HUGO M. KRITZ
Gest€ndnis unter vier Augen ROMAN
BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND / WIEN
Schutzumschlag, Einband und Schri...
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HUGO M. KRITZ
Gest€ndnis unter vier Augen ROMAN
BUCHGEMEINSCHAFT DONAULAND / WIEN
Schutzumschlag, Einband und Schrift: Karl Baal
Lizenzausgabe f•r die Mitglieder der Buchgemeinschaft Donauland
Alle Rechte vorbehalten Copyright 1954 by Verlag der Stern-B•cher GmbH., Hamburg Druck: G. Gistel & Cie., Wien
Erstes Kapitel DIE VERTAUSCHTE JUNGFRAU ‚Offen gestanden, Doktorƒ, sagte Hilde und reichte ihre Hand lachend dem Kriminalrat Frigge, ‚ich habe mich gar nicht recht zu Ihnen hereingetraut. Ich dachte, ich fliege in hohem Bogen wieder „raus.ƒ ‚Sie, Fr€ulein Garden? Sie w€ren die letzte.ƒ Er hielt l€chelnd ihre Hand fest und blickte ihr nahe in das fast bronzebraune Gesicht. ‚Steht Ihnen gro…artig, die marokkanische Sonnenbr€une. Bildsch†n zu dem hellen Haar und diesen Augen ‡ƒ ‚Bildsch†n? Ich kommˆ mir vor wie ein Negativ.ƒ Sein Blick lief ein wenig hei… auf ihrer dunklen Haut. Leuchtendes Orangerot lag auf ihren vollen Lippen, und die Z€hne schimmerten feucht. Die starken Farben lie…en sie etwas ver€ndert erscheinen, sie sah nach Ferne und Fremde und s•dlichen Breitengraden aus. Einen Moment lang ‡ aber wirklich nur einen Moment lang ‡ hatte er die vage und abenteuerliche Empfindung, als k†nnte auf einmal etwas ganz Neues in seinem Leben beginnen. Doch er wu…te genau, es w•rde nichts Neues beginnen. Die Journalistin Hilde Garden und er, der Kriminalrat Dr. Frigge, hatten sich l€ngst darauf festgelegt, gute alte Freunde zu sein. Sie hatten sich stillschweigend und von Anfang an darauf geeinigt und waren nie etwas anderes gewesen. Er lie… ihre Hand los und f•hrte sie zum Schreibtisch, vor dem ein sparsam gepolsterter Besuchersessel stand. Die ganze Einrichtung seines B•ros war sparsam. Grauget•nchte W€nde, schwarzgebeizte Aktenschr€nke und wacklige B•cherborde, das war alles.
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W€hrend Hilde in ihrer gro…en gelben Handtasche nach Zigaretten kramte und dabei gleichzeitig einen Schreibblock herausfischte, begann Dr. Frigge sich eine Pfeife zu stopfen. ‚Seit wann sind Sie denn wieder im Lande?ƒ fragte er und reichte ihr Feuer. ‚Seit einer Woche.ƒ Sie schob ihre Handtasche neben sich, legte den Schreibblock auf ihre Knie und lehnte sich zur•ck. ‚Tats€chlich, Doktor, ich war sehr gespannt, mit was f•r einem Gesicht Sie mich empfangen w•rden.ƒ ‚Und sind Sie mit meinem Gesicht zufrieden?ƒ Sie lachte. ‚Es geht. Irgendwo steckt noch ein kleiner Groll, glaube ich.ƒ ‚Weshalb denn sollte ich Ihnen grollen?ƒ Er blickte aufmerksam in seinen Pfeifenkopf. ‚Vielleicht wegen der Sache mit dem Taximord in Altona?ƒ ‚Genau. Ich wu…te ja, da… Sieˆs nicht vergessen haben. Und ich kannˆs verstehen‰ Sie hatten genug Šrger mit mir.ƒ ‚Na, na, nicht •bertreiben, Hilde.ƒ Er entz•ndete abermals ein Streichholz und warf ihr •ber die Flamme hinweg einen am•sierten Blick zu. Dann paffte er ein paar W†lkchen in die Luft. ‚M€nner sind nicht so ehrgeizig wie Frauen ‡ wenn sie ehrgeizig sind. Mir ist es vollkommen gleichg•ltig, ob ich ein Verbrechen selber aufkl€re oder ob mir einmal irgendeine rasende Reporterin zuvorkommt. Hauptsache ist, der T€ter wird geschnappt. Und er wurde geschnappt.ƒ Hilde kniff ihre gro…en, grauen Augen ein wenig zusammen. ‚Na sch†n, Doktor, Sie wollen erhaben und weise sein‰ Eigentlich sind Sie dazu noch viel zu jung.ƒ Er neigte den Kopf vor. ‚Danke f•r das Kompliment.ƒ ‚Ach was‰ Ich wei…, Sie hatten wegen meines Artikels damals Scherereien, und ich m†chte Ihnen sagen, da… mir das leid tut. Andererseits ist es nun einmal mein Beruf, Sensationen heranzuschaffen, da kann es schon einmal geschehen, da… ich der Polizei ins Gehege komme.ƒ
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Das L€cheln des Kriminalrats wurde etwas herablassend. ‚Machen Sie doch nicht so viele Worte •ber die Sache, Fr€ulein Garden, sie ist erledigt. Ein alter Hut. Ich gebe zu, Sie waren ein bi…chen fixer als ich ‡ was ist dabei?ƒ Er hob die Schultern. ‚Auch ein blindes Huhn findet gelegentlich ein K†rnchen.ƒ ‚Danke f•r das Komplimentƒ, versetzte Hilde ironisch. ‚Ihre Reportage •ber Marokko •brigensƒ, fuhr er ernsthafter fort, ‚die ist wirklich ausgezeichnet. Ich lese sie mit Begeisterung. Sie schreiben wie ein Mann, Hilde.ƒ ‚Was Sie nicht sagen!ƒ rief sie sarkastisch. ‚Wie ein Mann sogar! K†nnen Sie mir das Lob nicht eingerahmt schenken?ƒ ‚Wennˆs Ihnen Vergn•gen macht, gern. Nebenbeiƒ ‡ er streckte den Arm aus und deutete mit der Hand, die die Pfeife hielt, auf ihre Knie ‡ ‚hat es mit dem aufgeschlagenen Schreibblock vielleicht eine Bewandtnis, oder liegt der nur aus Gewohnheit da?ƒ ‚Es hat eine. Ich will was von Ihnen.ƒ ‚Ei, Sie wollen etwas von mir?ƒ Sie nickte, richtete den Blick ihrer gro…en, grauen Augen gerade in die seinen und lie… ihn sekundenlang dort ruhen. Sie wu…te, jetzt konnte kein kleiner Brand mehr entstehen wie vorhin bei ihrem Eintritt ins Zimmer. Sie hatte die kurze, hei…e, abenteuerliche Stromwelle, die von Dr. Frigge pl†tzlich zu ihr geweht war, deutlich gesp•rt. Sie war ein wenig •berrascht gewesen. Doch jetzt waren sie wieder im alten Fahrwasser, hatten den munteren, leicht sp†ttischen Ton gefunden, der zwischen ihnen •blich war und der sie davon abhielt, einander mit suchenden Frauen- und M€nneraugen zu betrachten. ‚Ich komme wegen einer beruflichen Sacheƒ, sagte Hilde. ‚Nun, dann los. Wenn ich was f•r Sie tun kann, sollˆs geschehen.ƒ ‚Das ist ein Wort.ƒ Hilde dr•ckte ihre Zigarette aus und fuhr dann mit der Hand in ihre Kost•mtasche. ‚Wir wollen
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etwas •ber den Marmara-Schmuck bringen, Doktor. Ganz gro…. Als sogenannten Aufmacher.ƒ ‚Wann?ƒ ‚Morgen.ƒ ‚Na und?ƒ Er wurde etwas reserviert. ‚Tun Sie, was Sie nicht lassen k†nnen.ƒ ‚Wir haben nichts Besseres. Es ist Sommer, Sauregurkenzeit. Wenn heut nacht nicht etwas ganz Tolles passiert, bringen wir morgen den Marmara-Schmuck als HeadLine.ƒ Dr. Frigge lehnte sich zur•ck und pre…te ein Knie gegen die Schreibtischkante. ‚Was wollen Sie dar•ber wissen?ƒ ‚Eine ganze Menge.ƒ Sie zog ihre Hand aus der Kost•mtasche und hielt auf einmal einen himmelblauen Drehbleistift zwischen den Fingern. ‚Stimmt es, da… der Schmuck zweihunderttausend Mark wert ist?ƒ ‚Mehr sogar. Zweihundertf•nfzigtausend.ƒ ‚Allerhand, was? Erz€hlen Sie mir doch, Doktor! Wie ist es Ihnen gelungen, den Einbrecher so schnell zu erwischen. Hei…t er nicht Kocholl?ƒ ‚Kocholl, ja.ƒ Hilde wartete •ber ihren Block gebeugt, da… er weiterreden w•rde, aber es kam nichts mehr. Sie hob den Kopf. ‚Was ist los, Doktor? Wollen Sie nicht?ƒ ‚Es gibt nichts zu erz€hlen, Fr€ulein Garden. Zumindest nichts, woraus Sie eine Sensation machen k†nnten.ƒ Sie l€chelte. ‚Keine falsche Bescheidenheit, Herr Kriminalrat. Es steht nirgendwo geschrieben, da… Staatsbeamte ihr Licht unter den Scheffel stellen m•ssen. Also wie war die Sache?ƒ Ihr Eifer am•sierte ihn. Er stand auf, trat zum Fenster und begann auf einmal flie…end und mit gespielter Wichtigkeit zu reden:
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‚Es war ein €u…erst komplizierter Fall. Am Tatort, in Marmaras Villa, fand ich ein winziges Lehmkl•mpchen. Dieses Lehmkl•mpchen brachte mich auf die richtige Spur. Ich verglich es mit s€mtlichen Lehmsorten des europ€ischen Kontinents und entdeckte, da… es aus der Gegend von Schneverdingen stammte. Und richtig, dort fand ich ihn denn auch, den Schurken. Er hockte in einer H†hle und spielte Murmeln mit Marmaras Brillanten. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter ‡ƒ ‚Ganz kolossalƒ, unterbrach ihn Hilde. ‚Den Rest der Geschichte k†nnen Sie sich schenken.ƒ ‚Gef€llt sie Ihnen nicht?ƒ ‚Ich h€tte Ihnen mehr Phantasie zugetraut.ƒ In ihrer leisen, dunklen, ziemlich aufregenden Stimme schwang Ungeduld. ‚Sie sollten zum Rundfunk gehenƒ, sagte Dr. Frigge, ohne sich vom Fenster abzuwenden. ‚Sie haben entschieden eine Mikrophonstimme.ƒ ‚Beim Rundfunk verdiene ich nicht genug Geld.ƒ Er drehte den Kopf •ber die Schultern und blickte sie durch seine blonden Wimpern hindurch an. ‚Geld‰ƒ, sagte er, als w€re etwas damit gesagt, und dabei hatte er das Gef•hl, da… es nicht einmal stimmte. Er legte seine erkaltete Pfeife in den Aschenbecher und setzte sich wieder. ‚Also jetzt die schlichte Wahrheit, Hilde. Es war Zufall, da… wir Kocholl geschnappt haben. Er hat Juwelieren in Bremen und L•beck verschiedene St•cke zum Kauf angeboten. Dar•ber ist er gestolpert. Es war reine Routine-Arbeit f•r uns, ihn aufzusp•ren. Keine gro…e Angelegenheit. Nichts f•r Ihre Zeitung mit Millionenauflage.ƒ ‚Warten Sie erst einmal ab, bis es drinsteht. Sie werden staunen. War das nicht der gr†…te Einbruch in Hamburg seit vielen Jahren?ƒ ‚Dem Wert nach schon. Zweihundertf•nfzigtausend sind schlie…lich kein Pappenstiel.ƒ ‚Ist der ganze Schmuck sichergestellt? Fehlt nichts?ƒ
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‚Kein einziges St•ck.ƒ ‚Alle Achtung. Da haben Sie ja wieder einmal gro…artig funktioniert, Herr Kriminalrat. Sagen Sieƒ, fuhr sie nach einer kleinen Pause sachlich und berufsm€…ig fort, ‚wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, in den Polizeidienst zu gehen?ƒ Er stutzte. ‚Was soll das?ƒ ‚Es ist eine Frage.ƒ Sie senkte die Lider mit den erstaunlich langen, dichten, schwarzen Wimpern. ‚Es interessiert mich, wie man Kriminalist wird.ƒ Er durchschaute sie und l€chelte. ‚Nun, ich kannˆs Ihnen ja sagen. Kennen Sie das Sprichwort: Wer nichts wird, wird Wirt? So ungef€hr war das bei mir. Mit acht Jahren wollte ich Bierkutscher werden, mit zehn Boxweltmeister, mit zw†lf Reichspr€sident, mit vierzehn Million€r, mit sechzehn Polarforscher, mit achtzehn Nobelpreistr€ger, mit zwanzig Rechtsanwalt. Mit zweiundzwanzig wurde ich Sch•tze. Mit vierundwanzig war ich Obergefreiter, und das blieb ich denn auch bis zum glorreichen Endsieg.ƒ ‚Und dann? Weiter.ƒ ‚Dann ‡ ja dann war ich eine Zeitlang ein ziemlich klappriges Gespenst von 98 Pfund Lebendgewicht und sonst gar nichts, zumindest nichts Nennenswertes. Eines Tages kam ich auf die Idee, ein gro…es Werk •ber den Untergang des Abendlandes zu schreiben, bis ich dann zuf€llig h†rte, da… irgend jemand so was schon einmal geschrieben hat. Das war bitter, und ich mu…te mich nach einem andern Gesch€ft umsehen, fand aber nichts. Als Hungerk•nstler konnte ich nicht auftreten, es gab damals zuviel Konkurrenz, und au…er Hungern hatte ich nichts Rechtes gelernt ‡ die Juristerei ausgenommen, damit war aber nicht viel aufzustecken. Ein Mann namens Vanderhurst machte mir eines Tages das Angebot, Zigaretten aus Belgien zu schmuggeln, und ich war schon bereit, sein Angebot anzunehmen, als ich h†rte, da…
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Kriminalbeamte die von ihnen beschlagnahmten Zigaretten, Schinken und W•rste untereinander aufzuteilen pflegten. Von diesem Augenblick an stand es f•r mich fest, da… ich der geborene Kriminalist sei, und ich trat also in den Polizeidienst ein, wie man so sagt. Habe ich Ihre Frage nun beantwortet oder ‡?ƒ ‚Herr Doktor Friggeƒ, sagte Hilde k•hl, ‚falls Sie es immer noch nicht gemerkt haben sollten ‡ es ist meine Absicht, ein Interview •ber Sie zu schreiben. Der Chefredakteur ist der Meinung, Sie w€ren einer der t•chtigsten Kriminalisten, die wir derzeit haben ‡ƒ ‚Na so was.ƒ ‚‡ und ich schlie…e mich ausnahmsweise dieser Meinung an ‡ƒ ‚Was? Sie auch?ƒ ‚‡ wenn Sie mir aber keine vern•nftigen Antworten geben, sehe ich schwarz f•r das Interview.ƒ ‚Interview! Ich h†re immer Interview. Was meinen Sie eigentlich damit? Ich bin doch weder Filmstar noch Modek†nig oder sonst irgendein Glanzst•ck. Wen interessiert schon ein Kriminalbeamter?ƒ Hilde hatte mitunter einen Blick, der auch die st€rksten M€nner etwas unsicher machte. Es schien, als ob ihre sch†nen, gro…en, grauen Augen sich pl†tzlich verdunkelten, und es wurde deutlich, da… eine Grenze erreicht war. ‚Warum machen Sie mirˆs so schwer, Doktor?ƒ sagte sie stirnrunzelnd. ‚Ich kenne eine Menge Leute, die froh und gl•cklich w€ren, wenn ich sie auf der ersten Seite br€chte, ganz gro… mit Bild und Lebenslauf. Wir haben uns nun einmal Sie in den Kopf gesetzt, und ich glaube, Sie sollten sich nicht dagegen str€uben. Sie sind nun einmal ein Mann des †ffentlichen Lebens. Ich kann auch •ber Sie schreiben, ohne Sie zu fragen ‡ wenn ich will. Warum dann nicht lieber in gegenseitigem Einverst€ndnis?ƒ
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Dr. Frigge blickte sie pr•fend an und •berlegte. Er war ein blonder, hochgewachsener, schlanker Mann Ende Drei…ig, und wenn er nach irgend etwas bestimmt nicht aussah, so war es der Polizeidienst. Er stammte aus einer alteingesessenen Hamburger Familie, war immer sorgf€ltig, ja elegant gekleidet und hatte das L€cheln und die Manieren eines Weltmannes. Nie, selbst nicht in den schwierigsten Situationen, fiel er in den rauhbeinigen, polternden Ton vieler Kriminalbeamter. Er hatte erstaunlich schnell Karriere gemacht, und es gab Leute, die davon •berzeugt waren, da… er einflu…reiche Parteifreunde in Bonn hatte, die ihn schnell und unauff€llig die Rangleiter hinaufschoben. An dem Gerede war kein wahres Wort. Dr. Frigge geh†rte keiner Partei an und hatte in Bonn keine Freunde. Er war lediglich etwas kl•ger, etwas intelligenter und etwas tatkr€ftiger als der Durchschnitt. Das war seine Karriere. ‚Also gutƒ, sagte er. ‚Wenn Sie mich ernsthaft fragen, dann will ich Ihnen ernsthaft antworten. Ich mag n€mlich gar kein Interview ‡ falls Sie das immer noch nicht gemerkt haben sollten. Und ich mag es nicht nur nicht, sondern ich bin ausgesprochen dagegen.ƒ Hilde lie… entt€uscht die H€nde sinken. ‚Du lieber Gott. Was soll denn das nun wieder hei…en?ƒ ‚Es stimmt nicht, was Sie sagen. Ich bin kein Mann des †ffentlichen Lebens. Ich bin ein anonymer Begriff ‡ die Polizei. Sie begreifen, was ich meine. Meine einzige St€rke ist eben diese Anonymit€t. Ich bin ein R€dchen einer gro…en, mehr oder weniger gut funktionierenden Maschine. Ohne die Maschine bin ich nichts, eine Null, ein uninteressanter Privatmensch. Darum bin ich gegen ein Interview. Ich hoffe, Sie verstehen meine Gr•nde.ƒ Hilde rollte ihren Block zusammen und schmi… ihn in ihre Handtasche.
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‚Ich verstehe vollkommen Ihre Gr•nde und mi…billige sie vollkommen. Aber wie Sie wollen. Dann bringen wir eben kein Interview. Nur sagen Sie mir jetzt, wie ich den Artikel •ber den Marmara-Schmuck aufmachen soll. Wie soll ich ihn illustrieren?ƒ ‚Das ist nicht mein Gesch€ftƒ, sagte Frigge l€chelnd. ‚Aber wie w€rˆs mit einem Photo von Marmara.ƒ ‚Von Marmara?ƒ Hilde sch•ttelte den Kopf. ‚Warum von Marmara? Der hat nichts getan in dieser Geschichte, als sich Schmuck klauen zu lassen. Aber wie w€rˆs mit dem Schmuck selbst? Auf schwarzem Untergrund funkelnde Brillanten. Das zieht immer. Was meinen Sie?ƒ Dr. Frigge bekam einen leicht ironischen Blick. ‚Der Familienschmuck derer von Marmaraƒ, spottete er. ‚Uralter Familienbesitz ‡ seit 1945.ƒ Hilde zuckte die Achseln. ‚Ach, das ist mir egal, wissen Sie. Ich pfeif auf Tradition. Wenn einer t•chtig und clever ist und es in ein paar Jahren zu was gebracht hat, hab ich mehr Hochachtung vor ihm als vor einer verkalkten Mumie, die schon vom Urgro…papa die Millionen geerbt hat.ƒ Dr. Frigge nickte. ‚Das kann ich verstehen, da… Ihnen so was gef€llt. Sie sind ja auch so ein cleveres Kind dieser Zeit, Hilde.ƒ Sie schob die Unterlippe vor. ‚Blo… die Millionen fehlen noch.ƒ Er fragte: ‚Kennen Sie •berhaupt Gregor Marmara?ƒ ‚Ich? Nein. Wieso?ƒ ‚Er w•rde sich sehr attraktiv ausnehmen auf Ihrer ersten Seite.ƒ ‚Wie sieht er denn aus?ƒ Sie zog eine neue Zigarette aus ihrem P€ckchen. ‚Schwarz, glut€ugig, exotisch. Zweifellos ein interessanter Mann und bestimmt die begehrteste Partie weit und breit.ƒ
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Er reichte ihr Feuer. ‚Er hat alles, wovon die Leserinnen Ihrer Zeitung tr€umen. Sie h€tten viel Erfolg damit, glaube ich.ƒ Hilde sch•ttelte den Kopf. ‚Wir sind kein Heiratsb•ro, Doktor. Ich will den Schmuck bringen. Haben Sie Photos von dem Schmuck?ƒ ‚Warum sollte ich Photos von dem Schmuck haben?ƒ Er legte seine Pfeife in den Aschenbecher, griff nach einem St€nder, auf dem zw†lf verschiedene Pfeifen in Reih und Glied standen, und nahm nach kurzem Z†gern eine dunkelbraune Parker heraus, durchblies sie ein paarmal und begann sie zu stopfen. ‚Darf ich dann Aufnahmen machen lassen?ƒ fragte Hilde. ‚Ich schicke schnell einen Photographen her•ber, ja?ƒ ‚Hoppla, hoppla, da mu… ich erst in den Dienstvorschriften nachsehen, ob ich so was erlauben darf ‡ƒ, er schielte •ber seine Pfeife auf Hilde, aber sie sah ihn nur mit einem so sonderbaren Blick an, da… er lachen mu…te und schnell hinzusetzte: ‚‡ na sch†n, meinetwegen. Aber ich wei… gar nicht, ob der Schmuck •berhaupt noch da ist. Einen Augenblick, bitte.ƒ Er dr•ckte auf einen Knopf, und gleich darauf trat Kriminalassistent Borchard ins Zimmer, ein kurzbeiniger junger Mann mit schwerf€lligem Oberk†rper und einem gro…en, runden, gelblichen Gesicht wie ein verrunzelter Winterapfel, in dem kleine, schwarze, ziemlich harte Augen wie dunkle Kn†pfe glitzerten. Dr. Frigge fragte: ‚Was ist mit dem Schmuck von Marmara? Ist er noch da?ƒ ‚Es wird gerade die Liste nochmals •berpr•ftƒ, sagte Kriminalassistent Borchard. ‚Kommt Marmara ihn holen?ƒ
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‚Nein, er hat gebeten, da… ihm die Sachen gebracht werden. In zehn Minuten fahre ich los, sowie wir mit der Liste fertig sind.ƒ Dr. Frigge sah Hilde an und sagte dann zu Borchard: ‚Warten Sie damit noch eine halbe Stunde. Der Schmuck soll erst noch photographiert werden.ƒ ‚Photographien?ƒ Der Kriminalassistent wandte seinen runden gro…en Kopf zur Seite und betrachtete Hilde mi…billigend. ‚Ja, f•r die Presseƒ, sagte Dr. Frigge. ‚Ist recht, Herr Kriminalratƒ, sagte Borchard ergeben und ging mit beleidigter Miene hinaus. Hilde rauchte noch einen Zug, warf ihre Zigarette fort und erhob sich. ‚Ich danke, Doktor. Es war nett von Ihnen, da… Sie mich wenigstens nicht ganz und gar im Stich gelassen haben. Es gibt wohl doch irgendwo noch einen winzigen Rest von menschlichem Gef•hl in Ihrer Kriminalistenbrust.ƒ ‚Anscheinendƒ, sagte Dr. Frigge. ‚Ich mu… selber staunen, was zwei blaue Augen alles verm†gen.ƒ Hilde blieb vor ihm stehen und sah ihn gro… und gerade an. ‚Kennen Sie zuf€llig irgend jemand, der blaue Augen hat?ƒ Er beugte sich vor. ‚Etwa nicht?ƒ Sie lachte. ‚Sehen Sie doch n€chstens einmal ein bi…chen genauer hin. W€re eigentlich an der Zeit, wenn man sich schon ein paar Jahre kennt.ƒ Damit reichte sie ihm die Hand. ‚Auf Wiedersehen, Herr Kriminalrat.ƒ Die Zeitung hie… JETZT und erschien jeden Morgen um elf Uhr in Hamburg. Es gab aber auch Ausgaben f•r West- und S•ddeutschland und eine f•r Berlin, die per Flugzeug jeden Tag im Morgengrauen hinausgingen. In ganz Deutschland waren die gelben Reklameschilder und -plakate mit der blauen schr€gen Schrift bekannt: ‚JETZT das gro…e deutsche morgenblatt mit der millionenauflageƒ ‡ ohne
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Punkt und Komma, und alles klein geschrieben. Der Propagandachef des Hauses hielt das f•r wirkungsvoll, und da die Auflage st€ndig von Monat zu Monat weiterstieg und sich bereits der Zweimillionengrenze n€herte, w€re es schwierig gewesen, ihn vom Gegenteil zu •berzeugen. Das Blatt stand im vierten Jahrgang und war eine Goldgrube. Es erschienen aber im gleichen Verlag auch noch ein paar Zeitschriften, die weniger gut gingen, so da… das ganze gro…e sechsst†ckige Haus, in dessen zahllosen Korridoren st€ndig ein verwirrendes Gewimmel war wie in einem Ameisenreich, einzig von JETZT lebte. Hildegard Schaunburg war vom ersten Tag an dabei. Sie hatte als Tippistin angefangen, war bald darauf Redaktionssekret€rin, dann Sekret€rin des Chefredakteurs geworden, und immer hatte sie durch ihr besonnenes und kluges Wesen und ihr klares Urteil •berrascht. Sie hatte nie die Absicht gehabt, Journalistin zu werden. Eines Tages geschah es aber, da… ein zorniger Senator in der Redaktion erschien, um den Chefredakteur mit blanken F€usten zusammenzuschlagen. Dem Senator war in JETZT bitteres Unrecht widerfahren, man hatte ihn in einen anr•chigen Zusammenhang mit einem Korruptionsfall gebracht, w€hrend er in Wirklichkeit und nachweisbar alles Menschenm†gliche getan hatte, um eben den korrupten Gesellen das Handwerk zu legen. Es war verst€ndlich, da… der brave Senator sch€umte, und es war ein Gl•ck, da… der Chefredakteur nicht anwesend war, er h€tte gewi… eine unangenehme Viertelstunde erlebt. Hildegard Schaunburg sprach mit dem W•terich und lie… alles •ber sich ergehen. Nachher schrieb sie eine Aktennotiz von anderthalb Seiten •ber den Fall und legte sie dem Chefredakteur auf den Tisch. Es war der Beginn ihrer Journalistenlaufbahn. Der Chef las die anderthalb Seiten und fand sie vorz•glich in ihrer knappen und leicht humorigen Art. Er gab sie in Druck,
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ohne ein Komma versetzt zu haben. ‚Senator ohne Furcht und Tadelƒ schrieb er dar•ber, und da er z†gerte, Hildegards vollen Namen ohne ihre Erlaubnis darunterzusetzen, teilte er ihren Vornamen in zwei H€lften, und ‚Hilde Gardenƒ war geboren. Von nun an hie… sie so. Sie wurde bald eine der schnellsten, vivsten und zuverl€ssigsten Reporter des Blattes. Sie hatte ‡ selten bei Frauen ‡ einen Blick f•r politische Zusammenh€nge, aber sie schrieb auch •ber viele andere Dinge. Sie schrieb •ber alles, wor•ber sie sich ein Urteil bilden konnte. Wovon sie nichts verstand, davon lie… sie die Finger. Nie schrieb sie •ber Mode, Filmstars oder sogenannte ‚Frauenfragenƒ. Das langweilte sie. Sie hatte Tito in Belgrad interviewt und war in London bei der Kr†nung der K†nigin gewesen. Sie schrieb aber auch •ber Kriminalf€lle oder interessante Gerichtsprozesse. Zuletzt war sie in Nordafrika und Nahost gewesen, um •ber die politische Bewegung der islamistischen V†lker zu berichten. Diese Artikelfolge lief nun in der dritten Fortsetzung, und in allen Zeitungsst€nden hing das Plakat: Marokko € Algier € Tunis Macht und Ohnmacht des Islams ‡ 250 Millionen Muselmanen warten auf ihre Stunde ‡ Ist der Heilige Krieg noch m†glich? Unsere Mitarbeiterin Hilde Garden ist soeben aus Nordafrika zur•ckgekehrt. ‡ Lesen Sie ihren fesselnden Bericht in JETZT dem gro…en deutschen morgenblatt mit der millionenauflage Nun sollte sie in K•rze nach Kanada fahren und eine gro…e Reportage •ber die deutschen Siedler schreiben. Die Absicht war, da… sie mehrere Monate in Kanada bleibe und das ganze weite Land durchreise. Sie freute sich unb€ndig auf diese Zeit und besch€ftigte sich bereits ernsthaft mit Vorstudien. Nat•rlich konnte sie nicht ahnen, da… sie an diesem Sommertag
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den ersten Schritt in ein Abenteuer getan hatte, das alle ihre Pl€ne •ber den Haufen werfen sollte. Es hing eng mit dem Marmara-Schmuck zusammen. Nach ihrem mi…gl•ckten Interview mit Kriminalrat Frigge fuhr Hilde in die Redaktion und verfa…te zwei Seiten Text •ber den Fall. Es war kein sehr aufregender Bericht, und sie hatte sich •berhaupt nur mit der Sache befa…t, weil im Augenblick nichts Interessanteres vorlag und sie ein Mensch war, der Stillstand nicht ertrug. Das einzig Bemerkenswerte an der ganzen Geschichte war ‡ bisher! ‡, da… ein junger Mann wie Gregor Marmara, der nach dem Kriege mit nichts als seinen zwei H€nden zu arbeiten angefangen hatte, heute eine der gr†…ten Farben‡ und Lackfabriken des Landes besa… und in seiner funkelnagelneuen Villa Schmuck f•r eine Viertelmillion in der Schreibtischlade herumliegen hatte. Das war immerhin bemerkenswert. Die Versicherung hatte sich denn auch geweigert, den Schaden zu ersetzen, weil der Schmuck unsachgem€… verwahrt gewesen war, und Marmara wollte sich bereits ‡ ohne allzu gro…e Ersch•tterung •brigens ‡ mit dem Gedanken vertraut machen, da… er um eine Viertelmillion €rmer geworden war. Aber es gibt Leute, die mit allem, was sie anfassen, Gl•ck haben. Selbst wenn ihnen scheinbar ein Ungl•ck widerf€hrt, wendet sich zuletzt doch alles wie durch ein Wunder zum Guten. Marmara war einer von dieser Sorte. Die Polizei fa…te den Einbrecher, und Marmara erhielt seinen Schmuck vollz€hlig zur•ck. Hilde schickte den Artikel durch einen der vielen uniformierten Boys, die st€ndig im Verlag umherschossen wie Pagen in einem Hotel der Grand-Palace-Klasse, zum Chefredakteur und fuhr dann in den sechsten Stock hinauf, um im Photolaboratorium nach den Bildern zu sehen. Dabei machte sie nun eine sonderbare Entdeckung.
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Der Laborant Lauterbach war ein hochgeschossener junger Bursche mit Sommersprossen und feuerrotem Schopf. Seine Fingern€gel waren vom st€ndigen Hantieren im Entwickler tiefbraun wie Tabak. ‚Tag, Lauterbachƒ, sagte Hilde. ‚Kann man schon etwas von dem Marmara-Schmuck zu sehen bekommen?ƒ ‚Wird gerade gew€ssert, Fr€ulein Garden.ƒ Die Vergr†…erungen waren eben erst fertig geworden und schwammen in einer gro…en wei…en Porzellansch•ssel umher. Hilde schob den Šrmel ihres Pullovers ein wenig h†her hinauf, fischte eines der Bilder aus dem Wasser und betrachtete es. Lauterbach trat neben Hilde und blickte •ber ihre Schulter. ‚Ganz sch†ner Kronschatz, was?ƒ Hilde nickte. ‚Nicht •bel. Die Steine k†nnte man noch ein bi…chen retuschieren. Damit sie mehr funkeln.ƒ Der Photograph hatte die Schmuckst•cke auf schwarzem Samt ausgebreitet, stark angeleuchtet und senkrecht von oben aufgenommen. Man sah kostbare Dosen, Ringe, Anh€nger und ungefa…te Steine, auch eine Halskette. Hilde wollte das Bild wieder in die Wanne tun, als sie mit einemmal stutzte. Etwas auf der Photographie fesselte pl†tzlich ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie zog das Bild n€her an die Augen, als wollte sie ein undeutliches Detail genauer erkennen. ‚Das kann doch nicht m†glich sein‰ƒ Ohne aufzublicken, sagte sie mit leiser ungeduldiger Stimme zu Lauterbach: ‚Haben Sie eine Lupe da?ƒ Er sah sie etwas verdutzt an und holte aus einer Schublade ein gro…es rundes Vergr†…erungsglas. ‚Was ist denn los, Fr€ulein Garden?ƒ fragte er neugierig, aber Hilde gab keine Antwort. Sie betrachtete wie gebannt die Photographie durch die Lupe. ‚Himmel ‡ das ist sie.ƒ Sie lie… beide H€nde sinken.
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Der Laborant kam mit seinem sommersprossigen Gesicht ganz nahe an das ihre heran und platzte fast vor Neugierde. ‚Was gibtˆs denn blo…, Fr€ulein Garden?ƒ Hilde sah ihn einen Moment lang mit weiten blicklosen Augen an, dann legte sie die Lupe auf den Tisch. Sie lief mit dem nassen, tropfenden Bild aus dem Laboratorium. Der junge Mann starrte ihr •berrascht nach. Darauf nahm er eins der andern Bilder aus der Wanne, betrachtete es eingehend durch die Lupe, konnte aber beim besten Willen nichts Aufregendes entdecken. Verdrossen klatschte er das Bild wieder in die Wanne. ‚Verr•ckte R•be.ƒ Friedrich S. Kopp war Chefredakteur der Zeitung JETZT. Er war ein abenteuerlicher Mann mit einem verwitterten Haudegengesicht, Mitte F•nfzig oder mehr, und hatte sp€rliches, gelbbraunes Haar, das bisweilen die Farbe ein wenig €nderte, je nachdem der Friseur beim Nachf€rben sich um eine Nuance vergriff. Kopp war nicht gerade eitel, er hatte blo… eine Abneigung gegen das Altwerden. Friedrich S. Kopp war viele Jahre in den Vereinigten Staaten gewesen ‡ als Korrespondent eines gro…en Berliner Zeitungskonzerns, als Pressechef eines amerikanischen Zirkus, als Veranstalter von Boxk€mpfen, hatte wohl auch etwas mit Spionage und Abwehr zu tun gehabt, doch dar•ber war nichts Genaues bekannt. Ohne Zweifel hatte er ein bewegtes Leben gef•hrt, das abenteuerliche Furchen in seinem ledernen Gesicht hinterlassen hatte. Nun hatten sich die St•rme gelegt, er war Chefredakteur der gr†…ten deutschen Morgenzeitung, verdiente f•nftausend Mark im Monat und herrschte in seinem Reich wie der lebensweise und abgekl€rte Ministerpr€sident eines kleinen Staatsgef•ges, in dem tagein, tagaus das Leben geordnet und durchorganisiert ohne nennenswerte Ersch•tterungen abl€uft. Er war zumeist wohlwollend und v€terlich, doch es konnte auch geschehen,
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da… seine Augen pl†tzlich hart und gef€hrlich wurden, und dann war es gut, aus seiner N€he zu verschwinden. Das kam aber nicht h€ufig vor, denn er fiel nicht gern aus der Rolle des reifen Olympiers, dem nichts Menschliches fremd ist. Hilde liebte er wie ein guter Onkel ‡ nicht ganz aus freien St•cken vielleicht, doch er war klug genug, sich das einzureden. ‚W€re ich zwanzig Jahre j•nger, Hilde, wir w•rden ein Gespann abgeben, das sich sehen lassen kann.ƒ Derartiges lie… er gelegentlich fallen. Wenn Hilde dann in sein immer noch scharfes und k•hnes M€nnergesicht blickte, schien sie seine Worte nicht ernstlich zu bezweifeln, doch sie verweilte nicht l€nger bei einer so rein theoretischen Vorstellung. Sie kam mit dem noch nassen Bild in sein Zimmer, und er sa… an seinem Schreibtisch und las gerade ihren Bericht •ber den Marmara-Schmuck. Sie war ein wenig atemlos und erregt. ‚Herr Kopp, eine tolle Sache!ƒ Er schob die schwere Schildpattbrille auf die Stirn und wandte sich zu ihr. ‚Was ist los, Hilde?ƒ Sie trat neben ihn und hielt auf der flachen Hand die Photographie. ‚Die Aufnahme von den Schmucksachen, die bei Marmara gestohlen wurden. Da, sehen Sie sich das an. Die Halskette mit den zw†lf runden Anh€ngern.ƒ ‚Ich sehe. Und was weiter?ƒ Hilde sagte: ‚Die geh†rt mir.ƒ Von dem nassen Bild fiel ein Tropfen auf Kopps Hand, und er wischte ihn mechanisch fort. ‚Ihnen? Wieso?ƒ ‚Wieso? Weil ich sie erkenne. Sie geh†rt mir.ƒ ‚Woran erkennen Sie sie? Solche Halsketten gibt es viele.ƒ ‚Nein, gibt es nicht. Es ist ein besonders gearbeitetes St•ck, schwer, barock, und der Clou ist das da!ƒ Sie zeigte nerv†s auf
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die Anh€nger. ‚Das sind die zw†lf Tierkreiszeichen ‡ in der richtigen Reihenfolge, sehen Sie? Steinbock, Wassermann, Fische und so weiter. Nur die Jungfrau ist vertauscht, sie steht vor dem L†wen. Anstatt hinter ihm. Das hat ein Goldschmied in Klausenburg einmal versehentlich bei einer Reparatur falsch gemacht, und es blieb dann dabei. Glauben Sie immer noch, da… es viele solche Ketten gibt?ƒ ‚Das glaube ich nichtƒ, versetzte Kopp ruhig. ‚Aber worauf hinaus wollen Sie?ƒ Er sah Hilde mit seinen tiefliegenden gr•nlichen Augen an, die schon so viel gesehen hatten, da… sie das Staunen verlernt hatten. ‚Wenn das Ihre Halskette ist, wie ‡ meinen Sie ‡ kommt sie dann zu dem Marmara-Schmuck?ƒ ‚Genau dar•ber zerbreche ich mir auch den Kopfƒ, sagte Hilde. ‚Als ich die Kette das letztemal trug, war ich dreizehn Jahre alt. Das war Weihnachten 1939.ƒ ‚Lange her.ƒ Kopp runzelte die Brauen. ‚Woher wissen Sie das •berhaupt so genau?ƒ ‚Ich wei… es ganz genauƒ, sagte Hilde, und ein sinnender Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie legte das nasse Bild auf eine Zeitung, wischte sich die Hand fl•chtig am Rock ab und setzte sich auf die Lehne des grasgr•nen Ledersessels, der an der Seite des Schreibtisches stand. ‚Es waren die letzten Weihnachten zu Hause bei meinem Vater. Ich habe ihn seither nicht wiedergesehen.ƒ ‚Und die Halskette?ƒ fragte Kopp sachlich. ‚Auch nicht.ƒ ‚Wo waren Sie eigentlich zu Hause? War das nicht irgendwo in ‡ in ‡ƒ ‚In Siebenb•rgenƒ, sagte sie. Sie blickte vor sich nieder. ‚Eine merkw•rdige Geschichte.ƒ ‚Mit der Halskette? Erz€hlen Sie doch. Reden Sie ein bi…chen von sich.ƒ ‚Ach, so was ist immer langweilig f•r andere.ƒ
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Er sagte einfach und herzlich: ‚Mich hat noch nie etwas gelangweilt, was Sie betrifft, Hilde.ƒ In Klausenburg, der siebenb•rgischen Stadt, die auf rum€nisch Cluj hie…, hatte Hildes Vater Stephan Schaunburg eine chemische Fabrik besessen. Er hatte zuvor gro…e Fabriken in Hessen und W•rttemberg geleitet und war 1928 nach Rum€nien gegangen, um dort einen Betrieb zu errichten, wie es in jener Zeit in ganz S•dosteuropa keinen gab. Hilde war zwei Jahre alt gewesen damals. Sie wuchs in dem dreisprachigen Gebiet auf, das bis 1918 zu Ungarn geh†rt und Kolozsv‹r gehei…en hatte, dann an Rum€nien abgetreten wurde und in dem seit vielen Jahrhunderten Deutsche siedelten, die Siebenb•rger Sachsen. Hilde war in Frankfurt geboren, aber sie erinnerte sich an keine andere Heimat mehr als an das wellige Siebenb•rger Land. Sie sprach Deutsch und Rum€nisch und Ungarisch mit der gleichen Selbstverst€ndlichkeit, und ihre deutsche Herkunft war ‡ wenn •berhaupt ‡ lediglich an den dicken weizengelben Haarflechten zu erkennen und an ihren Augen, die hell, klar und wach in die Welt blickten, als suchten sie immer irgend etwas zu entdecken, das hinter den Dingen verborgen war und das sonst niemand zu ahnen schien. Ihre Mutter starb, als Hilde acht Jahre alt war. Wenn Hilde heute an ihre Mutter zur•ckdachte, so sah sie eine sch†ne, schlaksige blonde Frau mit rosigem Teint vor sich, die in einem bl•henden Obstgarten unter einem strahlenden Himmel in der H€ngematte lag, ein Bein herausbaumeln lie… und mit einer h•bschen, vergn•gten Stimme ‚Machen wirˆs den Schwalben nachƒ sang. Es war nicht ganz klar, warum gerade dieses Bild in Hildes Erinnerung haftengeblieben war, aber es erschien ihr immer, auch heute noch, seltsam sch†n, fern und traumhaft. Ihr Vater war ein gro…er stattlicher Mann gewesen mit einer m€chtigen vorgew†lbten Stirn, einer k•hn geschwungenen
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Nase, strengen Augen und einem energischen Kinn, das eine Kerbe hatte. Der Vater brachte sie im Winter 39 nach Dresden in ein Pensionat. Das war seit langem geplant gewesen, Hilde sollte in Deutschland ausgebildet werden und studieren, und so wie der Krieg sich in jenem laxen und unentschlossenen Winter anlie…, war Stephan Schaunburg nicht der einzige, der die Situation verkannte und mit einem baldigen Frieden rechnete. Auf dem Hauptbahnhof zu Dresden, am 28sten Dezember 1939, sah Hilde ihren Vater zum letztenmal. Er trug eine braune rum€nische Pelzm•tze und einen dicken, pelzgef•tterten schwarzen Mantel. Er sah gro… und m€chtig aus, hob sie hoch wie eine Feder, k•…te sie, stellte sie wieder auf den Bahnsteig, stieg in den Zug und winkte fr†hlich, als der Zug abfuhr ‡ winkte ‡ winkte ‡ bis er nur noch ein Punkt war und hinter den Signalmasten der Bahnanlage verschwand. Obwohl seither f•nfzehn Jahre vergangen waren, lebte er in Hildes Vorstellung immer noch als der kraftvolle Mann von Ende Drei…ig, der er damals gewesen war. Die Halskette, ein sch†nes St•ck aus schwerem Dukatengold, hatte sie von einer ihrer Gro…m•tter geschenkt bekommen, als sie zur ersten Kommunion ging. Aber der Vater fand es unangebracht, da… ein Kind derart kostbaren Schmuck trug, und so durfte Hilde die Halskette nur bei besonderen Anl€ssen tragen, an Geburtstagen oder zu Weihnachten. Ansonsten wurde sie im Tresor verwahrt, sie erinnerte sich genau, in einer duftenden Sandelholzkassette, die noch von ihrer Mutter stammte und allen Schmuck der Familie enthielt ‡ keine besonderen Sch€tze, aber doch eine Reihe guter solider Erbst•cke. Nach Dresden ins Pensionat hatte Hilde die Halskette nicht mitnehmen d•rfen, sie war in Rum€nien zur•ckgeblieben. Im Tresor des Vaters.
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‚Ich habe ihn seit damals, im abfahrenden Zug, nicht wiedergesehenƒ, sagte Hilde. ‚Im Herbst 44 bekam ich den letzten Brief von ihm, dann war Schlu…. Ich habe noch jahrelang durch die Suchdienste nach ihm forschen lassen, aber ohne Resultat. Diese Kette jetzt, verstehen Sie, Herr Kopp, ist das erste, wenn auch indirekte Lebenszeichen von meinem Vater. Vielleicht hat Marmara sie von ihm gekauft oder eingetauscht ‡ jedenfalls d•rfte er etwas •ber sein Schicksal wissen.ƒ Kopp sah Hilde an und schwieg eine Weile. Sie kam ihm anders vor, als er sie kannte, weicher, gel†ster. Sie hatte ohne Sentimentalit€t gesprochen, aber Kopp ahnte, wie nah ihr das alles ging. Er hatte hinter ihren Worten Bilder gesehen, die in ihrem Herzen lebten. Er wu…te, wieviel ihr die Erinnerung an ihre ferne Kindheit bedeutete und wie sehr sie jetzt hoffte, durch Marmara etwas •ber ihren Vater zu erfahren. Kopp war skeptisch, aber das war er von Natur aus. Er sagte sich, da… das Leben voller Zuf€lle stecke. ‚Marmara ist doch Rum€ne?ƒ fragte er. ‚Eben. Er ist Rum€ne, und darum glaube ich, da… er meinen Vater gekannt hat. Ich halte es sogar f•r ziemlich sicher. Wie k€me er sonst zu der Halskette?ƒ ‚M†glich, m†glich.ƒ Kopp schien nicht sehr •berzeugt. ‚Versuchen Sieˆs jedenfalls, Hilde. Vielleicht haben Sie Gl•ck.ƒ
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Zweites Kapitel BEGEGNUNG MIT MARMARA Da, wo sich heute ‡ unweit des Hafens ‡ der ausgedehnte Komplex der Marmara-Werke befand, war noch im Jahre der W€hrungsreform nichts als Ruinenland gewesen. Dann hatte Marmara zu bauen angefangen und in knapp einem Jahr eine Fabrik hingestellt, die das Modernste war, was es in der Branche bis dato gab. Wie er das geschafft hatte, ein junger Mann, ein Ausl€nder, der nur notd•rftig die deutsche Sprache beherrschte und nichts besa… als zwei kr€ftige H€nde und einen gutfunktionierenden Verstand ‡ nun, es war kein Geheimnis, wie Marmara das fertiggebracht hatte. Bereits 1946, im finstersten Tr•mmerjahr, als alles t€tige Leben brachlag und die L€den leer und kahl waren und es nichts zu kaufen gab au…er h€…lichen Spielwaren aus schlechtem Holz und h€…lichen B•chern aus schlechtem Papier, da hatte sich Marmara bereits ‡ damals noch in Wien ‡ in einem leeren Schuppen niedergelassen und eine Fabrikation begonnen. Er hatte Beziehungen zu ausl€ndischen Stellen und verstand es ‡ wenn auch auf abenteuerlichen Wegen ‡, Rohstoffe aus der Schweiz heranzuschaffen. Von Anfang an hatte er sich vorgenommen, Lacke und sp€ter auch Farben herzustellen, davon verstand er etwas, und er lie… sich durch alle Verlockungen der Zeit von seinem Ziel nicht abbringen. Ihn interessierten weder Lucky Strikes noch Wodka, Leder, Stoffe, Schrott oder sonst etwas. Er wollte Lacke herstellen in einer Zeit, da es keine Lacke gab und die Menschen nur zu gern ihre ramponierten H€user und M†bel ein
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wenig aufgefrischt h€tten. Auf dieses Ziel ging er los mit der gradlinigen Entschlossenheit, mit der jemand einen Nagel einschl€gt. Sein Betrieb wuchs in wenigen Monaten. Er mu…te immer mehr Arbeiter einstellen, er kaufte eine leerstehende Fabrik und neue Maschinen, und das Gesch€ft stand in Flor, bis er sich ‡ von einem Tag zum andern ‡ entschlo…, alles zu Geld zu machen und das Land zu verlassen. Er erkannte, da… Œsterreich ein zu kleines Absatzgebiet war, das in seine hochfliegenden Pl€ne nicht hineinpa…te. Er verkaufte den Betrieb. Alles, was er einnahm, machte er zu Gold und Dollars, ging •ber die Gr•ne Grenze nach Deutschland und fing nochmals von vorn an. Marmara erz€hlte die Geschichte seines Aufstiegs jedem, der sie h†ren wollte. Er machte keinen Hehl daraus, da… er einer von jenen war, die nur durch die besonderen Umst€nde einer entwurzelten Zeit hochgekommen waren, denn, wie er zu sagen pflegte, die Welt war nun einmal auf dem Prinzip des Fressens und Gefressenwerdens aufgebaut, und eine andere Alternative gab es nicht. Ihm war es recht. Er wollte nicht gefressen werden. Er war ein Mensch, der handeln mu…te, wenn er das Gef•hl haben wollte, zu leben. Wer dem Chef der Marmara-Werke das erstemal gegen•bertrat, war ein wenig erstaunt, wenn nicht gar entt€uscht. Man erwartete unwillk•rlich einen festgef•gten, wuchtigen Mann vom Unternehmertyp zu sehen, mit jener merkw•rdigen Ausstrahlung von Energie und Unnachgiebigkeit, die solchen M€nnern eigen ist und der sie gut zwei Drittel ihres Erfolges verdanken. Nichts davon war bei Marmara sp•rbar. Man stand einem jungen verbindlichen Mann von Mitte Drei…ig gegen•ber, hochgewachsen, sehr schlank, mit gro…en schwarzen Augen in einem glatten Gesicht von leicht mongolischer Pr€gung, mit vollen, festen Lippen und einer
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jungenhaften Art, herzlich und mit einem prachtvollen Gebi… zu lachen, die sofort f•r ihn einnahm. Er sah entschieden etwas fremdl€ndisch aus, und die norddeutschen Frauen fanden ihn denn auch interessant und anziehend, obwohl sie ‡ oder gerade weil sie ‡ etwas Hintergr•ndiges in seinem Wesen ahnten, das ihren blonden Gem•tern ein wenig unheimlich war. Hilde gab ihre Karte ab, und eine reh€ugige Sekret€rin in kanariengelber Bluse bat sie mit vornehm gehauchter Fl•sterstimme, im Wartezimmer Platz zu nehmen, sie m•sse Herrn Marmara erst suchen, er sei irgendwo im Betrieb. Hilde blickte sich in dem Wartezimmer um. Es unterschied sich von dem Wartezimmer eines smarten Zahnarztes nur durch eine Vitrine, in der die Produkte der Marmara-Werke ausgestellt waren ‡ eine Menge bunter Pakete und Blechdosen. Von fern h†rte man die Ger€usche der Fabrik, ein leises Vibrieren war in der Luft. Hilde ging auf und ab, setzte sich, rauchte eine Zigarette, stand auf, ging wieder umher. Sie war leicht ver€rgert, da… sie warten mu…te. Dann erschien lautlos wieder die Sekret€rin, die wie eine verwunschene Prinzessin aussah, und hauchte irgend etwas, da… Herr Marmara leider verhindert sei und lebhaft bedaure ‡ Hilde lie… sie nicht zu Ende reden. Sie sagte, es handle sich um den Schmuck, und sie komme nicht von der Zeitung, sondern ganz privat, und das Fr€ulein m†ge Herrn Marmara doch ausrichten, da… sie nicht daran d€chte, sich abweisen zu lassen. Die vornehme Sekret€rin zog gekr€nkt die eine Braue empor, sagte: ‚Bitte, ich willˆs noch einmal versuchenƒ und setzte sich wieder in Trab. Hilde rauchte eine zweite Zigarette und blickte verdrossen auf die farbigen Dosen mit MarmaraLack.
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Es vergingen zehn Minuten, und dann †ffnete sich eine T•r, die bisher verschlossen gewesen war. Das Fr€ulein mit den Rehaugen bat Hilde ernst und feierlich, einzutreten. Sie machte ein Gesicht dabei, als w•rde sie sagen: ‚Exzellenz lassen bitten.ƒ Marmara kam ihr l€chelnd entgegen. Ihre Visitenkarte hielt er noch in der Hand. ‚Entschuldigen Sie, Fr€ulein Garden, da… ich Sie habe warten lassen. Man hat mir gesagt: Eine Dame von der Presse. Ich wu…te nicht, da… Sie mich privat sprechen wollen.ƒ ‚Machen Sie da so gro…e Unterschiede?ƒ Hilde setzte sich auf den angebotenen Sessel und blickte Marmara an. Er sah gepflegt und elegant aus, und sie bemerkte, da… absolut nichts Levantinisches an seiner Erscheinung war. Gl•cklicherweise sa… seine Krawatte ein wenig schief, und sein dunkles Haar stand ein wenig wirr. ‚Ich bin leider gezwungen, Unterschiede zu machenƒ, sagte er. ‚Die Herrschaften von der Presse ‡ alles reizende Leute, aber sie haben alle den gleichen Fehler: sie sind schrecklich neugierig.ƒ Marmara sprach l€ngst flie…end Deutsch und machte keine Fehler mehr, doch er hatte einen starken Akzent, der ihn sofort als Ausl€nder verriet. ‚Seitdem die Sache mit dem Schmuck bekanntgeworden istƒ, fuhr er fort, ‚werde ich von der Presse •berlaufen. Als ob ich zumindest ein Aga Khan w€re.ƒ Er fuhr mit seiner langen, schmalen Hand durch die Luft, hielt sie einen Augenblick in der Schwebe und lie… sie leblos fallen. Hilde fand die Geste h•bsch und eindrucksvoll. ‚Was nicht ist, kann noch werdenƒ, sagte sie. ‚Sie fangen ja erst an.ƒ Marmara lachte. ‚Danke. So weit geht mein Ehrgeiz nicht. Ich produziere Farben und Lacke. Das ist kein romantisches Gesch€ft, Fr€ulein Garden. Darf ich Ihnen ein Glas Sherry anbieten?ƒ
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Hilde legte den Kopf auf die Seite und z†gerte einen Moment. ‚Ich glaubeƒ, sagte sie dann, ‚ich h€tte nichts dagegen.ƒ Sie folgte Marmara mit dem Blick, w€hrend er zu einem Schr€nkchen ging und eine dunkle Flasche und zwei Gl€ser holte. Er hatte einen leichten, geschmeidigen, lautlosen Gang. Marmara go… zwei Gl€ser ein und reichte Hilde das eine. Sie trank einen Schluck und stellte das Glas auf den runden Tisch. Marmara setzte sich auf das Ledersofa und blickte Hilde erwartungsvoll an. ‚Was f•hrt Sie zu mir, Fr€ulein Garden?ƒ ‚Ich wollte eine Auskunft von Ihnenƒ, sagte sie. ‚Ich wollte Sie fragen, ob Sie etwas •ber Herrn Schaunburg wissen. Er war zuletzt in Klausenburg.ƒ Marmara hob ein wenig den Kopf. ‚Schaunburg? In Cluj?ƒ ‚Es ist mein Vater. Sie m•ssen wissen, ich hei…e in Wirklichkeit Schaunburg. Garden ist ein Pseudonym. Seit 1944 bin ich ohne jede Nachricht von meinem Vater.ƒ ‚Und wie kommen Sie auf die Idee, da… ich Ihnen etwas •ber ihn sagen k†nnte?ƒ Marmaras gro…e dunkle Augen ruhten wachsam und gespannt auf Hilde. Sie zog aus ihrer Handtasche die Photographie des Schmucks hervor, zeigte sie ihm und sagte, da… die Halskette mit den Tierkreiszeichen ihr geh†rt habe, bevor sie 1939 nach Deutschland gegangen sei. Sie erz€hlte ihm in knappen Umrissen ihre Geschichte, und Marmara h†rte aufmerksam zu. ‚Sie werden verstehenƒ, schlo… sie, ‚da… es mich brennend interessiert, von Ihnen zu erfahren, wie Sie zu der Kette gekommen sind. Vielleicht kann ich auf diese Weise eine Spur meines Vaters entdecken.ƒ Marmara antwortete nicht sogleich. Er nahm sein Sherryglas, trank es leer und stellte es langsam und vorsichtig auf den Tisch. Sein Gesicht war ernst, glatt, braun. Er hielt die Augen gesenkt, als •berlegte er.
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Dann sagte er: ‚Ich f•rchte, Fr€ulein Schaunburg, ich mu… Sie entt€uschen. Ich war nie in Cluj. Ich kenne leider auch Ihren Vater nicht. Die Halskette habe ich in Wien gekauft.ƒ ‚In Wien?ƒ fragte Hilde verwundert. ‚Wann?ƒ Marmara dachte einen Augenblick nach. ‚Das war wohl im Fr•hjahr 1946ƒ, sagte er mit einigem Z†gern, ‚eventuell auch etwas sp€ter. So genau kann ich das nicht mehr sagen. Wissen Sieƒ, fuhr er lebhafter fort, ‚ich habe damals jeden Groschen, den ich verdiente, sofort in Werte umgesetzt. Das Geld war nichts als ein schlechtbedrucktes Papier, aber es gab trotzdem immer noch Leute, die es dringend brauchten. Ich habe wahllos alles aufgekauft, was Gold und Goldeswert war. So kam ich auch zu dieser Halskette.ƒ ‚Aber von wem haben Sie sie gekauft? Von wem!ƒ unterbrach ihn Hilde ungeduldig. ‚Von wem ‡ ja, wenn ich das noch w•…te.ƒ Marmara erhob sich und begann im Zimmer unruhig auf und nieder zu gehen. ‚Ich denke schon die ganze Zeit dar•ber nach, Fr€ulein Schaunburg. Ich m†chte Ihnen gerne helfen, aber ‡ƒ Er blieb stehen, er hob die Arme und lie… sie wieder fallen. ‚Es gab damals ein Caf• in Wien ‡ Caf• Max hie… es, in der Praterstra…e. Ein obskures Ding, Treffpunkt der Ostfl•chtlinge, dort h†rten Sie nie ein deutsches Wort, und man tat gut, nicht unbewaffnet hinzugehen. Im Caf• Max konnten Sie alles kaufen. Gold und Brillanten, falsche P€sse, ungarische Schweine, bulgarischen Weizen, rum€nische Gr€finnen ‡ was soll ich Ihnen erz€hlen? Sie wissen, was f•r eine Zeit das war. Ich habe die Halskette dort von irgend jemandem gekauft. Aber ob es ein Mann war oder eine Frau, ob jung oder alt ‡ ich wei… es nicht mehr. Diese ganz verr•ckte Zeit liegt wie ein Nebel hinter mir. Manchmal frage ich mich allen Ernstes, war das wirklich alles wahr, hab ich das wirklich alles erlebt ‡ nun, Sie verstehen. Es geht gewi… nicht nur mir so. Wir hatten alle keinen Boden unter den F•…en. Ich habe damals viele
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Gesch€fte im Caf• Max gemacht, gekauft, verkauft, gehandelt, ich war nicht gerade ‡ wie sagt man? ‡ nicht gerade etepetete. Ich habe mich angepa…t. Ich wollte weiterkommen, es zu etwas bringen. Ich hatte mir vorgenommen ‡ aber das geh†rt jetzt nicht zur Sache.ƒ Er unterbrach seine Wanderung durch den Raum und blieb vor Hilde stehen. ‚Der langen Rede kurzer Sinn, Fr€ulein Schaunburg: Ich wei… nichts •ber die Halskette. Es tut mir ehrlich leid, aber was soll ich tun? Ich w€re froh gewesen, wenn ich eine gute Nachricht f•r Sie gehabt h€tte. Leider ist das nicht der Fall.ƒ ‚Schadeƒ, sagte Hilde niedergeschlagen. ‚Sie wissen, der Mensch hofft, solange er lebt. Es sind zehn Jahre her, sicherlich h€tte ich von meinem Vater irgendeine Nachricht bekommen, wenn er noch am Leben w€re. Aber solange manˆs nicht schwarz auf wei… hat, gibt man die Hoffnung nicht auf. Man klammert sich an jeden Strohhalm.ƒ ‚Ich kann das verstehenƒ, sagte Marmara. Es war W€rme und Anteilnahme in seiner Stimme. ‚Auch ich habe Angeh†rige in Rum€nien zur•ckgelassen, von denen ich nie wieder etwas geh†rt habe. Ich wei…, wie das ist.ƒ Sie sprachen noch eine Zeitlang •ber die gemeinsame Heimat, dann erhob sich Hilde. ‚Entschuldigen Sie, da… ich Sie aufgehalten habe, Herr Marmara. Ihre Zeit ist kostbar. Ich mu… jetzt gehen.ƒ Sie hielt ihm ihre schmale, feste Hand hin. ‚Es war nett, Sie kennenzulernen.ƒ ‚Momentƒ, sagte Marmara hastig. ‚Gehen Sie noch nicht, Fr€ulein Schaunburg! Warten Sie bitte einen Augenblick!ƒ Damit drehte er sich um und ging rasch mit langen Schritten zu einem Tresor in der Ecke hinter seinem Schreibtisch. Schon im Gehen zog er den Schl•sselbund aus der Tasche. ‚Was ist denn los?ƒ fragte Hilde verwundert.
