Serdar Somuncu
Getrennte Rechnungen
»Wenn man auf die Welt kommt, weiß man nicht warum und nicht woher. Man ist einfac...
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Serdar Somuncu
Getrennte Rechnungen
»Wenn man auf die Welt kommt, weiß man nicht warum und nicht woher. Man ist einfach da. Erst später beginnt man darüber nachzudenken, wohin man gehört und zu welcher Seite man zählt. Warum ist es überhaupt von Bedeutung, für sich selbst sagen zu können, woher man kommt? Und warum ist es vor allem für die anderen oft so wichtig?« ISBN: 3-7857-2162-5 Verlag: Lübbe Erscheinungsjahr: 2004 Umschlaggestaltung: Clausen & Bosse, Leck
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Wer erinnert sich nicht an seine erste Party ohne elterliche Aufsicht (Sturmfrei ins Delirium) oder wie stolz man auf die ersten selbst gekauften Platten war (Mit Schubi durch die Pubertät)? Aber wie ist es, sich fragen zu müssen, warum man an Weihnachten nicht zu seinen deutschen Schulfreunden zum Spielen gehen kann (Salamaleikum Herr Weihn-Ach-Mann) oder wieso die Menschen plötzlich zu kollektiven Freudenausbrüchen neigen (Papi schlachtet Karneval)? Serdar Somuncu erzählt Geschichten aus dem Leben – meist gefärbt durch die Brille eines kulturell anders geprägten Erzählers. Lakonische Geschichten, witzige Geschichten und anrührende Geschichten. Geschichten, die uns einen Blick über den deutschen Tellerrand gewähren.
Autor Serdar Somuncu, geboren 1968 in Istanbul, ist einem großen Publikum bekannt durch seine kritischen Lesungen aus MEIN KAMPF und der Sportpalastrede von Joseph Goebbels. Er ist türkischer Abstammung und hat seit 1992 die doppelte Staatsbürgerschaft. Als Schauspieler und Regisseur erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den Europäischen Nachwuchsförderpreis. Heute leitet er das Kammerensemble Neuss. Unter www.somuncu.de finden Sie weitere Informationen über den Autor und seine Veranstaltungen.
Inhalt VORWORT...............................................................................................7 SIEBEN PULLOVER .............................................................................10 MEIN TAG.............................................................................................16 WEM GEHÖRT DIE SONNE? ..............................................................22 SALAMALEIKUM, HERR WEIHN-ACH-MANN ..................................34 GETRENNTE RECHNUNGEN .............................................................46 PAPI SCHLACHTET KARNEVAL ........................................................52 JOBATEY DER KÄSEKUCHENMANN ................................................59 HERR KLÖSER UND SEIN MEERSCHWEINCHEN MUCKI..............66 BADETAG .............................................................................................76 MEINE SUSSE KATZE CICI.................................................................84 EIN STUCK PAPIER.............................................................................90 EINMAL MIT SCHUBI DURCH DIE PUBERTÄT ...............................94 SILVESTER MIT KLAUS.....................................................................103 TASCHENGELD..................................................................................113 HEIDEWITZKA, HERR KAPITÄN......................................................124 BUSENWUNDER ................................................................................131 DIE SCHLANGE ZWISCHEN MEINEN BEINEN ..............................141 WECHSELBAD....................................................................................147 EIN MOMENT VOLLER ANGST ........................................................155 STURMFREI INS DELIRIUM .............................................................161 IN DER MANEGE ...............................................................................169 EIN PAAR WORTE ZUM SCHLUSS...................................................176
Für meine Eltern
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VORWORT Jeder Mensch, jedes Paar und jede Familie verfügt über ein eigenes Repertoire an Geschichten, die in regelmäßigen Abständen erzählt werden und sich dabei stetig verändern. Die folgenden Geschichten sind eine Auswahl der Erlebnisse, die mir in Erinnerung geblieben sind, wenn ich über vergangene Tage nachdenke – auch wenn ich nicht alles tatsächlich so erlebt habe. Wenn wir heute mit meinen Eltern zusammensitzen und über alte Zeiten sprechen, höre ich meine Mutter immer wieder sagen, dass ich – im Gegensatz zu meinen beiden älteren Brüdern und meiner jüngeren Schwester – ein besonders ruhiges Kind gewesen sei. Man habe mich auf ein Sofa setzen können und dort hätte ich stundenlang nichts anderes getan als zu schweigen, zu malen oder mit meinem roten Plastikdelfin zu spielen. Aber ich kann nicht im Geringsten nachvollziehen, was meine Mutter damit meint. In mir habe ich nämlich Dinge erlebt, die ich niemandem zu erzählen brauchte. Ich habe weite Reisen gemacht und fremde Menschen gesehen; ich habe reißende Flüsse durchschwommen und bin auf die höchsten Berge geklettert; ich habe mit wilden Tieren gekämpft und rohes Fleisch gegessen, ich habe mich mit allen Herrschern und Berühmheiten der Welt unterhaken und konnte sogar schon ohne Führerschein Auto fahren. Und ich soll wirklich ein liebes, gar ruhiges Kind gewesen sein? Nein. Hätte ich auch nur eine einzige meiner wilden Fantasien in die Tat umsetzen wollen, das Urteil meiner Mutter wäre sicher anders ausgefallen. Es ist wohl ein Glücksfall, dass ich mich heute noch an einige vergangene Ereignisse erinnern und sie zu Papier bringen kann – sowohl die tatsächlich erlebten als auch die erdachten. Vielleicht sieht meine Mutter jetzt, was wirklich in mir vorging, während 7
ich ruhig auf dem Sofa saß und scheinbar an nichts dachte. Ich habe jedoch nur wenige der Erlebnisse aufgeschrieben: solche, die mir wichtig sind, weil ich andere nur noch unvollständig rekonstruieren kann. In manchen Geschichten spielt meine Herkunft eine Rolle; andere wiederum schildern Erfahrungen, wie sie die meisten Menschen irgendwann gemacht haben. Oft erzähle ich von meinen Eltern, häufig von meinen Brüdern und gelegentlich von meiner Schwester, die in vielen Geschichten nicht vorkommt, weil sie erst später auf die Welt kam. Vielleicht werde ich irgendwann einmal die Zeit finden, noch mehr Geschichten aufzuschreiben. Denn sie bilden den Untergrund meines Lebens, von dem ich nicht weiß, welche Ereignisse es mir noch bringen wird.
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Dies ist die Lieblingsgeschichte meiner Mutter.
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SIEBEN PULLOVER Mein Kindergarten hatte ein Dach mit einer grünen Kuppel und sah aus wie eine kleine Kirche. Er lag direkt gegenüber der Fabrik, in der meine Mutter tagsüber und manchmal auch nachts aus kleinen Plastikkügelchen Müllsäcke machte. Während ich im Kindergarten saß und Türme aus Bauklötzen baute, gegen zehn Uhr mein in weißes Pergamentpapier eingepacktes Butterbrot verdrückte und mittags zum Abschied ein Lied über Vögel und sonstige Tiere sang, saß meine Mutter auf einem kleinen, unbequemen Hocker vor einer Maschine mit einem Hebel, den sie in regelmäßigen Abständen nach unten bewegte, um damit die besagten Kügelchen zu breiten Plättchen zu pressen und daraus dann Müllsäcke herzustellen, die mein Vater täglich von morgens bis abends auf die Ladefläche seines Müllautos schmeißen würde. Manchmal, wenn sie in einer Sekunde der Unaufmerksamkeit mit dem glühend heißen Hebel danebenpresste, traf sie ihren Daumen, sodass sie gelegentlich mit verbrannten Fingerkuppen nach Hause kam. Die Mittagszeit verbrachte sie dann mit den anderen Arbeiterinnen, die aus allen Ländern der Welt kamen, an langen, mit Plastikdecken überzogenen Tischen und aß schweigend ihr Brot und trank gelegentlich eine Tasse schwarzen Tee, während ich im Gegensatz zu allen anderen Kindern nie vom Kindergarten abgeholt wurde und stattdessen den kurzen Weg nach Hause allein ging, die Tür aufschloss und aus dem Kühlschrank einen silbernen Henkelmann hervorholte, dessen Inhalt ich dann vorsichtig auf unserem Gasherd erhitzte. Wie das ging, hatte mir meine Mutter vorher akribisch erklärt. Es war nicht besonders schwer zu verstehen: Knopf runterdrücken, Streichholz anzünden, Streichholz an den Gasring halten und schnell zurück mit dem Kopf und der Hand, die das 10
Streichholz hält, Knopf loslassen und aufpassen, dass nichts überläuft oder anbrennt. Als Kind habe ich gern auf die Anweisungen meiner Mutter gehört. Ich fühlte mich dann immer sehr sicher, wenn ich wusste, dass ich alles so machte, wie meine Mutter es mir erklärt hatte. Nur das Essen im Topf schmeckte mir nicht besonders. Oft gab es weiße Bohnen mit Hammelfleisch, manchmal auch grüne Bohnen mit Hackfleisch und ganz selten Nudeln mit Tomatensoße. Aber irgendwie musste ich ja satt werden, und so hörte ich auch in diesem Punkt auf den Rat meiner Mutter und aß brav alles auf, was auf meinem Teller war, obwohl es niemanden gegeben hätte, dem es aufgefallen wäre, wenn ich nicht aufgegessen und stattdessen den Rest ins Klo gekippt hätte. So verliefen unsere Tage im stetig gleichen Rhythmus, bis ich eines Tages krank wurde. Es war nichts Lebensbedrohliches, aber ich fühlte mich ganz elend. Ich hatte geschwollene Mandeln, einen furchtbaren Husten, Fieber und Schüttelfrost, und aus meiner Nase lief grüner Schleim. Mir wurde heiß und kalt zugleich, und ich fing an, am ganzen Körper zu zittern. Als Schwester Johanna Bona, die Vorsteherin des katholischen Kindergartens, in den ich ging, bemerkte, wie schlecht es mir ging, holte sie mich in ihr Zimmer, wo ich mich auf eine Bank legte und warm zugedeckt wurde. Dann streichelte sie mir über den Kopf und brachte mir Tee. Sie erzählte mir Geschichten und sang für mich Lieder, aber gesünder wurde ich dadurch nicht. Meine Mutter saß in der Fabrik und schweißte Kügelchen, aber da es an ihrem Arbeitsplatz kein Telefon gab, konnte ihr niemand sagen, wie krank ich war und wie sehr ich mich darüber gefreut hätte, wenn sie mich anstelle der Schwester gepflegt hätte. Zwar war ich nach ein paar Tagen, die ich zu Hause im Bett verbrachte, schnell wieder gesund, aber meine Mutter machte sich fortan große Sorgen um mich. Sie hatte wahrscheinlich 11
heftige Schuldgefühle, weil sie nicht hatte zu Hause bleiben und mich gesund pflegen können. Und sie dachte wohl, sie könne von nun an durch eine doppelte Vorsicht vermeiden, dass ich noch einmal so krank würde. Auch wenn diese Schilderung etwas vorwurfsvoll klingt, war ich niemals enttäuscht von meiner Mutter, denn ich wusste, dass sie eine Aufgabe hatte, die sie erfüllen musste. Ich wusste, dass es unmöglich war, dass wir von morgens bis abends zusammen waren und spielten. Und so schien es mir wie eine zwar schwer zu erfüllende, dennoch aber unumgängliche Pflicht für uns beide, dass wir Tag für Tag diese Stunden der Trennung zu ertragen hatten. Umso mehr freute ich mich, wenn sie am Wochenende so viel Zeit hatte, dass wir nicht darüber nachdenken mussten, ob wir etwas verpassen würden, wenn wir zu viel Zeit mit einem Spiel verbrachten, oder wann der Moment kam, an dem einer von uns zur Arbeit beziehungsweise in den Kindergarten musste. So seltsam es auch klingt, in dieser Zeit lernte ich, Dinge zu schätzen. Ich lernte, den Moment zu lieben und nicht ständig an das Vergangene oder an das Kommende zu denken. Ich wusste, dass im Jetzt eine Kraft lag, die das Morgen erträglich machte, und ich ahnte, dass dies eine sinnvolle Lektion war, die mir das Schicksal bescherte. Doch jedes Mal, wenn die freie Zeit ihrem Ende entgegenging und das Wochenende immer näher an den Montag heranrückte, immer wenn meine Eltern am Sonntagabend ihre Kleider für den nächsten Morgen herauslegten, fühlte ich mich wie der Tiefseetaucher aus einem der Bilderbücher, die ich mit Begeisterung anschaute: ohne Atemgerät ins tiefe Wasser geschubst und seinem Schicksal in der Dunkelheit des Wassers überlassen. Ich versuchte, so lange die Luft anzuhalten, bis ich wieder an die Oberfläche getrieben wurde und es Freitag war. Nicht nur meine Eltern bereiteten sich auf die kommende Woche vor, auch ich wurde behutsam auf die Aufgaben und 12
Herausforderungen der nächsten Tage eingestimmt. Ich sollte an den Haustürschlüssel denken; ich sollte nicht vergessen, morgens den Henkelmann in den Kühlschrank zu stellen; ich sollte mir den Ablauf des Herdanzündens merken und vor allem sollte ich mich warm anziehen, damit ich nicht mehr krank würde und Schwester Johanna, die ja eigentlich eine Gute war, nicht zu viel Zeit mit mir verschwenden musste, sondern ihre Güte gleichmäßig auf alle Kinder aufteilen konnte. Doch an einem dieser schrecklichen Montage beschloss ich plötzlich, dass etwas Besonderes geschehen müsse. Ein Zeichen musste gesetzt werden, denn ewig konnte es doch nicht so weitergehen. Wir mussten unbedingt und bedingungslos die Zeit anhalten, sonst hätte sie uns erstarren lassen; wir mussten den Lauf der Dinge umkehren, damit er uns nicht in eine Lähmung hineinpressen würde, die so fest und statisch war, dass niemand mehr aus ihr hätte entfliehen können. Und so wartete ich, bis mein Vater aus dem Haus war, und schüttete den gesamten Inhalt des Henkelmanns ins Klo. Als ich das Haus verließ, schmiss ich den Türschlüssel ins Gebüsch, und statt in den Kindergarten zu gehen, ging ich schnurstracks hinüber auf die andere Straßenseite – geradewegs zur Fabrik meiner Mutter, vorbei an bedrohlich röhrenden Maschinen und argwöhnisch schlackernden Laufbändern, durch Hallen angefüllt mit dem schweren Geruch von erhitztem Plastik. Die ausländischen Frauen sahen mich erstaunt an, als wäre ich ein Lebewesen von einem fremden Planeten, so sehr schienen sie in ihrer Arbeitsroutine durch meinen Anblick gestört. Als meine Mutter mich entdeckte, versuchte sie sich zunächst vor den anderen Arbeiterinnen zu rechtfertigen. Sie lächelte verkrampft und stellte mich schließlich kapitulierend den Frauen vor, die für einen kurzen Augenblick ihre Arbeit vergaßen und mich überschwänglich auf Tschechisch, Polnisch, Griechisch und Marokkanisch bewunderten, während sie mir mit ihren mit Öl verschmierten Händen über das Haar strichen. Doch plötzlich 13
schob meine Mutter mich wie von der Tarantel gestochen unter ihren Arbeitstisch, die Frauen blickten schlagartig wieder auf ihre Arbeitsbänke und taten so, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen. Der Meister, wie ihn alle unterwürfig flüsternd nannten, ein hagerer Typ mit Halbglatze und braunem Kittel, marschierte mürrisch durch die Hallen und kontrollierte, ob die Angestellten auch aufopfernd genug für ihren Hungerlohn schufteten. Vielleicht war er immer so brummig, weil er insgeheim ein schlechtes Gewissen hatte wegen der schlechten Arbeitsbedingungen, die in der Fabrik herrschten. Kinder und unangemeldete Besucher waren auf dem Gelände jedenfalls strengstens verboten. Und zum Glück entdeckte er mich nicht. Nach drei regungslosen Stunden durfte ich zur Mittagspause unter dem Tisch hervorkriechen, und da erst bemerkte meine Mutter, dass ich seltsamerweise zugenommen hatte. »Wie siehst du denn aus?«, fragte sie mich erstaunt. »Was hast du gemacht? Du hast dich ja ganz dick angezogen – und das bei der Hitze. Bist du denn verrückt geworden?« Nein, verrückt geworden war ich nicht, aber ich hatte mir alle Pullover, die ich in meinem Schrank finden konnte, auf einmal übergezogen. Insgesamt sieben Stück. Meine Pulloverumhüllung war so schwer und so dick, dass ich klitschnass geschwitzt war, fast so wie damals auf der Fiebercouch von Schwester Johanna Bona. Einen Pulli hatte ich angezogen, damit meine Mutter immer da wäre, wenn ich sie bräuchte; einen für meinen Vater, damit er keinen schweren Mülleimer mehr tragen müsste; einen für meinen ältesten Bruder, damit er keine schlechten Noten in der Schule schreiben würde; einen für meinen mittleren Bruder, damit er sein geklautes Fahrrad wieder finden würde; einen für meinen Kanarienvogel Hansi, den die Nachbarskatze gefressen hatte; einen, damit ich nicht mehr krank würde … und einen, damit es schön aussah. 14
Aber genützt hat es wenig, denn eigentlich war mir nicht kalt. Ich brauchte bloß Wärme. Dies ist die Lieblingsgeschichte meines Vaters.
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MEIN TAG Mein Tag. Voller Sonnenschein und gemalter Wölkchen. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Klare Luft, zum Durchatmen wie geschaffen. Vögel zwitschern, Autos hupen, die Menschen grüßen sich, die Straßen schimmern vor Freude. Mein Tag eben. So wie ich es mir wünsche. Ich trage meine kurze Hose. Rot, mit zwei Trägern aus Kunstleder, die sich vor meiner Brust kreuzen, darunter ein kariertes Hemd, akkurat gebügelt und bis zum letzten Knopf eng an meinen Hals geschmiegt. An diesem Tag spüre ich keinen Schmerz. Meine Schnürsenkel haben die richtige Länge, und meine Haare sind ordentlich gekämmt. Heute gehe ich zum ersten Mal in die Schule! Seit Monaten habe ich davon geträumt, wie es sein wird, erwachsen zu werden, wie es sich wohl anfühlt, die kleinen Kringel und Bogen zu Buchstaben werden zu lassen, Lieder zu singen, Rechenaufgaben zu lösen und gierig Pausenbrote zu verzehren. Der Kindergarten war zum Schluss ohnehin nicht mehr das Gelbe vom Ei. Den ganzen Tag mit Kindern zusammen zu sein, die einem gerade mal bis zum Kinn reichten, das war nichts für einen angehenden Schüler wie mich. Mein Ranzen ist ebenfalls rot. Schon vor einigen Wochen hatte ich außerdem eine Schachtel voller Wachsmalstifte bekommen und einen Block, wie man ihn bei der Kaufhalle für eine Mark neunundneunzig kaufen konnte. Seitdem betrieb ich damit meine heimlichen Übungen zur Schönschrift. Aus einer Fernsehzeitung hatte ich mir die einzelnen Buchstaben abgeguckt. Die erste Seite des Blockes war voll geschrieben mit dem Buchstaben a, die nächste mit dem Buchstaben b. So ging das Seite für Seite, bis ich das ganze Alphabet durchhatte, und dann fing ich wieder bei a an. Schnell hatte ich den ganzen Block mit meinen Buchstaben voll gekritzelt, und bald mussten Zeitungen 16
und Servietten herhalten, weil ich unmöglich erwarten konnte, dass meine Mutter mir schon wieder einen neuen Block kaufen würde. In meiner bunten Schultüte, die ich früh am Morgen bekommen habe, sind Süßigkeiten und Spielzeug, kleine Zettel mit Glückwünschen, meine Wachsmalstifte und ein Bleistift. Einen Füllfederhalter haben meine Eltern noch nicht gekauft, weil man erst einmal warten sollte, wozu der Lehrer raten würde: zu einer weichen oder einer harten Feder, zu Pelikan oder Geha. Das sind die entscheidenden Fragen meines noch jungen Schullebens, auf deren Beantwortung ich heute, am ersten Schultag, förmlich brenne. Als wir am Schulgebäude ankommen, stehen die anderen Erstklässler schon aufgeregt vor der Eingangstür. Einige erkenne ich wieder: Sie waren mit mir im Kindergarten, aber wir beachten uns nicht. Denn heute wollen wir ja schließlich erhaben wirken. Deshalb treten wir nervös von einem Fuß auf den anderen (manche vielleicht auch, weil sie aufs Klo müssen), wir schauen missmutig in den Himmel, nesteln an unseren Anoraks; und als endlich die Eingangstür mit einem Schwung aufgestoßen wird, sieht man in unseren Gesichtern die Anspannung der letzten Tage und die Neugier auf das Kommende wie einen eingefrorenen Moment – festgehalten auf einem Polaroidfoto. »Guten Tag, meine Damen und Herren!«, ruft ein ebenso aufgeregter älterer Herr mit Halbglatze und schnarrender Stimme. »Ich darf Sie bitten einzutreten.« Es handelt sich um den Schuldirektor, der an diesem Tage in den »Ernst des Lebens« einführen und essenzielle Informationen zum Schulleben verraten wird. Wo hängen wir unsere Jacken auf? Wer gehört in welche Klasse? Wie ordnet man seinen Tisch, und wo findet die Milchausgabe statt? Meine Eltern haben mich an diesem wichtigen ersten Tag natürlich zur Schule begleitet. Mein Vater hat sich richtig in 17
Schale geworfen. Er trägt seinen Lieblingsanzug (blau mit Nadelstreifen) und darunter ein hellblaues Hemd mit einer gepunkteten orangefarbenen Krawatte. Meine Mutter trägt ein pfirsichfarbenes Kleid und ein passendes Halstuch dazu. Beide kommentieren jeden Satz des Direktors mit: »Siehst du. Das musst du dir merken. Jetzt hör gut zu.« Schließlich kommt es zur Einteilung der Klassen. Aus den etwa hundert Kindern werden vier Gruppen mit jeweils rund fünfundzwanzig Schülern gebildet. Die Klassen heißen 1a, 1b, 1c, 1d. Eine ältere Frau tritt nun vor und verliest die Namen der frisch gebackenen Erstklässler in alphabetischer Reihenfolge und fügt hinzu, welcher der neuen Klassen der Aufgerufene jeweils angehören wird. Minutenlang. Name für Name. Schmidt, Schmitz, Schmüllin – nicht mehr lange, dann ist es so weit. Aber mein Name ist bis zum Schluss nicht dabei. Nachdem bekannt ist, wer in welche Klasse gehört, verlassen die vier Gruppen mit ihren Klassenlehrern den Raum. Ich bleibe zurück mit drei anderen Schülern. »Tja«, sagt nun die Glatze und schaut dabei betreten zu Boden. »Wir haben uns gedacht, dass wir ihnen eine eigene kleine Gruppe geben, ohne den Leistungsdruck …« Er spricht bedächtig und vorsichtig, so als müsste er uns schonend erklären, was er meint. Aber so sehr er sich auch bemüht, alles, was er sagt, klingt wie eine Entschuldigung. Als er zu Ende gesprochen hat, ist es einen Augenblick lang ruhig, dann springt mein Vater auf. Seine Krawatte drückt sich wie eine Schlinge um seinen vor Zorn geschwollenen Hals. Sein Gesicht ist vor lauter Wut rot angelaufen. »Was heißt das? Wir Ausländer nix gut Deutsch? Du Aschloch!« Betretenes Schweigen. »Aber ich bitte Sie, Herr äh …« »Du selba kanns keine Namen von mia sagen, Dreckschwein, du. Aber sagst, wir Auslända keine Deutsch, was?«
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Ich schäme mich ein wenig dafür, dass mein Vater all diese Begriffe benutzt, die ich selbst nie sagen darf. Es ist ein Zeichen dafür, dass er sehr böse ist. Aber eigentlich verstehe ich gar nicht genau, warum er so verärgert ist. Denn der Glatzkopf hat doch Recht. Vielleicht ist es für uns Ausländer wirklich besser, in einer anderen Klasse zu sein als die Deutschen. Ich weiß zwar nicht, was der Unterschied zwischen uns und den anderen ist, aber ich glaube, dass es daran liegen könnte, dass wir zu gut sind für die anderen, weil wir ja von Geburt an zwei Sprachen können. Und in Erdkunde sind wir wahrscheinlich auch besser, schließlich reisen wir regelmäßig durch halb Europa, um unsere Heimat zu besuchen. Wir können unterscheiden zwischen Rhein und Donau; wir kennen die Hauptstädte von Österreich, Bulgarien, Italien und der Schweiz; wir wissen, wie Cevapcici schmecken; wir haben die Welt von oben gesehen – auf dem Riesenrad im Prater; wir sind ihr in den Bauch gekrochen – in den Höhlen des Křka-Nationalparks; wir kennen ihre reißenden Flüsse und ihre rauschenden Bäche – wir waren sogar bei den Göttern auf dem Olymp. »Ich bitte Sie.« Mittlerweile ist es laut geworden im leeren Klassenraum, und die drei verbliebenen Familien mit ihren Kindern poltern in bruchstückhaftem Deutsch gegen die Willkür des eigenartigen Schulleiters. Mein Vater ist außer sich. Er geht auf den zittrigen Direktor zu und packt ihn mit seinen starken Armen, mit denen er sonst die Mülleimer der Deutschen stemmt, am Kragen. »Mein Sohn scheiße auf deine Schule, verstehs du? Wir gute Leute, nix muss auf diese Schule hier. Mein Sohn kann mehr gut Deutsch wie deine Kinder unsere Sprache. Wie soll deine Sprache besser lernen, wenn immer alleine? Dann du sagen wieder: ›Geh weg, du Auslända. Du kanns keine Deutsch.‹ Ich nix fühlen wie eine Auslända, aber du machen uns Fremde!« Und schmettert noch ein »Aschloch!« hinterher. Dann nimmt er mich an der Hand, und wir eilen aus dem Klassenraum heraus auf den Schulhof. Ich schäme mich ein 19
wenig, weil mein Vater ein so schlechtes Deutsch gesprochen hat, aber ich bin auch stolz, weil er dem komischen Direktor, der vorher so streng und bestimmt wirkte, Angst gemacht hat. Er hat unsere Ehre verteidigt, und ich bin wirklich überhaupt nicht böse auf ihn. Wir gehen schweigend und wütend nach Hause. Ich packe meine Schultüte aus und male ein Bild mit meinen Wachsmalstiften. Heute ist mein erster Schultag. Ich male und male und merke gar nicht, dass meine Mutter mir über das Haar streicht, um mich zu trösten. Dabei flüstert sie: »Bald wirst du auf eine richtige Schule gehen, und man wird dich nicht von den anderen trennen.« Doch ich verstehe nicht wirklich, was sie damit meint. Ich male eine Sonne und ein Auto und ein Haus. Dann male ich einen Klassenraum voller Kinder und einen Lehrer, der Füllfederhalter verteilt. Ich male den ganzen Tag, und als ich endlich fertig bin, kann man meine Bilder kaum erkennen, weil meine Tränen sie verwischt haben.
