Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Kienast, Wolfgang Gillermanns Tod
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Kienast, Wolfgang Gillermanns Tod
Kriminalroman
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Voller Unruhe verläßt Hans Falkenbüttel die kleine thüringische Stadt. In Birkhalde, in seiner Sommerlaube, hofft er Ruhe zu finden. Doch es ist nicht Sommer, sondern der Tag nach Weihnachten. Und auch die Ruhe ist trügerisch: In seinem Schuppen liegt zwischen Brennholzstapeln eine alte, prallvolle Ledertasche. Die Tasche und die vielen gebündelten Geldscheine darin gehören Gillermann, den seit Tagen die Kriminalpolizei sucht, weil ihn ein Nachbar als vermißt gemeldet hat. Zwischen Weihnachten und Neujahr wird aus der Vermißtenmeldung ein Fall für die MUK, die sich durch einen Wust von Widersprüchen und Lügen hindurcharbeiten muß. Alle, die mit Gillermann zu tun hatten, versuchen offensichtlich, etwas zu verbergen.
Wolfgang Kienast Gillermanns Tod _____________________________________
Verlag Das Neue Berlin
I. KAPITEL 1 In dieser Nacht hatte Karl Romund schlecht geschlafen. Wilde Träume hatten ihn bedrängt, und in jedem war Maximilian einen anderen Tod gestorben; hatte sich überfressen, war einen Hang hinuntergestürzt, oder die Witwe Trotzig unten aus dem Dorf hatte ihn vergiftet, weil Romund, sein Herr, ihrem Liebeswerben so hartnäckig widerstand. Ach was, ich habe mich überfressen, dachte Karl Romund. Das Eisbein gestern abend im „Paradies“ ist einfach zu fett gewesen. Er war vor dem Weckergeschrei erwacht, schleppte sich durch die eisige Wohnung, und nichts ging ihm heute von der Hand. Als das Zeitzeichen tickte und die nüchterne Frauenstimme im Radio acht Uhr ansagte, schnitt sich der kommunale Ziegendecker der Gemeinde Trebendorf. Da war er erst beim Rasieren, während er sonst um diese Zeit bereits das Haus verließ. Ein verkorkster Tag, dieser Sonnabend, dachte er. Und morgen ist Heiligabend. Romund starrte durchs Verandafenster auf die stille Straße hinaus. Sie lag grau und verlassen im Frost des Frühwinters, und irgend etwas wirkte verändert an ihr. Etwas fehlte, und das hing mit dieser merkwürdigen Verspätung zusammen, die Romund sich nicht erklären konnte. Doch was sollte anders sein in der Birkhalder Straße? So war sie im Winter. Hier hatten die Gernegroße aus der 7
Stadt ihre Sommerhäuser. In der warmen Jahreszeit quollen sie heraus, hockten sich auf ihre Terrassen oder in den Schatten ihres französischen Lavendels. Häuser, Gärten und auch die Städter glichen sich wie die Wartburgautos und Škodas, mit denen sie kamen. Da war nur Gillermann, der sich von ihnen unterschied, und der kam auch nicht mehr nur zum Wochenende aus der Stadt. Seit er seine Rente bekam, lebte er ständig hier. Gillermann? Natürlich! Der signalisierte sonst morgens seine Anwesenheit mit einer blassen Rauchfahne über drei hohen Fichten. Im Frost stand der Holzfeuerrauch fast regungslos in der Luft. Aber er war da, unauffällig und unscheinbar, jedoch gegenwärtig; jeden Morgen. „Dieses verdammte Eisbein“, knurrte Romund ingrimmig und tupfte mit einer Papierserviette über sein zerschundenes Kinn. Warum sollte der Alte einmal nicht geheizt haben? Einmal seine Regelmäßigkeit unterbrochen haben? Doch das war es gerade. Man hatte sich daran gewöhnt. Just dieses eine Mal fiel auf, weil die Rauchfahne sonst immer über den Fichten stand. „Der Alte wird auch unzuverlässig“, brummte Romund. Das Blut rann am Kinn herab, die Frau im Radio weissagte neuen Frost durch ein Islandhoch über der Nordsee, was auch die Hoffnung auf Schnee zerstörte, und das Eisbein von gestern abend rumorte im Magen. Gestern abend hatten die „Freien Sänger“ von Trebendorf ihr Weihnachtsvergnügen gehabt, und erst nach Mitternacht war Karl Romund in die Siedlung hinauf gepilgert, wo der Mond die einzige Straßenbeleuchtung darstellte. Ich bin zu spät dran, dachte er. Maximilian wird warten. Und dann: Ich werde alt. Jede Unregelmäßigkeit wirft mich um! 8
„Ja, zum Teufel, der Alte wird wirklich unzuverlässig!“ brummelte Karl Romund. Ihm war eingefallen, daß Wilhelm Gillermann sonst jeden Morgen pünktlich zehn vor acht das Haus verließ, um im Laden neben dem Sportplatz einzukaufen. Man konnte die Uhr danach stellen, und es war ein Teil des Romundschen Lebensrhythmus geworden, das Frühstück abzubrechen, wenn er den Alten sah. Gillermanns Person genoß legendären Ruhm in der Siedlung. Über sein Leben lagen sich widersprechende Mitteilungen vor. Demnach hatte der Rentner entweder fünfzehn Jahre lang im Zuchthaus gesessen oder im KZ, hatte in Amerika Gold gesucht, war Matrose auf einem schwedischen Tanker gewesen, hatte in Australien ein Totogeschäft für Hunderennen geführt und so weiter und so fort. Romund war bereit, alles für ein Gerücht zu nehmen, und dachte nicht daran, auch nur eine der Informationen weiterzutragen. Die Leute schwätzten sowieso schon viel zuviel, besonders über Gillermann. Und dieser Mann hatte von allem etwas. Er besaß das Mißtrauen eines Verfolgten, das Air des Weltenbummlers und die wortkarge Lebendigkeit eines Trappers, wie sie in den Büchern beschrieben wurden, die Romund in seiner Jugend gelesen hatte. Bewiesen war nur, daß Gillermann ein Eremitendasein mit seinen Enten führte, seit er vor fünf Jahren aus der Kreisstadt hergezogen war, und sich den Deubel um Nachbarn und deren Tratsch kümmerte. Ganz selten tauchte einer seiner Verwandten auf, öfter der Freund oder ehemalige Kollege aus dem Nachbardorf. Gillermann und Romund pflegten nicht mehr Verkehr miteinander, als daß sie sich freundlich „Guten Tag“ wünschten. 9
Da hat er nun bis weit nach Mitternacht Vorweihnacht gefeiert und heute verschlafen, dachte Romund mit leiser Schadenfreude, die nicht mehr als ein Frohlocken darüber war, daß auch Gillermann unpünktlich sein konnte wie er selbst. Eine halbe Stunde über der Zeit verließ Romund das Haus. 2 Karlheinz Ahnert, der Abschnittsbevollmächtigte Trebendorfs, war in seinem Garten und machte sich Bewegung. Er war ein junger, drahtiger Mann, Sportler aus Passion und Mittelstreckenmeister im Bezirksmaßstab. An diesem Morgen trug er seinen grauen Trainingsanzug aus der Armeezeit und war damit beschäftigt, Holz zu spalten. Mit wachsendem Vergnügen spürte er, wie der Schweiß aus den Poren trat. Die Muskeln wurden weich und elastisch, er fühlte ein angenehmes Prickeln auf der Haut. Die Kälte nahm er nur in Gestalt der weißen Dampfwolken wahr, die aus seinem Munde aufstiegen. Ahnert fühlte sich wohl, denn ein angenehmer Sonnabend stand in Aussicht und ein Fußballspiel zwischen Trebendorf und dem Erzrivalen Beatendorf, das die Trebendorfer wohl endlich mal gewinnen sollten. Dann sah er Romund an seinem Zaun stehen. Der Mann keuchte, als wäre er schnell und angestrengt gelaufen, er fuchtelte mit den Armen und rief etwas, was Ahnert nicht verstehen konnte. Er lief mit lockeren Knien, wie er es von den Trainingsstunden seines Sportvereins gewohnt war, zum Tor und ließ den Ziegendecker ein. Er war gespannt und etwas 10
mißtrauisch, sein Beruf brachte es mit sich, daß die Leute nicht ohne Anlaß eilig zu ihm kamen. Und Karl Romund war doch schon etwas zu bejahrt, als daß er morgens individuelle „Lauf-dich-gesund“-Übungen von der Siedlung ins Dorf hinunter absolvierte. Zudem war gerade im Winter die Wochenendsiedlung Ahnerts Sorgenkind. Wenn etwas geschah, dann war es meist ein Einbruch in die leerstehenden Sommerhäuser. „Verpusten Sie sich erst einmal, Herr Romund“, sagte er, als der Ziegendecker atemlos sofort losplatzen wollte. Romunds Gesicht war von der Aufregung gerötet. Er schnappte nach Luft, und seine Hände fuhrwerkten mit hastigen, unkontrollierten Bewegungen vor dem Gesicht herum. „Kommen Sie herein.“ Im gemütlichen Wohnzimmer schob ihm Ahnert einen Sessel hin. „Und nun erzählen Sie.“ Romund nickte. Sein Atem hatte sich beruhigt, und gleichzeitig war die Fahrigkeit gewichen. Ahnert, der Polizist, saß in Griffweite vor ihm. Romund konnte die Verantwortung, die ihn drückte, an ihn loswerden, und das gab ihm einen Teil seiner Sicherheit zurück. Alles hatte wieder seine Richtigkeit. „Es geht um meinen Nachbarn, um den Wilhelm Gillermann“, sagte er. „An die zehn Jahre kennen wir uns. Seit fünf Jahren sind wir die einzigen ständigen Nachbarn.“ „Und was ist mit diesem Gillermann?“ Der Wachtmeister versuchte sich den Mann vorzustellen, aber es blieb nur ein ungenaues Bild. Er hatte nie mit ihm zu tun gehabt. „Mit den Jahren, wenn man so allein beieinander lebt, entwickelt sich eine Art Instinkt, müssen Sie wissen. 11
Man kennt einander kaum und nimmt sich doch auf besondere Weise wahr, richtet sich nach den Gewohnheiten des anderen …“ „Und …?“ „Mit Gillermann muß etwas geschehen sein!“ Ahnert stand auf und ging zu einem Schrank, dem er einen Schreibblock und einen Kugelschreiber entnahm. Dann kam er zurück und setzte sich an den Tisch. „Was ist mit Gillermann?“ fragte der Wachtmeister noch einmal. „Er hat sehr feste Gewohnheiten, steht früh auf und geht zeitig ins Bett. Jeden Morgen verläßt er Punkt zehn vor acht das Haus, um einkaufen zu gehen. Nie ist er nach neun zurück.“ Ahnert sah auf die Uhr. Es war einige Minuten über neun. „Gestern kam ich erst gegen Mitternacht nach Hause. Der Gesangverein, wissen Sie …“ Der Wachtmeister wußte. „Und was haben Sie nun beobachtet?“ „Licht. Alle Lampen brannten. Im Haus, vor dem Haus, den Weg herunter. Alle, die Gillermann hat.“ „Und das ist ungewöhnlich?“ „Ja, es ist ungewöhnlich. Vielleicht hat er mal seine Gewohnheiten durchbrochen, das ist ja möglich. Er hat nämlich einen Freund, der ein Grundstück in Birkhalde besitzt. Vielleicht ist der bei ihm gewesen: Aber …“ „Aber?“ „Die Lampen brennen noch immer.“ „Alle?“ „Alle!“ sagte Romund mit Nachdruck. „Gillermann hat weder heute morgen seinen Ofen geheizt noch die Enten aus dem Stall gelassen, was er sonst zuerst tut. Er ist auch 12
nicht einkaufen gegangen. Seine Gartenpforte ist versperrt, er reagiert nicht auf die Klingel. Er ist ein alter Mann und nicht mehr gesund. Es muß ihm was passiert sein.“ „Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ „Das ist so eine Frage“, sagte Romund. Er dachte nach. „Als ich gestern abend hinunter bin ins Dorf, kramte jemand im Schuppen herum. Das wird er gewesen sein. In der Veranda brannte die Lampe. Abends, das heißt um Mitternacht, brannte alles.“ Der Wachtmeister machte eifrig Notizen. Dann sah er Romund an. „Ich werde mir das ansehen, aber Sie müssen mich begleiten. Ich brauche einen Zeugen. Ich darf nicht so ohne weiteres in ein fremdes Haus eindringen.“ Romund nickte. Er dachte an Maximilian, der noch immer ohne Frühstück war. „Ich will nur vorher noch zur Frau Trotzig. Wissen Sie, mein Maximilian …“ „Natürlich, Ihr Ziegenbock“, unterbrach ihn Ahnert lächelnd. „Ich ziehe mich derweile um.“ Romund verließ das Haus des ABV. Es würgte in seinem Halse. Das Eisbein, dachte er. Hätte ich doch nur nicht das Eisbein gestern abend gegessen! 3 Ahnert saß auf der Veranda des Gillermannschen Hauses. Faszinierend, dachte er. Hier sitzen sie, und Trebendorf liegt zu ihren Füßen. Wir müssen zu ihnen aufsehen, wenn wir den Böhlerberg angucken wollen. Die beiden Kriminalisten kamen aus dem Wohnzimmer und platzierten sich rechts und links vom Abschnittsbevollmächtigten. 13
„Schreib auf, Peter“, sagte Hauptmann Fester. Er runzelte die Stirn. „Kein Hinweis dafür, daß der Bewohner des Grundstücks Trebendorf, Birkhalder Straße zehn, sein Haus unfreiwillig verlassen hat. Das Haus besitzt vier Räume, und zwar eine Veranda, ein großes Zimmer, eine Schlafkammer und eine Küche. Der Boden ist unbewohnbar und dient als Abstellkammer. Auf dem Grundstück gibt es außerdem einen Holzschuppen, an den ein Entenstall angebaut ist. In dem Stall waren dreizehn Enten. Punkt, Absatz. In der Veranda befand sich ein Aschenbecher, darin vier Zigarettenstummel der Sorte ‚Pall Mall‘; der einzige Anhaltspunkt dafür, daß der Besitzer Wilhelm Gillermann Besuch hatte. Er selbst raucht nach Aussage des Nachbarn Karl Romund, Trebendorf, Birkhalder Straße einundsiebzig, ausschließlich Tabak in der Pfeife. Das Wohnzimmer hat zwei Fenster zur Ostseite. Von dem gehen auch die Türen zur Schlafkammer und Küche ab. Es ist möbliert mit einem Tisch, vier Stühlen, zwei Korbsesseln, einer Rosenholzkommode, einem Kleiderschrank und einem selbstgezimmerten Bücherregal, welches eine ganze Wand, die Nordwand, bis zur Decke einnimmt. Darin befinden sich, grob geschätzt, tausend Bände, vorwiegend aus den Jahren neunzehnhundertzehn bis -vierzig; kaum DDRLiteratur. Schränke und Laden sind nicht aufgeräumt, es fehlt aber jeder Hinweis darauf, daß sie durchwühlt wurden. In einer Lade der Kommode fanden wir Papiere des als vermißt Gemeldeten, Personalausweis, Schwerbeschädigtenausweis, Rentenversicherungsausweis und eine Kennkarte für ein Girokonto bei der Bank für Handwerk und Gewerbe. Küche und Schlafkammer waren in bemerkenswerter Unordnung, jedoch wahrscheinlich auch ohne fremde Einwirkung. 14
Es muß angenommen werden, daß Wilhelm Gillermann, die vermißte Person, sein Haus und Grundstück freiwillig verlassen hat. Einzige verdächtige Umstände sind eine unverschlossene Tür zur Veranda und nicht gelöschte elektrische Lampen. Merkwürdig dabei, daß alle Lampen sowohl inner- wie außerhalb des Hauses brannten. Punkt, Punkt, Punkt!“ Der Hauptmann fuhr sich nervös durch sein kurzes graues Kraushaar. Er war groß, massig und hatte unverhältnismäßig kleine, tiefliegende Augen, die den ABV mißmutig anschauten. „Ein bißchen voreilig, die Anzeige, nicht wahr, Genosse Wachtmeister?“ Ahnert zuckte hilflos die Achseln. „Er ist nirgends“, antwortete er. „Der Werkbus verkehrt an Feiertagen nicht, und mit dem Zug ist er nicht gefahren. Ich habe alle Leute befragt, die Freitagabend oder Sonnabend mit dem Zug gefahren sind. Wir haben außerdem die Gegend um den Böhlerberg abgesucht, weil wir einen Unglücksfall befürchteten. Ohne Erfolg.“ „Lenken Sie nicht ab“, sagte der Hauptmann schroff. „Es gibt andere Verkehrsmittel als Autobus und Eisenbahn …“ „Zum Beispiel Flugzeug.“ Leutnant Haug feixte und fing einen vorwurfsvollen Blick von seinem Vorgesetzten ein. „Es gibt private Kraftfahrzeuge. Zum Beispiel!“ Fester angelte eine Zigarette aus seiner Manteltasche und entzündete sie. Nachdenklich starrte er auf die Flamme, dann schnipste er das Streichholz in den Ascher. „Ja. Es ist schon so: Ein Wäschemann, der eine Woche nicht auftaucht, ist nicht verschwunden. Aber ein Rentner …“ Er dachte daran, daß sich zum vorigen Fest eine ältere Frau in der Werra ertränkt hatte. 15
Dieses Fest ist schön und gefährlich, dachte er. Wenn sich jemand im Kreis das Leben nahm, geschah das meist in der Weihnachtszeit. Vor zwei Jahren war es ein junges Mädchen gewesen. Sie hatte Leuchtgas geschluckt, während ihr Geliebter zu Hause bei seiner Frau Bescherung machte. „Es war richtig, doch ich glaube, daß nichts dahintersteckt. Der Mann ist keine zwei Tage fort. Wahrscheinlich kam ihm just zu Heiligabend sein Dilemma zum Bewußtsein, und er hat sich in die Gesellschaft geflüchtet. Der Mensch ist von Natur ein geselliges Wesen. Freiwillige Einsamkeit ist unnatürlich.“ Fester rieb seine Nase und starrte wieder auf die Zigarettenstummel im Aschenbecher, um dessen Rand sich eine Reklameschrift für Bommerlunder Liköre zog. Der mochte irgendwo mal in einer Kneipe auf dem Tisch gestanden haben. Die Bommerlunder Reklame und Pall-Mall-Reste störten in dieser Umgebung, doch die Zigaretten gab es in der Kreisstadt in jedem besseren Restaurant. Wer mochte den Mann besucht haben, den sein Nachbar als menschenscheu und eigenbrötlerisch beschrieben hatte? Wie kam dieser Romund zu seiner eigensinnigen Behauptung, Gillermann habe nicht freiwillig seine Enten im Stich gelassen? „Also gehen wir noch mal rüber“, seufzte er. „Und das am Heiligen Abend.“ Hauptmann Fester und Leutnant Haug klommen vorsichtig die steilen Serpentinen hinab, die zur Straße führten. Auf dieser Seite waren die Häuser in den Hang gebaut und nur mit mehr oder weniger halsbrecherischen Klettertouren zu erreichen. Der Blick über das ganze Tal machte die Grundstücke teuer. Der Serpentinenweg war 16
abgestuft und die Stufen durch alte Eisenbahnschwellen befestigt. Dazwischen wuchs es, wie die Natur es zugelassen hatte; die höchsten Fichten unten am Zaun hatten bereits das Niveau des Hauses erreicht. Gillermann besaß nicht den Ehrgeiz, es in der Gartenarchitektur mit seinen Nachbarn aufzunehmen. Romund wohnte gegenüber, es waren nur ein paar Schritte schräg über die Straße. Der Ziegendecker empfing sie mit grauem Gesicht. Er tapste unsicher vor den Kriminalisten einher, wies wortlos auf die Stühle. Er selbst setzte sich nicht, sondern lief ruhelos durch die Stube. „Sind Sie krank?“ fragte Fester. Romund nickte und schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte krampfhaft. „Ich bin krank. Ausgerechnet zu Weihnachten“, sagte er resigniert. „Wir möchten Sie nicht mehr als unbedingt notwendig in Anspruch nehmen. Aber Sie haben die Anzeige gemacht, und Sie bestehen darauf, daß mit Ihrem Nachbarn irgend etwas geschehen sein muß. Bitte erzählen Sie mir ganz kurz den Ablauf der letzten drei Tage, soweit es mit Ihrem Nachbarn zusammenhängt.“ „Ja“, sagte Romund. Er riß das Fenster auf und atmete schwer. Eisiger Zug wehte durchs Zimmer. „Entschuldigen Sie, ich bekomme keine Luft.“ Er wirkte hilflos wie ein Kind, trippelte immer wieder auf und ab. Dann preßte er die rechte Hand aufs Herz. Der linke Arm hing wie leblos an seinem dürren Körper herab. „Freitag nacht hat es begonnen“, erklärte er. „Wir hatten eine Feier im Gesangverein. Es wurde spät, ich habe danach schlecht geschlafen, und gestern nachmittag dann: Schwindelgefühl, kalter Schweiß … Als wenn das 17
Herz aussetzt. Mit Kognak ging es immer wieder ein Stück.“ Er deutete auf eine leere Taschenflasche, die auf seiner Anrichte stand. „Vielleicht sollten Sie es mal mit Beruhigungstabletten versuchen?“ riet Leutnant Haug. „Ja, natürlich …“ Romund grinste schwach und zuckte die Achseln. „Gillermann“, fuhr er fort, „sah ich vorgestern früh, als er wie jeden Tag einkaufen ging. Später bin ich ins Dorf und kam erst gegen drei zurück. Da ist mir nichts aufgefallen. Dann bin ich wieder runter, als es dämmerte. In Gillermanns Veranda war Licht; und im Schuppen auch. Jemand rumorte da, wahrscheinlich Gillermann. Um Mitternacht waren alle Lampen im Hause an und die zum Schuppen und den Weg herunter. Bis gestern vormittag, bis ich den Ahnert alarmiert habe. Gillermann war spurlos verschwunden. Ahnert hat mit ein paar Leuten die gesamte Umgebung abgesucht. Das halbe Dorf ist befragt worden. Nichts. Und seine Enten hockten eingesperrt im Stall.“ „Sie legen besonderen Wert auf die Enten?“ fragte Haug. Romund wandte das Gesicht zu ihm. „Er und ich, wir sind beide allein. Mein Ziegenbock und seine Enten, das sind unsere Gefährten, verstehen Sie, unsere Familie.“ „Ja, ich verstehe“, sagte Haug. „Hatte Gillermann oft Gäste?“ fragte Fester. „Kaum. Ein Freund kommt manchmal von Birkhalde herüber, wenn er zum Wochenende in seinem Garten ist. Er heißt Falkenbüttel und wohnt in der Kreisstadt. Sie haben jahrelang auf dem gleichen Fahrzeug gesessen, ein Entstörungsfahrzeug der Wasserversorgung.“ „Hatte er Verwandte oder andere Freunde?“ „Lange Zeit lebte er mit seiner Frau zusammen. Die ist aber vor Jahren gestorben. Seitdem hat er sich völlig 18
zurückgezogen. Von der Nichte dieser Frau und ihrem Mann, von seinem eigenen Neffen. Andere Verwandte kenne ich nicht. Auch keine anderen Besucher.“ „Neffe und Nichte wohnen …?“ „… in der Kreisstadt, aber ich habe keine Adresse.“ „Ich danke Ihnen“, sagte Fester. Er stand auf und fuhr mit der Hand in die Tasche. „Nehmen Sie diese Pillen, zwei davon, danach können Sie wenigstens ruhig schlafen. Vielleicht sollten Sie doch einen Arzt konsultieren.“ Er zog ein Röhrchen aus der Tasche und gab es Romund. „Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter“, riet er. Sie traten auf die Straße und gingen zum Wagen. Dort stand Ahnert und erwartete sie. „Steigen Sie ein“, sagte der Hauptmann. Er setzte sich nach vorn, und der Wartburg legte sich unter der Last seines Gewichtes merklich auf die Seite. Haug kletterte mit dem Abschnittsbevollmächtigten nach hinten. Der Wagen röchelte und wollte nicht anspringen. „Kalt geworden“, knurrte der Hauptmann. Er fuhrwerkte an dem Starter herum, als wollte er den Wagen mit Gewalt in Bewegung setzen. Endlich klappte es, und Fester schnaufte zufrieden. „Kümmern Sie sich weiter um die Sache“, sagte er über seine linke Schulter hinweg. „Ja“, antwortete Ahnert gehorsam. Irgendeine Scheu trennte ihn von diesem Hauptmann, der ihn so barsch angefahren hatte. Haug bemerkte es und grinste. „Nehmen Sie seine Zurechtweisung von vorhin nicht allzu ernst. Er meckert mehr mit sich selbst, weil er noch keinen Entschluß gefaßt hat.“ Vorn klang ein Brummen, und der Wartburg machte einen wütenden Satz nach vorn. 19
Es war vier Uhr nachmittags und schon völlig dunkel geworden. In den Häusern der Trebendorfer Hauptstraße leuchteten Weihnachtsbäume. Vor Ahnerts Haustür stoppte Fester. „Rufen Sie morgen im Kreisamt an, falls sich etwas Neues ergibt.“ Er zögerte. „Rufen Sie auf jeden Fall bei den Genossen vom Dienst an. Und sehen Sie zu, daß Sie jemand finden, der sich um die Enten kümmert.“ Er hüstelte verlegen. „Ansonsten, frohes Fest, Genosse Ahnert.“ „Wie beurteilst du diesen Gillermann?“ fragte Hauptmann Fester Haug, der jetzt neben ihm saß. „Ich kenne ihn ja gar nicht.“ „Aber du hast sein Haus gesehen.“ Er wartete keine Antwort ab und sprach gleich weiter. „Gillermann ist Sechsundsechzig Jahre alt. Seine Rente beträgt zweihundertfünfunddreißig Mark. Ein Außenseiter, der alte Abenteuerromane und faschistische Literatur liest. Unser Staat scheint für ihn nicht zu existieren. Ist es da ein Wunder, wenn er sich von der Gesellschaft absondert?“ „Was wird er früher gemacht haben?“ „Wir werden es herausfinden.“ „Also glaubst du doch, daß an der Sache etwas nicht stimmt?“ Fester sah stur nach vorn. Er hatte die Zähne zusammengebissen, daß sein Kinn hart und kantig vorsprang. Das war sein Autogesicht. „Ich glaube an gar nichts. Unser Beruf ist kein Gottesdienst. Nach Lage der Dinge gibt es zwei Möglichkeiten. Ein echtes Kidnapping durch den Mann, der die PallMall-Zigaretten bei ihm geraucht hat, oder der ganz normale Ausflug eines Mannes, der es satt hat, Weihnachten allein in der Bude zu hocken.“ 20
„Du denkst an den Freund?“ „Der Freund, der Neffe, die Nichte, was weiß ich, vielleicht jemand anderes, den Romund nicht kennt. Apropos Romund; da hast du das Pendant. Der hockt nun allein da, kein Baum, kein Geschenk, keine Seele, die um ihn ist. Das sind die Nerven, die nicht mehr mitgemacht haben. Andre schlucken Gas.“ Er atmete tief. „Es steckt überall etwas dahinter. Unsere Ordnung ist in sich gefestigt, und trotzdem gibt es Realitäten, um die wir nicht herumkommen: Alter, Krankheit, Einsamkeit zum Beispiel. Gerade deshalb sollten wir uns ihnen besonders aufmerksam widmen und nicht die Augen davor verschließen.“ „Ist das jetzt deine Christmesse, oder was meinst du damit?“ „Ich meine, daß wir uns oft am Ziel wähnen, während wir noch unterwegs sind. Aber lassen wir das. In einer halben Stunde ist Bescherung … Ich habe Christian ein mechanisches Fußballspiel gekauft. Was machst du heute abend?“ „Auch Bescherung. Ich habe mir Schier gekauft, die schenk’ ich mir und warte auf eine Goldmarie, die Schnee aus den Betten schüttelt.“ „In Ordnung, dann kommst du zu uns. Ich habe noch achtjährigen Stachelbeerwein. Renate freut sich ganz bestimmt, weil sie Angst vor diesem Tag hat. Heiligabend ist ihre Mutter gestorben. Wir könnten Skat spielen.“ 4 Haug stammte aus dem Westsächsischen, aus der Gegend der Chemieindustrie und der stillgelegten Steinkohlenflöze. Es war die Landschaft, in der die Leute 21
ihre Stubenfenster zuzumachen pflegten, wenn sie frische Luft haben wollten, und die Wäsche auf der Trockenwiese verschmutzte. Kleine Städte von der Art, in der er jetzt lebte, hatte er seit je als Butzemannhaus-Atmosphäre empfunden, vor ihrem Hintergrund konnte man Märchenfilme drehen, aber nicht leben, glaubte er. Die Stadt maß zwei Kilometer mal einen und war von Bergen umgeben wie die Suppe vom Schüsselrand. Aber diese Suppe drohte schon überzuschwappen. Die Neubauten krochen die Berge hinauf, rieben sich an ihrem rötlichen Sandstein und jagten die Wälder fort. Doch Haug, der Leutnant der Abteilung K im VPKreisamt, hatte gelernt, hier zu leben. Die Sehnsucht nach Städten, wie er sie kannte, wurde jeden Tag mehr verschüttet. Es war, als würfe jeder seiner Freunde drei Hände Sand in ihr Grab, und Haug hatte viele Freunde gefunden. Fester war einer dieser Freunde. Der Hauptmann wirkte groß und gewaltig wie der Holländermichel, aber sein Gemüt war so rein, wie es der Beruf zuließ. Er bewahrte seine Unbefangenheit, die ihm Objektivität verschaffte, aber er besaß auch jenes Maß an Voreingenommenheit, welches Erfolge möglich macht. Hauptmann Fester leitete die Abteilung K im Kreisamt, und er galt als der beste Kriminalist im Bezirk. Er hatte sich Haug zu seinem Nachfolger erzogen, saß gewissermaßen bereits auf den Koffern, um in die Bezirksstadt zu gehen. Haug lag auf dem Rücken und starrte gegen die Decke des Festerschen Wohnzimmers. Er hörte Renate Fester draußen rumoren und befahl sich zum wiederholten Mal, aus dem Bett zu springen, Kniebeugen vor dem geöffneten Fenster zu machen, möglichst kalt zu baden und dann 22
topfit zu sein. Er befahl sich das bereits seit einer halben Stunde. Wenn er den Kopf ein wenig hob, blickte er auf den kahlen Regulator an der Wand, von dem der Hauptmann das Gehäuse abmontiert hatte und der jetzt sein patiniertes Innenleben zur Schau trug. In wenigen Minuten würde er schnaufend und rasselnd zum Achtuhrschlag ausholen. Haug ließ den Kopf wieder fallen. Bis acht, dachte er, endgültig bis acht, dann stehe ich auf. Dieser alte Stachelbeerwein hatte es in sich, nur merkte man das zu spät. Und in das Schädelbrummen mischte sich unüberhörbar die Mahnung des Gewissens; immerhin befand sich Peter Haug, dreiunddreißigjähriger Leutnant der K, in der Wohnung seines unmittelbaren Vorgesetzten, und bei aller Freundschaft hatte er sich gefälligst ebenso zeitig aus den Federn zu scheren wie der. Fester polterte durch die Wohnung, daß sich die alten Dielen bogen. Sein Baß dröhnte durch das Rauschen des Wasserhahns im Badezimmer und Renate Festers Küchenklappern. Dann kamen Schritte zur Tür, sie wurde geöffnet. Haug lag da, gefesselt vom Stachelbeerwein, und seine Augen hingen am Deckenstuck und einem vergessenen Spinnengewebe daran. „Das ist ein Bademantel. Zieh ihn dir an. In zwanzig Minuten gibt es Frühstück.“ Die Tür schloß sich, und der Hauptmann entfernte sich geräuschvoll. Haug dachte, daß er der einzige Mensch in dieser Stadt war, der sich am Heiligen Abend einen Rausch angetrunken hatte. Fester vertrug seinen Karambolsaft, und Renate hatte nur etwas an diesem Getränk genippt. Nur er hatte sich festge … 23
Er stieg in den riesigen Mantel und stapfte hinaus. Er hielt den Kopf unter eiskaltes Wasser, und ihm wurde besser. Dann wusch er sich, und plötzlich fühlte er sich ganz wohl. Fester saß im Wohnzimmer am Telefon. Er klopfte mit dem Faserstift auf seinen privaten Telefonkatalog, und sein Gesicht hatte Dackelfalten. „Es gefällt mir nicht“, sagte er. Haug nickte. „Mir auch nicht“, gab er schuldbewußt zu. „Aber dein Kobolzwasser hat mich umgeworfen.“ „Ha?“ „Ich weiß, daß ich mich an die Gewohnheiten meines Gastgebers halten muß“, sagte er. Fester schüttelte den Kopf. „Du spinnst!“ sagte er unwillig. Dann brüllte er ein unwirsches „Hallo!“ in die Telefonmuschel. „Es gefällt mir nicht, was wir gestern nachmittag gemacht haben!“ artikulierte er mit Nachdruck. „Wir haben nicht genug unternommen!“ Er starrte auf den zerkauten Faserstift, schmiß den Hörer auf die Gabel, warf den Stift in eine Federschale und angelte seine Tabakspfeife hervor. Mit einem Schnaufer legte er sie zurück. „Nicht vor dem Frühstück. Ich will schließlich neunzig werden“, sagte er. „Was haben wir gestern nachmittag versäumt? Was meinst du denn?“ „Wir haben unsere Bescherung im Kopfe gehabt. Wir haben an einen Tag gedacht, der Heiligabend heißt, und wir wollten zeitig genug zu Hause sein. Ist dieser Romund ganz Trebendorf? Ist er denn der einzige, der uns über diesen Gillermann etwas sagen könnte?“ „Das macht doch der Genosse Ahnert.“ Fester zupfte nervös an seinem guten Anzug herum. 24
„Jetzt beginnen wir, Weihnachten zu feiern, und die Glocken werden läuten, und alles wird in Ordnung sein bei denen, wo sonst auch alles in Ordnung ist. Für die sind wir nicht da. Für die ist die Bezirkszeitung da. Wäre alles in Ordnung, würden wir überflüssig. Dann könnte ich zur See fahren und du dich ganz und gar auf die faule Haut legen oder Gedichte schreiben. Es ist jemand weg, Mensch!“ „Ist er weg?“ „Er ist auf jeden Fall nicht mehr da. Die Glocken bimmeln nicht für uns, verstehst du? Der Weihnachtsmann vor der Tür kommt nicht zu uns. Voriges Jahr haben ein paar Burschen Wernicke in die Werra geschmissen, weißt du das noch? Alle feierten Fastnacht, wir nicht. Wir saßen die Nacht durch und wollten wissen, wer Wernicke ins Wasser geschmissen hatte. Magst du Wernicke? Ich nicht. Doch er ist ein Kollege von uns, und er ist ein Mensch, der im Februar in der kalten Werra zwar nicht ertrinken konnte, aber doch wohl eine beiderseitige Lungenentzündung davongetragen hat. Man wollte die Jungs wegen versuchten Mordes anklagen, das weißt du, doch wir haben gesagt: ‚Die wollten Wernicke nicht umbringen, die wollten ihn baden, weil er sie geärgert hat, das wollten sie.‘ Dafür haben wir unsere Fastnacht hingegeben. Weil zwischen ihnen und Wernicke nicht alles in Ordnung war. Jetzt haben wir diesen Gillermann. Er ist präzis vor Heiligabend verschwunden. Vielleicht stimmt das gar nicht, aber der Eindruck muß entstehen. Und da haben wir versagt; wir haben Heiligabend gefeiert!“ Sein ethisches Moment, dachte Haug. Vielleicht war er kein Kriminalist, vielleicht war er ein Fanatiker, der Unrecht, wo es auch nur zu ahnen war, bekämpfte. 25
„Das ethische Moment unseres Berufes“, hatte er einmal gesagt, „beginnt dort, wo etwas geschieht, das nur die Vermutung strafbarer Handlungen oder eines Unfalls zuläßt. Wir haben wach zu sein und aufmerksam.“ „Ich weiß schon: dein ethisches Moment“, sagte Haug. Der Hauptmann achtete nicht auf den Einwurf des Leutnants. „Komm frühstücken“, knurrte er. „Fang an nachzudenken, was wir gestern in Trebendorf alles ausgelassen haben.“ Sie kauten lustlos aufgebackene Brötchen, und Renate Fester betrachtete sie mit lächelndem Verständnis. Dabei war es gar nicht der Stachelbeerwein. „Ich habe Christian heute morgen im Bett gelassen. Er plant übrigens ein groß angelegtes Tischfußballturnier mit euch.“ „Du wirst allein mit ihm spielen müssen.“ Fester sah auf seine Armbanduhr. „In zwanzig Minuten sind wir im Amt.“ „Das habe ich mir gedacht“, murmelte Haug. In seinen Schläfen klopfte der Puls. Fröhliche Weihnachten, dachte er. 5 Die Meldekartei ist doch eine recht gute Erfindung, dachte Hauptmann Fester, als er das alte Haus in der Schlundgasse betrat. Die vier Leute, die ihnen Romund als einzige bezeichnet hatte, mit denen Gillermann nähere Kontakte unterhielt, wohnten in der Kreisstadt. In dieser Bude also wohnte der Freund und Kollege des Alten. Falkenbüttel, dachte Fester weiter, klar, daß dieser Name einmalig ist. Falkenbüttel, das klingt nach Morgenstern und Panzerhemd. 26
Hans Falkenbüttels Wohnung lag im Seitenflügel, einem schmalen dreistöckigen Gebäude, in dem sich eine halsbrecherische Wendeltreppe nach oben schraubte. Die Stufen waren abgetreten und so eng, daß der Hauptmann Mühe hatte aufzutreten. Es war eine von den Bruchbuden, für die man nur noch symbolisch Miete zu entrichten hatte, weil ihnen auch der kleinste Komfort fehlte. Fester hörte durch die Tür Geschirrklappern, also war dieser Falkenbüttel daheim. Als er jedoch klopfte, verstummte das Klappern, und es wurde hinter der Tür totenstill. Der Hauptmann pochte ein zweites Mal und wartete. Schließlich schlurfte jemand heran. „Wer ist da?“ fragte eine Stimme. „Machen Sie doch bitte auf. Ich heiße Fester und komme um eine Auskunft.“ Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein unrasierter Mann spähte mißtrauisch heraus. „Was für eine Auskunft? Wer sind Sie?“ „Sind Sie Herr Falkenbüttel?“ „Ja“, sagte der Mann. „Es geht um Ihren Freund, um Wilhelm Gillermann. Ist er bei Ihnen? Oder war er bei Ihnen?“ Die Tür flog mit einem Krach zu. Darauf rasselte die Kette, und Falkenbüttel öffnete die Tür ganz und gar. Er war nicht nur unrasiert, sondern auch nicht angezogen. Seine dünne Gestalt steckte in einem zerschlissenen Morgenrock, unter dem ein grasgrüner Pyjama-Anzug hervorschaute. Falkenbüttel war grauhaarig und hatte kleine, mißtrauische Augen, die den riesigen Gast abtaxierten. „Sind Sie von der Polizei?“ „Ich bin von der Polizei.“ 27
Falkenbüttel nickte. „Was ist mit Wilhelm? Er ist nicht hier. Er war noch nie bei mir.“ Er machte eine einladende Handbewegung und schlurfte voran. Seine Schultern fielen ab, die Haltung des Mannes war nachlässig, und er latschte in viel zu großen Pantoffeln durch die Küche, von der man direkt in das einzige Zimmer kam. Falkenbüttel bot dem Hauptmann einen Stuhl an und setzte sich selbst. Fröstelnd kreuzte er die Arme über der Brust. „Wieso suchen Sie Wilhelm Gillermann?“ „Wissen Sie, wo er ist?“ Das Mann sah Fester nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Solange Sie mir nicht sagen, was Sie von ihm wollen, weiß ich gar nichts. Erst mal.“ „Was heißt das: erst mal?“ „Genau was ich gesagt habe. Hat er Grund, nicht von Ihnen gefunden zu werden?“ Das ist ja ein Kunde, dachte Fester. Sagt mir frech ins Gesicht, daß er gar nicht daran denkt, mir eine Auskunft zu geben, falls diese negativ gegen seinen Freund ausfallen könnte. Aber immerhin ein Freund! „Er hat keinen Grund, nicht gefunden zu werden. Soviel ich weiß. Er wird in Trebendorf vermißt. Waren Sie in den letzten zwei Tagen in Trebendorf?“ „Ich bin krank“, antwortete Falkenbüttel. „Seit einer Woche liege ich im Bett. Grippe. Meine Nachbarin kann es übrigens bestätigen, falls Sie Wert darauf legen. Donnerstag war ich beim Arzt. Von acht bis halb zehn. Wer vermißt Wilhelm?“ „Ein Nachbar aus seiner Straße. Er wurde Freitag zum letzten Mal gesehen und seither nicht wieder.“ „Ach, so ist das!“ Falkenbüttel ließ seinen Blick über die Wände gleiten. Es sah aus, als dachte er nach. 28
„Das ist seltsam“, sagte er dann. „Wo könnte er sein?“ „Wenn Sie mich fragen, er könnte nirgends sein. Nur in seinem Haus in Trebendorf. Oder in der Nähe davon.“ „Und warum ist er nicht dort?“ Unwillkürlich folgte der Hauptmann den Blicken Falkenbüttels durch das kahle Zimmer, in dem es nur ein ungemachtes Bett, einen Tisch mit ein paar Stühlen und einen alten Kleiderschrank gab. Keinen Schmuck an den Wänden, eine kahle Glühbirne an der Decke und eine Stehlampe neben dem Bett. „Ich habe keinen Weihnachtsbaum“, sagte Falkenbüttel. „So was paßt nicht in diese Zelle. Nichts paßt hier weiter rein. Siebenundzwanzig Jahre wohne ich hier drin, und seit langem läuft mein Antrag auf eine neue Wohnung.“ Er stierte Fester an, als wollte er ihn fressen. „Nach der Arbeit sitze ich im ‚Adler‘, und Sonnabend und Sonntag bin ich draußen in Birkhalde. Aber deswegen kommt keiner mal um eine Auskunft. Gillermann ist krank“, fuhr er fort, „der schwadroniert nicht irgendwo in der Gegend rum. Das Herz! Er ist mit einundsechzig vom Bock runter, weil sein Herz nicht mehr mitgemacht hat. Wenn er nicht zu Hause ist, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Er ist im Krankenhaus oder …“ „Oder …?“ „Oder Sie kommen zu spät. Das können Sie auch dieser Bande erzählen, die ihn im Stich gelassen hat.“ „Seine Verwandten also.“ „Seine Verwandten!“ sagte Falkenbüttel verächtlich. „Kroppzeug!“ „Warum schimpfen Sie auf sie? Was haben sie Ihnen getan?“ 29
„Mir?“ fragte Falkenbüttel zurück. „Blissner ist Abgeordneter. Sprechstunde jeden letzten Mittwoch im Monat. Ein fortschrittlicher Mann. Ein Saukerl!“ Es war anscheinend das stärkste Schimpfwort, das Falkenbüttel zur Verfügung stand, denn er wurde plötzlich ruhig und schaute den Hauptmann an. „Wilhelm Gillermann hat es sich nie einfach gemacht, und das haben sie ihm übelgenommen. Er hat die ganze Bande rausgeworfen, als er merkte, was los war. – Was haben Sie getan bis jetzt?“ „Wir waren bei ihm in seinem Haus, und der ABV hat mit ein paar Leuten den Böhlerberg abgesucht. Das ist vorerst alles, was wir tun konnten. Wir hofften, ihn bei Ihnen zu finden. Oder bei seinen Verwandten.“ „Nicht bei seinen Verwandten, niemals.“ „Ich stolpere nur über Ihre Widersprüche. Sie erzählen mir, daß er seine Verwandten hinausgeworfen hat, und im gleichen Atemzug erfahre ich von Ihnen, daß sie ihn im Stich gelassen haben. Das sind zwei verschiedene Dinge.“ „So schaut es aus, ja. Als er damals zurückkam, siebenundvierzig, hatte er nichts mehr. Nur dieses Grundstück am Böhlerberg. Er hatte es sich gekauft, als der alte Renzig, der Freiherr, den ganzen Südhang parzellierte. Wilhelm lernte seine Frau kennen und begann das Haus dort aufzubauen. Er arbeitete bei der Wasserversorgung, und wir saßen auf demselben Wagen. Ich war noch jung damals, Ende Zwanzig. Sie wissen ja noch, wie es gewesen ist, wir sind ja die gleiche Generation. Ich bin gleich am Anfang eingerückt. Mit zwanzig Jahren nach Polen, dann nach Rußland und gleich weiter in die Gefangenschaft. Ich kannte dasselbe wie er: Strapazen, Hunger, Schinderei. Aber auch Granaten, Angst. 30
Wilhelm hat es anders gemacht. Als die Nazis kamen, ging er. Vielleicht hat er sich nie geändert. Es gibt keinen Ort auf der Welt, den er mit seinen Feinden teilt.“ Falkenbüttel schwieg eine Weile. Dann stand er auf und ging zum Fenster. Sprach gegen die Scheibe, als führte er Selbstgespräche. „Ich weiß mehr von Wilhelm als jeder andere, und deshalb kenne ich den Grund des Zerwürfnisses mit diesen sogenannten Verwandten. Blissner ist ein Heuchler. Er ist dumm, borniert und nur auf seine Karriere bedacht. Er war noch keine zehn Tage mit der Inge, das ist die Nichte von Gillermanns Frau, verheiratet, als er bereits auf das Grundstück spekulierte. Und wissen Sie, weshalb ausgerechnet in der Birkhalder Straße? Weil diese Straße einen gewissen Symbolcharakter für die Prominenz unserer Stadt bekommen hat. Gillermann warf die Inge samt ihrem Mann hinaus, als er ihnen auf die Schliche kam. Und nun versuchen sie es hintenrum. Durch Erbschaft. Sie hoffen, daß er bald in die ewigen Jagdgründe einzieht.“ „Das scheint mir etwas zu harter Tobak“, sagte Fester. „Ist es nicht. Ist noch milde ausgedrückt, denn sie haben ihn noch weiter bombardiert mit ihrer sogenannten Fürsorge. Nach Roseneck wollten sie ihn bringen.“ „In die Bezirksstadt?“ „Ja, möglichst weit weg. In das größte und schönste Altersheim dieser Gegend.“ Sie ergänzen sich vortrefflich, dachte Fester. Gillermann leidet an Verfolgungswahn, und sein Freund bestärkt ihn womöglich noch dabei. Es sieht so aus, als briete ihn Falkenbüttel auf kleiner Flamme. Er erinnerte sich an die Bücher bei Gillermann, an die Nazischwarten. 31
„Wieso ging Gillermann, als die Nazis kamen? Das haben Sie vorhin begonnen und nicht weitergeführt.“ „Ach so, ja. Wilhelm emigrierte dreiunddreißig. Nach Dänemark. Als wir dann das Land besetzten, kam er in letzter Minute noch auf einem amerikanischen Tanker unter. Später hat er bei einer Ölgesellschaft gebohrt, in Nordafrika und Venezuela. Ganz zuletzt besaß er einen Laden in Sidney, den er auflöste, um nach Hause fahren zu können.“ „Woher stammen die Bücher?“ „Bitte?“ „Ich habe seine Bibliothek gesehen.“ „Ach, die Schwarten? Die sind von seiner Frau. Früher wollte sie eine Leihbücherei aufmachen, aber ihr Mann ist gefallen. Wilhelm schmökert viel. Er hat auch …“ Falkenbüttel unterbrach sich. „Was hat er?“ „… sich noch welche dazugekauft“, sagte Falkenbüttel schnell. Es klang unecht und war sicher eine Ausrede. Aber das interessierte den Hauptmann im Augenblick nicht. Dieses Gespräch war unersprießlich und nicht sehr aufschlußreich. Der Mann hier, der so voller Ressentiments steckte, war nicht in der Lage, ein objektives Bild über Gillermanns Verhältnis zu seiner Umwelt zu geben. Bestenfalls konnte ihn Falkenbüttels Bericht über Gillermanns Leben etwas weiterbringen. Etwas! Auf der Straße krümelte der erste Schnee dieses Winters herab. Der Frost hatte etwas nachgelassen. So ist das, dachte der Hauptmann. Zuerst weiß man gar nichts über einen Menschen. Dann erzählt der eine, der andere ergänzt es, die Berichte des dritten und vierten kommen hinzu; allmählich schält sich ein Schicksal heraus, und alles sieht anders aus. Ganz anders. 32
In einem Café am Markt trank er Kaffee und wartete auf Haug. Plötzlich bekam er Appetit auf einen Wodka. Es war so, als müßte er einen schlechten Geschmack im Mund fortspülen. Es ist kein Punkt, wo man den Hebel ansetzen könnte, dachte er. Ein offenes Haus und brennende Lampen. Zwei Männer, die bestätigten, daß der Vermißte sich nirgendwo anders als in seiner Wohnung aufhalten könnte. Dänemark, Nordafrika, Südamerika und Australien. Falkenbüttel hatte mit seiner lapidaren Aufzählung der Lebensstationen Gillermanns etwas in Fester aufgerissen, das jetzt bloßlag und ihn nicht in Ruhe ließ. War es möglich, daß solch ein Weltenbummler absolut keine alten Verbindungen mehr besaß? Es hatte keinen Zweck, er mußte Haugs Bericht abwarten. Das Bild war einfach noch zu unvollständig. 6 Es waren farblose Leute in den Dreißigern, diese Blissners. Sie wohnten in der Hauptstraße, die immer noch den Namen des letzten Großherzogs trug, in einem Haus, in dem früher Beamte und Rentiers gewohnt hatten. Im Flur gab es noch guten Marmor, und messingne Halter kündeten davon, daß die Treppenstufen früher mit Teppichen belegt waren. Es gab immer noch zwei Aufgänge, ehemals „für Herrschaften“ und „für Dienstboten“ bestimmt. Inge Blissner war an der Tür und sah den Leutnant erstaunt an. „Heute?“ fragte sie befremdet. Haug versuchte sein freundlichstes Lächeln, aber es nutzte nicht viel am ersten Weihnachtstage, kurz nach dem Gänsebraten. 33
„Wenn es unbedingt sein muß!“ sagte sie dann. Alles an ihr war Widerstand. Sie ging voran und führte ihn ins Wohnzimmer. Er spürte den Duft ihres glänzenden rötlichblonden Haares und sah ihre nachlässige Kleidung. Sie waren nicht auf so frühen Besuch eingerichtet. Im Zimmer saß Kurt Blissner. Er war etwa vierzig und hatte ein aufgeschwemmtes Gesicht. Der Fernseher, lief, Blissner hatte eine Flasche Bier neben sich stehen. Er blickte hoch, leicht neugierig, aber ohne die übliche Verwunderung, wenn man am frühen Nachmittag Besuch von der Polizei erhält. „Sie sind von der Kriminalpolizei?“ fragte er und deutete auf den freien Sessel neben sich. Dann erhob er sich und schaltete das Fernsehgerät aus. „Um wen geht es?“ Haug nahm Platz, dankte und sah auf die Frau, die hilflos mitten im Zimmer stand, weil jetzt der Leutnant den Platz eingenommen hatte, der ihr zustand. „Entschuldigen Sie“, sagte Haug und erhob sich wieder. „Ich kann ja einen Stuhl nehmen.“ Sie protestierte nicht, sondern setzte sich in ihren Sessel, starrte auf die tote Mattscheibe. „Es geht um Ihren Onkel, Wilhelm Gillermann“, sagte der Leutnant. Die Frau fuhr herum, die Verdrossenheit war völlig aus ihrem Gesicht verschwunden. „Was ist mit ihm?“ „Sei mal ruhig!“ sagte Kurt Blissner. Er sah Haug an. „Es gibt gewisse Differenzen zwischen den beiden. Sie sind zwar so alt, daß keiner mehr weiß, woraus sie entstanden sind, aber beide halten sie krampfhaft lebendig. Doch was ist tatsächlich mit ihm?“ 34
„Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen? In Trebendorf oder woanders. War er in den letzten Tagen bei Ihnen?“ „Das sind sehr viel Fragen auf einmal“, sagte Blissner. „Im Sommer war ich mal draußen. Aber es war ein unerquicklicher Besuch. Ich war mit dem Wagen in Trebendorf, und ich glaube, es hat keine Stunde gedauert, da war ich wieder zu Hause. – Es ist ihm doch nichts geschehen?“ „Solchen passiert nie was!“ stieß Inge Blissner hervor. Sie schien ihren Onkel tatsächlich zu hassen. Haug wandte sich ihr zu. „Wie meinen Sie das?“ „Meine Frau ist zu befangen in dieser Sache“, sagte Blissner rasch. „Sie steckt voller unverdauter Emotionen und wird sofort unsachlich!“ „Ist das wahr?“ fragte Haug. „Natürlich nicht“, antwortete sie. „Mein Mann weiß das ganz genau. Gillermann hat meine Tante umgebracht.“ Kurt Blissner wurde unruhig. „Du sollst vorsichtig sein mit solchen Reden, das habe ich dir schon tausendmal gesagt!“ Dann fragte er den Leutnant: „Aber das wollen Sie sicher nicht wissen. Worum also geht es?“ „Ja“, sagte Haug. „Ihr Onkel ist nicht in Trebendorf, und jemand hat eine Anzeige deswegen gemacht. Ich muß dieser Anzeige nachgehen. – Auf welche Weise sollte Ihrer Meinung nach Wilhelm Gillermann Ihre Tante umgebracht haben?“ fragte er dann Inge Blissner. „Sie hatte es schwer bei ihm. Er hat sie drangsaliert, solange die beiden zusammen lebten.“ „Sie starb vor ein paar Jahren an Magenkrebs“, warf ihr Mann ein. „Ganz egal, ob er sie drangsaliert hat oder nicht, sie war organisch krank und ist daran gestorben.“ 35
„Aber er hat ihren Tod beschleunigt!“ Aufschluchzend preßte sie ihren Kopf in die Sessellehne. Der Leutnant schaute sie an. Die Peinlichkeit der Szene stieß ihn ab, und Blissner merkte das. „Wilhelm Gillermann ist einer der seltsamsten Menschen, die ich kenne. Er traut niemand, und am wenigsten vertraut er dem Staat. Als ich Abgeordneter im Kreistag wurde, hat er uns hinausgeworfen. Es stimmt, die Tante meiner Frau litt darunter, denn wir durften zu ihr nicht mehr kommen und sie zu uns nur noch heimlich. Daher auch ihr Haß.“ Blissner deutete mit einer flüchtigen Bewegung auf seine Frau. „Aber wo könnte er sein?“ fragte er verwundert. Jetzt kam ihm zum Bewußtsein, weshalb der Leutnant bei ihm war. „Wenn er bei seinem Freund sein sollte, ist das auch ein Novum. Er rührt sich höchst ungern aus seinem Haus.“ „Welche Gründe könnte er haben?“ „Sehen Sie, ich weiß es nicht. Mir fällt ein, daß ich fast gar nichts von ihm weiß. Seine Schroffheit hat unser Verhältnis unerträglich belastet. Wer hat die Anzeige aufgegeben?“ „Ein Nachbar“, sagte Haug, „ein Mann, der ihm gegenüber lebt. Der glaubt, daß es für Gillermanns Verschwinden keine Erklärung gibt. Also glaubt er das gleiche wie Sie.“ Er sah Blissner an. „Es macht mir wirklich keinen Spaß, die Leute Weihnachten zu belästigen. Mir wäre es lieber, er hätte eine einsame Witwe gefunden, bei der er untergekrochen ist. Aber leider gibt es diese Witwe nicht in Trebendorf oder Birkhalde. Glauben Sie an solch eine Witwe?“ „Es paßt nicht zu ihm. Er braucht schon lange keine Frau mehr. Und einen Menschen zur Gesellschaft? Ich kann es mir nicht vorstellen.“ 36
„Vielleicht seinen Neffen?“ „Klaus? Das wäre eine Sensation. Der ist noch verschrobener als sein Onkel. Die beiden sind absolute Feinde und zudem ohne jedes Interesse füreinander. Nein, ich glaube nicht!“ Die einzigen Normalen in dieser Familie scheinen die Blissners zu sein, dachte Haug verärgert. Die waren so verdammt normal und verkrochen sich in ihrem Schneckenhaus, wenn man nur vorsichtig nachfühlte. Er war überzeugt, daß er nichts mehr erfahren würde, deshalb verabschiedete er sich sehr kurz. Inge Blissner kam ins Zimmer zurück und sah ihren Mann an. „Was hältst du davon?“ „Nichts“, sagte er, „aber ich bitte dich, in Zukunft deine Nerven besser im Zaum zu halten. Ich mag solche Szenen nicht, schon gar nicht vor den Augen der Polizei.“ „Polizei“, sagte sie höhnisch. „Warum? Weil es Polizei ist? Die Nachbarn kümmern dich doch auch nicht, wenn du hier herumbrüllst.“ „Nimm dich zusammen“, sagte er ruhig. „Das will ich.“ Blissner ging zum Fenster und schaute hinaus. Er sah, wie der Leutnant aus dem Haus trat und nach links die Straße hinauf zum Markt ging. Also nicht zum Kreisamt. Auch nicht zu Klaus Gillermann. Vielleicht zu Falkenbüttel. „Wann haben sie ihn zuletzt gesehen?“ fragte Inge Blissner. „Freitag“, sagte er zerstreut. „Freitag“, sagte sie mit besonderer Betonung. „Und du denkst nicht, daß ihm was passiert sein kann?“ „Was soll ihm denn passiert sein?“ „Ich weiß es nicht. Freitag! Da warst du doch …“ 37
„In Erfurt, ja“, unterbrach er sie ungeduldig. Er ging zu seinem Sessel zurück und drehte das Fernsehgerät an. „Lügst du eigentlich überall. Oder belügst du nur mich?“ „Was soll das heißen?“ „Daß du gar nicht in Erfurt warst. Wo bist du gewesen, he?“ Er starrte sie an, dann lächelte er. „Wo, meinst du, bin ich wohl gewesen? Womöglich glaubst du, daß ich den Alten im Keller versteckt habe. Im übrigen ist jeder für sich selbst verantwortlich. Sie suchen ihn, sie werden ihn auch finden.“ „Wo du gewesen bist, will ich wissen? Ich habe Donnerstag den Wagen genommen. Da habe ich auf den Tacho geschaut. Und heute habe ich auf den Tacho geschaut. Wie weit ist Erfurt von hier, he? Dreißig Kilometer?“ Er sprang auf. „Spionierst du hinter mir her, ja? Kontrollierst du mich neuerdings?“ Sie hockte im Sessel, das Gesicht in der Lehne vergraben, ihre Schultern zuckten. 7 Der Hauptmann saß bereits bei seiner dritten Tasse Kaffee und beim dritten Wodka, als Haug hereinkam. Der Schnaps brannte im Magen, und Fester litt wieder unter den kleinen bohrenden Signalen einer kommenden Gastritis, die ihn mitunter überfielen. Ich hätte wenigstens etwas essen sollen, dachte er. Haug setzte sich ihm gegenüber und deutete verzückt auf die Schneeflocken. „Meine Schier“, sagte er, „ich wußte, daß ich ein braver Junge bin.“ 38
„Das freut mich, und damit wäre dieser Punkt erledigt“, antwortete Fester. „Punkt zwei heißt Gillermann.“ Während Haug über seinen Besuch bei Blissner berichtete, kreisten die Gedanken des Hauptmanns noch immer um die Biographie des Verschwundenen. Nordafrika, Südamerika, Australien. Ein Nazigegner ohne Zweifel, der jedoch von Kurt Blissner auch als Gegner des sozialistischen Staates eingeschätzt wurde. Es gibt keinen Ort auf der Welt, den Gillermann mit seinen Feinden teilt, hatte dieser Falkenbüttel gesagt. Fester war nicht geneigt, Blissners Loyalität in Zweifel zu ziehen. Der Mann war Abgeordneter seiner Partei hier im Kreis. Da änderte auch Falkenbüttels Abneigung gegen ihn nichts. „Drei Leute, und jeder sieht den Gillermann anders“, sagte er, als Haug mit seinem Bericht fertig war. „Romund sah ihn distanziert, aber nicht unbedingt negativ, Falkenbüttel schildert ihn beinahe emphatisch, während Blissner ziemlich nüchtern hervorhebt, daß Gillermann ein Außenseiter ist.“ „Wer hat denn nun recht?“ „Darauf kommt es nicht an. Vielleicht hat jeder zu einem Teil recht, vielleicht sehen ihn alle falsch. Für uns sind solche subjektiven Angaben bedeutungslos. Mir fällt nur eine Gemeinsamkeit bei allen auf. Jeder sagte, daß Gillermann nirgendwo anders als in seinem Haus in Trebendorf sein kann. Dort ist er aber nicht, und das ist ein Alarmzeichen. – Wir besuchen noch seinen Neffen, und zwar gehen wir gemeinsam.“ Es dämmerte rasch und übergangslos, und immer noch entluden sich dicke Schneeflocken über dem Tal. Der Schnee war kalt und trocken, er glitzerte nicht im Schein der Straßenlaternen. 39
Die beiden Kriminalisten hatten die Kragen hochgeschlagen und kämpften gegen den steifen Ostwind an. Sie sprachen nicht miteinander. Dann kamen sie an einem Haus vorüber, an das sich der Hauptmann erinnerte, weil es im Zusammenhang mit seinem ersten „Fall“ stand, den er als Unterleutnant zu verfolgen hatte. Ein junges Mädchen hatte Anzeige gegen Unbekannt erstattet, weil ihm im Hausflur die Handtasche entrissen worden war. Raubüberfall also, dazu unter erschwerten Bedingungen, eine dicke Sache, Das Mädchen hatte mit einer Freundin die Wallburger Kirmes besucht und war mit ihr zusammen im Taxi nach Hause gefahren. Dieser Fahrt hatte sich ein fremder Bursche angeschlossen, der auch in der Stadt wohnte und gemeinsam mit dem Mädchen ausstieg, während die Freundin noch ein paar Straßen weitergefahren war. Der Bursche hatte versucht, mit dem Mädel anzubändeln, und schließlich, als seine Werbung erfolglos war, die Tasche an sich gerissen. Eine klare Angelegenheit, und doch war der junge Fester hereingefallen. Er glaubte dem Burschen nicht, dazu war dessen Ruf zu schlecht und der des Mädchens zu gut. Aber das Mädchen, das mit seinem Verlobten zusammen lebte, war heimlich zur Kirmes gefahren, als dieser zur Nachtschicht war. Und sie hatte mit dem Burschen angebändelt, ihm Hoffnungen gemacht und schließlich die Tasche als Pfand überlassen. Später fürchtete sie sich, das Fehlen der Tasche vor ihrem Verlobten begründen zu müssen, und die Anklage wegen des Raubüberfalles löste sich in Nichts auf. Seitdem fühlte sich Fester als gebranntes Kind. Er hatte vergessen, die Freundin zu befragen, und solch ein Fehler unterlief ihm seitdem nicht mehr. 40
Klaus Gillermann wohnte bei der Witwe eines Generals, einem kleinen, spitznäsigen Frauchen, das bei dem unvermuteten Auftauchen zweier Volkspolizisten käseweiß wurde und ihren Untermieter mit erschreckter Stimme herbeirief. Niemals, beteuerte sie, hätte sie in ihrem Leben mit der Polizei zu tun gehabt. Sie wäre rechtschaffen und erwarte das gleiche von ihren Mietern, schließlich sei sie das ihren Nachbarn schuldig, die alle anständige Leute seien. Unter diesen Umständen müßte der Herr Ingenieur auf sie als Zimmervermieterin verzichten. Klaus Gillermann, von seiner aufgeregten Wirtin alarmiert, zeigte alle Anzeichen einer Panik. Er war fünfunddreißig Jahre alt, ein schlanker und sehr kurzsichtiger Mann, der die Kriminalisten mit zugekniffenen Augen musterte. Auf seinen Wangen zeigten sich hektische rote Flecken. Er hielt seine Brille in den Händen, und seine Finger spielten nervös daran herum. „Aber meine Herren, ich kann mir nicht denken …“, stieß er hervor, ohne genauer zu bestimmen, was er sich nicht denken konnte. Dann brach er ab und schaute die beiden erschrocken an. „Wir müssen uns entschuldigen. Ihre Wirtin“, Haug machte eine leichte Verbeugung in die Richtung der Frau, „ist ein bißchen zu aufgeregt. Sie hat uns gar nicht zu Worte kommen lassen. Wir wollen Sie weder verhaften noch verhören, und ich erkläre hiermit, daß es keinen Grund gibt, der Sie aus dem Rahmen Ihrer hochanständigen Nachbarschaft heraushebt. Wirklich nicht.“ Er lächelte die alte Dame an, die mit runden Augen und rundem Mund dabeistand. „Gnädige Frau, manchmal muß die Polizei auch anständige Bürger belästigen. In Ausnahmefällen sogar an Feiertagen. Haben Sie bitte dafür Verständnis.“ 41
Die Witwe des Generals schmolz unter dem Charme des Leutnants dahin. Ihre Augen leuchteten auf, als Haug sie mit gnädige Frau ansprach. Eine verschrobene, aber nette alte Dame, dachte Fester, der noch kein Wort hier geäußert hatte. Sie ist mit Sicherheit über neunzig, und die Zeit, in der der Gatte einmal General gewesen war, lag bestimmt über fünfzig Jahre zurück. Trotzdem war da noch das Türschild, das auf den Namen „General Weihe“ lautete, und er war sicher, daß in der guten Stube die Wände voll waren mit den militärischen Erinnerungsstücken an den teuren Gemahl. Sie lebte noch in der untergegangenen Welt und verstand die neue Welt ebensowenig, wie sie die letzte und vorletzte verstanden hatte. Ihre Zeitrechnung war vor dem letzten Krieg des Kaisers stehengeblieben. Klaus Gillermann hatte seine Fassung wiedergefunden. Er sah von einem zum anderen, dann setzte er die Brille auf. „Ja, wenn ich Sie hereinbitten dürfte.“ Er führte sie in ein Zimmer, das genau den Vorstellungen entsprach, die sich Fester von der Frau Weihe gemacht hatte. Es war ein möbliertes Zimmer; wahrscheinlich ließ die Witwe nicht zu, daß der junge Mann auch nur ein fremdes Möbelstück in ihre Wohnung brachte. Gillermann schien die Gedanken des Hauptmanns zu erraten. Er lächelte. „Ist doch schon wieder ganz modern, nicht wahr?“ fragte er. „Meine Wohnung wird leider erst im Frühjahr bezugsfertig. Bis dahin …“ Er deutete auf das Zimmer. „Die Schlacht von Sedan über dem Kanapee, Spitzendeckchen und Plüsch. Nehmen Sie doch Platz.“ „Wir kommen wegen Ihres Onkels“, sagte Fester. Gillermann erschrak. „Ist ihm etwas zugestoßen?“ 42
Schweigend hörte er sich die Kriminalisten an. „Nein, ich weiß auch nicht, wo er sein könnte. Es ist wahr, daß er fast niemals sein Dorf verließ.“ „Kennen Sie Freunde Ihres Onkels, die Herrn Falkenbüttel oder den Blissners unbekannt sein könnten?“ „Nein, wenn jemand meinen Onkel gut kennt, ist es Herr Falkenbüttel. Ich glaube, er ist sein Freund, und was Sie sagten, traf den Kern der Sache. Mein Onkel zieht sich bewußt aus der Welt zurück, nur Hans Falkenbüttel ließ er gelten, seit Tante Marie“, er lächelte, „seine Frau, gestorben ist. Ich akzeptiere das, mein Beruf läßt es auch gar nicht zu, daß ich mich so sehr um ihn kümmere. Ich leite eine Abteilung im Kombinat für Rechenelektronik.“ „Er bleibt trotzdem Ihr Onkel, und Sie sind sein einziger Verwandter, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Der junge Mann wurde nervös, vermied es, seine beiden Besucher anzusehen. Er zwinkerte und zupfte an den Kordeln der Tischdecke. „Das ist wahr. Er ist der Bruder meines Vaters“, erläuterte er. „Tante Marie und mein Onkel waren nicht verheiratet, ihre Nichte und er verstanden sich nie gut. Solange er mit Tante Marie zusammen lebte, brauchte er mich nicht, später wollte er mich nicht. Jetzt …“, Klaus Gillermann machte eine Pause, „bleibt jeder Annäherungsversuch von vornherein vergeblich. Er gibt sich boshaft und zynisch, obwohl er es nicht ist. Ich komme nicht klar mit ihm. Wenn ich von ihm weggehe, habe ich jedesmal das Gefühl, bis auf die Knochen blamiert zu sein. Das ist schwer, glauben Sie mir.“ Hauptmann Fester nickte nachdenklich. Er ahnte mehr, als er wußte, daß mehr hinter Wilhelm Gillermann und seinem Leben steckte, als es die vier Leute, die ihn zu kennen glaubten, ermessen konnten. Deshalb hatte 43
sein Verschwinden größeres Gewicht, als sie angenommen hatten. „Es war was dran, eine Art Faszination, mit der ich noch nichts anfangen kann“, sagte Fester auf der Straße zu Haug. „Zwischen seiner Rückkehr aus dem Ausland und dem Tag, als er vermißt wurde, liegen fünfundzwanzig Jahre. Eine lange Zeitspanne, aber irgendwo führt eine Brücke vom Damals zum Heute. Die müssen wir finden und hinübergehen.“ „Wenn ich dich richtig verstehe, bedeutet das, daß wir in einem Haufen Altpapier wühlen werden. Kaderakten, Meldekarteien und so weiter?“ „Vor allem bei ihm selbst. In seinem Haus. Da muß etwas von ihm zurückgeblieben sein. Kein Mensch verschwindet spurlos.“
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II. KAPITEL 1 Der Stall, in dem der Ziegendecker Karl Romund seinen Maximilian untergebracht hatte, lag auf dem Anwesen der Witwe Trotzig, einer couragierten Frau, die ihre ganze Energie darauf verwandte, den dreiundfünfzigjährigen Junggesellen in ihrer Falle zu fangen. Ein Gedanke, der Karl Romund stets aufs neue bestürzte und zur äußersten Wachsamkeit trieb. Zu den Ködern gehörte unter anderm das allmorgendliche zweite Frühstück, nachdem Romund die Bedürfnisse Maximilians befriedigt hatte. An diesem sechsundzwanzigsten Dezember fiel das Frühstück recht spät aus. Der Ziegendecker hockte einsilbig vor Lachsschinken und Eiern und kämpfte gegen die Schwächeanfälle an, die sich in den letzten drei Tagen verstärkt hatten. Etwas drückte am Hals, als zöge jemand die Schlinge zu. Romund zerrte den Kragen seines Pullovers auseinander, aber das Drücken und Würgen blieb, und mitunter vermeinte er, daß eine Last ihm alle Luft aus der Lunge preßte. Dann schnappte er nach Luft, zog sie in sich hinein, bis ihm schwindelte. Jeder Bissen der liebevoll belegten Stullen quoll in Romunds Mund, der kaute und schluckte und kaute. Die Bissen bekam er nicht hinunter. „Sie sind heute wieder mal geschwätzig wie ein Sittich“, sagte sie spitz. „Sie werden sich noch einmal den Mund fußlig reden.“ Karl Romund antwortete nicht. „Wenigstens antworten können Sie, wenn man mit Ihnen redet!“ 45
„Worauf soll ich antworten? Sie haben mich ja nichts gefragt.“ Die Witwe Trotzig schüttelte empört den Kopf, drehte sich um und verschwand aus der Küche. „Aber Ihren stinkenden Ziegenbock, den darf ich füttern“, brummt sie wütend beim Hinausgehen. Sie wird ihn sicherlich doch noch mal vergiften, dachte Romund. Der Alptraum damals kam nicht von ungefähr. Träume lügen nicht! Sie lügen nicht, dachte er weiter. Romund, der sich sein Leben lang vor allen Beschwerlichkeiten erfolgreich gedrückt hatte, sah sein Schicksal auf sich zurollen. Maximilian und die Witwe Trotzig, eine andere Wahl hatte er nicht. Die Küchenwände stürzten auf ihn ein, oder besser, sie rückten auf ihn zu, der Raum bekam seltsam weiche, bewegliche Konturen. Er ächzte und wischte sich mit einer langsamen Bewegung den Schweiß von der Stirn. Das Herz setzte aus und mit zögernden unregelmäßigen Schlägen wieder ein. Der Ziegendecker stützte sich schwerfällig auf den Küchentisch, und das war in dem Moment, als die Trotzig wieder in die Küche trat. „Um Gottes willen, Herr Romund!“ „Wasser!“ keuchte er. Er tappte unsicher zur Wasserleitung, trank hastig. „Geht schon wieder vorbei. Ist heiß hier“, murmelte er. Dann sagte er: „Ich muß laufen, und ich muß einen Kognak trinken!“ Sie wollte ihn ins „Paradies“ begleiten, aber das hätte ihm gerade noch gefehlt, wo sich sowieso schon das halbe Dorf über sein Bratkartoffelverhältnis lustig machte. Und es war sicher, daß jetzt im „Paradies“ der halbe Gesangverein beim Frühschoppen saß. 46
Er ging langsam über den Hof, unsicher, umzingelt von den besorgten Blicken der Witwe Trotzig. Für Minuten fühlte er sich besser, dann zog der unsichtbare Feind erneut an der Schlinge, das Herz puckerte nun in rasender Eile. Einen Kognak, dachte er und ging unversehens schneller durch die kleine, holprige Straße, über die Dorfaue. Vor der Tür zur Gaststube mußte er verschnaufen. Er war erschöpft wie nach einem allzu langen Fußmarsch, dabei hatte er nur zwei- oder dreihundert Meter zurückgelegt. 2 Die Autostraße nach Trebendorf zog sich in einem weiten Bogen um den Berg und durchquerte drei Dörfer, die mehr oder weniger von der Trebendorf er Relaisfabrik lebten. Das hatte den Vorteil, daß die Straße nach dem starken Schneefall der letzten Nacht schnell geräumt worden war und Hauptmann Festers alter Wartburg ohne größere Mühe vorankam. Der Hauptmann war einsilbig, trug nicht sein „Autogesicht“ zur Schau, und das sagte Haug, daß er mit seinen Gedanken weit voraus war, schon am Ziel, in dem kleinen Haus am Böhlerberg. Die Maschinerie der Ermittlungsarbeit war angelaufen, aber das Ergebnis dürr. Gillermann hatte keinen Meldebogen ausgefüllt, das heißt, er wohnte in keinem Hotel. Auch die Krankenhäuser im Kreis meldeten keinen Eingang, der Gillermann hieß. Für den Leutnant war es kriminalistische Arithmetik, die nun begann, nüchterne Verknüpfung bekannter Fak47
toren, die zwangsläufig zu einem Resultat führen mußte, das, so oder so, endgültig sein würde. Sie wußten, daß Gillermann sein Haus verlassen hatte und sich nicht bei seinen Freunden und Verwandten, soweit sie sie kannten, aufhielt. Sie würden ihn finden, weil ein Mensch sich nicht in Luft auflösen konnte. Dieser Tag war einer der heiteren, sonnigen, an denen im Schnee goldene Kristalle glitzerten und schwarze, majestätische Tannen feierliche Ruhe ausstrahlten. „Ich gäb was dafür, meine Schier zu probieren“, sagte Haug. Fester lächelte. „Jetzt liegt der Schnee bis Ostern, das solltest du nachgerade wissen. Außerdem ist es der erste Tag mit Schnee. Aber er ist wirklich schön. Leider.“ Dieses „Leider“ hing eine gute Weile zwischen ihnen, war eine sanfte Zurechtweisung und noch ein bißchen mehr. Es war Verständnis, und es war wie ein freundschaftliches Schulterklopfen, das eine Brücke baute zwischen der Frage, die sich Haug schon oft gestellt hatte, und der Antwort auf diese Frage: Wie kann einer ein intimer Freund sein und zugleich ein unerbittlicher Vorgesetzter? Haug dachte nicht: Genosse Hauptmann! Und dachte nicht: Florian! Er dachte: Flori! Das war der allerletzte Grad der Vertrautheit, die Florian Fester nicht vielen Leuten zubilligte, ja eigentlich nur drei Menschen, die Haug kannte. Die drei waren Elisabeth Fester, die Mutter des Hauptmanns, seine Frau Renate und Peter Haug. „Weißt du eigentlich, daß der Glatzkopf wie ein Schneckenhaus aussieht? Der Wald schraubt sich da förmlich hinauf, es ist seltsam.“ Fester drehte sich um und sah Haug an. „Die Welt ist voller schöner Dinge. Ich weiß, du willst Schi fahren, es ist Weihnachten, und die Sonne scheint. Aber du bist nun mal Polizist und bearbeitest einen Fall. Du hast dir einen 48
abenteuerlichen Beruf ausgesucht, aber der ist keineswegs abenteuerlich. Er ist lediglich unbequem. Wer einmal dabei ist, sieht das Abenteuer nicht mehr, da ist alles kühl und glatt und weiß wie eine kahle Wand. Aber wir brauchen halt keinen Zierat.“ „Ich beklage mich nicht.“ „Gib’s ruhig zu, ich beklage mich ja manchmal genauso.“ „In Ordnung“, sagte Haug. Sie rollten durch Seewiese, Trebendorfs letzte Exklave. Die Straße wurde holprig. Sie hielten bei Ahnert. „Es gibt drei, die Gillermann am Freitag gesehen und gesprochen haben. Das sind Romund, die Konsumverkäuferin, bei der er gekauft hat, und Horst Unterlauf“, sagte der Abschnittsbevollmächtigte . „Wer ist der Unterlauf?“ „Der Mann, der jedes Jahr im Dezember die Stromrechnung kassiert.“ „Hat er was beobachtet?“ „Ja, Unterlauf beobachtet stets etwas, und das ist sein Dilemma. Er ist nämlich behindert, hat einen Sprachfehler, und er versucht dieses körperliche Gebrechen auszugleichen, indem er sich auf jede mögliche Weise interessant macht. Wollen Sie einen nagelneuen Rolls Royce kaufen? Baujahr zweiundsiebzig?“ „Wie bitte?“ fragte Fester. „Unterlauf verspricht Ihnen, einen solchen Wagen zu besorgen. Oder meinetwegen einen Panzer. Alles, was Sie wollen.“ „Ich verstehe.“ „Ja, es ist grotesk. Er hat etwas läuten gehört, daß Gillermann am Freitag Besuch gehabt haben soll, und schwört nun Stein und Bein, der Alte hätte einen aufgeregten, angstvollen Eindruck gemacht. Zwar sah er niemanden, als 49
er bei Gillermann den Strom ablas, aber hinter der angelehnten Stubentür hätte sich jemand drohend geräuspert, als ihm Gillermann etwas Wichtiges zuflüstern wollte. Unterlauf lügt Ihnen die Hucke voll, wenn er dadurch eventuell interessant erscheinen kann.“ „Wann war er dort oben?“ „Am frühen Vormittag. Gillermann muß gerade vom Einkaufsgang zurückgekehrt sein. Übrigens: Mit der Elli Mauser hat er noch einmal seinen Kaninchenbraten besprochen und dabei keinen Zweifel gelassen, daß er nicht daran dachte, übers Fest seine Burg zu verlassen.“ „Und Unterlauf ist auf jeden Fall unzuverlässig?“ „Unterlauf ist zu bedauern. Ein intelligenter Kerl, doch sein Sprachfehler behindert ihn überall. Es war ein Unfall, und einer der seltsamsten dazu. Der Mann kaute an einem Trinkhalm, rutschte aus, fiel und stieß sich den Halm in den Rachen. Aus war es mit seinem Selbstgefühl, das er nun auf andere Weise bestätigen will. Ja, so ist das. Man darf ihm nichts glauben.“ „Wir nehmen ihn uns trotzdem noch einmal vor“, entschied Fester. „Es ist unsere Angelegenheit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Kein Mensch lügt nur, und kein Mensch spricht ausschließlich die Wahrheit. Wenn wir Glück haben, gelingt es uns, über ihn den Besucher einzugrenzen. Schließlich muß den ja jemand gesehen haben. Sobald wir wissen, wann dieser Gast Wilhelm Gillermann besucht hat, sind wir schon viel weiter.“ Trebendorf bestand in der Hauptsache aus einer Straße. Seine Lage im Heidelbergtal bestimmte die Ausdehnung. Seewiese im Süden und die Siedlung hatten nur rudimentäre Bedeutung, so daß der Weg von Wachtmeister Ahnert zu der Verkäuferin im Konsum und zu Horst 50
Unterlauf jeweils nur wenige Schritte betrug. Auf dem Rückweg konnten sie verblüfft ein völlig neues Bild konstatieren. „Ich hätte ihn gerne als meinen Opa“, hatte Elli Mauser erklärt. „Gillermann ist klug, hilfsbereit und wahrscheinlich grundgütig.“ Die kleine schwarze Ladenmaus sah nicht aus wie eine Schwärmerin. Sie war etwa zwanzig Jahre alt und wirkte besonnen und verantwortungsbewußt. Man durfte ihr glauben, um so mehr, weil sie Plattheiten vermied, kurze, klare Antworten gab und nur dort, wo sie aufgefordert wurde, weiter ausholte. Über Unterlauf hatte Ahnert die richtige Einschätzung gegeben. Er wußte nichts, gab jedoch vor, alles zu wissen. Schließlich stellte sich sogar heraus, daß er von Gillermanns Gast keine Spur, auch nicht das drohende Räuspern, wahrgenommen hatte. Das alles war mühsam gewesen, eine Strapaze für die Kriminalisten und Unterlauf, der seine Worte nur lallen konnte und es schwer hatte, in ganzen Sätzen zu reden. Vor der Tür zum „Paradies“ stand Ahnert und wartete auf sie. „Falls Sie Romund auch noch sprechen wollen, er sitzt da drin. Aber er ist betrunken.“ Peter Haug schaute Fester an. „Deine Pillen bekommen ihm nicht so gut wie Schnaps, was?“ „Trinkt er oft?“ fragte Fester. „Nein.“ „Also gehen wir hinein“, sagte Fester seufzend. „Zwei Fragen hätte ich nämlich doch noch. Und die kann Romund auch in trunkenem Zustand beantworten.“ Das Lokal war dunkel vom Rauch. Sie standen im Thekenraum, von dem noch zwei weitere Gaststuben 51
abgingen. Es war ein trauriges Paradies, über dem an einer Wand das Motto prangte: GENIESSE JEDEN TAG, ALS WÄR’S DEIN LETZTER! Romund sah wahrhaftig so aus, als genösse er seinen letzten Tag. Fester ging schnurstracks auf ihn zu und setzte sich an seinen Tisch. „Das alte Lied?“ fragte er. „Ja, das alte Lied“, lallte Romund. „Und jetzt kratze ich ab.“ „Ich würde an Ihrer Stelle am Leben bleiben. Außerdem vertragen Sie zuwenig, um sich totzusaufen.“ „Hier ist es!“ Romund tippte sich auf die linke Brust. „Das kullert bald heraus.“ „Sie haben entdeckt, daß Sie ein Herz besitzen. Das geschieht jedem früher oder später. Sie werden sich damit abfinden müssen.“ „Glauben Sie?“ fragte Romund kläglich. Dann schien ihm bewußt zu werden, daß das ein Kriminalist war, der sich an seinen Tisch gesetzt hatte. „Haben Sie ihn gefunden?“ fragte er. „Nein. Wir suchen ihn noch.“ „Glauben Sie an die Wahrheit der Träume?“ Fester schaute ihn an, sah in das betrunkene, zerstörte Gesicht, und er entschloß sich zu nicken. Er wollte etwas von Romund wissen und konnte es sich nicht leisten, daß der Ziegendecker seine Traumtheorie mit der Zähigkeit, die der Schnaps ihm eingab, verteidigte. „Ich habe ihn im Traum gesehen. Er fiel und fiel, und dieser Bengel stand oben und grinste dämonisch.“ „Welcher Bengel?“ „Sein Neffe! Dämonisch!“ sagte Romund. „Wenn Gillermann einkaufen ging, um acht, wie war das? Ließ er erst seine Enten aus dem Stall?“ 52
Romund stierte ihn an. Dann kniff er die Augen zusammen und versuchte die Fetzen, die durch sein Gehirn torkelten, zu haschen. „Zehn vor acht“, sagte er. „Er ging zehn vor acht. Dann stand ich auf, räumte meine Sachen zusammen und ging ebenfalls. Er war meine Uhr, verstehen Sie? Meine Uhr!“ „Ich verstehe das. Aber wenn Sie ins Dorf gingen, morgens, liefen dann schon die Enten draußen herum?“ „Natürlich!“ sagte Romund. „Verstehen Sie das nicht? Man steht auf, läßt die Enten raus, heizt seinen Ofen und geht einkaufen. So was wie Reflexe, verstehen Sie? Aus dem Bett in den Stall, in den Schuppen, zum Ofen, da gibt’s nichts anderes. Und zehn vor acht kam er herunter und ging zum Konsum.“ „War es denn abends ebenso? Ich meine, wie machte Gillermann das abends?“ „Weiß nicht.“ Romund rülpste und führte den Rest des Weinbrands an den Mund. Er trank und leckte sich die Lippen. „Abends gehen doch die Viecher von alleine wieder in den Stall. Sobald es dunkel wird.“ „Das wollte ich wissen. Danke.“ Hauptmann Fester erhob sich und schaute von seinen ein Meter sechsundneunzig auf den am Tisch kauernden Romund herab, „Saufen Sie nicht sinnlos Ihre Schmerzen weg, sondern gehen Sie zum Arzt. Tun Sie das aber wirklich, es ist besser für Sie.“ Er sah Haug und Ahnert an, die ziellos vor der Eingangstür herumstanden und offensichtlich nichts mit sich anzufangen wußten. „Am besten, wir nehmen dieses Bündel Traurigkeit gleich mit.“ Ahnert sah von Fester zu Haug, dann schweifte sein Blick durch das Lokal. Ein Mann kam von der Toilette und ging an ihnen vorbei. 53
„Kannst du nicht den Karl in die Wiesenstraße bringen?“ fragte er. Der Mann schaute unwirsch auf Romund und nickte. „Es ist nämlich besser, er kommt dorthin. Zur Frau Trotzig. Sie bringt ihn schon wieder hoch.“ Fester stimmte zu, aber ihm war nicht wohl dabei. Dieser Mann war offensichtlich nicht ganz so betrunken wie Romund, doch er sah so aus, als wäre das sein Ziel. Er würde Romund bei der Frau Trotzig abliefern. Aber wann? Der Ziegendecker, der aus Verzweiflung trank, sollte schnell hier heraus. „Ist das euer einziges Lokal?“ fragte Haug. Ahnert schüttelte den Kopf. „Oben in der Siedlung gibt es noch ein kleines, hübsches Restaurant, und am Bahnhof ist ein Mitropa-Wartesaal. Doch das hier ist mitten im Ort, hier kommen alle her.“ „Sieht so aus, als ob ihr Geschmack nicht der allerbeste ist.“ Ahnert zuckte die Achseln. „Es ist unser einziger Kommunikationspunkt. Was wollen Sie? Es gibt einen Dorfklub, doch da wird nicht einmal Kaffee ausgeschenkt. Irgendwo müssen sich die Leute ja treffen.“ „Außerdem interessiert es uns nicht“, schaltete sich der Hauptmann in die Debatte ein. Er sortierte stirnrunzelnd die Informationen dieses Vormittags und kam zu dem Ergebnis, daß er nicht einmal unzufrieden zu sein brauchte. „Unterlauf bestätigt ebenso wie die Konsumverkäuferin, daß Gillermann morgens und vormittags zu Hause gewesen ist. Die Enten scheinen doch ziemlich wichtig zu sein. Sie gehen bei Einbruch der Dunkelheit allein in ihren gewohnten Stall zurück. Der war morgens, Sonnabend morgen, zugesperrt. Das kann Gillermann nur getan 54
haben, nachdem seine Enten drin waren. Er hat auch nicht vorgehabt, eine Reise oder einen längeren Ausflug zu machen, denn Sonnabend wollte ihm jemand ein Flugentenpärchen bringen, und für Sonntag hatte sich Gillermann ein Karnickel bestellt. Also der Festbraten. Die Verkäuferin scheint überhaupt sehr wichtig zu sein. Sie weiß mehr über den Alten als seine ganze Verwandtschaft zusammengenommen.“ „Was gegen seine Menschenscheu spricht“, sagte Haug. „Er hat sich gegen eine bestimmte Sorte Menschen abgegrenzt, die in ihrer Einfalt diese Abgrenzung für Eigenbrötlerei halten. Er hat dabei sogar differenziert.“ Sie waren in der Birkhalder Straße angekommen, und Fester ließ seinen Wartburg ausrollen, so daß er nicht direkt vor Gillermanns Gartentür, sondern ein paar Meter weiter, an der Grenze zum Nachbargrundstück, zu stehen kam. „Wer sind die Besitzer dieser Häuser?“ fragte Fester den Abschnittsbevollmächtigten nach einer kleinen Pause. „Das nächste gehört einem Fleischermeister aus der Kreisstadt“, sagte Ahnert. „Und dann?“ „Alexander Kosser.“ „Der Intendant des Staatstheaters?“ fragte Haug erstaunt. Ahnert nickte. „Nummer dreizehn gehört einem halbstaatlichen Fabrikanten, der Sicherheitsschlösser baut, und vierzehn dem Bürgermeister der Kreisstadt. Dann kommt ein Schmiedemeister.“ „Und so weiter“, sagte der Hauptmann. Als der Zug zurück aufs Land begann, wurden Grundstücke dieser Art kostbar. Plötzlich mußte man sie sich leisten können. Wer es also kann, versucht an so eine Datsche heranzukommen. 55
„Ist es möglich, daß der alte Gillermann Kaufangebote erhalten hat?“ „Bestimmt“, sagte Ahnert. „Alle alten Leute haben solche Angebote. Man bietet ihnen mehr, als das Grundstück eigentlich wert ist, und allmählich kommt eine solche zahlungskräftige Gruppe zusammen.“ „Falkenbüttel sagte Symbolcharakter dazu. Er beschuldigte Blissner frank und frei, daß er sich bei der Prominenz einschummeln wollte. Das erscheint mir nun plötzlich nicht mehr so ganz grundlos. Nach Falkenbüttels Aussagen wollte Blissner den Alten in ein Feierabendheim bringen. Warum nicht aus diesem Grund?“ „Ein furchtbar sozialer Typ“, grollte Haug. Florian Fester kletterte plump aus dem Wagen. Seine Bronchien schnieften leise vor Anstrengung. Er bog sein Kreuz gerade und zupfte an der Kleidung herum. „Nicht so voreilig. Ein Punkt unter vielen, den wir im Auge behalten müssen. Unter diesem Aspekt sollten wir uns das Haus einmal gründlich betrachten.“ 3 Die Verlassenheit hatte das Haus auf eine seltsame Weise verwandelt. Die Fenster sahen stumpf aus wie erblindete Augen, und ebenso stumpf kontrastierten seine schokoladenbraun gestrichenen Wände mit der dicken Schneedecke, die im Licht der tiefstehenden Sonne leicht kupfern schimmerte. Ahnert öffnete mit wenigen geschickten Handgriffen die Verandatür, dann ließ er die Kriminalisten eintreten,, ehe er selbst das Grundstück visitierte. 56
Im Haus hatte sich der Frost eingenistet. Die knapp vier Tage, in denen hier nicht mehr geheizt worden war, hatten ausgereicht, eine Eishöhle daraus zu machen. Fester ging zu dem schmalen transportablen Kachelofen und öffnete die Heizungsklappe. Der Ofen wurde fast ausschließlich mit Kiefernholz geheizt, das restlos verbrannt war. Nur ein kleiner hellgrauer Ascheberg war übriggeblieben. „Kümmer dich um den Boden und die Schlafkammer, ich übernehme den anderen Teil“, sagte der Hauptmann zu Peter Haug. „Aber jeden Zentimeter, bitte schön.“ Der Leutnant nickte kurz und verschwand nebenan. Der Ofen stand zwischen Kammer- und Küchentür, und Fester begann seine Suche folgerichtig in der Küche, einem winzigen Raum von knapp vier Quadratmetern. Trotzdem wirkte sie geräumig. Es schien, als hätte Wilhelm Gillermann beim Bau seines Häuschens ein besonderes Augenmerk auf die rationelle Ausstattung dieses Gelasses gerichtet. Neben der Tür war ein festes Regal aufgestellt, das das Geschirr enthielt. Dahinter stand ein kleiner Tisch ohne Schublade, und neben der Fensterluke hatte Gillermann einen Schrank in die Wand gebaut. Fester öffnete den Schrank. Ein paar Tüten standen darin, die Mehl, Zucker, Salz und dergleichen enthielten. Er betastete die Tüten, aber es befand sich wirklich nichts anderes darin. In verschlossenen Gläsern bewahrte der Hausherr seine Gewürze und verschiedene Teesorten auf. Ein Steinkrug enthielt stark duftende ChutneyMarmelade. Der Hauptmann nickte, Gillermann war ein Feinschmecker. Stück für Stück untersuchte er, doch es gab nichts, das nicht hierher gehörte. Die Küche sah unordentlich aus, 57
aber jeder Gegenstand gehörte hinein. In der Stube begann er bei der Kommode, auf der eine schmuddelige Decke lag und darauf einige Wäschestücke. Die Kommode besaß vier Fächer. Fester betrachtete nachdenklich die Papiere im ersten. Rentenversicherungsausweis, Personalausweis, das alte Buch für Arbeit und Sozialversicherung und die Kennkarte für das Girokonto. Er nahm die Dinge an sich und griff nach einem ausgedienten Pralinenkarton, der mit einem Gummi verschlossen war. Ahnert kam von draußen herein, blieb einen Augenblick im Türrahmen stehen, und sein großer Schatten fiel über den Hauptmann. „Die hintere Pforte ist nicht zugesperrt.“ „Aber man kann sie verschließen?“ „Es gibt eine Kette und ein Vorhängeschloß. Aber es ist eigentlich sinnlos, weil der Zaun dort durchgerostet und teilweise umgeworfen ist.“ „Wohinaus geht es dort?“ „Auf den Bergpfad nach Birkhalde.“ Fester breitete den Inhalt des Pralinenkartons auf dem Tisch aus. Ahnert schaltete die Deckenleuchte an. Es waren alte Quittungen, eine standesamtliche Bescheinigung, daß Wilhelm Gillermann am 22. April 1906 in Wohlmutshausen geboren wurde, ein Dorf, das nur wenig mehr als zehn Kilometer westlich der Stadt, aber jetzt jenseits der Grenze lag. Ferner verwahrte der Alte seinen abgelaufenen Arbeitsvertrag, Rentenbescheide und verschiedene amtliche Schriftstücke in der Schachtel auf. „Er lebte tatsächlich in seiner engen, kleinen Welt. Nicht einmal ein Radiogerät besaß er, las keine Zeitung, nur diese Bücher.“ 58
„Wissen Sie, was Sie jetzt eben gesagt haben?“ fragte der Hauptmann. Ahnert sah ihn an, dann schaute er langsam nach unten, auf den abgetretenen Teppich, und nickte. „Ja“, sagte er leise. Das Imperfekt hatten sie bisher vermieden. Nun war es da und ließ sich nicht mehr wegwischen. Nicht in Gedanken und auch in ihrer Arbeit nicht. In der Kammer trampelte Haug die Treppe herab, die zum Boden führte. „Flori!“ sagte er, und sein Gesicht war rund und erstaunt. „Wenn du glaubst, daß er bloß Schundschmöker besitzt …“ Er hielt zwei Bücher in der Hand, blätterte flüchtig darin, blies den Staub von den Umschlägen. „Eine ganze Kiste voll steht auf dem Boden. Immer die gleichen: ‚Heimatlose Sonne‘ und ‚Das Emigrantenschiff‘.“ Fester nahm ihm die Bücher ab, betrachtete sie, und Ahnert versuchte, an seiner Schulter vorbeizusehen. Es waren Bände von normalem Romanformat, in Leinen gebunden. Die Schutzumschläge waren noch unversehrt, und die Schneidekanten klebten teilweise noch zusammen. Offensichtlich hatte sie noch keiner angerührt. In einem befand sich ein Kärtchen aus starkem, lackiertem Papier mit der Aufschrift: MIT FREUNDLICHER EMPFEHLUNG HOLM & GROTHERMANN. „Der Verlag“, sagte Haug. „Eine ganze Kiste voll?“ „Und dieselben Titel. Der Autor heißt Friedrich Kampa.“ „Friedrich Kampa“, murmelte Fester. „Ich kenne solch einen Schriftsteller nicht. Was ist noch dort oben?“ 59
„Krimskrams. Ein altes Metallbett, Bretter, Spankörbe, Einweckgläser. Ein paar verstaubte Bilder, Mädchenreigen und so. Nur die eine Kiste ist von Belang.“ „Dann hol sie herunter“, sagte Fester. Und zu Ahnert: „Helfen Sie ihm dabei.“ Er fuhr mit der Durchsuchung des Zimmers fort. In den restlichen Schubladen fand er Wäschestücke, die Gillermann dort hineingestopft hatte. Ebensolche Unordnung herrschte im Kleiderschrank. Dann stand er vor der Bücherwand. Langsam begann er Band für Band des Regals durchzusehen. Die meisten Namen der Verfasser kannte er nicht. Aber plötzlich tauchten vergessene Namen aus Festers Jugendzeit auf. Thor Goote! Oder Emmerich! Schmidt-Olden und Frank L. Packard. Er nahm die Bände am Rücken, ließ die Seiten lose hängen und schüttelte sie leicht. Manchmal bewahrten die Leute Schriftstücke in Büchern auf. Er ließ es schnell wieder, es war ein hoffnungsloses Unterfangen bei rund tausend Stück. Haug und Ahnert rumpelten mit der Kiste herbei. Sie war stark verstaubt, ein antiquarisches Stück mit kunstvoll geschmiedeten Beschlägen. „Stellt sie dort hin“, sagte er und wies auf einen Fleck in der Mitte des Fußbodens. Er fuhr mit seiner Arbeit fort, seine Bewegungen waren flink, präzis und so rationell, daß seine Tätigkeit flüchtig wirkte, obwohl sie es nicht war. Zum Schluß drehte er sich zur Zimmermitte um, starrte auf die Kiste und fragte resigniert: „Weshalb hat er so viel davon?“ „Es könnten Freiexemplare sein“, sagte Haug. „Freiexemplare?“ „Freiexemplare für den Autor.“ 60
„Also für Friedrich Kampa?“ Der Leutnant nickte. Dann sagte er: „Friedrich Kampa könnte Wilhelm Gillermann sein. Denk an seine Vita: Afrika, Amerika, Australien! ‚Heimatlose Sonne!‘ und ‚Emigrantenschiff. Gillermann war heimatlos und Emigrant.“ „Natürlich“, sagte Fester. „Aber klar!“ Er begann sorgfältig die Dinge einzupacken, von denen er sich am ehesten nähere Auskünfte in Sachen Gillermann versprach. In den nächsten Tagen würden sie Kaderakten wälzen müssen, Bankauszüge, ärztliche Krankenrapporte prüfen. Zum Schluß nahm er die beiden Bücher, die Haug zuerst gebracht hatte. Er entnahm einem die Visitenkarte, auf der der Verlag Holm & Grothermann sich freundlich empfahl. Fester seufzte, ehe er sich zum Gehen anschickte. In ganz kurzer Zeit würden sie mehr von den Dingen wissen, die mit Wilhelm Gillermann in irgendeinem Zusammenhang standen, doch es schien, als würde dieses Wissen zu spät kommen. Vier Tage waren schon verstrichen, und vielleicht hatten sie zwei davon verschenkt. „Ich möchte mir gern noch diesen Weg da oben anschauen“, sagte er. Er dachte: Birkhalde, das ist Falkenbüttels Platz. Falkenbüttel war sein Freund. Ahnert ebnete mit seinen Stiefeln einen Weg durch den kniehohen Schnee. Sie gingen um den Berg herum, und rechts ging es beständig und gleichmäßig steil hinauf. Der Kern des Böhlerberges bestand aus Sandstein, war mit Fichten und kahlem Buschwerk bestanden, und manchmal ragte steil und glatt das dunkelrote Gestein neben ihnen empor. Auf der anderen Seite ging es ebenso rasant bergab. „Man spart hier eine halbe Stunde Fußweg“, sagte Ahnert. „Aber es ist ein Teufelssteig, eine Tortur.“ 61
„Wir gehen zurück!“ entschied der Hauptmann. Das ist es ja gerade, dachte er. Gillermann hatte Besuch gehabt. Das war nach Aussage aller möglichen Leute ungewöhnlich. Wie ungewöhnlich mochte es sein? So ungewöhnlich, daß sich Gillermann, ohne sein Haus abzuschließen und die Lampen zu löschen, in der Dunkelheit auf den Weg nach Birkhalde gemacht hatte? In Birkhalde hatte Falkenbüttel seinen Garten. Aber er hatte krank im Bett gelegen. „Wer sollte eigentlich Gillermann zu Weihnachten ein Flugentenpärchen schenken?“ fragte er. „Du meinst die Aussage der Verkäuferin? Gillermann ist ein Entennarr. Er hat nur einen, von dem er ein Geschenk erwarten könnte, wenn wir mal von dem Platz im Altersheim absehen, den ihm Blissners aufreden wollen – seinen Freund.“ „Gewiß, sein Freund.“ Dann schwiegen sie, unzufrieden wegen der Dinge, die sich einfach nicht zu einem einzigen Bild zusammenfinden wollten. Sie dachten beide daran, daß Gillermann hier im Dunkeln gegangen sein konnte und daß ein Fehltritt genügte, ihn irgendwo dort hinunterstürzen zu lassen. „Zwei Dutzend Männer aus dem Dorf haben dieses Gelände hier abgesucht“, wandte Ahnert, der ihre Gedanken erriet, ein. „Sie hätten ihn finden müssen, wäre er hier verunglückt.“ „Und wenn sie ihn nicht gefunden haben?“ Der Schnee deckte jetzt zu, was vor zwei Tagen noch offen vor ihnen gelegen hätte. Es gab … zig Stellen und Risse, in die einer gestürzt sein konnte. „Wir werden mit Hunden suchen“, sagte Fester. „Wir werden von der Bezirksbehörde Hunde anfordern, und 62
wenn er hier irgendwo steckt, werden wir ihn finden. Und wir werden herausbekommen, warum er da gelaufen ist, in so hektischer Eile, daß er alles andere vergessen hat.“ Mit nassen und kalten Füßen setzten sie sich in den Wartburg. Grau und schneewolkenverhangen lag der Tag über dem Dorf. Die Siedlung wirkte wie eine verlassene, tote Ortschaft. Nur ein paar Krähen saßen in den Bäumen und starrten dem Wagen nach.
