer gut gemeint.«
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BUNK Als erstes fiel Wes an Bunk Colby auf, daß er wie eine Katze aussah. Das ist nicht das Gesicht eines Fünfundsiebzigjähri gen, dachte Wes, als er und Marble hinter Defillo Humble her zu der Stelle gingen, wo Bunk auf sie wartete. Der frü here Kampfflieger, Fluglinienpilot, Luftchauffeur für arabi sche Potentaten und jetzige Drogenschmuggler zog gerade einen Knoten in die Takelage eines Heißluftballons, der zwischen dem Flugplatzgebäude und dem Landestreifen festgemacht war. Es war der einzige Ballon, und Wes konnte auch nirgendwo Luftschiffe entdecken, nur eine schwarzgestrichene Piper Cub, die auf der gegenüber liegenden Seite der Landebahn abgestellt war. Bunk war mit seinem Knoten fertig und trat vor, um das Trio in Empfang zu nehmen. »Humble, du bist ein Mann, der sein Wort hält«, sagte er und gab dem riesigen Kerl die Hand. »Ich tu mein Bestes«, antwortete Defillo Humble. »Das hier sind Wes Lesson und seine Tochter Marble. Leute, darf ich euch eine lebende Legende vorstellen? Bunk Colby, der Schrecken von drei oder noch mehr Kontinenten.« »Nur vier«, sagte Bunk. »Freu mich, euch beide kennen zulernen.« Er gab Wes und Marble die Hand. »Bunk, du siehst jedesmal jünger aus«, meinte Humble. Bunks Lächeln entblößte strahlendweiße Jacketkronen. »Ja, mein neuer Gesichtschirurg da unten in Bogota weiß mit dem Skalpell umzugehen. Aber diesmal hat er die Haut vielleicht ein bißchen zu straff hinter die Ohren gezogen. Ich seh’ aus wie ‘ne Katze. Was meinst du?« »Das lockert sich, Bunk«, sagte Humble. »Das sackt wieder ‘n bißchen runter, wie jedesmal. Und ganz neben bei: Die Ägypter haben die Katzen verehrt.« 161
»Deine Ägypter kannst du dir sonstwo hinstecken«, sagte Bunk. »Tut mir leid, junge Dame, war nicht so gemeint. Aber das sind schon verdammt üble Burschen, wenn man mit ihnen zu tun hat. Und schmutzig sind die! Mein erstes Gebiß hab’ ich in einem Hotelzimmer in Kairo verloren. Das Gebäude ist mitten in der Nacht in Brand geraten, und ich mußte es dortlassen. Erinnerst du dich, Humble? Meine dritte Frau, Nazli, ist bei dem Feuer umgekommen. Wir waren gerade mal dreizehn Tage verheiratet. Ich war schon fast unten, da ist mir eingefallen, daß ich sie am Bettpfosten festgebunden hatte, aber da war der Qualm schon zu dick, um nochmal zurückzugehen. Schrecklicher Tod, findest du nicht? Sie war kaum älter als das Mädchen hier. Wie alt bist du, Kleine?« »Vierzehn«, sagte Marble. »Und Sie?« »Sechsundfünfzig.« Bunk zwinkerte ihr zu. »Mein Alter hab’ ich in Bogota gleich mitliften lassen.« Humble lachte. »Bunk, nicht mehr lange, und du bist jünger als ich.« Bunks Gesicht wurde ernst, seine Augen wurden kleiner. »Hast du ihm erzählt, wie das hier läuft?« Humble nickte, und jetzt sahen die beiden Wes an. »So an zwölf, fünfzehn Tagen im Monat brauch’ ich je manden«, sagte Bunk. »Sie sind aus New Orleans, richtig?« »Da wohn’ ich jetzt«, antwortete Wes. »Ich zahle gut, und Sie kriegen ein Auto, mit dem Sie hin und her fahren können an den Tagen, wenn hier geliefert wird. Sie müssen mit einem Schraubenschlüssel umgehen können und wenigstens so tun, als wüßten Sie genau, welches Ende eines Schnellfeuergewehrs die Karten verteilt. So, ihr seid sicher hungrig. Ich habe ein Me-nudo auf dem Herd stehen.« Da Humble und Bunk nach dem Essen ein paar Angele genheiten zu besprechen hatten, machten Wes und Marble einen Spaziergang über das Gelände der Akademie. 162