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Eine Geschichte über meine Heimat
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WEM GEHÖRT DIE SONNE? Irgendwie vergeht die Zeit anders, seitdem ich rechnen kann. Schneller, unausgefüllter, sinnloser und vor allem aufgefressen von alltäglichen Kleinigkeiten. Als Kind konnte ein Sommer ewig dauern. Ein Winter ging niemals zu Ende, und das Blühen der Bäume im Frühjahr war ein ebenso spannender und lange dauernder Vorgang wie die Zeitspanne, in der die Blätter ihre Kraft verloren und schwach von den Ästen fielen. Irgendwie, so scheint es mir, verliert man mit zunehmendem Alter auch das Gefühl für die Ereignisse. Als würde die Erfahrung die Neugier verdrängen und die Spannung in Hoffnungslosigkeit versiegen. Die großen Ferien waren für uns als Kinder das wichtigste Ereignis des gesamten Schuljahres. Sie waren der Beginn einer unendlich langen Zeit voller Spiel und langen Nächten und zugleich das Ende eines Abschnitts, der durch den Erhalt des Zeugnisses und damit der rückwirkenden Bewertung des vergangenen Schuljahres als solcher spürbar wurde. Wie man sich die sechs Wochen Sommerferien aufteilte und ob man sie mehr als Wartezeit auf das nächste Schuljahr denn als ewig dauernde Zeitspanne voller Freiheit empfand, war abhängig von der Art des Urlaubs, den man machte. Manche meiner Schulkameraden fuhren zum Beispiel mit ihren Eltern an die Nordsee. Für mich hörte sich allein das Wort Nordsee dumpf und langweilig an und versprach durch seinen seltsamen Klang mit dem lang gezogenen »e« einen Urlaub an einem öden Strand unter einer müde scheinenden Sonne. Andere Klassenkameraden durften nach Spanien oder Italien reisen, und wiederum andere mussten ihren Urlaub in Österreich oder in der Schweiz verbringen. 22
Für meine Familie hingegen stand lange vor Beginn des Sommers fest, wohin wir fahren würden. Natürlich in die Türkei. Denn meine Eltern sind Türken und wir Kinder sind es auch, also mussten wir natürlich unsere Verwandten in der Türkei besuchen. Aber wir nahmen nicht das Flugzeug (Reisezeit: drei Stunden), wie es heute üblich ist, sondern das Auto (Reisezeit: vier Tage). Insgesamt war ich an die zehn Mal in meinem Leben mit dem Auto in der Türkei, und ich erinnere mich heute mit einer Mischung aus Verwunderung – über die Ausdauer und den Mut meiner Eltern, eine solche Reise mit drei Kindern zu unternehmen – und Aggression – weil man uns die spannenden Reiseziele meiner Schulkameraden vorenthielt – an diese Fahrten in die Ungewissheit. Zunächst wurde das Auto durchgecheckt, dann wurden Koffer gepackt und verstaut, die Kleider für die Fahrt ausgewählt, der Proviant hergerichtet, Landkarten gewälzt und sonstiger Kleinkram im Auto verwahrt: Nähzeug, Bücher, Kassetten für meine Brüder, die Handtasche meiner Mutter, Pantoffeln für meinen Vater. Wenn der Platz im Auto nicht ausreichte, musste eben das Dach beladen werden. Ich hasste es zu wissen, dass unser Auto aussehen würde wie einer dieser Kleinbusse der türkischen Familien, die wir im Fernsehen gesehen hatten. Morgens aufzustehen – »in aller Herrgottsfrühe«, wie meine Lehrer zu sagen pflegten – war ebenfalls ungewohnt für uns Kinder, denn während der Schulzeit klingelte frühestens um sechs der Wecker. Jetzt aber war es halb vier und bitterkalt. Die Feuchtigkeit ging mir in die Glieder, und ich zitterte in meiner roten Lieblingslederhose, deren Träger vor meiner Brust über Kreuz gebunden waren. Es wurde noch schnell etwas in den leeren Magen gestopft, und bevor die Sonne aufging, stiegen wir in den viel zu engen Wagen und machten uns auf die unendlich lang erscheinende Reise. Mein Vater saß am Steuer, meine Mutter vorn neben ihm; hinten saßen wir drei Brüder, mein 23
ältester Bruder rechts von mir, mein mittlerer Bruder links und ich in der Mitte. Wir hatten einen weißen Ford Taunus 17m mit roten Kunstledersitzen. Das Lenkrad war ebenfalls mit einer Art Kunstleder umhüllt, und am Rückspiegel baumelte ein bläulicher Talisman in Medaillonform – das Auge gegen den bösen Blick –, den mein Vater bei einem unserer vorherigen Urlaube im geschlossenen Bazar in Istanbul gekauft hatte. Mein mittlerer Bruder hatte die Angewohnheit, sofort zu schlafen, sobald der Motor zu knattern begann, mein ältester Bruder hingegen war stets wach und führte obskure Statistiken über Nummernschilder, Farbe, Typ und Passagieranzahl der vorbeifahrenden Autos. Ich schaute aus dem Fenster und versuchte mir vorzustellen, wie die Menschen in den Städten aussahen, deren Namen ich auf den Verkehrsschildern nur mühsam entziffern konnte. Zwischendurch wurde ein Fenster heruntergekurbelt und ein seltsamer Geruch aus Benzin und Dung stieg einem in die Nase. Von Zeit zu Zeit machten wir Rast und betrachteten die gigantischen Bergmassive, die wir sonst nur aus Büchern oder aus dem Fernsehen kannten. Schließlich, als es langsam wieder dunkel wurde und wir beinahe schon den ganzen Tag im Auto gesessen hatten, wurde es Zeit, eine Unterkunft zu suchen, und wir steuerten bei der nächstbesten Gelegenheit einen Gasthof am Rande der Strecke an, um dort ein Nachtquartier zu suchen. Das waren die Momente, auf die ich mich besonders freute. Erst wurde ausgeladen, dann besichtigten wir die urigen Gästezimmer, an deren Wänden Bilder von Jesus und den Bergen hingen. Anschließend wurden wir Kinder an Waschbecken mit viel zu heißem Wasser gewaschen, und danach setzten wir uns alle gemeinsam in die Gaststube auf schwere Holzstühle an einen Tisch mit einer karierten Tischdecke und bestellten etwas zu essen. Ich eine Gulaschsuppe, mein Vater für gewöhnlich ein Wiener Schnitzel mit Pommes frites, meine Mutter ein 24
Nudelgericht und meine Brüder jeweils eine Bratwurst mit Krautsalat. Diese Gelegenheiten waren zugleich auch die einzige Möglichkeit, hautnah mit der fremden deutschen Kultur in Berührung zu kommen. Zwar lebten meine Eltern schon sehr lange in Deutschland und gehörten keineswegs zu jener Gruppe Türken, die nur unter ihresgleichen verkehrten, aber es war uns aufgrund unserer finanziellen Situation nicht möglich, während des Jahres auswärts zu essen und somit einen Einblick in die fremde Küche zu bekommen. Und von einer deutschen Familie eingeladen zu werden war zu dieser Zeit erst recht nicht üblich. So boten uns einzig diese Aufenthalte in den österreichischen Gasthöfen einen Blick auf die mitteleuropäischen Ess- und Trinkgewohnheiten. Erst als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal bei einer deutschen Familie Kohlrabi gegessen. Der holzige, erdige Geschmack war unheimlich interessant. Spargel habe ich mit zwanzig Jahren kennen gelernt. Sauerkraut kannte ich bereits im Alter von zwölf Jahren, aber es war kein alltägliches Gericht, denn bei uns zu Hause gab es diese »deutschen« Gemüsesorten nicht, weil meine Mutter nicht wusste, wie sie sie hätte zubereiten sollen, so wie es bei meinen deutschen Freunden auch keine Okraschoten und keine Auberginen gab und sie nicht wussten, wovon ich sprach, wenn ich eine Dolma erwähnte. Nach der Übernachtung im Gasthof ging es am nächsten Morgen weiter in Richtung Jugoslawien. Ohne zu wissen, was der Unterschied zwischen den politischen Systemen war, die wir auf unserer Reise durchquerten, spürte ich bereits an der Veränderung der Luft, an der Holprigkeit der unausgebauten Straßen und der Unfreundlichkeit der Grenzbeamten, dass wir in eine andere, gefährlichere Welt einreisten, die uns zwar durch die Fahrten in den Jahren zuvor bereits bekannt, aber niemals vertraut geworden war. In der brütenden Hitze des Frühsommers 25
sah ich durch die schmalen Fenster unseres Autos Männer mit freiem Oberkörper und verdreckten Gesichtern schwitzend Straßen asphaltieren und Frauen mit Kopftüchern und schlechten Zähnen, die sich am Straßenrand unterhielten und den vorbeiziehenden Treck der in die Heimat fahrenden türkischen Gastarbeiter nicht eines Blickes würdigten. Die Luft war schwer, und es roch nach synthetischen Stoffen, Abgasen und Kloake. Die überfüllten Parkplätze, auf denen wir anhielten, um unsere Wasserkanister zu füllen oder auf die Toilette zu gehen, waren übersät mit Müll. Melonenschalen, Plastiktüten und Zeitungen lagen überall verstreut in der Gegend herum. Aber nicht die Einheimischen hatten ihren Abfall dort achtlos weggeworfen, sondern unsere türkischen Landsleute, die ihre Empörung über die Unfreundlichkeit der Einheimischen darin auszudrücken schienen, dass sie die Umwelt ihrer zufälligen Gastgeber verschmutzten. Ich ekelte mich immer vor diesen Rastplätzen, aber es war eine willkommene Gelegenheit, um Luft zu schnappen oder einfach nur die Hose zu trocknen, die durch die im Auto stehende Hitze beinahe klitschnass geworden war und an meinem Hintern klebte wie ein geleimtes Stück Plastik. Besonders der Abend dieses zweiten Tages – an dem die Route Zagreb-Belgrad bewältigt werden musste, bevor wir uns ein Nachtlager suchen konnten – gestaltete sich vollkommen anders als der vorherige. Wir waren der Sprache dieses Landes nicht mächtig, wir mussten die fremden Schilder entziffern und darauf hoffen, dass sich hinter der Ankündigung »Motel« nicht eine Falle für ausländische Touristen verbarg. Meine Eltern müssen tausend Tode gestorben sein. Dabei waren meine Brüder und ich ein verschworener Haufen, den man so leicht nicht hätte reinlegen können – so bildeten wir uns jedenfalls ein. Kaum angekommen auf einem dieser Parkplätze vor einem dieser Motels, sprang mein ältester Bruder auch schon aus dem Wagen und begann die Umgebung abzusu26
chen. Zur großen Verärgerung meiner Mutter, denn ihr passte es verständlicherweise nicht, dass ihr Sohn im Halbdunkel die Unwegsamkeiten jugoslawischer Raststätten studierte. Nachdem wir uns in kaum verständlichem Kauderwelsch über den Preis unseres Nachtlagers einigen konnten, wurden wir von unseren Eltern notdürftig gewaschen und machten uns dann auf, um noch etwas zu essen, bevor wir müde in die Betten fielen und von der immer näher rückenden Heimat träumten. Meist gab es in diesen Motels auch so etwas wie eine Kantine für die Übernachtungsgäste. Die Preise, die man dort aber für lieblos gegrilltes Fleisch oder fad gewürzte Suppen zahlen musste, waren derart überzogen und unverschämt, dass mein Vater sich beinahe regelmäßig mit den Gastwirten anlegen musste, um zumindest unsere Ehre als »Feilschspezialisten« zu retten. Vielleicht lag es an der unangenehmen Atmosphäre dieser Plätze, dass ich mich heute an fast nichts mehr genau erinnern kann. Weder an die Orte noch an die Menschen, denen wir auf unserer Reise begegneten. In all diesen Jahren fuhren wir durch diese Länder wie durch die Hölle, und nur der Glaube an das nahende Ziel und die Sehnsucht nach unserer Muttersprache ließ uns selbst die schlimmsten Erfahrungen ertragen, ohne dass wir daran gedacht hätten, umzudrehen oder die Reise abzubrechen. Je näher wir am nächsten Tag aber der Heimat kamen – auf einigen Schildern konnte mein ältester Bruder in kyrillischen Schriftzeichen geschrieben das Wort »Istanbul« erkennen, woraufhin die ganze Familie sofort in Jubel ausbrach –, desto ungeduldiger wurden wir auch. Es schien so, als wären wir nicht die einzigen, denen die verbleibenden Kilometer bis zur bulgarischen Grenze, der letzten Station vor der Türkei, vorkamen wie eine Ewigkeit, obwohl wir durch eine wunderschöne Landschaft fuhren, vorbei an verzauberten Schluchten, reißenden Flüssen und schier unendlichen Obstplantagen. Auch unsere Weggefährten, die wir an ihren Kennzeichen wieder erkannten, drückten mächtig aufs 27
Gas – nicht wenige von ihnen sollten die Heimat im Sarge wiedersehen. Wir hatten nur unser Ziel vor Augen, und deshalb betrachteten wir die Landschaft um uns herum auch nicht als schön, sondern als gegeben. Wir sahen darin nicht die Verzauberung, sondern fühlten uns gefangen; wir nahmen nicht den Duft der Blumen wahr, sondern stellten uns den Geschmack würziger türkischer Suppen und knusprigen Brotes vor. So ist das, wenn man seine Heimat sucht. Man glaubt an Dinge, die es gar nicht gibt. Man liebt und gleichzeitig hasst man, voller Intoleranz dem Fremden gegenüber und doch beleidigt, weil man nicht respektiert wird. Eine Deformation von Geben und Nehmen, wie sie überall auf dieser Welt weit verbreitet zu sein scheint. In kindlichen Köpfen genauso wie in der Altersstarre der Ewiggestrigen. Hätten wir gesehen, wo wir waren, erkannt, dass wir den Balkan in seiner verwunschenen Schönheit – zuweilen von seiner rauesten, aber auch geheimnisvollsten Art – erlebt haben, wieso hätten wir dann noch in die Heimat fahren sollen? So aber glaubten wir weiterhin daran, dass uns diese Sonne nicht gehörte und auch nicht dieses Meer. Nur noch durch Bulgarien und dann wäre es vorbei. Am mittlerweile dritten Tag unserer Reise erreichten wir etwa achtzig Kilometer hinter Nis die bulgarische Grenze. Mehr und mehr veränderte sich die Landschaft. Nach den schroffen Bergen Sloweniens, nach der unendlichen Ebene der vierhundert Kilometer langen Etappe zwischen Zagreb und Belgrad und der Schönheit der am Donauufer gelegenen Hauptstadt Serbiens führte uns die Reise jetzt in die Ausläufer des Balkangebirges, entlang an stahlblauen Flüssen und kreidefarbenen Felsen – zuweilen öde und stundenlang menschenleer. Wir lebten in ständiger Angst vor einer drohenden Panne und waren dennoch fasziniert von der wilden Schönheit der Natur. Wir passierten die Grenzstation Bulgariens – ein Produkt des Kalten Krieges –, in kargen Tönen hastig gestrichen und errichtet einzig und allein zur Schikanierung der devisenträchtigen Nachbarn aus dem 28
Osten, den verhassten Nachkommen des Osmanischen Reiches, die fast fünfhundert Jahre die Kolonialherren dieser geschundenen Nation der Bulgaren waren, die als Vergewaltiger unschuldiger Mädchen, als Mörder zahlreicher Familien und als blutgierige Usurpatoren der gesamten Region vom westlichen Balkan bis zum Schwarzen Meer gelten. Und jetzt saßen die Eroberer in ihren bepackten Autos und fuhren durch dieses Land, zerschnitten mit ihren Rädern die zarten Verbindungslinien der neu aufkeimenden Identität und waren nicht einen einzigen Moment daran interessiert, dieses Land kennen, gar es schätzen zu lernen, sondern wollten es nur benutzen, um hindurchzueilen, einer zweiten Eroberung gleich. Aber was wusste ich in meiner roten, klebrigen Lederhose schon von osmanischen Eroberern und Kriegen. Sobald ich einen dieser Bulgaren durch das Autofenster entdeckte, streckte ich ihm die Zunge raus und machte Hasenohren, um zu demonstrieren, wie wenig ich dieses Land und seine Menschen mochte. Bulgarien ist von einem bis zum anderen Ende etwa fünfhundert Kilometer lang. Dennoch dauerte die Durchquerung beinahe einen Tag, und wir erreichten meist erst bei Dunkelheit die türkische Grenze. Denn um wenigstens einen Teil der kostbaren Devisen abzustauben, hatten sich die Bulgaren angewöhnt, strenge Geschwindigkeitsbegrenzungen aufzustellen und die Strecke genauestens zu kontrollieren, sodass die Störenfriede für ihre Eile nicht selten hohe Strafen zahlen mussten. Was dann aber an der Grenze zur Türkei, noch auf bulgarischer Seite geschah, ist kaum zu beschreiben. Bereits mehrere Kilometer vor der Grenze hatte sich eine Warteschlange aus Autos türkischer Gastarbeiter mit deutschen, holländischen, belgischen und französischen Kennzeichen gebildet. Die Menschen waren ausgelassen; es wurden Hupkonzerte veranstaltet, es wurde laute Musik gespielt und mit dem einen oder 29
anderen Fahrer unterhielt man sich über die Geschehnisse der vergangenen Tage. Nur in Abständen von Stunden – mittlerweile war es tiefste Nacht – bewegte sich die Karawane. Hektisch wurden dann die Motoren angeschmissen. Einige Fahrer hatten sich so weit von ihren Autos entfernt, dass sie im Eiltempo zu ihren Fahrzeugen spurten mussten, um nicht überholt zu werden und so den kostbaren Platz in der Warteschlange zu verlieren. Dann, nach etlichen Stunden – fast dämmerte schon der Morgen – überquerten wir endlich die Grenze. Wir waren stolz und froh; wir hatten beim Anblick der erhaben wehenden türkischen Fahne Tränen in den Augen, obwohl wir schon wieder von Grenzbeamten angeschnauzt wurden – diesmal sogar in unserer eigenen Sprache. So, als wären auch sie nicht begeistert davon, dass ihre entfremdeten Landsleute alljährlich um diese Zeit hordenartig in das Land einfielen. Aber das hielt uns nicht davon ab, uns zu freuen, dass wir das Ziel unserer Träume endlich erreicht hatten. Als die Sonne aufging, sahen wir in der staubigen Ebene Thrakiens zum ersten Mal seit Tagen wieder das Meer, obwohl wir es erst kurz zuvor die ganze Zeit um uns gehabt hatten. Jetzt aber war es unser Meer. Jetzt war es eine andere Sonne, die dort rot glühend am Himmel stand; jetzt rochen wir die Frische des Morgens und bewunderten die duftende Vielfalt der Landschaft. Und es war nicht mehr weit, bis wir nach einiger Fahrt endlich Istanbul erreichten. Als wir den schmalen Schotterweg hinauf zum Haus meiner Großmutter fuhren, wurden wir von schreienden Kindern mit den Worten angekündigt: »Die Deutschen sind da. Die Deutschen sind da!« Und als das Auto endlich vor der Eingangstür geparkt wurde, konnte mein Vater die einheimischen Kinder nur schwer davon abhalten, das Auto ungläubig staunend zu berühren. Dann traten meine Großeltern aus dem Haus und umarmten uns. Wir wurden getätschelt und geküsst, wir wurden so begafft, als wären wir geradewegs aus dem Weltall gekom30
men, denn auch meine Großeltern konnten sich kaum vorstellen, in welcher Welt wir lebten und wie lange es gedauert hatte, bis wir endlich vor dieser schmalen Tür parken konnten. Während die Erwachsenen sich ins Haus verzogen und sich in stundenlange Gespräche vertieften, packten wir Kinder unsere Sachen aus und bezogen unsere Zimmer am hinteren Ende des schlichten Häuschens, in dem meine Großeltern wohnten. Rückblickend betrachtet war es eine richtige Bruchbude in den Slums von Istanbul, damals aber war es für uns aufregend und spannend, weil es so anders war. Kaum hatten wir uns einquartiert, da zog es meine Brüder auch schon auf die Straße, wo die neugierigen Kinder immer noch vor dem Auto standen und uns mit Fragen zu Herkunft, Motorstärke und Baujahr malträtierten … Sechs Wochen später hatten wir eine Menge erlebt. Wir hatten im Meer gebadet, am Bosporus Fisch gegessen, den geschlossenen Bazar und das Topkapi-Museum besucht. Wir waren weit weg von unserem Alltag in Deutschland; wir drückten uns im Türkischen besser aus als im Deutschen; wir waren ähnlich verdreckt wie die Kinder, die uns begrüßten hatten, und wir bewegten uns so, als hätten wir niemals etwas anderes getan als durch holprige Gassen zu toben. Meine Großeltern gehörten zur Familie, und ich hatte mich daran gewöhnt, dass meine Großmutter vor dem Einschlafen zu mir ins Zimmer kam und mir mit ihrer faltigen Hand liebevoll über das Gesicht strich. Und dennoch. Der Tag des Abschieds kam, und so wie alles begonnen hatte, sollte es enden. Wir packten unsere Koffer, die Landkarten, die Provianttasche, die Kassetten und die Bücher und setzten uns »in aller Herrgottsfrühe« ins Auto, um nach Hause zu fahren. Nach Hause? Wo war unser Zuhause? Hier, wo wir uns inmitten unserer Freunde und Verwandten befanden, oder dort, wo wir den Rest unserer Sachen vergessen hatten? Dort, wo unsere Schulen waren und die Menschen mit den blonden Haaren uns nicht zum Mittagessen einluden? 31
Als wir die Grenze in Richtung Bulgarien überquerten, blickte ich mich mit Tränen in den Augen noch einmal um, um die türkische Fahne zu sehen, und konnte sie kaum erkennen. Auch das Meer war verschwunden. Ich konnte nichts mehr riechen und nichts mehr schmecken. Heute fragen mich viele Menschen, ob ich Türke oder Deutscher bin. Ich weiß es nicht, aber die Sehnsucht nach meiner Heimat habe ich seit diesen Tagen nicht mehr verloren.
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Eine Geschichte über mein erstes und letztes Weihnachtsfest
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SALAMALEIKUM, HERR WEIHN-ACH-MANN Weihnachten war für uns immer eine Katastrophe. Als Kinder mohammedanischer Eltern endete die Weihnachtszeit für uns am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien immer damit, dass wir zu brennenden Kerzen andächtig Lieder sangen, deren Inhalt wir zwar kannten, aber nie verstanden. Wochenlang hatten wir an Ritualen und Prozeduren teilgenommen, ohne den tieferen Sinn der ganzen Angelegenheit wirklich ergründen zu können. Und plötzlich, mit dem letzten Schultag, war Weihnachten für uns vorbei, ohne dass wir je den Höhepunkt – nämlich das Weihnachtsfest an sich und die darauf folgenden Feiertage – erleben durften. Denn Weihnachten gibt es bei uns Türken nicht. Auch keinen Nikolaus und kein Christkind. Keine Weihnachtslieder, keinen Spekulatius, keine Andacht, keine Vorfreude, keinen Lebkuchen, keine Wunschlisten, keine verzweifelte Suche nach dem passenden Geschenk, keine aufgestellten Stiefel oder aufgehängten Strümpfe, keine Empfänger hoffnungsfroher Botschaften, keine Kränze mit bunten, im Wochenturnus zu entzündenden Kerzen, keine künstlich beschlagenen Fenster mit Eisblumen und Tannenbäumen, keine Familienfeier, auf der man kitschige Lieder singt, keinen Festtagsbraten, kein Lametta, keinen Weihnachtsmann auf seinem Schlitten, keine wie von Geisterhand erklingenden Glöckchen, keine klirrenden Zimbeln und keine fröhlich-selig jaulenden Flöten, kein Hosianna und kein Halleluja. Und das Schlimmste: keine Geschenke! Rein gar nichts kannten wir davon. Grauenhaft! Es ist nicht schwer zu erahnen, wie wir als Kinder darunter litten, wenn plötzlich zweieinhalb Tage lang alle Geschäfte geschlossen hatten, die Spielkameraden verschwunden waren 34
und im Fernsehen nur noch langweiliges Programm zu sehen war, ohne dass man einen blassen Schimmer davon hatte, wo all die Menschen waren, was sie trieben und warum sie dafür so lange brauchten. Da wir an den Feiertagen nie von unseren deutschen Freunden eingeladen wurden, wussten wir auch nicht über den Ablauf der Zeremonien Bescheid. Und die spärlichen Auskünfte, die wir auf gelegentliches Nachfragen zur Gestaltung des Festes erhielten, trugen ebenfalls nicht zu einer wesentlichen Aufklärung bei. Im Gegenteil: Sie sorgten nur für zusätzliche Verwirrung. Bei manchen Leuten gab es an Heiligabend Fisch (wahlweise Lachsforelle oder Karpfen), andere bevorzugten Gans, wieder andere servierten vor der Bescherung Kartoffelsalat und danach eine festliche Suppe – alle, die wir dazu befragten, schienen über ihr ureigenes Weihnachtsmenü zu verfügen. Einige Leute durfte man an den Feiertagen nicht anrufen, andere riefen selbst nicht an; viele machten mürrische Gesichter, wenn es vorbei war, und andere wiederum, bevor es losging. Nur eines hörten wir immer wieder – und zwar von allen: Im nächsten Jahr würde Weihnachten bei ihnen ganz anders ablaufen. Da wir also an diesen seltsamen, wenngleich für uns auch spannenden Geschehnissen nicht teilnehmen konnten, mussten wir lernen, uns während dieser düsteren Stunden und Tage sinnvoll zu beschäftigen: zu lesen, fernzusehen, Butterbrot zu essen, zu schlafen und zu spielen, ohne dabei aus Langeweile Frechheiten auszuhecken. Besonders schrecklich waren die Jahre, in denen auf die Weihnachtsfeiertage direkt ein Wochenende folgte, sodass die ruhige und besinnliche Zeit endlos lang wurde und es fünf Tage »Stubenarrest« auszuhalten gab. Über Weihnachten kam meist mein Onkel mit seiner Familie aus Holland zu Besuch. Mein Onkel war ein gelehrter Mann. Er hatte mehrere Bücher geschrieben, und immer wenn ich als 35
Kind etwas wissen wollte, konnte ich ihn fragen – und schon bekam ich eine umfassende Antwort. Mein Onkel hatte eine halbe Glatze, und die paar Haare, die er noch besaß, kämmte er stets so, dass sie – fast gleichmäßig – die freien Stellen seines Kopfes bedeckten, was an stürmischen Tagen oft dazu führte, dass er lustige Frisuren hatte, über die wir Kinder uns köstlich amüsierten. Er hatte außerdem einen grauen Schnauzbart, der durch seine starke Raucherei schon ganz gelblich war; seine Fingernägel waren in der Regel ungeschnitten und seine Brille ungeputzt. Er trug meist braune Stoffhosen und karierte Pullover. Mein Onkel liebte es, Wacholderschnaps, den die Holländer Genever nennen, mit Cola zu mischen; und den größten Teil seiner freien Zeit verbrachte er in einer kleinen Kneipe an der Hauptstraße des Dorfes, in dem er zusammen mit meiner Tante und meinen drei Cousins lebte. Er fuhr klapprige Autos, die er mit Leidenschaft reparierte, bis sie endgültig ihren Geist aufgaben; er konnte endlos lange Geschichten erzählen, sodass sich vor Eifer und Aufregung weiße Speichelfäden an seinen Mundwinkel bildeten, und er sprang dabei wie ein wilder Teufel im Zimmer umher; er berichtete mit weit aufgerissenen Augen vom Universum und von schwarzen Löchern, so, als hätte er sie selbst gesehen, von den Erfindungen der Menschheit, so, als hätte er selbst bei deren Entwicklung mitgewirkt, von Entdeckern auf allen Weltmeeren, so, als wäre er selbst auf Reisen gewesen, von Eingeborenen und von Einheimischen, so, als hätte er selbst mit ihnen gesprochen. Und wir glaubten ihm immer alles. An Weihnachten war er – ebenso wie wir – ausgeschlossen vom Leben seiner christlichen Nachbarn. Also musste er zwangsläufig mit seiner Familie eine geeignete Ablenkung von der Langeweile der bevorstehenden Zeit finden und besuchte uns daher regelmäßig, worüber wir uns sehr freuten. 36
Einmal fragte ich ihn am »heiligen« Abend: »Du, Onkel, was feiern die Gâvurlar (so nennen wir Mohammedaner die Ungläubigen) eigentlich heute?«, und noch bevor er ansetzen konnte zu einer seiner umfassenden Antworten, hörte ich meine Mutter boshaft aus der Küche rufen: »Da wird der Christus geboren. Dann nageln sie ihn ein paar Monate später ans Kreuz, und kurz danach löst er sich in Luft auf. An Weihnachten kommt er wieder auf die Welt, und alle tun so, als würden sie ihn zum ersten Mal sehen. Die spinnen, die Christen …« »Na ja, ganz so ist es nicht, mein Neffe«, beschwichtigte mein Onkel, als er in meine schreckgeweiteten Augen blickte. »Weißt du, die ganze Sache ist schwer zu erklären …« Dann erzählte er uns von Herodes, der Volkszählung, von Maria und Josef; er schilderte uns die Begebenheiten um die Flucht der beiden und vergaß auch nicht die Heiligen Drei Könige. Er sprach von den Tieren im Stall zu Bethlehem, von dem Weihnachtsstern und der Geburt des Heilands. Schließlich schloss er mit der Erkenntnis, dass Jesus eigentlich ein uneheliches Kind sei, denn Maria habe ihn ja nicht von Josef, sondern vom Heiligen Geist oder von irgendwem anders empfangen – ich verstand nicht so genau, wovon mein Onkel sprach –, und deswegen seien auch alle Nonnen mit Jesus verheiratet und trügen Eheringe. Das sei wirklich alles sehr seltsam, was die Christen sich da ausgedacht hätten. Als ich ihn fragte, was eine unbefleckte Empfängnis sei und wie sie vonstatten gehe, sah ich meinen Vater im Hintergrund grimmige Handbewegungen machen, um der unaufhaltsamen Suada meines Onkels Einhalt zu gebieten. Aber jeder Widerstand war zwecklos. »Ja, natürlich!«, sinnierte mein Onkel weiter. »Das wirkt komisch, Maria war schließlich verheiratet mit Josef. Wie kann sie da schwanger werden, ohne dass Josef der Vater ist?« Mein Onkel schob das Konzept der unbefleckten Empfängnis schließlich beiseite und eröffnete mir seine Theorie vom historischen Ehebruch. Doch je verzweifelter mein Onkel versuchte, Licht in das 37
Dunkel unserer Vorstellung zu Herkunft und Bedeutung des Weihnachtsfestes zu bringen, umso mehr grübelten wir, was unsere Freunde und Nachbarn wirklich zu Weihnachten trieben. Je mehr wir versuchten, uns Klarheit über die Beweggründe der verschworenen Feiergesellschaft zu verschaffen, desto mehr verstrickten wir uns in abenteuerliche Verschwörungstheorien und haarsträubende Spekulationen. Wir hatten schließlich mehr Fragen als Antworten zu den seltsamen Zeremonien unserer Anschauungsobjekte. Wann und warum wurde beschert? Wie viele Geschenke musste man bringen? Mussten die Gaben einen Bezug zum Fest haben? Hatte der Wert des Geschenks eine Bedeutung und war er gleichzeitig ein versteckter Hinweis auf den Wert der Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem? Warum musste man überhaupt schenken? Wäre es nicht einfacher und günstiger, sich einmal im Jahr die Meinung zu sagen, oder machte man das bereits? War das Geschenk erst der Anlass dazu? Musste man die Wünsche der zu Beschenkenden berücksichtigen und galt es als unhöflich, diese zu ignorieren, wo es doch in unseren Augen schon unhöflich erschien, Geschenke zu verlangen? Warum gab es Spekulatius, Nüsse, Lebkuchen, Glühwein und Schokoladenweihnachtsmänner nicht im Sommer? Wachsen die Zutaten etwa nur zu bestimmten Jahreszeiten? Gehörten die abscheulichen Weihnachtslieder immer dazu? Warum sang man vom Christkind, so als hätte man es persönlich kennen gelernt? Was bedeutete »Heidschibumbeidschi«, und warum konnte Peter Alexander es sich zu Weihnachten erlauben, solch absurde, fast dadaistische Phrasen in Vinyl zu pressen – und damit noch ein Heidengeld verdienen? Warum hörte man niemals Stille Nacht zur Karnevalszeit oder Oh Tannenbaum zu Ostern? Warum überhaupt ein Tannenbaum und keine Palme? Und warum dauerte das Fest so lange? Was war der genaue Unterschied zwischen Heiligabend und den Weihnachtsfeierta38
gen? Musste es unbedingt zwei davon geben? Wer hatte das entschieden? Jesus? Das Christkind? Die Heiligen Drei Könige? Der Papst? Warum durfte man Heiligabend keine Freunde besuchen, anrufen oder einladen? Wo verbrachten der Weihnachtsmann und das Christkind den Rest des Jahres? Hatten sie dann Urlaub und trugen normale Klamotten? War das Christkind wirklich ein Kind oder war es eine Frau mit Kindergesicht? Schließlich trug es ein Kleid. War der Bart des Weihnachtsmannes wirklich immer schon so lang und glänzend weiß? Wie alt waren die beiden eigentlich? Wurden sie älter? Waren sie vielleicht sogar miteinander verheiratet? Wir zerbrachen uns den Kopf über den Verbleib des Christkindes, das ich als kleines Kind lange Zeit mit dem Weihnachtsmann verwechselt hatte. Schließlich erzählte ich, dass ich mich einmal zur Weihnachtszeit heimlich in eine Kirche geschlichen hätte. »Und?«, fragte mein Onkel. »Was machen sie dort?« »Nichts! Sie sitzen da und singen«, antwortete ich. »Eben!«, sagte meine Mutter. »So als wären Taufe und Beerdigung an einem Tag.« »Wie? Sie sitzen dort und singen bloß?«, hakte mein Onkel ungläubig nach. »Aber was hat das mit Weihnachten zu tun? Wovon singen sie?« »Sie singen von Engeln, Tannenbäumen und Rosen, die weglaufen«, erwiderte ich. »Also schön, wenn wir nicht herausbekommen, wie das Ganze abläuft, dann müssen wir eben selber Weihnachten feiern, um zu sehen, was passiert«, entschied mein Vater, ohne zu ahnen, dass er damit bei allen Anwesenden einen Sturm der Begeisterung auslösen würde. Daran hatten wir noch gar nicht gedacht: Niemand schrieb uns vor, dass wir an diesen Tagen nicht genau das Gleiche wie die Christen machen durften. Niemand befahl 39
uns Langeweile, und keiner verlangte von uns, dass wir uns gegen die Selbstmissionierung zur spontanen Weihnachtsgesellschaft zu sträuben hätten. Schnell verschwanden also die Butterbrote, eilig legte meine Mutter eine frische Tischdecke auf. Wir warfen uns in Schale, die Frauen schminkten und parfümierten sich, die Männer banden sich Krawatten um und stutzen ihre Bärte. Es wurde hastig aufgeräumt, beiseite gestellt und zurechtgerückt. »Also, was wisst ihr jetzt über Weihnachten?«, fragten uns die Erwachsenen. Wohl weil sie glaubten, dass wir Kinder durch den täglichen Umgang mit unseren Mitschülern mehr wüssten als sie. Wir dachten also krampfhaft nach und stammelten schließlich: »Na ja … äh … zuerst einmal einen Tannenbaum, den müssen wir schon haben, sonst … äh … geht es nicht.« »Tja, aber wo kriegen wir jetzt einen Tannenbaum her?« In der Regel – dass wussten wir – wurden die Tannenbäume kurz vor Weihnachten verkauft. Ganz in der Nähe unseres Hauses eröffnete nämlich ein Händler alljährlich einen Weihnachtsbaumhandel und versperrte mit seiner Ware unseren morgendlichen Schulweg. Doch am Mittag des 24. Dezember waren er und seine Bäume plötzlich verschwunden. Es musste also etwas mit dem zeitlichen Ablauf des Festes zu tun haben, wann der Mann mit seinen Bäumen auftauchte und wieder entschwand. »Die Stechpalme!«, schrie mein mittlerer Bruder. »Ausgezeichnet!«, lobte mein Onkel. Und schon wurde die Palme aus der Ecke geholt und mit Kugeln aus türkischem Honig geschmückt. Dann wanden wir schwungvoll bunte Wollfäden um die Hüften der bemitleidenswerten Pflanze und versahen sie zudem mit diversen Süßigkeiten, die wir in der Küchenschublade fanden, wie Schokopralinen und Kaugummi. Wir knüllten Zeitungspapier zu 40
faustdicken Kugeln und hängten sie behutsam an unseren Ersatzbaum, dessen Zweige schließlich unter dem Gewicht seines Schmuckes bedrohlich herabsanken. Wir steckten ungekochte Spaghetti in den Blumentopf und bastelten kleine Sterne aus Papierschnipseln, die wir sorgsam an den dünnen Stangen befestigten. Schließlich wickelten wir buntes Toilettenpapier wie eine Girlande um den Palmenstamm und stellten das Ganze auf eine leere Obstkiste mitten ins Wohnzimmer. Jetzt fehlte nur noch Musik. Fröhlich musste sie sein. Schließlich hieß es ja immer »Fröh-öh-liche Weihnacht überall«. Also, schön. Aber wie und woher besorgen wir uns jetzt die richtige Untermalung? Wie gut, dass es den unendlichen Einfallsreichtum der Frauen gab. Schnell zauberte meine Mutter eine Kassette mit arabesker Musik aus der Schublade. Und was essen wir? »Kekse, Spekulatius, Orangen, Karpfen und Gans«, zählte mein ältester Bruder vielwissend auf, und damit hatten wir das nächste Problem zu lösen. Abgesehen davon, dass keiner von uns wusste, ob den diversen Delikatessen eine bestimmte Bedeutung zukam, konnte auch niemand ergründen, welchen Ersatz wir hätten nehmen können, um eine möglichst naturgetreue Reproduktion des Festrituals zu gewährleisten. Genauigkeit hin, Weihnachtsfest her: Wir brauchten eine rasche Lösung. Die Originale hatten wir nicht. Ausnahmsweise würden es auch gefüllte Weinblätter, Hackfleischspießchen und gebratene Auberginen tun. Dazu gab es weißen Bohnensalat mit gekochtem Ei, panierte Hühnerleber mit Zwiebeln und Petersilie, Couscous mit Putenfleisch, mit Pinienkernen gefüllte Frikadellen, Reis mit Brühe, Schafkäse und Knoblauchwurst. (Na ja, wenn’s wirklich nicht anders geht.) Hauptsache, wir würden Weihnachten feiern (auch wenn es nur so ist, wie wir es uns vorstellen). Hauptsache, wir würden endlich erfahren, was dahinter steckt, dass man uns von dieser geheimnisvollen Veranstaltung ausschließt. 41
Endlich konnte gefeiert werden! Es wurde gegessen und gelacht, getrunken und gestritten. »Gar nicht so schlecht, dieses Weihnachten«, sagte mein Vater mit vollem Mund. »Eigentlich sollten wir das jedes Jahr machen«, bemerkte mein Onkel. »Gute Idee«, befanden die übrigen Anwesenden, die Kinder allen voran. Es wurde geschmatzt und geschlabbert, getrunken und gerülpst, gekichert und gegluckst, bis unsere Bäuche voll waren und unsere Neugier gestillt. »So, und jetzt wird getanzt!« Meine Mutter ging zur Mitte des Wohnzimmers und hielt ein Taschentuch in der Hand. Alle wussten: Jetzt geht die Party erst richtig los. Denn wenn meine Mutter gute Laune hatte und diesen seltsamen Ausdruck in ihrem Gesicht, wenn sie dazu noch ein Taschentuch in der Hand hielt und die Musik im Hintergrund auf Bewegung drängte, dann wussten wir, dass keine zehn Pferde sie mehr aufhalten könnten. Sie würde gleich einen Tanz präsentieren, wie ihn mein Vater zum ersten Mal wohl in der Hochzeitsnacht der beiden gesehen haben mag. Die Musik wurde aufgedreht, und meine Mutter führte einen einmaligen Bauchtanz vor. Dabei tänzelte sie so elegant um die von uns zum Weihnachtsbaum deklarierte Trauerpalme, dass man glauben konnte, sie hätte einen imaginären Tanzpartner, der ihr – ohne auch nur eine Bewegung zu machen – das Äußerste an Geschick und Rhythmusgefühl abverlangte. Die Musik wurde lauter, und die Beteiligten klatschten wild im Takt. Jede Bewegung wurde mit frenetischem Zwischenapplaus bedacht, jeder Blick mit einem ahnenden Lachen honoriert, und zuweilen hörte man sogar ein dazwischengerufenes »Schinanainai-of-of-Weih-ach-mannof-of-schinanainai«. 42
Unsere Hände waren beinahe wund von unserem Klatschen. Wir glänzten vor Freude und strahlten vor Glück. Solch ein schönes Weihnachtsfest hatten wir bisher noch nicht erlebt. Die Musik wurde lauter und lauter, wir klatschten und klatschten. Mittlerweile zu zwei tanzenden Frauen, meinem dazu tänzelnden Onkel und meinem laut grölenden Vater. Wir hätten es beinahe überhört, aber plötzlich klingelte es an der Tür. Während die anderen weiter Weihnachten feierten, ging ich – wenig erstaunt und voll freudiger Erwartung – zur Tür, um sie zu öffnen. »Fröhliche Weihnachten!«, strahlte ich den vor mir stehenden Polizeibeamten an. »Ist das eure Musik da?«, fragte der Beamte mürrisch. Ehe ich auf die seltsame Frage des Polizisten antworten konnte, rief mein beschwingter Vater aus dem Hintergrund: »Fröhlicher Weihnacht, Kollega.« Doch die Miene des Beamten sah weder weihnachtlich noch fröhlich aus. Auch sein Tonfall klang eher barsch. »Stellen Sie das sofort ab! Haben Sie noch nie etwas von ›stillen Feiertagen‹ gehört? Weihnachten ist ein Fest der Andacht. Da können Sie nicht so einen Radau machen. Tanzen können Sie in Ihrer Heimat, wenn Ramadan ist.« Natürlich folgten wir den Anweisungen des Polizisten. Die Musik wurde abgestellt. Der Baum verschwand in der Ecke. Fernseher, Radio, Kassettenrekorder, alles schwieg. Und wir auch. Erst nach einigen Minuten der Benommenheit fanden wir zu unserer Sprache zurück und konnten unserer Verwunderung Ausdruck verleihen. »Tja«, sagte mein Onkel. »Da soll einer die Menschen noch verstehen; eigentlich ist es ein Freudenfest, aber es ist so ernst wie bei einem Begräbnis.« 43
Seitdem haben wir nicht mehr Weihnachten gefeiert. Die Tage gingen aber auch so ganz gut vorüber. Wissen Sie eigentlich, wie man Ramadan feiert?