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III. KAPITEL 1 Der Filialleiter der Bank für Handwerk und Gewerbe kam aus einem weißlackierten Sperrholzkäfig, in dem die Fenster in Sitzhöhe eingesetzt waren. Er sah flüchtig auf Leutnant Haugs Ausweis und ratterte los wie eine Maschinengewehrgarbe. „Zeit wird’s ja, daß sich mal einer um dieses Konto kümmert. Seit Jahr und Tag tut es der Inhaber nicht, und ebenso lange wird darauf regelmäßig eine Rente gezahlt, die er noch nie angerührt hat.“ Er schwenkte ein Kontenblatt. „Dreizehntausend Mark besitzt dieser Gillermann mit Zins und Zinseszins. Anfangs glaubten wir, er wäre inzwischen verstorben. Wir haben seine Adresse angeschrieben, aber nie eine Antwort darauf erhalten. Ein seltsamer Heiliger, dieser Rentner. Spart wohl für seine Erben? Oder ist da nicht alles dicht dran?“ „Er besitzt also nicht noch ein weiteres Konto?“ Der Filialleiter schüttelte den Kopf. „Als Sie anriefen, haben wir das sofort kontrolliert. Es ist sein einziges Konto. Was ist damit?“ „Er kann trotzdem noch ein anderes Konto besitzen. Wie viele Banken gibt es im Kreis?“ „Drei“, sagte der Filialleiter. „Außer uns noch die Sparkasse und die Industriebank.“ „Postscheck?“ „Das Amt in Erfurt. Ist am bequemsten für Privatleute. Briefkasten und Postbote genügen für den gesamten Geldverkehr.“ 64
„Aber das erfordert allerhand Schriftkram in der Wohnung, nicht wahr?“ „Ja“, sagte der Filialleiter. „Scheckheft, Überweisungsheft, Kuverts, Auszüge.“ Bei Gillermann hatten sie nichts gefunden. Nur ein kleines rotes Täschchen für die Kontenauszüge der Bank für Handwerk und Gewerbe. Eine Karte als Ausweis für den Konteninhaber. Nichts, das auf ein zweites Bankkonto wies. Aber Gillermann hatte zwei Bücher veröffentlicht. Der Leutnant hatte sie in einer Nacht durchgelesen, sie hatten ihn gepackt, und es hatte alles dringestanden, was sie bisher über Gillermanns Biographie wußten. Unter dem Pseudonym KAMPA mußte er sich verborgen haben. „Was ist denn nun mit dem Konto?“ fragte der Filialleiter. Er hatte vor Neugierde eine weiße Nase. „Was soll damit sein?“ fragte Haug zurück. „Ist banktechnisch etwas faul daran?“ Der Filialleiter schüttelte den Kopf. „Na also. Herr Gillermann spart vielleicht wirklich für seine Erben. Mit Zins, Zinseszins und noch einem drauf!“ „Gillermann muß sich nicht unter dem Pseudonym Kampa verborgen haben, er hat es getan. Gillermann ist Friedrich Kampa! Und seine Bücher sind über einhundertfünfzigtausendmal verkauft worden. Weißt du, wieviel er mit seinen Büchern verdient hat?“ „Nein“, sagte Haug gehorsam. Er wußte, daß Florian Fester es mochte, wenn man seine Meditationen lediglich passiv unterstützte. „Einhundertzehntausend Mark rein netto Kasse!“ Hunderttausend Mark, dachte der Leutnant ehrfürchtig. So viel verdiente er in zehn Jahren nicht. 65
„Er empfing dieses Geld in Form von Barschecks der Deutschen Notenbank Leipzig. In Kürze will uns der Verlag eine ungefähre Aufstellung der ausgestellten Schecks schicken. Ungefähr, denn der erste liegt zwanzig Jahre zurück. Nun rechne die Sache mal durch. Gillermann lebte in relativ sparsamen Verhältnissen. Wenn er, hochgegriffen, fünfhundert Mark im Monat verbrauchte, wieviel hat er ausgegeben?“ „Ich weiß nicht“, sagte Haug. „Einhundertzwanzigtausend Mark. Dagegen hat der Genosse Ermischin beim VEB Wasserversorgung ermittelt, daß Gillermann zwischen neunzehnhundertzweiundfünfzig und -siebenundsechzig rund einhunderttausend Mark netto verdient hat. Für wenigstens neunzigtausend Mark seines Einkommens gibt es keinen Beleg. Nicht darüber, ob er sie auf die Bank gebracht, verliehen oder sonstwie verwendet hat. Gillermann besitzt nicht einen Gegenstand in seinem Hause, den man als größere Ausgabe ansprechen könnte, und sein Haus entstand vor der fraglichen Zeit. Der Alte kaufte nach Angaben der Verkäuferin kaum einmal mehr als für fünf bis sieben Mark jeden Tag ein. Das heißt, er gab in Wirklichkeit nur maximal dreihundert Mark im Monat aus.“ „Die Rechnung hat ein Loch“, wandte der Leutnant vorsichtig ein. „Bis vor fünf Jahren war er nicht allein. Seine Frau oder Lebensgefährtin, oder wie du sie immer nennen willst, war bei ihm. Auch wenn er bescheiden lebte, kann er sporadisch größere Ausgaben gehabt haben. Er hat hier in der Stadt gewohnt. Kennst du seine Wohnung? Weißt du, wie sie eingerichtet war, wie Gillermann damals überhaupt lebte?“ „Nein“, gab Fester zu. Seine Augen glitten über die nackte geweißte Wand des Büros, blieben dann am Gesicht 66
seines Freundes hängen. Haugs Miene zeigte Verständnis und Zweifel, gab preis, was Fester selbst dachte: Wir wissen immer noch nichts, raten an Fakten herum, die nur durch exakte Ermittlungsarbeit transparent werden können. Er fühlte sich leer wie ein platter Autoreifen. Die harten Spitzen und Kanten stießen aufeinander, und es war kein Polster mehr dazwischen. Er streckte sich, bog das Kreuz gerade, bis es schmerzte und die Schulterblätter beinahe zusammenstießen. „Gillermann verschwand etwa am Abend des zweiundzwanzigsten Dezember. An diesem Tag hat er einen Besucher gehabt, und dieser Gast rauchte Pall-MallZigaretten. Der Alte hat sein Haus wahrscheinlich durch den Hinterausgang des Grundstücks verlassen, an dem ein Weg vorbeiführt, über den man zwar nach Birkhalde, nicht aber nach Trebendorf gelangt. In Birkhalde kennt er seinen Freund Falkenbüttel, doch der war nicht draußen am fraglichen Tage. Er war hier in der Stadt, und er war krank. Wenn wir wüßten, wer der Besucher gewesen ist?“ „Ich weiß, wer Westzigaretten raucht“, sagte Haug. Fester nickte. „Ich kenne ein Dutzend Leute, angefangen beim Chef.“ Er klopfte mit seiner Tabakpfeife an den Aschenbecher. „Ich mische Amphora mit einer hiesigen Sorte. Vor zehn Jahren hätte die Wahl der Tabakmarke noch eine Bedeutung gehabt, heute ist es belanglos.“ „Trotzdem, diese Zigaretten kosten sieben oder acht Mark die Packung, die sind nichts für den Normalverbraucher.“ „Also?“ „Inge Blissner raucht L und M!“ 67
Florian Fester brummte nur. Das bedeutete weder Zustimmung noch Ablehnung. Er nahm es zur Kenntnis, wie man das Wetter draußen zur Kenntnis nimmt. „Wieso wissen die Blissners nichts von der Schriftstellerei ihres Onkels? Oder Klaus Gillermann? Oder Falkenbüttel?“ Fester erinnerte sich an das Gespräch mit Falkenbüttel. „Er hat selbst …“, hatte Falkenbüttel gesagt, als von der Bibliothek die Rede war, die ein anderer Mann vor dreißig und mehr Jahren angelegt hatte, um später eine Leihbücherei zu eröffnen, und dann war er mitten im Satz umgeschwenkt: „… noch welche dazugekauft.“ Er hat selbst welche geschrieben, hätte es weitergehen können, und es war nur zu natürlich, wenn der Mann, der jeden Tag mit Gillermann auf dem Bock des Entstörungsfahrzeuges gesessen hatte, der offensichtlich bis zuletzt sein Vertrauen besaß, davon wußte. „Kann man so etwas überhaupt geheimhalten? Seine Frau, ist es möglich, daß sie gar nichts gegenüber ihrer Nichte und deren Mann fallengelassen hat? Oder daß Klaus Gillermann so ganz und gar unbefangen geblieben ist?“ „Ein Geheimnis, das zwei kennen, ist kein Geheimnis mehr, meinst du?“ „Ich meine, daß man manches verschweigen und geheimhalten kann, doch das hier …?“ Florian Fester versuchte zu rekapitulieren. Gillermann hatte früher Bücher geschrieben und sich die Honorare dafür in Form von Barschecks auszahlen lassen. Hatte er sie sich auch bar auf den Tisch blättern lassen, oder besaß er tatsächlich noch ein zweites Konto? Zwei Dinge sprachen dagegen. Dieses zweite Konto existierte auf keinen Fall in ihrem Kreise. Wenn es jedoch existierte, war es Gillermanns laufendes Konto, von dem er seine 68
Ausgaben bestritt. Dann hätten sie irgendwelche Belege im Hause finden müssen. Dann war es auch unwahrscheinlich, daß dieses Konto bei einer Bank angelegt war, die so weit aus Gillermanns unmittelbarer Reichweite war. Es lag auf der Hand, daß Gillermann diese Schecks eingelöst und das Geld in seinem Hause aufbewahrt hatte. Und weil es unwahrscheinlich war, daß der Alte gar keinen Groschen von den einhundertzehntausend Mark an dem Tag mehr hatte, an dem er auf mysteriöse Weise verschwand, verlieh es diesem Verschwinden eine andere, verhängnisvolle Bedeutung. Alles kehrte sich um. Der Besucher vom Freitagabend, die verschlungenen Wechselbeziehungen Gillermanns zu seinen Verwandten, die äußeren Lebensumstände des alten Mannes erhielten einen vorläufig rätselhaften Sinn, waren Glieder einer Kausalkette, anderen Ende sich ein Verbrechen verstecken konnte. Blissners, Klaus Gillermann, Falkenbüttel; waren sie so unbefangen, daß ihre Abneigung tatsächlich nur den Schrullen eines kranken Eigenbrötlers oder ihre Zuneigung lediglich einer jahrelangen Arbeitskameradschaft galt? Was wußten sie, und welche Pläne hatten sie mit ihrem Wissen? „In einigen Stunden werden wir wissen, in welchen Raten die Honorare an Friedrich Kampa gezahlt wurden“, sagte der Hauptmann. „Dann können wir ermitteln, wie Gillermann das Geld beziehungsweise die Schecks eingelöst hat. Geschah es bar, werden wir nachprüfen, ob er es in seinem Hause aufbewahrte. Es hat zweimal eine Geldumtauschaktion gegeben, und die Unterlagen darüber existieren noch immer. Wir können beweisen, daß Gillermann ständig eine größere Summe besaß. Und wir müssen beweisen, wie viele Leute davon wußten. Wir 69
müssen das Netz entwirren, das den Verschwundenen mit tausend Fäden an seine Umwelt band. Mein erster Gedanke am Sonntag war, daß niemand sich von seiner Gesellschaft abkapseln kann. Die Gesellschaft ist stärker. Ihre positiven und negativen Kräfte integrieren jeden, mag er sich sträuben oder nicht. Es gibt keine Insel im Ozean, auf die man flüchten kann.“ Haug klopfte ein Stakkato auf die Schreibtischplatte. „Ohne deine Philosophie gesagt: Gillermann ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen!“ Florian Fester lächelte. Jetzt wirkte er tatsächlich wie ein Philosoph, der einer verblüffenden Erkenntnis auf die Spur gekommen ist. „Hör auf zu klopfen, mein Lieber“, sagte er, „das macht mich nervös.“ Und nach einer Pause: „Meine Philosophie, wie du es nennst, ist nichts anderes als eine Waffe. Ein Röntgenschirm vielleicht auch, um nachzusehen, was hinter der Haut ist. Vernunft oder Unvernunft kleben nicht wie bei der Gold- und Pechmarie außen am Körper.“ 2 In diesem Haus hatten früher die Beamten des Hofes gewohnt. Später waren Pensionäre in die Stadt gekommen, und sie waren vordem auch Beamte gewesen. Die besseren zogen in die Villenviertel links der Werra oder auf die Hügel zwischen der Schanz und den Drachenbergen. Die anderen lösten die alten Hofleute ab, zogen in die gepflegten Mietshäuser der Georgstraße, die oben im Norden Leipziger Straße hieß. Und was bin ich? fragte sich Kurt Blissner. Die Luft in dem geräumigen Wohnzimmer war seit zwei Tagen mit 70
Spannung erfüllt, die zu knistern schien wie synthetische Textilien an der Haut. Ein verdammter Wolf, dachte er, und diese Wände hier sind Käfigwände, an denen ich mir den Pelz reibe. Ich komme vom Fenster nicht los, starre hinaus und warte. Worauf warte ich! Seine Frau kam herein. Ihr Gesicht zeigte die stete Verdrossenheit der unbefriedigten Frau. Sie kam durch die leichte Dämmerung, Porzellan klirrte leise. Sie hatte sich Kaffee gebrüht. Sie war fünfunddreißig, und sie war vielleicht einmal hübsch gewesen. Dann hatte sie Kurt Blissner geheiratet, und der ohnehin spärliche Quellbach ihres Lebens versickerte, ehe er in breiteres Gewässer fließen konnte. Sie setzte sich, und Kurt Blissner hörte, wie sie Sahne in den Kaffee tat, Zucker, in der Tasse rührte, wie sie trank und die Tasse wieder auf die Untertasse setzte. Es waren gleichförmige, bekannte Geräusche, und sie zerrten an seinen Nerven. „Warum siehst du ständig aus dem Fenster? Was gibt es da?“ „Was geht’s dich an!“ Sie lachte freudlos. Sie wußte, daß nichts sie anging, was ihren Mann betraf. Sie lebte neben ihm her und war doch allein. Inge Blissner schaltete das Fernsehgerät ein, und er wußte, daß sie jetzt auf die Mattscheibe schaute und auf das Bild wartete. Keinen Blick nahm sie von der Scheibe, und der Apparat war wie immer zu laut eingestellt am Anfang. Zuerst dröhnte der Ton durch den Raum, und das Echo kam in diesem hohen Zimmer von allen Seiten zurück. „Es kotzt mich alles an“, sagte er. Sie entschloß sich zu schweigen. Es war sinnlos, zu antworten. Er wurde grob, und der Augenblick kam 71
rasch, wo auch sie grob antwortete. Sie würden streiten, er würde brüllen. Es würde sein wie immer, hoffnungslos. Er kam vom Fenster, ging an ihr vorbei, seine Hüfte streifte ihren Ellenbogen. Sie hatte die Kaffeetasse in der Hand, und der Kaffee schwappte über den Rand. Sie sah ihm nach und wußte, daß er sich draußen den Mantel und die Schuhe anziehen würde. Sie wartete, bis die Tür klappte. Dann stand sie auf und ging zum Fenster. Sie sah hinunter und beobachtete ihn. Er ging nach links, zum Marktplatz. Er hatte keinen Hut auf und den Mantelkragen hochgeschlagen. Er ging nicht weit. Er ging bis in den „Adler“ am Marktplatz, und es würde spät werden, ehe er wiederkam. Sie drehte sich um, ging zu ihrem Sessel zurück und starrte auf das Fernsehbild. Sie dachte nach. Er hatte sie immer schlecht behandelt, aber vor fünf Tagen hatte er zu lügen begonnen. Er ist nicht in Erfurt gewesen, dachte sie. Keine vierzig Kilometer ist er gefahren. Sie fühlte, wie die Tränen kamen, und sie wollte nicht weinen. Nie mehr. Kurt Blissner betrat den „Adler“. Das Lokal war nicht gut besucht zu dieser Tageszeit, deshalb bemerkte er Falkenbüttel sofort. Falkenbüttel stand an der Theke, einen Arm auf den Schanktisch gestützt, und er drehte sich um, als Kurt Blissner hereinkam. Seine Lippen schürzten sich verächtlich. Er sagte etwas zu dem Wirt, und der lächelte. Kurt Blissner setzte sich in die äußerste Ecke des Raumes in die Dämmerung. Bemühte sich, Falkenbüttel nicht anzusehen, aber dafür war sein Platz schlecht gewählt. Es blieb nur der Blick auf die Theke und auf Falkenbüttel, der gemächlich sein Bier an den Mund führte 72
und trank. Er lächelte immer noch. Das Lächeln war ironisch und tief ins Gesicht gegraben. Was will er von mir? dachte Blissner. Es gibt ein Dutzend Lokale in der Stadt, weshalb bin ich ausgerechnet hier gelandet? Falkenbüttel stieß sich plötzlich mit dem Arm, der auf der Theke geruht hatte, ab und kam herüber, sein halbvolles Bierglas in der Hand. „Ist dieser Platz noch frei?“ fragte er spöttisch und zeigte auf den Stuhl an Blissners Tisch. „Überall sind freie Plätze!“ knurrte Blissner. „Was wollen Sie von mir?“ Falkenbüttel zog den Stuhl mit dem Bein vor und setzte sich, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen. „Sie müssen doch für jeden Bürger Zeit haben, nicht wahr?“ „Ich habe Sprechstunden.“ Der ungebetene Gast nickte. „Ich weiß“, sagte er. „Doch darum geht es nicht. Ich habe andere Sorgen.“ Er hustete trocken. Der Hustenkrampf schüttelte ihn, und sein Gesicht lief rot an. „Entschuldigen Sie“, bat er spöttisch. „Ich bin krank, wissen Sie. Die Fenster da oben schließen nicht dicht. Und ich habe keine Doppelfenster.“ „Das tut mir leid. Aber da müssen Sie sich schon kümmern.“ Falkenbüttel winkte ab. „Ja, ich bin krank“, meinte er nachdenklich. Dann wartete er, bis der Wirt herangekommen war und nach Blissners Bestellung fragte. Seine Stirn war kraus gezogen und die Brauen nach oben geschoben, daß sie wie Halbkreise um die Augen wirkten. „Schönen Dank, ich habe es mir überlegt“, sagte Blissner ärgerlich. „Ich gehe sofort wieder.“ 73
„Bring mir zwei Wernesgrüner und zwei Edel“, sagte Falkenbüttel zu dem Wirt. Der Wirt schaute ihn an. „Nicht meine Marke, was?“ sagte Falkenbüttel. Er lachte und wurde von einem neuen Hustenanfall gepackt. „Mein Bekannter hier ist eben bessere Sachen gewohnt.“ „Lassen Sie diesen Unsinn!“ befahl Blissner scharf. „Kein Unsinn, ich habe mit Ihnen zu sprechen, und Sie sind doch hergekommen, um etwas zu trinken. Oder haben Sie mich gesucht?“ „Also, das ist doch …“ Falkenbüttel winkte ab. „Spielt keine Rolle.“ Er hustete ins Taschentuch. Dann schneuzte er sich. „Am ersten Feiertag war ja einer von der Kripo bei mir. Wegen Wilhelm, wissen Sie. Bei Ihnen war der doch sicher auch.“ Eine regelrechte Falle, schoß es Blissner durch den Kopf. Ich Esel renne auch noch in dessen Stammkneipe! Er wartete, und jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Hellwach starrte er in Falkenbüttels hageres Gesicht. „Ich habe ihn belogen, oder vielmehr, ich habe ihm etwas verschwiegen. Ich glaube, ich weiß, wohin Gillermann wollte, ehe sie ihn oben in der Siedlung vermißt haben.“ „Was habe ich damit zu tun?“ „Dachte, es interessiert Sie. Waren doch immer besorgt um Wilhelm, nicht wahr? Erzählte er mir doch. Oder sind Sie nicht in Sorge um ihn?“ „Ich weiß nichts. Gehen Sie zur Polizei. Die wird ihn finden. Was sollen wir denn tun, Mensch!“ Falkenbüttel nickte. „Er ist tot“, sagte er dann. Er lauschte in den dämmrigen Schankraum, sah sich vorsichtig 74
suchend um, als hätten seine Worte Flügel und schwebten dort irgendwo unter der Decke. Darauf schoß sein Blick zu Blissner, der ihn mit einem Ausdruck des Widerwillens beobachtete. „Ja, er ist tot“, sagte er noch einmal nachdrücklich. „Vielleicht, wenn sie Hunde einsetzen, werden sie ihn finden. Es gibt jede Menge Spalten im Böhlerberg. Manche sind tief, reichen bis in den Bauch des Berges. Und Spuren? Spuren gibt’s da nicht mehr. Die sind zugeschneit.“ Der Wirt schlurfte bedächtig herbei, und Blissner nahm ihm den Kognak vom Tablett, kippte ihn gierig hinunter. „Bringen Sie noch zwei“, sagte er, „ich bezahle dann gleich alles zusammen.“ Er fuhr Falkenbüttel an: „Sie sind ein Schwätzer, mein Lieber! Ich weiß nicht, was Sie wollen. Vielleicht wollen Sie auch gar nichts von mir? Vielleicht wollen Sie nur Ihren gottverdammten Seelenkäse bei mir abladen. Ab jetzt werden Sie aber den Mund halten. Oder ich gehe noch einmal zur Polizei, um mich vor Leuten Ihres Schlages zu schützen. Was interessiert Sie an dem alten Mann? Ihre angebliche Freundschaft? Oder ist es die Sensation?“ Falkenbüttel kniff die Augen zusammen, es sah aus, als schämte er sich. „Es wird am besten so sein“, murmelte er. Er griff nach dem Schnapsglas, nippte an dem Edel, trank dann das Bier. „Am allerbesten.“ „Wilhelm wollte nämlich zu mir“, fuhr er fort. „Sonntag vor Weihnachten war er das letzte Mal bei mir. Wir verabredeten uns für den Freitag, und ich bin nicht gekommen, weil ich krank war. Ja, das habe ich dem Kriminalkommissar verschwiegen.“ 75
Der Wirt kam mit den neuen Schnapsgläsern, stellte sie ab, und sie klangen leise, als sie gegeneinanderstießen. „Stört er Sie?“ fragte er. Er tippte Falkenbüttel auf die Schulter, und der zog die Flügelstümpfe zusammen. „Laß das, ich bin empfindlich“, warnte er. „Stört er Sie?“ fragte der Wirt noch einmal. Blissner holte Münzen aus der Tasche, zählte sie ab und warf sie auf den Tisch. „Jetzt nicht mehr“, sagte er. „Ich bleibe nicht hier.“ Der Wirt nickte und schlurfte zurück. Falkenbüttel sah ihm hinterher, kicherte, sah dann auf Blissner und sagte: „Ihren Brief hat er vergessen, als er bei mir war. Hat ihm gar nicht gefallen, der Brief.“ Blissners Hände lagen auf dem Tisch. Die Finger waren ineinander verschlungen, und Blissners Kopf ging langsam in die Runde. Die Wände waren in halber Höhe mit dunkelbraunem Kräusellack gestrichen. Die Farbe darüber war ocker, aber nachgedunkelt in den Jahren. Es gab keine Bilder an den Wänden, nur eine verstaubte Rauchklappe neben dem Ofen und eine Likörreklame an der Theke. Das Lokal hatte gewaltige Fenster mit bunten Mosaikscheiben. Blissners Blick wanderte darüberhin, dann war er wieder bei Falkenbüttel angelangt. Er sah ihn böse an. „Wa soll das? Wollen Sie mich erpressen?“ fragte er ruhig. „Ich sage nur, daß er ihm nicht gefallen hat, der Brief“, verteidigte sich Falkenbüttel. „Erbschleicher hat er Sie genannt, hinterlistig und verschlagen.“ „Ich hätte nicht übel Lust, Ihnen sonstwas zu tun!“ sagte Blissner. „Aber ich tue es nicht. Sie sind mir zu schäbig!“ Er stand langsam auf und zog seinen Mantel an. Ohne daß er sich noch einmal umdrehte, ging er zur Tür, stieß sie auf und trat in den eisigen Frühabend hinaus. 76
Er ging über den Markt, als die Glocken oben vier Uhr von der Kirche schlugen. Einen Moment verstummten alle anderen Geräusche, die vier dumpfen Schläge dröhnten nach, dann folgten die helleren Stundenschläge. Er stapfte durch den Schnee, der von der Straßenbeleuchtung beschienen wurde und leicht bläulich schimmerte. Ziellos trottete er an seinem Haus vorbei, nach dem Norden hinauf, durch den Englischen Garten zum Bahnhof. Ich will nicht nach Hause, dachte er. Er fürchtete sich vor der gespannten Atmosphäre daheim, dem dahinplätschernden Fernsehspiel und den kalten Nächten, in denen sie, Inge und er, nichts mehr miteinander taten, und jetzt wurde ihm bewußt, daß sie sich gegenseitig haßten. Er wußte, daß sie nun ihre Waffen einsetzen würde. Sie war weidwund, und das machte sie gefährlich. Sie würde ihn zerstören können, systematisch und todsicher. Diese Stadt, der Leutnant der hiesigen Kriminalpolizei, Wilhelm Gillermann, von dem Falkenbüttel behauptet hatte, daß er tot wäre, sie alle waren ihre Verbündeten. Kurt Blissner setzte sich in das Bahnhofsrestaurant und begann zu trinken. Was kann sie mir tun, dachte er. Sie wird nicht zum Parteivorstand gehen, das ist ihr zu simpel. Sie wird auch nicht ins Büro laufen und sich beklagen. Vielleicht wird sie dem Leutnant zuspielen, daß ich eine falsche Aussage gemacht habe. Und Falkenbüttel rückt mit dem Brief heraus. Der Leutnant wird mißtrauisch werden, und dann wird er mein Leben aufblättern wie ein Bilderbuch. Ich hänge an dem Seil, an dem sie alle nagen!