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Marmara †ffnete den Safe und stand halb verdeckt hinter der Panzert•r. ‚Einen Moment!ƒ rief er abermals. Hilde h†rte ihn fahrig in den F€chern des Tresors hantieren, ohne zu erkennen, was er dort tat. Gleich darauf kam Marmara quer durch den ganzen Raum auf sie zu. In der Hand hielt er die Halskette, warf sie im Rhythmus seiner Schritte hoch und fing sie in der hohlen Hand wieder auf. Die goldenen Scheiben klirrten leise wie Dukaten. Marmara sah Hilde mit einem merkw•rdigen L€cheln an. ‚Ist sie das oder ist sie es nicht?ƒ Hilde erkannte die Halskette sofort. Mit einer fast z€rtlichen Geste nahm sie sie aus seiner Hand. ‚Ja, nat•rlich ist sie es. Sehen Sie hier, die Jungfrau und der L†we ‡ die sind miteinander vertauscht.ƒ Ein paar Augenblicke war Hilde leicht bewegt, als sie das vertraute St•ck nach so langer Zeit wieder in H€nden hielt. ‚F•nfzehn Jahre ist es her, seit ich sie zum letztenmal trug. Ich war noch ein Kind ‡ƒ Spielerisch legte sie die Kette an ihren Hals, warf einen Blick in den Spiegel an der Wand, es war ein Impuls. Gleich darauf, fast abrupt, gerade als f€nde sie ihre Geste unsinnig und sogar geschmacklos, nahm sie die Kette in die eine Hand und hielt sie Marmara hin. ‚Hier.ƒ Sie war wieder v†llig sachlich und k•hl. Aber Marmara nahm die Kette nicht. Er wich einen Schritt zur•ck und machte eine Bewegung der Abwehr. ‚O nein, nein‰ Die Kette geh†rt Ihnen.ƒ ‚Was soll das hei…en?ƒ ‚Sie ist Ihr Eigentum. Sie m•ssen sie behalten.ƒ Hilde blickte erstaunt auf. Dann zog sie die Brauen zusammen, eine Falte entstand zwischen ihnen.
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‚Reden Sie keinen Unsinn. Sie haben die Kette richtiggehend erworben. Wahrscheinlich mu…te mein Vater sie verkaufen, oder wie auch immer ‡ sie geh†rt jetzt Ihnen.ƒ ‚Bitte, Fr€ulein Schaunburg! Tun Sie mir den Gefallen!ƒ In seiner Stimme war ein dunkler, erregter Unterton und im Blick seiner gro…en, gl€nzenden Augen etwas fast Flehendes, das zugleich aber auch zwingend und seltsam unwiderstehlich war. Hilde stand einen Moment wie betroffen. ‚Aber das geht nicht. Ich kann doch nicht ‡ƒ ‚Doch. Sie k†nnen. Sie m•ssen.ƒ Im n€chsten Augenblick nahm er ihr die Kette aus der Hand, trat nah an sie heran und steckte das Schmuckst•ck kurzerhand in die rechte Seitentasche ihrer Kost•mjacke. ‚So! Und jetzt reden wir nicht mehr davon. Mir bedeutet dieses St•ck gar nichts. Ein paar Unzen Metall. Ihnen aber bedeutet es Kindheit, Familie, Erinnerung und alles m†gliche. Es ist bei Ihnen besser aufgehoben, glauben Sie mir. Sie m•ssen es behalten.ƒ Hilde gab sich geschlagen. Das war eigent•mlich. Es lag nicht in ihrem Wesen, sich fremdem Willen zu f•gen, sie war von Natur aus hart und selbstbewu…t und tat immer genau das, was sie tun wollte, und keinen Fingerbreit mehr. Aber Marmara gegen•ber war das von Anfang an anders. Sie wurde sich dessen erst sp€ter bewu…t. Es war etwas in seiner Art, das sie gefangennahm, sie h€tte nicht sagen k†nnen, was. Sie hatte nicht das Gef•hl der Fremdheit ihm gegen•ber, und doch war sie sich dar•ber klar, da… er anders war als alle Menschen, denen sie bisher begegnet war. Sie konnte nicht nein sagen, als er ihr die Kette zum Geschenk machte. Sie reichte ihm die Hand. ‚Ich danke Ihnen, Herr Marmaraƒ, sagte sie herzlich. ‚Sie haben mir eine gro…e Freude gemacht.ƒ Er hielt mit beiden H€nden ihre Hand fest. ‚Sie ‡ mirƒ, sagte er fast feierlich.
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Er brachte sie auf den Fabrikhof hinaus und zu ihrem azurblauen kleinen Kabriolett. Hilde stieg ein, und Marmara schlo… den Schlag. Sie lie… den Motor an. ‚Leben Sie wohl, Herr Marmara.ƒ ‚Auf Wiedersehen, Fr€ulein Schaunburg.ƒ Der Wagen fuhr davon, auf das gro…e Portal zu. Ohne sich umzudrehen, streckte Hilde den Arm senkrecht in die Luft und winkte mit der Hand zur•ck ‡ gerade als w•…te sie genau, da… Marmara immer noch dastand und ihr nachblickte. Ja, er stand da und blickte ihr l€chelnd nach, bis ihr Wagen verschwunden war. Dann zerrann langsam sein L€cheln, und eine vage Unruhe flackerte in seinem Gesicht. Immer noch starrte er in die Richtung, in der Hilde davongefahren war. Er zog tief Luft ein und atmete langsam aus. Dann drehte er sich um und ging mit gesenktem Kopf •ber den Hof. Ein Herr mit einer Aktentasche kreuzte seinen Weg, zog tief den Hut und gr•…te mit s•…lichem L€cheln: ‚Meine Hochachtung, Herr Marmara.ƒ Marmara sah ihn mit einem abwesenden Blick an, und es war offensichtlich, da… er den Mann nicht bemerkte. Er war mit seinen Gedanken weit fort‰ Herr Kopp, der Chefredakteur, zeigte sich ehrlich erstaunt, als ihm Hilde von ihrem Besuch bei Marmara berichtete und schlie…lich die Halskette hervorholte und vor seinen Augen hin und her pendeln lie…. ‚Und er hat sie Ihnen einfach so gegeben ‡ ohne weiteres?ƒ fragte Kopp ungl€ubig. Hilde l€chelte. ‚Was hei…t gegeben, richtig aufgedr€ngt hat er sie mir. Ich wollte sie gar nicht haben, aber er duldete keinen Widerspruch.ƒ ‚Dann kann das Ding kein Gold seinƒ, sagte Kopp entschieden. ‚Pures Dukatengold, Sie k†nnen sich darauf verlassen.ƒ
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Der Chefredakteur blickte mi…billigend auf das glitzernde Schmuckst•ck. ‚Dann stimmt irgendwas anderes nichtƒ, knurrte er. ‚Was, wei… ich nicht. Aber da… diese Geschichte mit rechten Dingen zugeht, werden Sie mir nicht weismachen.ƒ Hilde blickte in das verwitterte alte Haudegengesicht. ‚Mu… immer gleich was Schlechtes dahinterstecken, wenn ein Mensch einmal was Gutes tut?ƒ ‚He?ƒ Kopp schob die Brille auf die Stirn und sah Hilde mit seinen scharfen, gr•nlichen Augen am•siert an. ‚Ich will Ihnen etwas sagen, Hilde, und Sie d•rfen das ruhig annehmen von einem Mann, der doppelt so alt ist wie Sie und immerhin ein kleines St•ckchen von der Welt gesehen hat. Die Menschen sind niemals so gut, wie man hofft, und niemals so schlecht, wie man glaubt. Sie sind immer von beidem etwas. Damit mu… man rechnen, wenn man sich vor Entt€uschungen bewahren will.ƒ ‚Ich wei…ƒ, sagte Hilde leicht gereizt. ‚Ich bin ja kein Dornr†schen, das seit hundert Jahren schlummert. Ein bi…chen wei… ich auch schon, wieˆs in der Welt zugeht.ƒ Kopp l€chelte. ‚Sie finden es vollkommen normal, da… ein Mensch wie Marmara Weihnachtsmann spielt und mir nichts dir nichts schwergoldene Halsketten verschenkt?ƒ Hilde zuckte die Achseln. ‚Mein Gott, warum nicht? Eine gro…z•gige Geste. Ihn machtˆs nicht arm und mir machtˆs Freude. Ich fand es riesig nett von ihm.ƒ Sie sah Kopp an und setzte fast herausfordernd hinzu: ‚Er ist •berhaupt ein sehr netter Mensch.ƒ ‚Finden Sie?ƒ fragte er •berrascht. ‚Ausgesprochen. Warum wundert Sie das?ƒ ‚Ochƒ, in seinen Augenwinkeln standen jetzt sp†ttische kleine F€ltchen, ‚es wundert mich gar nicht. Sie haben eben einen etwas abenteuerlichen Geschmack. Schlie…lich sind Sie ja auch eine abenteuerliche Frau.ƒ
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‚Dankeƒ, sagte Hilde. ‚Ich werde dar•ber nachdenken, ob das ein Kompliment ist. Auf Wiedersehen, Herr Kopp.ƒ Sie l€chelte ihm zu und ging aus dem Zimmer. Einen Augenblick sah Kopp ihr nach, dann griff er noch einmal nach dem Bericht •ber den Marmara-Schmuck und schrieb mit der Hand noch ein paar Zeilen hinzu‰ Tags darauf erschien Marmara in Hildes Wohnung. Sie hatte sich aus England einige neuere Werke •ber Kanada kommen lassen, um sich mit den dortigen wirtschaftlichen und sozialen Verh€ltnissen vertraut zu machen. Die B•cher waren am Morgen eingetroffen, und jetzt kniete Hilde behaglich in dem Schreibtischsessel, die Ellbogen auf die Tischplatte gest•tzt, und bl€tterte in den dicken B€nden, las hier und dort wahllos ein paar Zeilen, noch ohne System, nur, um erst einmal Bekanntschaft mit den B•chern zu machen. ‚Entschuldigen Sie den Žberfallƒ, sagte Marmara. ‚Ich habe Sie in der Redaktion gesucht und bekam Ihre Adresse. Haben Sie einen Augenblick Zeit?ƒ ‚Nat•rlichƒ, sagte Hilde fast etwas zu schnell. ‚Kommen Sie herein.ƒ Sie warf einen Blick in den Spiegel und fuhr sich mit der Hand •bers Haar. ‚Es sieht zwar ein bi…chen unordentlich bei mir aus, aber das wird Sie hoffentlich nicht st†ren.ƒ ‚Bestimmt nicht.ƒ Hilde hatte ein h•bsches Appartement von anderthalb Zimmern im sechsten Stock eines neuerbauten Hochhauses, mit einer kleinen Terrasse und dem Blick auf die Alster. Es gab viele B•cher bei ihr, viele Koffer, Stapel von Zeitungen, Zeitschriften, Mappen mit Material und Manuskripten, alles lag umher, und man wu…te nicht, war es zum Einpacken bereitgelegt oder eben erst ausgepackt worden. Die Unruhe, die st€ndig Hildes Leben erf•llte, war auch in ihrer Wohnung
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sp•rbar. Es war die Behausung eines Menschen, der nur heimkommt, um immer wieder von neuem fortzufahren. Marmara blickte sich um, betrachtete aufmerksam die M†bel, die Teppiche, die modernen, nicht allzu verr•ckten Bilder ‡ so, als wollte er alles nach seinem Wert absch€tzen. ‚W•nschen Sie die Wohnung zu kaufen?ƒ fragte Hilde l€chelnd und ri… Marmara aus seiner Betrachtung. ‚Ich? Warum?ƒ ‚Weil Sie sich so genau hier umsehen. Fast wie ein Gerichtsvollzieher.ƒ Einen Moment war Marmara beinahe verlegen. ‚Verzeihen Sie, es geschah ganz unbewu…t. Es interessiert mich, zu sehen, wie Sie leben.ƒ ‚Ich glaube, ganz behaglichƒ, sagte Hilde und nahm schnell einen Nylonstrumpf von der Lehne eines Sessels. ‚Zumindest f•hle ich mich sehr wohl hier.ƒ Sie blickte sich suchend nach dem zweiten Strumpf um, aber da hatte ihn Marmara schon auf dem Teppich unter der Hausbar entdeckt. ‚Da ist der andereƒ, sagte er und reichte ihn ihr. ‚Dankeƒ, lachte Hilde. ‚Sie haben Talent zum Aufr€umen. Sie k†nnen jeden Tag kommen, ich zahle Ihnen eine Mark pro Stunde.ƒ Sie ging ins Badezimmer und warf beide Str•mpfe in einen gebl•mten Chintzbeutel. Marmaras Blick folgte ihren Bewegungen, als sie durch den Raum ging, dem Spiel der H•ften und wie sie die schlanken hohen Beine setzte. Ihre Taille war schmal und geschmeidig. Sie kam zur•ck, und er sah ihr mit einem forschenden, fast besorgten Ausdruck entgegen. ‚Haben Sie viel mit Gerichtsvollziehern zu tun?ƒ Hilde blieb betroffen stehen und wu…te im Augenblick gar nicht, was sie sagen sollte. Sie fand die Frage sonderbar, offenkundig im Gegensatz zu Marmara, der sie mit gro…en,
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schwarzen Augen freim•tig und ohne Scheu ansah, als h€tte er eine ganz beil€ufige Frage gestellt. ‚Ich verstehe nicht ganzƒ, sagte Hilde, und ihre Stimme war jetzt um eine Spur dunkler als sonst. ‚Wie kommen Sie darauf?ƒ ‚Mir fiel das nur so ein, weil Sie vorhin etwas von einem Gerichtsvollzieher sagten. Es hat aber weiter nichts auf sich.ƒ ‚Ich hab ein paar schlechte Jahre gehabtƒ, sagte Hilde nach einer kleinen Pause, ‚wie wahrscheinlich mehr oder weniger jeder in diesem Land. Da kam es schon vor, da… sich einer von diesen freundlichen Herren bei mir blicken lie…. Aber seit drei, vier Jahren geht es mir unberufen gut, ich kann nicht klagen.ƒ ‚Hatten Sie es schwer, damals ‡ in der schlechten Zeit?ƒ ‚Mein Gott, nat•rlich hatte ichˆs schwer. Es ging mir dreckig. Aber wie w€rˆs, wenn wir von erfreulicheren Dingen reden wollten?ƒ ‚Entschuldigen Sieƒ, sagte Marmara, aber es war ihm anzusehen, da… er nur ungern das Thema verlie…. Hildes schlechte Jahre schienen ihn besonders zu interessieren. ‚Wollen wir was trinken?ƒ Hilde †ffnete den einen Fl•gel der Hausbar, wodurch automatisch auch der zweite Fl•gel aufging. ‚Danke, ja.ƒ ‚Whisky, Kognak, Wermut, Campari?ƒ ‚Kognak, bitte.ƒ Hilde schenkte zwei Gl€ser ein und reichte eines Marmara. Sie prostete ihm zu und sagte auf rum€nisch: ‚Eu beu in sanatatea D-voastra!ƒ Einen Augenblick leuchteten seine Augen auf, und er erwiderte den Trinkspruch: ‚Eu beu in sanatatea D-voastra.ƒ Dann fuhr er auf rum€nisch fort: ‚Sie sprechen noch Rum€nisch?ƒ
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‚Ich wei… nichtƒ, sagte Hilde in der gleichen Sprache, ‚ich mu… es erst wieder probieren. Es ist Jahre her, seit ich zuletzt Rum€nisch gesprochen habe.ƒ ‚Es geht aber doch gro…artig!ƒ rief Marmara begeistert. ‚Sie sprechen ganz ohne Akzent. Erstaunlich.ƒ ‚Haben Sie oft Gelegenheit, mit Landsleuten zu sprechen?ƒ ‚Dochƒ, sagte Marmara. ‚Mein Chauffeur ist Rum€ne. Auch in der Fabrik habe ich ein paar Landsleute angestellt.ƒ Er stellte sein halbgeleertes Glas auf den Rand des Schreibtisches und erblickte die funkelnagelneuen B•cher •ber Kanada. Etwas verwundert fragte er: ‚Sie wollen doch nicht am Ende auswandern, oder?ƒ ‚Nur vor•bergehend. Ich will •ber die deutschen Siedler in Kanada schreiben.ƒ ‚Bleiben Sie lange fort?ƒ ‚Drei, vier Monate, denke ich.ƒ ‚Was?ƒ fragte er fast best•rzt. ‚So lange? M•ssen Sie denn jeden Siedler einzeln interviewen?ƒ Hilde lachte. ‚Das nicht. Aber Kanada ist gro…. Ich will auch die Einwanderungsm†glichkeiten untersuchen und •ber die Erfahrungen berichten, die die Siedler gemacht haben. Das alles l€…t sich nicht in vierzehn Tagen erledigen.ƒ Marmara griff wieder nach seinem Glas und deutete damit auf die B•cher. ‚K†nnen Sie Ihren Bericht nicht einfach aus diesen W€lzern abschreiben?ƒ ‚Ich glaube nicht, da… so etwas gingeƒ, sagte Hilde. ‚Sie scheinen komische Vorstellungen vom Journalismus zu haben.ƒ ‚Mir w€re lieber, Sie blieben hier.ƒ Hilde hob rasch den Kopf. Sie f•hlte seinen Blick so stark und brennend auf sich ruhen, da… sie ein wenig in Verwirrung geriet. ‚Warum?ƒ fragte sie.
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Er sah sie schweigend noch zwei, drei Augenblicke an, dann sagte er: ‚Eigentlich bin ich gekommen, um mich •ber Ihren Zeitungsartikel zu beschweren ‡ ich fand ihn nicht ganz fair, wissen Sie. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich wollte Sie einfach Wiedersehen. Ich w€re auch ohne Zeitungsartikel gekommen.ƒ Er lachte pl†tzlich jungenhaft auf und zeigte seine Z€hne. ‚Ich wollte Sie unbedingt und so schnell wie m†glich Wiedersehen. Das darf ich doch hoffentlich sagen. Oder gef€llt es Ihnen nicht?ƒ ‚Momentƒ, sagte Hilde, ohne auf seine Frage einzugehen. ‚Wie war das soeben? Mein Artikel war nicht fair? Was wollen Sie damit sagen?ƒ ‚Nunƒ, lenkte Marmara ein, ‚fair ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Aber das von der Halskette h€tten Sie ruhig weglassen k†nnen. Das war eine private Sache zwischen uns beiden, die keinen Menschen etwas angeht.ƒ ‚Zum Kuckuck, wovon reden Sie?ƒ rief Hilde. ‚Die Halskette ist doch mit keinem Wort in dem Artikel erw€hnt!ƒ ‚Nicht?ƒ Marmara l€chelte. ‚Dann wissen Sie vielleicht nicht mehr genau, was Sie geschrieben haben.ƒ Hilde starrte ihn einen Augenblick an, lief dann in die Diele und holte die Zeitung, die noch im Briefeinwurf steckte. Sie entfaltete sie und blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Die Balken•berschrift lautete: MARMARAS SCHMUCK WIEDER ZUR STELLE. EINBRECHER GEFASST. SCHNELLE ARBEIT KRIMINALRAT DR. FRIGGES. Marmara trat dicht hinter Hilde und blickte •ber ihre Schulter. Sie sp•rte seinen Atem an ihrer Schl€fe. Es irritierte sie. ‚Der letzte Absatzƒ, sagte er. Hilde las: ‚Als Kuriosum sei noch erw€hnt, da… sich unter den Schmucksachen auch eine goldene Halskette (siehe oberes Bild ganz links) befand, die ehemals Eigentum der Journalistin
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Hildegard Schaunburg ‡ den Lesern von JETZT als Hilde Garden wohlbekannt ‡ gewesen ist. Sie hatte sie vor vielen Jahren in Rum€nien zur•cklassen m•ssen und heute auf obiger Photographie wiedererkannt. Es stellte sich heraus, da… Herr Marmara die Kette kurz nach Kriegsende in Wien gekauft hatte. Als er h†rte, da… sie Eigentum unserer Mitarbeiterin sei, bat er sie, ihr das Schmuckst•ck als Geschenk •berreichen zu d•rfen ‡ ein nobles und gener†ses Angebot, das denn auch nicht abgeschlagen wurde.ƒ Hilde lie… die Zeitung sinken. ‚So ein Quatschƒ, sagte sie. ‚Das kann nur Kopp geschrieben haben, niemand sonst wei… von der Sache. Ich warˆs wirklich nicht, Herr Marmara ‡ Ehrenwort.ƒ ‚Ach, die Sache ist erledigt.ƒ Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand und warf sie auf einen Sessel. ‚Es h€tte mich nur gewundert, wenn Sie selbst das in die Zeitung gesetzt h€tten.ƒ Er legte seine schmalen braunen H€nde leicht um ihre Oberarme und fragte unvermittelt: ‚Also, wann fahren Sie nun wirklich nach Kanada?ƒ ‚Sobald ich meine Papiere beisammen habeƒ, sagte sie. ‚Das wird noch eine Zeitlang dauern.ƒ ‚Was machen Sie morgen abend?ƒ ‚Morgen abend? Nichts Besonderes. Warum?ƒ ‚Ich gebe eine Party f•r Doktor Frigge. Ich bin ihm zu Dank verpflichtet, wissen Sie. Ich w•…te sonst nicht, wie ich mich ihm erkenntlich zeigen sollte. Bei uns zu Hause w•rde ich ihm einfach eine goldene Zigarettendose schenken ‡ das hei…t, er w€re mein Todfeind, wenn ich das Gott beh•te vers€umen w•rde. Aber hierzulande ist man in derartigen Dingen manchmal etwas humorlos. Ich habe mich darum f•r eine Party entschieden. Ich w•rde mich riesig freuen, wenn auch Sie k€men, Fr€ulein Schaunburg. Darf ich damit rechnen?ƒ ‚Ich komme gernƒ, sagte Hilde. ‚Ist das eine gro…e, feierliche Angelegenheit mit Spitzen der Beh†rden und
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Nobelpreistr€gern oder mehr eine Art Volksbelustigung ‡ ich frage nur, damit ich wei…, was ich anziehen soll.ƒ ‚Kleines Abendkleid, gutb•rgerlichƒ, sagte Marmara. ‚Eine solide, gediegene, langweilige Party, Damen und Herren von Vierzig aufw€rts, Musik von Chopin bis €u…erstenfalls Johann Strau…, Canasta- und Skatkenntnisse erw•nscht, aber nicht Bedingung. Es gibt Pilsner-hell und Export-dunkel, nach elf Uhr Champagner, auf Wunsch wird auch Kaffee Hag oder Pfefferminztee serviert. Mit einem Wort, es soll eine regelrechte Orgie werden. Wann soll ich Ihnen meinen Wagen schicken?ƒ ‚Nicht zu fr•h, ich mu… noch arbeiten. Sagen wir, um zehn?ƒ ‚Wann immer Sie wollen. Ich bin sehr gl•cklich, da… Sie kommen.ƒ
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Drittes Kapitel ‚WOLLEN SIE MIR EIN SCHLOSS SCHENKEN?ƒ Am folgenden Abend stand um Punkt zehn Uhr die Limousine vor der Haust•r, ein m€chtiger amerikanischer Luxuswagen. Der Chauffeur trug eine schwarze Uniform und eine flache Tellerm•tze. Es war Carol Jonescu, der Rum€ne, ein untersetzter Mann Mitte Drei…ig, schwarz und kantig wie ein Klavier, mit einem gro…en, fleischigen Gesicht und hei…en, pechschwarzen Augen. Er starrte Hilde neugierig an, ri… die M•tze vom Kopf und gr•…te grinsend. ‚Guten Abend, Fr€ulein Garden.ƒ ‚Guten Abend.ƒ Er †ffnete den Schlag, und Hilde stieg ein. Sie trug einen leichten Mantel •ber dem Abendkleid. Es war eine schw•le Sommernacht, und etwas Erregendes lag in der Luft. Hilde hatte die goldene Kette umgelegt und sich sorgf€ltig zurechtgemacht. Eingeh•llt in den Duft ihres Parf•ms sa… sie zart und schmal in dem ger€umigen Wagen, der lautlos •ber den Asphalt dahinglitt. Die vorbeiflitzenden Lichter spiegelten sich in ihren weitge†ffneten Augen. Ein leichtes Vibrieren war in ihren Nerven, und sie wu…te, es lag nicht daran, da… sie zu einer langweiligen Party fuhr. Sie hatte den Tag ziemlich vertr†delt, nichts Rechtes gearbeitet, war unruhig und zerstreut gewesen, und immer wieder waren ihre Gedanken, ob sie wollte oder nicht, bei Marmara gelandet. Es war etwas an dem Mann, das sie anzog. Sie hatte bei M€nnern immer in erster Linie das Kameradschaftliche gesucht und sich niemals in gro…en Liebesaff€ren verloren ‡ abgesehen vielleicht von einer ersten,
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dummen romantischen Liebe, an die sie heute nicht ohne ein ungl€ubiges L€cheln zur•ckdachte. Sie hatte ein paar nette, wohltemperierte Freundschaften gehabt, die sie nie aus dem Gleichgewicht brachten und die sie, wenn die Zeit um war, ebenso schnell und unpathetisch gel†st hatte, wie sie sie eingegangen war. Hilde war im Grunde eine gerade und sachliche Natur. Es sagte ihr zu, wenn M€nner sie wie ihresgleichen behandelten, kein Getue machten, keine Phrasen droschen und alle Anstrengungen unterlie…en, um mit aller Gewalt geistreich, charmant und absolut einmalig zu erscheinen. Sie war d•nnh€utig und hellh†rig und hatte ein feines Gef•hl f•r alles Unrechte und Gek•nstelte. Sie wu…te, da… sie auf M€nner wirkte, aber sie mochte es gar nicht, wenn M€nner sich in ihrer Gegenwart sogleich an die Krawatte fuhren und sich • tempo in unwiderstehliche Tausendsasas verwandelten. Sie mochte gelassene, ungek•nstelte M€nner, die so waren, wie sie waren. F•r problematische Naturen, Gr•bler, Nebler, K•nstler und Phantasten fehlte ihr das Verst€ndnis. Sie liebte die Klarheit und sie liebte klare K†pfe, die wu…ten, was sie wollten. Aber eigentlich spielte die Liebe keine gro…e Rolle in Hildes Leben. Sie war ein Kind dieser Zeit, hatte eine harte Jugend voller Not, Angst und Greuel hinter sich und war heute mit ihren achtundzwanzig Jahren weit •ber ihr Alter gereift. Was sie war, war sie aus eigener Kraft. Sie liebte ihren Beruf und ihre Freiheit und konnte sich ein Leben an der Seite eines Mannes kaum vorstellen. Freilich zog sie die Gesellschaft von M€nnern der von Frauen vor, sie hatte ja auch fast st€ndig mit allen m†glichen Sorten von M€nnern zu tun und wu…te, wie man ihnen begegnete. Aber sie hatte den deutlichen Wunsch, ihr Leben allein zu leben und ihre Unabh€ngigkeit zu wahren. Es kam nie
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vor, da… ein Mann sie aus der Fassung brachte, sie behielt immer ihren k•hlen Kopf. Und nun sa… sie in Marmaras Wagen und war unruhig und voller Erwartungen wie ein braves, b•rgerliches, kleines M€dchen, das zu seinem ersten Rendezvous f€hrt. Sie mu…te unwillk•rlich •ber sich l€cheln. Doch es war eine sehr angenehme Empfindung, diese erwartungsvolle Unruhe, sie f•hlte sie auf der Haut und bis in die Fingerspitzen, und sie dachte nicht daran, sich etwa zur Ordnung zu rufen oder vielleicht bestimmte Vors€tze zur fassen, wie sie sich in dieser oder jener Situation verhalten w•rde. Sie wu…te, Marmara hatte sie nicht wegen Dr. Frigges Party eingeladen. Er hatte die Party nur zum Vorwand genommen, um ihr n€herzukommen. Sie wu…te das genau und hatte •berhaupt nur aus diesem Grunde die Einladung angenommen. Sie hatte nichts dagegen, da… Marmara ihr n€herkam. Er gefiel ihr, und es tat ihr wohl, wenn er sie mit seinen gro…en, schwarzen Augen ansah, wenn er mit seiner dunklen Stimme zu ihr sprach und mit seinen rassigen, braunen H€nden ihre Arme ber•hrte. Pl†tzlich dachte sie daran, wie lange es wohl her war, da… ein Mann sie gek•…t hatte, aber sie konnte sich nicht sofort besinnen und lie… den Gedanken fallen. War wohl nichts Aufregendes gewesen, sie h€tte es sonst nicht vergessen. Der Wagen hatte das Stadtinnere verlassen und fuhr in die Vorstadt hinaus. Hilde dachte an Marmaras Mund mit den festen, vollen Lippen, und sie mu…te sich gestehen, da… sie neugierig war, zu erfahren, wie er k•…te‰ Die neuerbaute Villa stand auf dem Gel€nde der Fabrik, abseits in einem noch etwas durchsichtigen Garten, mit dem Eingang von der Stra…e her. Etwa ein Dutzend schwerer, komfortabler Wagen parkte in langer Reihe am Stra…enrand. Gegen•ber, auf der anderen Seite, gerade als h€tte er es nicht gewagt, sich zu den Gro…en und M€chtigen zu gesellen, stand,
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etwas versch•chtert und unscheinbar, ein abgewetzter, kleiner, gr•ner Volkswagen. Hilde kannte die Nummer. Es war der Wagen des Ehrengastes des heutigen Abends: Kriminalrat Dr. Frigge. Einen Moment hatte Hilde gef•rchtet, in eines jener typischen H€user zu kommen, wie sie Neureiche sich von smarten Innenarchitekten einrichten lassen und wo man nie wei…, ob man sich in einem surrealistischen K•nstlerklub, im Schaufenster einer M†belfabrik oder in einer Filmdekoration befindet. Hilde war angenehm •berrascht. Das Haus war gediegen und behaglich eingerichtet, ohne alle Extravaganz und sichtlich zu dem einzigen Zweck, bewohnt zu werden. Da und dort verriet sich unaufdringlich Marmaras Herkunft aus dem griechisch-orthodoxen Osten: einige Ikonen, Wandteppiche, Kupferger€te, die den R€umen W€rme und etwas Pers†nliches gaben. Es waren tats€chlich fast durchweg €ltere Herrschaften anwesend, gesetzte Bankherren, Direktoren und Industriekapit€ne, mit tatkr€ftigen Gesichtern und dem rosigen Speckansatz der Arrivierten, die durch nichts mehr zu ersch•ttern waren. Die Damen sahen zum Teil wie ehemalige Turnierreiterinnen aus, die langsam am Vergilben waren, teils trugen sie weichgepolsterte Doppelkinne und hochgeschn•rte Busen, aber allesamt waren sie in Gew€nder geh•llt, denen nicht ann€hernd das Geld anzusehen war, das sie gekostet haben mochten. In einer entfernten Ecke des einen Salons sa… ein sanfter junger Pianist am Fl•gel, der wie Clara Schumann zu ihrer besten Zeit aussah und sehr diskret den Hindu-Song von Rimskij-Korsakoff mit zarten Fingerchen auf die Tasten hauchte.
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Die G€ste sa…en und standen gruppenweise in den beiden gro…en hohen R€umen umher. Eine Unterhaltung von ged€mpfter Fr†hlichkeit war im Gange. Hilde, in ihrer blonden Schlankheit und Jugend, mit ihren hellen, gl€nzenden Augen, die voller Leben waren, nahm sich unter den gesetzten Erscheinungen ein wenig fremdartig aus. Man hatte fast das Gef•hl, als m•…te sie von rechtswegen einen Knicks machen, wenn sie den w•rdigen Herrschaften die Hand reichte. Sie wurde mit wohlwollendem L€cheln begr•…t. Die Herren waren von ihr angenehm •berrascht, die Damen gaben sich leutselig und schienen ihr weder ihre Schlankheit noch ihre Jugend •belzunehmen. Dr. Frigge, ein Glas Export-dunkel in der Hand, stand an den Kamin gelehnt und wurde von drei kriminalistisch interessierten Damen lebhaft ausgefragt. Sie interessierten sich f•r alle Sorten von Lust- und Massenm†rdern und hatten alles dar•ber gelesen, was in den illustrierten Bl€ttern erschienen war, also nicht wenig. Aber es war nat•rlich etwas ganz anderes, solche Geschichten authentisch aus dem Munde eines echten Kriminalrats zu vernehmen. Dr. Frigge hatte ihnen bereits die historischen F€lle von Haarmann, Gro…mann und K•rten erz€hlt und war gerade bei Landru, dem Pariser Witwent†ter. Er erz€hlte ihnen alles, was er selber da und dort aus den illustrierten Bl€ttern •ber die F€lle aufgeschnappt hatte. Wenn sein Ged€chtnis ihn im Stich lie…, erfand er ein paar haarstr€ubende Details hinzu, die die Damen ganz besonders aufregten. Ab und zu st€rkte er sich mit einem Schluck Bier. Marmara ging mit Hilde auf ihn zu. Als Frigge die beiden erblickte, entschuldigte er sich bei den Damen, stellte sein Glas auf den Kaminsims und ging ihnen entgegen. Die Damen waren recht ungehalten, denn es war ihnen noch nicht restlos klar, auf welche Weise Landru die Witwen umgebracht hatte, ehe er sie in den Ofen steckte und verbrannte.
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‚Darf ich Ihnen unsern Kriminalrat Doktor Frigge vorstellen?ƒ sagte Marmara etwas f†rmlich zu Hilde. ‚Er ist der Mann, der ‡ƒ ‚Schon gut, schon gutƒ, wehrte Dr. Frigge lachend ab und ergriff Hildes Hand, die sie ihm entgegenstreckte. ‚Keine gro…en Worte, wir sind gute alte Freunde, nicht wahr, Hilde?ƒ ‚Ich hoffe, da… wir das sindƒ, sagte sie. ‚Und wie f•hlt man sich als Ehrengast und Held des Abends?ƒ Dr. Frigge schielte zur Kaminecke hin•ber. ‚Ungef€hr wie ein rechter Fu… in einem linken Schuh, wenn Sie sich das vorstellen k†nnen.ƒ ‚M•ssen Sie Geschichten erz€hlen?ƒ ‚Schrecklich, ja.ƒ Er deutete auf Hildes goldene Halskette. ‚Ist das vielleicht das Ding, •ber das gestern die r•hrende Geschichte in der Zeitung stand?ƒ Seine Augen blickten ein wenig sp†ttisch, und Hilde sagte schnell: ‚Ja, das ist das Ding. Aber nicht ich habe die r•hrende Geschichte geschrieben, sondern Kopp. Er hat es ohne mein Wissen getan.ƒ ‚Macht ja nichts weiterƒ, sagte Dr. Frigge beg•tigend. ‚Ich fandˆs sehr wirkungsvoll. So was lesen die Leute immer gern.ƒ ‚Wir wollen Sie nicht l€nger aufhalten, Doktorƒ, sagte Marmara liebensw•rdig und deutete auf die drei Damen, die ungeduldig her•berblickten. ‚Ich glaube, Sie werden sehns•chtig erwartet.ƒ Er nickte ihm l€chelnd zu, nahm Hilde am Arm und ging mit ihr weiter. Dr. Frigge sah ihnen einen Augenblick mit schmalen, sinnenden Augen nach. Dann drehte er sich um und ging zu seinen dankbaren Zuh†rerinnen zur•ck. Marmara wich nicht von Hildes Seite. Sie schlenderten durch die R€ume, plauderten hier und da bei einzelnen Gruppen, und immer wieder wurde Hilde von Leuten, die ihre Artikelserie in JETZT lasen, gefragt, ob ihre bronzene Br€une noch von der Sonne Afrikas stamme, und sie bejahte, es sei
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sehr hei… gewesen unten und die Sonne habe m€chtig gebrannt. Die Frauen taten, als beneideten sie sie rasend um ihr ungebundenes Leben und ihre Selbst€ndigkeit, obwohl keine von ihnen auch nur einen Tag ohne das Bankkonto ihres Mannes h€tte leben wollen. Hilde beobachtete Marmara, und es machte ihr Freude, zu sehen, wie gewandt und heiter er mit den Leuten umging. Er blieb immer der gleiche, immer von einer frischen, nat•rlichen Herzlichkeit und einem offenbar angeborenen, unaufdringlichen Charme. Es lag fast nie an dem, was er sagte, sondern wie er es sagte, an seiner Art zu l€cheln, an seinen Gesten. Als etwas sp€ter Champagner serviert wurde, hielt er eine kleine Ansprache, um Dr. Frigge zu danken. Er sprach gel€ufig und mit einfachen Worten. Der Kriminalrat blickte w€hrenddem mit unbeweglichem Gesicht auf die Bl€schen, die aus seinem Sektkelch aufstiegen. Nachdem allseits auf sein Wohl getrunken worden war, sprach auch er ein paar Worte. ‚Sie bringen mich in Verlegenheit, Herr Marmaraƒ, sagte er ohne jede Spur von Verlegenheit. ‚Ich bin es nicht gewohnt, da… man mir in so feierlicher Art f•r etwas dankt, das ich gar nicht aus freien St•cken tue, sondern weil es mein Beruf ist und ich daf•r bezahlt werde, m†glichst viele Verbrecher zu fangen und gestohlenes Gut wieder zu beschaffen. In diesem Falle habe ich ein bi…chen Gl•ck gehabt ‡ oder besser gesagt, S i e haben Gl•ck gehabt ‡, und ich finde, da… das eigentlich kein besonderer Anla… zu Dankesbezeigungen ist. Die Polizei hat lediglich ihre Pflicht getan, ganz im Sinne der bekannten Melodie: die Polizei ‡ dein Helfer. Das ist alles.ƒ Die drei kriminalistisch interessierten Damen klatschten entz•ckt in die H€nde, und es kam nun zugleich mit dem Champagner etwas mehr Leben in die Gesellschaft. Der sanfte
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junge Pianist wurde keck und lie… •berm•tig die PizzicatoPolka von Strau… erklingen. ‚Sie sind mit Frigge befreundet?ƒ fragte Marmara, w€hrend er mit Hilde auf die Terrasse hinaustrat. ‚Befreundet ist vielleicht zuviel gesagt. Wir kennen uns ziemlich lange. Ich hatte beruflich †fters mit ihm zu tun und bin im gro…en ganzen immer gut mit ihm ausgekommen. Gelegentlich sind wir uns wohl auch einmal in die Haare geraten, aber anscheinend ohne nachteilige Folgen. Ich kenne mich nicht so recht bei ihm aus. Gef€llt er Ihnen?ƒ Marmara antwortete nicht sofort. Er zog zwei niedrige, bequeme Liegesessel aus Korbgeflecht heran und schob sie an die Balustrade der Terrasse. ‚O dochƒ, sagte er dann wie beil€ufig, ‚er gef€llt mir ausgezeichnet. Scheint sehr intelligent zu sein. Soll ich Ihnen was zu trinken holen?ƒ ‚Jetzt nicht. Geben Sie mir eine Zigarette.ƒ Sie setzten sich in die Korbsessel und rauchten. Der Himmel war wie dunkler Samt und sternen•bers€t. Ein sanfter warmer Wind wehte •ber die Terrasse und brachte den Geruch von Chemikalien her•ber. Die Werkhallen waren voll erleuchtet. Man h†rte das Stampfen und Arbeiten der Maschinen. Von hier aus war der ganze Fabrikhof zu •berblicken, er lag jetzt still und saubergefegt da wie eine weite wei…e Wiese aus Zement. ‚Nicht sehr romantisch, was?ƒ sagte Marmara sp†ttisch. ‚Kein duftender Jasmin, keine Pinien, keine wei…en Schw€ne, die lautlos •ber schwarze Wasser gleiten. Und was Sie da schlagen h†ren, ist nicht die Nachtigall und nicht die Lerche, sondern eine gew†hnliche Dampfturbine von 3000 PS. Eine n•chterne Welt, wie?ƒ ‚Finde ich nichtƒ, sagte Hilde. ‚Ich mache mir nicht viel aus Nachtigallenzauber und wei…en Schw€nen. Ich brauche keine romantischen Opernkulissen, um mein Gef•hlsleben in Schwung zu bringen. Auf Mondnacht, Jasminduft und
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H€ndchenhalten kann ich verzichten. Eine Fabrik, in der Maschinen laufen und Menschen arbeiten und etwas hergestellt wird, liegt mir mehr als eine romantische Burgruine auf einem hohen Fels.ƒ Sie lachte. ‚Hoffentlich verletze ich nicht zarte Gef•hle in Ihnen.ƒ ‚Sehe ich so aus?ƒ ‚Ich glaube, nicht. Aber Genaues wei… man nie. Gerade bei Leuten, die mit beiden Beinen im realen Leben stehen, kommt es h€ufig vor, da… sie ein zartbesaitetes Innenleben f•hren. Wahrscheinlich als Reaktion auf ihr robustes €u…erliches Leben.ƒ Marmara runzelte ein wenig die Stirn und warf in hohem Bogen seine Zigarette •ber die Balustrade in den Garten. ‚Nun, ich geh†re wohl nicht zu dieser komplizierten Sorteƒ, murmelte er. ‚Ich bin eine simple Natur. Au…en so wie innen.ƒ Etwas in seinem Tonfall hielt Hilde davon ab, zu antworten. Sie wandte ein wenig den Kopf und warf einen schnellen Blick auf ihn. Er sa… zur•ckgelehnt, und der Lichtschein, der von der erleuchteten Fabrik kam, erhellte sein Gesicht. Es war hart und unbeweglich und verriet nichts. Aus dem Innern des Hauses kamen Gel€chter und das d•nne Geklimper des Klaviers. Sie schwiegen beide eine Zeitlang, sa…en lang ausgestreckt in den niedrigen Sesseln und blickten zum dunklen Himmel empor. ‚Eine sch†ne Nachtƒ, sagte Hilde. ‚Fast neapolitanisch.ƒ Marmara schwieg immer noch. Pl†tzlich erhob er sich mit einem Ruck. Er trat vor sie hin und lehnte sich gegen die Balustrade, so da… sein Gesicht in Dunkel geh•llt war. Sie hatten bisher deutsch gesprochen. Er fiel jetzt, wahrscheinlich ganz unbewu…t und aus seinen Gedanken heraus, ins Rum€nische. ‚Fr€ulein Schaunburg, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, mi…deuten Sie meine Worte nicht und versuchen Sie nicht, eine
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versteckte Absicht dahinter zu entdecken. Wollen Sie mir das versprechen?ƒ Verwundert blickte Hilde zu ihm empor, ohne da… sie etwas anderes als die Umrisse seiner Gestalt gewahren konnte. ‚Gewi…ƒ, sagte sie, ‚aber was soll das?ƒ Seine Stimme wurde jetzt leiser und, wie ihr schien, ein wenig unsicher. ‚Ich m†chte etwas f•r Sie tunƒ, sagte er z†gernd. ‚F•r mich? Was?ƒ ‚Irgend etwas ‡ ich wei… nicht, was. Sie m•ssen es mir sagen. Jeder Mensch hat W•nsche ‡ W•nsche, die er sich bisher nicht erf•llen konnte, vielleicht auch nie wird erf•llen k†nnen. Auch Sie werden solche W•nsche haben. Sagen Sie sie mir! Seien Sie nicht bescheiden. Es k†nnen auch gro…e W•nsche sein, scheinbar unerf•llbare. Sprechen Sie ohne Scheu. Ich w€re der gl•cklichste Mensch, wenn ich sie Ihnen erf•llen k†nnte.ƒ Hildes Erstaunen wurde immer gr†…er. Sie sp•rte Unwillen in sich aufsteigen und sch•ttelte den Kopf. ‚Was ist pl†tzlich in Sie gefahren? Wollen Sie mir ein Schlo… schenken? Oder was? Ich begreife Sie nicht.ƒ Seine Stimme bekam etwas Bittendes, Beschw†rendes. ‚Ich wei…, Sie begreifen mich nicht. Wahrscheinlich ist das auch schwer. Ich m†chte Ihnen helfen. Sonst nichts. Ich m†chte etwas f•r Sie tun.ƒ ‚Aber ich brauche doch nichts!ƒ sagte Hilde fast gereizt. ‚Ich habe alles, was ich haben will. Ich verdiene gen•gend, um mir alles leisten zu k†nnen, wonach mir der Sinn steht. Mehr brauche ich nicht.ƒ ‚Trotzdem ‡ƒ ‚Ich f•rchte, Herr Marmaraƒ, sagte sie k•hl, ‚Sie sch€tzen mich falsch ein. Die Sorte Frau bin ich nicht. Wenn Sie es so anpacken, erreichen Sie bei mir gar nichts.ƒ
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Sie war entt€uscht. Sie war erbost und stand auf, um zu gehen. Da sagte Marmara leise: ‚Sie haben versprochen, mich nicht falsch zu verstehen. Und nun tun Sieˆs doch.ƒ Das war richtig. Sie verstand ihn offenbar falsch. Aber wie sollte sie ihn verstehen? Sie trat an die Balustrade und blickte hin•ber zu der Fabrik. Sie war mi…gelaunt und schwieg und wartete, was er sagen w•rde. Die Szene gefiel ihr nicht. Sie war entt€uscht von Marmara. Er kam ihr auf einmal versponnen und verstiegen vor und verlor in ihren Augen. Aber das dauerte nur einen Moment. Er begann wieder zu reden. ‚Sehen Sieƒ, sagte er und sprach jetzt pl†tzlich wieder deutsch, ‚es ist gar nicht so absurd, wie Sie meinen, wenn ich den Wunsch habe, etwas f•r Sie zu tun. Wir sind gewisserma…en Landsleute, beide Fl•chtlinge, beide haben wir die Familie und alles verloren, beide stehen wir allein in der Welt. Ich wei…, Sie hatten es schwer ‡ schwerer als ich. Ich habe keinen Tag in meinem Leben gehungert und nie etwas entbehrt. Ich hatte immer Gl•ck. Und wenn ich keins hatte ‡ ich bogˆs mir zurecht. Auch Sie haben es zu etwas gebracht, gewi…, Sie waren t•chtig, Sie haben Erfolg. Aber sehen Sie, ich hatte doch ganz andere M†glichkeiten in dieser Zeit. Was fr•her normalerweise das Lebenswerk eines Mannes war, das habe ich in sechs Jahren geschafft. Heute bin ich so weit, da… mich Geld kaum noch interessiert. Ich kannˆs nicht ausgeben, ich w•…te nicht, wof•r. Ich habe ein Dutzend Anz•ge, zwei Dutzend Krawatten, ein Auto, ein Haus, eine Fabrik ‡ was brauche ich mehr? Sie sollen verstehen, da… ich das Bed•rfnis habe, Ihnen eine Freude zu machen ‡ƒ ‚Sch†n, sch†nƒ, sagte Hilde, ‚aber warum gerade mir?ƒ ‚Gerade Ihnen, ja. Es liegt mir viel an Ihnen, Fr€ulein Schaunburg. Ich wei…, Sie sind keine Frau, bei der man mit gro…en Geschenken etwas erreichen kann. So warˆs auch nicht gemeint. Trotzdem, lassen Sie mich doch ‡ sogar auf die
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Gefahr hin, da… ich nie etwas bei Ihnen erreiche ‡ lassen Sie mich Ihnen doch etwas schenken!ƒ ‚Mein Gottƒ, sagte Hilde fast schon am•siert, ‚Sie sind wirklich ein sonderbarer Mensch. Ich h€tte das nicht gedacht. Ich hielt Sie f•r einen bereits vollkommen zivilisierten Westeurop€er. Aber offenbar gibt es doch noch eine halbversteckte †stliche R€tselecke in Ihrer Seele.ƒ Ein kleines L€cheln spielte um seine Mundwinkel. ‚Das ist nicht die Antwort, die ich erwarte.ƒ ‚Zum Kuckuckƒ, rief Hilde, ‚Sie haben mir die Halskette geschenkt, und das war schon allerhand.ƒ ‚Ach wasƒ, sagte er ungeduldig, ‚die hat ohnehin Ihnen geh†rt.ƒ ‚Das ist nicht wahr. Sie haben sie gekauft und bezahlt.ƒ ‚Mit wertlosem Papier. Das z€hlt nicht.ƒ ‚Also gut.ƒ Hilde wandte sich ihm zu und trat ganz dicht an ihn heran. Sie hob den Kopf und sah ihm nah ins Gesicht. ‚Damit Sie endlich Ruh geben ‡ schenken Sie mir einen gr•nen Luftballon. Aber den gr†…ten und gr•nsten, den es gibt. Sind Sie jetzt zufrieden?ƒ Er schwieg und r•hrte sich nicht und sah sie an. Die eine H€lfte ihres Gesichts war von den Lichtern erhellt, die andere lag im Schatten. Sie stand so nah vor ihm, da… er ihren K†rper sp•rte und den Duft ihres Haares. Sie atmete mit leichtge†ffneten Lippen, ein Glitzern war in ihren Augen. Er legte pl†tzlich beide H€nde in ihre Taille. Hilde hob sich auf die Zehenspitzen und schlang die Arme um seinen Hals. Hei… und feucht und weich f•hlte er ihren Mund auf dem seinen. Hildes Herz schlug schnell und hart, ihr Gesicht gl•hte, als sie sich mit einem Ruck aus seinen Armen befreite. ‚Kommen Sieƒ, sagte sie etwas rauh. ‚Gehen wir hinein.ƒ Marmara war au…er Atem geraten. Er sagte nichts. Er zog die Lippen zwischen die Z€hne und fuhr sich mit dem
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Taschentuch schnell •bers Kinn, um die Spuren von Hildes Rouge zu entfernen. Beide sprachen kein Wort. Dann gingen sie in das Haus. Als sie durch die Glast•re eintraten und gegen das helle Licht blinzelten, stand Dr. Frigge immer noch am Kamin und erz€hlte Geschichten. Sein Zuh†rerkreis hatte sich vergr†…ert, und aus den Mienen war zu schlie…en, da… der Kriminalrat haarstr€ubende Dinge berichtete. Aber er sah seine Zuh†rer nicht an. Sein Blick war auf die Glast•r gerichtet. Es war ein k•hler, forschender Blick. Betroffen fuhr Hilde ein wenig zur•ck, als sie diesen Blick pl†tzlich auf sich ruhen f•hlte. Sie wandte sich schnell, fast br•sk, ab. ‚Ich m†chte etwas trinkenƒ, sagte sie zu Marmara. Sie gingen ans B•fett, wo der Champagner in K•beln stand, und immer noch hatte Hilde das Gef•hl, als lie…e sie Dr. Frigge keine Sekunde aus den Augen. Doch sie sah sich nicht nach ihm um. Marmara schenkte zwei Gl€ser ein und reichte eines Hilde. Sie stie…en an, und •ber dem Rand der Gl€ser trafen sich ihre Blicke, jetzt im vollen Licht. Es schien ihnen beiden, als w•rden sie sich mit ganz neuen Augen ansehen. L€chelnd glitt Hildes Blick •ber Marmaras Gesicht. Eine Welle von Z€rtlichkeit erfa…te sie. Etwas war zwischen ihnen anders geworden. Sie wu…ten beide, da… das nur ein Anfang war‰ Ein korpulenter €lterer Herr mit kahlem Kopf und einem zierlichen, kohlschwarz gef€rbten B€rtchen, der wie ein Diplomat €lterer Schule aussah, kam auf Hilde zugesegelt und begann ein wirtschaftspolitisches Gespr€ch •ber Nordafrika. Er hatte als junger Mann in den zwanziger Jahren mit dem Export von Petroleumlampen nach Nordafrika und dem Nahen Osten viel Geld gemacht, und obwohl er sich inzwischen ganz auf die Erzeugung von Schiffsmotoren geworfen hatte, war doch sein Interesse f•r die Beleuchtungsverh€ltnisse in Tunis und Algier noch nicht erlahmt, €hnlich wie auch ein reifer Mann immer
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noch eine kleine Schw€che f•r seine Jugendliebe im Herzen tr€gt. Dr. Frigge nahm Marmara beiseite. ‚Kann ich Sie einen Moment sprechen?ƒ ‚Aber nat•rlich, Doktor.ƒ Marmara entschuldigte sich bei Hilde, legte den Arm leicht um Dr. Frigges Schulter und ging mit ihm in eine entlegene Ecke. ‚Was gibtˆs denn, mein Lieber?ƒ Sie setzten sich, und Dr. Frigge zog seine Brieftasche hervor. ‚Ich wollte Ihnen das da zeigen.ƒ Er reichte Marmara einen Zettel. Es war ein aus einem Taschenkalender herausgerissenes Blatt, und zwar die Woche vom 17. bis 24. April. Das Blatt war am linken Rand mehrfach gelocht, wie es bei Ringb•chern der Fall ist. Auf der einen Seite war mit blauem Kugelschreiber in rohen Z•gen etwas gezeichnet, das wie der Grundri… eines Hauses aussah. ‚Wissen Sie, was das ist?ƒ fragte Dr. Frigge. Marmara drehte den Zettel zwischen seinen Fingern herum. Er war nicht ganz bei der Sache. ‚Keine Ahnung.ƒ ‚Es ist der Grundri… Ihrer Wohnungƒ, sagte Dr. Frigge. ‚Ich habe ihn •berpr•ft. Wir fanden diesen Zettel bei Kocholl. Das ist der Mann, der Ihren Schmuck gestohlen hat. Erlauben Sieƒ ‡ Frigge neigte sich vor und entfernte bed€chtig ein langes blondes Haar von Marmaras Schulter. Dann fuhr er fort: ‚Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie an der Stelle, wo Ihr Schreibtisch steht ‡ in dem Sie den Schmuck hatten ‡ ein kleines Kreuz bemerken. Mit dem Fingernagel eingeritzt. Sehen Sie es?ƒ Marmara blickte auf das Papier. Aber er wandte den Kopf wieder ab und sah nach der Stelle auf dem Teppich, wohin Dr. Frigge das blonde Haar hatte fallen lassen. Dann lehnte er
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sich im Sessel zur•ck und reichte dem Kriminalrat mit lang ausgestrecktem Arm den Zettel. ‚Das hei…t also mit andern Worten ‡?ƒ ‚Das hei…tƒ, sagte Frigge, ‚da… jemand mit genauen Ortskenntnissen das aufgezeichnet und dem Kocholl gegeben hat. Diesen Jemand m•ssen wir finden.ƒ Jetzt wurde Marmara aufmerksam. ‚Sie meinen, jemand von meinen Leuten ist an der Sache beteiligt gewesen?ƒ ‚Kaum anders m†glich. Ich wollte Sie fragen, ob Sie zuf€llig bei jemandem aus Ihrer Umgebung so ein Taschenringbuch bemerkt haben. Ich m†chte die Sache so unauff€llig wie m†glich erledigen. Vielleicht k†nnen Sie mir dabei helfen.ƒ ‚Selbstverst€ndlichƒ, sagte Marmara. ‚Aber ich glaube nicht, da… jemand von meinen Leuten da mit im Spiel ist. Alles zuverl€ssige, ordentliche Menschen, die schon seit Jahren bei mir sind. Eher denke ich, es k†nnte einer von den Handwerkern gewesen sein, die hier gearbeitet haben.ƒ ‚Wann war das?ƒ ‚Vor einigen Wochen.ƒ ‚Wissen Sie, von welchen Firmen die Leute waren?ƒ ‚Nicht auswendig. Aber ich werde es nachsehen und Sie wissen lassen. K†nnen Sie nicht aus Kocholl herausbekommen, wer ihm den Lageplan gegeben hat?ƒ Der Kriminalrat sch•ttelte den Kopf. ‚Kocholl ist ein verstockter, bornierter Kerl, dem mit normalen Polizeimethoden nicht beizukommen ist. Der gibt nichts zu, was man ihm nicht schwarz auf wei… unter die Nase h€lt. Er will den Tip von einem Unbekannten in einer Kneipe bekommen haben. Das ist nat•rlich gelogen. Ich wei…, Sie haben Ihren Schmuck wieder und die Sache interessiert Sie nicht mehr besonders ‡ mich ehrlich gesagt auch nicht ‡, aber trotzdem mu… der Fall ordnungsgem€… zu Ende gef•hrt
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werden. Wenn Sie mir dabei behilflich sein k†nnten, w€re ich Ihnen sehr dankbar.ƒ ‚Ich werde tun, was ich kannƒ, sagte Marmara. ‚Schon Ihnen zuliebe.ƒ Bald darauf begannen die G€ste aufzubrechen, und das Ger€usch der anspringenden Motoren erf•llte die n€chtliche Stra…e. Marmara half Hilde in den Mantel, und in diesem Augenblick trat Dr. Frigge hinzu. ‚Sie sind doch ohne Wagen hier, Fr€ulein Gardenƒ, sagte er, ohne von Marmara Notiz zu nehmen. ‚Soll ich Sie nach Hause bringen?ƒ Einen Moment z†gerte Hilde und warf Marmara durch den Spiegel einen schnellen Blick zu, den er aber nicht bemerkte, da er mit unbewegtem Gesicht Hildes Mantelkragen gl€ttete. ‚Das w€re nett von Ihnen, Doktorƒ, sagte Hilde und l€chelte den Kriminalrat an. Sie hatte das gar nicht sagen und auch gar nicht l€cheln wollen, sondern eigentlich fest damit gerechnet, da… Marmara sie nach Hause bringen w•rde, doch die Situation hatte sie •berrumpelt. Marmara k•…te ihr die Hand nicht anders als auch allen andern Damen und verabschiedete sich mit einem herzlichen H€ndedruck von Dr. Frigge. Eine Zeitlang sa…en die beiden schweigend nebeneinander in dem kleinen Wagen. Dr. Frigge lenkte ihn ohne gro…e Eile durch die menschenleeren Stra…en. Hilde hing ihren Gedanken nach. Pl†tzlich sagte Dr. Frigge: ‚Aber sch†ne Augen hat er, nicht wahr?ƒ ‚Wer?ƒ fragte Hilde und tat ahnungslos. Frigge blickte vor sich hin auf die Fahrbahn. ‚Gro…e, schwarze, exotische Augen. Ich glaube, ich habe Ihnen nicht zuviel versprochen, oder?ƒ ‚Keine Ahnung, wovon Sie reden.ƒ
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Er l€chelte vor sich hin und sagte nichts. Dann fing er wieder an. ‚Ich kann mir gut vorstellen, da… ein so glut€ugiger Bursche viel Gl•ck bei Frauen hat. Besonders bei blonden Frauen. Meinen Sie nicht auch?ƒ Hilde legte den Kopf zur•ck. ‚Vielleicht.ƒ Dr. Frigge warf ihr von der Seite einen schnellen Blick zu, und auf einmal verlor er die Lust zu weiteren kleinen Scherzen. Es schien ihm, als ginge eine k•hle Fremdheit von ihr aus, sie war gar nicht richtig da ‡ vielmehr, er war nicht da. Es gab keinen Kontakt zwischen ihnen. Sie sa… neben ihm, und seine Hand ber•hrte ihr Knie, wenn er schaltete, aber es war ihm klar, da… er f•r sie nicht vorhanden war und sie seine Sp†tteleien nur als l€stig empfand. Er schwieg mi…mutig und fragte sich, warum er sich denn •berhaupt angestrengt hatte, sie nach Hause bringen zu wollen. Verdr€ngte Eifersuchtsgef•hle? Oder einfach nur ein boshafter kleiner Hieb gegen Marmara? Seine Miene verdunkelte sich noch mehr. Er fand, da… er •ber das Alter hinaus war, sich so t†richt anzustellen. Und wieder einmal wurde er sich endg•ltig dar•ber klar, wie er zu Hilde Garden stand. N€mlich gar nicht. Alte Bekannte, die gelegentlich miteinander beruflich zu tun hatten. Er fuhr fort zu schweigen. Sein Schweigen fiel Hilde gar nicht auf. Vor ihrem Hause hielt er an, sie reichte ihm die Hand und sagte herzlich: ‚Vielen Dank, Doktor. Gute Nacht.ƒ Er blickte ihr nicht nach, als sie auf das Haustor zuging, er gab Gas und fuhr davon. Dabei hatte er das schale Gef•hl, einen Abend sinnlos vertan zu haben.
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Viertes Kapitel DER MANN MIT DER NARBE Der Mann mit der Narbe stand am offenen Fenster der Baracke und blickte hinaus auf die trostlose Lagerstra…e. In dichten Schn•ren fiel der Regen vom bleigrauen Himmel, sammelte sich zu kleinen Seen und flo… in hurtigen B€chlein die Gosse entlang. Die Teerpappe der Barackend€cher gl€nzte in der N€sse. Die Lagerstra…e, sonst voll bunten und turbulenten Lebens, lag †d und verlassen. Ab und zu lief eine Frau, den weiten b€urischen Rock •ber den Kopf gezogen, •ber die Stra…e, oder einer von der Lagerpolizei, in Ledermantel und hoch zu Ro…, ritt seine Runde. Der Mann mit der Narbe stand regungslos und starrte in den Regen hinaus. Er mochte Mitte Vierzig sein und sah hager und abgezehrt aus. Seine tiefliegenden hellen Augen blickten kalt und hart, der Mund, schmal wie ein Strich, hatte einen verbitterten und ver€chtlichen Ausdruck. Žber die hohe Stirn, von der linken Braue bis in den Haaransatz hinein, lief, wie ein d•nner roter Strich, die Narbe. Seine Haltung war aufrecht, steif und h†lzern. Die H€nde hatte er, zu F€usten geballt, auf das Fensterbrett gest•tzt. Es war etwas Demonstratives in der br•sken Art, wie er dem Zimmer den R•cken kehrte und zum Fenster hinausblickte. Er konnte es zwar nicht vermeiden, die Gespr€che mit anzuh†ren, die im Zimmer gef•hrt wurden, doch er lehnte es ab, an ihnen teilzunehmen. Es waren Gespr€che, die am Boden klebten, schmierig, dumm, unfl€tig. Er mochte das nicht. Er hatte das nie gemocht. In sechs Monaten Lagerleben hatte er gelernt, sich derlei Dinge vom Leibe zu halten.
