Georgische Märchen Herausgegeben von Heinz Fähnrich
Insel-Verlag Leipzig 1980
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Georgische Märchen Herausgegeben von Heinz Fähnrich
Insel-Verlag Leipzig 1980
Übersetzt und herausgegeben von Heinz Fähnrich Kommentiert unter Mitarbeit von Heinz Mode
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© 1980 Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig
Vorwort..................................................... 6 Der Tschongurispieler .............................33 Verwandlungsmärchen ...............................36 Tagsüber tot ..........................................36 Drei Schwestern.....................................47 Anana...................................................54 Wie das Mädchen zum Mann wurde...........57 Das Schilfmädchen .................................73 Der Sohn des Adlers ...............................87 Msetschabuki .........................................95 Tiermärchen ........................................... 101 Der Bär, der Fuchs und der Wolf............. 101 Das Halbhuhn ...................................... 102 Der Floh und die Ameise........................ 105 Die Freundschaft der Tiere..................... 108 Der Löwe und der Fuchs ........................ 110 Der Wolf, die Ziege und das Pferd ........... 112 Märchen von Freundschaft ........................ 114 Taria .................................................. 114 Zikara................................................. 116 Msekala und Msewarda ......................... 123 Der goldene Mann ................................ 135 Märchen vom geschickten Burschen ........... 144 Chutkuntschula .................................... 144 Nazarkekia .......................................... 151 Der Rinderhirt ...................................... 156 Komble ............................................... 163 Die Zauberkappe.................................. 167 Datua ................................................. 175 Philosophierende und moralisierende Märchen180 Was die Erde fordert ............................. 180 Der Faulpelz ........................................ 186 Falsche Tränen..................................... 192
Die Braut ............................................ 194 Die Eule und der Mann .......................... 196 Sonne und Regen ................................. 197 Drei Taube .......................................... 198 Die Schlange und der Mann ................... 200 Der König und der Diener ...................... 204 Der geizige Kaufmann ........................... 206 Für einen Abasi Eier.............................. 208 Rätselmärchen ........................................ 213 Die Pappel aus der Schlangenhaut .......... 213 Pisasos Märchen................................... 221 Der blaue Fisch .................................... 231 Elf Brüder............................................ 235 Königsmärchen ....................................... 250 lrmisa ................................................. 250 Die Boshmi-Blume ................................ 264 Der Herrscher und seine neun Söhne ...... 276 Die Tochter der Sonne .......................... 286 Das zwölfköpfige Ungeheuer .................. 300 Das Wunderliche .................................. 307 Der Sohn des Jägers ............................. 323 Der lahme Büffel .................................. 329 Der Bettler und das Tuch ....................... 348 Der Kupferwolf..................................... 360 Ilankugha............................................ 368 Das Schlangenjunge ............................. 373 Das Zauberhemd.................................. 378 Anhang .................................................. 391 Kommentar ......................................... 391 Worterklärungen .................................. 415 Bibliographie ....................................... 416
Vorwort Den Völkern der Welt sind die Georgier unter verschiedenen Namen bekannt. Die Perser nennen sie Gürdshi, die Russen Grusinier, und die deutschsprachigen Völker bezeichnen sie seit alten Zeiten als Georgier. Sie selbst haben sich den Namen Kartweli gegeben, und ihr Land heißt Sakartwelo nach dem zentralen Landesgebiet Kartli. So bezeichnete man in älterer Zeit häufig auch das gesamte Georgien. Seit wann die Georgier in ihrer heutigen Heimat leben, läßt sich nicht genau sagen. Fest steht nur, daß Transkaukasien und somit auch Georgien schon in der Altsteinzeit von Menschen besiedelt war. Die Georgier unterscheiden sich sprachlich von den sie umgebenden indoeuropäischen, semitischen, altaischen, abchasisch-adyghischen und nachischdaghestanischen Völkern. Ihre Sprache zählt gemeinsam mit dem eng verwandten Mingrelischen, Lasischen und Swanischen zur Familie der Kartwelsprachen, deren weitere genetische Zusammenhänge sich höchstens unter den ausgestorbenen Sprachen des alten Vorderasien vermuten lassen. Die älteste nachweisbare georgische Stammesvereinigung bestand im Südwesten des kartwelischen Siedlungsgebietes und ist unter dem Namen Diaochi bekannt. Das eisenreiche Diaochi fiel im 8. Jahrhundert v. u. Z. den Einfällen der Urartäer von Süden und der Kolcher von Norden zum Opfer. Kolcha stellte eine mächtige Vereinigung kartwelischer Stämme an der Ost- und Südostküste des Schwarzen Meeres dar, die durch die Einverleibung von Teilen Diaochis weiter an Macht gewann. Die Urartäer führten erfolglos Krieg 6
gegen die Kolcher und mußten zusehen, wie ihr nördlicher Nachbar, der sich selbst Egrisi nannte und den griechischen Seefahrern wohlbekannt war, bedrohlich erstarkte. Doch Ende des 8. Jahrhunderts überrannten die kriegerischen Kimmerer und Skythen das Land und vernichteten Kolcha. Im 6. Jahrhundert v. u. Z. entstand in Westgeorgien der georgische Staat Kolchis, nur wenig später bildete sich auch in Ostgeorgien ein eigenes Staatsgebilde heraus – Iberien. Mit Kolchis, einem für damalige Zeiten hochzivilisierten Land, verbanden das antike Griechenland schon in frühesten Zeiten Kontakte, ein Abglanz davon ist uns in den Sagen von Prometheus und den Argonauten überliefert. Die Wirtschaft der Kolchis war hochentwickelt: die Bewohner bauten Getreide, Wein und andere Früchte an, betrieben Imkerei und hielten Rinder. Kolchisches Leinen war durch seine Güte in der antiken Welt berühmt, der Goldreichtum des Landes fand Eingang in die Sagenwelt. Die Griechen, die es bald in dieses blühende Staatswesen lockte, legten an der Küste der Kolchis Handelsniederlassungen an, die sich zu pulsierenden Städten entwickelten. So entstanden Trapezunt, Phasis (Poti), Dioskurias (Suchumi), Pitiunt (Bitschwinta) und andere. Die Silbermünzen des kolchischen Staates, ›Kolchuri Tetri‹ genannt, fanden weite Verbreitung im Gebiet des östlichen Mittelmeeres. Im Osten Georgiens entstand unter ständiger Bedrohung durch die Perser das Reich Iberien mit der Hauptstadt Mzcheta. Nach der Vernichtung des Perserreiches durch Alexander den Großen konnte sich Iberien ungehindert entfalten und seine Grenzen weit nach Südwesten und Osten ausdehnen. In den städtischen 7
Zentren wie Urbnisi, Odsrqe und vielen anderen blühten Handwerk und Handel. Den Römern, die im 1. Jahrhundert v. u. Z. mit ihren Truppen Kleinasien und Transkaukasien verwüsteten, setzten die Iberer so gewaltigen Widerstand entgegen, daß sich der Feind gezwungen sah, das Land zu verlassen. Die Römer wandten sich der Kolchis zu und errichteten dort ihre Herrschaft. Während die Kolchis Rom untertan war, zeichneten sich die Beziehungen zwischen Rom und Ostgeorgien durch Partnerschaft in einem Militärbündnis aus. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung entwickelte sich in Georgien der Feudalismus. Gleichzeitig drang allmählich das Christentum ein, das in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts unter König Mirian offiziell anerkannt wurde. Die erste Kirche, aus Holz erbaut, wird König Mirian zugeschrieben. Sie soll an der gleichen Stelle gestanden haben, wo sich heute in Mzcheta der Sweti-Zchoweli-Dom erhebt. Nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion entfachte Persien erneut seine Angriffstätigkeit gegen Ostgeorgien und erlangte bisweilen die absolute Vorherrschaft. Die Westgeorgier vermochten erst im 4. Jahrhundert das Joch der römischen Fremdherrschaft abzuschütteln und die römischen Truppenteile zum Abzug zu zwingen. Waren im alten Reich Kolchis die Mingrelier führend gewesen, so traten jetzt die ihnen nahe verwandten Lasen, ein kartwelischer Stamm an der Südostküste des Schwarzen Meeres, ihre Nachfolge an. Die Lasen dehnten ihr Herrschaftsgebiet über die zentrale Kolchis bis in die Ländereien der Abchasen und Swanen aus und schufen einen neuen Staat, Lasika. Das Königreich Lasika konnte sich einer blühenden 8
Wirtschaft rühmen. Seine Hauptstadt Archeopolis und die Städte Kutaisi, Phasis, Warziche und viele andere gewannen an Bedeutung. Das Christentum, das in Ostgeorgien schon Staatsreligion geworden war, breitete sich auch hier rasch aus und wurde im Jahre 523 zur Staatsreligion erklärt. Mit dem römischen Reich war Lasika nur noch freundschaftlich verbunden. In den folgenden Jahren hatte Georgien ständige Angriffe der Perser und Byzantiner abzuwehren. Es stürzte aus einem Krieg in den anderen, von einer Fremdherrschaft in die andere. Perser und Byzantiner machten sich gegenseitig die reiche Beute streitig. Das georgische Volk aber bezahlte die Gier der Eroberer mit seinem Blut. Allmählich gewann Byzanz die Oberhand, und 627 vertrieben die Oströmer die Perser aus der Festung von Tbilissi. Damit befand sich ganz Georgien unter dem Einfluß von Byzanz. Doch die byzantinische Herrschaft währte nicht lange. Neue Eroberer traten auf den Plan, die riesige Ländereien unterwarfen und den Einfluß von Byzanz zurückdrängten. Die Araber tauchten das erste Mal in den Jahren 643 bis 648 in Georgien auf, doch sie erlitten eine Niederlage und mußten wieder abziehen. Als sie 654 erneut mit Heeresmacht anrückten, bot ihnen der Herrscher von Kartli reiche Geschenke und einen Waffenstillstand an. Die Araber gaben sich mit der Auferlegung einer Steuer zufrieden. Doch als Georgien sich gegen erneute Angriffe der Byzantiner von Westen und der Chasaren von Norden zu verteidigen hatte und äußerst geschwächt aus diesen Kämpfen hervorging, drangen die Araber wiederum in Georgien ein und unterwarfen, wenn auch nur für kurze Zeit, Westgeorgien. Beson9
ders festen Fuß faßten sie in Innerkartli, während sich die gebirgigen Randgebiete Georgiens ihrer Kontrolle entzogen. Selbst in Kartli, wo sich die Araber am sichersten fühlten, flammten ständig neue Aufstände gegen ihre Herrschaft auf. Das freiheitsliebende georgische Volk fand sich nie mit der fremdländischen Unterdrückung ab. Ende des 8. Jahrhunderts hatte die Araberherrschaft in Georgien ihren Höhepunkt überschritten. Es entstanden auf dem Boden Georgiens neue Staatsgebilde, die die arabische Herrschaft zum Wanken brachten. Die Fürstentümer Kachetien und Heretien kämpften gegen die fremden Eindringlinge. Gleichzeitig entstanden in Westgeorgien zwei mächtige Staaten, Abchasien und Tao-Klardsheti, die den Arabern gefährlich werden konnten. Um ihren Einfluß zu erhalten, entsandten die Araber 914 nochmals ein starkes Heer nach Georgien, das große Landesteile in Kachetien, Samzche und Dshawacheti verwüstete. Doch der Niedergang der arabischen Großmacht war unaufhaltsam. Im Südwesten Georgiens wuchs durch die kluge Politik Aschot Kuropalats Tao-Klardsheti zu einer Macht, die ganz Georgien vereinen konnte. Die Dynastie der Bagratiden vermochte Ende des 10. Jahrhunderts weite Gebiete Georgiens zu vereinigen, so daß faktisch nur Kachetien, Heretien und das Emirat von Tbilissi außerhalb des Bagratidenreiches lagen. Als zu Beginn des 11. Jahrhunderts auch Kachetien und Heretien dem georgischen Staatswesen zugeordnet werden konnten, war die Vereinigung Georgiens bis auf das Emirat von Tbilissi abgeschlossen. Doch die Vollendung der Einheit Georgiens stieß auf große Hindernisse. Die mächtigen Fürsten suchten ihre 10
eigene Hausmacht zu stärken und bekämpften das Königshaus. Immer wieder fielen Fürstentümer vom georgischen Staat ab und konnten erst nach harten Kämpfen abermals zur Botmäßigkeit gezwungen werden. Hinzu kamen die Einmischungsversuche seitens Byzanz und schließlich das Erscheinen der Seldschuken. Diese türkischen Eindringlinge überfluteten, aus Asien kommend, das Land, verwüsteten die Südgebiete, zogen sich wieder zurück und verheerten einige Jahre später die Ost- und Zentralgebiete Georgiens. Als sich diese Einfälle im Jahre 1080 in großem Maßstab wiederholten, gelang es den Türken, Georgien in ihre Gewalt zu bringen. Der Grund für die Niederlage der Georgier war die Uneinigkeit der Fürsten, denn das Volk war gewillt, den Eroberern Widerstand zu leisten. In dieser schweren Zeit bestieg einer der bedeutendsten georgischen Könige den Thron, Dawit IV. (1089 bis 1125). Dawit ging unter dem Namen ›der Erbauer‹ in die georgische Geschichte ein. Als er die Königswürde erlangte, war er erst 16 Jahre alt. Er übernahm ein verwüstetes Land, in dem die Türken schalteten und walteten. Dawit IV. sorgte daher zuallererst für gut ausgerüstete Truppen, mit denen er die nomadisierenden Türken ständig bedrängte. Gleichzeitig hatte er gegen die mächtigen Fürsten zu kämpfen, die gegen die Stärkung der Königsmacht auftraten. Dawit IV. gelang es, fast ganz Georgien von den Türken zu befreien. Bei diesen Kämpfen stützte er sich vor allem auf den niederen Adel, die Städte und ein aus dem Nordkaukasus in Sold gestelltes Kiptschakenheer, das aus 40 000 Reitern bestand. 11
Doch die Türken, die rings um Georgien starke Positionen innehatten, gaben sich noch nicht geschlagen. Sie drangen mit einem großen Heer in Richtung Innerkartli ein, wurden aber in der Schlacht von Didgori vernichtend geschlagen. Nach diesem Sieg war der Weg zur Befreiung von Tbilissi geebnet. Im Jahre 1122 eroberte das georgische Heer Tbilissi zurück, das seit Beginn der Araberherrschaft in ausländischer Hand gewesen war. Damit hatte Dawit der Erbauer das große Werk der Einigung und Befreiung Georgiens vollendet. Die georgischen Truppen befreiten auch die armenische Hauptstadt aus türkischer Gewalt. So war der georgische Staat unter Dawit IV. zu einer bedeutenden politischen Macht in Vorderasien geworden. Unter seiner Führung blühte die Wirtschaft des Landes auf. Dawit ließ Brükken und Straßen anlegen und förderte den Bau starker Befestigungsanlagen. In seiner Regierungszeit nahm die gesamte Kultur des Landes einen raschen Aufschwung. Unter Dawits Nachfolgern führte Giorgi III. (1156 bis 1184) die Politik der Stärkung des georgischen Staatswesens konsequent fort. Er setzte sich energisch und erfolgreich gegen die unter Demetre I. wieder gegen Georgien vorgehenden Türken zur Wehr und konnte auch den aufrührerischen Hochadel in die Knie zwingen. Da Giorgi III. keinen Sohn hatte, setzte er schon zu Lebzeiten seine Tochter Tamar als Mitregentin ein. Giorgi hinterließ seiner Tochter einen straff geführten, mächtigen Staat, in dem Wirtschaft und Kultur einen hohen Stand erreicht hatten. Trotzdem stieß Tamar
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schon zu Beginn ihrer Herrschaft auf erhebliche Schwierigkeiten. Die großen Fürsten wollten Tamar ihren Willen aufzwingen. Mit viel Geschick brachte es die Königin zuwege, den Staat ohne große Wirren weiterzuführen. Die Regierungszeit Tamars (1184-1213) war von bedeutenden außenpolitischen Erfolgen, aber auch von großen Zugeständnissen an den Adel gekennzeichnet. Erst unter Tamar erreichte der georgische Feudalstaat seine höchste Blüte. Georgien wurde der mächtigste Staat in Vorderasien. Militärisch hatte Georgien nun keinen ebenbürtigen Gegner mehr. In der Schlacht von Schamkori wurden die Truppen der Türken vernichtend geschlagen, und wenige Jahre später wurden die Byzantiner in Kleinasien besiegt und an der Südküste des Schwarzen Meeres ein Vasallenstaat geschaffen, in dem die Georgier einen Komnenen als Imperator einsetzten. Als das Sultanat Rum gegen Georgien auftrat, wurde den Türken wiederum eine große militärische Niederlage beigebracht, die als Schlacht von Basiani in die Geschichte einging. Aus diesen siegreichen Kriegen war Georgien als stärkste Militärmacht des Nahen Ostens hervorgegangen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte Georgien ganz Transkaukasien und die nördlich angrenzenden Gebiete unterworfen. Seine Grenzen reichten vom Schwarzen Meer bis zum Kaspischen Meer. Unter Tamars Nachfolgern erwuchs Georgien eine neue, große Gefahr. Aus den Steppengebieten Innerasiens kamen die mongolischen Reiterhorden gezogen, die auf ihrem Weg nach Westen alle Länder mit Krieg überzogen und gräßlich verwüsteten. Tamars Sohn Lascha Giorgi verstand es, die Angriffe der Mongolen ab13
zuwehren, doch unter seiner Schwester Rusudan, die ihm auf dem Thron folgte, brach gewaltiges Unheil über Georgien herein: Zuerst verheerten die Choresmier in mehreren Kriegszügen das Land, dann wurde es von den Mongolen vollends unterjocht. Die Hochkultur, die Georgien im 12./13. Jahrhundert erreicht hatte, brach jäh ab. Wirtschaftlicher und kultureller Niedergang folgte auf eine Epoche, in der Georgien ökonomisches und geistiges Zentrum des Fortschritts gewesen war. Bis in das 14. Jahrhundert dauerte die Mongolenherrschaft, und als sich die Macht der Mongolen erschöpft hatte, mußte sich Georgien dauernder Angriffe der Türken und Perser erwehren. In dieser Zeit zerfiel der georgische Staat in einzelne Königreiche und Fürstentümer. Die Zersplitterung Georgiens wurde erst durch die Okkupation des zaristischen Rußlands beendet. Zwar fehlte es von georgischer Seite nicht an Versuchen, die staatliche Einheit wiederherzustellen, doch scheiterten sie sämtlich am Widerstand der Fürsten und an der Einmischung äußerer Feinde. Die ständigen Abwehrkämpfe gegen die islamischen Türken und Perser ließen das georgische Volk ausbluten und brachten es an den Rand des Untergangs. Unter diesen Bedingungen erachtete es der König von Kartli und Kachetien, Erekle II., als notwendig, mit dem christlichen Rußland einen Schutzvertrag abzuschließen. 1784 wurde dieser Vertrag feierlich unterzeichnet. Doch die zaristischen Machthaber nahmen es mit der Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen nicht ernst. Des öfteren sah sich Georgien doch wieder allein seinen Feinden gegenüberstehen, bis Rußland
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nach dem Tode Giorgis XII. im Jahre 1801, somit den Vertrag brechend, Georgiens Eigenstaatlichkeit aufhob. Obwohl die Zeit der russischen Besetzung von ständigen Aufständen gegen die Fremdherrschaft gekennzeichnet war, konnte sich das georgische Volk erst nach dem Sturz des Zarismus aus dem zaristischen Völkergefängnis befreien und seine staatliche Selbständigkeit wiedererlangen. Am 25. Februar 1921 wurde die Sowjetmacht in Georgien ausgerufen. Heute ist Georgien eine souveräne sozialistische Sowjetrepublik, die sich mit 14 anderen Sowjetrepubliken zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammengeschlossen hat. Georgien zählt zwar zu den kleinen Republiken der Sowjetunion, doch seine kulturelle Bedeutung in der Menschheitsgeschichte ist ungleich größer. Die geographische Lage Georgiens an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien hat es wie kaum ein anderes Land zum Mittler wirtschaftlicher und kultureller Güter beider Erdteile werden lassen. Auch die georgische Literatur war europäischen und orientalischen Einflüssen unterworfen. Aus beiden Richtungen wurden Impulse aufgenommen und verarbeitet. Die georgische Literatur wurde jedoch nicht zum bloßen Nachahmer dessen, was von außen hereindrang, sondern sie behielt ihr eigenes Gepräge, gliederte die neu hinzugekommenen Impulse ihrem Gefüge ein und gestaltete die eigene Substanz unter Verwertung der fremden Anregungen zu neuen, eigenständigen künstlerischen Werken. All das trifft auch auf die Volksdichtung zu und in besonderem Maße auf die Märchen. Obwohl die erhalten gebliebene georgische Literatur eine tausendfünfhundertjährige Geschichte besitzt, ist 15
die Folklore erst recht spät belegt. Zwar haben literarische Werke des 12./13. Jahrhunderts wie Mose Chonelis Ritterroman ›Amirandaredshaniani‹, Schota Rustawelis Epos ›Wepchistqaosani‹ und andere Werke aus der georgischen Folklore geschöpft, doch mit dem Sammeln georgischer Volksdichtung begann man erst im 17. Jahrhundert, als der neapolitanische Missionar Bernarde, der einige Jahre in Georgien wirkte, eine Reihe georgischer Märchen aufzeichnete. In die nun allmählich reger werdenden Bestrebungen, sich der georgischen Folklore zuzuwenden, ist auch SulchanSaba Orbelianis Buch ›Die Weisheit der Lüge‹ einzuordnen, wo zahlreiche georgische Märchenmotive Eingang fanden. Das Sammeln georgischer Märchen in großem Maßstab und ihre wissenschaftliche Erforschung ist eng mit der realistischen Literaturströmung der Tergdaleuli verbunden, die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hervortrat und die Führung der nationalen Befreiungsbewegung des georgischen Volkes gegen die Herrschaft des Zarismus übernahm. Dichter und Schriftsteller wie Ilia Tschawtschawadse, Akaki Zereteli, Iakob Gogebaschwili, Rapiel Eristawi, Aleksandre Qasbegi und Washa-Pschawela, die sich in ihrem Ringen um die Wiedergeburt des georgischen Nationalbewußtseins auf das reiche mündlich überlieferte Volksschaffen besannen, wandten sich den verschiedenen Genres der Folklore zu. In der Presse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in den Blättern ›Iweria‹, ›Kwali‹, ›Droeba‹ und ›Moambe‹, wurden häufig von ihnen aufgeschriebene Werke der Folklore veröffentlicht.
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Doch in zaristischer Zeit war das Veröffentlichen georgischer Märchen unsäglich schwer, denn es gehörte zur Praxis des Zarismus, mit der Unterdrückung anderer Nationen auch deren Geistesschaffen und kulturelle Traditionen zu vernichten. Deshalb konnten trotz angestrengter folkloristischer Sammeltätigkeit in dieser Zeit nur wenige Bände georgischer Märchen erscheinen: 1890 ein kleiner Band, den Wladimer Aghniaschwili herausgab, 1893 ein swanisches Märchenbuch, 1895 eine Ausgabe von Ozchaneli, seit 1897 mehrmals Akaki Zeretelis Märchensammlungen in dem von ihm verlegten ›Krebuli‹ und 1902 ein Märchenbuch des ›Kreises georgischer Frauen‹, dem 1903 ein zweiter Band folgte. Im gleichen Jahr erschienen Märchenausgaben von Merkwiladse und Gatschetschiladse. Tedo Rasikaschwili, ein Bruder Washa-Pschawelas und einer der bedeutendsten Folkloresammler überhaupt, versuchte seit Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergeblich, seine Materialien in Buchform herauszugeben. Erst 1909 gelang es ihm, zwei Märchenbände zu veröffentlichen. Petre Umikaschwili, der seit 1863 georgische Volksdichtung sammelte und überaus vielseitiges Material zusammenstellte, konnte die Publikation seines Lebenswerkes nicht mehr erleben. Als er 1904 starb, war nur ein verschwindend kleiner Teil seiner Arbeit veröffentlicht, erst nach der Befreiung Georgiens vom Zarismus wurde seine gesamte Kollektion, darunter auch seine Märchen, herausgegeben. Der Großteil der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von Folkloristen edierten Volksdichtung ist auf verschiedene Publikationen verstreut. Die von Matschabeli, Mirianaschwili, Bakuradse (Pseudonym: Kartweli Osebschi), 17
Kalandadse, Merkwiladse, Dshanaschwili und Rostomaschwili gesammelten Märchen sind in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden und nur in wenigen Fällen als kleine Märchenbände erschienen. Erst Ende der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts begann in der Georgischen SSR eine rege Verlagstätigkeit, die auch zur Publikation einer großen Zahl von Folkloretexten führte, deren Herausgeber meist Folkloristen und Sprachwissenschaftler waren. 1938 erschienen Märchenbände von Nakaschidse, Tschikowani und Sicharulidse, 1948 von Ghlonti, 1949 von Wirsaladse, 1952 von Tschikowani, 1952 von Ghlonti, 1956 von Tschikowani, 1957 von Ghlonti und Wirsaladse, 1963 von Tschikowani, 1964 von Umikaschwili, 1970 von Sicharulidse, 1974 von Ghlonti und 1977 von Ketelauri. Hinzu kommen zahlreiche Märchen in Dialektsammlungen, zuletzt die von Dsidsiguri 1974 verlegten ›Materialien zur georgischen Dialektologie‹. Diese georgischen Märchensammlungen ermöglichen einen ausgewogenen Einblick in den Charakter jener Märchenwelt. Im Unterschied zum übrigen georgischen Literaturschaffen wird im Märchen sehr stark symbolisiert, ein Verfahren, das auf ein hohes Abstraktionsvermögen der Märchenbildner schließen läßt. In der Mehrzahl der Märchen begegnet uns eine harte Gegenüberstellung von Gut und Böse, die letztlich vom Sieg des Guten aufgehoben wird. Der Ausgang des Märchens ist also stets optimistisch, doch wird dieser Schluß erst nach Durchlaufen großer Gefahren, nach erheblichen Anstrengungen, die den Helden bis an den Rand des Verderbens führen, erreicht. Bisweilen begegnet man auch dem Motiv des Verzeihens. Diese wesentlichen Positionen in den Märchen reflektieren 18
äußerst konzentriert gesellschaftliche Grunderfahrungen des georgischen Volkes. Die Bedeutung der Märchen für die ethische Erziehung des Volkes und vor allem der Kinder ist wohl universell und unumstritten; Gerechtigkeitssinn und Rechtsempfinden werden geschult. Auch die georgischen Märchen bilden hier keine Ausnahme. Von Dichtern wie Akaki Zereteli und Washa-Pschawela ist überliefert, wie hoch sie Märchen schätzten und welch unauslöschlichen, nachhaltigen Eindruck diese in der Kindheit auf sie ausübten. So hat wohl überhaupt die georgische Folklore in hohem Maße Einfluß auf die Geisteshaltung und das ästhetische Empfinden der Georgier genommen. Nicht umsonst spricht man von den Georgiern als einem Volk von Dichtern. Und tatsächlich ist bis in die Gegenwart nicht nur die Zahl der als Schriftsteller tätigen Georgier sehr groß, sondern auch die Zahl derer, die Werke der Folklore auswendig kennen oder aus dem Stegreif, wie es bei Festen Sitte ist, sich künstlerisch auszudrücken vermögen. Die Bedeutung der georgischen Volksdichtung für die Georgier selbst ist damit jedoch nicht erschöpft. Jahrtausende währende Kämpfe gegen fremde Eroberer haben der Geschichte dieses freiheitsliebenden Volkes ihr Siegel aufgedrückt. Immer wieder mußten die Georgier zu den Waffen greifen, um ihre Heimat zu verteidigen. Wiederholte harte Kämpfe gegen Urartäer, Kimmerer, Skythen, Perser, Römer, Chasaren, Araber, Byzantiner, Türken, Choresmier, Mongolen, Daghestaner und andere Eindringlinge führten nicht nur dazu, daß der georgische Krieger zum Symbol für Tapferkeit wurde, sondern die Überzahl der Feinde brachte dem kleinen, sich stets heldenhaft verteidigenden Volk 19
mehrmals die Gefahr völliger Vernichtung und kultureller Überfremdung. In solchen Zeiten half den Georgiern die Besinnung auf die eigene Folklore und die klassische georgische Literatur zur Wiederbelebung der nationalen Literatur und zur Wiedergewinnung ihrer Eigenständigkeit. Auf diese Weise gelang es Dichtern wie Artschil II., Garsewan Tscholoqaschwili, Sulchan-Saba Orbeliani und Dawit Guramischwili, die georgische Literatur des Spätfeudalismus vom verfremdenden Übergewicht persischer Einflüsse zu befreien. In gleicher Weise ist die starke Hinwendung der realistischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zur Volksdichtung zu verstehen. Das damals massiv einsetzende Studium der eigenen Märchen, Sagen, Volkslieder wie der gesamten Poesie bewahrte das nationale Kulturerbe gegen Bestrebungen der zaristischen Assimilierungspolitik. Der Symbolgehalt georgischer Märchen geht verschiedentlich ins Magische, in Zahlenmagie über. So kommt zweifellos der Zahl 9 eine besondere Bedeutung zu. Immer wieder begegnet uns diese Zahl in den Märchentexten: hinter neun Bergen lebt ein neunköpfiges Ungeheuer; die Sonne sieht mit neun Augen vom Himmel herab; hinter neun Schlössern hält der König seine einzige Tochter verborgen; ein Jüngling bittet um eine Frist von neun Monaten, neun Tagen und neun Stunden; auch ist von neun Brüdern die Rede; ein Herrscher hat neun Söhne; neun Jahre lang hat eine Frau ihrem Mann nicht widersprochen; ein gefangener Vogel wird mit neun Sattelriemen am Pferd festgebunden; ein Pferd wird in neun Büffelhäute gehüllt. Die relative Lebendigkeit derartigen magischen Zaubers ist auch heute noch in den georgischen Gebirgs20
gegenden zu beobachten, wo an heimischen Kultstätten ›neun Kweri‹, ein brötchenartiges Gebäck, gebakken und geopfert werden. Jedoch nicht nur der Zahl 9, sondern auch anderen Zahlen mißt man magische Bedeutung zu: so der 12 (zwölf Gemächer; zwölfköpfiges Ungeheuer), der 3 (drei Brüder Ungeheuer) und der Zahl 7 (sieben Brüder; ein Felsen öffnet sich einmal in sieben Jahren). Genaue Gründe für diese Zahlenmagie, die auch bei anderen Völkern zu beobachten ist, sind nicht bekannt. Wahrscheinlich ist sie aus frühesten Zeiten überkommen und geht auf alte kultische beziehungsweise religiöse Vorstellungen zurück. Typisch für das georgische Märchengut ist auch die abstrakte Toponymik. Konkrete Toponyme wurden von den Märchenbildnern vermieden. So spielt sich die Handlung hinter neun Bergen ab, der Jäger reitet über freies Feld, er jagt auf dem roten, dem schwarzen, dem weißen Berg. Dennoch lassen sich aus diesen Aussagen Angaben über die reale Umwelt gewinnen. Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß die Vorfahren der Georgier kein Volk waren, das in endlosen, ebenen Steppengebieten nomadisierte, sondern vielmehr in gebirgiger Landschaft mit hohen Gipfeln siedelte. Ebenso abstrakt wie die Toponymik ist auch die georgische Anthroponymik. Oft tragen die Märchengestalten keine Namen, sie bleiben anonym. Werden ihnen dennoch Namen gegeben, so werden diese aus der Tierwelt hergeleitet, wie Mgela (mgeli – Wolf), Irmisa (iremi – Hirsch), Wepchwia (wepchwi – Panther), Pozchwera (pozchweri – Luchs), Datua (datwi – Bär) und Charika (chari – Stier), oder mit Naturerscheinungen in Verbindung gebracht, wie Msekala (Sonnenfrau) 21
beziehungsweise aus Alltagsbeobachtungen abgeleitet, wie Sismara (Träumer) und Nazarkekia (Aschenscharrer). In den vorliegenden Übersetzungen wurde auf die Wiedergabe der spezifischen georgischen Märchenanfänge verzichtet, sie wurden der uns vertrauten Art angeglichen. Stets ist dem immer wiederkehrenden Märchenbeginn (iqo da ara iqo ra – es war und war auch nicht), noch eine Anfangsformel in Gestalt eines kleinen Verses vorangestellt, die von hoher künstlerischer Verallgemeinerung zeugt und als Ergebnis eines langen Entwicklungsweges des georgischen Märchens zu werten ist. Diese Verse, die von der Folkloristin Sicharulidse wissenschaftlich bearbeitet wurden, besitzen unterschiedliche Formen. Typisch ist, daß diese georgischen Märchenanfänge oftmals nicht dort abgeschlossen werden, wo analog Anfänge von Märchen anderer Völker der Welt enden. Sie erhalten vielmehr eine interessante Fortsetzung, die dem Märchenerzähler dazu dient, seine Zuhörer zu fesseln und bei ihnen die Erwartung, Ungewöhnliches zu hören, hervorzubringen: iqo da ara iqo ra,
Es war und war auch nicht, was gäbe es Besseres als Gott. Es war eine singende Drossel, barmherzig unser Gott.
γvtis uketesi ra ikneboda. iqo šašvi mgalobeli, γmerti čveni mcqalobeli. γmerts dideba, čven mšvidoba,
Gott sei Ruhm, uns Frieden, 22
γmerti maγali, kaci dabali.
Gott ist groß, der Mensch klein.
Ein anderer Märchenanfang lautet: zγapar iqo, zγapar iqo,
Es war ein Märchen, war ein Märchen, im Wäldchen war ein Vogel gestorben, ich legte ihn auf den Zaun, da war er vertrocknet, ich nahm ihn herab, da war er verfault: in einen großen Kessel paßte er nicht, in einem kleinen war er zu winzig: hundert Leute konnten ihn nicht aufessen, er war ein Bissen für einen Mann.
čalas čiti momkvdariqo, γobes ševde, gamxmariqo, čamaviγe, dampaliqo: did kvabši ar eteoda, pataraši laγad iqo: asma kacma ver šečama, erti kacis lukma iqo.