»Daddy, wirst du für den Mann arbeiten?« »Ich weiß es noch nicht, Marble. In N.O. ist nicht viel los mit Jobs, das ist mal sicher. Die Kohle, die Bunk mir zahlt, ist nicht zu verachten.« »Daddy, ich glaube, ich mag ihn nicht. Und Defillo Humble auch nicht. Das sind seltsame Männer.« Wes lachte freudlos. »Allerdings.« Später am Nachmittag fuhren sie alle vier in Humbles Buick Roadmaster nach Meridian, um ins Kino zu gehen und zu Abend zu essen. Die Auswahl an Filmen war nicht groß: Eine Wiederaufführung von Disneys Pongo und Per dita oder ein neuer Karatefilm, Showdown in Little Tokio. Die Männer überließen Marble die Entscheidung, und weil sie Pongo und Perdita schon dreimal gesehen hatte, gingen sie in den anderen Film, einen miserablen Streifen. Über ihren Spareribs im T für Texas Barbecue stimmten Bunk und Humble darin überein, daß der Film nicht be sonders tiefsinnig wäre. »Kugeln, Titten und Enthauptungen machen noch kei nen guten Film«, meinte Bunk. »Mein Lieblingsfilm ist immer noch Hail the Conquering Hero, in dem Eddie Brak ken in seiner Heimatstadt irrtümlich für einen Kriegshelden gehalten wird, und dann ist die Hölle los. Verrückte Geschichte, aber auf eine menschliche Weise verrückt, verstehst du? Dem Film, den wir gerade gesehen haben, fehlt die Menschlichkeit.« »So ist die Welt nun mal«, sagte Humble. »Mit Mensch lichkeit ist nichts mehr. Scheint als hätten wir unsere beste Zeit schon hinter uns.« »Aber die kleine Marble hier, die hat ihre beste Zeit noch vor sich«, sagte Bunk und lächelte das Mädchen an. »Und die steht sogar schon vor der Tür. Ist es nicht so? Was sagt denn der Daddy dazu?« Wes sagte dazu: »Ich will’s hoffen, Bunk.« Marble sagte nichts. 163
NUR EIN AUGENZWINKERN Humble, Wes und Marble nahmen Bunks Einladung an, die Nacht über in der Akademie zu bleiben und erst am nächsten Morgen nach New Orleans zurückzukehren. Auf der Rückfahrt von Meridian nach Cuba sagte Wes zu Bunk, daß er den Job gerne machen würde; er könne je doch erst in einer Woche anfangen, wenn Marble wieder nach Jacksonville abgereist sei. Bunk hatte nichts dagegen einzuwenden. Auf der Rückseite des Flugplatzhangars, der eine Fläche von ungefähr fünftausend Quadratmetern einnahm und in den ein Büro und eine große Lagerhalle integriert waren, befand sich ein kleiner Anbau, der als Nachtquartier diente. Die Unterbringung der Gäste war also kein Problem. Als sie im Haus waren, sah Bunk, daß an seinem Anruf beantworter das rote Lämpchen blinkte. Er drückte auf die Abspieltaste. »Black zero, Black zero. Sofort. Sofort. Hammerkopf. Hammerkopf. Cuba, bitte antworten.« Bunk tippte eine Nummer in sein Telefon, und als die Verbindung hergestellt war, sagte er: »Cuba big. Cuba big. Black zero, klarmachen. Black zero, klarmachen. Zero in.« Er legte auf und sagte zu Defillo Humble: »Um Mitter nacht kriegen wir unerwarteten Besuch. Sag Lesson, er soll seine Tochter ins Bett bringen. Ich muß die Landelichter setzen.« Um eine Minute nach Mitternacht standen Humble, Wes und Bunk neben der Landebahn und sahen den Learjet auf sich zurollen. Das Flugzeug blieb mit gedrosselten Triebwerken stehen, während eine Klappe sich öffnete 164
und eine Aluminiumleiter zu Boden gelassen wurde. Ein Mann in heller, aber robuster, salopper Kleidung í als wollte er segeln gehen í und einem grünen Matchbeutel über der Schulter kletterte die Leiter hinunter, stellte den Beutel ab und schob die Leiter wieder ins Flugzeug. Der Mann nahm den Beutel vom Boden auf und ging auf das Empfangskomitee zu, während das Flugzeug zum Ende der Landebahn rollte. Bunk trat einen Schritt vor, um den Besucher zu begrüßen. »Bienvenida, Senor de Estoques«, sagte Bunk. »Es ist ‘ne ganze Weile her.