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Sie waren zu zweit in einem Zimmer, er und Dr‹pal, der Tscheche. Das war ein Bursche von f•nfundzwanzig Jahren, ein sehniger Kerl mit schwarzen Locken, gutherzig von Natur, freigebig und auch kameradschaftlich, aber leichtsinnig und demoralisiert. Er war schon zwei Jahre im Lager, und das hatte ihn verdorben, wie alle diese jungen, entwurzelten, heimatlosen Menschen aus dem Osten, die nicht wu…ten, wohin in der Welt, und mit denen die Welt anscheinend nichts anderes anfangen konnte, als sie in ein Lager zu stecken, mit Stacheldraht zu umz€unen und von Polizeihunden bewachen zu lassen. Doch weder Strenge noch G•te halfen. Immer wieder gab es Mord und Totschlag, das Laster und das Verbrechen gingen in dem Lager um wie eine Pest und machten es zum Šrgernis der Umgebung und des ganzen Landes. Mit Dr‹pal war auszukommen. Es gab immer noch etwas wie einen guten Kern in ihm, und man konnte sich zuzeiten recht manierlich und verst€ndig mit ihm unterhalten. Doch sobald die schwarze Anusch auftauchte oder Mirko, der Kroate, war es aus, sowohl mit den Manieren als auch mit dem Verstand. Er geb€rdete sich dann wie ein abgebr•hter Gangster aus einem sehlechten Chicago-Film, redete rauh und ordin€r, und alles, was er redete, war dummes Geschw€tz. Die schwarze Anusch hatte eine Flasche Sliwowitz mitgebracht, und da hatte sich auch Mirko, der Kroate, ganz wie von selbst eingefunden. Nun sa…en sie um den Tisch mit der verschmutzten gelben Tischdecke und fingen an, sich langsam in Stimmung zu saufen. Das Zimmer war ger€umig. Links und rechts neben der T•r standen zwei wei…lackierte Eisenbetten, an den W€nden zwei wacklige Schr€nke, eine Kommode, ein Waschgestell. Žber seinem Bett hatte Dr‹pal die Photographie einer amerikanischen Filmschauspielerin befestigt, die protzig ihre Schaumgummibr•ste in die Gegend streckte.
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Anusch hatte weniger aufreizende Formen, aber was sie zu bieten hatte, war immer noch beachtlich und jedenfalls echt, davon konnte sich jeder Mann im Lager, der dazu Lust versp•rte, •berzeugen, wenn sie gerade bei guter Laune war. Sie trug einen roten Popelinrock und einen billigen wei…en Pullover. Sie hatte lange blauschwarze Haare, die in offenen Str€hnen bis weit •ber ihre Schultern herabhingen, einen gro…en, sinnlichen Mund mit dicken, purpurrot gef€rbten Lippen, kastanienbraune, leicht vorquellende Augen und einen Silberblick, von dem Dr‹pal behauptete, da… er ihn kolossal aufrege. Anusch gab an, achtundzwanzig zu sein und aus Budapest zu kommen, aber es war beides nicht wahr. Sie war sechsunddrei…ig und sah um keinen Tag j•nger aus. Sie stammte aus Sopron an der †sterreichischen Grenze und war die Geliebte eines Menschenschmugglers gewesen, der f•r f•nfhundert Dollar pro Kopf Fl•chtlinge durch die Minensperren gelotst und •ber die Grenze gebracht hatte. Als er versch•tt ging, wurde ihr der ungarische Boden unter den F•…en zu hei…. Sie floh. Anusch war haltlos, untreu, unzuverl€ssig und zu keiner vern•nftigen Arbeit zu verwenden. Sie landete schlie…lich im Lager und lebte hier in den Tag, wunschlos, ohne Hoffnung und niemals n•chtern. Sie wartete auf nichts. Mirko, der Kroate, ein ungeschlachter blonder Bauer, war als Landarbeiter w€hrend des Krieges nach Deutschland gekommen und hier klebengeblieben. Seither hatte er ein paar Jahre in Gef€ngnissen und Zuchth€usern abgesessen, war ein Raufbold und Messerheld, und kein Land der Erde wollte ihn aufnehmen wegen seiner Vorstrafen. Er hatte ein klobiges Gesicht mit wuchtigen Backenknochen und kleinen, dicht beieinanderstehenden blauen Knopfaugen. Er trug ein rotes Flanellhemd und ein verschwitztes gelbes Halstuch. Die drei hockten um den Tisch und tranken Sliwowitz aus Wassergl€sern. Drau…en fiel grau und eint†nig der Regen. Der
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Mann mit der Narbe stand regungslos am Fenster und starrte hinaus. Da keiner der drei die Muttersprache des andern gen•gend verstand, sprachen sie Deutsch, das sie alle einigerma…en erlernt hatten. Der Kroate hatte heute einen Brief aus der Heimat bekommen, einen Brief seines Bruders. Er zog ihn aus seiner hinteren Hosentasche hervor. ‚Poststempel Klagenfurtƒ, sagte er zu Dr‹pal und deutete mit seinen plumpen Fingern auf den Poststempel. ‚Er hat ihn jemand mitgegeben. Wegen Zensur.ƒ ‚No und? Was schreibt er?ƒ ‚Nix isƒ, sagte Mirko niedergeschlagen und zog den Brief aus dem zerknitterten Kuvert. ‚Soll ich vorlesen?ƒ Dr‹pal nickte gleichg•ltig. ‚Aber langsam, sonst ich nix verstehen.ƒ Der Tscheche konnte bei etwas Aufmerksamkeit dem verwandten Kroatisch einigerma…en folgen. Mirko begann den Brief vorzulesen. Anusch sa… gelangweilt da, dann gl€ttete sie die Zeitung, in welche die Sliwowitzflasche eingewickelt gewesen war, st•tzte den Kopf in die Hand und betrachtete lustlos die Bilder. Es war eine Ausgabe von JETZT, vierzehn Tage alt. Mirkos Bruder schrieb, da… die Zeit immer noch nicht g•nstig sei f•r eine R•ckkehr. Erst neulich sei wieder einer aus einem Nachbardorf, der vor zwei Monaten aus Deutschland zur•ckgekommen war, von der Polizei geholt worden und seither nicht wieder nach Hause gekommen. Mirko m†ge noch Geduld haben, in zwei, drei Jahren werde sich sicher einiges ge€ndert haben. Die Eltern seien wohlauf ‡ und so weiter. Mirko lie… den Brief sinken und steckte ihn mit seinen unbeholfenen Fingern wieder in den Umschlag. ‚Warten, immer wartenƒ, sagte er verdrossen. ‚Nicht einmal Tito will so eine dicke, bl†de St•ck Fleisch wie du habenƒ, sagte Dr‹pal und go… abermals Sliwowitz in
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die Gl€ser. ‚Geh und h€ng dich auf. In H†lle brauchst keine Einreisevisum.ƒ Der Kroate sa… vorgeneigt und starrte finster auf seine verschr€nkten H€nde, in denen er den zusammengerollten Brief hielt. ‚Zweitausend Markƒ, sagte er. ‚Wenn ich habˆ zweitausend Mark, ich kriegˆ prima Pa… mit alle Papiere und gehˆ nach Venezuela. Herrgottƒ, er schlug pl†tzlich die Faust auf den Tisch, da… die Gl€ser klirrten. ‚Zweitausend Mark! Ist kein Geld!ƒ Er schrie: ‚Aber haben, haben!ƒ ‚Kuschƒ, sagte die Ungarin, ohne von ihrer Zeitung aufzublicken. ‚Wenn ich habˆ zweitausend Markƒ, sagte Dr‹pal und lehnte sich behaglich zur•ck, ‚ich schei…ˆ auf Venezuela. Ich kauf mir prima graue Anzug aus Fresko und gelbe Schuh mit wei…e Ledereinsatz und gehˆ mit meine kleine Anuschka in feinste Hotel von Hamburg und dann ‡ƒ er schnellte vor und griff mit seiner sehnigen Hand hoch an Anuschs Oberschenkel ‡ ‚sakra, dann sollst einmal sehen, was eine echte Kavalier ist! Kannst Sekt saufen und Kaviar fressen, bis dir Bauch platzt! No, was sagst, Darling?ƒ Sie lag halb •ber den Tisch gefl€zt, das Gesicht in die Hand gest•tzt. Die langen Haarstr€hnen fielen •ber ihre Stirn und ringelten sich auf dem Zeitungsblatt. Sie hob das Knie und stie… Dr‹pals Hand von sich fort. ‚Idiotƒ, sagte sie wegwerfend. ‚Von so eine b†hmische Krautstampfer werde lernen, was Kavalier ist. In Budapest, ich habˆ mehr Sekt getrunken und Kaviar gegessen wie du in dein ganzes Leben hast gesehen.ƒ ‚So? Hast du? Wo?ƒ fragte er und lachte. ‚In Puff?ƒ Er blickte auf Mirko, der mit etwas Sp€tz•ndung wiehernd auflachte und den Kopf zu Anusch wandte. Sie hob langsam die etwas schweren Lider und sah Dr‹pal mit ihrem Silberblick an. Eine senkrechte Falte stand zwischen ihren dicken
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schwarzen Brauen. Sie pre…te die Lippen aufeinander, und an ihrem Halse traten zwei Sehnen hervor. Noch sa… sie unver€ndert still und r•hrte sich nicht. Aber es sah ganz so aus, als w•rde es im n€chsten Augenblick Wirbel geben. ‚Komm, sei bravƒ, sagte Dr‹pal schnell. ‚War nur ein bl†der Witz.ƒ Er streckte die Hand aus und fuhr ihr vers†hnlich •bers Haar. ‚Bist eine k†niglich ungarische Gr€fin und noch ganz Jungfrau, von oben bis unten, wir wissen.ƒ Sie zuckte unwillig mit dem Kopf weg und strich sich das Haar aus der Stirn. Pl†tzlich verfiel ihr Gesicht und bekam einen Ausdruck v†lliger Leere. Sie starrte abwesend vor sich hin, als h€tte sie irgend etwas wie ein Hauch von Elend und Erniedrigung angeweht, dem sie nachsp•ren und auf den Grund gehen m•…te, doch sie brachte die Kraft nicht mehr auf. Ihre halbgeahnten Empfindungen verloren sich im Nichts. Sie starrte noch eine Weile stumpfsinnig auf die Tischdecke, dann griff sie nach dem Glas und go… den Sliwowitz wie Wasser hinunter. ‚Gib Zigaretteƒ, sagte sie zu Dr‹pal, und er zog ein verschrumpftes P€ckchen unversteuerter Camel hervor und reichte ihr Feuer. Sie machte ein paar gierige Z•ge, dann wendete sie die Zeitung um und vertiefte sich in die Lekt•re der ersten Seite. Damit war der Zwischenfall f•r sie erledigt. Am Fenster stand der Mann mit der Narbe unver€ndert und regungslos und blickte hinaus. Er konnte oft stundenlang so stehen, und niemand wu…te, was er dachte und was in ihm vorging und warum er da so stand. Man hatte sich daran gew†hnt und nahm keine Notiz von ihm. Mirko begann mit Dr‹pal dar•ber zu streiten, ob es mehr Kroaten oder Tschechen in der Welt gab. Und da sie einmal im Streiten waren, blieben sie dabei. Sie stritten weiter •ber Tito und Moskau und Eisenhower, und wie immer, wenn sie stritten, nannte Dr‹pal Mirko zuletzt ein Schwein, weil er kein Partisan gewesen war, und der Kroate, der ungeschlachte
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Kolo…, begann zu weinen und erfand tausend Gr•nde und Ausreden f•r sein Versagen. Die schwarze Anusch betrachtete die Photographie des Marmara-Schmucks, und dann schlug sie mit der flachen Hand auf das Zeitungsblatt. ‚Gro…er Himmelƒ, st†hnte sie bewundernd. ‚Ein viertelmillion Mark. Das ist eine dicke Fisch. Warum nicht du einmal so was erwischen? Du kannst nur sitzen auf deine faule Hintern und hast nicht zwei Mark f•nfzig in Tasche.ƒ Dr‹pal sah sie an. ‚Was is?ƒ Dann las Anusch, mit dem Finger den Zeilen folgend, den Artikel vor. Die beiden M€nner h†rten interessiert zu, und anschlie…end entspann sich eine Debatte •ber Kocholl, den Einbrecher, der gefa…t worden war. ‚So ein Viechƒ, rief Dr‹pal entr•stet und griff sich an den Kopf. ‚Geht zu Juwelier und will Schmuck verkaufen. Zu Juwelier! Wenn ich hab Schmuck, ich nehme Steinen hinaus und verkauf einzeln unter die Hand an Auswanderer, was schwarze Geld haben und nicht mitnehmen d•rfen. Nicht? Is doch klar. Und so ein Trottel ‡ƒ Er konnte sich nicht fassen. Die kriminalistischen Details interessierten Anusch wenig. Sie dachte an die funkelnden Diamanten. Sie legte die H€nde in den Nacken, lehnte sich weit mit ihrem Stuhl zur•ck, bis er bedenklich schief auf zwei Beinen stand und sie sich nur noch mit der Fu…spitze am Tischbein festhielt. ‚Ein Vier-tel-mil-lion Markƒ, sagte sie tr€umerisch zur Decke empor und r€kelte sich woll•stig. Unter dem d•nnen wei…en Pullover zeichneten sich ihre spitzen festen Br•ste ab. ‚Joj mamam, was k†nnt ich mir alles kaufen daf•r‰ Haus und Auto und viel Pelzmantel‰ und Kleider‰ Kleider von Paris‰ hundert Schuhe‰ zweihundert Schuhe, italienische von Italien‰ und ein Mann‰ eine gro…e starke Mann aus Ungarn, was Liebe versteht ‡ƒ Niemand h†rte ihr zu.
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Dr‹pal hatte sich die Zeitung vorgenommen und las nochmals, den Kopf in beide H€nde gest•tzt, langsam und aufmerksam Wort f•r Wort den Artikel. Mirko sa… da wie ein Klotz, den Kopf leicht zur Seite gewandt, und sein Blick glitt •ber Anuschs gestreckten K†rper hin, •ber ihr unbestrumpftes Bein, mit dem sie sich am Tisch festhielt ‡ ein braunes, rassiges, schwarzbehaartes Bein mit gespanntem Wadenmuskel ‡, •ber ihre Taille, •ber den prallsitzenden Pullover. Sein Mund stand ein wenig offen. Kleine Speichelbl€schen gl€nzten in seinen Mundwinkeln. Pl†tzlich lehnte sich Dr‹pal zur•ck, hob den Kopf und sagte zum Fenster hin, wo der Mann mit der Narbe stand: ‚He, Jorga!ƒ Der Mann h†rte nicht und r•hrte sich nicht, und Dr‹pal rief nochmals, jetzt laut und schallend: ‚Jorga ‡!ƒ Endlich drehte sich der Mann um. Er warf einen geringsch€tzigen Blick auf die Frau, dann sah er Dr‹pal mit seinen kalten Augen an und fragte: ‚Was gibtˆs?ƒ ‚Du bist doch auch Rum€ne, Jorgaƒ, sagte Dr‹pal. ‚Kennst du einen Marmara?ƒ Jorga zog ein wenig die Brauen zusammen. ‚Was f•r einen Herrn Marmara?ƒ Er sprach nicht wie ein Ausl€nder Deutsch, aber doch mit einer leichten mundartlichen F€rbung. ‚Fabrikant und Million€rƒ, sagte Dr‹pal und deutete auf die Zeitung vor sich. ‚Aus Rum€nien.ƒ Jorga sch•ttelte den Kopf: ‚Was f•r eine Fabrik hat er?ƒ ‚Farben und Lackeƒ, sagte Dr‹pal. ‚M•…te ich eigentlich kennen.ƒ Jorga trat einen Schritt n€her. ‚Wie hei…t er? Marmara? Nein. Hat es nicht gegeben in Rum€nien. Die Branche kenne ich zuf€llig.ƒ ‚No siehst duƒ, sagte Dr‹pal. ‚Kannst dir Beispiel nehmen. Is Million€r geworden hier. Auch Rum€ne. Und du?ƒ
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Jorga •berh†rte die dumme Bemerkung. Er zog Dr‹pal die Zeitung unter den H€nden fort, setzte sich auf den Bettrand und las den Artikel. Der Tscheche sagte nachdenklich: ‚Alles nur Gl•ck. So eine bl†de Kerl hat Gl•ck und bekommt Viertelmillion in Hand, und dann er verpatzt alles und wird von Polizei geschnappt. Kocholl ‡ was is •berhaupt f•r eine Name, Kocholl? Deutsche?ƒ Die schwarze Anusch kehrte aus ihren Tr€umen zur•ck, lie… ihren Stuhl vorw€rts fallen, bis er wieder auf allen vier Beinen stand, griff nach der Sliwowitzflasche und sagte trocken: ‚No, was wird sein f•r Name? Wenn is bl†de Kerl, kann nur sein Tscheche. Nicht?ƒ Dr‹pal lachte und schlug ihr leicht mit dem Handr•cken gegen die Wange. ‚Du Paprikanudel, halt Maul.ƒ Sie schnappte mit ihren kleinen, scharfen Z€hnen nach seiner Hand und bi… ihn in den Handballen, doch er zog die Hand nicht zur•ck. ‚Bei… nur, bei…, Luder. Ich nix sp•ren.ƒ Auf dem Bettrand sa… Jorga. Er hatte den Artikel gelesen und auch das Nachwort, in dem von der Halskette die Rede war. Die Hand mit dem Zeitungsblatt hing schlaff herunter, doch sein Gesicht war hart und gespannt. Mit geweiteten Augen, in denen ein eigent•mliches Licht flackerte, blickte er starr vor sich hin. Seine schmalen Lippen bewegten sich unbewu…t, und er murmelte vor sich hin: ‚Hildegard Schaunburg‰ das mu… sie sein‰ƒ Dann erhob er sich, ging zu der Kommode und nahm aus einer abgegriffenen, verbeulten Blechschachtel eine alte Rasierklinge. Damit schnitt er aus dem Zeitungskopf die Anschrift des Verlags und der Redaktion heraus und verwahrte den Ausschnitt sorgf€ltig in seiner Brieftasche aus schwarzem Wachstuch‰
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F•nftes Kapitel HERR KOPP SIEHT SCHWARZ Eine br•tende Hitze lag •ber der Stadt. In der Redaktion von JETZT waren die gr•nen Rollvorh€nge an den Fenstern herabgelassen, und in dem schl€frigen Halbdunkel schlichen die Redakteure mit verschwitzten Hemden in Zeitlupentempo umher und erledigten matt und lustlos die laufenden Routine-Arbeiten. Es war August und Sauregurkenzeit, das hie…, da… die Zeitungen nicht viel zu berichten hatten und ihr gutes Material, sofern es nicht zeit- und saisongebunden war, f•r den Herbst zur•ckhielten. Alle Welt war in Urlaub und froh, einmal keine Zeitungen zu sehen mit ihren ewigen Alarmnachrichten •ber gescheiterte Konferenzen, Protestnoten und Wundermittel zur Menschenvertilgung. Es ging ungewohnt ruhig her in den sonst so l€rmerf•llten Redaktionsr€umen. ‚Hallo, Hildeƒ, rief Albin Haschka, der Chef der Lokalredaktion, mit seiner nasalen, affektierten Stimme, als er das Sekretariat betrat und Hilde hier wartend sitzen sah. ‚Sind Sie immer noch beim Journalismus, oder haben Sie jetzt einen andern Job?ƒ Er hatte ein schlaffes, blasiertes Schafsgesicht, hochm•tige wasserblaue Augen und trug das aschfahle Haar nach amerikanischer Mode b•rstenartig gestutzt. ‚Was soll die geistreiche Bemerkung?ƒ fragte Hilde k•hl. ‚Warum sollte ich einen andern Job haben?ƒ Er lachte selbstgef€llig, denn er befand sich in dem Glauben, witzig gewesen zu sein. Albin Haschka fand immer alles, was er sagte, ungemein witzig.
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‚Ich meine nur soƒ, warf er l€ssig hin. ‚Weil man Sie hier schon eine Ewigkeit nicht zu Gesicht bekommen hat. Neulich habe ich wie verr•ckt herumtelephoniert, um Sie zu erreichen, aber Sie waren wie vom Erdboden verschlungen.ƒ ‚Gabˆs was Wichtiges?ƒ ‚O ja. Ich hatte Geburtstag. Ich wollte Sie einladen.ƒ Er sah sie so vorwurfsvoll an, als h€tte sich Hilde ein nicht unbedenkliches Vergehen zuschulden kommen lassen. ‚Es war ein zauberhafter Abend, lauter hochinteressante M€nner ‡ ich sage, es kann Ihnen leid tun. Sie haben etwas vers€umt.ƒ ‚Ich bin todungl•cklich.ƒ Hilde bekam ihre ironischen Augen. ‚Aber Sie werden vielleicht noch †fters Geburtstag haben.ƒ Er trat einen Schritt n€her an sie heran. ‚Wenn Sie sch†n bitten, bin ich bereit, den Abend f•r Sie zu wiederholenƒ, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen schwebenden und hintergr•ndigen Klang zu geben. ‚Nein, wie nettƒ, spottete Hilde. ‚Mit all den hochinteressanten M€nnern?ƒ Er legte etwas den Kopf auf die Seite und sagte betont z†gernd: ‚N-n-nicht mit allen. Ist ja wohl auch nicht n†tig. Einer d•rfte Ihnen gen•gen, oder?ƒ Er lachte wieder in seiner d•nkelhaften Art, lie… seinen Blick an ihrem K†rper hinauf- und hinuntergleiten, wie sie so dasa… in ihrem hauchd•nnen Sommerkleid, die Beine •bergeschlagen, und leicht mit dem Fu…e wippte. Er kam noch etwas n€her an sie heran und sagte nonchalant: ‚Ich wei… nicht, ob Sie sich viel aus Komplimenten machen, Hilde. Aber Sie sehen bemerkenswert knusprig aus. Ich glaube, Sie sind eine Frau, zu der ich ja sagen k†nnte. So was ist selten heutzutage.ƒ ‚Wie sch†n!ƒ rief Hilde. ‚Sie sagen ja zu mir! Ihre Worte begl•cken mich unvorstellbar. H†ren Sie, Albin, tun Sie mir
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den Gefallen und reden Sie nicht weiter. Ich gerate sonst v†llig aus dem H€uschen.ƒ ‚Das ist kein Scherz.ƒ Er wurde pl†tzlich stur. Sein Gesicht war jetzt ernst und hatte einen sinnlichen Ausdruck. Hilde fand, da… er nun vollkommen schafsm€…ig aussah. ‚Wenn i c h zu einer Frau ja sageƒ, fuhr er fort, ‚so ist das ein gro…es Kompliment. Das d•rfen Sie mir glauben. Was das betrifft, bin ich €u…erst w€hlerisch. Ich habe eine besondere Witterung f•r Rasse und Format. Vielleicht kennen Sie mich nicht gen•gend. Aber w•rden Sie mich besser kennen, dann w•…ten Sie, da… ich einen untr•glichen Blick f•r das nicht Allt€gliche habe. Vielleichtƒ, ‡ setzte er mit aufdringlicher Bescheidenheit hinzu ‡ ‚weil ich selber kein allt€glicher Mensch bin. Ich wei… nicht.ƒ Hilde wippte mit dem Fu… und sie bemerkte, da… sie mit ihrem wei…en Korkschuh seine sommerliche dottergelbe Popelinhose unterhalb des linken Knies schmutzig machte. Sie fuhr ruhig fort, mit dem Fu… zu wippen. Niemand hatte ihn gehei…en, ihr so nahe zu kommen. Seine Žberheblichkeit begann ihr auf die Nerven zu gehen, sie hob den Blick und sah ihn mit ihren k•hlen, grauen Augen an. ‚Sie sind wohl auch einer von denen, die davon •berzeugt sind, da… sie einen Extraschatten werfen, wie?ƒ Er war einen Augenblick verdutzt. Offenbar wu…te er nicht, woran er war, aber ihr Blick lie… keinen Zweifel offen. Pl†tzlich hatte er das Gef•hl, es nicht richtig angestellt zu haben. Er lachte gezwungen auf. ‚Ich wei… nicht, woran es liegtƒ, n€selte er wehleidig, ‚da… ich so oft f•r arrogant gehalten werde. Mu… man denn heutzutage unbedingt einen Minderwertigkeitskomplex haben, um als netter Mensch zu gelten?ƒ Ehe noch Hilde antworten konnte, ging die T•r auf. Kopps Sekret€rin mit einem Haufen Diktat unterm Arm trat ein.
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‚Guten Tag, Fr€ulein Gardenƒ, sagte sie. ‚Herr Kopp erwartet Sie.ƒ ‚Danke.ƒ Hilde erhob sich und nickte dem Lokalchef zu. ‚Tsch•s, Albin. Auf Wiedersehen bei Ihrem n€chsten Geburtstag.ƒ Er sah ihr nach, wie sie zur T•r ging, und pl†tzlich erinnerte er sich und rief ihr nach: ‚Ja richtig, Hilde!ƒ Er kam hinter ihr her. ‚Fast h€tte ichˆs vergessen ‡ ein Mann aus Rum€nien war da und hat nach Ihnen gefragt. Zweimal schon. Zuletzt wollte er Ihre Privatadresse haben, aber ich hab sie ihm nicht gegeben. Der Mann sah nicht gerade vertrauenerweckend aus.ƒ Hilde war an der T•r stehengeblieben, die Klinke in der Hand. ‚Aus Rum€nien? Wie hei…t er? Hat er seinen Namen genannt?ƒ ‚Borba oder Gorda ‡ so irgendwie. Kann das sein?ƒ ‚Keine Ahnung. Hat er nicht gesagt, was er wollte?ƒ ‚Nein.ƒ ‚Wenn er nochmals kommt, Albin, geben Sie ihm doch meine Telephonnummer. Er soll mich anrufen.ƒ ‚In Ordnung.ƒ Hilde ging hin•ber in Kopps B•ro. Der Chefredakteur trug ein rosafarbenes Nylonhemd und eine gelbe Schmetterlingskrawatte mit wei…en Tupfen. Sein Gesicht gl€nzte von Schwei…. Er empfing Hilde polternd und tat ziemlich ungn€dig. ‚Zum Kuckuck, was ist denn mit Ihnen los?ƒ rief er, als sie auf seinen Schreibtisch zuging, um ihm die Hand zu reichen. ‚Von Ihnen sieht und h†rt man •berhaupt nichts mehr, Sie lassen sich wochenlang hier nicht blicken und k•mmern sich keinen Deut um Ihre Zeitung! Was ist denn das f•r eine Art?ƒ Hilde l€chelte, aber sie hatte ein bi…chen etwas wie ein schlechtes Gewissen. ‚Erstensƒ, sagte sie, ‚kann von •wochenlang‘ keine Rede sein, und zweitens bin ich hier nicht fest angestellt, sondern ‡
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soviel ich wei… ‡ freie Mitarbeiterin. Mit dem Ton auf •frei‘. Da wird man doch einmal ein bi…chen Privatleben haben d•rfen, ohne da… gleich die gesamte Redaktion •ber mich herst•rzt, als h€tte ich wei… Gott was verbrochen.ƒ ‚Privatleben?ƒ Kopp sah sie mi…billigend an. ‚Sie und Privatleben? Ist wohl eine Neueinf•hrung. Ich kann mich nicht erinnern, da… Sie in all den Jahren irgend so was gehabt h€tten wie ein Privatleben.ƒ Hilde legte den Kopf ein wenig auf die Seite und sah Kopp aus den Augenwinkeln an. ‚Um so eher hab ich jetzt ein gewisses Anrecht darauf. Finden Sie nicht auch?ƒ ‚Ich finde, da… Ihr pl†tzlich auftretender Hang zum privaten Leben h†chstwahrscheinlich auf einen gewissen schwarzhaarigen Herrn zur•ckzuf•hren ist, mit dem Sie neulich abend im Atlantic gespeist haben. Oder irre ich mich?ƒ Hilde war einen Augenblick verbl•fft, und Kopp setzte wie beil€ufig hinzu: ‚Waren Sie das vielleicht nicht, in dem karmesinroten Abendkleid mit der Silberlilie auf der Schulter?ƒ ‚Doch ‡ƒ ‚Eben. Zuerst dachte ich, es w€re irgendein ausl€ndischer Filmstar, der eine gewisse Šhnlichkeit mit unserer Hilde Garden hat. Aber nachdem ich Sie ungef€hr anderthalb Stunden betrachtet hatte, kam ich zu der Žberzeugung, da… Sie es doch wohl sein m•…ten. Wissen Sieƒ, fuhr er mit einem schmalen L€cheln fort, ‚ich hatte gen•gend Mu…e, Sie zu betrachten. Ich sa… Ihnen schr€g gegen•ber. H€tten Sie nur ein einziges Mal den Blick von dem dunkel€ugigen Objekt Ihrer Faszination abgewendet ‡ wozu Sie aber sichtlich nicht imstande waren ‡, so h€tten Sie Ihren guten alten Onkel Kopp bemerkt, der anderthalb Stunden vergeblich versucht hat, Ihnen seine Reverenz zu machen.ƒ ‚Das tut mir leid, Herr Koppƒ, sagte Hilde. ‚Aber es ist auch sonst nicht meine Gewohnheit, in Lokalen
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herumzuschauen. Das Objekt meiner Faszination •brigens, wie Sie es mit ma…loser Žbertreibung ausdr•cken, war Gregor Marmara.ƒ ‚Ich wei….ƒ Er schwieg f•r einen Moment und ordnete mit verdrie…licher Miene ein halbes Dutzend Kugelschreiber, die auf dem Tisch herumlagen. ‚Ich mu… Ihnen gestehen, Hilde, Sie kamen mir ziemlich ver€ndert vorƒ, fuhr er fort, ‚und ich habe mir einige Gedanken dar•ber gemacht. Ich meine n€mlich ‡ nicht zu Ihrem Vorteil ver€ndert.ƒ ‚Ah so?ƒ Kopp lehnte sich zur•ck. ‚Was ich immer an Ihnen bewundert habe, ist die eiserne Energie, mit der Sie Ihren Beruf anpacken und sich durch nichts in der Welt ablenken lassen. Da ist schon was Imposantes dran. Und Sie h€tten ja auch das Zeug dazu, eine Dorothy Thompson oder eines von diesen internationalen Weibern zu werden, die wirklich etwas zu sagen haben. Nicht heut und nicht morgen, Sie sind ja noch jung. Aber einmal m•ssen Sie den Anschlu… an die gro…e Weltpresse finden. Das setzt Reife und Urteilskraft voraus, Konzentration und H€rte gegen sich selbst. Ohne das hat es noch niemand zu etwas gebracht. Glauben Sie mir. Alles in der Welt hat seinen Preis, geschenkt wird einem nichts. Wenn Sie jetzt aber so anfangen, dann sehe ich schwarz. Ich sagˆs Ihnen ganz ehrlich. Sie wissen, ich meine es gut. Tolle Liebesaff€ren sind bei Ihnen nicht drin, Hilde. Die bringen Sie ab von der Bahn, die ich f•r Sie vorgezeichnet sehe.ƒ ‚Liebesaff€ren?ƒ wiederholte Hilde und f•hlte, wie ihr das Blut ins Gesicht scho…. Einen Moment hatte sie die Regung, Kopp scharf anzufahren und einfach fortzugehen. Aber sie bezwang diese Regung. Sie wu…te, Kopp nahm ernsthaft an ihrem Schicksal Anteil und setzte gro…e Hoffnungen auf ihr Talent. Er zerbrach sich tats€chlich den Kopf •ber alles, was sie anging.
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Das Gespr€ch war ihr mehr als peinlich. Es r•hrte an Dinge, die sie selbst seit vierzehn Tagen unaufh†rlich bedr€ngten und mit denen sie nicht fertig wurde‰ Sie zwang sich zu einem kleinen L€cheln. ‚Soviel ich wei…, war Dorothy Thompson keine Nonne, sondern die Frau von Sinclair Lewis, und hat ein durchaus pers†nliches Leben gef•hrt.ƒ ‚Gewi…, aber nicht auf Kosten ihrer Arbeit. Und sie hat nie den Boden unter den F•…en verloren. Auf das allein kommt es an.ƒ Eine senkrechte Falte erschien auf Hildes Stirn. Unmutig sagte sie: ‚Sie •bertreiben furchtbar. Wenn ich einmal vierzehn Tage nicht in der Redaktion erscheine, in einer Zeit, wo es sowieso nichts zu tun gibt, da kann man doch nicht gleich sagen, ich verliere den Boden unter den F•…en? Das geht doch wohl etwas zu weit.ƒ Kopp stand jetzt auf. Er kam um den Schreibtisch herum, trat zu ihr und griff mit beiden H€nden nach ihren Schultern. ‚Hildeƒ, sagte er, und dann sagte er eine Weile gar nichts, sah sie nur stumm an, mit einem ernsten, v€terlich besorgten Blick. ‚Glauben Sie mirƒ, fuhr er langsam fort. ‚Ich verstehe mich ein bi…chen auf Menschen. Ich habe Sie gesehen und ich habe Marmara gesehen. Einen ganzen Abend lang. Ich hatte alle Ruhe, Sie beide ungest†rt zu beobachten. Sie brauchen mir gar nichts zu erz€hlen, ich wei…, was die Glocke geschlagen hat. Sie sind bis •ber beide Ohren in diesen Mann vernarrt. Ich will nichts gegen Marmara sagen ‡ ich kann auch gar nichts gegen Marmara sagen. Aber eines ist mir klar, Hilde: Sie haben sich da in etwas eingelassen, das st€rker ist als Sie. Sie haben sich nicht mehr in Ihrer Gewalt. Und das ist schlimm ‡ schlimmer als Sie denken.ƒ ‚Unsinn.ƒ Hilde machte sich frei und trat ans Fenster. Sie wu…te, da… es so war, wie er sagte. Das best•rzte und erboste
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sie nur um so mehr. ‚Ich bin kein kleines M€dchen, Herr Kopp. Ich wei… immer, was ich tue und wie weit ich gehen kann. Ich verliere nicht so schnell den Kopf, wie Sie meinen.ƒ Er schwieg und blickte in ihre Richtung. Sie stand am Fenster und sah in den licht•berfluteten Hof hinunter, wo riesige Rollen Rotationspapier abgeladen wurden. Ihre Finger trommelten nerv†s auf dem Fensterbrett. ‚Mag seinƒ, sagte Kopp nach einer Weile und zuckte die Achseln. ‚Um so besser, wenn es so ist. Trotzdem wird es heilsam f•r Sie sein, auf ein paar Monate von hier fortzukommen und Abstand zu gewinnen. Das ist immer gut.ƒ Hilde drehte sich um. ‚Wie meinen Sie das?ƒ ‚Ihre Papiere f•r Kanada sind da. Es ist alles in Ordnung.ƒ Hildes Herz sank. ‚Was ‡?ƒ ‚Sie k†nnen morgen reisen.ƒ Hilde stand regungslos und starrte Kopp an. Sie hatte an diese Reise nicht mehr gedacht. Es traf sie jetzt wie ein Schlag. ‚Sie sind Gast des Ministeriums in Ottawaƒ, sprach Kopp weiter. ‚Man ist sehr interessiert an Ihrer Arbeit, und Sie werden das beste Material bekommen, das es •berhaupt gibt. Ich glaube, Sie h€tten allen Grund, sich zu freuen. Langsam, aber sicher werden Sie so etwas wie eine internationale Journalistin. Neulich brachte •Le Monde‘ einen ganzen Absatz aus Ihrem Artikel •ber Tunis. Doch das ist nat•rlich alles nur erst der Anfang. Jetzt hei…t es eisern bei der Stange bleiben, Hilde. Darum finde ich es gut, da… Sie auf ein paar Monate hinauskommen, da… Ihr Kopf frei wird von allem Firlefanz und Sie sich auf eine verantwortungsvolle Arbeit konzentrieren ‡ konzentrieren m•ssen. Das ist das Beste, was Ihnen passieren kann in einer solchen Situation.ƒ Seine Worte gingen an ihr vorbei. Sie starrte ihn gro… und blicklos an. Sie dachte an Marmara, dachte an seine hei…en Augen, an seinen Mund und die z€rtlichen H€nde. Sie dachte an diese vierzehn Tage und
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N€chte, die wie ein einziger Rausch hinter ihr lagen. Mit einmal verlie… sie alle Kraft. Ja, Kopp sprach die Wahrheit. Sie hatte den Boden unter den F•…en verloren, und es stand wirklich schlimm um sie. In jener Sternennacht auf der Terrasse bei Marmara hatte es angefangen. Seither lebte sie wie in einem Fieber, in einem unwirklichen und traumhaften Zustand, fern allem Gewohnten und Allt€glichen. Sie erkannte sich selber nicht mehr. Ihr erster Gedanke fr•hmorgens war Marmara, und sie konnte die Stunde nicht erwarten, da er anrief, und es machte sie gl•cklich, seine Stimme zu h†ren. Dann flog sie zu ihm und in seine Arme, sie lie… sich sinken und verga… alles, alles, was es in der Welt gab au…er dem einen, au…er ihm, Marmara. Eine brennende Leidenschaft hatte sie erfa…t und mitgerissen. Sie hatte €hnliches nie erlebt. Sie war achtundzwanzig Jahre alt geworden und immer der Meinung gewesen, einer Frau wie ihr k†nnte die Liebe nie etwas anderes sein als eine Art Zeitvertreib, ein Vergn•gen, das man jederzeit an- und abstellen konnte nach Belieben. Es war ihre Meinung gewesen, da… von der sogenannten Liebe zuviel hergemacht, da… da romantischer Nebel um etwas gezaubert wurde, das eine einfache, naturgegebene Sache sei. Sie hatte sich f•r k•hl, abgekl€rt und n•chtern gehalten, f•r eine Frau, die verm†ge ihres Verstandes und ihrer Urteilskraft der Masse aller andern Frauen •berlegen war. Sie hatte ungl€ubig gel€chelt, wenn von Liebe geredet wurde, und war sich dabei sehr reif und fortschrittlich vorgekommen. Aber sie hatte •ber etwas geurteilt, das sie nicht kannte. Nun hatte es sie selbst getroffen wie ein z•ndender Blitz. Sie brannte lichterloh. Es war kein Tag vergangen seit jenem ersten Ku… auf der Terrasse von Marmaras Villa, an dem sie nicht mit ihm zusammen gewesen w€re, ja ihr Leben bestand eigentlich nur noch darin, entweder bei ihm zu sein oder an ihn zu denken
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und die schleichenden Stunden bis zum n€chsten Zusammensein zu z€hlen. Ihr Leben hatte sich von Grund auf ge€ndert. Was immer sie auch tat, es geschah f•r Marmara oder unter dem Einflu… Marmaras. Sie war ein anderer Mensch geworden. Sie war nicht mehr frei und nicht mehr unabh€ngig, aber das war ihr gleichg•ltig. Sie geh†rte Marmara. Sie wollte ihm geh†ren und hatte es von allem Anfang an gewollt. Sie war eine starke Natur, und was sie tat, geschah ganz und ohne unausgef•llten Rest. So war sie nun auch in der Liebe, sie konnte nicht anders. Alles oder nichts. Sie liebte ihn, und es erschien ihr unvorstellbar, wie sie auch nur einen einzigen Tag lang ohne ihn hatte leben k†nnen‰ ‚Ich fahre nicht nach Kanadaƒ, sagte sie. ‚He?ƒ Der Chefredakteur warf den Kopf in den Nacken und sah sie mit verkniffenem Gesicht an, als h€tte er schlecht geh†rt. ‚Was war das? Ich habe wohl nicht recht geh†rt?ƒ ‚Ich sage, ich fahre nicht nach Kanadaƒ, wiederholte Hilde. Es kostete sie Anstrengung, Kopps Blick standzuhalten. ‚Ich wei…, Sie werden jetzt entsetzt sein und mich f•r einen Versager halten. Trotzdem, Herr Kopp. Ich kann jetzt nicht weg von hier. Seien Sie nicht b†s.ƒ ‚Was hei…t b†s?ƒ fuhr er auf. ‚Und was, zum Teufel, soll das hei…en, Sie k†nnen nicht weg von hier? Weshalb k†nnen Sie nicht?ƒ ‚Also gutƒ, versetzte Hilde etwas steif. ‚Ich will nicht weg. Ist das deutlicher? Ich trete in aller Form von der Sache zur•ck. Schicken Sie jemand anderen nach Kanada.ƒ ‚Jemand anderen‰ƒ Er starrte sie an, als h€tte sie den Verstand verloren. ‚Sind Sie total •bergeschnappt? Wie stellen Sie sich das vor?ƒ ‚Es gibt ja noch mehr Leute, die Reportagen schreibenƒ, sagte Hilde. Es war ihr ziemlich unbehaglich zumute, und sie
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setzte schnell hinzu: ‚Ihnen kann es doch gleich sein, ob ich das schreibe oder jemand anderer.ƒ Sein Blick wurde kalt und fast feindselig. ‚Wer sagt Ihnen das? Wenn ich eine Hilde-Garden-Reportage haben will, wer anders als Hilde Garden kann die schreiben?ƒ Aber Hilde f•hlte, es ging ihm im Grunde gar nicht so sehr um die Reportage. Er wollte sie forthaben, von Marmara losrei…en. Und eigentlich auch gar nicht von Marmara, sondern von ihrer Leidenschaft f•r ihn, die er in ihrem ganzen Ausma… erkannte und in der er eine Gefahr f•r ihre Karriere erblickte. Kopp wu…te Bescheid. In seinem sturmerprobten, verwitterten Gesicht war zu lesen, da… es auch in seinem Leben gef€hrliche Wirbel und Tiefen gegeben hatte und da… er, mehr als einmal vielleicht, gezwungen gewesen war, das Steuer hart herumzurei…en ‡ auch gegen den Wunsch seines Herzens. Denn Kopp hatte Herz, dar•ber war sich Hilde im klaren, obgleich er sie in diesem Augenblick ansah, als h€tte er Lust, sie in St•cke zu rei…en. ‚Ich wei…ƒ, sagte sie, und ihre leise, dunkle Stimme war etwas bewegt, ‚was Sie in Wirklichkeit wollen. Mich retten. Sie denken, ich bin im Begriff, mich aufzugeben oder zu verlieren oder so was. Es ist nicht so, Herr Kopp, bestimmt nicht. Aber selbst, wenn es so w€re ‡ ich will gar nicht gerettet werden. Es geht mir so gut wie noch niemals zuvor. Ich finde es herrlich, zu leben. Also lassen Sie mich hierƒ, setzte sie mit einem vagen L€cheln hinzu. ‚Schicken Sie mich nicht in die Urw€lder Kanadas. Es gibt doch auch hier Arbeit f•r mich.ƒ Er schwieg. Ein m•der Ausdruck kam in sein Gesicht. Er wischte sich mit dem Taschentuch den Schwei… von der Stirn, dann wandte er sich ab. Er ging zu dem Garderobenst€nder und zog eine d•nne Jacke aus gelber Rohseide an. Er sah ein, Hilde war nicht umzustimmen, es hatte keinen Sinn, weiter in sie zu dringen. Wahrscheinlich war es am besten, sie f•rs erste in Ruhe zu lassen. Auch die wildesten
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St•rme legen sich mit der Zeit, und je vehementer eine Leidenschaft einen Menschen erfa…t, um so schneller pflegt sie sich abzuk•hlen und zu sterben ‡, so dachte Kopp. Er beschlo…, erst einmal abzuwarten, wie Hilde die Liebe bekommen w•rde. ‚Na sch†nƒ, sagte er verdrossen, denn es verdro… ihn immer, wenn er eine Sache aufgeben mu…te. ‚Verschieben wir die Kanadareise auf unbestimmte Zeit. Noch ist nicht aller Tage Abend. Vielleicht werden Sie einmal wieder ein vern•nftiger Mensch. Dann reden wir weiter. Aber wenn Sieˆs genau wissen wollen: Freude erlebt man an Ihnen keine. Wenigstens ich nicht. Ich habe mir Ihre Laufbahn etwas anders vorgestellt, aber seiˆs, wie es sei. Ich mu… in die Setzerei. Viel Vergn•gen weiter.ƒ Er nickte ihr m•rrisch zu und ging aus dem Zimmer. Jeden Morgen um 9 Uhr 30 erschien Carol, Marmaras Chauffeur, bei Hilde und brachte Blumen. Es mu…ten jeden Tag andere sein. Das war ein am•santes Spiel geworden, und Hildes Arbeitszimmer glich bereits einem mittleren Blumenladen. Es gab rote, wei…e und blaue Rosen, Nelken, Kamelien und Jasmin, Lilien, Lotosbl•ten und BucharaTulpen, und langsam begann sich Marmara den Kopf zu zerbrechen, woher er neue Blumensorten nehmen sollte. Jetzt hatte er von einem Orchideenz•chter in einem verlassenen Nest in der N€he der Stadt geh†rt, dem ganz seltene Kreuzungen gelungen waren. Er hatte den Mann angerufen und mit Erleichterung vernommen, da… es da noch zahlreiche M†glichkeiten gab. Es war vereinbart worden, da… Marmara einige Exemplare abholen lassen w•rde, doch im Drange der Gesch€fte hatte er vergessen, Carol die notwendigen Anordnungen zu geben. Auf einmal, w€hrend er sich in seinem Schlafzimmer umzog, fiel es ihm ein. Es war gegen sechs Uhr nachmittags,
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und jeden Moment mu…te Hilde kommen. Er klingelte und lie… Carol holen. ‚Du mu…t sofort nach Hillfeld fahren, Carol, Blumen holen. Wei…t du, wo das ist?ƒ Carol wischte sich mit dem Handr•cken •ber den Mund, dann kratzte er sich den Kopf. ‚Nein, aber ich werde nachsehen, Herr Marmara.ƒ Sie sprachen immer rum€nisch, wenn sie allein miteinander waren. ‚Der Mann hei…t Wolframsberger, schreibˆs dir auf. Und h†r zu, Carol.ƒ Marmara stand vor dem Spiegel und b•rstete mit zwei kleinen ovalen B•rsten sein Haar. ‚Wenn du mit den Orchideen zur•ckkommst, gib acht, da… Fr€ulein Garden sie nicht sieht. Frag den Blumenonkel auch, wie man sie aufbewahren soll, k•hl oder in der W€rme, ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Du bringst dann jeden Morgen ein Exemplar zu Fr€ulein Garden. Alles klar?ƒ Carol hatte sich den Namen notiert. ‚Jawohl, Herr Marmara.ƒ ‚Na sch†n, dann hau ab.ƒ Marmara warf ihm einen Blick durch den Spiegel zu und nickte verabschiedend. Aber pl†tzlich stutzte er. ‚Moment, Carol.ƒ Er warf die B•rsten auf den Toilettentisch und war mit drei Schritten bei Carol. Mit einer raschen Bewegung entri… er ihm das Notizbuch, das Carol gerade in die Tasche hatte stecken wollen. Es war ein schmales, braunes Ringb•chlein. Verst€ndnislos starrte Carol Marmara an. Dieser bl€tterte aufgeregt in dem Kalender und richtig: das Blatt, das er suchte, fehlte. Marmaras Gesicht wurde hart. ‚Wo ist hier die Seite mit der Woche vom 17. bis 24. April?ƒ Carol begriff nicht sofort, worum es ging. ‚Ist sie nicht drin?ƒ fragte er, noch ahnungslos. Aber pl†tzlich erschrak er. Marmara explodierte.
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‚Nein, sie ist nicht drin!ƒ schrie Marmara und schlug ihm mit dem Notizbuch klatschend ins Gesicht. ‚Du Schwein, du niedertr€chtiges, du wei…t genau, da… die Seite nicht drin sein kann! Du hast sie Kocholl gegeben! Hast den Plan von meiner Wohnung daraufgezeichnet!ƒ Carols Augen weiteten sich entsetzt, Schwei… lief •ber sein Gesicht. Der schwarze, schwere, eckige Mann begann zu zittern. ‚Herr Marmara ‡ ich ‡ ich ‡ƒ Vor Angst und Aufregung konnte er nicht weitersprechen. Marmaras Gesicht hatte sich in erschreckender Weise ver€ndert. Es war verzerrt und entstellt, eine flammende Wut loderte in den bluterf•llten Augen, der Mund zuckte und entbl†…te das Gebi…, das jetzt scharf und gef€hrlich aussah. Es war etwas best•rzend Gewaltt€tiges und Furchteinfl†…endes in diesem j€hen Zornausbruch. ‚Du bist der gemeinste Lump, den es gibt!ƒ schrie Marmara. ‚Und dir hab ich vertraut! Jahrelang! Wie ein Freund war ich zu dir, die Hand h€tte ich f•r dich ins Feuer gelegt! Und du Hundling tust dich mit einem ordin€ren Einbrecher zusammen, um mich zu bestehlen!ƒ Er fa…te ihn an beiden Schultern, sch•ttelte ihn und warf ihn gegen die Wand. ‚Herr Marmara ‡ƒ, stie… Carol angstbebend hervor, ‚ich wei…, es war gemein ‡ƒ ‚Warum tust du es dann, wenn du das wei…t?ƒ schrie Marmara au…er sich. ‚Verdienst du nicht genug bei mir? Geht es dir nicht gut? Hast du nicht alles, was du brauchst?ƒ ‚Ja, Herr Marmara, ich habe alles, aber ‡ƒ ‚Hast du am Ende wieder gespielt?ƒ Mit einem h•ndischen und flehenden Ausdruck sah Carol zu Marmara empor, aber sogleich senkte er wieder den Blick. ‚Ja, ich habe gespieltƒ, sagte er stockend, ‚und dann hab ich zwei Reservereifen heimlich verkauft, Herr Marmara, und dann ‡ der Kocholl wu…te das. Er hat mich unter Druck gesetzt, er
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hat gedroht, mich anzuzeigen. Ich verlor den Kopf. Tausend Mark hat er mir f•r den Plan gegeben. Aber mit dem Einbruchƒ, rief Carol beschw†rend, ‚wollte ich nichts zu tun haben! Ich hab ihm nur den Plan gegeben. Alles andere war nicht meine Sache!ƒ ‚Nicht deine Sache? Was soll das? Eine Ausrede? Du hast doch genau gewu…t, wozu er den Plan haben will! Und nachdem er eingebrochen und den Schmuck gestohlen hatte, da wu…test du, wer ihn gestohlen hat, und hast trotzdem nicht im Traum daran gedacht, das Maul aufzumachen! Das ist genau dasselbe, als h€ttest du selber bei mir eingebrochen! Aber das werde ich dir heimzahlen! Bei Gott, das wirst du b•…en!ƒ Marmara lief an den Hausapparat und ri… den H†rer von der Gabel. Die Zentrale in der Fabrik meldete sich. ‚Die Polizei!ƒ schrie Marmara in den Apparat. Er wandte sich dem offenen Fenster zu, um Carol nicht ansehen zu m•ssen. ‚Meinen Sie das Polizeirevier, Herr Marmara?ƒ fragte die Telephonistin unsicher. ‚Kriminalrat Friggeƒ, rief Marmara ungeduldig. ‚Oder seine Dienststelle.ƒ ‚Einen Augenblick, ich verbinde.ƒ Mit harten, zusammengepre…ten Lippen blickte Marmara zum Fenster hinaus. Wie Dunst und Glut quoll die Hitze ins Zimmer. Das Hemd, das er soeben erst angezogen hatte, klebte an seinem K†rper. Er sah mit finsterer Miene auf den Fabrikhof hinunter, der im glei…enden Sonnenlicht lag, und er erblickte Hildes azurblaues Kabriolett auf dem gewohnten Platz, unweit der Garagen. Carol stand mit h€ngenden Armen an der Wand, sein Gesicht war schlaff, der verst†rte Blick hing an Marmara. Er f•hlte sich vernichtet und zerschlagen und erwartete sein Schicksal.
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Auf einmal geschah etwas Unerwartetes. Marmaras Gesicht, eben noch hart und von eiserner Entschlossenheit, verfiel von einem Augenblick zum andern. Es wurde leer und kraftlos. Ein schmerzlicher Ausdruck von Verlorenheit kam in seinen Blick. Langsam lie… er die Hand mit dem H†rer sinken. Man konnte die Stimme der Telephonistin vernehmen: ‚Hallo‰ Hallo, Herr Marmara ‡ƒ Aber Marmara reagierte nicht darauf. Er lie… den H†rer auf die Gabel fallen. Atemlos verfolgte Carol den eigent•mlichen Vorgang. Marmara, die Hand noch auf dem H†rer, stand regungslos und wie versunken. Dann drehte er sich um, sah Carol fremd und abwesend an. ‚Die Sache ist erledigt, Carol. Du kannst gehen.ƒ Carol starrte ihn an und r•hrte sich nicht vom Fleck. Marmaras Verhalten war ihm r€tselhaft und unheimlich. ‚Soll das hei…en, da… ich ‡ da… Sie ‡ nicht die Polizei ‡ƒ Mit einer m•den Geste fuhr sich Marmara •ber die Augen und sagte ersch†pft: ‚Es kann jedem Menschen einmal geschehen, da… er in einem wahnsinnigen Augenblick etwas tut, das er nie h€tte tun d•rfen ‡ und das er auch nie getan h€tte, wenn die Umst€nde in diesem Augenblick zuf€llig andere gewesen w€ren. Du warst immer brav und treu, Carol. Ich wei… nicht, was in dich gefahren ist. Wahrscheinlich wei…t du es selber nicht. Ich will das nicht weiter untersuchen. Vergessen wir den Vorfall, Carol. Ich bin sicher, du wirst nie wieder etwas Derartiges tun.ƒ Carol atmete schwer, er rang nach Worten. Dann st•rzte er vor, ergriff Marmaras Hand und ri… sie an seine Lippen. ‚Multumesc, Domnule!ƒ rief er •berschwenglich und halb n€rrisch vor Freude. ‚Multumesc, multumesc ‡ƒ Marmara entzog ihm mit einem Ruck seine Hand. ‚Sei kein altes Weib, Carolƒ, sagte er und wandte sich ab. ‚Geh jetzt und tu, was ich dir gesagt habe.ƒ Verst†rt und aufgel†st lief Carol aus dem Zimmer.
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Hilde wartete auf der Terrasse. Das Stubenm€dchen hatte ihr Coca-Cola, Eis und Zitronensaft gebracht, und sie sa… halb auf dem Gel€nder, das hohe Glas mit den klirrenden Eisw•rfeln in der Hand. Der Himmel im Westen gl•hte orangefarben, die Sonne mu…te jeden Augenblick hinter den H€usern versinken. Vielleicht w•rde die dr•ckende Hitze dann ertr€glicher werden. Sie h†rte Schritte aus dem Zimmer, gleich darauf erschien Marmara auf der Terrasse. Er war noch nicht wieder ins Gleichgewicht gekommen, sah bedr•ckt und niedergeschlagen aus. Er zwang sich zu einem munteren Ton. ‚Gr•… dich, Hilde.ƒ Sie l€chelte ihm entgegen und begann ein wenig mit dem Bein zu schlenkern. ‚Hallo, Gregor. Was ist denn los mit dir?ƒ Er trat zu ihr, fuhr mit der Hand leicht und z€rtlich •ber ihr Haar und k•…te sie auf die Schl€fe. ‚Mit mir? Was soll sein?ƒ ‚Ich habe dich schreien geh†rt wie einen kommandierenden Oberfeldwebel. Ich wu…te gar nicht, da… du so was kannst. Hattest du Šrger?ƒ ‚Ach ‡ƒ, er machte eine ungeduldige Geste. ‚Nicht wichtig.ƒ Sie sah ihn an, und sie bemerkte die Ver€nderung in seinem Gesicht. Sie kannte das. Es machte sie unruhig. Dieser schwerm•tige und zerqu€lte Ausdruck war ihr schon †fters an ihm aufgefallen, ohne da… es ihr gelungen w€re, die Ursache solcher pl†tzlichen Anwandlungen zu ergr•nden. Wenn sie ihn fragte, schreckte er auf, als w€re er mit seinen d•steren Gedanken weit fort gewesen, gab ausweichende Antworten oder verfiel in extreme Fr†hlichkeit. Sie fragte nicht mehr. Aber sie mu…te bisweilen dar•ber nachdenken. Er war nicht der Mensch, der grundlos ‡ aus Weltschmerz oder wie man so etwas nennen mochte ‡ in Melancholie verfiel. Er war kein
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Gr•bler, kein Tr€umer, an ihm war alles klar und •bersichtlich. Es mu…te etwas in seinem Leben geben, dachte Hilde, ein Erlebnis, mit dem er nicht fertig geworden war, das un•berwunden tief in seinem Innern lastete, von Zeit zu Zeit in seiner Erinnerung hochnebelte und sein Gem•t verd•sterte. Was konnte es sein? Er mochte nicht dar•ber sprechen, und sie hatte Verst€ndnis daf•r. Sie dachte an ihre eigenen Erlebnisse in Krieg und Nachkrieg. Da gab es auch einige darunter, die sie noch heute mit Schaudern erf•llten und •ber die sie niemals zu jemandem gesprochen hatte. Doch irgendwie war sie damit fertig geworden. Es bedr•ckte sie, da… sie Marmara nicht helfen konnte, er mu…te von allein dar•ber hinwegkommen. Gl•cklicherweise hielten diese beklemmenden Stimmungen niemals lange an, sie verschwanden ebenso •berraschend wie sie auftauchten. Und dann war Marmara wieder heiter und von spr•hender Lebendigkeit, als ob nichts gewesen w€re. So auch heute. Eine Weile stand er noch finster, mit abwesendem Blick neben Hilde am Gel€nder, gab einsilbige Antworten und gr•belte vor sich hin. Auf einmal drehte er sich zu ihr herum. Er sah sie mit gro…en Augen an, in denen etwas wie ein Aufleuchten war, als w•rde ihm eben erst die erfreuliche Tatsache ihrer Gegenwart voll bewu…t. Mit einer •berm•tigen Geste schlug er die Arme um sie. Das kam so unversehens, da… Hilde erschrak. Das Glas, das sie in der Hand gehalten, fiel zu Boden und zerschellte auf den Fliesen. Er achtete nicht darauf. Er k•…te sie und pre…te ihren zarten K†rper so fest an sich, da… sie meinte, ihre Rippen m•…ten brechen. ‚Verr•ckter ‡ƒ, st†hnte sie atemlos. ‚Du bist es, die mich so verr•ckt machtƒ, fl•sterte er an ihrem Ohr. ‚Liebst du mich?ƒ ‚Wahnsinnig ‡ƒ
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‚Sag nicht wahnsinnig. Sag ja.ƒ Sie bog ein wenig den Kopf zur•ck und sah ihn an. ‚Ist das mehr?ƒ ‚Viel mehr.ƒ ‚Jaƒ, sprach sie in seine Augen hinein, ‚ja, ja, ja, ‡ ich liebe dich.ƒ Dann warf sie sich wieder in seine Arme. Sie standen im Licht der untergehenden Sonne. Glutwellen stiegen vom Boden der Terrasse auf, kamen von der durchsonnten Hauswand auf sie zu, brodelten •ber dem weiten zementierten Fabrikhof. Kein L•ftchen wehte. Wenn sie einander mit ihrem Atem streiften, war der Atem hei…. ‚Genug, genug, sonst bleibt nichts von mir •brig‰ƒ Hilde ri… sich von ihm los. Mit etwas taumelnden Schritten ging sie zum Ende der Terrasse, wo unter einer bunten Markise niedrige gelbe Korbsessel standen. Sie lie… sich auf einen der Sessel fallen und schlo… die Augen. ‚Ach, Gregor‰ Ob ich jemals wieder zur Besinnung komme? Vielleicht will ich gar nicht zur Besinnung kommen. Noch nicht.ƒ ‚Noch nicht?ƒ wiederholte er und blieb bei ihr stehen. ‚Was hei…t das?ƒ ‚Noch lange, lange nichtƒ, sagte sie, ohne die Augen zu †ffnen. ‚Und dann?ƒ dr€ngte er. ‚Was wird dann sein?ƒ ‚Das wei… ich nicht. Interessiert mich auch nicht.ƒ Er beugte sich •ber sie. ‚Was sind das f•r Gedanken?ƒ ‚Gar keine.ƒ Sie l€chelte, hob die H€nde und tastete nach seinem Gesicht. ‚Stimmungen bei Sonnenuntergang. H†r nicht hin, Gregor. Es ist mir selber neu, da… ich sentimental sein kann. Kommt da nicht jemand?ƒ Sie schlug die Augen auf und blickte zur T•r. Das Stubenm€dchen Rita kam mit dem Abendessen. Sie schob ein Tischchen auf R€dern wie einen Kinderwagen vor sich her. Es gab kaltes Fleisch, Gefl•gel, vielerlei Salate und einen k•hlen Rheinwein.