Das Märchen ist eine sehr alte, bis in die Anfänge der Menschheitskultur zurückzuverfolgende volkstümliche künstlerische Form, die dem jeweiligen Bewußtseinsstand adäquate Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft zu artikulieren. Auch in die vorliegende Sammlung sind einerseits Märchen übernommen worden, die in ihrer Grundsubstanz ein sehr hohes Alter haben müssen. Dazu gehören vor allem Märchen mit Jagdmotiven, die teilweise deutliche totemistische Züge tragen. Ein verhältnismäßig hohes Alter haben auch jene Märchen, die offenkundige Parallelen zum georgi23
schen Sagengut aufweisen. Andererseits finden wir in dieser Sammlung Märchen, die verhältnismäßig spät, zur Zeit des Feudalismus, entstanden sind. Es gilt also zu berücksichtigen, daß die Märchen unserer Ausgabe unterschiedliche, der jeweiligen Zeit und Gesellschaft entsprechende Weltbetrachtungen beinhalten. Hinzu kommt, daß das Märchen, einmal gebildet, zwar eine recht beständige Größe darstellt, aber keineswegs unveränderlich ist. Im Laufe der Zeit hat sich der Charakter vieler Märchen durch mannigfache Überlagerungen, die dem Einfluß der veränderten Gesellschaftssituation zuzuschreiben sind, gewandelt. Besonders auffallend ist die Umformung alter Märchen in christlicher Zeit, die Aufnahme von Personen, die Träger christlicher Ideologie sind, beziehungsweise die Umwandlung heidnischer Gestalten in christliche. Derartige Umformungen lassen ideologische und soziale Entwicklungsund Wandlungsprozesse der Gesellschaft auch im Märchen erkennbar werden. Das Christentum hatte sich seit dem 4. Jahrhundert in den dichtbesiedelten Teilen Georgiens ausgebreitet, doch blieb sein Einfluß in den Bergen (Swanetien, Chewi, Pschawi, Chewsurien, Tuschetien) unbedeutend. Die Georgier im Hochgebirge des Kaukasus verehrten bis in die jüngste Vergangenheit weiterhin die alten heidnischen Gottheiten, obwohl sie sich als Christen bezeichneten. Tatsächlich waren verschiedentlich nur die Namen jener Gottheiten christianisiert worden, während sich Inhalt und Gestaltung der Kulthandlungen nicht veränderten. In vielen Fällen wurden die Namen der alten Götter jedoch beibehalten (Laschari, Dali, Iaqsari, Kopala, Pirkuschi). Im Unterschied zum Christentum übte der Islam einen weitaus geringeren weltanschaulichen Einfluß auf 24
die georgischen Märchen aus. Die unter islamischem Einfluß entstandenen Märchen können frühestens aus dem 8. Jahrhundert stammen, jener Zeit, in der die Araber in Georgien herrschten. Doch entstanden wohl die meisten dieser Märchen erst vom 15. bis 18. Jahrhundert, der Zeit des Spätfeudalismus, als die Perser und Türken ständig das Land bekriegten und ganze Landesteile jahrhundertelang von Türken unterjocht wurden. Aus jenen im Süden des Landes gelegenen Gebieten (Atschara, Samzche) ist auch der größte Teil islamisch gefärbten Märchengutes überliefert. Andere weltanschaulich-religiöse Einflüsse, wie sie beispielsweise durch den Mazdaismus möglich gewesen wären, haben jedoch keine nachweisbaren Spuren in der georgischen Folklore hinterlassen. Einige Märchen weisen eine geographisch genau bestimmbare Herkunft auf. So sind die in Sulchan-Saba Orbelianis ›Weisheit der Lüge‹ aufgenommenen Märchen ›Der Löwe und der Hase‹ wie auch ›Der Esel, der Tiger, der Fuchs und der Wolf‹ aus indischen Quellen übernommen. Auch unter den Bedingungen des Sozialismus finden gesellschaftliche und ideologische Veränderungen im Märchen ihre Widerspiegelung. Sozialistische Verhältnisse bringen ein höheres Lebensniveau, ein höheres kulturelles Niveau hervor. Die damit einhergehende gewachsene Feinfühligkeit wird auch durch die Vermittlung und Rezeption von Märchen ausgeprägt. Presse, Rundfunk und Fernsehen unterstützen diesen Prozeß mit ihren spezifischen Mitteln. Trotz pessimistischer Stimmen über das Aussterben der Folklore in unserer Zeit zeigt es sich, daß sie, den neuen Bedingungen angepaßt, beharrlich weiterlebt. 25
Mehrere georgische Märchen weisen Passagen auf, die auch in den Varianten der uralten Amirani-Sage, der kaukasischen Parallele zur Prometheus-Sage, enthalten sind. Derartige Motivanalogien finden wir beispielsweise in dem Märchen ›Das Schilfmädchen‹, denken wir an die Episode vom Zerbrechen des Kruges, dem ein Fluch folgt, wie auch in dem Märchen ›Der Kupferwolf‹, läßt doch das Abenteuer in der Unterwelt gleichfalls einen klaren Bezug zur Amirani-Sage vermuten. Die Wechselbeziehungen zwischen Märchen und Sagen bedürfen jedoch noch der wissenschaftlichen Klärung, so daß aus diesen zwar auffälligen Übereinstimmungen noch keine Schlüsse gezogen werden können. Manche der in georgischen Märchen vorkommenden Motive sind auch aus Märchen anderer Völker bekannt. Da sie aber in den georgischen Märchen immer wiederkehren und offenbar fest darin verankert sind, können wir sie auch als charakteristische georgische Märchenmotive betrachten: So das Motiv der Seelensuche (›Irmisa‹, ›Das zwölfköpfige Ungeheuer‹, ›Der Bettler und das Tuch‹), das Motiv der Verwandlung der Tiergebeine, das Motiv des Angriffs auf die Sonne und der Reise zur Sonne, das Motiv der Spaltung einer Frau und das des tagsüber toten, nachts aber zum Leben erwachenden Jünglings. Von der Motiv-Gruppierung der Märchen, so wie sie Aarne/Thompson vorgenommen haben, wurde in der vorliegenden Sammlung bewußt Abstand genommen, um dem Leser spezifische Gesichtspunkte aufzuzeigen, die den georgischen Märchen eigen sind. Natürlich ist diese Gruppierung nur ein Versuch; Ansätze für ein
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anderes Herangehen lassen sowohl die Märcheninhalte wie -formen zu. In vielen georgischen Märchen begegnen uns Motive, die aus Jagderlebnissen resultieren. Diese Motive geben an entscheidender Stelle der Handlung eine neue Wendung oder führen ins Märchengeschehen ein und bestimmen den Verlauf des Geschehens. Die Herkunft des Jägers ist sozial unterschiedlich. Entweder bestreitet der Held mit der Jagd seinen Lebensunterhalt, oder er betreibt sie zum Zeitvertreib wie Könige und Königssöhne. Im allgemeinen ist der Jäger der georgischen Märchen ein guter Mensch, ein erfolgreicher Schütze und mutiger Kämpfer, dessen Leben durch Jagdabenteuer schicksalhaft beeinflußt wird. Dabei spielt häufig das Wild eine Zauberrolle (der Jäger trifft nicht und muß sterben; der Jäger erlegt das Tier und gewinnt großen Reichtum, der ihn aber in Gefahr bringt; der Jäger findet eine Hirschkuh, die ein Menschenkind aufgezogen hat). Wir können mit Sicherheit annehmen, daß der Georgier in der ursprünglichen Gestalt des Jägers eine Selbstdarstellung hervorgebracht hat, die auch oder vor allem Eingang ins Märchengut auf Grund dessen Spezifik fand. Er war es, der auf der Suche nach Wild durch die Schluchten und Berge streifte; die Abhängigkeit vom Jagderfolg, seltsame Begegnungen in der Wildnis und für ihn unerklärliche Zufälle beflügelten die Phantasie und lieferten die wundersamsten Stoffe. Auch für diese Märchengruppe trifft zu, was bereits angesprochen wurde: die große Gemeinsamkeit zwischen den älteren Märchen und dem ältesten Sagengut der Georgier hinsichtlich der Bedeutung der Jagd.
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Jede der drei großen Märchengestalten, Komble, Chutkuntschula und Nazarkekia, haben ihr eigenes unverwechselbares Gesicht, und doch verbindet sie mancherlei. Alle drei sind einfache Menschen, der eine fleißig, der andere faul, aber alle wissen sich, wenn sie in Gefahr geraten, durch Menschen oder Riesen ins Verderben gestürzt zu werden, sehr geschickt zu verhalten. Ihre List befähigt sie zum Bezwingen ihrer Feinde, und daher gehen sie erfolgreich aus allen bedrohlichen Situationen hervor. Ihre List ist nicht Tücke, sondern der Schutz kluger Menschen. Selbst die unglaublichsten Momente eigener Schwäche verwandelt der gewitzte Nazarkekia schlagfertig in überzeugende Beweise seiner Kraft, bis die starken Riesen erschrocken das Weite suchen, Nazarkekia aber mit ihren Schätzen aufbricht, um sich zu Hause wieder ein gutes Leben zu machen. Von den Tiergestalten agiert in georgischen Märchen der Bär des öfteren als wichtige Figur. In den Tiermärchen erscheint er als plumpes, kräftiges, selbstsüchtiges, aber dummes Tier. In anderen Märchen besitzt er beträchtlich abweichende Eigenschaften. Er tritt als gutmütiges, dem Menschen wohlwollendes Tier auf, das sich sogar an Frauen heranwagt und mit ihnen Kinder zeugt. Diese Kinder strotzen vor Kraft und sind unbesiegbar. Hierin erblicken die Folkloristen den Nachklang eines ursprünglichen Totemismus. Noch heute unterliegt in einigen Gegenden Georgiens Bärenfleisch einem Eßverbot, man scheut sich vor allem, Schulterfleisch zu essen, weil die Bärenschulter der Schulter des Menschen ähnele. Die georgischen Märchen sind aber auch von Unholden, Ungeheuern und Riesen bevölkert, mit denen sich 28
die Helden auseinandersetzen müssen. Diese Wesen, denen die Georgier den Namen Dewi gegeben haben, verfügen über ungeheure Kräfte, sind groß, ungeschlacht und tragen bisweilen mehrere Köpfe, auch andere Verunstaltungen sind nicht selten. Im allgemeinen fungieren sie als Menschenfresser und Verkörperung des Bösen, trachten dem Märchenhelden nach dem Leben und müssen von ihm bezwungen werden. Dies wiederum erweist sich als eine schwierige Aufgabe, da jene Ungeheuer und Riesen eine Seele haben, deren Aufenthaltsort ein Geheimnis ist, das der Held nur mit Hilfe einer Frau dem Unhold entlocken kann. Hat der Held die Seele des Dewi in seine Gewalt gebracht, so erlischt die Macht des Bösen, er muß sterben. Neben Ungeheuern, die den Menschen von Natur aus feindlich gesonnen sind, haben die Märchenbildner jedoch auch jene eingeführt, die den Menschen helfen, ihm freundschaftlich die Treue halten. Die Mütter dieser Unholde besitzen denselben Riesenwuchs, dieselben Kräfte wie ihre Kinder, so drehen sie eine Tanne als Spinnrocken in ihren Händen und benutzen als Wirtel einen Mühlstein. Im Vergleich zu ihren Söhnen sind sie weniger böse und gewähren dem Helden Schutz und Beistand, wenn er sie in der rechten Weise anspricht. Da sie über geheimnisvolle Kenntnisse verfügen und ein wenig den Lauf der Dinge voraussehen können, sind sie in der Lage, dem Helden des Märchens gute Ratschläge zu geben. Wie die Riesen und Ungeheuer bilden auch die Drachen einen untrennbaren Bestandteil der georgischen Märchenwelt. Als mächtiges Sinnbild des Bösen, das nicht leicht zu bezwingen ist, besitzt er oft mehrere feuerspeiende Köpfe. Wenn der Drache seinen gewal29
tigen Rachen aufreißt, kann er sogar die Sonne verschlingen. Er kann sich in die Luft erheben und fliegen, und seine Grausamkeit kommt darin zum Ausdruck, daß er sich der Quellen und Wasserstellen bemächtigt. Den Menschen gewährt er nur die Wasserentnahme, wenn ihm Menschenopfer dargebracht werden. Negative Märchengestalten sind auch die bösen Geister (Kadshi), die menschenähnlichen Wuchs, aber ein grausiges Aussehen haben. Sie verstehen zu zaubern, können sich unsichtbar machen und sind den Menschen feindlich gesonnen. Begegnen sie einem Menschen, so suchen sie ihn ins Verderben zu stürzen oder um den Verstand zu bringen. Ihre Klugheit und geheimnisvolle Zauberkraft birgt für den Helden des Märchens so viel Gefahr in sich, daß er sich nur mit List dieser entziehen kann. Nicht nur die natürliche Umwelt des Menschen (Gareskneli, Schuaza) ist Austragungsort der Märchenhandlung, sondern auch der Himmel (Seskneli, Seza) und die Unterwelt (Kweskneli, Kweza) sind in die Geschehnisse einbezogen. Die weltanschauliche Bedingtheit der Einbeziehung dieser Handlungsorte steht außer Frage. Die Reise zum Himmel fällt dem Helden nicht leicht, aber er bewältigt sie dennoch, gelangt in das Reich der Sonne, wo er wie auf der Erde handelt. Der Himmel ist der Erde ähnlich, hier gibt es ein Haus mit einem Garten, in dem die Sonne wohnt, auch hier leben Menschen und Tiere. Noch irdischer als den Himmel stellt sich der Georgier im Märchen die Unterwelt vor. Dort leben Menschen in Dörfern, Städten und Königreichen wie auf der Erde, es bestehen dieselben sozialen Beziehungen wie auf der Erde, ja es scheint sogar die Sonne, nur viel matter. Die Unterwelt ist der 30
Schauplatz von Kämpfen mit grausamen Drachen, die auch hier den Menschen das Wasser verwehren, wenn sie nicht mit Jünglingen und Jungfrauen gespeist werden. Dem Sieg über das Böse folgt der Aufstieg des Siegers ans Tageslicht wie der Lohn für eine gute Tat. Ist es des öfteren vorgekommen, daß Märchen zu größeren literarischen Werken verarbeitet wurden oder Märchenmotive in die georgische Literatur Eingang fanden, so ist auch der umgekehrte Weg, wenn auch ungleich seltener, zu beobachten. Einige georgische Märchen sind sekundär auf der Grundlage literarischer Werke entstanden. Beispielsweise fand Schota Rustawelis Epos ›Der Recke im Pantherfell‹ solch starken Widerhall im Volk, daß es in vielerlei Form zu Folkloretexten umgestaltet wurde. Allerdings sind diese späten Märchen nur ein matter Abglanz der genialen Leistung Rustawelis. Ihre Wirkung ist schwach, und sie stehen in der künstlerischen Ausführung auch weit hinter dem volkstümlichen Märchengut zurück. Ein vom ›Recken im Pantherfell‹ abgeleitetes Märchen ist das als Beispiel in den vorliegenden Band aufgenommene Märchen ›Taria‹. Die georgischen Märchen legen nicht nur Zeugnis für die reiche Phantasie und Erzählfreudigkeit des Volkes ab, um in diesem Sinne persönlichen Wünschen der Menschen Ausdruck zu verleihen, sondern sie entsprechen vor allem auch gesellschaftlichen Interessen. Klassenunterschiede und soziale Kämpfe finden in ihnen recht klaren Ausdruck, und die Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit der Herrschenden und die Unterdrückung durch die Mächtigen ist in vielen Märchen Hauptteil der Handlung. Märchen, die so klar gesellschaftliche Anliegen zum Ausdruck bringen, sind meist 31
spät entstanden. Daß in diesen Märchen die Sympathie des Volkes jenen gehört, die aus seiner Mitte kommen und seine Sehnsüchte vertreten, ist nur zu verständlich. Die Bestrafung des grausamen, habgierigen Herrschers und seine Ablösung durch einen Sohn des Volkes ist in vielen Märchen eine intuitiv ersehnte Vorwegnahme notwendiger gesellschaftlicher Umwälzungen. Wenn diese Veränderungen auch auf die Führung des Staates beschränkt bleiben und sich im gesamten Klassengefüge nichts ändert, so ist doch die mit märchenspezifischen Mitteln angestrebte Machtübernahme durch einen Vertreter des Volkes als Teil geistiger Wegbereitung künftiger umfassenderer Wandlungen zu werten. Die georgischen Märchen, von denen hier nur ein kleiner, aber repräsentativer Teil vorgestellt wird, zeugen von der Schöpferkraft und Phantasie, von den hohen moralischen Eigenschaften und der weiten didaktischen Sicht des georgischen Volkes, von seiner Kraft zu überleben, von seinem Glauben an das Gute und der Zuversicht auf den Sieg über seine Widersacher.
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Der Tschongurispieler Es war einmal ein Herrscher, der hatte eine einzige Tochter, die an Schönheit der Sonne gleichkam. Der Vater sagte zu den Freiern seiner Tochter: »An einem Ort in einem Garten wächst der Baum mit dem Apfel der Unsterblichkeit. Wer mir diese Frucht bringt, dem gebe ich meine Tochter zur Frau.« Alle Freier gingen, um den Apfel zu suchen. Viele junge Männer zogen aus, aber keiner kehrte zurück. In der Nähe des Herrscherhauses lebte ein Tschongurispieler, der wegen seines Gesanges und seines Spiels berühmt war. Auch ihm gefiel das schöne Mädchen, aber wie hätte er es wagen dürfen, um ihre Hand anzuhalten! Eines schönen Tages begab sich jedoch auch der Tschongurispieler zum Herrscher und warb um dessen Tochter. Ihm wurde gleichfalls die Aufgabe gestellt, den Apfel der Unsterblichkeit zu bringen. Der Tschongurispieler nahm seinen Tschonguri und machte sich auf den Weg. Nach langem Wandern gelangte er an einen riesigen Garten, der von einer so hohen Mauer umgeben war, daß selbst ein Vogel nicht darüberfliegen konnte. Der Tschongurispieler irrte lange um den Garten herum, aber er konnte den Eingang nicht finden. Er lief um den Garten herum, spielte auf dem Tschonguri und sang. Diesem Lied lauschte alle Welt. Der Wald hörte auf, mit seinen Blättern zu rauschen, und labte sich an dem Gesang. Die Vögel flogen vom Himmel zum Garten herab, ließen sich auf die umstehenden Bäume 33
nieder und hörten zu, wie der Tschongurispieler sang. Das Lied beglückte alle, sogar die steinerne Mauer. Mit einemmal öffnete sich vor dem Tschongurispieler die steile Felsenmauer, und ein mit Blumen bewachsener Weg wurde sichtbar, der in den Garten hineinführte. Der Tschongurispieler folgte dem Blumenweg und sang dabei sein herzbewegendes Lied. In diesem Garten aber stand der Baum mit dem Apfel der Unsterblichkeit, den ein Drache bewachte. Wer sich in die Nähe des Gartens wagte, den verschlang er bei lebendigem Leibe. Der Drache hörte die fremde Stimme, riß seinen schrecklichen Rachen auf und grollte: »Wer hat die Kühnheit besessen, in meinen Garten einzudringen, wo aus Furcht vor mir keine Ameise über den Boden kriecht und kein Vogel durch die Lüfte fliegt!« Der Tschongurispieler spielte und sang sein Lied, und aus seinen Augen rannen Tränen. Schnaubend wälzte sich der Drache dem Tschongurispieler entgegen. Er sperrte seinen fürchterlichen Rachen auf, um ihn zu verschlingen, doch plötzlich hielt er inne und lauschte. Der süße Gesang raubte ihm die Sinne. Lange lauschte er reglos. Sein böses Herz hielt es nicht mehr aus, und aus seinen blutunterlaufenen Augen tropften Tränen. Zitternd und schluchzend starrte der schreckliche Drache den Tschongurispieler an. Der aber sang noch gefühlvoller als zuvor. Noch einmal schlug der Tschongurispieler die Saiten an, da rissen sie plötzlich, und alles verstummte. Mit gesenktem Kopf stand der Tschongurispieler vor dem aufgerissenen Rachen des Ungeheuers und ließ seinen Tränen freien Lauf. Der Drache schwieg; in seinen Au-
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gen standen ebenfalls Tränen, und mitleidig starrte er den Spieler an. Plötzlich kam der Drache zu sich. Er hob den Kopf, pflückte den Apfel der Unsterblichkeit und reichte ihn dem Tschongurispieler. Der schreckte zusammen, er traute seinen Augen nicht. Der Drache sagte: »Nimm ihn, sei nicht schüchtern. Mein ganzes Leben habe ich noch nie so eine Stimme gehört, niemand hat mit solcher Stimme zu mir gesprochen. Geh, nimm diesen Apfel, und ich gebe dir mein Wort, daß ich von heute an das Blut deines Stammes nicht mehr vergießen werde. Wie angenehm ist doch die Stimme des Menschen!« Erfreut griff der Tschongurispieler nach dem Apfel der Unsterblichkeit und kehrte wieder zurück.
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Verwandlungsmärchen Tagsüber tot Es war einmal ein Großkaufmann, der hatte drei Töchter. Einmal begab er sich auf eine Handelsreise. Da rief er seine Töchter zu sich und fragte sie: »Ich reise in ein anderes Land, was soll ich mitbringen?« Die älteste Tochter antwortete: »Bring mir ein Kleid, das sich mir von allein an- und auszieht.« Die mittlere sagte: »Bring mir einen Spiegel, in dem ich alles sehen kann, was auf der Erde und im Himmel geschieht.« Da wandte er sich an die jüngste Tochter: »Was soll ich dir bringen?« Sie erwiderte: »Ich will nachdenken und es dir dann sagen.« Sie hatte eine sehr kluge Amme, und diese fragte sie: »Mein Vater reist in ein fremdes Land. Was soll ich mir von ihm mitbringen lassen?« Die Amme riet ihr: »Er soll dir einen Apfel mitbringen, der dir jeden Wunsch erfüllt.« Das Mädchen ging zum Vater und sagte: »Kaufe mir einen Apfel, der wieder zusammenwächst, wenn ich ihn aufschneide, und durch den ich die Mutter des König werde, wenn ich von ihm esse.« »Gut«, sagte der Vater und begab sich auf die Reise. Nach einem Jahr kehrte er heim. Den älteren Töchtern brachte er, was sie ihm aufgetragen hatten. Zur jüngsten aber sagte er: »Worum du mich gebeten 36
hast, habe ich dir nicht mitbringen können. Gegen Osten lag ein Garten, der hatte einen Zaun aus Schlangen und als Hüter Drachen mit weit aufgerissenen Rachen. Dort stand der Apfelbaum. Kein Mensch hat diesen Garten je betreten. Wie hätte ich dir da jenen Apfel bringen können!« Das Mädchen wurde traurig und begann zu weinen. Die Amme kam herzu und fragte: »Warum weinst du, mein Liebling?« »Mein Vater hat den Apfel nicht mitbringen können, aber meinen Schwestern hat er die gewünschten Geschenke mitgebracht.« Die Amme tröstete sie: »Wenn du tüchtig bist, besorgst du dir selbst den Apfel. Zieh gen Osten, auf einem freien Feld wirst du einen kleinen Garten erblikken. Das ist der Garten, den der Schlangenzaun umgibt und dessen Eingang zwei Drachen mit aufgesperrten Rachen behüten. Im Garten steht nur dieser eine Baum. Das Getier bewacht ihn und seine Früchte. Mittags, wenn die Sonne hoch steht und die Hitze brennt, werden die Schlangen und Drachen schläfrig. Diese Zeit mußt du wählen. Du mußt hineinspringen und einen Apfel pflücken, darfst aber nicht zurückschauen.« Das Mädchen machte sich auf den Weg. Sie ritt einen Tag, einen zweiten, einen dritten, einen ganzen Monat. Schließlich gelangte sie auf jenes Feld. Sie schaute sich um und erblickte etwas Seltsames: An einer Stelle war ein Schlangenzaun ringförmig aufgerichtet, und am Eingang lagen riesige Drachen mit aufgerissenen Rachen. Innen stand ein einziger silberner Baum mit smaragdgrünen Blättern. Er hing über und über voller praller Äpfel. Auf der einen Seite 37
schimmerten sie wie Rubine, auf der anderen wie Diamanten. Als das Mädchen dies sah, verlor sie fast den Verstand. Und sie nahm sich fest vor, entweder ein Opfer dieses Gewürms zu werden oder den gewünschten Apfel zu pflücken. Am Mittag ritt sie näher heran. Da sah sie, daß die Drachen tatsächlich schliefen. Sie hatten die Köpfe auf den Boden gelegt und schnarchten. Das Mädchen sprang vom Pferd und huschte in den Garten hinein. Sie pflückte einen Apfel und lief zurück. Sie rannte und hielt dabei den Apfel fest. Ihre Freude war riesengroß, aber sie vernahm seltsame Geräusche: Alle Schlangen waren erwacht, und die Drachen stürzten ihr zischend und brüllend nach. Sie blickte sich um. Da blieb ihr das Herz vor Angst fast stehen. Sie rannte, aber ihre Kräfte versagten. Das Gewürm war ihr dicht auf den Fersen. Da vernahm sie eine Stimme: »Wirf ihnen den Apfel hin, sonst bist du verloren.« In ihrer Verzweiflung warf sie den Verfolgern den Apfel hin und brach ohnmächtig zusammen. Bald darauf kam sie wieder zu sich, stand auf und sah sich um. Nichts war zu sehen, weder der Apfel noch die Drachen und Schlangen. Sie befand sich auf einer Flur und wollte nun nach Hause zurückkehren, aber sie fand den Weg nicht mehr, wußte nicht, in welche Richtung sie gehen sollte. So lief sie los, ohne zu wissen, wohin sie ging. Als das Mädchen aufblickte, gewahrte sie eine kleine Kapelle. Sie ging zur Tür. Die Tür war jedoch von innen verschlossen. Das Mädchen ging um die Kapelle herum, um sich einen Unterschlupf und Nahrung zu suchen. Beides fand sie nicht, da weinte sie und setzte 38
sich nieder. Als es dunkel wurde, hörte das Mädchen von drinnen ein Geräusch. Sie erschrak und versteckte sich. Plötzlich ging die Tür auf, ein junger Bursche kam aus der Kapelle und verschwand in der Finsternis. Die Tür blieb offen. Das Mädchen ging hinein und sah, daß in der einen Ecke ein Sarg stand und in der anderen ein Bett. Vor dem Bett stand ein Tisch mit Brot und Wein. Da das Mädchen großen Hunger hatte, wollte sie ein Stück vom Brot abbrechen, doch da hörte sie Schritte. Sie kroch unter das Bett. Der Bursche kam herein, lief umher und wusch sich. Dann setzte er sich und begann zu essen. Kaum war die Dämmerung angebrochen, als der junge Mann den Sargdeckel hob und sich in den Sarg legte. Das Mädchen kam aus ihrem Versteck hervor und ging zu dem Sarg, um den Burschen um Brot zu bitten. Da sah sie, daß er tot war. Sie erschrak, ging zu dem Tisch und dachte: ›Ich werde mir selbst Brot abbrechen und davon essen.‹ Doch sie fand alles unberührt vor. Da wunderte sie sich sehr: ›In der Nacht hatte der Mann noch von dem Brot gegessen, und schon war der Tisch wieder gefüllt.‹ Trotz großen Hungers wagte sie nicht zu essen. Das Mädchen öffnete die Tür und ging hinaus. Sie wollte fortgehen, aber sie wußte nicht, wohin. Eine Zeitlang irrte sie umher. Am Abend ging sie jedoch wieder in die Kapelle. Als die Sonne unterging, zündete sich das Licht in der Kapelle von selbst an. Sie blickte auf, und aus dem Sarg drangen abermals Geräusche. Sie erschrak, kroch unters Bett und verbarg sich. Nun sah sie einen schönen jungen Mann aus dem Sarg steigen. Er reckte 39
sich, lief umher, wusch sich, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Ein paar Brotkrümel fielen vom Tisch, das Mädchen streckte die Hand aus, steckte sich die winzigen Krumen in den Mund und stillte den ärgsten Hunger. Kaum begann es zu dämmern, da legte sich der Jüngling wieder in den Sarg, ohne das Mädchen bemerkt zu haben. Am nächsten Morgen kam das Mädchen unter dem Bett hervor. Jetzt konnte sie sich nicht mehr beherrschen, da sie vor Hunger ganz schwach war. Sie ging zu dem Tisch und fand wieder alles unberührt. Da faßte sie Mut, schnitt sich Brot und Fleisch ab, schenkte sich auch ein Glas Wein ein und trank. Inzwischen war es Nacht geworden. Wieder kroch das Mädchen unters Bett. Der junge Mann verließ alsbald den Sarg und setzte sich an den Tisch. Kaum hatte er das Brot erblickt, sprang er auf: ›Wie ist das geschehen! Dreißig Jahre lang habe ich nicht einmal eine Maus in der Kapelle gesehen!‹ Er ließ ein Stück Brot hinunterfallen. Das Mädchen griff danach. Da packte er sie an der Hand und zog sie hervor. Er betrachtete sie und fand Gefallen an ihr. Sie erzählten einander ihre Erlebnisse. Das Mädchen fragte den jungen Mann: »Wie ist es möglich, daß du tagsüber tot bist und nachts lebendig?« »Ich bin der Sohn eines Herrschers. Die Jagd liebte ich über alles. Eines Tages zog ich wieder auf die Jagd und verfolgte einen Hirsch. Tag und Nacht blieb ich ihm auf den Fersen, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Plötzlich sprang er einen hohen Berg hinauf und verschwand. Als ich den Berg erstieg, sah die Sonne 40
mit ihren neun Augen auf die Erde herab und verbrannte alles. Ich war von der Hitze so gepeinigt, daß ich einen Pfeil auf die Sonne abschoß. Er traf ein Auge und ließ es erblinden. Seitdem ist die Hälfte der Erde in Dunkel gehüllt. Dafür hat Gott mich bestraft: Tagsüber bin ich tot und nachts lebendig. Bei den Verwandten kann ich nicht leben, meine Eltern haben mir diese Kapelle erbaut. Hier haben sie meinen Sarg beigesetzt, und seither lebe ich hier. Nachts habe ich ein Brot, ein Stück Hammelfleisch und einen Krug Wein für mich. Sobald ich einschenke, füllt sich der Wein wieder auf; schneide ich vom Fleisch ab, wächst es wieder nach; nehme ich ein Stück vom Brot, so wächst auch dieses wieder nach… Als du dir Brot nahmst, wuchs es nicht wieder nach. Jetzt weiß ich nicht, was ich dir zu essen geben soll.« Es dauerte nur kurze Zeit, und das Mädchen und der junge Mann verliebten sich ineinander. Nachts verschwand der Mann im Dunkel, um Brotstücke herbeizuschaffen. Manchmal blieb er selbst hungrig und gab ihr seinen Anteil. So versorgte er das Mädchen sechs Monate lang. Eines Nachts sagte sie ihm, daß sie schwanger sei. Da entgegnete der Mann: »Du kannst nicht hier bleiben. Ich liebe dich sehr, aber hier kann ich nicht für dich sorgen. Du mußt gehen!« Weinend erwiderte sie: »Ich kann nicht von dir gehen.« Der Mann hörte nicht auf sie. Er holte ein Knäuel hervor, gab ihr das Ende des Fadens in die Hand, rollte es ins Freie und sagte: »Folge diesem Knäuel, es wird dich zu meinen Eltern führen. Sage meinen Eltern kein
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Wort. Wenn du das Kind bekommen hast, so laß es dort und kehre wieder zu mir zurück.« Er umarmte und küßte das Mädchen und ließ sie hinaus. Sie folgte dem Knäuel. Dieses rollte bis vor ein bewehrtes Schloß. Dort ließ die junge Frau sich nieder. Die Diener sahen sie und wollten sie nicht ins Haus lassen, aber dann erblickte sie der Hausherr. Ihm tat die schwangere Frau leid, und er ließ sie ein. Dort lebte sie. Eines Tages gebar sie einen schönen Jungen. Der Arme lag in einem Winkel auf Stroh und war mit Lumpen bekleidet. Jede Nacht vernahm die Frau von draußen eine Stimme, die rief: »Meine Seele, wie geht es dir und meinem Sohn?« Die Frau entgegnete: »Auf Stroh liegen ich und dein Sohn, wir haben Lumpen an. Brotrinde wirft man uns hin. Um sie aufzuweichen, haben wir einen Krug Wasser.« Der Mann sagte zu sich: ›Weh meiner Mutter! Weh meinem Vater! Weh der Amme!‹ Und er verschwand im Dunkel der Nacht. Die Wächter stürzten hinaus, aber sie konnten niemanden sehen. Man fragte die Frau: »Wer ist das, der mit dir spricht?« Sie erzählte ihre Erlebnisse. Da schöpften die Eltern Verdacht und vermuteten, daß der junge Mann ihr Sohn sei. Sie brachten die Frau in ein schönes Zimmer und umgaben sie mit Dienerinnen. »Wenn der Mann kommt, rufe ihn hier herein und laß ihn nicht gehen, bis wir ihn gesehen haben.« In dieser Nacht geschah nichts. In der folgenden Nacht 42
kam er an die Tür und rief: »Meine Seele, wie geht es dir und meinem Sohn?« Als die Frau dies hörte, entgegnete sie: »Komm ins Zimmer!« Er erwiderte: »Ich kann nicht hereinkommen. Ich habe nicht einmal das Recht hierherzukommen. Sage mir, wie geht es euch?« Die Frau gab nicht nach: »Ich sage es dir nicht, sieh doch selbst!« Der Mann konnte dem Flehen der Frau nicht widerstehen. Er ging hinein und begann das Kind zu küssen. Er umarmte auch die Frau. Hinter der Tür hielten sich seine Eltern verborgen. Sie eilten herbei, hielten ihn fest, erkannten ihren Sohn, küßten ihn und weinten. Sie ließen ihn nicht gehen: Er solle bei ihnen bleiben. Der junge Mann widersetzte sich: »Gleich kommt die Dämmerung. Ich muß gehen, sonst muß ich sterben.« Inzwischen krähte der Hahn. Es dämmerte schon. Dem Mann versagten die Knie, und er fiel tot zu Boden. Es begann ein Klagen und Jammern. Die Trauer der Eltern hatte keine Grenzen. Da sprang die Frau auf: »Ich muß ein Mittel finden, das ihn zum Leben erweckt.« Sie machte sich auf den Weg. Die Eltern gaben ihr vier Männer als Diener mit. Die Frau meinte, sie müsse zur Sonne gehen, und diese müsse ihr das lebenweckende Mittel geben. Sie zog davon. Die Männer folgten ihr. Monate, Jahre vergingen. Die Diener kamen unterwegs ums Leben. Die Kleider der Frau zerrissen. Sie wurde bettelarm und hatte keine Hoffnung mehr, je wieder heimzukehren. Daher beschloß sie, nicht umzukehren. 43
Sie wollte das Land der Sonne erreichen und mußte diese um ein Mittel bitten, das dem Mann das Leben wiedergeben könnte. Als die junge Frau schließlich ins Schloß der Sonne kam, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Sonne selbst war nicht zu Hause. Die Mutter der Sonne staunte: »Hierher hat sich aus Furcht vor meinem Kind noch kein Mensch gewagt. Die Sonne verbrennt alles Leben. Wie gelangtest du hierher?« »Ich fürchte mich nicht«, antwortete die Frau. »Ich habe eine Bitte an die Sonne.« Sie erzählte ihre Erlebnisse und bat, ihr die Sonne zu zeigen. Die Mutter der Sonne entgegnete: »Du kannst die Sonne nicht sehen, ihre Nähe brennt alles nieder. Ich werde ihr dein Anliegen vortragen.« Der Sonnenmutter tat die Frau leid, weil sie selbst ein Erdenkind war. Sie badete die Frau, kleidete sie, gab ihr zu essen und versteckte sie schließlich. Abends kam die Sonne mit ihren feuersprühenden Augen. Sofort rief sie: »Ich rieche einen Menschen!« Die Mutter antwortete: »Da ist niemand, mein Kind. Ich habe heute meine Kleider gewechselt. Ich habe gebadet, und ich bin doch ein Mensch. Das wird mein Geruch sein.« Diese Worte beruhigten die Sonne. Sie setzten sich. Die Mutter brachte der Sonne das Abendbrot und begann dabei ein Gespräch: »Ach, mein Kind, wie schön wärst du, wenn du noch das neunte Auge hättest! Möge doch jener sterben, der dir das Auge ausgeschossen hat! Warum hast du ihn damals nicht gleich verbrannt?«
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»Nein, Mutter, ihm ist eine größere Pein zuteil geworden: Tagsüber ist er tot und nachts lebendig! Dreißig Jahre lang hat er keinen Menschen zu Gesicht bekommen.« »Ach, Kind, das ist zuviel Quälerei!« sagte die Mutter. »So ist das, Mutter. So lange ist er schon allein. Auf freiem Feld steht eine Kapelle, dort liegt er tagsüber im Sarg, und nachts erwacht er und geht umher. Jeden Morgen stirbt er aufs neue.« Die Mutter fragte die Sonne vorwurfsvoll: »Kind, warum hast du ihn so hart gestraft?« »Mir tut er auch leid, aber ich kann ihm nicht helfen.« »Gibt es denn nichts auf der Welt, was ihn heilen könnte?« fragte die Mutter. »Er hat genug gelitten.« »Natürlich gibt es ein Mittel, aber wer soll es ihm bringen?« »Was ist das für ein Mittel?« fragte die Mutter neugierig. »Wird er mit einem Tropfen meines Badewassers beträufelt, so ist er sofort geheilt.« Am nächsten Tag brachte die Mutter der Sonne Wasser. Die Sonne wusch sich das Gesicht. Sie schöpfte jedoch Verdacht und verlangte: »Schütte das Wasser weg!« Die Mutter schüttete das Wasser weg, behielt aber ein wenig zurück. Die Sonne erhob sich und ging. Nun holte die Mutter die junge Frau aus ihrem Versteck. Sie goß ihr das Wasser in einen Krug, gab ihr Wegzehrung mit und ließ sie ziehen.