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3 Die Deckenröhren flackerten auf, als Klaus Gillermann den Schalter betätigt hatte, jede mit den gleichen zuckenden Blitzen, und zusammen leuchteten sie den langen, schmalen Raum präzis und schattenlos aus. Er betrachtete die zwei Dutzend Zeichenbretter, und ein starkes Gefühl der Einsamkeit überfiel ihn. Die Leute, die an diesen Brettern arbeiteten, kamen aus allen Gegenden des Landes, sie stellten so etwas wie eine Nationalmannschaft dar, und Klaus Gillermann war ihr Kapitän. Jetzt allerdings war er ein Kapitän ohne Mannschaft. Zwischen den Feiertagen waren sie nach Hause gefahren. Wie Weltmeister, siegreich, waren sie gefahren. In ein paar Tagen, Montag, wollten sie die MAXIMA in die Produktion geben. Ich habe sie belogen, dachte Klaus Gillermann. Ihr Kapitän hat versagt, und sie sind jetzt schon disqualifiziert. In diesem Zeichensaal stand jetzt der Verlierer. Resigniert schaltete Klaus Gillermann das Licht wieder aus. Niemand sollte ihn so sehen, so geschlagen. Sie hätten verdient, daß man ihnen die Wahrheit sagt, grübelte er. Dann wären sie nicht gefahren. Es wäre noch etwas zu retten gewesen. Aber er war feige gewesen. Hinter der Glaswand, wo die Musterbau-Brigade ihre Werkstatt hatte, wurde jetzt ebenfalls Licht gemacht. Klaus sah Micha Siebert hinter der Scheibe, seine ruhigen Bewegungen, mit denen er den Schrank aufschloß, seinen Mantel hineinhängte und den Kittel herausnahm. Dann zog er eine Schachtel Zigaretten hervor, nahm eine heraus und steckte sie zwischen die Lippen. Erst jetzt sah auch er durch die Scheibe und erblickte Klaus Gillermanns Schatten vor dem Fenster. Verwundert kam er 78
durch die Tür. Er blieb neben dem Ingenieur stehen und knipste die Scherenleuchte an. „Du bist das? Im Dunkeln? Was ist los?“ „Nichts“, antwortete Gillermann. Siebert schüttelte den Kopf. Dann erinnerte er sich an die kalte Zigarette in seinem Mundwinkel. „Gib mir mal Feuer.“ Er nahm die Zündholzschachtel entgegen und bot Klaus Gillermann eine Zigarette an. „Keine Karo, nein, danke.“ Micha Siebert schaute seinem Freund forschend ins Gesicht. „Ist doch was los, oder?“ Er tippte auf die Schaltzeichnung der MAXIMA. „Damit?“ Das Modell der Maschine stand auf einem kleinen Tisch daneben. Ein elektronischer Handrechner, nicht größer als ein Sternchen-Transistorradio. Seine geringen Abmessungen waren seine Stärke. Ein Gerät, mit dem man auf dem Weltmarkt gehen konnte. Falls es störfrei arbeitete. „Die Störanfälligkeit“, sagte Klaus. Micha strich mit der Hand über das hellgraue Meladurgehäuse. „Aber du hast doch gesagt …“ „Gesagt, gesagt“, unterbrach ihn Klaus gequält. „Vielleicht habe ich zuviel gesagt. Jedenfalls rechnet sie nicht richtig. Die Fehlerquote ist nach wie vor zu hoch, das ist eine Tatsache.“ „Versteh ich nicht“, murmelte Micha Siebert ratlos. „Donnerstag war die Besprechung. Da hast du gesagt, die Maschine ist übergabereif. So steht das im Protokoll. Deshalb durften die Leute fahren, deshalb ist der Übergabetermin für den Zweiten festgelegt worden. Und plötzlich, über die Feiertage, stimmt das alles nicht mehr? Versteh ich wirklich nicht.“ 79
Ich könnte es dir sagen, dachte Klaus. Du würdest begreifen, daß sich von einem Augenblick zum anderen alles ändern kann. Doch das wäre so, als hängte ich mir selbst den Strick um den Hals. „Ich dachte, ich schaffe es noch“, erwiderte er matt. „Ich mußte es schaffen, du weißt, daß sie mich ablösen wollten, wenn der Termin nicht gehalten wird. Es ist meine Maschine. Ich habe die Konzeption gemacht. Ich habe die Entwicklung bis hierher geleitet. Glaubst du, ich lasse mir das alles wegnehmen wegen eines Details? Nein.“ „Werd nicht sentimental“, brummte Siebert. „Kein Mensch hat davon gesprochen, dir die Maschine wegzunehmen. Es war die Rede, dir Doktor Schneider zur Seite zu geben. Er ist älter, erfahrener und – entschuldige bitte – auch versierter als du. Mensch, dieses Detail ist die Hauptsache. Eine Rechenmaschine, die falsch rechnet, ist keine.“ „Ich dachte, ich schaffe es noch“, wiederholte Gillermann, „und vielleicht schaffe ich es auch.“ Es war eine Beschwörungsformel, deren Untauglichkeit Klaus Gillermann längst selbst erkannt hatte. Es hing jetzt nicht mehr von ihm allein ab. Er wußte, daß er mit dem letzten Problem selber nicht fertig wurde. Mit seinem Kollektiv wäre es zu schaffen gewesen; aber das hieß, seine Hilflosigkeit einzugestehen, hieß, daß Dr. Schneider die Leitung übertragen würde. Zur Seite geben, dachte er bitter. Als wenn ein Mann, der zugegeben älter, erfahrener und besser war, sich ihm „zur Seite geben“ lassen würde. Dr. Schneider wollte seinen Posten, und er würde sich keine Chance entgehen lassen. „Sei kein Narr. Niemand schafft so was noch allein heutzutage. Es gibt keine einsamen Erfinder mehr. Zuge80
geben, es ist deine Maschine, doch du hast keinen Augenblick lang allein daran gearbeitet. Plötzlich, wo es kritisch wird, soll das klappen?“ „Was soll ich denn tun?“ „Die Karten auf den Tisch legen! Was habe ich denn die ganze Zeit erzählt? Man kann dir die MAXIMA gar nicht mehr wegnehmen, aber man kann dir helfen.“ Micha Siebert gab Klaus Gillermann einen freundschaftlichen Stoß. „Denk mal über dich selbst nach.“ Denk über dich nach. Das hieß nur, die Trümmer ehrgeiziger Pläne zur Kenntnis zu nehmen. Festzustellen, daß man lediglich ein mittelmäßiger Ingenieur ist, den ein Laie zu übertrumpfen imstande war. Oder fast ein Laie, berichtigte sich Klaus Gillermann selbst. Petter hatte zusammen mit ihm studiert, aber sein Studium nicht beenden können. Petter war ein Schwein, und zu seinen übrigen Fehlern hatte Klaus Gillermann diesen gröbsten hinzugefügt – er hatte sich in dessen Hand begeben. Durch die Existenz jenes Petter gab es den letzten Ausweg auch nicht mehr: die Aufgabe seines Ehrgeizes, das Die-Karten-auf-den-Tisch-Legen, wie Mischa es nannte, das offene Eingeständnis seiner Niederlage, selbst auf die Gefahr hin, daß Dr. Schneider Leiter der Entwicklungsabteilung wurde. Mit der Idee seiner MAXIMA war Klaus Gillermann aus der letzten Reihe des unscheinbaren Ingenieurkorps getreten. Er war ein guter Ingenieur, verstand sein Fach, nur ein besserer Ingenieur war er auch nicht als die anderen. Die Entwicklung der Maschine, die anfangs wunschgemäß voranging, konnte lange die Mängel des Leiters kaschieren. Plötzlich war der „Not return point“ überschritten. In den Leitungssitzungen drängte man auf die Erfüllung der Verpflichtung, stellte einen Termin. 81
Klaus Gillermann verschwieg das Problem der Störanfälligkeit, scheute vor der Konkurrenz Dr. Schneiders zurück. Ging lieber zu seinem falschen Freund Erwin Petter. Ich muß es schaffen, muß es schaffen, muß es … Andere Gedanken hatten keinen Platz mehr in seinem Kopfe. Klaus Gillermann starrte auf die Schaltzeichnung. Mittags bemerkte Micha Siebert, daß sich sein Freund noch immer kaum rührte. Er ist fertig, dachte er. Aber er hat doch gar keinen Grund, fertig zu sein. Ist doch alles noch zu reparieren. Er hat sich in eine fixe Idee verrannt, nichts weiter. Er hat in seiner Panik die Betriebsleitung über den wahren Stand der MAXIMA getäuscht. Da hilft nur ein scharfer Schnitt, doch den muß er selber tun. „Komm essen.“ Er zog Klaus Gillermann von seinem Stuhl hoch. In der Kantine gab es harte Spaghettis und kaltes Gulasch. Wer nur konnte, aß nebenan in der Kantine des Reichsbahn-Ausbesserungswerkes. Micha witzelte, daß man diese langen Strippen wahrscheinlich aus dem Materiallager entwendet hätte. „Das sind bestimmt Überzugsschläuche.“ Doch Klaus Gillermann hatte keinen Sinn für Scherze. Er beobachtete böse Dr. Schneider, der zielstrebig auf die Speisenausgabe zueilte und dabei den Saal fixierte, um einen Platz für sich ausfindig zu machen. Klaus Gillermann gab sich nicht der Illusion hin, daß er woanders als an seinem Tisch Platz nehmen würde. „Da kommt ja Mister Kuhkopp“, sagte Micha. Er nannte Dr. Schneider nie anders, wenn der es nicht hörte, und tatsächlich hatte dessen in die Länge gezogenes Gesicht den melancholischen Ausdruck eines Rindes. Hoffentlich fängt er nicht auch wieder von der MAXIMA an, dachte Klaus. Ich ertrage das nicht, seine forschenden Blicke, die spitzen Bemerkungen und das 82
väterliche Getue. Du kriegst mich nicht unter, du auf keinen Fall. Und wenn ich sonstwas tun müßte. Dr. Schneider tat nichts dergleichen. Wohl setzte er sich Klaus gegenüber, aber er sprach kein Wort. Melancholisch kaute er das Gulasch. Erst als sich Klaus Gillermann erheben wollte, blickte er kurz auf. „Besuch für dich“, sagte er beiläufig. „Sitzt beim Alten und wartet.“ Petter, dachte Klaus voller Schreck. Er ist da. Er hat seine Drohung wahr gemacht. „Wer ist es?“ fragte er mit schwankender Stimme. Dr. Schneider zuckte die Achseln. „Ein junger Kerl, vielleicht dein Alter oder etwas jünger.“ Es ist Petter, dachte Klaus Gillermann verzweifelt. In der nächsten Stunde entscheidet sich mein Schicksal, dann ist alles aus. Aber es war nicht Petter, der da in einem Besuchersessel versunken war und eine Repräsentationszigarre paffte. Erst nach Sekunden erkannte Klaus Gillermann in ihm den jüngeren der beiden Kriminalisten, die ihn vor zwei Tagen besucht hatten. Nicht Petter, na gut, aber dieser Mann stellte die zweite Gefahr dar. Der Gast wollte jedenfalls nicht nur einen guten Tag wünschen, das war sicher. Haug stand auf. Er legte seine schwarze Zigarre in den Ascher. „Wir kennen uns bereits“, sagte er verbindlich und deutete eine Verbeugung an. Dann schaute er auf Anschütz, den Produktionsleiter. „Ihr braucht mich ja sicher nicht“, beteuerte der verständnisvoll. „Ich habe im Betrieb zu tun. Immer dasselbe, man hat ein wunderbares Büro und kommt doch niemals dazu, sich länger dort aufzuhalten.“ Er raffte ein paar Papiere von seinem Schreibtisch und verschwand. 83
Haug sah ihm nach. Darauf lud er Klaus Gillermann ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen. „Es haben sich Umstände ergeben, wegen denen wir einige Rückfragen halten müssen“, sagte er langsam. Er sah Klaus mitten ins Gesicht. „Ihr Onkel ist noch nicht wieder aufgetaucht, und es besteht Anlaß zu echter Besorgnis.“ Haug tat einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, dann fuhr er fort: „Unsere Arbeit erfordert es, daß wir alle möglichen Leute um Mithilfe bitten müssen. Diese Hilfe kann schon in absoluter Aufrichtigkeit bestehen. Das fällt manchmal schwer, ich weiß das, aber es ist leider notwendig. Wir sammeln Steinchen zu einem Mosaik, doch die Steinchen müssen stimmen, damit es ein Bild ergibt.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Herr Gillermann, warum haben Sie uns am Montag belögen? Weshalb haben Sie uns verschwiegen, daß Sie am Freitagnachmittag in Trebendorf waren?“ 4 Plötzlich lastete Schweigen schwer im Raum. Klaus Gillermann starrte sein Gegenüber an, das gelassen seine Zigarre paffte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken umher, ein Konglomerat von Wahrheit und Lüge, das er vergeblich zu bestimmen versuchte. Haug ahnte, was in Gillermann vor sich ging. Er darf nicht zum Nachdenken kommen, beschloß er. Er soll reden, schnell reden, ohne sich etwas ausdenken zu können. Kurz und scharf wiederholte er seine Fragen: „Warum haben Sie uns belogen? Weshalb haben Sie uns verschwiegen, daß Sie letzten Freitag in Trebendorf waren?“ 84
„In der Relaisfabrik“, stammelte Klaus Gillermann kläglich. „Ich bin jede Woche in der Relaisfabrik. Meistens freitags.“ „Warum sollten wir das nicht wissen?“ Jetzt überlegt er; fieberhaft überlegt er, dachte Haug. Es war ihm nicht gegeben, in Gesichtern zu lesen, unkontrollierte Bewegungen auszudeuten, und er wußte, daß er, wollte er die Wahrheit erfahren, dem Ingenieur keine Zeit zum Nachdenken lassen durfte. Ein Mann war verschwunden, und die Wahrscheinlichkeit stieg, daß dieser Mann tot war. „Reden Sie schon“, raunzte er Gillermann an. „Trebendorf“, antwortete Gillermann, „ich meine die Relaisfabrik; also, die Relaisfabrik ist nicht Trebendorf für mich, verstehen Sie?“ Er fuhr mit der Hand in die Tasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Teure, filterlose Zigaretten, registrierte Haug, nicht „Pall Mall“, aber eben auch teuer und ohne Filter wie „Pall Mall“. „Sie fuhren mit dem Zug?“ „Mit dem Wagen“, sagte Gillermann. Er entzündete die Zigarette, hüstelte. „Wartburg-Kombi, ein Werksauto.“ „Sie wurden gefahren?“ „Nein, ich fahre selbst, wenn es kürzere Strecken sind. Ich muß mobil sein, wir entwickeln eine Rechenmaschine, voll elektronisch, eine Revolution …“ Bei dem erneuten Gedanken an die MAXIMA packte ihn ein Groll gegen diesen Polizisten, der Macht genug besaß, sich dreist und störend in jedermanns Privatleben zu drängen, das bei Klaus Gillermann augenblicklich nichts anderes war als der Kampf um die Maschine. „Ich habe meinen Onkel nicht umgebracht“, sagte er nachdrücklich. 85
„Ich habe nicht von Mord gesprochen. Aber wenn Sie so wollen, reden wir von Mord.“ „Warum sollte ich das getan haben?“ „Egal, ob Sie oder jemand anders, es gibt ein Motiv. Das einfachste Motiv der Welt: Geld!“ Gillermann hüstelte wieder. „Ich hoffe, daß mein Onkel nicht umgebracht worden ist. Von seinem Geld kann keiner reich werden.“ „Glauben Sie das, oder glauben Sie das zu wissen?“ Gillermann sah ihn verständnislos an. „Wie meinen Sie das?“ „Reden wir nicht um den heißen Brei. Ihr Onkel ist spurlos verschwunden und hinterließ ein Konto mit dreizehntausend Mark. Seine komplette Rente aus den letzten fünf Jahren. Nicht einen Pfennig weniger und die Zinsen dazu.“ Der Ingenieur merkte auf, aber dann erlosch seine Teilnahme schnell. „Wenn das Geld da ist …“ „Wovon lebte Ihr Onkel, wenn er seine Rente niemals angerührt hat?“ „Es hat keinen Zweck, ausgerechnet mich danach zu fragen. Er hat es mir nie gesagt, und ich habe ihn nie um diese Auskunft gebeten. Er wollte nicht, und ich wollte nicht.“ „Was tat er während der Nazizeit?“ „Er war im Ausland. Überall, glaube ich. Als er zurückkam, war ich zehn Jahre alt und lebte bei fremden Leuten in Suhl. Ich war Waise. Damals fand ich das Schicksal dieses einzigen echten Onkels aufregend. Das hat sich gelegt. Er kümmerte sich nicht um mich. Es war Zufall, daß ich hier ans Kombinat kam, ich habe in ZellaMehlis gelernt und in Berlin studiert. Ich weiß nichts von seinem Geld und wie er’s erworben hat. Es kümmert mich nicht.“ 86
„Das ist wenig“, erwiderte Haug leise. „Es ist zuwenig für Sie, wenn Sie wie ich daran denken, daß er ermordet sein könnte.“ „Sie glauben es also auch?“ fragte Gillermann. „Sie glauben es tatsächlich?“ Er vermeinte Kälte zu spüren, die sich von innen her gleichmäßig ausbreitete und ihn Stück für Stück einfror. So kommt es, dachte er, du lebst neben einem her, der dir gleichgültig geworden ist, weil auch du ihm von jeher gleichgültig warst, und plötzlich greift er nach dir. Zieht dich hinab mit sich, und du kannst dich nicht wehren. „Geld“, sagte er böse, „dreizehntausend Mark! Mag sein, daß man deswegen mordet. – Aber ich nicht!“ schrie er plötzlich. „Ich verdiene so viel, daß ich das Geld meines Onkels nicht brauche!“ „Und deshalb erregen Sie sich?“ fragte der Leutnant. „Oder weshalb regen Sie sich so auf? Vielleicht, weil es nicht nur um das Geld geht, das Sie verdienen, sondern um mehr, Herr Gillermann? Wir machen uns keinen Spaß daraus, Ihren Onkel zu suchen. Weil es nämlich kein Spaß ist, wenn ein Mensch verschwindet. Und weil es erst recht kein Spaß ist, wenn mit diesem Menschen viel Geld verschwindet. Dann nehmen wir es ernst, Herr Gillermann, sehr ernst. Dann wollen wir es ganz genau wissen. Wir wollen wissen, wo Sie waren, als Ihr Onkel zum letzten Mal bemerkt wurde. In Trebendorf, auf seinem Grundstück, wo eine Nacht hindurch und einen Morgen alle Lichter brannten. Ein stummer Notruf vielleicht. Wo waren Sie da?“ Die Kälte ließ Gillermann nicht los, Gedanken polterten dumpf und mißtönend durch seinen Kopf, daß er schmerzte, so sehr konnte man Gedanken mit allen Sinnen aufnehmen. Die Polizei war da, es fehlte Geld, viel Geld, das einfachste Motiv. In sein Bewußtsein fraß sich 87
der Gedanke, daß gegen Geld alles andere fremd wurde, auch heute noch – oder gerade heute. Er spürte Hilflosigkeit gegen diesen Begriff und Wehrlosigkeit gegen den Angriff des Geldes. Auch die MAXIMA bedeutete Geld, viel Geld, immer mehr, je eher sie herauskam aus ihrem Brutschrank, dem Entwicklungslabor. Langsam preßte Klaus Gillermann die Luft aus seinen Lungenflügeln. Es klang wie tiefes Stöhnen, wie Resignation gegenüber den bohrenden Fragen des Mannes, der sich immer noch blind vorantastete. „Ihr Onkel besaß viel Geld. Bar in seinem Hause. Bis er verschwand. Er verschwand mit seinem Geld, oder er verschwand dahin und das Geld dorthin. Das eine führt zum anderen, das sehen Sie doch ein.“ „Das Drecksgeld! Ich brauche es nicht. Ich war in Trebendorf in der Relaisfabrik. Es gab da eine Sitzung wegen der Relais. Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich habe das Geld nicht gestohlen und auch meinen Onkel nicht umgebracht.“ „Wann waren Sie zu Hause?“ Gillermann starrte ihn verzweifelt an. „Um fünf oder Viertel sechs.“ „Bei Ihrer Wirtin?“ „Ich habe in der Mitropa gegessen. Am Bahnhof. Rührei habe ich gegessen und Bier getrunken.“ „Wo war der Wagen derweile?“ „Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof. Sonnabends habe ich ihn in die Garage gefahren, da war ich sowieso im Büro, von acht bis gegen zwölf.“
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IV. KAPITEL 1 Scheppern weckte Hans Falkenbüttel aus seinem unruhigen Schlaf. Es waren die Leute, die die Abfalltonnen des Lokals leerten und es mit so viel Lärm taten, wie es ging. Die Grippe, die in diesen Wochen grassierte, sie wurde englische Grippe genannt, lag auf Falkenbüttels Bronchien wie eine riesige Qualle. Er hustete krampfhaft, sein magerer Körper schüttelte sich, er atmete Kälte ein, die wie mit Messern stach. Es gab schon Todesfälle durch diese Grippe, dachte er und betastete mißtrauisch seinen Brustkorb. Da drin ist nichts, was Widerstand leistet, alles ist nur ein dürrer, klappriger Leib, dachte er weiter, er wird von der Grippe aufgefressen. Trotzdem war er fieberfrei diesen Morgen. Er wußte das. Er glaubte sogar, daß sein Husten lockerer geworden war und die Schmerzen in den Gliedern nachgelassen hatten. Dieses Bettlägerigsein ist eine Erfindung der Ärzte und vor allem der Krankenkassen, grübelte er. Man liegt sich zu Tode, aber man ist immer greifbar für Kontrollbesuche. Das ist die Hauptsache. Als er aufstand, fühlte er sich ungewohnt frei. Er vermochte mit Appetit zu frühstücken, heizte seinen Kachelofen kräftig ein und spürte dann Langeweile, eine ungewohnte Empfindung seit den letzten Tagen. Er begann seine Gedanken Spazierengehen zu lassen, und sie liefen stracks zu Wilhelm Gillermann, von dem er wußte, daß er tot war, und an dessen Tod er sich schuldig fühlte. Trotzdem kam keine Trauer in sein Herz, eine Distanz war da, eine Barriere, die ihn auch sonst von seiner 89
Umwelt zu trennen pflegte. Er dachte an Wilhelm Gillermann und dessen Ende, wie man von Berichten denkt, von bloßen Informationen über fremde Ereignisse, und der Alte war sein Freund gewesen. Und er vermochte diese Verfremdung der Gedanken zu erfassen, seine eigene Gleichgültigkeit einzuschätzen. Eine helle, klare Sonne stieg über die Dächer. Ihre Strahlen wurden vom Schnee reflektiert, die Stadt bot sich plötzlich in einem unerwarteten Glanz, der die Wehmut des Winters aufhob. Ich bin noch da, dachte Falkenbüttel, ich bin wieder aufgetaucht und aus der Lethargie der letzten Tage erwacht. Die Lust am Leben packte ihn mit Gewalt, trieb ihn in eine Euphorie hinein, vor der er sich selbst fürchtete. Woher kam diese ungeheure Freude so schnell und im Schatten des Schicksals Wilhelm Gillermanns? In diesem Augenblick wollte Hans Falkenbüttel nichts anderes als hinaus aus der Stadt, dorthin, wo er die Erfüllung seines Lebens konzentriert hatte, allerdings auch dahin, wo der Schatten Gillermanns länger wurde, immer länger, bis er so lang war, daß er auch zu ihm hinreichte. Der Zug fuhr eine Viertelstunde später oder gar nicht mehr an diesem Vormittag. Falkenbüttel machte sich eilig auf den Weg, war unvollständig angezogen und hatte kein Gepäck. Ein überstürzter Aufbruch wie eine Flucht, so mutete es an; aber es war gerade das Gegenteil: eine Rückkehr in die Welt, die er und die ihn kannte. Der Bahnhof bedeutete weder Abfahrts- noch Ankunftsstätte, war nunmehr nicht mehr als eine Brücke, die zwei Lebensadern miteinander verband. Ein Zug mit schmierigen Wagen und einer Lokomotive, die den Bahnsteig in ihre Qualmwolken hüllte, führte ihn nicht fort, sondern in den wirren Taumel des eigenen Lebenskreises hinein, in dem 90
Startpunkt und Ziel sich nicht unterscheiden. In diesen Momenten galt die Welt nicht mehr als er selbst; er war der Anfang und das Ende. Die neugewonnene Vitalität, so hektisch sie sich äußerte, war anders als die alte. Die Fremdheit blieb, das Gefühl, in einer Zuschauerrolle und mit leichter Befangenheit zu agieren. Der Trebendorfer Bahnhof schien sich verändert zu haben, vielleicht durch Sonne und Schnee oder durch die Freude an seiner Gesundung. Wie ein Fremder ging Falkenbüttel den kleinen Sandweg hinunter, der am Ort Trebendorf vorbei in die Siedlung Trebendorf führte, mußte fast die Waldschneise suchen, die auch die Siedlung beiseite ließ und Kilometer Weges nach Birkhalde sparte, tastete sich endlich mit irgendwie unsicheren Schritten hinunter und hinauf, manchmal in die Bläue des Himmels hinein oder hinunter in die schneeglitzernde Winterpracht. Das Ganze war so trügerisch wie ein monumentaler Film, den man doch nur unvollkommen aufnahm, nur schaute und hörte. Birkhalde, ein Örtchen, das ebenso malerisch wie funktionslos hinter dem Böhlerberg versteckt lag, hatte sich erfolgreich gegen drei Anstürme erwehren können. Die kommunale Struktur oder das Fehlen einer solchen versperrte den organisierten Luftschnappern Zutritt, das Dorf war so eingerichtet, daß es zur Umwelt mit haarfeinen Nervenenden, nicht jedoch mit handfesten Strängen verbunden war, es gab außer einem privaten Brunnenbohrer, dem Rieberothschen Kramlädchen und einem winzigen Restaurant ohne Fremdenzimmer keine Wirtschaft dort. Dann hatte es der Gemeinderat verstanden, die Expansion der Datschensucher erfolgreich abzuwehren, indem er ein striktes Verkaufsstopp innerhalb der kommunalen Grenzen gebot. Dritter Umstand wiederum 91
ergab sich aus den beiden vorigen; die selbstgewählte Askese, eigentlich Anachronismus in dieser Hälfte unseres Jahrhunderts, brachte finanzielle Armut übers Dorf – jedenfalls, was die Gemeindekörperschaft betraf – und damit strenge Sparsamkeit in allen Dingen, die man gemeinhin zur Zivilisation zählte. Birkhalde war, und man fühlte dort Stolz darüber, eine Reservation, ein Freilichtmuseum, ein Seldwyla in Thüringen. Falkenbüttel paßte in diese Welt genau hinein. Die Befriedigung, die er empfand und die mit jeder Station der kleinen Reise nach Birkhalde wuchs, war nicht einfach die Befriedigung eines aus einem Käfig gelassenen Vogels, sie war anders, eigentlich das Umgekehrte. Die Rückkehr eines Vogels in seine Käfigwelt; hier war er mit allen Dingen vertraut, lebte mit ihnen, konnte als ein Teil von ihnen gelten. Die Laube des Pächters Falkenbüttel lag versteckt hinter Edeltannen und Haselhecken, auf denen jetzt Schnee lastete. Es war ein langgestrecktes Monstrum, das früher mal jemand in Etappen errichtet hatte, bestand aus zwei bewohnbaren Räumen und einer Flucht Gelassen, die als Schuppen dienten, als Klosett und Remisen für Schubkarre, Handwagen und Fahrrad. Die karge Schlichtheit des mit schwarzer Teerpappe verkleideten Baus harmonierte mit nachlässiger Gartenkultur. Die Edeltannen, die kahlen Stangen der Haselhecken und wilde Kiefern ließen Platz für einzelne Rabatten oder Beete, für einen Komposthaufen und eine verrostete Pumpenanlage. Alles bedeutet, von draußen, von außerhalb des Zaunes gesehen, Ruhepunkte für gehetzte Augen und gejagte Pulse. Aber heute nicht; die Krankheit noch in sich, war Falkenbüttel morgens aufgestanden, mit dieser Krankheit in sich hatte er eine merkwürdige Gesundung verspürt, die, 92
hervorgerufen durch strahlende Sonne auf reflektierendem Schnee, Äußerlichkeiten also, nicht ins Innerste drang. Das Draußen, diese Gesundheit, diese Welt, diese Erlebnisse waren wie Kino, eine Geschichte lief ab, sehr naturalistisch, sehr schön, sehr tragisch. Aber Falkenbüttel wartete auf den Schluß der Vorstellung, darauf, daß Wilhelm Gillermann zurückkehrte aus seiner Rolle. Die Gefühlssperre, der Falkenbüttel, unwillentlich natürlich, ausgesetzt war, quälte ihn. Hans Falkenbüttel öffnete seine Pforte, betrat jungfräulichen Schnee auf dem Gartenweg. Der hatte keinen Glanz mehr, die Sonne war längst hinter dem Böhlerberg verschwunden und mit ihr ein Teil des fremden Kinovergnügens. Der Mann stapfte zu seiner Laube, ging hinein, fand nichts verändert vor. Während er notwendige Handgriffe tat, versuchte er, Gedanken zu formen, die helfen konnten, wieder zu fühlen. Die Mechanik dieser Handgriffe – er fror, deshalb mußte er den Stecker seiner Heizsonne in die Dose stecken – half nicht dabei. Er besaß einen Kochherd, aber Brennholz fehlte, er mußte es hinten aus dem Schuppen holen. Es gab Kessel und Kochtöpfe im Hause, er spürte Appetit auf Kaffee oder Tee, den er jedoch vorher aus dem Kramlädchen einkaufen mußte. Seine Gedanken verharrten bei Brennholz und Kaffeekauf, der Film lief weiter. Mit zwei Marmeladeneimern schlurfte er hinaus, um die Laube herum zum Holzschuppen. Der hatte eine einfache Verriegelung, Scharnier mit Bandeisen, das durch eine Krampe gesteckt und mittels Holzpflock gesichert wurde. Der Holzpflock steckte nicht, er baumelte an der Wachsstrippe lose herunter, und Falkenbüttel betrachtete ihn mit gelindem Argwohn. Dann scharrte er mit den Füßen den Schnee von der Tür fort, damit er sie öffnen 93
konnte. Hinter der Tür roch er vertrauten Kienduft, stieß sich sein Schienbein am Hackklotz und sah, daß der Brennholzstapel zum Teil in sich zusammengestürzt war. Er bückte sich langsam und schwerfällig, bedachtsam ofengerechte Scheite auswählend, und sah die Tasche … Sie stak verkantet zwischen Holzstapel und Bretterwand, er zerrte daran, aber sie wollte nicht nachgeben. Sie war ein verstocktes Ding, wie es ihr Besitzer gewesen war. Gillermanns Tasche, braun, abgeledert und mit rostigen Schlössern. Sie war der Beziehungspunkt zur Wirklichkeit, die unerwartet nun auf Falkenbüttel herniederstürzte. Ein alte, pralle Tasche stellte den Genesenen wieder mitten hinein ins Leben, er war erneut beteiligt, alle Sinne begannen aufs neue, mit schmerzender Kraft zu arbeiten, und Wilhelm Gillermann wurde ihr Objekt. Die Tasche, erinnerte Falkenbüttel sich, hatte Gillermann in Sidney gekauft, sie hatte beherbergt, was er aus Australien mit nach Hause brachte, damals; später, was Gillermann sonnabends aus der Stadt nach Trebendorf trug. Danach, zuletzt, hatte sie in einem dunklen Winkel seines mächtigen Schranks gelegen, war so prallvoll gewesen wie jetzt zwischen Falkenbüttels Holzstapeln. Hans Falkenbüttel strich über das genarbte Leder, seine Sinne konzentrierten sich in den Fingerspitzen; sie fühlten und sahen, schienen den alten Ledergeruch aufzunehmen und noch etwas anderes, Fremdes. Die Fingerspitzen hörten, wie sie selbst über das Leder schabten, und spürten etwas anderes, was hinter dem Leder war. Außer in seinen Fingerspitzen fühlte Falkenbüttel sich leer, bis in seinem Hirn ein Funken zu glimmen begann, sich rasend, wie ein Großfeuer, zu einem einzigen Gedanken ausbreitete. Der Gedanke hieß: Diese Tasche dürfte hier nicht stecken! Sie war an einem falschen 94
Platz! Das Geheimnis, das sie barg, konnte eine tödliche Gefahr bedeuten. Als Falkenbüttel die Tasche öffnete, quoll es ihm entgegen. Bunte Träume in blauen und grünen Papierbündeln, vierzig Stück oder fünfzig. Die Tasche beherbergte das Äquivalent für Glück, für Leben ohne Sorgen, wenigstens Zufriedenheit also. Das trieb heraus und begann scheinbar Falkenbüttels Holzschuppen zu füllen: Geld. Falkenbüttels Herz schlug wild, und seine Schläge ließen, so meinte der Mann, den Brustkorb vibrieren. Das Blut pulste wuchtig durch die Adern, ihn begann zu schwindeln. Gillermanns Geld, wenigstens das Geld aus Gillermanns abgeschabter Ledertasche, die vielen Bündel schienen kein Ende nehmen zu wollen. Falkenbüttel merkte kaum, daß es seine Hände waren, die die Tasche leerten, die Bündel achtlos auf die Holzscheite im Schuppen verteilten. Die Dämmerung war der rapid einsetzenden Dunkelheit gewichen. Die Geldbündel versanken in ihr, nur die Tasche in den Händen des Mannes blieb Wirklichkeit. Falkenbüttel schloß die Tasche. Seine Fingerkuppen fühlten den rauhen Rost der Verschlüsse. Er ging hinaus, die Tasche unter den Arm gepreßt. So leer, wie sie sich nun anfühlte, erschreckte sie ihn nicht mehr, gab ihm sogar ein Stückchen Ruhe wieder zurück. 2 In dieser Stunde saß Haug in seinem Büro im Kreisamt. Was an diesem Tage im Kreis passiert war, trug die Katze auf dem Schwanz weg. Es hatte zwei Alkoholdelikte gegeben, eine Prügelei in der Thälmannstraße, wobei einer 95
der Betrunkenen sich geringfügig verletzt hatte, und einen Einbruch. Der Täter hatte im Suff nicht nur seine Wohnungstür verwechselt, sondern sogar das Haus, in dem die Wohnung lag. Als er mit seinem Schlüssel an der fremden Tür nicht zurechtgekommen war, hatte er versucht, diese einzutreten. Schließlich vermerkte der Tagesbericht noch einen Diebstahl in der Kaufhalle am Markt. Der Schadenswert lag unter fünfzig Mark, und es gab keine offenen Punkte mehr. Die Sache würde am nächsten Tage der Schiedskommission übergeben werden können. Der Leutnant griff wieder nach der Akte Gillermanns. Anscheinend gab es keine Rätsel mehr um den alten Mann, der seit Sonnabend morgen verschwunden war. Vor fünfundzwanzig Jahren war er aus Sidney in die Stadt zurückgekehrt und hatte sofort eine Tätigkeit bei der Wasserversorgung aufgenommen. Bis zu seiner Invalidität hatte er seine Arbeitsstelle nicht gewechselt, sich in keiner Weise irgendwo hervorgetan, lebte auch im privaten Bereich zurückgezogen. Bis auf Inge Blissner, die Nichte der Frau, die Gillermanns Lebensgefährtin geworden war, sprachen alle von harmonischen häuslichen Verhältnissen. Dann war Gillermann Witwer geworden, wenn man das mal so nennen wollte, und hatte sich auf sein Grundstück in Trebendorf zurückgezogen. Es gibt keinen Bruch, dachte Haug. Gillermann war kein Eigenbrödler, nur ein bescheidener Mensch, der in seinem Leben viel erlebt hatte und sich nun von seinen Erlebnissen ausruhen wollte. Gillermann wurde der Autor Friedrich Kampa, weil er, um ausruhen zu können, fertig werden mußte mit diesem Leben in aller Welt. Der Name Friedrich Kampa war dasselbe wie seine Zurückhaltung, wie sein Haus in Trebendorf, wie seine Enten. Dasselbe wie sein Leben in unserem Land. 96
Haug betrachtete Klaus Gillermanns Aussagen. Auch ein Leben in unserem Land. Da war eine Kriegswaise aufgewachsen, wahrscheinlich bei Leuten, die ihn mochten, gern hatten, denn sie haben ihn vernünftig aufgezogen und ihn etwas werden ‚lassen. In unserem Staat studierte er, und jetzt war er dabei, ihm etwas von dem zurückzugeben, was er in ihn investiert hatte. Eine Maschine wollte er bauen, wie es sie auf der ganzen Welt noch nicht gab. Seine Maschine sollte es werden, und deswegen wollte Haug ihm glauben, daß es außer ihr für Klaus Gillermann nichts gab. Egal, ob es gut oder schlecht war, daß ein Mensch Fanatiker seines Berufes sein konnte, nichts gab es, das Querverbindungen zwischen Neffen und Onkel herstellen konnte. Sie waren sich fremder als Passanten der Hauptstraße, die aneinander vorübergingen. Dann gab es Inge Blissner, die Wilhelm Gillermann zu hassen vorgab. Der Leutnant dachte an die farblose Frau, und dann schüttelte er den Kopf. Ihr Mann hatte von unverdauten Emotionen bei ihr gesprochen, und wahrscheinlich hatte er recht damit. Dieser Kurt Blissner mit seinem makellosen Ruf, durch Amt und Würden über kleinlichem Klatsch stehend, war ein Souverän, wie ein solcher empfindlich und von übersteigertem Selbstbewußtsein. Insofern auch von einer souveränen Offenheit, die Welt, in der er lebte, betreffend. Kurz und knapp hatte er zu erkennen gegeben, daß Gillermann in seiner Person den Staat gesehen habe, den Staat also, den er offensichtlich ablehnte. Das war Gillermanns Grund, Blissner von sich zu weisen. Und da liegt der Widerspruch, dachte Haug. Nun hätte er mit Flori sprechen mögen, vielleicht hätte sich dann ein neuer Aspekt ergeben. Aber Florian Fester war morgens in die Bezirksstadt gefahren. 97
Die Biographie Wilhelm Gillermanns stimmte nicht mit Kurt Blissners Bausch-und-Bogen-Urteil überein. Ein Mann, der in die Emigration geht, den es durch die ganze Welt treibt, der kehrt mit einem festen Bild jener Welt zurück. Wilhelm Gillermann war als Friedrich Kampa zurückgekehrt, hatte die Welt, die ihn geformt hatte, in zwei grundgescheiten Büchern festgehalten. War es Friedrich Kampas Schuld, wenn Blissner glauben mußte, daß Gillermann in ihm den Staat ablehnte? Kurt Blissner, Jahrgang einunddreißig, hatte ein konfliktloses Leben hinter sich. Er war in einem Nest aufgewachsen, in dem man kaum den Krieg und in sehr geringem Maße den Nachkrieg zu spüren bekommen hatte. Sein Vater war einer der Rhönschnitzer gewesen, die gerade jetzt, in der Epoche des Kunstgewerbes, eine neue Blütezeit gewonnen hatten. Sein Vater hatte ihm die Schnitzertechniken beigebracht, doch mangelte es dem Jungen wohl an Talent oder Lust, den Beruf auszuüben. Er ging mit zwanzig in die Stadt, arbeitete im Büro, diente sich hinauf. Seit zehn Jahren erst in seiner Blockpartei, doch schon Abgeordneter. Eine unkomplizierte Karriere. Zu unkompliziert? Verschoben sich da nicht etwas die Perspektiven? Peter Haug fiel jäh seine eigene Laufbahn ein, die ebenso unkompliziert, genauso stetig verlaufen war. Wurde er, Leutnant im VP-Kreisamt, unglaubwürdiger in dem Maße, in dem sein Weg schon geebnet war, den er ging? Hatte sich auch sein Blickwinkel schon verschoben? Verstand auch er die Generation, die in diesem Falle Gillermann hieß, nicht mehr? Fragen, die alle eine neue Frage in sich trugen. Fakten, die kein Bild ergaben, wenn man nicht hinter sie schaute. Nüchtern, das heißt für sich betrachtet, wuchs sich das 98
Faktenwerk zu einem unnützen Gebäude aus, in dem sich die Überlegungen verliefen. Ein Mann erhält Besuch und ist danach verschwunden. Möglich scheint nur der Fußweg in dieses Nest, dieses Birkhalde, in dem der Freund wohnt, der an diesem Tag aber nicht in seiner Laube war. Möglich aber auch ein Absturz in der Finsternis,, hinunter in eine der unzähligen Klüfte und Höhlen. Aber weshalb dieser Weg in die Dunkelheit hinaus? War es eine Flucht? Wollte Gillermann sich, wollte er etwas anderes verstecken? War er gar nicht über diesen Weg, sondern einen anderen gegangen? Wie er auch gegangen sein mag, mit seinem Verschwinden war auch sein Geld verschwunden. Vorher hatte er einen Besucher empfangen, der wenigstens vier Zigarettenlängen bei ihm geblieben war. Es mochte ein freundschaftliches Gespräch gewesen sein. Ein alter, ihnen bisher noch unbekannter Freund oder Feind von jetzt, Freund oder Feind von einst, womöglich beides in einer Person, jemand, der von dem verschwiegenen Gillermannschen Vermögen wußte. „Nein!“ Haug sprach es laut aus und erschrak danach. Jetzt begann er Selbstgespräche zu führen. Die Einsamkeit seines Büros erschlug ihn. Mochte es so oder so gewesen sein, hier fände er keine Antwort. Was in dem Aktenbündel zusammengetragen war, lieferte nicht mehr als Denkanstöße, verschlüsselte dazu. Er rief den Fahrdienstleiter an und bestellte ein Auto. Bekam das älteste Vehikel des Kreisamtes, den berüchtigten P 70, der von allen „die Gurke“ genannt wurde, aber er durfte ihn selbst fahren. Haug bedankte sich säuerlich und konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, er fände es verwunderlich, daß die Genossen der Verkehrspolizei dieses Gefährt immer wieder zuließen. 99
Der Fahrdienstleiter lachte. „Der Schuster hat die schlechtesten Schuhe. Außerdem ist der Wagen in Ordnung. Einen kleinen Rechtsdrall, man muß gegensteuern. Jedenfalls schläft man am Steuer nicht ein.“ „Welch ein Trost, wo ich doch am Steuer am liebsten schlafe.“ „Kein Vergnügen ist vollkommen“, antwortete der Leiter. „Sprit ist für fünfzig Kilometer im Tank. Wenn du also heute noch nach Berlin willst, solltest du zuvor noch in die Thälmannstraße.“ „Für Trebendorf reicht es“, knurrte Haug. 3 Die Abendkälte hatte Gestalt durch die unbewegten Baumkronen. Wie erstarrt stand draußen der Wald, und Falkenbüttel schmiegte sich näher an seinen kleinen eisernen Ofen, dessen Tür offenstand. Nur das zuckende Feuer beleuchtete den Raum. Falkenbüttel, in sich zusammengekrochen, blickte ohne Gedanken auf die Tasche, die, bar ihres Inhalts, friedlich ausschaute. Dann, allmählich, begann er doch zu denken. Die Gefahr lag draußen im Schuppen zwischen dem Brennholz. Es war eine gebündelte Gefahr aus bunten Scheinen. Falkenbüttel erinnerte sich nicht, jemals so viel Geld beisammen gesehen zu haben. Wenn sie es finden, fiel ihm ein. Wenn jemand kommt, der es sucht, und es liegt in deinem Schuppen so herum. Der wird dir sagen, daß du Wilhelms Mörder bist. Sie werden es suchen, und dann kommen sie zu dir. Fast glaubte er zu spüren, daß sie schon auf dem Wege zu ihm waren. Sie belauerten sein Haus von allen Seiten und 100
registrierten alles, was darin vorging. Zittern überfiel ihn. Er zitterte vor Angst, und die Panik kam wieder. Er hatte Mühe, aufzustehen und nach der Tasche zu greifen. Er packte sie und preßte sie an seinen Körper. Dann suchte er zittrig nach einem Kerzenstummel und nach Streichhölzern, zündete den Stummel an und ging hinaus in die Kälte. Es war noch immer so still, daß die Flamme der Kerze sich kaum bewegte. Nur das Zittern seiner Hand verursachte ein leises Flackern. Im Schuppen begann Falkenbüttel die Geldbündel einzusammeln. Er stopfte sie in die Tasche zurück, die dick und schwer wurde. Es war ungeschickt, wie er es anfing, ein Teil fand keinen Platz mehr, und Falkenbüttel preßte es hinein, als wollte er es stampfen. Das Geld mußte fort, aber das Gefühl, die anderen wären schon unterwegs zu ihm, riet ihm, es vorläufig zu verstecken. Unter dem Dach gab es einen Verschlag, und dort stand ein alter Korb. Falkenbüttel zwängte sich die Leiter hoch und tat die Tasche in den Korb. Dann legte er Holzscheite darüber, die er mühsam von unten herauftransportierte. Als die Kerzenflamme einmal kurz aufknisterte, es war ein leises, aber intensives und bösartiges Geräusch, dachte er an Feuer. Wenn die Kerze umfiele, in das trockene Holz hinein, wenn diese Laube und alles andere verbrannte, wäre das Geld auch weg und alles wieder in Ordnung. Ein nächstes Stück von ihm wäre dahin außer Wilhelm, doch das wäre unwichtig in diesem Augenblick. Indes, die Flamme beruhigte sich, sie entzündete nichts, und das Geld blieb in seiner Nähe. Er ging wieder hinaus, riegelte sorgfältig ab und schlurfte zurück. Der Schrecken griff in der Gestalt eines Schattens an der Gartentür nach ihm. Dieser Schatten erschien über101
menschlich groß und wuchtig, und dieser Schatten rief: „Hallo!“ Falkenbüttel brauchte Sekunden, um sich zu sammeln, und weitere Sekunden, bis er dachte: Ich wußte, daß sie kommen würden. Sinnlos, ihnen entgehen zu wollen. Langsam ging er hin zu dem Schatten, der in der Nähe normale Proportionen annahm. Er sah einen jungen Mann, den er nicht kannte, und sagte: „Es ist nicht abgeschlossen. Kommen Sie herein.“ „Ich heiße Haug“, sagte der späte Gast. Falkenbüttel nickte. „Sie sind Herr Falkenbüttel?“ „Ja.“ „Ich bin von Trebendorf herübergekommen. Über den Teufelssteig. Der führt seinen Namen allerdings zu Recht.“ „Sie sind meinetwegen hier?“ fragte Falkenbüttel. „Nicht Ihretwegen. Es ist Zufall, denn ich dachte nicht, daß Sie hier wären. Ich sah Ihre Kerze.“ „Sie sind …“ „Ich bin der Mann, der Wilhelm Gillermanns Verschwinden untersucht.“ Der Hausherr ging voran, und Leutnant Haug folgte in seiner Spur. Sie traten ein, und Falkenbüttel bot Haug einen Platz an. Der Leutnant setzte sich gerade dort hin, wo unlängst noch die Tasche gelegen hatte. „Leider habe ich nichts, das ich Ihnen anbieten könnte.“ Haug winkte ab. Dann sah er Falkenbüttel neugierig forschend ins Gesicht. „Das ist so eine Geschichte, in der man nicht weiterkommt. Wir haben jeden nur Denkbaren befragt, aber was am Freitagabend geschah, wissen wir immer noch nicht. Es ist eine Hypothese, daß Ihr Freund 102
über den Teufelssteig wollte, im Dunkeln, daß er dort verunglückte und nun in einer der Spalten liegt.“ „Warum suchen Sie ihn dort nicht?“ „Der Abschnittsbevollmächtigte hat es getan. Mit Ortskundigen zusammen, Männern aus dem Sportverein. Aber gefunden haben sie ihn nicht.“ „Suchen Sie weiter.“ „Wir werden es tun, aber es ist schwierig. Wieso sollte er nach Birkhalde gegangen sein, Sie waren doch nicht hier?“ „Tja“, sagte Falkenbüttel. Dann schwieg er, er tauchte hinab in seine Erinnerungen. „Erzählen Sie mir von ihm. Privat sozusagen. Sicher kannten Sie ihn besser als jeder andere.“ Falkenbüttel hob den Kopf etwas, lauschte wie ein Fuchs, der einer Witterung nachspürt, aber er fand keine Falle in den Worten des anderen. Sie waren so gemeint, wie sie ausgesprochen worden waren. „Das mit dem Licht machte Wilhelm immer so. Wenn er über den Steig kam, er kannte ihn ganz genau, ließ er das Licht brennen. Vielleicht, um Einbrecher abzuschrecken. Doch abgeschlossen hat er immer.“ „Hatte er einen Grund, zu Ihnen zu kommen?“ „Nein“, sagte Falkenbüttel. „Jedenfalls nicht nachts oder am späten Abend. Wir hatten uns hier zwar verabredet, aber ich lag zu Hause mit Fieber im Bett.“ „Jemand sagte etwas von einem Flugentenpärchen.“ „Ja. Ich sollte es aus der Stadt mitbringen. Wie schon gesagt, ich wurde krank …“ „Sie kannten sich lange?“ „Vor fünfundzwanzig Jahren kam ich aus der Gefangenschaft und er aus Sidney. Wir begegneten uns im Einstellungsbüro der Wasserwerke und kamen in denselben 103