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‚Ich glaube, es wird so recht sein, Herr Marmaraƒ, sagte das M€dchen und sah Marmara l€chelnd von der Seite an. ‚Es ist alles ganz frisch vom Eis.ƒ ‚Ausgezeichnet, Ritaƒ, sagte Marmara aufger€umt. ‚Sie sind wirklich ein Engel.ƒ Das M€dchen neigte ein wenig den Kopf und sagte mit schwebender Stimme: ‚Danke‰ƒ Sie war eine h•bsche, schlanke Person mit schwarzen Ponyfransen, kirschrot bemalten Lippen und gelackten Fingern€geln. W€hrend sie sich umdrehte, um ins Haus zur•ckzugehen, warf sie einen gelassenen Blick •ber die Schulter auf Hilde, dann st†ckelte sie auf hohen Abs€tzen davon. Ihre Beine waren ebenso tadellos wie ihre Nylons. ‚Du hast vergessen, ihr die Hand zu k•ssenƒ, sagte Hilde trocken. Marmara lachte. ‚Ich mu… sie bei guter Laune erhalten, wei…t du. Sie war zuletzt bei einem amerikanischen Major und ist sehr verw†hnt.ƒ ‚Vielleicht gehst du einmal mit ihr zum F•nfuhrteeƒ, schlug Hilde vor, w€hrend sie sich eine Scheibe Roastbeef auf den Teller legte. ‚W•rde sich sicher g•nstig auf ihren Gem•tszustand auswirken.ƒ Marmara sah sie am•siert an. ‚Eifers•chtig?ƒ ‚Aber wo! Ich finde sie nur reichlich unsympathisch, aber es d•rfte auf Gegenseitigkeit beruhen. Jedenfalls ist sie verliebt in dich, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest.ƒ ‚Also doch eifers•chtig!ƒ lachte Marmara. ‚Wenn du darauf bestehst, schicke ich sie fort und nehme mir eine Sechzigj€hrige.ƒ ‚Gott beh•te‰!ƒ Hilde h€ufte etwas Remouladensauce auf den Rand ihres Tellers. ‚Solange sie mir kein E 605 in die Sauce quirlt, was sie sicherlich mit Wonne tun w•rde, besteht dazu kein Anla….ƒ
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Als sie mit dem Essen fertig waren, sahen sie, da… der Himmel sich verfinstert hatte. Die Sonne war verschwunden. ‚Es wird ein Gewitter gebenƒ, sagte Marmara. ‚Hoffentlich. Die Schw•le ist entnervend.ƒ W€hrend sie es sagte, erhob sich ein Wind und fegte •ber die Terrasse hin, warf Hildes Rock hoch, wirbelte ihr Haar auf und tauchte die Zipfel des Tischtuchs in die Salatsch•sseln. ‚Hopplaƒ, rief Hilde und zog den Rock •ber die Knie hinunter. ‚Ich glaube, es geht los.ƒ ‚Es wird ungem•tlichƒ, sagte Marmara. ‚Gehen wir hinein.ƒ Er schob den Tisch ins Zimmer und schlo… Fenster und T•ren. Es war so finster geworden, da… sie einander kaum noch sehen konnten. Marmara knipste eine Lampe an. ‚Wozu?ƒ fragte Hilde. Er schaltete das Licht wieder aus. Hilde hatte sich auf der Couch behaglich ausgestreckt, r€kelte sich und schnurrte wie eine Katze. Marmara setzte sich ans Ende der Couch, streifte Hildes Sandalen ab und nahm ihre schmalen, sch†nen F•…e zwischen seine H€nde. Sie warteten auf das Gewitter. ‚Ich war heute bei Koppƒ, sagte Hilde. ‚So?ƒ fragte Marmara mehr h†flich als interessiert. ‚Zu welchem Zweck?ƒ ‚Zu welchem Zweck? Komische Frage. Zu welchem Zweck gehst du in deine Fabrik?ƒ ‚Ist das das gleiche?ƒ ‚Nat•rlich!ƒ rief sie. ‚Mein Beruf ist mir genauso wichtig, wie dir der deine. Vielleicht ist im Augenblick nicht viel davon zu merken, aber trotzdem ist es so, Gregor. Du mu…t das wissen.ƒ ‚Also sch†nƒ, sagte er leichthin und spielte mit ihren Zehen. ‚Jetzt wei… ich es.ƒ
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‚Nein, du wei…t es nicht. Žberhaupt ‡ƒ Sie zog ihre F•…e pl†tzlich zur•ck. ‚Ich glaube, du h€ltst meine Arbeit f•r eine Art von sympathischer und interessanter Besch€ftigung, die mir ganz gut zu Gesicht steht und mit der ich auf nicht allzu anstrengende Weise etwas Geld verdiene. Wei…t du, ich bestehe ja nicht darauf, da… dir meine Artikel imponieren ‡ƒ ‚Aber sie imponieren mir ganz gewaltigƒ, warf er ein. ‚‡ ich m†chte nurƒ, fuhr sie fort, ohne seinen Einwurf zu beachten, ‚da… du mich siehst, wie ich bin. Im ganzen, mitsamt meiner Schreiberei und meinem Ehrgeiz. F•r mich ist der Journalismus genauso eine ernste Sache, wie es f•r dich deine Farben und Lacke sind.ƒ ‚Meine Farben und Lacke, Liebling, interessieren mich gar nicht so besonders, wie du vielleicht glaubst. Ich verstehe nur zuf€llig etwas davon. W•rde ich vom Journalismus etwas verstehen ‡ƒ ‚Sieh einmal an!ƒ fiel sie ihm ins Wort. ‚Dann w•rdest du also auch Artikel schreiben, genau wie ich.ƒ ‚Das wieder nichtƒ, l€chelte er. ‚Ich w•rde nat•rlich eine Zeitung herausgeben. Eine Zeitung mit einer doppelt so gro…en Auflage wie dein JETZT.ƒ ‚Nun h†r sich einer diese Unternehmerarroganz an!ƒ rief Hilde. ‚Das ist doch wirklich ‡ƒ Ein scharfer, schneidender Donnerschlag lie… sie erschrocken verstummen. ‚Siehst du?ƒ rief Marmara frohlockend. ‚Das kommt davon, wenn du schimpfst.ƒ Er nahm wieder ihre F•…e auf den Scho…, und sie lie… es geschehen. ‚Es ist doch sonderbarƒ, fing sie nach einer Weile wieder an, ‚da… gerade du mich nicht ernst nimmst, Gregor. Frag, wen du willst, alle Leute, die mich kennen. Alle werden in erster Linie die Journalistin in mir sehen, die t•chtige, vielversprechende Arbeitsbiene, die unerm•dlich schafft, st€ndig auf den Beinen, st€ndig unterwegs ist. Wenn ich nur
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das Wort Privatleben ausspreche, machen sie runde Augen und wundern sich, als h€tten sie mich bei irgendeinem geheimen Laster ertappt, Morphium oder sonst was. Nur du, du bist der einzige, der meinen Beruf f•r eine Spielerei h€lt. Was glaubst du eigentlich, wozu ich auf der Welt bin?ƒ ‚F•r michƒ, sagte er, ohne zu •berlegen. ‚F•r uns. F•r unsere Liebe.ƒ Wiederum krachte ein gewaltiger Donnerschlag, und gleich darauf geisterte grellwei… ein Zickzackblitz •ber den Himmel und erhellte sekundenlang das dunkle Zimmer. Hilde zuckte unwillk•rlich zusammen. Marmara streichelte ihre F•…e. Seine H€nde taten ihr wohl. ‚Wei… Gottƒ, seufzte sie, ‚ich bin wirklich f•r nichts anderes mehr auf der Welt als f•r dich. Ich h€tte nie gedacht, da… mir so etwas geschehen kann. H†chste Zeitƒ, setzte sie, einem j€hen Einfall folgend, hinzu, ‚da… ich f•r ein paar Monate hier herauskomme, damit mein Kopf wieder frei wird.ƒ Es war ein verliebter Einfall, und nun wartete sie, was geschehen w•rde. Marmaras H€nde lagen pl†tzlich still. ‚Wie meinst du das?ƒ Seine Stimme kam hell und wachsam aus dem Dunkel. Hilde r€kelte sich ein wenig und z†gerte mit der Antwort. ‚Nun?ƒ fragte er ungeduldig. ‚Ich sagte doch, ich war heute bei Kopp.ƒ ‚Ja. Aber was hat das zu bedeuten?ƒ Er war auf einmal nerv†s und voller Unruhe. ‚Meine Papiere f•r Kanada sind fertigƒ, erwiderte sie langsam. Er schwieg best•rzt. Dann stie… er erregt hervor: ‚Aber du f€hrst doch nicht! Du kannst doch jetzt nicht fortfahren, Hilde ‡ƒ Sie l€chelte vor sich hin in die Dunkelheit und lie… wieder eine kleine Pause vergehen, ehe sie antwortete. ‚Aber, Lieberƒ, sagte sie wie verwundert, ‚das stand doch von allem Anfang an
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fest. Gleich beim erstenmal, als du zu mir kamst, sagte ich dir, da… ich in K•rze nach Kanada fahren w•rde. Wei…t du das nicht mehr?ƒ ‚Nat•rlich wei… ich esƒ, fuhr Marmara auf. ‚Aber ich habe das nicht mehr ernst genommen.ƒ ‚Eben, ich sagˆs ja. Du nimmst mich nicht ernst. Das hast du jetzt davon. Ich fahrˆ weg, und du bleibst da. Deine Rita mit den Ponyfransen wird dich tr†sten.ƒ ‚Mir ist jetzt nicht nach Witzen zumuteƒ, sagte er schroff. ‚Was soll das alles? Willst du im Ernst nach Kanada fahren?ƒ ‚Du wei…t doch, da… ich es seit einer Ewigkeit vorhabe.ƒ ‚Inzwischen hat sich aber einiges ge€ndert. Oder nicht?ƒ ‚Es hat sich sehr viel ge€ndertƒ, sagte sie leise und dr€ngte gewaltsam die Z€rtlichkeit zur•ck, die in ihr aufsteigen wollte. Sie hatte noch nicht genug von dem Spiel. ‚Dennoch ‡ das Leben geht weiter, bei dir so gut wie bei mir. Kopp besteht auf einer Hilde-Garden-Reportage •ber Kanada.ƒ ‚Wann f€hrst du?ƒ fragte er hart. ‚Morgen ‡ soll ich fahren.ƒ ‚F€hrst du morgen?ƒ Sie schwieg. ‚Sprich! Antworte! Oder ist das schon die Antwort?ƒ Er wartete, dann sprang er auf. ‚Ich begreife alles!ƒ rief er, und auf einmal brach sein ungez•geltes Temperament aus ihm hervor wie eine Sturzflut. Und wie immer, wenn er in Erregung war, fiel er ins Rum€nische. ‚Im Leben der Journalistin Hilde Garden ist kein Platz f•r Romanzen. Ich war dir gerade gut genug, um eine Berufspause auszuf•llen, die langweilige Stille zwischen zwei atemberaubenden Reportagen! Das ist deine Wirklichkeit: Zeitungsartikel, die schneller vergessen sind als sie geschrieben werden. Daf•r lebst du. Das h€lt dich in Atem. Das ist deine Welt. Und dabei kommst du dir gro…artig und kolossal t•chtig vor. Ihr armseligen Frauen von heute!ƒ Erbittert hielt er inne.
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Sie konnte ihn nicht sehen. Sie h†rte sein heftiges Atmen. Sie r•hrte sich nicht und sagte nichts und wartete. Sie fand ihn herrlich wild und fremdartig und sehnte sich nach ihm wie nie zuvor. Wiederum zuckte ein wei…er Blitz vorbei, und in dem fahlen Licht erblickte sie einen Herzschlag lang sein Gesicht: schmerzlich verzerrt, in Zorn und v†lliger Ratlosigkeit. Sie f•hlte, wie eine hei…e Welle sie •berflutete. ‚Komm doch herƒ, sagte sie. ‚Komm zu mir, Gregor.ƒ Ihre leise, dunkle, erregende Stimme jagte ihm einen Schauer •ber die Haut. Er blieb stehen. ‚Nie wirst du gl•cklich sein ‡ nieƒ, sagte er. ‚Kein Mensch wird gl•cklich, der seinen Verstand zwingt, st€rker zu sein als sein Herz.ƒ Jetzt hatte sie genug von dem Spiel, es fing an, keins mehr zu sein. ‚Liebst du mich?ƒ fragte sie. ‚Ich wei… es nicht. Im Augenblick bist du mir fremd.ƒ ‚Gregor!ƒ rief sie pl†tzlich unverstellt, und Angst zitterte in ihrer Stimme. Einen Moment war es still im Zimmer, man h†rte nur den klatschenden Regen auf die Terrasse prasseln. Dann, auf einmal, war er bei ihr, kniete neben der Couch, und sie f•hlte seine H€nde •ber ihren K†rper hintasten, bis zu ihrem Kopf empor. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine beiden H€nde und k•…te ihre Schl€fe, ihr Haar, ihre Augen. ‚Jetzt freust du dich, ja? Da… ich dir auf den Leim gegangen bin, da… ich nur einen Moment lang glauben konnte, du f€hrst wirklich fort ‡ƒ Sie lag mit geschlossenen Augen, ihre Lippen waren leicht ge†ffnet, und ein leises Beben ging durch ihren K†rper. ‚Keine Worte mehrƒ, fl•sterte sie. ‚K•… mich‰ƒ
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Sechstes Kapitel EIN JUNGER MANN NAMENS NEGRETZU Der n€chste Tag war k•hl und grau. Fast ahnte man den Herbst. Es war einige Minuten nach halb zehn, Hilde stand am Fenster und blickte auf die Orchidee, die Carol soeben gebracht hatte. Sie sah bizarr und unwirklich aus und erinnerte an Bilder des jungen Picasso, auf denen mit Vorliebe Geigenh€lse mit verschn†rkelten Schnecken zu sehen waren. W€hrend Hilde noch das etwas unheimliche Gew€chs betrachtete und versuchte, sich dar•ber schl•ssig zu werden, ob sie es feenhaft sch†n oder abgr•ndig teuflisch finden sollte, klingelte das Telephon. Sie ging an den Apparat und hob ab. ‚Garden.ƒ Eine etwas spr†de M€nnerstimme meldete sich. ‚Ich m†chte bitte Fr€ulein Schaunburg sprechen.ƒ ‚Ja, ich bin am Apparat.ƒ ‚Ich habe schon einige Male versucht, Sie zu erreichen, Fr€ulein Schaunburg. Mein Name ist Jorga.ƒ ‚Jorga?ƒ Der Name sagte ihr nichts. ‚Um was handelt es sich denn?ƒ Pl†tzlich fiel ihr ein, was der Redakteur Haschka ihr gesagt hatte, und sie setzte hinzu: ‚Sind Sie der Mann aus Rum€nien, der mich in der Redaktion gesucht hat?ƒ ‚Jawohl, der bin ich.ƒ ‚Haben Sie Nachrichten f•r mich?ƒ Er z†gerte ein wenig mit der Antwort, dann sagte er: ‚Ich habe Ihnen viel zu erz€hlen, Fr€ulein Schaunburg. Wann und wo k†nnte ich Sie sprechen?ƒ Hilde war nun lebhaft interessiert. ‚Wann und wo Sie wollenƒ, sagte sie. ‚Wo sind Sie denn jetzt?ƒ ‚Im Ausl€nderlager Billorth.ƒ
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‚Gut, ich bin in einer halben Stunde drau…en.ƒ ‚Es w€re vielleicht besser, Fr€ulein Schaunburg, Sie kommen nicht ins Lager, man ist hier nicht so ungest†rt. Wenn es Ihnen recht ist ‡ es gibt hier in der N€he ein kleines Lokal, gleich bei der Endstation der Linie 49. •Zur Bille‘ hei…t es. Da k†nnten wir uns treffen.ƒ ‚Einverstanden. Ich fahrˆ gleich los.ƒ Es war eine verrauchte Kneipe, in der es nach Bier und billigem Schnaps roch und wo trotz der vormitt€gigen Stunde schon einiges Leben war. Der Lautsprecher kreischte, ein Betrunkener maltr€tierte mit seinen F€usten den Spielautomaten, an einem Tisch vor dem Fenster fr•hst•ckten zwei verschlampte halbw•chsige M€dchen hei…e W•rstchen und tranken Korn. Hilde blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Da erhob sich aus einer Nische im Hintergrund ein Mann und kam auf sie zu. Er trug eine verwaschene alte Windjacke und amerikanische Milit€rhosen. Žber die hohe blasse Stirn lief wie ein roter Strich eine Narbe. Um seinen schmalen harten Mund spielte etwas wie ein L€cheln, als er auf Hilde zutrat. ‚Guten Tag, Fr€ulein Schaunburg. Ich bin Jorga.ƒ ‚Guten Tag.ƒ Hilde reichte ihm die Hand und betrachtete pr•fend sein Gesicht. ‚Sie erkennen mich nicht mehr?ƒ sagte er. Hilde sch•ttelte den Kopf. ‚Nein.ƒ ‚Ist ja auch schon lange her. Sie waren damals noch ein Kind.ƒ Er f•hrte sie zu seinem Tisch und entschuldigte sich f•r die Umgebung. Hilde winkte ab, setzte sich und bestellte Kaffee. Sie war gespannt, was Jorga zu erz€hlen haben w•rde, und f•hlte sich zugleich etwas beklommen. ‚Ich habe Sie sofort erkanntƒ, sprach Jorga. ‚Ihre Augen und das Haar ‡ blo… trugen Sie damals noch Z†pfe. Ich war
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Maschinenmeister in der Fabrik Ihres Vaters, Fr€ulein Schaunburg. Sie kamen oft zu mir und standen vor der Dampfmaschine und sahen zu, wie sie arbeitet.ƒ Vage erinnerte sich Hilde an die Maschinenhalle, an die sauberen Schachbrettfliesen, an das blankgeputzte Gel€nder um die Maschine, an die riesigen Schwungr€der, die Marmorschalttafeln an den W€nden, und ganz nebelhaft sah sie jetzt auch einen Mann in braunem Overall unbek•mmert mit einer Handvoll Werg in das m€chtig schlagende R€derwerk der Maschine greifen, um dort einen Œlfleck fortzuwischen‰ ‚Ein wenig kann ich mich wohl erinnernƒ, sagte sie. ‚Ich wei… noch, da… Sie mir kolossal imponiert haben, wie jemand, der den Arm in den aufgesperrten Rachen eines L†wen steckt. Aber ich h€tte Sie nicht wiedererkannt, Herr Jorga.ƒ Eine Unruhe befiel sie. Sie senkte den Kopf und r•hrte nerv†s in dem w€sserigen Kaffee. ‚Was wissen Sie von meinem Vater?ƒ Jorga antwortete nicht sogleich. Dann sagte er, und er versuchte, etwas wie Anteilnahme in seine k•hle und unpers†nliche Stimme zu legen: ‚Ihr Vater ist seit langem tot, Fr€ulein Schaunburg. Es war ein Bombenvolltreffer, Herbst 1944. Von der Fabrik blieb kein Stein auf dem andern. Wurde auch nie wieder aufgebaut, die Tr•mmer liegen noch heute herum.ƒ Hilde blickte nicht auf. Sie sa… schweigend und starrte verloren vor sich hin. Jorga holte ein verdr•cktes Zigarettenp€ckchen hervor und z•ndete sich eine Zigarette an. Auch er schwieg. ‚Ich habˆs ja immer geahntƒ, sagte sie schlie…lich. ‚Irgendwann in diesen zehn Jahren h€tte ich ja von ihm h†ren m•ssen, wenn er am Leben geblieben w€re. Waren Sie ‡ waren Sie dabei, als es geschehen ist?ƒ Jorga sch•ttelte den Kopf. ‚Ich war in F•nfkirchen, in einem russischen Lazarett. Ich kam erst im Fr•hjahr 1945
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wieder nach Klausenburg. Da h†rte ich dann, wie es gewesen war.ƒ ‚Seit wann sind Sie in Deutschland?ƒ ‚Erst seit einem halben Jahr. Ich bekam damals Arbeit im E-Werk in Klausenburg und blieb. Ich dachte ‡ wie so viele ‡, da… es irgendwie schon gehen w•rde mit den neuen Herren im Lande. Aber es ging nicht. Als Volksdeutscher hat man in Rum€nien keine Aussichten, vorw€rtszukommen. Man bleibt ein Sklave. Vor sechs Monaten bot sich mir eine Chance, und da bin ich geflohen.ƒ ‚Wenn Sie Volksdeutscher sind, wie kommen Sie dann in das Ausl€nderlager Billorth?ƒ Jorga l€chelte d•nn und bitter. ‚In Rum€nien hat man mich als Deutschen betrachtet, und in Deutschland gelte ich als Rum€ne ‡ vorl€ufig zumindest. Mein Fall wird noch •berpr•ft. Bis auf weiteres hat man mich erst einmal ins Lager gesteckt, zu diesem Gesindel. Aber ich will jetzt nicht von mir reden, Fr€ulein Schaunburg. Es handelt sich um Sie.ƒ Er hob den Kopf. Er sah sie mit seinen k•hlen, harten Augen an. ‚Hat sich Negretzu bei Ihnen gemeldet?ƒ ‚Wer?ƒ ‚Negretzu.ƒ Hilde sch•ttelte den Kopf. ‚Wer ist das? Ich h†re den Namen zum erstenmal.ƒ Ein ver€chtlicher Zug erschien in Jorgas Gesicht. ‚Genauso hab ichˆs erwartet.ƒ Er setzte sich mit einem Ruck hoch und fuhr mit fast amtlicher Miene fort: ‚Ich bin sehr froh, da… mir zuf€llig Ihr Zeitungsartikel in die H€nde gefallen ist, Fr€ulein Schaunburg. Vielleicht h€tte ich Sie sonst nie gefunden. Ich mu… Ihnen Bericht erstatten. Die Sache liegt zehn Jahre zur•ck. Es ist Ihre Sache. Sie m•ssen endlich erfahren, was sich abgespielt hat.ƒ Hilde nahm einen kleinen Schluck Kaffee und schob die Tasse von sich.
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‚Was ist los mit diesem Negretzu? Wieso hat das mit mir zu tun?ƒ Jorga begann zu erz€hlen: ‚Negretzu war ein junger Mann von einundzwanzig Jahren, als er 1940 zu uns in den Betrieb kam. Er hatte wohl irgendeine chemisch-technische Schule besucht, ich wei… das nicht so genau, jedenfalls war er ein aufgeweckter, intelligenter Bursche, hat sich rasch eingearbeitet und wurde bald so etwas wie die rechte Hand Ihres Vaters. Er hatte sein volles Vertrauen, war st€ndig in seiner Begleitung, wohnte auch im Haus Ihres Vaters und verbrachte die Abende mit ihm. Ihr Vater hielt gro…e St•cke auf ihn, und ich glaube, es war schon etwas an dem Gerede, das bald aufkam, da… n€mlich Ihr Vater ihn gern einmal als Schwiegersohn gesehen h€tte, der die Fabrik •bernehmen konnte, wenn er sich sp€ter einmal zur Ruhe setzen w•rde. Ich bin auch •berzeugt, da… Negretzu insgeheim derartige Absichten hatte und planm€…ig betrieb, es pa…t zu seinem Charakter ‡ nicht, wie Ihr Vater ihn kannte, sondern wie ich ihn sp€ter kennenlernen sollte. Šu…erlich war er ein liebensw•rdiger junger Mann, nett und sympathisch. Aber er war verschlagen und skrupellos. Er ging •ber Leichen, wenn es sein Vorteil war.ƒ Unwillk•rlich griff sich Jorga an die Stirn und betastete die Narbe •ber seinem linken Auge. Schweigsam verfolgte Hilde die Geste. ‚Dann kam die gro…e Wendung im Kriegƒ, fuhr Jorga fort. ‚Die Russen r•ckten vor, und bald wurde uns klar, da… sie nicht mehr aufzuhalten waren. Ihr Vater sprach bisweilen mit mir dar•ber. Er fragte mich, was ich tun w•rde, wenn die Russen nach Klausenburg k€men. Er kannte mich ja seit vielen Jahren und wu…te, da… er sich auf mich verlassen konnte. Ich sagte ihm, da… es mir egal sei und ich nichts zu verlieren h€tte, da… ich aber an seiner Stelle zus€he, so schnell wie m†glich
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nach dem Westen zu kommen. Davon wollte er aber nichts wissen.ƒ ‚Warum nicht?ƒ fragte Hilde. ‚Er mu…te sich doch dar•ber klar sein, was er als Fabrikbesitzer und als Deutscher zu erwarten hatte?ƒ ‚Wahrscheinlich war er sich auch dar•ber klar, Fr€ulein Schaunburgƒ, sagte Jorga. ‚Aber er hing an der Fabrik wie ein Kapit€n an seinem Schiff und war entschlossen, zu bleiben, was immer geschehen m†ge. Blo… um Sie war er in Sorge. Sie nach Klausenburg zur•ckzuholen w€re unsinnig und auch gar nicht mehr m†glich gewesen, andererseits mu…te er damit rechnen, da… Sie in Deutschland in Not geraten w•rden. Eines Tages kam er zu mir und fragte mich, ob ich bereit w€re, mich gemeinsam mit Negretzu nach Deutschland durchzuschlagen. Er hatte die Absicht, Ihnen ein paar wertvolle Schmuckst•cke und etwa hundert Goldm•nzen zu schicken, damit Sie f•r alle F€lle etwas in der Hand haben, um •ber die €rgste Zeit hinwegzukommen. Alles in allem etwa im Wert von f•nftausend Dollar.ƒ ‚Du lieber Gottƒ, sagte Hilde. ‚Damit w€re mir geholfen gewesen.ƒ ‚Gewi…ƒ, sagte Jorga grimmig. ‚Damit w€re Ihnen geholfen gewesen, Fr€ulein Schaunburg. Aber h†ren Sie weiter. Negretzu war bereit, Ihnen die Sachen zu bringen, aber er wollte nicht allein gehen, es war ihm zu riskant, wie er sagte, und so fragte mich eben Ihr Vater, ob ich Negretzu begleiten wollte. Ich war einverstanden. Das war im Sp€tsommer 44. Sie m•ssen bedenken, es gab zu dieser Zeit keine regul€re Postund Bahnverbindungen mehr, die Russen waren tief in Rum€nien und n€herten sich Klausenburg, waren aber auch schon in Ungarn eingebrochen, wo alles drunter und dr•ber ging. Also wir fuhren los. Wir hatten einen unauff€lligen alten Ford, einen zerschundenen sch€bigen Kasten, der niemandem
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Appetit machen konnte. Zun€chst ging auch alles gut. Aber dann!ƒ Fahrig z•ndete sich Jorga eine neue Zigarette an. Er war jetzt ganz in der Vergangenheit, und eine fast hektische Nervosit€t hatte ihn erfa…t. ‚Wir waren ein sch†nes St•ck in Ungarn vorw€rts gekommen und rechneten uns bereits aus, da…, wenn alles so weiterginge wie bisher, wir in zwei Tagen in Wien sein w•rden. Wir machten einen gro…en Bogen um Budapest, das hatten wir uns vorher so •berlegt, und waren in die N€he von F•nfkirchen gekommen. Es sah nicht gut aus in der Gegend. Die Russen waren vom S•den her durchgebrochen, und alles befand sich in Aufl†sung. Die Front flutete zur•ck, und wir gerieten mitten in das Tohuwabohu. Und da brach dann auch das Ungl•ck •ber uns herein. Ein ungarischer Panzer, der es nicht eilig genug haben konnte, ins Hinterland zu kommen, fuhr unsern alten Ford an und zerquetschte ihn wie eine Konservenb•chse. Wir hatten den Wagen am Rand der Dorfstra…e stehengelassen und uns sicherheitshalber hinter einen Heuschober zur•ckgezogen, um die Kolonnen vorbeizulassen. Jetzt waren wir aufgeschmissen. Zu Fu… liefen wir bis F•nfkirchen und versuchten dort, irgendein Vehikel oder zumindest Fahrr€der aufzutreiben. Ihr Vater hatte uns reichlich Geld mitgegeben, Leis und Peng†s. Aber es zeigte sich jetzt, da… wir damit nicht viel anfangen konnten. Dann fanden wir einen ungarischen Feldwebel, der f•r seine Person den Krieg schon beendet hatte und bereit war, uns sein Motorrad zu verkaufen, eine schwere Harleymaschine. Aber er wollte kein Papiergeld nehmen. Er verlangte Gold oder Dollar. Die hatten wir nicht.ƒ ‚Ich mu… betonenƒ, sagte Jorga und hob ein wenig die Augenbrauen, ‚da… sich Negretzu bis dahin untadelig verhalten hatte. Er war kameradschaftlich und umsichtig, beriet sich in allen Dingen mit mir und versuchte nie, mir seinen Willen
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aufzuzwingen. Das lag aber nur daran, da… bisher alles glatt verlaufen war. Seine wahre Natur zeigte sich jetzt. Er begann mit dem Feldwebel zu feilschen und zu handeln, und ich stand da und wunderte mich. Das Gerede war ja zwecklos, wir konnten dem Mann nicht geben, was er wollte. Negretzu aber einigte sich mit ihm auf f•nfzehn Goldst•cke f•r die Maschine. Er lie… ihn warten und stand auf. Wir sa…en hinter einem alten Gasthof in der Vorstadt und dachten, da… es da was zu trinken geben w•rde, aber die Wirtschaft war nicht mehr in Betrieb. Die Front war so nahe, da… man schon die Stalinorgeln h†ren konnte. Negretzu ging auf das Haus zu, und ich sah, wie er, noch im Gehen, den Rucksack abnahm. Pl†tzlich begriff ich, was er wollte. Ich sprang auf und lief hinter ihm her.ƒ Jorga machte eine Pause und atmete tief aus. Hilde betrachtete ihn aufmerksam. Die fahle Haut seines Gesichtes war jetzt gespannt wie Pergament. Ein kaltes Licht brannte in seinen Augen. ‚Er stand in der verlassenen Wirtsstube und packte den Rucksack aus. Zuunterst lag das K€stchen mit Ihrem Schmuck ‡ƒ ‚Ein K€stchen aus Sandelholz mit Perlmutter eingelegt?ƒ ‚Genauƒ, nickte Jorga. ‚Negretzu zog es hervor und machte sich daran, die Verschn•rung zu l†sen. ‡ •Was soll das?‘ fragte ich. ‡ •Es bleibt nichts anderes •brig‘, sagte er. •Wir m•ssen ihm das Gold geben, sonst kommen wir nicht weiter.‘ ‡ Ich fragte ihn, ob er verr•ckt geworden sei. Ich trat schnell an ihn heran und entri… ihm das K€stchen. •Wie kannst du •ber etwas verf•gen, das dir nicht geh†rt?‘ sagte ich. •Das kommt doch •berhaupt nicht in Frage.‘ ‡ Einen Moment war er sprachlos. Er starrte mich an und begriff gar nicht, da… ich mit seiner Handlungsweise nicht einverstanden sein konnte. ‡ •Auf die paar Goldst•cke kommtˆs doch nicht an‘, meinte er. •Wenn wir nicht schnell machen, da… wir weiterkommen, sind wir verloren!‘ Er sagte immer wieder dasselbe. Dann geriet er in
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Zorn und begann zu schreien, aber auch damit hatte er wenig Gl•ck bei mir. ‡ •Du befindest dich in einem gro…en Irrtum, mein Lieber‘, sagte ich zu ihm. Ich war ganz ruhig. •Es kommt n€mlich auf jedes einzelne Goldst•ck an, wenn es ein anvertrautes Gut ist. Wir haben nicht das Recht, es anzutasten, und darum wird es nicht angetastet. Wir kommen auch ohne das Motorrad durch, und wenn nicht ‡ dann ist das eben Schicksal und ein h†herer Wille, gegen den wir machtlos sind. Aber einen Dieb‘, sagte ich, •einen Dieb wirst du niemals aus mir machen.‘ Ich war keinen Augenblick dar•ber im Zweifel, Fr€ulein Schaunburg, da… mein Verhalten richtig war, und bin es auch bis zum heutigen Tag nie gewesen.ƒ Es war etwas Unnachgiebiges in Jorgas Art, eine starre, puritanische Strenge, die f•r Hilde befremdend war und die sie nicht recht begreifen konnte. ‚Ich glaube, Herr Jorgaƒ, sagte sie, ‚Sie h€tten auf seinen Vorschlag eingehen sollen. In einer solchen Situation ‡ƒ ‚Nein!ƒ unterbrach er sie scharf und fuhr mit der flachen Hand kategorisch durch die Luft. ‚Niemals! Sie, Fr€ulein Schaunburg, d•rfen das sagen, weil es sich um Ihr Eigentum handelt. Sie h€tten gern die f•nfzehn Goldst•cke geopfert, um alles andere zu retten. Wir aber hatten keine Erlaubnis, etwas zu opfern, das uns nicht geh†rte. Und selbst wenn ich auf seinen Vorschlag eingegangen w€re, Fr€ulein Schaunburg ‡ mir ist das alles erst sp€ter klargeworden ‡, es h€tte nichts am Lauf der Dinge ge€ndert. Er war von Anfang an auf den Schmuck aus. Darum wollte er, da… ihn jemand begleitet. Verstehen Sie?ƒ ‚Neinƒ, sagte Hilde. ‚Wieso?ƒ ‚Ich sagte Ihnen, er war ein verschlagener Bursche, mit allen Wassern gewaschen. Er wollte eine R•ckendeckung haben. W€re er allein mit dem Schmuck verschwunden, konnte es immerhin sein, da… er sich einmal h€tte verantworten m•ssen, was vielleicht nicht leicht gewesen w€re. Darum sollte
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ein zweiter Mann mit dabeisein, auf den er alle Schuld schieben konnte, wenn einmal jemand Rechenschaft von ihm verlangte. Verstehen Sie immer noch nicht?ƒ ‚Immer noch nicht ganz. Dieser zweite Mann h€tte sich doch rechtfertigen und seine Schuldlosigkeit nachweisen k†nnen.ƒ ‚Wie denn?ƒ fragte Jorga und sah Hilde an. ‚Ein toter Mann spricht nicht, Fr€ulein Schaunburg.ƒ Hilde zog die Brauen ein wenig zusammen. ‚Sie meinen, es war von Anfang an seine Absicht ‡ƒ Jorgas Stimme war jetzt schneidend und scharf wie die Stimme eines Staatsanwalts: ‚Es war von Anfang an seine Absicht, diesen zweiten Mann, wer immer es auch sei, umzubringen und sich mit dem Schmuck davonzumachen. Von Anfang an war es seine Absicht, nicht mehr nach Rum€nien zur•ckzukehren, sondern im Westen zu bleiben. Er hing an nichts. Weder an der Heimat noch an Ihrem Vater, der ihn wie einen Sohn behandelte, noch an seiner Familie, wenn er eine hatte. Er wu…te, es war alles verloren, was er hinter sich lie…. Vermutlich war •berhaupt er es, der Ihren Vater auf die Idee brachte, Ihnen Schmuck nach Deutschland zu schicken. F•nftausend Dollar, das war damals ein riesiges Verm†gen. Er wollte es haben. Um jeden Preis, verstehen Sie? Auch um den Preis eines Menschenlebens. Sehen Sieƒ, sagte Jorga und fuhr sich abermals mit der knochigen Hand •ber die Narbe auf seiner Stirn, ‚er hat mir um ein Haar den Sch€del gespalten. Da… ich •berhaupt noch am Leben bin, ist ein Wunder, das nicht einmal die Šrzte begriffen haben.ƒ Hilde sah ihn stumm und pr•fend an. Dann sagte sie: ‚Erz€hlen Sie weiter.ƒ Jorga fuhr fort: ‚Wir standen also in der Wirtsstube und stritten. Da h†rten wir pl†tzlich von drau…en den anspringenden Motor der
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Harleymaschine. Wie ein Blitz war Negretzu bei der T•r und schrie dem Mann, der die Geduld verloren hatte und schon davonfahren wollte, zu, er m†chte noch eine Minute warten, er werde ihm sofort das Gold bringen. ‡ •So?‘ sagte ich. •Da bin ich aber neugierig, wie du das machen willst!‘ Ich hielt das K€stchen fest unterm Arm und dachte nicht im Traum daran, es herzugeben. Negretzu stand vor mir. Er bebte am ganzen K†rper vor Wut und Ha…. Er sah aus wie ein Teufel. ‡ •Jorga, zum letztenmal‘, fauchte er mich an, •gib es her, oder ‡‘ ‡ •Oder was?‘ fragte ich. ‡ Ich hatte keine Angst vor ihm. Er war stark und sehnig wie ein Raubtier, aber damals war ich noch nicht die Jammergestalt, die ich heute bin. Wissen Sie, ich habe in diesem Augenblick damit gerechnet, da… er versuchen werde, mir das K€stchen zu entrei…en. Das war ein Fehler. Daran dachte er gar nicht. Er ging gleich aufs Ganze. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit st•rzte er pl†tzlich vor und auf den Herd zu, ri… einen schweren, eisernen Sch•rhaken hoch und schmetterte ihn mir mit voller Wucht auf den Kopf. Das war das Ende. Es ging so rasant, da… ich •berhaupt nicht wu…te, was los war. Als ich zu mir kam, lag ich in einem russischen Lazarett. Die hielten mich dort offenbar f•r einen Partisanen oder Freiheitshelden, denn sie gaben sich unglaubliche M•he, meinen zerschlagenen Sch€del wieder zusammenzuleimen. Negretzu war nat•rlich l€ngst •ber alle Berge.ƒ ‚Haben Sie nie wieder etwas von ihm geh†rt?ƒ ‚Nie. Aber ich habe ihn nicht vergessen. Sobald ich in Deutschland war, lie… ich durch den Suchdienst nach ihm forschen. Leider ohne Resultat bisher. Ich f•rchte fast, da… er nicht in Deutschland ist. Das w€re bitter. Doch ich lasse nicht locker. Den Kerl mu… ich erwischen, und wenn es noch weitere zehn Jahre dauert.ƒ ‚1945 d•rfte er jedenfalls in Wien gewesen seinƒ, sagte Hilde. ‚Denn in Wien hat Herr Marmara meine Halskette von ihm gekauft. Sie haben ja den Artikel in der Zeitung gelesen.ƒ
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‚Das habe ich, ja. Aber in Wien ist er auch nicht mehr. Wissen Sie, Fr€ulein Schaunburgƒ, stie… Jorga zwischen schmalen Lippen hervor, ‚ich erwarte nicht mehr viel vom Leben. Aber wenn ich um eines t€glich bete, dann ist es das: diesem Mann noch einmal zu begegnen. Das ist der einzige Wunsch, den ich noch habe.ƒ ‚Haben Sie eine Anzeige gegen ihn erstattet?ƒ ‚Wo? Bei welchem Gericht?ƒ fragte Jorga rauh. ‚Mit welchen Beweisen?ƒ Hildes Blick glitt scheu •ber Jorgas hartes, verh€rmtes Gesicht. Sie empfand Mitleid mit dem Mann, obwohl etwas Unzug€ngliches und Abweisendes in seinem Wesen war, das echte menschliche W€rme nur schwer aufkommen lie…. Ein wunderlicher Mensch, dachte sie. Ein Fanatiker der Rechtschaffenheit, unerbittlich und unbeugsam wie ein calvinistischer Eiferer. ‚Es tut mir leid, Herr Jorgaƒ, sagte sie herzlich und legte einen Augenblick lang ihre Hand auf seinen Arm, ‚da… Sie meinetwegen soviel durchmachen mu…ten. Fast w€ren Sie dabei ums Leben gekommen. Kein Gold der Welt ist es wert, da… ein Mensch deswegen das Leben verliert. Ich mu… Ihnen ehrlich sagen, ich h€tte nicht die moralische St€rke gehabt, in Ihrer Situation so zu handeln, wie Sie gehandelt haben. Ich wei… auch gar nicht, ob Ihr Verhalten praktisch und vern•nftig war. Aber wie dem auch sei. Ich begreife, da… Sie nach Ihrer Natur nicht anders konnten. Ich mu… Ihnen f•r alles danken, Herr Jorga, was Sie f•r mich getan haben ‡ und f•r die Treue, die Sie meinem Vater gehalten haben.ƒ Jorgas Miene verfinsterte sich. ‚Danken Sie mir nicht, Fr€ulein Schaunburg. Ich habe nichts f•r Sie getan, und ich habe Ihrem Vater nicht die Treue gehalten. Ich habe im entscheidenden Moment versagt. Es h€tte alles einen andern Verlauf genommen, wenn ich wachsamer gewesen w€re und mich nicht durch die scheinheilige Maske
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eines notorischen Verbrechers h€tte t€uschen lassen. Ich mu… Ihnen sagen, Fr€ulein Schaunburg, und es ist mir eine Erleichterung, da… ich nach soviel Jahren endlich Gelegenheit habe, Ihnen das zu sagen, ich f•hle mich mitschuldig daran, da… Sie um den letzten Rest Ihres Besitzes gekommen sind. Mitschuldig durch Fahrl€ssigkeit.ƒ Hilde betrachtete ihn mit verwunderten Augen. Er pre…te die Lippen fest aufeinander und blickte starr vor sich hin auf das fleckige Tischtuch. ‚Davon kann doch gar keine Rede sein, Herr Jorgaƒ, sagte Hilde. ‚Sie haben getan, was Sie konnten ‡ mehr als das. Sie sollten sich wirklich nicht soviel Gedanken dar•ber machen. Sehen Sie, ich bin auch ohne den Schmuck durchgekommen. Es gibt Millionen Menschen, die haben noch viel mehr verloren als ich. So ist nun eben der Krieg. Aber das Leben geht weiter, Herr Jorga. Es f•hrt zu nichts, wenn man immer nur r•ckw€rts blickt. Sie verbittern sich dadurch Ihr Dasein.ƒ Sie versuchte, ihn aufzumuntern und aus seinen tr•ben Gedanken zu rei…en, und dann fragte sie ihn nach seinen Pl€nen f•r die Zukunft. ‚Was haben Sie vor? Wollen Sie auswandern?ƒ ‚In Australien h€tte ich Aussichtenƒ, sagte Jorga achselzuckend. ‚Aber ich glaube, ich bin zu alt zum Auswandern. Am liebsten bliebe ich in Deutschland, wenn ich hier die richtige Arbeit finden k†nnte.ƒ ‚H†ren Sieƒ, sagte Hilde impulsiv. ‚Wenn Sie wollen, spreche ich mit Herrn Marmara. Er hat eine gro…e Fabrik, vielleicht kann er Sie unterbringen. Soll ich ihn fragen?ƒ ‚Das w€re sehr freundlich von Ihnen, Fr€ulein Schaunburgƒ, versetzte Jorga in seiner steifen und f†rmlichen Art. ‚Aber bitte nur, wenn es Ihnen keine M•he macht.ƒ ‚Nicht im geringsten. Ich bin mit ihm befreundet. Herr Marmara ist •brigens auch Rum€ne.ƒ ‚Ich wei…ƒ, sagte Jorga. ‚Es stand in der Zeitung.ƒ
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‚Bestimmt wird sich etwas machen lassenƒ, meinte Hilde. Sie war froh, dem Gespr€ch einen positiven und freundlichen Ausklang gegeben zu haben. ‚Ich spreche heute oder morgen mit ihm und rufe Sie dann an. Ich kann Sie doch im Lager anrufen?ƒ ‚Selbstverst€ndlich. Verlangen Sie bitte Baracke Nr. 21.ƒ ‚Sch†n.ƒ Hilde stand auf, und auch Jorga erhob sich. ‚Wenn ich Ihnen sonst behilflich sein kann, Herr Jorga, wenn Sie irgend etwas brauchen ‡ƒ ‚Ich brauche nichts. Vielen Dank, Fr€ulein Schaunburgƒ, sagte er schnell und abweisend, als f•rchtete er, sie w•rde ihm einen Zehnmarkschein in die Hand dr•cken. Hilde rief den Kellner und bezahlte ihren Kaffee. Sie hatte nicht den Mut, auch Jorgas Zeche mitzubezahlen. Inzwischen hatte Marmara etwa ein dutzendmal versucht, Hilde zu erreichen, immer meldete sich der Kundendienst. Es war Hildes Gewohnheit, ihren Apparat auf Kundendienst umstellen zu lassen, wenn sie aus dem Hause ging. ‚Herr Marmara hat wiederholt angerufenƒ, sagte das Fr€ulein vom KD. ‚Sie m†chten sich sofort mit ihm in Verbindung setzen.ƒ ‚Danke.ƒ Hilde rief Marmara in der Fabrik an. ‚Hallo, Gregor. Was ist denn los? Brennt die Fabrik?ƒ ‚Dragutza*ƒ, sagte er ‡ am Telephon sprachen sie immer rum€nisch, denn Marmara kannte die Neugier seiner Telephonistinnen ‡ ‚Dragutza, halte dich um f•nf Uhr bereit. Ich komme dich abholen.ƒ ‚Abholen ‡ wohin?ƒ ‚Zu einer feierlichen Handlung. Wir fahren zur Taufe.ƒ
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Das rum€nische Wort •dr’gu“a‘ geh†rt zu dem t€glichen Wortschatz des rum€nischen Volkes und entspricht unserem Kosewort •Liebling‘. Mit der Schreibweise •Dragutza‘ folgen wir der deutschen Aussprache des Wortes. 109
‚Ahƒ, sagte Hilde verst€ndnislos. ‚Zur Taufe. Ich dachte immer, du w€rst schon getauft.ƒ ‚Ich ja. Aber Hildegard mu… getauft werden.ƒ ‚Wer?ƒ ‚Hildegard. Unser neuestes Kind. Wirst schon sehen. Sie ist kolossal. Schlank, wei… wie Schnee und bildsch†n. Hinten hat sie 200 PS eingebaut.ƒ Hilde rief: ‚Himmel, ein Motorboot!ƒ ‚Es wird nichts verratenƒ, sagte Marmara geheimnisvoll. ‚Also um f•nf, Dragutza.ƒ ‚Ja, herrlich. Du ‡ was soll ich denn anziehen zu der feierlichen Handlung?ƒ ‚Am besten Admiralsuniform.ƒ ‚Also ist es doch ein Motorboot!ƒ Marmara lachte. ‚Mindestens ein Panzerkreuzer.ƒ Hilde zog wei…e Shorts an, einen wei…en Pullover, wei…e Nylons†ckchen und wei…e Schuhe. Sie mu…te die Sachen aus einem ihrer Koffer hervorw•hlen, sie hatte sie seit ihrer R•ckkehr aus Marokko noch nicht ausgepackt. So war Marmara, dachte sie. Einmal ‡ ein einziges Mal ‡ hatte sie davon gesprochen, wie sehr sie den Wassersport liebe, und von pfeilschnell dahinschie…enden Motorbooten geschw€rmt. Marmara reagierte gar nicht darauf, und Hilde hatte das Gespr€ch l€ngst vergessen. Und nun kam er mit einem Motorboot an‰ Hilde war ger•hrt und zugleich hingerissen. Ja, so war er. Sie durfte keine W•nsche €u…ern, sie mu…te auf der Hut sein. Manchmal schien es ihr, als belauerte er sie nachgerade, nur um geheime W•nsche bei ihr zu entdecken. Aber sie hatte ja keine. Da… sie Schmuck nicht besonders liebte und niemals trug, betr•bte ihn sehr. W€re es nach ihm gegangen, er h€tte sie mit Gold und Edelsteinen beh€ngt wie die kostbaren rum€nischen Madonnen in seiner Wohnung ‡ das war seine Art, seine Liebe sichtbar zu machen, eine fast orientalische Art.
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Um Punkt f•nf Uhr h†rte sie den Wagen vorfahren. Sie ging ans Fenster und rief hinunter: ‚Ich komme!ƒ ‚Wo hast du den ganzen Vormittag gesteckt?ƒ fragte Marmara, als sie im Wagen sa…en, unterwegs nach Blankenese. Am Steuer sa… Carol. Er hatte die Tellerm•tze etwas aus der Stirn geschoben und blickte mit unbeweglichem Gesicht vor sich hin auf die Fahrbahn. Das gl€serne Schiebefenster zwischen den vorderen und hinteren Sitzen des Wagens stand offen. ‚Ich habe eine merkw•rdige Begegnung gehabtƒ, sagte Hilde. ‚Ein Mann aus Rum€nien rief mich an. Er hat den Artikel •ber den Schmuckdiebstahl in JETZT gelesen und ist dabei auf den Namen Schaunburg gesto…en. Er war fr•her in der Fabrik meines Vaters. Ich traf mich mit ihm drau…en in Billorth. Er hat mir eine interessante Geschichte erz€hlt.ƒ Carol, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden, legte den Kopf ein wenig zur•ck, um besser h†ren zu k†nnen, was hinter ihm gesprochen wurde. ‚Ein Mann aus Cluj?ƒ fragte Marmara und z•ndete sich eine Zigarette an. ‚Ja, er war Maschinenmeister. Ich konnte mich noch dunkel an ihn erinnern. Jorga hei…t er. Ein sonderbarer Mensch.ƒ Marmara lehnte sich zur•ck und blies den Rauch seiner Zigarette waagrecht vor sich hin. ‚Und was f•r eine Geschichte hat er dir erz€hlt?ƒ Hilde berichtete. Carol r•ckte unauff€llig den R•ckspiegel so zurecht, da… er Hilde beobachten konnte, w€hrend sie erz€hlte. Marmara r•hrte sich nicht und h†rte zu, ohne Hilde anzusehen. Er blickte vor sich hinunter auf den Boden. Hilde erz€hlte die Geschichte von Jorga und Negretzu genau in der Art, wie sie sie von Jorga geh†rt hatte.
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Dann fuhr sie fort: ‚Es ist nat•rlich zu verstehen. Ein Mensch, der schon halb dr•ben im Jenseits war, kann so ein Erlebnis nicht von heut auf morgen vergessen. Aber das Schlimmste ist, er will es gar nicht vergessen. Er hat nur einen Gedanken ‡ Rache. Davon kommt er nicht los. Rache an Negretzu. Ich habe ihm gesagt, da… er sich nur sein Leben verbittert, wenn er immer in die Vergangenheit zur•ckblickt, aber das war in den Wind gesprochen. Kennst du diesen Typ? Es gibt viele solche Menschen. Stur wie Panzer, eingleisig, engstirnig, dabei ist er ein Wunder an Pflichtgef•hl und Anst€ndigkeit.ƒ ‚Ich kenne solche Leuteƒ, sagte Marmara. ‚Ein armer Teufel, im Grundeƒ, sagte Hilde. ‚Wei…t du, Gregor, ich habe ihm versprochen, da… ich mit dir reden w•rde wegen einer Stellung. Kannst du ihn nicht irgendwo unterbringen in der Fabrik?ƒ ‚Gewi…ƒ, sagte Marmara. ‚Wenn dir daran liegt.ƒ ‚Mir liegt viel daran. Ich mu… ihm helfen, Gregor, wo ich kann. Das ist einfach meine Pflicht.ƒ ‚Verdammt!ƒ Marmara fuhr pl†tzlich hoch, rutschte auf dem Sitz zur Seite, dicht an Hilde heran, und schlug mit der flachen Hand einige Male auf den schwarz-gelb getigerten Bezug der Sitzkissen. Ein wenig Qualm stieg auf, und ein Geruch nach verbranntem Stoff breitete sich aus. ‚Was ist denn los?ƒ rief Hilde erschrocken. Die Bremsen kreischten, Carol hielt den Wagen an. ‚Nichts Schlimmesƒ, sagte Marmara. ‚Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe.ƒ Indessen war Carol aus dem Wagen gesprungen und ri… den Schlag auf. ‚Ist etwas geschehen?ƒ ‚Zum Kuckuck, fahr weiterƒ, sagte Marmara ungehalten. ‚Ich hab mit der Zigarette ein Loch in den Bezug gebrannt, das
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ist alles.ƒ Er hob den noch glimmenden Zigarettenstummel vom Boden auf und warf ihn hinaus. Carol schlo… den Schlag wieder, stieg ein, und sie fuhren weiter. Es war ein rundes, pfenniggro…es, schwarzumrandetes Loch. ‚Ich hab gar nicht bemerkt, da… mir die Zigarette aus der Hand gefallen istƒ, sagte Marmara und strich mit den Fingerspitzen •ber den Bezug. ‚Na, macht nichts.ƒ Sie hielten vor dem Jachtklub. Der Himmel war immer noch grau verhangen, ein lauwarmer Wind wehte und bewegte die bunten Flaggen vor dem Klubhaus. W€hrend Hilde ein paar Schritte voraus auf das Geb€ude zuging, hielt Carol Marmara auf. ‚Entschuldigen, Herr Marmara ‡ƒ ‚Was gibtˆs, Carol?ƒ ‚Ich wollte Sie bitten, Herr Marmaraƒ, sagte Carol und stieg von einem Fu… auf den andern, ‚wenn ich heute abend freibekommen k†nnte‰ mein Freund in Elmshorn feiert Verlobung, und da w•rde ich gern ‡ƒ ‚Was f•r ein Freund?ƒ fragte Marmara zerstreut. ‚Der Franul‰ Sie kennen ihn ja, Herr Marmara.ƒ Einen Moment starrte Marmara Carol wie geistesabwesend an, als h€tte er seine Worte gar nicht geh†rt. Dann ri… er sich zusammen. ‚Ach ja, der Franul. Ist der jetzt in Elmshorn?ƒ ‚Schon seit einem halben Jahr. Hat eine prima Stellung als Installateur. Heute verlobt er sich mit der Tochter von einem reichen B€cker.ƒ ‚Na sch†n. Wann willst du fahren?ƒ Carol blickte auf seine Armbanduhr. ‚Mit dem Zug um 18 Uhr 50, wenn es sich machen lie…e.ƒ
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Auch Marmara sah nach seiner Uhr, es war 17.46. ‚Gut. Bring den Wagen zum Parkplatz hin•ber und fahr los. Wann bist du wieder da?ƒ ‚Morgen fr•h um neun, Herr Marmara. Oder ist das zu sp€t?ƒ ‚Schon recht, Carol. Cu bine!ƒ Marmara wandte sich ab, um Hilde zu folgen, die am Eingang des Klubhauses auf ihn wartete. Er machte vier oder f•nf Schritte und blieb pl†tzlich stehen. Er winkte Hilde zu und rief: ‚Moment noch!ƒ Dann ging er zur•ck zu dem Wagen. Carol sa… bereits am Steuer und wollte wieder aussteigen, als er Marmara zur•ckkommen sah. ‚Bleib sitzenƒ, sagte Marmara. Er neigte sich zu dem ge†ffneten Fenster. ‚Pa… auf, Carol. Bevor du zum Bahnhof gehst, mach einen Sprung in mein B•ro hinauf.ƒ ‚Jawohl, Herr Marmara.ƒ ‚Sag meiner Sekret€rin, sie soll mich heut abend um Punkt acht Uhr anrufen. Wo immer sie sich gerade befindet.ƒ ‚Jawohl, Herr Marmara.ƒ ‚Hier drau…en im Klubhaus. Um acht Uhr.ƒ ‚Geht in Ordnung, Herr Marmara.ƒ ‚Gut.ƒ Marmara dr•ckte Carols Schulter, dann lief er mit weiten S€tzen zu Hilde, die geduldig gewartet hatte. ‚Entschuldigeƒ, sagte er. ‚Ich mu…te ihm noch einige Anweisungen geben. Komm.ƒ Er nahm sie am Arm und f•hrte sie durch das Haus hindurch ans Wasser. Es war viel Leben bei den Anlegestellen. Marmara gr•…te ein paarmal nach links und rechts, hielt sich aber bei niemandem auf, sondern ging mit langen Schritten schnell weiter. Hilde kam kaum mit. ‚Ich wu…te gar nicht, da… du hier so viele Bekannte hastƒ, sagte sie. ‚Wie kommt das?ƒ ‚Fr•her war ich †fters hier drau…en segelnƒ, sagte er. ‚Ich hatte eine schicke Yawl. Aber seit einigen Jahren bin ich
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immer weniger zum Segeln gekommen, und schlie…lich hab ich das Boot verkauft. War auch zu gro…, man mu…te immer ein paar Leute mitnehmen, das wurde auf die Dauer l€stig. Ein Motorboot ist viel angenehmer. Na, du wirst Augen machen, wenn du die •Hildegard‘ siehst.ƒ ‚Menschenskindƒ, rief Hilde aufgeregt, ‚ich kannˆs schon nicht mehr erwarten! Wie weit m•ssen wir noch laufen?ƒ ‚Gleich sind wir da. Ich hab sie ein bi…chen versteckt, wei…t du. Ich mag keine Leute dabei.ƒ Er blieb stehen und runzelte die Stirn. ‚Sind schon da. Nun, wir werden es kurz machen.ƒ Eine Handvoll Menschen in Wei… stand auf dem Steg vor dem Boot, das leicht auf den Wellen schaukelte. Ein gro…er, dicker, kahlk†pfiger Herr mit einem zierlichen, kohlschwarz gef€rbten Diplomatenb€rtchen begr•…te Hilde wie ein guter alter Freund, und sie entsann sich erst nach einer Weile, da… sie ihn auf der Party bei Marmara kennengelernt hatte. Aber sie war viel zu ungeduldig, um sich jetzt in Gespr€che mit fremden Leuten einzulassen. Da lag die ‚Hildegardƒ auf dem Wasser. Da… sie so hie…, war aber noch nicht ersichtlich, der Name war noch verh•llt. Neun Meter lang‰ schneewei…‰ blitzendes Chrom‰ spiegelnd lackiertes Teakholz‰ ein langer, spitzer, schnittiger Bug ‡ ein Wunder von einem Motorboot! Hilde war einfach weg. ‚Nein!ƒ rief sie begeistert. ‚Ich werd verr•ckt!ƒ Marmara mu…te Bekannte begr•…en und H€nde sch•tteln. Es gab Geschrei und Gel€chter. ‚Wie soll denn dieser k•mmerliche Kahn hei…en?ƒ rief ein langer, blasser J•ngling mit einer Fistelstimme. ‚Das gibt doch wohl eine Taufe, oder?ƒ ‚Sekt her!ƒ schrie ein anderer junger Mann, der eine eingedr•ckte Boxernase hatte und den niemand kannte (er war gekommen, um die Schreibmaschine im Klubhaus zu
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reparieren). ‚Los, Kinder, los! Her mit dem Sekt!ƒ Er klatschte in die H€nde, damit jemand mit dem Sekt k€me. Marmara sprang in das Boot und reichte Hilde die Hand. ‚Komm, steig ein.ƒ ‚Was ist denn los, Marmara?ƒ fragte der Herr mit dem Diplomatenb€rtchen verwundert. ‚Ich denke ‡ƒ ‚Die Taufe findet auf hoher See stattƒ, lachte Marmara. ‚Hoho, wo gibtˆs denn so was!ƒ protestierte der lange blasse J•ngling, und der Mann mit der Boxernase, der gar nichts hier zu suchen hatte, fiel sofort ein: ‚Hoho, wo gibtˆs denn so was! W€r ja noch sch†ner!ƒ Marmara hob winkend die Hand und gab Gas. Das Boot scho… vorw€rts‰ Es jagte dahin mit be€ngstigender Geschwindigkeit, und fast schien es, als w•rde das Boot •ber der Wasseroberfl€che schweben, umspr•ht von dem aufsch€umenden, zerstiebenden Gischt. ‚Herrlich ‡!ƒ rief Hilde und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen dem anst•rmenden Wind entgegen. ‚Ah, ist das sch†n!ƒ Marmara sah sie l€chelnd von der Seite an. Dann wandte er das Gesicht wieder ab. Langsam zerrann sein L€cheln. ‚Wo fahren wir •berhaupt hin?ƒ fragte Hilde. ‚Haben wir ein Ziel?ƒ ‚Nat•rlichƒ, sagte Marmara. ‚Wir fahren nach DragutzaEiland.ƒ Sie lachte verdutzt auf. ‚Was ist denn das schon wieder?ƒ ‚Hab ich entdeckt. Eine Insel. Ganz winzig und versteckt. Da kommt nie ein Mensch hin. Eine heimliche Insel. Ich habe sie Dragutza-Eiland genannt, weil ich dort mit meiner Dragutza ganz allein sein kann ‡ ganz allein auf der gro…en, weiten Welt.ƒ Die Insel war kaum drei…ig Meter lang und zehn Meter breit, von hohem Schilf einges€umt. An dem einen Ende
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standen zusammengedr€ngt vier oder f•nf B€ume. Hilde und Marmara gingen rund um die Insel herum, und sie fanden nirgends menschliche Spuren, keine Konservenb•chsen, Butterbrotpapiere oder Zigarettenstummel. ‚Tats€chlich ein Paradiesƒ, sagte Hilde und war entz•ckt. ‚Wann hast du denn das gefunden?ƒ ‚Heute fr•h um f•nf. Ich mu…te doch eine Probefahrt machen, damit ich mich nicht blamiere, wenn ich dir die •Hildegard‘ vorf•hre. Und jetztƒ, sagte er, ‚jetzt kommt der gro…e Moment.ƒ Er hatte umsichtig alles vorbereitet, holte zwei Flaschen Champagner und Gl€ser aus dem Boot, und Hilde zerschlug die eine Flasche am Bug und sagte feierlich: ‚Ich taufe dich auf den Namen Hildegard.ƒ Marmara zauberte irgend etwas mit einer sinnreich angeordneten Verschn•rung, und die Segeltuchstreifen, die den Namen des Bootes verh•llt hatten, fielen ab, und beiderseits des Bugs leuchtete in goldenen Buchstaben der Name HILDEGARD auf. ‚Keine ganz vorschriftsm€…ige Taufeƒ, lachte Marmara, ‚aber das ist egal.ƒ Es war ein gro…er Spa…. Sie †ffneten die zweite Flasche und setzten sich unter die Baumgruppe. Dort tranken sie den Champagner und k•…ten sich. Vielleicht war Marmara nicht ganz so vergn•gt, wie er sich zeigte. Ab und zu flackerte eine Unruhe in seinem Blick, und er sah heimlich nach der Uhr. Doch Hilde merkte nichts davon. Sie war verliebt und gl•cklich‰ Um sieben Uhr mahnte Marmara zum Aufbruch. Es war auch k•hl geworden, der Himmel war bedeckt, und es begann langsam zu dunkeln. Sie fuhren zur•ck zum Klubhaus. ‚Wir essen am besten hier drau…enƒ, sagte Marmara. ‚Nachher k†nnten wir zu dem neuen Sartre-Film gehen, ich glaube, er l€uft heute den letzten Tag.ƒ
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Es war schon †fters zwischen ihnen die Rede davon gewesen, da… sie sich diesen Film ansehen wollten. ‚Ja, feinƒ, sagte Hilde. ‚Ich mu… mich aber erst noch umziehen.ƒ Sie sa…en ungest†rt in einer Ecke des Speisesaals und a…en zu Abend. Zwei oder drei Minuten nach acht trat ein Boy an den Tisch. ‚Verzeihung, Herr Marmara. Telephon f•r Sie.ƒ ‚F•r mich?ƒ Marmara sah Hilde verwundert an. ‚Niemand wei…, da… ich hier bin. Entschuldige bitte.ƒ Er legte die Serviette aus der Hand und folgte dem Boy zur Telephonzelle. Sorgf€ltig schlo… er die T•r hinter sich und griff nach dem H†rer. ‚Marmara.ƒ Es meldete sich seine Sekret€rin. ‚Ich sollte Sie um acht Uhr anrufen, Herr Marmara.ƒ Ihre Stimme klang etwas beleidigt, und da Marmara nicht sofort antwortete, fuhr sie fort: ‚Ich bin n€mlich gerade im Theater, der erste Akt ist noch nicht zu Ende und ‡ƒ ‚Was ich Sie fragen wollte, Frau Knebel. Ist das Telegramm nach Lissabon hinausgegangen?ƒ ‚Das Telegramm nach Lissabon?ƒ Ihre Stimme klang fast schrill vor Verwunderung. ‚Aber nat•rlich, Herr Marmara. Das ist doch selbstverst€ndlich. Noch vor sechs Uhr. Ich habe es selbst durchgegeben ‡ƒ ‚Es ist n€mlich sehr wichtigƒ, sagte Marmara. ‚Also dann ist das in Ordnung. Entschuldigen Sie die St†rung. Und viel Vergn•gen weiter.ƒ Er h€ngte ab, stand noch einen Augenblick sinnend in der Zelle, dann ging er zur•ck zu Hilde. ‚Eine dumme Geschichte, Dragutzaƒ, sagte er. ‚Ich mu… sofort weg.ƒ ‚Ach‰ƒ Hildes Augen glitten entt€uscht •ber sein Gesicht. ‚Wer warˆs denn?ƒ ‚Meine Sekret€rin. Eine geschlagene Stunde hat sie herumtelephoniert, bevor sie mich hier gefunden hat. Mein Schweizer Patentanwalt ist hier. Er mu… morgen wieder
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zur•ck. Es ist wichtig.ƒ Er legte seine Hand auf die ihre. ‚B†se ‡?ƒ Sie seufzte. ‚Wenn es sein mu….ƒ Es war nicht das erstemal, da… Marmara wegen dringender Gesch€fte pl†tzlich abberufen wurde. ‚Dann gehst du allein ins Kino, Liebesƒ, sagte er. ‚Schade, ich h€tte den Film gern gesehen. Erz€hlst ihn mir morgen.ƒ Er brachte sie bis vor ihr Haus und fuhr dann davon. Hilde zog sich um und ging zu Fu… ins Kino. Es war Viertel vor neun, und das Kino lag in ihrer N€he. Sie hatte gen•gend Zeit und schlenderte ohne Hast durch die sommerlichen, erleuchteten Stra…en. Es war ein sch†ner, gl•cklicher Tag gewesen. Sie fand, da… das Leben eine wundervolle Sache war‰
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Siebentes Kapitel WEISSE AUGEN HAT DER TOD Jorga hatte seine fadenscheinige, verwaschene Windjacke auf dem Tisch ausgebreitet und putzte mit Benzin einige Flecken heraus. Auf dem einen Bett lag regungslos Dr‹pal, der Tscheche, und starrte zur Decke empor. Es war neun Uhr abends. Durch das offene Fenster kam aus einer andern Baracke Gesang her•bergeweht, M€nnerstimmen. Sie sangen ein schwerm•tiges m€hrisches Lied. ‚Verfluchte Schei…!ƒ Dr‹pal sprang pl†tzlich auf, lief zum Fenster, schmi… es schmetternd zu und verriegelte es. Jorga warf ihm einen k•hlen Blick zu. ‚Was ist los, Herr Nachbar? Žbergeschnappt?ƒ ‚Ah wasƒ, brummte Dr‹pal verbittert. ‚Ich das nicht kann h†ren. Lied von zu Haus. Tece voda, tece‰ Schrecklich. Ich mich am liebsten gleich aufh€ngen, Jorga, wenn das h†ren, meiner Seel!ƒ ‚Niemand wird dir nachweinen, wenn du dich aufh€ngstƒ, sagte Jorga und rieb mit einem Benzinlappen auf seiner Windjacke herum. ‚Nicht einmal deine Anusch, sch€tze ich.ƒ ‚Komm, gib Zigaretteƒ, sagte Dr‹pal. Jorga holte sein Zigarettenp€ckchen hervor, es war aber nur noch eine drin. ‚Gib halbeƒ, sagte Dr‹pal, und Jorga brach die Zigarette in der Mitte durch und reichte ihm eine H€lfte. ‚Thank youƒ, sagte Dr‹pal und wollte ihm Feuer geben. ‚Ich rauch sie morgen fr•hƒ, wehrte Jorga ab und steckte die halbe Zigarette wieder in die Packung zur•ck. ‚Anuschƒ, sagte Dr‹pal und begann im Zimmer paffend auf und ab zu gehen, ‚Anusch wird nicht weinen, wenn ich geh tot.