« Sie gaben sich nicht die Hand, aber der Mann, ein gut aussehender, sauber rasierter Latino um die fünfund zwanzig, lächelte Bunk an, bevor er sich umdrehte, um dem Learjet nachzublicken, der nach Norden gestartet war, um dann einen Bogen von 180 Grad zu beschreiben und in den subtropischen, vom Mondlicht erhellten Himmel einzutauchen. »Mozo, das ist Defillo Humble, ein alter Partner von mir«, stellte Bunk vor. »Und Wes Lesson ist mein neuer Assistent. Meine Herren, darf ich euch Mozo de Estoques aus Medellin vorstellen, ein hochgeschätztes Mitglied des kolumbianischen Boys Club.« Mozo de Estoques lächelte wieder und antwortete in beinahe perfektem Englisch: »Senor Bunk, wie ist es mög lich, daß Sie jünger aussehen als damals, als ich Sie ken nengelernt hab’? Wann war das, vor elf Jahren? Ich war vierzehn.« »Ich kann mich erinnern. Das war in Cali, und Sie hatten gerade den ersten Auftrag für den Club ausgeführt.« »Mir die ersten Sporen verdient, wie ihr Norteamericanos sagt.« Bunk nickte. »So ist es. Mozo war nicht größer als das Mädchen da drinnen, Wes, als er seine glanzvolle Karriere begann. Ein kleiner Junge.« 165
»Was für ein Mädchen?« wollte Mozo de Estoques wis sen. »Wes’ Tochter«, sagte Bunk. »Sie schläft hinten im Quartier.« »Wie alt ist sie?« »Keine Ahnung«, antwortete Bunk. »Zwölf oder drei zehn.« »Sie ist vierzehn«, sagte Wes. »Aber was spielt das für eine Rolle?« Mozo sah Wes Lesson an, die Reflexe der Landebe leuchtung flackerten wie winzige Flämmchen in den un beweglichen Augen des Kolumbianers. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Eine große«, sagte de Estoques. »Es spielt eine große Rolle.« »Kommt, Männer, laßt uns reingehen«, sagte Bunk. »Führ sie rein, Humble, ich muß erst noch die Lichter ausmachen. Ich komm’ gleich nach.« Humble und Wes folgten Mozo, der offensichtlich nicht zum erstenmal hier war. Er stellte seinen Matchbeutel ab und verschwand in der Toilette. »Wer ist das?« wollte Wes von Humble wissen. »Jorge Muletas bester Killer. Er soll hier jemanden um legen, da können Sie Gift drauf nehmen. Mozo de Estoques reist nicht ohne guten Grund durch die Gegend. Die beiden letzten Präsidentschaftskandidaten der Opposition soll er erledigt haben. Er leitet eine Schule für Killer, die von Muletas Kartell finanziert wird.« Bunk betrat in dem Moment das Gebäude, als Mozo von der Toilette kam. »Wieviel Zeit hast du mitgebracht, mein Sohn?« fragte ihn Bunk. »In drei Stunden oder noch eher werde ich von einem Auto abgeholt. Ich bin müde, Mr. Bunk.« Mozo gähnte und streckte die Arme. Er warf einen Blick auf die riesige 166
Rolex an seinem Handgelenk. »Wecken Sie mich, wenn ich um viertel vor drei noch schlafen sollte.« »Na klar.« Der Killer nahm seinen Beutel und steuerte auf das Nachtquartier zu. »Wie wär’s mit ‘nem Drink, Bunk?« sagte Humble. »Ist noch was von dem Glenmorangie über?« Die drei Männer kauerten auf Hockern um einen Tisch aus rostfreiem Stahl in der Küchenecke. Bunk und Humble tranken schottischen Whiskey, Wes hatte eine Dose Dr. Peppers in der Hand. »Das einzige Mal, als ich in Kolumbien war«, erzählte Bunk, »da war ich zusammen mit Estrago Muleta í Jorges jüngerem Bruder, der vorletztes Jahr in Venezuela, in Ma racaibo, glaube ich, von einem Erschießungskommando hingerichtet wurde í, er und ich, wir waren also draußen im Dschungel, und da wären wir beinahe über die größte gottverdammte Schlange gestolpert, die mir jemals unter die Augen gekommen ist; die hat da mitten auf dem Weg gelegen und gepennt. Estrago meinte, daß es eine Busch meister wäre, eine serpiente muy peligroso. Estrago hat mir seine Uzi gegeben, sich an die Schlange herangeschlichen und ihr mit einer Machete den Kopf abgeschlagen. Das Reptil hat sich gar nicht gerührt. Estrago hat den Kopf auf die Spitze seines langen Messers gespießt und ihn í wie einst ein Sioux den Skalp Custers í zurück ins Lager ge tragen. Ein furchtloser Halunke war das. Na ja, und jetzt ist er nur noch eine Fußnote in einem Bericht der Regie rung.« Der Schuß kam vor dem Schrei. Ein lautes Plopp, als hätte jemand einen festsitzenden Korken aus einer Sekt flasche gezogen und danach ertönte Marbles langgezoge nes, wimmerndes Geschrei. Von den drei Männern war Wes als erster bei ihr. Marble saß auf dem Fußboden ne ben dem Feldbett, auf dem sie geschlafen hatte, und hielt 167