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Über eine türkische Redewendung
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GETRENNTE RECHNUNGEN Mein bester Freund hieß Thomas. Er hatte einen kleinen Bruder, der hieß Dirk. Wir nannten ihn Dirki. Thomas und Dirki wohnten in der Nähe des Fußballplatzes, auf dem wir uns täglich trafen, um zu kicken. Ihre Eltern waren den ganzen Tag zu Hause; und das Besondere an Thomas und Dirki war nicht nur, dass sie meine Freunde waren, sondern auch dass sie viele bunte Legosteine besaßen, mit denen man spielen konnte. Aus diesen Steinen bauten wir Häuser, hohe und breite, wir bauten Mondfahrzeuge und Hubschrauber, Panzer und Autos. In unserer Vorstellung saßen wir wie Miniaturen unserer selbst in diesen Vehikeln und reisten durch das unendlich weite Land unserer Fantasie. Meine beiden Freunde wohnten im Dachgeschoss eines schäbigen Mietshauses. Ich glaube nicht, dass ihre Eltern besonders reich waren, auch wenn sie ein schwarzes Ledersofa besaßen, das schrecklich kalt war, sodass ich meine Hände unter meinen Hintern legen musste, wenn ich darauf sitzen wollte. Der Vater der beiden war Fernfahrer – ein lustiger Mann mit Locken und einem echten Schnauzer –, und die Mutter war Hausfrau und trank ständig kalte Milch, sodass sie immer einen Milchbart hatte, wenn ich sie sah. Ich stellte mir unter einer Hausfrau eine Frau, die Häuser baut, vor. Deswegen mochte ich Hausfrauen auch. Besonders lustig aber war, dass die Mutter größer war als der Vater. Sie hatte kurze blonde Haare und ein markantes Kinn; ihre Hände waren groß und ihre Lippen schmal, sie sprach mit einer tiefen Stimme. In meiner Vorstellung war sie der eigentliche Vater, während der Vater vielmehr wie die eigentliche Mutter wirkte. Aber was machte das schon aus? Die Eltern schienen gut zueinander zu passen, und Thomas und Dirki passten gut zu ihren Eltern. 46
Wenn ich zu meinen Freunden zum Spielen ging, verlief meine Ankunft immer gleich – es war fast wie ein Ritual: Ich klingelte, ich ging ins Kinderzimmer, wir holten eine große Kiste hinter dem Bett hervor, die Legosteine wurden ausgekippt, und dann bauten wir schweigend und manchmal stundenlang unsere Gebäude und Fahrzeuge bis zur Mittagszeit. Die Mutter rief aus der Küche, und Thomas und Dirki verschwanden für eine geraume Zeit, ehe sie wiederkamen und weiter mit an den Legoburgen bauen konnten. Während ich im Zimmer auf die beiden wartete, hörte ich seltsame, aber irgendwie vertraute Geräusche: das Klappern von Geschirr, Besteckgeschabe auf halb leeren Tellern, ein glucksendes Geräusch von eingegossenem Sprudelwasser und zwischendurch leises Flüstern. Wie anders war es doch bei mir zu Hause. Wir wohnten in zwei Zimmern. Eines war die Küche, das andere Zimmer war zugleich Wohn- und Schlafzimmer. Jeden Tag kochte meine Mutter für zahlreiche Freunde und natürlich unsere Familie. Auch wenn wir damals nicht viel Geld besaßen, kochte meine Mutter sehr viel und manchmal sogar auf Vorrat. Sie wusste, wenn am Mittag die Kinder aus der Schule kamen, brachten sie meist ihre Freunde mit: Mein ältester Bruder würde mit Dieter und Martin kommen, mein mittlerer Bruder würde Achim und Bonanza mitbringen und ich würde Markus und Michael im Schlepptau haben. So saßen wir dann manchmal mit zehn Personen an dem kreisrunden Tisch und aßen Nudeln, Salat mit saurer Soße und tranken Leitungswasser oder Orangensaft von Aldi. Wir diskutierten miteinander, stritten und lachten, und unsere Gespräche vergingen schneller, als wir essen konnten. Dann füllten wir die Teller auf, und alles begann von neuem. Manchmal eine, manchmal zwei Stunden saßen wir so am Tisch und merkten nicht, wie die Zeit verging. Dann wurde abgeräumt, die Gäste gingen nach Hause, und wir machten uns an die Hausauf47
gaben und warteten auf unseren Vater, der immer gegen vier Uhr von der Arbeit kam. Ich habe niemals darüber nachgedacht, warum es bei Thomas und Dirki so anders war als bei uns, weil es mich niemals wirklich interessiert hat. Ich habe mich auch nicht wirklich unwohl gefühlt, während ich allein im Zimmer saß und auf die beiden wartete. Es war einfach so, wie es war, und als Kind denkt man über so etwas sowieso nicht nach. Erst als ich eines Tages als erwachsener Mann mit Freunden in einem Restaurant in Istanbul saß und der Kellner uns fragte, ob wir eine »deutsche Rechnung« haben möchten, fiel mir zum ersten Mal auf, dass man in Deutschland sehr großen Wert auf die akkurate Teilung der Güter legte. Eine »deutsche Rechnung« ist eine getrennte Rechnung. »Deutsche Rechnung« nennt man in Ländern des Orients die Eigenart, den Rechnungsbetrag genau zwischen den einzelnen Gäste aufzuteilen. Etwas sehr Unhöfliches und zugleich Peinliches. In der Türkei trägt der Gastgeber – und dieser zu sein ist keine Strafe, sondern eine Ehre, um die man sich streitet – die Verantwortung für das Wohlergehen seiner Gäste. Er bestellt, er fragt, er fordert, er kontrolliert die Vorgänge. Er liest den Gästen ihre Wünsche von den Lippen ab, er schwelgt im Überfluss (auch wenn sein Konto schon längst überzogen ist), er denkt nicht einen Moment über den Verlust nach, sondern freut sich über den Gewinn: das Glück des gemeinsamen Moments, das durch keine Rechnung und keine Ordnung aufzuwiegen ist. Vielleicht weil er weiß, dass beim nächsten Mal durch ein ungeschriebenes Gesetz er der Gast sein wird, dass er nach Lust und Laune essen wird und dass es ihm gut gehen wird, weil sich dann jemand um sein Wohlergehen kümmert. Ein einfaches Prinzip – fast christlich – von Geben und Nehmen, das seit Jahrhunderten gepflegt wird. 48
Eines Tages, als wir vom Fußballplatz nach Hause gingen, stellte mir mein Freund Thomas eine seltsame Frage. Ich weiß es noch wie heute, weil ich diese Frage noch nie gehört hatte. Er fragte mich, ob ich schon einmal Eis gegessen hätte, und da ich noch nie Eis gegessen hatte, schüttelte ich verdutzt den Kopf. Und so gingen Thomas, Dirki und ich gemeinsam zum Büdchen an der Ecke, wo wir auch immer unsere Süßigkeiten kauften. Thomas legte ein blitzendes Geldstück auf die für uns viel zu hohe und mit Zeitungen bepackte Theke des Kiosks und bestellte drei Eis: einen braunen Bären, ein Split und ein Minimilk für seinen kleinen Bruder. Mir wurde das Split zugelost. Ein Orangeneis mit Vanillefüllung. Das war so kalt, dass meine Unterlippe sofort an der Oberfläche des Gefrorenen kleben blieb. Aber der erste Eindruck war gigantisch. Das Eis schmeckte so, wie ich noch nie etwas geschmeckt hatte, kalt und fruchtig, süß und zugleich sauer, einfach lecker. Schweigend gingen wir am Bahndamm entlang nach Hause, als uns zufällig meine Mutter entgegenkam. Aus irgendeinem Grund war sie sehr böse. Sie fragte mich schon aus einiger Entfernung, wer mir dieses Eis gekauft habe. Ich war starr vor Angst. Ich stammelte irgendetwas davon, dass es ein Geschenk sei, und ehe ich michs versah, schlug meine Mutter mit einer raschen Bewegung das Eis aus meiner Hand, sodass es mit einem gewaltigen und feuchten Plumps auf den Asphaltboden fiel. Unwiderruflich und geschmolzen, ungenießbar und farblos, während ich versuchte zu verstehen, weshalb sie das getan hatte, und meine beiden Freunde schweigend zu ihrer Milchbarthausfraumutter abwanderten. Wieder und wieder sehe ich den Moment vor meinem inneren Auge. Wie die Hand meiner Mutter das Eis berührt und es auf den Boden fällt. Klatsch – mit einem schallenden Echo von tausend herabfallenden Steinen, wieder und wieder, in Zeitlupe 49
und in doppelter Geschwindigkeit. In schwarz-weiß und in monochrom grellem Orange. Mittlerweile ist eine lange Zeit vergangen, und noch immer versuche ich zu verstehen, warum meine Mutter mir damals das Eis aus der Hand geschlagen hatte. Ich habe sie nie danach gefragt. War es ihr Stolz oder ihre Fürsorge? War es eine Sache der Ehre oder eine überschrittene Grenze? Oder war es einfach nur ungesund?
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Warum ich dankbar bin, keine Kinder zu haben, und Karneval nicht mag. Warum mein Vater gern Fleisch schneidet und manchmal auch anderes.
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PAPI SCHLACHTET KARNEVAL Eine Lieblingsbeschäftigung meines Vaters war, Fleisch zu schneiden. Mit einem großen Küchenmesser schnitt er Rindfleisch, Hammelfleisch und Hühnerfleisch in kleine oder größere Würfel. Er trennte die Haut vom Fett, das Fett von den Knochen, die Knochen von den Sehnen und zerlegte so mit Vorliebe ganze Tiere in ihre Einzelteile. Mein Vater arbeitete zwar bei der Müllabfuhr, war aber ursprünglich gelernter Koch, und seine Brüder hatten eine Metzgerei. So gehörte es für ihn zu einer Art meditativem Prozess, das frische, auf Vorrat gekaufte Fleisch zunächst sorgsam zu zerteilen, um es dann in Beutel gefüllt einzufrieren. Nun könnte man daraus schließen, mein Vater sei ein blutrünstiger Mensch. Aber im Gegenteil: Er hackte nicht brutal, sondern umsichtig auf den Tieren herum; er schnitt und skelettierte nicht wie ein Grobian, sondern er schliff und massakrierte die Viecher wie ein wahrer Künstler; er kümmerte sich um sein Fleisch fast so liebevoll wie um seine eigenen Kinder. Und so herrschte immer sonntags, wenn mein Vater nicht arbeiten musste und Zeit hatte, sich seiner unheimlichen Leidenschaft hinzugeben, eine seltsam beschauliche Stirnmung bei uns. Meine Mutter stand im blauen Kittel am Herd und rührte in einer Suppe, und wir Kinder saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, malten kritzelige Zeichnungen von Schafen, Rindern und Hühnern oder lasen Comics. Mein Vater war damit beschäftigt zu schneiden; zu diesem Zweck trug er eine Jogginghose und ein Unterhemd und saß neben dem alten Kohleofen, mit dem wir damals unsere Wohnung beheizten. In der Küche lief ein altes, klappriges Radio mit einer überdimensional langen Antenne, aus dem ein ungeheurer Krach erschallte. Mein Vater versuchte, über Langwelle die Übertra52
gung türkischer Fußballspiele zu empfangen, und in eine Reihe piepsender Töne mischten sich dabei Sprachfetzen aus Arabisch oder Jugoslawisch und eine seltsame Musik, deren Herkunft man nicht bestimmen konnte. Zwischendurch hörte man den Kommentar eines scheinbar in doppelter Geschwindigkeit sprechenden, mehr schreienden Fußballreporters und selten den Jubel über ein Tor, woraufhin mein Vater – mit einer halb verglühten Zigarette im Mundwinkel – sofort aufhörte zu schneiden und sich auf das schwer verständliche Spielgeschehen konzentrierte. Meine Mutter musste ihn oft an seine Zigarette erinnern, damit die Asche nicht einfach herabfallen und auf diese Weise ein Loch in unsere Tischdecke brennen würde. Dabei war die Decke bereits derart übersät mit Brandlöchern, dass es eigentlich keinen Sinn mehr machte, darauf zu achten. Wir waren damals drei Geschwister. Mein ältester Bruder war eine Art Aufpasser und Erzieher für mich, mein mittlerer Bruder eher ein Kumpel, und untereinander hatten die beiden ein seltsames Verhältnis zwischen Distanz und Verbündung. Wir spielten nicht oft miteinander – und falls doch, geschah dies eher zwangsläufig. Sonntags beispielsweise, wenn wir nicht zu unseren Freunden zum Spielen gehen konnten, denn die waren in der Regel Deutsche, und Deutsche legten – zumindest damals – viel Wert auf Sonntage. Von früh bis spät bimmelten die Kirchenglocken, die Straßen waren noch leerer als sonst, und die Spielplätze, auf denen wir uns mit unseren Kameraden sonst trafen, glichen nun Friedhöfen. Ein mittelschwerer Skandal, wenn ich bei Freunden sonntags zur Mittagszeit klingelte, um sie abzuholen. Damals hatten wir noch kein Telefon, sodass ich mich auch nicht ankündigen konnte. Wir wurden ab- und zurechtgewiesen, belehrt und beleidigt, ohne zu verstehen, weshalb dieser Tag so heilig war, dass man die Grundsätze der Nächstenliebe ins Gegenteil verkehren musste, um sein Heiligtum zu schützen. 53
Wir ertrugen auch diese Merkwürdigkeit, weil es zwecklos war, dagegen aufzubegehren. Vielleicht hatten wir aber auch nur die falschen Freunde oder ich habe eine verzerrte Erinnerung, denn wenn ich heute meine deutschen Freunde nach der Sonntagsheiligkeit und Unfreundlichkeit frage, wissen die meisten von alldem nichts. Auch das habe ich gelernt: Die Deutschen haben ein schlechtes Gedächtnis. Ob zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre zurück, lieber findet man sich mit dem ab, was einem bevorsteht, als dass man erklärt, was man hinter sich hat. Und so glaube ich heute mittlerweile auch an die Verdrängungen und Lügen meiner Freunde. Zugleich aber weiß ich, dass mein Gedächtnis mich nicht trügt und dass ich hier seltener warmherzige Augen, lachende Münder und einladende Worte gehört habe, als ich es aus meiner Heimat kannte. Nur für einige Tage im Jahr, zu Karneval, da scheint sich all das umzukehren. Von einem auf den anderen Moment werden die einstmals unfreundlichen und kühlen Nachbarn zu überschwänglichen, fast albernen Spaßkanonen und Kurzzeithumoristen. Zu Karneval sind die Straßen voll; sogar am Sonntag ergießen sich Menschenströme auf die Marktplätze, um vorbeifahrenden Wagen zuzujubeln und Plastiktüten voll Kamellen zu sammeln, ohne etwas darauf zu geben, wie billig die Bonbons eigentlich sind, wie abscheulich sie schmecken und wie hartnäckig sie zudem zwischen den Zähnen kleben. Ohne darüber nachzudenken, nahmen auch wir teil an diesen kollektiven Freudenausbrüchen und verkleideten uns. Allerdings waren unsere Kostüme nicht gekauft, sondern meist selbst gemacht, denn meine Eltern hatten weder Geld noch Lust, uns die kostspieligeren Accessoires zu kaufen, die unsere Freunde von ihren Eltern bekamen und stolz präsentierten: Cowboyhüte, Indianerkopfschmuck, Ritterrüstungen mit Plastikschwertern und Schreckschusspistolen mit Zwölfermagazinen. Wir hinge54
gen legten mühsam ersparte Knallplättchen in klapprige alte Wummen, die eigentlich viel zu leise waren, um unserer inneren Überlegenheit Ausdruck zu verleihen, und genossen unsere Sehnsucht nach dem Unerfüllbaren als eine Art Bescheidenheit und kleideten uns in Fantasiekostüme, ohne uns darum zu kümmern, ob wir darin vielleicht lächerlich oder gar ärmlich wirkten. Karneval war vor allem auch eine Zeit der Fantasie, denn nicht selten glaubten wir daran, tatsächlich das zu sein, als was wir uns verkleideten – genauso oft, wie wir uns wirklich erschossen oder mit Kochlöffelschwertern die Köpfe abhackten, um röchelnd die letzten Atemzüge auszuhusten. Man kann sich kaum vorstellen, wie leidvoll für meine Eltern diese Diskrepanz zwischen der Beschaulichkeit ihres Insellebens und den Reizen der fremden Umgebung gewesen sein muss: draußen ständiges Gebrülle, Gejohle, die Klänge scheppernder Marschkappellen aus der Ferne und dazu die entfesselten Kinder in der eigenen Wohnung (die sonst durch ihre Fremdartigkeit angenehm isoliert war); zu deutschem Frohsinn aufgestachelte Blagen, in der eigenen Fantasiewelt gefangen, grenzenlos, wild und aufmüpfig. Vielleicht hat mein Vater wirklich an uns gedacht, als er vor sich die Fleischberge sah; vielleicht hat er sie besonders scharf geschnitten und ist ihnen bis an den Knochenschaft gegangen, hat ihnen bis ins Mark hineingebohrt, damit die Kleinen endlich die Klappe halten mögen und er sein verdammtes Fußballspiel verstehen könne. Warum hat man bloß Kinder? Warum setzt man diese Monster in die Welt, wenn man selbst nicht weiß, ob man erwachsen genug ist, die Herausforderungen des Lebens zu verstehen? Ist es ein Instinkt? Ist es ein Eingeständnis an den Willen der eigenen Eltern? Ist es vielleicht sogar Dankbarkeit, eine Opfergabe an den ewigen Kreislauf der Natur? Oder gehört es einfach dazu, dass man den Schmerz erträgt, um die Freude zu genießen, 55
dass man die Ablenkung erträgt, ohne den eigentlichen Weg aus den Augen zu verlieren? Mein Vater hätte viel mehr zu fluchen gehabt, als er es wirklich tat, und er war ein begnadeter Flucher. Er konnte sogar spontan Flüche erfinden. Er konnte witzig fluchen, sodass wir uns alle schüttelten vor Lachen, obwohl wir eigentlich Angst hatten; er konnte gefährlich raunen; er konnte Stühle zerschlagen und Fußbälle mit voller Wucht durch unsere kleine Küche treten; er konnte unsere Nachbarn beleidigen, mit vollen Töpfen nach ihnen werfen und Schlüsselbünde durch geschlossene Fensterscheiben schmeißen. Aber während mein Vater eigentlich unser größtes Vorbild in Sachen »Fluchen« darstellte, war es uns strikt verboten zu fluchen, weil er es nicht mochte, wenn ein anderer in seinem Herrschaftsbereich die sprachlichen Grenzen überschritt. Keiner von uns durfte beleidigen, niemand durfte beschimpfen; keine Andeutung, keinen vagen Unterton und keine einzige sprachliche Verfehlung durfte man sich leisten, ohne dass er so losgeflucht hätte, wie es uns allen verboten war. Eines schönen Jahres kauften uns unsere Eltern dann richtige Karnevalskostüme. Im Dreierpack bei Aldi gab es eine Cowboymontur, einen Indianerdress und eine Ritterrüstung. In diesem Jahr waren wir Kinder unglaublich stolz. Wir waren so stolz, dass wir die verpackten Sachen bis zum Karnevalssonntag nicht anrührten – aus Angst davor, dass jemand sie versehentlich kaputtmachen könnte. Und so kam es, dass wir am Sonntag, während mein Vater wieder einmal Fleisch schnitt und meine Mutter Suppe kochte, entscheiden mussten, wer von uns welches Kostüm tragen durfte. Wir handelten lange und ausgiebig um die richtige Aufteilung, konnten aber keine Lösung finden. Denn mein ältester Bruder wollte sich als Cowboy verkleiden, was ich auch wollte (ich wäre auch gern Indianer gewesen, sah aber nicht ein, weshalb Indianer keine Schwerter haben dürfen), während mein mittlerer 56
Bruder zunächst als Indianer gehen wollte, aber urplötzlich allergisch gegen die Federn zu sein schien, woraufhin er eine Art Ritterindianercowboy sein wollte – und zwar mit Pistole und Helm (um den Federkopfschmuck zu umgehen). Ich wundere mich heute noch, dass mein Vater trotz des lauten Radios mein leise gemurmeltes »Arschloch« hörte, als mein Bruder sich auf sein »Ältestenrecht« berief und mir das Schwert aus der Hand riss. »Sofort herkommen!«, schallte es aus der Küche, woraufhin wir zögerlich, aber schuldbewusst in die Küche wackelten und uns dort reumütig in einer Reihe aufstellten. Mein Vater hatte das Messer in der rechten Hand aufgestellt wie einen Speer; in seinem Mundwinkel hing die obligatorische Zigarette, links von ihm stand meine Mutter, die uns mit beschwichtigendem, aber für die Reaktion meines Vaters verständnisvollem Blick anstarrte. Vor uns auf dem Tisch lagen die Berge von ungeschnittenem Fleisch. »Her mit den Sachen!«, befahl mein Vater. Wir mussten die Kostüme auf den Tisch legen. Und so, als gäbe es keinen wirklichen Unterschied zwischen dem, was er vorher getan hatte, und dem, was er nun zu tun gedachte, begann mein Vater, die Kostüme zu zerschneiden, und warf sie in den Ofen, während wir Kinder fassungslos zusahen. Seitdem hasse ich Karneval. Nicht weil unsere Kostüme vernichtet wurden, sondern weil ich es lächerlich finde, wie viel Wert auf Äußeres gelegt wird. Um wirklich glücklich zu sein, braucht man keinen Hut, keinen Federschmuck, kein Schwert und keinen Helm. Und deswegen bin ich meinem Vater auch überhaupt nicht böse, dass er uns auf so grausame Weise gelehrt hat, mit dem glücklich zu sein, was man hat, und nicht immer nach dem zu streben, was schöner ist.
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Ich werde oft gefragt, warum ich keinen Käsekuchen mag – diese Geschichte gibt eine Antwort darauf.
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JOBATEY DER KÄSEKUCHENMANN »Hiilfe! Hiilfe! Hiiiiilfe!«, wie verrückt schrie es aus dem Käsekuchen. Wirklich, wie verrückt. Ich konnte es zuerst nicht glauben. Das ganze Haus hatte ich durchsucht. Sogar unter dem Sofa habe ich nachgeschaut, im Badezimmer, in der Badewanne, in der Kloschüssel, auf und hinter dem Fernseher, unter dem Küchentisch, in allen Schränken. Schließlich öffnete ich den Kühlschrank, und da schrie es mich wieder an: »Hiilfe!Hiiiiilfe!« »Uups, wer bist denn du?«, fragte ich überrascht. »Ich bin Jobatey, der Käsekuchenmann. Man hat mich festgenommen und eingeeist. Ich bin doch kein Sorbet. Mir ist kalt. Ich will hier raus. Unverschämtheit! Als ob ich ein Sorbet wäre …«, schimpfte Jobatey immerfort. »Sorbet?«, fragte ich ungläubig. »Was ist denn Sorbet?« »Ach, das nennen die feinen Leute so, wenn Sie im Restaurant sitzen und sich nicht zwischen Pudding und Eis entscheiden können. S-o-r-b-e-t, das hört sich in deren Ohren wohl feiner an. Dabei ist es nichts anderes als plumper Möchtegerneispudding. Viel zu warm für echtes Eis und viel zu kalt für guten Pudding.« Jobatey schien eine Menge über Sorbets und Eis zu wissen. Und lustig reden konnte er auch. Deshalb wurden wir von diesem Moment an Freunde. Wir setzten uns an den Küchentisch und Jobatey erzählte mir von seinem Leben, und ich erklärte ihm die Welt der Käsekuchenfresser. Jobatey verabscheute Käsekuchenfresser (so nannte er die Menschen). Generationen von Käsekuchen würden sinnlos vernichtet, bloß weil fette Omis sonntags zum Kaffee seinen Onkel verspeisen wollten oder längst diätreife Sekretärinnen in 59
der Mittagspause hemmungslos seine Tanten, Cousins und Cousinen verdrückten. »Es ist eine Schande«, sagte Jobatey. »Zuerst werden wir gepflegt und gehegt, man tätschelt uns wie eine heilige Kuh, wir werden mit Sahne verziert, bestrichen und geschmückt, als ginge es zur Hochzeit – und in Wirklichkeit geht es zur Schlachtbank! Dabei ist Käsekuchen der Widerspruch an sich. Käsekuchen wird doch nur gegessen, weil die meisten Menschen so viel zu essen haben, dass sie vor Langeweile nicht mehr wissen, was sie verdrücken sollen. Genauso wie Erdnussbutter mit Marmelade oder Camembert mit Honig. Reicht es nicht, wenn man einen Brotbelag nimmt? Warum muss man alles mischen? Süss und sauer, fett und mager, Käse und Kuchen?« Das waren wirklich schwerwiegende Fragen, die sich Jobatey da stellte. Und ich fragte mich, ob da nicht etwas dran sein könnte. Da meine Eltern gerade unterwegs waren, mussten wir nicht befürchten, dass irgendjemand uns hören würde. Wir waren ganz ungestört, und so berichtete Jobatey mir mehr von seinem Dasein. »Meine Mutter hieß Quark. Sie war eine bildhübsche Kultur. Mit einer traumhaft-eckigen Figur und von herrlicher weißer Farbe. Sie hatte edle Vorfahren. Milch aus dem Allgäu von wunderschönen Kühen, die auf saftigen Wiesen grasten. Mein Vater hieß Mürbeteig und war trotz seines Namens nicht weniger hübsch. Seine Vorfahren waren goldene, schön gewachsene Weizenähren. Die beiden hatten sich in der Küche des Konditors Schmidtke kennen gelernt. Meine Mutter hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes in Schale geschmissen, und wie sie da so lag und wie das nun mal so ist, verliebte sich mein Vater in sie, und die beiden beschlossen, ein Kuchen zu werden. Glücklicherweise war Schmidtke auch sofort damit einverstanden, sie zu vermählen. Also wurde gemischt und gerührt, geschlagen und geknetet, was das Zeug hielt. Am Ende stand ich 60
da. In meiner runden Form, so schön wie noch kein Käsekuchen zuvor auf der Welt. Und vor allem war ich stolz, dass ich als Ergebnis einer solch edlen Beziehung existieren durfte.« »Als Käsekuchen?«, warf ich dazwischen. »Na und? Es ist doch gleich, ob als Käsekuchen oder als Autoreifen. Das Leben ist auch so sehr schön. Ich jedenfalls genieße jeden Augenblick.« »Deswegen möchtest du auch nicht gegessen werden, oder?« Plötzlich wurde Jobatey sehr ernst. Seine Stimme klang, als würde er sich dessen bewusst sein, dass es für ihn keinen Ausweg aus dieser misslichen Lage geben würde. »Ich weiß, dass ein Käsekuchen nicht ewig leben kann. Und dass es unsere Bestimmung ist, eines Tages auf einer festlich geschmückten Tafel verzehrt zu werden. Aber weißt du, ich träume davon, dass dieser Tag ein besonderer Tag wird. Vielleicht ein Fest, ein Kindergeburtstag, eine Beerdigung oder eine Hochzeit. Und inmitten all dieses Trubels stehe ich als Krönung des Festes auf dem Tisch, umrahmt von leuchtendem Kerzenschein, und warte darauf, in Stücke geschnitten und voller Wollust verdrückt zu werden, von grinsend-feisten Festtagsgästen. Wenigstens hätte ich dann meine Bestimmung erfüllt.« »Aber das ist doch normal«, sagte ich etwas unbedacht. »Normal?«, fragte Jobatey empört. »Was ist heutzutage noch normal! Mittlerweile braucht man doch keinen besonderen Anlass mehr, um uns zu verdrücken. Es gibt uns zu Tausenden in Supermärkten und in Billigkonditoreien. Unsere Herstellung ist nur noch selten mit einer romantischen Liebesgeschichte verknüpft, meist ist sie das Werk von Maschinen. Wir werden aromatisiert, gebleicht, gefärbt, gepudert und geschlagen, eingepackt und verstaut in Lastwagen, von Nord bis Süd gekarrt und landen dann im Supermarkt. Dort stehen wir tage-, manchmal wochenlang für Preise, bei denen man sich wirklich wundern muss, ob der Aufwand der Herstellung in Relation zum 61
Verdienst steht. Kein Wunder, dass manche Kollegen schlecht werden und Magendrücken, Übelkeit und Durchfall verursachen.« Kein Wunder, dachte ich jetzt auch. »Gut, aber was machen wir jetzt? Wir können ja nicht ewig hier sitzen und jammern. Und irgendwann ist jedes Käsekuchenleben vorbei«, sagte ich vielleicht etwas zu streng. Und dann erzählte Jobatey mir von seinem unglaublichen Plan. Schon seit längerer Zeit habe er vor, Bundeskäsident zu werden. Es sei endlich Zeit für eine gründliche Änderung unserer Lebensverhältnisse. Es gehe nicht mehr an, dass eine kleine Gruppe von Auserwählten darüber zu bestimmen hat, wer gut ist und böse, wer arm ist und reich, wer was darf und was nicht. Und deshalb habe er beschlossen, die Macht zu übernehmen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Er sei sich dessen bewusst, dass er es als Käsekuchen nicht leicht haben würde. Schließlich seien aber auch schon Schauspieler Präsidenten geworden. Wenn man nur fest davon überzeugt sei, dass man etwas ändern könne, dann sei es auch möglich, aus seiner Fantasie Wirklichkeit werden zu lassen. Er habe sich schon mit einigen Freunden besprochen, und die Zeichen stünden günstig. Zuerst wolle man einen Generalangriff auf die Geschmacksnerven starten. Beispielsweise könnte man innerhalb kürzester Zeit die Käsekuchenbataillone so mobilisieren, dass ein großer Anteil der Kollegen und Kolleginnen sauer werden könnte. Manometer, wäre das lustig, all die zahnlosen Omis, die sich genussvoll ein Stück Käsekuchen in den Mund schieben und dann … uuuah! All das Entsetzen, wenn die Menschen den abscheulichen Geschmack dieser sich verweigernden Kuchen kennen lernen würden.
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Damit würde man zunächst zwar die Existenzberechtigung verlieren, schließlich würde niemand mehr Käsekuchen produzieren, wenn Käsekuchen nicht mehr schmeckt; man könnte jedoch durch gelegentliche unverdorbene Exemplare den Wert eines gut schmeckenden, handgemachten Käsekuchens verdeutlichen. Dann würde die Gesellschaft endlich erkennen, welches Unrecht man den Käsekuchen angetan hat. Es gäbe große Demonstrationen mit vielen bunten Transparenten, auf denen stünde »Jobatey for Cheesydent«, Sprechchöre, Fernsehrunden, Leserbriefe und … und … und … »Vielleicht bin ich ja größenwahnsinnig«, fuhr er fort, »aber heute wird doch alles zu jeder Zeit gegessen. Im Winter isst man Spargel aus Südafrika, im Sommer das Wintergemüse aus Australien, jeden Tag Fleisch. Und die Osterhasen gibt es bald zu Weihnachten, während die Weihnachtsmänner schon fast an Ostern versteckt werden können. Ist das nicht absurd?«, fragte er mich. Ich fand das alles sehr einleuchtend, und ich überlegte, inwiefern ich Jobatey bei seiner Käsekuchenrevolution unterstützen sollte. Jobatey erzählte und erzählte, redete ohne Punkt und Komma, und er kam dabei so sehr ins Schwitzen, dass seine Sahneschicht fast ranzig wurde, während ich überlegte, wie so eine Käsolution praktisch durchzuführen wäre. Vor allem fragte ich mich: Was bedeutet Gerechtigkeit? Benachteiligen wir nicht die anderen Lebensmittel, wenn die Käsekuchen plötzlich bestimmen? Wie können wir das Obst und die Süßigkeiten an unseren Entscheidungen beteiligen? Während Jobatey so erzählte und ich vor mich hin grübelte, bemerkte ich gar nicht, dass die Haustür aufgeschlossen wurde und meine Mutter die Küche betrat. Wir hatten uns ganz schön verplaudert. »Was machst du denn mit dem Käsekuchen?«, fragte sie überrascht. 63
»Nichts«, antwortete ich verlegen. »Ich wollte nur mal sehen, wie der schmeckt.« Und gerade als ich zum Schein einen Finger in die Seite von Jobatey drücken wollte, um genüsslich den Schlag Sahne abzulecken, schrie meine Mutter angeekelt: »Iiiih, der ist ja schimmelig!« Stimmt – jetzt sah ich es auch: Zwei große blaue Schimmelflecken hatten sich auf Jobateys rechter Seite gebildet, sie waren behaart und schienen sich richtig wohl zu fühlen. An den Einfluss des Schimmels hatten Jobatey und ich überhaupt nicht gedacht. »So was«, überlegte ich. Eigentlich mochte Jobatey die Kälte des Kühlschranks nicht, aber dennoch hat sie ihn davor beschützt zu schimmeln. Gerade als er dachte, er sei frei und könne sich retten vor dem tödlichen Hunger der Käsekuchenfresser, war ein weiterer Feind aufgetaucht, der seine Bestimmung aufs Neue infrage stellte. Eigentlich hätte er besser im Kühlschrank bleiben sollen. Nun landete er im Mülleimer. Käsekuchen sind eben Käsekuchen und keine Politiker. Trotzdem habe ich seitdem keinen Käsekuchen mehr gegessen.