Entstörtrupp. Na ja, wir haben bis siebenundsechzig zusammengearbeitet. Da lernt man sich schon kennen.“ „Was wissen Sie von seiner Vergangenheit?“ „Nicht mehr, als ich Ihrem Kollegen schon gesagt habe.“ „Kennen Sie Friedrich Kampa?“ „Kampa?“ fragte Falkenbüttel unsicher. Der Leutnant merkte, daß er im Begriff war, seinen Gesprächspartner zu verschüchtern. Nicht immer bedeutete der kürzeste Weg den besten. Rasch fügte er hinzu: „Ihr Freund hatte Besuch, bevor er sich auf den Weg machte. Niemand von seinen Bekannten oder Verwandten will jener Gast gewesen sein. Vielleicht lügt einer, wahrscheinlich ist jedoch, daß Wilhelm Gillermann von einem Menschen besucht wurde, den wir noch nicht kennen. Es wäre gut, wenn Sie sich erinnerten, ob er andere Kontakte pflegte, vielleicht brieflich.“ „Ich weiß nicht“, sagte Falkenbüttel. Wir haben keinerlei Post gefunden, dachte Haug. Ein bißchen Behördenkram, doch nicht einmal einen Brief von seinem Verlag. Kein Stück Papier, das etwas Persönliches enthielt. „Wenn nicht in den letzten Jahren, so wäre es doch möglich, daß er früher, als er noch in der Stadt lebte, Bekannte hatte. Verstand er sich mit den anderen Kollegen?“ Falkenbüttel nickte nur. „Was für eine Wohnung hatte er?“ „Er wurde zuerst in ein Zimmer eingewiesen. Das war in der Leipziger Straße. Aber er wohnte nicht lange dort. Die Frau hat ihn dann aufgenommen. Mauergasse zwölf. Zwei Zimmer, Küche, Balkon zur Werra raus. Es war eine schöne Wohnung.“ „Als er dann wegzog, nahm er Mobiliar mit?“ 104
„Nein. Die Bücher, ein paar Klamotten. Er hatte alles in Trebendorf.“ „Was wurde aus dem Hausrat?“ „Ein Nachlaßpfleger oder Trödler löste die Wohnung auf. Wilhelm wollte damit nichts zu tun haben. Er liebte Marie Rautenberg, das war seine Frau. Ihr Tod ging ihm sehr nahe.“ Marie Rautenberg ist neunzehnhundertsiebenundsechzig gestorben, dachte Haug. Gillermann war eben damals die Rente zugesprochen worden. Ihn hielt nichts mehr in der Stadt, wo seine Liebe beerdigt war. Zu jener Zeit mochte er mit allem gebrochen haben, was ihn an diese Marie Rautenberg erinnerte. „Kann man das so sagen: Gillermann zog sich zurück von allen, die ihn an seine Frau erinnerten?“ „Nein“, erwiderte Falkenbüttel. „Er träumte längst davon, ganz nach Trebendorf zu ziehen. Die Rente gab den Ausschlag.“ „Wirklich?“ Falkenbüttel sah ihn starr an, in seinem Gesicht lag der Widerschein zuckender Flammen aus dem Ofen. Er dachte an das Geld in der Tasche, die oben im Schuppen lag, in dem Korb unter Brennholz versteckt, Gillermann war reich gewesen, und dieses Geld, bar und gebündelt, besaß jetzt er, Falkenbüttel. Und sicher wußte dieser junge Mann davon, er hatte nach Friedrich Kampa gefragt. „War Gillermann wirklich auf die Rente angewiesen, um sich nach Trebendorf zurückzuziehen?“ Friedrich Kampa! Falkenbüttel erinnerte sich an den Tag, an dem Friedrich Kampa geboren wurde. Ein fauler Tag im August 1951. Damals gab es noch diese verfallene Baracke an der Werra und in dieser Baracke den Aufenthaltsraum für den Entstörtrupp. Es hatte nichts zu 105
entstören gegeben. Sie hatten gesessen und in Zeitungen geblättert. Dann hatte Gillermann Papier aus seiner Tasche, jener Tasche, gekramt, viel Papier, engbeschriebene Blätter. „Was ist das?“ Gillermann hatte ihn mit einem schuldbewußten Lächeln angesehen. „Ich habe hier was aufgeschrieben.“ „Ja?“ „Abends, weißt du. Weil mich das niemals losgelassen hat, diese Erinnerungen und so. Nachts liegt man auf dem Rücken und kann nicht einschlafen, und wenn man schläft, träumt man davon, und es hat einen und läßt nicht mehr los. Da hab ich eben geschrieben.“ Er hatte begonnen, von den Blättern vorzulesen. Mühsam und holprig hatte er gelesen und die Blätter verstohlen eingepackt, als der dritte des Trupps gekommen war. Nerlich, ein Zwanzigjähriger, der Spötter Nerlich, der keinen ernst nahm, der über Dreißig war. Aber sie hatten die Lektüre wiederholt, Mal um Mal hatte sie Falkenbüttel mehr gepackt, und eines Tages hatte er Gillermann geraten: „Schick das doch mal weg, vielleicht wird da ein Buch draus, und du wirst berühmt. Der Schriftsteller Wilhelm Gillermann.“ Er hatte Falkenbüttels Rat befolgt, aber als es ernst werden sollte, als der Verlag das tatsächlich drucken wollte, hatte Gillermann halbherzig gekniffen. „Nicht meinen Namen! Auf keinen Fall meinen Namen!“ Bei der Suche nach einem anderen Namen war er auf den eines verschollenen Kumpels verfallen, Friedrich Kampa, den er getroffen hatte irgendwo zwischen Libyen und Venezuela, mit dem er einen Teil seines Weges gegangen war und der ihn dann verlassen hatte. Friedrich Kampa, der Verschollene, war Friedrich Kampa der Schriftsteller 106
geworden, etwas, was es wirklich gab und zugleich erfunden worden war, Friedrich Kampa der Untergegangene und Friedrich Kampa der Berühmte. „Er hat seine Rente niemals angerührt“, sagte Haug. Wie sollte er? Jener Ruhm, den Kampa genoß, war über Gillermann wie im Sterntaler-Märchen gekommen, hatte ihn damals mit diesen Scheinen überschüttet und reich gemacht. Auf zwanzig oder mehr Jahre war er mit den Scheinen versorgt, die das Glück auszumachen schienen. Aber das konnte man dem Polizisten nicht sagen, ohne ihn mißtrauisch zu machen. Diese Scheine lagerten in Falkenbüttels Schuppen, er hatte sie gefunden, in einer prallen Tasche, die jedermann von Gillermann kennen mußte. Der Polizist wußte von dem Geld, wußte von Kampa, von den Büchern. Er mißtraute seltsamen Zufällen ebenso wie Falkenbüttel; man konnte ihm nichts sagen. Und deshalb schüttelte Falkenbüttel nur den Kopf. „Vielleicht wollte er zu Ihnen. Bestimmt wollte er zu Ihnen, aber er traf Sie nicht an“, fuhr der Leutnant fort. „Schade, ich wünschte, er hätte einige von seinen Geheimnissen mit Ihnen geteilt. Vielleicht wüßten wir dann, wer sein Gast an jenem Tag gewesen ist, ob er vor ihm geflohen ist oder wo das Geld ist, von dem er gelebt hat. Denn diese Rente ist nie angerührt worden. Wirklich nicht.“
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V. KAPITEL 1 Die Stadt Wallingen besitzt drei Attraktionen, die jedoch nur für Fremde anziehend wirken. Auf dem Bredenberg liegt das Schloß Marienlust, das vor mehr als fünfhundert Jahren als Trutzburg gegen die Sachsen errichtet worden war. Die Burg ist nur noch eine Ruine, doch das Schloß selbst, in jüngerer Zeit als Anbau der malerischen Ruine hinzugefügt, ist bis auf den heutigen Tag benutzt worden. Es war eigentlich niemals ein Schloß, sondern einst ein Stift adliger Damen, danach Hotel und Gastwirtschaft MARIENLUST, nunmehr das Gewerkschaftserholungsheim „Fritz Heckert“, mit dem man in der Rhön begann, sich den Tourismus zu erschließen. Die Schloßkirche ist auch nicht mehr ganz echt, aber schön. Ihr Mittelschiff war Kapelle und gehörte zur Bürg. Danach wurden zwei Seitenschiffe angebaut, und ein Turm, den man dem Wiener Stephansdom abgeschaut hatte, vervollständigte das Bauwerk so, daß es mit gutem Recht als Kirche angesprochen werden konnte. Es heißt, die gläubigen Glieder der Gemeinde lebten gesünder als alle anderen Wallinger; neunundneunzig Stufen führen in vier Absätzen von der Stadt hinauf. Schließlich darf man noch das ehrwürdige Rathaus erwähnen. Es ist so alt wie die Burg und immer noch Rathaus. Onkel Herrmann, Stadtarchivar, Fremdenführer und Präsident des Wallinger Karnevalsvereins, versäumte niemals, Urlauber in den Sitzungssaal des Rathauses zu führen und zu erklären, hier würde so viel gelogen, daß sich die Balken bögen. Die Decke des Saales bog sich 108
tatsächlich auf eine gefährlich anzusehende Weise über den Ratsmitgliedern, die jedoch auch nur noch selten dort hineinkamen; sie tagten schon lange im Konferenzzimmer des Kulturhauses zwischen Eisenbahn- und Autobusbahnhof. Altertümliche Städte sind selten bequem für ihre Bürger. Wer wohnt gern in einem Museum, zumal wenn selbst dieser Begriff zweifelhaft war? In fünfhundert Jahren ist Wallingen ein dutzendmal abgebrannt. Die entstandenen Lücken wurden jedesmal im Stile der jeweiligen Epoche ausgefüllt. Nach dem zweiten Weltkrieg auch mit modernen und optisch reizlosen Quadern. Wallingen bildet ein Sammelsurium von baulichen Einrichtungen, krummen Straßen und Gassen und schlechter Hygiene, hat keinerlei nennenswerte Industrie und seit drei Jahren kein Kino mehr. Im Kulturhaus tagen Briefmarkensammler, Billardspieler und Mitglieder eines Volkstanzzirkels. Dort gibt es auch noch ein militärpolitisches Kabinett. Summa summarum ist Wallingen nicht der Rede wert. Ein Mann wie Erwin Petter wäre aus Wallingen geflohen, wäre er nicht zufällig dort geboren worden. Erwin Petter hatte dem Pfarrer die obere Etage von dessen Zweifamilienhaus abgemietet. Deshalb besaß er zweiundeinhalb Zimmer mit Küche, das galt in Wallingen schon als Komfortwohnung und stand ihm gar nicht zu. Morgens fuhr er mit dem Schichtbus zu seiner Arbeitsstelle in Trebendorf und war schon immer gegen sechs in seinem Büro, obwohl sein Dienst erst um sieben Uhr begann. Um zu sieben Uhr nach Trebendorf zu gelangen, hätte er den Zug nehmen und in der Kreisstadt umsteigen müssen. In diesem Falle dürfte er sein Haus noch zehn Minuten eher verlassen. Erwin Petter, der in 109
seinem Leben schon viel ertragen hatte, hätte auch das ertragen, wenn die Heimkehr ebenfalls mit dem Schichtbus erfolgen könnte. Doch Dienst ist Dienst, und die Normalschicht ging bis Viertel fünf. Um diese Zeit gab es keinen Bus von Trebendorf nach Wallingen, nur wieder den Weg über die Kreisstadt. Erwin Petter war jeden Arbeitstag zwölfeinhalb Stunden unterwegs. Er haßte seine Relaisfabrik, in der er als Technologe angestellt war, aber er war zu stolz, sich im Kombinat für Rechenelektronik zu bewerben. Sein Stolz war überhaupt der Knüppel zwischen den Beinen, über den er immer wieder fiel. Er fiel zum ersten Mal vor zehn Jahren. Das war vier Monate vor seinem Examen gewesen, Frühjahr zweiundsechzig. Alles hatte mit Horst Jentsch zusammengehangen. Es war ein Ringelspiel gewesen, eine an sich alberne Angelegenheit. Jentsch und Petter mochten sich nicht um ihrer Ähnlichkeit willen. Sie waren die besten Studenten ihres Seminars, aber keiner gab sich mit dieser pauschalen Bewertung zufrieden; beide rangen zäh und verbissen um das absolute Prä, und weil es keine Entscheidung gegeben hatte, stempelte Petter den anderen als seinen Feind ab. Jentsch war der FDJ-Sekretär der Seminargruppe. Gegen ihn zu sein, aus welchen Gründen auch immer, hieß für Petter automatisch, gegen das FDJAufgebot von damals zu sein. Sein Stolz hatte Erwin Petter blind gemacht, blind und taub gegen Ermahnungen und Argumente. Er stemmte sich gegen die Schule und meinte Jentsch. Erwin Petter hatte sich borniert von der Fachschule katapultiert, zielsicher wie ein havarierter Düsenflugzeugpilot mit seinem Schleudersitz. Statt Elektronik also nur die Relaisfabrik in Trebendorf, ein Kaff statt Zella-Mehlis oder Sömmerda, Freiluftrelais 110
statt Transistortechnik, das war wie Bauschlosserei gegenüber einem Uhrmacher. Morgens um sechs konnte er zwangsläufig an nichts anderes denken, weil er mit einem Drehstuhl in einer Zimmerecke sitzen und die Beine hochnehmen mußte, denn Frau Carl, die Raumpflegerin, war um diese Zeit noch am Wirken. Die kleine, spillrige Frau war in diesem Punkte rigoros genug, wenngleich sie auch Erwin Petter die nutzlose Zeit dadurch zu verkürzen gedachte, daß sie jeden Morgen den Betriebsklatsch vor ihm ausbreitete. Er saß in seinem Winkel, ließ Frau Carls monotonen Redefluß an sich vorüberrauschen und beschäftigte sich mit seinem düsteren Bruder Innerlich. Bruder Innerlich war niemals darüber hinweggekommen, daß man Erwin Petter 1962 geext hatte. Sie erziehen sich ihre Feinde selbst, grollte Bruder Innerlich, voll der trüben Erfahrung, daß in der gesamten Elektronikindustrie nach der Streichung aus der Matrikel nicht die kleinste Stellung für Erwin Petter übrig war. Auch als man hier im Kreis den Kombinatsbetrieb aufgebaut hatte, wollte man einen Erwin Petter nicht haben. Einen Abschluß wollten sie – und daß man wenigstens gewerkschaftlich organisiert wäre. Einen Abschluß – an diesem Punkte angekommen, pflegte Bruder Innerlich böse zu lächeln – brauchte Erwin Petter gar nicht. Keiner konnte wissen, daß er auf seinem Gebiet „up to date“ war, und sein Gebiet war nicht die Bauschlosserei; er war mehr Uhrmacher. Jedesmal wenn der Direktor für Arbeit und Bildung mit seinen Qualifizierungsplänen im Betrieb hausieren ging und auch zu Erwin Petter kam, stärkte dieses Bewußtsein Bruder Innerlichs Widerstandskraft. Was seine berufliche Laufbahn anging, war Erwin Petters Kaderakte so weiß wie ein frischgewaschenes Taschentuch. 111
Diesen Morgen, den achtundzwanzigsten Dezember, zeigte sich Erwin Petter zum ersten Mal vergnügt. Ich hab’s euch geschworen, dachte er, ich krieg euch schon noch mal. Er glaubte, daß er sie jetzt gekriegt hatte, und Frau Carl schaute sich erstaunt den sonst so verbiesterten Kollegen in der Zimmerecke an. „Na, Se müssen aber ’n scheenet Fest gehabt ha’n“, stellte sie mißtrauisch fest. „Oder freu’n Se sich so off Neujahr?“ „Beides, Carlchen“, sagte Erwin Petter. „Und nun reden Sie frei von der Leber weg, ist die Rieckhoff vom Lohnbüro schwanger oder nicht?“ Frau Carl schüttelte den Kopf. Dieser Mann, der immer mufflig dasaß, jeden Morgen, machte sie unruhig. Vielleicht drehte sich die Welt doch noch einmal andersrum, wenn man nur lange genug abwartete. Sie kannte Erwin Petter schon fünf volle Jahre, und plötzlich zeigte er Humor. „Se sin woll verliebt?“ fragte sie und dachte an das Fräulein Rieckhoff aus dem Lohnbüro. „Ich habe meine positive Einstellung zur Arbeit entdeckt“, gestand Petter flüsternd und hatte damit Frau Carls Vertrauen völlig verscherzt. Ihr Hirn war zu arglos und zu einfach, als daß sie dergleichen Abstrakta ohne weiteres hinnahm. Nun lachte Erwin Petter gar. Er erinnerte sich des Kader- und Bildungschefs bei dessen letztem Kreuzzug für die Qualifizierung und an die Worte: „Die positive Einstellung zur Arbeit, Kollege Petter, bedeutet vor allem ständiges Streben nach Qualifizierung.“ Er hatte geantwortet: „Die Hohlbläser in den Glashütten kennen ein Wort, das sagt, daß die Spannung da am größten ist, wo zwischen Luft und Luft zuwenig Substanz ist. Positiv und Einstellung und Streben sind die Luft, und das Arbeitsziel 112
ist die Substanz.“ Der Technologe Erwin Petter sah den Sinn seiner Arbeit eigentlich nur in der Beschäftigung mit den sogenannten Fehlteillisten, dicken Heftern, die an Umfang nie geringer wurden. Die eingefahrene Serienproduktion der Relaisfabrik ließ keinen Spielraum als die ständige Suche nach neuen Spritzgießereien für Relaissockel oder Federnfabriken, die freie Kapazitäten hatten. Es war keine andere Arbeit als die der ungelernten Montierfrauen, die zweitausendmal in der Stunde die gleiche Handbewegung machten. Ja, ich glaube, jetzt habe ich euch, dachte er erneut und war fröhlich dabei. Selbst den Kollegen fiel auf, daß Erwin Petter aufgeregter war als sonst. Vormittags widmete er sich völlig branchenfremden Formelspielereien, dann wiederum schien es, als wartete er auf etwas, was seine Ungeduld zerstreuen konnte. Keiner besaß jedoch mehr Phantasie als die Raumpflegerin Frau Carl und vermutete anderes als Verliebtheit. Ein Telefonat mochte sie darin noch bestärken, denn in dem verabredete sich Erwin Petter für den Abend drei Viertel sechs. 2 Klaus Gillermann fühlte sich in einem Netz von Intrigen eingefangen. Eine spann Dr. Schneider sicher, denn nicht umsonst sagte man ihm einen kalten, leidenschaftslosen Geist nach. Zweifellos war er der bessere Mann, aber woher er kam, wußte keiner so recht. Das und ein Versprechen, die MAXIMA, waren die einzigen Gründe, daß Klaus Gillermann Leiter der Entwicklungsabteilung wurde und Dr. Schneider Chef der Serienfertigung. 113
„Sorgen?“ fragte der Alte. Klaus schüttelte den Kopf. Nur nicht das, nur keine Unsicherheit zeigen. Ich muß erst Petter treffen, mit ihm reden. Der muß mit sich reden lassen, ehe er zur Betriebsleitung geht. Ich muß die MAXIMA liefern! Aber ganz versteckt spann die Polizei auch ihre Fäden, noch gefährlicher, noch drohender. Er hatte diese Leute belogen, deshalb waren sie mißtrauisch geworden. Sie können mir nichts beweisen, dachte Klaus Gillermann. Der Alte ist tot, natürlich. Aber was ging’s ihn an. Zweimal in seinem Leben hatte Klaus Gillermann die Hilfe seines Onkels gebraucht; er hatte sie ihm beide Male abgeschlagen. Und beim letzten Mal hatte er ihn dazu tödlich beleidigt. Sollte er verrotten, aber sie konnten ihm nichts beweisen. Wenn er nur verhindern konnte, daß sie irgendwelche Indizien gegen ihn zusammenstellten! Nur diese eine Gefahr wenigstens wollte er ausschalten. Wenn sie doch ihre Gemeinheiten nicht so heuchlerisch als Hilfsbereitschaft ausgeben würden, dachte Klaus Gillermann. Petters Hilfsbereitschaft ist so typisch dafür. „Natürlich helfe ich dir. Einem alten Kumpel, na hör mal. Bin ich nicht selbst ein gebranntes Kind? Gnadenlos haben sie mich geext, damals. Und warum? Weil ich nicht in ihrem Wasser schwamm. Die kenne ich, mein Lieber. Schon deshalb helfe ich dir.“ Sie redeten vom Kollektiv, an das er sich halten müsse. Dabei wollten sie nur seine Arbeit für sich, seine Erfolge aufsaugen. Sie sagten „wir“, wenn sie von einem einzelnen etwas forderten. Das Wort drückte eine imaginäre Gewalt aus. Einmal hatte das ‚Wir‘ sogar eine Gestalt gehabt. In der Versammlung. „Um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, müssen wir die MAXIMA schnellstens in 114
die Produktion geben. Wir fordern dich deshalb auf, die Reserven des Kollektivs voll auszuschöpfen. Im neuen Jahr geben wir jedem einzelnen Mitglied der Abteilung einen Detailauftrag.“ Das feindliche graue Telefon stand in Reichweite. Er hob den Hörer ab und wählte ein Amt. Einen Moment wollte er seiner Furcht nachgeben und wieder auflegen. Aber er überwand sich. „Könnte ich Herrn Petter sprechen?“ fragte er. Dann sagte er hastig: „Ich möchte zu dir kommen. Heute abend.“ 3 Es war im Grunde bloß Sehnsucht, die Erwin Petter trieb. Sein Leben zwischen Wallingen und Relaisfabrik, zwischen den einförmigen Arbeitstagen und noch einförmigeren Abenden war Starre, die der Agonie ähnelte. Erwin Petter schlief in dem kleinsten Zimmer, das er besaß, das mittlere hatte er sich zu Wohnzwecken eingerichtet, aber das größte war sein Arbeitszimmer. Noch niemand hatte je Gelegenheit bekommen, zu sehen, daß darin eine ausgezeichnete Fachbibliothek über Nachrichtentechnik, Funkortung und Rechenmaschinen untergebracht war. Die Jahrgänge aller Fachzeitschriften häuften sich, und er besaß Fachbücher in drei Sprachen. Erwin Petter quoll über vor Sehnsucht und hatte sich aus gekränkter Eitelkeit in eine Gegnerschaft geflüchtet, die sein Wissen und sein Können nutzlos machte. Bis eines Tages der alte Freund zu ihm gekommen war, mit dem ihn immer noch lose Verbindungen zusammenführten; einer seiner Satelliten aus der Fachschule, nicht besonders begabt, aber ein Streber, der es zu einer ansehn115
lichen Position gebracht hatte. Eigentlich hatte Erwin Petter ihn jahrelang mit durchgezogen, denn er war für ihn eine der stärksten Waffen gegen Horst Jentsch gewesen. Dieser alte Kommilitone hatte ihm gegenüber sein Vertrauen durch die ganze Zeit bewahrt, ihm ein paar Pfund Papier übergeben und einen Sack voll Erklärungen, die Erwin Petter aufhorchen ließen. Der Junge hatte sich nicht verändert, er war immer noch hemmungslos in seinem Streberehrgeiz und immer noch von ihm abhängig, voll von nebulösen Vorstellungen, die zu verwirklichen er nicht in der Lage war. Erwin Petter erinnerte sich an das erste Gefühl, das er bei der Sache hatte: Der Bursche wollte einen Alleingang machen. Man hätte ihm das ausreden können, doch Erwin Petter interessierten die Probleme des Projekts mehr als die seines Freundes mit seinem Betrieb, er wollte sich auf die Probe stellen und nichts weiter. Erst im Laufe der Zeit merkte er, was das für eine Bombe war, an der er im Pfarrhaus der Schloßkirche von Wallingen arbeitete. Das war echte Uhrmacherarbeit gegenüber den Fehlteillisten in der Relaisfabrik. Gleichzeitig erfüllte ihn eine neue Unzufriedenheit. Er verschleuderte seine Arbeit an die, die vor zehn Jahren radikal auf seine Dienste verzichtet hatten, für einen, dessen Mittelmäßigkeit immerhin zu einem leitenden Posten reichte. Erwin Petter wurde sich der Widersinnigkeit bewußt, gleichzeitig für und gegen diese Leute zu arbeiten, nützlich und schädlich zu sein. Das hatte ihn wie einen echten Ganoven zu dieser Forderung verleitet: fünftausend Mark, oder ich bringe die Unterlagen selbst zurück. Kippe oder Lampe. Entweder wir machen beide unseren Reibach, oder ich denunziere dich. Unterwegs nach Wallingen dachte Erwin Petter darüber nach. Es war schäbig, einen alten Kameraden über 116
die Klinge springen zu lassen. Es war genauso schäbig, Leuten zuzuarbeiten, die sich gegen ihn und gegen die er sich entschieden hatte. Ganz nüchtern betrachtet, gehörte ihm, Erwin Petter, allein die Konstruktion, denn er hatte Abend für Abend an ihrer Störanfälligkeit gearbeitet und es schließlich geschafft. Er hatte eine Leistung vollbracht, die die Trennung endgültig machen konnte; was er besaß, reichte als Fahrkarte nach dort, wo er hin wollte. Langsam verließ Erwin Petter den Zug, ging im gemütlichen Spaziertempo durch die kleine Bahnhofshalle und über den Vorplatz. Auf der anderen Seite leuchteten die Lichter des „Deutschen Hauses“, wo sie sich verabredet hatten. Er brauchte sich nicht zu beeilen. Tatsächlich wiederholte sich hier etwas wie in einem ewigen Kreislauf: Klaus Gillermann hängte sich an Erwin Petter, und Erwin Petter nutzte Klaus Gillermann für sich aus. Aktivität machte sich Passivität zunutze. Der Passive profitierte, solange der Profit gering genug war. Oder besser: Die vielen kleinen Vorschüsse wurden in einer Summe abgerechnet, und der Kassierer hieß Erwin Petter. In der Kneipe empfing ihn eine dicke Wand von Tabakrauch und Bierdunst. Erwin Petter verzog mißmutig den Mund. In wohlberechneter Bosheit hatte er diesen Treffpunkt gewählt; diese Umgebung würde Klaus Gillermann erschlagen, ihn noch unsicherer machen und vielleicht aufnahmebereiter für jede Forderung. Erwin Petter, der nicht rauchte und nicht trank, konnte sich auch in diesem Milieu zurechtfinden, selbst wenn er es verabscheute. Klaus Gillermann dagegen saß wie ein Fremder an einem Tisch mitten im Gastzimmer. Er rückte nervös an seiner Brille und hatte sich Fleischbrühe bestellt, die 117
sicherlich schon kalt geworden war. Ausgerechnet Brühe. Neben ihm unterhielten sich zwei gestikulierende Arbeiter, die ihre Stühle nahe zueinander gerückt hatten. Einen Augenblick lang fühlte Erwin Petter Mitleid. Aber was sollte es? Erwin Petter wußte jetzt, wo er stand und wofür er gearbeitet hatte. Er würde auch dieses Bewußtsein mit verkaufen, ein Geschäft hatte er hier abzuschließen, mit dem Technokraten Klaus Gillermann. Erwin Petter ging durch den Gastraum, auf Klaus Gillermann zu, der ihn erst bemerkte, als sein Schatten über ihn fiel. Petter setzte sich schnell und sah Gillermann an. Nur wenige Tage vorher hatten sie an gleicher Stelle beieinander gesessen, und Erwin Petter hatte in das erwartungsvolle Gesicht Gillermanns hineingesagt: „Es hat geklappt. Ich bin fertig.“ Nie zuvor hatte Erwin Petter einen Menschen befreiter aufatmen sehen. Klaus Gillermann war so froh gewesen, daß er das folgende gar nicht mehr begriffen hatte. „Du hast mir einen dicken Hund unter die Decke gesteckt.“ Ein Nicken war die Antwort gewesen. „Ein gefährlicher Hund.“ „Hast du … Hast du es bei dir?“ Darauf war Kopfschütteln erfolgt. „Es hat mich zuviel gekostet, als daß ich es so mit mir rumschleppe.“ „Wann kann ich es haben?“ „Gehört es dir?“ Klaus Gillermann hatte Petter angesehen, als hätte dieser nach dem Leben auf dem Monde gefragt. „Natürlich gehört es mir.“ „Dann gehört es mir ebensogut. Melden wir zusammen das Patent an. Fifty-fifty, oder was meinst du?“ 118
„Wenn das ein Spaß sein soll“, hatte Klaus Gillermann geantwortet, „war er gut. Im Ernstfalle muß ich dich enttäuschen. Natürlich ist das Kombinat der Eigentümer. Ich bin Angestellter des Kombinats.“ „Vielleicht macht das Kombinat fifty-fifty mit mir. Ich bin freier Mitarbeiter gewesen, habe mit dem Kombinat doch nichts zu tun. Aber gewisse Rechte, mußt du zugeben, stehen mir zu. Schließlich waren es meine Arbeitsstunden in der Freizeit.“ Wahrscheinlich hatte sich Klaus Gillermann das überhaupt noch nicht überlegt. Auch nicht, daß Erwin Petter auf diese seine Rechte pochen könnte. Petter hatte in das verständnislose Gesicht geschaut und darin lesen können wie in einer Kinderfibel. „Ich bin sogar verpflichtet, die Papiere dem Kombinat direkt wieder zuzuleiten.“ Was Erwin Petter besonders böse gemacht hatte, war diese Verschwörermiene gewesen, dieses „Das willst du doch nicht wirklich tun. Ausgerechnet du …“ – „Ausgerechnet“ war genau die Formel gewesen, die nicht hätte kommen dürfen. Da kommt zuerst einer angekrochen, hilflos, bittend, und zuletzt versteigt er sich zu solchen Auslassungen, die nichts anderes sagen als: „Du bleib hübsch auf dem Teppich. Dich kennt man doch noch.“ Wie eine längst verbüßte und längst getilgte Strafe war das, die einem immer wieder vorgeworfen wurde. War es bisher nur Spielerei mit den Möglichkeiten gewesen, so wurde es Erwin Fetter jetzt Ernst. Er wollte nicht auf Kosten seiner Vergangenheit den Clown für die Niete Gillermann spielen. Dessen Kumpelei war billig und niveaulos. „Ich weiß nicht, wie und wen du aufs Kreuz legen willst“, hatte er gesagt, „jedenfalls versuchst du so etwas, und dort bin ich dabei. Es ist ebenso meine Sache 119
geworden wie deine.“ In diesem Augenblick erst hatte wohl Klaus Gillermann begriffen, daß sie nicht „Mensch ärgere dich nicht“ miteinander spielten und daß sein Ton gegenüber dem alten Kommilitonen unangebracht war. Aufgeregt hatte er eingelenkt und Bezahlung versprochen, natürlich sollte die Arbeit ihren Lohn finden. „Es kostet fünftausend“, war die kalte Erwiderung Erwin Petters gewesen. Er hatte Klaus Gillermanns weiße Nasenflügel gesehen und eine grimmige Genugtuung verspürt. Erwin Petter war ein Mann, der zurückschlagen konnte, wenn es drauf ankam. „Fünftausend?“ „Keinen Pfennig weniger. Du brütest ein goldenes Ei aus und willst mir vielleicht ein paar lumpige Zeichnerstunden bezahlen. Ich habe ein halbes Ei.“ „Ich habe keinen großen Gewinn daran.“ Darüber war sich Erwin Petter im klaren gewesen, daß Klaus Gillermann nicht zum Abschöpfen kam. Er wußte nicht, weshalb der Junge hintenrum in die Küche wollte, aber er kam durch diese Tür, vor der durch eine glückliche Fügung Erwin Petter stand. Der hatte die Tür ja erst aufgeschlossen. „Woher soll ich das Geld nehmen?“ „Ich kann natürlich auch schnurstracks zur Direktion gehen.“ „Wie lange habe ich Zeit?“ Die Erkenntnis hatte schnell Platz gegriffen bei Klaus Gillermann. Ein schöner Mensch braucht maßgeschneiderte Anzüge, um wirklich schön zu sein. Er muß zu einem guten Schneider gehen, und gute Schneider sind kostspielig. „Das kommt auf dich an. Du mußt wissen, wieviel Zeit du hast. Wahrscheinlich bist du erst zu mir gekommen, als sie den Sturmball schon gezogen hatten.“ 120
„Eine Woche?“ fragte Klaus Gillermann. Erwin Petter hatte mit den Achseln gezuckt. „Nächsten Mittwoch … nein, Donnerstag?“ An diesem Tage war Donnerstag. Klaus Gillermann saß an einem Tisch neben Arbeitern, die ihre Stühle dicht aneinandergerückt und dadurch den Ingenieur deutlich von sich isoliert hatten, so sah es jedenfalls aus, wenn man das Bild anschaute; Klaus Gillermann im direkten Licht des Leuchters an der Decke, mit eingefallenen Schultern und leidendem Gesicht. Eine mitleiderregende Gestalt. Erwin Petter setzte sich. „Hast du die Fleppen?“ „Was?“ „Die Fleppen, das ist so Jargon.“ Er wußte, das Klaus Gillermann kein Geld hatte, sah es an der ganzen Erscheinung seines Gegenübers. „Es ist sowieso aus. Wenn du zu Anschütz gehst, kannst du es tun. Sie haben mich in der Mangel, jetzt. Sie wollen was auf den Tisch, und ich kann dich nicht bezahlen.“ Erwin Petter dachte: Der Junge ist kirre. Er betrachtete sein Gegenüber und wußte, daß ein Multimillionär in Monte Carlo nicht höher verlieren konnte. Ihm fiel ein, daß er im Grunde genommen die Fahrkarte besaß und der große Gewinner sein konnte. Für die MAXIMA taten Interessenten mehr, als nur einen kleinen Fisch wie Erwin Petter durch die Schleuse zu ziehen. „In der Zeitung steht eine Geschichte, die ich mir gemerkt habe“, sagte er. „Ein Wilhelm Gillermann ist plötzlich verschwunden. Hört sich an wie der berühmte Onkel eines Kommilitonen von mir, der mir damals erzählt hat, daß diesem Onkel die Tausendmarkscheine nur so aus der Manschette fallen. Ist schon ein Dutzend Jahre her, aber ich erinnere mich noch gut dran.“ 121
„Du bist ein Lump“, stöhnte Klaus Gillermann. „Sicher weißt du das sogar. Weißt es seit zehn Jahren. Aber ich bin nicht der Erbe meines Onkels. Ich bin fertig, verstehst du. Geh doch hin zu Anschütz. Oder geh zu Doktor Schneider. Geh zum Kombinatsdirektor. Geh, wohin du willst. Ich habe gedacht, daß ich der Lump gewesen wäre.“ „Warum?“ fragte Erwin Petter friedlich. „Du hast da eine gute Nummer zu verlieren, aber warum soll ich dazu beitragen? Leute wie du verlieren ihre gute Nummer stets zur rechten Zeit, aber glaubst du, daß ich dabei gebraucht werde? Ich habe eine Arbeit getan, die du mir nicht abkaufen willst. Schön, verkaufe ich sie eben woanders. Es ist meine Arbeit.“ „Mit meinen Unterlagen.“ „Mit deinen Unterlagen? Wo steht das? Heißt du VEB Kombinat für Rechenelektronik? Die Unterlagen hat mir ein Wind ins Haus geweht.“ „Was willst du tun?“ „Woanders ist auch woanders, verstehst du.“ Klaus Gillermann nickte. Er rührte in seiner kalten Fleischbrühe und wußte, daß es nicht mehr um seinen Namen ging, um sein Ansehen. Jeden Tag hätte er zu Anschütz gehen können und seine Niederlage eingestehen. Jeden einzelnen Tag bis zu dem, wo er Petter aufgesucht hatte. „Hör zu“, sagte Petter. Er sprach wie zu einem störrischen Kind. „Du hast gedacht, wenn ein Ding so und so aussähe, nur so und so groß wäre und so und so arbeitete, hättest du schon den Stein der Weisen gefunden. Aber das sind Wunschvorstellungen. Jedes Kind hat solche Wunschvorstellungen und wartet auf den guten Onkel, der sie ihm erfüllt. Bloß die guten Onkels sind verschieden. 122
Onkel Petter verschenkt so viel nicht zu Weihnachten. Onkel Petter will vielleicht noch was draus machen.“ „Ich zeige dich an. Was du stiehlst, gehört dem Kombinat. Ohne das hättest du nichts ausgerichtet. Sie nehmen dich hopp.“ „Gewiß, eine Woche oder zwei. Dann werden sie nachdenken müssen, darüber, was sie mir anlasten. Was? Daß ein Klaus Gillermann Unterlagen, die er mir zur Aufbewahrung gegeben hat, stahl? Das müssen sie doch Klaus Gillermann anlasten, nicht mir. Er wollte von mir die Lösung einer schwierigen Aufgabe, und die konnte ich nicht lösen. Überhaupt, deine Unterlagen kannst du natürlich sofort wiederhaben.“ 4 An diesem Abend betrank sich Klaus Gillermann. Den nächsten Morgen erschien er verkatert im Konstruktionsbüro. Dieser Freitag war der letzte im alten Jahr. Nach dem Jahreswechsel würden sie alle wieder auftauchen. In einem Spiel hatte er zu hoch gesetzt und alles verloren. In seinem Hinterkopf fühlte er bohrenden Schmerz, den er, der des Trinkens Ungeübte, voller Furcht beobachtete. Wenn es doch Wunder gäbe, dachte er. Wenn doch Petter an seiner Falschheit erstickte! Es gab keine Wunder, und niemand starb an seinem miesen Charakter. Einen Moment hatte der Ingenieur die Vision, die Kriminalisten würden kommen und ihn in ihre Mitte nehmen. Ich habe das alles doch nur für die MAXIMA getan, dachte er. Für die MAXIMA würde er sogar zum Alten 123
gehen und sagen: Ja, ich habe das gemacht, aber nicht aus bösem Willen. Ich glaubte, er würde mir helfen. Was darauf folgte, würde er ertragen können. Mochten sie ihm seinen Egoismus vorwerfen, seine Unfähigkeit; ihn dorthin stecken, wohin er wirklich gehörte. Doch alles konnte nicht dazu beitragen, daß Petter seine Drohung, ließ. Und wenn er sie wahr machte, die Maschine aus dem Land brachte, würden sie anders mit ihm reden. Es war nicht aus bösem Willen, Kollege Gillermann? Du hast mit diesem Petter keine gemeinsame Sache gemacht? Das kann man fast nicht glauben. Und wenn man’s glauben will: Du hast gegen die Arbeitsmoral verstoßen, gegen die Betriebsordnung, gegen gesetzliche Bestimmungen. Du hast uns millionenfachen Schaden zugefügt. Jetzt konnte er nicht mehr zum Alten. Er mußte Petter hindern, seinen Plan auszuführen. Der Tag verstrich zäh. In der Mittagspause löffelte der Ingenieur lustlos einen Eintopf. Micha Siebert meinte, der wäre wahrscheinlich aus Bohremulsion und Frässpänen hergestellt. Sogar Dr. Schneider nickte melancholisch. Nach der Pause hielt ihn Dr. Schneider am Ärmel fest. „Du machst einen erbarmungswürdigen Eindruck“, sagte er. „Vielleicht hättest du auch ein paar Tage ausspannen sollen, jetzt, wo alles vorbei ist.“ Zorn quoll in Klaus Gillermann hoch. Diese Heuchelei, dachte er, das verdammte falsche Mitleid. „Kümmer dich um deinen eigenen Kram“, brach es aus ihm heraus. „Laß mich in Ruhe!“ Er wollte sich losmachen, aber Dr. Schneiders Finger hatten sich im Ärmel verkrallt und gaben ihn nicht frei. „Moment noch“, sagte er ruhig. „Du bist dir selbst gram, und das geht schon eine ganze Weile so. Ich glaube 124
aber nicht, daß das eine Privatsache ist. Es erinnert mich an etwas, das mir selbst passiert ist. Du versteckst dich vor mir, du versteckst dich vor Anschütz. Wenn dich jemand besucht, gerätst du fast in Verzweiflung. Warum ist das so?“ „Geht dich gar nichts an.“ Dr. Schneider lächelte. „Möglich. Ist jedoch denkbar, daß du meine Hilfe nötig hast. Oder irgendeine Hilfe.“ „Du sollst mich in Ruhe lasen!“ „Wie du willst.“ Dr. Schneider ließ ihn los, aber er wich nicht von Klaus’ Seite. „Früher wollte ich auch mal einer von den Draufgängern deines Schlages sein. Die andern? Die konnten mich mal. Und dann hatten sie mich doch beim Wickel. Ich bin tief gefallen, kannst du mir glauben. War auch nicht anders möglich, denn ich bin mit ihnen umgesprungen wie ein rechter Narr. Glaubte, daß sie alle Dummköpfe wären.“ „Ich will keine Beichte von dir hören.“ „Ich will auch gar nicht beichten“, sagte Dr. Schneider. „Du sollst nur nicht die gleichen Fehler machen wie ich und jeden für dumm verkaufen. Anschütz hat mit mir gesprochen. Dein Zustand fällt nachgerade allen auf, sogar Anschütz, der sonst überhaupt nichts bemerkt. Er meint, daß es mit der Maschine zusammenhängt. Grob gesagt: Ich soll mich darum kümmern.“ „Dieser gemeine Kerl!“ „Werd nicht gleich wild. Ist es dir lieber, wenn du dich bei der Übergabe blamierst?“ „Ich blamiere mich nicht.“ „Na wunderbar. Doch geht es nicht so sehr um dich, sondern um die MAXIMA. Du siehst nicht so aus, als ob du dich auf den Termin freust. Also, was ist damit? Anschütz wollte so etwas wie ein öffentliches Verhör im 125
Kollektiv veranstalten. Das halte ich für falsch. Doch reden mußt du. Es bleibt bei Anschütz und mir. Wir wollen dich nicht bloßstellen.“ Klaus schwindelte vor Schwäche und Scham. Sie hatten nicht nur ein Recht darauf, sondern sogar die Pflicht, ein Auge auf seine Konstruktion zu werfen, wenigstens ein Auge. Was er ihnen vorwarf, löste sich plötzlich auf. Es war, als wenn Nebel zerflatterte. Wie lange sollten sie denn warten? Zusehen, wie ein verklemmter Eigenbrötler einen kleinen Fehler mit dem nächsten, größeren vertuschen wollte? Diese zerflatternden Nebel wurden blutigrot, und er taumelte. Das war nicht nur der Alkohol vom vergangenen Abend. Aufgeben, dachte er, aufgeben. Jetzt, sofort, wo sie ihm die größte Blamage ersparen wollten: das Eingeständnis seiner Unvollkommenheit vor allen Blicken. Dr. Schneider griff nach ihm. „Bist du krank?“ Klaus schüttelte den Kopf. Sie gingen in den Zeichensaal. „Sie taugt nichts“, sagte er und wies auf das Modell. „Die Quote der Übermittlungsfehler ist zu groß. Die MAXIMA ist anfällig für Störimpulse. Die sind stärker als die Signalimpulse.“ „Und das muß so bleiben?“ fragte Dr. Schneider zweifelnd. Er nahm die Schaltzeichnungen und betrachtete sie nachdenklich. Dann setzte er sich und begann zu rechnen. Er war unbefangen und sicher, so unbefangen und sicher wie Erwin Petter gewesen war, als Klaus Gillermann ihm die Unterlagen übergeben hatte. Petter hatte das Problem gelöst und war im Besitze aller Zeichnungen. Mit Sicherheit würde auch Dr. Schneider das Problem lösen. Aber er würde Klaus Gillermann nicht erpressen. Das war der Unterschied. 126
5 Ahnert rief aus Trebendorf an. Er bekam einen Wachtmeister aus dem Kreisamt an die Strippe, der pedantisch die Nachricht wörtlich aufschrieb. „Bis weit in die Dunkelheit hinein, frühestens bis neunzehn Uhr, parkte ein kackbrauner Trabant auf dem Bahnhofsvorplatz“, wiederholte der Wachtmeister. „Die Nummer konnte nicht festgestellt werden, doch handelt es sich um ein Fahrzeug vom Typ 601 mit einem OA-Kennzeichen. Daneben stand ein Wartburg Nummer OE 01-11, der eben wegen dieser Nummer auffiel. Stellt mal fest, wem die Fahrzeuge gehören. – Ist das richtig so?“ „Im Prinzip, ja“, röhrte Ahnert zurück. „Statt kackbraun könntest du vielleicht curryfarben weitergeben. An die Genossen Fester oder Haug, wenn’s recht ist.“ „Sie haben aber kackbraun gesagt“, antwortete der Wachtmeister in der Telefonzentrale. „Schon gut, aber ungenau, weil … Ach, melde curryfarben, und dann stimmt es.“ Als Fester am späten Nachmittag in sein Dienstzimmer kam, betrachtete er lächelnd den Zettel, auf den der Wachtmeister akkurat alle Worte des Abschnittsbevollmächtigten Ahnert protokolliert hatte. Darunter war vermerkt, daß der Wagen OE 01-11 als Fahrzeug des VEB Rechenkombinat registriert war. In der Akte Gillermann las er einen handschriftlichen Vermerk Peter Haugs, daß Klaus Gillermann mit einem Wartburg seines Betriebes in Trebendorf gewesen, doch schon kurz nach siebzehn Uhr wieder in der Stadt, in der Mitropa, gegessen hätte. Er rief Haug in der Wohnung an. „Was tust du gerade?“ „Ich lese eine Doktorarbeit. Abgezogen, gebunden und nur für den internen Dienstgebrauch bestimmt. Sie 127
untersucht Mord- oder Totschlagfälle, die in den letzten zehn Jahren in der DDR auftraten.“ „Und weshalb tust du das?“ „Weiß selbst nicht genau, Krimistoff ist nicht dabei. Werde wohl doch weiter Gedichte schreiben. Mir scheint, alle die in der DDR morden, sind selber schuld und himmelschreiend dämlich.“ „Bleib bei deinen Gedichten, und vergiß die Liebe nicht. Außerdienstlich.“ „Und im Dienst?“ „Rechne mit allem. Mit intelligenten Mördern und mit Lügnern. Es scheint, der junge Gillermann hat dich mal wieder aufs Eis geführt.“ „Ach“, sagte Haug. „Ein Wagen vom Kombinat parkte vor dem Trebendorfer Bahnhof, während Klaus Gillermann hier am Bahnhof in der Mitropa zu Abend speiste. Übrigens, welche Farbe hat Blissners Trabant?“ „Weiß nicht.“ „Blissner war Freitag in Erfurt. Sagte er jedenfalls. Hast du schon mal einen curryfarbenen Trabant gesehen?“ „Curryfarben?“ „Curryfarben oder kackbraun, wie du willst. Gemeint ist wahrscheinlich so eine Farbe, wie sie Polski Fiat und Škoda neuerdings haben. Und ein so gespritzter Wagen stand neulich vor Blissners Haustür.“ Eine Weile rauschte Schweigen im Telefonhörer. Dann schnaufte Haug und sagte: „Ich bin in zehn Minuten im Amt. Oder in dreizehn. Vielleicht hatte ich ein Brett vorm Kopf, eine dicke Bohle. Aber wenn du so redest, fällt das ab. Dann merke ich plötzlich was. Tatsächlich.“ 128
„Wie war das mit dem Merken?“ setzte Hauptmann Fester übergangslos das Gespräch fort, als Haug ins Büro trat. „Zuerst ein flüchtiger Gedanke, nicht zu Ende gedacht, und eine Reihe Beobachtungen. Wilhelm Gillermann, der in seiner Jugend aus dem Kaiserreich über die Republik ins Tausendjährige gestolpert ist, hatte mindestens einen reichen Schatz seiner Erfahrungen. Wenn wir ihm unterstellen, daß sein Geist nicht sehr rege war, seine Bücher beweisen das Gegenteil, bleiben diese Erfahrungen und die Schlußfolgerungen daraus. Ich hatte als Kind mal ein Meerschweinchen …“ „Peter, bitte …“ „Ich weiß, es klingt albern. Das Meerschweinchen war ein dummes Tier, lebte von seinen Instinkten – und von seinen Erfahrungen. Unbedingte und bedingte Reflexe. Es lebte in seiner kleinen Wirklichkeit, wie jedes andere Lebewesen darin lebt. Auch Wilhelm Gillermann. Mir fiel auf, daß keiner, wenn er von Gillermann sprach, dem Einfachsten gerecht wurde. Gillermanns Bild ist überall subjektiv verfärbt. Gillermann ist verschwunden, mit ihm eine ansehnliche Summe Geldes. Wenn ein Verbrechen vorliegt, und wir gehen von der Version aus, daß einer von vier – die Blissners, Falkenbüttel oder der junge Gillermann – in dieses Verbrechen verwickelt ist, müssen wir folgern, daß einer von ihnen, der Beteiligte nämlich, die subjektive Verfärbung bewußt übertreibt.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Möglich. Ich bin kein Philosoph. Irgendwann schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß ich, sollte ich eine Aussage machen müssen über einen mir fremden 129
Mitmenschen, meine Erfahrungswelt, meine Grundsätze als Ausgangspunkt nähme. Ich urteile in gewissem Umfang ohne Kenntnis der Dinge. Mein Ausgangspunkt ist der Ausgangspunkt meines Lebens und Daseins. Löge ich aber plötzlich, müßte ich diesen Ausgangspunkt ändern. Hätte ich Gillermann erschlagen und beraubt, müßte ich von Gillermann ausgehen.“ „Konfus, aber nachdenkenswert: Wer lügt, kommt mit seinem eigenen Ich in Konflikt. Er versucht sozusagen, ein objektives Bild zu schaffen, ein Bild, das sachlich zwar nicht stimmen kann, doch diesen Eindruck hervorrufen soll. Es könnte objektiv stimmen, daß Klaus Gillermann in der Bahnhofsgaststätte zu Abend gegessen hat. Das Gegenteil ließe sich kaum schlüssig beweisen. Tatsächlich sind wir jedoch in der Lage nachzuweisen, daß ein Wagen des Rechenkombinates am Trebendorfer Bahnhof parkte. Vermutlich sogar derselbe, den Klaus Gillermann benutzte, als er zum Relaiswerk fuhr. Ist er ohne das Fahrzeug zurückgekehrt und hat es erst später aus Trebendorf abgeholt? Welch ein Grund könnte dafür vorliegen? Oder gibt es in der Gillermannschen Darstellung zwei Stunden, über die er nicht gesprochen hat? War er in dieser Zeit bei seinem Onkel?“ „Frage eins: Was ist an der Aussage Klaus Gillermanns subjektiv richtig, also ehrlich gemeint?“ „Klaus Gillermann ist neunzehnhundertsechsunddreißig geboren und wuchs als Waise bei Pflegeeltern auf. Er lernte seinen Onkel erst mit elf Jahren kennen, vorher hatte er keine Beziehungen zu ihm. Es konnten nicht viele verwandtschaftliche Verbindungen bestehen. Klaus absolvierte einen geraden Weg über Schulen und Hochschulen in das Entwicklungslabor des Rechenkombinats. Objektiv richtig also: Der Lebensweg seines Onkels 130