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»Wenn du unterwegs einen Toten siehst, dann beträufle ihn mit dem Wasser, so wird er wieder lebendig werden«, trug ihr die Sonnenmutter auf. Die Frau machte sich auf den Weg. Sie flog dahin wie ein Vogel. Unterwegs fand sie im Schnee erstickte Menschen. Sie beträufelte sie, und alles Leben kehrte in sie zurück. Auch ihre Diener belebte die Frau. Nach einem Jahr war sie wieder zu Hause. Alle freuten sich über ihr Kommen, vor allem, weil sie jenes Mittel mitbrachte, das ihren Mann zum Leben erwekken sollte. So beträufelte sie auch ihn mit dem Badewasser der Sonne, und auch er ward wieder lebendig. Ihre Freude kannte keine Grenzen. Noch heute leben sie glücklich miteinander.
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Drei Schwestern Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten drei Töchter. Sie waren sehr arm. Weder väterlichernoch mütterlicherseits waren sie mit Gütern bedacht worden. Eines Tages säuberte die Frau das Wandbrett. Dabei fielen drei Getreidekörner herunter. Sie nahm die Körner, lockerte die Erde auf und säte sie aus. Die Saat ging auf, daß es eine Lust war, sie zu sehen. Das Getreide wogte wie ein Meer, die Halme beugten sich unter der Last der Ähren. Die Freude der Eltern kannte keine Grenzen. Das Korn reifte, die Ernte nahte. Alle gingen aufs Feld, mähten, banden Garben und stellten eine riesengroße Puppe auf. Am nächsten Tag schickte der Vater seine älteste Tochter aus, um nach der Puppe zu sehen. Das Mädchen ging hin und sah, daß ein riesiger Drache sich um die Puppe gelegt hatte und seinen Schwanz im Rachen hielt. Das Mädchen kam vor Angst bald um. Sie lief zu ihrem Vater und berichtete. Der Vater schickte die mittlere Tochter aus: »Frag ihn, was er will und weshalb er gekommen ist!« Das Mädchen verging fast vor Furcht, sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Da schickte der Vater die jüngste Tochter hin. Sie ging zu dem Drachen und fragte: »Was willst du, weshalb bist du gekommen, gib uns Bescheid!«
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Der Drache antwortete: »Geh und sage deinem Vater, er soll mir eine von seinen Töchtern zur Frau geben!« Das Mädchen lief zum Vater und berichtete, was der Drache ihr aufgetragen hatte. Nun fragte der Vater die älteste Tochter: »Willst du ihn heiraten, Kind?« »Natürlich!« entgegnete die älteste Tochter, »das hat mir gerade noch gefehlt, ich und seine Frau werden!« Die mittlere Tochter erwiderte das gleiche. Nun kam die jüngste an die Reihe und sagte: »Ich heirate ihn.« Der Drache nahm das Mädchen und zog mit ihr fort. Er schlängelte sich voran, das Mädchen folgte ihm. Als sie das Dorf verlassen hatten, warf der Drache seine Haut ab. Ein Mann trat ihr entgegen, wie es keinen besseren geben konnte. Die Freude des Mädchens war sehr groß. Nun sprach der Mann: »In unserem Land redet man völlig verhext. Wenn meine Mutter dir sagt, zerbrich den Krug, mußt du ihr den Krug bringen. Wenn sie dir sagt, verschütte das Wasser, sollst du ihr Wasser bringen. Wenn sie dir sagt, reiße den Backofen ein, dann sollst du ihn heizen. Sagt sie dir, räume den Tisch ab, dann sollst du ihn decken. Sagt sie dir, zerschlage die Gefäße, dann sollst du sie ihr bringen.« So unterwies er seine Frau, und sie zogen davon. Als sie ins Land des Drachen kamen, sagte die Schwiegermutter zur neuen Schwiegertochter: »Verschütte das Wasser!« Die Schwiegertochter nahm das Wasser und brachte es ihr. Sie verhielt sich so, wie ihr Mann es ihr aufgetragen hatte. Alle wunderten sich sehr, wie gut die Neuangekommene die hiesigen Sitten 48
kannte. Allen gefiel sie, und sie schlossen sie in ihr Herz. Die Frau wurde schwanger. Als die Zeit ihrer Niederkunft nahte, brachte man sie in das Haus ihres Vaters zurück. Ihre Schwestern beneideten sie sehr um ihr Glück. Nun kam die Frau nieder und gebar einen Jungen. Der Mann kam, um sie in sein Land zurückzuholen. Als sie sich zum Aufbruch rüsteten, wollte die älteste Schwester mitkommen. Die jüngste Schwester riet ihr ab: »Komm nicht mit, meine Schwiegermutter ist böse, sie wird dich nicht in Ruhe lassen!« Die Schwester ließ sich jedoch nicht davon abbringen und ging mit. Als sie unterwegs waren, sagte die älteste Schwester zu ihrem Schwager: »Lauf vor, wir kommen nach!« Der Mann ging voraus, die Schwestern folgten ihm. Unterwegs kamen sie an einen Apfelbaum. Er war sehr hoch und der Stamm glatt und ohne Äste. Da sagte die älteste Schwester zur jüngsten: »Komm, Schwester, zieh meine Kleider an, damit deine nicht zerreißen. Ich nehme dich auf den Rücken, und du kletterst auf den Baum und pflückst Äpfel. Solange du oben bist, halte ich dein Kind!« Was hätte die arme Mutter argwöhnen sollen? Sie gab der Schwester das Kind, diese half ihr empor, und sie kletterte auf den Apfelbaum. Die Schwester nahm das Kind in den Arm und machte sich auf den Weg. Das Kind weinte und weinte, es vergoß riesige Tränen, aber niemand achtete darauf. Die junge Frau saß auf dem Apfelbaum und hörte das Schluchzen ihres Kindes. Da konnte sie es nicht 49
länger ertragen und rief: »Schwester, laß meinen Jungen nicht weinen, reich ihn mir herauf, ich will dir den Kleinen stillen.« Als die Frau ihren Schwager sah, rief sie ihm zu: »Warte, die Milch ist mir ausgegangen, und das Kind weint!« Der Mann wartete. Er hielt sie für seine Frau, denn sie war genauso gekleidet wie diese, und er nahm an, sie wolle nun mit dem Jungen nach Hause zurückkehren. »Was hast du deiner Schwester gesagt?« fragte der Drache. »Ich habe ihr gesagt, daß meine Schwiegermutter sie nicht ertragen können wird, da ist sie umgekehrt.« Sie kamen nach Hause, und die Schwiegermutter sagte zu ihr: »Zerbrich den Krug!« Sie nahm ihn und zerschlug ihn. Dann hieß es: »Zerschlage die Schalen!« Sie nahm die Schalen und zerschmetterte sie. »Reiß den Backofen ein!« Sie nahm das Beil, schlug zu und zertrümmerte ihn. Alle faßten den Verdacht, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Weil die älteste Schwester keine Milch hatte, zogen sie nun das Kind mit Kuhmilch auf. Als der Junge ein wenig herangewachsen war, trieb er die Kuh des öfteren selbst auf die Wiese, um sie zu weiden. Seine Mutter, die auf dem Apfelbaum geblieben war, weinte ununterbrochen, daß Tränen und Blut in einem Strom zur Erde fielen. Wo ihr Blut und ihre Tränen hinrannen, wuchs Schilf dicht wie ein Wald. Auch die verschiedensten Blumen und Gräser sprossen empor. Eines Tages trieb der Junge die Kuh abermals auf die Weide und kam auch zu jenem Apfelbaum. Er brach ein Schilfrohr ab, schnitt sich mit den Fingernä50
geln eine Schalmei zurecht und fing an zu spielen. Er blies auf der Schalmei, und die Schalmei klagte: Schalmei, Schalmei, was weinst du denn so? Ich, deine Mutter, werd nicht mehr froh, du bist mein leibliches Kind! Die Schalmei ließ immer dieselben Worte ertönen. Der Junge barg die Schalmei an seinem Herzen und gab sie nicht mehr her. Als er heimkam, nahm er sie, spielte, und wieder erklangen die gleichen Worte. Der Frau fuhr es wie Feuer ins Herz. Sie nahm dem Kind die Schalmei weg und zerbrach sie, doch auch die Bruchstücke spielten weiter: Schalmei, Schalmei, was weinst du denn so? Ich, deine Mutter, werd nicht mehr froh, du bist mein leibliches Kind! Als die Frau abermals diese Worte hörte, nahm sie dem Jungen auch die Bruchstücke weg und warf sie in den Backofen. Die Rohrstücke verbrannten, und aus der Asche formte sich das Gesicht einer Frau und legte sich auf den Backofen. Das Kind saß dabei und weinte. Die Frau sah hin und erblickte das Gesicht der Schwester. Da wurde sie wütend, ließ die Asche zusammenkehren und auf dem Dach verstreuen. An dieser Stelle wuchs eine schöne Pappel empor. Der Mann sah die Pappel, freute sich sehr, ließ sein Bett hinaustragen und stellte es am Fuße des Baumes auf. Als er nachts schlief, neigte die Pappel ihre Zweige herab und hüllte den Schlafenden ein. 51
Die Frau verging fast vor Bosheit. Sie stellte sich krank und sagte zu ihrem Mann: »Wenn du diese Pappel fällst, einen Trog daraus anfertigst und mich darin badest, dann werde ich gesund. Wenn nicht, muß ich sterben.« »Zur Hölle mit dir«, erwiderte der Mann. »Wenn du stirbst, dann stirbst du eben, laß mich in Ruhe!« Der Mann zog auf die Jagd. Die Frau rief Arbeiter und ließ die Pappel fällen. Sie ließ einen Trog daraus bauen, badete natürlich nicht darin, denn sie war ja nicht krank; weshalb hätte sie da baden sollen? Als der Mann zurückkam, ärgerte er sich sehr. Er wurde zornig, aber was konnte ihm der Zorn schon helfen. Ein Stück von der Pappel war auf das Dach einer kinderlosen alten Frau gefallen. Die Alte fand es, trug es ins Haus und deckte es über die Chaschi-Schüssel. Wenn die Alte das Haus verließ, verwandelte sich jenes Holzstück in eine Frau, fegte und machte sauber, wusch das Geschirr, räumte auf, verwandelte sich danach wieder in jenes Pappelstück und legte sich auf die Chaschi-Schüssel. Wenn die Alte heimkam, fand sie das Haus sauber vor und das Geschirr abgewaschen. Verwundert lief sie zu den Nachbarn, manchem sagte sie ein Dankeschön. »Wir haben keinen Fuß in dein Haus gesetzt, weder gekehrt noch abgewaschen. Wenn du wissen willst, wer zu dir kommt, dann versteck dich hinter der Tür und gib acht«, rieten ihr die Nachbarn. Die alte Frau folgte diesem Rat. Sie verbarg sich hinter der Tür und wartete. Das Holzstück dachte, sie sei fortgegangen, verwandelte sich in jene Frau und begann, das Haus zu keh52
ren und zu putzen. Die Alte schlich zu ihr hin, packte sie und hielt sie fest. »Weh mir«, kreischte die Frau. »Fürchte dich nicht. Du sollst mein Kind sein und ich deine Mutter«, sagte die Alte. »Gott hat mir kein anderes Kind gegeben. Sei wenigstens du meine Tochter.« Auch die Frau freute sich sehr. Seither wohnten sie einträchtig zusammen. Einmal bat die Frau die Alte: »Meine liebe Mutter, laden wir doch den Mann, der hier wohnt, seine Frau und sein Kind zu uns ein.« Die Alte willigte ein: »Warum nicht, mein Kind, wenn du möchtest. Ich habe nichts dagegen. Laden wir sie ein, wenn es dir Freude bereitet.« Die Frau richtete das Essen und lud ihren Mann, ihr Kind und die böse Schwester ein. Als sie bei Tisch Trinksprüche wechselten und alle zulangten, nahm die Frau das Glas, schenkte Wein ein und sprach: »Gesundheit und langes Leben dir, mein Mann, dir mein Kind, und dir, meine Schwester!« Dem Mann war die junge Frau bereits bekannt vorgekommen, und er hatte sie in sein Herz geschlossen. Jetzt war er überzeugt, daß sie seine wirkliche Frau war. Nun erzählte sie ihm ihre Geschichte. Der Mann band die böse Schwester an den Schwanz eines Pferdes und ließ sie zu Tode schleifen. Er selbst heiratete abermals seine erste Frau, und sie lebten in Glück und Zufriedenheit.
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Anana Es war einmal ein Königssohn, der besaß einen Garten. In dem Garten hatte er zwei Beete angelegt, in dem einen säte er Lauch, in dem anderen Dill. Der Königssohn aß nie sein Brot, ohne in den Garten zu gehen und sich zu den Beeten zu setzen. Einmal ging er wie stets durch den Garten. In den Beeten lag ein Stück Papier. Es war beschrieben, aber er konnte nicht lesen. Er nahm es und gab es einem anderen. Das Papier verwandelte sich in das Mädchen Anana. Sie war so schön, daß sich keines Menschen Auge etwas Schöneres vorzustellen vermochte. Eines Tages sah der Königssohn das Mädchen, und sie gefiel ihm so sehr, daß er sie zur Frau nehmen wollte. Er fragte: »Welchen Namen trägst du?« Sie antwortete: »Ich trage den Namen des Lauchs, und Dill umgürtet mich, ich bin ein armes Mädchen!« Da stand der Königssohn auf, ließ Anana stehen und heiratete eine andere Frau, weil Anana angeblich einen unschönen Namen hatte. Anana aber liebte den Königssohn, sie liebte ihn unbändig. Sie rief aus den Bergen Hirschkühe zu sich, molk sie, goß die Milch in einen Kessel und setzte sich hinein. Während die Milch kochte, badete Anana darin. Der Königssohn sah, daß Anana in Milch badete. Er sagte zu seiner Frau: »Weißt du, was unsere Anana tut? Sie hat aus dem Gebirge Hirschkühe gerufen, sie gemolken, die Milch in einen Kessel gegossen und in der kochenden Milch gebadet.« 54
Die Frau antwortete: »Kann ich das etwa nicht?« Sie nahm Kühe, weil sie keine Hirschkühe hatte, molk sie, goß die Milch in einen Kessel, ließ sie kochen und stieg hinein, um zu baden. Sie badete und wurde gekocht. Der Königssohn war Witwer geworden. Er ging zu Anana und fragte sie: »Welchen Namen trägst du?« Sie antwortete ihm abermals: »Ich trage den Namen des Lauchs, und Dill umgürtet mich!« Wieder mißfiel dem Königssohn der Name, und er heiratete eine andere Frau. Da ging Anana hinauf, setzte sich ins obere Stockwerk, nahm eine Spindel und begann Seide zu spinnen. Plötzlich fiel ihr der Wirtel herunter. Da schnitt sie sich die Nase ab, schickte sie hinunter und ließ sich den Wirtel heraufholen. Die Nase wuchs wieder an. Das sah der Königssohn. Er ging zu seiner Frau und sagte ihr: »Unsere Anana ist ein seltsames Mädchen. Sie stieg ins obere Stockwerk hinauf, um Seide zu spinnen. Da fiel ihr der Wirtel herab. Sie schnitt sich die Nase ab, warf sie hinunter und ließ sich von ihr den Wirtel wieder heraufbringen. Dann wuchs die Nase wieder an!« »Warum staunst du darüber?« fragte seine Frau, »kann ich das etwa nicht?« Sie stieg aufs Dach, nahm eine Spindel und begann Seide zu spinnen. Nach einer Weile warf sie den Wirtel hinunter, schnitt sich die Nase ab und warf sie hinterher. Die Nase konnte den Wirtel nicht heraufbringen, sie wuchs auch nicht an. Das Blut floß und floß, und sie starb.
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Wieder war der Königssohn Witwer geworden. Er ging zu Anana und fragte abermals: »Welchen Namen trägst du?« »Ich trage den Namen des Lauchs, und Dill umgürtet mich!« antwortete das Mädchen. Dem Königssohn mißfiel der Name wiederum. Er ging in die Berge, fand einen Schweinehirten und sagte zu ihm: »Verkaufe mir ein Schwein – für mich das Blut, für dich das Fleisch!« Der Königssohn hieß den Hirten ein Schwein schlachten und befahl: »Besudle mich mit dem Blut, trag mich dann hinunter und leg mich vor Anana hin!« Der Schweinehirt schlachtete das Schwein, ließ das Blut auslaufen, besudelte damit den Königssohn und legte ihn vor Anana nieder. Als Anana den Königssohn blutbesudelt sah, rief sie: »Sonne, du meine Mutter, Mond, du mein Vater, ihr Sterne, meine Sonne! Laßt einen goldenen Sessel herab, der Königssohn lebt nicht mehr!« Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, öffnete sich der Himmel, und ein goldener Sessel schwebte herab. Da stand der Königssohn auf und umarmte Anana. Sie küßten sich und tauschten liebe Wünsche aus. So wurden sie Mann und Frau und nahmen auf dem goldenen Sessel Platz.
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Wie das Mädchen zum Mann wurde Es war einmal ein König, der hatte einen alten Wesir. Dieser konnte nicht mehr dienen und bat den König: »Ich bin so alt geworden, daß ich dir nicht mehr dienen kann. Gib mir die Erlaubnis, mein Alter daheim zu verbringen!« Der König gestattete es ihm. Da ging der Wesir nach Hause zu seiner Frau und den Kindern, die sich über seine Rückkehr freuten. Als der Wesir seiner Freude Genüge getan hatte, seufzte er und sprach: »Wenn doch von meinen drei Töchtern eine ein Mann wäre, dann könnte sie an meiner Stelle Dienst tun!« Die älteste Tochter sagte: »Gib mir Männerkleidung, ich will deine Waffen nehmen, mich auf dein Pferd setzen und losreiten. « »Du kannst das nicht. Der Dienst ist schwer«, erwiderte der Wesir. »Ich kann es schon, ich werde gehn«, meinte das Mädchen hartnäckig. Der Vater gab ihr Pferd, Waffen und Männerkleidung. Die Tochter zog sich als Mann an, setzte sich aufs Pferd und ritt los. Der Vater ritt ihr auf kürzerem Weg nach, trat ihr mit gezücktem Schwert entgegen und rief: »Halt, wer kommt da zu Pferde?!« Das Mädchen erschrak so sehr, daß sie vom Pferd gefallen wäre, wenn der Vater sie nicht aufgefangen und vom Pferd gehoben hätte. Er brachte sie wieder 57
zur Besinnung und sprach: »Fürchte dich nicht, Kind, ich bin dein Vater. Ich habe dir doch gesagt, du kannst das nicht, aber du wolltest mir nicht glauben!« Sie ritten nach Hause zurück. Jetzt sagte die mittlere Tochter: »Ich will gehen.« Der Vater entgegnete: »Auch du kannst das nicht. Wer hat einem Mädchen soviel Mut gegeben, solch einen weiten Ritt zu unternehmen?« Die Tochter ließ sich nicht beirren. Sie beharrte auf ihrem Entschluß. »Wenn du unbedingt losziehen willst, dann nur zu!« sagte der Vater. Das Mädchen zog Männerkleidung an, bewaffnete sich, setzte sich aufs Pferd und ritt los. Der Vater schnitt auch ihr den Weg ab und verbarg sich im Hinterhalt. Als das Mädchen herankam, sprang er auf den Weg und rief: »Wer kommt da, halt an!« Das Mädchen bekam einen derartigen Schreck, daß sie fast vom Pferd gefallen wäre. Aber der Vater beruhigte sie: »Fürchte dich nicht, ich bin dein Vater.« Und er brachte auch sie wieder nach Hause. Jetzt sprach die jüngste Tochter: »Ich werde gehen, ich fürchte mich nicht!« Der Vater versuchte auch sie davon abzubringen, aber sie bestand darauf. Sie zog Männerkleidung an und versah sich mit Waffen. Dann schwang sie sich aufs Pferd und ritt davon. Auch ihr ritt der Vater nach und wartete unterwegs. Aber das Mädchen hatte keine Furcht. Sie warf ihm ihr Pferd mit erhobenem Schwert entgegen, so daß sie ihn beinahe getötet hätte. Da bekam es der Wesir mit der Angst zu tun und bat: »Kind, töte mich nicht, ich bin dein Vater. Ich hoffe, daß du alle Pflichten gut erfüllen 58
wirst. Wenn du in jene Stadt kommst, wo der König lebt, dann steht sein Schloß abseits. Davor liegt ein großes Feld, umgeben von einer Mauer. An dem großen Tor sind zwei Löwen als Wächter angebunden. Nimm ihnen ein Schaf mit, teile es in der Mitte und gib jedem Löwen eine Hälfte, denn wenn sie dich das erstemal sehen, lassen sie dich nicht hinein, sondern werden dich fressen wollen. Später brauchst du nichts mehr, sie gewöhnen sich an dich. Wenn du hineinreitest, kommst du auf ein großes Feld. Auf diesem Feld mußt du das Pferd bald antreiben, bald zügeln, bis du zum Haus des Königs gelangst. Der König wird dich sehen und dich selbst rufen lassen. Er wird nach deiner Herkunft fragen, dann antworte ihm: ›Ich bin das Kind Eures alten Wesirs.‹ Ich weiß, was er sagen wird: ›Hatte er denn überhaupt einen Sohn?‹ Dann antworte: ›Er hat nur gesagt, er habe keinen Sohn, damit ich nicht von klein auf dienen mußte. Jetzt bin ich herangewachsen, kann Euch dienen und bei Euch bleiben.‹« Vater und Tochter küßten sich. Der Vater kehrte nach Hause zurück, und das Mädchen ritt weiter. Das Pferd brachte sie ganz von allein hin, denn es kannte den Weg genau. Als sie in jene Stadt kam, kaufte das Mädchen ein Schaf und ein scharfes Messer. Am Tor angelangt, zerteilte sie das Schaf, gab die eine Hälfte dem einen Löwen, die andere dem anderen und trieb ihr Pferd in den Hof. Tatsächlich sah sie ein großes Feld und begann nun auf dem Pferd hin- und herzujagen. Die Fenster des Königspalastes lagen auf der Hofseite. Es war Morgen, und der König wusch gerade sein Gesicht, als er den jungen Mann sah, der ihm sofort gefiel. Er klatschte in die Hände, ein Höfling trat ein, diesem befahl er: 59
»Geht und bringt den jungen Mann her, damit ich ihn fragen kann, wer er ist und was er will!« Der Höfling ging hinaus und sagte zu dem Mädchen: »Der König befiehlt dich zu sich!« Das Mädchen sprang vom Pferd, ein Stallknecht nahm es ihr sofort ab. Sie folgte dem Höfling und kam zum König. Der König fragte sie nach dem Grund ihres Kommens und wer sie sei. Das Mädchen erklärte ihm alles und fügte hinzu: »Bitte gebt mir die Stelle des Vaters!« Ihrem Vater war der König so dankbar, daß er den Wunsch nicht ausschlug und sie in seinen Dienst nahm. Der König hatte eine Tochter im heiratsfähigen Alter. Als sie den fremden Jüngling erblickte, gefiel er ihr sehr. Der junge Mann hatte ein eigenes Zimmer erhalten. Die Tochter des Königs ging zu ihm, fand ihn schlafend und begann ihn leidenschaftlich zu küssen. Der junge Mann erwachte, erschrak beim Anblick des fremden Mädchens und fragte: »Wer bist du, wie kommst du zu dieser Zeit hier herein?« Das Mädchen entgegnete: »Ich bin die Tochter des Königs. Am Morgen habe ich gesehen, wie du im Hof das Pferd geritten hast. Ich habe dir von meinem Zimmer aus zugesehen und bin in Liebe zu dir entbrannt. Heimlich bin ich zu dir gekommen, um dir meine Liebe mitzuteilen. Ich habe viele Freier, alles Königssöhne, aber außer dir möchte ich keinen zum Mann!« Der junge Mann antwortete: »Als ich dich sah, habe ich mich sehr in dich verliebt, aber aus Furcht vor dei-
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nen Eltern kann ich diesem Verlangen nicht nachgeben.« Das Mädchen wurde traurig über die ablehnende Antwort, aber sie nahm sich vor, später noch einmal mit ihm zu sprechen, und verließ das Zimmer. Am nächsten Tag sagte die Frau des Königs zu ihrem Gemahl: »In der Nacht ist unsere Tochter aufgestanden und heimlich hinausgegangen. Ich habe ihr nachgeschaut, sie ging in jenes Zimmer, in dem der Sohn des Wesirs schläft. Ich habe an der Tür gelauscht und gehört…« Und sie berichtete dem König, was sie gehört hatte, und gab ihm den Rat: »Schick den Sohn des Wesirs mit einem Auftrag so weit fort, daß er von dort nicht mehr zurückkehren kann, sonst bringt uns unsere Tochter in Schande. So viele Königssöhne baten uns um ihre Hand, und jetzt sollen wir sie dem Sohn eines Wesirs geben?« Am folgenden Tag gab der König vor, krank zu sein, ließ den Sohn des Wesirs rufen und sagte zu ihm: »Ich bin krank. Aber ich träumte vom Apfel der Unsterblichkeit. Wenn du mir diesen bringst, werde ich wieder gesund, wenn nicht, muß ich sterben!« Die Tochter des Wesirs verneigte sich, ging hinaus, schwang sich auf ihr Pferd und ritt davon. Nach einiger Zeit gelangte sie auf einen hohen Berg. Sie schaute von oben hinab und erblickte Häuser von Riesen. Im Hof saß eine Riesenfrau und drehte die Spindel. Die Spindel war so groß wie der Mittelpfosten einer Scheune, der Wirtel so groß wie eine Scheune und sie selbst wie ein Berg. Die Tochter des Wesirs ging zu ihr und rief: »Mutter, Mutter!« Die Riesenfrau antwortete nicht. 61
Wieder rief sie: »Mutter!« Abermals keine Antwort. Sie rief zum drittenmal: »Mutter!« Da hörte sie die Riesin. »Hättest du nicht Mutter gesagt, Kind, wärst du gerade ein Happen für mich gewesen. Ich habe keinen Sohn, und weil du Mutter zu mir sagtest, will ich dir wie eine Mutter sein. Drei Töchter habe ich, die in die Berge jagen gegangen sind. Ich will sie herbeirufen, sie werden sich ebenfalls freuen.« Sie stieg auf den Berg hinauf, von dem die Tochter des Wesirs gekommen war. Von dort aus waren drei andere Berge zu sehen. Auf jeden dieser Berge war eine Tochter gestiegen. Sie rief jede bei ihrem Namen, da kamen sie herbei, und die Mutter sagte zu ihnen: »Kinder, ich habe uns noch ein Kind verschafft. Ihr hattet noch keinen Bruder. Fügt ihm mir zuliebe kein Leid zu.« Die Töchter schworen: »Wenn du ihn als dein Kind angenommen hast, soll er unser Bruder sein. Wir werden ihm nicht weh tun.« Sie gingen zu dem jungen Mann, und alle drei riefen: »Du bist unser Bruder, und wir sind deine Schwestern!« Sie umarmten und küßten ihn, setzten ihn neben sich, gaben ihm zu essen, und dann fragten sie: »Was hast du vor? Du bist doch nicht ohne Absicht gekommen. Sag es uns, und wir helfen dir, so gut wir können!« Der junge Mann entgegnete: »Der König ist krank und hat mich nach dem Apfel der Unsterblichkeit geschickt. Auf der Suche nach dem Apfel habe ich euch getroffen.« Die Mutter der Riesinnen sprach: »Es ist gut, daß du hierhergekommen bist, denn es ist schwierig, ihn zu beschaffen, und allein würdest du ihn nicht erringen. 62
Ich werde in das Meer hineinblasen. Es wird sich aufstauen und in der Mitte teilen. Du aber geh hindurch ans andere Ufer. Dort steht ein Apfelbaum. Er trägt drei Früchte. Eine genügt dir. Pflücke den Apfel und komm rasch zurück, denn der Apfelbaum wird bewacht, und wenn die Wächter dich bemerken, werden sie dich töten. Das Meer wird sich hinter dir schließen, und wenn du in der Mitte bist, können sie dir nichts mehr anhaben. Jetzt sind die Wächter gerade Mittag essen gegangen, nutze also die Gelegenheit!« Sie führte den jungen Mann an den Strand des Meeres und blies ins Wasser. Das Meer teilte sich in der Mitte, die eine Hälfte blieb auf der einen Seite stehen, die andere Hälfte auf der anderen Seite. Die Riesin trug ihm noch auf, wieder an dieselbe Stelle zurückzukommen. Die Tochter des Wesirs ging zwischen den Wassermassen hindurch. Als sie ans Ufer kam, erblickte sie jenen Apfelbaum, an dem wirklich drei Äpfel hingen. Die Äpfel waren so groß, daß sie kaum in die Öffnung des Tragbeutels paßten. Sie pflückte alle drei, steckte den einen auf der einen Seite in den Tragbeutel, den zweiten auf der anderen Seite, und den dritten nahm sie in die Hand. Nun setzte sie sich aufs Pferd und ritt zurück. Alsbald nahmen die Wächter die Verfolgung auf, aber sie konnten die Tochter des Wesirs nicht einholen. Sie entkam ins Meer, und hinter ihr floß das Wasser wieder zusammen. Unversehrt gelangte sie zur Mutter der Riesinnen. Sie und ihre Töchter freuten sich sehr. Einen Apfel zerteilten sie sogleich, und zwei gaben sie ihr mit nach Hause. Die Riesenmutter warnte: »Ich weiß, daß man dich wieder irgendwohin schicken wird. Geh nicht, ohne daß ich davon weiß, sonst wirst du ums Leben kommen.« 63
Die Tochter des Wesirs zog davon und brachte dem König die Äpfel. Der König war sehr zufrieden. Einen Apfel schnitt er sogleich auf, und den anderen legte er auf seinen Tisch. In dieser Nacht legten sich alle schlafen, nur die Königin fand keine Ruhe. Wieder ging die Königstochter zum vermeintlichen Sohn des Wesirs, umarmte ihn und sagte: »Ehe du zurückkamst, hatte ich immer solche Angst. Ich hielt nach deinem Weg Ausschau. Keinen anderen Mann möchte ich als dich. Gott möge mir keinen anderen geben!« »Ich liebe dich auch sehr, aber ich fürchte mich vor deinem Vater«, entgegnete der Sohn des Wesirs. Am nächsten Tag erzählte die Königin ihrem Gatten: »Gestern nacht ist unsere Tochter abermals zum Sohn des Wesirs gegangen. Wenn wir uns nicht noch etwas einfallen lassen, stürzt uns unsere Tochter in Schande.« Der König ließ den Sohn des Wesirs zu sich kommen und sagte zu ihm: »Der Apfel ist mir nicht bekommen. Du mußt mir das Wasser der Unsterblichkeit bringen!« Der Sohn des Wesirs ließ sich silberne Krüge geben, steckte sie in den Tragbeutel, hängte diesen übers Pferd, saß auf und ritt zur Riesenmutter. Als die Mutter der Riesinnen den jungen Mann sah, freute sie sich. Sie umarmte und küßte ihn und fragte: »Ohne Grund bist du nicht hergekommen. Sag mir, was du willst!« Das Mädchen antwortete: »Der König verlangt das Wasser der Unsterblichkeit. Ich soll es ihm bringen.« »Das ist eine schwierige Sache. Aber hab keine Angst, es hängt von deiner Behendigkeit ab«, beruhigte sie die Riesenfrau. Sie gab ihr zu essen, ließ sie ruhen und führte sie dann ans Meer. Als sie hinkamen, 64
blies sie ins Meer, so daß es sich aufstaute, und sagte: »Bis du zurückkommst, wird es so bleiben. Nimm diesen Weg, du wirst an dem Apfelbaum vorbeikommen und an vielen anderen Orten. Auf einer Ebene wird sich eine Stadt mit einer diamantenen Mauer erheben. In dieser Stadt, in der sich jenes Wasser befindet, herrscht eine Königin. Die Mauer hat ein diamantenes Tor. Dieses öffnet und schließt sich so schnell, daß du mit den Augen kaum folgen kannst. Schlag dein Pferd so kräftig mit der Peitsche, daß du hindurchkommst. Denn wenn das Tor dich trifft, schneidet es dich und das Pferd mittendurch!« Die Riesenmutter wünschte der Tochter des Wesirs eine gute Reise, und sie trennten sich. Die Tochter des Wesirs ritt durch das ganze Meer und durch zehn ebenso große Länder. Endlich gelangte sie an jene diamantene Mauer. Die Sonne ging gerade auf, und die Mauer blinkte grell. Sie ritt näher und sah, daß sich das Tor tatsächlich so schnell öffnete und schloß, daß man mit dem Blick kaum folgen konnte. Sie aß etwas und fütterte das Pferd mit Gerste. Dann ruhten sich beide aus. Schließlich schwang sie sich in den Sattel, ritt ein wenig umher, um das Pferd zu erwärmen, dann schlug sie es mit der Peitsche und schoß durch das Tor. Sie schafften es, aber dem Pferd wurde der Schwanz abgeschnitten. Sofort sprang das Mädchen ab, übergoß das Pferd mit dem Wasser der Unsterblichkeit und der Schwanz heilte wieder. Das Mädchen sah sich um. Alle Häuser waren aus Glas. Auch lebte kein Mann in dieser Stadt. Die Eltern der Königin waren im Krieg umgekommen und alle Männer gefallen. Eine Erzieherin zog das Waisenkind
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auf, ohne daß dies je eines Mannes Gesicht zu sehen bekam. Die Königin war sehr schön. Die Tochter des Wesirs ging zur Quelle, nahm den Tragbeutel, ließ das Pferd weiden und legte sich selbst nieder, um zu schlafen. Die Erzieherin sah, daß ein junger Mann gekommen war, und sagte zur Königin: »Ein junger Mann ist zu unserer Quelle gekommen und ruht sich dort aus. Er ist so schön, wie ich noch nie einen Mann gesehen habe.« Die Königin sprach: »Ach, könnte ich ihn nur sehen, damit ich weiß, wie ein Mann aussieht!« Als der junge Mann erwachte, ging die Erzieherin zu ihm und sagte: »Unsere Königin befiehlt dich zu sich!« Sofort stand die Tochter des Wesirs auf und folgte der Erzieherin. Der Königin gefiel der Fremde überaus gut, sie hieß ihn neben sich setzen und berichten, weshalb er hergekommen sei. Dann sagte sie: »Reite nicht mehr fort. Regiere dieses Reich. Außer dir habe ich noch keinen Mann gesehen, und weil ich dich gesehen habe, mußt du auch mein Mann werden!« Die Tochter des Wesirs entgegnete: »Ich bringe das Wasser der Unsterblichkeit meinem König, und dann komme ich zurück.« Man füllte ihr die Krüge und entließ sie in Frieden. Als sie ans Meer kam, traf sie es noch immer geteilt an. Sie ritt unbehelligt hindurch und kam zur Mutter der Riesinnen. Diese freute sich, als sie den jungen Mann sah, ließ ihn ausruhen und rief zum Abschied: »Man wird dich wieder fortschicken. Geh nicht, ohne daß ich davon weiß!« Die Tochter des Wesirs kehrte nach Hause zurück und brachte dem König das Wasser der Unsterblich66
keit. Als nachts alles schlief, ging die Königstochter abermals zu dem jungen Mann: »Bevor du zurückkamst, war ich so traurig. Ich liebe dich so sehr, aber du liebst mich nicht!« Die Tochter des Wesirs antwortete: »Ich liebe dich auch sehr, aber ich fürchte mich vor dem König!« Am nächsten Tag sagte die Frau zum König: »Gestern nacht war unsere Tochter wieder beim Sohn des Wesirs. Schicke ihn diesmal mit solch einem Auftrag weg, daß er nicht lebend zurückkehren wird!« Der König befahl den Sohn des Wesirs zu sich und sprach: »Du mußt mir das Geheimnis der versteinerten Stadt ergründen!« Abermals machte sich die Tochter des Wesirs auf und ritt zur Mutter der Riesinnen. »Was ist los, was hast du?« fragte die Riesenfrau. »Der König wünscht, daß ich ihm das Geheimnis der versteinerten Stadt ergründe.« Die Riesin erwiderte: »Das ist furchtbar schwer. Ich will dich hinbringen, aber helfen kann ich dir nicht. Du mußt an jenem Apfelbaum und auch am Wasser der Unsterblichkeit vorbeireiten und wirst noch viele Berge und Täler überqueren müssen. Dort wirst du es finden.« Sie führte die Tochter des Wesirs ans Meer, blies hinein und sagte: »Komm wieder bei mir vorbei!« Sie trennten sich voneinander. Die Tochter des Wesirs kam an jenem Apfelbaum, der Wasserstelle und vielem anderen vorbei. Schließlich gelangte sie an ein Feld, das war voller Steine. Menschen und Tiere waren zu Stein verwandelt. Der Tischler hielt den Hobel noch in der Hand und war zu Stein geworden. Wie sie im Leben gearbeitet hatten, so befanden sie sich hier als 67
Steine. Die Tochter des Wesirs irrte umher, konnte aber keine lebende Seele finden. Schließlich kam sie an ein Haus, aus dem hörte sie eine Stimme: »Gib mir einen Schluck Wasser!« Sie ging der Stimme nach und erblickte einen Mann, bei dem nur die untere Hälfte versteinert war. Die Tochter des Wesirs fragte: »Warum bist du versteinert?« Der Mann entgegnete: »Wie konntest du es wagen hierherzukommen? Reite schnell wieder weg, sonst kommt das Geisterweib und verwandelt auch dich in Stein!« »Das ist mir gleich. Wenn ich dem König nicht das Geheimnis dieser Stadt bringe, wird er mich töten«, antwortete die Tochter des Wesirs. »Nun gut«, erzählte der Mann. »Ich war König in dieser Stadt, besaß eine Frau, Nasire und Wesire, wie dies einem Herrscher zusteht. Ich war mit allem versorgt. Ich hatte auch zwei Sturmrosse, die pfeilschnell dahinstoben, die ließ ich gut betreuen. Eines Tages führte der Stallknecht sie an die Tränke. Als er sie heimbrachte, waren sie so dürr, daß die eine Flanke die andere berührte. Ich fuhr ihn an, ob er sie nicht gefüttert habe, oder was sonst die Ursache für jene Magerkeit sei. Der Stallknecht entgegnete: ›Jede Nacht galoppieren sie hinter neun Berge, wie sollen sie da nicht mager werden!‹ Ich fragte ihn nach dem Grund, und er sagte: ›Die Königin liebt den Herrscher Arabiens, der hinter neun Bergen lebt. Kaum seid Ihr eingeschlafen, steht sie auf, und ich folge ihr. Sie setzt sich auf das eine Roß, ich auf das andere. Heute nacht will sie wieder hinreiten. Man feiert ein Fest und erwartet sie.‹
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Ich sagte zu ihm: ›Leg deine Kleider an die Tür. Sobald sie nach dir klopft, ziehe ich mich an und reite an deiner Stelle.‹ Der Stallknecht gehorchte. Ich stellte mich schlafend. Die Königin stand auf, klopfte an die Tür des Stallknechts und kam wieder herein. Sie zog sich sorgfältig an. Ich schlüpfte in die Kleidung des Stallknechts und legte den Stallknecht in mein Bett. Noch konnte ich es nicht glauben, ich wollte mich mit eigenen Augen überzeugen. Ich ging hinaus, sie traf mich bereit an. Ich holte die Rosse aus dem Stall und wartete auf sie. Als sie kam, setzte sie sich auf das eine Roß, trieb mich zur Eile und stob davon. Ich folgte ihr. Wir überquerten neun Berge. Dort trafen wir alles so erleuchtet an, daß man denken konnte, es sei Tag. Sogleich wurde durcheinander gerufen: ›Die Königin kommt!‹ Man half ihr beim Absitzen, geleitete sie hinein, die Zügel warf sie mir zu. Da stand ich und hielt die Pferde am Zaum. Lange verweilte sie drinnen, fast bis zum Morgengrauen. Endlich kehrte sie zurück und brachte mir in mein Seidentuch gewickelt eine Frucht mit. Als wir uns auf die Pferde schwangen, ließ ich das Seidentuch absichtlich dort zurück. Nachdem wir eine Weile geritten waren, sagte ich: ›Ach, ich habe das Seidentuch liegengelassen.‹ ›Reite zurück und hole es schnell, der König könnte danach fragen!‹ Ich ritt los und sprang durchs Fenster in den Palast. Ich schnitt dem Araber den Kopf ab und warf ihn in den Tragbeutel. Dann nahm ich das Seidentuch und ritt davon. Wir stoben wie der Sturm dahin. Als es hell wurde, kamen wir an. Den Stallknecht traf ich noch an der gleichen Stelle versteckt an. Die Frau warf mir die Frucht zu und eilte hinein. Ich gab diese dem Stall69
knecht, zog mich aus, hängte den Tragbeutel auf und legte mich hin. Leise kam meine Frau herein und legte sich schlafen. Als es ganz hell geworden war, sagte ich: ›Weißt du, Frau, was ich heute geträumt habe?‹ ›Was denn?‹ fragte sie mich. Ich erzählte ihr: ›Mir träumte, ein arabischer Herrscher hinter neun Bergen liebte dich, und ich begleitete dich als Stallknecht, sprang durch sein Fenster, schnitt ihm den Kopf ab und warf diesen in den Tragbeutel. Schau doch nach, ob es wahr ist.‹ Sofort nahm sie den Tragbeutel herunter, stülpte ihn um, und der Kopf rollte heraus. Wutentbrannt verwandelte sie mich halb zu Stein, und die anderen Bewohner meines Reiches versteinerte sie ganz. Diesen Zauber hat sie in Arabien gelernt. Wenn ich sie um Wasser bitte, gießt sie mir stinkendes Brackwasser ein: das sei ich wert. Wenn ich um Essen bitte, bringt sie mir Schlamm: ›Da, iß!‹ Wäre doch auch ich ganz zu Stein geworden!« Die Tochter des Wesirs fragte: »Wo ist deine Frau jetzt?« »Sie ist weggegangen, läuft umher, um ihr Leid zu lindern. Bald wird sie zurückkommen.« Während sie so redeten, erklangen in der Ferne Schritte. Das Mädchen verbarg sich hinter der Tür. Die Frau kam herein, und der König sagte zu ihr: »Bist du denn kein Christ? Entweder töte mich ganz oder erlöse mich von dieser Qual!« Die Frau entgegnete: »Das ist noch zuwenig für dich!« Als sie so redeten, schlich sich die Tochter des Wesirs heran und schlang sich das Haar der Frau um den 70
Arm. Das geschah so plötzlich, daß die Frau sich nicht wehren konnte. Das Mädchen warf sie zu Boden und stellte ihren Fuß auf sie: »Schnell, verwandle den König in seine frühere Gestalt und gib auch der Stadt ihr früheres Aussehen zurück, sonst töte ich dich auf der Stelle!« Was blieb der Frau anderes übrig. Sie zauberte alles in seine alte Gestalt zurück. Das Mädchen sprach: »Mich auch!« »Was soll ich aus dir denn zaubern? Wenn du ein Mann bist, sollst du ein Mädchen werden. Bist du ein Mädchen, sollst du zum Mann werden.« Das Mädchen verwandelte sich tatsächlich in einen Mann und hieb die Königin sofort in Stücke. Der König und die ganze Stadt segneten den jungen Mann. Der Jüngling machte sich auf den Rückweg. Er kam zu dem Mädchen in der gläsernen Stadt und sagte: »Halte dich bereit, ich werde kommen und dich zu meinen Eltern führen!« Dann ritt er zur Mutter der Riesinnen und erzählte ihr das Geheimnis der versteinerten Stadt. Endlich begab er sich zum König und berichtete ihm. Als alle sich zur Ruhe legten, kam die Königstochter abermals heimlich zu ihm: »Bevor du kamst, bin ich vor Angst um dich fast umgekommen!« »Ich liebe dich auch sehr«, sagte der junge Mann und nahm sich, was sie ihm gab. Die Furcht vor dem König, die er früher vorgegeben hatte, besaß er nun nicht mehr. Am nächsten Tag stand er auf und bat den König: »Erlaubt mir, nach Hause zu gehen und meinen alten Vater zu sehen!« Da freute sich der König, daß er ihn loswurde, und gab sein Einverständnis. Der junge Mann zog zur Rie71
sin und gestand ihr, daß er das Mädchen aus der gläsernen Stadt liebte. Die Riesin kam mit ans Meer, blies hinein und ließ ihn hindurchreiten. Er ging zu dem Mädchen, nahm die diamantene Mauer, die Quelle der Unsterblichkeit und alle Frauen, die dort lebten, mit sich. Sie kamen zur Riesin, waren lustig und freuten sich und reisten weiter zum Vater des jungen Mannes. Das Heer der Frauen eilte voraus, und die Frauen sagten: »Der Sohn des Wesirs kommt mit seiner Frau!« Da wunderte sich der Wesir: »Wer hat mir denn einen Sohn gegeben, es war doch ein Mädchen!« Als der junge Mann heimkam, berichtete er den Eltern von seinen Erlebnissen. Sie freuten sich sehr, richteten die Hochzeit und lebten im Glück.