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Is kaputt ‡ hier.ƒ Er deutete mit dem Daumen auf seine Brust. ‚Anusch nur noch fliegen auf Geld. Und Kleider. Aber wird nicht kriegen. Von keine Mann.ƒ ‚Auch von dir nicht?ƒ fragte Jorga ironisch. ‚Von mir?ƒ Dr‹pal lachte auf. ‚Und wenn ich hab Million ‡ Tritt in Hintern kann kriegen, das is alles. Flitschen, versoffene, ungarische. Bah.ƒ Er spuckte symbolisch aus. ‚Deine Liebe scheint sich aber etwas abgek•hlt zu habenƒ, sagte Jorga. ‚Liebe? War nix Liebe. Mensch, Liebe ‡! Dann ich mir suchen schon eine bessere. Du dich verlassen!ƒ Jorga l€chelte d•nn. ‚Bist aber auch erst dahintergekommen, seit deine Anusch mit dem dicken Mischka aus der F•nferbaracke herumzieht. Oder?ƒ W•tend stie… Dr‹pal mit dem Fu… nach dem Stuhl. ‚Mischka! So eine ausgefressene St•ck Fleisch mit zwei Augen!ƒ schimpfte er. ‚War herich* Feldwebel in dritter Armee von Marschall Konjew! Hat aber gehabt geschorene Kopf, wie gekommen is in Lager, wie kann also gewesen sein Feldwebel? In Rote Armee Feldwebel kann Haare haben wie will. Ich ihn fragen, warum is desertiert. Wegen Bolschewismus, er sagt mit ganz traurige Gesicht, kein Freiheit, schlechte Si…t€m! So eine bl†de Kerl viel verstehen von Freiheit und Si…t€m! Ich ihn fragen, wer is Eisenhower, und er mich anschauen wie dumme Schwein und sagen, Eisenhower is Zar von Deutschland. Hahaha! Hat in Schul einmal was von eine Zar geh†rt, wei…t du? Wenn •berhaupt war in Schul ‡ƒ ‚Jorga, Telephon.ƒ Taneff, der struppige, kleine Bulgare, der wie ein Meerschweinchen aussah, stand in der T•r. ‚Telephon?ƒ fragte Jorga verwundert. ‚F•r mich?ƒ *
Im Deutschb†hmischen Dialekt soviel wie ‚h†rˆ ichƒ 121
‚Jawohl, f•r gn€dige Herr Baron Jorgaƒ, sagte Taneff und grinste mit schwarzen Zahnstummeln. Er schwenkte einen Handbesen und trieb Jorga an: ‚Hopp-hopp, marsch-marsch.ƒ Es wird Fr€ulein Schaunburg sein, dachte Jorga. Er folgte Taneff in ein kleines B•ro, dessen d•rftige Einrichtung auf den ersten Blick die ehemalige Wehrmachtsschreibstube verriet. Hier wurden die Verpflegungslisten der Baracke 21 gef•hrt und die w†chentlichen Unterst•tzungsbeitr€ge ausgezahlt. Taneffs Aufgabe war es, das B•ro sauberzuhalten. Er war gerade beim Kehren des Bodens gewesen, als das Telephon klingelte. Jorga ging an den Apparat und meldete sich. ‚Hallo‰ Hier spricht Jorga.ƒ Er erwartete, Hildes Stimme zu vernehmen, aber er h†rte zun€chst gar nichts und rief nochmals: ‚Hallo ‡?ƒ Jetzt kam leise und gepre…t eine M€nnerstimme. ‚Ja‰ Jorga‰ƒ Und wieder ein Stocken, als ob innere Erregung jemanden hindere, weiterzureden. ‚Wer ist denn dort?ƒ fragte Jorga stirnrunzelnd und sah Taneff an, der mit seinen kleinen, schwarzen Knopfaugen Jorga neugierig anstarrte. ‚Hier ist Negretzu ‡ƒ ‚W e r?ƒ rief Jorga. ‚Negretzuƒ, sagte die Stimme. ‚Was f•r ein Negretzu?ƒ Jorgas Gesicht war pl†tzlich fahl geworden. Die Narbe auf seiner Stirn leuchtete wie ein d•nner, roter Blutfaden. ‚Hast du mich denn vergessen, Jorga?ƒ fragte die Stimme jetzt auf rum€nisch. ‚Kennst du Negretzu nicht mehr, Jorga‰ƒ ‚Du bist es, du ‡ƒ, stie… Jorga hervor. ‚Nein, dich habˆ ich nicht vergessen ‡ ich konnte es nur nicht glauben ‡ƒ Der kleine Bulgare stand noch eine Weile gespannt da und starrte Jorga mit offenem Mund an. Aber er verstand kein Rum€nisch und machte sich schlie…lich wieder daran, die Stube zu kehren.
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‚Jorga, ich mu… dich sprechenƒ, sagte Negretzu leise, fast bittend. ‚Ich habe erst heute erfahren, da… du hier bist‰ Jorga, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich h†rte, da… du lebst.ƒ ‚Was du nicht sagstƒ, versetzte Jorga h†hnisch. ‚Richtig gefreut hast du dich, nicht wahr? Kann ich mir denken.ƒ ‚Jorga, ich mu… dich sprechenƒ, wiederholte Negretzu gedr•ckt. ‚Das Bed•rfnis habe ich schon seit zehn Jahrenƒ, stie… Jorga zwischen den Z€hnen hervor. ‚Von wem hast du geh†rt, da… ich hier bin?ƒ ‚Ich werde dir alles sagen. Es ist so vieles klarzustellen, Jorga. Kann ich dich heute noch sehen?ƒ ‚Jawohl, das kannst du!ƒ rief Jorga grimmig. ‚Es ist viel klarzustellen, da hast du vollkommen recht. Ich kannˆs gar nicht erwarten.ƒ Negretzu antwortete nicht sofort, und pl†tzlich befiel Jorga eine wilde Angst, Negretzu k†nnte das Gespr€ch abbrechen, und er w•rde ihn niemals wiederfinden. ‚Hallo ‡ hallo ‡ bist du noch da?ƒ rief Jorga. ‚Ja.ƒ Negretzus Stimme war jetzt ruhiger. ‚Komm um zehn Uhr in die Kanalstra…e. Ich warte auf dich an der Ecke, wenn du von der Autobushaltestelle kommst. Ist es dir recht?ƒ ‚Ja!ƒ stie… Jorga kurz und grob hervor. ‚Um zehn Uhr bin ich dort.ƒ Er warf den H†rer auf die Gabel. Einen Moment stand er erregt und aufgew•hlt. Sein Atem ging heftig. Negretzu, Negretzu‰ Der Bulgare Taneff kroch mit Schaufel und Besen auf allen vieren unter dem Tisch hervor und blickte zu Jorga empor. ‚Is was passiert ‡?ƒ Jorga gab keine Antwort. Noch immer stand er regungslos. Seine Kiefer mahlten. Dann gab er sich einen Ruck und ging zur T•r. Aber pl†tzlich besann er sich und ging wieder zur•ck zum Telephon. Er zog seine abgegriffene
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Wachstuchbrieftasche hervor und suchte nach Hildes Telephonnummer. Seine Finger bebten vor verhaltener Erregung. Er mu…te Hilde das Unglaubliche berichten. Negretzu ist aufgetaucht! Es meldete sich der Kundendienst. ‚Ich m†chte Fr€ulein Schaunburg sprechenƒ, sagte Jorga gehetzt. ‚Der Teilnehmer ist im Moment nicht zu erreichen. Haben Sie eine Mitteilung, die •bermittelt werden soll?ƒ ‚Eine Mitteilung? Ja‰ Sagen Sie Fr€ulein Schaunburg, Jorga habe angerufen ‡ J-o-r-g-a. Eine sehr wichtige Sache. Ich versuchˆ es sp€ter nochmals.ƒ Mechanisch wiederholte das Fr€ulein mit monoton abschnurrender Stimme: ‚Herr Jorga hat um 21 Uhr 35 wegen einer wichtigen Sache angerufen und wird sp€ter nochmals anrufen.ƒ ‚Jaƒ, murmelte Jorga und h€ngte auf. ‚Is was passiert?ƒ fragte der Bulgare Taneff abermals und erhielt abermals keine Antwort. ‚Wei…t du, wo die Kanalstra…e ist?ƒ fragte Jorga. ‚Kanalstra…e?ƒ Taneff kratzte sich mit dem Handgriff des Besens seinen struppigen Kopf. Das kleine, runzlige Gesicht zeigte einen Ausdruck vollkommener Dummheit. ‚In Warna ich wei… Kanalstra…e. Hinter alte, t•rkische Moschee ‡ƒ ‚Trottel.ƒ Jorga stieg •ber die mit Schmutz und Staubflocken gef•llte Schaufel hinweg und ging mit raschen Schritten aus dem B•ro. Taneff kicherte hinter ihm her. Dr‹pal lag wieder auf seiner Bettstelle, die H€nde in den Hosentaschen, die gekreuzten F•…e auf dem wei…lackierten Fu…st•ck. ‚Wei…t duƒ, sprach er zur Decke empor, als Jorga eintrat, ‚wei…t du, wer war Mann, was unl€ngst gemacht hat Žberfall auf alte Buchhalter in Parkallee? Ich wissen! Ich fressen meine
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Kopf, wenn nicht war Mischka. Wieso er jede Tag Schnaps saufen mit Anusch? Von wo er haben Geld?ƒ Dr‹pal stand auf und ging zu Jorga, der sich fahrig seine Windjacke anzog. ‚Ich fragen, von wo er haben soviel Geld? Und Anusch haben neue schwarze Hos?ƒ ‚La… mich in Frieden mit deiner Anusch!ƒ rief Jorga nerv†s. ‚Ich dir sagen: Mischka hat gemacht Žberfall! Hundertzwanzig Mark. Ich wissen ‡ƒ ‚Himmel, la… mich in Ruh!ƒ schrie Jorga. ‚Wenn duˆs wei…t, geh zur Polizei! Geh zur Polizei und zeig ihn an!ƒ Dr‹pal sah ihn verwundert an. ‚Polizei? Verr•ckt? Ich niemand anzeigen bei Polizei. Was geht mich an? Ich nur sagen, ich fressen meine Kopf, wenn ‡ƒ ‚Wo ist die Kanalstra…e?ƒ ‚Du gehen weg?ƒ ‚Ja, ich mu…ƒ, sagte Jorga ungeduldig. ‚Wenn du nicht wei…t, wo die Kanalstra…e ist, sagˆs gleich. Ich habˆ keine Zeit.ƒ ‚No, no, nix gleich aufregen! Kanalstra…e ist bei Hafen. Du fahren mit Autobus 28 von hier. Und dann ‡ dann fragen Konduktor, is Beste.ƒ Der junge Tscheche lie… einen gutm•tigspottenden Blick an Jorgas ausgemergelter Sch€bigkeit herabfallen. ‚Du Rendezvous mit kleine Pupperle? Bi…l Parf€hm vielleicht, damit Herr Kavalier gut riechen?ƒ Er griff nach der Benzinflasche, zog den Korken hervor und tat, als wolle er Jorga die Fl•ssigkeit auf den Kopf gie…en. ‚Geh doch weg!ƒ Jorga stie… ihn beiseite und lief aus dem Zimmer. Es war eine verlassene und schmutzige Gegend. Schlecht erleuchtete, verwinkelte Gassen, in denen es nach Fisch und Unrat roch. Es waren kaum Menschen zu sehen. Einsam hallten Jorgas Schritte von den verwahrlosten Backsteinh€usern wider. Aus einer Kneipe gr†lte Radiomusik.
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Eine gro…e, dunkle Katze lief gem€chlich •ber die Stra…e, hockte sich in einen Hausflur und sah Jorga mit glitzernden Silberaugen an. Er ging die krumme, dunkle Gasse entlang, die ihm der Autobusschaffner bezeichnet hatte. Als er die Kr•mmung erreichte, sah er im Schein einer Laterne den Mann stehen. Es war ein gro…er, schlanker Mann in Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen. Er stand vor dem armseligen Schaufensterchen eines Kr€merladens und starrte auf die verstaubten Attrappen von Nudeln, Waschpulver und Suppenw•rfeln. Negretzu‰ Ja, das war er. Einen Augenblick mu…te Jorga stehenbleiben. Mit ungl€ubigem Staunen, als h€tte erˆs bis zu diesem Moment immer noch nicht ganz fassen k†nnen, da… Negretzu tats€chlich aus der Vergangenheit emporgestiegen war, so stand Jorga in der dunklen Gasse und blickte auf den Mann bei der Laterne. Die Wirklichkeit •berw€ltigte ihn. Er atmete tief‰ Dann fa…te er sich. Seine Z•ge, der ganze, schm€chtige K†rper strafften sich, und mit festen Schritten, die krampfhaft geballten F€uste tief in die Taschen seiner Windjacke vergraben, ging er auf Negretzu zu. Der fuhr herum, als er die hallenden Schritte herannahen h†rte. ‚Jorga ‡!ƒ Impulsiv streckte er ihm die Hand entgegen. Doch Jorga ignorierte die Geste. ‚So, da bin ich.ƒ Jorga stie… die Worte scharf und eiskalt hervor. ‚Was willst du von mir?ƒ Marmara blickte in das verkniffene, abgezehrte Gesicht, und eine Welle von Mitleid flutete in ihm hoch. ‚Jorgaƒ, sagte er. ‚Ich bin ja so froh, da… du da bist ‡ƒ ‚Froh? Du?ƒ Jorga ma… Marmara mit einem ver€chtlichen Blick. ‚Zehn Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Ich
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war bereit, dir um die halbe Welt zu folgen, wenn ich gewu…t h€tte, wo ich dich finde. Aber du? Du hast ja allen Grund, dich vor mir zu verstecken. Warum rufst du mich? Was willst du von mir?ƒ ‚Ich mu… mit dir sprechen, Jorga. Ich mu… alles klarstellenƒ, sagte Marmara vers†hnlich. ‚Das hast du schon am Telephon gesagtƒ, versetzte Jorga steinern. ‚Also sprich. Ich bin neugierig, was es klarzustellen gibt. Mir ist schon seit Jahren alles klar.ƒ ‚Komm, gehen wir ein St•ckƒ, sagte Marmara. Sie bogen in die dunkle Kanalstra…e ein. ‚Du ahnst gar nicht, wie gl•cklich ich dar•ber bin, da… du noch lebstƒ, fuhr Marmara mit W€rme fort. ‚Der Gedanke, da… ich dich get†tet haben k†nnte ‡ die ganzen Jahre hat mich das verfolgt wie ein Alp. Ich kam nicht dar•ber hinweg.ƒ ‚Was du nicht sagstƒ, warf Jorga h†hnisch ein. ‚Glaub mir, Jorga, es ist kein gutes Gef•hl, zu wissen, da… man einen Menschen get†tet hat. Man kann nie mehr wirklich zur Ruhe kommen‰ Jetzt f•hle ich mich wie neugeboren. Es ist die Wahrheit, Jorga.ƒ ‚Im Schw€tzen warst du immer gro…ƒ, sagte Jorga unger•hrt. ‚Aber was meine Person betrifft, kannst du dir deine Worte sparen. Ich kenne dich. Komm zur Sache. Was willst du von mir?ƒ Marmara blieb stehen und legte die Hand auf einen der wei…en Pf€hle, die die Stra…e f•r den Verkehr von Fahrzeugen absperrten. ‚Du bist voll Ha… und Feindschaft gegen mich und glaubst mir kein Wort. Ich kann es verstehen. Ich war gemein und schlecht zu dir und habe dich um ein Haar get†tet. Ich will meine Schuld nicht kleiner machen, Jorga. Aber mach du sie nicht gr†…er. Ich wei…, wie du mich siehst ‡ƒ ‚So? Wie denn?ƒ warf Jorga schnell dazwischen.
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‚In deinen Augen bin ich nichts als ein Dieb und M†rder, der dich planm€…ig aus dem Weg r€umen wollte, nur um in den Besitz des Schmucks zu kommen. Das ist Wahnsinn, Jorga. Ich wollte dich nicht t†ten. Ich wei… nicht, was in mich gefahren war, damals. Ich verlor die Nerven. Es war eine h†llische Situation. Alles hing davon ab, ob wir das Motorrad bekommen, und du ‡ du warst so unvern•nftig, so ohne jeden Begriff f•r die Gefahr unserer Lage. Das wirst du ja inzwischen auch selber eingesehen haben ‡ƒ ‚Wer sagt dir das?ƒ fuhr Jorga auf. ‚Ich w•rde heute genauso handeln. Um kein Jota anders!ƒ ‚Gut, lassen wir dasƒ, sagte Marmara niedergeschlagen. ‚Ob dein Verhalten vern•nftig war oder nicht ‡ mir erschien es nicht nur unvern•nftig im h†chsten Grade, sondern geradezu katastrophal. Dein Widerspruch machte mich rasend. Ich sah pl†tzlich rot und ‡ da ist es eben geschehen. Im Augenblick dachte ich gar nichts. Ich war wie von Sinnen. Ich wei… nie, was ich tue, wenn ich in Wut gerate. Aber ich sage ja, ich will meine Schuld nicht kleiner machen. Der Mensch kann nichts f•r sein Naturell, aber er ist trotzdem verantwortlich daf•r. Mir ist erst nachher bewu…t geworden, was ich getan habe, da war es zu sp€t. Ich hielt dich f•r tot.ƒ ‚Eine r•hrende Geschichteƒ, sagte Jorga ironisch. ‚Aber reden wir jetzt nicht von meinem eingeschlagenen Sch€del. Erz€hl weiter. Nun warst du mich also los ‡ ganz gegen deinen Willen, nicht wahr ‡, aber es war eben passiert. Du hattest das Motorrad, du konntest weiter. Dein Auftrag war, der jungen Schaunburg den Schmuck zu •berbringen. Hast du den Auftrag ausgef•hrt?ƒ ‚Nein ‡ƒ ‚Kamst du nicht durch bis Deutschland?ƒ ‚Doch, aber ‡ƒ ‚Hat man dir den Schmuck vielleicht gestohlen? Oder beschlagnahmt?ƒ
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Marmara hob den Blick und sah Jorga an, der herausfordernd vor ihm stand und ihn mit scharfen, unerbittlichen Augen anblitzte. ‚Weder ‡ nochƒ, sagte Marmara ruhig. ‚Ich habe ihn f•r mich behalten. Was das betrifft, hast du recht, Jorga: ich bin ein Dieb. Aber auch das war ich nicht vorbedacht und von Anfang an, wie du meinst. Ich wurde es erst. Ich wurde es durch die Umst€nde, durch die Zeit‰ƒ Er machte eine Pause, holte tief Atem. ‚H†r auf!ƒ rief Jorga ungeduldig und zornig. ‚Ich mag dieses Gerede nicht mehr h†ren. Die ewige Ausrede aller Halunken. Die Zeit! Die Umst€nde! Der Krieg! Ich will dir etwas sagen: Man ist ein Lump oder man ist keiner. Du hast ja gar nicht erst den Versuch gemacht, Fr€ulein Schaunburg zu erreichen. Oder hast du das?ƒ ‚Nein.ƒ ‚Siehst du. Deinetwegen konnte sie verhungern. Dir war das egal.ƒ ‚Sie ist nicht verhungert ‡ƒ ‚Neinƒ, unterbrach ihn Jorga heftig, ‚aber dazu hast du nichts beigetragen. Du hast herrlich und in Freuden gelebt. Du hast gefressen und gesoffen und das ganze Geld verjubelt ‡ƒ ‚Halt!ƒ rief Marmara. ‚Das ist nicht wahr, Jorga. Ich habe das Geld nicht versoffen und nicht verjubelt. Ich habe damit etwas angefangen, etwas aufgebaut.ƒ ‚So? Was denn?ƒ sagte Jorga geh€ssig. ‚Eine Schie…bude auf dem Jahrmarkt? Oder eine Falschm•nzerwerkstatt? W•rde dir €hnlich sehen.ƒ Marmara schwieg und pre…te die Z€hne aufeinander. Dann sagte er, wieder vollkommen beherrscht und ruhig: ‚Komm, ich zeige dir, was ich mit dem Geld aufgebaut habe.ƒ Halb widerstrebend folgte ihm Jorga. Auf der linken Seite der Kanalstra…e standen schwarze hohe Mauern, •ber denen einige Baumwipfel hervorragten. Nach
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etwa zwanzig Schritten blieb Marmara bei einer graugestrichenen kleinen Eisent•r stehen, auf der in wei…en Buchstaben zu lesen war: Eintritt verboten! Marmara schlo… auf, und sie traten ein. In der Dunkelheit waren die Umrisse von Schuppen und niedrigen Geb€uden sichtbar, sie gingen an dem schwarzen Wasser eines Abflu…kanals vorbei, dann wurde es heller, das Stahlgerippe der Elektro-Schwebebahn wurde sichtbar, und hernach standen sie am Rande des gro…en Fabrikhofs, den die grellen Neonlichter •berstrahlten. ‚Das habe ich aufgebautƒ, sagte Marmara. ‚Diese Fabrik. Du kannst mir glauben, ich habe gearbeitet wie ein Pferd.ƒ Stumm lie… Jorga den Blick •ber die gro…en erleuchteten Werkhallen schweifen. Neid und Erbitterung erf•llten ihn. ‚Das alles geh†rt dir?ƒ fragte er dann mit fast heiserer Stimme. ‚Ja, es ist meine Fabrik.ƒ ‚Unrecht Gut gedeiht angeblich nichtƒ, stie… Jorga bitter hervor. ‚Aber hier gedeiht es. Und wie!ƒ Er wandte den Kopf und sah Marmara an. ‚Kein Ziegelstein davon geh†rt dir. Ist dir das klar? Kein einziger Ziegelstein.ƒ Pl†tzlich fiel sein Blick auf die blaue Leuchtschrift •ber dem Verwaltungsgeb€ude. Er stutzte. ‚Marmara-Werke?ƒ Dann fragte er erstaunt: ‚Bist du Marmara? Du ‡?ƒ Marmara nickte. ‚Dann bist du also mit Fr€ulein Schaunburg befreundet?ƒ ‚Ja, das bin ich.ƒ ‚Und hast von ihr geh†rt, da… ich im Lager Billorth bin?ƒ ‚So ist es.ƒ ‚Jetzt verstehe ichƒ, sagte Jorga langsam und mit ironisch verkniffenen Augen. ‚Du hast also doch noch zu ihr gefunden ‡ reichlich sp€t, aber immerhin. Ich nehme an, du hast ihr deine Schuld gebeichtet, und sie hat dir deine Schuld verziehen. Oder ist es nicht so?ƒ
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‚H†r mich an, Jorgaƒ, sagte Marmara gepre…t. ‚Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann es nicht mehr €ndern. Es war ein Ungl•ck, ein Verh€ngnis oder was immer ‡ƒ ‚Nenn es ruhig beim richtigen Namen! Es war kein Ungl•ck und kein Verh€ngnis. Es war ein Verbrechen. Ein gemeines Verbrechen.ƒ ‚Gutƒ, sagte Marmara ersch†pft. ‚Ein Verbrechen. Aber was soll ich tun? Kann ich es ungeschehen machen? Ich kann nur eins, Jorga, und dazu bin ich entschlossen: mit Zins und Zinseszins alles wiedergutmachen, was ich dir und Hilde Schaunburg angetan habe. Das ist es, wor•ber ich mit dir sprechen m†chte.ƒ ‚Du schweifst vom Thema ab, Negretzuƒ, sagte Jorga. ‚Mich interessiert deine Wiedergutmachung nicht. Ich frage, ob du Fr€ulein Schaunburg deine Schuld gestanden hast.ƒ ‚Nein!ƒ versetzte Marmara rauh. ‚Was h€tte das f•r einen Sinn? Sie w•rde einen Menschen in mir sehen, der ich nicht mehr bin. Sie w•rde mich verachten.ƒ ‚Mit Recht!ƒ bi… Jorga gallig zu. Marmara atmete schwer. ‚Mein Gott, Jorga, es ist zehn Jahre her. Kannst du das nicht verstehen? Ich bin nicht mehr der wilde junge Bursche von damals. Ich begreife selbst nicht mehr, was ich getan habe!ƒ ‚Das kann jeder sagen.ƒ Jorga richtete sich auf, drahtig und kerzengrad, blickte mit seinen kalten, unbarmherzigen Augen waagrecht vor sich hin. ‚Bekenne deine Schuld. Es gibt nichts anderes, Negretzu. Du darfst dich nicht selbst freisprechen. Du hast Hilde Schaunburg und ihren Vater hintergangen, betrogen und bestohlen. Wie willst du das gutmachen? Heimlich hintenherum? Wie? Mit Geld?ƒ Marmara schwieg und starrte finster zu Boden. Man h†rte leise gurgelnd das Fluten des Abflu…kanals und das ferne Ger€usch der arbeitenden Maschinen.
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‚Sie darf es nie erfahrenƒ, sagte Marmara leise und gequ€lt. ‚Ich‰ ich liebe sie. Auch wenn sie mir verzeiht, Jorga, es w€re alles aus. Es m•…te aus sein, siehst du das nicht? Und das darf nicht sein. Es darf nie sein, Jorga!ƒ Marmara wendete sich pl†tzlich scharf herum und fa…te mit beiden H€nden die Reverse von Jorgas Windjacke. ‚Du kannst alles von mir haben, Jorga. Eine Stellung, ein Haus, Geld ‡ Geld soviel du willst. Es spielt alles keine Rolle. Blo… eins, Jorga, ich flehe dich an, blo… eins: Sag ihr nie, da… ich Negretzu bin! Nie ‡ƒ Mit einem schnellen, scharfen Hieb schlug Jorga Marmaras H€nde von sich ab. ‚Bist du wahnsinnig?ƒ rief er au…er sich. ‚Willst du mich zu deinem Mitschuldigen machen? Wenn es wahr ist, da… du sie liebst ‡ƒ ‚Es i s t wahr! Und auch sie liebt mich!ƒ ‚Dann mu… sie doch erst recht die Wahrheit wissen! Willst du denn ewig diese schmutzige L•ge mit dir herumtragen? Dr•ckt sie dich nicht? Nein, ich wei…, sie dr•ckt dich nicht. Du bist genau derselbe geblieben, der du warst. Immer f•r die praktischen L†sungen, nicht wahr. Der Jorga, denkst du, der arme Hund, dem gehtˆs dreckig, ich stopf ihm das Maul mit Geld, dann kuscht er, und ich kann weiter den gro…artigen Herrn Marmara spielen, Ehrenmann Nummer eins. Darum hast du mich bei Nacht und Nebel herkommen lassen, durch die Hintert•r, damit mich keiner sieht und du unter der Hand dein schmutziges Gesch€ft mit mir machen kannst.ƒ Jorga lachte ver€chtlich auf. ‚Da… du mich immer noch nicht kennst, Negretzu. Dachtest du wirklich, du kannst mich mit Geld zum Schweigen bringen? Jorga kuscht nicht, mein Lieber. Nicht f•r eine Million.ƒ ‚Du bist verbohrt und vernageltƒ, sagte Marmara.
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‚Jawohl, bin ich!ƒ rief Jorga aufs€ssig. ‚Verbohrt in die Gerechtigkeit und vernagelt gegen deine schmierigen Bestechungsversuche!ƒ Marmara begann die Aussichtslosigkeit zu erkennen, etwas wie ein menschliches Gef•hl in Jorga zu erwecken. ‚Du bestehst auf deinem Schein wie Shylock, ohne Sinn und Verstandƒ, sagte er mutlos. ‚Wem w€re denn damit geholfen, wenn ich ihr die Wahrheit sage? Ihr? Dir? Keinem von uns allen. Es sei denn, du h€ttest eine Freude daran, zwei Menschen ungl•cklich zu machen. Ist es das, was du willst?ƒ Jorga, den Kopf im Nacken, stand breitbeinig da und warf unter hochm•tig gesenkten Lidern einen schr€gen Blick auf Marmaras F•…e. ‚Du wei…t genau, was ich will. Seit zehn Jahren warte ich auf diesen Tag. Versuche jetzt nicht, an mein Gef•hl zu appellieren, damit hast du bei mir kein Gl•ck. Du hast zu tun, was deine Pflicht ist. Und wenn du dazu zu feige bist, werde ich sie dir abnehmen. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe.ƒ Jorga drehte sich pl†tzlich um und ging mit schnellen Schritten davon ‡ denselben Weg, den Marmara ihn vorhin gef•hrt hatte. Marmara lief neben Jorga her und begann auf ihn einzureden, eindringlich und verzweifelt. ‚Kannst du denn von der Vergangenheit nicht loskommen, Jorga? Denk doch an die Zukunft! La… das Vergangene begraben sein, w•hl es nicht auf! Das Leben geht doch weiter, ist l€ngst weitergegangen, Jorga!ƒ ‚Ich habe alles gesagt!ƒ bellte Jorga und beschleunigte seine Schritte. ‚Ich rede nicht mehr mit dir.ƒ Marmara blieb an seiner Seite. ‚Du bist unmenschlich, Jorga. La… uns doch vern•nftig und in Ruhe miteinander sprechen. Kannst du deinen Ha… nicht •berwinden?ƒ ‚Ich sage, ich rede nicht mehr mit dir.ƒ
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Marmara f•hlte eine pl†tzliche Wut in sich aufsteigen. Er griff nach Jorgas Šrmel und hielt ihn fest. ‚Wenn ich es will, wirst du mit mir reden, verstanden?ƒ ‚Es gibt nichts mehr zu reden zwischen uns!ƒ schrie Jorga. ‚Ich will dein schmutziges Geld nicht! Geh hin zur Schaunburg und sag ihr, wer du bist! Gib ihr zur•ck, was du ihr gestohlen hast, und mach reinen Tisch. Ihre Liebe verdienst du nicht! La… mich los!ƒ ‚Jorga ‡ƒ, stie… Marmara zwischen den Z€hnen hervor. Er packte fester zu und sch•ttelte Jorga w•tend. ‚Ich warne dich! Du bist genau wie damals! Genauso borniert und dicksch€delig mit deinem sturen Gerechtigkeitssinn!ƒ Marmara sch•ttelte immer wilder Jorgas d•rren K†rper. ‚Siehst du denn nicht, da… du damit nur Unheil anrichtest? Siehst du das wirklich nicht?ƒ ‚Schlag doch zu!ƒ rief Jorga h†hnisch. ‚Genau wie damals! Wozu Worte? Vielleicht hast du diesmal mehr Gl•ck! Schlag zu, du M†rder! Los, schlag zu!ƒ Marmara lie… ihn erschrocken los. Er atmete heftig und wandte sich ab. ‚Jorgaƒ, sagte er schleppend, ‚wir m•ssen uns vertragen. Ziehen wir doch einen Strich unter alles, was war. H†r auf, mich zu hassen, versuchˆs, gib mir eine Chance, dir zu beweisen, da… ich nicht der Mensch bin, den du alle die Jahre in mir gesehen hast‰ƒ Er stockte, dann fuhr er mit dringender, fast beschw†render Stimme fort: ‚Ich will nicht mit Geld ausl†schen, was ich dir angetan habe, ich m†chte dein Freund sein. Ich will alles f•r dich tun, was ein Mensch nur f•r einen andern tun kann. Du sollst ein gl•ckliches Leben f•hren. Wir alle wollen gl•cklich sein, und wir werden es sein. Ist es dir denn nicht m†glich, zu vergessen? Es mu… m†glich sein, Jorga! Sprich doch, sag etwas! Sprich wie ein Mensch!ƒ Jorga schwieg und pre…te die Z€hne so fest aufeinander, da… die Muskeln an seinen Kiefern hervortraten. Einen Augenblick schien es, als kostete es ihn Anstrengung, hart und
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unnachgiebig zu bleiben. Etwas wie eine Regung von Milde wehte ihn an, eine Bereitschaft zur Vers†hnung und Verzeihung. Diesen einen kurzen Augenblick lang geriet Jorga in Zweifel •ber sein Verhalten. Marmara konnte in Jorgas Gesicht sehen, wie dieser Zweifel in ihm arbeitete, und er sagte leise: ‚Keine Schuld ist so gro…, da… sie nicht vergeben werden k†nnte. Du bist doch nicht aus Stein, Jorga ‡ƒ Best•rzt hielt Marmara inne. Ganz pl†tzlich und scheinbar unerwartet brach Jorga los. Eine j€he Wut hatte ihn ergriffen, es war gerade, als wollte er sich selbst •berrennen und die Anwandlung von Nachsicht und Gro…mut in seinem Innern gewaltsam niederschreien. Der in Jahren angewachsene Ha… war st€rker. ‚Jawohl, ich bin aus Stein!ƒ schrie er, und in seinen Augen war ein b†ses, fanatisches Funkeln. ‚Mich kannst du nicht weich machen! Mit deinem verlogenen Gerede nicht und nicht mit deinen Versprechungen! Du glaubst wohl, dir mu… immer alles gelingen, nicht wahr? Wenn duˆs mit Gewalt nicht schaffst, dann mit deinem Mundwerk! Aber an mir wirst du dir die Z€hne ausbrechen, verstehst du? Da bei…t du auf Granit ‡ƒ ‚Schrei nicht, Jorgaƒ, sagte Marmara leise und hob beschwichtigend die Hand. ‚Ich bitte dich, schrei nicht so.ƒ Marmara wandte den Kopf und blickte in die Richtung des Fabrikhofs. ‚Jeder kannˆs wissen!ƒ schrie Jorga in immer gr†…erer Wut. ‚Bald wirdˆs in den Zeitungen stehen, und die Spatzen werden es vom Dach pfeifen, wer der ehrenwerte Herr Million€r Marmara in Wirklichkeit ist! Ein Bandit und Stra…enr€uber!ƒ ‚Jorga!ƒ ‚Genauso! Das ist die Wahrheit, das kann ich beweisen! Ein Bandit und Stra-ƒ Krachend landete Marmaras Faust auf Jorgas Kinn.
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‚Geh doch zum Teufel!ƒ keuchte Marmara. ‚Du hast kein Herz im Leibe!ƒ Jorga taumelte ein paar Schritte zur•ck, warf die Arme in die Luft und war pl†tzlich verschwunden. Im gleichen Augenblick war ein dumpfer Aufschlag zu h†ren. Dann ein Aufklatschen im Wasser. Marmara stand wie gel€hmt. Es war alles so rasend schnell gegangen ‡ ein einziger besinnungsloser Augenblick ‡ eine hei…e rote Welle ‡ Kurzschlu… ‡ und dann ‡ genau wie damals ‡ Marmara erschrak zu Tode. Allm€chtiger! Nein, nein, nur das nicht! Nicht wie damals ‡ Er st•rzte vor an den Abflu…kanal. ‚Jorga! Jorga!ƒ Es war so dunkel, da… er kaum ein paar spiegelnde Lichter in dem schwarzen tr€gen Wasser erblicken konnte. ‚Jorga, wo bist du? Jorga!ƒ Er h†rte keine Bewegung im Wasser, nur das leise Gurgeln, mit dem das Wasser am Ende des Kanals •ber ein kleines Wehr flo… und in einer m€chtigen Zementr†hre unter der Erde verschwand. Eine panische Angst befiel ihn, Jorga k†nnte in die Zementr†hre geraten und in die Kanalisation abgetrieben werden. Im n€chsten Augenblick sprang er hinunter. Er konnte auf dem gemauerten Boden des Kanals aufrecht gehen, das Wasser reichte ihm bis an die Brust. ‚Jorga! Jorga!ƒ Mit rudernden Armbewegungen watete er durch das dunkle Wasser und suchte nach Jorga. Seine Kleider sogen sich voll und wurden immer schwerer. ‚Jorgaƒ, rief er verzweifelt. ‚Jorga!ƒ Pl†tzlich fuhr ihm etwas Glattes, Nasses •bers Gesicht. Er griff schnell danach und erfa…te Jorgas Hand.
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Er zerrte den K†rper an die Steintreppe, die zu dem Wasser hinunterf•hrte, und zog ihn m•hsam hinauf. Unter Jorgas verklebtem Haar sickerte Blut hervor und lief, genau in der d•nnen Rinne der Narbe, •ber die Stirn. Die Tat von damals und die Tat von heute, sie wurden eins. Der Bogen schlo… sich. Marmaras Schicksal hie… Jorga. Mit fahrigen H€nden ri… er Jorgas Kleider auf und bewegte dessen Arme, um die Atmung in Gang zu bringen. Fast eine Stunde lang versuchte er, den regungslosen K†rper zum Leben zu erwecken. Es war vergeblich. Ersch†pft hielt er inne und beugte sich •ber Jorgas Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Der Mund stand offen und war schiefgezogen, der Kiefer ‡ anscheinend durch Marmaras Hieb ‡ verrenkt. Marmara hob mit Daumen und Zeigefinger die Lider. Die Aug€pfel waren verdreht. Mit wei…en Augen starrte ihn der Tod an. In stumpfer Verzweiflung hockte Marmara neben dem toten Jorga. Er konnte nicht denken. Die nassen Kleider klebten an seinem K†rper, aus seinem Haar rann schmutziges Wasser •ber sein Gesicht. In der Ferne sah er den erleuchteten Fabrikhof. Im Pf†rtnerh€uschen sa… behaglich N†teboom, einer der Portiers, rauchte eine Stummelpfeife und las Zeitung. Der Anblick des biederen, selbstzufriedenen Mannes lie… Marmara qualvoll aufst†hnen. Was nun? Was nun? Er f•hlte sich einsam und verloren. Ein dumpfer, unsinniger Groll gegen Jorga erfa…te ihn. Mit beiden H€nden griff er nach den Schultern des Toten und sch•ttelte ihn in ohnm€chtiger Erbitterung. Du, du bist an allem schuld! Du hast es so gewollt! Du Narr, du Narr ‡ Es mu…te etwas geschehen. Marmara stand auf. Sein Hirn begann wieder zu arbeiten. Fieberhaft sann er auf einen Ausweg. Jorga durfte hier nicht liegen bleiben, hier auf Marmaras Terrain. Das wurde ihm sofort klar. Es gab keine Erkl€rung f•r Jorgas Anwesenheit hier mitten in der Nacht, auch schien es
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schwer, einen Unfall vorzut€uschen. Er mu…te von hier fort. Aber wohin? Einen Augenblick lang dachte Marmara an die Zementr†hre, die in die Kanalisation f•hrte. Aber sogleich fiel ihm ein ‡ woran er vorhin nicht gedacht hatte ‡, da… sich vor der R†hre ein Gitter aus eisernen St€ben befand, das verhindern sollte, da… ins Wasser gefallene Gegenst€nde in die Kanalisation abtrieben. Es blieb ihm also nichts anderes •brig, als Jorga fortzuschaffen. Er brauchte den Hof nicht zu •berqueren, um zur Garage zu gelangen, sie lag auf derselben Seite des Hofes. Er zerrte Jorga hoch und trug ihn auf der Schulter zur Garage, schlo… auf und tastete sich keuchend zu seinem Wagen. Er †ffnete den Schlag und warf den Toten in den Fond des Wagens. Dann verschlo… er die Garage und ging an der Mauer entlang rund um den ganzen Hof, hinter den Werkhallen vorbei bis zu seinem Haus. Es lag im Dunkeln. Rita, das Stubenm€dchen, schlief in der Mansarde. Marmara betrat das Haus durch den hinteren Eingang und ging in die Waschk•che hinunter, die im Keller lag. Hier zog er sich nackt aus, entleerte die Taschen und machte aus Kleidern, W€sche, Schuhen und Str•mpfen ein B•ndel, das er mit dem G•rtel des Trenchcoats verschn•rte. Dann ging er nebenan in den Heizraum und begrub das B•ndel unter dem Koksh•gel, der in einer Ecke aufgesch•ttet war. Die Kleider waren noch zu na… zum Verbrennen. Leise und im Finstern lief er die Treppe hinauf, duschte und zog sich an. Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Wohin mit Jorga? Er mu…te zu einem Entschlu… kommen. Mit nerv†sen H€nden band er sich die Krawatte. Ein bleiches, verst†rtes Gesicht starrte ihn mit flackernden Augen aus dem Spiegel an. Fremd und unwirklich. Pl†tzlich verlie… ihn aller Mut. Er sank in seinen Sessel und starrte vor sich hin auf den cremefarbenen Teppich.
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Was f•r eine Situation! Noch vor einer Stunde war er voller Hoffnung gewesen, hatte gemeint, mit Jorga Frieden schlie…en und sich endlich von einer Last befreien zu k†nnen, die ihn jahrelang gedr•ckt hatte. Und nun war alles hundertmal schlimmer als zuvor‰ Ein unbeschreiblicher Ekel erfa…te ihn, vor sich selbst, vor dem toten Mann in seinem Wagen, vor dem widerw€rtigen und komplizierten Gesch€ft, das ihm nun bevorstand. Himmel, gab es keine andere L†sung? Die grade, einfache? Kriminalrat Frigge anrufen und die Wahrheit sagen? Marmara sa… und gr•belte‰ Er sah sich auf der Anklagebank und er sah die Blitzlichter der Photoreporter aufleuchten und er sah die Zeitungen mit den fetten Žberschriften. Er sah den Richter in schwarzer Robe, mit einem viereckigen kantigen Gesicht und einem d•nnen gelben Bleistift zwischen den Fingern. Und dann trat Hilde an den Zeugentisch, und er h†rte die Stimme des Richters: •Sie waren mit dem Angeklagten befreundet, Fr€ulein Schaunburg? Was haben Sie •ber ihn zu sagen?‘ Hilde steht da, bla… und zart, sie wendet langsam den Kopf zur Anklagebank und sieht ihn mit ihren gro…en, grauen Augen an, kalt und mit einem Blick, der durch ihn hindurchgeht. •Ja, ich war mit ihm befreundet‘, h†rt er sie sagen, •aber ich hatte keine Ahnung, wer er ist. Es gelang ihm vollkommen, mich zu t€uschen. Wie er alle Welt get€uscht hat. Er hat meinen Vater betrogen. Er hat mich wie ein gemeiner Dieb bestohlen. Er hat Jorga kaltbl•tig ermordet, nur weil er ihm im Weg war. Er ist verschlagen und heimt•ckisch. Er geht •ber Leichen. Er ist ein notorischer Verbrecher. Ein Verbrecher. Ein Verbre-‘ Marmara schreckte aus seinen verworrenen Wachtr€umen empor. St†hnend fuhr er sich mit beiden H€nden •ber die Augen. Nein, die einfache, grade L†sung konnte es f•r ihn nicht geben. Nie, nie durfte Hilde erfahren, da… er Negretzu
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war. Lieber sterben, als diesen schrecklichen Augenblick erleben‰ Er sprang auf. Die Uhr r•ckte vor. Er mu…te sich daranmachen, das schmutzige Gesch€ft zu Ende zu f•hren. Wohin mit Jorga? Noch als er die Treppe hinunterging, wu…te erˆs nicht. Aber als er den Hof •berquerte, fiel es ihm pl†tzlich ein. ‡ Billorth‰ Immer wieder las man von Verbrechen in dem ber•chtigten Ausl€nderlager, von Žberf€llen, Mord und Totschlag. Die Polizei kam mit diesen F€llen nie recht zu Rande. Die Lagerinsassen, wie sehr sie auch in feindliche Cliquen und Gangs zerfielen, die sich bis aufs Messer bek€mpften, gegen•ber der Polizei hielten sie wie Pech und Schwefel zusammen und bildeten eine stumme, schwarze Mauer, an der alle Nachforschungen festliefen. Die Polizei behandelte diese F€lle dann auch ziemlich summarisch. W•rde man Jorga unweit des Lagers finden, so war es naheliegend, auch hier wieder einen der zahlreichen Bandenmorde zu vermuten, und man w•rde auch in diesem Fall die Ermittlungen nach einiger Zeit sang- und klanglos einstellen. Ja, Billorth war der richtige Platz f•r Jorga. Marmara f•hlte sich etwas erleichtert. Er zwang sich, folgerichtig zu denken, •berschlug schnell alle Umst€nde und M†glichkeiten und fand, da… ihm so gut wie keine Gefahr drohte. Es f•hrte keine Spur zu ihm. Auch Hilde, wenn sie von Jorgas Tod erf•hre, w•rde nichts anderes annehmen k†nnen, als da… Jorga einer Lagerfehde zum Opfer gefallen sei. Sie wu…te ja nichts. Wenn es ihm nur gelang, Jorga unbemerkt zum Lager zu bringen, dann war alles gerettet. Dann war alles gerettet‰ So dachte Marmara, w€hrend er •ber den Fabrikhof zu seinem Wagen ging. Ohne einen Blick auf den Toten zu werfen, der quer •ber der hinteren Sitzbank lag, setzte er sich
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ans Steuer, schlug die T•r zu und fuhr langsam und st€ndig hupend auf das Gittertor zu. Er sah, wie der Pf†rtner N†teboom in seinem Glaskasten hochsprang und gleich darauf herausgelaufen kam, um das Tor zu †ffnen. Es war nicht ungew†hnlich, da… Marmara nachts noch in die Stadt fuhr, in diesem Punkt brauchte er nichts zu bef•rchten. Sowie die beiden Torfl•gel ge†ffnet waren, gab er Gas und fuhr so schnell hindurch, da… es dem Portier nicht m†glich war, einen Blick in den Wagen zu werfen. Marmara schien jetzt verh€ltnism€…ig ruhig. Die W•rfel waren gefallen, es gab kein Zur•ck mehr. Er hatte sich f•r diese L†sung entschieden, und nun mu…te er genauso umsichtig und intelligent zu Werk gehen wie bei jeder beliebigen andern Sache, die anzupacken und durchzuf•hren er sich einmal entschlossen hatte. Seine Gedanken waren scharf und logisch. Dennoch war er wie in einem Fieber, aufgew•hlt und voller Angst. Folgendes fiel ihm ein: Er mu…te Jorgas Taschen ausleeren, denn vermutlich hatte Jorga Hildes Adresse bei sich. Dann: Jorgas Kleider w•rden bis morgen fr•h nicht trocknen, und selbst dann w•rde noch zu erkennen sein, da… er im Wasser gelegen hatte. Er mu…te ihn also in einen Wassergraben oder sonst ein Gew€sser in der N€he des Lagers werfen, damit die Polizei den Fundort zugleich f•r den Tatort halte. Ferner: Carol war nach Elmshorn gefahren und w•rde um neun Uhr morgens zur•ck sein. Aller Voraussicht nach waren die Bez•ge der Sitzkissen durch das Schmutzwasser in Jorgas Kleidern verdorben. Er mu…te also noch vor Carols R•ckkehr den Wagen zu Jonkhoff in die Reparaturwerkstatt fahren und die Polster neu beziehen lassen. Schlie…lich: Er durfte das Kleiderb•ndel unter dem Koksh•gel nicht vergessen.
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Eine Zeitlang dachte Marmara dar•ber nach, was er Jonkhoff sagen w•rde. Aber das machte ihm keine Sorgen. Ein Versehen in der Fabrik, eine Unachtsamkeit ‡ es w•rde ihm schon etwas Glaubhaftes einfallen. Er fuhr •ber die verlassene Chaussee. Ab und zu kroch der Mond, der noch nicht ganz voll war, hinter schwarzen Wolken hervor und verschwand gleich wieder. Ein beleuchteter Autobus mit vier oder f•nf verschlafenen Fahrg€sten kam ihm entgegen. Marmara hatte Gl•ck. Es begann zu regnen, und er schaltete die Scheibenwischer ein. Jetzt brauchte er nicht erst nach einem Wassergraben zu suchen. Auch der Regen war eine Erkl€rung f•r Jorgas durchn€…te Kleider. Das Lager lag etwa dreihundert Meter links von der Chaussee. Ein breiter zementierter Weg f•hrte zu der Barackenstadt, in der vereinzelt noch Lichter brannten. Marmara schaltete die Beleuchtung aus, fuhr ein St•ck auf den Zementweg und wendete den Wagen. Dann stellte er den Motor ab und stieg aus. Es regnete immer st€rker. Er ging ein paar Schritte auf das Lager zu und suchte nach einer geeigneten Stelle. Der Boden neben dem Zementweg war weich, uneben, mit Gras und Unkraut bewachsen. Er fand eine Mulde, kaum zwei Meter vom Zementrand entfernt. Dann ging er zu seinem Wagen zur•ck. Ein Motorradfahrer mit Lederhaube und Schutzbrille kam vorbei. Marmara duckte sich hinter den Wagen, um nicht gesehen zu werden. Im grellen Lichtkegel des Scheinwerfers glitzerte der fallende Regen wie dichte, silberne Schn•re. Als das rote Schlu…licht des Motorrades verschwunden war, †ffnete Marmara den Wagenschlag, beugte sich •ber Jorga und durchsuchte die v†llig durchn€…ten Taschen. Die Wachstuchbrieftasche zog er hervor, alles andere, Messer, Taschentuch, Streichh†lzer, ein paar M•nzen, steckte er wieder zur•ck. Dann schlug er eine Decke um Jorga, zerrte ihn aus
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dem Wagen und trug ihn bis zu der Mulde. Hier lie… er ihn fallen. So, wie der leblose K†rper hinfiel, so lie… er ihn liegen. Er mochte ihn nicht mehr anr•hren, um nichts in der Welt. Mit der Decke unterm Arm lief er zu seinem Wagen zur•ck. Nur fort, fort‰ Es go… jetzt in Str†men.
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Achtes Kapitel ‚KOMM MIT MIR NACH SPANIEN‰ƒ Als Hilde erwachte, zeigte die Uhr zehn vor neun. Um neun, p•nktlich auf die Minute, pflegte Marmara anzurufen. Tag f•r Tag. Hilde •berlegte, ob sie vorher noch schnell in die Badewanne sollte, aber dann beschlo… sie, erst Marmaras Anruf abzuwarten. Sie brauchte sich dann im Bad nicht zu hetzen. Da fiel ihr ein, da… ihr Apparat noch von gestern abend auf Kundendienst gestellt war. Marmara w•rde sich wieder beschweren, da… er sie nicht erreichen k†nnte. Sie sprang aus dem Bett, lief zum Telephon und gab Auftrag, die Gespr€che durchzustellen. Das Fr€ulein vom KD meldete einen Anruf von gestern abend, 21 Uhr 35. ‚Herr Jorga hat angerufen wegen einer dringenden Sache. Er wollte sp€ter nochmals anrufen.ƒ ‚Jorga?ƒ Hilde war etwas erstaunt. ‚Hat er sich dann noch ein zweites Mal gemeldet?ƒ ‚Nein, nicht mehr.ƒ ‚Danke.ƒ Hilde h€ngte auf. Was konnte Jorga ihr um halb zehn Uhr nachts Wichtiges mitzuteilen haben? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Nun, er w•rde sich sicher bald melden, wenn es tats€chlich etwas Wichtiges war. Sie blieb gleich beim Apparat, denn jeden Moment w•rde Marmaras Anruf kommen. Heute aber mu…te sie fast eine Viertelstunde warten, das hatte sich noch nie ereignet.
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‚Ich hatte einige dringende Sachen zu erledigenƒ, sagte Marmara. Seine Stimme klang m•de. Er war auch nicht zu kleinen Scherzen aufgelegt wie sonst immer am Morgen. ‚Šrger im Gesch€ft?ƒ ‚Ach, das Žblicheƒ, sagte er. Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: ‚Žbrigens, der Mann aus Rum€nien, von dem du gestern gesprochen hast, soll sich in der Personalabteilung melden. Ich habe schon Auftrag gegeben, da… man ihn einstellt.ƒ ‚Sch†n, da… duˆs nicht vergessen hast, Gregor. Ich werde ihm Bescheid geben. Er hat mich •brigens gestern abend angerufen.ƒ ‚Er hat dich angerufen? Wann?ƒ fragte Marmara, und seine Stimme zitterte ein wenig. ‚Um halb zehn ‡ƒ ‚Was wollte er?ƒ ‚Wei… nicht. Ich war im Kino. Der Kundendienst hatˆs gemeldet. Er wollte mich dringend sprechen. Ich denke, vielleicht hat er sich wegen der Stellung anders entschieden und will doch lieber auswandern. Ist ja auch nicht so wichtig. Wann sehe ich dich, Dragul meu?ƒ ‚Willst du am Abend zum Essen kommen?ƒ Hilde war einverstanden. ‚Also bis abends, Gregor.ƒ Dann rief sie im Lager Billorth an und verlangte Baracke 21. Eine verschlafene, fette Stimme mit ungarischem Akzent meldete sich. ‚Ich m†chte Herrn Jorga sprechenƒ, sagte Hilde. ‚Jorga?ƒ ‚Ja, Herrn Jorga.ƒ ‚Jorga nicht is zu sprechen, Freilein.ƒ ‚Ist er nicht da?ƒ ‚Is nicht zu sprechenƒ, wiederholte die tr€ge Stimme gelangweilt.