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Eine traurige Geschichte
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HERR KLÖSER UND SEIN MEERSCHWEINCHEN MUCKI Früher, als es im Winter noch so viel Schnee gab, dass wir vor unserer Haustür einen Schneemann bauen konnten und den Bahndamm mit den frisch gewachsten Kufen unserer Holzschlitten herunterdonnerten, früher war alles anders. Meine Eltern, meine zwei älteren Brüder und ich wohnten in einem alten Backsteinhaus direkt am Bahndamm in zwei Zimmern: einem Wohn- und Schlafzimmer und einer Mischung aus Badezimmer und Küche. Tagsüber konnte meine Mutter in der Küche kochen, abends saßen meine Eltern gemeinsam am Küchentisch und lasen Zeitung oder unterhielten sich, und am Wochenende konnte man praktischerweise aus einem Schrank eine Badewanne ausklappen, in der wir Kinder unter lautem Geschrei eingeseift und gewaschen wurden. Wir heizten mit Kohle und kochten auf einem klapprigen alten Gasherd. Die rechteckigen Brikettstückchen für den Ofen mussten meist wir Kinder in einem schweren Eimer aus dem Keller holen. Eine steile Holztreppe führte hinab in das Dunkel des Kellers, und ich hatte jedes Mal solch eine Angst vor den gierig nach mir greifenden ausgestreckten Armen der im Fernsehen gesehenen Vampire und Monster, dass ich regelmäßig beim hastigen Aufstieg über die letzten Stufen stolperte und völlig außer Atem in die Küche stürmte, wo mich meine Mutter für meine Schnelligkeit lobte, weil sie nicht wusste, weshalb es mir so eilig mit meiner Rückkehr war. Tagsüber gingen meine Eltern zur Arbeit. Mein Vater war Müllmann und trug einen knallorangen Anzug mit einer passenden Mütze und meine Mutter arbeitete in einem geblüm66
ten Kittel ohne Ärmel in einer Fabrik, die Plastiksäcke herstellte. Abends saßen wir stets gemeinsam an unserem runden Küchentisch und erzählten von unseren Erlebnissen des Tages, von der Schule, von der Arbeit, von unseren Freunden und Verwandten. Später wurden unsere Betten gemacht. Als Erster kam ich an die Reihe. Mein Bett stand an der Wand. Ganz nah an den Tapeten, deren Blumen ich vor dem Einschlafen zu zählen versuchte, was meist nicht länger dauerte, als ich zählen konnte. Das Bett meines mittleren Bruders stand unter dem Fenster. Er hatte auch die dickste Decke, denn durch die alten Holzfenster zog es winters wie sommers. Zuletzt kam mein ältester Bruder. Sein Bett war das schönste. Tagsüber war es nämlich in einem Schrank verborgen, und abends musste man nur die Schranktür herunterklappen – und schon kam ein Bett zum Vorschein. Meine Eltern warteten immer, bis wir eingeschlafen waren, dann legte sich mein Vater zu mir und meine Mutter zu meinem ältesten Bruder ins Bett. Es war immer sehr gemütlich. Wir wohnten aber nicht allein in unserem Haus. Ganz oben in der zweiten Etage wohnten die Ottkes, ein älteres Ehepaar, das ich nicht sonderlich mochte. Herr Ottke war dick und trug eine Brille. Frau Ottke war dünn und hatte schlechte Zähne und weiße Haare, die sie zu einem Dutt trug. Sie nannten mich immer Kleiner und fuhren ein hellblaues Auto mit braun karierten Sitzen, auf dessen Ablage sich eine gehäkelte Klopapierrollenummantelung neben einem verständnislos mit dem Kopf wackelnden Dackel befand. In der ersten Etage wohnte die Familie Goldhausen. Sie hatten zwei erwachsene Kinder und ein orangefarbenes Auto, an dessen Spiegel ein rosafarbener Plüschwürfel hing. Und im Erdgeschoss wohnte – neben uns – Herr Klöser. Herr Klöser war alt. Er hatte eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern, wovon das eine zum Treppenhaus hinausführte und 67
das andere an der hinteren Hauswand endete. Gemeinsam benutzten wir eine Toilette im Flur, deren Boden mit schwarzweiß kariertem Linoleum ausgelegt war, das man sich auch als Spielbrett vorstellen konnte. Manchmal, wenn ich mittags von der Schule nach Hause kam und noch kein anderer von meiner Familie da war, klopfte ich an Herrn Klösers Tür. Herr Klöser war hager, er hatte graue Bartstoppeln und farbloses, schütteres Haar. Seine Haut war vom vielen Rauchen ganz fahl, und seine Finger waren gelb und krumm. Er hatte die Angewohnheit, nicht besonders viel zu sprechen, und doch hatte ich das Gefühl, als hätte er mir sehr viel zu erzählen. Immer wenn ich sein Wohnzimmer betrat, zeigte er stumm auf das vergilbte Foto seiner verstorbenen Frau Marga. Ich konnte auf dem Bild nicht viel erkennen, denn zum einen hing es sehr weit oben und zum anderen war es so zerkratzt, dass man nur erahnen konnte, dass es sich bei der Abbildung um eine Frau handeln sollte. Meistens sagte Herr Klöser den gleichen Satz: »Setz dich, mein Freund, ich gehe nur eben zur Trinkhalle.« Und dann verschwand er, ich weiß nicht wie lange. Als Kind habe ich warten niemals als unangenehm empfunden. Ich habe sogar gern gewartet. Denn während Herr Klöser zur Trinkhalle ging, versuchte ich mir vorzustellen, was das wohl sei: eine Trinkhalle. Ich glaubte, es handele sich um eine große Turnhalle, in der man Krüge mit komischer Flüssigkeit trinkt. Alkohol kannte ich damals nicht. Ich durfte nur einmal einen Schluck Wein probieren, das war Silvester. Es schmeckte abscheulich. Sauer und bitter zugleich. Ich wusste auch nicht, was es zu bedeuten hatte, wenn meine Mutter sagte, dass Herr Klöser ein »Alkoholiker« sei. Obwohl er manchmal schon sehr komisch war. Einmal zum Beispiel ist er im tiefsten Winter splitternackt in den Garten gelaufen und hat dort ein Lied gesungen. Wir Kinder fanden das lustig, aber das besorgte Gesicht unseres Vaters ließ uns erahnen, dass es wohl 68
doch nicht so lustig zu sein schien, wenn sich ein erwachsener Mensch nackt in den Schnee legt und dabei Lieder singt. Schließlich hob mein Vater ihn auf seine Arme und trug ihn vorbei an unserem Küchenfenster, wo wir winkenden Kinder noch den vermeintlichen Spaß genossen, zurück in seine Wohnung. In seiner Wohnung hatte Herr Klöser viele seltsame Gegenstände. Eine alte, laut tickende Wanduhr, die zur Viertelstunde einmal, zur halben Stunde zweimal, zur Dreiviertelstunde dreimal und zur vollen Stunde die Uhrzeit schlug. Das hatte mir Herr Klöser so erklärt. Manchmal konnte ich die Uhr sogar von meinem Bett aus hören. Er hatte ein altes Porzellanwaschbecken, einen braunen Kleiderschrank mit verzierten Türen, die quietschten, wenn man sie öffnete, eine Kommode und einen lustigen Plattenspieler in einer Truhe, der erst einmal warm werden musste, bevor er sich in Bewegung setzte. Vor allem aber interessierte mich sein Fernseher … er hatte im Gegensatz zu uns nämlich einen Farbfernseher. Und da es am Nachmittag früher noch kein Fernsehprogramm gab, schaltete ich einfach das Testbild ein und starrte manchmal stundenlang fasziniert auf die bunten Flecken auf dem Bildschirm und genoss den störungsfreien Empfang, denn auf unserer Seite des Hauses fuhren ja in regelmäßigen Abständen Züge vorbei und unterbrachen, meist an den spannendsten Stellen, unsere Lieblingsfilme oder die Fußballspiele unseres Vaters. Nachdem ich eine Zeit lang das Testbild angeschaut hatte, kam Herr Klöser aus der Trinkhalle zurück, setzte sich an den Tisch und öffnete ächzend eine kleine Flasche, in der sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand, die er dann in einem genussvollen Zuge leer trank. »Weißt du«, sagte er manchmal nachdenklich mit leiser und 69
zitternder Stimme »manchmal fühle ich mich einsam, sehr, sehr einsam.« Und er fasste meinen Arm mit seinen knochigen Fingern und den vergilbten Kuppen, sodass es fast wehtat. Dann schwiegen wir gemeinsam. Ich wusste zwar nicht genau, was er damit meinte, aber ich glaubte, mich manchmal auch einsam zu fühlen. Vielleicht war Einsamkeit ja das Gleiche, wie traurig zu sein. Einmal hatte ich meine Mutter gefragt, warum Herr Klöser so einsam war, und sie erzählte mir, dass alte Menschen oft einsam sind, dass sie dann meist in ein Altersheim kommen, um nicht allein sterben zu müssen. Aber verstehen konnte ich es immer noch nicht. Wieder verging eine lange Zeit, ohne dass wir etwas sagten. Schließlich schlug die Uhr fünf lange und laute Schläge, und ich wusste, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. »Auf Wiedersehen, Herr Klöser, bis morgen.« »Auf Wiedersehen, mein kleiner Freund, bis morgen.« Er öffnete mir lächelnd die Wohnungstür, und ich eilte zum Abendessen. Eines Abends gab es etwas besonders Leckeres zu essen. Meine Mutter hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Es gab gefüllte Auberginen, Tomatensuppe mit kleinen Nudeln und grünen Salat mit einer sauren Soße aus Zitronensaft und Olivenöl. Zu trinken gab es für uns Kinder frisch gepressten Orangensaft; meine Mutter trank Leitungswasser und mein Vater Bier aus einer bauchigen braunen Flasche, die er nach einem ersten langen Schluck stets mit einem kräftigen »Aaaah« wonnevoll absetzte, was wir zur allgemeinen Belustigung auch gern nachahmten. Nach dem Essen wartete eine Überraschung auf uns. Mein Vater hatte nämlich Geld gesammelt. Kurz vor Weihnachten war es üblich, dass die Müllmänner von Tür zu Tür gingen und 70
für die schwere Arbeit während des vorangegangenen Jahres eine Spende erhielten. Er knallte eine prall mit Geldstücken gefüllte Butterbrottüte auf den Tisch und sagte: »So, jetzt holt eure Sparschweine, jetzt wird Geld gezählt!« Und dann fing er an, die Geldstücke zu sortieren. Auf unserem Esstisch wuchsen Stapel aus Ein-, Zwei-, Zehn- und Fünfzigpfennigstücken sowie kleine Türme aus Ein-, Zwei- und Fünfmarkmünzen, während wir unsere unterschiedlichen Spardosen aufgestellt hatten und ungeduldig darauf warteten, dass im wahrsten Sinne des Wortes brüderlich geteilt werden sollte. Ich hatte ein rosafarbenes Sparschwein, mein mittlerer Bruder besaß eine Sparbüchse in Form eines roten Rennwagens, und mein ältester Bruder hatte eine Kuh aus Plastik als Spardose. Und los ging es. Die Stapel wurden kleiner, und das Klimpern der Geldstücke in den Dosen klang immer dumpfer. Unsere Sparbüchsen wurden schwerer und schwerer, bis man sie kaum noch heben konnte, so voll waren sie inzwischen. Als ich am nächsten Tag in Herrn Klösers Wohnung saß und darauf wartete, dass er aus der Trinkhalle wiederkam, bemerkte ich einen seltsamen Geruch. Nicht unangenehm, aber irgendwie ungewohnt. Und als Herr Klöser wiederkam, holte er aus dem Kleiderschrank einen kleinen braunen Karton, in dessen Seitenwänden sich kleine Löcher befanden. Er öffnete den Deckel, und ich reckte meinen Kopf, um zu sehen, was sich darin befand. Es war ein kleines schwarz-weißes Tier, das aussah wie ein Hamster, nur etwas größer und strubbeliger. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. »Sieh mal, ein Meerschweinchen«, sagte Herr Klöser, »damit wir nicht mehr so einsam sind. Ich habe es Mucki getauft.« Mucki war ein lustiger Name für ein Meerschweinchen, und er passte irgendwie auch zu dem aufgeplusterten Fell. Mucki hatte 71
immer etwas zu tun. Manchmal knabberte er vor sich hin, dann scharrte er wie verrückt in der Streu oder räumte hastig das Stroh von einer Käfigecke in die andere, dann schlief er und dann fraß er wieder. Auch ich hatte etwas Besonderes vorzuweisen. Ich hatte ein Geschenk mitgebracht. Es war das Mensch-ärgere-dich-nichtSpiel meines ältesten Bruders. Ich dachte, dass es vielleicht gegen Einsamkeit helfen würde, wenn man Mensch ärgere dich nicht spielt, schließlich deutete ja der Name des Spiels schon darauf hin, und deshalb beschloss ich, mit Herrn Klöser zu spielen. Als er das Spiel sah, musste er lachen, und fast dachte ich, er sei zu erwachsen, um mit mir zu spielen, dann aber erklärte er mir, dass er seit über dreißig Jahren nicht mehr Mensch ärgere dich nicht gespielt habe und schon fast nicht mehr wisse, wie es gehe. In den nächsten Tagen trafen wir uns regelmäßig und spielten eine Runde nach der anderen, bis die Uhr fünfmal schlug. Herr Klöser hatte großen Spaß dabei, und mir schien es, als habe das Meerschweinchen wirklich bewirkt, dass er sich nicht mehr so einsam fühlte. Er war so lustig und fröhlich, wie ich ihn bisher noch nicht erlebt hatte. Er erzählte mir sehr viel von Marga, seiner Frau, und vom Krieg. Er erzählte von seinem Beruf als Tischler und seinen Kindern, die in einem fernen Land lebten. Dann schluckte er wieder eilig an einer dieser kleinen Flaschen, die er aus der Trinkhalle mitgebracht hatte, sodass er danach ganz streng aus dem Mund roch, und dann spielten wir weiter. Ich hatte die gelben Figuren und er die roten. »Weil das Margas Lieblingsfarbe ist«, sagte er so, als würde sie noch leben. Ich würfelte oft Sechsen, er würfelte oft Einsen. Aber er lachte dann immer so, als wäre die Eins seine Lieblingszahl. Einmal spielten 72
wir so lange, bis es klopfte und meine Mutter kopfschüttelnd vor der Tür stand. Wir hatten die Uhr nicht gehört. Ich hätte schon längst zu Hause sein müssen. Die Tage gingen schnell vorbei, und bald begann der Schnee zu schmelzen. Wir mussten nicht mehr in den dunklen Keller, um Kohle zu holen, und die ersten Knospen waren an den Zweigen der Bäume zu sehen. »Frühling«, sagte Herr Klöser. »Ich liebe den Frühling. Alles blüht, die Vögel zwitschern, die Luft ist voller Freude und Wärme.« Auch ich mochte den Frühling, aber ich hatte auch nichts gegen den Winter, schließlich konnte man im Winter Schlitten fahren und Schneeballschlachten machen. »Wenn ich noch einmal jung wäre, dann würde ich alles anders machen«, fuhr er fort. »Dieses ganze verkorkste Leben voller Streit und Hass, voller Angst und Verzweiflung – ich würde es über Bord werfen wie einen Koffer voll unnötiger Last.« Ich schwieg. »Weißt du, mein Freund«, wandte er sich nun an mich, »so schön wie in den letzten Wochen war es schon lange nicht mehr. Seitdem wir Mucki haben und jeden Tag Mensch ärgere dich nicht spielen, fühle ich mich so anders, so frei wie ein Kind.« Und dann fing er plötzlich an zu schluchzen. Ich hatte noch nie einen Erwachsenen in seinem Alter weinen sehen. Er heulte wie mein mittlerer Bruder, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, aber irgendwie war es doch anders. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, und versuchte, ihn zu trösten, indem ich über seine grauen Haare strich. Dann wurde sein Wimmern leiser, tiefer und immer atemloser, bis er schließlich ruhig war. Dann ging ich nach Hause. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand ein schwarzes 73
Auto vor unserem Fenster. Zwei Männer in dunklen Anzügen trugen Herrn Klöser auf einer Bahre zum Kofferraum des Wagens. Mein Vater stand schweigend daneben, die anderen Hausbewohner unterhielten sich laut und schüttelten immer wieder ihre Köpfe. »Was ist mit Herrn Klöser?«, fragte ich meine Mutter. Sie antwortete nur zögernd. »Er ist gestorben.« »Tot?«, fragte ich. »Vielleicht ist es besser so, er war ohnehin schon sehr alt«, versuchte sie mich zu trösten. Aber ich war gar nicht richtig traurig. Ich rannte zu seiner Wohnung und wollte sehen, ob Mucki in seinem Käfig war, aber auch Mucki war verschwunden. Jemand hatte ihn mitgenommen. Es war eine seltsame Stimmung in der Wohnung. Als wäre gar nichts passiert. Alles war noch so frisch. Und doch wusste ich nun, was es bedeutet, wenn jemand sagt, dass er sich einsam fühlt.
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Unser kleiner Hamam in den Räumen der Müllabfuhr
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BADETAG Samstag war unser Badetag. Erst wurde die Wohnung geputzt, dann wurde das Auto gewaschen und dann waren wir an der Reihe. Zu dieser Zeit hatten wir keine eigene Dusche. Das Haus, in dem wir lange Jahre wohnten, war zu Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden, und damals war es nicht üblich gewesen, Badezimmer in die Wohnungen einzubauen. Die Menschen badeten damals auch nicht jeden Tag, sondern höchstens einmal in der Woche. Entweder gingen sie dann in öffentliche Bäder oder sie stellten sich in einen gusseisernen Bottich und schütteten sich mit einem Krug warmes Wasser über den Kopf. Zwar hatten wir in den hämischen Erzählungen der türkischen Nationalisten schon oft von den dreckigen Deutschen gehört, die nicht wissen, wie man sich wäscht und ständig nach Schweiß stinken, sich den Hintern mit Puder veredeln und aus den spitzen Erkern ihrer Burgen auf ihre ungedüngten Felder scheißen. Aber es war wohl mehr eine Huldigung der Riten unserer viel gerühmten osmanischen Vergangenheit, als dass wir dachten, wir hätten die Hygiene erfunden, wenn wir dreimal am Tag sorgfältig ein wenig kaltes Wasser unter den Achseln, am Hals und auf die Füße verteilten, um vor den Augen des wahrscheinlich noch dreckigeren Propheten Mohammed für einen Moment lang sauber zu wirken. Wir rühmten zwar die Badekultur der Sultane und schwärmten von den architektonischen Wundern der Hamams – so, als stünden wir in der direkten Nachfolge dieser wahrhaft bewundernswerten Tradition –, aber in Wirklichkeit badeten wir wahrscheinlich genauso selten wie die angeblich dreckigen Deutschen, von denen wir genau genommen auch gar nicht 76
wissen konnten, wie oft sie badeten, weil wir uns selten in ihren Höhlen und schon gar nicht in ihren Badezimmern aufhielten. Jedenfalls mussten meine Brüder, mein Vater und ich, wenn wir früher baden wollten, zunächst mit den frischen Sachen und einem Handtuch unter dem Arm bei Wind und Wetter durch ein schmales Loch in unserem Gartenzaun klettern und über ein weites Areal hinüber zum angrenzenden Fuhrpark der städtischen Müllabfuhr laufen, bei der mein Vater zu dieser Zeit als Müllmann beschäftigt war. Dort nutzten wir nämlich die an den Wochenenden leer stehenden Duschräume der Müllmänner. Überall in den Räumen, durch die ich manchmal allein lief, während mein ältester Bruder sich noch die Haare fönte, mein mittlerer Bruder sich die Fußnägel schnitt und mein Vater sich rasierte, stank es nach altem Schweiß und kaltem Zigarettenqualm. Die Räume schienen eigentlich verlassen, aber wirkten doch benutzt; die Stühle der Arbeiter standen vor den Metallspinden ordentlich aufgestapelt, und an den Wänden hingen Bilder von nackten Frauen auf Motorrädern, ein uralter, vergilbter Kalender mit Bildern von Schraubenziehern und die offensichtlich auf Müllmänner lustig wirkende Karikatur von diversen kopulierenden Mülltonnen auf einem knallorangefarbenen Müllwagen. Für uns drei Geschwister war es selbstverständlich, dass wir zusammen mit unserem Vater badeten. Wir kannten es nicht anders. Meine Brüder standen zusammen in der linken Dusche, mein Vater und ich standen in der rechten. Erst war mein Vater an der Reihe und rieb sich überall kräftig mit Seife ein, und dann wurde ich eingeschäumt und schließlich von oben bis unten gründlich abgewaschen. Manche denken, wenn sie so etwas hören, an seltsame Sachen. Für uns war es überhaupt nicht seltsam, eher vollkommen normal. Ja, es fühlte sich sogar angenehm an und vermittelte Geborgenheit, die familiäre Fürsorge und Verbundenheit des anderen auch körperlich zu erfahren. Und nicht nur von unserer 77
Familie waren wir diesen vertraulichen Umgang miteinander gewohnt. In unserer Heimat ist Berührung, ob unter Männern oder unter Frauen, nämlich eine sehr wichtige soziale Angelegenheit. Wenn sich bei uns zwei Männer auf die Wange küssen, ist das normal und bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie ein Liebespaar sein müssen. Viele Männer gehen bei uns Hand in Hand durch die Stadt, ohne dass sich gleich alle nach ihnen umdrehen und das vermuten, was sie selbst in ihrer Vorstellung vielleicht erfinden und viel zu selten ergründen wollen. Überhaupt geht man hier viel distanzierter miteinander um als bei uns. Ganz zu schweigen davon, dass man auch nur das Notwendigste miteinander spricht. In meiner Heimat wird gern von den »kalten Deutschen« erzählt, deren Verhaltensweisen man oft nicht versteht, weil die Menschen in der Türkei einen ganz anderen Umgang gewohnt sind: Sie sprechen auf der Straße wildfremde Leute an, um Ablenkung zu finden; schwadronieren stundenlang über Nichtigkeiten; ereifern sich leidenschaftlich über Kleinigkeiten und verbringen Tage damit, den Sinn von Gemütlichkeit und der Vergänglichkeit des augenblicklichen Glücks zu ergründen. Manche behaupten sogar, die Nervenheilanstalten seien hier in Deutschland nur deshalb so voll, weil jeder nur für sich lebt und niemand sich für den anderen interessiert. Man kann hier zum Beispiel einen ganzen Tag verbringen, ohne ein einziges Wort sagen zu müssen. Wenn man eine Zeitung kaufen möchte, nimmt man sie sich einfach aus dem Regal und legt sie auf den Tresen, die Kasse zeigt stumm, was die Zeitung kostet, man legt das Geld auf den Tisch – und nicht in die Hand des Verkäufers oder, falls doch, dann möglichst ohne sie zu berühren –, und dann verschwindet man wieder in seine Wohnung, wo man um sieben Uhr abends die Rollläden herunterlässt, damit kein ungebetener Gast in die Zimmer blicken kann. Bei uns ginge das nicht. Wenn man etwas kaufen möchte, weiß man nie, was es kostet, man muss fragen. Weder in den 78
Geschäften noch in den Gasthäusern gibt es Preisschilder. Nur in den feinen Kaufhäusern der Istanbuler Oberschicht, in den edlen Ablegern euro-amerikanischer Supermarktketten, die den Westen importieren sollen und daher wohl auch immer leer sind, gibt es kleine Etiketten mit horrenden Preisen, an die sich sowieso niemand hält, weil Handeln Ehrensache ist und zum Kauf dazugehört wie das Salz in der Suppe. Eine Ware, die man ohne zu handeln kauft, hat nämlich keinen Wert. Und das Handeln ist eine hohe Kunst. Der Händler versucht zunächst, ein fadenscheiniges Gespräch zu führen, um herauszufinden, woher man kommt und ob man die gängigen Preise für die Ware kennen könnte. Dann nennt er seinen Preis zur Verhandlung. Wer zu viel verlangt, gilt als unhöflich; wer zu wenig bietet, wird nicht ernst genommen. Danach muss man handeln. Manchmal vergehen Stunden, bis man sein Ziel erreicht – wenn überhaupt. Aber die Zeit vergeht dabei anders als hier. Man spricht, man tauscht sich aus, man trinkt einen Tee, man isst zusammen zu Mittag, man erzählt von seinen Sorgen und von seinen Hoffnungen. Und der Gegenstand, den man schließlich kauft, bleibt auf ewig verbunden mit der Erinnerung an den Moment, in dem man ihn erstanden hat, ein Wert, den man mit keinem festgelegten Preis bemessen kann. Immer wieder muss man sich dabei auch anfassen. Wenn man einen guten Witz macht, gibt es einen leichten, respektvollen Klaps in den Nacken, was bedeutet, dass man sich mag und den anderen versteht. Wenn man etwas Wichtiges sagen will, nimmt man die Hand des anderen und streichelt über dessen Unterarm, um zu zeigen, dass man es besonders ernst meint. Und nicht nur beim Handeln berührt man sich. Man streicht seinem liebsten Freund durch die Haare, wenn man ihm bedeuten will, dass man seine Gegenwart schätzt; und man küsst sich auf die Wange, wenn man sich lange Zeit nicht gesehen hat und sich freut, dass der andere wieder da ist.
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Auch Frauen kann man anfassen, ohne dass es gleich anzüglich wäre. Man muss dabei allerdings auf bestimmte Regeln achten. Natürlich kann man keiner Frau ungefragt einen Kuss auf den Mund geben, ihr an den Busen langen oder den Hintern tätscheln. Aber wer macht das schon in Deutschland? Bestimmte Dinge jedoch finden ausschließlich unter Männern statt. Wie eben auch das Waschen. Es gibt keine gemischten Hamams, genauso wie es keine öffentliche Sauna gibt, in die man als Mann und Frau gemeinsam gehen kann. Die Männer gehen in den Männerhamam, und die Frauen gehen in den Frauenhamam. Im Hamam, dem türkischen Bad, wird man zunächst mit einem Glas Tee begrüßt und in dünne weiße Handtücher eingewickelt. Danach geht man in einen Nebenraum, um sich zu enthaaren, sofern man schon behaart ist. In der Türkei gilt Körperbehaarung nämlich als unhygienisch. Schließlich gelangt man in den Hauptraum voller Schwaden heißen Wasserdampfs, in dem es an allen Ecken plätschert und tropft, und setzt sich auf einen der heißen Marmorsteine, um auf den Wäscher zu warten. Wäscher im Hamam zu sein ist ein angesehener Beruf. Meistens handelt es sich bei den Wäschern um dicke Männer mit Schnauzbart, die scheinbar gelangweilt mit ihren Schlappen durch die Gänge wandeln. Ist man an der Reihe, so setzt sich der Wäscher neben einen und beginnt, einem schweigend die Beine zu schrubben mit einem rauen Lappen aus Sisalfasern, den man auf Türkisch kese nennt. Dabei bewegt der Wäscher seine kräftigen Unterarme so fest auf den zitternden Gliedmaßen, dass schon nach kurzer Zeit winzige schwarze Hautschuppen auf den Kachelboden rieseln und sich die Pfützen unter den Beinen dunkel verfärben. Nachdem Beine und Arme geschrubbt sind, dreht man sich zunächst auf den Bauch und dann auf den Rücken, wo die ganze Prozedur auf Rücken und Bauch wiederholt wird, bis man am Ende am ganzen Körper förmlich glüht und man durch und durch ermattet ist durch die ständige Hin80
und-her-Bewegerei und die Massage des Wäschers. Zum Schluss geht man in einen Nebenraum, um sich abzuwaschen, und wird dann wieder in Handtücher gewickelt, bekommt einen Abschieds- und Dankestee und entspannt bis zum Ende des Hamambesuchs. Ein einmaliges Erlebnis! Ganz so viel Muße hatten wir samstags natürlich nicht in unseren engen Duschen, die wir in unserer Vorstellung wahrscheinlich als Ersatz für die fehlenden Hamams betrachteten. Aber in unseren Gesten versuchten wir, die Wäscher der türkischen Hamams zu imitieren. Wenn mein ältester Bruder mit einem Lappen den Rücken meines mittleren Bruders schrubbte, bis dieser vor Schmerz schrie, oder ich meinem Vater die Haare wusch, bis das Shampoo keinen Schaum mehr bildete, fühlten wir uns für einen Augenblick lang zurückversetzt in die Gefilde unserer weit entfernten Erinnerungen. Dieses Badetag-Ritual bereitete uns ein wohliges Gefühl und eine Ahnung von Heimat, obwohl unsere Augen brannten, unsere Finger vom Wasser ganz runzelig wurden und die Duschwannen langsam überliefen, wobei ein schwappendes Geräusch entstand wie in einer der großen Waschhallen des Istanbuler Hamams. Danach eilten wir nach Hause, um gemeinsam die Sportschau zu sehen, Börek zu essen oder Quartett zu spielen. Meine Mutter hatte inzwischen sich gewaschen und meine kleine Schwester gebadet und einen Tee gekocht, sodass die ganze Familie nun sauber duftend im Wohnzimmer saß und die neu gewonnene Sauberkeit genoss. Trotzdem. Lange Zeit habe ich mich dafür geschämt, dass wir kein eigenes Badezimmer hatten. Wenn meine deutschen Freunde uns besuchten und mich fragten, wo denn unsere Dusche sei, wich ich aus oder verwies auf irgendeinen Keller, den man zurzeit nicht sehen konnte. Heute bin ich froh, dass wir so anders waren. Denn hätten wir eine Dusche gehabt, dann wären wir vielleicht sauberer gewesen; vielleicht wären wir wirklich feinere Leute gewesen, aber für uns Geschwister hätte 81
es keine Gelegenheit gegeben zu sehen, wann der eine erwachsen wurde, während der andere noch warten musste, bis sich seine Merkmale endlich zu echten Symbolen der Männlichkeit ausgeprägt hatten. Wir hätten nicht gemerkt, wann wir krank sind, und nicht gewusst, was gesund ist; wir hätten uns einsam in ein Plastikgefängnis verkrochen. Wir wären in unserer Fantasie weder in den Hamam gereist, noch wären wir wirklich gründlich sauber geworden; wir hätten weiter nach komplizierten Lösungen gesucht, statt das Einfache zu schätzen. Es gab also nicht den geringsten Grund, sich zu schämen. Die wenigsten Menschen wissen, dass es seine Vorteile hat, an die einfachen Dinge im Leben zu glauben. Lieber suchen diese Menschen ständig das Unsichtbare und glauben, dass das, was sie nicht sehen, mehr wert ist als das, was sie haben.
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Diese Geschichte habe ich als Trost für meine jüngere Schwester geschrieben.
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MEINE SÜSSE KATZE CICI Es gibt Menschen, die nur an das glauben, was sie sehen oder anfassen können. Diese Menschen tun mir Leid. Denn es gibt viel mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir es uns vorstellen können. Wenn ich also hier von meiner Katze erzähle, dann mag es dem ein oder anderen so vorkommen, als wäre ich sentimental oder naiv – oder einfach bescheuert. In Wirklichkeit aber hat mich niemals ein Lebewesen besser verstanden als meine Katze Cici. Eigentlich gehörte Cici nicht mir, sondern meiner Schwester. Ich hatte zwar zuvor auch schon Haustiere gehabt, aber seit dem Tode meines Wellensittichs Koko und dem damit verbundenen Schmerz scheute ich mich davor, mich wieder an ein fremdes Wesen zu gewöhnen. So war es ein dankbarer Zufall, dass meine Schwester eines Tages mit einem Korb in meinem Zimmer stand und mir ein Geheimnis anvertraute. Unser Geheimnis war winzig klein, schwarz-weiß gefleckt und blickte so ängstlich aus seinem Gefängnis, dass wir nur ganz leise sprachen, um es nicht weiter zu verstören. Nachdem wir ohne weitere Diskussionen beschlossen hatten, die Katze zu behalten, obwohl unsere Eltern sicher zunächst noch Einwände erheben wollten, fehlte nur noch ein Name. Einer, der sowohl deutsch als auch türkisch klingen würde und im besten Falle sogar international war. Diesen Maßstab lege ich auch heute noch an, wenn ich über die Namen meiner zukünftigen Kinder nachgrüble. Es gibt nur wenige Namen, die dieses strenge Kriterium erfüllen. Sibel zum Beispiel ist ein Frauenname im Türkischen, es gibt aber auch den deutschen Namen Sibylle oder das englische Sibyl. Hakan ist ein türkischer 84
Jungenname, den es auch in Norwegen gibt. Und Cici ist nicht nur ein internationaler Name, sondern auch ein Wort mit einer lustigen Bedeutung. Cici sagt man in der Türkei zu kleinen Kindern, wenn man mit ihnen spielt, ähnlich dem deutschen eiei. Cici kann aber auch »süß« oder »lieb« bedeuten. Ein liebes Mädchen ist genauso cici wie ein Junge, der seinen cici Sonntagsanzug trägt. Cici ist also ein universelles Wort für alles Niedliche. Und deswegen war es auch der beste Name, den wir für unsere Katze finden konnten. Cici war eine außergewöhnliche Katze. Niemals hat sie gekratzt oder gebettelt. Sie war fähig, sich Uhrzeiten zu merken: Sie wusste, wann jemand zu Hause war, um ihr nach ihren Freigängen die Tür wieder zu öffnen. Und wenn sie aus dem Haus wollte, während alle schliefen, schnurrte sie in mein Ohr, um mich zu wecken. Sie verstand es, wenn man ihren Namen sagte; sie spürte, wenn man traurig war; sie wachte nachts auf, wenn man nicht schlafen konnte, und legte sich dann leise schnurrend wie zur Beruhigung auf die Bettdecke; sie miaute kaum und schnurrte ständig. Cici führte aber auch ein aufregendes Doppelleben. Denn während sie bei uns zu Hause die brave Katze gab, verwandelte sie sich bei ihren Streifzügen rund um den Bahndamm, an dem wir wohnten, in eine wilde Räuberin. Sie hetzte ihre wehrlosen Opfer, bis diese nicht mehr atmen konnten, sie spielte ein grausames Schubs-und-fang-Spiel mit ihnen, und biss ihnen schließlich die Köpfe ab, um sie dann nicht selten gelangweilt links liegen zu lassen. Dann kehrte sie zurück in unser trautes Heim, leckte sich ihr Fell und legte sich in ihre Ecke, direkt unter die Heizung und schlief dort viele Stunden lang. Manchmal träumte sie dabei von aufregenden Verfolgungsjagden, sodass sie im Schlaf Geräusche machte; und wenn man sie weckte, konnte sie genauso verdutzt und müde gucken wie ein Mensch. Vielleicht ist es das, was uns so an Tieren fasziniert: dass wir glauben, sie wären uns Menschen ähnlich, dass wir ihre Sprache 85
»übersetzen«, um unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, dass wir in ihrem Empfinden ein Ebenbild zu unserer Empfindlichkeit suchen. Vielleicht empfangen wir diese Zeichen und glauben, sie nur verstehen zu können, wenn wir sie entziffern. In Wirklichkeit aber sind die Dinge, die wir nicht verstehen, viel spannender und facettenreicher, als wir es wahrhaben wollen. So wurde Cici zu meinem großen Vorbild. Wenn ich nervös war, weil ich Angst vor der Ungewissheit spürte, stellte ich mir Cici vor und dachte daran, wie sie nachts auf der Suche nach Beute durch dunkles Gestrüpp streifte, und schon war die Angst besiegt. Wenn ich nicht schlafen konnte, weil die Gedanken des Tages mich wach hielten, dachte ich nur an den süßen Schlaf, in den Cici nach ihren Streifzügen wohlig zusammengerollt fiel – schon machte ich mir keine Sorgen mehr und schlummerte friedlich ein. Wenn ich aufmerksam sein sollte, spitzte ich die Ohren; wenn ich Hoffnung hatte, suchte ich gierig wie eine Bestie; wenn ich in Ruhe gelassen werden wollte, verzog ich mich in meine Ecke; wenn ich sauer war, hatte meine Stimme einen fauchenden Unterton. Als Cici sieben Jahre alt war, fing ich an, mir Gedanken über die bevorstehende Zeit zu machen, in der sie zwangsläufig alt werden würde. Wieder spürte ich, wie sehr ich mich an dieses kleine Lebewesen gewöhnt hatte. Und nicht nur ich allein. Meine ganze Familie hatte Cici fest in ihr Herz geschlossen. Sie gehörte einfach dazu. Man sprach mit ihr, man spielte mit ihr, und man litt mit ihr, wenn sie so viele Mäuse gefressen hatte, dass ihr die Würmer schon aus dem Hinterteil fielen. Dabei ist es in türkischen Familien nicht üblich, Haustiere zu haben, schon gar nicht Katzen oder Hunde. Hunde gelten in der Türkei nämlich als dreckige Tiere. Sie werden mit staatlicher Genehmigung gejagt und eingefangen. Jemanden als »dreckigen Hund« zu bezeichnen ist eine schreckliche Beleidigung. Auch Katzen geht es nicht besser. Sie werden getreten und gescheucht. Man spricht nicht mit ihnen, sondern 86
zischt sie nur an oder klatscht in die Hände, damit sie sich davonmachen. Als die ersten Gastarbeiter in den Sechzigerjahren aus ihren anatolischen Dörfern nach Deutschland kamen, warfen sie mit Steinen nach den »Hassos« und »Fifis«, weil sie diesen Umgang von ihren Dorfhunden so gewöhnt waren. Eine Katze ins eigene Bett zu lassen oder sie am Tisch zu verwöhnen, das gehörte lange Zeit zu den Geschichten, die man in der Türkei kolportierte, wenn man von den seltsamen Angewohnheiten der deutschen Barbaren berichtete. Und nun hielten wir also selbst eine Katze. Mein Onkel konnte das nicht verstehen. Verwundert fragte er uns, wie wir zu einer Katze ein derart enges Verhältnis haben konnten. Schließlich sei es nur ein Tier, ein Vieh, ein Wesen ohne Verstand, das nur auf die Befriedigung seiner Triebe aus ist. Es kränkte uns, wenn man so über Cici sprach, denn indirekt machte man sich auch über unsere Empfindungen lustig. Cici spürte die Aversion meines Onkels sehr genau. Immer wenn er zu Besuch war, wurde sie ganz unruhig und verzog sich in ihre Ecke. Und wenn er in seltenen Momenten versuchte, sie zu streicheln, rannte sie weg und machte ihm damit unmissverständlich klar, was sie von ihm hielt. Auch das hat mir immer sehr an Cici gefallen. Sie war direkt, denn eine Katze ist ein ehrliches Wesen, das niemanden täuscht. Wenn sie Hunger hatte, dann musste sie fressen; wenn sie müde war, musste sie schlafen. Ihre Zuneigung und ihre Ablehnung war reiner, als man es sich von irgendeinem Menschen vorstellen konnte. Auch wenn ich lange Zeit dachte, dass die fehlende Sprache die Tiere frei von Falsch und Täuschung sein lässt, so glaube ich inzwischen, dass Menschen, selbst wenn sie stumm sind, lügen können. Vielleicht war es das gemeinsame Verlangen nach Wahrhaftigkeit, das uns verbunden hat.
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Eines Tages wurde sie vor unserer Haustür von einem Auto angefahren und war auf der Stelle tot. Als ich ihren leblosen Körper in meinen Händen hielt, wusste ich, dass all meine Gefühle zu ihr eingefroren und doch vergänglich waren und dass sie den besten Zeitpunkt ausgewählt hatte, um sich so von mir zu verabschieden, dass ich sie auf immer und ewig als das in Erinnerung behalten würde, was sie war: ein verwunschener Engel. Ein Wesen von einem andern Stern. Ein guter Freund in schweren Zeiten.
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Dies ist die neue Fassung einer Geschichte, die ich zum ersten Mal mit vierzehn Jahren geschrieben habe.
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EIN STÜCK PAPIER Eigentlich bin ich nur ein rechteckiges Stück Papier. Aber für die meisten Menschen bin ich viel mehr. Eigentlich habe ich nicht mehr Dimensionen als Vorderseite und Rückseite, vorn sieht man einen Kopf und hinten meist ein Gebäude, eine Idylle oder ein Bauwerk, aber niemand interessiert sich wirklich für das Symbolische an mir. Die meisten wollen das Unerreichbare durch mich greifbar machen. Ich bin die Erfüllung vieler Träume und der Lohn harter Arbeit. Ich zähle für die Liebe und für Drogen. Ich werde für Entschädigungen und Überraschungen genauso gebraucht wie für die jahrelangen, verborgenen Hoffnungen und Ängste in den Schubladen zitternder Großmütter. Ich liege unter Kopfkissen, in Kommoden, versteckt unter Hemden, ich quetsche mich in die Hosentaschen schwitzender Männer und liege flach und gebügelt in den teuren Lederportemonnaies der Boheme. Ich werde gerollt und gefaltet, ich werde geknüllt und selten zerrissen, dann wieder geklebt. Ich werde zuweilen bekritzelt, und meinen Motiven malt man oft lustige Bärte oder schielende Augen. Wofür ich mich bewege und was ich bedeute, hängt ab von der Leidenschaft meiner Wirte. Ich habe viele Gesichter. Mal verwandle ich mich in Nahrung, dann in eine Uhr. Ich bin der Teil eines Urlaubs oder der Absatz an einem Schuh. Manchmal gibt man mich, um viel zu bekommen; manchmal gibt man viel, um mich zu bekommen. Doch woher komme ich, und wohin gehe ich? Ich bin aus einem Keim entsprungen, zu einer stattlichen Eiche gewachsen, gefällt, gesägt zu Brettern, platt gewalzt, gewaschen, geschnitten, in Form gebracht. Zahlreiche meiner Brüder und Schwestern enden als Tische und Stühle, wieder andere als Fensterbrett oder Schiffswand. Sie ertragen so ihr unbewegli90
ches Leben, bis ein Holzwurm, ein Brand oder ein Untergang sie dorthin bringt, wo die meisten von uns enden, in der Wiederverwertung der Natur, in der Schlacke auf dem Meeresgrund, als Asche vom nächsten Windstoß davongefegt, im Magen kriechender Vehikel oder ausgedrückt zu kugelförmigen Exkrementen, im Begriff zu Kompost zu werden und unersättlichen Keimen Wachstum zu gewähren. Manchmal treffe ich sogar Kollegen in ähnlichem Gewand. In der Kasse des Supermarktes oder in der Hand eines Zuhälters. In Schubladen, Ablagen, Fächern, Säcken und Zigarrenkisten. Wir bekommen oft erschreckende Bilder zu sehen. Herzzerreißende Szenen von alten Frauen, wie sie beraubt werden von maskierten Jünglingen, die hastig davonlaufen, um uns in der Sicherheit der Dunkelheit gierig zu zählen. Manchmal treffen wir auf eitle Fatzkes in Anzügen, für die wir niedere Dienste anbahnen, ertragen, wie sie Kinder schänden, und so nicht selten ihre eigenen quälen. Manchmal tragen uns die – die uns sonst in Tresoren verstecken und sich in ihren bunt gefleckten Krawatten anmaßen, uns anderen zu verwehren – direkt zu denen, die sie schlagen. Und sie bezahlen nachts mit den Zinsen, die sie von denen eingestrichen haben, die sie tagsüber für minderwertig erklären. Wir haben oft auch Teil an der großen Politik, denn wir sind verschwiegener als der beste Freund und vernichtender als der ärgste Feind. Wir haben Umgang mit den prominentesten der Prominenten, wir werden heimlich und in Aktenkoffern weitergereicht dafür, dass Menschen sterben. Wir werden noch heimlicher verteilt dafür, dass andere, die gesehen haben, wie jene starben, plötzlich ihre Zunge und ihr Gedächtnis verlieren. Wir werden als Pfand hinterlassen, als Lösegeld verlangt und gegen Ungerechtigkeit verteilt. Mit uns besticht man korrupte Vögel, so wie man mit uns die nimmersatten Geier verführt. Meist aber geht es uns gut, meist liegen wir faul in den Taschen der Reichen, während die Armen uns kaum zu Angesicht 91
bekommen und nicht selten ebenso schnell wieder verlassen, wie sie zu uns gelangt sind. Uns gibt man Kose- oder Tarnnamen. Mal sind wir Steuer, dann sind wir Gebühr, oft sind wir Anteil und oft auch Kapital. Von der Kirche bis zum Knast haben wir jedes Gebäude schon gesehen. Vom Dekolletee der Tänzerin bis zum Nasenloch des Süchtigen haben wir jede Körperstelle schon berührt. Wir sind auch Schuld und Sünde, wir sind zuweilen herzerdrückende Last. Wir sind Strafe oder Belohnung – und manchmal sogar beides in einem. Wir sind das Werk des Teufels, dann sind wir wieder Gottes Dank. Wir sind auch ein Teil von Künstlern, obwohl diese uns bei Lebzeiten nur selten zu Angesicht bekommen. Wir sind das, was man gemeinhin als Ersatz benutzt, um das zu erreichen, was man nicht erreichen kann; wir sind der Thron, auf den man steigt, wenn man die Kleider nicht mehr hat; wir sind die Krone auf dem Haupt, wenn unser Körper nicht mehr funktioniert; wir haben das Zepter in der Hand und sind doch nur ein Leichtgewicht. Wir sind die Herrscher ohne Königreich. Lächerlich und angsteinflößend, gewaltig und vergänglich, zerbrechlich und doch ehern wie eine Wand aus Stahl. Ein Sklave sind wir, stets auf der Flucht vor der unsicheren Zeit und wechselnder Abhängigkeit, vor fortschreitender Inflation und drohender Rezession, vor nationaler Depression und sich allmählich anbahnender Revolution. Denn wenn sich plötzlich etwas ändert, wenn Systeme fallen und Rollen wechseln, dann geht es meistens rasch mit uns zu Ende, dann werden wir schnell das, was wir vorher waren: ein Stück von einem Baum; eine flache Scheibe voller farbloser Motive und unbekannter Gesichter, ohne Bedeutung; ein Ausdruck längst vergangener Zeiten; ein Stolz, den man nicht tragen kann; ein Wert, den man nicht spürt; ein Haus ohne Dach; eine Kuh ohne Milch … eben ein vergängliches Stück Papier. Ja, das sind wir. 92
Eine Geschichte über Kräuterkäse, Schach und andere Augenblicke, die mir immer dann in den Sinn kommen, wenn ich über meine Beziehung zur Musik nachdenke.