mußte Klaus Gillermann als absonderlich erscheinen oder als romanhaft.“ „Konnte er von Friedrich Kampa wissen?“ „Er braucht davon nicht zu wissen. Er geht so sehr in seiner Arbeit auf, daß es ihn nicht interessiert.“ „Ist Gillermann ein erfolgreicher Ingenieur?“ „Ja und nein. Er beherrscht sein Fach. Die Maschine, die er bauen will, soll eine kleine, robuste, hocheffektive und dabei billige Maschine werden. Sie ist noch nicht fertig, aber ihre Konzeption allein ist schon ein Erfolg. Um bei dieser Gelegenheit Blissners Urteil einzufügen: Klaus Gillermann ist ein Sonderling, ein Fachidiot, wie wir sagen. Er konzentriert sich so sehr auf seine Arbeit, daß für nichts anderes mehr Zeit bleibt.“ „Wenn er also lügt oder etwas verschweigt, hat das etwas mit seiner Arbeit zu tun?“ „Das nehme ich an. Er steht unter zeitlichem Druck. Er kann vorgegebene Termine nicht erfüllen, das drückt ihn zusätzlich. Vielleicht sollten wir uns das Kollektiv anschauen, mit dem er arbeitet, die psychologischen Bedingungen, das Betriebsklima. Meist leiden große Objekte unter einem notwendigen, aber hinderlichen Zwang zur Disziplin. Grund genug, zu lügen oder zu verschleiern. Vielleicht sind wir ein Teil jener subjektiven Barriere, die ihn aufhält?“ „Subjektiv handelt Gillermann also offenbar echt. Jedenfalls, was seinen Onkel betrifft. Und alles andere ist im Moment nicht unsere Angelegenheit. Wie sieht das bei den Blissners aus?“ „Da bin ich mit den Fragen an der Reihe, weil du sie besser beantworten kannst. Inge Blissner haßt also Wilhelm Gillermann. Warum?“ 131
Haug sagte nachdenklich: „Es ist kein Haß gegenüber Wilhelm Gillermann, es ist eine lang währende Trauer. Wäre Inge Blissner nicht verheiratet, würde ich sagen, sie hat vor fünf Jahren den einzigen Menschen verloren, den sie besaß.“ „Ist ihre Ehe unglücklich?“ „Das Verhältnis der Blissners zueinander ist mindestens etwas unterkühlt.“ „Ihr Mann …?“ „… ist ein etwas lascher Typ, der die Leutseligkeit eines Tyrannen zur Schau stellt. Sicherlich ist er ein Tyrann im Rahmen seiner Möglichkeiten.“ „Ein tyrannischer Verwalter von Mietshäusern, vielleicht ein tyrannischer Abgeordneter des Kreistages, ein tyrannischer Ehemann.“ „Wie gesagt, im Rahmen seiner Möglichkeiten, wohl kein Tyrann als Abgeordneter, weil er weiß, daß jede Legislaturperiode seine letzte sein kann. Kein Tyrann in seiner Verwaltung. Wer Menschen leiten will, braucht das Vertrauen derer, die ihn zu einem solchen Leiter machen wollen. Blissner peilt einen Posten als Betriebsteilleiter an. Er ist mit Sicherheit ohne Skrupel, wenn es gilt, eine exponierte Stellung in der Gesellschaft zu erringen.“ „Statussymbol Birkhalder Straße?“ „Genau. Was Falkenbüttel über ihn sagte, nehme ich ihm hundertprozentig ab. In der Trebendorfer Siedlung, in der Nachbarschaft des Theaterintendanten und des halbstaatlichen Fabrikanten hat er alles, was ihm zur äußerlichen Darstellung seiner Person noch fehlt. Dafür setzt er was ein. Roseneck zum Beispiel.“ „Gillermann ist nicht im Roseneck.“ „Er wollte dort nicht hin, aber Blissner will nach Trebendorf. Unter diesem Aspekt betrachtet, haben wir bei 132
ihm das, was wir suchen: Blissner hat bestimmt seine Aussagen uns gegenüber manipuliert.“ „Er besitzt einen Trabant, und es dürfte interessant sein, ob dieses Wägelchen die so exakt formulierte Farbe hat. Bei Trabants dürfte solch ein Braun selten sein, es verkleinert die Wagen optisch. Trotzdem sollten wir zuerst unseren Faden weiterspinnen. Ich glaube nicht, daß Blissner auch scharf auf die Tausende Gillermanns ist. Sie zu stehlen wäre eine unverzeihliche Dummheit von ihm. Noch dümmer wäre für einen Mann von seiner Intelligenz, sein Ziel mit einem Kapitalverbrechen erreichen zu suchen.“ „Ein Aspekt unter möglichen. Der letzte unserer Bekannten ist Hans Falkenbüttel. Als ich über den Teufelssteig ging, kam ich zu seinem Grundstück in Birkhalde. Er war dort, wir unterhielten uns. Ein widersprüchlicher Mensch.“ „Begründung?“ „Ein ängstlicher Mann, der offensichtlich unter unserem Fall leidet. Nun könnte man sagen, es ist das Verschwinden seines Freundes. Trotzdem steckt noch anderes dahinter. Er weiß sehr viel. Von den Leuten um Wilhelm Gillermann kennt er ihn am besten. Bestimmt auch die Entstehungsgeschichte der Bücher von Friedrich Kampa und die Geburt dieses Pseudonyms. Ich habe den Eindruck, daß Falkenbüttel für uns am wichtigsten ist. Er neigt übrigens dazu, nicht mehr zu sagen, als er gefragt wird, und selbst diese Auskünfte sorgfältig abzuwägen. Mitunter gerät er ins Plaudern, geht aus sich heraus, bis ihm plötzlich einzufallen scheint, mit wem er spricht. Dann verschließt er sich wieder. Bestimmt wußte er, wieviel Geld Gillermann besaß und wo der Alte es aufbewahrte, kannte dessen Verhältnis zu Klaus und den 133
Blissners. In unserer Version Subjekt und Objekt ergibt sich, daß er uns schon eine Menge nicht anfechtbarer Tatsachen geliefert hat und seine subjektive Darstellung echt scheint.“ „Der Zeuge Nummer eins“, sagte Hauptmann Fester. „Beinahe schon ein Kronzeuge“, bestätigte Haug. „Er ist der einzige, der von der wirklichen Existenz eines Friedrich Kampa weiß. Friedrich Kampa war ein Weggenosse Wilhelm Gillermanns aus den Emigrationsjahren. Ein Verschollener.“ „Der zweifellos noch am Leben sein könnte. Ich habe die Bücher gelesen. Wer darin könnte es gewesen sein? Das ist wichtig, damit wir etwas über das Verhältnis dieser beiden Kampas erfahren. Denk dir den Fall, Kampa ist auch nach Deutschland zurückgekehrt. Er erfährt von einem Schriftsteller, der seinen Namen trägt, und liest die Bücher. Er erkennt einiges wieder, vielleicht sogar sich selbst, und er weiß, wer der Verfasser gewesen sein muß. Manche reagieren sauer auf so etwas. Friedrich Kampa sucht Gillermann und findet ihn. Friedrich Kampa war Gillermanns geheimnisvoller Besucher.“ „Ein Westdeutscher?“ „Vielleicht. Oder ein Österreicher, Amerikaner, DDRBürger.“ „Was geschah darauf?“ Flori Fester schüttelte den Kopf. „Eine Skala von Möglichkeiten liegt vor uns. Ein Mann besucht seinen alten Freund. Ein Gegner fällt über seinen Feind her, ganz ohne Spektakel, versteht sich. Ein Beleidigter fordert Genugtuung für seinen mißbrauchten Namen. Wer kann schon sagen, was ein anderer empfindet, wenn er erfährt, daß er plötzlich eine Fiktion geworden ist?“ 134
„Das kommt nahe an einen Gruselkrimi. Es gibt eine Auseinandersetzung zwischen Kampa und Kampa. Sie beschimpfen sich, bedrohen sich gegenseitig. Kampa, der Gast, ist kräftiger und gesünder und treibt den anderen aus seinem Hause. Kampa, der Hausherr, flieht über den Böhlerberg. Zu Falkenbüttel. Er langt aber dort nicht an, ist verschwunden. Der andere Kampa findet das Geld, stiehlt es und verschwindet unbemerkt. In diesem Falle ist sogar eine Fahndung fragwürdig. Interpol sucht Friedrich Kampa, aber trägt dieser Friedrich Kampa seinen Namen denn noch? Vielleicht heißt er Müller oder Miller, Braun oder Brown. Und so weiter.“ „Das Studium einer obskuren Doktorarbeit hat dich schockiert. Warum sollte dieser Mann einen falschen Namen tragen? Übrigens ist es nicht gerade schwer, herauszufinden, ob Friedrich Kampa der Mann ist, den wir suchen. Denn er mußte seinerseits Wilhelm Gillermann suchen, und das konnte er eigentlich nur über den Verlag tun. Außerdem erscheinen mir Kombinationen in dieser Richtung ziemlich vage. Ich neige dazu, daß irgend jemand dem Alten einen Schreck versetzt hat, und er hat sich hastig, beinahe besinnungslos auf den Weg gemacht. Sicherlich nach Birkhalde, über den Teufelssteig. Das Geld! Alte Leute verstecken ihre Ersparnisse, Gillermann hatte viele Ersparnisse; er hat sie besonders gut versteckt.“ „Und meine prächtigen Gedankenflüge sind Hirngespinste.“ „Subjektive und objektive Aussagen? Weshalb? Da liegt im Gegenteil sehr viel drin. Wer erschreckte den Alten, und wie tat er es? Gillermann war ein alter Knorren, wohl nicht mit irgendwelchen Buhmännern zu erschrecken. Auch nicht mit Roseneck. Da sollte schon 135
Handfesteres im Spiele sein. Es scheint festzustehen, daß uns Klaus Gillermann belogen hat. Er war nicht um siebzehn Uhr aus Trebendorf zurück. Er muß einen Grund für seine fortlaufenden Lügen haben. Die Maschine interessiert uns nicht, das müßte er wissen. Er belügt uns, weil die Wahrheit uns interessieren könnte. Und der curryfarbene Trabant? Stell fest, wie viele von dieser Farbe im Bezirk angemeldet sind. Ob einer von denen Blissner gehört. Vielleicht war Blissner gar nicht in Erfurt letzten Freitag? Vielleicht war er in Trebendorf. Oder seine Frau war dort. Hypothesen alles, aber auch Hypothesen nützen uns.“ Fester seufzte. Dann fuhr er fort: „Ich finde deine Theorie faszinierend; objektive Verfälschung von Tatsachen führt uns vom subjektiven Ausgangspunkt des Fälschers weg. Aber diese Feststellung ist nicht absolut, sie birgt Fehlerquellen, weil eine subjektive Haltung manchmal zur objektiven wird. Ich will sagen, die falsche objektive Aussage kann von einer falschen oder verfälschten subjektiven Haltung herrühren. Habe ich dir schon mal erzählt, wie ich zu meinem Namen Florian gekommen bin?“ „Nein“, antwortete Haug. „Das wäre ein gutes Beispiel. Nach dem Krieg erwischten mich die Amis und steckten mich in ein oberbayrisches Gefangenenlager. Ich war achtzehn Jahre damals. Gefreiter. Sie legten eine Karteikarte für mich an, und so eine picklige junge Dame mit Brille und Khakiuniform fragte mich nach meinem Namen. Ich hieß Paul Florian Fester, Rufname Paul. Stell dir vor, Paul. Ich änderte das bedenkenlos, indem ich mich Florian Fester nannte. Kein Paul mehr. Nun ist Florian nicht gerade ein Muster von Vorname, aber Paul mag ich heute noch 136
nicht. Und Florian ging ein in alle Papiere. Übrigens war der einzige Mensch, der das je merkte, eine andere junge Dame. Meine Frau. Die fand Paul besser. Vielleicht hätte ich mich ihr zuliebe in Paul zurückverwandelt. Ich bin ein Kriminalist, der seinen Namen gefälscht hat. Das Zurückverwandeln hätte zu viele Fragen gekostet. Ja, so bin ich also Florian Fester aus Überzeugung, obwohl das tatsächlich oder ursächlich falsch ist.“ Haug grinste. „Paulchen statt Flori stell ich mir schön vor. Bei deiner Statur. Überhaupt meine ich, als Flori solltest du rote Haare haben. Ich weiß auch nicht, warum.“
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VI. KAPITEL 1 Das Büro lag in einer langgestreckten Baracke, durch die sich ein breiter, kühler, dunkler Gang zog, von dem rechts und links eine Unmenge Türen abgingen. Bei der Beleuchtung konnte man knapp die Hand vor Augen sehen, und Leutnant Haug mußte dicht an jede Tür treten, um die schreibmaschinegetippten Schildchen mit den Namen lesen zu können, die daran befestigt waren. Ein wundervoller Schuppen, dachte er entsetzt, aber irgendwann fand er die richtige Tür und klopfte an. Es war Blissners Vorzimmer, in dem es nach viel Arbeit aussah, obwohl kein Mensch darin war. Rechts befand sich eine weitere Tür, und Haug klopfte noch einmal. Er wurde hereingerufen. Kurt Blissner saß hinter dem Schreibtisch und las eine Zeitung. Er trug eine Brille, die aber in die Stirn gedrückt war. Er erkannte Haug und zog die Brille verwundert auf die Nase. „Sie?“ fragte er erstaunt und zweifelnd. „Bringen Sie Angenehmes oder Unangenehmes?“ Ohne sich zu erheben, bot er ihm einen Stuhl an, der vor dem Schreibtisch stand. „Unangenehmes“, sagte Haug und setzte sich. Blissner nahm seine Brille von der Nase und rieb sich die Augen, setzte die Brille wieder auf. Diese Brille schien ein willkommenes Requisit zu sein, um Spannungspausen zu überbrücken. „Also, was gibt es Unangenehmes?“ „Vor einer halben Stunde habe ich festgestellt, daß Sie einen curryfarbenen Trabant besitzen. In diesem Bezirk 138
gibt es davon nur zwei, und einer stand letzten Freitag vor dem Trebendorfer Bahnhof.“ „Und das nennen Sie unangenehm?“ Blissner wirkte sehr ruhig, alles an ihm war scheinbar Überlegenheit. „Ja. Sie geben an, am letzten Freitag in Erfurt gewesen zu sein. Demnach war der Wagen in Trebendorf jener zweite, der in Großbreitenbach angemeldet ist. Bloß trägt dieser Trabant die Buchstaben-Kennzeichen OI, das ist das Unangenehme.“ Blissner lächelte freundlich. Dann schüttelte er den Kopf. „Falls es Sie interessiert, es war tatsächlich mein Wagen, der Freitag vor dem Trebendorfer Bahnhof stand. Ich hatte Gründe, in Gegenwart meiner Frau davon nichts zu sagen. Entschuldigen Sie das bitte.“ „Sie hätten sich später berichtigen können. Auf dem Kreisamt zum Beispiel. Warum haben Sie das nicht getan?“ „Ich hätte es tun können. Doch hätte es Ihnen genutzt? Ich denke doch nein, denn ich wäre nicht bereit gewesen, Ihnen zu erklären, weshalb er dort stand und nicht irgendwo in Erfurt. Bei Ihren Recherchen hätten Sie sich an meiner Person aufgehalten, obwohl das Ihrem Ziel ganz und gar abträglich gewesen wäre. Deshalb sagte ich Ihnen, daß ich Herrn Gillermann an diesem Tag weder gesehen noch gesprochen habe und nicht weiß, wo er war oder ist. Ich kann Ihnen heute nichts anderes sagen, so leid es mir auch tut.“ Peter Haug betrachtete diesen Mann verwundert. In seinen vier Wänden, in seinem Büro, war Kurt Blissner tatsächlich ein Souverän; ein Souverän, der mit kühlem Intellekt regierte, ohne andere Mittel nötig zu haben. Seine Worte wirkten wie Grenzpfähle, die sein Terrain absteckten. Das hier war eine Kraftprobe, eine Herausforderung. 139
„Sie werden mir trotzdem eine Erklärung darüber geben müssen.“ „Meinen Sie, ich wüßte das nicht. Ich verweigere die Aussage, wo ich am zweiundzwanzigsten Dezember gewesen bin.“ „Das setzt Sie in ein schlechtes Licht.“ „Kaum.“ Blissner stand auf und stellte sich vor den Leutnant. Der erhob sich ebenfalls. „Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte kennen, in der ein Kriminalkommissar von seinem Dienst suspendiert wurde, weil er gegen einen Minister ein Ermittlungsverfahren eröffnete. Nämlich, so etwas tut man nicht; es gibt Dinge, die sich nicht gehören, weil sie der Staatsräson zuwiderlaufen. Die sind buchstäblich nicht faßbar, doch es gibt sie eben.“ „Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Herr Blissner. Die Geschichte ist doch niemals bei uns passiert. Hinter so etwas wollen Sie sich verschanzen? Zudem sind Sie kein Minister.“ Blissner nickte. „Ich bin kein Minister und Sie kein Kriminalkommissar, das stimmt, jedoch ich bin gewählter Vertreter dieses Kreises. Sie haben einen Fall aufzuklären, mit dem ich absolut nichts zu tun habe. Klären Sie ihn, und Sie werden den Beweis dafür finden.“ „Das ist es eben. Ganz egal, als was Sie sich fühlen oder was Sie tatsächlich sind, Sie werden mir darüber Auskunft geben müssen, mir sagen, was Sie einen Tag vor Heiligabend in Trebendorf getan haben. Beziehungsweise: Wie kam Ihr Wagen dort auf den Parkplatz?“ „Das glaube ich nicht“, sagte Blissner kühl. „Ich habe Herrn Gillermann nicht gesehen, das ist meine Aussage. Damit werden Sie sich begnügen müssen.“ 140
Tief atmen, dachte Haug. Ganz tief durchatmen und bis zehn zählen. Am liebsten möchte ich ihm in die Fresse hauen, aber ich tue es nicht. Egal, was er hinter seiner Großkotzigkeit verbergen will, ich kriege es heraus. „Wie Sie wollen“, sagte er ruhig. „Aber Sie setzen sich in ein sehr merkwürdiges Licht.“ „Ihre Ansicht“, erwiderte Blissner. „Ich habe wie jeder Mensch ein Privatleben. Das ist mein Privatleben, verstehen Sie.“ Er sah auf die Uhr. „Ich habe seit einigen Minuten Feierabend. Sie verstehen bitte, wenn ich Sie jetzt verabschiede. Auf Wiedersehen.“ „Darauf können Sie sich verlassen, wir sehen uns sehr bald wieder.“ Haug drehte sich auf dem Absatz herum und ging. 2 Nachdenklich schaute Blissner auf die Tür, die der Leutnant hinter sich zugeschmettert hatte. Kurz darauf öffnete sie sich erneut, und seine Sekretärin sah herein. „Na, der war aber arg“, sagte sie. „Ja, der war böse.“ „Was war denn das für einer?“ „Ein Kriminalleutnant“, sagte er. Sie bekam runde Augen und verabschiedete sich eilig. Ein derartig aufgebrachter Kriminaler, das flößte ihr Furcht ein, die ihre Neugierde noch überwog. Diese jungen Dachse, dachte Blissner, bilden sich wer weiß was ein. Ein Kriminalleutnant, da denken sie, jeder kuscht gleich. Als ob das Leben ein Kriminalfilm wäre. Er zog sich an und verließ die Baracke. Feierabend, dachte er, und nichts weiter zu tun, als nach Hause zu 141
gehen und das verdrossene Gesicht der Frau zu sehen. Verdrossen, jawohl, aber nicht mehr voll von dieser weinerlichen Gekränktheit. An deren Stelle war eine gewisse Entschlossenheit getreten. Sie hatte etwas vor. Doch was wollte sie tun? Zur Polizei gehen und ihn wegen einer falschen Aussage denunzieren konnte sie nun nicht mehr. Den Wind hatte er ihr aus den Segeln genommen. Oder eigentlich die Polizei selbst. Weshalb kam dieser kleine Leutnant eigentlich wirklich? Klar, wegen des Wagens in Trebendorf. Logisch, daß sie kurz über lang diesen auffälligen Trabant, der nun mal seiner war, spitzkriegen würden. Das andere käme sicher auch noch heraus. Also reinen Tisch. Zu Hause, in der Verwaltung, in der Partei. Er würde sich durchsetzen, das wußte er, wenn es auch Schwierigkeiten machte. Der Alte war also wirklich tot. Eine Woche war er verschwunden, es gab noch keine Spur von ihm. Falkenbüttel hatte es gleich gewußt, dieser gefährliche Bursche mit dem provokanten Geschwätz. Der besaß seinen Brief. Mochte er. Wenn schon reinen Tisch, dann überall. Gewiß, Leute, ich wollte Wilhelm Gillermann nach Roseneck bringen. Auch mit Gewalt, ja, aber mit sanfter Gewalt. Der Staat richtet nicht diese Heime ein, damit alte Leute trotzdem in ihrer Einsiedelei vor die Hunde gehen. Unsere sozialistische Gesellschaft hat es sich zur Pflicht gemacht, für Alte und Kranke zu sorgen. Mit Einrichtungen wie Roseneck. Wer sollte sich denn um den Alten kümmern? Der hat doch jeden rausgeschmissen. Das Grundstück? Ich hätte es ihm abgekauft. Hört ihr: abgekauft! Ich will dorthin, es gefällt mir da. Zu Hause auf dem Tisch lag ein Zettel, den Inge geschrieben hatte. Sie würde Silvester bei einer ehemaligen Freundin feiern. In Erfurt. Erfurt war unterstrichen und ließ 142
die Lesart zu, daß sie ebenfalls … In den drei Tagen werde sie nachdenken, ob sie zu ihm zurückkäme, er solle ebenfalls überlegen, ob es in der Art weitergehen könne. Gruß I. Gruß I. Du bist dümmer, als ich dachte, I. Du verläßt mich in dem Moment, in dem ich dich verlassen wollte. Du gibst mir selbst die Waffe in die Hand. Er legte sich lang und grübelte. Er durchdachte Varianten. Dieses Tabula rasa war zu früh gekommen. Der Leutnant war zu früh gekommen. Zwischen fünf und Viertel sieben hatte sich alles gründlich gewandelt. Ihm war so, als hätte er einen folgenschweren Fehler gemacht. 3 Wer das genießen kann: einen freien Vormittag, wenn man die ganze. Woche gearbeitet hat. Dr. Schneider war es gewohnt, aus dem Bett zu steigen, sobald er wach wurde. Das Noch-mal-im-Bett-Umdrehen war ihm zuwider, er brachte es nicht über sich, in einem zerwühlten Bett zu liegen, in einem Zimmer, das nach Nacht roch. Er war einer von wenigen heldenhaften Menschen, die frühmorgens aufstanden, sich bei jeder Außentemperatur kalt duschten oder wuschen und eine ausgeklügelte Kür sportlicher Übungen vor dem offenen Fenster absolvierten. Danach verstand er es, lange und ausgiebig zu frühstücken. Von allen Genüssen kostete er in kontrollierten Mengen, damit sie auch Genüsse blieben. Um neun Uhr saß er in seinem bequemsten Sessel und las die sieben Tageszeitungen, auf die er abonniert war. Zehn Minuten nach neun Uhr läutete es an der Haustür. Unruhig erhob sich Dr. Schneider. Seine Freunde 143
wußten, daß er erst nach zehn Uhr dreißig bereit war, Besuche zu empfangen. Während er den Türöffner summen ließ, dachte er: Wenn es nicht ein Telegrammbote ist, kommt ein anderer und bringt eine unangenehme Nachricht. Doch wenn das Werk brannte oder explodiert war, hätte er es bemerkt. Von seinem Fenster konnte man direkt darauf hinuntersehen. Der Mensch, der jetzt kam, brachte persönliche Ungelegenheiten. Entweder für sich selbst oder für ihn. Er wartete ungeduldig und lauschte auf die hallenden Schritte im Treppenhaus. 4 Der Besucher war Klaus Gillermann. Dr. Schneider musterte seinen Kollegen vorerst schweigend, betrachtete sein wirres Haar, von dem Schneewasser über die Stirn herablief. Klaus Gillermann wischte schwach mit dem Ärmel übers Gesicht. Das Schneewasser rann weiter, an den Augenwinkeln vorbei, über die Wangen. Es sah aus, als weinte der Mann. „Störe ich?“ fragte er schüchtern. In seinen Augen lag die Bitte, nicht zu stören. Dr. Schneider liebte keine Höflichkeiten, die der Anfang zu einer Lüge waren. Natürlich störte Klaus Gillermann, aber es war nicht der Moment, darüber zu diskutieren. Der Besucher brauchte ihn. Dr. Schneider hieß ihn abzulegen und fragte, ob er schon gefrühstückt habe. Klaus Gillermann schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Hunger. Darf ich rauchen?“ Er rauchte eine Weile schweigend, und Dr. Schneider ließ ihm Zeit, sich zu präparieren. Jemand kam nicht in 144
der Frühe an einem Feiertag, um zu sitzen, zu rauchen und zu schweigen. Wenn es jedoch wichtig war, kam es auf den schwierigen Anfang an. Klaus Gillermann sah schlecht aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Was mochte er für Gründe haben? Natürlich die MAXIMA, aber gerade das war es, was Dr. Schneider beunruhigte. Ihn beschlich eine böse Ahnung. Die Entwicklung hatte eine Kennziffer des Ministeriums bekommen; sie war Bestandteil des Plans geworden. Daß man einen jungen Mann zu lange allein wursteln ließ, hatte Gefahrenmomente geschaffen. Die kreativen Kräfte eines Menschen haben Grenzen, die Phantasie nicht. „Was ist geschehen?“ „Ich muß es jemand erzählen.“ „Deshalb bist du hier.“ Gillermann begann bei seinen Schwierigkeiten während des Studiums. Petter war es, der ihn immer wieder heraushaute. In Berlin hatten sie ein gemeinsames Zimmer bewohnt. Sie waren Freunde gewesen, Klaus Gillermann, der unproduktive Streber, und Erwin Petter, das Genie mit vielen Extravaganzen, das aus seiner Ablehnung jeglicher Autorität kein Hehl machte. Das Genie, das ein halbes Jahr vor dem Examen von der Schule ging. Seitdem schlug Petter jede Chance, die man ihm zu Hause bot, wütend aus, betrieb jedoch fanatisch die Ausbildung in seinem Beruf. Es mochte kaum einen besseren Fachmann geben. Dr. Schneider nickte melancholisch. Die düstere Ahnung verstärkte sich mit jedem Wort seines Kollegen. Eines Tages merkte Klaus Gillermann, daß er die Grenze seiner Möglichkeiten erreicht hatte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte er der Hilfe durch seine Kollegen bedurft. 145
Aber Gillermann scheute sieh, seine Mittelmäßigkeit zuzugeben. Der letzte Ausweg zwischen Wahn und Wirklichkeit erschien Klaus Gillermann Erwin Petter und dessen gewohnter Beistand … „Und nun bin ich völlig am Ende“, sagte Klaus Gillermann. Hätte Dr. Schneider seinen ersten Gefühlen nachgegeben, wäre er explodiert. Zuerst dachte er: Man sollte diesem Idioten in die Fresse schlagen. Wieviel Überheblichkeit und Arroganz gehörte dazu, seine Stellung so schamlos auszunutzen, daß das ganze Kombinat samt allen Kollegen gar nicht existierte, daß die Arbeit Privateigentum wurde. Der Betrieb, das Kombinat, ein paar tausend Menschen wurden Sprossen der Karriereleiter. Was für ein Lump war solch einer? Schneider pflegte niemals seinen ersten Gefühlen nachzugeben. Klaus Gillermann in die Fresse zu schlagen änderte nichts. Zweifellos war dieser Petter ein Experte. Vielleicht hatte er mit Glück und Fleiß bereits die Störanfälligkeit der MAXIMA eliminiert. Die Maschine existierte also theoretisch bereits, aber sie war nutzlos für das Kombinat. Der nüchterne Verstand Dr. Schneiders registrierte die mitgeteilten Tatsachen und stellte sie miteinander in Beziehung. Petter hatte sich gut abgesichert, seinen sogenannten Freund in eine völlig wehrlose Lage manövriert. Niemand vermochte ihm einen Erfolg nachzuweisen, nicht einmal eine strafbare Handlung, denn die vertraulichen Unterlagen hatte er von Gillermann freiwillig bekommen. Was die Erpressung betraf, konnte sich der Bursche jederzeit so herausreden, daß die geforderte Geldsumme als Honorar für seine Arbeit gedacht war. „Ich muß zur Polizei“, sagte Klaus Gillermann kläglich. „Halt den Mund“, fuhr ihn Dr. Schneider an. „Zur Polizei kannst du immer noch. Die wird sich freuen, dich 146
jammerndes Bündel entgegenzunehmen. Doch geholfen ist uns damit nicht.“ „Was sollen wir denn tun?“ Ein Patentrezept hatte Schneider nicht anzubieten. Angenommen, Petter gelingt es, die Unterlagen herauszuschmuggeln, überlegte er, haben wir immer noch einen kleinen Vorsprung. Den müssen wir nützen. „Ich geh zu ihm. Ich nehm ihm die Papiere ab, ich schlag ihn tot“, sagte Klaus Gillermann. „Oder wir zahlen ihm, was er haben will. Ich geb’s zurück, wenn du mir das Geld leihst.“ In diesem Moment wußte Schneider, daß es tatsächlich an der Zeit war, grobe Geschütze aufzufahren. Der Bengel schien nun völlig verrückt geworden zu sein. Er ging auf ihn zu, packte seine Schultern und zog ihn vom Sessel. „Du hirnverbrannter Narr, dich sollte man totschlagen, damit du nicht noch mehr Unheil anrichten kannst. Du Alchimist, du Scharlatan. Einsperren sollte man dich. Wo wohnt dieser Petter?“ „In Wallingen, Schloßhofgasse eins“, keuchte Gillermann. Widerstandslos hing er in Schneiders Armen. Der ließ ihn wieder in den Sessel zurückfallen. Angeekelt blickte er Klaus Gillermann an. „Wann hat dieses Gespräch stattgefunden?“ „Donnerstag abend.“ „Vorgestern also“, murmelte Dr. Schneider. „Wenn du mir das gestern gesagt hättest, wäre nicht noch ein Tag verlorengegangen. Was, wenn der Kerl schon über alle Berge ist, he?“ „Es hat doch alles keinen Zweck.“ Mit ihm ist nicht mehr zu rechnen, dachte Dr. Schneider. Es gab nur noch einen Weg, der widerstrebte ihm. Trotzdem gab es nur noch einen. Petter mußte 147
gehindert werden, irgend etwas zu tun, was endgültige Verhältnisse schuf. 5 Vor der kleinen Villa gegenüber dem Theater patrouillierten zwei Soldaten. Rechts und links vom Eingang standen zwei Douglastannen, ihre Zweige bogen sich unter der Schneelast. Die Villa schien einen gepflegten Garten zu haben und sich von privaten Anwesen lediglich durch einen grauen Bretterzaun zu unterscheiden. Sie traten in eine schmucklose Halle, von der vier Türen und eine Treppe abgingen. Dr. Schneider las die Türschilder. „Komm“, sagte er. Klaus Gillermanns Brille war beschlagen. Er stand hilflos mitten in der Halle. „Nun komm schon. Los!“ Klaus Gillermann nahm seine Brille ab und begann zaudernd die Gläser zu putzen. „Nein. Bitte nicht. Nein.“ Dr. Schneider hatte an eine Tür geklopft und sie geöffnet. Er stand in der offenen Tür und schaute auf seinen Kollegen. Zögernd trat Gillermann näher und ging an ihm vorbei. 6 „Ein Herr Blissner“, sagte die „Schönheitskönigin“. „Will zum Genossen Haug.“ Die „Schönheitskönigin“ war ein hübsches Mädchen, das früher im Radiokinderchor gesungen und davon 148
geträumt hatte, ein Star zu werden. Aber sie war Stenotypistin geworden. Bei der Reichsbahn, bei der Transportpolizei, schließlich bei der K. Auf dem Schießstand machte sie die Augen zu und schoß Löcher in die Decke, und Protokolle am Tatort nahm sie sehr ungern auf. Deshalb wollte sie in die Verwaltung, aber Hauptmann Fester ließ sie ungern ziehen. Er mochte sie. „Ich genüge ihm sicher“, antwortete er vergnügt. Er war stets vergnügt, wenn er sie sah. Blissner trat herein und grüßte verlegen. Du spielst doch, dachte Fester, na schön, spielen wir mit. Jemand, der Peter Haug so in Wut versetzen konnte, daß dieser mitten in der Nacht anrief, weil er sonst geplatzt wäre, machte Hauptmann Fester neugierig. „Sie sind also Herr Blissner. Nehmen Sie doch Platz.“ „Es ist mir sehr unangenehm“, murmelte Blissner und legte sein Gesicht in Kummerfalten. „Gestern war ein Genosse bei mir im Büro. Ich habe wohl reichlich dummes Zeug erzählt. Wissen Sie davon?“ „Nein“, log Fester freundlich. „Das Dumme der ganzen Sache ist, daß ich von Anfang an falsche Angaben machte. Aus irgendwelchen Verklemmtheiten; ich hatte auch Angst. Vielleicht sollte ich die ganze Geschichte von vorn erzählen.“ „Aber gern“, sagte der Hauptmann. Er hatte Schwierigkeiten, seinem Gegenüber die Heiterkeit zu verbergen. Nicht im geringsten glaubte er Blissner die Servilität, dazu trug der zu dick auf. Es war über Nacht etwas geschehen, das Blissner bewogen hatte, seine Taktik zu ändern. Allein Übermut war es sicher nicht gewesen, die ihn sich mit der Polizei anlegen ließ, maßlose Überheblichkeit schied ebenfalls aus. Blissner war bestimmt realistisch genug, seine Stellung in der Gesellschaft richtig 149
einzuschätzen. Er kochte ein Süppchen; das Verschwinden Wilhelm Gillermanns war ein sekundäres Faktum. „Als Ihr Genosse Weihnachten auftauchte, muß er gemerkt haben, wie meine Frau zu Gillermann stand. Sie ist eine geborene Rautenberg, die Nichte von Gillermanns Frau. Die Familie ist einst sehr groß gewesen, die Rautenbergs stammen aus der Niederlausitz, waren durchweg baptistischen Glaubens. Diese religiöse Gemeinschaft ist klein, das verbindet sie eng. Innerhalb der Familie ist diese Bindung natürlich noch stärker. In der letzten Generation ist Inge, meine Frau, allein übriggeblieben. Maria Rautenberg und meine Frau hingen auf eine peinigende Art aneinander. Es war die sentimentale Verbundenheit einer untergehenden Familie und einer untergehenden Religion. Maria Rautenberg liebte Wilhelm Gillermann nicht auf herkömmliche Weise, sie empfand ihr Zusammenleben mit ihm als eine Art Passion. Ihre Religion faßte sie so auf; dulden um des Himmelreichs willen. Sicher war ihr Schicksal nicht leicht – der Alte war eigensinnig –, aber es war selbst gewählt. Meine Frau glaubte mitleiden zu müssen, ihr fehlten nur die religiösen Motive; es wurde eine militante Leidenschaft mit bösen Szenen, die zum völligen Bruch zwischen ihnen führten. Mich bezog Gillermann in den Krieg ein und führte politische Gründe zu Felde. Seit Tante Marias Tod haßt meine Frau Gillermann. Um der Gerechtigkeit willen wollte ich vermitteln. Um den Preis unserer Ehe. Meine Frau hat sich völlig von mir entfremdet.“ Blissner starrte den Hauptmann an, als wollte er ihn hypnotisieren. Doch Fester malte Muster auf den Rand seines Notizbuches. Er sah nicht einmal hoch. Der geplagte Ehemann seufzte. „Es hat nicht an Vermittlungsversuchen gefehlt, doch meiner Frau durfte ich 150
davon nichts sagen. Zuletzt Freitag vor Heiligabend. Ich war in Trebendorf, abends. Ich parkte am Bahnhof und wanderte durch die Siedlung. Es war nur ein Verzögern meines Vorhabens. An diesem Abend wollte ich eine echte Versöhnung herbeiführen.“ „Das ist wahrhafte Größe“, sagte Fester ironisch. Blissner beachtete es nicht. „Mir wurde klar, daß das ein hoffnungsloses Unterfangen war. Die Erziehung meiner Frau stand dagegen. Sie ist eines so lang anhaltenden Grolls fähig, daß ich meine Ehe aufs Spiel gesetzt hätte. Ich fuhr zurück, ohne Gillermann gesprochen zu haben, und verschwieg die Reise vor meiner Frau. Erfurt war eine Ausrede, die ich auch vor Ihrem Genossen aufrechterhielt. Es tut mir leid, auch der gestrige Vorfall.“ „Nicht so wichtig“, sagte Fester gleichgültig. „Wir sind nur ein Glied der Kette. Es gibt andere Glieder. In Trebendorf hat sich allerlei getan inzwischen. Jedenfalls, schönen Dank für Ihre Offenheit.“ Als Blissner gegangen war, rief er die „Schönheitskönigin“. „Mädchen“, sagte er, „tu alles in die Akten, was Blissner gesagt hat. Am liebsten würde ich es ja in den Papierkorb werfen, mehr ist es nicht wert.“ 7 Trebendorf, den dreißigsten Dezember. Ein Dorf, zweitausendsiebenhundert Einwohner, eine Relaisfabrik, ein Steinbruch, ein Naherholungszentrum für Arrivierte, das sich Siedlung nannte. Bei seiner Suche nach dem vermißten Trebendorfer Bürger fand der Abschnittsbevollmächtigte Karlheinz 151
Ahnert unerwartet einen Bundesgenossen. Er entdeckte Gossy Gossmann, einen alten Säufer, einen Vaganten, einen Wilddieb. Gossy wurde an diesem Tage siebenundachtzig Jahre alt, und als er morgens beim Abschnittsbevollmächtigten Karlheinz Ahnert erschien, hatte er bereits einen tiefen Zug aus seiner Buddel getan, die klaren, Selbstgebrannten Schnaps enthielt. Zuerst rülpste er kräftig, dann schaute er den Wachtmeister vergnügt an. „Ihr sucht doch den Gillermann?“ sagte er und erhielt die Bestätigung. „Ihr meint, er wäre am Teufelssteig verunglückt, he?“ „Wir vermuten es.“ „Aber ihr habt ihn nicht gefunden?“ „Nein“, antwortete Ahnert ungeduldig. „Ich habe ihn gefunden“, sagte Gossy gleichmütig. „Es war nicht schwer“, fuhr er fort, „nachdem ich alles erfahren hatte. Mich fragt ja keiner. Überall schnüffelt ihr rum, aber Gossy … Gossy, den kann man ja auslassen. Junger Mann, ich habe vor fünfundsiebzig Jahren auf dem Böhlerberg Schafe gehütet, kenne jeden Winkel dort. Und jedes Loch.“ „Ja, jedes Loch“, gab Ahnert kleinlaut zu. Er kannte unzählige Geschichten über Gossy. Gute und böse. Dieser Mann kannte nicht nur den Böhlerberg. Er war im Tal geboren und groß geworden. Kein Stein, den Gossy nicht kannte, keinen heimlichen Weg, kein Schlupfloch. In den Wäldern hatte er Beeren und Kräuter gesammelt. Man kannte ihn als den „Schworzebärn-Gossy“. Ein Suchkommando ohne ihn war wie eine Schiffsmannschaft ohne kundigen Kapitän. Aber sie hatten ihn einfach vergessen. „Er ist tot“, sagte Gossy. „Ich hab mir gedacht, wo er stecken könnte, als ich hörte, daß ihr ihn nicht gefunden 152
habt. Er ist im Dunkeln über den Steig, ein Verrückter. Gerade an der Schwelle ist er abgestürzt, wie damals – wann war es doch immer? – Karl Züllke. Ja, neunundzwanzig im Herbst.“ Gossy brach ab und sah trübe vor sich hin. „Ist nur nachts ein Teufelssteig. Warum ist er auch im Dunkeln da rüber. Aber er kann nicht von Trebendorf gekommen sein.“ „Nicht?“ fragte Ahnert erstaunt. Er hielt den Telefonhörer am Ohr und wartete auf eine Verbindung zum Kreisamt. „Umgekehrt. Er wollte nach Hause. Die Spalte, eine Höhle eigentlich, sie heißt das Kliff, liegt unter einer Nase. Ist nicht zu finden, wenn man sie nicht kennt. Ich hab mal einen Jungen ein paar Wochen dort versteckt, und die ganze braune Bande von Trebendorf suchte den Berg kreuz und quer ab. Oben der Steig hat da eine Schwelle, die ist von ’nem Erdrutsch, und unter der Schwelle geht eine Schmelzrinne hinab. Der Mann muß über die Schwelle gestolpert sein und die Rinne hinunter ins Kliff. Das …“ Ahnert unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Drüben hatte er das Kreisamt in der Leitung und verlangte Leutnant Haug. Berichtete ihm in wenigen Worten von Gossmanns Entdeckung. „Ja, Gossmann heißt der Mann.“ „Gossy“, rief der vergnügt dazwischen. „Frag mal einen, ob der noch weiß, daß ich Gossmann heiße.“ Ahnert legte den Hörer auf und sah Gossy lächelnd an. „Ich soll Sie hier festhalten. Wie kann ich das am besten tun?“ „Festhalten? Warum?“ „Weil nun allerlei passiert. Sie müssen uns zu dem Verunglückten führen.“ 153
„Uns …?“ „Natürlich uns; mich, den Genossen vom Kreisamt, die Ambulanz, die Genossen von der Mordkommission.“ „Mordkommission?“ fragte Gossy zweifelnd. Er kratzte sich unruhig. „Ich habe Geburtstag. Und wieso eigentlich Mordkommission?“ „Mord- und Unfalluntersuchungskommission“, berichtigte sich Ahnert. Und fügte hinzu: „Ja, leider. Leider auch an Ihrem Geburtstag.“ 8 Im selben Zimmer setzte sich Hauptmann Gropper, der Leiter der MUK aus der Bezirksstadt, in Ahnerts weichstes Polstermöbel und seufzte leise. Er war über die Sechzig, litt unter Frost und übermäßigen Anstrengungen. Mit Ahnert und Leutnant Haug befanden sich fünf Polizisten im Raum, und zwischen ihnen war Gossy klein und still geworden. In seinem langen Leben hatte er nicht vorwiegend gute Erfahrungen mit Ordnungshütern gemacht. „Also Sie sind Herr Gossmann. Erzählen Sie, wie Sie den Toten gefunden haben.“ Gossy berichtete zögernd. Er war nicht sicher, ob sich diese Darstellung mit der gegenüber Ahnert ganz und gar deckte. Doch der Wachtmeister nickte ihm beruhigend zu. Es war in großen Zügen dieselbe, und Gossy verzichtete sogar auf die Rückgriffe in den Schatz seiner Erinnerungen. Er hatte Gillermann gesucht und schließlich gefunden. Das war es: eine einfache Sache, so einfach, daß der Hauptmann ihn nach ein paar Minuten gehen lassen konnte. Wachtmeister Ahnert gab ein paar erläuternde Hinweise und mußte darauf eine Generalbeichte über 154
seine umfangreiche, aber erfolglose Suchaktion ablegen. „Mit Herrn Gossmann hätten wir den Toten eine Woche früher gefunden“, gestand er. Gropper nickte. „Es wäre trotzdem zu spät gewesen. Der Mann war tot, ehe er in die Spalte stürzte. Der Arzt hat die Merkmale genau definiert. Bemerkenswert viele Schürf- und Platzwunden, aber keine lebensgefährliche Verletzung. Fast kein Blutaustritt. Die Autopsie mag es beweisen.“ Er war tot, dachte Haug. Er war tot, ehe er abstürzte. Es war kein Unfall. Seit er neben dem Arzt am Kliff gestanden hatte, seit er diese Worte gehört und Wilhelm Gillermann zum ersten Mal gesehen hatte, war er keines anderen Gedankens mehr fähig gewesen. Plötzlich erschien ihm die letzte Woche als eine einzige Spiegelfechterei. Der Gegner hinter dem Glas, unangreifbar und ungefährlich – du selbst. Betätigst dich und bestätigst dich, sprühst deinen Geist aus, kleine, glitzernde, harmlose Funken wie die Magnesiumfeuerchen der Wunderkerzen und ebenso unnütz. Alles wirkte sinnlos unter dem tiefen Eindruck der letzten Stunden. Gillermann war wirklich tot, er war wirklich auf dem Teufelssteig gestorben, aber er hatte sich nicht zu Tode gestürzt. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“, schränkte Hauptmann Gropper vorsichtig ein. Er trank Ahnerts Tee, eine Tasse nach der anderen, und hörte Haugs Schilderung an. Jetzt war ihm warm, mehr als das, kleine Schweißtropfen traten auf seine Stirn, und er wischte sie ab und zu mit einem Taschentuch ab. Ansonsten blieb er ein äußerst konzentrierter Zuhörer, bis Leutnant Haug schwieg. „Es ist ein eigenartiger Fall“, sagte er dann. „Zuviel Zufälle nebeneinander. Gillermann junior und dieser 155
Abgeordnete – ihn mögen Sie am wenigsten, nicht wahr –, beide zur selben Zeit im Orte, wie die Wagen zu beweisen scheinen. Aber ist es wirklich sicher, daß sie nichts Privates hier an den Ort bindet? Außer dem Onkel, meine ich. Vergessen Sie nicht, daß sich bis jetzt kein dringender Verdacht auf ein Verbrechen herausgeschält hat. Bisher leisteten sie Ihnen Hilfen, freiwillig, es gibt noch nichts, das Sie gegen sie verwenden können.“ „Das Geld“, wandte der Leutnant ein. „Es ist verschwunden.“ „Beweisen Sie, daß es überhaupt noch existiert hat. Bringen Sie Zeugen bei. Gillermann hat es ausgegeben, meinetwegen verschenkt. Wie Sie wollen.“ Er war zu kühl, zu nachdenklich und wahrscheinlich zu lange im Beruf, um sich von seinen Gefühlen bevormunden zu lassen. Ein Mann, gestorben und in eine Schlucht gestürzt, während in seinem Hause nichts in der gewohnten Ordnung war, bedeutete für den Hauptmann noch nicht einen dringenden Verdacht auf ein Verbrechen. „Sie sind voreilig“, sagte Gropper, „das will ich als Ihr gutes Recht gelten lassen. Sie sind jung. Hätten Sie meinen letzten Fall bearbeitet, urteilten Sie vielleicht ganz anders. Vor zwei Wochen wurde in Benshausen ein unvorsichtiger Fußgänger von einem LKW überfahren. Er war tot und starb trotzdem nicht an seinen Verletzungen. Es war Herzschlag. Der Schreck, wissen Sie. Er sah das Auto, und der Schreck tötete ihn. Ich will nicht von einer Duplizität der Ereignisse reden. Doch war das Herz des alten Mannes so gesund, daß Sie ähnliches ausschließen?“ „Gillermann war herzkrank. Deshalb mußte er vom Lenkrad.“ 156
„Sehen Sie. Ich könnte Ihnen lange Vorträge halten. Über diese Frage, weshalb Ertrinkende so schwer zu retten sind oder warum jeder Mensch, der auf der Straße stirbt, geöffnet wird. Gillermanns Autopsie wird den Sachverhalt klären.“ „Aber wer trieb Gillermann nachts hinaus?“ „Sie meinen den Gast? Vertrieb der Gillermann? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich billige alle Ihre Gründe. Trotzdem muß ich jedes Faktum einzeln beweisen können. Das wollen wir versuchen. Wir werden die Wahrheit ermitteln.“ 9 In der Leipziger Straße setzte ein Junge Haug einen Filou vor die Füße. Der fröhliche Mummenschanz lief an, dieser pflichtgemäße Jubel über den Abschied des alten Jahres. Leutnant Haug fühlte sich müde und leer. Die Ernüchterung, die mit Hauptmann Groppers kurzen und präzisen Formulierungen über ihn gekommen war, ließ ihn resignieren. Hauptmann Fester wartete am Bahnhof auf Haug. Er hatte sich unter das Dach eines KOM-Wartehäuschens gestellt, wo der Wind abgehalten wurde, der quer über den Busbahnhof pfiff. Vor dem ReichsbahnGüterschuppen gegenüber wehte er den Schnee bis an die Rampe. Fester hatte den Kragen hochgeschlagen und mußte sich unter das niedrige Dach ducken. Er wußte Bescheid, sie hatten telefoniert. Sein gutmütiger Spott verletzte nicht. Fester war an der Niederlage seines Freundes beteiligt. Er hatte vielleicht sogar mehr Aktien daran als sein Untergebener. 157
„Es ist eine Untersuchung der MUK, Peter“, sagte er. „Die arbeiten anders. Vor allem unter anderen Voraussetzungen. Fang nicht an, Äpfel und Birnen zusammenrechnen zu wollen.“ „Weshalb ist Blissner plötzlich umgefallen? Was hat das zu bedeuten?“ „Kann er von dem Auffinden Gillermanns erfahren haben? Am dreiundzwanzigsten war er in Trebendorf. Wen kennt er dort?“ „Du meinst, er hat Gillermann tatsächlich nicht besucht?“ „Ja, daran denke ich jetzt. Weshalb hätte er es tun sollen? Heute morgen versuchte er seine vorgebliche Absicht zu motivieren, eine Absicht, die er nach seinen Worten nicht ausführte. Gerade das machte mich stutzig. Ich glaube ihm keine emotionalen Aufwallungen.“ „Hauptmann Gropper vermutet, daß Gillermanns Tod durch einen Schreck verursacht wurde. Ein Fehltritt an dieser Schwelle und dadurch das Herzversagen.“ „Er wird Gründe dafür haben. Der alte Fuchs arbeitet seit zwölf Jahren in der MUK.“