mit beiden Händen den Griff eines Colt Python umklam mert, dessen Mündung auf den regungslosen Körper von Mozo de Estoques zeigte, der quer über dem Feldbett lag, von der Hüfte abwärts nackt bis auf die weißen Baum wollsocken. Wes nahm seiner Tochter, die absolut regungslos und mit starr aufgerissenen Augen dasaß, die Pistole aus der Hand. Er kniete vor Marble nieder und zog sie an sich. Humble schob Mozos schwarze Stirnlocke zur Seite, und dahinter, wo einmal das rechte Auge gewesen war, kam eine rote Sickergrube zum Vorschein. Bunk kam als letzter herein, warf einen Blick auf die Szene, wollte etwas sagen, schwieg dann aber. Wes streichelte zärtlich den Kopf seiner Tochter, während er sie in den Armen hielt, und nach einer oder zwei Minuten bewegten sich ihre Augen lider.
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ZU JESUS HALTEN Lieber Jesus, es ist eine Weile her seit ich Dir zum letztenmal geschrieben habe aber in der Zwischenzeit ist sehr viel passiert. Ich fange mit dem wichtigsten Ereignis an und erzähle dann alles weitere. Ich habe in Alabama einen Mann erschossen der mich vergewaltigen wollte. Du weißt daß ich vierzehn und immer noch Jungfrau bin und ich will es auch bleiben bis ich beschließe es zu tun auch wenn ich dir sagen muß daß es nicht unbedingt in der Hochzeitsnacht passieren wird. Das ist jedenfalls die große Neuigkeit und jetzt erzähle ich dir wie es dazu gekommen ist. Daddy und ich sind mit einem Fremden namens Defillo Humble nach Alabama gefahren um uns dort auf einem Flugplatz in der Nähe der Grenze nach Mississippi eine neue Arbeitsstellefür Daddy anzusehen. Ich glaube dieser Fremde hatte Dad eines Nachts aus der Patsche geholfen als Dad völlig betrunken war und als er jetzt wieder auftauchte erzählte er etwas von einem Job und Daddy wollte ihn sich mal ansehen weil er ja schließlich keinen hat und die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Louisiana ist im Augenblick nicht gerade rosig. Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl bei diesem Humble der ein extrem großer Mann ist aber weil er von sich behauptet hat daß er ein Schriftsteller ist hat er mich interessiert. Du weißt ja daß auch mein Ehrgeiz in diese Richtung geht. Also sind wir mit Defillo in seinem Buick nach Meridian gefahren zu diesem Flugplatz der sich Bunk Colby’s Ballon- und Luftschiffakademie nennt. Er wird von einem höchst merkwürdigen Menschen namens Bunk Colby geleitet der von sich behauptet fünfundsiebzig Jahre alt zu sein und beinahe jünger als mein Daddy aussieht. Es gab einen einzigen Ballon dort aber sonst hab’ ich kein anderes Luftfahrzeug entdecken können. Diese Schule lag irgendwo 169