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EINMAL MIT SCHUBI DURCH DIE PUBERTÄT Schubi hieß eigentlich Thomas Schubert. Aber wir nannten ihn alle Schubi. Wir nannten ihn Schubi, so wie wir uns allen gegenseitig Spitznamen gaben. Pelle, Schmitzi, Zwiebel oder Maier. Jeder Name hatte seine Bedeutung. Während zum Beispiel »Schubi« eindeutig eine Verniedlichung von Schubert war, handelte es sich bei »Maier« um eine Vereinfachung. »Schubi« konnte aber auch eine Ableitung von »Bubi« sein und »Maier« eine Anspielung auf einen kleinlichen Menschen bedeuten. »Pelle« und »Zwiebel« hingegen waren Verballhornungen der Essgewohnheiten der Namensträger und verwiesen auf einen bestimmten Fetisch oder eine ausgefallene Eigenschaft. Letztlich aber entschied die Art der Aussprache über die Sympathie oder Antipathie, die man dem anderen entgegenbrachte. Schubi jedenfalls war ein seltsamer Typ. Er war groß gewachsen und hager mit herabfallenden Schultern, hatte eine wilde dunkelblonde Mähne, eigenartige grün-braune Augen und ein irgendwie komisches Gesicht. Meist trug Schubi viel zu weite »Hochwasser«-Hosen aus Cord und darüber karierte Hemden oder gelegentlich auch bunt gemusterte Pullover. Zu besonderen Gelegenheiten, wie etwa dem alljährlichen Schulfest oder zur Beerdigung seiner Oma, trug er auch mal Anzüge; allerdings wirkten auch diese irgendwie immer so, als würden sie ihm nicht passen. Schubi hauste in einem Pavillon, in einer Art Gartenhäuschen, das an das Haus seiner Eltern angrenzte. Dort saß er den lieben langen Tag und machte gar nichts. Er saß einfach dort und schüttelte gelegentlich – von unsichtbaren Erkenntnissen veranlasst – den Kopf, sodass seine Haare wilde Zirren zogen 94
und ein unhörbarer Windstoß durch das Zimmer fegte. Er dachte wahrscheinlich nach, sah imaginäre Szenarien oder roch seinen eigenen Schweiß. Vielleicht war sein Nichtstun aber auch nur eine Art Meditation oder ein Ausdruck innerer Ruhe, wie man sie sonst nur von tibetanischen Mönchen kennt. Obwohl Schubi nur unwesentlich älter war als ich, kam es mir so vor, als hätte ich ihn niemals in der Schule zu Gesicht bekommen; dabei gingen wir eigentlich auf dieselbe Schule. Schubi war Musiker. Er beherrschte diverse Instrumente, unter anderem Gitarre, die anfangs sein Hauptinstrument war; er spielte Bass; er versuchte sich in Tasteninstrumenten, und später lernte er auch Saxofon, was er schließlich an der Musikhochschule studierte. Wir trafen uns täglich in seinem Gartenhäuschen. Ein flacher Bau mit einem rechteckigen lang gezogenen Zimmer, in dem all seine Instrumente standen, sich Bücher stapelten und Schachfiguren auf dem fleckigen Teppichboden lagen. Zigarettenschachteln, Notenblätter, gerissene Gitarrensaiten, Plektren, Magazine und Fotos bildeten – wahllos auf dem Fußboden verstreut – einen Untergrund, auf dem man sich tänzergleich zu bewegen hatte, wenn man einen der alten, im Sperrmüll gefundenen olivgrünen Sessel erreichen wollte, um sich dort für den Rest des Nachmittags niederzulassen, denn Sitzplätze in diesem Chaos waren verständlicherweise begehrt. Im hinteren Teil des Anbaus befand sich ein kleiner Raum mit einem stinkenden Klo, das wahrscheinlich noch nie geputzt worden war, und eine Kochecke mit einem Waschbecken voller verschimmelter Tassen und Teller, in dem man selten notdürftig spülte und in das Schubi – was wir allerdings viel zu spät erfuhren –, um Reste von Hygiene bemüht, auch nachts immer pinkelte, damit er nicht im Schlafrausch die Kloschüssel verfehlte. Sein Bett war nie gemacht und stank nach Muff und ausgedehnten Furzorgien, daher genoss Schubi auch stets das Privileg, 95
als Einziger auf seinem Bett zu sitzen, ohne dass es ihm jemand ernsthaft streitig machen wollte. Seine Bettwäsche wurde anscheinend nie gewechselt, und sein Kissen war voll von den Speichelflecken seiner nächtlichen Sabberarien. Das Haus seiner Eltern war eines dieser typischen Einfamilienhäuser, wie sie nach jahrelangem Bausparen gebaut wurden: außen verklinkert, innen dunkel. Möbel aus Eichenholz füllten die Zimmer, schwere Kronleuchter hingen von den mit braun strukturiertem Styropor verkleideten Decken; und stets schien es so, als wäre gerade erst sauber gemacht worden. Doch niemals hatte man das Gefühl, dass es sich wirklich um ein bewohntes Haus handeln würde. Eher wirkte das Ganze wie ein schlecht besuchtes Museum, denn auch die Eltern von Schubi konnte man nie dort sehen. Wenn wir ausnahmsweise mal das Haus betraten, um Besteck zu holen oder irgendeine Notdurft zu verrichten, sah es so aus, als wäre Schubi der Wächter seiner eigenen Familiengruft, mit dem Anspruch, möglichst selten Einlass zu gewähren und noch seltener Eintritt zu verlangen. Wenn wir Schubi besuchten, huschten wir unbemerkt durch den elterlichen Garten und klopften an die Tür des Gartenhäuschens (es gab dort keine Klingel). Schließlich öffnete Schubi, aus seinen Gedanken herausgerissen, kommentarlos die Tür und schlenderte wieder an seinen Platz, um sich weiter seinen Überlegungen zu widmen. An diesen Nachmittagen saßen wir einfach so zusammen und erzählten uns irgendwelche Geschichten, vielleicht aus der Schule, vielleicht aber auch aus unserer Fantasie; wir philosophierten und schwiegen, wir drehten uns aus den ausgedrückten alten Kippen im Aschenbecher neue Zigaretten und bliesen hastig und gierig Rauchschwaden in den unaufgeräumten Raum. Wir aßen Schwarzbrot mit Kräuterkäse. Wir spielten Schach auf einem alten vergilbten Schachbrett, stritten um jeden Zug und diskutierten über die verpassten Möglichkeiten. Wir kamen uns 96
vor wie ein Haufen Intellektueller, wir waren abgehoben und arrogant, wir waren leidenschaftlich und neugierig – eben jung. Und dann hörten wir Musik und sprachen kaum. Hörten nur immer wieder Musik. Jazz, Klassik, Pop und Rock. John Coltrane, Sunny Stitt, das Modern Jazz Quartett und Birdland von Weather Report. Denn Schubi war nicht nur Musiker, er war auch ein begnadeter Zuhörer. Er hörte alles: jeden Wechsel, jede dynamische Steigerung und jede Veränderung. Er hörte die unterschiedlichen Materialien, aus denen die Mundstücke der Saxofone gefertigt waren; er hörte ihren warmen und ihren kalten Klang, die Spucke, die sich zwischen Holzplättchen und Mundstück zwängte, um in der durchgeblasenen Luft zu zittern; er hörte die Härte eines Obertons, der das Ohr traf wie ein spitzer Pfeil; er hörte jeden Schlag auf der angespannten Oberfläche einer vibrierenden Trommel und jedes Atmen zwischen den Pausen der schweißtreibenden Soli. Vor allem hörte er die Fragen, die uns die Musik stellte, und er sah die Antworten, die sie uns gab. Er kommentierte jedes Werk und jeden Absatz, und manchmal tanzte er traumverloren durch das Zimmer, weil er glaubte, bestimmte Stellen in der Musik erahnen zu können. Ich glaube heute, dass er sie wirklich erahnen konnte. Ich hatte Schubi über meinen Freund Maier kennen gelernt. Eines Tages saßen wir bei Maier zu Hause, so wie wir oft bei Maier saßen und lustige Kassetten mit selbst erfundenen Radiosendungen mit einem bei Tchibo gekauften Kassettenrekorder aufnahmen, da sagte er zu mir: »Komm, wir fahren zu einem seltsamen Typen, den musst du kennen lernen.« Und dann fuhren wir los. Mir kam das Ganze eigenartig vor. Das unaufgeräumte Gartenhäuschen, der Gestank der alten Kippen, die leeren Schachteln Kräuterkäse, das angeschimmelte Geschirr und dieser komische Typ, der in seinem Bau hauste wie ein Einsiedler auf einer kleinen, unentdeckten Insel. 97
Dennoch zog mich dieser Ort seit meiner ersten Begegnung mit Schubi wie magisch an. Und so kam es, dass unsere mittlerweile größer gewordene Clique beinahe täglich bei Schubi saß und sich die Zeit vertrieb. Ich hatte angefangen zu rauchen. Ich trug lange pastellfarbene Hemden, enge Hosen und einen Ring. Ich versuchte, mich täglich zu rasieren, und träumte davon, eine Freundin zu haben. Vor allem aber lernte ich dort, Musik zu hören. Ich möchte nicht sagen, dass ich es vorher nicht gekonnt hätte. Die Art und Weise aber, mit der Schubi den Intonationen seiner Vorbilder folgte, wie er sie verstand, war etwas vollkommen Neues für mich. Etwas, das voller Tiefe war und die Musik mit einer seltsamen, fast mystischen Suche nach dem Sinn des Lebens zu verbinden schien. Denn wenn man Musik hört, braucht man nicht nur einen, sondern tausend Sinne. Es reicht nicht, auf das Zusammenspiel der Musiker zu achten. Man muss die Musik spüren, um sie zu verstehen, und ein kleiner Grat zwischen Genialität und Wahnsinn ermöglicht erst die Einzigartigkeit des Ausdrucks. Ein winziges Detail entscheidet über Langeweile und höchste Anspannung, immer unsichtbar, niemals ausgesprochen, weil es in der Musik keine Worte gibt und sie doch eine Sprache ist, weil uns die Musik näher ist, als wir glauben, und sie unsere Gefühle unmittelbarer transportiert als jedes zu viel gesprochene Wort und jede mühsam illustrierte Emotion. Besonders angetan hatte es uns die Musik von Miles Davis. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Platten für uns wie Offenbarungen. Ungeduldig warteten wir auf jede neue Veröffentlichung. Wenn wir auch an anderer Stelle sparsam waren, so glich es beinahe einem Adelsschlag, als Erster die neue Scheibe gekauft zu haben. Dann entfernten wir hastig die Hülle und schwangen die Scheibe hektisch auf den Plattenteller. Der energische Klang seines Instruments flößte uns jedes Mal ungeheuren Respekt ein. So sehr, dass wir sogar komplette Geschichten erfanden, um Miles Davis noch höher in den 98
Himmel der Genialität zu heben, als er es ohnehin schon war. Wir bewunderten seine unbekannte Konsequenz, wir lachten über seine ungehörten Zitate, wir wiederholten seine unausgesprochenen Weisheiten, und wir staunten über seine unersättlichen Neigungen. Seine Platten waren dabei unser ganzes Kapital. Wir hörten sie immer wieder, stundenlang, Tag für Tag. Wir versuchten, der Musik einen Platz zu geben, sie einzuordnen, sie wieder zu erkennen als einen Teil unserer selbst. Wir ließen uns überraschen von den Wechseln, die sie mit sich brachte, und wir hinterfragten die Innovation bestimmter Tonfolgen oder Akkordwechsel. Manchmal stritten wir sogar über die Bedeutung einzelner Noten. Schubi holte dann seine Gitarre oder irgendein anderes Instrument, das gerade in der Nähe war, und versuchte, die Phrasen nachzuspielen und sie so erklärbarer zu machen. Nicht alle der Anwesenden konnten ein Instrument spielen, andere wiederum spielten zwar Instrumente, aber solche, die man für unsere Diskussionen nicht gebrauchen konnte – wie Cello oder Querflöte –, dennoch hatte jeder etwas zu sagen. Wir waren ein ziemlich verschworener Haufen. Wir waren cool, lässig und unglaublich klug. Wir waren auch dumm und naiv, manchmal unerfahren und sehnsuchtsvoll, gelegentlich depressiv und oftmals unsicher. Und dennoch beherrschten wir die Zeit und nicht umgekehrt. Dennoch bestimmten wir den Ablauf der Geschehnisse und nicht umgekehrt. Denn für uns gab es keine Regeln, die wir einzuhalten hätten; es gab keine Moral und auch keinen Anstand. Eigentlich waren wir frei in seiner ursprünglichsten Bedeutung. Frei von den Vorgaben unserer Eltern und Lehrer, frei von den Ansprüchen unserer Zukunft. Wirklich frei. Und so vergingen die Tage und Monate, ohne dass sich wirklich etwas änderte. Wir hörten Musik, wir schwiegen, wir stolperten durch das Gartenhäuschen, wir rauchten ohne Ende, aßen Kräuterkäse und tranken Bier aus lange zuvor geöffneten 99
Flaschen. Bis ich eines Tages an Schubis Tür klopfte und er nicht öffnete. Es war kein Geräusch zu hören, niemand schien sich drinnen zu rühren. Ich dachte zunächst, Schubi sei etwas zugestoßen. Deshalb machte ich mich durch das dicht gewachsene Gestrüpp an eines der Fenster heran, um zu sehen, was in dem Zimmer vor sich ging. Es war kalt, beinahe Winter, und als ich durch die beschlagenen Scheiben in das Innere der Höhle blickte, konnte ich unter der Bettdecke meines Freundes zwei ineinander verschlungene Körper erkennen. Dort, wo vorher Schubi stets allein gesessen hatte, inmitten seines eigenen Gestanks, in all der Unordnung, wälzten sich plötzlich Gliedmaßen und wanden sich Haare. »Der Meister hat jetzt ’ne Freundin!« Ein Schreck fuhr mir durch alle Glieder. Mein Freund Maier hatte sich von hinten angeschlichen und stand nun mit mir zusammen vor dem Fenster. »Das ist die Ex von Hering. Hätte nie gedacht, dass dieses Monstrum von Mensch mal was Frisches zu greifen bekommt«, bemerkte er bemüht lapidar, so als wäre er von vornherein beteiligt gewesen an diesem Konglomerat der Lasterhaftigkeit. Ich bildete mir allerdings ein, so etwas wie Neid aus der Stimme meines Gegenübers zu hören, aber unbefangen, wie wir damals waren, ignorierte ich das Gefühl und klopfte unbekümmert an die Scheibe. Augenblicklich hörten die Bewegungen der Körper auf, und für einen Moment verschwanden die beiden vollends unter der Decke. Nach wenigen Sekunden konnte ich den nackten Schubi durch das Zimmer tapsen sehen. Er öffnete die Tür, sah uns immer noch am Fenster stehen und sagte dann laut flüsternd und aufgeregt zu uns: »Ey, Leute, das geht heute nicht. Ihr seht doch, ich habe Besuch. Ein anderes Mal vielleicht. Vielleicht mor100
gen.« Und dann schloss er leise die Tür, während wir regungslos durch das Fenster nach drinnen blickten und sahen, wie Schubi zurück in unser Fernsehbild trat und wieder ins warme Bett schlüpfte. Wir sind wohl über Nacht erwachsen geworden, dachte ich in mich hinein. Jetzt suchen wir nicht die Schönheit der Leere. Jetzt wollen wir sie anfassen. Die Schönheit, die wir in der Musik gesehen haben, soll nun vor uns liegen. Wir wollen mit ihr verschmelzen, in sie eindringen und andere Facetten an ihr entdecken. Unsere Musik ist tot, aber sie ist in anderer Form wieder auferstanden. Unsere Musik ist eine Fuge, ist ein Kanon, eine Sonate, Satz für Satz, Exposition, Durchführung und Reprise. Unsere Musik füllt nicht mehr unseren Kopf, sie füllt den Raum, sie tänzelt auf der Spitze unseres Schwanzes, sie ist der pulsierende Rhythmus zwischen den Öffnungen der bebenden Körper. Sie ist so etwas wie ein Gott. Allmächtig über allem schwebend und gewaltig. Schubi habe ich seither nicht mehr besucht. Warum auch? Es brauchte kein Morgen mehr zu geben.
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Eine ganzes Jahr voller jugendlicher Eskapaden
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SILVESTER MIT KLAUS Der verrückteste Mensch, den ich kenne, ist Klaus. Wir waren lange befreundet. Wo er heute lebt, weiß ich nicht. Kennen gelernt hatten wir uns kurz nach Karneval in der Musikschule, als ich eines Nachmittags aus dem Schlagzeugkeller kam und er mit seiner Geige vor dem schwarzen Brett stand. Wir hatten uns vorher noch nie gesehen, aber weil Klaus ein sehr neugieriger und aufgeschlossener Mensch war, sprach er mich an. Prompt verbrachten wir den ganzen Nachmittag zusammen und sprachen über Gott und die Welt. Klaus war etwa ein Jahr älter als ich und besaß viele unterschiedliche Talente. Er war ein Künstler in vielerlei Hinsicht. Er konnte hervorragend malen, er konnte mit einer kleinen Nagelschere winzige Gemälde in Papier schneiden; er konnte mit seinen eigentlich eher wulstigen Fingern Knetgummifiguren und später ganze Skulpturen formen, er war Schauspieler und Clown; er spielte zahlreiche Instrumente, und er liebte es, Geschichten zu erzählen und dabei so zu tun, als wäre er schon erwachsen. Gemeinsam schwärmten wir für die Mädchen an unserer Musikschule. Da gab es eine mit langen schwarzen Haaren und eine andere mit einem beachtlichen Busen, es gab die mit der hässlichen Nase und die mit den wunderschönen Füßen. Während ich eher praktisch veranlagt war und vornehmlich an eine zügige Umsetzung unserer Träumereien dachte, betrachtete Klaus diese Mädchen vielmehr als Inspiration und baute sie in seine Kunstwerke ein. Er malte und fotografierte sie, er widmete ihnen Gedichte und komponierte kleine Menuette für sie. Auch er selbst schien eine Art Kunstwerk zu sein. Er war nicht besonders groß gewachsen, er trug immer offene Sandalen, wie ich sie sonst nur von den Opas aus unserer Nachbarschaft 103
kannte. Er trug sie, egal ob es regnete oder schneite – vielleicht fand er es lustig, und irgendwie war es das auch. Er hatte dunkelbraune, glatte lange Haare, obwohl seine Mutter ihm jedes Mal, wenn wir bei ihm zu Hause waren, eine minutenlange Predigt hielt, dass er sie endlich abschneiden solle. Er trug oft wallende, sackartige Gewänder, die er selbst nähte, und hatte stets einen Malblock und Stifte dabei. Außerdem trug er eine Brille mit einem knallroten Rand, die er während seiner Redeschwälle mit seinen Wurstfingern so akribisch putzte, als ginge es dabei um die Erschaffung eines weiteren Kunstwerks. Klaus wohnte mit seinem jüngeren Bruder bei seiner Mutter. Seine Eltern waren schon lange geschieden, und so war er für seinen Bruder auch eine Autoritätsperson, was seinem Anspruch, erwachsen sein zu wollen, durchaus entgegenkam. Sein kleiner Bruder sah Klaus sehr ähnlich, obwohl er eigentlich ganz anders war. Er hatte kurze Haare, besaß keinerlei künstlerisches Talent und hörte immer auf das, was die Mutter sagte. Ein wenig machten wir uns darüber lustig, aber im Grunde genommen hatten wir Verständnis dafür. Klaus und sein Bruder hatten je ein eigenes Zimmer im Dachgeschoss des Hauses, während sich die Küche und die übrigen Zimmer in der unteren Etage befanden. Die Küche war voller Kleinkram. In einer Ecke hing eine alte Schürze mit altdeutscher Schrift, überall standen Dosen; der Herd war weiß, zerkratzt und alt. In der vorderen Ecke standen eine rot lackierte Eckbank und zwei Stühle, meist lag auf dem Esstisch eine gehäkelte Decke und darauf stand – passend zur Jahreszeit – ein Strauß mit bunt bemalten Ostereiern. Im Wohnzimmer stand ein Klavier aus hellem Holz, auf dem allerdings nicht gespielt werden durfte. An der Hinterwand stapelten sich Bücher mit kirchlichen Themen, und ganz dicht am Fernseher stand ein alter Plattenspieler mit einem Tonarm aus Plastik, den man zuerst nach hinten bewegen musste, bis er 104
mit einem Knacken einrastete, und der dann am äußeren Rand der Platte aufgesetzt werden konnte. Manchmal klingelte im Flur ein graues Telefon mit einer weißen Wählscheibe. Dann dauerte es nur kurze Zeit, bis die Mutter durch das Treppenhaus nach oben schrie und Klaus die Treppen herabspurtete, weil er den Anruf einer neuen Muse erwartete. Im Sommer erlebten wir gemeinsam sehr viele schöne Dinge. Wir fuhren auf unseren Fahrrädern durch den Stadtpark, wir philosophierten über die Welt der Erwachsenen, wir träumten von der ersten Liebe, wir hörten gemeinsam Musik und bastelten an abenteuerlichen Kunstwerken. Wir waren wirklich sehr gute Freunde und verbrachten eine Menge Zeit miteinander. Oft aßen wir gemeinsam zu Mittag. Manchmal bei Klaus, manchmal bei mir. Und wir erlebten dabei mit großer Spannung, wie unterschiedlich es in unseren Elternhäusern zuging, obwohl wir immer glaubten, uns sehr ähnlich zu sein. Während wir bei Klaus am schmalen Küchentisch saßen und schweigend grünen Salat mit Milchtunke verspeisten und dazu eine lauwarme Ovomaltine tranken, gab es bei uns zu Hause gefüllte Teigtaschen mit Knoblauchsoße und schallendes Gelächter, wenn der »verrückte Klaus«, wie ihn meine Eltern getauft hatten, auf den Küchentisch stieg, um mit seiner Trompete einen Dankesmarsch an die Kochkünste meiner Mutter zu richten. Während es in der Wohnung von Klaus immer so aussah, als wäre gerade jemand gestorben, es immer aufgeräumt war und ein ungeheuer fetter und träger Dackel das einzig Unberechenbare zu sein schien, herrschte bei uns das blanke Chaos: Freunde und Verwandte gingen ein und aus, und ständig liefen Fernseher und Radio zugleich. Genau dieser Gegensatz aber gefiel uns. Denn wenn ich bei Klaus am Mittagstisch saß, entkam ich dem Durcheinander meines hektischen Alltags. So wie Klaus bei mir zu Hause dachte, er sei im Zoo und darin selbst das schrillste Wesen, 105
wenn er mit meinen Eltern feixte und während des Essens – natürlich mit vollem Mund – Gassenhauer sang und seine langen Haare in alle Himmelsrichtungen flogen und die Anwesenden ihm seinen Sonderstatus zubilligten, ohne übertrieben höflich zu sein. Aber nicht nur wir beide profitierten davon, dass wir dem anderen Einblick in unsere Privatsphäre gewährten, auch die Mutter von Klaus und sein Bruder fanden zunehmend Gefallen an dieser Freundschaft, verloren zusehends ihre anfängliche Zurückhaltung und genossen es, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Zum Erntedankfest besuchte Klaus’ Mutter sogar meine Eltern, und es kam uns beinahe so vor, als hätte unser Treiben durch diesen Staatsbesuch nun eine Legitimation. Wir wurden auch bald von Botschaftern zu Kundschaftern umfunktioniert. Meine Eltern fragten mich nach den Kochgewohnheiten von Klaus’ Mutter, und Klaus’ Mutter wollte wissen, wie wir Weihnachten feierten; meine Eltern bewunderten die schöne gehäkelte Tischdecke der Mutter von Klaus, und diese wiederum hätte gern eine von diesen kleinen Porzellanfiguren gehabt, die es im geschlossenen Basar in Istanbul zu kaufen gab. Ständig mussten Klaus und ich nun Grüße bestellen, und die wenigen Geheimnisse, die wir hatten, wurden mit immer größer werdendem Anspruch hinterfragt. Auch wenn es uns beiden zunächst nicht unangenehm war, dass sich unser Umfeld an unserer Freundschaft beteiligte und davon profitierte, verlor es jedoch an Reiz, sich zu treffen, wenn man wusste, dass alles, was man aushecken würde, am nächsten Tag Gegenstand der Familiengespräche werden könnte. So kamen wir uns plötzlich nicht mehr vor wie Lebensforscher voll rebellischer Gedanken, sondern wie Hofnarren, deren Späße man nur so lange bedingungslos akzeptierte, wie sie nicht zu weit gingen oder das eigene Interessengebiet nicht verließen. Unser Anarchismus schien plötzlich domestiziert, und wir fühlten, dass es ein unweigerliches Ende geben musste, um 106
wieder zurückzufinden zu der eigentlichen Fragestellung – der Sehnsucht nach dem Unbekannten –, die uns ursprünglich zusammengebracht hatte. In der Tat war es die Sehnsucht, die uns den letzten Funken Kreativität abverlangte, die uns neugierig machte, uns nicht in Frieden und doch schwärmen ließ für die wenigen Augenblicke, in denen wir glaubten, unser Glück gefunden zu haben. Also wurden unsere Eskapaden von Mal zu Mal gefährlicher, die Haare von Klaus wurden länger und die Tage kürzer. Wir verbarrikadierten uns in unseren Zimmern, um unsere Pläne zu schmieden, und kamen erst nach Stunden wieder heraus; verschwanden mit unseren Fahrrädern oft bis zum späten Abend, ohne dass die Eltern wussten, wo und mit wem wir zusammen waren. In Wirklichkeit taten wir nichts Verbotenes; ja, wir rauchten noch nicht einmal oder tranken Alkohol. Wir dachten nur über unsere Ambitionen nach, zum Beispiel darüber, wie wir das nächste Mädchen rumkriegen würden, wie wir unsere Verliebtheit in das Leben auf ein einziges geeignetes Wesen konzentrieren konnten, wie wir unsere Musik und unsere Kunst vermarkten konnten, ohne dass sie gleich kommerziell würde. Ob in der Freundschaft oder in der Kunst: Allzu gern schmückt man sich mit dem Exotischen, obwohl man es zunächst vielleicht verachtet. Je mehr man sich ihm aber nähert, desto mehr verliert es an Reiz, bis es schließlich gewöhnlich wird. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, die Magie des Moments zu respektieren, sie nicht einfangen zu wollen und ihr kein Korsett anzulegen. So suchten wir hartnäckig einen Weg, uns mit unseren Träumen beschäftigen zu können, ohne uns allzu sehr abzuschotten und damit in Verdacht zu geraten, etwas Verbotenes zu tun. Fast ein Jahr war inzwischen vergangen, und es war kurz vor Silvester. Nach den harten inneren und äußeren Anstrengungen, unser Terrain zu verteidigen, stand nun eine Eroberung auf dem Plan. Denn wir wollten endlich erwachsen sein und wissen, wie 107
es sich anfühlte, zu tun und zu lassen, was man will. Silvester hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt immer zu Hause verbracht und es auch niemals gewagt, meine Eltern zu fragen, ob ich vielleicht woanders feiern, geschweige denn übernachten dürfte. Auch wenn meine Eltern nicht besonders streng waren, so gab es doch gewisse Grenzen. Silvester bei Freunden zu übernachten, war eine solche Grenze. Da aber bereits das ganze zurückliegende Jahr eine Zeit des Wandels gewesen war und Klaus und ich seit längerem die Silvesternacht als Wendepunkt sahen, beschlossen wir kurzerhand, dass es eine Frage der Ehre sei, ungefragt zu feiern. In jedem Fall würde es unserem Freiheitsdrang und dem unausgesprochenem Credo unserer Freundschaft angemessen Ausdruck verleihen, und so schwangen wir uns auf unsere Fahrräder, um die nächste Fete zu suchen, auf der wir so richtig die Sau rauslassen würden, die wir zuvor in monatelangen Tagträumen gemästet hatten. Wenn man sich innerlich einmal für etwas entschieden hat, ergibt sich alles Weitere wie von selbst. So nämlich, als hätte uns der Allmächtige höchstpersönlich erhört, mussten wir nicht weit fahren. Kaum hatten wir an diesem kalten Abend das Haus verlassen und Klaus mit seinen vollkommen wetteruntauglichen Sandalen zu frieren begonnen, da sahen wir auch schon ein Haus mit zahlreichen Fahrrädern vor der Eingangstür, aus dem Musik dröhnte und das wir ohne Zögern betraten. Genau das war es, was wir gebraucht hatten. Endlich hatten wir es vor uns. Dem ersten Eindruck nach eine ganz gewöhnliche Fete. Für uns aber war es eine Offenbarung. Die Leute, die Musik, überall dichte Schwaden von Zigarettenqualm und Haschischrauch, Alkohol, geschminkte Mädchen und ihre viel zu betrunkenen Freunde, Kartoffel- und Nudelsalat, ein abgerissenes Baguette und eine vertrocknete Käseplatte, drapiert mit einsamen Weintrauben – das war unser Nirwana, das wir uns seit Anbeginn unseres seltsamen Trips erträumt hatten. 108
So flossen unsere Glückshormone ganz wie von selbst, und schnell kamen wir ins Gespräch und sahen unser Kunstwerk endlich nicht mehr von außen, sondern waren ein Teil davon, mittendrin, grell und gierig. Klaus schmiegte sich schnell an eine exotische Schwarzhaarige und ich mich zunächst an eine halb volle Flasche Weißwein, deren süßlicher Inhalt mich derart betörte, dass ich weder an meine Eltern noch an den bevorstehenden Jahreswechsel in der neu gewonnenen Freiheit und schon gar nicht an die mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit anstehende Buße denken konnte. Plötzlich sah alles wunderschön aus. Alles war lustig und ernst zugleich. Ich hatte noch nie solch interessante Gespräche geführt und so wunderbare Musik gehört; der Nudelsalat war das beste Essen, das ich jemals gegessen hatte, und die Mädchen machten allesamt den Eindruck, als seien sie in mich verliebt. Ich hörte, wie Klaus lachte, und spürte, wie nah wir endlich unserem gemeinsamen Ziel waren. Und so, als hätte ich es geahnt, setzte sich nach einigen Minuten eine Blonde neben mich und begann ohne Umschweife, mich auf den Mund zu küssen. Das kannte ich bisher noch nicht. Das, worüber ich sonst immer nur in meinen kühnsten Träumen gemutmaßt hatte, es geschah in diesem Augenblick. Mein Verlangen wurde Wirklichkeit, und es fühlte sich noch viel besser an, als ich es erwartet hatte. Es war zart und feucht, es war heftig und drängend, voller Aufregung und voller Spannung. Geheimnisvoll und anziehend. So vergingen die Stunden wie im Flug, unsere Lippen waren geschwollen, in weiter Entfernung hörte ich Klaus singen. Wir waren so besoffen vor Leidenschaft, dass wir noch nicht einmal merkten, wie es zwölf wurde und alle nach draußen stürmten. Es ging immer weiter, immer schneller, immer hastiger, und es wurde immer dunkler. Als ich in der Dämmerung des nächsten Morgens aufwachte, lag ich auf dem Boden. Um mich herum war alles übersät mit Bierflaschen, vertrockneten Nudeln, Zigarettenkippen und Fla109
schenkorken. Es war eiskalt, mein Rücken schmerzte und meine Hose klebte. Ich hatte von der vielen Küsserei einen ganz trockenen Hals. Es war der Neujahrstag und alle schliefen noch. Ich bewegte mich langsam und leise, um mich aus der Umarmung der immer noch neben mir liegenden Unbekannten zu lösen. Tatsächlich, ich hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sie nach ihrem Namen zu fragen. Ich nahm meine Jacke und machte mich auf den Weg. Ich wollte nur weg, bevor es wieder von vorn beginnen konnte. Ich wollte es nicht noch einmal erleben, ich wollte es in meiner Erinnerung behalten. Ich wollte meine einmal gefundene Freiheit nicht gefangen nehmen lassen. Ich wollte das neue Jahr begrüßen. Ich wollte allein sein. Und dann plötzlich, als hätte jemand auf einen eigens dafür eingerichteten Schalter gedrückt, fielen mir meine Eltern ein, dass ich ihnen nicht gesagt hatte, wo ich sein würde, dass sie sich wahrscheinlich große Sorgen um mich machten. Gemeinsam mit der Mutter von Klaus und seinem Bruder saßen sie jetzt bestimmt an unserem Küchentisch und waren sich in ihrer Verzweiflung einig. Sie waren gewiss tausend Tode gestorben. Meine Mutter dachte sicherlich, ich sei eine Geisel des internationalen Drogenkartells oder hätte die Nacht auf dem Polizeirevier verbracht. Mein Vater war wahrscheinlich stinksauer und doch neugierig. Meine Brüder machten sich bestimmt schon über mich lustig. Sicher betete die Mutter von Klaus für die Verschollenen, und sein Bruder sagte leise »Amen«. Wahrscheinlich würden sie schon an meinem Gesichtsausdruck merken, wo ich gewesen war, und an meinen geschwollenen Lippen sehen, was ich getrieben hatte. Mir wurde schwindelig, obwohl ich den schönsten Silvesterabend meines Lebens gehabt hatte. Zu allem Übel war Klaus verschwunden. Wieder einmal hatte es ihm nicht gereicht aufzubegehren, um sein Begehren zu stillen; für Unruhe zu sorgen, um der eigenen Unruhe Herr werden zu können; 110
anstößig zu sein und Anstoß zu geben. Er musste weitersuchen. Nach der idealen Lösung, dem perfekten Mädchen, dem einzig Wahren, dem Unerreichbaren und der Erfüllung. Klaus war wirklich ein verrückter Typ. Erst brachte er mich auf krumme Gedanken, und dann machte er sich aus dem Staub. Ohne ihn wäre ich niemals auf dieser Fete gelandet. Ich habe Klaus seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, aber ich glaube, er ist immer noch auf der Suche. Vielleicht weil er weiß, dass die Suche immer spannender ist als das Finden.
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Manch gute Erkenntnis braucht Zeit und Geduld.