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Das Schilfmädchen Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn. Eines Tages ging der Königssohn hinaus, um mit den Jungen seines Alters zu spielen. Da ging ein Mädchen vorbei, das Wasser holen wollte. Es trug einen Krug in der Hand. Der Königssohn warf mit einem Stein nach ihr, traf den Krug und zerbrach ihn. Weinend lief das Mädchen nach Hause und sagte zu seiner Mutter: »Der Königssohn hat mir den Krug zerbrochen.« Die Mutter sprach zu ihr: »Geh, Kind, und nimm einen anderen Krug. Wenn er ihn dir wieder zerbricht, dann fluche ihm nicht, denn er ist das einzige Kind seiner Mutter, sondern sage ihm nur: ›Du sollst dich in ein Mädchen verlieben, das nicht von Menschen stammt.‹« Das Mädchen nahm einen anderen Krug und ging abermals zur Quelle. Aber der Königssohn zerschlug auch diesen Krug. Da sagte das Mädchen: »Du sollst dich in ein Mädchen verlieben, das nicht von Menschen stammt.« Als der Bursche das hörte, lief er sofort nach Hause. Er wurde krank. Mit vielerlei Mitteln versuchte man ihn zu heilen, doch nichts half. Einmal bat der junge Mann den Vater um Erlaubnis, ausreiten zu dürfen. Der Vater gewährte ihm diese Bitte. Da setzte sich der Sohn auf sein Pferd und ritt davon. Er ritt und ritt und kehrte nicht mehr zurück. Als der Vater seinen Sohn trotz langen Suchens nicht finden konnte, ließ er das ganze Reich in Trauerkleidung gehen. Der Königssohn ritt weit in die Ferne und gelangte zu einem Turm, vor dem eine Frau stand. Er sagte zu 73
ihr: »Wir wollen wie Bruder und Schwester sein. Laß mich heute bei dir übernachten.« Die Frau antwortete: »Tritt näher, der Gast ist von Gott gesandt.« Der junge Mann stieg vom Pferd und versorgte es, dann ging er ins Haus und sah einen alten Mann, in dessen Bart Moos hing. Als er ihn grüßte, konnte er sich ihm kaum verständlich machen. Der Königssohn sagte zu dem alten Mann: »Ich liebe ein Mädchen, das nicht von Menschen stammt.« Der Alte erwiderte: »Dergleichen habe ich noch nie gehört. Aber wenn du von hier aus weiterreitest, wirst du einen Turm sehen, dort wohnt mein älterer Bruder, vielleicht weiß er etwas.« Als der Morgen graute, zäumte der Königssohn sein Pferd und machte sich auf den Weg. Nach einiger Zeit kam er zu jenem Turm, sah eine Frau und sprach zu ihr: »Wir wollen wie Bruder und Schwester sein. Laß mich bitte heute hier übernachten.« Die Frau entgegnete: »Komm herein, der Gast ist von Gott gesandt.« Der junge Mann stieg von seinem Pferd, brachte es in den Stall und ging dann ins Haus. Dort sah er einen alten Mann, dem Moos im Bart hing. Nur mit Mühe konnte er sich ihm verständlich machen. Der alte Mann sprach: »So etwas habe ich noch nicht gehört. Aber ein Stück weiter wohnt mein älterer Bruder, vielleicht weiß der etwas.« Als der Morgen graute, ritt der junge Mann abermals weiter und dachte: ›Wenn die jüngeren Brüder schon so vergreist sind, daß sie kaum noch ein Wort verstehen, dann kann ich mich dem älteren Bruder doch gleich gar nicht verständlich machen.‹ Er kam zu dem Turm und erblickte eine Frau, der rief er zu: »Nimm mich auf wie deinen Sohn. Laß mich heute hier übernachten.« Die Frau sprach: »Mit großem Vergnügen. 74
Ich will es meinem Mann sagen und hören, was er dazu meint.« Der Königssohn stieg vom Pferd, um die Antwort der Frau abzuwarten. Die Frau ging ins Haus, und es dauerte lange, bis sie zurückkam, denn ihr Mann schlief, und sie wagte nicht, ihn zu wecken. Schließlich zog sie ihre goldenen Pantoffeln an, klapperte in ihnen durchs Haus und weckte dadurch ihren Mann. Der Mann fragte: »Warum hast du mich geweckt?« »Ein Gast ist zu uns gekommen«, antwortete sie, »er bat, über Nacht bleiben zu dürfen, deshalb habe ich dich geweckt.« Da sagte der Mann: »Geh und rufe ihn, er soll hereinkommen!« Und die Frau rief dem jungen Mann zu: »Komm ins Haus!« Der Königssohn brachte sein Pferd in den Stall, trat ins Haus und sah, daß die Frau einen ganz jungen Mann hatte. Er setzte sich und begann ein Gespräch. Von sich selbst sagte er: »Ich liebe ein Mädchen, das nicht von Menschen stammt. Hast du schon irgendwo davon gehört?« Der Mann erwiderte: »Von so einem Mädchen habe ich noch nie gehört. Aber an unserer Grenze leben Riesen, es sind drei Brüder, und diese haben eine Mutter. Die Brüder ziehen am Morgen auf die Jagd, und die Mutter spinnt Wolle. Sie hat ihr Gesicht immer der Sonne zugewandt, und du mußt versuchen, von hinten an sie heranzukommen, und sagen: ›Mutter, ich habe Durst, gib mir Wasser zu trinken.‹ Dann wird sie dich nicht auffressen, und du kannst mit ihr sprechen. Wenn jemand dir Auskunft geben kann, dann nur sie und sonst niemand.« Damit beendeten sie ihr Gespräch, und der Mann sagte zu seiner Frau: »Bereite uns das Essen.« Die Frau fragte: »Was soll ich denn zubereiten?« 75
»Koche den Kürbis, der auf unserem Boden liegt.« Die Frau brachte den Kürbis herunter, aber der Mann schickte sie zurück: »Bring diesen Kürbis wieder hinauf und hol den anderen Kürbis herunter!« Die Frau stieg abermals hinauf und holte den gewünschten Kürbis. Als die Frau daranging, das Abendbrot vorzubereiten, sagte der Königssohn: »Deine beiden Brüder sind jünger als du, aber sie sind so gealtert, daß ich mich ihnen kaum verständlich machen konnte, als ich mit ihnen sprach. Wie kommt es, daß du so jung aussiehst, obwohl du älter bist?« Da antwortete der Mann: »Der eine meiner Brüder hat eine Eselsseite, der andere einen Hundekiefer zur Frau. Ihre Frauen haben Schuld, daß sie so zeitig gealtert sind. Meine Frau ist ein anderer Mensch. Wir hatten nicht mehr als einen Kürbis auf dem Boden, aber als ich ihr sagte, sie solle den anderen bringen, trug sie ihn zurück und holte ihn wieder herunter. Wären die Frauen meiner Brüder dagewesen, hätten sie sich an den Kopf geschlagen und gesagt: ›Wann haben wir mehr als einen Kürbis besessen!‹ Wenn ich mich niederlege und schlafe, kommt sie nicht ins Haus, bevor ich aufwache, um mich nicht durch das Geräusch ihrer Schritte zu wecken. Deinetwegen hat sie mich das erstemal geweckt.« Er warf einen Blick in den Spiegel und sah, daß ihm deshalb schon ein graues Haar gewachsen war. »Wegen ihrer Frauen sind meine Brüder so gealtert.« Nach diesem Gespräch aßen sie Abendbrot und legten sich schlafen. Am nächsten Morgen stand der Königssohn auf, zäumte sein Pferd und machte sich auf den Weg. Wie ihm der Mann geraten hatte, schlich er sich an die Mutter der Riesen heran und bat: »Mutter, ich habe Durst, gib mir Wasser zu trinken.« Die alte 76
Frau drehte sich schnell um und sprach: »Hättest du nicht Mutter zu mir gesagt, wärest du ein gutes Abendbrot für mich.« Die Alte brachte ihm Wasser und gab ihm zu trinken. Dann wandte sie sich an den Königssohn: »Aus Furcht vor meinen Söhnen kriecht hier keine Ameise über den Boden und fliegt kein Vogel am Himmel. Was hat dich hierhergeführt?« Der Königssohn antwortete: »Ich trage solchen Schmerz in meinem Herzen, daß es mir gleich ist, ob Riesen mich verschlingen oder jemand anderes, wenn ich nicht an das Ziel meiner Wünsche gelange.« Und er erzählte der alten Frau seine Erlebnisse. Da sagte die Mutter der Riesen: »Von so einem Mädchen habe ich noch nie gehört, aber wir wollen es trotzdem versuchen.« Als der Abend hereinbrach, versteckte die Alte den Königssohn. Die Söhne der Frau kamen nach Hause und riefen: »Mutter, hier riecht es nach Mensch!« Aber die Mutter antwortete: »Kinder, hinter der Sonne hat ein Christ seinen Abfall weggeschüttet, und der Geruch wird hierhergezogen sein.« Die Mutter überzeugte sie, dann häuteten sie die Jagdbeute, kochten und aßen diese. Am Morgen zogen die Riesen wieder auf die Jagd. Die alte Frau holte den Königssohn aus seinem Versteck, gab ihm ein Messer und sprach: »Reite in den Wald, schneide drei Bäume ab und bring sie her!« Der junge Mann ritt los und schnitt drei Bäume ab, die so groß waren, daß er und sein Pferd sie nur mit Mühe herbeischaffen konnten. Die Alte zog die Bäume auf ihre Knie und zerbrach alle drei. Da sagte sie: »Du hast mir nicht die gebracht, die ich wollte.« Und sie ging selbst in den Wald, schnitt drei Bäume ab und trug sie nach Hause. Dann sprach sie zu dem Königs77
sohn: »Setz dich aufs Pferd und folge mir.« Die Alte nahm die drei Bäume in die Hand und lief damit so schnell, daß er auf seinem Pferd kaum zu folgen vermochte. Sie gelangten an die Küste des Meeres, und der Königssohn stieg ab. Die Alte gab ihm ein Messer und einen Schleifstein und sagte: »Das Messer mußt du so schärfen, daß es diesen Baum durchschneidet, wenn ich es darauflege.« Der junge Mann begann das Messer zu schleifen. Schließlich fingen seine Hände an zu zittern, denn er fürchtete, er solle das Messer nur deshalb schärfen, damit sie ihm den Kopf abschneiden könne. Als die Alte dies merkte, fragte sie: »Warum zittern dir die Hände?« Der junge Mann entgegnete: »Ich habe Angst, du könntest mir den Kopf abschneiden.« Da meinte die Alte: »Wozu soll ich dir den Kopf abschneiden? Wenn ich wollte, würde ich dich sofort auffressen. Aber weil du mich Mutter genannt hast, verschone ich dich.« Der Königssohn schärfte das Messer weiter, und die Alte warf alle drei Stämme ins Meer und schrie auf. Da teilte sich das Wasser, und drei Schilfrohre kamen zum Vorschein. Die Alte sprach: »Lauf hin, schneide die Schilfrohre am Grunde ab und bring sie an Land, ehe die Wasserflut dich überrascht.« Der Königssohn sprang hin, schnitt rasch die Schilfrohre ab, und als er an den Strand zurückkehrte, stürzte hinter ihm eine Welle heran. Aber er brachte alle drei Schilfrohre an Land. Die alte Frau rundete die Spitzen der Schilfrohre und fing an zu beten. Während sie betete, platzte ein Schilfrohr in der Mitte auf, und ein Mädchen kam heraus. Dieses Mädchen war so schön, daß man das Auge nicht von ihr wenden konnte, wenn man es einmal ansah. Sie nahmen das Mädchen mit ins Haus der alten Frau. Als sie nach Hause 78
kamen, buk ihnen die Alte einen ganzen Backofen voll Brot, gab ihnen noch ein Pferd und einen Krug Wasser und sprach: »Brecht jetzt auf. Aber steigt nicht von den Pferden, bevor ihr zu Hause seid.« Sie ritten los und hielten sich an die Warnung. Aber als sie sich dem heimatlichen Haus näherten, sagte der junge Mann: »Jetzt sind wir schon im Reich meines Vaters, und ich fühle mich wie im eigenen Haus. Komm, wir steigen ab und ruhen uns ein wenig aus.« Das Mädchen war jedoch nicht einverstanden: »Erinnerst du dich nicht an die Worte der alten Frau?« Aber der junge Mann überredete sie dennoch, und sie stiegen ab. Die Pferde ließen sie weiden, während sie sich selbst am Ufer eines Flusses in den Schatten setzten. Der junge Mann schlief alsbald im Schoß des Mädchens ein. Da kam eine schwarze Araberfrau, grüßte das Mädchen und knüpfte ein Gespräch mit ihr an. Die Araberin sagte: »Komm, wir wollen baden.« Das Schilfmädchen weigerte sich, da der Königssohn seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte und schlief. Die Araberfrau überredete sie dennoch zum Baden, und sie legten dem jungen Mann einen Sattel unter den Kopf. Zuerst stieg die Araberfrau ins Wasser und badete, dann sagte sie zu dem Schilfmädchen: »Jetzt bade du, und ich werde aufpassen, daß niemand kommt.« Doch als das Mädchen sich auszog, stieß die Araberfrau sie ins Wasser und sprach: »Verwandle dich in einen Fisch!« Da verwandelte sich das Schilfmädchen in einen Fisch. Die Araberfrau aber zog die Kleider des Schilfmädchens an, rückte den Sattel zur Seite und legte den Kopf des Königssohns in ihren Schoß. Als der junge Mann erwachte und die Frau ansah, erschrak er 79
sehr: »Was ist mit dir geschehen, wie bist du so schwarz geworden?!« Aber sie antwortete nur: »Erinnerst du dich, was uns die Alte gesagt hat: ›Steigt nicht von den Pferden, bevor ihr zu Hause seid!‹ Weil du mich vom Pferd gehoben hast, bin ich wohl so schwarz geworden.« Sie zäumten die Pferde, ritten weiter und gelangten zum Hause des Vaters. Der Vater freute sich einerseits, daß er die Staatstrauer beenden konnte, aber andererseits ärgerte er sich sehr und meinte: »Kind, für dieses Mädchen hast du dich fast umgebracht?« Da entgegnete der Sohn: »Ach, Vater, das Schicksal hat es so gewollt.« Und sie feierten Hochzeit. Der Fisch war ihnen aber im Wasser gefolgt und tauchte überall dort auf, wo die Herden des Königs zur Tränke geführt wurden. Immer wenn man die Rinder ans Wasser trieb, schüttelte sich der Fisch, daß das Vieh erschrocken ausbrach. Das Vieh konnte kein Wasser mehr trinken und verdurstete. Die Hirten meldeten diese betrübliche Geschichte dem König. In diesem Wasser war es verboten, Fische zu fangen, doch der König gab sofort Befehl, die Netze auszuwerfen. Viele Fische fingen die Fischer, aber jener Fisch, den sie suchten, war nicht darunter. Als die Fischer ans Ufer zurückkehrten, sagte ein lahmer Fischer: »Einmal will ich das Netz noch auswerfen. Fange ich ihn, ist es gut. Wenn nicht, dann geschehe, was will!« Er warf sein Netz aus, fing den Fisch und brachte ihn ins Schloß. Die schwarze Araberfrau sagte sofort: »Kocht diesen Fisch und eßt ihn auf, nur die Gräten sollt ihr ins Feuer werfen!« So geschah es auch. Der Fisch wurde gekocht, und sie begannen ihn zu verspeisen und die Gräten ins Feuer zu werfen. 80
Da kam ein angetrunkener Mann, der sagte: »Ich möchte gern Fisch, bitte gebt mir etwas davon.« Man antwortete ihm: »Wir geben dir von dem Fisch, aber wenn du auf eine Gräte stößt, dann wirf sie ins Feuer.« Der Mann richtete sich nach diesen Worten, aber schließlich vergaß er sie, und eine Fischgräte fiel hinter die Stalltür. Als die Leute den Fisch gegessen hatten, gingen sie nach Hause und trieben das Vieh in den Stall. Am Morgen sahen sie, daß über Nacht ein hoher Baum emporgeschossen war und sie das Vieh nicht zur Tür hinauslassen konnten. Wenn die Tiere zur Tür hinausdrängten, schüttelte der Baum sein Geäst, so daß sie übereinanderstürzten. Da sagte die schwarze Araberfrau: »Baut einen großen Ofen, fällt diesen Baum und werft selbst das kleinste Spänchen ins Feuer, damit es verbrennt!« So geschah es auch. Sie gingen daran, den Baum zu fällen, und bauten einen großen Ofen. Aber als sie an dem Baum hackten, kam ein Mann und sprach: »Heute habe ich mir in der Schmiede ein Beil fertigen lassen. Wenn es erlaubt ist, möchte ich gern an diesem Baum prüfen, ob es schneidet.« Die Leute freuten sich darüber, und er begann zu hacken. Beim Hacken sprang ein Splitter von dem Baum ab und flog hoch in die Luft empor. Der Baum wurde gefällt und völlig verbrannt, nur dieser eine Splitter nicht, der in die Luft geflogen war. Dieser Splitter fiel in einem anderen Land mitten auf einen Weg. Eines schönen Tages gingen die Leute zu ihrem Heiligtum, um zu beten. Unter ihnen befand sich auch eine Witwe. Als diese wieder nach Hause ging, sammelte sie Reisig und entdeckte jenen Splitter. Sie 81
nahm ihn mit nach Hause, und da er sich nicht zum Feuern eignete, dachte sie: ›Der ist gut zum Topfabdecken.‹ Wenn die Alte das Haus verließ, verwandelte sich der Holzsplitter in ein Mädchen, fegte und säuberte das Haus, bereitete der alten Frau das Essen und verwandelte sich danach wieder in einen Holzsplitter. Da sagte die alte Frau zu ihren Schwiegertöchtern: ›Vor unserem Auseinandergehen habt ihr nicht auf mich gehört. Wie kommt es, daß ihr mir jetzt jeden Tag ausfegt und das Essen kocht?!« Die Schwiegertöchter antworteten: »Solange wir zusammen waren, hatten wir Streit miteinander. Worum sollen wir jetzt noch streiten, allmählich fassen wir Zuneigung zueinander.« Die alte Frau nahm sich schließlich vor, herauszufinden, welche Schwiegertochter ihr das Zimmer saubermachte. Sie versteckte sich in der Nähe und beobachtete, wie sich der Holzsplitter in ein Mädchen verwandelte, das Haus fegte und den Kehricht hinauswarf, selbst aber nicht zur Tür hinaustrat. Da sprang die Alte hinzu und hielt das Mädchen fest. Das Mädchen erschrak sehr und schrie auf: »Töte mich nicht, ich bin ein Christenmensch.« Die Alte fragte, wer sie sei und woher sie komme. Das Mädchen erzählte ihr, was ihr zugestoßen war, und sagte ihr auch, daß sie der Holzsplitter sei, den sie zum Topfabdecken benutze. Die Alte wollte ihr nicht glauben, da verwandelte sich das Mädchen abermals in jenen Holzsplitter und legte sich über den Topf. Als die Frau das sah, jammerte sie: »Warum habe ich es nur nicht geglaubt, wie konnte ich so ein Mädchen wieder zu einem Holzsplitter werden lassen!«
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Doch in diesem Augenblick verwandelte sich der Holzsplitter abermals in das Mädchen, und sie unterhielten sich weiter. Die Alte sagte: »Von heute an wollen wir wie Mutter und Kind zusammenleben.« Und so geschah es auch. Einmal fragte das Mädchen: »Mutter, hast du etwas im Haus, das wir auf dem Markt verkaufen könnten?« »Nur dieses eine Huhn, Kind.« Da sagte das Mädchen: »Nimm dieses Huhn, Mutter, und kaufe mir vom Erlös für einen Abasi Seidenfaden.« Die Alte ging auf den Markt und verkaufte das Huhn für fünf Schauri. Sie kaufte für einen Abasi Seidenfaden, und ein Schauri blieb ihr noch übrig. Das Mädchen webte aus dem Faden einen Teppich und sagte zu der alten Frau: »Nimm diesen Teppich, Mutter, verkaufe ihn auf dem Markt und bring mir für zwei Abasi Faden mit.« Auf dem Markt feilschte die Alte mit drei Generalen: »Was dieser Teppich kosten soll? Wißt ihr etwa nicht, was er wert ist?« Der eine General sagte: »Ich gebe dir hundert Tumani.« Die Frau dachte, er wolle sie zum Narren halten, denn sie meinte, wenn es hoch komme, könne sie dafür zwei Maneti erhalten. Deshalb erwiderte sie: »Willst du mich zum Narren halten?« Der andere General sagte: »Ich gebe dir zweihundert Tumani.« Da sprach die Alte ärgerlich: »Haltet mich nicht für einfältig, gib mir, was der Teppich wert ist.« Da gab ihr der dritte dreihundert Tumani und verschwand mit dem Teppich, denn er fürchtete, die Alte könnte ihn aufhalten. Sie rannte jedoch nach Hause, damit keiner ihr das Geld wieder abverlangen konnte. Sie kam mit dem vielen Geld nach Hause und sagte zu ihrer Tochter: »Kind, ich weiß nicht, was die Leute 83
so auf diesen Teppich verrückt gemacht hat, daß sie mir dreihundert Tumani gegeben haben. Wenn er mir nur drei Kapiki geben wollte, müßte er aber doch gemerkt haben, daß er viel mehr in der Hand hatte.« Da entgegnete das Mädchen: »Mutter, du kennst den Preis des Teppichs nicht. Hättest du ihn auf tausend Tumani geschätzt, er wäre trotzdem verkauft worden.« Sie webte noch mehrere solcher Teppiche und ließ sie auf den Markt bringen. Von dem Geld bauten sie sich große Schlösser. Dann webte das Mädchen noch einen Tragbeutel, auf den sie eine Einladung an den Königssohn stickte: ›Bitte erweise uns die Ehre eines Besuches mit deinem ganzen Hofstaat.‹ Und sie legte ihr Bildnis in den Tragbeutel hinein. Dann sagte das Mädchen zu ihrer Stiefmutter: »Ich muß dich an einen Ort schicken, zu dem du teils zu Fuß, teils zu Pferde unterwegs sein wirst. Begib dich um meinetwillen dorthin und sag nicht nein.« Die alte Frau antwortete: »Ich gehe, wohin du willst, Kind, aber du sollst wissen, daß ich von dort nicht mehr lebend zurückkehren kann.« Das Mädchen gab der Alten den Tragbeutel und sprach: »Diesen Tragbeutel sollst du dem Königssohn bringen und ihm eigenhändig übergeben. Wer dir auch sagen wird, er wolle ihn für dich abgeben, überlaß ihn keinem anderen.« Da machte sich die alte Frau auf den Weg, und das Mädchen gab ihr den Tragbeutel und reichlich Geld mit. Die Alte reiste bald zu Fuß, bald zu Pferde und kam schließlich in jenes Land, wo der Königssohn lebte. Als sie an das Haus kam, traf sie an der Tür die schwarze Araberfrau. Diese fragte sie: »Wohin gehst du?«
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»Ich möchte den Königssohn sprechen. Ich muß ihm etwas übergeben«, entgegnete die Alte. Da sagte die Araberfrau: »Gib es mir, ich bringe es ihm.« Die Alte wehrte ab und brachte es ihm selbst. Die Araberfrau jedoch schlug ihr derart ins Genick, daß sie ganz steif davon wurde. Die alte Frau übergab nun dem Königssohn den Tragbeutel. Als er die Einladung las, schrieb er als Antwort, sie möchte sich zu einer bestimmten Zeit bereit halten, er wolle kommen. »Was hast du erreicht?« fragte das Mädchen, als die alte Frau zurückgekehrt war. Die Alte entgegnete: »Ich habe ihm den Tragbeutel gebracht, obwohl dort eine Araberin war, die mir so ins Genick schlug, daß es mir jetzt noch weh tut. Diesen Brief hat er dir mitgeschickt.« Das Mädchen las den Brief und traf zur vereinbarten Zeit Vorbereitungen für ein festliches Abendmahl. Als die Zeit herangekommen war, da die Gäste eintreffen mußten, zog das Mädchen Männerkleidung an. Die Gäste kamen, und das Fest begann. Der Königssohn und die schwarze Araberfrau setzten sich nebeneinander, die anderen verstreuten sich um die Tafel. Als die Trinksprüche ausgebracht wurden, trat das Mädchen selbst als Tamada auf, aber nach einer Weile erhob sie sich und erklärte: »Mir ist ein wenig unwohl, entschuldigt mich einen Augenblick, ich will euch meine Schwester schicken, die sich noch besser auf das Amt des Tamada versteht als ich.« Sie ging in einen Nebenraum, legte die Männerkleider ab und Frauenkleider an, mischte sich wieder unter das Volk und brachte Trinksprüche aus. Als alle des Trinkens und Essens überdrüssig waren, meinte das 85
Mädchen: »Jetzt soll ein jeder seine Geschichte erzählen.« Da baten die Leute: »Erzähle zuerst deine Erlebnisse.« Das Mädchen war einverstanden. Sie verlangte nur, daß zwei Männer an der Tür Aufstellung nehmen sollten, damit niemand hinausgehen könne. Dann begann sie ihre Erlebnisse zu erzählen. Als sie von der schwarzen Araberfrau sprach, die sie ins Wasser gestoßen hatte und jetzt neben dem Königssohn saß, sprang die Araberfrau auf und wollte entfliehen. Aber die Leute ließen sie nicht entkommen. Als das Mädchen ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, führte man die schwarze Araberfrau hinaus, band sie an den Schweif eines Pferdes und ließ sie zu Tode schleifen. Der Königssohn aber sagte zu seinem Vater: »Für dieses Mädchen hier habe ich all die Gefahren auf mich genommen. Was konnte ich dafür, daß ich nicht merkte, wie sie vertauscht worden war!« Er heiratete das Schilfmädchen. Sie feierten eine große Hochzeit und begannen ein süßes und angenehmes Leben.