im Niemandsland und ich dachte Daddy würde dort draußen niemals eine Arbeit annehmen aber er hat es doch getan weil er so verzweifelt ist und keinen Alkohol mehr trinkt aber jetzt wird er natürlich nicht dort arbeiten. Alles passierte in der Nacht als wir dort waren. Mr. Humble, Mr. Colby, Daddy und ich fuhren nach Meridian zum Abendessen und um uns einen Film anzusehen der Showdown in Little Tokio hieß. Das Abendessen in einem Barbecue-Restaurant war ganz in Ordnung aber der Film war dumm und schrecklich mit diesen gestellt wirkenden Kämpfen. Unmengen von automatischen Waffen die ständig losballerten und haufenweise nackten Frauen und japanischen Gangstern. Am schlimmsten war die Szene als der Anführer der japanischen Gangster einer blonden Frau mit der einen Hand den Kopf abschnitt wahrend er ihr mit der anderen die nackten Brüste streichelte. Er steht dabei hinter ihr und hat kein Hemd an und man kann sehen daß er überall auf den Armen den Schultern auf der Brust und auf dem Bauch tätowiert ist. Später wird er getötet aber du kannst Dir nicht vorstellen wie grauenhaft dieser Film ist Jesus du darfst ihn dir auf keinen Fall ansehen. Als wir wieder in Mr. Colbys Haus waren hab’ ich mich in einem Raum mit vielen kleinen Betten schlafen gelegt weil es schon zu spät war um noch den ganzen Weg nach New Orleans zurückzufahren. Ich bin aufgewacht weil ein Mann auf mir drauflag den ich nicht kannte. Er hat mir eine Hand über den Mund gelegt und mir mit der anderen die Decke runtergezogen um besser an mich ranzukommen. Ich hab’ den Kopf auf die Seite gedreht und auf dem Fußboden neben dem Bett den Revolver gesehen und während er mit sich selbst beschäftigt war hab’ ich nach unten gelangt den Revolver genommen und dann hab’ ich ihm die Mündung vors Gesicht gehalten und abgedrückt. Der Mann ist über mir zusammengebrochen und überall war dieser Dreck nicht nur Blut sondern auch das Zeugs 170
aus seinem Kopf. Ich glaube ich habe geschrien und dann bin ich unter seinem Körper hervorgekrochen und hätte sicher nochmal auf ihn geschossen wenn er sich bewegt hätte aber er war mausetot und rührte sich nicht mehr. Daddy kam herein und nahm mich in die Arme. Ich wußte daß er es war aber ehrlich Jesus eine ganze Weile lang konnte ich weder reden noch mich bewegen. Mr. Humble und Mr. Colby kamen herein und sahen die Bescherung aber sie haben kein Wort gesagt. Mitten in der Nacht sind wir nach New Orleans gefahren und Daddy saß auf der ganzen Fahrt bei mir auf dem Rücksitz von Mr. Humbles Auto und hat mich festgehalten. Ich glaube Mr. Colby hat die Leiche des Vergewaltigers begraben und Daddy hat mir später erzählt, daß es ein Mörder aus Südamerika war hinter dem die amerikanische Regierung her war und von dem sie gerne wüßte daß er tot ist aber wir werden es weder ihr noch sonst jemandem erzählen. Ich mußte Daddy versprechen daß ich es Mama nicht erzähle weil sie mir sonst nie wieder erlauben würde zu Daddy zufahren und wie Du ja weißt will sie das sowieso nicht so gerne. Aber Dir mußte ich es erzählen Jesus. Du bist der Einzigste. Ich schreibe diesen Brief im Bus auf der Rückfahrt nach Florida. Weißt du noch wie ich das letztemal im Bus gefahren bin da wurden wir von einem Blitz getroffen und außer mir wurden alle anderen Passagiere getötet oder ganz schwer verletzt. Jetzt weiß ich ganz sicher daß ich für einen bestimmten Anlaß geschont wurde und wahrscheinlich sogar für mehr als einen. Der erste war die Beseitigung eines südamerikanischen Killers und Verge waltigers der in meinen Augen ohne jeden Zweifel ein Agent des Teufels war. Da draußen laufen noch mehr von ihnen herum Jesus und ich bin bereit für sie. In einer Fernsehsendung habe ich gehört daß 25 Millionen Men schen behaupten daß sie schon mal mit dem Teufel 171
gesprochen haben und ich glaube ihnen. Ich glaube auch daß es auf diesem Planeten außer mir noch andere gibt die die Welt vor dem Teufel und seinen Agenten retten können. Haltefest zu mir Jesus ich werde für immer an deiner Seite stehen.
Deine Freundin
Marble Lesson
Zentaur 2005-05-19
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