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TASCHENGELD Ich habe als Kind niemals Taschengeld bekommen. Nicht weil meine Eltern geizig waren, sondern weil sie wohl wollten, dass wir Kinder lernen, wie man sich sein eigenes Geld erarbeitet und wie man entscheidet, wofür man das hart erworbene Geld wieder ausgibt. Dadurch habe ich gelernt, wie unterschiedlich der Wert des Geldes sein kann. Hat man vielleicht eine lange Zeit gespart, um sich etwas leisten zu können, so ist die Kostbarkeit des Gegenstands, den man sich für das Ersparte kauft, unermesslich groß. Andererseits ist die Freude über eine Sache, die man sich etwa von gefundenem Geld gekauft hat, nie von Dauer. Arbeitet man jahrelang und steht dann irgendwann vor dem mühsam ersparten und ersehnten Auto, so achtet man auf jedes Geräusch und jedes Knacken, weil man fürchtet, dass es kaputtgehen könnte. Andererseits macht man sich bei einem geschenkten Auto oft keine Gedanken darüber, ob ein neuer Vergaser oder ein neuer Auspuff gebraucht wird, wenn man dafür das Auto nur in die Werkstatt bringen muss, wo es auf Kosten eines anderen repariert wird. Um mir das nötige Taschengeld zu verdienen, übernahm ich eines Tages den Job meines ältesten Bruders, der seit mehreren Jahren bei einer Heißmangel in der Nähe unserer Schule gearbeitet hatte. Mein Bruder war schon immer ein zielstrebiger Typ. Morgens ging er in die Schule, danach machte er akkurat seine Hausaufgaben. Nach dem Mittagessen und bevor er zu seinem Dienst in die Heißmangel musste, bastelte er an seinem blauen Rennrad herum, das in unserer Waschküche stand und eines seiner zahlreichen Heiligtümer war, die vor dem Zugriff der lästigen kleinen Geschwister geschützt werden mussten. 113
Auch wenn man insgeheim seine kleinen Geschwister mag, so ist der alltägliche Umgang miteinander nicht selten grausam; und die Rituale, mit denen man sich begegnet, sind häufig geprägt von reinem Argwohn und purer Gehässigkeit. Wie oft durfte ich nicht mitgehen, wenn meine älteren Brüder in die Stadt schlenderten, wie oft musste ich zu Hause bleiben, weil ich angeblich zu klein war, während sie ins Kino durften, zu zweit ins Schwimmbad oder auf die Kirmes gingen. Ich wurde stattdessen abgespeist mit eigens dafür eingerichteten »Sonderbesuchen«. Wenn etwa Jahrmarkt in der Stadt war, mussten meine Brüder mich an einem Tag dorthin mitnehmen, und ich durfte mit einem gönnerhaft-schikanös investierten Handgeld meiner Aufpasser Kinderkarussell fahren oder durch das Spiegelkabinett gehen. Meine größeren Brüder gingen allerdings an den anderen Tagen nochmals allein zum Jahrmarkt, um sich in der Geisterbahn und an den atemberaubenden Loopings der Achterbahn zu vergnügen, was sie in meinen Augen fast schon zu richtigen Männern machte. Daher kam es mir sehr gelegen, dass ich den Heißmangeljob übernehmen durfte. Denn einerseits würde ich dadurch eigenes Kapital anhäufen, um eines Tages frei entscheiden zu können, wo und wann ich meinen Spaß damit haben wollte, und andererseits könnte ich durch die Bewältigung der schweren Arbeit demonstrieren, wie weit ich schon zu meinen Brüdern aufgeschlossen hatte und wie bald ich, in Augenhöhe zu ihnen, spielerisch die gefährlichsten Abenteuer meistern würde. Zunächst aber musste ich mich in der Heißmangel vorstellen und wurde nach widerwilliger Begutachtung eingestellt. Die Heißmangel wurde von zwei Frauen betrieben; sie lag an einer kleinen Straße und bestand aus zwei Räumen. In dem hinteren Zimmer stand eine den ganzen Raum füllende lange Walze, in die eine der beiden Frauen ein ungebügeltes Bettlaken einlegte, während die andere das frisch gemangelte Laken auf der
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anderen Seite herauszog und zusammenlegte. Dann wurde es in den Wäschekorb des Kunden gelegt. So stapelten sich Bettwäsche, Tischdecken und Hemden, bis am Ende der Korb voll war. Dann wurde er mit einem kleinen Zettel versehen, auf dem der Name des Kunden und der zu zahlende Betrag notiert waren, und in das vordere, zur Straße liegende und meist von Feuchtigkeit und Dampf beschlagene Schaufenster gelegt, damit die Kunden, die gerade vorbeiliefen, nachsehen konnten, ob ihre Wäsche schon fertig war. Manche Kunden holten ihre Wäsche selbst ab. Andere ließen sich die Wäsche nach Hause bringen, und genau darin bestand meine Aufgabe: Ich brachte die gemangelte Wäsche zu den Kunden. Als Lohn dafür bekam ich ein kleines Trinkgeld. Hinzu kamen Extrazahlungen zu besonderen Gelegenheiten, wie Weihnachten oder Ostern, wozu mich die ältere der beiden Frauen – ich glaube heute, dass sie die Besitzerin war – in das Heißmangelzimmer rief und mir mit einer großzügigen Geste ein Fünfmarkstück in die Hand drückte. Schnell gewöhnte ich mich an die Arbeit und kannte bald alle Kunden und ihre Gewohnheiten. Einige mochte ich, andere nicht. Manche hatten ganz dunkle Wohnungen, andere lebten an ihrem Arbeitsplatz, etwa der dicke Mann, der über seiner verrauchten Kneipe wohnte, oder die rosagesichtige Frau, der die Metzgerei gehörte. Es gab auch Leute, von denen ich nicht wusste, ob sie nur die Wäsche in Empfang nahmen oder ob es ihre eigene war. Und manche sahen so furchterregend aus, dass ich stets hoffte, in der nächsten Woche nicht dorthin zu müssen, etwa die Frau mit den Wasserbeinen, die so dicke und geschwollene Gliedmaßen hatte, dass man fürchtete, sie könnte jeden Augenblick platzen. Jeder Kunde hatte auch seine Gewohnheiten, was das Trinkgeld anging. Die Metzgerin gab immer zwischen fünfzig Pfennig und einer Mark, was viel war. Eine Mark war ein ganz schöner Batzen, wenn man bedenkt, dass ich insgesamt am Ende 115
dieser Arbeitstage manchmal nur fünf oder sechs Mark in der Tasche hatte. Der dicke Kneipenwirt war sehr großzügig – er gab meistens sogar zwei Mark –, die Frau mit den Wasserbeinen hingegen niemals mehr als zwanzig Pfennig und eine andere, mit einem blauen Kittel, höchstens fünf oder zehn Pfennig. Manchmal an schönen Tagen, wenn die Sonne schien und es nach Frühling roch, machte die Arbeit Spaß. Die Bewegung an der frischen Luft, die vielen fremden Gesichter und Häuser, die beiden Frauen in der Mangel, die einen lobten, wenn man schnell arbeitete. Dann aber gab es auch Tage, an denen es eine Tortur war, die schweren Körbe zu schleppen. Es gab Kunden, die fast zwei Kilometer entfernt wohnten und sich die Körbe nach Hause bringen ließen, obwohl sie wussten, dass ich sie würde tragen müssen; und nicht wenige dieser Kunden waren so geizig und griesgrämig, dass sie einem noch nicht mal einen Pfennig Trinkgeld für die mühsame Arbeit gaben. Gegenüber der Heißmangel war ebenfalls ein seltsamer Laden. Er hatte den Namen »Huhn und Ei«, und im ganzen Geschäft standen nur Paletten voller Eier in allen Größen. Es gab handgroße Eier von Gänsen und kleine graue von Wachteln; manchmal gab es auch Straußeneier, und natürlich gab es ganz normale Hühnereier in allen Varianten. Der Laden gehörte einer weißhaarigen, älteren Frau, die offensichtlich Mitleid mit mir hatte, wenn sie mich die schweren Körbe schleppen sah, denn sie versorgte mich stets mit Schokolade aus einer Schublade im Hinterzimmer oder mit anderen Süßigkeiten und – wenn sie mal nichts Süßes zur Hand hatte – mit unterschiedlichsten Eiern aus aller Herren Länder. Gelegentlich bat sie mich, Pakete für sie zur Post zu bringen, auf denen in großen handschriftlichen Buchstaben »DDR« stand. Dafür bekam ich dann zwei Mark und vielleicht sogar ein besonderes Ei. 116
Insgesamt habe ich mehr als fünf Jahre bei der Heißmangel gearbeitet. Bis ich schon fast ein erwachsener Mensch war und es mir allmählich peinlich wurde, dass die Mädchen, die ich kennen gelernt hatte, mich schwitzend Wäschekörbe tragen sahen, ging ich jeden Freitag zur Heißmangel und verdiente mir meine fünf bis zehn Mark. Aber ausgegeben habe ich das Geld nie. Denn ich brauchte es auch nicht auszugeben. Wenn ich mal eine neue Hose brauchte – und das kam vielleicht einmal im Jahr vor –, wurde ich von meiner Mutter zusammen mit meinen Brüdern durch die Stadt gescheucht, um in jedem Laden nach den günstigsten Angeboten zu suchen, obwohl ich es hasste, diese billigen Jeanshosen tragen zu müssen. Während meine Schulkameraden Levi’s und Wrangler trugen und dazu Schuhe von Adidas oder Puma bekamen, schämte ich mich für die Jinglers-Hose von C&A, die mit ihrem penetranten Glöckchen am Schlag die ganze Stadt voll bimmelte, sodass man mich schon von weitem hörte wie eine Kuh auf dem Abtrieb von der Alm. Auch meine Schuhe waren meistens NoName-Produkte aus der Kaufhalle oder – was noch viel schlimmer war – gebrauchte Schuhe, die uns unsere Nachbarn »freundlicherweise« von ihren mittlerweile erwachsenen Kindern überlassen hatten. Sparsam waren meine Eltern, das muss man zugeben, aber nicht besonders modebewusst. Geizig waren sie nicht, aber auch nicht übermäßig spendabel. Und wenn es eines triftigen Grundes bedurft hätte, uns Kinder in bessere Klamotten zu stecken, so wäre es der Schutz vor dem Hohn der Mitschüler gewesen, dem sie uns in unserer lächerlichen Montur aussetzten. Vielleicht aber war das Ganze auch nur eine Anleitung zur Bescheidenheit. Möglicherweise geht es auch im späteren Leben nicht um die Markenhose oder die tollen Schuhe, die man sich leisten kann, sondern um das Funktionale daran, dass man überhaupt Schuhe hat, die einen vor Kälte schützen. Auch wenn 117
wir als Kinder nicht immer begriffen haben, ob die Eltern einer bestimmten Philosophie folgten, wussten wir doch im Innersten stets, dass sie es gut meinten. Deshalb vertrauten wir ihnen und wagten nicht den Konflikt, der dadurch hätte entstehen können, dass wir ihnen schilderten, wie sehr es an uns nagte, dass wir nicht zur großen Masse der Konsumenten gehörten, weil uns die Insignien des alltäglichen Reichtums vergönnt blieben. Und so wusste ich eigentlich auch nicht genau, weshalb ich diesen Job in der Heißmangel erledigte. Denn eines war mir klar: Ich konnte das mühsam erarbeitete Geld unmöglich für eine ordinäre Hose oder einen gewöhnlichen Gebrauchsgegenstand ausgeben. Ich tat die Arbeit um der Arbeit willen. Ich wollte die Körbe um des Schleppens willen tragen. Ich wollte mir nicht einbilden, dass die Last einen Sinn haben könnte; ich wollte sie einfach nur bewältigen, um sie in der nächsten Woche wieder vor mir zu sehen. Die Anstrengung glich einer Meditation, und die Arbeit war eigentlich keine Arbeit, sondern eine Schulung meiner Ausdauer, meiner Disziplin, meiner Selbstbeherrschung und meiner Zielstrebigkeit. Und so kam der Tag, an dem ich fast fünfhundert Mark zusammengespart hatte, bloß durch die schnöde Schlepperei der immer wieder aufs Neue zu mangelnden Wäsche, die ich keuchend durch die Innenstadt bugsierte. Fünfhundert Mark waren mehr, als ich mir jemals hatte vorstellen können. Ein unermesslicher Reichtum, der sich nach jahrelanger harter Arbeit in meinem Besitz befand. Aber was sollte ich damit nun anstellen? Sollte ich die Arbeit auf der Stelle kündigen? Oder sollte ich vielleicht auf ein konkretes Ziel weitersparen, um die Palette der Möglichkeiten zu erweitern, die ich mir nun für meinen Schatz leisten konnte? Oder sollte ich lieber weiterhin nicht an das Ziel denken und auf einen Augenblick warten, der eines Tages erfordern könnte, eine solche Summe vorweisen zu können? 118
Ich hatte schon oft in den Vernunftpredigten der Erwachsenen von Vorsorge und Anlage gehört, davon, dass man in jungen Jahren auch an die Zukunft und das Alter denken solle, dass man nie verschwenderisch und immer achtsam sein müsse, aber wirklich bedeutet hatte es mir bislang nichts. Und wenn ich bisher schon ohne Geld ausgekommen war, so würde es doch auch in ferner Zukunft einfach sein, eine schwierige Situation zu überstehen, ohne gleich das Konto zu plündern oder das Ersparte auf den Kopf zu hauen. Je länger ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, wie schwer die Verantwortung auf mir lag, das Geld einem der Mühe entsprechenden und dem Anspruch gerechten Ziel zuzuführen. Fast spürte ich, wie der Besitz des Geldes mir die Freiheit der Alternativlosigkeit geraubt hatte und meine Gedanken über eine sinnvolle Verwendung viel anstrengender waren als die Arbeit, mit der ich diese angebliche Vielfalt erworben hatte. Und so kam mir endlich der erlösende Gedanke, auf den ich schon lange gewartet hatte. Die Idee, die ich brauchte, um das Mögliche mit dem Sinnvollen zu verbinden, ein Brückenschlag zwischen meiner tiefen Sehnsucht nach Freiheit und meiner Arbeitsmoral: Ich kaufte mir von dem gesamten Geld, das ich verdient hatte, ein nagelneues Fahrrad, mit einem stabilen Gepäckträger und einer perfekten Federung, damit ich nicht nur in meiner Freizeit etwas hätte, das meinen großen Bruder neidisch machte, die Mädchen auf der anderen Straßenseite beeindruckte, meine Wege verkürzte und meine Geduld, das Gelächter der Schulkameraden zu ertragen, nachträglich aufwertete. Dieses Fahrrad konnte ich auch bei der Arbeit einsetzen: als Lastenträger für die schweren Wäschekörbe, um damit erstens schneller und zweitens ohne Anstrengung für eine pflichtbewusste, jedoch nunmehr ästhetisch aufgewertete Erledigung der mir aufgetragenen Arbeit zu sorgen.
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Das Fahrrad war wunderschön. Es war goldfarben und hatte eine geschwungene silberne Lenkstange. Der Sattel war aus schwarzem Kunstleder, und die Klingel machte ein volltönendes Bimmelgeräusch, wenn man den Hebel nach vorn drückte. Der Händler, dem ich das sorgfältig abgezählte Geld in die Hand drückte, schenkte mir zum Anlass dieses feierlichen Tages sogar eine Luftpumpe, die ich ordentlich an der Querstange des Fahrrads befestigte. Aber vorerst würde ich keine Luftpumpe brauchen. Denn mein Fahrrad war neu, und die Reifen waren prall gefüllt mit frischer Luft. Es blitzte vor Stolz und schwebte über den Asphalt wie ein Vogel über das Meer. Es war ein wunderbares und zugleich erhebendes Gefühl, durch die Stadt zu fahren und den Fahrtwind in den Haaren zu spüren. Und als endlich der nächste Freitag kam und ich wieder zur Arbeit musste, war ich schon ganz gespannt auf die Blicke der beiden Frauen in der Heißmangel und ihre Bemerkungen, ihre bewundernden Laute und ihre neidischen Begutachtungen. Vielleicht hatten sie bisher gedacht, ich sei nur ein gewöhnlicher Wäscheträger gewesen. Nun aber war ich Lieferant. Die Kunden würden sich die Augen reiben, wenn sie mich erblickten. Überall würde man mich an meinem wunderschönen Rad mit dem Wäschekorb hintendrauf erkennen; die Leute würden mir zuwinken, es gäbe bei der nächsten Kirmes vielleicht sogar eine Parade nur für mich. Ich würde durch die Menge der jubelnden Kunden fahren, die beiden Frauen aus der Heißmangel wären da und die Verkäuferin aus dem Eierladen würde mit Straußeneiern jonglieren; zahlreiche Mädchen, bei denen ich ohne Fahrrad bisher nie landen konnte, würden mir zuwinken. Am nächsten Freitag belud ich also das Fahrrad mit dem erstbesten Korb und machte mich zu einer Kneipe auf, zu der ich sonst immer nur ungern ging, weil sie so weit weg war und fürchterlich nach abgestandenem, kaltem Rauch stank. Sie lag etwa drei Kilometer von der Heißmangel entfernt. Eine gute Gelegenheit, in Zeitlupe und doch in doppelter Geschwindigkeit 120
aufzubrechen und dem Objekt meiner Leidenschaft den richtigen Auftritt und die gebührende Einweihung zu verschaffen. Und als hätte ich es geahnt: Kaum hatte ich den Korb aufgeladen, wurde ich auch bereits gesehen. Eine Mitschülerin, in die ich seit geraumer Zeit verknallt war – schwarze Haare, wunderschöne braune Augen –, kam von der anderen Straßenseite auf mich zu und sprach mich prompt auf das neue Vehikel an. Ich zeigte ihr den Dynamo, ich führte ihre zarte Hand über den Sattel und bat sie, grundlos zu klingeln. Danach verabschiedete ich mich mit einem geschäftigen Kuss auf ihren süßen Mund und sah in der gewölbten Spiegelung der Klingel, wie sie, offensichtlich tief beeindruckt, stehen blieb und mir hinterherwinkte wie ein Mädchen, das einen Seemann in den Krieg verabschiedet. Angekommen bei der Kneipe, lud ich den Korb mit Leichtigkeit ab, stemmte ihn in die Höhe und transportierte das einstmals ungeliebte Stück mit einem Elan in die Stube, als wäre ich der Wind persönlich. Und so, als hätte meine Arbeit durch das Fahrrad, die neue Liebe und mein inneres Glück plötzlich einen neuen Anstrich gefunden und ich die Ausstrahlung der vollkommenen Zufriedenheit erlangt, bekam ich prompt und zum ersten Mal satte fünf Mark Trinkgeld für die akkurate und überaus freundliche Erledigung meines Auftrags. So ging es einige Tage weiter. Doch ich gewöhnte mich schnell daran. Vielmehr noch: Wo ich früher mühsam Körbe schleppte, begann mir nun plötzlich die Fahrerei schwer zu fallen; ich keuchte fast bei jedem Tritt in die Pedale, und das Fahrrad hatte bald an Glanz verloren. Die Kunden waren mürrischer als je zuvor, ich wurde bei dem ständigen Regenwetter klitschnass, die Reifen verloren an Profil und wurden anfällig für die Unebenheiten des Gewöhnlichen, und das Mädchen habe ich auch nie mehr wieder geküsst – sie hatte jetzt einen älteren Freund, der sie mit dem Wagen von der Schule abholte. Bald darauf wurde mir das Fahrrad gestohlen. Ich hatte es 121
unvorsichtigerweise, ohne es abzuschließen, vor der Tür eines Kunden stehen lassen. Und so hatte ich in einem Moment mein ganzes Vermögen verloren – und zugleich auch meinen kurzen Traum. Ich kündigte die Stelle und beschloss, endlich erwachsen zu werden und Ziele zu suchen, die einfacher zu erreichen sind. Gefunden habe ich jedoch keine!
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Türkisch-Deutsch für Anfänger und Fortgeschrittene
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HEIDEWITZKA, HERR KAPITÄN Meine Eltern sprechen eine seltsame Kunstsprache. Obwohl sie eigentlich Türken sind und ihre Muttersprache Türkisch ist, verwenden sie seit ihrer Ankunft in Deutschland – vor etwa vierzig Jahren – zunehmend deutsche Wörter oder das, was sie für deutsche Wörter halten. So ist im Laufe der Jahre dabei eine Spezialsprache entstanden, die für fremde Ohren exotisch klingt, für mich aber ein fester Bestandteil meiner Erinnerung geworden ist und nicht selten auch dafür sorgte, dass ich mich für meine Eltern geschämt habe, obwohl sich mancher solche Eltern wünschen würde. Ganz anders als die meisten Menschen in diesem Land es sich von Türken vorstellen, gehen die beiden gern in deutsche Kneipen, essen Bratwurst und trinken Bier oder Schnaps. Schon in den Siebzigerjahren, als mein Vater langsam anfing, die Deutschen zu schätzen, und meine Mutter aufhörte, sie zu verachten, traf man sich bei »Erika«, einer schmierigen und vom Zigarrenrauch ganz vergilbten Kneipe um die Ecke, und debattierte zwischen Fußballwimpeln und Sparbüchsen, bei Altbier und Goudakäse am Stiel über die Fremde, den Bosporus und Fußball. Vielleicht lag es an der Kommunikationsfreude meiner Eltern, vielleicht an ihrer Ausstrahlung, vielleicht aber auch daran, dass es zu dieser Zeit kaum andere Türken in unserer Stadt gab – die Stammgäste der Kneipe mochten meine Eltern binnen kürzester Zeit so sehr, dass sie ihnen eingedeutschte Namen gaben, denn sie konnten die komplizierten türkischen Buchstabenschlangen genauso wenig aussprechen wie meine Eltern die zungenbrecherische Abfolge von Konsonanten und Umlauten im Deutschen. 124
So entstanden zahlreiche Wortgebilde, deren Melange nicht zuletzt ein Ausdruck der beiderseitigen Annäherung war – und so gesehen der Prototyp einer internationalen Sprache, die man im Umgang miteinander benutzte, um dem anderen zu zeigen, dass man sich um seine Gunst bemühte. »Auf Wiedersehen« hieß für meinen Vater zum Beispiel »Aufwillassen«, denn im Türkischen spricht man alle Vokale kurz aus. Deshalb hieß der Personalchef der städtischen Müllabfuhr, bei der mein Vater lange Jahre arbeitete, auch nicht »Herr Kappelmann«, sondern schlicht und einfach nur »Kapplan«, während mein Vater für die Deutschen nicht »Süleyman« mit kurzem ü und vollem l, sondern »Süllemann« hieß. Meine Mutter, die eigentlich »Sabiha« heißt, wurde einfacherweise und kurzerhand als »Sabine« oder noch einfacher als »Frau Süllemann« eingebürgert. Da meine Eltern Deutsch nur als rheinischen Dialekt kannten, geschah es auch, dass sie Begriffe wie »Kappes« für Kohl, »Kopp« für Kopf und schließlich »Kappeskopp« als Beleidigung unbeliebter Zeitgenossen einsetzten oder feststehende Redewendungen und Ausdrücke – etwa »Leck misch ens en de Täsch« – für den spontanen Ausdruck des Erstaunens in ihre Ausführungen einwoben und so für zusätzliche Erheiterung und insgeheime Anerkennung in ihrer Kneipenszene sorgten. Eine aberwitzige Situation. Ein türkisches Ehepaar (er: Müllmann, sie: Hausfrau) lässt allabendlich seine Kinder allein, um – ohne jede Sprache und ohne jede Kenntnis von der vermeintlich fremden Kultur – in die nächstbeste Kneipe zu gehen und Menschen kennen zu lernen, Spaß zu haben und den Menschen in die Augen zu schauen. »Tach Süllemann, tach Sabine, wie jeht et mit eusch?« »Kollega, heude, leck misch ens en de Täsch, vill Arbait, aba nikis schilim, weil negste Monatt Süleymann gehen Turkei, hamdi Urlob. Ach be, Urlob gut. Hia imma scheiße Wetta. Gute Loite, aba scheiße Wetta.« 125
»Hörens, Süllemann, wie is dat denn bei disch en de Türkei mit dem Wetta? Isch han jehöt, dat et zimlisch heiß sinn soll? Mit minnem Häz, kannse doch nit bei Fufzich Jrad en de Sonn schwitze. Da jehse doch kapott, wa? Aber isch han och jehöt, dat dat Essen so lecka sinn soll. Schmeckt dat dan, do mit dinne Sukimi und Obajina-Zeuchs, sachens?« »Nikis do Kappeskopp, in Türkei Obajina is Pathcan, vill lecka, kanns du purobire, wann du hamdi komme bei uns, und die Wetta is auch gut, wia hamdi ungefia zuwischen dreisik und vizisch gurad, aba nikis schilim, weil imma hamdi wind, vestehs du?« (Die Partikel »hamdi« sollte als universelles Bindeglied die falschen Wortkonstruktionen gleichmäßig aneinander fügen, sie besaß keine feststehende Bedeutung.) »Und, wat habt hä da sons noch zu essen? Isch mein mit dem Knobloch, dat is doch lecka, aber isch han jehöt, de Alkohol war verboten, von wejen dem Allah und so.« »Nikis Allah, wenn du wills saufen, keini Puroblem. Allah is keine Unmensch. Sags du: ›Prost, Prost, Kamarad! Heidewitzka, Herr Kapitän! Nasdrovje, Gospodin!‹« Wenn ich heute überlege, wem mein Vater durch seine Offenheit Interesse für seine übernationalen Kalauer abgerungen hat, dann staune ich manchmal. Der schlimmste Nazi, die verknöchertste Oma und der letzte Ausländerhasser standen um meine Eltern herum und interessierten sich plötzlich für das türkische Wetter, ließen sich beschreiben, wie man eine Aubergine richtig schält oder eine Zucchini aushöhlt, um sie mit Hackfleisch zu füllen, und tanzten zu fortgeschrittener Stunde sogar zu türkischer Musik, während mein Vater als Gegenleistung eine Blasmusik dirigierte und mit schnauzbärtiger Attitüde Hasstiraden gegen unliebsame Schmarotzer parodierte und so die Anwesenden zu Lachsalven über sich selbst nötigte und ihnen gleichzeitig ungewollt einen Spiegel vorhielt. Offensichtlich waren die beiden für die anderen Kneipengäste nach einiger Zeit nicht mehr fremd. Nicht weil sie die Sprache 126
mittlerweile etwas besser beherrschten, sondern weil sie keine Angst hatten, sich anzunähern, weil sie interessiert waren und dadurch Interesse weckten. Tatsächlich scheint es ein Hauptmotiv von Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit geblieben zu sein, dass man sich mehr vor dem Ungewissen fürchtet als vor der Ähnlichkeit. Und zwischen diesen Leuten, die dort an der schmalen Theke bei Altbier und Käsestangen standen, gab es eigentlich keinen großen Unterschied. Sie waren genauso spießig, genauso lustig, genauso tiefgründig und genauso oberflächlich wie jeder andere auch. Das kleine Stück Papier mit dem Stempel spielte keine Rolle, es gab keine Grenzen mehr. Was für eine romantische Vorstellung, dass es überall so gewesen sein könnte. Ich glaube heute nicht mehr daran. Ich glaube, meine Eltern waren von Anfang an keine »richtigen« Ausländer und immer bereit, sich anzupassen. Ich glaube, sie hatten in ihrer Heimat keine Möglichkeit, ihren Anarchismus zu entfalten, ihre Neugier zu stillen und ihren Tatendrang zu befriedigen, ohne an der Enge der Einfältigkeit ihrer Umgebung zu ersticken. Deshalb sind sie einfach nach Deutschland geflüchtet und haben hier instinktiv das getan, was sie tun mussten, um sich nicht die Chance zu verstellen, in einer anderen Welt anders sein zu können, ohne missachtet zu werden. Sie haben ihre Tore geöffnet und ihre Ketten abgelegt; sie haben ihre Ohren gereinigt und ihre Augen gewaschen, und ihre Zungen waren nicht gelähmt, sondern nur langsamer, als sie denken konnten. Sie haben sich befreit von der Zwangsvorstellung, dass man nur unter seinesgleichen glücklich werden kann. Was ist daran schlecht? Die Anpassung? Der Identitätsverlust? Der Verrat an der eigenen Kultur, die Schmeichelei der neuen gegenüber? Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, weshalb diese Deutschen in der Kneipe interessierter an unserer Kultur waren, als man es gemeinhin gern behauptet. 127
Aus der ersten Begegnung wurden schließlich langjährige Freundschaften. Man besuchte sich, man kam sich näher und spürte die feinen Unterschiede, denen Beachtung zu schenken sich lohnte. Meine Eltern kauften sich Kassetten mit deutscher Musik und schwärmten vom Urlaub in den Alpen, meine Mutter mochte plötzlich Bratwurst mit Sauerkraut, während die deutschen Freunde mit Vorliebe arabesken Klängen lauschten und bald ihre ersten Flüge in die Türkei buchten, um den Reiz des Fremden aus einer neuen Perspektive betrachten zu können. Man traf sich mittlerweile nicht mehr in der Kneipe, sondern zu Hause. An unserem Küchentisch saßen nun regelmäßig auch die vermeintlichen Schreckgestalten und Meinungsfetischisten aus der Kneipe genauso wie die Unbelehrbaren und die Arroganten. Allesamt löffelten sie, umgehend ihre einstigen Vorbehalte leugnend, unsere anatolischen Bauernsuppen aus – die nicht wir ihnen, sondern sie sich selbst eingebrockt hatten –, rühmten freudig erregt unsere Aufläufe – und stanken danach verräterisch aus dem Mund – und schwärmten für die süßen Nachspeisen, kauften sich sogar kleine bauchige Teetassen und brühten sich zu Hause schwarzen Tee darin. Letztendlich aber ist das Wesen des zwischenmenschlichen Umgangs immer gleich geblieben. Er ist vor allem geprägt durch Sympathie und Antipathie. Es erfordert soziale Intelligenz und die Bereitschaft, sich selbst zu überwinden, um die Grenzen der anderen zu durchbrechen. Weshalb spielt es überhaupt eine Rolle, ob jemand schwarz ist oder weiß oder gelb oder grün? Weshalb müssen türkische Eltern ihre Töchter nur mit Türken verkuppeln und Deutsche um ihre Ehre fürchten, wenn ihre Frauen von Ausländern begehrt werden? Warum gibt es so viele Sprachen und doch immer wieder nur die gleichen Empfindungen? Angst, Freude, Eifersucht, Mut, Hass, Liebe, Trauer, Neugier, Leid und Leidenschaft. 128
Rückblickend betrachtet waren meine Eltern wahre Botschafter der Völkerverständigung. Denn während wir Kinder auf der Suche nach unserer Identität lange Zeit glaubten, uns zwischen den beiden Kulturen entscheiden zu müssen, balancierten diese beiden Menschen spielerisch – und unbewusst – auf einem schmalen Grat zwischen Anpassung und Verkrampfung. Wir können dankbar sein für das, was sie uns vermittelt haben. Die Kneipengäste können dankbar sein, dass sie dort getrunken haben. Meine Eltern können dankbar dafür sein, dass sie dort überhaupt ein Bier bekommen haben.
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Eine Liebesgeschichte aus der Socke
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BUSENWUNDER Alle Welt wusste, dass mein Freund Volkmar seine voll gewichsten Socken in einem Klarinettenkoffer unter seinem Bett versteckte. Nur ich kam viel zu spät darauf, welchen Entstehungsgrund der seltsame Geruch in der Kiste hatte, die ich ab und zu öffnete, wenn ich bei ihm war und ein wenig Musik machen wollte. Aber Volkmar war mein Freund, und wichsen musste er auch. Schließlich waren wir in der Pubertät, und da gab es eine Menge Fantasien, die unsere Erregung bewirkten. Ich war vierzehn. Volkmar war ein Jahr älter als ich. Er lebte mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern in einem schicken Einfamilien-Reihenhaus in einer Siedlung auf der anderen Seite des Bahndamms, an dem auch wir zu dieser Zeit wohnten. Aber während Volkmars Elternhaus weiß getünchte Wände hatte und im Wohnzimmer antike Möbel auf edlen orientalischen Teppichen standen, konnten wir uns zu dieser Zeit gerade mal einen gebrauchten Schrank vom Sperrmüll und eine durchgesessene Sofagarnitur leisten. Ich habe deshalb immer angenommen, dass Volkmars Eltern reiche Leute waren. Rückblickend betrachtet scheinen sie eher Mittelmaß gewesen zu sein. Auf jeden Fall waren sie wirklich nett. Die Mutter hatte bereits graue Haare und wirkte sehr gelassen und geduldig. Sein Vater hatte einen Kinnbart und wusste immer alles besser. Auch Volkmars Geschwister waren immer nett zu mir. Der jüngere Bruder spielte Trompete und sprach nicht viel, der ältere Bruder spielte Posaune und redete ohne Punkt und Komma, und die Schwester spielte kein Instrument und schien mich zu mögen. Volkmar hatte eine blühende Fantasie. Ständig kochte eine Geschichte in ihm hoch, und immer hatte sie etwas mit temperamentvollen Frauen zu tun, die sich ihm zu Füßen warfen und wollten, dass er sie in den aberwitzigsten Positionen vögelte. Er 131
schilderte haarsträubende Geschichten von Quickies mit den hübschesten Mädchen der Stadt, mit seiner Englischlehrerin, mit drei Frauen gleichzeitig im Aufzug oder mitten im Wald – und auch wenn ich wusste, dass die Geschichten nur erfunden waren, gefielen sie mir, weil ich vielleicht Ähnliches dachte, aber mich nicht traute, es vor anderen auszusprechen. Volkmar spielte Saxofon und Klarinette; wir kannten uns seit einigen Monaten. Obwohl wir schon immer sehr nahe beieinander gewohnt hatten, waren wir uns selten begegnet. Der Bahndamm, der uns trennte, war zugleich auch eine Demarkationslinie zwischen zwei unterschiedlichen Welten. Auf unserer Seite wohnten die Asozialen, die Arbeiter, die Ausländer und die aus der Nervenheilanstalt Entlassenen genauso wie die obskuren älteren Herren, die noch bei ihren Müttern lebten, und die alten Omas, die bis in die tiefe Nacht hinein aus ihren Fenstern schauten und zu allem einen Kommentar abzugeben wussten. Auf Volkmars Seite lebten die Anständigen, die Beamten, die Lehrer und Physiker und die Familien mit den mittelgroßen Autos, auf deren Dächer man im Winter die Skier schnallte und im Sommer die Fahrräder befestigte. Wenn jedoch die »besseren Leute« von Volkmars Seite des Bahndamms in das Stadtzentrum wollten, mussten sie unweigerlich an unserem Haus vorbei, denn es lag direkt an dem kürzesten Weg zu den Supermärkten und Geschäften, die beide Seiten nutzten, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Und so lernten wir uns eben eines Tages kennen und beschlossen, ohne es auszusprechen, uns regelmäßig zu treffen. Obwohl ich mir stets vorkam wie ein Fremdkörper, wenn ich bei Volkmar auftauchte, um mir seine Geschichten anzuhören, waren seine Eltern niemals unfreundlich zu mir. Ich bekam etwas zu trinken, ich durfte mir ein Schwarzbrot mit Nutella schmieren und im Wohnzimmer sitzen, ich wurde neugierig gefragt, wie es mir geht, und man lachte über meine vorwitzigen Bemerkungen. 132
Aber langweilig war es doch … bis ich eines Tages Anna begegnete. Anna war die beste Freundin von Volkmars Schwester. Sie war ziemlich klein und hatte knallrote Haare. Sie hatte viele Sommersprossen, ein bezauberndes Lächeln und zwei unglaubliche Brüste, die sich unter ihrem leichten T-Shirt abzeichneten wie erntereife Pampelmusen. Das mag seltsam klingen, aber für uns Jungs waren diese Dinger enorm wichtig. Sie waren nicht nur der Ausdruck von Weiblichkeit. Sie waren vielmehr ein Fleisch gewordenes Abbild unserer zahllosen Wunschträume und zugleich der Beweis dafür, dass es ein Gegenüber gab, das nicht nur Auslöser, sondern auch Empfänger unserer Begierden sein konnte. Ich traf Anna zum ersten Mal, als ich bei Volkmar in der Küche stand und darauf wartete, dass er vom Kiosk wiederkam, wo er rasch hingeradelt war, um uns zwei Eis zu kaufen. Anna kam gerade von einer Vorlesung an der Uni, um ihre beste Freundin zu besuchen, die sich offensichtlich verspätet hatte. Zunächst sprachen wir nicht viel. Zu fasziniert war jeder von der unerwarteten und ausschließlichen Anwesenheit des anderen; aber schon bald erfuhr ich, dass sie fünf Jahre älter war als ich, dass sie Kunstgeschichte studierte, dass sie keinen Freund hatte und seit kurzem einen schwarzen Fiat fuhr, dass sie auf der anderen Seite der Stadt wohnte, schon einmal im Urlaub in der Türkei war und sich sehr für das Land am Bosporus interessierte und es prima fände, wenn ich sie einmal besuchen würde, um mit ihr über die Kunst der osmanischen Dynastien zu sprechen. Eine Bedingung gab es nur. Diskret sollte es sein. Niemand sollte etwas davon erfahren. Schon gar nicht Volkmar, seine Schwester oder Eltern. Und so verließen wir die Küche, taten so, als hätten wir nie miteinander gesprochen, und gingen wieder in die Zimmer unserer Freunde, um ihnen zuzuhören und währenddessen von den unbekannten Reizen des Fremden zu träumen. 133
In den Augen derer, die immer gerade Wege gehen, wirkt es vielleicht absurd und sonderbar: Aber wenn man jung ist und es ist Frühling, riecht die Luft anders, die Zeit vergeht langsamer, die Geräusche haben eine andere Harmonie, und das, was man empfindet, kann in einem Moment ungeheuer wichtig und im nächsten unglaublich unwichtig erscheinen. Wenn man jung ist, sucht man immer nach dem Neuen, nach dem Unbekannten; man fühlt das Leben anders und intensiver; man empfindet die Dinge stärker und ihren Verlust heftiger. Vielleicht ist es genau das, was uns fehlt, wenn wir uns nach Jugend sehnen und an die Verzauberung vergangener Tage denken wie an ein Ding aus einer anderen Welt und uns fragen, wo unser Verlangen geblieben ist. Und so schien es weniger Kalkül als vielmehr eine seltsame Fügung zu sein, dass ich tatsächlich am nächsten Tag vor der Tür des besagten Hauses auf der anderen Seite der Stadt stand und auf eine Klingel drückte, um von der Welt der Vorstellung in die Welt der Verwirklichung zu treten. Anna sah hinreißend aus. Sie trug ein wehendes Kleid mit bunten Mustern und hatte ihre Haare hochgesteckt. Sie war barfuß, und ich konnte deutlich erkennen, dass sie unter ihrem Kleid keinen BH trug. Zu meiner Überraschung hatte sie heute eine Nickelbrille aufgesetzt, die sie aber in keiner Weise entstellte, sondern im Gegenteil ihren Sommersprossen eine noch sinnlichere Note gab. Als ich die Wohnung betrat, brach sie in eine plötzliche und überaus verlegene Hektik aus, so als wollte sie ihren Gastgeberpflichten durch allzu gründliches Handeln nachkommen. Sie nahm meine Jacke, sie brachte mir ein Glas kaltes Leitungswasser, sie stand auf und kam wieder zurück, sie eilte an das klingelnde Telefon, dann legte sie wieder auf, sie schrie aus dem hinteren Zimmer: »Einen Moment noch!« – und dann saßen wir endlich auf dem Sofa. 134
Wir unterhielten uns über ihre Augen und ihr Auto. Ich betrachtete ihr Gesicht, ihre Haare und ihre Haut, und ich fragte sie scheinbar interessiert nach den seltsamen Gegenständen, die es überall in ihrer Wohnung gab: einen indischen Holzelefanten, Skulpturen von nackten afrikanischen Frauen mit Vasen auf den Köpfen, bunt gepunktete Bilder aus der Karibik, farbenprächtige Stoffe aus China und eine knallrote Einbauküche aus Holland, ein französisches Bad voller unterschiedlichster Gerüche, ein schwedisches Schlafzimmer mit einem großem Bett, ein buntes deutsches Kleid auf dem Boden, eine viel zu enge türkische Jeanshose, ein T-Shirt, Schuhe, Strümpfe … Es war wunderbar. Zum ersten Mal erlebte ich das, wovon ich sonst nur in Volkmars Geschichten gehört hatte, in Wirklichkeit. Die runden Kugeln der Hochglanzmagazine, die wir zuvor eifrig in unseren erregten Erinnerungen abgespeichert hatten, waren nun echt, die Küsse waren wirklich feucht, die Zungen waren wahrhaftig ungeduldig, die Haare waren unendlich zerzaust, die Lippen unübersehbar geschwollen, die Finger unfassbar zärtlich, die Augen unentwegt geschlossen. Und doch war es irgendwie anders, als ich es aus den schlüpfrigen Erzählungen von Volkmar kannte. Obwohl ich es absurderweise vielleicht sogar ihm zu verdanken hatte, dass ich nun hier war; und ich hatte das Gefühl, stellvertretend für ihn all dies erleben zu können, ohne dabei auch nur den geringsten Anteil an ihn abgeben zu müssen. Doch erzählen konnte ich es ihm nicht, denn ich wusste, dass sonst unser süßes Geheimnis augenblicklich seiner belebenden Wirkung beraubt worden wäre. Und so trafen Anna und ich uns eine ganze Zeit lang wieder und wieder, ohne dass irgendjemand etwas davon erfuhr. Die Wochen vergingen wie im Flug. Wir begegneten uns weiterhin bei Volkmar zu Hause und taten stets so, als würden wir uns nur flüchtig kennen. Wir zehrten einerseits von dem Gedanken, dass niemand etwas von unserer Liaison ahnte, und glühten anderer-
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seits für den Moment, an dem unsere Liebe endlich offenbar würde. Volkmar erzählte mir weiter seine erfundenen Fickgeschichtchen, und seine Schwester verkroch sich weiterhin mit Anna in ihrem Zimmer, um über unerfüllte Hoffnungen zu spekulieren, bis der Sommer fast vorüber war und ich Anna zum ersten Mal zu mir nach Hause einlud. Ich wollte, dass sie endlich auch einmal meine Umgebung sieht, sieht, wie ich lebe und wohne. Wenn sie mich wirklich liebt, so dachte ich, dann wird es sie nicht stören, dass unsere Sessel vom Sperrmüll sind und unser Haus eine Bruchbude ist. Wenn sie mich wirklich liebt, dann wird es ihr gefallen – und dann liebt sie mich wirklich richtig. Es machte ihr überhaupt nichts aus. Im Gegenteil: Sie war angetan von der Bausubstanz unseres ehrwürdigen Heimes; sie schwärmte von den türkischen Süßspeisen, die sie sonst nur aus dem Restaurant kannte; sie begutachtete unsere Teppiche und hielt sie für wertvolle Kunstgegenstände, und sie lag genauso nackt und verlangend auf meinem Bett wie ich auf ihrem, und unsere Küsse waren die gleichen hingebungsvollen wie zuvor bei ihr, so wie unsere Finger sich gleich bewegten und unsere Augen wieder geschlossen waren. Aber ich Idiot hatte vergessen, meine Tür abzuschließen. Plötzlich stand meine Mutter im Zimmer. Mit hochrotem Kopf drehte sie sich wortlos auf dem Absatz um und stürmte in die Küche. Der Schreck war uns in alle Glieder gefahren, und wir schämten uns. Aber es war nicht der Umstand, bei unserem Liebespiel erwischt worden zu sein, der uns dieses unangenehme Gefühl gab, sondern vielmehr eine diffuse Ahnung, dass es ein Fehler gewesen sein könnte, unsere beiden, so weit von einander entfernten Welten durch solch ein unmittelbares Gefühl wie unsere Verliebtheit miteinander verbinden zu wollen.