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‚Was soll das?ƒ fragte Hilde ungeduldig. ‚Wann ist er denn zu sprechen?ƒ ‚Jorga nicht is zu sprechen.ƒ Ein Knacken. Abgeh€ngt‰ Hilde w€hlte abermals die Nummer und verlangte Baracke 21. ‚H†ren Sieƒ, sagte sie jetzt auf ungarisch, ‚mit mir k†nnen Sie das nicht machen. Wenn Herr Jorga nicht da ist, will ich wissen, wo und wann ich ihn erreichen kann. Vielleicht bequemen Sie sich zu einer deutlichen Auskunft.ƒ Der Ungar war nicht zu ersch•ttern. ‚Ich bin kein Auskunftsb•roƒ, sagte er mit seiner schl€frigen Stimme. ‚Sie k†nnen noch f•nfzigmal anrufen. Deutsch, ungarisch oder siamesisch. Ganz egal. Jorga is nicht zu sprechen.ƒ Und wieder h€ngte er ab. Hilde geriet in Zorn. Jetzt verlangte sie die Lagerleitung und beschwerte sich •ber den renitenten Ungarn in Baracke 21. Eine Frauenstimme sagte: ‚Einen Moment.ƒ Gleich darauf kam ein Mann an den Apparat und fragte mit schnarrender Kommandostimme: ‚Sie wollen Jorga sprechen?ƒ ‚Herrgott jaƒ, sagte Hilde. ‚Ich will Jorga sprechen. Ist das eine Aff€re?ƒ ‚Was w•nschen Sie von Jorga? Wer sind Sie?ƒ ‚Das wird ja immer sch†ner!ƒ rief Hilde verbl•fft. ‚Was ist denn los?ƒ ‚Dar•ber darf ich keine Auskunft erteilen. Bitte geben Sie Ihren Namen und Ihre Adresse an.ƒ ‚Sie k†nnen mir den Buckel „runterrutschen.ƒ Hilde warf den H†rer auf die Gabel. Eine halbe Stunde sp€ter sa… sie in ihrem Kabriolett und fuhr nach Billorth. Jetzt war sie neugierig geworden und entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
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Der Himmel war immer noch grau, und Nebelschwaden hingen •ber dem flachen Land. Vor einer Stunde hatte es zu regnen aufgeh†rt. An der Stelle, wo die Zementstra…e, die zum Lager f•hrte, von der Chaussee abzweigte, standen einige Autos, darunter ein Sanit€tswagen. Menschenauflauf‰ Polizeiuniformen‰ Hilde hielt hinter einem etwas abgewetzten gr•nen Volkswagen. Sie erkannte Dr. Frigges Nummer. Verwundert stieg sie aus und ging langsam auf die Menschengruppe zu. Im N€herkommen erkannte sie nun auch Dr. H•bscher, den Polizeiarzt, und den Polizeiphotographen Altmann. Das sah ganz nach Mordkommission aus. Sie wies dem Polizisten, der die neugierigen Zuschauer auf Abstand hielt, ihren Presseausweis vor, und er lie… sie durch. Dr. Frigge, in einem eleganten tabakbraunen Trenchcoat von neuester englischer Fasson, bemerkte sie nicht sogleich, denn er stand so, da… er ihr den R•cken zukehrte. ‚Diese Ausl€ndermordeƒ, sagte er zu Borchard, seinem Assistenten, ‚h€ngen mir langsam zum Hals heraus. Eine Pest ist das.ƒ Der kurze, schwerf€llige junge Mann mit dem verrunzelten Gesicht blickte finster auf den toten Jorga, der von zwei Sanit€tern auf eine Bahre gehoben wurde. ‚Man m•…te die Lager aufl†sen und das ganze Gesindel abschieben. Fr•her wird nicht Ruhe sein.ƒ ‚Abschieben, wohin?ƒ fragte Frigge verdrossen und drehte sich um. Sein Blick fiel auf Hilde, die auf ihn zukam, und er hob erstaunt die Brauen. ‚Hilde Garden ist auch schon daƒ, murmelte er. ‚Wie die das macht, ist mir r€tselhaft.ƒ ‚Tag, Doktor.ƒ Sie reichte ihm die Hand. ‚Was geht hier vor?ƒ
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‚Tun Sie nicht so scheinheiligƒ, versetzte er m•rrisch. ‚Sie wissen genau, was hier vorgeht. Sonst w€ren Sie nicht hier.ƒ Jetzt fiel Hildes Blick auf die Bahre, die fortgetragen wurde. Jorga ‡! Sie erschrak zu Tode. Er sah w•st aus. Das Gesicht war verzerrt, das verklebte Haar hing ihm in die Stirn, der K†rper war unnat•rlich verkr•mmt. Dennoch erkannte Hilde ihn sofort. Mit einem Aufschrei wandte sie sich ab und schlug die H€nde vors Gesicht. Der Polizeiarzt klopfte ihr gutm•tig auf die Schulter. ‚Kein Anblick f•r junge Damen, he? Nun, er ist schon fort. Beruhigen Sie sich, Fr€ulein Garden.ƒ Er griff nach ihren H€nden und zog sie sachte herunter. Hilde starrte ihn mit verst†rten Augen an. ‚Was ‡ was ist mit ihm geschehen?ƒ Der Polizeiarzt zuckte die Achseln. ‚Ich w•rde sagen, der Mann ist ertrunken. Aber unser Meisterdetektivƒ ‡ er schielte auf Dr. Frigge ‡ ‚scheint von meiner Diagnose nicht sehr begeistert zu sein.ƒ ‚Im Umkreis von zehn Kilometern gibt es hier keinerlei Gew€sser, in dem ein Mensch ertrinken kannƒ, sagte Dr. Frigge. ‚Aber sch†n, wir werden ja h†ren, was das Gerichtsmedizinische Institut zu sagen hat.ƒ Hilde fa…te sich. ‚Wenn er ertrunken istƒ, sagte sie und sah Dr. Frigge an, ‚da m•…te man ja annehmen, da… ‡ƒ ‚Mich interessiert im Augenblick etwas ganz anderes, Fr€ulein Gardenƒ, sagte Dr. Frigge. Er sagte es in einem Ton, der Hilde nicht gefiel. ‚Ich stelle fest, Sie sind wieder einmal unglaublich schnell. An die Presse ist noch keinerlei Meldung hinausgegangen. Wieso also sind Sie schon hier?ƒ ‚Zufallƒ, sagte Hilde ohne Žberlegung. ‚Ich hatte keine Ahnung, was hier los ist. Ich wollte mir das Lager ansehen. Ich bereite eine Reportage •ber die DPˆs vor.ƒ ‚Also Zufall. Nat•rlich, h€tte ich mir denken k†nnen.ƒ Er wandte sich zu Dr. H•bscher, dem Polizeiarzt. ‚Ich glaube, ich
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mu… mir einmal die Telephonisten im Polizeipr€sidium etwas n€her ansehen. Sollte es sich herausstellen, da… es da so etwas wie einen geheimen Nachrichtendienst f•r gewisse Presseorgane gibtƒ ‡ er warf Hilde einen schielenden Blick zu ‡, ‚dann d•rfte das f•r die Beteiligten kein Festessen werden.ƒ Damit wandte er sich von Hilde ab und rief seinen Leuten zu: ‚Los, meine Herren. Wir gehen jetzt hinein.ƒ Langsam, mit gesenktem Kopf, die H€nde in den Taschen seines Trenchcoats, ging er auf das Tor des Lagers zu. Die Beamten der Mordkommission und die M€nner von der Lagerpolizei folgten ihm. Dr. H•bscher, ein rosiger, rundlicher Blondling mit gl€nzenden veilchenblauen Augen, blieb noch einen Augenblick bei Hilde stehen. ‚Nehmen Sieˆs nicht tragisch, Fr€ulein Garden. Er ist heute von Kopf bis Fu… schief gewickelt. Aber das hat nicht viel auf sich. Morgen hat er alles wieder vergessen.ƒ Hilde schob die Unterlippe vor. ‚Er vielleichtƒ, sagte sie erbost. ‚Aber ich nicht. Was glaubt er denn, wie er mit mir umspringen kann? Einmal tut er, als w€re er der beste Freund, den man auf der ganzen Welt besitzt, und dann wieder schnauzt er einen an wie irgendeinen von seinen Wachtmeistern. Na, dieser Herr ist bei mir erledigt, das kann ich Ihnen sagen.ƒ ‚Nicht €rgernƒ, versetzte der Polizeiarzt und klopfte ihr auf die Schulter. ‚Alles nur halb so schlimm. Ich mu… jetzt gehen. Wiedersehen, Fr€ulein Garden.ƒ Mit dem leicht h•pfenden Gang, der vielen beweglichen Dicken eigen ist, lief er, das Gesicht zum Himmel emporgewendet, zu seinem Wagen. Hilde ging nachdenklich und unentschlossen auf und ab. Sie konnte es immer noch nicht fassen, da… Jorga tot war. Was hatte sich ereignet? War es ein Verbrechen? Oder ein Unfall? Die Anwesenheit der Mordkommission lie… darauf schlie…en,
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da… man ein Verbrechen vermutete. Wer aber h€tte ein Interesse daran haben k†nnen, den armen Schlucker Jorga umzubringen? Obwohl sie Jorga nur fl•chtig gekannt hatte, ging sein Tod ihr nahe. Ihr war, als s€he sie ihn noch vor sich, mit seinem harten, zerfurchten Gesicht, und als h†rte sie seine spr†de, strenge Stimme. Sein Tod erschien ihr sinnlos und r€tselhaft. Je l€nger sie dar•ber nachdachte, um so mehr wuchs ihre Erregung. Ihr angeborener Reporter-Sp•rsinn wurde wach, etwas wie ein Jagdfieber packte sie. Wie, wenn Jorgas Anruf gestern nacht mit seinem Tod zusammenhing? Etwas ‚Wichtigesƒ hatte er ihr mitteilen wollen. Was konnte das gewesen sein? Es erschien ihr nicht mehr glaubhaft, da… es sich um die Stellung gehandelt hatte ‡ jetzt nicht mehr, nachdem sie wu…te, da… sich etwas Schreckliches ereignet haben mu…te. Und wenn es sich als wahr erwies, was Dr. H•bscher vermutete, n€mlich da… Jorga ertrunken war, dann mu…te jemand doch wohl die Leiche hierhergeschafft haben. Warum aber t€te dies jemand, wenn es sich um einen Unfall handelte? Gr•belnd blieb Hilde stehen. Gro…e schwarze V†gel segelten im Tiefflug •ber das trostlose St•ck Land und kr€chzten. Ein kalter Wind blies und brachte den Geruch des Herbstes mit. Hilde drehte sich auf dem Absatz herum und ging auf das Lager zu. Wie gut, dachte sie schadenfroh, da… sie dem Dr. Frigge nichts davon gesagt hatte, da… sie Jorga kannte. H€tte er sie nicht gleich so unfreundlich angefahren, gewi… h€tte sie ihm von Jorga und auch von dem dringenden Anruf erz€hlt. Jetzt stand es f•r sie fest, da… sie auch weiterhin schweigen w•rde. Und nicht nur das. Sie war entschlossen, eigene Wege zu gehen‰ Jorgas Zimmer war voller Menschen. Hilde dr•ckte sich am T•rrahmen vorbei und blieb in der einen Ecke stehen ‡
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sicherheitshalber so, da… Doktor Frigge sie nicht sehen konnte. Er sa… an dem wackligen Tisch und verh†rte Dr‹pal. Zwei Beamte durchw•hlten die Kommode, ein anderer packte Jorgas armselige Siebensachen in einen verbeulten Vulkankoffer. Kriminalassistent Borchard stand hinter Frigge, die eine Hand in der Hosentasche, in der andern hielt er eine Leberwurstsemmel. Seine harten, kleinen Knopfaugen blickten scharf und feindselig zu Dr‹pal. Ab und zu leckte er die Leberwurst ab, die •ber den Rand der Semmel hervorquoll. Auf der Schmalseite des Tisches sa…, das Gesicht Dr‹pal zugekehrt, der Kommandant der Lagerpolizei, ein unf†rmiger Mann mit einem verquollenen bleichen Gesicht und hervorstehenden, entz•ndeten Augen. Er hielt die gro…en, haarigen H€nde im Scho… und schlenkerte mit dem einen s€ulenf†rmigen Bein. ‚Herr Dr‹palƒ, sagte Dr. Frigge und war sehr bem•ht, freundlich und milde zu erscheinen, ‚Sie kannten Jorga •ber ein halbes Jahr. Sie haben mit ihm zusammen hier gewohnt. Sie sind wahrscheinlich der einzige, der einigerma…en •ber sein Leben Bescheid wei…. Ist Ihnen etwas dar•ber bekannt, da… Jorga hier Feinde hatte?ƒ Dr‹pal sa… auf dem andern Stuhl, gegen•ber von Dr. Frigge, und machte ein gelangweiltes Gesicht. ‚Ich nicht wissenƒ, sagte er achselzuckend und spielte mit einer Z•ndholzschachtel. ‚Jorga war gute Mann, aber nicht viel sprechen mit Leute in Lager. Er nix erz€hlen mir von Feinde.ƒ ‚Hatte er niemals mit jemandem Streit hier?ƒ ‚Niemals. Nix Streit.ƒ ‚Sch†n.ƒ Dr. Frigge zog den Tabaksbeutel hervor und begann seine Pfeife zu stopfen. ‚Also nun zu gestern abend. Was war da los?ƒ ‚Was soll sein los?ƒ fragte Dr‹pal verwundert. ‚Die Torwache sah Jorga etwas nach halb zehn das Lager verlassen. Wissen Sie, wo er hinging?ƒ
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‚Wieso ich soll wissen, wo Jorga is hingegangen?ƒ ‚Hat er Ihnen nichts gesagt?ƒ ‚Kein Wort.ƒ ‚War er aufgeregt?ƒ ‚Nix aufgeregt.ƒ Dr. Frigge steckte die Pfeife in den Mund und begann in allen Taschen nach Streichh†lzern zu suchen. Dr‹pal sah ihm aufmerksam zu und spielte weiter mit der Z•ndholzschachtel. Dr. Frigge, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, fragte durch die Z€hne: ‚Es war aber doch ungew†hnlich, da… Jorga abends fortging. Fiel Ihnen das nicht auf?ƒ Dr‹pal zuckte die Achseln. ‚Ich nix fragen.ƒ Kriminalassistent Borchard verschlang den letzten Rest seiner Wurstsemmel, fuhr sich mit dem Handr•cken •ber den Mund, neigte sich dann •ber den Tisch vor und nahm Dr‹pal die Streichh†lzer aus der Hand. Dr‹pal sah gleichg•ltig zu. ‚Wie war denn das mit dem Anruf?ƒ Dr. Frigge begann ein wenig auf dem Stuhl zu schaukeln. ‚Ist Jorga nicht kurz bevor er wegging zum Telephon geholt worden?ƒ ‚Kann seinƒ, versetzte Dr‹pal. ‚Ich nicht wissen.ƒ ‚Menschƒ, rief jetzt der Chef der Lagerpolizei, dem langsam die Geduld ausging ‡ und Hilde erkannte die Kommandostimme wieder, die sie heute morgen am Telephon geh†rt hatte ‡, ‚Sie werden doch wohl noch wissen, ob jemand hier hereingekommen ist und Jorga zum Telephon geholt hat?ƒ Der Tscheche hob den Blick und sah den Polizeichef unschuldig an. ‚Ich mich nicht erinnern.ƒ Dr. Frigge nahm die Pfeife aus dem Mund und blickte pr•fend auf den glimmenden Tabak. ‚Hat keinen Zweck. Wo ist der Bulgare?ƒ ‚Taneff!ƒ br•llte der Polizeikommandant, da… die W€nde wackelten. ‚Hier!ƒ Der kleine Bulgare dr€ngelte sich vor und blieb einf€ltig l€chelnd am Tisch stehen.
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‚Herr Taneffƒ, sagte Dr. Frigge sanftm•tig, ‚die Telephonzentrale hat gestern abend gegen halb zehn einen Anruf hierher nach Baracke 21 durchgegeben. Sie haben abgehoben und sich mit Ihrem Namen gemeldet. Stimmt das?ƒ Der Bulgare trat von einem Fu… auf den andern und warf Dr‹pal einen flehenden Blick zu. Dr‹pal senkte mit einem unmerklichen Nicken die Augenlider. ‚Dr‹pal, gehen Sie „raus!ƒ schrie sofort der Polizeikommandant. Dr‹pal erhob sich schlaksig und schlenkerte zur T•r, wo er stehenblieb. ‚Also, Herr Taneffƒ, sagte Frigge. ‚Sie haben abgehoben und sich mit Ihrem Namen gemeldet. Was war dann?ƒ Der struppige kleine Bulgare kratzte sich unruhig hinterm Ohr. ‚Dann? Fr€ulein von Zentrale sagt: Hier kommt Anruf f•r Baracke 21, und dann tut sich ein Mann melden und will Jorga sprechen. Ich sag •Moment‘ und geh Jorga holen ‡ƒ ‚War Dr‹pal im Zimmer?ƒ warf der Polizeikommandant schnell dazwischen. ‚Ich ‡ ich wei… nichtƒ, sagte Taneff unsicher. ‚Haben Sie etwas von dem Telephongespr€ch geh†rt? Was sagte Jorga? Ist ein Name gefallen?ƒ fragte Dr. Frigge. ‚Name?ƒ Taneff starrte Frigge an, dann sch•ttelte er den Kopf. ‚Kein Name. Hab nichts geh†rt von Gespr€ch, war nicht in B•ro. Bin hinaus auf Hof.ƒ ‚So, soƒ, sagte Dr. Frigge uninteressiert. Er hatte nicht erwartet, da… bei diesen Verh†ren etwas Vern•nftiges herauskommen w•rde. Er drehte sich zu den Beamten um, die die Kommode ausr€umten, und fragte verdrossen: ‚Briefe gefunden?ƒ ‚Kein einziger, Herr Kriminalrat.ƒ In diesem Augenblick fiel Dr. Frigges Blick auf Hilde, die hinter der halboffenen T•r stand. ‚Fr€ulein Gardenƒ, sagte er k•hl, ‚hier tagt eine Mordkommission, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten. Eine Einladung an die Presse ist nicht
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ergangen. Ich mu… Sie bitten, aus dieser Tatsache die Konsequenzen zu ziehen.ƒ Alle Anwesenden wandten in diesem Augenblick die K†pfe und sahen Hilde an. Dr‹pal grinste mit blanken Z€hnen und frechen Augen. Einen Moment starrte Hilde Dr. Frigge wortlos an, mit zusammengepre…ten Lippen und schmalen Augen, als wollte sie ihn erdolchen. Dann warf sie den Kopf zur•ck und ging mit schnellen, w•tenden Schritten aus dem Zimmer. Dr. Frigge sah ihr nach, und jetzt spielte ein kleines L€cheln um seine Mundwinkel‰ ‚Nanuƒ, sagte Dr. Kopp und schob die Schildpattbrille auf die Stirn, ‚das geht wohl nicht mit rechten Dingen zu? Haben Sie sich in der T•r geirrt? Wollten vielleicht eine Heiratsanzeige aufgeben?ƒ Hilde l€chelte fl•chtig. Die Muskeln in ihrem Gesicht waren gespannt, ihr Blick war hart und entschlossen auf Kopp gerichtet. ‚Ich komme gerade aus Billorthƒ, sagte sie. ‚Es wurde schon wieder einer ermordet. Ich kannte den Mann, er war Maschinenmeister in der Fabrik meines Vaters in Rum€nien. Der Fall interessiert mich aus pers†nlichen Gr•nden. Ich m†chte ihn mir vornehmen und eine Reportage dar•ber schreiben. Was halten Sie davon?ƒ Es warf den Chefredakteur fast vom Stuhl. ‚Wie? Was? Eine Reportage wollen Sie schreiben? Das ist ja ein Ding! Ich denke, Sie haben sich ins Privatleben zur•ckgezogen. Was ist denn mit Ihnen los? Sie sind ja ganz aufgeregt.ƒ ‚Ja, ich bin aufgeregtƒ, sagte Hilde. Sie setzte sich auf die Lehne des gr•nen Klubsessels und holte Zigaretten hervor. ‚Der Mann hat mich gestern abend noch angerufen, um mir eine wichtige Mitteilung zu machen, ich war aber nicht zu Hause. Vorher war er von einem Unbekannten im Lager
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antelephoniert worden und ist gleich darauf fortgegangen. Heute fr•h fand man ihn tot. Ertrunken.ƒ ‚Ertrunken? Dann kann es doch auch ein Unfall sein. Warum tippen Sie auf Mord?ƒ ‚Weilƒ, sagte Hilde ungeduldig, ‚Ertrunkene normalerweise nicht zehn Kilometer •ber Land laufen und sich dann irgendwo ins Gras legen. Er wurde wahrscheinlich ins Wasser geworfen, dann herausgeholt und nach Billorth gebracht.ƒ ‚Und warum h€tte das jemand tun sollen?ƒ ‚Niemand wei… esƒ, sagte Hilde nerv†s. ‚Wer bearbeitet den Fall?ƒ Hilde schob die Unterlippe vor. ‚Frigge.ƒ ‚Und was sagt er?ƒ ‚Nichts. Was soll er sagen? Das ist nicht der erste und sicher auch nicht der letzte Ausl€ndermord in Billorth, mit dem er nicht zu Rande kommt.ƒ Dann setzte sie hinzu: ‚Er war ausgesprochen ekelhaft zu mir.ƒ ‚Inwiefern ekelhaft?ƒ Hilde erz€hlte ihm, wie sie nach Billorth gekommen war und was sich dort abgespielt hatte. ‚Es geht ihm nicht in den Kopf, wieso ich schon eine halbe Stunde nach ihm am Tatort sein konnte.ƒ Sie l€chelte belustigt. ‚Soll er sich ruhig weiter den Kopf dar•ber zerbrechen. Wissen Sie, er hat die Sache mit dem Taximord in Altona immer noch nicht vergessen. Da… ich ihm damals um eine Nasenl€nge voraus war und vierundzwanzig Stunden fr•her als er herausbekommen habe, wer der M†rder war, das sitzt ihm heute noch in den Knochen, obwohl er sonst wei… Gott wie charmant und liebensw•rdig tut. Jetzt aber denkt er, ich will ihm wieder ins Handwerk pfuschen, und da ist es gleich aus mit dem Charme.ƒ Kopp lachte. Dann sagte er: ‚Passen Sie auf, Hilde. Grunds€tzlich bin ich daf•r, da… Sie wieder einmal was Kriminelles schreiben. Die Geschichte mit dem Taximord voriges Jahr war ein Bombenerfolg. Wenn Ihnen so was
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nochmals gelingt, das w€re prima. Ich wei… nat•rlich, Gl•ck geh†rt dazu und alles m†gliche. Ich w•rde sagen, Hilde, machen Sie sich „ran an die Sache. H†chste Zeit, da… diese ewigen Ausl€ndermorde einmal aufgerollt werden.ƒ ‚Ganz meine Meinungƒ, sagte Hilde. Kopp machte ein vergn•gtes Gesicht und blinzelte ihr mit seinen gr•nlichen Augen zu. ‚Am meisten freut es mich, da… Sie wieder da sind, Hilde.ƒ ‚Ich war nie fort.ƒ ‚Ich meine, da… Sie wieder an die Arbeit gehen. Das beweist mir ‡ƒ ‚Gar nichts beweist dasƒ, sagte Hilde schnell und zog ein wenig die Brauen empor. ‚Ich wollte nur nicht nach Kanada fahren. Das hat nichts mit irgend etwas zu tun, Herr Chefredakteur.ƒ ‚Woher auf einmal diese Aktivit€t? Sie zittern ja wie ein Rennpferd vor dem Startband?ƒ ‚Ich bin in diese Sache hineingeraten, ich wei… nicht, wie. Gestern um diese Zeit sa… ich noch mit Jorga zusammen in einem Gasthaus. Es geht mir einfach nicht in den Kopf, da… ihn jemand ermordet haben soll. Wer? Warum? Ich komme davon nicht los. Ich mu… der Sache auf den Grund gehen.ƒ ‚Haben Sie Frigge gesagt, da… Sie diesen Mann kannten?ƒ ‚Ich ihm gesagt?ƒ Hilde war fast entsetzt •ber diese Frage. ‚Bin ich verr•ckt? Was sagt denn er mir? Ich denke nicht daran, ihm auch nur im geringsten zu helfen. Im Gegenteil. Wo immer ich ihm eins auswischen kann, wird es geschehen. Ich wei…, das ist klein, sch€big und typisch weiblich. Aber ich tuˆs mit Wonne. Schlie…lich bin ich ja ein Weib. Oder?ƒ Kopp l€chelte. ‚Irgend so was werden Sie wohl schon sein. Aber h†ren Sie zu, Hildeƒ, setzte er etwas bed€chtiger hinzu. ‚Packen Sie ihn nicht zu hart an. Man kann nie wissen. In ein paar Jahren ist er vielleicht Oberb•rgermeister oder
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Innenminister, und dann kriegen wir den Bumerang zur•ck. Mutwillig soll man sich keine Feinde machen.ƒ Hilde schob die Unterlippe vor und machte ‚Phƒ. Sie war heute nicht gut auf Frigge zu sprechen, ganz und gar nicht. ‚Na, dannƒ, sagte Kopp und reichte ihr seine lange, sommersprossige Hand, ‚Hals- und Beinbruch, Hilde. Halten Sie mich auf dem laufenden.ƒ ‚Wird gemacht.ƒ Marmara griff nach der dicken, honigfarbenen Kerze, die auf dem Tisch stand, hob sie langsam und behutsam hoch, um nichts von dem fl•ssigen Wachs zu vergie…en, das sich in der Mulde rund um den brennenden Docht angesammelt hatte, und reichte Hilde Feuer. Seine Hand war vollkommen ruhig. ‚Wieso eigentlich ertrunken?ƒ fragte er, scheinbar nicht sehr interessiert. ‚Woher wei…t du das?ƒ ‚Der Polizeiarzt hat es mir gesagt. Aber nat•rlich mu… die genaue Todesursache erst noch im Gerichtsmedizinischen Institut festgestellt werden. Vielleicht hat er sich geirrt. Ich ruf ihn morgen jedenfalls an.ƒ ‚Wen rufst du an?ƒ ‚Den Doktor H•bscher, den Polizeiarzt. Von Frigge erfahr ich sowieso nichts.ƒ Hilde go… sich aus dem gelben Porzellank€nnchen noch etwas Mokka in ihre Tasse. Marmara sah ihr aufmerksam zu. Er schob ihr die Zuckerdose n€her. ‚Ich w•rde sagen, es ist ziemlich gleichg•ltig, auf welche Weise der Mann ums Leben gekommen ist, nicht? Das Ungl•ck ist nun einmal geschehen. Dem armen Teufel kann niemand mehr helfen.ƒ ‚Leider nichtƒ, sagte Hilde. ‚Aber es handelt sich um ein Verbrechen, Gregor. Dieses Verbrechen mu… ich aufkl€ren.ƒ ‚Was mu…t du?ƒ Marmaras Augen weiteten sich und starrten Hilde an. ‚Verbrechen aufkl€ren? Du?ƒ
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‚Ich willˆs zumindest versuchenƒ, sagte sie. ‚Einmal ist mir so etwas gelungen. Vielleicht gelingtˆs mir auch diesmal.ƒ Marmaras Unruhe wuchs. Er runzelte die Stirn. ‚Was geht dich denn das alles an?ƒ fragte er rauh. ‚Bist du die Polizei? Žberla… dieses Gesch€ft dem Doktor Frigge. Journalisten brauchen keine Verbrechen aufzukl€ren.ƒ Hilde legte den Kopf etwas schr€g und sagte konziliant: ‚Brauchen nicht. Aber man mu… mehr tun als immer nur gerade das Notwendige, Gregor, wenn man etwas Besonderes leisten will.ƒ ‚Weisheiten!ƒ Šrgerlich stand er auf und ging ans Fenster. ‚Als ob das eine Aufgabe f•r eine Frau w€re. Verbrecher jagen‰ƒ Er drehte sich um und sah sie an. Sein Blick war dunkel und zornig. ‚Wie stellst du dir das vor? Wenn die Polizei es niemals geschafft hat, einen dieser Lagermorde aufzukl€ren, dann wirst ausgerechnet du es schaffen! Meinst du das wirklich?ƒ ‚Ich sage nur, ich willˆs versuchen, Gregorƒ, versetzte sie ruhig. ‚Frigge wird in der Sache nicht weit kommen. Ich glaube, Jorgas Tod hat mit den andern Lagermorden nichts zu tun.ƒ ‚So? Glaubst du das. Warum?ƒ ‚Jorga war ein durch und durch anst€ndiger Mensch. Er hat bestimmt mit dem Verbrechergesindel im Lager nichts zu tun gehabt und sich aus allen schr€gen Sachen herausgehalten. Darum glaube ich nicht, da… es sich hier um einen Bandenmord handelt. Etwas anderes mu… dahinterstecken.ƒ Marmara wandte ihr den R•cken zu und blickte zum Fenster hinaus. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Auf dem nassen Zement des Fabrikhofs gl€nzten Œlflecken wie gro…e violette Fettaugen. Marmara schwieg und nagte an seiner Unterlippe. Hilde erhob sich und trat zu ihm. Er blieb regungslos stehen, beide F€uste auf das Fensterbrett gestemmt.
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‚Ich wei…, du hast was dagegen, da… ich arbeiteƒ, sagte sie und schob ihren Arm unter den seinen. ‚Es pa…t dir einfach nicht. Das zeigt sich immer wieder. Aber ich mu… doch arbeiten, Gregor. Ich kann meinen Beruf nicht an den Nagel h€ngen. Willst du das nicht einsehen?ƒ Ohne den Kopf zu wenden, sagte er: ‚Schreib •ber Shakespeare oder Dieter Borsche oder was wei… ich. Aber la… die Finger von Dingen, die dich nichts angehen.ƒ ‚Gerade diese Dinge gehen mich am meisten an, Gregorƒ, erwiderte Hilde sanftm•tig. ‚Shakespeare und Dieter Borsche sind nicht mein Fach. Mein Fach sind Sensationen. Das ist mein Job, wei…t du? Daf•r werde ich bezahlt.ƒ ‚Ach, Unsinn!ƒ Marmara sch•ttelte unwillig den Kopf. ‚Detektiv spielen! So etwas Albernes.ƒ Einen Augenblick standen sie schweigend nebeneinander. Dann zog Hilde ihre Hand unter seinem Arm hervor und wandte sich ab. Sie war verstimmt und €rgerlich. ‚Nicht mehr und nicht weniger albern als alle andern Dinge, die Menschen tunƒ, sagte sie, w€hrend sie zum Tisch ging. ‚Farben und Lacke erzeugen ist auch nicht gerade eine geistvolle T€tigkeit, wenn wir grade davon sprechen.ƒ Sie nahm eine Zigarette und steckte sie in den Mundwinkel. Mit leicht zur Seite geneigtem Gesicht beugte sie sich •ber die brennende Kerze und z•ndete die Zigarette an. Ihre Augen gl€nzten und waren etwas verkniffen, als sie in die flackernde Flamme blickten. ‚Ich wollte dich nicht beleidigenƒ, lenkte Marmara ein. ‚Ich m†chte nur, da… du dich nicht in diese Geschichte einl€…t.ƒ ‚Warum?ƒ ‚Ich bitte dich darum!ƒ ‚Schon recht. Aber ich frage, warum?ƒ Sie sah ihn mit gro…en, grauen Augen an, und er wu…te, sie erwartete eine klare Antwort.
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Marmara bef•rchtete nicht ernsthaft, da… Hilde den Fall aufkl€ren k†nnte, ja er war so gut wie sicher, da… weder Hilde noch Frigge die Hintergr•nde von Jorgas Tod jemals aufdecken w•rden. Zwar hatte er nicht damit gerechnet, da… durch die medizinische Feststellung der Todesursache ans Licht kommen w•rde, da… Jorga ertrunken sei. Das hatte ihn im ersten Moment •berrascht. N€her besehen aber war es eine Komplikation, die den Fall nur schwieriger machte. Marmara hatte keine Angst vor Entdeckung. Ihm erschien nur der Gedanke schwer ertr€glich, da… Hilde sich nun unaufh†rlich, wahrscheinlich wochenlang, mit dieser f•rchterlichen Geschichte befassen w•rde. Er mu…te sie vergessen, Gras sollte dar•ber wachsen‰ ‚Du fragst, warum ich dagegen binƒ, sagte er und kam langsam auf sie zu. ‚Ich war n€mlich gerade im Begriff, dir einen Vorschlag zu machen.ƒ ‚Einen Vorschlag?ƒ Er l€chelte und legte beide H€nde in ihre Taille. ‚Ich dachte an San Sebastian.ƒ Verbl•fft sah sie zu ihm empor. ‚San Sebastian?ƒ ‚Gerade die richtige Zeit jetzt. Wir waren noch nie mitsammen auf Reisen, Hilde. Ich stellˆs mir herrlich vor. Ein paar Wochen lang nichts anderes tun, als nur mit dir beisammen sein.ƒ ‚Ach, sch†n!ƒ rief sie, pl†tzlich hingerissen. ‚Eine herrliche Idee!ƒ Sie warf beide H€nde empor und umschlang seinen Hals. ‚Sonne, Meer, Spanien‰ƒ Er dr•ckte sie fest an sich und k•…te den Haaransatz an ihren Schl€fen. ‚Wir k†nnten in ein paar Tagen fahren, vielleicht schon •bermorgen. Ich mu… noch einige wichtige Sachen erledigen.ƒ ‚Ich‰ auchƒ, sagte Hilde. Sie machte sich aus seiner Umarmung frei. In ihren Augen gl€nzte noch die Freude, aber sie war etwas ern•chtert.
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‚Die Sache mit Jorgaƒ, sagte sie. ‚Ich habe den Auftrag angenommen, ich mu… ihn durchf•hren, Gregor. K†nnen wir nicht sp€ter fahren?ƒ ‚Wann, sp€ter?ƒ Er machte eine unwillige Handbewegung. ‚Sp€ter gehtˆs schon •berhaupt nicht mehr. Wir fahren jetzt!ƒ Seine Stimme bekam eine unangenehme Sch€rfe, als er fortfuhr: ‚Ich zumindest. Wenn dir so eine dumme Reportage f•r die Zeitung wichtiger ist als ich, dann ‡ fahre ich eben allein. Wenigstens wei… ich dann, was ich von dir zu halten habe.ƒ ‚Das ist doch wieder Unsinn, Gregor. Du wei…t genau, was du von mir zu halten hast.ƒ Sie warf den Kopf zur•ck und legte beide H€nde flach auf seine Brust. ‚Also gutƒ, sagte sie nach einem Augenblick des Žberlegens. ‚Einigen wir uns auf ‡ sagen wir ‡ •ber•bermorgen. Bis dahin sehe ich, wie sich die Sache anl€…t. Wenn ich zu keinem Resultat komme ‡ƒ ‚Bestimmt kommst du zu keinem Resultat!ƒ ‚Nun sch†n, dann kann ich Kopp den Auftrag ruhigen Gewissens zur•ckgeben. Aber die Flinte ins Korn werfen, noch bevor ich •berhaupt eine Sache angefangen habe, das kann ich nicht, Gregor.ƒ Er sah sie finster an, dann zuckte er die Achseln. ‚Wenn du meinst? Warten wir also noch drei Tage. Aber dannƒ, sagte er und warf ihr einen flackernden Blick zu, ‚dann will ich nichts mehr h†ren und sehen von dieser unseligen Geschichte!ƒ ‚Abgemacht.ƒ Hilde schmiegte sich an ihn. ‚Und dann fahren wir nach San Sebastian und werden nichts anderes tun, als vierundzwanzig Stunden am Tag gl•cklich sein.ƒ
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Neuntes Kapitel TATORT KANALSTRASSE Ein Kind br•llte. Hunde bellten. Keifendes Weibergeschrei und polterndes M€nnergel€chter erf•llten die Luft. Im k•hlen Wind flatterten armselige W€schest•cke an verknoteten, zusammengest•ckten Leinen wie Fahnen des Elends. Langsam ging Hilde um die Baracke 21 herum. Sie trat ein und begab sich durch den Mittelgang zu dem Zimmer, in dem Jorga gewohnt hatte. Die T•r stand offen. Das Zimmer war leer. Einen Augenblick verharrte sie unschl•ssig und blickte sich um. Alle T•ren waren verschlossen, sie h†rte keinen Laut. Sie ging wieder zur•ck und blieb vor der T•r der Baracke stehen. ‚Tun Sie jemand suchen, Freilein?ƒ Hilde wandte den Kopf. ‚Ja, Sieƒ, sagte sie. Im Gras lag Dr‹pal und lie… sich von der etwas frostigen Herbstsonne bestrahlen. Er lachte lautlos, mit schmalen, blitzenden Augen und blanken Z€hnen. ‚Habˆ ich mir gedachtƒ, sagte er und legte behaglich beide H€nde unter seinen Hinterkopf, um Hildes Beine besser betrachten zu k†nnen. Hilde ging zu ihm und setzte sich auf einen kleinen Buckel des holprigen Gel€ndes. ‚Sie haben gewu…t, da… ich zu Ihnen will?ƒ fragte sie l€chelnd. ‚Wieso?ƒ ‚No, bin halt gro…e Kombinatorƒ, lachte er und setzte sich mit einem schnellen Ruck hoch. ‚Wei… ich, da… Sie Dame von Presse sind, was Kriminalrat Frigge gestern hat ‡ fft!ƒ Er machte eine Handbewegung, die sehr plastisch die T€tigkeit
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des An-die-Luft-Setzens ausdr•ckte. ‚Jetzt Sie kommen wieder und wollen wissen, was war los mit Jorga. Ja?ƒ ‚Ungef€hr so.ƒ Er neigte sich vor, bis sein Gesicht ganz nah dem ihren war. Einen Moment lang sah er ihr in die Augen, frech und unverbl•mt, ‚Nun?ƒ fragte sie, ohne sich zu r•hren. ‚Sch†ne Augenƒ, sagte er ehrlich bewundernd. ‚Hab noch nie so sch†ne Augen gesehen ‡ so nah.ƒ ‚Also, was war mit Jorga?ƒ Er ri… sich zusammen. ‚Ich nix sagen.ƒ Er legte sich wieder der L€nge nach hin, l€chelte und sah Hilde unter seinen schwarzen Wimpern hervor an. ‚Ich nix wissen, ich nix sagen.ƒ ‚H†ren Sie.ƒ Hilde lie… ihre dunkle, erregende Stimme voll ausklingen. ‚Ich bin nicht die Polizei. Zu mir k†nnen Sie reden. Sie wissen, wie ich mit Kriminalrat Frigge stehe. Sie waren dabei. Von mir erf€hrt er nichts, das k†nnen Sie mir ruhig glauben.ƒ ‚Nein, nein, neinƒ, sagte Dr‹pal und rollte bei jedem Nein den Kopf spielerisch von einer Seite auf die andere. ‚Ich nix wissen, ich nix sagen.ƒ ‚Klar, wissen Sie etwasƒ, sagte Hilde gem•tlich. ‚Seien Sie nicht kindisch. Sie riskieren doch nichts.ƒ Wieder fuhr Dr‹pal mit einem Ruck hoch. ‚Ich nix riskieren? Sie schreiben in Zeitung, was ich sagen, und dann kommen Frigge und stecken mich in Loch.ƒ ‚Machen Sie sich keine Sorgen. Von Ihnen schreibe ich kein Wort. Das verspreche ich Ihnen. Also, was hat Jorga gesagt, bevor er wegging? Na, reden Sie schon! Es soll Ihr Schaden nicht sein.ƒ Er sah mit einem listigen, halbschr€gen Blick zu ihr empor. ‚Wie meinen Sie das?ƒ
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Hilde l€chelte ihn an und gab keine Antwort. Dr‹pal h†rte ein Knistern, und sein Blick glitt langsam an ihr herab und blieb auf ihren H€nden ruhen. Zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt sie, lang und d•nn zusammengefaltet, wie ein St€bchen, einen gr•nen Geldschein. Dr‹pal umschlang mit beiden Armen seine hochgezogenen Knie. Er bog die Finger der einen Hand ein wenig ab und fa…te mit den €u…ersten Fingerspitzen den Zwanzigmarkschein. Dabei blickte er zum Himmel empor. ‚Jorga is gegangen telephonieren, dann is zur•ckgekommen und fragt, wo is Kanalstra…e. Ich ihm sagen, Autobus 28. Er sich schnell anziehen und ganz b†s schauen. Wohin? ich ihn fragen, Randezvous mit kleine Pupperle? Aber Jorga war ganz aufgeregt. Haltˆs Maul, er sagt und is weg. Ganz schnell und aufgeregt er is gelaufen weg. Das is alles.ƒ Dr‹pal streckte beide H€nde vor und drehte die Handfl€chen nach oben. ‚Das is alles, Freileinƒ, wiederholte er. ‚Ehrenwort!ƒ Der Zwanzigmarkschein war aus seinen H€nden verschwunden. ‚Kanalstra…e?ƒ fragte Hilde. ‚Wo ist das?ƒ ‚Bei Hafen. Schmutzige Gass.ƒ ‚Und Sie haben keine Ahnung, was er dort wollte?ƒ Dr‹pal sch•ttelte den Kopf. ‚Ich, nein. Aber Taneff wissen Name von Mann, was hat angerufen. Taneff es mir sagen, aber ich vergessen. Griechische Name, ich glaube.ƒ ‚Griechisch?ƒ Hilde runzelte die Stirn. ‚Das wird ja immer merkw•rdiger. Wo ist Taneff?ƒ ‚In Barack 18 bei Freind, bulgarische. Ich holen, ja?ƒ Er sprang elastisch hoch und lief quer •ber die Lagerstra…e zu der gegen•berliegenden Baracke. Hilde sah, wie er vor einem der ge†ffneten Fenster stehenblieb. ‚Taneff! Taneff!ƒ rief er, winkte dann mit beiden H€nden und kam wieder zur•ckgelaufen. ‚Er schon kommenƒ, sagte er zu Hilde.
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Gleich darauf erschien dr•ben der struppige, kleine Bulgare und kam neugierig, auf kurzen, krummen Beinen herangewackelt. ‚Gehen wir hineinƒ, sagte Hilde. Die beiden folgten ihr. ‚Was ist los?ƒ fragte Taneff leise und deutete mit dem Daumen auf Hildes R•cken. ‚Dame is in dich verliebtƒ, fl•sterte Dr‹pal an Taneffs Ohr. ‚Kommt fragen, ob du ihr heiraten willst.ƒ Taneff kicherte und stie… Dr‹pal in die Rippen. Hilde setzte sich und deutete auf den gegen•berliegenden Stuhl. ‚Nehmen Sie Platz, Herr Taneff.ƒ Der Bulgare setzte sich auf die Kante des Stuhls, legte die H€nde auf seine Knie und blickte abwechselnd von Hilde auf Dr‹pal. Der junge Tscheche blieb an der Schmalseite des Tisches stehen und st•tzte beide H€nde breit auf. Er machte keine langen Geschichten. ‚Also los, Taneffƒ, sagte er. ‚Wie war Name von Mann, was hat Jorga angerufen?ƒ Taneffs Miene verfinsterte sich, ein scheuer und €ngstlicher Ausdruck trat in sein Gesicht. Er fuhr sich mit der Zunge schnell •ber die Unterlippe. ‚Wei… ich doch nichtƒ, sagte er und sah Dr‹pal beschw†rend an. ‚Sie k†nnen ganz offen sprechen.ƒ Hilde schob die flache Hand langsam •ber den Tisch. ‚Es ist ohne jede Gefahr f•r Sie.ƒ Beide M€nner blickten auf Hildes Hand. Als sie sie zur•ckzog, lag ein Zwanziger vor dem Bulgaren. Aber er war immer noch voller Argwohn und rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. ‚Brauchst keine Angst haben, Idiot, Freilein is nix von Polizeiƒ, sagte Dr‹pal und schlug Taneff mit der flachen Hand aufmunternd ins Genick. ‚Los! Wie hat Mann gehei…en, was hat Jorga angerufen!ƒ
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Der Bulgare duckte den Kopf weg und griff sich in den Nacken. ‚Nicht mich hauenƒ, knautschte er wehleidig. ‚Sakra!ƒ rief Dr‹pal ungeduldig und knallte die Faust auf den Geldschein. ‚Da zwanzig Mark, du Trottel, bl†de! Jetzt sofort sag, wie Mann hat gehei…en, sonst ich breche dir alle Knochen kaputt!ƒ Ver€ngstigt blickte Taneff zu Dr‹pal empor, sah dann auf die Banknote und dann auf Hilde, die ihn geduldig anl€chelte. Er kratzte sich den Wollsch€del und sagte: ‚Ich glaube, Mann hat gehei…en Negretzu.ƒ ‚Richtig!ƒ rief Dr‹pal und schlug sich mit dem Handballen gegen die Stirn. ‚So er mir hat auch gesagt! Negretzu.ƒ Er sah Hilde fragend an und setzte etwas unsicher hinzu: ‚Is doch griechische Name, oder?ƒ Taneff stie… ein meckerndes Gel€chter aus. ‚Griechisch! Griechisch! So ein dummer ‡ƒ Er verstummte und fuhr erschrocken zur•ck. Dr‹pals Faust war bedenklich nahe an seiner Nase durch die Luft gesaust. Mit einer blitzschnellen, affenartigen Bewegung schnappte Taneff nach dem Geldschein und steckte ihn in die Hosentasche. Hilde war kreidebleich geworden. Sie atmete schwer. Negretzu! Der Name wirkte wie ein Schock auf sie. Sie starrte Taneff aus weiten Augen an und rang nach Fassung. ‚Sagen Sie genau, wie es war!ƒ stie… sie erregt hervor. ‚Ich mu… das wissen. Was hat Jorga alles am Telephon gesagt?ƒ Taneff zuckte die Achseln. ‚Nicht viel. Er tut sich melden und sagt: •Hier spricht Jorga.‘ Dann fragt er: •Wer?‘ Und schaut mich an wie Verr•ckter. •Negretzu? Was f•r ein Negretzu?‘ fragt er. Und dann tut er lachen.ƒ ‚Lachen?ƒ fragte Hilde ungl€ubig. ‚ Ja‰ Aber anders lachen. Zum F•rchten ‡ƒ ‚Weiter!ƒ ‚Dann nichts weiter mehr. Jorga hat gesprochen rum€nisch. Rum€nisch kann ich nicht verstehen.ƒ
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Dr‹pal lachte h€misch. ‚Wenn du nicht verstehen, wieso dann wissen, da… Rum€nisch? Warum nicht Griechisch?ƒ Hilde fuhr mit der Hand ungeduldig durch die Luft. ‚Es war Rum€nisch. Ich wei… es.ƒ Sie wandte sich wieder zu Taneff: ‚Hat er lange mit ihm gesprochen? War er sehr b†se?ƒ ‚Nicht lange gesprochen. Aber b†se war sehr, der Jorga. Er geht zur T•r und kommt wieder zur•ck zu Telephon und ruft an eine Fr€ulein Schaunburg. War aber nicht zu Haus. Er sagt, da… ruft sp€ter wieder an. Dann tut er mich fragen, wo Kanalstra…e ist, aber ich kenne nicht Kanalstra…e. Dann ist er weggegangen.ƒ Stumm und erwartungsvoll sahen die beiden M€nner in Hildes unbewegtes Gesicht. Dann fragte Dr‹pal: ‚Zufrieden, Freilein?ƒ ‚Wie?ƒ Sie stand auf. ‚Zufrieden, ja‰ƒ ‚Feinƒ, sagt Dr‹pal und rieb sich grinsend die H€nde. ‚Vielleicht haben Freilein dann noch eine Kleinigkeit ‡ƒ Hilde warf noch einen Zwanzigmarkschein auf den Tisch. ‚Teilt euch das.ƒ Schon war der Schein aber in Dr‹pals Tasche verschwunden. Noch auf der Lagerstra…e h†rte sie Taneffs Gezeter‰ Am Lagerausgang war eine Telephonzelle. Hilde rief den Dr. H•bscher an, den Polizeiarzt. ‚Hallo, Doktor. Ich h†re, Frigge hat doch recht behalten. Der Mann ist gar nicht ertrunken. Stimmt das?ƒ Der Polizeiarzt stie… ein meckerndes Gel€chter aus. ‚Wer hat Ihnen das erz€hlt? Kein wahres Wort daran. Der Obduktionsbefund hat einwandfrei ergeben, der Mann ist ertrunken. Genau, wie ich es gesagt habe. Au…erdem hatte er eine Sch€delverletzung und einen verrenkten Kiefer. Es d•rfte also eine Keilerei vorausgegangen sein.ƒ ‚Und was sagt Frigge?ƒ ‚Keine Ahnung. Hab ihn nicht gesehen.ƒ
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‚Vielen Dank, Doktor. Auf Wiedersehen.ƒ Hilde ging zu ihrem Wagen und zog den Stadtplan hervor. Sie fand die verwinkelte Kanalstra…e und fuhr los. Sie war erregt und aufgew•hlt. Immerfort mu…te sie an Jorga denken und an seine Worte: •Ich erwarte nicht mehr viel vom Leben, aber wenn ich um eines t€glich bete, dann ist es das: diesem Mann noch einmal zu begegnen.‘ Und nun war er ihm begegnet‰ Hilde schauderte. Negretzu war hier in der Stadt ‡ sie konnte es immer noch nicht fassen. Negretzu‰ Sie hatte keine Vorstellung von ihm. Ein Wort von Jorga fiel ihr ein: •Er stand vor mir wie ein Teufel.‘ Wild, brutal, r•cksichtslos, ein Mann, der •ber Leichen geht. Aber war er nicht auch der Vertraute ihres Vaters gewesen? Ja hatte ihr Vater nicht sogar die M†glichkeit erwogen, ihn eines Tages zu seinem Schwiegersohn zu machen? Wie schlau und durchtrieben mu…te er doch sein, wenn es ihm gelungen war, ihren Vater derart zu t€uschen? Hildes Gedanken waren verworren und ungeordnet. Vergeblich war sie bem•ht, sich einen Begriff davon zu machen, was vorgefallen war. Wie hatte Jorga pl†tzlich Negretzu gefunden? Oder war es umgekehrt, hatte Negretzu Jorga entdeckt und in die Kanalstra…e bestellt, um ihn zu t†ten? Warum? Er h€tte sich nicht zu melden brauchen. Er mu…te wohl dringende Gr•nde zu der Annahme gehabt haben, da… Jorga ihm gef€hrlich werden konnte. Aber was waren das f•r Gr•nde? Und weshalb hatte er den toten Jorga aus der Kanalstra…e fortgeschafft? Warum lie… er ihn nicht im Wasser? Alles war unklar, alles undurchsichtig. Nur eines war Hilde klar, und sie f•hlte etwas wie einen Triumph: Niemand ‡ und Frigge am wenigsten ‡ ahnte etwas von Negretzus Existenz und der unheimlichen Rolle, die er in Jorgas Leben gespielt hatte. Sie war der einzige Mensch, der wu…te, wer Jorga ermordet hatte. Auch den Tatort kannte Frigge nicht, denn er
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konnte nie etwas von der Kanalstra…e geh†rt haben. Hilde hatte somit einen entscheidenden Vorsprung. Und sie war eisern entschlossen, diesen Vorsprung zu nutzen. Am Eingang zur Kanalstra…e mu…te sie halten. Wei…gestrichene Pf€hle sperrten die Stra…e f•r den Verkehr von Fahrzeugen. Hilde stieg aus und ging zu Fu… weiter. Gespannt blickte sie umher. Sie sah auf der einen Stra…enseite alte, verfallene Lagerh€user und Mietskasernen, auf der andern eine hohe graue Mauer, hinter der Baumwipfel hervorragten. Langsam und suchend ging sie bis ans Ende der Stra…e. Nirgends erblickte sie ein Lokal, in dem Negretzu und Jorga sich etwa getroffen haben konnten. Sie erblickte auch nirgends Wasser. In ihrer Vorstellung war Kanalstra…e gleichbedeutend mit Tatort gewesen; hier ‡ hatte sie gedacht ‡ war Jorga niedergeschlagen und ins Wasser geworfen worden. Aber es gab hier gar kein Wasser. Sie war entt€uscht. Sie stand am Ende der Stra…e und •berlegte. Ein alter Mann mit einer Marinem•tze kam schlurfend n€her. Er trug ein Einkaufsnetz, in dem vier leere Milchflaschen klirrten. ‚Entschuldigen Sieƒ, sagte Hilde. ‚K†nnen Sie mir sagen, ob es hier in der N€he irgendwo Wasser gibt?ƒ Der alte Mann sah sie mit schwimmenden Augen an. ‚Wasser? Was f•r Wasser denn?ƒ ‚Einen Kanal, denke ich, oder so was.ƒ ‚Hier nicht.ƒ Der Alte sch•ttelte den Kopf. ‚Da m•ssen Sie schon zum Hafen hinunter.ƒ ‚Nein, nicht Hafen.ƒ Es erschien ihr nicht glaubhaft, da… es m†glich sein sollte, im erleuchteten Hafen unbemerkt einen Menschen niederzuschlagen, ins Wasser zu werfen, wieder herauszuholen und fortzuschaffen. ‚Es mu… doch hier einen Kanal gebenƒ, sagte sie. ‚Warum hie…e die Stra…e denn Kanalstra…e?ƒ
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Der Alte lachte mit zahnlosem Mund und sagte kichernd: ‚Ei, den gibt es wohl, den Kanal. Sie k†nnen ihn blo… nicht sehen, junges Fr€ulein. Der ist da drunten.ƒ Er stie… ein paarmal mit dem Schuhabsatz auf den Boden. ‚Den haben sie •berdeckt. Im Jahre 89. Ichƒ, er deutete mit dem Daumen auf seine Brust, ‚ich bin hier noch Kahn gefahren als kleiner Junge.ƒ ‚Und es gibt keinen offenen Zugang zu dem Kanal?ƒ Der Alte sch•ttelte den Kopf. ‚Nein. Alles dicht.ƒ Hilde dankte und ging die Stra…e wieder zur•ck. Sie ging an der Mauer entlang und •berlegte, aus welchem Grunde wohl Negretzu Jorga gerade in die Kanalstra…e bestellt haben mochte. Wohnte er hier? Eines schien festzustehen: Jorga war nicht hier get†tet worden. Hilde blieb pl†tzlich stehen. Sie h†rte ein Rauschen und Fluten. Wasser‰ Sie ging ein paar Schritte weiter, und das Ger€usch wurde schw€cher. Sie machte kehrt, und das Ger€usch wurde st€rker. Es klang, als liefe Wasser •ber ein Wehr. Sie h†rte es deutlich. Das Ger€usch kam von jenseits der Mauer. Hilde blickte an der Mauer entlang, dann empor. Sie hatte keine Ahnung, was hinter der Mauer lag. Da erblickte sie die kleine Eisent•r mit der Aufschrift Eintritt verboten! Sie dr•ckte auf die Klinke, die T•r gab nach. Hilde blieb unter den B€umen stehen, die an der Innenseite der Mauer wuchsen, und sah sich um. Sie erblickte Schuppen und •berdachte Lagerpl€tze mit leeren Tonnen, Bretterstapel, verrostete Eisenrohre und allerhand Gest€nge. Vor ihr im •ppig sprie…enden Unkraut lag ein ausrangierter Dampfkessel. Sie h†rte das Rauschen des Wassers. In der Ferne Stimmen und die Ger€usche schwerer Lastwagen. Wo war sie? Neugierig ging sie weiter. Auf einmal stand sie an dem Abflu…kanal. Sie blickte auf das schmutzige, tr€ge Wasser
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hinab und bemerkte das Eisengitter vor der m€chtigen Zementr†hre, durch die das Wasser in die Kanalisation abflo…. Mit einem Schlag wurde ihr klar, da… sie den Tatort gefunden hatte! Das Eisengitter hatte Negretzu gezwungen, Jorga wieder aus dem Wasser zu holen und fortzubringen. Es mu…te ihm also gef€hrlicher erschienen sein, wenn der Tote hier im Wasser gefunden wurde als drau…en auf dem Gel€nde in Billorth. Warum aber? War Negretzu hier in der N€he? Ein Fr†steln •berlief sie. Sie wandte sich um. Weit und breit keine Menschenseele‰ Sie ging den Weg weiter, bis die Schuppen aufh†rten. Erstaunt blieb sie stehen. Sie befand sich im €u…ersten Winkel des Fabrikhofs der Marmara-Werke. Sekundenlang befiel sie ein Gef•hl wie Panik. Sie wu…te nicht, wie das kam. Sie dachte nicht. Ihr Hirn arbeitete selbst€ndig. Sie sah ein Bild vor sich, sah Marmara an jenem Gewitterabend auf der Terrasse, mit dem abwesenden, verlorenen Ausdruck, der ihn so fremd und undurchdringlich machte und dessen Ursprung sie nie hatte ergr•nden k†nnen. Der Gedanke von damals sprang wieder in ihr Bewu…tsein, es m•sse etwas Dunkles, Hintergr•ndiges in seinem Leben geben, •ber das er nicht hinwegkommen konnte ‡ Einen Moment stand sie wie erstarrt. Aber sogleich schaltete sie ihren wachen Verstand ein. Das Bild zerstob. Sie empfand es best•rzend, da… sie eines so abscheulichen Verdachts f€hig war, sie f•hlte Besch€mung und Unwillen. Entschlossen und entschieden machte sie kehrt‰ Am Rande des dunklen Wassers blieb sie wieder stehen und sah sich um. Spuren eines Kampfes waren auf dem schmutzigen Zementboden nicht zu erkennen. Sie stand und gr•belte. ‚Hier k†nnte es gewesen sein, nicht wahr?ƒ sagte eine Stimme dicht hinter ihr. Hilde fuhr herum.