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Der Sohn des Adlers Es war einmal ein König, der hatte keine Kinder und war sehr traurig darüber. Es verging eine ganze Zeit, da bekam er endlich als Kind einen Adler. Zwar war der König sehr betrübt, doch was konnte er machen? Er befahl, eine Grube auszuheben und den Adler hineinzuwerfen. Der Adler war ungeheuer gefräßig. Zur Mahlzeit fraß er eine Kuh. Er fraß alles Vieh des Königs auf, und als dieser nichts mehr hatte, befahl er dem ganzen Reich, jeder sollte der Reihe nach aus seinem Haus ein Stück Vieh oder, wenn kein Vieh da war, einen Menschen dem Adler als Futter bringen. So fraß der Adler das ganze Königreich arm. Zuletzt kam die Reihe an eine Familie, in der ein Waisenmädchen lebte. Weil sie eine Waise war, wollte die Familie sie dem Adler zum Fraß geben. Als das Mädchen erfuhr, daß sie dem Adler vorgeworfen werden sollte, lief sie zum Grab ihrer Mutter und begann zu weinen. Da vernahm das Mädchen aus dem Grab eine Stimme: »Kind, hör mir zu und befolge, was ich dir sage. Besorge dir ein Büffelfell und hülle dich, wenn sie dich hinbringen, so gut darin ein, daß der Adler dich nicht sehen kann. Wenn man dich in die Grube hinabwirft, darfst du nicht aus dem Fell herauskommen. Der Adler wird um dich herumstreichen, kann dir aber nichts anhaben. Dann wird er mit dir zu sprechen beginnen und sagen: ›Was bist du für ein Wesen? Komm aus dem Fell heraus!‹ Du mußt antworten: ›Nein, komm du heraus!‹ Der Adler wird sich sträuben, aber du mußt ihn dazu bringen. Und wenn der Adler 87
aus seinem Balg tritt, wird er dir sagen: ›Du siehst doch, daß ich herausgekommen bin, jetzt komm auch du heraus.‹ Aber du darfst nicht auf ihn hören, sondern mußt ihm sagen: ›Eine Kralle ist dir noch geblieben, reiße die auch ab, dann komme ich heraus.‹ Der Adler wird sich wieder lange sträuben, aber du mußt ihn soweit bringen. Und wenn er die Kralle abwirft, kannst du aus dem Fell herauskommen, und nichts wird dir geschehen.« Da stand das Mädchen auf und lief erfreut nach Hause. An jenem Tag geschah nichts, aber am nächsten kam ein Bote vom König und holte das Mädchen. Dieses nahm die Büffelhaut mit. Als man sie zur Grube brachte, wickelte sie sich in das Fell, und dann warf man sie zu dem Adler in die Grube. Der Adler strich um sie herum, konnte aber keine Stelle finden, wo er seinen spitzen Schnabel ansetzen konnte. Als er dessen überdrüssig wurde, fing er an zu reden: »Komm aus dem Fell heraus. Was für ein Wesen bist du denn?« Doch das Mädchen antwortete: »Komm erst du aus deinem Gefieder heraus, dann komme auch ich heraus.« Diese Worte waren dem Adler unangenehm, und er versuchte das Mädchen zu überreden, aus dem Fell herauszukommen. Doch sie blieb fest und blieb in ihrem Fell. Schließlich warf der Adler das Gefieder ab und verwandelte sich sofort in einen schönen jungen Mann. Er sagte zu dem Mädchen: »Nun bin ich aus dem Gefieder gestiegen, jetzt wirf auch du das Fell ab.« Doch das Mädchen erwiderte: »Solange du nicht diese Kralle abwirfst, komme ich nicht heraus.« Der Adler wollte sich nicht von der Kralle trennen, aber das Mädchen brachte ihn soweit, daß er auch die Kralle abwarf. Da 88
stieg das Mädchen aus dem Büffelfell. Das Mädchen und der junge Mann waren so schön, daß die ganze Grube erstrahlte. Einige Tage vergingen, der Adler krächzte nicht mehr. Die Diener wunderten sich sehr und dachten, er sei gestorben. Sie liefen hin, um in die Grube zu schauen, und sahen ein schönes Mädchen und einen Burschen. Darüber staunten sie sehr. Sie eilten zum König und berichteten ihm, was sie gesehen hatten. Der König aber meinte, die Diener wollten ihn belügen, und befahl, sie zu töten. Auch alle anderen, die diese Kunde brachten, ließ er umbringen. Schließlich bat ein ehrenwerter Mann, der König solle sich selbst überzeugen. Da machte sich der König auf, um einen Blick in die Grube zu werfen. Und auch er sah das schöne Mädchen und den jungen Mann. Sogleich gab er Befehl, die beiden heraufzuholen. Es tat ihm sehr leid, daß er so viele Menschen hatte töten lassen, aber was half das schon. Das Mädchen und der junge Mann heirateten und wurden Frau und Mann. Der König schenkte der Frau ein schönes Pferd, das Zauberkraft besaß. Es verging einige Zeit, da wollte der Königssohn in ein anderes Land reisen und bat seine Frau um jenes Pferd. Dieses aber sprach zu der Frau: »Wenn du mich dem Königssohn leihst, dann sag ihm, daß er mich nur an einem Bein festbinden soll, wenn er absteigt. Und wenn man dich zum Weintrinken nötigt, dann sag dir: ›Mein Pferd soll trunken werden.‹ Du kannst aber ruhig trinken.« Am nächsten Tag ritt der Königssohn in ein anderes Land. Seine Frau war schwanger, und nach einer Woche gebar sie einen goldschöpfigen Jungen. Der Vater 89
und die Mutter schrieben ihm einen Brief und schickten diesen durch einen Freudenboten zu ihrem Sohn. Dieser Bote stieg unterwegs bei einer Frau ab, um dort die Nacht zu verbringen. Nachts, als der Mann schlief, zog die böse Frau ihm den Brief aus der Tasche, las ihn und sah, daß die Eltern schrieben: ›Deine Frau hat einen goldschöpfigen Jungen geboren.‹ Sie zerriß den Brief und steckte ihm dafür einen anderen Brief in die Tasche, in dem geschrieben stand: ›Deine Frau hat uns ins Verderben gestürzt, sie hat einem Hund das Leben geschenkt.‹ Am Morgen stand der Mann auf, ritt weiter und brachte dem Königssohn den Brief, Der Königssohn war sehr betroffen, als er die Nachricht las. Trotzdem schrieb er seinen Eltern: ›Versorgt mir Mutter und Kind, bis ich zurückkomme.‹ Diesen Brief gab er dem Mann mit. Und dieser stieg abermals bei jener Frau ab, um dort zu übernachten. Als der Mann schlief, zog die Frau auch diesen Brief aus der Tasche, zerriß ihn und legte ihm dafür einen anderen Brief mit folgendem Wortlaut hinein: ›Mutter und Vater, bitte wartet nicht, bis ich komme, sondern entfacht ein Feuer im Ofen, werft die Mutter und das Kind hinein und verbrennt sie!‹ Als es Morgen wurde, stand der Bote auf und ritt zum König. Er überreichte ihm den Brief, und der König öffnete ihn und las. Die merkwürdige Antwort bestürzte ihn, aber er mußte dem Wunsch seines Sohnes nachkommen. Darum befahl er, den Brennofen zu heizen. Zu Mittag gab man der Frau Wein zu trinken, damit sie ihre Qual nicht so spüren sollte. Doch die Frau tat so, wie das Pferd es ihr geraten hatte, und sagte sich: ›Mein Pferd soll trunken werden.‹ Deshalb blieb sie nüchtern. 90
Nachmittags steckte man die Frau mit ihrem Kind in eine Kiste und warf diese in den Brennofen. In diesem Augenblick riß sich das Pferd von seiner Leine los und kam zu dem Ofen gestürmt. Es riß die Kiste aus den Flammen und trug sie in eine wilde Gegend. Dort riß es den Deckel von der Kiste, so daß die Mutter mit ihrem Kind heraussteigen konnte. Inzwischen war aber das Pferd so schwach geworden, daß es nicht mehr weiterleben konnte. Da gab es der Frau den Rat: »Wenn ich sterbe, dann schneide mir den Schwanz ab. Wo du entlanggehst, dort schlage damit auf die Erde, dann entsteht aus der Wildnis Siedlungsland.« Das Pferd starb, und die Frau hielt sich an seinen Rat. Ringsum entstand Siedlungsland. Dort ließ die Frau sich nieder und begann da zu leben. Ihr Sohn wuchs zu einem kräftigen und hübschen Burschen heran. Er begann auf die Jagd zu gehen und lernte dabei sieben Brüder Riesen kennen. Die Riesen schlossen den jungen Mann wegen seiner Tüchtigkeit in ihr Herz, sie lehrten ihn viele Dinge und gaben ihm Ratschläge. Eines Tages hatte die Mutter den Wunsch, einen lahmen Riesen zu heiraten. Weil sie sich aber vor ihrem Sohn schämte, überlegte sie, wie sie ihn loswerden könnte. Sie bat den lahmen Riesen, ihr einen Ort zu verraten, an den sie den Sohn schicken und von wo er nicht zurückkehren konnte. Der Riese gab ihr den Rat: »Stell dich krank und schicke ihn nach dem wilden Eber. Sage ihm, daß du nur gesund werden kannst, wenn er dir die Leber des Ebers bringt.« Als der Sohn nach Hause kam, sah er, daß die Mutter stöhnte und große Schmerzen litt. Da fragte er: »Was ist dir zugestoßen, und was kann dir Heilung 91
bringen?« Die Mutter antwortete ihm, was der lahme Riese ihr geraten hatte. Am nächsten Morgen stand der junge Mann zeitig auf und ging zu seinen Freunden, den Riesen, denen er sein Leid klagte. Die Riesen lachten nur und sagten: »Deine Mutter will deinen Tod, sie möchte dich gegen einen lahmen Riesen vertauschen.« Aber der Sohn glaubte ihnen nicht und bat sie, ihm zu zeigen, wo der Eber hauste. Die Riesen rieten ihm ab, denn keiner von jenen, die den Eber erlegen wollten, war lebend wiedergekommen. »Wenn du trotzdem gehen willst, dann mußt du versuchen, ihm den Pfeil in die Stirn zu schießen, sonst bringt er dich um.« Der junge Mann brach auf. Als er zu dem Eber kam, erschrak er sehr. Das Tier kam auf ihn zugestürmt. Da schoß der junge Mann den Pfeil ab und traf mitten in die Stirn. Er tötete den Eber und nahm die Innereien seiner Mutter mit nach Hause. Die Mutter wollte nicht glauben, daß er die Leber des wilden Ebers bringt. Sie zeigte sie dem lahmen Riesen, und der bestätigte, daß es wirklich so war. Ein andermal sagte der Riese zu der Frau: »Du mußt dich wieder krank stellen und deinem Sohn sagen, er soll dir das Wasser der Unsterblichkeit bringen. Wenn nicht, dann müßtest du sterben. Sag ihm, daß du davon geträumt hast.« Als der Sohn nach Hause kam, fragte er die Mutter: »Was ist dir zugestoßen, und was kann ich dir bringen, damit du gesund wirst?« Die Mutter antwortete, was der Riese ihr aufgetragen hatte. Wieder ging der junge Mann zu seinen Freunden, den Riesen, und klagte ihnen sein Leid. Diese lachten abermals und sprachen: »Deine Mutter will dich töten. 92
Wenn du uns nicht glauben willst, so ist das deine Sache. Der Ort, wo sich das Wasser der Unsterblichkeit befindet, liegt zwischen zwei Felsen. Die Felsen öffnen sich einmal im Jahr und schließen sich bald wieder.« Der junge Mann brach auf. Endlich kam er zu den Felsen und sah, daß diese geöffnet waren. Da ging er hinein und füllte seinen Krug mit dem Wasser der Unsterblichkeit. Dann begann er sich umzusehen: Da sah er einen herrlichen Garten, in dem es angenehm kühl war. Er legte sich hin und schlief ein. Während er schlief, schloß sich die Felsentür. An diesem Ort lebte eine Schöne mit ihrer Dienerin. Als die Dienerin hinabstieg, um Wasser zu holen, fand sie den schlafenden jungen Mann und schaute ihn lange an, denn er gefiel ihr sehr. Dann stieg sie hinauf und berichtete ihrer Herrin, ein schöner junger Mann schlafe in ihrem Garten. Da stand das Mädchen auf, ging hinab, weckte ihn und fragte, weshalb er hierher gekommen sei. Er erzählte ihr alles. Da lachte das Mädchen und sprach: »Deine Mutter heiratet gerade einen lahmen Riesen. Sie wollte, daß du umkommst, denn sie schämt sich vor dir.« Aber der junge Mann wollte ihr nicht glauben. »Wie könnte mir meine Mutter antun, was du mir da sagst?« meinte er. Da zog das Mädchen einen Ring vom Finger, gab ihn dem jungen Mann und sagte: »Ich weiß, daß du zurückkommen wirst. Diesen Ring gebe ich dir mit. Wenn du wiederkommst, so zeige ihn den Felsen, und sie werden sich öffnen.« Auch einen kleinen Hund gab sie ihm, der sollte ihm den Weg zeigen. Der junge Mann erhob sich, zeigte jenen Felsen den Ring, sie öffneten sich, und er ging hinaus. Als er nach Hause kam, sah er, daß sich viele Leute versammelt 93
hatten und die Hochzeit seiner Mutter feierten. Da wurde er sehr traurig. Er nahm Pfeil und Bogen, schoß zuerst auf seine Mutter und tötete sie. Dann erschoß er den Riesen. Darauf ging er zu seinen Freunden, den Riesen, erzählte ihnen, was ihm widerfahren war, verabschiedete sich von ihnen, um wieder zu dem unsterblichen Mädchen zurückzukehren. Als er zu den Felsen kam, zeigte er ihnen den Ring. Sie öffneten sich, und er ging hinein. Er heiratete das Mädchen, und sie lebten zusammen.
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Msetschabuki Es war einmal ein Mann, der hatte zwei Töchter. Der König des Landes aber hatte kein Kind. Er wünschte sich sehnlichst ein Kind, bekam aber ein Schlangenjunges. Die Schlange zog er auf, und jeden Tag warf man ihr einen jungen Burschen als Nahrung in die Grube. Dafür mußten die Untertanen des Königs der Reihe nach ihre Kinder dem König abliefern. Als die Reihe an den Mann kam, der die beiden Töchter hatte, eine von der ersten Frau und eine von der zweiten, wollte er die Tochter der zweiten Frau hingeben. Doch die Frau ließ das nicht zu, und so gab er die Tochter seiner ersten Frau. Das Mädchen wollte aber nicht fortgehen, denn es wußte, daß die Schlange es umbringen würde. Sie weinte lange und schlief dann ein. Im Schlaf erschien ihr ihre Mutter, die sprach: »Weine nicht! Wenn man dich in die Grube wirft, wird sie zischen. Du mußt ihr zuvorkommen und sagen: ›Da sind die Brüste deiner Mutter.‹ Und dann zeige ihr diesen schwarzen Stößel.« Mit diesen Worten gab ihr die Mutter den Stößel. Am nächsten Tag brachte man das Mädchen zu jener Schlange. Kaum hatte man sie in die Grube geworfen, sagte sie der Schlange jene Worte, die ihr die Mutter beigebracht hatte. Da verwandelte sich die Schlange plötzlich in einen schönen jungen Mann, zwischen ihnen schoß eine Pappel aus der Erde, und sie begannen miteinander zu spielen. Es vergingen einige Tage, und weil die Schlange nicht mehr zischte, schickte der König seine Wesire zur Grube. Sie sollten 95
nachsehen, ob die Schlange nicht etwa gestorben sei. Sie fanden die Schlange in einen jungen Mann verwandelt; er und ein Mädchen saßen in der Grube, und zwischen ihnen stand eine Pappel. Als man dem König diese Kunde brachte, wollte er es nicht glauben und schickte andere Boten aus. Doch diese berichteten dasselbe. Da ging er selbst hin und sah, daß ein junger Mann und ein Mädchen miteinander spielten und zwischen ihnen eine Pappel stand. Er stieg hinab, holte beide aus der Grube und brachte sie in sein Schloß. Dann fragte er das Mädchen, was geschehen sei, und sie erzählte ihm alles genau. Da gab der König seinen Segen zu ihrer Hochzeit. Als die Stiefmutter erfuhr, was aus ihrem Stiefkind geworden war, begab sie sich zum Königsschloß und setzte sich vor die Tür. Die Diener fragten sie, was sie wolle. Sie antwortete, sie wolle den König sprechen. Da brachte man sie zum König, und der fragte: »Was willst du?« Die Frau antwortete: »Ich bin die Mutter Eurer Schwiegertochter. Ihr Vater ist betrübt und möchte sie sehen. Wenn es gestattet ist, nehme ich sie mit nach Hause und bringe sie bald wieder.« Der König wollte seine Schwiegertochter anfangs nicht fortlassen, aber dann gab er nach. Die Frau nahm sie mit. Kaum aber waren sie zu Hause angelangt, fing die Frau an, das Mädchen zu beschimpfen, zog ihr die Kleider aus und bekleidete damit ihre eigene Tochter, die sie anstelle der Stieftochter zum König zurückbrachte. Die Stieftochter aber jagte sie nackt aus dem Haus. Das Mädchen wagte sich nur nachts zu laufen, denn sie war nackt. Sie kam an eine verfallene Kapelle, und als sie eintrat, sah sie, daß dort in einem Sarg ein to96
ter junger Mann lag. Als die Sonne unterging, wurde der Tote lebendig. Vom Himmel erhielt er ein Brot und einen Krug voll Wasser. Sobald es aber hell wurde, starb der junge Mann wieder. Das Mädchen hatte sich in einem Winkel versteckt. Als sie dies alles sah, wunderte sie sich sehr. Später ging sie zu dem Brot und dem Wasser, das der Tote vom Himmel erhalten hatte, brach sich ein Stück Brot ab und trank vom Wasser und verbarg sich abermals. Als der junge Mann wieder lebendig wurde, sah er, daß weniger Wasser im Krug war und auch vom Brot ein Stück fehlte. Da sprach der junge Mann: »Gott, was habe ich getan, daß du meine Nahrung kürzt?« Dann rief er: »Wenn du ein Mensch bist, so sage es!« Da rief das Mädchen zurück: »Ich bin ein Mensch!« »Dann laß dich sehen!« sagte der junge Mann. Das Mädchen kam aus ihrem Versteck hervor, und sie machten sich miteinander bekannt. Bald fragte das Mädchen: »Warum bist du hier?« Er antwortete: »Einmal habe ich mein Wasser auf die Sonne gelassen. Dafür hat die Sonne mich verflucht und mit dieser Krankheit geschlagen.« Das Mädchen blieb einige Monate bei dem jungen Mann in der Kapelle. Als sie von ihm schwanger wurde, sprach er: »Geh in das Haus meines Vaters, des Königs, und sage meiner Mutter: ›Bei der Sonne deines Sohnes Msetschabuki, gib mir Obdach.‹ Wenn du meinen Namen erwähnst, wird sie dich aufnehmen.« Da ging das Mädchen zur Mutter des Jünglings und sagte, was er ihr aufgetragen hatte. Die Mutter nahm sie auf, gab ihr ein Zimmer und ließ sie dort wohnen. Jede Nacht kam der junge Mann zu dem Mädchen, und die Diener meldeten der Königin: »Dein Msetschabuki 97
kommt jede Nacht hierher.« Die Königin wollte es anfangs nicht glauben, doch dann verbarg sie sich in der Nähe, und als Msetschabuki in der Nacht kam, stürzte sie hervor, umarmte ihn und sprach: »Wie konnte ich denn wissen, daß du es warst, ich hätte doch deine Frau und dein Kind besser versorgt.« Sie ließ den Sohn nicht mehr in die Kapelle zurück. Kaum dämmerte aber der neue Tag, da starb der junge Mann abermals. Da sprach Msetschabukis Frau: »Was für eine Frau wäre ich, wenn ich ihn nicht heilen könnte.« Sie zog eherne Schuhe an, ergriff einen Eisenstab und brach auf, um nach einem Heilmittel zu suchen. Nach langer Reise gelangte sie ins Jenseits. Dort sah sie viel Sehenswertes. Ein Ehepaar lag auf einem Beilstiel und schlief. Sie fragte: »Ist denn nicht genug Platz, daß ihr so eng beieinander liegen müßt?« Sie antworteten: »Viele sind schon diesen Weg gegangen, aber niemand ist zurückgekommen. Solltest du wiederkommen, werden wir dir antworten.« Dann sah sie, daß ein Mann sich einen Dornenstrauch aufgeladen hatte, den er forttragen wollte. Er kam aber mit dem Dornenstrauch nicht zurecht, und doch lud er sich noch mehr auf. Da sagte sie zu ihm: »Trag doch erst diesen fort und dann nimm einen anderen!« Er aber erwiderte nur: »Viele sind schon diesen Weg gegangen, aber niemand ist zurückgekommen. Solltest du wieder vorbeikommen, will ich dir antworten.« Dann sah sie, daß eine Frau den Backofen glühend heiß gemacht hatte und ihn mit ihren Brüsten reinigte. Da sagte sie zu ihr: »Nimm doch diesen Lappen und wische ihn damit aus.« Doch die Frau entgegnete: »Viele sind schon diesen Weg gegangen, aber niemand ist zurückgekommen. Wenn du wieder vorbeikommst, will ich dir antworten.« 98
Schließlich kam die Frau zur Mutter der Sonne. Die Sonne war in ihrem Haus und schlief. Die Mutter verbarg die Frau und weckte die Sonne: »Steh auf und geh an die Arbeit, es ist schon Tag.« Da stand die Sonne auf, wusch sich das Gesicht und verließ das Haus. Nun fragte die Mutter der Sonne die Frau: »Weshalb bist du hierhergekommen, Kind?« Sie antwortete: »Mein Mann ist krank, und ich bitte dich, gib mir ein Heilmittel, denn er ist durch dein Kind krank geworden.« Bereitwillig brachte ihr die Mutter das Waschwasser der Sonne, gab es ihr und sagte: »Bade ihn dreimal in diesem Wasser, dann wird er wieder gesund.« Die Frau freute sich sehr, nahm das Wasser und trug es nach Hause. Unterwegs kam sie an jenen vorbei, die sie beim Hinaufsteigen gesehen hatte. Die Frau, die mit ihren Brüsten den heißen Backofen reinigte, sagte: »Als ich noch lebte und Brot buk, gab ich den Bettlern, die vorbeikamen, nichts ab. Deswegen leide ich jetzt solche Qual.« Der Mann, der sich den Dornenstrauch aufgeladen hatte und sich immer noch mehr auflud, sprach: »Als ich noch lebte, war ich ein großer Sünder und suchte immer noch mehr zu sündigen. Deshalb muß ich jetzt so leiden.« Und die Eheleute, die auf einem Beilstiel lagen, sagten: »In jener Welt haben wir in Eintracht und Liebe gelebt, und auch hier lieben wir uns.« Danach kehrte die Frau nach Hause zurück. Als sie heimkam, übergoß sie ihren Mann dreimal mit dem Wasser, das die Mutter der Sonne ihr gegeben hatte.
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Als sie ihn das erste Mal begoß, zuckte er ein wenig. Beim zweiten Mal bewegte er sich stärker, und als sie ihn zum dritten Mal mit dem Wasser überschüttete, stand der Tote auf. Msetschabukis Eltern wußten vor Freude nicht, was sie tun sollten. So erlöste Msetschabukis Frau ihren Mann von seiner Krankheit, und seither leben sie in Freude und Glück.
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Tiermärchen Der Bär, der Fuchs und der Wolf Ein Bär, ein Fuchs und ein Wolf schlossen Freundschaft. Sie fanden eine tote Kuh, und der Fuchs meinte: »Für alle drei wird sie nicht reichen. Die Kuh soll dem gehören, der die ältesten Ansprüche geltend machen kann!« Das erste Wort kam dem Wolf zu, und er sprach: »Ich stamme aus der Zeit, als Himmel und Erde geschaffen wurden!« Da seufzte der Fuchs und sagte: »Damals ist mein ältester Sohn gestorben!« Nun erklärte der Bär: »Ich bin zwei Jahre alt und will kein drittes erleben, wenn ich einem von euch die Kuh überlasse.« Und tatsächlich ließ er beide leer ausgehen.
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Das Halbhuhn Ein Halbhuhn und ein Fuchs verbrüderten sich und machten sich gemeinsam auf den Weg. Unterwegs reizte der Fuchs das Halbhuhn, und dieses warnte den Fuchs: »Fuchs, sei still, sonst verschlucke ich dich!« Da lachte der Fuchs und sagte: »Verschlucke mich doch!« Das Halbhuhn sperrte den Schnabel auf und schluckte den Fuchs hinunter. Als es weiterlief, begegnete es einem Wolf, mit dem es gleichfalls Brüderschaft schloß. Gemeinsam gingen sie weiter, aber unterwegs ärgerte der Wolf das Halbhuhn. Da sprach es abermals: »Wolf, ich verschlucke dich, wenn du mich nicht in Ruhe läßt! »Verschlucke mich doch!« meinte der Wolf. Das Halbhuhn sperrte seinen Schnabel auf und schluckte auch den Wolf hinunter. Wieder zog das Halbhuhn weiter und traf nun einen Bären. »Bär, ich verschlinge dich!« rief das Halbhuhn. Der Bär brummelte nur etwas und gab weiter keine Antwort. Da riß das Halbhuhn den Schnabel auf und verschlang auch noch den Bären. Auf seinem weiteren Weg gelangte das Halbhuhn an ein Meer. ›Wie soll ich da hinüberkommen‹, dachte es traurig. Es überlegte und überlegte, dann öffnete es den Schnabel, verschluckte das Meer und gelangte, ohne naß zu werden, ans andere Ufer. Dort versteckte es sich hinter Büffelkot und begann zu rufen: »Großer König, großer König!« 102
Der König schickte seine Nasire und Wesire aus: »Seht nach, wer da ruft!« Die Nasire und Wesire liefen hinaus und suchten, konnten aber niemanden finden. Da berichteten sie dem König: »Wir haben gesucht, aber niemanden finden können!« Als sich die Nasire und Wesire entfernt hatten, begann das Halbhuhn wieder zu rufen: »Großer König, großer König!« Jetzt kam der König selbst. Er suchte den Schreihals und fand ihn hinter dem Büffelkot. Er packte das Halbhuhn, gab es seinen Höflingen und sagte: »Steckt es ins Hühnerhaus!« Und sie taten, was ihnen geheißen wurde. Dort ließ das Halbhuhn den Fuchs aus seinem Bauch. Der Fuchs fraß die Hühner auf und trollte sich. Als die Diener am nächsten Tag hereinkamen, sahen sie, daß keine Hühner mehr da waren. Da ergriffen sie das Halbhuhn und steckten es in den Gänsestall. Dort ließ das Halbhuhn den Wolf aus seinem Bauch. Der Wolf fraß die Gänse auf und lief davon. Als die Leute am nächsten Tag in den Gänsestall kamen, war keine einzige Gans mehr übrig, nur das Halbhuhn saß auf der Hühnerleiter. Da brachte man es in den Schafstall und hoffte, der Widder würde es zerstampfen. Doch das Halbhuhn ließ den Bären auf die Schafe los. Er fraß sie auf und zog seines Wegs. Am anderen Tag schickte der König seine Männer in den Schafstall: »Seht nach, was dieser Teufel angerichtet hat!« Als sie hineingingen, sahen sie, daß die Schafe nicht mehr da waren.
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Da wurde der König zornig und befahl, das Halbhuhn zu schlachten. Er ließ es braten und aß es auf. Im Bauch des Königs wurde das Halbhuhn jedoch wieder lebendig, begann zu hüpfen und zu singen. Da befahl der König seinen Nasiren, Wesiren und Soldaten: »Nehmt eure Schwerter, und wenn es herausfliegt, dann tötet es!« Das Halbhuhn kam herausgeflogen und verschwand im Garten. Sofort lief man ihm nach, um es zu töten. Doch nun ließ es das Meer aus seinem Bauch und ertränkte den König mit seinem Gefolge.
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Der Floh und die Ameise Ein Floh und eine Ameise schlossen Brüderschaft und zogen gemeinsam ihres Wegs, bis sie an einen Bach gelangten. Da sprach der Floh zur Ameise: »Ich springe hinüber, aber was willst du machen?« »Meinst du, ich kann nicht springen?« entgegnete die Ameise. Der Floh sprang mit einem Satz ans andere Ufer. Die Ameise wollte ihm nachspringen und fiel ins Wasser. Da bat sie den Floh: »Bruder, hilf mir, laß mich nicht ertrinken!« Der Floh hüpfte, bis er das Schwein traf, und bat: »Schwein, gib mir Borsten! Daraus will ich ein Seil drehen, das werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, herauszuziehen.« Das Schwein sagte: »Erst mußt du mir Eicheln holen!« Der Floh hüpfte zur Eiche und bat sie: »Eiche, gib mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, herauszuziehen.« Die Eiche sagte: »Erst mußt du mir die Krähe verjagen!« Der Floh hüpfte zur Krähe und bat: »Krähe, laß die Eiche, die Eiche gibt mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, herauszuziehen.« 105
Die Krähe entgegnete: »Erst mußt du mir ein Kükken bringen!« Der Floh hüpfte zur Glucke und bat: »Glucke, gib mir ein Kücken, das Kücken bringe ich der Krähe, die Krähe läßt die Eiche in Ruhe, die Eiche gibt mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, herauszuziehen.« Die Glucke sagte: »Erst mußt du mir Hirse bringen!« Der Floh hüpfte zur Grube und bat: »Grube, gib mir Hirse, die Hirse bringe ich der Glucke, die Glucke gibt mir ein Kücken, das Kücken bringe ich der Krähe, die Krähe läßt die Eiche in Ruhe, die Eiche gibt mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, herauszuziehen.« Die Grube erwiderte: »Erst mußt du mir die Maus vertreiben!« Der Floh hüpfte zur Maus und bat: »Maus, laß von der Grube ab, die Grube gibt mir Hirse, die Hirse bringe ich der Glucke, die Glucke gibt mir ein Kücken, das Kücken bringe ich der Krähe, die Krähe läßt die Eiche in Ruhe, die Eiche gibt mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, zu retten.« Die Maus entgegnete: »Erst mußt du mir die Katze vom Leib halten!« Der Floh hüpfte zur Katze und bat: »Katze, laß die Maus in Ruhe, die Maus läßt von der Grube ab, die 106
Grube gibt mir Hirse, die Hirse bringe ich der Glucke, die Glucke gibt mir ein Kücken, das Kücken bringe ich der Krähe, die Krähe läßt die Eiche in Ruhe, die Eiche gibt mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, herauszuholen.« Die Katze sagte: »Erst mußt du mir Milch bringen!« Der Floh hüpfte zur Kuh und bat: »Kuh, gib mir Milch, die Milch bringe ich der Katze, die Katze läßt die Maus in Ruhe, die Maus läßt von der Grube ab, die Grube gibt mir Hirse, die Hirse bringe ich der Glucke, die Glucke gibt mir ein Kücken, das Kücken bringe ich der Krähe, die Krähe läßt die Eiche in Ruhe, die Eiche gibt mir Eicheln, die Eicheln bringe ich dem Schwein, das Schwein gibt mir Borsten, aus den Borsten drehe ich ein Seil, und das Seil werfe ich ins Wasser, um meinen Bruder, die Ameise, zu retten.« Die Kuh sagte: »Erst mußt du mir Gras bringen!« Der Floh hüpfte zur Wiese, rupfte Gras und brachte es der Kuh. Die Kuh gab ihm Milch, die Milch brachte er der Katze, die Katze ließ die Maus in Ruhe, die Maus ließ von der Grube ab, die Grube gab ihm Hirse, die Hirse brachte er der Glucke, die Glucke gab ihm ein Kücken, das Kücken brachte er der Krähe, die Krähe ließ die Eiche in Ruhe, die Eiche gab ihm Eicheln, die Eicheln brachte er dem Schwein, das Schwein gab ihm Borsten, aus den Borsten drehte der Floh ein Seil, und dieses warf er der Ameise im Wasser zu, die sich an das Ufergras geklammert hatte. Die Ameise setzte sich auf das Seil, und der Floh zog daran, bis er die Ameise ans Ufer gebracht und gerettet hatte. Dann setzten sie brüderlich ihren Weg fort. 107
Die Freundschaft der Tiere Der Bär, der Wolf und der Fuchs versammelten sich und klagten einander, daß sie oft lange Zeit Hunger litten. Sie kamen überein, Freunde zu werden und von Stund an brüderlich zu teilen, was sie erjagten. Sie schlossen Freundschaft und schworen sich, einander die Treue zu halten. Dann gingen sie zu dritt auf die Jagd. Zu ihrem Glück fanden sie ein verwundetes Hirschkalb, brachen ihm das Genick, ließen sich im Schatten auf dem Rasen nieder und gingen daran, die Beute zu teilen. Der Bär befahl dem Wolf, dem vor Hunger schon die Zähne klapperten: »Los, teile es!« Der Wolf sprach: »Der Kopf soll dir gehören als unserem Herrn und Führer, der mittlere Teil mir und die Beine dem Fuchs, weil er es liebt umherzustromern.« Noch hatte der Wolf die letzten Worte nicht zu Ende gesprochen, als der Bär ihm so kräftig die Pranke auf den Kopf schlug, daß es in den Bergen widerhallte. Der Wolf setzte sich winselnd abseits. Nun wandte sich der Bär an den Fuchs: »Teile du, mein Fuchs!« ‘ Der listige Fuchs sprach unterwürfig: »Der Kopf soll dir gehören als unserem König, der Mittelteil dir, weil du immer väterlich für uns sorgst, und auch die Beine sollen dir gehören, weil deine Wege unserem Wohl gelten!« »Donnerwetter, Fuchs, wer hat dich gelehrt, so klug zu teilen?« fragte der Bär. 108
Der Fuchs antwortete: »Als du vorhin dem Wolf fast den Schädel einschlugst, mußte ich doch klug werden!«
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Der Löwe und der Fuchs Der Löwe war schwerkrank und lag reglos in seiner Höhle. Die verschiedensten Tiere waren gekommen, um ihn zu besuchen, sie umhegten und umsorgten ihn. Nur der Fuchs ließ sich nicht blicken. Alle wunderten sich und fragten: »Wo ist denn nur der Fuchs, warum ist er nicht hergekommen?« Der Wolf bemerkte: »Wenn gefeiert und gefressen wird, hat der Fuchs noch nie gefehlt. Weshalb sollte er heute kommen? Er weiß doch, daß ihn kein Gelage erwartet.« Den Löwen verdroß es sehr, daß der Fuchs so unaufmerksam war. Die Worte des Wolfes wurden dem Fuchs jedoch hinterbracht, und der Fuchs meinte wütend: »Na warte, dir werde ich’s heimzahlen!« Am nächsten Tag, als die Tiere sich wieder beim Löwen versammelt hatten, kam auch der Fuchs angetrottet, verneigte sich tief und grüßte. Der Löwe fragte ihn vorwurfsvoll: »Wo warst du so lange, warum hast du mich nicht besucht?« Der Fuchs rechtfertigte sich: »Eure Hoheit, als ich von Eurer Krankheit erfuhr, bin ich Hals über Kopf losgelaufen und habe nach Ärzten gesucht. Ich bat sie um Hilfe und um Rat, welches Mittel unserem großen König Heilung bringen könnte. Und man riet mir: Man soll dem Wolf das Bein brechen, den Knöchel herausnehmen und dem König der Tiere vorsetzen!« Da fiel der Löwe über den Wolf her und brach ihm ein Hinterbein. Das Blut floß heraus und färbte seine Beine ganz rot. Winselnd vor Schmerz hinkte der Wolf 110
davon. Der Fuchs folgte ihm und rief ihm nach: »Herr Rotstiefel, wohin begebt Ihr Euch? Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein!«
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Der Wolf, die Ziege und das Pferd Ein hungriger Wolf traf eine Ziege und sprach zu ihr: »Ich muß dich fressen!« Die Ziege ließ sich nicht aus der Fassung bringen: »Ich kenne einen Spaß. Den will ich noch einmal machen, und dann kannst du mich fressen.« »Was ist das für ein Spaß?« fragte der Wolf. Die Ziege sprach: »Ich steige auf den Baumstumpf dort, springe hinunter und lasse mich rollen. Du kannst mir zuschauen und dann mit mir machen, was du willst.« Der Wolf war einverstanden. Die Ziege lief zu dem Baumstumpf, kletterte hinauf, sprang herunter und ließ sich rollen. »Jetzt komm, ich will dich fressen!« sagte der Wolf. »Warte, einmal will ich noch herunterspringen«, meinte die Ziege. Sie sprang von dem Baumstumpf und rannte so schnell davon, daß der Wolf kein Wort mehr hervorbrachte. Enttäuscht lief er weiter und begegnete einem Pferd. »Pferd, ich muß dich fressen!« »An meinem Hinterbein ist ein Brief angebunden. Zeig ihn mir, damit ich weiß, daß ich ihn nicht verloren habe, und dann magst du mich fressen!« sagte das Pferd. Der Wolf ging um das Pferd herum und besah sich dessen Hinterbein. Da schlug das Pferd aus, so daß der Wolf sich neunmal überschlug und auf die Erde plumpste. Das Pferd aber stob davon. Als der Wolf wieder zu sich kam, sagte er sich: ›Ich Trottel! Warum habe ich 112
den Bissen, der mir über den Weg lief, nicht gefressen! Was gehen mich die Späße und Briefe anderer an!‹
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Märchen von Freundschaft Taria Es war einmal ein Mann, der hieß Taria. Er war ein riesenhafter Mensch und lief immer in den Wäldern umher, nährte sich von Wildbret und trank Quellwasser. Was er mit seiner Hand berührte, verwandelte sich zu Staub. Dieser Mann besaß weder Mutter noch Vater. Aus Furcht vor ihm wagte sich nicht einmal der Waldgeist Otschokotschi in den Wald. Er verfolgte die bösen Geister, Ungeheuer und Waldschrate. Wo er sie antraf, vernichtete er sie. Die armen, aufrichtigen Menschen aber liebte er, ihnen tat er nichts zuleide, im Gegenteil, er half ihnen oft. Der gute Taria hatte seine Behausung im Wald. Eines Tages verliebte er sich in eine Königstochter, die Dardsha hieß. Der König hatte seine Dardsha hinter neun Schlössern eingesperrt, und rundum standen Riesen als Wächter. Tag und Nacht wachten die stinkenden Riesen und ließen niemanden heran. Aus Angst vor Taria schlossen sie sich nachts in Türme ein und beobachteten von dort aus Wehrmauer und Burg. Taria irrte fortwährend um die Burg herum, konnte aber keinen Zugang finden. Darüber war er sehr betrübt, saß im Wald und weinte. Als Taria wieder einmal traurig an seinem Feuer saß und seinen Gedanken nachhing, trat ein riesenhafter Mann, so einer wie er selbst, auf ihn zu. »Taria, Gott hat mich dir zu Hilfe geschickt. Wir wollen uns verbrüdern. Ich will dir in der Not helfen, und du sollst mit mir gegen das schwarze Ungeheuer zie114
hen, um meines Vaters Seele zu befreien!« sagte der Fremde. Taria freute sich sehr, als er den Mann sah. Er bat ihn ans Feuer, sie schlossen Brüderschaft und kamen überein, am nächsten Tag die Burg zu erobern. Tarias Freund Awta pfiff, und auf der Ebene vor ihnen trat ein Heer an. Taria und Awta schirrten ihre Pferde an und zogen mit dem Heer zur Burg. Als es dämmerte, waren sie am Ziel. Nach heißem Kampf nahmen sie die Burg ein und töteten Dardshas bösen Vater. Nun konnten Dardsha und Taria heiraten. Die ganze Nacht feierten sie Hochzeit. Am nächsten Tag machten sich Taria und Awta auf, um das schwarze Ungeheuer zu suchen. Dieses hatte von ihrem Kommen erfahren, war aus Furcht vom Felsen gestürzt und zerschmettert. Sie fanden die Seele von Awtas Vater, die das schwarze Ungeheuer in eine schwarze Tragetasche gesperrt hatte, befreiten sie aus ihrer Gefangenschaft und kehrten nun singend heim. So siegten die Freunde über ihre Feinde, und so vermählte sich Taria mit der wunderschönen Dardsha. Sie feierten ein riesiges Fest. Ich war auch dabei. Gestern war ich dort und heute wieder.