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Müde kletterten wir aus unserem Liebesnest und zogen uns an. Wir sprachen kein Wort. Wir hätten ohnehin keine Gelegenheit gehabt, uns zu beraten, denn schon wurden wir von meiner Mutter mit barscher Stimme in die Küche gerufen. Sie hatte zwei Teller mit Suppe auf den Tisch gestellt, so als hätten wir danach verlangt. Schweigend wies sie uns an, Platz zu nehmen. Wir folgten ihrer Aufforderung und schlürften, wohl eher symbolisch und mit schlechtem Gewissen, die Suppe, die wir uns durch unser unbezwingbares Verlangen selbst eingebrockt zu haben schienen. Nach einer kleinen Ewigkeit begann meine Mutter zu sprechen – oder vielmehr zu fragen: »Wie alt sind Sie, junge Frau?« Ihre gezähmte Wut in vordergründiges Interesse kleidend, bohrte sie ohne Unterlass: »Sind Sie deutsch? Woher kommen Sie? Was sind Sie von Beruf?« Anna gab ihr freundlich Auskunft: »Ich bin neunzehn Jahre alt. Ich bin Deutsche. Ich komme ursprünglich aus Hamburg. Ich habe dieses Jahr angefangen zu studieren«, worauf meine Mutter wie aus der Pistole geschossen schnarrte: »Schämen Sie sich nicht? Haben Sie keinen Anstand? Offensichtlich kennen Sie es nicht anders, dafür habe ich Verständnis, aber dann sollten Sie auch nicht unsere Söhne mit Ihren seltsamen Sitten verderben. Unsere Bräuche sind anders. Anscheinend haben Sie noch nie etwas davon gehört. Bei uns ist es nicht üblich, jemanden auf der Straße kennen zu lernen, seine Kleider auszuziehen und sich das zu nehmen, was man braucht. Bei uns werden die Frauen ausgesucht, und sie müssen einen hohen Preis für ihre Freiheit zahlen.« Sie meinte damit wohl, dass die türkischen Mädchen die Heirat als Befreiung von der Bevormundung des Elternhauses empfinden und dafür ihre Jungfräulichkeit gern opfern. »Bei uns geht es um Familie, Ehre, um die Reinheit des weiblichen Körpers, um Heirat und das Leben«, fuhr sie fort. »Denken Sie darüber einmal nach, bevor Sie das nächste Mal wiederkommen. Und wenn Sie keine
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passende Antwort finden, dann bleiben Sie da, wo Sie hergekommen sind!« Ich konnte verstehen, dass meine Mutter eifersüchtig war. Noch nie hatte sie ihren Sohn mit einer anderen Frau gesehen. Aber dass sie mir so sehr in die Parade fahren musste und diesen erfundenen Kram von Ehre und Reinheit ohne mit der Wimper zu zucken in ihr seltsames Plädoyer einwob und unser Verhältnis gleich zur Frage über Leben und Tod machen musste, war doch wohl eher eine geschickte Finte, um zu prüfen, wie ernst es uns war, als eine tatsächliche Beschreibung unserer Traditionen und Gepflogenheiten. Woher sollte meine Mutter, die aus Istanbul stammte und eine liberale Erziehung genossen und demzufolge auch nie ein Kopftuch getragen hatte (geschweige denn jemals eines tragen würde), von Frauenhandel und Mitgift wissen? Das kannte sie wohl nur aus den Erzählungen der Deutschen, die es wiederum aus den Fernsehberichten über fremde Welten erfahren hatten und daran glaubten wie an eine unsichtbare Wahrheit. Ich wollte Anna erklären, dass es auch bei uns Eifersucht und Gehässigkeit gibt und Ironie als Stilmittel der Rhetorik eingesetzt wird, wir nicht mit den Fingern essen, unser Fleisch nicht mit Pfeil und Bogen erlegen und uns nicht auf Bäumen kleine Hütten bauen und sie erst gar nicht denken sollte, dass alle türkischen Frauen als Jungfrauen in die Ehe gehen. Ich wollte ihr klar machen, dass ihr ihr eigenes Trugbild im Wege stand und sie in die Falle gelaufen war, die ihr von ihrer oberflächlichen Begeisterung für das Unbekannte gestellt worden war, und dass es immer ein Fehler ist, an Trugbilder zu glauben, ohne den aufrichtigen Willen zu haben, diese zu Abbildern des Tatsächlichen werden zu lassen. Sie musste nicht schuldbewusst interessiert sein, sondern hätte nur selbstbewusst fragen müssen, wie es wirklich ist. Doch ehe ich all das sagen konnte, war sie weg.
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Wir begegneten uns noch eine Zeit lang bei Volkmar, und plötzlich spürten alle, ohne dass sie die Entwicklung unserer kurzen Beziehung bemerkt hätten, dass neuerdings etwas Unausgesprochenes und Unüberwindbares zwischen uns stand. Sie hielten es für Antipathie und ein »Missverständnis«. So, wie man es hier immer nennt, wenn man Dinge nicht erklären kann. Aber es gab nicht den geringsten Grund, traurig zu sein. Etwas Wirkliches erlebt zu haben war schließlich immer noch besser, als an die Wirklichkeit zu denken wie an etwas Unerreichbares und die Ergüsse seiner erdachten Gelüste allabendlich in eine Socke zu spritzen.
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Eine Geschichte, die ich in meiner Pubertät während eines Aufenthalts in Wien geschrieben habe.
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DIE SCHLANGE ZWISCHEN MEINEN BEINEN Ob in dunklen Schatten langer Nächte, in der gleißenden Grelle vorüberfliegender Tage, in der Hast oder in der Muße: Stets ist die Suche der Weg des Gerechten, stets die Lust das Laster auf der Schwelle und der Sinn nicht das Gefühl, sondern die Frage vor der Buße. So steht es auch in unsren Büchern, dass wir das, was wir begehren, nie erhalten und das, was wir verlieren, nicht wirklich verehren. Daher gestehen wir! Wir machen es. Genauso oft wie jeder andere auch, vielleicht gar öfter. Genauso versteckt, mit verdrehten Augen und offenem Mund, mit schlechtem Gewissen und klebrigem Rock, mit hastigem Blick und viel versprechendem Ton – im Bad, im Bett, im Salon, im Park, in der Kutsche, in der Stube, auf der Bühne oder im Wald. Vielleicht stellen wir uns dabei etwas vor; vielleicht sehen wir uns selbst von außen; vielleicht stellen wir uns vor, wie andere uns sehen oder wir andere dabei sehen; vielleicht haben wir Angst und gerade das bereitet uns Freude; vielleicht können wir es kaum erwarten bis zum nächsten Mal; vielleicht haben wir schon seit Jahren kein nächstes Mal mehr gehabt. Und doch: Angefangen hat es bei uns allen auf die gleiche Art und Weise. Denn die Liebe ist ein sonderbares Ding. Zum einen ist sie ungeziemt, oft barsch und selten auch genießerisch, zum andren ist sie anschmiegsam und teuflisch, zuweilen auch verführerisch. Anderen gegenüber schwärmerisch. Auch sich selbst sucht gelegentlich ein jeder, das steht fest. Verrät durch offene Lippen und hastigen Atem, durch den
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flackernden Wind im Haar, wie ungezähmt die Wollust in ihm flammt. Und dann, zu seltener Stunde, dann, wenn alles schläft, wenn sich die Welt in Ordnung wiegt und das eigene Reich der Träume plötzlich grenzenlos erscheint, kehrt es zurück, das Verlangen, die Bewegung im Wiegenden und Wogenden, das Hin und Her, die schmale Öffnung und der starke Stamm, der Ast und wie es sich dazwischen reibend macht und sich so das nötige Wehen verschafft. Besonders in der Jugend ist es schlimm. Denn dort, wo vorher nichts als eine seltsame Wucherung zwischen den Beinen war, nichts von Bedeutung, nichts, was uns begeistert hätte, war eines schönen Tages alles anders: Alles stand aufrecht, und dort, wo vorher die Dürre einer schier endlosen Wüstenei herrschte, zogen tosende Bäche ihre Schlingen durch sprießende Pflanzen. Vielleicht war es uns damals schon peinlich; vielleicht hatten wir Gelegenheit, uns zu beraten oder andere um Rat zu fragen; vielleicht glauben wir immer, wir sind anders, und merken doch nicht, wie alles um uns herum uns ähnlich ist. Denn auch ich wusste von nichts, als ich das erste Mal spürte, dass zwischen meinen Beinen eine unbekannte Macht regierte, die ich nur von Zeit zu Zeit bändigen konnte, indem ich ihr an die Gurgel ging und sie würgte wie eine wild gewordene Schlange. So denke ich oft noch an die sündhaften Gefühle meiner jugendlichen Sehnsüchte, als wären es die Gemälde meiner heutigen Begierden. So denke ich tagaus, tagein stets nur an das eine und bin doch nicht in der Lage, den Wunsch mit der Versuchung in Einklang zu bringen. Und hilft mir dabei mal ein Lustgespenst, ein Vehikel, eine Masche, ein Trick, dann ist es auf das Schnellste vorbei, verfliegt wie ein leiser Duft und vergeht wie ein Hauch in der unendlichen Kürze der Zeit. Die Liebe, die ich einst so fand, war also vielleicht nur mein eigenes Gebilde, ein Bild, in meinem Kopf entstanden. Ich trug 142
sie weit vor mir her, wie eine Kostbarkeit, deren Besitz mir nicht erlaubt, auch nicht erschlichen oder geraubt, aber doch zutiefst verborgen und in seiner Heimlichkeit umso edler zu sein schien. Ich dachte an ihr Haar, an ihre wundervollen Hände, an ihren Busen, das sich im Hin und Her des Atmens wiegende Dekolletee, ihren schlanken Hals, ihre sinnlichen Lippen und ein Augenpaar kaum zu vergleichen mit denen, die die Welt noch mit sich bringen sollte. Ich sehe sie in meinen Träumen, gar heute noch, elfengleich, mit Schwingen und sanftmütiger Gelassenheit. Ich sehe sie, und doch lege ich nur Hand an mich, um das wilde Tier zu bändigen, das sich zwischen uns stellt, gierig seine Beute zu verschlingen, damit die letzten Reste der trauten Zweisamkeit erhalten sind. Ich sehe auch die Bestie, dieses Monstrum wüten zwischen mir, sehe es zähnefletschend voller Angst, sehe es dann plötzlich wieder müde und dann in einem Moment wieder hellwach; und ich bin rat- und machtlos ob seiner Kraft, mich immer aufs Neue in dieselbe verhängnisvolle Richtung zu drängen. Dann denke ich, wie kann es sein, dass dieser zarte Hauch mit diesem Knüppel erschlagen werden soll. Denn auch dort, wo vorher nur Öde, Durst und Trockenheit, wuchsen nun die üppigsten Gebilde, gleich thronenden Gipfeln – bereit, erwartungsvoll gestürmt zu werden. Dort, wo vorher ein unschuldiges Pflänzchen einsam Wache hielt vor der Weiblichkeit Zauber, entspross nun ein Hain voll feist gewachsener Ähren, im Winde leicht wehend, hin und her bewegt vom Verlangen, dem Eindringling kaum freien Einlass zu gewähren. Ich frage mich, wie kann es sein, dass diese zarten Finger plötzlich Verbotenes tun, dieser Mund sich stülpt und diese Wölbung wiegt, peitschend, heischend, stechend, schlagend, pochend, verräterisch, drängend, in nicht auszuhaltender Gefangenschaft, ein Drangsal, ein Fluss, eine Kirche, ein Turm, in allen Farben voller Macht, in allen Tönen, mit einem Tusch, mit einem einzigen Paukenschlag, versiegend und doch wieder143
kehrend, lauter, immer stärker, immer mehr dem Einzigen entgegen, immer wilder und nicht auszumalen, wie gewaltig. Dann ist im selben Augenblick die Ruhe, dann ist es nur bruchstückhaft Momente lang vorüber; und die Schöne ist entschwunden aus meinen Gedanken – so schnell, wie sie wieder zurückkehren soll. Dann sehne ich mich, und frage mich doch wonach. Bis eines Tages die Stunde kommen wird. Dann steht sie plötzlich neben mir, hat offenes Haar und große Augen, ist gekleidet wie ein Nichts, ein seidener Luftzug für den kürzesten Augenblick. Sie öffnet mir die Tür, sie lächelt; wir sind allein, niemand ist da, der diesen Moment zerstören könnte. Es drängt mich, ihr ein Kompliment zu machen, und doch schäme ich mich. Es pocht unaufhörlich vom kleinsten Zeh bis zur Haarspitze, es fliegen Geräusche, es schwinden Gerüche, es nähert und entfernt sich schnell, es schlängeln sich Finger, es begehren sich Augen, es entzweien sich Sekunden und Stunden, und doch: Die Zeit steht still. Und so, als ob nicht immer schneller kommt als das, was geht; so, wie immer das passiert, was nie geschieht, spricht sie mit mir und gibt mir Zeichen, schlägt sie sich nieder und fordert scheinbar einen Kampf, eine Schlacht vor den Augen meines Meisters, ein Geständnis, ein Tribunal des verflogenen Geistes, eine Offenbarung, ein Monument, einen Widerstreit im letzten Hemd. Denn der Monoman hat sich nun verschworen, ist auferstanden zu nie gekannter Wesenspracht. Er weiß das jäh erschienene Morgendämmern einzuschätzen und reckt sich geil und triefend hin zur Freiheit und stürmt doch nur zur Hölle. Wie kann ich jetzt noch verbergen, was ich denke? Ich drehe mich, ich schweige, schlage Beine und Hände übereinander, lege Falten auf die Kuhle und drücke sie, dass sie mich schmerzt. Und sie, als ob sie wüsste, was die Stunde schlägt, gibt leise zu, es längst zu wissen, und lacht so laut, dass niemand es vergisst. Sie witzelt, frotzelt, stößt und schmeißt, sie liebäugelt, kegelt, läuft und reizt, sie fächert ein von Wollust geschwätziges 144
Lied auf den Boden, wo wir plötzlich liegen, ich auf ihr, sie auf mir; auf das Bett, wo wir Küsse tauschen; auf das Sofa, durch das Haar, auf den Hosenknopf, den Reißverschluss – gleich ist er da, der Moment, an den ich immer dachte. Nur noch ein Kuss, die Zungen, die sich streitend flechten, die Augen, die die Nähe nicht mehr entschärfen; gleich springt die Bestie aus ihrem Schrein, wird ermächtigt, ihres Amtes zu walten, und genau in dem Moment, da sie sich die größte Mühe gibt, ihn zu verwalten, in dem Moment, da sich ihre kalten, einst so begehrten Finger in die Spalte legen, springt er hervor wie ein wild gewordener Gaul, galoppiert, schlägt aus und windet sich wie ein frisch gefangener Aal. In diesem Augenblick, da röchelt, spuckt und zetert er und kürt die Peinlichkeit zum Sieger. Sie lacht, steht auf und gibt dem Vieh das weiße Todesgewand, als würde sie es betten. Sie hat verstanden, dass sie die wahre Meisterin ist und nur der, der sich ihr fügen kann, sie wirklich beherrscht. Seitdem ist das Leiden zu einem Teil von mir geworden; seitdem habe ich nie mehr an die Angst gedacht, die einen packt, wenn man vor dem steht, was man im Heimlichen stets begehrt. Seitdem habe ich verstanden, dass die Gedanken meist schöner sind als die Erkenntnis, dass die Fantasie ein einzig wahres Gebilde ist und noch höher steht als das der Liebe, aber dass weder Liebe noch Fantasie ohne ein Gegenüber kann und keine Blume riecht, wenn sie den Stängel nicht hat, der ihr das Wasser spendet.
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Eine Geschichte über unsere regelmäßigen Besuche im türkischen Konsulat
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WECHSELBAD Wenn man auf die Welt kommt, weiß man nicht warum und nicht woher. Man ist einfach da. Erst später beginnt man nachzudenken, wozu man gehört und warum man nicht zu der einen oder anderen Seite zählt. Ob es überhaupt von Bedeutung ist, für sich selbst sagen zu können, woher man kommt, und warum es für die anderen oft so wichtig ist. Irgendwann habe ich gemerkt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Alle anderen hatten helle Haare und helle Augen und weiße Haut, nur ich hatte dunkle Haare und braune Augen und eine Haut, die zwar nicht dunkel war, aber allzeit bereit zu sein schien, dunkel zu werden. Das hat seinen Grund, denn ich stamme nicht aus diesem Land, in dem ich lebe. Ich komme aus einem anderen Land. Obwohl ich schon lange hier lebe, merkt man trotzdem, dass ich etwas anderes bin; obwohl ich dieselbe Sprache spreche, sind die Gefühle, die ich beschreibe, nicht die gleichen wie die Empfindungen derer, denen ich sie mitteilen will. Wenn ich in der Sprache der anderen spreche, klingt meine Stimme nicht so, wie sie klingt, wenn ich meine eigene Sprache spreche; und meine Reaktionen sind nicht so wie die Reaktionen derer, die auf mich reagieren. Obwohl das alles vielleicht nichts zu bedeuten hat, spielt es eine große Rolle. In mir und außer mir. Obwohl ich es ebenso gern möchte wie mein Gegenüber, dass wir nicht nur die Hülle, sondern den Kern sehen, blicken wir doch immer nur auf unser Äußerstes und merken nicht, wie ähnlich wir uns im Innersten sind. Denn wir werden schon früh kategorisiert und vereinnahmt, wir werden Eigentum einer Nation nur dadurch, dass wir in der Nachfolge anderer stehen, die auch dieser Nation angehören, ohne dass sie etwas dafür können. Wir werden registriert 147
und in Karteien geführt, wir werden aufgefordert, uns zu melden, um Pflichten zu erfüllen; und wir werden auf unsere Rechte hingewiesen, ohne dass wir diese aus der Entfernung in Anspruch nehmen könnten oder wollten. Wenn man in einem fremden Land lebt, obwohl man sich in der Fremde mehr zu Hause fühlt als in seiner Heimat, erlebt man seltsame Sachen. Man wird begutachtet nach Größe und Haarfarbe, man wird belächelt und kontrolliert. Bei jeder Kontrolle ist man ein potenzieller Krimineller, und im Zweifelsfalle wird man reduziert auf seine Herkunft. Leistet man sich mehr als einem zusteht, wird man verwiesen und daran erinnert, wo man herkommt. Erreicht man etwas Besonderes, wird man gelobt – dafür, dass man als Fremder solch Außergewöhnliches zustande gebracht hat. Dabei ist das Wesen des Fremden nur für den Betrachter erkennbar, und der Fremde hält das, was er sieht, für fremd, weil er es vielleicht nicht kennt. Ich möchte nicht behaupten, dass es mich großartig gestört hätte, wie man mit mir umgegangen ist, aber beeinflusst hat es mich doch. Egal was ich gemacht habe und mache – als Fremder bin ich immer etwas Besonderes, ob ich das will oder nicht. Dabei ist Fremdsein überhaupt nicht möglich. Denn wie kann es einen Besitzanspruch auf ein Stück Erde geben? Der Fremde ist oft ein Bruder, und doch verachtet man ihn, weil man Angst vor ihm hat. Fremd zu sein heißt für manche auch Anspruch auf ihr Hab und Gut zu stellen, und wer Angst davor hat, dass ihm jemand etwas wegnimmt, ist wahrscheinlich nur habgierig und fürchtet Dinge, die er nicht beweisen kann. Schlimmer aber als die Respektlosigkeit der anderen ist die Verachtung der eigenen Leute. Denn als Türke in Deutschland bist du nicht nur fremd in den Augen der Deutschen. Wenn du mit Türken zu tun hast, die in der Türkei leben, bist du auch fremd: ein Deutschtürke, ein Mutant, ein Verschnitt, der nur das Schlechteste enthält. 148
Die Kälte der deutschen und die Unordnung der türkischen Seele, die Ungeduld und die Entflammbarkeit des türkischen, die Arroganz und die Passivität des deutschen Wesens. Obwohl du vielleicht beide Kulturen liebst, auf keinen Fall aber die eine oder andere verachtest, verlangt man von dir, dass du dich entscheidest, und macht dir insgeheim den Vorwurf, ein Verräter deiner eigenen Herkunft zu sein. Als ich wieder einmal im türkischen Konsulat in Düsseldorf stand und auf die Bearbeitung einer Lappalie wartete – inmitten eines Pulks von schwarzhaarigen Landsleuten –, wurde mir all das bewusst. Und ich fragte mich plötzlich, ob es einen Ausweg geben könnte aus dieser misslichen Lage, indem ich mich vielleicht ausbürgern lasse oder eine andere Staatsbürgerschaft beantrage. Aber was sollte sich dadurch schon ändern? Die Rechte an meiner Person würden einfach auf ein anderes Land übertragen, und dann könnte es noch schlimmer kommen. Ich weiß nicht, ob es Marokkanern, Libyern oder Tansaniern besser geht als Türken, aber ich gehe davon aus, dass auch sie ähnliche Probleme haben und zumindest in Deutschland nicht anders betrachtet werden als jeder andere Ausländer auch. Und so vergingen die Minuten, ohne dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte; ich wusste nur, dass es mir nicht passte, wie man mit seinen eigenen Landsleuten dort umging. Diese Menschen hatten ihrer Heimat nichts Böses getan. Im Gegenteil, sie liebten ihr Land und waren ihm treu verbunden, sie erfüllten mehr Pflichten, als Rechte zu fordern – und doch blickte man auf sie herab und schmähte ihre Anwesenheit mit müden Blicken und unwirschen Bewegungen. Denn für die Mitarbeiter des Konsulats waren wir nichts anderes als Arbeitsvolk. Nicht umsonst steht in jedem türkischen Ausweis unter Berufsbezeichnung »Arbeiter«, egal ob man studiert hat oder eigentlich einen Bauernhof besitzt. Für dieses Land sind die im Ausland lebenden Gastarbeiter in erster Linie Devisenbringer 149
und keine Künstler, Architekten, Ingenieure oder Ärzte, geschweige denn Intellektuelle oder Menschen mit dem Anspruch, etwas Besonderes sein zu wollen. Mein Vater war dieses Mal mit ins Konsulat gekommen. Er wollte mich bei der Aussetzung meines türkischen Wehrdienstes unterstützen, und so blickten wir schweigend auf die Tafel, auf der in Abständen, die wie Stunden schienen, Zahlen aufleuchteten, die den wartenden Menschen eine unausgesprochene Rangordnung der zuerst Erschienenen zuteilte. Auch wenn der türkische Staat sonst nicht viel mit den in Deutschland lebenden Türken am Hut hat, Wehrdienst sollten sie leisten; und wenn dabei nicht die deutsche Aufenthaltsgenehmigung verfallen soll, weil man zu lange außer Landes ist, gibt es die Möglichkeit eines verkürzten Dienstes gegen Zahlung einer hohen Ablösesumme. Ob das nun gerecht ist, gerechter als die Behandlung, die wir von den deutschen Behörden erfahren, weiß ich nicht. Aber während ich dort so stand und wartete, fielen mir plötzlich die Parallelen auf, und ich fragte mich, wie man anderen Vorwürfe machen kann, wenn man selbst schuldig ist, und wie man das von anderen einklagen möchte, was man selbst nicht zu geben bereit oder imstande ist. So hing zum Beispiel lange Zeit im Ausländeramt meiner Heimatbehörde ein Schild in türkischer Sprache an der Wand mit der Aufschrift »Bitte nicht anlehnen!«, worüber ich mir lange Zeit den Kopf zerbrach. Waren alle Ausländer nur Türken oder gab es andere Schilder, die ich nicht kannte? Und waren die Türken so schmutzig, dass sie die weiß getünchte Wand verdreckt hätten? Nun aber sah ich im türkischen Konsulat denselben Hinweis in deutscher Sprache. Dachten die türkischen Beamten etwa ähnlich über die Deutschtürken? Und sahen sie sich selbst vielleicht als Angehörige einer höheren Kaste, die sich vom Gros der anderen unterschied? 150
Je mehr ich über diese Kleinigkeiten mit großem Ausmaß nachdachte, desto schneller verging die Zeit, und endlich waren wir an der Reihe. Ein schnauzbärtiger Beamter nahm wortlos meinen Pass und blätterte – die halb abgebrannte Zigarette im Mundwinkel – mehrmals hin und her, als würde er besonders genau prüfen, ob er einer Aussetzung meines Wehrdienstes zustimmen könne. Wir schauten ihm geduldig zu, und ich versuchte, meinem Unmut Ausdruck zu verleihen, indem ich mich mit beiden Armen auf seinem Schreibtisch aufstützte und ihn so fixierte, dass er meinem strafenden Blick nicht ausweichen konnte, während mein Vater die Contenance bewahrte und freundliche Worte an den Mann richtete, ihn bat, unserem Anliegen unkompliziert Gehör zu verschaffen und meinen Antrag möglichst rasch zu bearbeiten. Aber es half nichts. Nachdem der Mann lange Zeit nicht gesprochen hatte und wir beinahe dachten, dass es zum guten Brauch dieses Hauses gehöre, in Zeichensprache zu kommunizieren, knallte er meinen Pass auf den Tisch und raunzte: »Geht jetzt nicht.« Wie bitte? Ich glaubte, ihn falsch verstanden zu haben. Vielleicht handelte es sich um eine Verwechslung oder ein Missverständnis? Und so hakte ich nach und fragte den Mann, wodurch seine barsche Reaktion begründet sei. Doch er blickte schweigend in die anderen Akten, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten, und rührte nicht mal eine Augenbraue, um zu zeigen, dass er meine Fragen registrierte und sich für unser Anliegen interessierte. Mein Vater wurde nun sichtlich nervös und richtete dennoch weiterhin freundliche Worte an den Beamten, um ihn zur Sanftmut zu bewegen. Nach mehreren Versuchen unsererseits, eine Erklärung für das Verhalten zu bekommen, stand der Beamte schließlich auf, rückte seine Krawatte zurecht, stopfte sein schlecht sitzendes Hemd in die Hose und sagte dann so laut, dass alle anderen Leute im Schalterraum es hören konnten: »Sonst holt ihr euch 151
doch alles von euren deutschen Freunden, da könnt ihr auch diesmal dorthin zurückgehen und fragen, ob sie euch helfen. Ihr kommt immer nur zu uns, wenn ihr etwas braucht … Wenn wir euch brauchen, wollt ihr nicht für uns da sein. Warum sollten wir euch dann helfen, wenn ihr etwas wollt? Verschwindet und lasst euch heute hier nicht mehr sehen. Vielleicht habe ich nächste Woche bessere Laune, dann können wir wieder über euren Antrag reden.« Ungerechte Behandlung ist ein schwer zu ertragendes Los; man fühlt sich gedemütigt und verletzt. Vor allem aber ist man gezwungen, rasch zu entscheiden, wie man reagieren soll. Soll man den Aufstand riskieren oder die Niederlage einfach einstecken? Genau diese Entscheidung hatte mein Vater schnell und instinktiv getroffen. Ungemein behände und vollkommen von Sinnen, mit einem Blick, den ich von ihm nur aus meinen Kindertagen kannte – wenn er kurz davor war, uns Kindern den Hintern zu versohlen –, sprang mein Vater mit einem Satz über den Schreibtisch und packte das elende Würstchen am Schlafittchen. Voller Wut und Inbrunst und genau in derselben Lautstärke wie sein Gegenüber zuvor rief er durch den ganzen Raum: »In unserem Land gibt es Gesetze, und diese hast du einzuhalten. Wir kommen hier nicht hin, weil wir dich sehen wollen, sondern weil wir uns an die Gesetze unserer Heimat halten wollen, weil wir unsere Heimat lieben und verehren. Du wirst unsere Liebe nicht zerstören und uns unserer Heimat berauben. Also walte deines Amtes und wahre deine Ehre, sonst wirst du zum Gespött dieser Menschen.« Ich dachte im ersten Moment, er muss diese kleine Ansprache irgendwann einmal auswendig gelernt haben, aber mein Vater konnte immer, wenn er wütend war, sehr poetisch werden. Seine Sprache war dann voller Bilder und voller Emotion. Und ich hatte auch nicht die geringste Angst, dass ihm etwas passieren konnte, denn immer wenn er sich leidenschaftlich aufregte oder sich gegen Ungerechtigkeit auflehnte, waren die Menschen auf 152
seiner Seite. Genauso schnell, wie er sich auf den Beamten gestürzt hatte, ließ er ihn wieder los, kletterte über den Schreibtisch zurück und setzte sich ruhig und bedächtig auf seinen Stuhl, als hätte es diesen Ausbruch nie gegeben. Es war so still in dem Raum, man hätte hören können, wie eine Stecknadel zu Boden fällt. Die Menschen waren völlig verblüfft, aber auch berührt, dass mein Vater die richtigen Worte gefunden hatte, unserer verzweifelten Lage Ausdruck zu geben. Und so dauerte es einige Zeit, bis die Anwesenden ihre Fassung wiedergewonnen hatten. Der Beamte griff schweigend zu einem großen Stempel und drückte ihn auf eine Seite meines Passes: Mein Wehrdienst war für die nächsten fünf Jahre ausgesetzt. Ich habe meinem Vater niemals gesagt, wie stolz ich damals auf ihn war und heute immer noch bin. Ich bewundere seinen Mut, seine Meinung offen auszusprechen, und seine Fähigkeit, Höflichkeit zu bewahren und doch beherzt um seine Würde zu kämpfen, als es keine andere Wahl gab. Als wir aus dem Konsulat in die Fremde traten, waren wir plötzlich froh, wieder zu Hause zu sein.