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Dr. Frigge l€chelte. ‚Tag, Hildchenƒ, sagte er und klopfte ihr auf den Oberarm. Er sah vergn•gt und gutgelaunt aus. ‚Netter Zufall, da… wir uns hier treffen, was?ƒ Hilde starrte ihn fassungslos an. ‚Sie? Wie kommen Sie hierher?ƒ Er lachte. ‚Dasselbe k†nnte ich auch fragen. Wie kommen Sie hierher? Aber ich frage erst gar nicht. Sie w•rden mir ja doch nur ein haarstr€ubendes M€rchen erz€hlen. Ich mu… Ihnen gestehen, als ich vorn an der Kanalstra…e Ihren Wagen stehen sah, blieb mir einen Moment der Atem weg. Ich wu…te immer, da… Sie ein fixes Girl sind. Aber so etwas grenzt schon an Hexerei.ƒ Hildes Augen glitten schnell und forschend •ber sein Gesicht. Frigge machte einen durchaus freundlichen und gem•tlichen Eindruck. Sie war aber auf ihrer Hut. ‚Wenn Sie hier zu tun habenƒ, sagte sie argw†hnisch, ‚warum kommen Sie dann durch die Hintert•r herein?ƒ ‚Ochƒ, machte er leichthin und zog seine Parker-Pfeife hervor. ‚Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie Sie, nicht wahr? Um hier ungest†rt ein bi…l schn•ffeln zu k†nnen. Wissen Sieƒ, er durchpustete die Pfeife, holte den eleganten, wildledernen Tabaksbeutel aus der Tasche und begann die Pfeife zu stopfen, ‚ich finde, so alte Freunde wie wir beide sollten nicht umeinander herumschleichen wie die Katze um den hei…en Brei. Warum gegeneinander arbeiten, wenn wir genauso gut miteinander arbeiten k†nnen?ƒ ‚Ei, ei!ƒ Hilde bekam ihren sp†ttischen Blick. ‚Was f•r sanfte Schalmeienkl€nge auf einmal? Gestern haben Sie ganz andere T†ne angeschlagen.ƒ ‚Seien Sie nicht b†s, Hildeƒ, sagte er und sah sie mit so entwaffnender Herzlichkeit an, da… sie einen Augenblick schwankend wurde, ob sie ihm glauben sollte oder nicht. ‚Ich war nerv†s und schlecht gelaunt. Ich habˆ mir nachher Vorw•rfe gemacht, da… ich so unfreundlich zu Ihnen war. Ich
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m†chte nicht, da… unsere Freundschaft darunter leidet. Vergessen Sieˆs, bitte.ƒ Hilde machte eine nonchalante Handbewegung. ‚Schon vergessen. Ich frage mich nur, was dahintersteckt, wenn Sie soviel von alter Freundschaft reden. Sicher wollen Sie was von mir. Oder?ƒ ‚Ich von Ihnen? Nicht das geringste. Sehen Sieƒ, fuhr er fort und machte ein paar schnelle Z•ge aus seiner Pfeife, ‚die Dinge liegen doch so: Sie schinden sich ab, um schneller zu sein als ich, damit Sie Ihrem Sensationsbl€ttchen einen Rei…er bringen k†nnen. Das war schon einmal so ‡ ich meine den Taximord in Altona. Da haben Sie den M†rder vierundzwanzig Stunden fr•her entdeckt als ich.ƒ ‚Das liegt Ihnen heut noch im Magenƒ, sagte Hilde sp†ttisch. Frigge l€chelte milde. ‚Wie schlecht Sie mich kennen! Einen so kindischen Ehrgeiz habe ich nicht. Ich bin ja nicht aus der Zeitungsbranche. Mir ist es Wurst, wer zuerst den M†rder findet. Hauptsache, er wird •berhaupt gefunden. Ich schlage darum vor, wir arbeiten mitsammen. Sie sollen von mir aus Ihren Sensationsbericht haben. Ich •berlasse Ihnen den Ruhm und gebe Ihnen einen Vorsprung von vierundzwanzig Stunden f•r die Ver†ffentlichung. Ich w•rde sagen, das ist ein rechtschaffener Vorschlag.ƒ ‚Geradezu edelƒ, versetzte Hilde und machte ein ganz ernstes Gesicht. Dr. Frigge runzelte die Stirn und z†gerte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er: ‚Sie sind mi…trauisch, Hilde. Das bek•mmert mich.ƒ ‚Sie Šrmsterƒ, erwiderte sie und legte die Hand auf seinen Arm. ‚Wo Sieˆs doch so gut mit mir meinen, nicht wahr? Aber ich bin ja gar nicht gegen Ihren Vorschlag. Im Gegenteil. Arbeiten wir mitsammen. Fangen Sie gleich an. Also: Wie kommen Sie hierher?ƒ
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Er sah sie verbl•fft an, dann lachte er. ‚Das ist weiter kein Geheimnis. Jorgas Kleider und W€sche waren in einer charakteristischen Art verf€rbt und voller Flecken. Die chemische Analyse hat ergeben, da… nur die Abw€sser bestimmter Fabriken in Frage kommen ‡ im ganzen sind es f•nf Betriebe hier in der Stadt. Drei habe ich mir bereits angesehen, aber die kommen nach Lage der Dinge nicht in Frage. Dies hier ist der vierte.ƒ ‚Bleibt also noch einerƒ, sagte Hilde. Frigge nickte. ‚Den werde ich mir nat•rlich auch noch ansehen ‡ der Ordnung halber. Den richtigen habe ich aber bereits gefunden. Es ist dieser hier.ƒ Er deutete auf den Abflu…kanal. ‚Hier wurde Jorga get†tet.ƒ ‚Wieso wissen Sie das?ƒ fragte Hilde schnell. ‚Wieso?ƒ Dr. Frigge sah sie mit seinen blauen Augen unschuldig und etwas verwundert an. ‚Ihre Anwesenheit verr€t es mir doch.ƒ ‚Was hat das denn mit mir zu tun?ƒ rief Hilde und trat einen Schritt zur•ck. ‚Meine Anwesenheit hier beweist •berhaupt nichts. Sie wissen, da… ich mit Marmara befreundet bin. Ich gehe fast t€glich hier ein und aus ‡ƒ ‚Immer durch die Hintert•r?ƒ ‚Nein, nicht immer durch die Hintert•r. Nur manchmal. Wie ich gerade Lust habe, wissen Sie?ƒ ‚Ich versteheƒ, sagte er. ‚Da… Sie ausgerechnet an dem Wasser standen, das genau die Farbstoffe enth€lt, die auch in Jorgas Kleidern nachgewiesen wurden, das war also nur ein Zufall.ƒ ‚Genauƒ, sagte Hilde. ‚Ich kam hier vorbei und blieb einen Moment stehen, um mir den Kanal anzusehen. Er war mir fr•her nie aufgefallen, und ich wollte ihn mir einmal anschauen. Gerade in diesem Augenblick sind Sie aufgetaucht, und jetzt ziehen Sie die tollsten Schlu…folgerungen. Aberƒ,
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setzte sie schnell hinzu, ‚es ist alles abwegig, was Sie sich da zusammenkombinieren. Verlassen Sie sich darauf.ƒ Sie wu…te, da… er ihr kein Wort glaubte. Er sollte aber begreifen, da… sie ihm nicht in die Falle ging und auf seinen treuherzigen Vorschlag, mit ihm zusammenzuarbeiten, hereinfiel. Frigge lie… sich nichts anmerken. Er blieb gleicherma…en gelassen und wohlwollend. ‚Leicht m†glichƒ, sagte er achselzuckend. ‚Kombinationen sind h€ufig abwegig. Aber wissen Sie ein besseres Mittel, um auf den richtigen Weg zu kommen?ƒ ‚Vielleicht studieren Sie ein bi…chen im •Handbuch‘ von Professor Groszƒ, sagte Hilde sp†ttisch und streckte ihm die Hand hin, ‚da steht allerhand Interessantes drin f•r Kriminalisten und solche, die es werden wollen. Ich mu… jetzt gehen, Doktor. Leben Sie wohl.ƒ Aber er nahm ihre Hand nicht. ‚Ich gehˆ auch schonƒ, sagte er und hakte sich bei ihr unter. ‚Ich bin hier fertig.ƒ ‚Sie haben ja noch gar nicht angefangen.ƒ ‚Oh, mir gen•gt, was ich hier gefunden habe.ƒ Er lachte, w€hrend sie zum Ausgang gingen. ‚Viel ist es nicht, aber immerhin mehr, als ich erwartet habe. Zusammen mit dem, was Sie mir noch erz€hlen werden, ganz sch†n f•r den Anfang.ƒ ‚Wie kommen Sie auf die komische Idee, da… ich Ihnen was erz€hlen werde?ƒ Er †ffnete die kleine Eisent•r und lie… Hilde hindurch. ‚Das haben wir doch abgemachtƒ, sagte er ruhig. ‚Wir wollten zusammenarbeiten. Warˆs nicht so?ƒ ‚Sicherƒ, sagte Hilde. ‚Aber ich habe Ihnen nichts zu erz€hlen. Ich wei… nichts.ƒ ‚Schade.ƒ Arm in Arm gingen sie gem€chlich durch die Kanalstra…e und waren ein h•bsches Paar. ‚Wissen Sieƒ, sagte Dr. Frigge nach einer kleinen Pause, ‚ich habe meinen Beruf ganz gern. Manchmal macht er mir
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sogar m€chtig Spa…. Aber es kommt auch vor, da… ich ihn regelrecht hasse.ƒ ‚Kann ich verstehenƒ, antwortete Hilde langsam und mit schwebender Stimme. ‚Das geht wohl jedem Menschen so, wenn er einmal keinen Erfolg hat. Man ist verdrossen und verflucht seinen Beruf. Aber das sind nur Stimmungen. So was geht vorbei.ƒ Er merkte wohl den Spott, war aber weit davon entfernt, sich zu €rgern. Im Gegenteil, er lachte sogar. ‚So meine ich das nichtƒ, sagte er. ‚Žber Erfolg oder Mi…erfolg zerbreche ich mir nicht weiter den Kopf. Man tut, was man kann, und damit basta. Woran ich denke, wenn ich sage, da… man bisweilen seinen Beruf ha…t, ist etwas anders. Ich meine die F€lle, wo man gezwungen ist, Menschen, die einem lieb sind, hart anzufassen. Das ist bitter, Hilde. K†nnen Sie sich das vorstellen?ƒ Hilde zuckte die Achsel. ‚Neinƒ, sagte sie gleichg•ltig. Aber sie hatte ein unangenehmes Gef•hl. ‚Bitter f•r beide Teileƒ, fuhr er fort. ‚Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ich lasse Sie aufs Pr€sidium vorladen und zwinge Sie, alles auszusagen, was Sie •ber den Fall Jorga wissen ‡ƒ Hilde fuhr herum. ‚Dazu haben Sie kein Recht!ƒ ‚Doch, ich habe das Recht.ƒ ‚Aber zu einer Aussage k†nnen Sie mich nicht zwingen!ƒ ‚Ich kann Sie nicht mit Stahlruten pr•geln oder Ihre zarten H€ndchen mit gl•henden Eisen durchbohrenƒ, lachte er. ‚Aber ich k†nnte Ihnen ‡ zum Beispiel ‡ ein Verfahren wegen Beg•nstigung anh€ngen. Auch ganz sch†n, wie? Dann wandern Sie n€mlich ins Gef€ngnis.ƒ ‚Sie sind ungeheuer am•santƒ, sagte Hilde mit einem falschen, zuckers•…en L€cheln. ‚Ich k†nnte Ihnen stundenlang zuh†ren.ƒ ‚Wie ich Sie kenneƒ, fuhr Frigge behaglich fort, ‚w•rden Sie sicher eine prima Reportage draus machen. •Hilde Garden
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im Kittchen‘ ‡ gut, was? Die Auflage w•rde sofort um zehn Millionen steigen.ƒ ‚Sie haben beachtlich viel Phantasieƒ, lobte Hilde beif€llig. ‚Sie vergessen nur, da… dazu immer zwei geh†ren: einer, der Hilde Garden ins Kittchen steckt, und eine Hilde Garden, die sich ins Kittchen stecken l€…t. Ich denke, da… man den Tatbestand der Beg•nstigung erst nachweisen m•…te. Oder meinen Sie, da… das •berfl•ssige Formalit€ten sind?ƒ ‚Ach, das w€re eine Kleinigkeitƒ, sagte er obenhin. ‚Ich deichsle das schon irgendwie.ƒ ‚So? Interessant.ƒ Hilde l€chelte. ‚Wie, zum Beispiel?ƒ Er blieb einen Moment stehen. Hilde machte ihren Arm frei und blickte gespannt in sein Gesicht. Er zog an seiner Pfeife und blickte mit zusammengezogenen Brauen angestrengt zu Boden, gerade als w•rde er besonders scharf nachdenken. Es war eine scherzhafte Szene, aber sie machte Hilde nur wenig Spa…. Sie f•hlte sich beklommen und voller Unruhe. ‚Nun?ƒ fragte sie nerv†s. ‚Habˆs schon!ƒ Er strahlte sie vergn•gt an. ‚Ich w•rde Ihnen nachweisen, da… Sie der Polizei Kenntnisse vorenthalten, die m†glicherweise zur Aufkl€rung der Tat f•hren k†nnten.ƒ ‚Und zwar?ƒ ‚Zum Beispiel, da… Sie mit Jorga bekannt waren.ƒ Hildes Gesichtsmuskeln spannten sich. ‚War ich mit Jorga bekannt?ƒ Frigge lachte und klopfte Hilde freundschaftlich auf die Schulter. ‚Kleine Kom†diantin! Nat•rlich waren Sie mit Jorga bekannt. Er hat Sie ja noch eine Stunde vor seinem Ende angerufen. Wollte Ihnen eine wichtige Sache mitteilen. Ich fresse einen Besen, wenn Sie nicht wissen, was das f•r eine Sache war.ƒ Hilde pre…te die Lippen aufeinander und schwieg. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Sie f•hlte ihr Herz h€mmern und atmete tief.
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Frigges Augen blitzten heiter. ‚Eins zu Null f•r Doktor Frigge. Seien Sie fair, Hilde, und geben Sieˆs zu.ƒ Sie zwang sich zu einem d•nnen L€cheln. ‚Sch†nƒ, sagte sie etwas heiser. ‚Ich gebˆs zu. Eins zu Null f•r Doktor Frigge. Ich lege ein Gest€ndnis ab und sage Ihnen alles, was ich wei…. Jetzt bleibt mir ja nichts anderes mehr •brig. Aber ich warne Sie, erwarten Sie keine Sensationen.ƒ ‚Schie…en Sie los!ƒ ‚Also es ist wahr, ich kannte Jorga. Er war Maschinenmeister in der Fabrik meines Vaters in Rum€nien. Vor ein paar Tagen las er meinen Namen in einer alten Zeitung und hat sich bei mir gemeldet, um mir von meinem Vater zu erz€hlen. Ich wollte versuchen, ihm bei Marmara eine Stellung zu verschaffen, es kam aber nicht mehr dazu. Ich habe keine Ahnung, was er mir am Telephon mitteilen wollte. Eben darum ‡ um das zu erfahren ‡ fuhr ich gleich am n€chsten Morgen nach Billorth.ƒ ‚Immerhin wei… ich jetzt, wieso Sie so schnell am Tatort waren.ƒ ‚Kunstst•ck.ƒ Hilde schob die Unterlippe vor. Sie hatte sich wieder in der Gewalt und war mehr denn je entschlossen, ihm nichts Entscheidendes zu verraten. ‚Sie haben beim Telephonkundendienst herumgest†bert und den Zettel mit der Meldung von Jorgas Anruf gefunden. Auch eine Methode! Wenn die Polizei nicht weiterkommt, bespitzelt sie die Journalisten, von denen sie annimmt, da… sie mehr wissen.ƒ ‚Klarƒ, sagte Frigge treuherzig. ‚W•rden Sie doch auch machen, wenn Sie die Polizei w€ren.ƒ Hilde l€chelte. ‚Wenn Sie der Journalist w€ren, bestimmt!ƒ Sie gingen weiter zu Hildes Wagen. ‚Damit wei… ich aber noch immer nicht, wie Sie zum Tatort gefunden habenƒ, sagte Frigge. ‚Das habˆ ich Ihnen schon gesagt. Ich war bei Marmara.ƒ
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‚Ach ja, richtig. Sie waren bei Ihrem Freund Marmara und sind da zuf€llig vorbeigekommen. Sie bleiben bei der Story, ja?ƒ ‚Ich kann Ihnen leider keine bessere bieten.ƒ ‚Und das Tatmotiv kennen Sie nat•rlich auch nicht.ƒ ‚Woher sollte ich?ƒ Hilde †ffnete den Wagenschlag und stellte einen Fu… auf das Trittbrett. ‚Oder meinen Sie, Jorga hat mir vorsorglich angek•ndigt, wo, warum und von wem er ermordet werden w•rde?ƒ Frigge betrachtete sie nachdenklich und zerstreut. ‚Schlimm, schlimm,ƒ murmelte er vor sich hin. ‚Was ist denn schlimm?ƒ fragte sie spottend. ‚Da… nun nichts aus meiner Verhaftung wird? Oder haben Sie noch andere Beweise daf•r auf Lager, da… ich den T€ter durch Verschweigen wichtiger Umst€nde beg•nstige?ƒ ‚Leider nichtƒ, sagte er und machte ein bek•mmertes Gesicht. ‚Das ist ja das schlimme.ƒ ‚F•r wen?ƒ Er deutete mit dem Mundst•ck seiner Pfeife auf ihre Brust. ‚F•r Sie, nat•rlich.ƒ Hilde mu…te lachen. ‚Sie tun ja gerade, als h€tte i c h den armen Kerl umgebracht!ƒ ‚Dasƒ, sagte er und legte den Kopf bed€chtig auf die Seite, ‚glaube ich weniger.ƒ ‚Nicht m†glich!ƒ rief Hilde. ‚Sind Sie sicher?ƒ ‚So gut wieƒ, sagte er. ‚Schon aus dem einfachen Grunde, weil dieses hierƒ ‡ er deutete auf die Polsterung ihres Wagens ‡ ‚dann vermutlich etwas anders aussehen w•rde.ƒ ‚Wie denn?ƒ fragte Hilde verbl•fft. ‚Etwas buntgescheckt, w•rde ich sagen, bei all den Farbstoffen, die in Jorgas nassen Kleidern waren. Wie sollten Sie ihn denn nach Billorth geschafft haben?ƒ Hilde war einen Augenblick sprachlos.
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Frigge stand schlaksig da, paffte kleine W†lkchen und sah sie zutraulich an. ‚Seien Sie unbesorgtƒ, sagte er beg•tigend, ‚als T€ter kommen Sie nicht in Frage.ƒ ‚Nett von Ihnen, da… Sie mir das bescheinigenƒ, versetzte Hilde k•hl. ‚Immerhin hielten Sie es aber f•r notwendig, sich erst einmal davon zu •berzeugen. Gut zu wissen, was die sogenannten guten alten Freunde von einem denken.ƒ Frigge lachte echt und herzlich und legte den Arm um ihre Schulter. ‚Nun machen Sie aber einen Punkt, Hilde. Von uns beiden bin immer noch ich der ehrlichere Freund. Das wissen Sie genau.ƒ ‚Ich wei… nur, da… Sie mich dauernd bedrohen und einsperren lassen wollen. Sehr freundschaftlich ist das nun gerade nicht.ƒ ‚Doch, ist es. Ich will Sie warnen. Sie begeben sich in Gefahr, Hilde.ƒ ‚Ich? Wieso?ƒ ‚Weil Sie von dieser Sache mehr wissen, als Sie normalerweise als unbeteiligte Reporterin wissen k†nnen. Irgendwie sind Sie in den Fall hineinverwickelt. Im Moment kann ich Ihnen das nat•rlich nicht nachweisen. Aber sobald der T€ter gefa…t ist, wird es sich herausstellen, welche Rolle Sie in dieser Geschichte gespielt und welche Informationen Sie der Polizei bewu…t verheimlicht haben. Dann sitzen Sie drin.ƒ ‚Wo? Im Kittchen? Sie vergessen, da… die Polizei mich noch gar nichts gefragt hat. Was wir jetzt reden, ist ja nicht offiziell.ƒ ‚Und wenn ich Sie offiziell vorlade?ƒ ‚Dann erfahren Sie auch nicht mehr.ƒ Sie legte den Kopf etwas zur•ck und sah ihn durch die Wimpern belustigt an. ‚Was sollte ich Ihnen denn sagen? Ich wei… ja nichts.ƒ Ein paar Augenblicke schwiegen beide und l€chelten. Dann wurden Dr. Frigges Augen etwas schleierig, und er stie… einen kurzen Seufzer aus.
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‚Wirklich schade, da… Sie so einen ungl•ckseligen Beruf haben. Warum sind Sie nicht Zahn€rztin oder Turnlehrerin? Es w€re alles anders zwischen uns.ƒ ‚Meinen Sie?ƒ Er †ffnete schon den Mund, um zu antworten, aber die Art, wie Hilde ihn ansah, gefiel ihm nicht recht. Er f•rchtete, sich l€cherlich zu machen, und schluckte die Antwort, die er bereit hatte, hinunter. Statt dessen sagte er scherzhaft: ‚Na, ich wei… ja, ich hab bei Ihnen kein Gl•ck ‡ weder beruflich im Falle Jorga noch privat im Falle Frigge. Beides h†chst bedauerlich, aber was soll ich tun?ƒ Er streckte ihr die Hand entgegen. ‚Also, Hildchen. Machen Sieˆs gut. Sollten Sie mir wider Erwarten doch noch etwas mitzuteilen haben, Sie wissen ‡ Apparat 462 im Pr€sidium.ƒ W€hrend er zu seinem Wagen hin•berging, setzte sich Hilde in den ihren, lie… den Motor anspringen und schlug mit einem Knall die T•re zu. Frigge winkte noch einmal zur•ck, ehe er einstieg und davonfuhr. Hilde stoppte an der Stelle, wo Frigges Wagen gestanden war, stieg wieder aus und ging zur•ck in die Kanalstra…e. Sie mu…te mit Marmara reden. Als sie bei der Garage den Fabrikhof •berqueren wollte, kam gerade Frigges gr•ner Volkswagen durch das Hauptportal hereingefahren. Hilde duckte sich schnell hinter Marmaras Limousine, die vor der Garage stand. Sie wollte von Frigge nicht gesehen werden. Er fuhr in schwungvollem Bogen vor dem Verwaltungsgeb€ude vor, bremste scharf, sprang aus dem Wagen und verschwand im Innern des Geb€udes. Hilde setzte sich in den Fond von Marmaras Wagen, sie konnte von hier den Eingang des Verwaltungsgeb€udes gut im Auge behalten. Sie war w•tend, da… Frigge ihr zuvorgekommen war. Es hing nun alles von Marmara ab.
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Wenn er ihm die Geschichte von Negretzu und Jorga erz€hlt, dachte sie, dann bin ich geliefert. Dann kennt Frigge den T€ter und das Tatmotiv und braucht nur noch nach Negretzu zu suchen, der hier irgendwo unter einem andern Namen existieren mu…. Marmara besch€ftigt zw†lfhundert Menschen, darunter viele Ausl€nder. Einer davon mu… Negretzu sein. Wenn Frigge das wei…, kann ich einpacken‰ Sie z•ndete sich eine Zigarette an und gr•belte finster vor sich hin. Sie war brennend neugierig, zu erfahren, was Frigge bei Marmara ausrichten w•rde. Sie lie… seinen Wagen nicht aus dem Auge. Pl†tzlich fiel ein St•ck gl•hende Asche von ihrer Zigarette auf den Sitz. Sie erschrak und fegte es schnell fort. Fast h€tte sie ein zweites Loch in den Bezug gebrannt! Sie blickte herunter und fuhr mit der Hand •ber den schwarz-gelb getigerten Stoff. Verwundert hielt sie inne. Das pfenniggro…e Loch, das Marmara neulich in den Stoff gebrannt hatte, war verschwunden. Neu und makellos spannte sich der Bezug‰ Sie sa… wie versteinert. •hatte Frigge gesagt, •bei all den Farbstoffen, die in Jorgas nassen Kleidern waren.‚ Mit weiten, schreckerf•llten Augen starrte sie auf die Polsterung. Warum hat Marmara die Sitze neu beziehen lassen? Blitzartig fiel ihr nun auch die Halskette ein ‡ Marmara wollte sie von einem Unbekannten in Wien gekauft haben. War es die Wahrheit? Oder ‡ war ‡ Marmara ‡ selbst ‡ Negretzu ‡? Sie st†hnte auf. Mit einem Schlag war alles ver€ndert. Sie stand pl†tzlich vor einer v†llig neuen Situation. Es ging nicht mehr um eine Reportage f•r JETZT, nicht um ein spannendes Detektivspiel oder ein Wettrennen mit Dr. Frigge. Das war jetzt alles belanglos geworden. Jetzt ging es einzig um den furchtbaren Verdacht, der sich pl†tzlich in ihrem Hirn festgesetzt hatte. Das Merkw•rdige dabei war, da… es ihr vollkommen gewi… erschien, da…
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Marmara, der Mann, den sie liebte, nicht der M†rder Negretzu sein konnte! Aber doch war der Verdacht da, und sie wu…te auch, sie w•rde ihn nun nicht mehr loswerden. Jetzt erst recht mu…te sie Negretzu finden. Der ewige Zweifel, die st€ndige Ungewi…heit w•rden sonst nach und nach alles zerst†ren ‡ ihren Glauben an Marmara, ihr Vertrauen, ihre Liebe. Um jeden Preis mu…te sie Negretzu finden ‡! In dem hellwachen, wie im Fieber gesteigerten Zustand, in den sie pl†tzlich geraten war, wurde es ihr mit erschreckender Klarheit bewu…t, wie sehr sie an Marmara hing. Sie hatte ein Gef•hl, als w•rde ihr Herz stillstehen bei dem Gedanken, da… sie Marmara verlieren k†nnte. Sie liebte ihn, sie wollte ihn behalten. Aus ihrem Leben war Marmara nicht mehr fortzudenken, ihr Leben war ‡ Marmara. J€h fuhr sie hoch. Mit Schwung und Tempo rollte Dr. Frigges gr•ner Volkswagen •ber den Hof und fuhr heftig tutend durch das Portal davon. Im n€chsten Moment war Hilde aus Marmaras Wagen gesprungen und lief hastig hin•ber zum Verwaltungsgeb€ude. Marmara hatte gerade mit dem Diktat begonnen, als pl†tzlich die T•r aufflog und Hilde ins Zimmer kam. Die Sekret€rin blickte ungehalten von ihrem Block hoch und musterte Hilde k•hl. Hilde war ihr nicht besonders sympathisch, teils, weil sie blond, haupts€chlich aber, weil sie Marmaras Freundin war. Marmara hatte sich erstaunt erhoben. ‚Hallo, Hilde. Was ist los?ƒ ‚Ich mu… dich sprechen, Gregorƒ, sagte Hilde etwas atemlos. Einen Moment sah Marmara sie verwundert an. Es hatte sich nur selten ereignet, da… Hilde unangemeldet in sein B•ro gekommen war. Dann wandte er sich an die Sekret€rin: ‚Wir machen nachher weiter, Frau Knebel.ƒ
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‚Wie Sie w•nschen.ƒ Die Sekret€rin erhob sich und ging, sehr d•nn und sehr vornehm, aus dem Zimmer, ohne Hilde eines weiteren Blickes zu w•rdigen. ‚Was hast du Frigge gesagt?ƒ fragte Hilde, kaum da… sich die T•r geschlossen hatte. Marmara antwortete nicht sofort. Er sah Hilde pr•fend an, dann sagte er: ‚Setz dich doch.ƒ Sie winkte ungeduldig ab. ‚Ich mu… wissen, was du Frigge gesagt hast. Hast du von Negretzu gesprochen?ƒ ‚Von Negretzu?ƒ Eine hei…e Welle scho… in Marmara empor. ‚Wie kommst du darauf?ƒ Er stand hochaufgerichtet, sein Gesicht war gespannt und sehr beherrscht. Er sah, wie Hildes Augen gro… und brennend auf ihn gerichtet waren, und er setzte ruhig hinzu: ‚Wer ist Negretzu?ƒ Hilde starrte ihn an. War es m†glich, da… er selber Negretzu war und so dastand, so ruhig und gelassen, da… er sie freim•tig ansah und fragte: Wer ist Negretzu? Sie sagte: ‚Negretzu ist der Mann, den mein Vater 1944 mit Jorga zu mir geschickt hat. Ich hab dir die Geschichte doch erz€hlt.ƒ ‚Ach, diese Sache meinst duƒ, sagte Marmara. ‚Ja, jetzt erinnere ich mich. Aber warum h€tte ich zu Frigge davon reden sollen?ƒ ‚Dann ist alles gut.ƒ Aufatmend lie… sich Hilde in den Klubsessel fallen. ‚Hast du eine Zigarette?ƒ Er reichte ihr die Silberschatulle vom Schreibtisch und Feuer. W€hrend sie, leicht vorgeneigt, die Zigarette •ber die Flamme hielt, fiel ihr ein, da… eigentlich gar nichts gut war. Wenn Marmara zu Frigge nicht •ber Negretzu gesprochen hatte, so war es durchaus m†glich, da… er die Geschichte einfach vergessen hatte. Aber angenommen, er selber w€re
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Negretzu? Dann h€tte er doch erst recht allen Grund, von Negretzu zu schweigen‰ Mit einem halb zerqu€lten und ratlosen Blick sah Hilde zu Marmara empor. ‚Sag mir genau, was du mit Frigge gesprochen hast. Ich mu… es wissen.ƒ ‚Warum bist du so nerv†s und zerfahren?ƒ Er trat zu ihr und fuhr mit der Hand •ber ihr Haar. ‚Regt dich der Fall Jorga so auf? Du solltest lieber langsam anfangen, deine Koffer f•r Spanien zu packen. Frigge hat eine Theorie, und ich glaube, sie ist richtig. Es ist nur noch Routinearbeit der Polizei, den T€ter zu fassen. Aber eine interessante Reportage f•r deine Zeitung ist da wohl nicht drin. Du kannst den Fall ad acta legen.ƒ ‚Was f•r eine Theorie hat Frigge?ƒ Marmara begann im Zimmer auf und ab zu gehen. ‚Eigentlich ist sie von mir, aber er hat sie akzeptiert als die einzig wahrscheinliche. Du hast ihm gesagt, da… du mit mir wegen einer Stellung f•r Jorga gesprochen hast.ƒ ‚Das habe ich.ƒ ‚Nunƒ, fuhr Marmara fort, ‚da Jorga hier auf dem Gel€nde get†tet wurde ‡ was du inzwischen auch schon erfahren hast, wie Frigge mir sagte ‡, mu… man annehmen, da… er abends hierhergekommen ist, um sich den Betrieb anzuschauen. Er war nat•rlich neugierig und lebhaft interessiert, die Fabrik zu sehen, in der er demn€chst arbeiten w•rde. Man kann nun annehmen, es ist ihm hier jemand in die Arme gelaufen, mit dem er in Streit geriet. Entweder war das jemand aus Billorth ‡ du wei…t, es arbeiten viele Ausl€nder bei mir ‡, der etwas auf dem Kerbholz hatte und f•rchten mu…te, von dem sehr rechtschaffenen Jorga angezeigt zu werden, oder ‡ƒ Hilde machte eine ungeduldige Geste und sch•ttelte den Kopf: ‚Nicht aus Billorth, sondern ‡ƒ Marmara hob die Hand. ‚Moment, la… mich ausreden. Oder, sage ich, er stie… •berraschend auf Diebe, die im Begriff waren, hinten auf dem Lagerplatz Material zu stehlen. Daf•r
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w•rde sprechen, da… die Eisent•r offen war und die Leiche durch die Kanalstra…e fortgeschafft werden konnte, ohne da… der Pf†rtner am Haupteingang etwas davon merkte. Frigge •berpr•ft jetzt die Namenslisten von Billorth und die meiner Belegschaft, um erst einmal festzustellen, wer da in Frage k€me.ƒ ‚Alles Unsinn.ƒ Hilde sprang erregt auf. ‚Negretzu hat Jorga umgebracht, niemand anderer. Das steht au…er Frage.ƒ Marmara starrte Hilde an. Dann fuhr er sich schnell mit der Zunge •ber die Unterlippe. ‚Wie kommst du darauf?ƒ ‚Es ist so! Ich wei… es.ƒ Sie berichtete fahrig, was sie im Ausl€nderlager erfahren hatte. Dann setzte sie fort: ‚Er mu… einer von deinen Arbeitern oder Angestellten sein. Und auf irgendeine Weise ‡ wie, ist mir noch nicht klar ‡ erfahren haben, da… ich oder du seine alte Beziehung zu Jorga kennen. Er h€tte sonst die Leiche nicht weggeschafft.ƒ Marmara sah sie mit frostigen, fast feindseligen Augen an. ‚Versteh ich nicht. Was kombinierst du da?ƒ ‚Aber, Gregor, denk doch nach! Er hat Jorga get†tet, um zu verhindern, da… sein Verbrechen von 1944 bekannt wird. Nimm nun an, er h€tte ihn im Wasser liegen lassen. Man h€tte am n€chsten Tag festgestellt, da… es ein gewisser Jorga aus Billorth ist. Von dir ‡ auf jeden Fall aber von mir ‡ h€tte die Polizei dann erfahren, da… Jorga eine alte Feindschaft mit Negretzu hatte. Da er hier ermordet wurde, ist anzunehmen, da… Negretzu hier in der N€he sein mu…, und damit w€re man ihm auch schon auf der Spur gewesen. Das alles hat Negretzu bedacht. Darum hat er Jorga nach Billorth geschafft, um einen Lagermord vorzut€uschen. Er hat nicht damit gerechnet, da… man Farbstoffe in Jorgas Kleidern nachweisen w•rde.ƒ Marmara schwieg. Sein Gesicht verriet nichts von dem, was er dachte. Er atmete ruhig.
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‚Ich will nicht, da… du dich mit dieser Sache weiter besch€ftigst, Hilde. Was geht dich Negretzu an? K•mmere dich nicht um fremde Angelegenheiten.ƒ ‚Das sind keine fremden Angelegenheiten, Gregor! Ich mu… wissen, wer Negretzu ist! Ich mu… ihn finden!ƒ ‚Warum? Nur wegen der Reportage f•r die Zeitung?ƒ ‚Nein, nein ‡ƒ ‚Also warum?ƒ ‚Gregorƒ, sagte Hilde jetzt fest und ruhig, ‚dieser Mann Negretzu hat meinen Vater verraten, belogen und bestohlen, er hat Jorga schon einmal um ein Haar umgebracht, nur um seinen Raub in Sicherheit zu bringen, und nun hat er ihn tats€chlich get†tet. Diesen Mann soll ich laufen lassen? Das w€re zuviel der christlichen N€chstenliebe.ƒ ‚Ich sage nicht, du sollst ihn laufen lassen. Ich sage, du sollst es dem Frigge •berlassen, ihn zu finden.ƒ ‚Frigge findet ihn nie! Frigge hat keine Ahnung von Negretzu, kennt die Zusammenh€nge gar nicht. Ich bin die einzige, die wei…, wer der M†rder ist.ƒ Marmara fuhr pl†tzlich herum. ‚Und wer ist der M†rder?ƒ Er neigte sich weit vor und sah ihr mit zornigen Augen nahe ins Gesicht. ‚Was wei…t du? Negretzu! Wer ist Negretzu? Nichts wei…t du. Negretzu! Ein Name. Ein Phantom. Such ihn doch! Wirst keinen Negretzu finden! Aber Negretzu wird dich finden und dann ‡ƒ Hilde erschrak. Mit weitge†ffneten Augen blickte sie in Marmaras Gesicht, das ihr pl†tzlich Furcht einfl†…te. Unwillk•rlich wich sie einen Schritt zur•ck. Da war er aber schon bei ihr, griff mit beiden H€nden nach ihren Schultern, und merkw•rdigerweise empfand sie seine Ber•hrung jetzt beruhigend. ‚Merkst du denn nicht, in welcher Gefahr du bist?ƒ fuhr er leise und dringend fort. ‚La… doch die Finger von dieser Sache. Niemand wei…, wer Negretzu ist. Einzig Jorga hat es gewu…t.
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Jorga ist tot. Die Polizei wei… nichts. Nur du, du allein kannst Negretzu noch gef€hrlich werden. Glaubst du, Negretzu wei… das nicht? Er hat Jorga gefunden. Er wird auch dich finden. Hilde ‡ƒ Er lie… sie pl†tzlich los und wandte sich ersch†pft ab. Er fuhr sich mit beiden H€nden •ber Augen und Stirn. ‚La… uns doch wegfahren, Hilde. Ich beschw†re dich. Vergessen wir diese elende Geschichte. Es kann nur Unheil dabei herauskommen. Pack deine Koffer, wir fahren ‡ morgen schon, ja?ƒ ‚Neinƒ, sagte Hilde. ‚Himmel, warum nicht?ƒ Sie ging ans Fenster. ‚Du wei…t es doch.ƒ ‚Negretzu, Negretzu! Du hast nichts anderes im Kopf als Negretzu!ƒ Er hieb die Faust auf den Tisch, da… der Aschenbecher hochsprang und der Telephonapparat klirrte. Hilde fuhr herum. Marmara sah sie desperat und verzweifelt an. Sie las Angst in seinen Augen und hatte pl†tzlich das Gef•hl, als m•…te ihr Herz zerrei…en. Sie wu…te nicht, was sie tat. Sie lief zu ihm und umschlang ihn st•rmisch. Hemmungslos und ohne Besinnung k•…te sie ihn. Tr€nen schossen ihr in die Augen. ‚Gregor, Gregor ‡ƒ Was war das? Ein Vorgef•hl? Die bange Ahnung eines Endes voller Schrecken? Sie wu…te es nicht. Sie wu…te einzig, da… sie Marmara noch nie so geliebt hatte wie in diesem Augenblick. Sie umklammerte ihn, als m•…te sie ihn f•r ewige Zeiten festhalten. Er hielt die Augen geschlossen und pre…te ihren K†rper an sich. ‚Dragutza ‡ƒ Sie machte sich frei. Mit dem Handr•cken wischte sie die Tr€nen von ihrem Gesicht. Sie versuchte zu l€cheln.
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‚Wir fahren nach Spanienƒ, sagte sie auf rum€nisch. ‚Vielleicht schon morgen. Aber zuvor mu… ich ‡ƒ Sein Gesicht war hart. ‚Was mu…t du?ƒ Da brach es aus ihr hervor. ‚Ich h€tte keine ruhige Minute mehr, Gregor. Ich mu… Gewi…heit haben! Ich ertrage diesen Zweifel nicht l€nger! Ich mu…, ich mu… ‡ƒ Sie brach verst†rt ab. Zum erstenmal erkannte er jetzt vollkommen deutlich, da… sie einen Verdacht gegen ihn hatte. Er f•hlte sich eisig •berrieselt. Aber zugleich sah er auch, wie sehr sie selber unter dem Verdacht litt. ‚Lieblingƒ, sagte er z€rtlich. ‚Vergi… doch die unselige Geschichte! Zieh einen Strich darunter ‡ƒ ‚Wenn ich nur k†nnte!ƒ sagte sie gequ€lt. ‚Aber ich kann nicht.ƒ ‚Du kannst nicht?ƒ Er wandte sich verbittert ab. ‚Also gut. Was soll geschehen? Wie willst du Negretzu finden? Wie stellst du dir das vor?ƒ ‚Ich mu… die Personalkartei sehen.ƒ ‚Was hast du davon? Kannst du Negretzu da herausfinden? Du hast ja keine Anhaltspunkte.ƒ ‚Dochƒ, sagte Hilde. ‚Einige.ƒ Marmara drehte sich um und sah sie mit kalten, fremden Augen an. ‚Und zwar?ƒ ‚Erstens ist er Rum€ne. Zweitens kam er erst nach 1944 nach Deutschland. Drittens mu… er etwa f•nfunddrei…ig Jahre alt sein.ƒ Marmara zog etwas die Brauen hoch. ‚Wieso das?ƒ ‚Weil Jorga sagte, er sei einundzwanzig gewesen, als er 1940 in der Fabrik meines Vaters anfing. Seither sind vierzehn Jahre vergangen.ƒ ‚Šu…erst scharfsinnig.ƒ Marmara verzog sp†ttisch die Mundwinkel und ging zur T•r. ‚Aber du sollst deinen Willen
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haben.ƒ Er blieb auf der Schwelle stehen und sagte zu der Sekret€rin: ‚Frau Knebel, lassen Sie doch aus der Personalabteilung die Stammkarten s€mtlicher bei uns besch€ftigter Rum€nen kommen. Aber bitte sofort.ƒ Er schlo… die T•r wieder und ging schweigend auf dem Teppich auf und nieder. Hildes Augen folgten ihm. Nach einigen Minuten trat die Sekret€rin ein und reichte ihm einige schmale gelbe Karten, die mit Maschinenschrift beschrieben und an verschiedenen Stellen gelocht waren. ‚Dankeƒ, sagte Marmara, und die Sekret€rin ging wieder hinaus. Hilde war aufgesprungen und trat neben Marmara. ‚Acht St•ck im ganzenƒ, sagte er. ‚Du brauchst nur nach dem Alter zu sehen!ƒ rief Hilde ungeduldig. ‚Sch†n. 52 Jahre altƒ ‡ er warf die oberste Karte auf den Schreibtisch und lie… dann die andern schnell folgen ‡ ‚46 Jahre alt‰ 49 Jahre‰ 58‰ 34 ‡ƒ ‚Halt!ƒ rief Hilde. ‚Vierunddrei…ig! Wer ist das?ƒ Marmara las vor. ‚Patrascanu, Remus, Heizer. Geboren am 23. August 1920 in Calafat, Moldau ‡ƒ ‚Seit wann in Deutschland?ƒ Marmara drehte die Karte um: ‚Kam 1942 als Fremdarbeiter nach Deutschland.ƒ ‚Dann kann erˆs nicht sein. 1942 war Negretzu noch in Klausenburg. Weiter!ƒ Marmara warf die Karte zu den •brigen auf den Schreibtisch. ‚Es sind nur noch drei. Dobrescu, Ion, 62‰ Apostol, Vasile, 23‰ und Carol, der Chauffeur.ƒ Er warf auch diese Karten auf den Tisch. ‚Das ist alles. Mehr Rum€nen gibtˆs hier nicht.ƒ Er wandte Hilde sein Gesicht zu. ‚Und mich nat•rlich.ƒ Hilde senkte schnell und verwirrt den Blick. Pl†tzlich griff sie nach Carols Personalkarte.
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‚Jonescu, Carol, geboren am 3. M€rz 1919 in Konstanza ‡ƒ Verst†rt hob sie den Blick zu Marmara, dann drehte sie die Karte schnell um: ‚In Deutschland seit 1945 ‡ Gregor!ƒ Sie war bla… und erregt. Marmara starrte sie verwundert an. ‚Carol ‡?ƒ ‚H€ltst du das f•r m†glich, Gregor? Kann Carol ‡ Negretzu sein?ƒ Marmara zuckte nerv†s die Achseln. ‚Wie soll ich das wissen? Bei mir ist er seit 1950. Was er fr•her getan hat, oder wie er fr•her gehei…en hat, wei… ich nicht.ƒ Sie fa…te nach seinem Arm. Er sp•rte fest und hart den Griff ihrer Finger. ‚Du mu…t nachdenken, Gregorƒ, stie… sie aufgeregt hervor, ‚kann Carol nicht der Mann gewesen sein, von dem du in Wien die Halskette gekauft hast? Versuch doch, dich zu erinnern! Als er 1950 zu dir kam, ist er dir nicht irgendwie bekannt vorgekommen? Hast du nicht das Gef•hl gehabt, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben?ƒ ‚Ich‰ ich wei… nichtƒ, sagte Marmara ausweichend. ‚Wahrscheinlich hat er etwas anders ausgesehen. Es ist neun Jahre her. Er wird d•nner gewesen sein, beweglicher ‡ƒ ‚Ich kann mich wirklich nicht erinnern, Hilde.ƒ ‚Ist er intelligent?ƒ ‚Wie meinst du das?ƒ ‚H€ltst du es f•r m†glich, da… er Assistent meines Vaters gewesen sein kann?ƒ Marmara schwieg und •berlegte. Dann sagte er: ‚Sicherlich ist Carol intelligent. Aber wie viele Fl•chtlinge, die aus der Bahn geschleudert wurden, hat er keinen Schwung mehr, er ist stumpf und tr€ge geworden. Leicht m†glich, da… er mit einundzwanzig ein frischer junger Mann war.ƒ Hilde griff nach einer Zigarette. Ihre Wangen gl•hten. ‚Wei…t du noch, wie wir zum Jachtklub hinausfuhren? Er sa… am Steuer, als ich von Jorga und Negretzu erz€hlte. Ich sagte,
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da… Jorga in Billorth im Lager ist, und bat dich, ihm eine Stellung zu verschaffen. Ach, jetzt ist mir alles klar!ƒ Marmara r•hrte sich nicht und starrte sie fasziniert an. ‚Was ist dir klar?ƒ Seine Stimme klang ein wenig heiser. Hildes Augen gl€nzten vor Erregung. ‚Er wu…te, wenn Jorga in die Fabrik kommt, wird er ihn erkennen und L€rm schlagen. Er rief ihn darum noch am gleichen Abend an, lie… ihn in die Kanalstra…e kommen und brachte ihn um. So und nicht anders war es!ƒ rief sie triumphierend. ‚Jetzt brauche ich nur noch eins. Den Beweis, da… er Negretzu ist.ƒ Hildes Augen wurden schmal, sie sprach jetzt langsam und entschieden: ‚Pa… auf, Gregor. Schick Carol um neun Uhr mit dem Wagen zu mir. Er soll vor meinem Haus warten ‡ er soll so lange warten, bis ich komme. Verstehst du? Inzwischen kann ich mich in seiner Wohnung umsehen. Vielleicht gibt es Briefe, Papiere, Dokumente ‡ƒ ‚Schwerlichƒ, sagte Marmara. ‚Welcher Fl•chtling hat Dokumente? Soviel ich wei…, hat er einen Staatenlosenpa….ƒ ‚Ich mu… etwas finden, das beweist, da… er einmal Negretzu gehei…en hat! Und wenn es ein Monogramm in einem Taschentuch ist.ƒ Marmara stand gegen die Wand gelehnt, die H€nde in den Hosentaschen, und blickte vor sich hin auf den Teppich. Dann richtete er sich mit einem Ruck hoch. ‚Also gutƒ, sagte er. ‚Ich schicke Carol um neun mit dem Wagen zu dir.ƒ Hinter der Werkhalle III hatte Marmara f•r die Meister und Vorarbeiter eine kleine Siedlung bauen lassen. Sie bestand aus einer Reihe von zw†lf Zweifamilienh€usern mit kleinen Gem•seg€rtchen, einer Gr•nanlage und einem Kinderspielplatz. Carol bewohnte die eine H€lfte des letzten H€uschens der Reihe, in der andern H€lfte hauste der Pf†rtner N†teboom mit Frau und Kindern.
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Es war neun Uhr abends, ein d•nner Regen fiel. Die G€rtchen lagen verlassen. N†teboom hatte Nachtdienst, es brannte nur oben Licht, in der Mansarde. Hilde ging um das Haus herum. Hinten war ein kleiner gepflasterter Hof, von einem mannshohen Drahtgitter in zwei H€lften geteilt. In jeder H€lfte gingen eine T•r und ein Fenster auf den Hof. Hilde dr•ckte auf die Klinke, die T•r war verschlossen. Sie dr•ckte gegen den Fensterrahmen. Der eine Fl•gel gab nach und †ffnete sich nach innen. Das Fenster lag ziemlich hoch, sie mu…te sich auf die Fu…spitzen stellen, um hineinzusehen. Sie schob die Gardine aus d•nnem rosa Kreton etwas zur Seite und lugte in den Raum. Es schien die K•che zu sein. Sie blickte sich suchend auf dem Hof um, der nur schwach von der Stra…enbeleuchtung erhellt war, dann holte sie einen Zinkeimer und stellte ihn leise auf den Boden unter das Fenster, mit der Œffnung nach unten. Sie hielt sich am Fensterbrett fest, stieg auf den Eimer und †ffnete den Riegel des zweiten Fl•gels. Dann schwang sie sich hinein. Sie schlo… das Fenster, zog die Gardine wieder vor, dann machte sie Licht. Sie war ziemlich sicher, da… Carol um diese Zeit keinen Besuch bekommen w•rde. In der K•che befand sich nur ein elektrischer Herd, ein wei…lackierter Tisch mit zwei St•hlen und etwas Geschirr in dem eingebauten Wandschrank. Sie ging durch die Diele ins Zimmer. Auch hier waren die Gardinen vorgezogen. Sie schaltete das Licht ein. Das Zimmer war mit billigen neuen M†beln eingerichtet. Ein einziges Bild hing an der Wand, darunter brannte in einem roten Glas ein Ewiges Licht. Das Bild stellte einen jungen Burschen in Uniform dar, mit vielen Orden. Es war Michael, der letzte K†nig der Rum€nen.
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Hilde durchst†berte systematisch alle Schubladen, Schr€nke, Kasten und F€cher. Carol Jonescu war anscheinend ein ordnungsliebender Mann, bei dem jedes Ding seinen fixen Platz hatte. Sie fand ein gro…es gelbes Kuvert mit der Aufschrift ‚Personalpapiereƒ, aber au…er diesem Kuvert war nirgends mehr die Spur eines Personalpapieres zu erblicken, denn alle Dokumente befanden sich in dem gelben Umschlag. Sie fand St†…e von geb•ndelten alten Totoscheinen, mit Gummis zusammengehalten, aber sonst nirgendwo mehr einen Totoschein. So war es mit allem. Auf einer Fl•gelmappe las sie ‚Korrespondenz (privat)ƒ, auf einer andern ‚Korrespondenz (gesch€ftlich)ƒ. Sie •berflog alles rasch, aufmerksam und wach, immer auf dem Sprung, etwas zu entdecken. Jedoch alles zusammen ergab ‡ nichts. S€mtliche Personalpapiere stammten von alliierten und deutschen Beh†rden und waren nach 1945 auf den Namen Carol Jonescu ausgestellt. Alle Briefe (privat und gesch€ftlich) waren nach 1945 geschrieben worden. Der Name Negretzu kam nirgends vor. Die Privatbriefe stammten durchwegs von Rum€nen, mit denen Carol in den ersten Nachkriegsjahren in verschiedenen Lagern Freundschaft geschlossen hatte, die sogenannten gesch€ftlichen waren zumeist Zuschriften von Versandh€usern f•r elektrische Rasierapparate, Fremdsprachenbuchhandlungen und dergleichen. Hilde brauchte eine Stunde, um das alles zu durchst†bern. Dann l†schte sie die Lichter, stieg wieder aus dem Fenster, zog beide Fl•gel zu und stellte den Zinkeimer an seinen alten Platz. Sie ging zur•ck zur Fabrik und bat N†teboom, nach einem Taxi zu telephonieren. Dann fuhr sie bis in die N€he ihrer Wohnung, stieg einen Block vorher aus und ging den Rest zu Fu…. Vor ihrem Haus ging Marmara auf und ab. Der Wagen stand am Randstein, Carol d†ste hinter dem Steuer. ‚Du bist da?ƒ fragte Hilde verwundert.
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‚Ja, ich bin mitgekommenƒ, sagte Marmara unruhig. ‚Was ist los?ƒ ‚Schick ihn fort und komm mit „rauf. Wir m•ssen alles besprechen.ƒ Marmara ging zu Carol und sprach mit ihm. Dann kam er zu Hilde zur•ck, die das Haustor aufschlo…. Carol fuhr mit dem Wagen davon. ‚Also, was gibtˆs?ƒ fragte Marmara ungeduldig, als sie Hildes Zimmer betraten. ‚Hast du etwas gefunden?ƒ Hilde warf ihren Trenchcoat •ber eine Stuhllehne und zog die Handschuhe aus. ‚Was willst du trinken?ƒ ‚Nichtsƒ, sagte er nerv†s. ‚Oder doch. Einen Kognak. La… nur, ich nehme mir schon.ƒ Er ging zur Hausbar. ‚Mir auchƒ, sagte Hilde. Marmara nahm zwei Schwenkgl€ser und go… in jedes zwei Finger hoch Kognak. ‚Nicht soviel!ƒ rief Hilde. W€hrend er ihr das eine Glas reichte, f•hrte er das andere auch schon an den Mund, ohne Prost oder Cheerio. Er machte einen gehetzten Eindruck. Sein Blick flackerte. ‚Also rede schon!ƒ stie… er rauh hervor. ‚Was hast du gefunden?ƒ ‚Nichtsƒ, sagte Hilde. ‚Nichts, was darauf hinweisen w•rde, da… er Negretzu ist.ƒ ‚Klarƒ, sagte Marmara wegwerfend. ‚Das kann ich mir denken. Aber was hast du gefunden, das darauf hinweisen w•rde, da… er tats€chlich Carol Jonescu ist? Eine Legitimation von fr•her, eine Geburtsurkunde ‡ƒ ‚Nein, auch das nichtƒ, sagte Hilde. ‚Sein Leben beginnt 1945.ƒ Marmara f•hlte, wie die krampfhafte Spannung in ihm sich l†ste. Er griff abermals nach der Flasche und go… sich einen kr€ftigen Schluck in sein Glas. ‚Du bist also genau so klug wie zuvor. Du hast weder einen Beweis, da… er Negretzu ist, noch einen, da… er es nicht ist.ƒ
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‚Genauƒ, sagte Hilde. Sie setzte sich auf die Lehne eines Sessels und hielt das Glas auf ihrem Oberschenkel. ‚So komme ich nicht weiter, Gregor. Ich mu… von einer andern Seite an die Sache herangehen.ƒ ‚Von welcher?ƒ ‚Das wei… ich noch nicht.ƒ Er senkte die Augen auf sein Glas. Hilde st•rzte ihren Kognak hinunter, sprang auf und stellte das Glas auf den Tisch. ‚Hilf mir doch, Gregor!ƒ rief sie ratlos. ‚Wenn Carol es nicht ist, wer ‡ wer k€me denn sonst noch in Frage ‡ƒ ‚Niemandƒ, sagte Marmara ruhig. Ein paar Augenblicke schwiegen beide. Hilde begann im Zimmer ruhelos auf und ab zu gehen. Dann blieb sie vor Marmara stehen. ‚Es gibt nur eins. Ich mu… sein Alibi •berpr•fen. Es war der Tag, an dem wir im Jachtklub waren. Wir fuhren ohne ihn zur•ck. Wo war er da?ƒ ‚Keine Ahnung.ƒ ‚Hast du ihm freigegeben? Aus welchem Grund?ƒ ‚Er bat mich um einen freien Abendƒ, sagte Marmara. ‚Ohne Angabe von Gr•nden.ƒ ‚Kommt das †fters vor?ƒ ‚Nie.ƒ ‚Das ist aber doch sonderbar, Gregorƒ, rief Hilde. Marmara nickte nachdenklich. ‚Wenn ich mirˆs recht •berlegeƒ, sagte er langsam, ‚so hat er sich wirklich recht sonderbar benommen an dem Abend. So zerfahren‰ Und ziemlich desperat. Ich hab mir keine Gedanken dar•ber gemacht, ich dachte unwillk•rlich, es w€re irgendeine Sache mit einem M€dchen. Aber jetzt allerdings sieht das etwas anders aus.ƒ ‚Gregor, wir m•ssen es herausbekommen!ƒ sagte Hilde aufgeregt.
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‚Nat•rlich, wir m•ssen es herausbekommenƒ, wiederholte Marmara. ‚Ich denke, es ist am besten, ich rede mit ihm. Wir h†ren dann, wo er angibt, gewesen zu sein, und das werden wir dann •berpr•fen, ohne da… er noch Gelegenheit haben darf, sich ein Alibi einzurichten.ƒ ‚Nicht du rede mit ihmƒ, versetzte Hilde. ‚Ich tuˆs lieber selber. Ich mache das ganz en passant und gespr€chsweise, wei…t du? Ich la… mir irgendwas an meinem Wagen von ihm reparieren, so komme ich mit ihm ins Gespr€ch.ƒ Marmara stand im Zimmer und blickte auf seine F•…e. ‚Wie du meinstƒ, sagte er nach einer kleinen Pause. ‚Wann willst du es tun?ƒ ‚Gleich morgen fr•h.ƒ ‚Das ist gut. Um neun, ungef€hr. Da ist er in der Garage.ƒ Marmara hob den Blick, l€chelte Hilde an, dann ging er gelassen zur Hausbar und entkorkte die Kognakflasche. Sein Plan stand bereits fix und fertig in seinem Kopf. ‚Noch einen Drink, Dragutza?ƒ fragte er.
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Zehntes Kapitel MARMARAS PLAN Ein Ger€usch lie… Carol aus dem Schlaf emporschrecken. Er blinzelte nach dem Leuchtzifferblatt des Weckers. Es war zehn Minuten nach Mitternacht. Jemand klopfte an die Fensterscheibe. ‚Wer ist da?ƒ rief Carol und fuhr mit beiden F•…en aus dem Bett. Durch den offenen Fensterspalt h†rte er Marmaras leise Stimme: ‚Ich binˆs, Carol. Mach auf.ƒ ‚Ich komme, Herr Marmara.ƒ Carol knipste das Licht an und lief barfu… an die T•r. Er trug einen zerdr•ckten Schlafanzug aus gestreiftem Flanell. Marmara trat ein. Carol war nicht sonderlich •berrascht. Es kam †fters vor, da… Marmara ihn nachts f•r eine Žberlandfahrt holte. ‚Ich bin gleich fertig, Herr Marmaraƒ, sagte er. ‚Wo gehtˆs denn hin?ƒ Marmara sch•ttelte finster den Kopf. ‚Nirgends hin. Setz dich.ƒ Er deutete auf einen Stuhl. Carol setzte sich auf den Rand des Stuhls und legte seine breite, haarige Hand auf die Tischkante. Neugierig sah er zu Marmara empor, der zwei-, dreimal mit gesenktem Kopf in dem kleinen Raum auf und ab ging. Dann blieb Marmara an der L€ngsseite des Tisches stehen und st•tzte beide F€uste auf. Er wandte Carol das Gesicht zu und sah ihn eine Weile ernst und stumm an. Dann sagte er: ‚Du mu…t fort, Carol.ƒ Carols Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. Er †ffnete ein wenig die Lippen und sah Marmara mit runden, schwarzen Augen ohne Verst€ndnis an. ‚Ich mu… fort? Wohin?ƒ
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‚Ins Auslandƒ, sagte Marmara. ‚Du mu…t verschwinden. Und zwar so schnell wie m†glich.ƒ Carol zog die buschigen Brauen tief herab und fuhr sich mit der Hand unruhig durch das schlafwirre Haar. ‚Warum ‡?ƒ ‚Du bist in Gefahr. Frigge ist hinter dir her. Wegen der Sache mit Kocholl. Ich kann dich nicht l€nger decken. Du mu…t verschwinden.ƒ Carols Gesicht wurde wei…. Er starrte Marmara an. ‚Ja, aber ‡ wieso ‡ƒ ‚Wieso, wieso!ƒ Marmara richtete sich auf. Er sprach jetzt schnell und dr€ngend. ‚Du wirst so lange fragen, bis sie dich am Kragen packen! Ich habˆs soeben von Fr€ulein Schaunburg erfahren. Du wei…t, sie geht im Polizeipr€sidium ein und aus. Frigge hat herausbekommen, da… du dem Kocholl den Wohnungsplan aufgezeichnet hast. Morgen wird ein Haftbefehl gegen dich erlassen. Darum mu…t du noch heute nacht nach Holland.ƒ ‚Jesus Mariaƒ, st†hnte Carol. ‚Ich wei…, es ist bitter f•r dich, Carol. Aber besser so, als im Gef€ngnis.ƒ Marmara zog aus seiner Brusttasche ein B•ndel Geldscheine hervor. ‚Da sind tausend Mark, f•rs erste. Ich schick dir dann wieder Geld, wenn du welches brauchst.ƒ ‚Sie sind so gut zu mir, Herr Marmara.ƒ ‚Unsinnƒ, schnitt Marmara ihm das Wort ab. Ein fast verbissener Zug war jetzt in seinem Gesicht. ‚Ich bin nicht gut zu dir. Ich will nur nicht, da… man dich erwischt, verstehst du? Es hei…t dann gleich wieder: Da sieht man, diese Ausl€nder! Ich hasse das. Pa… jetzt gut auf, Carol, was ich dir sage.ƒ Carol sa… •berrumpelt da, Schwei… stand auf seiner Stirn. ‚Ja, Herr Marmara.ƒ ‚In Amsterdam gehst du sofort ins Hotel Biel und fragst nach Herrn Trajan. Wiederhole!ƒ ‚Ich gehe ins Hotel Biel und frage nach Herrn Trajan.ƒ
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‚Merk dir die Namen gut, aber schreib sie nicht auf. Trajan ist ein Landsmann. Er lebt seit vielen Jahren dort und hat die besten Beziehungen. Er wird dir einen falschen Pa… verschaffen. Sag ihm, da… ich dich schicke.ƒ Carol nickte verst†rt. Seine Augen schwammen. Marmara konnte den jammervollen Anblick nicht ertragen, er wandte sich ab. Um sein Mitgef•hl zu •bert†nen, schrie er Carol an: ‚Na, sitz nicht da wie vom Donner ger•hrt! Pack deine Sachen und nimm den erstbesten Zug zur Grenze. In einer halben Stunde bist du von hier fort, verstanden?ƒ Marmara reichte ihm die Hand. ‚Machˆs gut, Carol. Eine Zeitlang werden wir uns nicht sehen. Es mu… Gras •ber die Geschichte wachsen. Sp€ter kannst du vielleicht wieder zur•ck, das wird sich noch zeigen. Also Wiedersehen, Carol.ƒ Carol schluckte. ‚Auf Wiedersehen, Herr Marmara ‡ƒ An der T•r drehte sich Marmara noch einmal um. ‚Wenn du hinausgehst, sag dem N†teboom, du f€hrst auf Urlaub nach Bayern. Vergi… das nicht!ƒ Er winkte ihm zu und zog dann schnell die T•r hinter sich ins Schlo…. Einen Moment blieb Marmara vor dem Hause stehen und atmete tief die k•hle Nachtluft ein. Das also war getan‰ Mit langen Schritten ging er hin•ber zu seiner Villa. Ein Junge in braunem Overall spritzte mit einem langen Schlauch den Platz vor der Garage sauber, als Hildes azurblaues Kabriolett vorfuhr. ‚Morgen, Fr€ulein Schaunburg.ƒ ‚Morgen, J†rg.ƒ Hilde stieg aus und lie… den Wagenschlag offenstehen. ‚Ist Carol drin?ƒ Sie deutete auf die kleine Werkstatt neben der Garage. ‚Nein, ist nicht drin, Fr€ulein Schaunburg.ƒ ‚Wo steckt er denn?ƒ
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‚Hab ihn heut noch nicht gesehen. Soll ich Ihnen was helfen?ƒ Der Junge drehte den Wasserhahn am Strahlrohr ab und legte es schnell auf den Boden. ‚Nein, ich mu… Carol habenƒ, sagte Hilde. ‚Ist er ausgefahren?ƒ ‚Kaum.ƒ Der Junge deutete auf die Limousine. ‚Der Wagen ist da. Kann ich Ihnen nicht helfen?ƒ ‚La… nur, J†rg. Ich habe was mit ihm zu besprechen.ƒ Hilde ging quer •ber den Hof hin•ber zu der Arbeitersiedlung und klingelte an Carols Wohnung. Es r•hrte sich nichts. Sie klingelte abermals, lang anhaltend, wartete eine Weile und ging dann um das Haus herum auf den Hof. Eine dicke Frau mit zu kurzem Kleid und zu d•nnen Beinen war in der andern Hofh€lfte damit besch€ftigt, W€sche aufzuh€ngen. Hilde ging an die hintere T•r, die in Carols K•che f•hrte, und klopfte. Die dicke Frau, ein nasses W€schest•ck in der Hand, kam langsam an den Drahtzaun. ‚Wollen Sie zu Jonescu?ƒ Hilde sagte: ‚Ja. Ist er fortgegangen?ƒ ‚Er ist verreist. Auf Urlaub.ƒ Hilde machte runde Augen. ‚Auf Urlaub? Seit wann?ƒ ‚Heut nacht ist er weggefahren. Hat mich auch gewundert, als mein Mann mirˆs heut morgen sagte. Gestern abend sprach ich noch mit Jonescu, aber da hat er nichts von Urlaub erw€hnt. Nach Bayern ist er gefahren.ƒ In Hildes Kopf •berst•rzten sich die Gedanken. Sie gr•…te fahrig und ging hastig davon‰ Sie rannte die Treppen zu Marmaras B•ro empor und ri… atemlos die T•r auf. ‚Er ist geflohen!ƒ Marmara sa… am Schreibtisch und blickte erstaunt auf. Dann erhob er sich schnell und ging ihr entgegen. Sie stand in der offenen T•r, ihre Augen gl€nzten. Dann flog sie in seine Arme. Sie bebte vor Erregung.
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‚Gregor ‡ƒ, stie… sie zwischen Lachen und Schluchzen hervor. ‚Er ist Negretzu! Es steht jetzt fest! Er mu… gemerkt haben, da… seine Wohnung durchsucht wurde, und ist sofort auf und davon! Warum denn w€re er geflohen, wenn er nicht Negretzu ist? Ach, Gregor, ich bin so froh, so froh ‡ƒ Marmara hielt sie fest umschlungen und dr•ckte ihren Kopf gegen seine Brust. Seine Augen waren geschlossen, er brachte kein Wort hervor, weil er genau wu…te, woher das str†mende Gl•ck kam, das Hilde pl†tzlich •berw€ltigte. Dabei hatte er das Gef•hl, eine bleierne Last sei von ihm genommen. Die Gefahr war vor•ber‰ Wie erl†st und befreit von einem ungeheuren Druck, sahen sich beide an. Hildes H€nde glitten •ber sein Gesicht, und es erschien ihr unfa…bar, da… sie auch nur einen Augenblick hatte glauben k†nnen, Marmara sei Negretzu. Scham, Reue, Abbitte waren in ihrem Blick, und alles das erkannte Marmara. Er sah, wie sehr sie, diese k•hle und •berlegene Frau, das innere Gleichgewicht verloren hatte. Nur mit Schaudern konnte er daran denken, was sich abgespielt h€tte, w€re es ihm nicht gelungen, die gef€hrliche Wahrheit vor ihr zu verschleiern. Aber es w a r gelungen‰ Die finstere und unselige Geschichte hatte ein Ende gefunden. Frau Knebel steckte den Kopf zur T•r herein. Sie erblickte eine Szene, wie sie sie sonst nur im Kino zu sehen bekam, kurz bevor das Wort ENDE auf der Leinwand erschien und der Vorhang sich leise schnurrend schlo…. Frau Knebel fand diese stereotypen Happy-End-Szenen, in denen sich M€nner und Frauen mit Mund und Nase gegenseitig im Gesicht herumfuhren, schon im Kino ‡ obwohl sie dort ohne Zweifel hingeh†rten ‡ recht abgeschmackt. Im B•ro aber, am hellichten Vormittag, war so etwas einfach degoutant anzusehen. Frau Knebel r•mpfte die Nase, murmelte: ‚Wirklich allerhand!ƒ und knallte die T•r zu. Weder Marmara noch Hilde nahmen Notiz davon.