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Zikara Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Die beiden hatten einen Jungen. Der Mann wurde bald Witwer, und der Junge verwaiste. Um sich und den Jungen zu versorgen, heiratete der Mann zum zweiten Mal. Der Junge geriet in die Hände der Stiefmutter. Diese war unbeherrscht und schlug den kleinen Jungen oft grundlos. Die Stiefmutter hatte einen Freund. Ihr Mann wußte das nicht. Jedoch der Junge wußte es, und deshalb wollte die Stiefmutter das Waisenkind gern aus dem Haus haben. Der Mann besaß einen Stier, der hieß Zikara. Der Stier und der Junge hatten einander sehr gern. Der Junge führte Zikara auf die Weide und spielte mit ihm. Die Stiefmutter suchte nun eine Gelegenheit, den Jungen loszuwerden. Einmal stellte sie sich krank und begann ohne Grund zu stöhnen und zu wimmern. Der Mann fragte: »Was fehlt dir, wie kann ich dir helfen?« »Mich kann nichts anderes heilen, als Herz und Leber deines Sohnes.« Der Vater wurde traurig bei dem Gedanken, aber die Frau war ihm lieber, und er wollte den Sohn töten. Am nächsten Morgen sah der Junge, wie der Vater die Messer schärfte, und fragte: »Wozu brauchst du die Messer, Vater, warum schärfst du sie?« »Führe Zikara hinaus an die Tränke, ich muß ihn schlachten«, sagte der Vater. 116
Der Junge führte Zikara zur Tränke, ließ ihn trinken und weinte dabei, so daß seine Tränen ins Wasser fielen. »Warum weinst du, mein Freund, weshalb reibst du dir die Augen aus?« fragte Zikara. »Sie wollen dich schlachten«, schluchzte der Junge. »Mich werden sie nicht schlachten, dir werden sie die Kehle durchschneiden wollen. Geh und hole einen Schleifstein, einen Kamm und eine Flasche Wasser, setz dich auf meinen Rücken, und wir reiten davon«, sagte Zikara. Der Junge holte, was Zikara ihm aufgetragen hatte, setzte sich auf den Stier und trieb ihn vorwärts. Als der Vater von der Flucht des Jungen hörte, setzte er sich auf ein verwunschenes Schwein und begann die Verfolgung. Zikara galoppierte dahin und trug seinen kleinen Freund davon, aber der Vater folgte auf seinem Schwein mit den geschärften Messern. Als er sie gerade einholte, sagte Zikara zu dem Jungen: »Worauf wartest du, Freund, der Tod steht uns bevor, schütte ihm die Flasche Wasser hin!« Der Junge schüttete das Wasser aus. Da entstand ein schreckliches Meer. Es war ganz schwarz und tobte wild. Die Wellen verkündeten allen den Tod, doch das verwunschene Schwein beugte sich nicht den Wellen, sondern schwamm hindurch. Bevor das Schwein das Meer durchschwommen hatte, konnten Zikara und sein Freund ein gutes Stück zurücklegen. Zikara sagte zu dem Jungen: »Dreh dich um und schau, ob das Schwein kommt!« Der Junge sah sich um und bemerkte: »Es ist etwas zu sehen, so groß wie eine Fliege, es kommt rasch näher!« 117
»Das ist das Schwein, auf dem dein Vater sitzt!« meinte Zikara und lief noch schneller. Das Schwein kam herangerast, und der Vater des Jungen ließ die geschliffenen Messer blinken. Noch ein wenig, und das Schwein mußte Zikara einholen. »Wirf den Kamm weg!« rief Zikara dem Jungen zu. Der Junge gehorchte. Plötzlich wuchs ein so dichter Wald empor, daß nicht einmal eine Maus hätte hindurchschlüpfen können. Das Schwein biß sich jedoch mit seinen Zähnen durch und bezwang auch den Wald. Zikara und der Junge hasteten weiter. Sie hatten wieder ein gutes Stück Vorsprung. Der Junge blickte sich um und sah, daß das Schwein abermals so groß wie eine Fliege war. »Das Schwein verfolgt uns«, sagte der Junge zu Zikara. Noch ein wenig, und das Schwein würde Zikara einholen. Aber der Junge warf auf Zikaras Rat den Schleifstein weg, und mit einem Mal türmte sich zwischen Zikara und dem Schwein ein fürchterlicher, riesiger Felsen auf. Das Schwein schnitt mit all seiner Kraft Stufen in den Felsen und stieg hinauf. Als es in der Mitte anlangte, zerschnitt es sich an einer Felsenkante ein Bein und stürzte mit seinem Reiter in den Abgrund. Nun brachten sie sich in Sicherheit. Zikara trug den Jungen auf ein freies Feld. Dort stand eine Pappel, die war so hoch, daß ihr Wipfel den Himmel berührte. Zikara setzte den Jungen auf die Pappel, gab ihm zwei Schalmeien, eine für den Notfall und eine zum Vergnügen, und sprach:
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»Ich gehe jetzt allein durch die Wiesen, um zu weiden. Bleib du hier sitzen. Wenn du mich brauchst, dann blase auf der Schalmei für den Notfall, und im Nu werde ich hier sein. Willst du etwas zu dir nehmen, dann blase auf der anderen Schalmei, sie wird dir Speise und Trank bringen.« Zikara verabschiedete sich von dem kleinen Jungen und ging. Der Junge saß auf der Pappel und blies auf der Schalmei. Zu deren Tönen tanzten die verschiedensten Schmetterlinge. Ein Schäfer hörte das Schalmeienspiel, es gefiel ihm sehr, und er nahm sich vor, sie an sich zu bringen. Er ging den Tönen nach, kam zu jener Pappel und sah, daß ein Junge darauf saß, der die Schalmei blies. Um den Jungen hatten sich Schmetterlinge eingefunden, die zum Schalmeienklang tanzten und sich vergnügten. Der Schäfer begann vor Neid zu schielen. Er rief dem Jungen zu: »Komm herunter und zeige mir, woraus deine Schalmei geschnitzt ist!« Der Junge kletterte nicht hinab, denn Zikara hatte ihm eingeschärft, nicht vom Baum herabzusteigen. Der Schäfer ging zum König und sagte: »Ich kenne einen Ort, dort sitzt auf einer Pappel ein Junge und spielt Schalmei. Ihr Klang erfreut die ganze Welt.« Der König ließ sofort seine Nasire und Wesire rufen und befahl ihnen: »Bringt sofort diesen Jungen her oder holt einen Mann, der ihn herbringt!« Eine alte Frau bot sich den Nasiren und Wesiren an: »Ich werde den Jungen herbringen.« Die Alte zog los. Sie nahm eine Ziege und eine Ahle mit und kam zum Fuß der Pappel. Der Junge saß auf dem Baum und spielte zu seinem Vergnügen auf der Schalmei. Die Alte stand unter dem Baum und stach 119
mit der Ahle die Ziege, so daß sie jämmerlich aufschrie. Als der Junge das sah, rief er der Alten zu: »Was tust du da, Mütterchen, warum stichst du die Ziege?« »Ich will sie schlachten und habe nicht die Kraft dazu. Willst du mir Gutes tun, dann steig herunter und schlachte sie mir.« Wie hätte der Junge ahnen können, daß die Alte ihn täuschen wollte. Er kletterte vom Baum herab. Die Alte betäubte ihn und schläferte ihn ein. Die Männer des Königs nahmen ihn mit und schlossen ihn hinter neun Türen ein. Als der Junge erwachte, sah er, daß er gefangen war, und wurde traurig. Er fing an zu weinen und sehnte sich nach seinen Schalmeien, doch diese waren auf der Pappel geblieben. So saß der Junge am Fenster und starrte in den Himmel. Da kam eine Krähe vorbeigeflogen, der Junge sah sie und rief: »Krähe, Krähe! Wohin fliegst du? Flieg doch zur Pappel auf dem Feld, auf der meine Schalmeien liegen, und bring sie mir her!« »Du kannst dich wohl nicht erinnern, daß du mich mit Steinen beworfen hast, als ich Aas gefressen habe?« antwortete die Krähe und flog weiter. Der Junge blickte ihr nach und vergoß abermals Tränen. Nun kam ein Rabe geflogen. »Rabe, Rabe! Flieg doch zur Pappel, meine Schalmeien sind dort geblieben, bring sie mir her!« rief der Junge dem Raben zu. »Als ich dich um Zikaras Fleisch bat, hast du es mir nicht gegeben. Wozu soll ich dir die Schalmeien bringen?!« entgegnete der Rabe und flog weiter. Mit seiner dunklen Farbe machte er dem kleinen Gefangenen den 120
Tag noch finsterer und bitterer, als er ohnehin schon war. Da kam ein Adler vorübergeflogen. »Adler, Adler! Du bist der König der Vögel. Wo der hohe Felsen steht und der Baum sich erhebt, ist dein Horst. Flieg doch zur Pappel auf dem Feld, wo meine Schalmeien geblieben sind, und bring sie mir her!« rief der Junge. »Ich habe meine eigenen Geschäfte. Wann habe ich von dir je ein Lamm zum Geschenk bekommen, daß ich dir die Schalmeien bringen sollte?« antwortete der Adler und flog davon. Da flatterte ein kleiner Vogel heran, und der Junge rief ihm zu »Vögelchen, Vögelchen, meine Schalmeien sind auf dem Feld geblieben, bring sie mir her!« »Du hast mir eine Falle gestellt und mein Nest zerstört. Bitte einen anderen, daß er sie dir bringt«, erwiderte der Vogel und flog zwitschernd weiter. Der Junge blickte ihm nach und weinte. Schließlich sah er eine Schwalbe, Weinend rief er ihr zu: »Schwalbe, wohin fliegst du? Dort auf dem Feld, wo die Pappel steht, kühle Quellen fließen und Schmetterlinge ihre bunten Flügel entfalten, dort sind meine Schalmeien geblieben. Ohne mich verfaulen sie. Flieg hin und bring sie mir her!« Die Schwalbe flog davon und brachte ihm die Schalmeien. Der Junge nahm die Schalmei für den Notfall, spielte darauf und weinte. Zikara hörte den Klang der Schalmei und machte sich sofort auf den Weg zu dem Jungen. Ungestüm stieß er mit seinen Hörnern gegen die Türen und begann sie einzuschlagen. Acht Türen zertrümmerte er, da brach ihm ein Horn. Zikara wurde traurig. Es tat 121
ihm weniger um sein Horn leid als um die Gefangenschaft des Jungen. Er wünschte sich ein neues Horn. Da kam von irgendwoher eine Maus gekrochen und sprach zu Zikara: »Gib mir dein Aas zu fressen, dann heile ich dein Horn.« »Ich gebe es dir«, erklärte sich Zikara bereit. Da heilte ihm die Maus das Horn. Zikara stieß gegen die neunte Tür und brach auch diese auf. Er lief zu dem Jungen, nahm ihn auf seinen Rücken und trug ihn zur Pappel. Dort setzte er ihn abermals ab und lief davon. Der Junge saß nun wieder auf der Pappel, blies zum Vergnügen auf seiner Schalmei und unterhielt sich damit. Einmal bekam er große Sehnsucht nach Zikara. Er blies auf der Schalmei für den Notfall, aber Zikara kam nicht. Da wurde der Junge traurig und stieg vom Baum herab. Wieder blies er auf der Schalmei für den Notfall, er spielte und weinte und brachte die ganze Welt zum Weinen. Die Gräser waren voller Tropfen von all den vielen Tränen, die Schmetterlinge flatterten nicht mehr und weinten ebenfalls. Selbst die Bäume regten sich nicht mehr. Der Junge spielte auf der Schalmei, und nur der schwarze Rabe, der sich am Aas sattgefressen hatte, flog vorbei. Der Junge lief umher und suchte seinen Zikara. Schließlich fand er ihn tot auf der Wiese. Der schwarze Rabe und die Geier hatten ihm die Augen ausgehackt, die Krähen und Elstern sein Fleisch gefressen. Da weinte der Junge um seinen Zikara, er weinte bitterlich. Nie wieder spielte er auf den Schalmeien, nicht auf der fröhlichen und nicht auf der anderen.
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Msekala und Msewarda Es war einmal ein König, der hatte ein Pferd, aber kein Kind. Einmal flehte der König zu Gott: »Gott, schenke mir ein Kind, laß mich nicht kinderlos sein. Wem soll wohl später einmal mein Reich und mein Schloß gehören? Gib auch meinem Pferd ein Fohlen, damit seine Art nicht ausstirbt. Wenn ich ein Mädchen bekomme, will ich das Fohlen meinem Schwiegersohn schenken, und wenn ich einen Jungen bekomme, dann soll es meiner Schwiegertochter gehören.« Bald darauf wurde die Königin schwanger, und auch das Pferd wurde trächtig. Neun Monate später gebar die Königin eine Tochter, so schön wie die Sonne, und nannte sie Msekala. Das Pferd warf ein Fohlen, das erhielt den Namen Msewarda. Man zog beide auf, ohne daß jemand ihren Namen erfuhr. Als das Mädchen sechzehn Jahre alt war, lud der König, soweit sein Ruf reichte, die Königssöhne und Herrscher anderer Länder ein. Viel Volk versammelte sich. Der König erklärte den Versammelten: »Im Hof liegt ein großer Stein. Tretet jeder einzeln darauf, und wer den Namen meiner Tochter und meines Fohlens errät, dem gebe ich meine Tochter zur Frau und das Fohlen zum Geschenk.« Ein ganzes Jahr lang sprachen die Versammelten jeden Tag die verschiedensten Namen. Aber niemand konnte sie erraten. Eines Tages kam ein Bettler zu der alten Frau, die die Nachbarin des Königs war, und fragte: »Mutter, was ist hier los, warum haben sich so viele Leute versammelt?« 123
Die Alte berichtete ihm den Grund der Versammlung. Der Bettler sagte: »Haben die beiden denn solche Namen, daß niemand sie herausfinden kann?« »Das Mädchen heißt Msekala und das Fohlen Msewarda«, sagte die Alte. Da ging der Bettler und schrie: »Weg hier, aus dem Weg mit euch!« Man blickte sich um und sah einen schmutzigen Bettler, der sich durch die Menge drängte und dabei schrie: »Geht mir aus dem Weg!« Er kämpfte sich durch, stieg auf den Stein und rief: »Das Mädchen heißt Msekala und das Fohlen Msewarda.« Die Herrscher waren so erschüttert und das Volk so enttäuscht, daß niemand auch nur ein Wort sagte. Den Vater des Mädchens brachte man tiefbetrübt nach Hause und konnte ihm nur mit Mühe die Schwermut vertreiben. Der Befehl des Königs war jedoch unwiderruflich. Sofort brachte man den Bettler ins Bad, wusch ihn, legte ihm Staatskleider an, aber was sollte man gegen den Schmutz tun, der ihm aus Ohren, Nase und Augen rann? Alles Volk begleitete die Königstochter und den Bettler als Hochzeitsgäste. Der Herrscher selbst gab ihnen eine reiche Mitgift mit auf den Weg. Natürlich wurde dem Schwiegersohn auch das Fohlen gesattelt, und er wurde daraufgesetzt. Lange waren sie unterwegs, der Weg nahm kein Ende, doch ein Haus kam nicht in Sicht. Wie sollte man auch etwas sehen, das es gar nicht gab?! Sie wurden müde und hielten auf freiem Feld an, um auszuruhen. Die Müdigkeit vom langen Reiten war so groß, daß sie auf der Stelle einschliefen. 124
Der Bettler legte sich auf den Schoß des Mädchens und schlief ein. Das Mädchen sah ihn immerzu an und begann zu weinen. »Warum weinst du?« fragte das Pferd. »Wie sollte ich nicht weinen, schau nur, wie er aussieht, der auf meinem Schoß liegt«, antwortete das Mädchen. Das Pferd brachte ihr im Maul ein Kissen und sagte: »Leg ihm das unter den Kopf, und du steh auf, zieh dir Männerkleider an, schneide dein Haar kurz, setze eine Mütze auf, und dann wollen wir aufbrechen. Ich bringe dich in ein anderes Land.« Das Mädchen legte ihrem schmutzigen Bräutigam jenes Kissen unter den Kopf, sie kleidete sich wie ein Mann, schnitt sich das Haar kurz, setzte eine Mütze auf, schwang sich aufs Pferd und ritt davon. Als die Leute aufwachten, fanden sie weder das Mädchen noch das Pferd. Da kehrten sie alle um, und der schmutzige Bräutigam zog ebenfalls seines Wegs. Das Pferd trug das Mädchen ans Ende eines Landes und baute ihr aus Holunder eine Hütte, in der sie wohnen konnte. Es brachte ihr Wildbret und ernährte sie damit. Das Mädchen erlernte auch das Jagen und fing sogar Fasane und Rebhühner. Eines Tages kam ein junger Mann, der von seltener Schönheit war, mit seinen Soldaten beim Jagen zu jener Hütte. Es war der Sohn des Königs, der in dem Land herrschte, wo das Mädchen und das Pferd sich niedergelassen hatten. »Guten Tag, junger Mann, woher kommst du?« grüßte der Königssohn. »Ich komme aus einem anderen Land und bin auf der Jagd hierhergeraten«, sagte das Mädchen und
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führte mit ihrem Pferd vor, wie sie das Wild und die Vögel lebend fing. Abends kam der Königssohn nach Hause und erzählte seiner Mutter – der Vater war schon lange tot –, am Ende des Landes habe sich ein junger Mann niedergelassen, der mit seinem Pferd so zu jagen verstehe, daß ihnen kein Vogel entkommen könne, sie fingen ihn lebend. Seitdem machte der Königssohn die Jagd zu seiner Gewohnheit, und sie jagten jeden Sonntag gemeinsam. Eines Tages sagte der Königssohn zu .seiner Mutter: »Mutter, ich muß diesen jungen Mann einladen. Ich stehe in seiner Schuld. Er gibt mir immer, was ich als Jagdbeute mitbringe!«. »Lade ihn ein, wenn es dir Freude, macht!« sagte die Mutter. Als der Königssohn wieder jagen, ging, lud er das Mädchen ein. Das Mädchen fragte das Pferd: »Der Königssohn lädt mich ein, soll ich hingehen oder nicht?«. »Geh nur, aber ich weiß, er wird dir Wein aufzwingen, und du kannst überhaupt nicht trinken. Immer wenn du trinkst, mußt du denken: ›Das soll in Msewardas Bauch fließen.‹ Dann werde ich betrunken und nicht du. Nur mußt du mich gut wärmen, sonst erkälte ich mich«, so sprach das Pferd. Das Mädchen folgte der Einladung und nahm das Pferd mit. Als sie ankamen und die Mutter sie sah, sagte sie zu ihrem Sohn: »Kind, das ist ein Mädchen!« Der junge Mann lachte: »Wie sollte er ein Mädchen sein! Er fängt einen Fasan im Flug!« Er ließ ein königliches Mahl bereiten, lud die Fürsten zu sich, sie verbrachten einen schönen Tag und tranken unmäßig viel Wein. Obwohl das Mädchen trank, 126
wurde sie nicht trunken, denn sie sprach bei jedem Glas, das sie trank, im stillen: ›Das soll in Msewardas Bauch fließen.‹ So konnte der Wein ihr nichts anhaben. Die Mittagstafel wuchs in das Abendbrot hinüber. Da ging das Mädchen hinaus, um nach ihrem Pferd zu sehen. Das Pferd war ganz in Schweiß gebadet und sprach: »Decke mich gut zu, sonst erkälte ich mich und muß sterben.« Sie deckte es gut zu, gab ihm zu fressen und legte sich schlafen. Am nächsten Tag, als sie erwachten, sagte der junge Mann zu seiner Mutter: »Hast du nicht gesagt, es sei ein Mädchen? Dabei hat er soviel Wein getrunken und war nicht betrunken!« »Trotzdem ist es ein Mädchen!« beharrte die Mutter. Drei Tage lang tranken sie, der junge Mann ließ sie nicht gehen. Am vierten Tag sagte das Pferd: »Ich kann keinen Wein mehr trinken. Sag nicht mehr, daß der Wein in meinen Bauch fließen soll. Wenn du aber willst, dann trink du.« Was sollte sie tun? Dem jungen Mann zuliebe blieb das Mädchen noch, aber als sie ein Glas getrunken hatte, schlief sie auf der Stelle ein. Die Mütze fiel ihr vom Kopf, und das Haar fiel ihr auf die Schultern. Sie war wunderschön anzusehen. »Habe ich dir nicht gesagt, Kind, daß es ein Mädchen ist«, meinte die Mutter. »Noch besser, wenn es ein Mädchen ist«, sagte der Königssohn. »Ich will sie zur Frau nehmen, Gott hat sie mir gegeben.« Sie trafen Vorbereitungen zur Hochzeit, und das Mädchen sagte natürlich nicht nein. Sie heirateten, feierten Hochzeit und lebten glücklich. Der junge Mann 127
liebte sie über alle Maßen, aber trotzdem packte ihn das Jagdfieber, und er beschloß, hinter neun Bergen zu jagen. Er sagte zu seiner Frau: »Du mußt mir dein Pferd leihen!« Die Frau fragte das Pferd: »Er bittet mich um dich. Er will hinter neun Bergen auf die Jagd gehen. Soll ich ihm dich geben oder nicht?« »Gibst du mich hin, wirst du es bedauern. Gibst du mich nicht, wirst du es ebenfalls bedauern. Gib mich also ruhig hin, aber das Gebiß behalte!« sagte das Pferd. Die Frau ging zu ihrem Mann und sprach: »Das Pferd gebe ich dir, aber das Gebiß nicht.« »Wer gibt denn ein Pferd ohne Gebiß?!« wunderte sich der junge Mann. Da ging die Frau wieder zum Pferd und sagte: »Er besteht auf dem Gebiß.« »Gib ihm das Gebiß, aber gib ihm nicht die Weidefessel.« Die Frau kam wieder zu ihrem Mann und sprach: »Das Gebiß gebe ich dir, die Weidefessel aber nicht.« Der Mann erwiderte: »Das geht nicht. Das Pferd muß sein ganzes Geschirr bei sich tragen.« Was blieb ihr anderes übrig. Sie gab ihm das Pferd mit seiner gesamten Ausrüstung. Die Frau war schwanger, und deshalb trug der junge Mann seiner Mutter auf: »Schicke mir jede Woche einen Boten und gib mir Nachricht, wie es meiner Frau geht. Wenn sie das Kind zur Welt bringt, laßt mich wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist!« Der Königssohn verabschiedete sich von der Mutter und der Frau und brach auf. Er überquerte neun Berge
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und nahm bei einer alten Frau Unterkunft. Tagsüber ging er auf die Jagd, abends kehrte er zurück. Eines schönen Tages schrieb ihm die Mutter: ›Kind, deine Frau ist niedergekommen. Sie hat einen Jungen geboren, er hat goldenes Haar. Komm und sieh ihn dir an!‹ Die Alte empfing den Boten, nahm ihm den Brief ab, las ihn und schrieb in derselben Handschrift: ›Kind, deiner Frau geht es wieder besser. Sie hat einen Hund geboren. Komm und sieh ihn dir an!‹ Am Abend kam der junge Mann von der Jagd zurück. Die Alte gab ihm, was sie selbst geschrieben hatte. Er las, daß es seiner Frau wieder besser ging, dankte Gott und schrieb der Mutter: ›Ob sie einen Hund zur Welt gebracht hat oder etwas anderes, behüte mir Frau und Kind gut, bis ich wiederkomme.‹ Als der junge Mann am nächsten Tag jagen ging, schrieb die Alte auch diesen Brief neu und gab ihn dem Boten mit: ›Ob sie einen goldhaarigen Jungen geboren hat oder nicht, wirf Mutter und Sohn in den Kalkbrennofen und verbrenne sie!‹ Als die Mutter diesen Brief erhielt, wunderte sie sich. Hier war er ganz verrückt gewesen nach seiner Frau, was mochte ihm dort geschehen sein? Sie schrieb ihm zurück: ›Kind, du hast doch deine Frau sehr geliebt. Sie hat auch einen schönen Jungen mit goldenem Haar zur Welt gebracht. Wozu willst du sie verbrennen. Komm und schau ihn dir an.‹ Der Bote brachte den Brief wieder zu der Alten. Diese las ihn und schrieb ihn abermals neu: ›Kind, du hast ein Hundekind, schau es dir mit eigenen Augen an.‹ Als der junge Mann am Abend kam, fand er dieses Schreiben vor. Er schrieb zurück: ›Mutter, ich habe dir doch geschrieben, ob sie einen Hund zur Welt gebracht hat oder etwas anderes, 129
behüte mir Frau und Kind gut, bis ich wiederkomme.‹ Am nächsten Tag ritt er wieder auf die Jagd. Die Alte schrieb wiederum einen neuen Brief: ›Ob sie einen goldhaarigen Jungen geboren hat oder nicht, verbrenne vor meiner Ankunft Mutter und Sohn im Kalkbrennofen!‹ Was sollte die Mutter tun? Sie fürchtete das eine wie das andere. Verbrannte sie die beiden, hatte sie weder eine Schwiegertochter noch ein Enkelkind. Erfüllte sie diesen Auftrag nicht, was sollte sie dann dem Sohn sagen, wenn er wiederkäme? Sie ließ den Kalkbrennofen mit dürrem Holz füllen und Feuer anzünden. »Ich kann nicht zuschauen«, sagte die Mutter und übergab die Frau und das Kind ihren Soldaten: »Wenn er heiß geworden ist, werft sie hinein!« Als der Ofen glühte, nahmen die Soldaten die Frau und das Kind und warfen beide hinein. Sie selbst entfernten sich eilig, denn auch ihnen war es leid um die beiden. Im gleichen Augenblick kam das Pferd angesprengt, packte Frau und Kind mit dem Maul und zog sie heraus. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst ihm das Gebiß und die Weidefessel nicht mitgeben? Als ich erfuhr, was sie vorhatten, habe ich das Gebiß zerbrochen und kam hierhergeeilt. Auf halbem Wege brach mir das Rückgrat. Ich zerbrach auch die Weidefessel, da brach der Knochen ganz durch. Nun kann ich nicht mehr leben und weiß, daß ich bald sterben werde. Wirf meine Knochen nicht fort. Nimm sie und errichte aus ihnen einen Zaun um ein großes Feld. Geh dort hinein und leg dich schlafen. Wenn du aufwachst, werden Häuser dastehen, und alles wird von einer Mauer umgeben sein.« Kaum hatte das Pferd dies gesagt, starb es. 130
Lange weinte die Frau um ihr Pferd, dann häutete sie es mit einem Taschenmesser ab und umgab mit den Knochen ein Feld. Es wurde Abend. Sie legte sich auf das öde Feld, drückte das kleine Kind an ihr Herz und schlief ein. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, sah sie, daß ringsum eine feste Mauer stand. Sie ordnete die Knochen nochmals, legte sie diesmal zu verschiedenen Zimmern und schlief die nächste Nacht darin. Als sie erwachte, sah sie im Hof schöne Häuser stehen. Sie richtete sich ein und begann dort zu wohnen. Sie ging auf die Jagd und ernährte damit ihr Kind. Das Kind wuchs heran. An einem Tag wuchs es soviel, wie andere in einem Jahr. Es nahm zu und sah bald voll und kräftig aus wie der Vollmond. Als der Königssohn erfuhr, daß das Pferd gestorben war, kam er sofort nach Hause und fragte: »Wo sind meine Frau und mein Kind?« »Ich habe sie verbrannt«, antwortete die Mutter. »Wieso hast du sie verbrannt? Was haben sie dir getan?« fragte der Sohn. Die Mutter brachte ihm jene Briefe. »Du hast es mir doch geschrieben, und da habe ich sie verbrannt.« Der junge Mann erkannte zwar seine Handschrift, aber nicht seine Worte. Da wunderte er sich: »Du hast mir doch geschrieben: ›Deine Frau hat einen Hund zur Welt gebracht‹, und hier steht etwas von einem Jungen mit goldenem Haar.« Da wunderte sich nun auch die Mutter: »Was sagst du da, Kind? Ich habe dir geschrieben, daß sie einen Jungen mit goldenem Haar geboren hat. Du solltest herkommen und ihn dir ansehen.«
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Sie merkten, daß die Alte an allem schuld war. Sie schlugen sich an den Kopf, weinten und trauerten, aber was half das noch. Es verging eine lange Zeit. Die Mutter riet dem Sohn, auf die Jagd zu gehen, damit er auf andere Gedanken käme. Er hörte auf die Mutter und begab sich ans Ende seines Reiches. Dabei gelangte er zu dem Schloß seiner Frau und staunte, wer dieses Gebäude wohl erbaut haben mochte. Er ritt rings um die Mauer, warf einen Blick zum Tor hinein und sah eine schöne Frau und einen kleinen Jungen mit goldenem Haar. Der Junge gefiel ihm so sehr, daß er ihn rief und fragte: »Wen hast du denn hier, Kleiner, bei wem wohnst du?« Das Kind sagte: »Meine Mutter und ich leben hier.« Der Königssohn nahm das Kind mit, als er zur Jagd ritt. Er gab ihm einen Fasan und trug ihm auf: »Vielleicht kann deine Mutter ihn uns braten. Dann bring ihn heraus, wir wollen ihn zusammen essen!« Das Kind lief ins Haus, brachte der Mutter den Fasan und richtete ihr aus, was er sagen sollte. Die Frau wußte sofort, daß ihr Mann gekommen war. Als sie ihn sah, hatte sie das Kind absichtlich zum Spielen hinausgeschickt. Nun briet sie den Fasan und sagte zu ihrem Kind: »Geh, Kind, bitte ihn hereinzukommen und hier zu essen.« Das Kind lief hin, und der Königssohn folgte ihm erfreut, weil er nun Gelegenheit hatte zu erfahren, wer in diesem Schloß wohnte. Die Frau empfing den Gast höflich. Der Königssohn erkannte sie nicht und wiederholte seine Frage: »Wer wohnt hier, wie viele seid ihr, und woher seid ihr gekommen? Früher standen hier weder Haus noch Mau132
er, obwohl ich schon drei, vier Jahre nicht mehr hierhergekommen bin. Ich hatte Grund dafür, denn ich habe meine Frau und mein Kind verloren.« Die Frau erzählte ihm ihre Abenteuer von Anfang an: Wie sie geboren und aufgezogen wurde, was für ein Pferd sie hatte, wie sie einem Bettler gegeben wurde und später mit dem Pferd zusammen im Freien lebte, wie der Königssohn sie heiratete und sie in seiner Abwesenheit, als er zur Jagd fortgeritten war, einen Sohn gebar, wie sie davon ihrem Mann berichten ließ, welche Antwort sie erhielt und wie die Schwiegermutter sie in den Kalkbrennofen warf, wie das Pferd hinzukam und sie beide rettete, wie das Pferd starb und sie aus seinen Knochen das Haus erbaute und unter welchen Schwierigkeiten sie hier mit ihrem kleinen Kind lebte. Als der Königssohn dies hörte, sprang er auf, umarmte Frau und Kind und küßte sie, und sie begannen zu weinen. Er bat sie zu vergessen, was sie erlitten hatten, denn er trug keine Schuld daran. Alles war das Werk der alten Frau gewesen. Als das Pferd gewiehert und das Gebiß zerbrochen hatte, war er auch heimwärts gezogen, denn er hatte gefühlt, daß ein Unglück geschehen sein mußte. »Als ich heimkam, hat mir meine Mutter alles erzählt und mir auch jene Briefe gezeigt. Da habe ich einen Mann zum Haus der Alten geschickt und es zerstören lassen.« Voller Freude sandte der Königssohn nun einen Mann zu seiner Mutter mit der Nachricht, er habe Frau und Kind unversehrt wiedergefunden, und sie solle herkommen. Sogleich holte man die Mutter. Sie freute sich sehr, als sie die Schwiegertochter und das Kind 133
sah, ließ Männer ausschicken, um allen Besitz, den sie hatten, herbeizuschaffen, und ließ eine Stadt bauen. Dort siedelte sie ihren Hof an, und sie lebten glücklich. Nur über eines waren sie traurig: daß sie das gute Pferd nicht mehr hatten.