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Ein Liebesbrief
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EIN MOMENT VOLLER ANGST Ich habe oft Angst, wenn ich allein bin. Davor, dass ich wahnsinnig werde; davor, dass ich den Verstand verliere, dass ich merke, wie ich verrückt werde; davor, dass andere mit mir sind, dass sie mich sehen, wenn ich andere sehe, dass sie mich nicht spüren. Ich habe oft Angst vor dem Tod; Angst davor, mich selbst umzubringen, ohne dass ich etwas dagegen machen kann; Angst, depressiv zu sein und nicht mehr glücklich zu werden; Angst davor, nicht mehr lachen zu wollen, nicht mehr weinen zu können. Ich habe Angst vor bellenden Hunden und kratzenden Katzen; ich habe Angst vor dem Biss einer giftigen Schlange; ich habe Angst vor dem Stich einer Hornisse, Angst vor Mücken, Angst vor Schaben und kriechenden Monstern auf dem glatten Boden meiner Küche. Ich fürchte mich vor dem Geräusch des Donners und schrecke bei jedem Blitz zusammen; ich habe Angst, nass zu werden und mich zu erkälten, Angst vor dem Heulen des Windes, Angst vor dem Abgrund und der Höhe, Angst vor der Weite und der Enge. Ich habe Angst vor zu schnell fahrenden Autos, wenn ich in ihnen sitze und wenn sie an mir vorbeifahren; ich habe Angst, dass ein Flugzeug abstürzt und ich darin verbrenne; ich habe Angst, dass mich ein abstürzendes Flugzeug erschlägt; ich habe Angst, zu ertrinken, keine Luft mehr zu bekommen, zu ersticken. Ich habe Angst vor Krankheiten, vor Krebs, vor einem Tumor in meinem Gehirn, in meinem Magen, auf meiner Haut, vor Halsschmerzen, einer schweren Bronchitis, einer Sehnenscheidenentzündung, einem Katarrh, einer Lähmung, vor Tinnitus und Ohrensausen, Angst zu verbluten, ein Bluter zu sein, mir den Arm zu brechen, blind zu werden, Angst vor dem Zahnarzt, Angst vor einer Operation, vor Narkose und Wachkoma, höllische Angst davor, erschossen zu werden oder 155
andere zu erschießen. Ich habe auch Angst davor, dass andere krank werden, dass ich sie dabei sehe, wie sie sterben. Ich habe Angst vor Verlust und Einsamkeit; ich habe Angst vor Langeweile; ich habe Angst vor der Zeit; Angst davor, dass ich sehe, wie sie verstreicht, und sie nicht anhalten kann; ich habe Angst, dass ich das Glück, das ich einmal gefunden habe, zu schnell verliere; Angst festzuhalten und loszulassen; ich habe Angst davor, aus heiterem Himmel impotent zu werden, wie ein Macho zu wirken, plötzlich eine Frau sein zu wollen, mich in Pflanzen zu verlieben, eine lesbische Freundin zu haben, lesbische Frauen zu lieben, ohne es zu merken, Kinder zu kriegen, Kinder zu zeugen, Kinder zeugen zu müssen, dann zu müssen, wenn ich nicht will, nicht zu können, wenn ich will, und nicht zu dürfen, wenn ich könnte. Ich habe Angst vor allem, was sich bewegt, und vor vielem, was stillsteht (ich fahre nicht auf Schiffen und schon gar nicht auf Inlineskates; ich fasse nicht mit nassen Fingern in die Steckdose; ich stochere nicht mit der Gabel im Toaster; ich trinke kein Leitungswasser in fremden Ländern; ich benutze kein Shampoo gegen Schuppen, keines gegen fettige Haare, keines für koloriertes und keines für zu trockenes Haar); ich habe Angst, heiser zu werden, meine Stimme zu verlieren, wenn ich schreien will, aus der Nase zu bluten und es nicht anhalten zu können; ich fürchte Auftritte vor ausverkauften Häusern; ich habe ständig Angst, dass niemand kommt; ich habe Angst, dass Zuschauer weggeschickt werden müssen, dass die Zeitung eine schlechte Kritik schreibt, wenn ich die Aufführung gut fand, und eine gute Kritik schreibt, obwohl ich weiß, dass es schlecht war; ich habe Angst, dass die Menschen nicht applaudieren, zu kurz applaudieren, zu verlogen applaudieren. Ich habe Angst, dass meine Lebenslügen ans Tageslicht kommen, mein Selbstbetrug öffentlich wird, meine Einbildungen Wahrheit werden, meine Befürchtungen mich zu vorsichtig machen; ich habe große Angst vor dem Gefängnis, vor Krieg, 156
vor Atombomben; ich habe Angst, in ein KZ zu kommen; ich habe Angst vor Vergasung und Folter; ich habe Angst vor unkontrollierbarer Gewalt, vor gewalttätiger Zärtlichkeit, Angst davor, nicht flüchten zu können, wenn es eng wird; ich habe Angst vor einer Lebensmittelvergiftung, vor schlechten Muscheln oder vergifteten Fischen; ich habe Angst vor Fettleibigkeit, ich habe Angst vor Magersucht, ich habe Angst hässlich zu sein, ich habe Angst zu stinken, Mundgeruch zu haben; ich habe Angst, keinen eigenen Charakter zu haben, kein Charisma zu besitzen, beliebig zu sein, aufzufallen, nicht wichtig zu sein, ausfallend zu werden, beleidigt zu sein, den Ausweg nicht zu kennen, die Lösung nicht zu verstehen, nicht verstanden zu werden, falsch verstanden zu werden. Ich habe Angst vor meinem eigenen Spiegelbild, ich habe Angst davor, beeinflusst zu werden, ich habe Angst davor zu beeinflussen, ich fürchte mich vor unkontrollierbaren Drogenräuschen, ich habe Angst vor Kopfschmerzen (und noch viel mehr vor Migräne), ich habe Angst, nicht scheißen zu können, ich habe Angst vor Durchfall, ich habe Angst vor Bandwürmern und Trichinose, Angst vor Menschenfressern und Terroristen, Angst vor Diktaturen; ich habe Angst, den Führerschein zu verlieren; ich habe Angst, unbekannt sterben zu müssen, nicht in die Geschichte einzugehen, nicht ins Fernsehen zu kommen, keine Radiointerviews zu geben, zu wenig Geld (für zu viel Arbeit) zu verdienen, besser zu sein als andere (ohne dafür anerkannt zu werden), arrogant zu wirken (wenn ich ehrlich sein möchte), talentiert zu sein (ohne es beweisen zu können und dann zu versagen, wenn es bewiesen werden muss); ich habe Angst, anderen nicht zu gefallen, Gegenstand von Lästereien zu sein, schlechte Arbeit zu leisten, meinen Text zu vergessen, ausgestoßen zu sein, keine Bonität zu haben, unglaubwürdig zu wirken, ein Betrüger zu werden, betrogen zu sein, einen Eintrag in die Schufa zu bekommen, plötzlich arm zu werden, Geld zu
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verlieren, beim Klauen erwischt zu werden, schwarzzufahren, keine Wohnung zu haben. Ich habe Angst vor Einbrechern, Opfer eines Banküberfalls zu werden, entführt zu werden, Geisel zu sein, lügen zu müssen, die Wahrheit zu sagen, dass Dinge niemals zu Ende gehen und viel zu früh beginnen, zu früh zu Ende gehen oder niemals rechtzeitig beginnen, keine Freundin zu haben, eine hässliche Freundin zu haben, eine Freundin zu haben, die mir zwar gefällt, den anderen aber hässlich erscheint, eine Freundin zu haben, die nicht mag, was ich will, und nicht will, was ich mag, eine Freundin zu haben und eine andere hübscher zu finden; ich habe Angst davor, mich entscheiden zu müssen, mich nicht entscheiden zu können, andere für mich entscheiden zu lassen (ohne es zu merken). Ich habe Angst davor, keinen Sex zu haben, ständig Sex haben zu müssen, nicht onanieren zu können (ohne dabei an die falschen Gesichter zu denken oder dabei erwischt zu werden), allein zu sein, ständig mit anderen zu sein, taub zu werden, ein Bein zu verlieren, ohne Grund verdächtigt zu werden, das Falsche zur richtigen Zeit zu sagen, das Richtige zur falschen Zeit zu sagen, aus einem Albtraum nicht mehr aufzuwachen, beim Fußball daneben zu schießen, nicht mehr Musik machen zu können, im Aufzug stecken zu bleiben, ungebildet zu sein, wie ein Klugscheißer zu reden, das Wichtigste zuerst zu verraten, das Unwichtige bis zum Schluss zu verschweigen, andere zu enttäuschen, ständig enttäuscht zu sein, zu viel zu erwarten, zu vielen Erwartungen gerecht werden zu müssen, Ansprüche zu stellen (die ich selbst nicht erfülle), Fehler zu machen, ein Feigling zu sein, keinen Mut zu haben, verprügelt zu werden, zu viel zu bezahlen, zu wenig zu verlangen, Ungerechtigkeit zu erdulden, Kälte zu erleiden, in der Sauna eingeschlossen zu werden, nackt zu sein, Sand zu schlucken, Salz zu essen, Zucker zu kotzen, Essig zu trinken, in schimmeliges Brot zu beißen, Kot zu riechen, anderer Menschen Urin zu 158
sehen, Leichen zu betrachten, Hunger zu haben, durstig zu sein, an Gott zu glauben, den Teufel zu verehren, die Menschheit zu hassen, meine Verachtung nicht verbergen zu können, meine Zuneigung zu verschwenden, nicht schlafen zu können, zu müde zu sein, mitten in der Nacht aufs Klo zu müssen, ein Abenteuer zu erleben, mir von anderen etwas vorschreiben zu lassen, mich für das Falsche zu entscheiden und es nicht mehr rückgängig machen zu können. Ich habe Angst, ein Erdbeben zu erleben, unter Trümmern zu liegen und nicht gehört zu werden, in einer Schneelawine verschüttet zu sein und zu erfrieren, aus einem Flugzeug zu springen und den Fallschirm zu verlieren, im offenen Meer von Haifischen zerfleischt zu werden, von Ameisen zerfressen zu werden, ein Alkoholiker zu sein, das Rauchen wieder anzufangen, LSD gegen meinen Willen zu schlucken, nicht schreiben zu können, nicht lesen zu wollen, fremde Sprachen nicht zu verstehen; ich habe Angst davor, dass andere über mich lachen, Angst davor, dass man sich über mich lustig macht (und ich nicht weiß, weshalb), Angst vor der Eintönigkeit des wiederkehrenden Moments, Angst vor der Vielschichtigkeit der ewigen Veränderung, Angst vor der Beliebigkeit der verlorenen Erinnerungen, Angst vor der Unberechenbarkeit, Angst vor Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, den Nebenwirkungen schwerer Medikamente, Halluzinationen, Angst vor der Angst, Angst vor der Angst vor der Angst, Angst vor der Angst vor der Angst vor der Angst … Wovor habe ich eigentlich noch Angst? Ich habe Angst vor mir selbst. Bleib!
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Eine Geschichte aus meiner wilden Pubertät
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STURMFREI INS DELIRIUM Manche Eltern meiner Freunde waren richtige Spießer. Katholisch, bieder, mit der Miene des Allwissenden. Abends gab es einen gedeckten Tisch mit Brot und Wurst. Sonntags einen Braten und selten mal etwas außer der Reihe. Und gerade Markus, einer meiner verrücktesten Freunde, hatte die schlimmsten Eltern. Sie wohnten in einer Siedlung von Einfamilienhäusern, allesamt aus den Fünfzigerjahren. Sein Vater arbeitete als Beamter und wurde früh pensioniert, und seine Mutter war, glaube ich, Grundschullehrerin. Außerdem hatte er eine hässliche ältere Schwester mit schwarzen Haaren, einem riesigen Hintern und einem schiefen Gesicht, dessen Züge noch schiefer wirkten, wenn sie versuchte, attraktiv zu sein. Glücklicherweise sah sie ihrem Bruder nicht allzu ähnlich, sodass ich keinen feinen Unterschied zwischen den beiden machen musste, um mich gegen die Vorstellung zu schützen, dass mein Freund eine männliche Ausgabe seiner Schwester wäre. Innen war das Haus eine richtige Grabstätte des guten Geschmacks. Genauso stellte ich mir immer die Häuser von Intellektuellen vor. An der Längswand des Wohnzimmers stand eine Bücherwand, übervoll mit Büchern unterschiedlichster Art, Bildbänden und sonstigem Kram. Dazwischen standen Bilderrahmen, die Szenen aus der Kindheit meines Freundes und seiner Schwester zeigten, darunter auch ein besonders peinliches Bild, auf dem Markus bei einem Musikwettbewerb mit adretter Frisur ein Cello zwischen seinen Beinen hat und naiv in die Ferne blickt. Kaum zu glauben, dass er sich so schnell in einen Halbhippie und Dauerkiffer verwandelt hatte. In der Mitte des Wohnzimmers stand eine durchgesessene Sitzgarnitur aus braunem grobem Rindsleder, dahinter eine 161
Stehlampe mit einem karierten Schirm; überall an den Fenstern hingen seltsame Glaskugeln, und auf den Fensterbrettern tummelten sich Schlingpflanzen. Auf einem Sideboard stand ein geschliffenes Kreuz, an der gegenüberliegenden Wand hingen gerahmte Sprüche von Jesus und irgendwelchen Propheten, und in einer Ecke lag ein Bocciaspiel, wie man es im Supermarkt kaufen konnte. In der als Esszimmer abgegrenzten Sektion der Küche war ein Katzenklo für das fette Wesen, das sich gelegentlich mühsam durch die Katzenklappe in der Küchentür kämpfte, um die letzten Reste christlicher Nächstenliebe in sich hineinzustopfen. In dem Übergangsbereich zwischen Esszimmer und Wohnzimmer stand ein Instrument, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Es war ein kleiner Flügel mit schwarzen Tasten, der so klang, als würde man eine Gitarre vertikal mit einer Gabel vergewaltigen. Dieses Spinett war der ganze Stolz dieses edlen Kreises. Sonntags, wenn die Familie von der Kirche kam, setzte sich Markus’ Mutter an die Tasten und sang hochtrabende Lieder von Freiheit, Glück und Liebe, während mein Freund und seine Schwester sich auf dem Sofa lümmelten und Plattencover studierten oder in der Nase bohrten. Jeden Tag und jede Woche das gleiche Programm. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Einmal im Jahr aber fuhren die Spießer in den Urlaub. Vielleicht hatten sie sich von ihrem ergaunerten Anstandslohn eine Reise in die Karibik gegönnt oder saßen schweigend vor einem Stück Braten in einer überheizten Kneipe im Schwarzwald. Als Markus mich anrief, um mich auf ein spontanes Besäufnis einzuladen, war seine Stimme freudig erregt – so, wie er sonst nie zu Hause sprach. Ich machte mich auf, um an der angekündigten Veranstaltung teilzunehmen, vielleicht in der Hoffnung darauf, etwas Besonde162
res zu erleben. Schon ziemlich angeschickert öffnete Markus die Tür, und als ich in den Raum trat, war die einstmalige Einöde des elterlichen Wohnzimmers kaum wieder zu erkennen. Überall brannten Kerzen, wilde Beats wummerten aus der sonst nur Orgelklänge gewohnten Stereoanlage, und Mädchen in Trägershirts rankten sich um willige Gesellen. Der Raum schien jetzt überaus sympathisch. Ich erkannte Freunde und Bekannte, arrogante und nichterwünschte Gesichter, ich sah heimlich Angebetete und offen Angehimmelte, ein paar Kumpels aus meiner Klasse und mittendrin Markus’ hässliche Schwester. Ich holte mir ein Bier und ließ mich ungewöhnlich salopp in die schmierige Ledergarnitur fallen. Neben mir spielte ein seltsames Mädchen mit langen fettigen Haaren und dürren Fingern beinahe anstößig mit den bunten Bocciakugeln der ehrwürdigen Familie und wurde dabei von hinten befingert. Gegenüber knutschten zwei Frischverliebte und steckten sich dabei die Zungen so tief in den Hals, dass ich fürchtete, sie könnten jeden Augenblick ersticken. Einer meiner Mitschüler schwallte eine Braunhaarige zu, die sichtlich genervt den Kopf in ihre Bierflasche steckte, und auf dem Boden lag ein sonst eher schüchterner Streber und schob seine linke Hand unter das T-Shirt einer drallen Blonden. »Geile Party«, schrie ich in den leeren Raum, aber keiner wollte mir zuhören, geschweige denn mit mir reden. Und so glotzte ich wie paralysiert auf das Cello-Foto meines Freundes und versuchte, schneller zu trinken, um den offensichtlichen Empfindungsrückstand aufzuholen. Es mögen Stunden, vielleicht Monate vergangen sein, als eine seltsame Gestalt neben mir auf dem inzwischen klebrigen Sofa Platz nahm, während ich überlegte, wie man das Zimmer wohl wieder sauber bekäme, bevor die Eltern wieder ihre QuasiGottesdienste zelebrieren könnten. Mittlerweile war auch ich bereits derart voll getankt, dass ich im ersten Moment nur die 163
prallen Brüste meines kopflosen Gegenübers fixierte und erstaunt war, wie sich die unhandlichen Konstrukte von der Enge des Träger-T-Shirts bändigen ließen, ohne es zu zerreißen oder an den Seiten hervorzuquellen. Ich kannte dieses Mädchen nicht, aber der Alkohol, die vielen Leute und die einmal gewährte Freizügigkeit in der sonst so verbarrikadierten Eintracht dieses Hauses schienen in mir den Willen zu stärken, an diesem feierlichen Tag alles zu genießen, was sonst verboten war; und so konzentrierte ich mich weiter auf die bewarzten Hügel und führte beiläufig ein Gespräch über Kafka, was das Mädchen offensichtlich zu erregen schien. Schweißgeruch quoll unter ihren behaarten Achseln hervor, als sie sich zu mir beugte, während sie versuchte, an eine der unter das Sofa gerollten Bocciakugeln zu gelangen. Als sie schließlich vom Sofa glitt, beschloss ich kurzerhand, den »Hochsitz« zu verlassen, und gesellte mich zu ihr auf den Fußboden. Als wäre dies ein vereinbartes Zeichen, fingen wir an, wie die Verrückten zu knutschen, und fummelten, was das Zeug hielt. Ich lag auf dem Fußboden der spießigen Eltern meines Freundes mit einer mäßig hässlichen Braut, deren Titten mich kurzfristig und oberflächlich derart interessierten, dass ich mich nach wenigen Zungenschlägen schon auf der sicheren Seite wähnte und, wie gelernt, unter ihrem T-Shirt zum Zentrum der Apparatur vorgrabschte. Kein Wunder, dass ich geohrfeigt wurde. So, als könne ein Mädchen in dieser Situation noch Anstand haben, wurde plötzlich Moralisches herausgekehrt, um aus Kleinigkeiten Haarspaltereien werden zu lassen – mit dem Ergebnis, dass ich allein neben der Bocciakugel auf dem Boden unter dem Couchtisch lag und meine Angebetete schlagartig den Raum verließ, um sich bei irgendeiner Freundin auszuheulen, bis sie den Nächsten mit ihren Lustmelonen anlocken würde.
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Scheiße! Ich krabbelte bescheiden unter dem Couchtisch hervor in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. Aber es war zwecklos. Kaum hatte ich mich aufgerichtet, da stand Markus vor mir und drückte mir eine Flasche Sliwowitz in die Hand. »Mach dir nichts draus, die steht sowieso nur auf Frauen!«, sagte er, als wollte er mich trösten. Noch bevor er in die Küche verschwand, fiel ihm ein karottendicker Joint aus seinem Mundwinkel und brannte ein riesiges Loch in den verhassten Perserteppich seiner Eltern; er trat die Kippe mit einer kurzen Bewegung aus und zuckte grinsend mit den Schultern. Sliwowitz. Ein widerliches Gesöff. Aber ich war zu faul, um mir in der Küche ein anderes Getränk zu holen, und Gespräche wollte ich auch nicht riskieren. So hockte ich mich neben die hässliche Schwester und begann, Schluck für Schluck zu vertilgen, was die Eltern meines Freundes wahrscheinlich aus ihrem letzten Urlaub eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatten. Sliwowitz schmeckt abscheulich. Außerdem macht er einen ganz dumpfen Rausch. Man fühlt sich wie ein Cevapcici im Waschsalon: Alles dreht sich und innen brennt es. »Sliwowitz ist bestimmt aus Leichen gemacht«, sagte ich daher kurz angebunden zu der Schwester und nahm einen besonders tiefen Schluck, um mich selbst leichter überzeugen zu können, dass sie hübsch sei. Aber so viel ich auch soff, so wenig gelang es mir, diese Vorstellung herzustellen. Sie wurde immer hässlicher, und zum Schluss hatte ich beinahe Angst vor ihr. Hätte ich mir nicht bewusst gemacht, dass ich wahrscheinlich dabei war, paranoid zu werden, so hätte ich sie vermutlich erstochen. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich, dass es draußen schon langsam dämmerte. Der ganze Wohnzimmerboden war übersät mit leeren Bierflaschen, es roch nach Schnaps, Aschenbecher quollen über, Gespräche verstummten und die Musik leierte auf dem Abstellgleis vor sich hin. Daher beschloss ich, mich auf der Ledercouch auszustrecken, um meinem widerwärtigen Rausch 165
ein abruptes Ende zu verschaffen. Zunächst funktionierte es: Ich schloss rasch die Augen und begann zu träumen. In meinem Traum sah ich zwei riesige Brüste wie Ballons auf mich zukommen. Sie waren rund und prall, mit zwei Brustwarzen so groß wie die schwarzen Felder auf einem Fußball. Ich versuchte, mich auf ihre Bewegungen zu konzentrieren. Dann geschah das Unglaubliche. Die Brüste sprachen mit mir. Sie glotzten mich an, sie schnappten nach mir und begannen zu tanzen. Losgelöst von ihrem fleischigen Untergrund setzten sie sich auf meine Augen und stahlen mir das Tageslicht; sie rochen nach Schweiß; sie hatten weiße und glibberige Kuppen; sie waren voller Haare und doch geschmeidig. Erregend und abstoßend zugleich; sie waren Fantasiegebilde und doch real; sie waren getränkt in Sliwowitz und gewürgt von den Resten des vergangenen Abends. Plötzlich wurde mir schlecht. Ich musste kotzen. Ich öffnete schlagartig meine Augen, mein Verstand setzte ein und verdrängte alles Geträumte. Ich hatte keine Zeit, das Erbrochene stand mir bis zur Speiseröhre, aber hier im Wohnzimmer meines Freundes konnte ich nicht über die Stränge schlagen, Jesus hätte mich gesehen und die Katze wäre verzweifelt. Diese elenden Titten hatten mir den Rest gegeben. Ich ging ein paar Schritte und öffnete einen Deckel – und mit einem dumpfen Klang übergab ich mich in das wohlgefällige Spinett, so als spielte ich eine Sonate des Grauens auf der Vorlage dieses verkorksten Abends. Ich fühlte mich auf einmal leicht und beschwingt und legte mich wieder auf das Sofa, um die nächsten Stunden des gleißenden Morgenlichts in geistiger Abwesenheit zu verbringen. Als ich meine Augen erneut öffnete, sah ich zunächst verschwommen und dann immer schärfer die massigen Beine der viel zu pflichtbewussten Schwester meines Freundes Markus, und ich ahnte, dass mein kurzweiliges Delirium ein baldiges 166
Ende nehmen würde. Ohne weitere Worte stand ich auf, nahm meine Jacke und wankte in den Flur. Im Spiegel sah ich kurz mein Gesicht; ich sah einen Faden Erbrochenes auf meiner rechten Wange und Lippenstift auf meinem Shirt; ich sah, dass der Abend gut gewesen war, dass es sich gelohnt hatte, gegen die Diktatur der ablebenden Dynastie angekämpft zu haben; ich sah mein Fahrrad, die Straße, die Sonne, die Freiheit und das Schimmern des Meeres. Ich sah mich selbst, aus meinem Traum entsprungen, nüchtern und doch besoffen. Trunken und gespannt auf das, was kommen würde.
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Von den Prügeleien unserer Jugend zu den Kämpfen unseres Lebens
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IN DER MANEGE Ich weiß nicht, ob ich ein ängstlicher Mensch bin – aber als Kind habe ich mich immer gern geprügelt. Es machte Spaß, diesen Adrenalinkick zu spüren, bevor man alle Seile losmachte und um sich schlug. Es war ein aufregendes und Ungewisses Gefühl, eine ungeheure Anspannung und Entladung zugleich. Gelernt habe ich das von meinem mittleren Bruder. Wir gingen eine Zeit lang zur gleichen Schule. Mein Bruder war mehrere Klassen über mir. Wir trafen uns in den Pausen immer auf dem Schulhof. Schon morgens auf dem Weg zur Schule überlegten wir uns, wen es denn in der Pause treffen könnte: Da gab es den kleinen dicken Thomas, den wir nicht leiden konnten, weil er so schüchtern war und ständig schwitzte; da gab es den arroganten Pedro, den wir verabscheuten, weil er Spanier war und eine krumme Nase hatte; es gab einen Jürgen, der immer wegrannte, wenn er uns kommen sah, und sich niemals die Fingernägel schnitt; und es gab Jorgos den Griechen, der manchmal versuchte, uns beim Kartenspielen reinzulegen, und weinte, wenn wir ihn dabei ertappten. Mein Bruder und ich, wir waren wirklich ein gefürchtetes Paar. Denn unsere Stärken waren gleichmäßig aufgeteilt. Meine Aufgabe bestand darin, unsere Opfer so lange zu reizen, bis es zum Streit kam; mein Bruder sorgte für die nötige Absicherung und die Androhung weitaus schlimmerer Konsequenzen – und dann wurde geprügelt. Die Schule, auf die wir beide gingen, war ein schäbiger Bau, in den man nur die Schwererziehbaren und Ausländer gesteckt hatte. Es gab dort folglich nur wenige Deutsche. Die anderen Deutschen hatten ihre eigenen Schulen, in denen es sauber war und man lernte, gepflegte Gespräche zu führen. Bei uns gab es das alles zwar nicht, dafür aber hatten wir einen riesigen 169
Schulhof und als Unterrichtsräume drei grün gestrichene Pavillons aus Beton, in die man jeweils über eine schmale Eisentreppe gelangte. In den Klassenräumen war es dreckig und unaufgeräumt. Überall hatten die Schwererziehbaren ihre Spuren hinterlassen. Der Boden war übersät mit zertretener Kreide, die Tische waren beschmiert mit sinnlosen Kritzeleien: Zeichnungen von Geschlechtsteilen in allen Ausführungen, Signaturen und allerlei Schmähungen. An den Wänden klebten die getrockneten Reste der Geschosse, die wir aus unseren bei McDonald’s geklauten Spuckrohren dorthin befördert hatten. Die Unterrichtsstunden glichen mehr einer Zirkusvorstellung als einer Lehrstunde. Manche Schüler spielten Karten, andere rührten in Joghurtbechern ihre Spucke um, einige rauchten und andere schauten gelangweilt aus dem Fenster. Auch die Lehrer waren bereits so resigniert, dass sie nur noch Noten nach Laune verteilten und lediglich mit Drohungen für kurze Augenblicke der Einsicht bei den Anwesenden sorgen konnten. Meist saßen sie nur schweigend da, lasen Zeitung oder unterhielten sich ausschließlich mit den Strebern in der ersten Reihe. Es wurde geschrien und gelästert, es wurde beschimpft und offen gestritten. Klassenarbeiten musste man nur selten fürchten, denn es stand schon von vornherein fest, dass man eine schlechte Note bekommen würde. Es sei denn, man würde es schaffen, seinen Spickzettel vor der gelegentlichen Spürwut des Lehrers zu verstecken. Aber das gelang nicht immer. Wurde man beim Pfuschen erwischt, so wurden die Eltern informiert, und man war gezwungen, den Eltern eine Vorschau auf das zu geben, was sie ohnehin am Zeugnistag erfahren würden. In den Pausen stürmten die Schüler auf den Hof. Manche spielten mit Tennisbällen oder zerdrückten Coladosen Fußball. Andere schleuderten kleine Abziehbilder mit elegantem Schwung Richtung Hofmauer. Derjenige, dessen Bild am nächsten zur Wand lag, kassierte alle anderen Bilder ein. Gele170
gentlich gab es auch Streit. Dann wurde nicht lange gefackelt oder argumentiert, sondern direkt losgeprügelt. Und das konnten mein Bruder und ich besonders gut. Wir provozierten sogar Schlägereien, damit wir unseren Spaß haben konnten. Innerhalb weniger Minuten bildete sich eine Menschentraube um die beiden Kämpfer. Man wurde angefeuert und geschubst, andere schrien einem ihre Flüche ins Gesicht und wenige hielten sich raus. Wenn ich dann wie wild um mich schlug, vergaß ich für einen Augenblick lang die Welt um mich herum. Denn ich kämpfte in Wirklichkeit gegen mich selbst. Ich bekämpfte meinen Gegner stellvertretend für einen meiner Komplexe, den ich besiegen wollte. Für eine bestimmte Demütigung, die ich erfahren hatte, versuchte ich, eine bestimmte Region seines Körpers zu treffen: Nase, Auge oder Bauch, im besten Fall sogar zwischen die Beine. Es war ein besonderer Triumph, wenn der Gegner schließlich zu Boden ging und sich vor Schmerzen wand oder als dauerhaften Beweis seiner Unterlegenheit wochenlang ein blaues Auge mit sich herumtrug. Unsere Mitschüler wussten, dass mein Bruder und ich zusammenhielten, und deshalb hatten sie großen Respekt vor uns beiden. Obwohl mein Bruder viel stärker war als ich, musste er nie eingreifen. Denn in seiner Gegenwart fühlte ich mich stark. Ich wusste, dass mir nichts passieren konnte, und so schlug ich mit doppelter Kraft auf mein Gegenüber ein und wurde dafür mindestens genauso respektiert wie mein Bruder. Wenn man einen Treffer aufs Auge oder in den Bauch landete, entstand dabei ein witziges Geräusch, und es fühlte sich an, als hätte man eine Tomate zerquetscht. Wenn man aber auf einen Knochen traf, konnte es verdammt wehtun, und man musste die Blessur sorgsam verborgen halten, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass es einem etwas ausmachen würde, sich verletzt zu haben. In der Erinnerung an diese wilden Tage meiner Schulzeit habe ich das Prügeln immer als etwas Befreiendes empfunden. Etwas, 171
das durch seine Körperlichkeit und die Intimität zwischen den Kontrahenten auch Geborgenheit erzeugte und Zwischenmenschlichkeit enthielt. Auch wenn es sich vielleicht komisch anhört. Aber wir kannten es nicht anders. Denn bei uns zu Hause wurde auch geprügelt und geschlagen, ohne dass es jemanden interessiert hätte, geschweige denn einem erzieherischen Konzept gefolgt wäre. Mein Vater stammt aus Anatolien. Dort gab es bis vor kurzem keinen Strom und kein fließendes Wasser. Die Menschen arbeiten den ganzen Tag hart auf einem runden Platz, auf dem sie Getreide dreschen; sie essen rohe Eier und trinken kalten Kefir. Man spricht dort nicht besonders viel miteinander, und die Sitten sind anders, als man es sich hier vorstellt, wenn man die Hochglanzmagazine der Reiseveranstalter studiert. Wenn etwas nicht funktioniert, wie man es gern hätte, wenn etwas schief geht, die Kinder schreien oder der Nachbar spinnt, dann haut man ihnen eben eine runter oder prügelt sich. Das ist ganz normal und für die Menschen dort nichts Besonderes. Anders als in Deutschland wird in der Türkei sehr viel geschlagen und geprügelt. Selbst auf Ämtern kann es vorkommen, dass man eine gewischt bekommt, wenn man zu viel fragt oder unverschämt wird. Ich möchte nicht sagen, dass ich das gutheiße, aber ich kannte es damals eben nicht anders. Und mein Vater konnte uns auch nur die Regeln vermitteln, nach denen er erzogen wurde. Woher hätte ich wissen sollen, dass man Konflikte auch durch Gespräche lösen kann und es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn man eine Prügelei vermeidet? Mit dem Ende der Schulzeit jedoch hörten wir mit unseren Raufereien auf. Wir waren erwachsener und deutscher geworden. Wir hatten gelernt, unsere Wut zu beherrschen und Argumente zu suchen. Aber wir hatten auch unser Temperament verloren. Es galt als edelmütig, wenn man sich zurückhielt statt direkt loszuschlagen; und die Mädchen mochten es, wenn man zwar signalisierte, dass man anders konnte, aber dennoch zur 172
friedlicheren Lösung griff, um unnötige Scherereien zu vermeiden. Es war zum Kotzen! Wir wurden ein Haufen von Weicheiern und Wortdrechslern, wir schrieben romantische Gedichte und ließen uns gar mit Lippenstift Herzchen auf unsere Arschbacken malen. Wir hielten Händchen und machten uns zum Idioten. Wie reizend ist doch das wilde Tier, wenn man es zähmen kann, wie anziehend der rohste Kerl, wenn er gut gekleidet ist, wie langweilig dennoch das Glatte und wie leer der Kompromiss und die Konformität. Nur einmal ist es seitdem wieder vorgekommen, dass ich mich geprügelt habe: als ich viele Jahre später mit meinem Bruder unterwegs war und wir – wie in alten Tagen – einen Grund suchten, unsere überschüssige Energie loszuwerden, und prompt auch einen fanden. Eine fadenscheinige Streiterei mit einem dumpfen Kerl, mitten auf einer belebten Straße. Ein hagerer Typ, ängstlich, eher schüchtern, Spanier oder Grieche. Er fühlte sich aus einem unwichtigen Grund beleidigt und hatte uns unwiderruflich zum Duell herausgefordert. Statt aber wie ein Mann zu kämpfen, spuckte dieser Feigling mir aus nächster Nähe ins Gesicht, so, als würde er den Schalter umlegen wollen, der fast eingerostet zu sein schien. Ich sah mit einem Mal alles in Zeitlupe, ich hörte alle Geräusche wie aus weiter Ferne, ich merkte, wie sich um uns herum eine Traube von Schaulustigen bildete, und hörte begeisterte Anfeuerungen durch die Luft schwirren. Wir waren wieder auf dem Schulhof. Mein Bruder stand neben mir und gab mir ein unmissverständliches Zeichen. Alles spulte sich in Windeseile zurück wie ein Videoband. Und auf einmal spürte ich, wie meine Faust sich ballte und wie eine Rakete in das Gesicht der spanischen Ratte flog. Ich hatte meine ganze Wut in die Wucht meines Schlages gelegt. Ein Schlag gegen die Trägheit meiner Umgebung, ein Schlag gegen die ganze Verlogenheit dieser Gesellschaft, ein 173
Schlag gegen meine Umerziehung, ein Schlag für meine Eigenheit und eine Entscheidung für meinen Ursprung. Ein letztes Mal wollte ich es wissen. Ein allerletztes Mal nicht auf die Gebote der Vernunft hören, unartig sein wie ein Kind auf dem Schulhof, mir selbst beweisen, dass ich auch anders konnte. Aber es ging nicht. Nach einem einzigen Hieb fiel der Typ auf den Boden. Blut spritzte in einer kleinen Fontäne aus seiner Nase, und sein rechtes Auge hatte einen dunkelblauen Rand. Er tat mir plötzlich Leid. Als wäre ich schizophren, ließ ich augenblicklich von ihm ab und beugte mich besorgt zu ihm herunter. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei; ich bot ihm mein Taschentuch an; ich bat die Umherstehenden, einen Krankenwagen zu rufen; ich sagte ihm, dass es mir wirklich Leid tue und ich mich für einen Augenblick vergessen hätte. Aber der Mann war untröstlich. So, als hätte ihn mein zwiespältiges Verhalten nun noch mehr irritiert, sprang er, all seine Kräfte sammelnd, plötzlich auf und lief davon, so schnell er konnte. Meine Hand schmerzte. Ich hatte das Gefühl, mir alle Finger gebrochen zu haben. Die Umherstehenden schüttelten verständnislos den Kopf. Mein Bruder blickte mich an und zerrte mich ins Auto. Ich musste ihm nichts erklären, denn er wusste es genauso gut wie ich: Prügeln können wir uns nur, solange wir nicht dazugehören; prügeln können wir nur, solange es unsere Muttersprache ist. Prügeln macht nur dann Sinn, wenn man sich als Gefangener seiner Mentalität um seine Freiheit bemüht und nicht als Verteidiger seiner mühsam eroberten Identität gegen seine Anpassung kämpft. Prügeln ist eine hohe Kunst. Einstecken noch viel mehr.
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Kurz und knapp
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EIN PAAR WORTE ZUM SCHLUSS Eigentlich wollte ich ein Buch für Kinder schreiben. Doch das hat nicht geklappt. Wie kann man ein Kinderbuch schreiben, wenn man sich selbst noch nicht erwachsen fühlt? Stattdessen habe ich alles aufgeschrieben, was mir aus meiner eigenen Kindheit und Jugend in Erinnerung geblieben ist. Erinnerungen bewegen in uns etwas Ungeheures, beleben unser Gedächtnis, lassen unsere Sinne urplötzlich wieder schmecken und riechen, so als wären wir in der Minute der Vergangenheit zugegen – mit all dem, was uns beschaulich und angenehm erschien. Denn Negatives blenden wir oft bereitwillig aus, wir vergessen häufig die Strapazen, die Momente voller Angst und Heimweh. Wir sehen unsere Erinnerungen gleichsam durch einen Filter. Wenn wir also Geschichten erzählen, dann spielt es eine große Rolle, ob dieser Filter all unsere Emotionen zulässt oder nicht. Welche Erinnerung sehe ich, welche Ängste verdränge ich, welche Worte wähle ich für die Beschreibung? Schließlich rufen die beschriebenen Ereignisse auch beim Leser oder Zuhörer bestimmte Gefühle hervor, die er selbst in einer solchen Situation vielleicht hatte. Jeder wird seine eigene Erinnerung vielleicht auf eine ähnliche Situation beziehen, um das, was er in meiner Beschreibung gar nicht verstehen kann – weil er es gar nicht kennt –, verstehbar zu machen. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass wir stets an die Einzigartigkeit glauben, aber selten merken, wie ähnlich wir uns sind. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass wir beim Schwimmen gegen den Strom die Strömung als Widerstand empfinden, obwohl sie uns allen die gleiche Richtung gibt.
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