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Dies war der Samstag. Am Sonntag darauf schien herrlich die Sonne, und es war sch†n wie im Hochsommer. Sie fuhren mit dem Motorboot •Hildegard‘ zu ihrer versteckten Insel, leerten den Picknickkoffer, a…en kaltes Huhn, tranken eine Flasche Wein und streckten sich behaglich in der Mittagssonne aus. Es stand nun unwiderruflich fest, da… sie am Dienstag mit der PAA nach Spanien fliegen w•rden. Die Flugkarten waren bestellt. Es w€re auch schon Montag gegangen, aber dagegen hatte Marmara aus irgendeinem geheimen Grund Einspruch erhoben. Hilde wollte wissen, warum. Doch Marmara verriet nichts. Bis es dann Hilde einfiel, da… Montag ihr Geburtstag war. Da hatte sie gel€chelt und geschwiegen, und bald danach war sie eingeschlafen. Wei…e M†wen segelten am Himmel und raschelten im Strandhafer. Man h†rte das pl€tschernde Ger€usch der kleinen Wellen, die gegen das Motorboot schlugen. Von ferne kam das Tuten der Ausflugsdampfer. Hilde erwachte und legte die Hand auf Marmaras Brust. Er fa…te nach ihr und hielt sie fest. ‚Was ist, Dragutza?ƒ Sie r€kelte sich. ‚Ich wollte nur sehen, ob du noch da bist.ƒ ‚Nat•rlich bin ich noch da.ƒ ‚Dann ist es gut.ƒ Sie drehte sich zu ihm herum, st•tzte den Kopf in die Hand und sah zu, wie er ihre andere Hand zu seinem Gesicht emporzog und mit den Lippen spielerisch •ber ihre Finger fuhr. ‚Eigentlichƒ, sagte sie mit einem halbunterdr•ckten G€hnen, ‚eigentlich m•…te ich arbeiten.ƒ ‚Was denn arbeiten?ƒ ‚Den Bericht schreiben. F•r JETZT. In meinem Kopf ist er fix und fertig ‡ bis auf eine Sache. Die ist mir noch nicht klar.ƒ ‚Welche Sache?ƒ Marmara lie… ihre Hand los. Sie zog sie zur•ck. ‚Ich wei… noch nicht, wie er Jorga nach Billorth gebracht hat.ƒ
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‚Das wei… ich auch nicht. Ich wei… es nicht und es interessiert mich nicht. Um Himmels willen, Hildeƒ, rief er, ‚ich will von dieser Geschichte nichts mehr h†ren. Mach doch endlich Schlu…!ƒ ‚Ja, jaƒ, sagte sie bes€nftigend. ‚Ich machˆ Schlu…. Aber sag mir noch schnell eins: Ist es m†glich, da… er Jorga in deinem Wagen hinausgeschafft hat?ƒ Marmara zuckte €rgerlich die Achseln. ‚Wie soll ich das wissen? Vielleicht. Vielleicht nicht.ƒ Hilde sann einen Augenblick nach. Dann fragte sie: ‚Gibt es Tage, an denen du den Wagen •berhaupt nicht ben•tzt?ƒ ‚Gewi… gibt es solche Tage.ƒ ‚Und kann man innerhalb eines einzigen Tages die Polsterung eines Wagens neu •berziehen?ƒ Marmaras Gesichtsmuskeln spannten sich. Er wurde wachsam. Scharf •berlegte er seine Antwort. ‚Das kann man, ja. Warum fragst du?ƒ ‚Wenn er Jorga in deinem Wagen weggebracht hat, dann war der Stoff durch die Farben verdorben. Er k†nnte ihn neu beziehen haben lassen, falls du den Wagen am n€chsten Tag nicht benutzt hast.ƒ ‚Und wie h€tte er vorher wissen sollen, ob ich den Wagen benutzen werde?ƒ ‚Vielleicht hat er sich eine Ausrede zurechtgelegt f•r den Fall, da… du den Wagen verlangst. Ich mu… morgen in den Spezialwerkst€tten nachfragen.ƒ ‚Vollkommen sinnlosƒ, sagte Marmara. ‚Gar nicht sinnlos. Der Wagen hat tats€chlich neue Bez•ge bekommen, Gregor. Hast du das nicht bemerkt?ƒ Einen Moment hielt Marmara den Atem an. Dann aber lachte er auf. ‚Ach, du kleiner Sherlock Holmes! Wenn ich dir doch sage, es ist sinnlos, warum glaubst du mir nicht? Ich selbst habe den Wagen in die Werkstatt gefahren und die Sitze neu •berziehen lassen. Von Farbflecken war keine Spur. Mich
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hat blo… dieses dumme Loch gest†rt, das ich hineingebrannt habe.ƒ Hilde machte gro…e, entt€uschte Augen. ‚Warum sagst du das nicht gleich?ƒ ‚Ich wollte dich ein bi…chen kombinieren lassen. H†r einmal zu, Dragutza. Carol hatte so viele M†glichkeiten, Jorga fortzuschaffen, da… es ganz m•…ig ist, dar•ber nachzudenken. Er konnte sich einen beliebigen LKW schnappen, die sind so mit Farben verschmiert, da… es auf ein bi…chen mehr oder weniger gar nicht ankommt, und ‡ƒ ‚Moment! Das m•…te N†teboom dann aber doch wissen, ob nachts ein LKW die Fabrik verlassen hat?ƒ Marmara fragte gereizt: ‚Woher wei…t du, da… N†teboom in dieser Nacht Dienst hatte?ƒ ‚Ich wei… es nicht. Ich meine, N†teboom oder wer eben Nachtdienst hatte.ƒ ‚Er h€tte ja auch bis sechs Uhr fr•h warten k†nnen, da fahren die LKW ein und aus. Aber auch mit meinem Wagen w€re es m†glich gewesen, er brauchte den Toten nur in eine Zeltbahn einzuwickeln. Ich will damit sagen, es gibt viele M†glichkeiten. Zerbrich dir nicht weiter den Kopf dar•ber.ƒ Hilde setzte sich hoch und umschlang die Knie mit den Armen. ‚Alles richtigƒ, sagte sie nach einer kleinen Weile. ‚Aber es ist eine L•cke. Ich kann nat•rlich dar•ber hinwegzaubern. W€re aber keine saubere Arbeit. Eine Reportage mu… hieb- und stichfest und l•ckenlos sein. Sonst habˆ ich keine Freude dran.ƒ ‚Dragutzaƒ, sagte Marmara und legte die Hand auf ihre Knie. ‚La… doch diese ganze Reportage bleiben.ƒ Hilde wandte schnell den Kopf herum. ‚Weshalb? Das kann ich nicht. Ich habˆs dem Kopp versprochen.ƒ ‚Ich m†chte nicht, da… vor aller Œffentlichkeit meine Fabrik als Schauplatz dunkler Verbrechen hingestellt wirdƒ, sagte Marmara. Es war ihm pl†tzlich durch den Kopf geschossen,
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da… Carol sich melden k†nnte, wenn er aus der Zeitung erfuhr, da… er eines Mordes beschuldigt werde, den er gar nicht beging. ‚Die Zeitung wird im In- und Ausland gelesen. So eine Geschichte ist keine Reklame f•r mich. Ich bitte dich, Hilde, la… es bleiben. Mir zuliebe.ƒ Sie •berlegte nur einen Moment. Dann sagte sie: ‚Ich sehˆ es ein, Gregor. Entschuldige, da… ich nicht selber daran gedacht habe. Du hast nat•rlich recht. Ich werde diese Reportage nicht schreiben. Es w€re wirklich nicht gut f•r den Ruf deiner Firma.ƒ Er sah sie von der Seite an. ‚Gro…es Opfer f•r dich?ƒ Hilde lachte und warf den Kopf zur•ck. ‚Eine tolle Sache w€re das schon gewesen, wei…t du. So was gelingt einem alle Jubeljahre einmal. Wenn Kopp w•…te, da… ich alles beisammen habe und nur aus ‡ aus •privaten Gr•nden‘ die Reportage fallenlasse, ich glaube, er schnappt •ber.ƒ ‚Dragutzaƒ, sagte Marmara und griff wieder nach ihrer Hand. Er neigte sich vor und sah sie ernst und dringend an. ‚Wie lange willst du das noch machen?ƒ ‚Was?ƒ ‚Diese Journalisterei.ƒ ‚Bis ich eine Dorothy Thompson geworden bin. Also ungef€hr noch zehn Jahre. Wenn ichˆs bis dahin nicht geschafft habe, ziehˆ ich mich in die Redaktion zur•ck und mach nur noch die R€tselecke.ƒ Er sagte unvermittelt: ‚Wir sollten heiraten, Hilde.ƒ ‚Heiraten?ƒ Sie war •berrascht. ‚Warum?ƒ ‚Warum‰ Eine Frage! Warum heiratet man?ƒ Hilde ri… einen Halm aus und nahm ihn in den Mund. ‚Glaubst du, da… ich eine Frau zum Heiraten bin?ƒ ‚Nat•rlich bist du eine Frau zum Heiraten.ƒ Hilde, beide Arme auf den hochgezogenen Knien, nagte an dem Halm und blickte geradeaus •ber das schimmernde, leichtbewegte Wasser. Sie l€chelte. ‚Ich als Hausfrau! Viermal
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die Woche g€bˆs R•hrei mit Bratkartoffeln und an den andern Tagen Spiegeleier mit Salzkartoffeln. Schon beim Spinat sehe ich ernste Schwierigkeiten. Nach vier Wochen w•rde mein armer Mann fluchtartig ins Hotel ziehen.ƒ ‚Ich will keine K†chin heiraten, sondern dich.ƒ ‚Und mein Beruf?ƒ ‚Wenn du meine Frau bist, brauchst du keinen Beruf. Kannst du nicht leben ohne deine dumme Zeitung?ƒ Etwas verwundert zog sie die Augenbrauen hoch. Dann streckte sie sich lang aus und legte beide H€nde unter ihren Nacken. ‚Das sagst du so, meine dumme Zeitung‰ Vielleicht kann ich wirklich nicht ohne sie leben. Zumindest, ich kannˆs mir noch nicht recht vorstellen. K†nntest du denn ohne deinen Beruf leben?ƒ ‚Das ist etwas anderes. Ich bin ein Mann. Aber du, wenn du mit mir verheiratet bist ‡ dein Beruf ist es dann eben, Frau Marmara zu sein. Sonst nichts.ƒ Er lie… sich neben sie in den warmen Sand fallen und neigte sein Gesicht •ber das ihre. ‚Gen•gt dir das nicht?ƒ Sie l€chelte ihn an. ‚D u gen•gst mir‰ Alles andere ist nicht wichtig.ƒ ‚Ach, Hildeƒ, sagte er ungeduldig, ‚weich doch nicht immer aus. Sag, wollen wir heiraten?ƒ Ihr Blick glitt •ber sein Gesicht hin, ihre Lippen waren ge†ffnet. Sie bewegte die schmalen, glatten Glieder in dem t•rkisfarbenen Badeanzug, zog die eine Hand unter ihrem Nacken hervor und fuhr ihm mit den langen, d•nnen Fingern ins Haar. ‚Mu…t du das jetzt, sofort, in dieser Minute, wissen?ƒ ‚Ja. Jetzt, sofort, in dieser Minute.ƒ Er f•hlte, wie ihre Finger sich langsam kr•mmten und immer fester in sein Haar griffen. Sie zog seinen Kopf zu sich herab. Ihre Augen glitzerten.
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‚Ich tu alles, was du willstƒ, fl•sterte sie, ‚alles ‡ƒ ‚Dragutza!ƒ Er schlang die Arme um sie und pre…te seinen Mund auf ihre hei…en Lippen‰
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Letztes Kapitel NUR AUF BEWEISE KOMMT ES AN‰ ‚Tag, Herr Kriminalrat. Wie geht das Gesch€ft? Wieder ein paar M†rder gefangen?ƒ Es war Montag, 16 Uhr 38. Hilde betrat das Zimmer Dr. Frigges im Polizeipr€sidium. Sie war strahlender Laune und streckte ihm schon an der T•r die Hand entgegen. ‚Nanu, Hilde Garden!ƒ Er erhob sich erfreut, sch•ttelte herzlich ihre Hand und f•hrte sie zu dem Besucherstuhl. ‚Vielen Dank f•r die Nachfrage. Das Gesch€ft bl•ht und gedeiht.ƒ Er nahm ein P€ckchen Zigaretten vom Tisch und hielt es ihr hin. ‚Pfeifchen gef€llig?ƒ ‚Danke, ja.ƒ Sie nahm eine Zigarette, und er reichte ihr Feuer. ‚Ich freue mich jedesmal, wenn ich Sie seheƒ, sagte er und blickte sie l€chelnd an, w€hrend das Z•ndholz zwischen seinen Fingern noch brannte. ‚Leider habˆ ich viel zu selten Gelegenheit dazu.ƒ Er blies die Streichholzflamme aus und setzte sich auf seinen Platz. Hilde sagte nichts. Sie sah ihn unverwandt an, l€chelte geheimnisvoll und stie… kleine Rauchw†lkchen hervor. So vergingen ein paar Augenblicke. Keiner sprach. Endlich sagte Hilde: ‚Jetzt m†chten Sie gern wissen, warum ich gekommen bin, was?ƒ ‚Meinetwegen k†nnen Sie noch stundenlang Sphinx spielen. Ich platze vor Neugier, aber ich frage nicht. Sie sollen sehen, ein deutscher Kriminalrat kann sich beherrschen.ƒ Hilde lehnte sich zur•ck und schlug die Beine •bereinander. ‚Also sch†n. Ich will Sie nicht l€nger auf die Folter spannen. Ich bringe Ihnen den M†rder Jorgas.ƒ
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Frigge machte ein verbl•fftes Gesicht. ‚Was?ƒ ‚Es ist so. Ich bringe Ihnen den M†rder Jorgas. Sie brauchen nur noch einen Fahndungsbefehl hinauszuschicken und ihn verhaften zu lassen.ƒ Frigge neigte sich vor und fragte schnell: ‚Wer ist es?ƒ Hilde streckte die Hand aus und klopfte gem€chlich die Asche ihrer Zigarette in den Papierkorb. Sie lie… sich mit der Antwort Zeit. Dann sagte sie: ‚Carol Jonescu‰ Marmaras Chauffeur.ƒ Frigge r•hrte sich nicht. Mit weitge†ffneten Augen starrte er Hilde an, aber allm€hlich wurde sein Blick leer und abwesend. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Seine Miene war jetzt vollkommen undurchdringlich. Fast leise fragte er: ‚Und warum hat er nach Ihrer Meinung Jorga umgebracht?ƒ ‚Aus Furcht vor Entdeckung.ƒ Hilde z†gerte einen Moment, dann wandte sie ihm offen das Gesicht zu und sagte freim•tig: ‚Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erz€hlen, Doktor. Diesmal wirklich wahrheitsgem€… und absolut ehrlich. Sie m•ssen wissen, ich bin an der Sache nicht mehr interessiert. Ich schreibe die Reportage nicht. Ich schreibe wahrscheinlich •berhaupt keine Reportagen mehr ‡ aber das steht auf einem andern Blatt. H†ren Sie zu.ƒ Sie erz€hlte ihm alles •ber Jorga und Negretzu. Dr. Frigge sa… zusammengesunken in seinem Sessel und sah sie unter halbgesenkten Lidern hervor an. ‚Worin erblicken Sie nun eigentlich den Beweis, da… Carol Jonescu tats€chlich mit Negretzu identisch ist?ƒ fragte er, als sie mit ihrer Geschichte fertig war. ‚Erstens in seiner Flucht. Er mu… gemerkt haben, da… seine Wohnung durchsucht wurde, und hat sich noch in der gleichen Nacht auf die Socken gemacht.ƒ ‚Und zweitens?ƒ ‚Zweitensƒ, sagte Hilde und hielt ihre Hand mit der Innenfl€che nach oben, •ber den Schreibtisch, ‚weil er der
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einzige Rum€ne dieser Altersklasse ist, der erst nach 1944 nach Deutschland gekommen ist.ƒ ‚Der einzige?ƒ Dr. Frigge stand auf und ging, ohne den Blick von ihr zu wenden, zur T•r. ‚Der einzigeƒ, sagte Hilde. ‚So, so.ƒ ‚Gen•gt Ihnen das nicht, um einen Fahndungsbefehl zu erlassen?ƒ Frigge streckte den Kopf zur T•r hinaus und sprach einige Worte zu Kriminalassistent Borchard, der im Zimmer nebenan sa…. Dann kam er zur•ck. ‚Fahndungsbefehl, sagen Sie? Nein, Hilde, ich glaube nicht, da… ich irgend so was erlassen werde.ƒ Er setzte sich wieder auf seinen Platz und suchte unter einem Stapel verschiedenfarbiger Aktendeckel eine Mappe hervor. Sein Verhalten kam Hilde ungereimt vor. Sie hatte pl†tzlich den Verdacht, da… er ihr nicht glaubte, da… er irgendeinen t•ckischen Schachzug vermutete. ‚Ich schw†re Ihnen, Doktor, ich spreche die Wahrheitƒ, sagte sie. ‚Sie m•ssen mir glauben.ƒ ‚Aber ich glaube Ihnen doch!ƒ beteuerte er. ‚Ausnahmsweise einmal glaube ich Ihnen jedes Wort.ƒ ‚Warum tun Sie dann nichts?ƒ rief Hilde. ‚Wollen Sie einen M†rder frei herumlaufen lassen? Sie m•ssen doch etwas tun!ƒ Er sah sie beil€ufig an und l€chelte zerstreut. ‚Meinen Sie?ƒ Indem ging die T•r auf und Frigge blickte dem Eintretenden entgegen. Auch Hilde wandte den Kopf. Kriminalassistent Borchard stand im T•rrahmen und sagte: ‚Da ist er, Herr Kriminalrat.ƒ Er trat einen Schritt zur Seite und lie… einen Mann an sich vorbei ins Zimmer. Der Mann war Carol. Sein Blick fiel sogleich auf Hilde. Er wurde kreidewei… im Gesicht und sch€mte sich in Grund und Boden. ‚Guten Tag, Fr€ulein Schaunburgƒ, sagte er fast tonlos.
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Hilde war so verwundert, da… sie den Gru… gar nicht bemerkte. ‚Alle Achtungƒ, stie… sie hervor und sah zum erstenmal in ihrem Leben den Kriminalrat Frigge wirklich bewundernd an. ‚Das ist ganze Arbeit.ƒ Frigge tat, als h€tte er nichts geh†rt. Er wandte sich Carol zu und sagte: ‚Ich habˆ noch ein paar Fragen, Jonescu, bevor Sie ins Untersuchungsgef€ngnis •bersiedeln. Borchard, geben Sie ihm einen Stuhl.ƒ Der Kriminalassistent nahm einen der drei St•hle, die an der Wand standen, und zog ihn •ber den Boden bis an die Schmalseite des Schreibtisches. Mit einer m•rrischen Kopfbewegung bedeutete er Carol, sich zu setzen. ‚H†ren Sie zu, Jonescuƒ, sagte Dr. Frigge in der aufmunternden Art, in der er seine Verh†re zu f•hren pflegte. ‚An dem Tag, an dem Sie Herrn Marmara gebeten haben, Ihnen freizugeben ‡ wo haben Sie den Abend und die Nacht verbracht?ƒ Carol rutschte unruhig auf dem Stuhl, er sa… wie auf Nadeln, schielte in Hildes Richtung, wagte es aber nicht, sie anzusehen. ‚Ich habe schon alles gesagt, Herr Kriminalratƒ, antwortete Carol mit unsicherer Stimme. ‚Es ist die Wahrheit ‡ƒ ‚Ich wei…, ich wei…ƒ, sagte Frigge. ‚Ich m†chte der Ordnung halber den Sachverhalt nur noch einmal klarstellen, damitƒ ‡ er warf einen schnellen Blick auf Hilde ‡ ‚damit keinerlei Zweifel entstehen. Sie waren also in Elmshorn bei der Verlobung Ihres Freundes Franul Tatarescu. Mit welchem Zug sind Sie nach Elmshorn gefahren?ƒ ‚Mit dem Zug um 18 Uhr 50.ƒ ‚Haben Sie eine R•ckfahrkarte genommen?ƒ ‚Ja, Herr Kriminalrat.ƒ ‚Ist es diese da?ƒ Frigge hatte den Akt aufgeschlagen und eine braune Eisenbahnfahrkarte herausgenommen, die er zwischen zwei Fingern hochhielt. Carol nickte, und Frigge reichte Hilde die Fahrkarte, die, da sie eine R•ckfahrkarte war,
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ordnungsgem€… Carols Unterschrift trug. ‚Am n€chsten Morgen haben Sie sie bei Ihrer R•ckkehr an der Sperre abgegeben. Wir haben sie aus etlichen Tausenden herausgefischt. Und hierƒ, fuhr Frigge fort und zog eine Photographie in Postkartengr†…e hervor, ‚hier ist eine Aufnahme von der Verlobungsfeier. Der Photograph Raatgen in Elmshorn bezeugt, da… er die Aufnahme etwa um Mitternacht gemacht hat. Der Mann ganz rechts, der eine Sektflasche auf dem Kopf balanciert, das sind Sie, ja?ƒ Carol nickte verlegen. ‚Er ist es unzweifelhaftƒ, sagte Frigge und reichte Hilde auch die Photographie. ‚Und jetztƒ, fuhr Frigge zu Carol gewandt fort, ‚k†nnen Sie wieder gehen, Jonescu. Wir beide sind miteinander fertig und werden hoffentlich nie wieder miteinander zu tun haben.ƒ Carol machte eine linkische Verbeugung zu Frigge und zu Hilde, dann ging er mit Borchard hinaus. Hilde sa… wie gel€hmt und starrte immer noch auf das Gruppenbild von der Verlobung in Elmshorn. Frigge stopfte sich eine Pfeife und warf zwischendurch lange, pr•fende Blicke auf Hilde. ‚Tjaƒ, sagte er. ‚So sieht die Sache aus, meine Liebe. Ist eben doch nicht so leicht, Verbrechen aufzukl€ren, wie f•rwitzige Journalistengirls sich das manchmal vorstellen.ƒ Er sagte es aber ohne rechte Freude an seinem Triumph. Es gefiel ihm nicht, wie Hilde die Sache aufnahm. Sie schien v†llig niedergeschmettert. In sachlichem Ton fuhr er fort: ‚Glauben Sie mir, Hilde, auch ich hatte sofort, als wir ihn festnahmen, den Verdacht, er k†nnte mit Jorgas Tod etwas zu schaffen haben. Ich h€tte sonst nicht unverz•glich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sein Alibi f•r den Abend zu •berpr•fen. Das Alibi ist hundertprozentig. Sie konnten sich selbst davon •berzeugen.ƒ
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Hilde hob den Kopf und sah ihn mit verst†rten Augen an. ‚Ich begreife das alles nichtƒ, sagte sie ratlos. ‚Wenn es feststeht, da… er Jorga nicht umgebracht hat, warum mu… er dann ins Untersuchungsgef€ngnis?ƒ ‚Aber, Kind! Der Mann ist doch wegen etwas ganz anderem in Haft! Er war an dem Einbruch bei Marmara beteiligt. Hat f•r Kocholl den Wohnungsplan aufgezeichnet. Samstag fr•h hat Kocholl es gestanden, da war Jonescu schon ausgeflogen. Er wurde •ber die Interpol in Amsterdam gefa…t und noch in der gleichen Nacht nach Hamburg zur•ckexpediert. ‡ Zuerst dachte ich wirklich, ich h€tte damit auch den M†rder Jorgas in die Hand bekommen. Aber das war falsch kombiniert. Der Fall Jorga ist leider immer noch vollkommen ungekl€rt.ƒ ‚Und wird es auch bleibenƒ, sagte Hilde hart. Frigge blickte •berrascht hoch. Hilde pre…te die Lippen aufeinander und richtete ihren Blick fest und in entschlossener Abwehr auf Frigge. Er sah, wie ihre Finger die Lehne des Sessels umklammerten. ‚M†glich.ƒ Frigge zuckte gleichg•ltig die Achseln. ‚Diese Ausl€ndermorde scheinen es irgendwie in sich zu haben, da… sie unaufgekl€rt bleiben. Aber etwas anderes, Hilde, das mich im Augenblick mehr interessiert: Was sollte denn die geheimnisvolle Bemerkung vorhin, Sie w•rden keine Reportagen mehr schreiben? Haben Sie vielleicht die Absicht, Ihren Beruf an den Nagel zu h€ngen? Oder wollen Sie am Ende ‡ heiraten?ƒ Hilde erhob sich so abrupt aus ihrem Sessel, da… Frigge fast erschrak. ‚Ich m†chte nicht dar•ber sprechen.ƒ Er murmelte eine Entschuldigung und stand gleichfalls auf. ‚Ich bin Ihnen jedenfalls sehr dankbar, Fr€ulein Gardenƒ, sagte er sehr f†rmlich, ‚da… Sie mir ‡ zwar etwas versp€tet, aber sicherlich nicht zu sp€t ‡ reinen Wein •ber Jorga eingeschenkt haben. Kann ich weiter auf Ihre Mitarbeit z€hlen?ƒ
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‚Neinƒ, sagte Hilde, und sie setzte hastig noch ein zweites ‚Neinƒ hinzu. ‚Ich habe Ihnen gesagt, der Fall Jorga interessiert mich nicht mehr.ƒ ‚Sie geben ihn auf.ƒ ‚Ja, ich gebe ihn auf.ƒ Nerv†s reichte sie ihm die Hand. ‚Ich mu… jetzt gehen, Doktor. Auf Wiedersehen.ƒ Ihre Hand war eiskalt und f•hlte sich etwas feucht an. ‚Auf Wiedersehen, Hilde.ƒ Er sah ihr nach, w€hrend sie zur T•r ging, und als sie die Klinke in der Hand hatte, sagte er schnell: ‚Ja richtig, ich wollte Sie noch was fragen.ƒ Sie blieb stehen und drehte sich um. Er kam auf sie zu. ‚Wann ist Marmara eigentlich nach Deutschland gekommen? Wissen Sie das zuf€llig?ƒ Hildes Gesicht wurde fahl. Ein paar Augenblicke lang stand sie wie versteinert. Mit h†flicher und verbindlicher Miene, gerade als h€tte er eine ganz harmlose Frage an sie gerichtet, sah Frigge sie an und wartete auf die Antwort. ‚Neinƒ, stie… Hilde rauh hervor, ‚ich kann Ihnen nicht sagen, wann Marmara nach Deutschland gekommen ist. Aber ich m†chte Ihnen etwas anderes sagen.ƒ Scharf und feindselig scho… ihr Blick zwischen schmalen Lidern hervor. ‚Es ist absurd und unsinnig, Marmara zu verd€chtigen. Marmara hat mit der Sache Jorga nicht das geringste zu tun. Lassen Sie sich das gesagt sein!ƒ ‚Aber um Himmels willen, Hildeƒ, rief Frigge best•rzt, ‚es ist mir doch nicht im Traum eingefallen, irgend jemanden zu verd€chtigen! Meine Frage war ohne alle Nebenbedeutung.ƒ Es gelang ihm zwar gut, unschuldige Best•rzung zu heucheln, aber es gelang ihm nicht, Hilde zu t€uschen. Er wollte sie auch gar nicht t€uschen. Im Gegenteil. Sie sollte wissen, in welche Richtung er zielte. Um das noch deutlicher zu machen, setzte er hinzu: ‚Auf Verd€chtigungen kommt es ja auch gar nicht an, meine Liebe. Nur auf Beweise. Nur auf Beweise.ƒ
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‚Ich sage Ihnen, es ist absurd und unsinnig. Lassen Sie Marmara aus dem Spiel. Leben Sie wohl.ƒ Die T•r fiel hinter ihr zu. Langsam und nachdenklich ging Frigge zu seinem Schreibtisch zur•ck. Ihm war nicht •bertrieben wohl in seiner Haut. Das Jagdhaus ‚Heideroseƒ war 1938, zur Bl•tezeit des NSRegimes, von einem hohen Parteifunktion€r aus Hannover gebaut worden. Es war nicht gro…, aber behaglich und luxuri†s, einst†ckig, mit einem m€chtigen grauen Strohdach. Die Fenster hatten kunstvoll geschmiedete Vergitterungen, und die Eingangst•r, ein Meisterwerk der Holzschnitzerei, zeigte geheimnisvolle altgermanische Figuren und Zeichen, deren Bedeutung kaum noch jemand kannte. Nach dem Kriege war Haus ‚Heideroseƒ jahrelang Wochenendhaus eines britischen Generals gewesen, dann von der Besatzungsmacht freigegeben und deutscherseits zum Verkauf ausgeschrieben worden. Marmara hatte es ohne Hildes Wissen vor einigen Wochen recht vorteilhaft erworben und in aller Heimlichkeit einrichten lassen‰ Als Hilde aus ihrem Wagen stieg, war es 17 Uhr 50. Sie warf den Schlag hinter sich zu, ohne sich umzudrehen, und •berquerte den B•rgersteig. ‚Buna ziua, Dragutza.ƒ Sie fuhr zusammen. Vor ihr stand Marmara. Ihr Herz sank. Sie hatte vergessen, da… Marmara sie um halb sechs abholen sollte, und seinen Wagen auch nicht bemerkt, der auf der andern Seite der Stra…e parkte. Der Tag hatte mit einem Meer von Blumen begonnen, dann hatten sie festlich zu Mittag gegessen und sich f•r halb sechs verabredet, wobei Marmara geheimnisvolle Andeutungen fallen lie…, um sie neugierig zu machen, was ihm auch gut gelungen war.
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Aber Hilde dachte jetzt nicht mehr daran, da… heute ihr Geburtstag war. Sie erschrak, als sie Marmara vor sich sah. ‚Warum so sp€t?ƒ fragte er. ‚Rendezvous gehabt? Mit wem betr•gst du mich?ƒ Marmara lachte, er zeigte seine wei…en Z€hne und war bei strahlender Laune. Er wartete keine Antwort ab, nahm Hildes Arm und zog sie zu seinem Wagen hin•ber: ‚Komm, wir haben Eile. Du mu…t es noch bei Tageslicht sehen.ƒ Er dachte, sie w•rde fragen, was ‚esƒ denn sei, doch die Frage kam nicht. Er warf ihr einen schnellen Blick von der Seite zu, sah wohl, da… ihr Gesicht bla… und wie erstarrt war, aber noch erschien ihm nichts auff€llig. Sie hatte †fters diesen vollkommen unbewegten Ausdruck im Gesicht, der nichts verriet, und h€ufig kam dann ein Scherz in ihrer trockenen Art. Marmara war zu aufger€umt und zu vergn•gt, um zu bemerken, da… mit ihr etwas nicht stimmte. Sie fuhren los. Es war ein warmer, windstiller Herbstabend. Marmara besch€ftigte sich mit Zukunftspl€nen. ‚Wei…t duƒ, sagte er, ‚ich habe dar•ber nachgedacht. Eine Verlobung ist ganz sch†n f•r brave b•rgerliche Hanseatent†chter und milchgesichtige junge Referendare. Aber f•r uns kommt das doch wohl nicht in Frage. Ich glaube, die Verlobung k†nnen wir uns schenken. Was meinst du?ƒ Es ging alles an ihr vorbei, was er sprach. Sie nickte abwesend und sagte tonlos: ‚ Ja‰ƒ Daraufhin begann Marmara von der Hochzeit zu reden und erwog die M†glichkeiten einer kirchlichen Trauung. Er sah eine gewisse Schwierigkeit darin, da… er griechisch-orthodox und sie r†misch-katholisch war. Er wu…te nicht genau, ob eine kirchliche Trauung m†glich war, und erwog alle Umst€nde. Hilde sagte nichts. Sie brachte kein Wort hervor. Die Situation erschien ihr unwirklich und gespenstisch. Sie rauchte eine Zigarette nach der andern. Sie war entsetzt •ber Marmaras
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Unbek•mmertheit und hatte keine Vorstellung, was nun werden sollte. Sie wu…te nur, da… nun alles mit einem Schlage anders geworden war. Er war Negretzu, er hatte Jorga get†tet. Sie sa… neben ihm, sie sp•rte seine Ber•hrung, sie sah sein Profil, sie h†rte seine Stimme. Er war ein M†rder. Immer wieder warf sie schnelle flackernde Blicke auf ihn. Er war ein M†rder, sie empfand keinen Abscheu. Sie liebte ihn. Keinen Augenblick geriet sie dar•ber in Zweifel. Ja, sie liebte ihn. Und nicht nur das. Sie liebte ihn mehr als zuvor. Es war best•rzend. Sie hatte Angst um ihn. Sie wu…te, Frigge war jetzt auf der richtigen Spur und wartete nur noch auf eine Gelegenheit, zuzupacken. Noch fehlten ihm die Beweise. Aber Frigges Verdacht konnte nicht erst seit heute datieren. Warum hatte er denn Marmara nicht verst€ndigt, als er seinen Chauffeur verhaftete? W€re es nicht naheliegend und nat•rlich gewesen? Er wollte ihn in Sicherheit wiegen. Wenn das aber seine Absicht war, warum hatte er ihr dann so •berdeutlich zu verstehen gegeben, da… sich sein Verdacht klar gegen Marmara richtete? Er wu…te doch, wie sie zu Marmara stand. F•rchtete er nicht, sie k†nnte Marmara warnen ‡? Einen Moment lang verwirrten sich jetzt Hildes Gedanken vollkommen. Sie entdeckte, da… es ihr ganz unm†glich war, mit Marmara dar•ber zu sprechen. Das hatte nichts mit Moral, Recht oder sonstigen abstrakten Begriffen zu tun. Sie wollte auch gar nicht daran denken, wie es dazu gekommen war, da… er Jorga get†tet hatte, und ob es mit Vorsatz geschah oder im Affekt oder ob es nur eine ungl•ckselige F•gung gewesen war. Wie auch immer, sie wu…te, es war ihretwegen geschehen. Marmara hatte verzweifelt versucht, seine Vergangenheit vor ihr zu verbergen. Darum brachte sie es nicht •ber sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Es w€re ihr unertr€glich gewesen, wie ein Richter vor ihm zu stehen. Der Gedanke, seinen Zusammenbruch mit anzusehen, jagte ihr Entsetzen ein. Hatte
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Frigge das vorausgesehen? Dann war seine Absicht klar: es war ein Wink gewesen, sich von Marmara zur•ckzuziehen, ihn preiszugeben, bevor die Katastrophe •ber ihn hereinbrach. Was sollte sie nun tun? Den Dingen ihren Lauf lassen? Sie wu…te es nicht. Sie war ratlos. Ihre Nerven vibrierten. Marmaras Ahnungslosigkeit, sein Geplauder, das behagliche Schwelgen in Zukunftsbildern, das alles war eine einzige Qual. Nach etwa vierzig Minuten hielt Marmara den Wagen an. ‚H•bsch, was?ƒ fragte er wie beil€ufig und deutete rechts aus dem Wagen. Zweihundert Meter von der Chaussee entfernt, am Rande des Kiefernwaldes, stand das Jagdhaus. Hilde warf einen fl•chtigen Blick darauf. ‚Mhmƒ, machte sie abwesend. Sie wu…te nicht, wohin die Fahrt ging, und es war ihr gleichg•ltig. Sie wandte den Blick wieder ab. ‚Wir wollen uns das einmal n€her ansehenƒ, sagte Marmara schmunzelnd und lenkte den Wagen auf den Seitenweg, der zum Jagdhaus f•hrte. Hilde merkte jetzt, da… es mit dem Haus eine Bewandtnis hatte, da… vermutlich etwas wie eine Geburtstags•berraschung dahintersteckte. Sie pre…te die Lippen aufeinander und atmete tief. Marmara fuhr mit Schwung vor dem Hause vor und bremste scharf. Er sprang aus dem Wagen und zog einen Schl•sselbund hervor. ‚Steig aus, Dragutzaƒ, sagte er •berm•tig, ‚wir gehen jetzt einbrechen.ƒ Hilde stieg gehorsam aus und zwang sich zu einem L€cheln. Es fiel etwas geisterhaft aus und blieb eine Weile in ihrem Gesicht stehen. Aber noch immer merkte Marmara nichts. Er war zu sehr von Vorfreude und gespannter Erwartung erf•llt. Er schlo… auf, und sie traten in die Halle, die in Wei…, Gold und Marmor gehalten war. Ein dicker weinroter Teppich bedeckte den Boden, an den W€nden waren Geweihe und
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kostbare Gem€lde, auf dem Kaminsims standen Kupferger€te und altert•mliche Leuchter. ‚Das ist ein Jan Steenƒ, sagte Marmara und deutete im Gehen auf eines der Bilder, ‚und das ein Ostade. Der Samovar dort ist original russisch, noch aus der Zeit Peters des Gro…en. Aber ich glaube, wir werden lieber nicht daraus Tee trinken, Dragutza.ƒ Hilde ging mit blicklosen Augen neben ihm her, w€hrend er ihr das Haus zeigte. Sie sagte ‚Jaƒ und ‚Neinƒ und ‚Sehr sch†nƒ. Es geschah alles wie im Traum. Sie f•hlte sich hilflos und elend und w•nschte sich weit fort, um allein zu sein und mit sich selbst ins reine zu kommen. ‚Wir gehen jetzt hinaufƒ, sagte Marmara. Die sch†ngeschwungene Treppe hatte ein geschmiedetes Eisengel€nder, das mit Gold verziert war. Er f•hrte sie in ein gro…es Zimmer im franz†sischen Boudoirstil, mit Seidentapeten und drei hohen Glast•ren, die auf eine Terrasse hinausgingen. Frische Blumen standen in hohen Vasen, und auf dem Nachttisch sah sie eine Photographie Marmaras in einem Lederrahmen. ‚Dein Schlafzimmerƒ, sagte Marmara. Er †ffnete die mittlere Glast•r und trat auf die Terrasse hinaus. Von hier f•hrten Stufen zu einer zweiten, tiefer gelegenen, halbrunden Terrasse, die um den Erker der Halle herumging. Marmara trat an die Br•stung, drehte sich um und streckte Hilde beide H€nde entgegen. Sie folgte ihm z†gernd. Er legte die Arme um sie und zog sie an sich. ‚Nun?ƒ fragte er l€chelnd. ‚Wie gef€llt dir das Haus?ƒ Hilde blickte •ber seine Schulter hinweg in den versinkenden Abend. ‚Es ist sehr sch†nƒ, sagte sie gepre…t. ‚Es geh†rt dir.ƒ ‚Du bist verr•cktƒ, stie… sie erschrocken hervor.
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Marmara l€chelte. ‚Doch, es geh†rt dir, Hilde. Es ist dein Haus. Ich schenk es dir. Wenn duˆs nicht haben willstƒ, setzte er scherzhaft drohend hinzu, ‚dann schmei… ichˆs weg.ƒ Sie wollte sich freimachen und dr•ckte beide H€nde gegen seine Schultern, doch er hielt sie fest. ‚La… michƒ, sagte sie rauh. Er gab sie frei. ‚Was hast du?ƒ fragte er verdutzt. ‚Nichts.ƒ Sie drehte sich um und ging ins Haus. Verwundert sah er ihr nach, dann folgte er ihr. Sie ging langsam, eine Hand am Gel€nder, die Treppe hinunter. In der Halle blieb sie vor einem Bild stehen und starrte es an. Es zeigte drei betrunkene Bauern, die an einem Tisch sa…en und w•rfelten. Hilde sah nicht, was das Bild darstellte. Sie h†rte Marmara die Treppe herunterkommen. ‚Was ist denn los mit dir?ƒ fragte er unsicher. ‚Warum willst du das Haus nicht haben? Wenn wir einmal verheiratet sind, geh†rt dir doch ohnehin alles, was auch mir geh†rt. Was hast du f•r Bedenken? Ich versteh dich nicht.ƒ Hilde wandte sich von dem Bild ab und machte ein paar Schritte in die Halle, von Marmara weg. ‚Es handelt sich ja gar nicht um das Hausƒ, sagte sie gequ€lt. Er sah sie aufmerksam an, und jetzt bemerkte er ihre Unruhe und Gehetztheit. ‚Um was denn? Was hast du, Hilde?ƒ Sie antwortete nicht. Sie stand am offenen Fenster. Marmara r•hrte sich nicht und blickte zu ihr hin•ber. Eine b†se Ahnung befiel ihn. Seine Augen wurden schmal und argw†hnisch. ‚Ist etwas geschehen ‡?ƒ Hilde hob den Kopf und sah ihn mit einem langen, dunklen Blick an, der wie ein letzter war. Marmara erschrak. ‚Sprich, Hilde! Sag doch, was los ist!ƒ Seine Stimme war heiser vor Erregung. ‚Carol ist verhaftetƒ, sagte Hilde.
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Marmaras Gesicht wurde wei… wie die Wand. ‚Woher wei…t du das?ƒ ‚Von Frigge.ƒ Er fuhr herum und straffte sich. ‚Hast du ihm Carol ans Messer geliefert?ƒ ‚Ich habe nichts dazugetan! Carol ist gar nicht Negretzu ‡ƒ ‚Wieso nicht?ƒ Sie sagte atemlos: ‚Weil er ein Alibi hat! Frigge hat ihn wegen des Einbruchs verhaftet ‡ mit Jorga hat Carol nie etwas zu schaffen gehabt ‡ƒ Marmara schwieg und wartete, da… sie weiterreden w•rde. Jetzt sollte sie alles sagen, alles, was sie dachte und f•hlte und vielleicht schon wu…te. Er erkannte, da… das Ende kam und nicht mehr aufzuhalten war. Er wollte es auch gar nicht mehr aufhalten. Doch er war in keiner ergebenen Stimmung. Wut erf•llte ihn, ein allm€chtiger Zorn, der nach Zerst†rung dr€ngte. Pl†tzlich schrie er: ‚Rede doch! Steh nicht da und starr mich nicht an wie einen armen S•nder! Was wei…t du?ƒ ‚Was soll ich wissen?ƒ Er pre…te die Z€hne aufeinander, da… sie knirschten. Dann ging er langsam auf sie zu. ‚Wer denn ist Negretzu, wenn es nicht Carol ist?ƒ Scharf und schneidend fielen die Worte in die klamme Stille des sinkenden Abends. Hilde hob die Schultern, sie †ffnete die Lippen, doch sie sagte nichts. ‚Antworte!ƒ Sein Gesicht war hart, sein Blick kalt und feindselig. ‚Wer ist Negretzu?ƒ Er kam ihr immer n€her. Hilde blickte wie gebannt in sein wei…es Gesicht. Es war auf einmal etwas Gewaltt€tiges und Furchteinfl†…endes in seinem Ausdruck und in der Art, wie er langsam, Schritt f•r Schritt, auf sie zukam.
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‚Ich ‡ ich wei… es nicht, Gregorƒ, stammelte sie und hatte pl†tzlich die Empfindung, als m•…te im n€chsten Augenblick etwas Schreckliches geschehen. Marmara blieb nah vor ihr stehen. ‚Du wei…t nicht, wer Negretzu ist?ƒ ‚Nein‰ƒ ‚Aber du vermutest es!ƒ ‚Nein‰ Nein‰ƒ Da fuhr er sie hart an: ‚Sei nicht feige! Sprich aus, was du denkst! Los!ƒ Hilde f•hlte, wie ihre H€nde feucht wurden. Mit gro…en, schreckerf•llten Augen starrte sie in Marmaras Gesicht. ‚Ich wei… nicht, was du willst, Gregorƒ, brachte sie m•hsam hervor, ‚ich wei… nichts von Negretzu, wirklich nicht ‡ƒ Marmara sah die nackte Angst in ihren Augen flackern. Mit einem j€hen Ruck wandte er sich von ihr ab. Dann ging er schweigend und finster in der Halle auf und nieder. Sie lie… ihn keine Sekunde aus den Augen. Schlie…lich machte er vor dem Kamin halt und z•ndete die Kerzen in den Leuchtern an. ‚Du wei…t also nichts von Negretzuƒ, sagte er durch die Z€hne. Seine Stimme klang h†hnisch und grausam. ‚Da hast du Pech gehabt mit deinem Detektivspiel. Kannst wieder von vorne beginnen. Komm, darauf trinken wir was.ƒ Er ging zu einem Wandschrank, holte eine Kognakflasche und Gl€ser. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Die flackernden Kerzen warfen Marmaras Schatten auf die Wand. Sie sp•rte ihr Herz bis in den Hals hinauf schlagen. ‚Nein ‡ dankeƒ, stie… sie fast tonlos hervor, ‚ich will nichts trinken, ich ‡ ich bin m•de ‡ ich gehe hinauf ‡ƒ Zugleich stie… sie sich vom Fensterbrett ab. Auf einmal hatte sie das Gef•hl, sie w•rde die Treppe nicht mehr erreichen. Sie mu…te quer durch die Halle, an Marmara vorbei. Er w•rde sie fassen und ‡ und ‡ Sie f•hlte sich eisig •berrieselt.
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Ihr war, als ginge sie •ber Watte. Er brauchte nur den Arm auszustrecken, um sie zu fassen. Starr, den Blick auf die Treppe gerichtet, ging sie an ihm vorbei. Er r•hrte sich nicht. Nichts geschah. Als sie am Fu…e der Treppe war, h†rte sie, wie er die Flasche entkorkte. Sie sah nicht hin, nahm Stufe f•r Stufe. In dem Zimmer, das er als ihr Schlafzimmer bezeichnete, drehte sie den Schl•ssel im Schlo… herum. Sie bebte am ganzen K†rper. Sie machte Licht und lie… sich ersch†pft in einen Sessel fallen. Allm€hlich wurde sie ruhiger. Sie hatte die Nerven verloren. Nun erkannte sie, wie unsinnig und unbegr•ndet ihre Angst gewesen war. Da… sie es aber •berhaupt ‡ und wenn auch nur eine wahnsinnige Minute lang ‡ f•r m†glich gehalten hatte, da… Marmara sie t†ten k†nnte! Mit trostlosen Augen starrte sie ins Leere. Von unten h†rte sie Marmaras Schritte. Ruhelos wanderte er auf und ab, immer im gleichen Rhythmus, sechs Schritte hin, sechs Schritte zur•ck. Was ging in ihm vor? Was dachte er? Auf dem Tisch stand eine Silberdose mit Zigaretten. Sie stand auf und ging schleppend an den Tisch. Wie zerschlagen f•hlte sie sich. Sie z•ndete sich eine Zigarette an, setzte sich auf den Bettrand, rauchte und blickte auf Marmaras Bild in dem Lederrahmen. Sie sann und gr•belte. Die Zeit verstrich. Ab und zu erhob sie sich, um eine frische Zigarette zu holen. Und immerfort h†rte sie das gleichm€…ige Hin und Her von Marmaras Schritten ‡ pausenlos. Endlich fa…te sie einen Entschlu…. Sie wu…te nicht, wie sp€t es geworden war. Vor den Fenstern stand schwarz die Nacht. Behutsam †ffnete sie die Glast•r und trat hinaus auf die Terrasse. Auf Zehenspitzen ging sie zu der Steintreppe, die auf die zweite, untere Terrasse f•hrte.
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Einen Augenblick verhielt sie und lauschte. Dann lief sie •ber den Rasen, auf den der Lichtschein aus den Fenstern fahle Rechtecke warf. Sie drehte sich nicht um. Sie lief immer schneller. Die Nacht war k•hl und windig. Sie erreichte die Chaussee, und als sie Wagenlichter auftauchen sah, stellte sie sich in den Lichtkegel und winkte. Der Wagen n€herte sich ratternd und scheppernd. Ein paar Meter vor Hilde blieb er stehen. Es war ein uralter LKW mit einer Ladung leerer Milchkannen. Ein rotgesichtiges, athletisches Weib mit dicken Brillengl€sern sa… am Steuer. Hilde trat an den Schlag heran. ‚Fahren Sie nach Hamburg?ƒ ‚Jawohl, nach Hamburg. Wollen Sie mit?ƒ ‚Gerne.ƒ ‚Steigen Sie ein.ƒ Die Frau freute sich, einen Gespr€chspartner gefunden zu haben, aber zu Hildes Gl•ck machten die h•pfenden und gegeneinanderschlagenden Milchkannen einen solchen L€rm, da… sie kein Wort verstand‰ Ein Wind erhob sich und schlug die offenstehenden Fl•gel der Glast•r hin und her. Marmara war mit den Ger€uschen des Hauses nicht vertraut. Er lauschte nach oben. Dann ging er die Treppe hinauf und klopfte an die T•r des Schlafzimmers. ‚Hilde ‡ ?ƒ Es regte sich nichts. Er klopfte abermals. ‚Hilde, mach auf!ƒ Er schlug mit den F€usten gegen die T•r. ‚Mach sofort auf, Hilde‰ Hilde!ƒ Wieder h†rte er die Glast•r schlagen. Er lief die Treppe hinunter und um das Haus herum. Von der Terrasse her trat er ins Zimmer.
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Auf dem Bettrand sah er noch die Eindr•cke von Hildes K†rper, der Aschenbecher war gef•llt mit Zigarettenstummeln voller Lippenrot. Hilde war fort. Geflohen in Angst und Panik ‡ vor ihm, dem M†rder Negretzu. Das also war das Ende. Er lie… sich auf das Bett fallen und starrte zur Decke empor. Sein Blick war tot. Er konnte nicht mehr denken. Alles war bereits gedacht. Er lag da, und hinter den Fenstern graute langsam ein neuer Tag. Er f•hlte nichts. Auf einmal brach die Morgenr†te durch. Marmara wandte den Kopf und blickte hinaus. Rosafarbene Wolken schwammen im bla…blauen Himmel. Die Platanen standen vor dem Haus und wu…ten von nichts. Hilde war fort. Er w•rde sie nie Wiedersehen. Er warf sich herum, pre…te die F€uste vor die brennenden Augen, und der Schmerz •berw€ltigte ihn. Irgendwann sank er in einen bleiernen Schlaf. Als ihm die Sonne ins Gesicht schien, fuhr er hoch. Es war halb neun. Er ging zur T•r und begriff einen Moment lang nicht, warum sie verschlossen war. Dann fiel ihm alles wieder ein. Hilde hatte die T•r versperrt, weil sie Angst vor ihm gehabt hatte. Angst, da… er sie t†ten k†nnte‰ Was f•r ein grotesker Unsinn! Es erbitterte ihn. Er fragte sich, ob Hilde ihn •berhaupt geliebt hatte. Die Hand auf der T•rklinke, blieb er sinnend stehen. Auf einmal sah alles anders aus. Seine Gef•hle waren noch schneller als seine Gedanken, und pl†tzlich f•hlte er, da… er Hildes Liebe •bersch€tzt hatte. Im Grunde liebte sie doch nur ihre Zeitung, das bedruckte Papier, auf dem in fetten Lettern ihr Name stand. Ihr Beruf war ihr Leben, ihm opferte sie alles, auch ihr Herz. Sie war eine Frau von der Sorte, die nur aus Ehrgeiz bestand, hart und unbarmherzig gegen sich selbst. Er hatte es immer geahnt. Sie
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w•rde es sogar •ber sich bringen, ihn zu verraten. Vielleicht sa… sie jetzt schon, in diesem Augenblick, an der Schreibmaschine und tippte ihren Sensationsbericht. Morgen w•rde es in der Zeitung stehen: GREGOR MARMARA ALS MŒRDER ENTLARVT. Oder so €hnlich. Das alles scho… ihm durch den Kopf, w€hrend er an der T•r des verschlossenen Zimmers stand. Er lehnte sich gegen die Wand. Im Spiegel gegen•ber erblickte er sein Gesicht. Es war grau und verfallen, das Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Er sah weg und starrte vor sich nieder. Es war irrsinnig, was er dachte. Hilde konnte ihn nicht verraten. Oder doch ‡? Was war in ihr vorgegangen, als sie dort auf dem Bettrand sa…, rauchend und gr•belnd die halbe Nacht? Sie wu…te, er hatte Jorga get†tet, hatte es schon gewu…t, als sie mit ihm hierhergefahren war. Er dachte an ihre Blicke w€hrend der Fahrt, an die starre Maske ihres Gesichts, an ihre Verst†rtheit. Sie war verzweifelt gewesen und hatte nicht gewu…t, was sie tun sollte. Wu…te sie es jetzt ‡? Sie mu…te einen Entschlu… gefa…t haben, als sie heimlich auf und davon gegangen war, ohne Abschied und Lebewohl, ohne ein letztes Wort auf einem Fetzen Papier. Er hob den Kopf. Suchend sah er sich im Zimmer um, obgleich er wu…te, da… er nichts finden w•rde. Er fand auch nichts. Nein, Hilde war nicht sentimental. Und was sie jetzt beschlossen hatte zu tun, das hatte nicht ihr Herz, sondern ihr Verstand diktiert. Auf einmal wu…te er auch, was sie tun wollte. Sie brauchte Beweise! Um einen Menschen als M†rder zu entlarven, waren Beweise notwendig. Und jetzt fielen ihm die verdorbenen Bez•ge seines Autos ein. War es m†glich, da… ‡ Eine hei…e Blutwelle scho… ihm ins Gesicht. Pl†tzlich war er hellwach. Er schlo… die T•r auf und jagte die Treppe hinunter. Ungewaschen, unrasiert und ungek€mmt stieg er hastig in sein
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Auto und raste nach Hamburg. Noch hoffte er, sich zu t€uschen‰ Aber kaum war er vor der Reparaturwerkstatt ausgestiegen, als Jonkhoff ihm schon grinsend entgegenkam. Jonkhoff war ein kleiner runder Mann mit wei…er Haut, einem struppigen aschblonden Haarschopf und r†tlichen Froschaugen. ‚Alles erledigt, Herr Marmaraƒ, rief er strahlend, als ob es sich um ein besonderes Verdienst von ihm handelte. ‚Fr€ulein Schaunburg war schon hier und hat die alten Bez•ge mitgenommen.ƒ Marmaras Mundwinkel bogen sich zu einem schalen L€cheln herab. ‚Ausgezeichnetƒ, sagte er. ‚Ich dachte, sie k†nnte es vergessen haben.ƒ ‚Es ist noch keine halbe Stunde herƒ, sagte Jonkhoff. ‚Gut. Dann ist alles in bester Ordnung.ƒ Marmara stieg wieder in seinen Wagen. Jonkhoff trat heran. ‚Es ist wegen der Analyse, nicht wahr?ƒ Marmara setzte den Motor in Gang. ‚Ja, wegen der Analyseƒ, sagte er, ohne nachzudenken. ‚In einer Farbenfabrik kann eben so was passierenƒ, fuhr Jonkhoff fort und zog die Schultern hoch. ‚Aber ich glaube, die Versicherung wird nicht zahlen.ƒ ‚Man mu… es versuchenƒ, versetzte Marmara. ‚Auf Wiedersehen, Herr Jonkhoff.ƒ Er fuhr davon. Das schale L€cheln stand noch immer in seinem Gesicht. Er hatte sich also nicht get€uscht. Hilde hatte dar•ber nachgegr•belt, wie sie die Beweise in die Hand bekommen k†nnte, um ihn zu •berf•hren. Sie war scharfsinnig und intelligent. Jetzt hatte sie die Beweise. Jetzt konnte sie ihre Reportage starten. Es war merkw•rdig, Marmara blieb vollkommen ruhig. Fast hatte er das Gef•hl, da… es besser so war. Er wu…te nun, was er zu tun hatte, und es fiel ihm leichter, es zu tun.
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Er hielt an der n€chsten Telephonzelle und rief das Polizeipr€sidium an‰ Als Marmara die Bibliothek seiner Villa betrat, erhob sich Hilde aus einem der hohen schwarzen Ratsherrenst•hle. Marmara bemerkte sie nicht sofort und schrak zusammen, als sie aus der halbdunklen Ecke hervortrat. ‚D u bist da?ƒ fragte er. Er hatte nicht damit gerechnet, sie wiederzusehen. ‚Ich m†chte mich von dir verabschieden, Gregor.ƒ Hildes Stimme klang fremd und gl€sern. ‚Ich fahre fort.ƒ ‚Wohin?ƒ ‚Ich fahre nach Kanada.ƒ Er konnte sie nicht ansehen und wandte sich ab. ‚Ich dachte, da… wir heute nach Spanien fliegenƒ, sagte er sarkastisch. Hilde pre…te die Lippen aufeinander und schwieg. ‚Also Kanadaƒ, sagte Marmara. ‚Warum auch nicht? Der Fall Jorga ist erledigt. Jetzt kommt die n€chste Sache dran. T•chtig, t•chtig.ƒ Sein Spott wurde scharf und bei…end. ‚Hast du den M†rder Negretzu schon verarbeitet? Alle Beweise beisammen? Wird eine interessante Reportage f•r deine Zeitung. Ich gratuliere.ƒ ‚Es gibt keine Beweise gegen Negretzuƒ, versetzte Hilde. ‚Es gab welche. Aber sie sind vernichtet.ƒ Marmara fuhr herum und starrte Hilde an. ‚Was sagst du ‡ ?ƒ ‚Ich sage, sie sind vernichtet.ƒ ‚Was soll das hei…en?ƒ ‚Es gibt keine Beweise mehr. Und es wird auch keine Reportage geben. Der Fall Jorga ist f•r mich erledigt. Und nicht nur f•r michƒ, sagte Hilde fest und sah ihm gerade in die Augen. ‚Der Fall Jorga wird f•r immer unaufgekl€rt bleiben. Negretzu braucht nichts zu f•rchten.ƒ ‚Hilde!ƒ rief Marmara best•rzt. ‚Du hast ‡ƒ
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‚Ich habe gar nichts!ƒ unterbrach sie ihn. ‚Ich bin nicht die Polizei und nicht das Gericht.ƒ Ihr Atem ging schnell, ihr Blick flatterte. Erst nach einer Pause sprach sie weiter. ‚Ich wei…, da… Negretzu Jorga nicht t†ten wollte. Er ist mit der Vergangenheit nicht fertig geworden und die Vergangenheit nicht mit ihm. Es war ein Verh€ngnis.ƒ Marmara stand wie gel€hmt. Seine Arme hingen herab, die Augen waren weit ge†ffnet. Er hatte das Gef•hl, als m•…te er verbluten. Hilde trat auf ihn zu. Es fiel ihr immer schwerer, ihre Haltung zu bewahren. ‚Negretzu h€tte den Mut haben sollen, mir die Wahrheit zu sagen. Auch auf die Gefahr hin, da… sie uns getrennt h€tte. Ich glaube, sie h€tte uns nicht getrennt. Aber jetzt ist es zu sp€t. Ich mu… gehen, Gregor, f•r immer.ƒ Ihre Augen schwammen. Sie legte beide H€nde auf Marmaras Brust. Er sp•rte ein W•rgen in der Kehle und war unf€hig, ein Wort hervorzubringen. Er ri… sie an sich und pre…te leidenschaftlich seinen Mund auf ihre kalten, trockenen Lippen. Ihre H€nde strichen •ber sein Haar, •ber seine Stirn ‡ noch einmal glitten ihre d•nnen Finger z€rtlich •ber sein Gesicht hin‰ Da wurde an die T•r geklopft. Marmara lie… Hilde los. ‚Ja ‡?ƒ sagte er, noch ohne Atem. Das Stubenm€dchen Rita trat ein. ‚Herr Kriminalrat Doktor Frigge ist da.ƒ Sie schwang elegant die H•fte, w€hrend sie von einem Fu… auf den andern trat. Hildes Blick flog zu Marmara. Er starrte das Stubenm€dchen an. ‚Ich ‡ komme gleich.ƒ Das M€dchen schlo… die T•r hinter sich. ‚Was will Frigge?ƒ stie… Hilde aufgeregt hervor. ‚Ich habe ihn angerufenƒ, sagte Marmara gequ€lt. ‚Du? Was hast du ihm gesagt?ƒ
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‚Alles.ƒ Hilde stand wie vom Donner ger•hrt. Dann fragte sie fast ohne Ton: ‚Warum hast du das getan, Gregor? Es bestand doch gar keine Gefahr ‡ƒ Er wandte sich ersch†pft ab. Seine Augen waren blank und trostlos. Er suchte keine Ausfl•chte mehr. Er sagte die Wahrheit. ‚Ich dachte, du willst die Beweise gegen mich verwenden. Ich wollte dir zuvorkommen und ‡ und da habe ich Frigge angerufen. Ich habe reinen Tisch gemacht.ƒ ‚Gregor!ƒ Hilde war kreidebleich. ‚Das hast du von mir gedacht ‡ƒ ‚Jaƒ, sagte er. ‚Ich habe es gedacht.ƒ ‚So schlecht haben wir uns gekannt, Gregor.ƒ Sie schwiegen. Sie starrten sich stumm in die Augen und begriffen einander nicht mehr. Dann ging Hilde. Wortlos verlie… sie das Zimmer und das Haus. Sie blickte nicht zur•ck. Marmara stand wie versteinert am Fenster, seine H€nde waren verkrampft, sein Gesicht war verzerrt. Er sah Hilde durch den Vorgarten gehen und in ihren Wagen steigen. Erst als sie davongefahren war, l†ste sich seine Erstarrung. Er drehte sich um, ging langsam zur T•r. Im Salon wartete Dr. Frigge. Marmara trat ein. ‚Entschuldigen Sie, da… ich Sie habe warten lassenƒ, sagte er mit m•der Stimme. ‚Wenn es Ihnen recht ist, k†nnen wir gleich gehen.ƒ Frigge erhob sich und ging auf ihn zu. Sein Blick glitt •ber Marmara hin. Dann streckte er ihm die Hand entgegen. ‚Sie haben das Beste und Vern•nftigste getan, was Sie in Ihrer Lage tun konntenƒ, sagte Frigge nicht ohne W€rme. ‚Wenn Sie Gl•ck haben ‡ das hei…t, wenn Sie sich gute Anw€lte nehmen, die auf K†rperverletzung mit Todesfolge
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pl€dieren, kommen Sie unter Umst€nden mit ein bis zwei Jahren davon ‡ƒ Marmara fuhr mit der Hand durch die Luft. ‚Uninteressantƒ, sagte er fast schroff. ‚Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Doktor. Gehen wir.ƒ Frigge warf ihm einen schnellen Blick zu. Dann sagte er: ‚Ja, gehen wir.ƒ Schweigend verlie…en sie das Haus und gingen zu Dr. Frigges kleinem gr•nen Volkswagen‰
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