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Der goldene Mann Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn. Einmal begab sich der König zur Jagd in den Wald. Dort entdeckte er eine kleine Hütte. Er schickte zwei Wesire hin, diese schauten hinein und sahen, daß in der Hütte ein goldener Mann schlief. Sie gingen zum König und berichteten, was sie gesehen hatten. Sogleich hatte der König den Wunsch, den goldenen Mann gefangenzunehmen. Der goldene Mann hatte die Gewohnheit, eine Woche lang zu schlafen und dann eine Woche lang wach zu sein. Jetzt war gerade seine Schlafzeit. Der König sandte seine Wesire aus, und diese nahmen ihn mit und warfen ihn ins Gefängnis. Nun ließ der König in allen Ländern verkünden: ›Ich habe einen goldenen Mann gefangen, kommt und schaut ihn euch an!‹ Dem Königssohn aber fiel beim Spielen der Ball aus dem Fenster und rollte ins Gefängnis des goldenen Mannes. Als der Ball herabfiel, wachte der goldene Mann auf, blickte sich um und sah, daß er gefangen war. Er schlug mit der Faust gegen die Wände, aber er vermochte sie nicht niederzureißen. Da kletterte der Königssohn zum Fenster hinauf und bat den goldenen Mann um den Ball. Doch der goldene Mann sagte: »Geh und öffne die Tür, dann gebe ich dir den Ball!« Der Junge lief zu seiner Mutter und bat um den Schlüssel zum Gefängnis. Zu dieser Zeit war man schon aus aller Herren Länder angereist, um den goldenen Mann zu sehen. Der Königssohn aber öffnete die Tür und ließ den goldenen Mann frei. Der goldene 135
Mann sah den Königssohn an, gab ihm den Ball und floh. Als der König seine Gäste zum Gefängnis führte, um ihnen den goldenen Mann zu zeigen, fand er die Tür unverschlossen. Da lief er zornig zu seiner Frau und fragte: »Wer hat die Tür geöffnet?« »Unserem Jungen ist der Ball hineingefallen, da hat er mich um den Schlüssel gebeten. Beim Öffnen der Tür muß der goldene Mann geflohen sein«, antwortete die Frau. Sogleich ließ der König einen Wesir kommen und befahl ihm: »Führt meinen Sohn fort, ich will ihn nie wiedersehen!« Da versorgte sich der Königssohn mit allem, was er brauchte. Dann machte er sich mit dem Wesir auf den Weg. Nach einiger Zeit gelangten sie an einen Brunnen. Der Königssohn wollte Wasser trinken und sagte zum Wesir: »Ich lasse dich hinab, damit du mir Wasser heraufholst.« Doch der Wesir erwiderte: »Wie ginge es an, dir in meinem Stiefel Wasser zum Trinken zu holen!« Da stieg der junge Mann selbst in den Brunnen hinab und trank Wasser. Aber als er wieder hinaufklettern wollte, sprach der Wesir: »Wenn du mir deine Kleider gibst, dann lasse ich dich herauf. Andernfalls ertränke ich dich!« Da entgegnete der junge Mann: »Laß mich hinauf, ich will dir meine Kleider geben.« Der Wesir zog den Königssohn herauf, und dieser legte seine Kleider ab und gab sie dem Wesir. Er selbst zog die Kleider des Wesirs an. Nun sprach der Wesir: »Von jetzt an werde ich der Königssohn sein und du der Wesir. Wenn jemand dich fragt, hast du entsprechend zu antworten.«
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Wieder machten sich beide auf den Weg. Nach langer Reise gelangten sie in ein Königreich, begaben sich zum König und traten in dessen Dienst. Den Wesir machte man zum Stellvertreter des Königs, den Königssohn zum Rinderhirten. Als der König den Rinderhirten einstellte, unterwies er ihn: »Unsere Weideplätze werden im Süden, Norden und Westen sein. Begehe nicht den Fehler, das Vieh nach Osten zu treiben!« Den einen Tag trieb der junge Mann das Vieh nach Süden, anderentags nach Norden und dann wieder nach Westen. Nach langer Zeit verspürte er den sehnlichen Wunsch, das Vieh nach Osten zu treiben. Schließlich brach er mit seinem Vieh dorthin auf. Er fand prächtiges Gras, das Vieh weidete gierig, und der junge Mann schlief ein. Mittlerweile erfuhr der goldene Mann, daß Vieh auf sein Land getrieben worden war, ging hin und begann die Tiere zu töten. Viele Rinder brachte er um. Schließlich kam er zu dem jungen Mann und wollte ihn gerade packen, sah ihn genauer an und erkannte den Königssohn, der ihn befreit hatte. Behutsam weckte er ihn und fragte: »Wer hat dich hierhergeführt?« Der junge Mann erzählte ihm, was geschehen war. Da brachte ihn der goldene Mann zu seinen Schwestern. Diese gaben ihm zu essen, bis er satt war. Dann gebot der goldene Mann seinen Schwestern: »Gebt ihm ein kräftigendes Mittel!« Als der junge Mann dieses zu sich nahm, verspürte er augenblicklich ungeheure Kräfte in sich. Er stand auf und trieb den Rest des Viehs nach Hause. Als der König merkte, daß sich seine Herde verspätete, schickte er seine Wesire zur Erkundung aus. Sie 137
sahen, daß der Hirt das Vieh vom Osten herantrieb, liefen zum König und sprachen: »Unser Hirt hat das Vieh aus dem Osten hergetrieben.« Der junge Mann trieb das Vieh in den Stall und band es an. Der König, bei dem der junge Mann als Rinderhirt diente, hatte drei heiratsfähige Töchter. Er ließ in allen Königreichen bekanntgeben, er wolle seine Töchter verheiraten, die Freier sollten nur ihre Vorzüge zu erkennen geben. Da kamen Männer aus allen Ländern an den Königshof. Der König stellte seine drei Töchter nebeneinander auf den Balkon und sprach: »Sagt mir, wenn euch ein Bursche gefällt!« Ein junger Mann ging vorbei, der zog ein Taschentuch hervor, das war mit Goldfäden durchwirkt. Diesen Mann wollte die älteste Tochter haben. Ein anderer Mann ging vorüber und räusperte sich. Den wollte die mittlere Tochter zum Mann haben. Dann kam ein dritter junger Mann, den man für die jüngste Tochter auserwählt hatte, aber diese wollte ihn nicht. Da verprügelte der König seine Tochter vor allen Leuten, weil sie sich von so vielen Freiern keinen einzigen ausgesucht hatte. Zu dieser Zeit hielt sich der Rinderhirt bei dem goldenen Mann auf und sprach: »Der König will seine drei Töchter verheiraten.« Da gab ihm der goldene Mann einen Heldentrank, setzte ihn auf ein Pferd und sagte: »Flieg!« Wie toll jagte das Roß durch die Luft. Der junge Mann klammerte sich am Nacken des Pferdes fest und flog bis zum Tor des Königspalastes. Als der König den Mann durch die Luft heranfliegen sah, schickte er seine jüngste Tochter zu ihm. »Dann nimm wenigstens den«, sagte er zu ihr. 138
Das Mädchen erkannte den Rinderhirten auf den ersten Blick und wollte auch ihn nicht zum Mann haben. Der König war darüber so wütend, daß er mit seinen Schwiegersöhnen übereinkam, das Mädchen zu bestrafen. Sie zerrten es zur Treppe und stießen es die Stufen hinab. Dann ließ der König seine Tochter in den Viehstall werfen. Als der junge Mann die Herde abermals in den Stall trieb, sah er die Königstochter in der Futterkrippe liegen. Da wunderte er sich und fragte sie: »Wieso bist du hier?« Das Mädchen erzählte ihm, was vorgefallen war. Dann fragte sie: »Warst du jener, der auf dem Pferd durch die Luft geflogen kam?« Der junge Mann verneinte. Aber das Mädchen drang in ihn: »Sag es mir, sonst veranlasse ich, daß du beim König unbeliebt wirst!« Der goldene Mann aber hatte dem Königssohn eingeschärft, auf keinen Fall davon zu sprechen, sonst müßten sie beide für zwanzig Jahre verschwinden. Aus Furcht davor sagte der junge Mann dem Mädchen nichts. Wie sehr sie ihm auch zusetzte, sie brachte kein Wort aus ihm heraus. Eines Tages ließ der König verkünden, daß er an seinem Hof einen Ringkampf veranstalten wolle und alle Kämpfer dazu einlade. Als der Ringkampf begann, erfuhr der junge Mann davon, lief zum goldenen Mann und sagte: »Der Ringkämpfer meines Königs fordert zum Kampf, und ich möchte meine Kräfte mit ihm messen!« Da gab ihm der goldene Mann die Heldenarznei aller drei Schwestern, und sie verlieh ihm große Kräfte. Der goldene Mann trug ihm auf: »Verhalte dich so, wie ich es dir sage. Wenn du auf den Platz trittst, 139
um den Kampf zu beginnen, dann presse ihm vom ersten Griff an die Finger zusammen!« Der junge Mann begab sich zum König und bat ihn: »Herr König, laßt mich mit Eurem Ringkämpfer die Kräfte messen!« Der König wollte ihn auslachen, aber nach langem Bitten ließ er ihn doch auf den Kampfplatz. Beide unterschrieben öffentlich die Bedingungen und traten zum Kampf an. Gleich beim Händegeben packte der Ringer des Königs den Rinderhirten, konnte ihm aber nichts anhaben. Dann ergriff der Rinderhirt die Hand des Gegners und preßte die Finger zusammen. Er packte ihn am Fuß, ließ ihn zwei-, dreimal in der Luft kreisen und schleuderte ihn bis zum goldenen Mann. Der fing ihn auf und warf ihn in die Menge. Da sah der König, daß sein Rinderhirt ein Held war. Er rief seine Tochter und sprach: »Heirate wenigstens diesen Mann!« Aber das Mädchen weigerte sich. Der Rinderhirt trieb abermals das Vieh zu dem goldenen Mann. Als es Abend wurde, trieb er es wieder heim und legte sich schlafen. Da kam das Mädchen und fragte: »Willst du mich zur Frau oder nicht?« Der junge Mann weigerte sich, aber das Mädchen brachte ihn schließlich zum Reden. So erfuhr der König, daß sein Rinderhirt durch den goldenen Mann so stark geworden war. Er ließ den Rinderhirten zu sich kommen, aber da dieser alles verraten hatte, war der goldene Mann augenblicklich verschwunden. Da sagte der junge Mann zu dem Mädchen: »Ich verschwinde jetzt. Laß dir von einem Schmied ein großes Brecheisen und eisernes Schuhwerk anfertigen. Dann brich auf, um den goldenen Mann und mich zu suchen.« Nach diesen Worten verschwand auch er.
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Das Mädchen ging zu ihrem Vater und bat ihn, einen Schmied zu beauftragen. Bald gab ihr der König, was sie brauchte. Man brachte ihr auch ein räudiges Pferd, sie setzte sich darauf und ritt zu den Schwestern des goldenen Mannes. Diese nannten ihr den Ort, wohin sie reiten mußte. Die große Schwester gab ihr noch einen Rat: »Nach tausend Meilen wirst du meine Mutter treffen. Sie knetet Teig in einem riesigen Trog, und ihre Brüste hängen hinein. Geh hin, berühre ihre rechte Brust und sage ihr, daß du ihre Schwiegertochter bist, dann wird sie dir den Weg zeigen.« Die älteste Schwester gab dem Mädchen ihr Pferd, und die Königstochter saß auf und ritt davon. Nach einem langen Ritt gelangte sie an jenen Ort. Da sah sie, daß eine Frau in einem riesigen Trog Teig knetete. Sie schlich sich an sie heran und berührte ihre rechte Brust. Die Frau drehte sich zu ihr um und fragte: »Wer bist du?« Das Mädchen antwortete: »Eure Schwiegertochter.« Sie erzählte ihre Erlebnisse, und die Frau sprach: »Nach zweitausend Meilen wirst du meiner Mutter begegnen. Sie steht an der Grenze. Geh zu ihr hin und frage sie nach dem Weg.« Das Mädchen ritt weiter und gelangte schließlich bis an die Grenze. Sie ging zu der Frau und erzählte auch ihr alles. Da brachte die Frau sie über die Grenze und wies ihr den Weg. Das Mädchen ritt weiter, und setzte sich schließlich an einer Quelle nieder. Als sie von dem Wasser trinken wollte, erblickte sie drei Mädchen, die große Krüge in den Händen hielten. Da trank das Mädchen nicht. Jene drei Mädchen kamen zur Quelle, füllten die Krüge, und als sie gehen wollten, bat das Mädchen: »Gebt her, ich möchte etwas trinken.« Sie gaben ihr einen Krug in die Hand. Als das Mädchen 141
trank, zog sie heimlich den Ring vom Finger und warf ihn hinein. Die Mädchen trugen das Wasser dorthin, wo viele Leute saßen. Alle tranken. Den Krug, in dem nur noch wenig Wasser geblieben war, erbat sich der Rinderhirt. Als er trank, geriet ihm der Ring in den Mund. Er holte ihn heraus, betrachtete ihn und erkannte, daß es der Ring der Königstochter war. Da sagte der Jüngling zu dem goldenen Mann: »Meine Braut ist gekommen. Man soll sie herbringen.« Sofort holte man das Mädchen. Lange unterhielten sie sich, schließlich meinte der goldene Mann: »Dieses Mädchen ist unsere Schwägerin, nehmt sie mit und zeigt ihr das Grenzland.« Doch die drei Mädchen erwiderten: »Führe sie doch selbst umher.« Da standen sie auf und machten sich auf den Weg. Als sie noch tausend Meilen von der Grenze entfernt waren, begannen die Pferde der drei Mädchen zu trappeln. Die Mädchen liefen zu ihnen hin und fragten: »Was habt ihr?« Die Pferde antworteten: »Unsere Gäste sind geflohen. Wir wollen sie einfangen.« Sie brachen auf und hatten die Entflohenen bald eingeholt. Da gebot der goldene Mann den Pferden, sich hinzulegen, verwandelte sie in Mäuse, sich selbst in eine Katze, das Mädchen in einen Hasen und den jungen Mann in einen Esel. Als die Verfolger ankamen, fanden sie niemand auf dem freien Feld, kehrten um und banden ihre Pferde wieder an derselben Stelle an. Da verwandelte der goldene Mann sie wieder in Menschen und die Pferde in Pferde, und sie ritten weiter. Wieder begannen die Pferde der Mädchen auszuschlagen, die Mädchen eilten zu ihnen, schwangen sich in die Sättel und nahmen die Verfolgung auf. Als sie näherkamen, verwandelte der goldene Mann alle in 142
Bäume und sich selbst in einen Waldhüter. Die Mädchen fragten ihn: »Sind hier nicht drei Leute vorbeigekommen?« Da antwortete der goldene Mann: »Sie sind nach Norden geritten.« Da zogen die Mädchen nach der einen Seite, und sie selbst wandten sich, nachdem er seine Gefährten zurückverwandelt hatte, nach der anderen. Aber als die Mädchen ihre Pferde wieder zu Hause angebunden hatten, begannen diese zu stampfen. Abermals nahmen sie die Verfolgung auf. Diesmal verwandelte der goldene Mann sie in ein Maisfeld, er selbst begann das Feld zu hacken. Auch diesmal gelang es ihm, die Mädchen zu überlisten. Die Mädchen kehrten zurück, und die drei Reiter überquerten die Grenze. Sie ritten geradewegs zum König, ließen den Wesir kommen und fragten ihn: »Wie kommt es, daß du ein Königssohn geworden bist?« Der Wesir begriff, daß diese Frage nichts Gutes bedeutete, und gestand die Wahrheit. Als der goldene Mann ihn angehört hatte, schlug er ihm den Kopf ab. Dann bestrafte er noch die Schwiegersöhne und Töchter des Königs. Dem König aber riß er mit eigener Hand beide Ohren ab und ließ ihn laufen.
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Märchen vom geschickten Burschen Chutkuntschula Es waren einmal neun Brüder. Sie waren so arm, daß ihnen weder Feuer noch Wasser etwas nehmen konnte. So waren sie auch immer hungrig. Eines Tages kamen sie überein, fortzuziehen und sich zu verdingen, um das tägliche Brot zu verdienen. Sie brachen auf und kamen in ein Land, in dem ein Riese hauste. Dieser fragte sie: »Wo zieht ihr hin?« Sie antworteten: »Wir suchen Arbeit und wollen uns gegen Lohn verdingen!« Der Riese sagte: »Fangt bei mir an!« Die Brüder antworteten: »Gut!« Gemeinsam mit dem Riesen zogen sie los. Er besaß neun Frauen, unzählige Schätze, Rinder und Pferde. An diesem Abend setzte ihnen der Riese ein gutes Abendbrot vor, brachte sie zu Bett und wartete, bis sie eingeschlafen waren. Acht Brüder schliefen, Chutkuntschula aber, der jüngste Bruder, schlief nicht. Er lag im Bett und beobachtete den Riesen. »Schlaft ihr?« rief der Riese. »Nein!« antwortete Chutkuntschula. »Was läßt euch denn nicht einschlafen?« fragte der Riese. »Das Schnattern deiner Gänse!« entgegnete Chutkuntschula. Sofort ging der Riese in den Stall, verschlang die Gänse und wartete eine Weile. 144
»Schlaft ihr oder seid ihr noch wach?« fragte der Riese abermals. »Nein!« erwiderte Chutkuntschula. »Was läßt euch denn nicht einschlafen?« »Das Getrappel deiner Kühe«, entgegnete Chutkuntschula dem Riesen. Der Riese ging hinaus, verschlang alle Kühe und kam zurück. Abermals lauschte er, ob alle schliefen. »Schlaft ihr?« rief er. »Nein!« lautete die Antwort Chutkuntschulas. »Was läßt euch denn nicht einschlafen?« rief der Riese ärgerlich. »Das Wiehern deiner Pferde«, sagte Chutkuntschula. Wieder ging der Riese hinaus, diesmal um die Pferde zu verschlingen. Inzwischen stand Chutkuntschula auf, nahm die Kleider der Frauen des Riesen und zog sie den Brüdern an, die Kleider der Brüder hingegen zog er den Frauen an und legte ihnen auch ihre Säbel um. Dann legte er sich hin, als schliefe er. Der Riese kam herein, schlich zu seinen Frauen, die er für die Brüder hielt, schlug ihnen die Köpfe ab und warf sie weg. Chutkuntschula schickte nun seine Brüder als Frauen verkleidet hinaus: »Geht aus dem Haus, lauft über die Brücke!« Er selbst blieb im Haus des Riesen. Am nächsten Tag, er trug ebenfalls Frauenkleider, sagte er zum Riesen: »Ich will das Fleisch von jenen Burschen, die wir gestern getötet haben, zusammentragen, dann will auch ich zu meinen Schwestern in die Kapelle gehen.« »Gut, geh nur!« sagte der Riese. Da verließ Chutkuntschula das Haus und ging ebenfalls über die Brücke. Der Riese holte das Fleisch, fraß, und auf einmal sah er die Brüste. Da dachte er: ›Das 145
hat Chutkuntschula mir angetan.‹ Er warf das Fleisch beiseite und nahm die Verfolgung auf. Als er ein gutes Stück Wegs zurückgelegt hatte, rief er: »Chutkuntschula, bist du vor mir zur Brücke gekommen?« »Ich bin dir zuvorgekommen und habe dir einen Streich gespielt!« antwortete Chutkuntschula. Die Brücke war die Grenze zwischen dem Land des Riesen und dem Reich eines Herrschers. Diese Brücke konnte der Riese nicht überschreiten, er fürchtete sich, sehr davor. Und deshalb war Chutkuntschula auf der anderen Seite in Sicherheit. Der Riese kehrte zähneknirschend um. Die Brüder jedoch kamen zu einem Herrscher, der sie in seinen Dienst nahm. Chutkuntschulas Brüder verbündeten sich gegen ihn und wollten ihn töten. Sie sagten zum Herrscher: »Ein Riese besitzt eine Ziege, die weissagen kann. Und was sie sieht oder denkt, spricht sie aus. Wenn Chutkuntschula diese Ziege herbrächte, wäre das gut!« Die Ziege gehörte jedoch jenem Riesen, bei dem die Brüder gewesen waren. Der Herrscher befahl Chutkuntschula zu sich und sagte: »Geh und bring mir die Ziege des Riesen. Bringst du sie nicht, sollst du es mit deinem Blut bezahlen!« Was sollte Chutkuntschula nun tun! Er machte sich auf, die Ziege zu holen. Als er ins Haus des Riesen kam, sah ihn die Ziege und rief: »Chutkuntschula! Chutkuntschula!« Der Riese kam aus dem Haus, um Chutkuntschula zu suchen. Dieser aber hatte sich hinter der Tür versteckt, daher suchte ihn der Riese vergeblich. Wieder zeigte sich Chutkuntschula der Ziege, und abermals rief sie: »Chutkuntschula!« 146
Wieder suchte der Riese, aber er konnte ihn nicht finden. Schließlich jagte er die Ziege wütend aus dem Haus. Chutkuntschula fing sie, eilte davon und überquerte die Brücke. Der Riese dachte: ›Vielleicht treibt sich dieser elende Chutkuntschula doch hier irgendwo herum und könnte meine Ziege wegfangen.‹ Er ging hinaus. Die Ziege war weg! Keine Spur war von ihr zu sehen. Sofort begann der Riese die Verfolgung. Er rannte zur Brücke: »Chutkuntschula, bist du schon über die Brücke gegangen?« »Ich bin schon lange drüben!« rief Chutkuntschula und führte die Ziege mit sich. Wütend kehrte der Riese um. Chutkuntschula brachte die Ziege zum Herrscher. Den Brüdern bereitete er damit jedoch keine Freude. So wandten sie sich abermals an den Herrscher: »Großer Herrscher, der Besitzer der Ziege hat einen Teppich, der an Kostbarem seinesgleichen auf Erden sucht. Wenn Chutkuntschula seine Ziege hergebracht hat, wird er auch den Teppich herbeischaffen können!« Der Herrscher befahl Chutkuntschula wieder zu sich und sagte ihm, er solle nochmals losziehen, um ihm jenen Teppich des Riesen zu bringen. Was hätte Chutkuntschula entgegnen sollen! Er stand auf und ging. Vom Herrscher erbat er sich nur eine Handvoll Nadeln. Man gab sie ihm, und er nahm sie mit. Nach einiger Zeit kam er abermals ins Haus des Riesen. Er schlich sich zu jenem Platz, wo der Teppich lag, und steckte die Nadeln in den Teppich. Der Riese kam, setzte sich auf den Teppich und stach sich. Er rutschte zur Seite und stach sich wieder. Er rückte nach der anderen Seite – und wiederum stach es. Schließlich wurde ihm die Pein zu groß. Er packte den Teppich 147
und warf ihn hinaus. Dort ergriff ihn Chutkuntschula, lief mit ihm davon und brachte sich über die Brücke in Sicherheit. Der Riese dachte: ›Daß mir nicht dieser verschlagene Chutkuntschula hier irgendwo steckt und den Teppich wegnimmt!‹ Er schaute hinaus, aber der Teppich war bereits verschwunden. Der Riese nahm die Verfolgung auf und rief: »Chutkuntschula, bist du schon über die Brücke gegangen?« »Schon lange bin ich drüben!« entgegnete Chutkuntschula. Er ging zum Herrscher und brachte ihm den Teppich. Die Brüder wurden nun noch wütender. Sie sagten zum Herrscher: »Wenn Chutkuntschula diesen Riesen hierherbringen könnte, wäre das ein herrliches Schauspiel!« Abermals befahl der Herrscher Chutkuntschula zu sich und trug ihm auf: »Du mußt gehen und den Riesen hierherbringen!« »Gut«, erklärte sich Chutkuntschula bereit, »gebt mir nur imeretische Kleidung und beschafft mir die Werkzeuge eines Zimmermanns.« Der Herrscher versah ihn mit allem, und Chutkuntschula zog sich an, nahm Säge, Zimmermannsbeil, Hobel, Beitel sowie andere Werkzeuge und brach auf. Bald war er im Reich des Riesen angelangt, und es dauerte nicht lange, begegnete er ihm im Wald. »Oh, bist du nicht Chutkuntschula?« rief der Riese. »Zur Hölle mit diesem Chutkuntschula«, sagte er selbst ärgerlich zu dem Riesen. »Diesem Tunichtgut habe ich geholfen, ich bin Imeretier, und er hat mir nichts dafür gegeben, hat mich einfach rausgeworfen.« Der Riese glaubte diesen Worten.
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»Wenn du Imeretier bist, dann beherrschst du sicher ein Handwerk. Was machst du denn Schönes?« fragte der Riese. »Ich kann eine Kiste bauen, die du nicht aufbrechen kannst, wenn du dich hineinsetzt«, entgegnete Chutkuntschula. »Bau mir so eine Kiste!« bat der Riese. Eilig zimmerte Chutkuntschula das Gewünschte und sagte zu dem Riesen: »Steig hinein, wir wollen sehen, ob du den Boden durchtreten kannst!« Der Riese setzte sich hinein und gab der Kiste einen Fußtritt, daß die Bretter auseinanderbrachen. Chutkuntschula baute sie ein zweites Mal, setzte den Riesen abermals hinein und sagte: »Versuch es noch einmal!« Der Riese konnte die Kiste nicht mehr zerbrechen. Da nagelte Chutkuntschula sie zu und sagte zum Riesen: »Du brauchst nicht zu laufen. Ich nehme dich auf den Rücken und trage dich zu deinem Haus!« »Gut!« meinte der Riese. Chutkuntschula lud sich die Kiste auf und eilte zum Herrscher. Als er über die Brücke ging, erriet der Riese die Absicht. »Hast du mich etwa über die Brücke getragen?« fragte er und wollte sich befreien, aber das war nicht möglich. Chutkuntschula trug ihn zum Herrscher. Um den Riesen zu bestaunen, versammelten sich das gesamte Heer, die Nasire und Wesire, der Herrscher sowie alle anderen Fürsten. Sie wollten die Kiste öffnen, um den Riesen zu sehen. Chutkuntschula aber lief weg, nahm einen schweren Salzstein und kletterte damit auf eine hohe Platane. Von dort aus sah er dem Schauspiel zu. 149
Man öffnete die Kiste. Toll vor Wut sprang der Riese heraus, stürzte sich auf das Volk und schlang alle miteinander samt dem Herrscher und den acht Brüdern in seinen schwarzen Bauch hinunter. Als er dies vollbracht hatte, begann er Chutkuntschula zu suchen und entdeckte ihn auf der Platane. Da rief er: »Chutkuntschula, sag mir doch, wie du hinaufgekommen bist!« »Siehst du diesen Salzstein?« fragte Chutkuntschula. »Ich habe mir den Stein auf mein Herz gelegt und bin mit ihm heraufgeflogen.« »Wo soll ich so einen Stein herbekommen?« fragte der Riese. »Leg dich auf den Rücken. Ich lasse ihn zu dir hinunterfallen. Wenn er dein Herz trifft, wirst du herauffliegen«, entgegnete Chutkuntschula. Der Riese legte sich auf den Rücken. Chutkuntschula warf den Salzstein hinab. Der traf den Riesen und zerschmetterte ihn. So hatte Chutkuntschula sich den Riesen vom Halse geschafft. Er stieg vom Baum herab. Der Reichtum des Riesen gehörte ihm. Er wurde ein vermögender Mann und der Herr des Landes. Immer hat er altes Brot und alten Wein.
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Nazarkekia Es waren einmal ein Schwager und eine Schwägerin. Der Schwager war groß und schlank, aber ein entsetzlicher Faulpelz. Er brachte einfach nichts zustande. Ständig saß er am Kamin, hielt ein Stöckchen in der Hand und scharrte in der Asche. Deshalb nannte man ihn Nazarkekia, den Aschenscharrer. Die Schwägerin sagte zu ihm: »Mensch, beweg dich doch, arbeite und bring etwas ins Haus! Ich habe keine Lust, dich nur durchzufüttern!« Die Schwägerin konnte ihn nicht zur Arbeit bewegen. Er saß nur immer am Kamin und kam nicht vors Haus. Am Ostertag raffte sich Nazarkekia auf und ging zur Messe. Als er aus der Messe heimkam, verschloß die Schwägerin vor ihm die Tür und ließ ihn nicht mehr ein. Nazarkekia bat die Schwägerin um einen Beutel Asche, eine Ahle und einen frischen Käse als Wegzehrung und machte sich auf den Weg. Nach längerem Wandern kam er an einen großen Fluß. Am anderen Ufer erblickte er einen mächtigen Riesen. Der Riese kniete am Wasser und trank. Nazarkekia fürchtete sich sehr, aber was sollte er tun, er kannte nur einen einzigen Weg, und der hätte ihn nach Hause zur Schwägerin geführt. Wenn er nicht umkehrte, mußte er das Opfer des Riesen werden. Er überlegte und überlegte; und schließlich dachte er: ›Ich will mächtigen Staub machen.‹ 151
Nazarkekia stach die Ahle in den Beutel, durchbohrte ihn, und während er hin und herging, entstand eine große Staubwolke. Der Riese staunte und bekam sogar Angst. Er hob einen Stein auf und rief: »Presse aus diesem Stein Wasser!« Nazarkekia holte rasch den frischen Käse hervor. Dabei bückte er sich, als hebe er den Stein auf, und drückte kräftig zu, so daß Wasser herausfloß. Dann rief er dem Riesen zu: »Komm herüber, nimm mich auf die Schultern und trage mich übers Wasser! Ich möchte mir die Füße nicht naß machen.« Der Riese kam sofort herüber. Er hob Nazarkekia auf seine Schultern und sagte: »Oh, wie leicht du bist!« »Das liegt daran, daß ich mich mit einer Hand am Himmel festhalte. Wenn ich loslasse, dann kannst du mich nicht von der Stelle bewegen.« »Laß doch mal los«, entgegnete der Riese. Nazarkekia zog die Ahle heraus und bohrte sie dem Riesen ins Genick. Der Riese begann fürchterlich zu schreien und bat, er solle sich wieder am Himmel festhalten. Als sie den Fluß überquert hatten, sagte der Riese: »Komm mit, heute lade ich dich zum Mittagessen ein.« Nazarkekia erschrak, aber was sollte er machen. Er mußte mitkommen. Als sie in der Behausung des Riesen anlangten, gefiel diese Nazarkekia sehr gut. Er sah, daß eine riesige Pfanne mit Brotteig in den Kamin geschoben war. Der Riese ging fort, um das Mittagessen zuzubereiten, und befahl Nazarkekia, auf den Brotteig zu achten, damit er nicht anbrenne. Nazarkekia wollte die Pfanne drehen, denn er sah, daß eine Seite schon sehr 152
dunkel geworden war. Doch als er die Pfanne anfaßte, fiel sie um, und Nazarkekia geriet darunter. Er mühte sich verzweifelt, aber es gelang ihm nicht, unter der Pfanne hervorzukriechen. Die Riesen kamen in die Stube und fanden den Gast unter der Pfanne. Da wunderten sie sich. »Mensch, was hast du da gemacht?« fragte einer der Riesen. »Ich bekam starke Bauchschmerzen, und da habe ich mir die warme Pfanne auf den Bauch gelegt, damit der Schmerz vorübergeht. Jetzt geht es mir wieder besser. Nehmt die Pfanne weg«, sagte Nazarkekia. Als sie sich zu Tisch setzten, ging den Riesen der Wein aus. Sie nahmen einen großen Krug und schickten Nazarkekia hinaus: »Wenn du unser Bruder bist, dann geh hinaus. Im Hof ist ein Kwewri, schöpfe mit diesem Krüglein Wein und bring ihn uns.« Nazarkekia erschrak, als er den riesigen Krug sah, aber er ging trotzdem hinaus in den Hof und kehrte lange nicht zurück. Die Riesen wurden des Wartens überdrüssig, liefen hinaus und sahen, daß Nazarkekia einen Spaten in der Hand hielt und rings um den Kwewri die Erde umgrub. »Was tust du?« fragten die Riesen. »Es ist besser, wenn ich den ganzen Kwewri ins Haus bringe und wir daraus trinken, denn mit so einem kleinen Krüglein wird man ja trübsinnig.« Die Riesen dachten: ›Wir neun Brüder haben mit Mühe den leeren Kwewri eingegraben, und er will allein den vollen Kwewri emporheben.‹ Sie füllten den Krug selbst mit Wein und begannen nun zu essen. Da mußte einer der Riesen husten, und Nazarkekia wurde an die Decke geschleudert. Die Riesen blickten 153
hinauf und sahen, daß Nazarkekia sich an den Dekkenbalken festklammerte. »Wie kommst du dort hinauf, was machst du?« »Wie konntet ihr es wagen, vor mir zu husten«, sagte Nazarkekia. »Ich will dieses Stöckchen herunterholen und euch die Seiten gerben!« Die Riesen bekamen furchtbare Angst. Zu neunt hatten sie jeden Baum einzeln mühselig herangeschleppt, und er bezeichnete sie als Stöckchen! Die Riesen rannten in ihrer Angst aus dem Haus und zerstreuten sich im Wald. Nazarkekia rutschte wieder herunter und nahm das Haus der Riesen in Besitz. Einem der Riesen begegnete unterwegs der Fuchs, der fragte: »Riese, wohin rennst du, was ist mit dir?« »Was soll schon sein? Zu uns ist ein Mann gekommen, der hat uns alle beinahe umgebracht«, und der Riese erzählte ihm alles. Der Fuchs lachte: »Das ist doch Nazarkekia, der Aschenscharrer, ein armseliger Tropf. Er war zu nichts nütze, und deshalb hat ihn die Schwägerin aus dem Haus gejagt. Ich kenne deren Hof genau: Alle ihre Hühner habe ich mir geholt. Komm mit, wie konnte dir so ein Jammerlappen bange machen!« »Ich traue dir nicht«, entgegnete der Riese. Der Fuchs bat ihn inständig. »Gut«, meinte der Riese, »damit du mich nicht verraten kannst, binde dich mit dem Strick an meinem Gürtel fest.« Der Fuchs band sich den Strick um, das andere Ende band er an dem Riesen fest, und so zogen sie zum Haus des Riesen. Nazarkekia sah, wie der Fuchs und der Riese näherkamen. Er fürchtete sich sehr, aber was sollte er ma154
chen? Er trat vor die Tür und rief dem Fuchs zu: »Ach, du Ekel! Zwölf Riesen solltest du mir herbringen, und einen bringst du mir nur!« Der Riese bekam einen solchen Schreck, daß er den Strick zerriß, den Fuchs ganz zerfetzte und selber über neun Berge flüchtete. Nazarkekia lud nun den ganzen Besitz und Reichtum der Riesen auf Kamele und brachte ihn zu seiner Schwägerin. Die Schwägerin wurde reich, und sie begannen wieder ein süßes Leben.