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VII. KAPITEL 1 Die Stille des versteckten Tannenörtchens, das gegen jede Vernunft Birkhalde genannt worden war, hatte an diesem Tage den Charakter von Grabesstille. Auf dem Böhlerberg bogen sich die Tannen unter einem steifen Wind, aber bis hinunter gelangte nicht ein Hauch von jenem Wind. Die Starre der alten, stolzen Bäume übertrug sich auf ihre Umgebung, die völlig ausgestorben schien. Die wenigen Einwohner blieben in ihren Häusern, Rieberoths Laden hatte bereits geschlossen, und der Wirt der Waldschenke saß an seinem Ofen im Gastzimmer und las das „Freie Wort“. Er las die Zeitung aus Langeweile, denn er wußte natürlich, daß ein erfolgreiches Jahr hinter ihnen lag. Hinter dem Land, hinter dem Bezirk und ganz besonders hinter dem Kreis. Schade, daß die Erfolge nicht auch bis in seine Waldschenke gelangten. An Wintertagen und während sommerlicher Regenperioden und ähnlicher Anlässe schwur er jedesmal, seine Restauration aufzugeben. Umgekehrt kam ihm an schönen Wochenenden das Sprichwort in den Sinn: Und ist der Handel noch so klein, bringt er doch mehr als Arbeit ein. An guten Tagen gab er bis zu sechsundzwanzig Mittagessen aus. Um halb drei Uhr nachmittags betrat ein Mann die Waldschenke und bestellte, noch ehe er sich aus seinem Mantel geschält hatte, einen doppelten Grog. Bernhard Juhnke erhob sich dösig, er war dicht vor dem Einschlafen gewesen, und kippte Wasser, das ständig in einem Kessel auf dem elektrischen Kocher siedete, 159
in ein Grogglas. Er sah seinen Gast prüfend an und beschloß, das Getränk aus gutem Edel zu bereiten. Daran tat er recht, denn als Juhnke das Tablett mit Wasser, Zucker und dem Vierstöckigen vor ihm hinstellte, nippte der Gast zuerst prüfend an dem Weinbrand. Dann schaute er auf den Wirt, lächelte und fragte: „Öde, nicht wahr? Die Stammgäste kommen erst abends, und Fremde gibt’s kaum.“ „Sie sind der erste“, antwortete Juhnke. „Heute.“ „In dieser Woche“, sagte Juhnke. „Ich suche eine Adresse. Birkhalde vierhundertdreißig. Ich finde es nicht.“ „Vierhundertdreißig, wer wohnt dort?“ fragte der Wirt. Er kannte nur ein paar Hausnummern in diesem Ort, aber alle Namen. „Falkenbüttel.“ „Falkenbüttel? Das ist am Ende des Ortes. Am Berg. Das dritte oder vierte Grundstück vom Berg. Auf der rechten Seite.“ „Dann bin ich dran vorbei“, sagte der Fremde. „Von dort komme ich.“ „Vom Berg?“ fragte Juhnke. Er wurde neugierig. „In dem Schnee kommt man doch fast nicht drüber.“ Der Fremde nickte. „Ist eine Strapaze, eine Tortur. Hat sich so ergeben. Kommen oft welche über den Berg?“ „Im Winter fast nie. Manchmal der Förster.“ „Manchmal der Förster“, wiederholte der Fremde. Er rührte die Zuckerstücken im Glas und kostete vorsichtig. Das heiße Getränk rann süß und mild durch seine Kehle. Er brummte wohlig. Dann sagte er: „Am Berg ist letzten Freitag einer verunglückt. Wissen Sie davon?“ 160
Der Wirt guckte mißtrauisch. Der Fremde trank einen größeren Schluck und sah Juhnke dabei gerade ins Gesicht. „Jemand hat ihn gefunden, und wir haben ihn dort herausgeholt. Er war tot.“ „So ist das“, sagte Juhnke. „Aber es war nicht Falkenbüttel. Ich habe ihn gesehen. Gestern, glaube ich.“ „Es war ein Bekannter von diesem Falkenbüttel. Er kam von Birkhalde. Es ist vermutlich am späten Abend gewesen. Wir vermuten, daß er Falkenbüttel besuchen wollte.“ „Letzten Freitag? Da war Falkenbüttel nicht hier.“ „Das wissen Sie genau?“ „Ich weiß alles!“ sagte Juhnke heftig. „In diesem langweiligen Nest ist alles was Besonderes. Wer hier herkommt, redet zuerst davon, wer da ist und wer nicht. Wer wohin gefahren oder woher gekommen ist. Besonders, wenn es sich um Sommergäste handelt.“ „Sommergäste“, sagte der Fremde. „Das sind Leute, die nur ein Wochenendhaus hier haben. Falkenbütte] hat nur ein Wochenendhaus, aber er ist im Sommer und Winter draußen. Von Freitag bis Sonntag.“ Juhnke betrachtete seine Wanduhr über der Theke. „In etwa fünfzig Minuten kommt Grettner zum Skat. Fragen Sie Grettner, er wohnt Falkenbüttel gegenüber.“ „Nicht nötig. Der Mann braucht Falkenbüttel ja nicht angetroffen zu haben.“ Der Fremde legte ein Fünfmarkstück auf den Tisch. Juhnke nahm das Geld, ging zur Kasse und holte das Wechselgeld. Damit kam er zurück. Der Fremde war aufgestanden. Juhnke gab ihm das Geld und half ihm in den Mantel. „Linker Hand etwa hundertfünfzig Meter“, sagte er. „Auf der rechten Seite.“ Der Fremde dankte. Er drehte sich in der Tür zu Juhnke um. „Ich bin Hauptwachtmeister Brod von der Unfall161
untersuchungskommission. Es könnte sein, daß jemand den Verunglückten doch gesehen hat. Wir wüßten gern, wann das war. Die Tageszeit, verstehen Sie. Besser noch die Uhrzeit.“ Juhnke nickte. Er ging zu seinem Platz am Ofen zurück und schob die Zeitung achtlos zur Seite. Das prächtige Jahr 1972 interessierte ihn nicht mehr. 2 Brod ging langsam. Von der Stelle, die den Mittelpunkt Birkhaldes bildete, verlief in die Richtung, aus der er gekommen war, eine Trampelspur. Die Straße war breit und nicht befahren. Jetzt wußte er auch, weshalb er die Nummer 430 vorhin nicht gefunden hatte. Weiter oberhalb lief die Straße zwar geradeaus, aber auf der rechten Seite traten die Grundstücke zurück. Von der Straße gabelte gewissermaßen ein Weg ab, der hinter Robiniengestrüpp verschwand. Brod wollte hinübergehen, als eine Frau aus einem der Häuser kam. Der Hauptwachtmeister blieb stehen. Er wollte die Frau ansprechen, wußte jedoch nicht, ob er seine Mütze abnehmen sollte oder nicht. Schließlich tippte er nur an den Pelzumschlag, es war eine hilflose Geste, und fragte die Frau nach Falkenbüttel und vorsichtig auch nach Gillermann. Er wußte sich über den Zweck keine Rechenschaft zu geben. Dieses Dorf machte einen unheimlichen Eindruck auf ihn. Eine Ansiedlung in den kanadischen Wäldern hätte nicht fremder sein können. Gropper hatte er erst am Morgen kennengelernt, als er der MUK für den Einsatz in Trebendorf zugeteilt wurde. „Gehen Sie, suchen Sie Herrn Falkenbüttel, er wohnt Nummer vierhundert162
dreißig; fragen Sie ihn, was unser Toter bei ihm oder anderswo in Birkhalde gesucht haben könnte. Vielleicht hat ihn sogar einer gesehen am Freitag.“ Mit diesen kargen Anweisungen wußte Hauptwachtmeister Brod wenig anzufangen. Brod war ein Revierpolizist und der Tag hier sein erster freier Sonnabend seit fünf Wochen. Sein Auftrag war von der Sorte, die ihm immer schon unangenehm gewesen war. Ordnung, ein Ding, das man formulieren konnte und durchführen, Verkehrsregelung zum Beispiel, betrachtete er als seine eigentliche Aufgabe, Recherchen dagegen machten ihn befangen. Er war ein schüchterner Mensch, sogar als Polizist. Die Frau, in dem unbestimmbaren Alter zwischen Jugend und Reife, gab ihm freundlich Auskunft. Sie war weder wortkarg noch neugierig, und Brod war ihr dankbar. Mutig geworden, brachte er seinen Auftrag zur Sprache. Sie repetierte in ihrem Kopf die letzten Tage, bemüht, dem Fremden behilflich zu sein, doch lediglich bis zum Heiligen Abend reichte ihr Erinnerungsvermögen aus. Das Leben einer Hausfrau in Birkhalde bestand aus einer endlosen Kette gleichförmiger Tage, die in der Erinnerung zusammenschrumpften und ihre Konturen verloren. Jedoch, meinte sie, hätte sie etwas bemerkt, wäre es haftengeblieben. Dann ging er hinüber zum Grundstück Nummer 430 und traf auf einen nicht kleinen, aber sehr knochigen Mann „im späten Mittelalter“: Hans Falkenbüttel. Erstaunt bemerkte Brod das Erschrecken des Mannes; er war nicht gewohnt, daß die Leute vor einem Hauptwachtmeister der Deutschen Volkspolizei erstarrten wie beim Anblick der Medusa. Diese falsche Reaktion Falkenbüttels machte ihn mißtrauisch und verdrossen. 163
„Es ist wohl nicht eben das richtige Wetter jetzt, was?“ fragte er und sah sich mißmutig in der Hütte um. „Durch diese dünnen Wände spüren Sie doch jeden Luftzug.“ Falkenbüttel dachte an die Geldtasche im Schuppen und spürte nur Angst. Vorgestern hätte ich es melden können, dachte er. Ich hätte sagen können: Hier ist das Geld. Ich habe es in meinem Schuppen gefunden. Gestern vielleicht auch noch. Dem Polizisten, der zuletzt zu ihm gekommen war, hätte er das Geld in die Hand drücken sollen. Er dachte: Dieser Polizist, der dritte, wird mir nicht mehr glauben. „Das ist meine Sache“, sagte Falkenbüttel. „Natürlich“, gab Brod zu. „Ihre Sache. Alles Privatsache, nicht wahr? Ein Mann steigt über den Böhlerberg, nachts. Auch seine Privatsache. Bloß, wenn er abstürzt, dann hört es auf, Privatsache zu sein.“ „Haben Sie ihn gefunden?“ fragte Falkenbüttel leise. Er flüsterte fast. Was er geahnt, ja beinahe gewußt hatte, versetzte ihm dennoch einen Schreck, nun da es Gewißheit geworden war. Brod nickte. „Hat er sich zu Tode gestürzt?“ Falkenbüttels Stimme klang kratzig. Er taumelte leicht und setzte sich. „Nicht gestürzt. Er starb, und dann stürzte er ab“, stellte der Hauptwachtmeister sachlich fest. „Wir nehmen an, daß er bei Ihnen war“, fuhr er dann fort, „und deshalb ist es nicht mehr Ihre Privatsache, weshalb Sie hier draußen sind. Bei Eis und Schnee. Und Kälte. Womöglich hat ihn jemand gestoßen, und er bekam vor Schreck einen Herzschlag. Vielleicht war es auch ganz anders. Aber wir wollen wissen, wo er gewesen ist. Niemand hat ihn am Tage hier gesehen, also kam er in der Dunkelheit. Warum im 164
Dunkeln über diesen gefährlichen Steig?“ Dabei dachte er: Welch einen Unsinn rede ich da. Zwei Leute habe ich befragt, nur zwei Leute haben ihn mit Sicherheit nicht gesehen. Das genügt doch nicht. Gewaltsam friedlich sprach er weiter: „Ich bin bei Ihnen, weil Sie der einzige sind, den Gillermann hier kannte.“ „Ich lag an dem Tage im Bett“, antwortete Falkenbüttel heiser. In seinen Ohren klangen immer noch die Worte: Womöglich hat ihn jemand gestoßen! Daß Wilhelm ermordet worden sein könnte, rückte die Aussicht, die Tasche doch noch abzugeben, völlig in die Ferne. Wer konnte schon bezeugen, daß er zu Hause im Bett gelegen hatte. Ein Karussell, das sich ohne Pause dreht. Falkenbüttel tat, was er seit Tagen beinahe manisch betrieb: Er starrte in die Flammen des eisernen Ofens. Die Deckplatte war gesprungen, durch den Sprung sah man das Feuer. Feuer, Brand, Vernichtung. Das Karussell drehte sich. Oder war es nicht eher eine rotierende Scheibe? Hans Falkenbüttel hatte sich noch ziemlich sicher im Zentrum dieser Scheibe befunden, als der erste Polizist bei ihm auftauchte. Doch das war gewesen, als sie die Scheibe erst in Bewegung gesetzt hatten. Die Fliehkraft trieb ihn immer schneller zum Rand, es lag eine unerbittliche Konsequenz in ihren Besuchen. Sie hatten von dem Geld erfahren und Wilhelms Leichnam gefunden. Jetzt wußten sie, daß er in Birkhalde gewesen war, und zuletzt würden sie auch die Tasche finden. Es kam einer zu ihm, dann ein anderer, ein dritter. Der vierte würde der letzte sein. Er würde sagen: „Kommen Sie mit mir. Sie sind vorläufig festgenommen, denn Sie haben das Geld in der Tasche dort, die Tasche selbst gestohlen. Sie sind ein Mörder, denn Sie haben Wilhelm Gillermann in den Tod getrieben.“ 165
Brod sah Falkenbüttel an, Falkenbüttel sah in die Flammen, der eine verfolgte den anderen mit seinen forschenden Blicken, und sie mißverstanden sich gründlich. Brod fühlte nichts als seine totale Unzulänglichkeit. Weshalb hatte Gropper gerade ihn in die MUK geholt, gerade ihn in das schweigende Nest Birkhalde geschickt? „Nun?“ fragte Brod. „Er war mein Freund. Wahrscheinlich war er hier, aber er konnte mich nicht antreffen, denn ich lag zu Hause im Bett. Ich war krank.“ Er redete es heraus wie einen eingelernten Text, und das war so zermürbend. Einer kam nach dem anderen, nie war es derselbe, aber jeder lockte ein kleines Stückchen mehr aus ihm heraus. 3 Die Papiere in Hauptmann Groppers Händen stellten das protokollierte Ergebnis der Untersuchungen seiner Kommission dar. Der Hauptmann saß an der einen Längsseite eines Tisches, an der Schmalseite zu seiner Rechten Hauptmann Fester, gegenüber die Leutnants Schneller und Haug sowie Hauptwachtmeister Brod. Die „Schönheitskönigin“ saß als Protokollantin Fester gegenüber. Die pedantischen Bewegungen, mit denen der Leiter der MUK die Bogen ordnete, fielen nur Fester und Haug auf. Die beiden, die aus der Bezirkshauptstadt mit ihm gekommen waren, kannten seine Art, und die „Schönheitskönigin“ kümmerte sich nicht darum. Sie hatte die Protokolle sauber abgeschrieben, damit war ihre Tätigkeit vollendet. Vielleicht wurde sie jetzt noch gebraucht, wahrscheinlich war das jedoch nicht. 166
Gropper hob den Kopf und sah in die Runde. Er lächelte der „Schönheitskönigin“ zu, versah Brod mit einem forschenden Blick. Gleichgültiger wanderten seine Augen über Schneller und Haug. Erst bei Hauptmann Fester verweilten sie. Während er sprach, sah er ihn an. „Das vorläufige Resultat der Autopsie“, begann er, „beweist, daß Wilhelm Gillermann an Herzversagen gestorben ist. Wir wissen, daß der Mann seit Jahren gegen Herzleiden behandelt wurde und wegen des Leidens sogar vorzeitig berentet worden ist. Wir wissen außerdem, daß er einen Freund besuchen wollte. Eine Verabredung der beiden, die durch unglückliche Umstände von diesem Freund nicht eingehalten werden konnte, war Herrn Gillermann offensichtlich so wichtig, daß er sich noch mitten in der Nacht auf einen gefährlichen Bergweg begab, um seinerseits Herrn Falkenbüttel aufzusuchen. Er traf ihn nicht an und machte sich auf den Rückweg. Möglicherweise befand er sich in einer gewissen Erregung, und die äußeren Umstände des Fußweges waren nicht eben günstig. Tatsächlich hat sich in der Nacht vom Freitag zum Samstag eine Tragödie ereignet, die objektiv von keiner anderen Kraft verursacht wurde. Wir sind in der Lage, Herrn Gillermanns Handlungen durch verschiedene Zeugenaussagen zu motivieren. Dagegen gibt es kein Motiv dafür, Herrn Klaus Gillermann, das Ehepaar Blissner oder jemand anders in diese Ereignisse einzubeziehen. Überlegungen dieser Art bleiben bloße Spekulation. Ich habe die Absicht, die Ermittlungen abzuschließen. Ich bitte um Ihre Meinung dazu.“ Gropper machte eine Pause, indem er seinen Blick über die Gesichter der Kollegen wandern ließ. Es sah ermunternd aus wie die Aufforderung zu einer Diskussion. Aber Gropper rechnete nicht damit. Er wußte, daß 167
sein Mitarbeiter Schneller mit ihm übereinstimmte und Brod als Neuling schweigen würde. Fester und Haug könnten sich Groppers nüchternen Argumenten nicht verschließen. Der Hauptmann war befriedigt über die exakte Aufklärung seines Jahresabschlußfalles. Für die Trassologen hatte es keine Arbeit gegeben. Fakten ergänzten sich durch präzise Zeugenaussagen und das vorläufige – telefonische – medizinische Gutachten. „Es gibt keine unklaren Punkte mehr“, sagte er abschließend. Fester regte sich. Das war mehr ein Scharren, ein leises Geräusch, wie es entsteht, wenn sich jemand bequemer auf seinem Stuhl postiert. Gropper nickte ihm zu. „Ich kann Ihnen nicht widersprechen, wenn ich die Angelegenheit von Ihrem Standpunkt betrachte“, sagte Fester langsam. „Haben Sie einen anderen?“ „Den Kausalzusammenhang von Gillermann und seiner Umwelt. Wo wir auch bei unseren Nachforschungen hinkamen, versuchte man uns zu belügen. Man kann sagen, Wilhelm Gillermann ist das Zentrum eines ganzen Lügennetzes.“ „Ja“, sagte Gropper. „Im Recht ist Kausalität von Bedeutung. Jedes Verbrechen ist der Schlußpunkt einer Anreihung von bestimmten Verhaltensweisen.“ Brod horchte auf. Plötzlich schien ihm, als maßen sich hier Rivalen, von denen keiner nachgeben würde. Gropper entzündete eine Zigarette. Er ließ sich unendlich Zeit dabei, als wollte er die Spannung künstlich hochtreiben. „Wo ist hier das Verbrechen, Genosse Fester?“ fragte er dann. 168
„Ich sehe die menschlichen Verhaltensweisen, in deren Mittelpunkt Gillermann stand.“ „Die da wären …?“ „Falschheit, Verlogenheit, Heuchelei“, sagte Fester hart. „Ausgerechnet rings um Wilhelm Gillermann, der ausgerechnet diesen merkwürdigen Tod fand. Es wäre merkwürdig, wenn das eine mit dem anderen in keinem Zusammenhang stünde.“ „Wären Sie in der Lage, eine dieser Verhaltensweisen als den Bruch geltender Gesetze zu fixieren?“ „Nein“, antwortete Fester, „noch nicht. Deshalb bin ich dafür, daß der Ermittlungsakt nicht abgeschlossen wird.“ „Definieren Sie Ihre Gründe.“ „Am Abend des zweiundzwanzigsten Dezember befanden sich sowohl der Neffe Klaus Gillermann als auch Kurt Blissner in Trebendorf. Beide haben diesen Umstand lange bestritten und sich erst später bequemt, ihn zuzugeben. Beide bestreiten aber nach wie vor, Wilhelm Gillermann am fraglichen Abend gesehen zu haben. Wilhelm Gillermann hat aber einen Gast gehabt. Der Aufbruch des alten Mannes nach Birkhalde wies alle Merkmale einer panischen Flucht auf. Auch ein Wilhelm Gillermann geht nicht wegen eines Flugentenpärchens in stockdunkler Nacht über einen halsbrecherischen Steig.“ „Damit soll ich zum Bezirksstaatsanwalt gehen, meinen Sie das? Diese Anzeige, Genosse Fester, hat keine Chance. Daran fehlt alles, was sie rechtfertigt. Sollen wir etwa Leute nur deshalb eines Mordes verdächtigen, weil sie uns nicht in allen Punkten ihres Privatlebens die Wahrheit sagen? Das hieße ja, ihnen vorzuschreiben, wie und wo sie sich zu bewegen hätten.“ 169
„Sie gehen davon aus, daß sich die Fakten eindeutig darstellten“, sagte Fester ruhig. „Jeder Richter wird sich auf unsere Zuverlässigkeit stützen, das ehrt uns, doch wir selbst sollten uns nicht darauf verlassen. Tatsächlich würden wir Gillermann unterstellen, ein Narr gewesen zu sein, wenn wir seinen seltsamen Spaziergang bei Nacht und auf unwegsamem Gelände mit einem Flugentenpärchen motivierten. Wir machten uns einen Standpunkt zu eigen, den uns Klaus Gillermann, Inge und Kurt Blissner in seltsamer Einmütigkeit zu suggerieren versuchen, der, wie wir feststellen konnten, falsch ist.“ Gropper lächelte. „Wir wollen die anderen hören“, sagte er gelassen. „Genosse Schneller bitte.“ „Wir sollten bei den bewiesenen Tatsachen bleiben“, antwortete Leutnant Schneller eilig. Die Reihe war an Peter Haug oder Hauptwachtmeister Brod. Brod dachte mit Erschrecken daran, daß er das Zünglein an der Waage spielen würde. Gropper und Schneller, Fester und Haug waren die Fronten, und Gropper würde erwarten, daß er sich auf seine Seite schlagen würde. Haug schaute auf ihn, und der Leiter der MUK forderte ihn auf zu reden. „Ich möchte dazu nichts sagen“, stieß er hervor. Er wußte, daß sich sein Gesicht mit glühender Röte überzogen hatte, und versuchte es durch seinen gesenkten Kopf zu verbergen. Was wollen sie von mir, fragte er sich verzweifelt. Ich bin doch nur ihr Hilfsarbeiter, kein guter dazu. Warum fragen sie mich? Peter Haug bemerkte Brods Unsicherheit. „Ich denke, wir sollten auf eine Kampfabstimmung verzichten“, warf er rasch ein. „Sie ist sinnlos, wir sind doch keine Gegner.“ „Was reden Sie von einer Kampfabstimmung?“ sagte Gropper. „Ich bin der Leiter der Kommission. Ich will 170
Ihre Ansichten kennenlernen, danach werde ich entscheiden. Wenn ich darauf verzichte, Sie selbst zu hören, geschieht es, weil ich Ihre Ansicht bereits kenne.“ „Ich glaube, Sie stützen sich zu sehr auf Ihre Erfahrung, Genosse Gropper.“ „Peter!“ mahnte Fester. „Ach was, Peter. Wenn jemand starr und steif daliegt, genügt es nicht, festzustellen, daß er tot ist. Verstehen Sie, Genosse Hauptmann, Technik genügt nicht, wenn der Mensch die Sache ist.“ Peter Haug schwieg, weil er fühlte, daß er sich verrannt hatte. Er war nicht in der Lage, genau das auszudrücken, was er fühlte, und er rückte demonstrativ von seinem Kollegen Schneller ab, der mit undurchdringlichem Gesicht zugehört hatte. Und Brod, mit hochrotem Gesicht, schwieg auch. Gropper versuchte vergebens, seine Empfindungen gegenüber dem aufgebrachten Leutnant des Kreisamtes zu ordnen. Weder Zorn noch Nachsicht noch Eingehen auf die Ursachen des Ausbruchs erschienen ihm als geeignetes Mittel, sich zu äußern. Er lief Gefahr, eine komische Figur zu machen. Deshalb wandte er sich an Fester, den Ranggleichen. „Zweifellos meint der Genosse Haug das gleiche wie Sie, er drückt es lediglich anders aus. Ich gebe zu, daß Wilhelm Gillermanns Tod von Dritten moralisch mitverschuldet worden sein kann. Aber es wird schwer werden, das nachzuweisen. Noch schwerer werden wir nachweisen können, daß sein Tod mit ungesetzlichen Mitteln provoziert wurde. Falschheit, Verlogenheit und Heuchelei sind nicht strafbar nach dem Strafgesetzbuch. Polizei und Justiz können sich nicht als Gralshüter der öffentlichen Moral aufspielen. Wir müssen uns auf Beweisbares und Beweiskräftiges beschränken, selbst wenn wir es in 171
einem oder anderen Fall bedauern sollten. Wo die Justiz und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung mehr und mehr gesellschaftlichen Kräften übertragen werden, bleibt das nicht aus.“ „Ich bin nicht Ihrer Meinung“, sagte Fester. „Ich auch nicht!“ platzte Brod heraus. Die intensive Röte seines Gesichts hatte nicht nachgelassen. Er respektierte Groppers Autorität, aber er besiegte seine Unsicherheit. „Das Gesetz soll schützen …“ „In diesem konkreten Falle …?“ „Wir haben nachgewiesen, daß der Mann irgendwohin ging und irgendwoher kam. Er starb eines natürlichen Todes, das haben wir auch nachgewiesen. Wir haben nicht nachgewiesen, weshalb er dorthin gegangen ist. Wenn sein Tod nicht durch ungesetzliche Mittel hervorgerufen wurde, schließt das nicht aus …“ Er verstummte und blickte hilfesuchend zu Fester. „… daß? Was meinen Sie?“ „… daß er vielleicht Kenntnis von einem Gesetzesbruch hatte“, sagte Brod zögernd. 4 Hauptwachtmeister Brod spürte fast schmerzhaft Groppers forschenden Blick auf sich ruhen. Eine Hypothese war wacklig, eigentlich erst geboren aus dem befremdlich klingenden Disput zwischen Fester und seinem Chef, aus dem er nichts anderes herausgedeutet hatte als den kleinen Satz: Man tut etwas nur, wenn man einen triftigen Grund dafür hat, oder man ist ein Narr. Gropper fühlte sich wie in einer Meditationsrunde berufsmäßiger Wahrsager. Weil diese Freunde vom Kreisamt von ein paar wild gewordenen Spießbürgern nach Strich und Faden belogen worden waren, versuchten sie denen kriminelle Vergehen anzuhängen, mutzten sie Kleinstadttratsch auf. Es reizte ihn, offiziell die Ermittlungsakte 172
Gillermann zu schließen, gleichzeitig zwang ihm Brods Überwindung Achtung ab. Brod hatte sich – geschickt oder nicht – in Birkhalde umgesehen und mit Falkenbüttel gesprochen. Brod war so unbefangen wie er oder Schneller, trotzdem roch auch er Unrat. Sie machten es ihm schwer, diese Brod und Haug und Fester, und er begann zu zögern. Unschlüssig blätterte er in der Mappe mit den vorläufigen Untersuchungsergebnissen; was immer auch diese undurchsichtigen Verwandten des Toten bewogen haben mochten, im Kreise um sich herum zu lügen, einen stichhaltigen Verdacht gegen sie gab es nicht. Jeder von ihnen mochte gegen gesellschaftliche Moralauffassungen verstoßen haben. Aber verdammt, Hauptmann Gropper leitete die MUK des Bezirks und keine Konfliktkommission oder ein Ehrengericht. „Ich bitte darum, folgende Punkte einwandfrei zu klären“, sagte Fester. Er sah Gropper an, und der nickte ihm ermunternd zu. „Einmal den Nachweis zu führen, daß Wilhelm Gillermann bestohlen wurde, und zu beweisen, daß Klaus Gillermann oder Kurt Blissner tatsächlich im Hause des Töten waren. Das Resultat ließe dann vorläufig zehn verschiedene Möglichkeiten zu. Fünf negative wie fünf positive. Wobei Frau Blissner und Herr Falkenbüttel nicht berücksichtigt sind. Besaß der Tote Geld, das er in seinem Hause aufbewahrte, könnten sowohl sein Neffe wie Herr Blissner es gestohlen haben. Eine dritte Variante wäre eine gemeinsame Aktion der beiden, eine vierte, der Dieb ist uns bisher noch unbekannt. Die fünfte würde bedeuten, Gillermann senior hat das Geld an einem sicheren Ort versteckt, und es ist gar nicht gestohlen worden.“ Fester nickte. „Die Gegenvarianten führten in die gleiche Richtung. Wilhelm Gillermann besaß das Geld nicht mehr, aber sein Besucher 173
wußte das nicht. Er bedrängte den Alten, brachte ihn in äußerste Erregung …“ „… und er starb“, warf Gropper ein. „Es ist zu unwahrscheinlich, denn der Tod trat tatsächlich an der Absturzstelle ein. In der Dunkelheit erkannte Wilhelm Gillermann jene Schwelle nicht. Er trat ins Leere, erschrak sich darob zu Tode. Wäre sein Herz in Ordnung gewesen, hätte er nicht den kleinsten Schaden davongetragen, denn die Schwelle auf dem Teufelssteig ist nicht so gewaltig, daß man über sie stürzt. Sie ist nur wenig über dreißig Zentimeter hoch beziehungsweise tief. Vielleicht wäre er nicht einmal ins Kliff gefallen, wenn er sich in seinem kurzen Todeskampf nicht aufgebäumt hätte.“ „Weshalb ist er gegangen?“ warf Haug ein. „Er kam doch aus Birkhalde.“ Es war die Frage, die Hauptwachtmeister Brod die ganze Zeit im Kopfe herumgegangen war. „Wenn er nun bedroht worden war? Des Geldes wegen? Und wenn er erst danach sein Geld in Sicherheit gebracht hat? Käme dann nicht alles zusammen: die Lichter, der jähe Aufbruch, die Panik und das verschwundene Geld?“
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VIII. KAPITEL 1 Diesen Tag fütterte die Witwe Maximilian. Die Festung war gefallen. Dieser Tag war der Verlobungstag der Witwe Trotzig. Für den Ziegenbock bedeutete das ein Frühbankett. Er wußte nicht, daß an diesem Tag sein ferneres Leben gesichert wurde. Nur Karl Romund wußte das. Die Witwe Trotzig würde Maximilian nicht vergiften; stattdessen trällerte sie: „Ich bin eine anständige Frau und nehm’s mit der Ehe genau …“ Vielleicht hätte Romund singen sollen: „Wie die Spinnen in ihr Netzchen – zippelzippel, zippelzapp – sich die kleinen Falter fangen, fangen wir die Männer, schwapp – zippelzippel, zippelzapp.“ Aber er konnte an diesem Tag nicht singen. Bei Karl Romund hatte sich sozusagen ein Staatsstreich vollzogen. Aus seiner bescheidenen, aber wohlgeordneten Republik war eine Monarchie geworden, die die eherne Romundsche Verfassung außer Kraft setzte. Die Küche der Trotzig wurde zum Konferenzsaal, in dem umfangreiche territoriale Veränderungen debattiert wurden. Die Debatte lautete: „Das Haus in der Siedlung verkaufen wir.“ Die „Freien Sänger“, so war es Brauch seit 1911, jubelten das alte Jahr zum Tor hinaus. Zwar vermochte Romund, wie schon erwähnt, gerade an diesem Freudentage nicht zu singen, wollte doch auch nicht im Chor fehlen, diesmal schon gar nicht, wo ungewiß war, welche Freiheiten die neue Monarchin nach ihrer endgültigen Machtübernahme beschneiden wollte. In der Morgenstunde stieg zum Himmel empor das Lied, das jährlich den Abgesang einleitete, ein Kanon aus 175
fünfzig Kehlen, das dem alten Geheimrat Goethe bei den Trebendorfer Frauen den Ruf eines Trunkenbolds eingebracht hatte: „So wälz ich ohne Unterlaß wie Sankt Diogenes mein Faß …“ Dabei sollte jeder wissen, daß gerade Diogenes weniger Trinker denn Denker gewesen, item die „Freien Sänger“. Das Absingen fand auf dem Platz vor dem „Paradies“ statt, damit die Aktiven kurzen Weg hatten, ihre trockenen Kehlen aufzufrischen. Unter dem Publikum befand sich auch Hauptwachtmeister Brod, der in der Menge den ABV Ahnert suchte. Die Gewalt der Männerstimmen hatte ihn gepackt, und er bekam rote Ohren vor Freude. Der Chorleiter hatte entschieden, dieses Jahr zweiundsiebzig still zu verabschieden. Deshalb dröhnten die vereinigten Männerstimmen „In stiller Nacht“, „Verstohlen geht der Mond auf“, „Leise, leise laßt uns singen“ und „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Solche stillen Lieder sollten den verschiedenen Dorf genossen ehren, den niemand so recht gekannt hatte und um den man deshalb auch nicht aus ehrlichem Herzen trauern konnte. Schon gar nicht hatten sie auf ihren närrischen Silvesterschmuck verzichtet, nur auf die Pappnasen, die sie womöglich beim Gesang stören würden. Brod, empfänglich für die Wirkung eines Männerchors, hätte gern noch einige Minuten seine Aufgabe vergessen, die ihm unversehens zugefallen war. Aus heiterm Himmel hatte ihn Hauptmann Gropper beauftragt, die Schlüsselfrage zu beantworten, die er selbst aufgeworfen hatte. Der Hauptwachtmeister mußte eine These beweisen, einen Gedanken, flüchtig und zwingend, logisch und kaum nachweisbar. Da kamen ihm die stillen Lieder recht, die zwischen Kastanienbäumen schallten, 176
Ablenkung tat gut. Dann war es aber Ahnert, der seinerseits den Hauptwachtmeister erblickte und sich zu ihm drängte. „Immer noch in der traurigen Sache?“ fragte er. Traurig, sagte Ahnert inmitten des fröhlichen Firlefanzes, als wäre Trauer eine Sache, die man in die Ecke stellen konnte, oder ein austauschbares Attribut gegen alles. Heute so und morgen so. „Sie müssen mich nach Birkhalde fahren“, sagte Brod. „Mit dem Motorrad? Heute?“ „Sofort.“ Der ABV stöhnte leise. „Haben sich neue Gesichtspunkte ergeben?“ „Es sind immer noch die alten, die nicht widerlegt sind.“ „Dann kommen Sie“, sagte Ahnert. Allein der Gedanke an die Tragödie auf dem Böhlerberg verstimmte ihn. Wie ein Schatten würde sie ständig über seinem Wirken in Trebendorf bleiben. „Es wird zugig auf der Maschine“, meinte er verdrossen. „Dienstauto habe ich nicht.“ „Hab ich auch nicht, aber ich bin lieber zehn Minuten im Zugwind als fünf Kilometer zu Fuß unterwegs.“ Brod fühlte sich erleichtert darüber, daß auch ein junger, aussichtsreicher Kollege am Silvestermittag nicht gerade übergroßen Diensteifer zeigte. Sie stapften zusammen durch den Schnee der Trebendorfer Hauptstraße auf das Häuschen des ABV zu und schwiegen sich aus. Was habe ich vorhin eigentlich von mir gegeben? überlegte Brod. Es war doch nur das Resümee dessen, wo die anderen immer herumgeredet hatten. Zur Belohnung darf ich eine Menge Geld suchen, von dem niemand genau weiß, ob es überhaupt existiert. In Birkhalde sah es so aus wie tags zuvor, und Brod glaubte, daß dieses Dorf auch in vier Wochen genauso 177
aussehen würde. Die einzigen Veränderungen schienen die wechselnden Jahreszeiten zu bringen. Selbst Hans Falkenbüttel, nachdem er zur Gartenpforte vorgekommen und vor seinen beiden unliebsamen Besuchern wieder in die Laube zurückgekehrt war, hockte mißtrauisch und verschlossen in seinem Korbstuhl, ins Feuer des Kanonenofens starrend. „Was wollen Sie heute von mir?“ fragte er, ohne Ahnert und Brod anzusehen. Er erwartete jede und keine Antwort, fühlte, daß er am Rande jener rotierenden Scheibe angelangt war. „Sie dürfen uns nicht als Ihre Feinde sehen“, begann Brod behutsam. Er wußte, daß er ohne das Vertrauen des Mannes keine Chance besaß. „Ich betrachte Sie nicht als Feinde, es ist umgekehrt“, antwortete Falkenbüttel frostig. „Sie kommen fast jeden Tag, obwohl Sie wissen, daß ich krank gewesen bin. Dafür habe ich Zeugen.“ „Niemand glaubt, daß Sie mit dem Tode Ihres Freundes etwas zu tun haben. Aber wir wissen, daß er hier in Birkhalde gewesen ist. Er war bei Ihnen, Herr Falkenbüttel.“ Falkenbüttel rührte sich nicht. Er wagte nicht, seine Zweifel aufzugeben. Wahrscheinlich hatten sie sich davon überzeugen müssen, daß er zu Hause im Bett lag, als Wilhelm Gillermann gestorben war. Doch sie suchten nach dem Geld, und das steckte in einem Verschlag über den Holzstapeln. Der Verdacht würde sofort wieder dasein, oder ein anderer Verdacht würde auf ihn fallen. Er mußte das Geld loswerden, schleunigst loswerden. Es mußte ins Feuer oder irgendwo anders hin. Die verfluchte Tasche konnte Wilhelm nicht wieder lebendig machen. Aber an ihm würde immer etwas hängenbleiben, wenn sie das Geld fänden; dafür würden Blissners oder Klaus schon sorgen. 178
„Ihr Freund ist voller Panik zu Ihnen gelaufen“, sagte Brod eindringlich. „Warum ist er zu Ihnen gelaufen, über den Teufelssteig, mitten in der Nacht? Vielleicht hat ihn jemand bedroht, doch weshalb lief er dann nicht einen kürzeren Weg? Nicht nach Trebendorf hinunter?“ „Ich weiß nicht“, antwortete Falkenbüttel. „Es gibt nur eine Erklärung: Es ging nicht um sein Leben. Es ging um etwas, das er in Sicherheit bringen wollte. Das er nur in Sicherheit bringen konnte, wenn er es hierher brachte, zu Ihnen, einem Menschen, dem er mehr als anderen vertraute.“ Falkenbüttel horchte auf. Er hörte neue Töne. Der Polizist hatte ausgesprochen, was ihm selbst seit Tagen nicht aus dem Kopf wollte. Der Polizist zog es wenigstens in Erwägung. Aber eine Tatsache blieb: Er wußte seit fast einer Woche, daß die Tasche in seinem Holzschuppen steckte. Seitdem waren sie zum dritten Mal bei ihm. Hatte er nicht bereits das Geld gestohlen? „Er vertraute mir, ja. Doch ich war nicht hier. Er traf mich nicht an.“ „Richtig. Er traf Sie nicht an. Er stand vor Ihrem verlassenen Grundstück. Was kann er gewollt haben, Herr Falkenbüttel?“ „Ich weiß es nicht.“ „Halten Sie es für möglich, daß er etwas verstecken wollte? Hier bei Ihnen. Wo könnte er bei Ihnen etwas verstecken?“ Falkenbüttel zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. „Kommen Sie, lassen Sie uns suchen. Vielleicht finden wir es. Dann wüßten wir vielleicht auch, wer schuldig ist am Tode Ihres Freundes.“ 179
Es hat keinen Sinn, dachte Falkenbüttel. Sie würden auf jeden Fall nach dem Geld suchen. Auf der Tasche würden sie seine Fingerspuren finden. Oder sie würden verbrannte Asche finden von Geld, das wohl aus metallhaltigem Papier war. Sie waren ihm über. Fast voll Wonne hoffte Falkenbüttel, daß sie auch dem Schwein über sein würden, das Wilhelm Gillermann mit seiner Geldtasche über den Böhlerberg gehetzt hatte. Sie sollten es finden. Seit Tagen wartete er darauf, daß die Kälte ihn erstarrte, eine Kälte, die auch die Flammen des Kanonenofens nicht vertreiben konnten. Eine Kälte, anders als die nach dem Fieber. Es war Angst. Er hatte immer allein gelebt, aber nun fühlte er sich auch allein. Ich müßte ihnen sagen, dachte Falkenbüttel, daß Geld uns beide nicht interessiert hat. Daß es mich auch jetzt nicht interessiert, jetzt noch weniger als je. Ich müßte ihnen meine Angst begreiflich machen können – und daß ich friere vor Angst. Aber sie werden mich nicht verstehen, wie sollten sie auch. Einem Polizisten muß man alles beweisen. Wie ein Zwang drängte sich jedoch die Vorstellung auf, daß sie ohne die Tasche mit dem Geld den Mörder nicht entlarven könnten. Jawohl, den Mörder! Wilhelm Gillermann hatte gern gelebt, und sein Mörder hatte ihm diese Freude am Leben genommen. Allein diese Freude am Leben war stärker gewesen als die Krankheit. „Warum antworten Sie mir nicht?“ fragte Hauptwachtmeister Brod fast bittend. „Glauben Sie immer noch, daß wir Mißtrauen gegen Sie hegen?“ Ahnert verfolgte staunend Brods Ringen um das Zutrauen des Mannes, den man nur tüchtig in die Mache zu nehmen brauchte, wenn man etwas von ihm erfahren wollte. Solche Zurückhaltung in dienstlichen Dingen 180
befremdete ihn. Dieser Mann von der MUK arbeitete wie eine Schwester der Bahnhofsmission. „Reden Sie, verdammt noch mal; wir machen hier kein Gesellschaftsspiel!“ Falkenbüttel, der eben noch zaghaft die Fühler aus seinem Schneckenhaus gesteckt hatte, zog sich wieder ganz darin zurück. Kein Wort würden sie ihm glauben. Was er auch sagte, das geheimgehaltene Wissen um die Tasche wäre sein Verhängnis, und der Mörder ginge frei aus. „Ich habe, was ich wußte, schon dreimal gesagt.“ „Einmal auch mir“, gab Brod zu. „Ich weiß, daß ich mich bei Ihnen nicht eben klug angestellt habe. Jetzt seien Sie klug; etwas klüger als ich.“ Brod wandte dem ABV das Gesicht zu und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick: Das ist meine Angelegenheit, und ich erledige sie auf meine Weise. „Sie sehen doch, daß das nichts nützt. Der Mann hier will den Mörder seines Freundes schützen. Er will uns nicht helfen. Am besten ist bei so was ein Durchsuchungsbefehl.“ Brod schüttelte den Kopf. „Am besten ist, daß Sie Herrn Falkenbüttel mit uns gemeinsam nachdenken lassen. Wenn Sie sich umdrehen, sehen Sie Ihren riesengroßen Schatten an der Wand. Der läßt Sie größer erscheinen, als Sie sind. Wir sind nicht hier, um Herrn Falkenbüttel mit unseren Schatten zu erschrecken.“ Apathisch stand Falkenbüttel auf. „Ich will keinen Mörder schützen“, flüsterte er. „Keinen Mörder – nein!“ Er ging um den Tisch herum, an den Polizisten vorbei, die Dielen knarrten leise unter den Schritten. Vor der Tür blieb er stehen und drehte sich um. „Ich ging hinaus, um Holz zu holen“, sagte er. „Hinter dem Holz fand ich die Tasche.“ Er öffnete die Tür und blieb neben ihr stehen. „Kommen Sie, ich will sie Ihnen zeigen.“ 181
Sie gingen in den Holzschuppen, und Falkenbüttel zeigte hinauf zu dem Verschlag. Hauptwachtmeister Brod kletterte ächzend auf einen Hackklotz und griff in die dunkle Öffnung. Seine Finger fühlten die Tasche, und er zog sie hervor. „Es fehlt nichts“, sagte Falkenbüttel. „Wilhelm hatte diese Tasche auch immer im Holzschuppen. Niemand wußte davon, nur ich.“ Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Brief hervor. „Auch den habe ich von Wilhelm. Lesen Sie ihn.“ Den Brief in einer Hand, die Tasche in der anderen, ging Brod vor Falkenbüttel zurück. Ahnert schloß sich den beiden an. Wieder in der Stube, ins Ofenfeuer starrend, sagte Falkenbüttel: „Zuerst kam dieser Brief. Er hat Wilhelm fast umgeworfen, und er bekam einen Herzanfall. Das war der Anfang von seinem Ende. Wenn die es schaffen, sagte er, dann geh mit diesem Brief in das Parteibüro von Blissner. Und geh damit auch zur Wohnungsverwaltung. Zeig ihn allen Leuten, damit sie wissen, was er für einer ist. Geh zu allen, die nicht mal ahnen, mit was für einem sie zu tun haben.“ Als der Hauptwachtmeister den Brief lesen wollte, winkte Falkenbüttel müde ab. „Lassen Sie mich erzählen, was drin steht. Ich kenne ihn beinahe auswendig. Und ich muß einmal darüber sprechen.“ „Ja, reden Sie.“ „Wilhelm sei krank und senil, schrieb Blissner. Er brauche Pflege; Pflege, wie sie ihm nur in einem Feierabendheim zuteil werden könnte. Er fände es natürlich, wenn sich sein Onkel, er redete ihn wirklich mit Onkel an, dagegen sträube, denn Altersschwachsinn zeige sich immer zuerst als Starrsinn. Er fühle die Pflicht, seinem 182
Onkel zu helfen, selbst wenn diese Hilfe schroff abgelehnt würde. In der sozialistischen Gesellschaft hätte jeder die Pflicht, hilflosen Mitmenschen beizustehen, auch wenn das verkannt und verleumdet würde.“ Falkenbüttel lächelte traurig. „Auch damit kann man einen Menschen umbringen. Wenn man von einer Krankheit weiß und daß die Krankheit keine Aufregung verträgt, kann man damit morden.“ Schweigend und betroffen hörten die Polizisten zu. Sie wollten widersprechen, sagen, daß so etwas hier und heute nicht mehr möglich sei, aber der Brief in ihren Händen war lebendige Wirklichkeit. „Warum“, fragte Brod, „wollte Blissner denn Gillermann absolut ins Altersheim stecken?“ „Warum? Drüben am Böhlerberg könnte sich Blissner unter die Prominenz mischen. Sagen Sie, ist das die sozialistische Gesellschaft?“ „Aber, Herr Falkenbüttel …“ Ahnert wollte weit ausholen, suchte nach den richtigen Worten. „Ja, sie gehören dazu“, gestand Brod ein. „Aber es gibt doch nicht nur solche Leute. Blissner ist doch eine Ausnahme. Sie selbst gehören ebenso dazu; warum stellen Sie die sozialistische Gesellschaft wegen Blissner einfach in Frage?“ „Ich meine die Leute auf dem Berg. Es gibt Leute auf dem Berg und unter dem Berg, Blissner denkt, daß er auf den Berg gehört. Er wollte Wilhelms Grundstück kaufen und ihn selbst nach Roseneck bringen. Aber Wilhelm brauchte das Geld nicht und auch nicht Roseneck.“ „Die Leute auf dem Berg. Natürlich gehören sie zu unserer Gesellschaft. Ob es eine sozialistische Gesellschaft ist, hängt in erster Linie von uns selber ab. Wir machen doch den Sozialismus. Aber wir sind unterwegs, Herr Falkenbüt183
tel; der Weg ist nicht ganz glatt“, sagte Brod schlicht. „Wer wußte übrigens von der Existenz des Geldes?“ „Alle“, antwortete Falkenbüttel. „Klaus Gillermann, die Blissners, ich.“ „Wieviel ist es?“ Falkenbüttel schüttelte den Kopf. „Ich habe es nicht gezählt. Wozu auch? Doch es ist viel Geld, viel zuviel. So viel, daß er es verstecken mußte.“ „Warum hat er es nicht zur Bank gebracht?“ „Zur Bank?“ fragte Falkenbüttel. „Natürlich hätte er es zur Bank bringen können. Er wollte nicht. Nein, er wollte nicht.“ 2 „Was werden Sie beweisen können mit dem Geld?“ fragte Ahnert. In seinem Wohnzimmer auf dem Tisch lagen die Geldbündel: fünfundvierzigtausendzweihundert Mark! Falkenbüttel hatte es gezählt, Brod hatte es gezählt, und Ahnert hatte es gezählt. Nun zählten sie es ein viertes Mal, und es blieb die gleiche Summe. „Gillermann hatte es versteckt. In einem Schuppen hinter einem Entenstall. Dann hat er es genommen und ist über den Böhlerberg gelaufen. Das tut man nur, wenn man glaubt, daß es gestohlen werden soll. An diesem Tage war jemand bei Gillermann. Wir wissen, daß Blissner und der Neffe sich in Trebendorf aufhielten. Welcher von beiden mag der Gast gewesen sein?“ „Blissner stiehlt kein Geld.“ Brod nickte. „Ja, das glaube ich auch. Es verträgt sich nicht mit seinem Brief. Wir sollten versuchen, herauszufinden, wo er sich wirklich aufgehalten hat.“ 184
„Unterlauf“, sagte Ahnert. „Wie bitte?“ „Horst Unterlauf. Jetzt kann er sich endlich einmal beweisen. Horst Unterlauf ist den ganzen Tag im Ort unterwegs gewesen. Es wird eine Hundearbeit werden, aber ich quetsche alles aus ihm heraus.“ „Falls es etwas zu quetschen gibt“, sagte Brod. Langsam begann er die Bündel einzusammeln. „Das muß ich nun durch die Weltgeschichte transportieren“, seufzte er. „Ich bin froh, daß es vorbei ist. Ich glaube, für solche Sachen bin ich nicht geschaffen.“ Er schloß die Tasche sorgfältig und hob sie an. Dann stand er auf. „Heute abend werde ich nicht gerade glücklich feiern. Auch Falkenbüttel nicht, das weiß ich. Es wird trotzdem Neujahr. So ist das.“ Mit der Tasche in der Hand ging er in die Diele, stellte sie umständlich ab und zog den Mantel an. „Nun muß ich mich sogar noch beeilen, den Zug zu bekommen“, sagte er. Draußen blieb er noch einmal stehen. Er befühlte die Tasche. Fünfundvierzigtausend Mark, dachte er. Dafür wird gestohlen oder eingebrochen, dabei wiegt es fast gar nichts. Darum spielen sich Tragödien ab, manchmal Komödien. Das Absingen war vorbei, und am frühen Nachmittag wirkte das Dorf verlassen. Auf dem Bahnhof warteten ein paar Leute, die ihn neugierig anstarrten. Warum tun sie das? dachte er. Wissen sie, wer ich bin? Im Zuge fiel ihm endlich ein, daß er einen Sieg davongetragen hatte. Erst vor vierundzwanzig Stunden hatte er die unerfreuliche Auseinandersetzung in Hauptmann Festers Büro gegen seinen Chef entschieden.
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3 „Das hier ist uns eben von der hiesigen Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit zugestellt worden“, sagte Hauptmann Fester. Er hielt ein großes Briefkuvert in der Hand. „Was ist das?“ „Ein Protokollauszug. Hat ursächlich mit unserem Fall zu tun; die Einvernahme des Klaus Gillermann im Zusammenhang mit einem Wirtschaftsverbrechen.“ „Ach“, sagte Gropper. Er nahm das Kuvert und betrachtete es unschlüssig. „Vor den Genossen dort hat er ohne Umschweife eingestanden, was er uns eine Woche lang abgeleugnet hat.“ „Ach“, wiederholte Gropper. Er zog den Auszug aus dem Kuvert und las ihn. „Ich bekomme langsam Hochachtung vor Brod. Unser Toter hatte offenbar tatsächlich Kenntnis von einem Verbrechen. Sein Neffe wurde erpreßt, und in seiner Verzweiflung ging er zu Wilhelm Gillermann. Er wußte, daß sein Onkel über umfangreiche Geldmittel verfügte und sie sogar in seinem Hause aufbewahrte.“ „Aber der Onkel wollte von dergleichen Hilfsaktionen nichts wissen.“ „Er riet Klaus Gillermann zu dem Vernünftigsten, nämlich die Polizei zu verständigen. Damit tat er genau das, was zu seinem Tode führte. Verzweifelt, wütend und feige drohte ihm Klaus Gillermann, daß er so oder so an das Geld käme. Mit einer Anzeige bei der Polizei wäre nämlich das ganze Trugbild, das er von sich geschaffen hatte, zerflossen.“ „Der alte Mann hieß seinen Neffen warten, damit er das Geld holen könnte. Klaus Gillermann, erleichtert und wieder beruhigt, wartete …“ 186
„.. aber der Onkel kam nicht wieder. Er kam nie mehr wieder. Womit Brod erneut recht gehabt hat. Wilhelm Gillermann wurde seines Geldes wegen bedroht und brachte es nach Birkhalde. Ich bin ziemlich sicher, daß Brod damit ankommt. Wilhelm Gillermann lief über den Teufelssteig, um sein Geld bei dem Freunde aufzubewahren. Vielleicht gedachte er, selber dort zu übernachten. Leider war Falkenbüttel nicht in Birkhalde, sonst würde Wilhelm Gillermann nicht tot sein.“ Hauptmann Gropper lächelte verlegen. „Ich muß klein beigeben.“ Fester winkte ab. „Nicht unser Verdienst. Sicher hätten wir ebenso wie Sie einen Routinefall daraus gemacht. Diese Figuren, Gillermann junior und Blissner, haben sich selbst entlarvt. Integre Persönlichkeiten unserer Gesellschaft, ein geachteter Intelligenzler der eine, ein angesehener Abgeordneter unseres Kreises der andere, in Konfliktsituationen werden sie durchschaubar. Solche halten sich nicht lange. Wir haben uns mit der Person Wilhelm Gillermanns beschäftigt, dabei wurden die Widersprüche deutlich. Aber beweisen, beweisen konnten wir nichts. Letztlich mußten sie uns selbst dabei helfen.“ „Vielleicht ist es so“, sagte Gropper nachdenklich. „Trotzdem sollten wir uns nicht darauf verlassen. Wie oft sind sie gut getarnt, und wie selten helfen Verbrechen dabei, ihnen die Tarnung wegzunehmen. Daß Sie Blissner durchschauen konnten, liegt an der Erpressung Gillermanns durch einen Petter. Den Mann also, den wir bisher nicht einmal namentlich kannten. Und was nützt es? Blissner ist tatsächlich unschuldig im Sinne unserer Ermittlungen. Hier haben wir die Grenze unserer Möglichkeiten erreicht, werden wir Bürger unter Bürgern.“ „Ich bin entschlossen, meine Rechte als Bürger gegen Blissner wahrzunehmen“, sagte Florian Fester. Als er das 187
sagte, wußte er, daß seine Feststellung rein rhetorischer Natur bleiben mußte. Er war nicht befugt, die Ermittlungsergebnisse privat gegen einen Mann zu benutzen, der kriminell nicht in Erscheinung getreten war. Jedoch, Blissner war ein Abgeordneter, und was vielleicht noch wichtiger ist: Florian Fester war auch Wähler. 4 Haug legte leise den Telefonhörer auf die Gabel. Er war allein im Büro, weil Florian Fester und Hauptmann Gropper über die Straße essen gegangen waren. Er dachte daran, daß es in einigen Wochen sein Büro sein würde. Dann nämlich wurde Florian Fester in die Bezirksstadt versetzt. Wie groß ist mein Anteil an dem Abschluß der Ermittlungen? dachte er. Hätte ich allein gearbeitet, wäre ich dann zum selben Resultat gekommen? Die Affäre war eigentlich nicht besonders geeignet, das Ausmaß eigener Arbeit daran zu messen. Weder ist gemordet noch gestohlen worden. Erben hatten einen alten Mann in die Enge, in gewissem Sinne sogar in den Tod getrieben, aber sie hatten sich nicht strafbar gemacht. Sie wollten sein Haus, seinen Garten und sein Geld. Sie wollten Ansehen erschwindeln. Ihr Egoismus hatte Opfer gefordert; ein Menschenleben und die Planposition eines Kombinates für Rechenelektronik. Die Tür öffnete sich, und Leutnant Schneller trat ein. Er sah Haug sitzen, und seine Miene verdüsterte sich. „Glück gehabt“, sagte Schneller ironisch. „Wenn nicht der Dreh mit den Konstruktionsunterlagen aus dem Kombinat zufällig dazugekommen wäre, wärt ihr baden 188
gegangen mit eurer Theorie. Hauptmann Gropper soll bei der Einvernahme des kleinen Spitzbuben in Wallingen hinzugezogen werden. Und dann ist endgültig Schluß.“ „Schluß?“ fragte Haug. „Eben hat der ABV von Trebendorf angerufen. Brod hat das Geld gefunden, nach dem wir gesucht haben. Wohlgemerkt: Brod hat das Geld gefunden! Nicht Sie und nicht Hauptmann Gropper.“ „Aber auch nicht Sie und Hauptmann Fester“, parierte Schneller grinsend. „Brod hat in zwei Tagen mehr geschafft als ihr in acht. Ihr habt euch bloß an der Nase herumführen lassen.“ Haug ertrug auch diesen Spott. Er war zu müde, um sich von Schneller provozieren zu lassen. Er verstand sogar dessen unpersönliche Betrachtungsweise. Schneller hatte in der MUK ständig mit Toten zu tun. Für ihn war der Fall Gillermann einer der angenehmeren. Ein alter Mann, der unterwegs einen Herzanfall erlitten hatte, daran gestorben und den Berg hinabgestürzt war, bedeutete leichte Arbeit für ihn. „Eigentlich haben wir acht Tage lang an dem Fall gearbeitet, der jetzt in Wallingen anliegt“, sagte Haug lahm. „Auch der wird euch nun abgenommen. Von der Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit.“ „Vielleicht, weil er dort auch hingehört, nicht wahr?“ Schneller lachte. „Trösten Sie sich. Vielleicht schlägt ein Betrunkener heute nacht einem anderen ein Auge aus. Dann kommen auch Sie noch zu Ihrem Erfolg. Ich wünsche es Ihnen. Mich jedenfalls hat der Hauptmann vom Dienst befreit. Ich fahre nach Hause. Adieu.“ Er ging zum Garderobenschrank, legte seinen Mantel lose über den Arm und verließ das Zimmer. „Adieu“, sagte Haug, nachdem die Tür leise wieder ins Schloß gefallen war. Er stand auf und ging zum 189
Fenster. Gegenüber im Englischen Garten standen zwei Schwäne im Schnee und putzten sich. Auf dem Märchenbrunnen turnten Kinder umher, über den Weg zum Bahnhof streute ein Mann Sand. Zwei Jungen warfen einen Blitzknaller in den Papierkorb und liefen davon. Eigentlich ist jetzt alles in Ordnung, dachte Peter Haug. Wilhelm Gillermanns Verschwinden ist aufgeklärt, sein Geld wurde gefunden, Klaus Gillermann ist wegen des Verdachts der Industriespionage vorläufig festgenommen. Alles andere ist Sache des Ministeriums für Staatssicherheit. Kurze Zeit darauf kehrten Gropper und Fester zurück. Sie unterhielten sich lebhaft, und Gropper hatte seine Hand auf Festers Arm gelegt. Sie hörten Haugs knappem Bericht von dem Anruf aus Trebendorf zu, und Gropper stieß Fester an. „Ich sagte ja, der Genosse Brod bringt das Geld.“ Er überlegte eine Weile, dann fuhr er fort: „Ich habe den Wunsch geäußert, in Wallingen dabeizusein. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sich an den Fakten noch etwas ändern wird. Doch wer weiß, vielleicht hat Klaus Gillermann noch einmal gelogen. Am Dienstag mache ich dann den Abschlußbericht. Jedenfalls danke ich Ihnen beiden.“ Dann ging Gropper zum Schrank, legte sich die Garderobe über den Arm und sagte: „Adieu.“ Fester setzte sich an seinen Schreibtisch. Er nahm die Akte Gillermann und begann sie nachdenklich durchzublättern. „Wann kommt der Genosse Brod zurück?“ fragte er. Haug blickte auf seine Armbanduhr, dann schüttelte er sie. „Die steht leider“, brummte er. „Ich habe wohl vergessen, sie aufzuziehen. Der Zug fährt jedenfalls um vierzehn Uhr elf. Demnach müßte er um drei hier sein.“ 190
„Also in einer halben Stunde“, sagte Fester. „Er kommt mit einem Sack voll Geld, dazu noch allein. Auch kein legaler Weg.“ „Der Genosse Ahnert sollte ihn eigentlich begleiten. Doch, gründlich wie Brod nun einmal ist, hat er ihn beauftragt, herauszufinden, wo Blissner denn nun wirklich am Freitagabend in Trebendorf gesteckt hat. Warum, zum Teufel, kann man diesem Kerl nichts nachweisen? Es wäre zu schön, wenn es ihm an den Kragen ginge.“ Der Hauptmann stand auf. „Ich will das nicht gehört haben, Peter“, sagte er. „Der Mann taugt nicht das Schwarze unterm Fingernagel, aber er ist objektiv unschuldig an den Ereignissen in Trebendorf. Nur das ist entscheidend für uns. Wahrscheinlich ist er als Abgeordneter sehr zweifelhaft, aber deswegen können wir ihn nicht abwählen.“ „Trotzdem könnte ein Schuß vor den Bug nicht schaden.“ „Ein Schuß vor den Bug“, antwortete Fester leise. „Da hast du recht. Ich könnte mir denken, daß er nicht ganz unbeeindruckt von den Dingen ist.“ Er trat ans Fenster, sah hinaus zum Englischen Garten und wiederholte grimmig: „Ein Schuß vor den Bug kann ihm wahrhaftig nicht schaden.“ Er drehte sich abrupt um. „Mit dem Tode seines Onkels hat das aber wirklich nichts zu tun!“
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IX. KAPITEL 1 Nach einem bösen Tag im Büro der Relaisfabrik fand Erwin Petter keine Ruhe. Die folgende Nacht wurde länger als andere Nächte. Er schlief wenig, manchmal nur wenige Minuten hintereinander, in den Stunden dazwischen kehrte wie ein Alptraum immer wieder die Szene in der Kneipe zurück: Klaus Gillermann, wehleidig und hilflos; Erwin Petter überlegen, zynisch, fordernd. Warum ist er so? fragte sich Erwin Petter. Er hat alles geschafft, was er wollte, Ingenieur werden konnte jeder. Klaus Gillermann ist ja mehr. Er ist einfach nicht der Typ, Bodensatz des Ingenieurkorps eines Großbetriebes zu sein. Klaus Gillermann war nicht in der Lage, wie Erwin Petter, mit dicken Heftern, gefüllt mit Fehlteillisten, hinter Zulieferteilen herzulaufen, irgendwo zwischen vielen zu verschwinden. Er war niemals wählerisch in seinen Mitteln gewesen, wenn er etwas erreichen wollte. Er hatte sogar Erwin Petter benutzt. Immer hatte eine Hand die andere gewaschen. Nach dem Morgenkaffee, als Erwin Petters wacher Verstand langsam wieder auf Touren kam, glaubte er dem Rätsel nähergekommen zu sein. Einst war ihm der Vorwurf der Technokratie gemacht worden. Das ist, überlegte er, die Herrschaft der Technik oder der Steuerleute der Technik über die Gesellschaft. Wenn Erwin Petter der Glaube an die Technokratie vorgeworfen werden konnte, dann erst recht Klaus Gillermann, der niemals in anderen als technischen Relationen zu denken gelernt hatte. Sein Seelenheil konnte man auf beruflichen 192
Erfolg reduzieren. Wahrscheinlich hatte Klaus Gillermann nicht einen Augenblick lang an den Nutzen des Gerätes gedacht, das er als bloße Idee sicherlich schon seit Jahren mit sich herumschleppte. Die MAXIMA hatte keine andere Aufgabe, als ihm zu dienen, koste es, was es wolle. Koste es, was es wolle. Aus heiterem Himmel war Klaus Gillermann umgekippt. Ihm hätte bewußt sein müssen, daß Erwin Petter Forderungen ableiten würde. Sie waren einander so sehr gleich, daß sich sogar ihre Gedanken ähneln mußten. Weshalb war Klaus Gillermann umgekippt? Erwin Petter ging in sein Arbeitszimmer. Es war ein viereckiger, hoher Raum, dessen Stirnseite von einer breiten Balkontür eingenommen wurde. Der Balkon wies nach Osten, und im grauen Winterhimmel schwamm die Sonne glutrot direkt über den Dächern auf der anderen Straßenseite. Sie warf ein rotes Dämmerlicht durch die Scheiben, das sich mit dem der Deckenbeleuchtung zu einem merkwürdigen Zwielicht vereinigte. Erwin Petter wurde nicht besser davon. Die Papiere auf dem Schreibtisch enthielten die Berechnungen für die Störanfälligkeit der MAXIMA bis auf die fünfte Stelle nach dem Komma. So weit hatte er sie reduziert, und er war sicher, daß auch Laborversuche kein schlechteres Ergebnis aufweisen würden. Klaus Gillermanns Idee war nicht falsch gewesen. Weshalb war er umgekippt? Es war natürlich ein Fehler gewesen, Klaus Gillermann darauf zu stoßen, daß man mit den Unterlagen noch mehr anfangen konnte, als sich einen guten Namen zu machen oder ein paar tausend Mark herauszuschlagen. Sicherlich wußte Klaus Gillermann genauso wie er selbst, daß Maschinen überall funktionierten. Sie kennen weder Länder- noch ideologische Grenzen. Möglicher193
weise interessierten auch Klaus Gillermann solche Grenzen nicht, doch eines würde er auf jeden Fall zu verhindern trachten: daß seine Maschine ohne sein eigenes Zutun irgendwo auftauchte. Er hätte die Fünftausend ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt, dachte Erwin Petter. Er hätte auch alles getan, um sich die Summe zu verschaffen. Die Grenzen der technokratischen Weltanschauung konnte Klaus Gillermann nicht überschreiten. Er hat alles getan, das Geld zu bekommen. Es ist ihm nicht geglückt. Vorderhand steht der Technokratie das Äquivalent aller Werte gegenüber: das Geld. Nachdenklich trat Erwin Petter vor die Bücherwand. Im untersten Fach lag der gesammelte Jahrgang der Bezirkszeitung. Mit langsamen Bewegungen legte er die vorletzte Ausgabe des Jahres 1972 obenauf, strich sie sorgfältig glatt, dann nahm er die obersten drei von dem Stapel und legte sie um. Auf dem Rücken lag nun die Ausgabe vom Donnerstag. Es war die Kreisseite, die nach oben wies, und Erwin Petter ließ sich auf die Knie nieder. In der linken unteren Ecke stand: Die Volkspolizei meldet. Vermißt wurde seit dem dreiundzwanzigsten Dezember Wilhelm Gillermann, es folgten die üblichen Angaben zur Person und die Frage: Wer sah den Vermißten zuletzt? Hinweise, die gegebenenfalls vertraulich behandelt werden, erbittet das VPKA Abt. K oder jede andere Dienststelle. Klaus Gillermann war umgekippt. Erwin Petter wußte, daß es der sogenannte reiche Onkel aus Amerika gewesen war. Aus Amerika oder woandersher. Mittwoch hatte Erwin Petter das Geld gefordert, und drei Tage darauf verschwand der reiche Onkel. Also sind alle Spekulationen nutzlos, dachte Erwin Petter. Vielleicht gelänge es mir noch, die Unterlagen zu ver194
stecken, mir wird es jedoch nicht gelingen, etwas damit anzufangen. Die Polizei kommt Klaus Gillermann kurz über lang durch den verschwundenen Onkel auf die Schliche. Er wird der beste Zeuge gegen Erwin Petter sein, und die Indizien werden ausreichen, ihn so lange aus dem Verkehr zu ziehen, bis die MAXIMA trotzdem fertig ist. Ihr Arbeitsprogramm ist bereits fertig; Detailaufträge für die ganze Mannschaft, davon hat Gillermann gesprochen. Penibel legte Erwin Petter die Zeitungen wieder zurück, erhob sich leise stöhnend aus seiner unbequemen Hockstellung und ging mit steifen Beinen zum Schreibtisch zurück. Das Tageslicht war heller geworden, die Sonne hatte ihr intensives Rot verloren. Erwin Petter setzte sich hinter den Schreibtisch und begann den Papierberg zu sortieren. Meine – deine, dachte er, es war ein beliebtes Kinderspiel mit Blütenblättchen. Meine – deine – seine – unsere – eure -ihre. Wahrscheinlich würden „meine – deine – seine“ ausscheiden, das ließe sich nicht vermeiden. Sicherlich würde „ihre“ rauskommen, obwohl er selbst mit einem prächtigen Stapel beteiligt war. Vielleicht wäre „unsere“ möglich. Erwin Petter beschloß, seinen Kopf ein wenig auszulüften. Die schlechte Nacht machte ihm körperlich zu schaffen. Draußen empfing ihn der Morgen mit glasklarer Kälte. Er lief durch den Schnee und bemühte sich, an nichts zu denken. Wallingen mit seinen krummen, grauen Gassen nahm ihn auf. 2 Nachmittags läutete es an der Tür des Pfarrhauses. Es klang eine Spur zu laut und eine Spür zu schrill. Erwin 195
Petter war allein im Hause, und beim ersten Ton wußte er, daß sie es waren und ihn meinten. Sie kamen früher, als er erwartet hatte, und er schloß daraus, daß Klaus Gillermann ganz und gar umgekippt war. Erwin Petter saß seit einer Stunde am Schreibtisch und hatte begonnen, die Konzeption seiner Berechnungen aufzuschreiben. Man spielt immer zu hoch, nur deshalb kommt man um Kopf und Kragen. Nur wer beizeiten aufhört, rettet seine Haut. Als es ein zweites Mal läutete, noch länger und noch schriller; befand er sich bereits auf der Treppe, und beim dritten Mal öffnete er auch schon. Es waren zwei Mann in Zivil und einer in Uniform. „Herr Petter?“ fragte der eine Zivilist und fuhr fort, als Petter nickte: „Dürfen wir eintreten? Wir haben mit Ihnen zu sprechen.“ Er klappte einen Ausweis auf, aber Erwin Petter warf keinen Blick darauf. Er nickte nur wieder, es war ein mechanisches Nicken, während jeder Nerv angespannt war und das Blut pulsierte. Er brachte kein Wort über die Lippen. „Sie sind allein?“ fragte der Wortführer, während sie die Treppe hinaufgingen. „Ja.“ Er führte sie ins Wohnzimmer, setzte sich, bevor er ihnen Plätze anbot, auch die beiden Zivilisten setzten sich, während der Polizist in Uniform stehenblieb. Er stand zwischen Petter und der Tür, und Petter dachte: Es sieht gefährlich aus. „Wenn Sie allein sind, benennen Sie bitte einen Zeugen. Wir müssen eine Haussuchung vornehmen.“ „Nicht nötig“, sagte Erwin Petter kratzig. „Ich bin Zeuge genug.“ Der Wortführer nickte. Man sah ihm keine Zufrieden196
heit an, aber seine strenge Stimme wurde weicher. „Sie wissen also, weshalb wir hier sind?“ Erwin Petter bestätigte es. Er hüstelte, aber seine Stimme blieb rauh. „Klaus Gillermann hat mich angezeigt.“ „Herr Gillermann hat sich angezeigt.“ „Wenn der Genosse“, Petter wies auf den Uniformierten, „durch diese Tür geht, findet er auf dem Schreibtisch alles, was Sie suchen. Auf der linken Seite die Papiere, die ich von Gillermann bekommen habe, auf der rechten das, was ich daraus machte. In der Mitte meine Konzeption. Sie ist noch nicht fertig, Sie haben mich unterbrochen.“ Der Wortführer sah Petter aufmerksam an. „Das hat Zeit“, sagte er. „Zuerst ein paar Fragen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?“ „Natürlich. Ich habe mich darauf vorbereitet.“ Der Wortführer lächelte jetzt. „Ich heiße Finger“, sagte er, „Doktor Finger; wir sind sozusagen Kollegen. Mein Dienstrang ist Oberleutnant, ich bin verantwortlich für das Kombinat. Das sage ich, damit Sie wissen, daß Sie mir keine langen Erklärungen in Fachfragen zu geben brauchen.“ Petter strich sich über die Schläfen. Er dachte an nichts als an den rasenden Kopfschmerz, der ihn urplötzlich überfallen hatte. Mühselig versuchte er seine Gedanken zu sammeln. Noch vor Minuten hatte er jedes Wort gewußt, das er ihnen sagen wollte. Alles war jetzt fort. „Wahrscheinlich haben Sie sich über mich informiert. Es war meine Chance, und ich habe sie nicht einmal gesucht. Sie bot sich ohne jede Vorwarnung, und ich habe sie genutzt.“ „Chance“, sagte Dr. Finger, „das ist dehnbar wie Gummiband.“ 197
„Ja. Aber so meinte ich das nicht.“ „Wie meinten Sie das nicht?“ „Das Ausnutzen der Chance. Mir ging es darum, zu beweisen, daß ich mehr kann als Klaus Gillermann. Er der Entwicklungsingenieur und ich der Arbeitsvorbereiter.“ „Und deshalb erpreßten Sie ihn?“ Dr. Finger betrachtete intensiv Erwin Petters Gesicht. „Offensichtlich hat Ihre Chance einem Menschen das Leben gekostet. Ich weiß nicht, ob man auf diese Weise seine Qualitäten deutlich machen kann. Beziehungsweise läßt es diese Qualitäten in einem recht zweifelhaften Licht erscheinen.“ „Wie meinen Sie das?“ „Mag sein, daß Herr Gillermann nicht gerade an dem besten Platze ist. Aber ihre Argumentation – er da oben, Sie da unten – scheint mir erst recht an den Haaren herbeigezogen zu sein.“ „Sie kennen meinen Lebenslauf?“ Oberleutnant Dr. Finger schüttelte den Kopf. „Was ich bisher erfahren habe, kam von Herrn Gillermann. Für die Genauigkeit kann ich mich nicht verbürgen. Was Sie da über Ihre ‚Chance‘ gesagt haben, läßt einige Schlußfolgerungen zu. Sie nutzen Ihre Chance einmal aus, und ein Mensch stirbt. Sie nutzen Ihre Chance ein weiteres Mal aus … Ja, was wäre geschehen, wenn diesmal Herr Gillermann nicht doch Charakter gezeigt hätte?“ „Ich hätte ihm alles zurückgegeben. So wie es nebenan auf meinem Schreibtisch liegt.“ „Sie wollten die Papiere nicht über die Grenze bringen?“ „Nein“, antwortete Petter. Dr. Finger schaute ihn zweifelnd an, dann fuhr er über seinen schütteren Haarschopf. Er war verhältnismäßig 198
jung, aber er besaß eine sehr hohe Stirn und dünnes schwarzes Haar, unter dem die Kopfhaut durchschien. Er hatte einen ovalen Kopf, dessen Form durch die Frisur nicht verdeckt wurde. Ein Umstand, der ihn bekümmerte, denn seine Frau nannte das einen Eierkopf. „Sie sind klug“, sagte er zu Erwin Petter, „Sie sind sogar gerissen. Sie rechneten mit der Labilität Ihres Studienfreundes. Einmal erst hineingeritten, dachten Sie, wagt es Herr Gillermann nicht mehr, uns reinen Wein einzuschenken. Sie glaubten, er würde resignieren.“ Er deutete auf seinen Begleiter, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte. „Das ist Leutnant Biskup. Er wird Sie Klaus Gillermann gegenüberstellen. Und der ist in vollem Umfang geständig. Er hat Ihnen wichtige betriebliche Unterlagen übergeben, weil er an Ihre Freundschaft glaubte. Dann versuchte er das geforderte Geld zu beschaffen und richtete einen Scherbenhaufen an. Aber das letzte, das Sie ihm in Aussicht stellten, nahm er nicht mehr hin. Auch das gehörte zu Ihrem Kalkül, denn Sie versuchten gar nicht erst, die Unterlagen zu verstecken oder ihren Besitz zu verleugnen. Dazu sind Sie wahrhaftig zu klug. Kommen Sie! Wir gestatten uns, Ihre Wohnung bis auf weiteres zu versiegeln.“ „Heißt das, ich bin verhaftet?“ Leutnant Biskup schaute von Dr. Finger zu Erwin Petter. „Sie sind vorläufig festgenommen“, antwortete er. 3 Er wollte die Einladung absagen. In letzter Minute, und in seiner Stimme sollte Trauer klingen. Durch das Telefon könnte keiner entscheiden, wie echt seine Trauer 199
wäre. Sie würden eine belegte Stimme hören, wie wenn ihm ein Kloß im Halse stäke. Er würde sagen: „Tut mir so leid, Chef, ich kann nicht kommen … Sie wissen vielleicht, wie das ist; man ist so wenig zu Hause; sie konnte das nicht verstehen … Ja, sie ist fort … vorgestern … ich weiß nicht, wohin … Das hat man von seiner Schufterei, von der Parteiarbeit, von der gesellschaftlichen Funktion …“ Dazu ein bißchen Sülze. Selbstzerfleischung. „… ich habe dagesessen, und mir ist alles durch den Kopf gegangen … So eine leere Wohnung, Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist … und dann denkt man nach … Da wird einem plötzlich bewußt, wie es einen mit Haut und Haaren gefressen hat, daß man zu oft abgespannt gewesen ist und mürrisch … Ich wollte ja kommen, bis eben, aber ich fürchte, daß ich ein schlechter Gesellschafter bin … Denken Sie, Silvester und Trübsal blasen. So einer stört doch nur … Nein, versuchen Sie nicht, mich umzustimmen … Ich werd ein wenig mit dem Auto spazierenfahren, das wird mir guttun … Danke, Chef … Tut mir wirklich leid.“ Es war zwanzig nach vier, und er würde um sechs Uhr anrufen, keine Minute eher. Zu sieben Uhr waren sie eingeladen. Er war so ehrlich, sich einzugestehen, daß der Chef nicht in Tränen zerfließen würde vor Mitleid. Vielleicht wurde er sogar zum Gegenstand des Spottes. Aber glauben würden sie ihm. Überall. Er hatte sich frei gemacht von seiner widerwärtigen Ehe und Inges ständiger weinerlicher Anklage. Er war wieder Herr seiner selbst. Es tat gut, allein zu sein. Er konnte entscheiden, was er tat, und zuerst würde er sich in der Diele bäuchlings auf den Teppich legen und vor dem Telefonapparat Liegestütze machen. Dann würde er ganz langsam null – 200
neun – sechs -sechs – acht – drei wählen, danach zwei – sechs – acht – drei … Er wunderte sich über die Spannung, die ihn beherrschte. Es gab keinen Grund. Er war ein Mann, den die Frau verlassen hatte. Solch ein Mann besaß doch wohl zwingende Gründe, eine Silvestereinladung abzulehnen. Ebenso konnte man es ihm nicht verargen, bei einer anderen Trost zu suchen. Nun konnte er sagen, daß er eine unglückliche Ehe geführt hatte, sich sogar scheiden lassen, ohne daß es ihm auf irgendeine Weise schadete. Diese Frau verstand seinen persönlichen Einsatz für die Gesellschaft nicht. Mehr noch: sie billigte ihn nicht. Nicht die unzähligen Abende, die er seiner Partei opferte und seiner Aufgabe als Abgeordneter. Was also sollte ihm passieren. Er probierte ein paar mühsame Liegestütze, dann setzte er sich im Schneidersitz hin. Die Vorwählnummer mußte er zweimal wählen, ehe er nach Trebendorf durchkam. Als sich die Frau auf der anderen Seite meldete, sagte er: „Ich bin glücklich. So glücklich, daß ich in ein paar Stunden bei dir sein kann. Es ist hier nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen.“ 4 Die anderthalb Stunden begannen ihn zu langweilen. Aber vor sechs durfte er nicht beim Chef anrufen. Um sechs hatten sie ihre Vorbereitungen beendet, saßen erschöpft in ihren Sesseln, tranken vielleicht ein Glas Wein. In dieser Zeit, dem Warten auf die Gäste, war der Chef am aufmerksamsten. Vielleicht würde er sogar ein wenig Trauer aus seiner Stimme heraushören. 201
Trauer ist wie Freude, beides läßt sich stimulieren. Kurt Blissner ging zum Plattenspieler und legte Dvořáks Sinfonie Nr. 9 auf. Den zweiten Satz; Hiawathas Klage um Minnehah. Trauer ist wie Freude, dachte er, es füllt einen ganz aus. Als das Largo verklungen war, schrillte die Flurklingel. Der Schreck lähmte ihn fast. Sie. Wenn es nur nicht sie war. Sie durfte nicht zurückkommen. Heute nicht. Ab morgen war es ihm egal, da mochte sie tun, was sie wollte. Die Klingel schrillte noch einmal, länger. Da fiel ihm ein, daß sie ja einen Wohnungsschlüssel besaß. Er ging zur Tür. „Sie?“ fragte er, als er Fester erkannte. Der Kriminalist kam ihm wie gerufen. Deshalb murmelte er: „Sie kommen im unrechten Augenblick. Treten Sie trotzdem ein.“ „Diesmal komme ich mit einer angenehmen Nachricht“, antwortete Fester. Er ließ sich ins Wohnzimmer führen und in einen Sessel verfrachten. „Was soll es schon Angenehmes geben? Ich bin ganz unten angelangt.“ Blissner machte eine tragische Pause, dann fuhr er fort: „Sie haben den alten Mann gefunden, ich habe bereits davon gehört. Er ist auf seinem verdammten Berg verunglückt.“ „Ja, das wollte ich Ihnen mitteilen. Damit Sie einen ruhigen Jahreswechsel haben.“ „Ruhig“, sagte Blissner. „Es wird der schlimmste Jahreswechsel meines Lebens.“ „Ist das Ihre Masche Nummer vier?“ Blissner starrte den Hauptmann mißtrauisch an. „Wie meinen Sie das?“ „Ich fragte, ob Sie jetzt Ihre vierte Rolle spielen?“ 202
„Vierte? Rolle?“ schrie Blissner. „Herr, mir ist die Frau weggelaufen, und Sie wagen es, sich noch über mich lustig zu machen.“ Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln sah Fester ihn an. „Jetzt beginne ich zu begreifen, was Sie zu Ihrem Komödienspiel veranlaßt hat. Gar nicht so ungeschickt, mein Lieber. Zuerst war es Ihnen natürlich peinlich, daß Ihr angeheirateter Onkel ausgerechnet an einem Tage aus seiner Hütte verschwand, als Sie bei Ihrer Liebsten in der Trebendorfer Siedlung waren. Wie jeder vermuteten Sie ein Verbrechen, denn natürlich wußten Sie von dem Sparstrumpf des Alten, der Falkenbüttel zudem gestanden hatte, daß er sich vor Ihnen fürchtete. Immerhin fanden Sie seinen Berg so attraktiv, daß Sie ihn von dort verjagen wollten. Erfurt war eine zu plumpe Lüge, ein Fehler, der vor allem Ihre Frau mißtrauisch machte. Deshalb Ihre Masche Nummer zwei, Ihre Rotzigkeit gegenüber einem jungen Genossen. Das war wahrhaft großes Theater. Nur der schnelle Umschwung ist mir nie so ganz klargeworden. Er war jedoch ganz logisch: Ihre Frau rannte Ihnen davon, wahrscheinlich hat sie inzwischen auch von Ihrer Geliebten erfahren, und Sie brauchten ganz schnell ein neues Image. Der zerknirschte Sünder. Eine ganz schlechte Nummer, mein Lieber, die echtes Schmierentheater war. Übertroffen nur noch von dem, was Sie mir jetzt vorspielen.“ Blissner hörte ihm mit offenem Mund zu. Er empfand keine Wut, nicht einmal Zorn. Lediglich eine riesengroße Erleichterung. Weshalb der Kriminalist auch immer zu ihm gekommen war, es würde sein letzter Besuch bei ihm sein. Sie hatten Gillermanns Verschwinden aufgeklärt, und damit hatte Kurt Blissner nichts zu tun. 203
„Sind Sie hier, um mir Unverschämtheiten zu sagen?“ fragte er gelassen. „Wenn Sie es Unverschämtheiten nennen: jawohl. Ich nenne es Komplimente. Ihr Talent, alle Welt über sich zu täuschen, ist bemerkenswert. Doch eigentlich war ich nur unterwegs und bin auf einen Sprung zu Ihnen heraufgekommen, damit wir keine schriftliche Vorladung schicken müssen. – Ja, wir schließen die Akte Wilhelm Gillermann. Als Beteiligter haben Sie ein Abschlußprotokoll zu unterschreiben.“ 5 „Was soll das wieder bedeuten?“ fragte Blissner. „Abschlußprotokoll.“ Fester nickte. „Ihr Name taucht einige Male als Verdächtiger in den Akten auf. Es ist Ihr Recht, daß wir Sie rehabilitieren. In dem Protokoll wird stehen, daß Sie durch Ihre falsche Aussage bei polizeilichen Ermittlungen zur Sache nichts verschleiern wollten, sondern Ihren Ehebruch vor Ihrer Frau und den gesellschaftlichen Institutionen, die Sie mit Ehrenämtern betrauten, vertuschen mußten. Wohl haben Sie versucht, Wilhelm Gillermann unter Druck zu setzen, aber eine entscheidende Wirkung haben Sie auf den Mann nicht ausüben können. Ihr freundlicher Gruß zum Fest hat eine völlig gegensätzliche Wirkung gehabt. Der alte Mann wollte sich wehren. Mit seinem ungewöhnlichen Tod haben Sie also nichts zu tun.“ „Das wollen Sie ins Protokoll schreiben?“ „Genau das, und es ist wenig genüg. Aber alles andere fällt leider nicht in unseren Arbeitsbereich.“ 204
„Das können Sie doch nicht tun“, erwiderte Blissner matt. „Es gehört nicht zur Sache.“ Der Hauptmann zuckte die Achseln. „Ich glaube schon, aber vielleicht denken wir nur zu verschieden, das ist möglich. Kommen Sie irgendwann im neuen Jahr, doch verspäten Sie sich nicht zu sehr. Auf Wiedersehen, Herr Blissner.“ Blissner antwortete weder, noch begleitete er seinen Besucher hinaus. Er saß im Sessel, leer, regungslos, ratlos. Eine halbe Stunde hatte sein schönes Gedankengebäude bis auf den Grund zerstört. Er sah alles vor sich: den Scheidungsrichter und die beiden Beisitzer; seine Frau, wie sie ihre Zeugen benannte. Hauptmann Fester und Leutnant Haug traten vor das Gericht und verlasen ihr Protokoll. Fast hörte er sie reden, kühl, leidenschaftslos, und die Kühlheit übertrug sich auf alle. Es war keine niedrige Rache, sie dachten tatsächlich anders. Nein, es durfte keine Scheidung geben! Hatte sie ihn nicht zum Nachdenken aufgefordert? Es konnte doch weitergehen. Nicht so wie bisher, aber es mußte nach außen hin weitergehen. Was sie getrennt hatte, dieses Trebendorf, der Alte, die Frau, man konnte es rigoros streichen. Inge wartete auf sein Nachgeben, war doch allzusehr bereit, neu zu beginnen. Schließlich zählten ja auch die gemeinsamen Jahre. Inges Zettel, der griffbereit auf Blissners Schreibtisch lag, erfuhr eine neue Interpretation. „Ich werde Silvester bei einer Freundin verleben. In Erfurt. In diesen Tagen werde ich nachdenken, ob ich zu Dir zurückkehre. Vielleicht überlegst Du auch mal, wie es mit uns weitergehen kann. Gruß I.“ Was war da schon Entscheidendes gesagt. Eine Ehekrise auf ihrem Höhepunkt. Der Abstand verändert jedoch jede Perspektive. 205
Er war sicher, daß seine Frau bereits jetzt entschlossen war zurückzukehren. Er würde also doch die Silvestereinladung beim Chef wahrnehmen. Inges Ausbleiben konnte er einigermaßen glaubwürdig motivieren. „Gestern wurde die Leiche ihres Onkels gefunden. Er ist in den Bergen verunglückt. Sie hat ihn sehr geliebt und bei der Nachricht die Nerven verloren. Nun habe ich sie zu Verwandten geschickt.“ Als er das Haus verließ, lag auf der Flurgarderobe ein Brief für seine Frau. Es war der erste Liebesbrief, den Kurt Blissner jemals an sie gerichtet hatte.
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Wolf gang Müller Kein Fall für Sie, Inspektor Kriminalroman der DIE-Reihe etwa 250 Seiten, etwa 2,50 Mark
Leseprobe Diese beiden jungen Männer fielen ihm später erst auf, als er sich längst eingerichtet hatte in dem 1.-KlasseWaggon, der hinter der Elektrolok nach Norden donnerte, weich in den Federungen schwang und vollklimatisiert war. Der Zug war unterbesetzt, Fred Unger hatte ein ganzes Abteil für sich. Er hatte den Sitz ausgezogen, die Rollos zum Gang geschlossen und lag entspannt im Sessel. Der Schaffner war schon durchgekommen und würde nicht mehr stören, die Hauptbeleuchtung war ausgeschaltet, das Nachtlicht tat den Augen gut. Er hatte fest geschlafen und geträumt, daß ihn einer ansah und etwas fragte. Nur kam kein Ton aus seinem Mund. Da schlug der Lange die Augen auf, und es sah ihn wirklich jemand an. Aus wasserblauen kleinen Augen, die spöttisch zwinkerten. Ein junger Mann mit kurzgeschnittenen blonden Haaren. Schlank und kräftig aussehend, braungebrannt. Wie die jungen Männer von den Werbeplakaten, diese Männer, die immer siegten. Als er sah, daß der Lange sich aufsetzen wollte, sagte der Mann: „Immer ruhig bleiben, Junge. Ist noch nicht ganz soweit.“ Und er lächelte stärker, deutlicher, noch siegesbewußter, dabei nicht unfreundlich. Nein, sein Lächeln war sympathisch. Der ganze Kerl sah recht sympathisch aus. Von Kopf bis Fuß. Nur die kleine Pistole
nicht, die er so in der großen Hand hielt, daß fast nur das bösartig blinkende Loch der Mündung zu erkennen war. Dieses Lächeln, verdammt, dieses Lächeln. Warum lächelt der bloß so, dachte der Lange. „Was wollen Sie von mir?“ fragte er. „Gar nichts, gar nichts. Nur Geduld, mein Kleiner. Nur schön sitzen bleiben, bis wir aussteigen. Bald ist es soweit.“ „Sind Sie ’n Bulle?“ Der Mann legte den linken Zeigefinger auf den lächelnden Mund. „Pst, mein Kleiner. Pst! Verrate ich dir später. Nur ruhig bleiben. Schööön ruhig bleiben.“ So saßen sie fast fünf Minuten. Die Räder unter ihnen hämmerten über die Schienenstöße, die Kupplungen klirrten, der Fahrtwind heulte an den Fenstern. Wenn der Lange zum Sprechen ansetzte, schüttelte sein Gegenüber nur den Kopf, blinzelte und ließ die gepflegten Zähne sehen. Die Pistole änderte ihre Richtung nicht. Plötzlich bremste der Zug sehr scharf. Die Abteiltüren flogen krachend auf, überall polterten Koffer auf den Fußboden. Frauen kreischten, Männer fluchten, Kinder schrien. Es roch nach aufgewirbeltem Staub, nach heißem Eisen, heißem Öl. Vorn heulten die Motoren der Lok. Der Lange war auf sein Gegenüber geprallt, der Reisebeutel war ihm ins Genick gefallen. Der Blonde lächelte jetzt nicht mehr, er packte den Langen, riß ihn hoch, stemmte sich hinterher. „Los! Raus jetzt! Flott! Wir sind da.“ Die Abteiltür, fünf, sechs Schritte Gang, die Plattform, durch die offene Waggontür auf den Schotter, dann waren sie schon im Wald. „Alles okay!“ sagte der Blonde zu einem zweiten Mann, der plötzlich vor ihnen stand. „Hast Maßarbeit gemacht.
Genau an der richtigen Stelle! Los, weiter!“ Er drehte dem Langen die Arme fester auf den Rücken, stieß ihn voran. „Ruhe!“ sagte er nur, als der Lange vor Schmerz stöhnte, und drückte ihm die Pistole in den Nacken. Später, auf einem Waldweg, wurde er in einen großen Wagen gestoßen. Endlich ließ der Schmerz nach. Der Blonde schraubte den Verschluß von einer Flasche, hielt sie dem Langen hin. „Los, Trinken!“ befahl er. Und als der Lange zögerte, schlug ihm der Blonde sofort die Waffe ins Geschlecht. Der Lange brüllte, krümmte sich, der Blonde lächelte. „Trink, mein Kleiner, trink! Das wird dir guttun. Oder muß ich noch mal?“ Als er sich erholt hatte, setzte der Lange die Flasche an und trank. Es war ein starker Whisky, das merkte er noch. Er schluckte von dem scharfen Zeug, bis ihm die Luft wegblieb und er husten mußte. Aber da wirkte der Alkohol schon auf seinen nüchternen Magen. Er mußte lachen, nichts tat ihm mehr weh. „Ihr seid vielleicht ein paar komische Bullen“, sagte er mit schwerer Zunge. „Erst haut ihr unsereinem ins Gemächt, und dann gebt ihr Schnaps aus, bis man umfällt. Ihr seid vielleicht ein paar Heinis … Her die Pulle, los!. Ich nehm noch einen.“ Und er griff nach der hingehaltenen Flasche, tat einen langen Zug, behielt die Flasche in der Hand. Der Wagen war schon lange aus dem Wald heraus und fuhr auf einer kurvenreichen Bergstraße. Die beiden Männer auf den Vordersitzen hatten sich die ganze Zeit nicht umgedreht. Der Lange trank und brubbelte vor sich hin, bis er einschlief. Wach wurde er erst wieder, als sie ihn auf die Straße fallen ließen. Verschwommen sah er die Männer über sich gebeugt, lachte albern, als ihm einer die Nase zuhielt, so daß er immer schlucken mußte und schlucken.
Dabei bin ich schon voll, konnte er noch denken, und: Bekleckert mich doch nicht, ihr Säue! Sie gossen ihm Schnaps aus einer zweiten Flasche ins Gesicht und auf die Kleidung. Da machte er die Augen zu. Bin so besoffen, will meine Ruhe haben, will nach Hause, ja, nach Hause will ich! Er sah nicht mehr, daß der Blonde die leere Flasche gründlich abwischte und dann mit seiner behandschuhten Rechten die Hand des Langen auf das grüne Glas drückte. Einmal, zweimal, dreimal. Und er merkte auch nicht mehr, daß sie ihn auf die Mitte der Fahrbahn trugen, oben auf dem Hügel, in der Kurve, wo man die Straße nach beiden Richtungen weithin einsehen konnte. Nirgends ein Scheinwerfer, auch der Lastwagen, der aus dem Waldweg auf die Straße einbog, fuhr ohne Licht. Fred Unger hörte nur ein ungeheures Dröhnen, wie das der Niethämmer in den Schiffsräumen auf der Werft. Und daß das Dröhnen näher kam, hörte er, und blitzendes Licht sah er, fühlte es hinter den Augen schmerzen. Aber ich darf doch gar nicht schweißen, wunderte er sich. Den Schweißerpaß haben sie mich doch nicht machen lassen, die Schweine, die Schweine … Dann knipste der Blonde die Taschenlampe aus, mit der er den Langen angeleuchtet hatte, damit der Lastwagen ihn richtig traf. „Erledigt“, sagte er trocken. „Einmal hat genügt. Feierabend, Jungs!“ Und als er die dünnen Lederhandschuhe auszog, warf er noch einen Blick auf das zerfahrene Bündel. Wenig Blut für so viel Straße. Eigentlich schade darum. Aber da lächelte er schon wieder.
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1975 Lizenz-Nr.: 409-160/105/75 – LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 225 8 EVP 2,- Mark