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Der Rinderhirt Einmal nahm ein Vater seinen jüngsten Sohn weit mit in die Berge hinauf. Er verirrte sich im Gebirge, verlor seinen Sohn aus den Augen und kehrte selbst betrübt nach Hause zurück. In jenem Gebirge lebte ein Drache, der beugte sich hinab, sah den Jungen und rief ihm zu: »He, du Menschenkind, möchtest du, daß ich dich als meinen Bruder aufziehe?« Der Junge gab sein Einverständnis. Da hob der Drache ihn auf den hohen Bergrücken und sprach: »Geh von hier aus geradewegs hinunter. Dort, wo die Pappel steht, wirst du meine Eltern finden. Sage zu ihnen: ›Bei eurer Sonne, nehmt mich für diese Nacht auf‹, und sie werden dir ein Nachtlager geben. Am Morgen mußt du sagen: ›Bei der Sonne eures Sohnes, gebt mir einen Span von dieser Pappel.‹ Mein Vater wird es ablehnen, aber meine Mutter wird ihn dir geben.« Der Junge stieg hinab zu jener Pappel. Dort lebten ein Mann und eine Frau. Der Junge ging zu ihnen und bat: »Bei eurer Sonne, nehmt mich für diese Nacht auf.« Sie gaben ihm ein Nachtlager. Am Morgen bat er: »Bei der Sonne eures Sohnes, gebt mir einen Span von dieser Pappel.« Der Mann lehnte ab, aber die Frau gab ihm den Span und unterwies ihn: »Was du dir wünschst, wird dir dieser Span geben. Du mußt nur sagen: ›Span, bei deiner Sonne, bei der Sonne deines Spenders, erfülle mir dies und das.‹« 156
Der Junge nahm den Span und ging. Er wanderte und wanderte und kam in ein anderes Land. Dort bat er eine Frau: »Mutter, ich habe Hunger, gib mir etwas zu essen.« Die Frau hatte zwei Brote. Eins gab sie dem Jungen. Der aß es auf. Da gab ihm die Frau noch die Hälfte des anderen Brotes, und als er auch diese aufgegessen hatte, gab sie ihm den Rest des Brotes, den aß er ebenfalls auf. Nun war er satt. Er sagte zu der Frau: »Mutter, ich will dein Sohn sein.« »Ich habe kein Kind, da sollst du mein Sohn sein«, antwortete die Frau. Der Junge sagte: »Bring mich irgendwohin, wo ich gegen Lohn arbeiten kann.« Die Frau nahm ihn mit in ein Dorf und verdingte ihn für ein Jahr als Gänsehüter. Im zweiten Jahr wurde er als Schweinehirt und im dritten als Rinderhirt beschäftigt. Die Tochter des Königs besaß zwei Kühe, die sie selbst molk. Einmal, als sie die Kühe molk, trieb der Hirt sein Vieh vorbei. Als er die Königstochter sah, holte er den Span hervor und sprach: »Span, bei deiner Sonne, bei der Sonne deines Spenders, laß dieses Mädchen nicht von mir gehen, sie soll die meine werden.« Mittags trieb der Rinderhirt die Herde zur Tränke. Die Königstochter war auch am Wasser. Sie sah den Rinderhirten und verliebte sich in ihn. Von nun an trafen sie sich öfter. Das Mädchen wurde schwanger und gebar einen Sohn. Eines Tages hörte der König das Weinen eines Kindes und wunderte sich. 157
»Wann und von wem hat meine Tochter ein Kind bekommen? Wie konnte mir das geschehen?« Er rief sein ganzes Volk zusammen, um zu erfahren, wer der Vater des Kindes sei. Das Kind rief: »Meine Mutter ist hier, der Vater nicht.« Der König fragte: »Fehlt noch jemand?« »Es fehlt nur der Rinderhirt«, entgegneten seine Leute. Man holte den Rinderhirten. Manche schlugen ihn, andere lachten ihn aus: »Die Königstochter wird gerade dich gewollt haben, daß ihr Kind dich Vater nennen soll!« Als das Kind den Rinderhirten erblickte, rief es: »Meine Mutter ist hier, und mein Vater ist auch gekommen.« Der König verstand, was vorgefallen war. Er jagte seine Tochter und den Schwiegersohn davon. Von dem Ärger wurde er krank, und er ließ die älteren Schwiegersöhne rufen und sagte zu ihnen: »Wenn ihr mir das Wasser der Unsterblichkeit bringt, kann ich wieder gesund werden, sonst nicht.« Die Frau des Rinderhirten vernahm diesen Wunsch, ging zu ihrem Vater und sprach: »Ich will meinen Mann ausschicken, um das Wasser der Unsterblichkeit zu holen.« Aber der Vater fuhr sie an: »Geh mir aus den Augen, euretwegen bin ich doch krank geworden.« Und er warf die Tochter hinaus. Die Schwiegersöhne brachen auf, um das Wasser der Unsterblichkeit zu holen. Der Rinderhirt aber zog den Span aus der Tasche und sprach: »Span, bei deiner Sonne, bei der Sonne 158
deines Spenders, gib mir ein schnelles, gezäumtes Pferd und gute Kleidung.« Da stand auch schon alles für ihn bereit. Der Rinderhirt zog sich an, schwang sich aufs Pferd und jagte zum Wasser der Unsterblichkeit. Die älteren Schwiegersöhne waren bereits vor ihm angekommen. Da schrie der Rinderhirt sie an: »Wer seid ihr, wozu seid ihr hierhergekommen?« Die Schwiegersöhne hielten ihn für den Besitzer der Quelle und antworteten: »Wir wollen Wasser kaufen.« »Ich verkaufe es nicht«, erwiderte der Rinderhirt. »Was sollen wir tun? Ohne Wasser können wir nicht zurückkehren, der König liegt im Sterben«, klagten die Schwiegersöhne. »Ich verkaufe das Wasser nicht, aber wenn es sich so verhält, will ich es euch verkaufen. Als Preis werde ich euch die Ohrläppchen abschneiden.« Die Schwiegersöhne ließen sich die Ohrläppchen abschneiden und zogen mit dem Wasser nach Hause. Aber der König wurde trotzdem nicht gesund, und so ließ er die Schwiegersöhne abermals rufen und sagte: »Bringt mir die Weintraube der Unsterblichkeit, vielleicht kann sie mir helfen.« Die Frau des Rinderhirten bat den Vater wieder: »Schick auch meinen Mann aus, die Weintraube der Unsterblichkeit zu holen.« Der König wies seine Tochter hinaus und verlangte, sie solle ihren Mann nicht mehr erwähnen. Der Rinderhirt kam den Schwiegersöhnen zuvor. Als sie zur Weintraube der Unsterblichkeit kamen, baten sie ihn: »Verkaufe uns die Weintraube der Unsterblichkeit, unser Schwiegervater ist krank.«
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»Ich verkaufe die Weintraube nicht. Aber wenn jeder von euch sich von meinem Pferd einen Tritt geben läßt, gebe ich sie euch, sonst nicht«, antwortete der Rinderhirt. Was blieb den Schwiegersöhnen anderes übrig. Sie ließen sich von dem Pferd schlagen und erhielten die Weintraube. Aber dem König half auch die Weintraube nicht. Wiederum ließ er die Schwiegersöhne rufen und sprach: »Bringt mir Hirschmilch, vielleicht kann sie mich heilen.« Auch diesmal kam der Rinderhirt den Schwiegersöhnen zuvor. Er zog den Span aus der Tasche und rief: »Span, bei deiner Sonne, bei der Sonne deines Spenders, alle Hirsche sollen sich hier versammeln.« Da kamen Hirsche von allen Seiten herbei und versammelten sich an einer Stelle. Die Schwäger gingen zum Rinderhirten und baten ihn: »Verkaufe uns Hirschmilch.« »Wenn ihr euch jeder einen Streifen Haut abziehen laßt, dann gebe ich sie euch«, entgegnete der Rinderhirt. Was sollten die Schwäger machen? Sie ließen sich jeder einen Streifen Haut abziehen. Dann gab ihnen der Rinderhirt die Hirschmilch, sie brachten sie zum König, und der wurde wieder gesund. Da ließ er ein großes Fest veranstalten. Der Rinderhirt legte feine Kleider an und mischte sich unter das Volk. Als die Schwiegersöhne des Königs den Rinderhirten sahen, machten sie den Schwiegervater auf ihn aufmerksam: »Dieser Mann da hat uns das Wasser der Unsterblichkeit, die Weintraube der Unsterblichkeit und die Hirschmilch gegeben.« 160
Der König bat den Fremden zu sich, bot ihm den Platz an seiner Seite an und fragte: »Wer bist du, und woher kommst du?« Der Rinderhirt antwortete nicht, sondern fragte: »Wieso habt Ihr Eure älteren Töchter zum Fest geladen, die jüngste aber nicht?« »Für mich ist meine jüngste Tochter nicht mehr unter den Lebenden. Sie heiratete einen solchen Jammerlappen von Rinderhirten, daß sie mich öffentlich in Schande brachte«, antwortete der König. »Der Rinderhirt bin ich. Wodurch sind die anderen Schwiegersöhne besser als ich? Von mir haben sie das Wasser der Unsterblichkeit, die Weintraube der Unsterblichkeit und die Hirschmilch bekommen. Hier sind ihre Ohrläppchen und ihre Hautstreifen. Zieht ihnen die Hosen herunter, ob die Hufspuren meines Pferdes noch zu sehen sind«, gebot der Rinderhirt und zeigte dem König die Ohrläppchen und Hautstreifen, die er in ein Tuch gewickelt hatte. Der König mußte sich überzeugen lassen, daß der Rinderhirt seinen Schwiegersöhnen überlegen war. Er bat ihn um Verzeihung und übergab ihm sein Reich. Der Rinderhirt lud seinen Freund, den Drachen, den Vater und die Brüder zu sich ein. Bevor er sich seinem Vater zu erkennen gab, fragte er: »Hast du nicht einmal ein Kind verloren?« »Ich glaube, ich habe einmal ein kleines Kind verloren«, antwortete der Vater, »aber ich kann mich nicht mehr so recht daran erinnern.« Der Drache geriet in Zorn und sagte: »Auch mich hat ein nachlässiger Vater verloren, deshalb bin ich in einer Drachenhaut aufgewachsen.«
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Da gab sich der Sohn dem Vater zu erkennen und lebte glücklich in seinem Reich.
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Komble Es war einmal ein Mann, der hieß Komble, weil er immer Keulen schnitzte. Er besaß drei Schafe. Einmal trieb er die Schafe in den Wald, er selbst aber setzte sich hin und fing an, Keulen zu schnitzen. Die Leute fragten ihn: »Komble, warum schnitzt du immerfort Keulen?« Komble antwortete ihnen: »Ich kenne nur dieses Handwerk, davon muß ich mich ernähren.« Er schnitzte seine Keulen fertig, dann stand er auf, nahm eine große Keule auf die Schulter und begann seine Schafe zu suchen. Er kam zu einer Wolfshöhle und rief hinein: »Hast du meine Schafe gefressen?« »Nein«, antwortete der Wolf. »Mach den Rachen auf, ob du noch Fleisch zwischen den Zähnen hast!« Der Wolf bekam Angst und sagte: »Töte mich nicht, ich will dir einen guten Dienst erweisen.« »Was für einen Dienst?« fragte Komble. »Die Schäfer hier haben viele Schafe, unter den Schafen ist ein goldenes Lämmchen. Dieses goldene Lämmchen will ich entführen, dann werden alle mich verfolgen, und du kannst mittlerweile die Schafe nach Hause treiben«, entgegnete der Wolf. So geschah es auch. Der Wolf schlich sich hin und packte das goldene Lämmchen. Und wirklich, alle Hirten nahmen die Verfolgung auf. Komble trieb indes die Schafe zusammen und zog mit ihnen heim. Unterwegs begegneten ihm Männer, die fragten ihn: »Komble, du 163
hattest doch nur drei Schafe, wie kommt es, daß es in einem Monat so viele geworden sind?« Komble antwortete: »Laßt eure Schafe in den Wald, dort vermehren sie sich.« Die Männer kauften sich drei Schafe, ließen sie in den Wald laufen und gingen nach Hause. Nach einem Monat machten sie sich auf, um die Schafe zu suchen, aber die hatte der Wolf gefressen. Als sie heimkamen, berieten sie. »Was sollen wir mit Komble machen?« »Wir wollen ihm das Haus anzünden.« Und sie zündeten ihm das Haus an. Komble löschte das Feuer, füllte einen Sack mit verkohltem Holz, wechselte drei Maneti in Kleingeld um und bedeckte damit die Holzkohle. Dann schnürte er den Sack zu, warf ihn sich über die Schulter und ging damit zu einem Schatzhaus. Dem Wächter sagte er: »Bewahrt mir diesen Sack über Nacht auf.« »Stell ihn hin«, sagte der Wächter. Komble blieb über Nacht dort. Als der Morgen graute, sprach er zu dem Wächter: »Gebt mir meinen Sack wieder.« Man brachte ihm den Sack, Komble band ihn auf, fand die Holzkohle darin und erhob ein großes Geschrei: »Mein Sack war voll Geld. Ihr habt mir Holzkohle hineingeschüttet und oben Kleingeld darübergedeckt. Gebt mir mein Geld wieder, sonst gehe ich zum König und verklage euch!« »Verklage uns nicht beim König, wir wollen, dir auch den Sack mit Geld füllen«, baten die Wächter. Sie füllten ihm den Sack mit Geld, und Komble trug ihn nach Hause. Unterwegs fragten ihn die Männer:
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»Komble, du hast doch Holzkohle mitgenommen, wie kommt es, daß du Geld zurückbringst?« »Ich habe mein Haus niedergebrannt, die Holzkohle gelöscht und gegen Geld eingetauscht.« Da brannten sie ihre Häuser nieder, nahmen die Holzkohle, schütteten sie in Säcke, trugen sie durchs Dorf und riefen: »Holzkohle gegen Geld!« Aber niemand wollte ihnen Geld für Holzkohle geben. Da gingen sie nach Hause und sagten: »Was sollen wir mit Komble machen?« »Wir bringen seine Frau um!« Also töteten sie seine Frau. Komble nahm seine tote Frau und ging zu einem Mann. Dieser Mann hatte drei sehr schöne Töchter. Komble sagte zu ihm: »Laß mich heute bei dir übernachten.« »Komm herein.« Komble lehnte seine tote Frau an den Eingang und ging selbst hinein. »Wer hat sich dorthin gestellt?« fragten die Leute im Haus. »Das ist meine Frau, sie ist klug, und weil sie sich schämt, hat sie sich dort hingestellt. Geht, nehmt sie bei der Hand und bringt sie her.« Eine von den Töchtern ging hin, faßte sie an, und die Frau fiel tot zu Boden. Die Tochter lief zu ihrem Vater und sprach: »Ich habe sie angefaßt, da ist sie umgefallen und war tot.« Da sprang Komble auf und fing an zu schreien: »Meine Frau lebte, warum habt ihr sie getötet! Gebt mir eine von euren Töchtern, sonst gehe ich zum König und verklage euch!«
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»Verklage uns nicht beim König. Ich stelle dir meine drei Töchter zur Verfügung. Du kannst dir die nehmen, die du willst.« Alle drei Mädchen stellten sich vor ihm auf, und er wählte sich die aus, die ihm am besten gefiel. Als er das Mädchen heimbrachte, fragten ihn die Männer: »Komble, eine tote Frau hast du mitgenommen, wer hat dir die lebende gegeben?« »Sie tauschen tote gegen lebende«, antwortete Komble. Da erschlugen die Männer ihre eigenen Frauen, schleppten sie ins Dorf und riefen: »Tote gegen Lebendige!« Als aber niemand mit ihnen tauschte, gingen sie enttäuscht nach Hause und fragten sich: »Was machen wir nur mit Komble?« »Wir wollen ihn töten.« Sie machten sich auf den Weg zu Komble, um ihn zu töten. Aber Komble sprach: »Tötet mich nicht gleich, ich will mich aber dennoch von euch umbringen lassen.« Komble ging auf die Wiese hinaus und hob drei Gruben aus. Dann holte er die beiden Männer herbei und hieß sie ihre Schwerter mitnehmen. Komble stellte sich an die mittlere Grube, hüben und drüben ließ er die Männer mit ihren Schwertern Aufstellung nehmen und schärfte ihnen ein: »Wenn ich schreie, dann schlagt mit euren Schwertern zu!« Plötzlich schrie er auf und sprang in die Grube hinein. Die Männer trafen sich gegenseitig mit ihren Schwertern und töteten sich. Komble aber blieb unversehrt.
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Die Zauberkappe Es war einmal ein armer Bauer, der hatte eine alte Mutter. Die beiden lebten in großer Not. Eines Tages sagte der Sohn zur Mutter: »Mutter, so kann ich nicht leben. Ich will in die Ferne ziehen. Entweder finde ich etwas, oder ich verliere etwas.« »Gut«, sagte die Mutter. Da machte sich der Sohn auf den Weg. Er wußte nicht, wohin er ging. Endlich wurde er müde und setzte sich an den Wegrand. Wie er so saß, kam ein Wanderer und wünschte ihm einen guten Tag. Betrübt erwiderte der Bauer den Gruß. »Warum bist du so traurig?« fragte der Wanderer. »Wie sollte ich nicht traurig sein? Setz dich zu mir, ich will dir meine Geschichte erzählen.« Der Wanderer setzte sich, und der Bauer erzählte ihm von seinem Elend. »Ich lebte als Bauer in großer Armut. Das Leben fiel mir schwer. Da überlegte ich und sagte zu meiner Mutter: ›Mutter, so kann ich nicht leben. Ich will in die Ferne ziehen. Entweder finde ich etwas, oder ich verliere etwas.‹ Und so habe ich mich auf den Weg gemacht. Vielleicht finde ich etwas, das mir Vorteil bringt. Wenn nicht, dann will ich nicht mehr lebend nach Hause zurückkehren.« »Wenn es so um dich steht, Bruder«, meinte der Wanderer, »ich will dir etwas verraten, aber es ist schwer zu erlangen.« »Sprich nur«, entgegnete der Bauer. Da sagte der Wanderer: »Folge diesem Weg. Nach einer Meile wirst du an einen großen Felsen kommen, der sich einmal in sieben Jahren öffnet. Geh zu dem Felsen hin und war167
te, bis er sich auftut. Die Zeit der Öffnung ist bald gekommen. Wenn er sich öffnet, geh hinein. Drinnen hängt eine Kappe. Noch vieles andere ist dort, nimm aber nur diese Kappe und komm sofort wieder heraus. Fasse nichts anderes an, sonst schließt sich der Felsen, und du mußt darinnen bleiben.« Der arme Bauer dankte und machte sich auf den Weg. Nach einer Meile kam er zu jenem Felsen. Er ging hin und blieb davor stehen. ›Das muß der Felsen sein, von dem der Wanderer sprach‹, dachte er. In diesem Augenblick öffnete sich der Felsen. Der Bauer lief hinein und ergriff die Kappe. Im Felsen gab es auch Weintrauben und all das, was das Herz begehrte. Den Bauern aber plagte der Hunger, und er konnte sich nicht beherrschen. ›Wenn ich sterben muß, dann wenigstens nicht hungrig‹, dachte er und pflückte eine Traube, um sie zu essen. Da schloß sich der Felsen wieder, und der Bauer blieb darinnen. Erst nach sieben Jahren öffnete sich der Felsen wieder. Der Bauer stürzte mit der Kappe ins Freie. Donnernd schloß sich hinter ihm der Felsen. Der Mann setzte sich in der Nähe nieder, um auszuruhen, und blieb eine Zeitlang so sitzen. Dann dachte er, daß es doch besser wäre, sich hinzulegen. Er wußte aber nicht, welche Kraft die Kappe besaß! Er legte sich in den Schatten und nahm die Kappe unter seinen Kopf. Dabei sagte er: »Ach, meine Kappe, wie gut würde ich jetzt schlafen, wenn ich einen Teppich hätte! Wie weich ruht mein Kopf auf der Kappe!« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, lag ein Teppich neben ihm. Der Mann legte sich den Teppich zurecht und streckte sich darauf aus. Die Kappe legte er ans Kopfende und sprach: »Meine arme Mutter habe ich allein 168
gelassen. Wenn ich jetzt dort sein und sie sehen könnte, wie schön wäre das!« Plötzlich trug der Teppich den Mann samt seiner Kappe davon und flog ihn zu seiner Mutter. Als der Mann zu seiner Hütte hinabflog, dachte er: ›Diese Kappe ist doch ein wunderbares Ding! Gott ist mit mir!‹ Da sagte er zu der Kappe: »Meine Kappe, wenn du eine Kraft besitzt, dann wird es sich jetzt erweisen. Baue mir ein Haus in diesem Hof. Es soll so schön sein, daß selbst der König kein schöneres besitzen könnte.« Sogleich stand ein herrliches Gebäude da, wie es nicht schöner sein konnte. Er selbst streckte sich aus und schlief zufrieden ein. Als der Morgen dämmerte, schaute seine Mutter aus der Hütte und sah in ihrem Hof das wunderschöne Haus stehen. Da erhob sie ein großes Wehgeschrei: »Jemand hat heute Nacht in unserem Hof ein Haus gebaut!« Die Nachbarn liefen zusammen und staunten: »Womit hat man denn nachts das Haus gebaut, und wie kommt es, daß wir nichts gemerkt haben?« Da stand der Sohn auf und ging zu seiner Mutter: »Mutter, warum jammerst du, schämst du dich nicht?« »Wie sollte ich nicht jammern, Kind«, antwortete die Mutter, »jemand hat heute nacht in unserem Hof ein Haus gebaut!« Da tröstete sie der Sohn: »Hab keine Angst, Mutter! Das ist mein Haus!« Am dritten Tag sagte der Sohn zur Mutter: »Mutter, ich habe etwas mit dir zu besprechen.« »Was denn, Kind?« fragte die Mutter. »Mutter, ich muß dich zum König schicken. Du mußt hingehen und ihm sagen: ›Ich habe einen Sohn. So und so sieht er aus.‹ Aber mach mich nicht besser o169
oder schlechter, als ich bin. Sage ihm weiter: ›Du mußt deine Tochter meinem Sohn zur Frau geben.‹« »Das vermag ich nicht«, erwiderte die Mutter, »wenn ich zum König ginge und ihm das sagte, ließe er mir bestimmt den Kopf abschlagen.« Aber der Sohn ließ der Mutter keine Ruhe. Da dachte sie: ›Ich gehe hin, komme, was da wolle! Schlimmeres als der Tod kann mir doch nicht widerfahren!‹ Sie nahm Abschied von ihrem Sohn und ging zum König. Die Wachen des Königs wurden auf die alte Frau aufmerksam, die vor dem Schloß hin- und herging. »Wen suchst du?« fragten die Wachen. »Ich möchte den König sprechen«, gab die alte Frau zur Antwort. Man ließ sie ein und brachte sie zum König. Sie grüßte den Herrscher, und er fragte sie: »Was hat dich hierhergeführt, was willst du hier?« »Ich habe ein kleines Anliegen«, erklärte sie. Und sie berichtete, was der Sohn ihr aufgetragen hatte. »Was sagst du da, Frau?« antwortete der König. »Wie kannst du einen Sohn haben, der mein Schwiegersohn werden könnte! Geh und sag deinem Sohn: ›Wenn du ein solcher Kerl bist, dann lege von deinem Haus zum Schloß des Königs bis morgen früh einen Garten an!‹« Die Alte begab sich nach Hause. »Was hat er dir geantwortet, Mutter?« fragte der Sohn. »Zuerst war er ganz dagegen, aber dann hat er gesagt: ›Geh und richte deinem Sohn aus, er soll von seinem Haus zu meinem Haus auf beiden Seiten des Wegs bis morgen früh einen Garten anlegen.‹« 170
»Sei nicht traurig darüber«, antwortete der Sohn, »mach dir keine Sorgen!« Er stand auf und sagte zu seiner Kappe: »Wenn du etwas kannst, dann wird es sich jetzt erweisen: Leg von meinem Haus bis zum Schloß des Königs auf beiden Seiten des Wegs noch vor dem Morgengrauen einen märchenhaften Garten an!« Es wurde Morgen. Der König schaute hinaus und sah den Garten. Inzwischen schickte der Sohn seine Mutter abermals zum König und ließ fragen, ob er nun die Königstochter zur Frau bekäme. Die Mutter ging zum König und fragte: »Herr König, jetzt kann mein Sohn doch Eure Tochter zur Frau bekommen?« Der König aber erwiderte: »Geh und sage deinem Sohn: ›Wenn du so ein Kerl bist, dann lege bis morgen zum Sonnenaufgang vom Schloß des Königs zu deinem Haus einen Weg aus Marmorplatten.‹« Die Mutter wandte sich um und kehrte zu ihrem Sohn zurück. »Was hast du erreicht?« fragte der Sohn. Die Mutter berichtete vom Auftrag des Königs. Da nahm der Sohn wieder die Kappe und sprach: »Wenn du etwas kannst, dann wird es sich jetzt zeigen: Du mußt von meinem Haus zum Haus des Königs bis morgen früh einen Marmorweg anlegen!« Als der Sohn am nächsten Morgen aus dem Haus blickte, war überall Marmor gelegt, so weit das Auge reichen konnte. Da ging er zu seiner Mutter, schickte sie abermals zum König und ließ fragen, ob er die Königstochter nun bekommen könne. Die Mutter kam zum König und fragte im Auftrag ihres Sohnes. Der König aber gab ihr zur Antwort: »Dein 171
Sohn ist wirklich ein ganzer Mann. Geh und richte ihm aus: ›Wenn du es vermagst, dann breite auf dem ganzen Weg vom Schloß des Königs zu deinem Haus Teppiche aus, die an Kostbarkeit ihresgleichen suchen. Und dann komm und nimm meine Tochter zur Frau!‹« Da ging die Mutter nach Hause und berichtete dem Sohn, was ihr der König aufgetragen hatte. Der Sohn stand auf und sprach zu seiner Kappe: »Wenn du eine Kraft besitzt, so wird es sich jetzt erweisen: Von meinem Haus zum Haus des Königs sollen bis morgen früh kostbare Teppiche ausgebreitet sein!« Als der Bauer am nächsten Tag hinausschaute, sah er, daß auf dem Weg zum Schloß des Königs Teppiche ausgebreitet lagen. Da brach er mit vielen Leuten auf und ging zum König. Der freute sich sehr und gab ihm seine Tochter zur Frau. Die erste Nacht verbrachten sie im Königsschloß, am anderen Tag sagte der Mann zum König: »Wenn du Soldaten hast, dann komm mit ihnen zu uns!« Der König dachte sich: ›Wo will er das Essen für mein Heer hernehmen? Aber ich will trotzdem hingehen, um zu sehen, was es gibt.‹ Mit einem großen Heer folgte der König seinem Schwiegersohn und seiner Tochter. Als sie ankamen, gefiel dem Herrscher das Haus außerordentlich gut. Sie traten ein und setzten sich. Aber außer leeren Tischen war nichts im Haus. Der Mann nahm seine Kappe und sprach zu ihr: »Wenn du eine Kraft besitzt, wird es sich jetzt zeigen: Decke eine Tafel, die eines Königs würdig ist!« Plötzlich waren die Tische reich gedeckt. Es gab alles, was das Herz begehrte. 172
Der König blieb mit seinen Mannen drei Tage im Haus des Schwiegersohnes. Am vierten Tag trat er die Rückreise an. Einen Tag später sagte der Mann zu seiner Frau: »Ich gehe auf die Jagd und komme bald wieder. Ich lasse dich mit meiner Mutter allein.« Und er erhob sich, hängte sich das Gewehr um und zog auf die Jagd. Von dieser Geschichte erfuhr jener Mann, der ihm das Geheimnis des Felsens und der Zauberkappe gelehrt hatte. Nun überlegte er, wie er in den Besitz der Kappe gelangen könnte. Eines Tages kaufte er eine neue Kappe. Damit ging er zum Haus des Mannes und rief: »Wer hat eine alte Kappe zu verkaufen? Wer möchte eine neue Kappe?« Die Königstochter wußte nicht, wozu die Kappe nützlich war. Deshalb rief sie: »Warte, Warte!« Sie brachte ihm die Kappe heraus und sagte: »Kannst du mir für die alte Kappe eine neue geben?« »Eigentlich nicht«, meinte der Mann, »aber nimm sie nur!« Der Mann nahm die alte Kappe, und die Frau ging wieder ins Haus. Da sprach der Mann zu der Kappe: »Meine Kappe, wenn du etwas vermagst, dann setze dieses Haus mit der Frau darin dorthin, wo ich wohne!« Sofort stand das Haus mit der jungen Frau auf dem Grund und Boden dieses Mannes. Die alte Mutter aber blieb in der alten Hütte und lebte so ärmlich, wie sie vorher gelebt hatte. Als der Mann von der Jagd zurückkam und seinen Hof betrat, sah er, daß sein schönes Haus nicht mehr da war. Auch dem König kam zu Ohren, daß sein Schwieger-
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sohn kein Haus mehr besaß und seine Tochter verschwunden sei. Der Mann begann über sein Unglück zu weinen. Er stand auf, nahm sein Gewehr und machte sich auf denselben Weg, den er bereits früher gegangen war. Der Mann aber, der ihn um die Kappe betrogen und um sein Haus gebracht hatte, sagte zur Königstochter: »Wir wollen heiraten und zusammen leben!« »Das geht nicht!« erwiderte die Frau. »Ein Jahr lang will ich um meinen Gatten trauern. Wir sind doch trotzdem zusammen, wo soll ich denn hingehen!« Eines Tages kam ihr erster Mann in jenes Dorf und sah auch sogleich sein Haus. Er ging zu dem Haus, setzte sich davor und fing an zu weinen. Aus einem oberen Fenster sah die Königstochter herab. Als sie ihren Mann erkannte, überkam auch sie großer Schmerz. Sie lief ins Haus, holte die Kappe, von der sie nun wußte, welche Kraft sie besaß, und warf sie ihrem Mann hinunter. Der Mann fing die Kappe auf und sprach: »Wohlan, meine Kappe! Ich weiß, was du kannst. Nimm dieses Haus und trage es rasch wieder an seinen alten Ort zurück!« Im nächsten Augenblick stand das Haus wieder an der alten Stelle. Der Mann, der ihm die Kappe weggenommen hatte, war noch darin. Da öffnete der Mann die Tür des Zimmers, in dem der Betrüger schlief, hieb ihn in Stücke und warf ihn den Hunden vor. Bald erfuhr auch der König von dem Geschehnis. Er freute sich mit seinen Kindern, und sie lebten wieder zusammen.
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Datua Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter und einen Sohn. Er besaß auch einen großen Garten, in dem tausenderlei Obstbäume standen. Eines Abends schickten die Töchter eine Zofe in den Garten, damit sie Früchte hole. Die Zofe blieb lange aus. Als sie zurückkam, sagte sie nicht, weshalb sie so lange geblieben war. Es vergingen sieben Monate. Da zeigte es sich, daß die Frau schwanger war. Die Wesire meldeten es dem König, und der gab Befehl, die Zofe zu töten. Doch die Zofe sprach zu den Wesiren: »Tötet mich noch nicht, ich habe dem König ein Geheimnis zu verraten. Ist das geschehen, dann macht mit mir, was ihr wollt.« Die Zofe ging zum König und erklärte: »Als ich im Garten Obst pflückte, sprang ein Bär vom Baum herab, überfiel mich und machte mich schwanger. Töte mich nicht, sondern warte, um zu erfahren, was für ein Kind ich bekommen werde.« Da begnadigte der König die Frau und ließ sie gut behandeln. Zwei Monate später gebar die Frau einen Sohn. Er war so kräftig, daß er alle Kinder des Königs übertraf. Weil sein Vater ein Bär war, befahl der König, ihm den Namen Datua Datulaschwili zu geben. Der Junge wuchs so rasch heran, daß er mit einem Jahr einem Fünfjährigen glich und mit zehn Jahren einem Fünfundzwanzigjährigen. Als er zehn Jahre alt war, gab es im ganzen Königreich niemanden, der ihn an Stärke übertraf. Zu einer Mahlzeit reichten ihm zehn 175
Schaffen Brot nicht aus, und die Wesire trauten sich nicht, ihm etwas zu sagen. Sie gingen zum König und klagten: »Herr, alles, was wir backen, ißt er allein auf, und wir vergehen vor Hunger. Unternimm etwas gegen ihn, sonst bringt er auch dich in Not.« Da ließ der furchtsame König Datua zu sich rufen und sprach: »Du hast den Ruf eines sehr starken und gefräßigen Mannes. Wenn das wahr ist, dann zieh in die Ferne. Dort hinter neun Bergen, am Fuße des zehnten Berges, hausen Wildschweine. Unter ihnen ist ein weißer Eber, den sollst du erlegen und die Schweine herbringen.« Datua lud sich fünf Säcke Brot und fünf Säcke Wein auf den Rücken und brach auf. Als er zu dem Eber kam, sah er, daß dieser oben und unten zwei meterlange Hauer hatte. Da schnitt er sich zwei Stöcke zurecht, um die Schweine zusammenzutreiben. Sie wollten ihn beißen, aber Datua hieb ihnen eins mit dem Stock über, daß sie alles andere vergaßen. Er trieb die Schweine heim und brachte sie glücklich zum König. Die Wesire fürchteten sich nun noch mehr und beklagten sich wieder beim König. Und der König trug Datua auf, auch den weißen Eber zu töten, denn er hoffte, er werde Datua mit seinen Hauern aufspießen. Doch der junge Mann erfüllte auch diesen Auftrag. Schließlich sagte der König: »Wenn du mir die Tochter des Königs des Westens herbeischaffst, damit sie meine Schwiegertochter wird, will ich dir meine Tochter zur Frau geben und die Hälfte meines Reiches dazu.« Datua brach auf. Er kam auf ein großes Feld und sah, daß Jäger einen Hasen mit Hunden hetzten. Aber 176
den Hasen fing ein Mann, an dessen Füße Mühlsteine gebunden waren. Das verwunderte Datua, und er sagte: »Bruder, wer bist du, daß du solche Steine mit dir schleppst und doch einen Hasen fängst?« Der Mann antwortete: »Was ist das schon gegen Datulaschwili. Der soll sogar hundert wilde Schweine vom Gebirge heruntergetrieben haben.« Da sprach Datua: »Dieser Datulaschwili bin ich, laß uns Freunde werden.« Sie schlossen Freundschaft und zogen gemeinsam weiter. Nach einiger Zeit gelangten sie auf einen Acker. Dort pflügte ein Mann, und ein anderer folgte ihm, verschlang die Erdschollen und rief immerzu: »Wie es mich hungert!« Da riefen die Freunde: »Was bist du für ein Mensch, daß du solche Erdschollen verschlingst und doch noch Hunger hast!« Der Angesprochene erwiderte: »Was ist das schon gegen Datulaschwili. Der soll sogar hundert wilde Schweine aus dem Gebirge heruntergetrieben haben!« Datua antwortete: »Das bin ich. Laß uns Freundschaft schließen und folge mir.« Da gingen sie zusammen weiter. Sie kamen an ein Feld, auf dem ein Mann stand und in den Himmel starrte. In der Hand hielt er einen Bogen. Die Freunde wunderten sich und fragten ihn: »Was schaust du in den Himmel?« Er antwortete: »Im vergangenen Jahr habe ich einen Pfeil abgeschossen, der kommt jetzt herunter. Ich höre ihn.« Während er das sagte, bohrte sich der Pfeil in den Boden. Datua staunte und sagte: »Was bist du für ein Mensch! Im vergangenen Jahr hast du den Pfeil abgeschossen, und jetzt erst ist er heruntergekommen!« Der Mann erwiderte: »Was bin ich schon gegen Datulaschwili! Der soll hundert wilde Schweine aus dem Gebirge heruntergetrieben haben!« Da gab sich Datua zu erkennen, 177
sie schlossen ebenfalls Freundschaft und zogen gemeinsam weiter. Nach langer Reise kamen sie an einen Fluß. Dort stand mitten in der Strömung ein Mann und trank das Wasser, so daß der Fluß unterhalb ganz trocken war. Dabei rief er immerzu: »Was ich für einen Durst habe!« Da rief ihm Datua zu: »Was bist du für ein Mensch, daß du den Fluß leergetrunken hast und noch immer Durst verspürst!« Auch mit ihm schloß Datua Freundschaft, und sie zogen gemeinsam weiter. Endlich gelangten sie zum König des Westens und baten um dessen Tochter. Der König ließ seine Tochter rufen und fragte nach ihrer Meinung. Die Tochter forderte: »Wer eine Wette gegen mich gewinnt, dessen Frau will ich werden. Wer aber verliert, dem schlage ich den Kopf ab.« Datua willigte in die Wette ein, und das Mädchen sagte: »Wir wollen beide einen Mann nach dem Wasser der Unsterblichkeit entsenden. Wessen Mann schneller zurückkehrt, der hat gewonnen.« Sie schickten Männer aus. Datua sandte den Mann mit den Mühlsteinen nach dem Wasser. Die Königstochter aber gab ihrem Mann einen Krug mit einem Schlaftrunk mit auf den Weg und trug ihm auf: »Wenn dir unterwegs ein Mann mit einem Krug begegnet, gib ihm aus deinem Krug zu trinken, damit er einschläft. In seinem Krug ist das Wasser der Unsterblichkeit, diesen Krug sollst du mir eilends bringen.« Datuas Mann schlief unterwegs ein. Als er zu lange ausblieb, schoß der Bogenschütze einen Pfeil ab, der neben dem Schlafenden auftraf und ihn weckte. Er nahm den Krug, rannte nach dem Wasser und traf noch vor dem Boten der Königstochter ein. 178
Da war das Mädchen sehr betrübt. Datua fragte, weshalb sie so traurig sei, und fügte hinzu: »Wenn du willst, wetten wir noch einmal. Ich habe zwei Männer bei mir. Stille den Durst des einen mit Wein und den Hunger des anderen mit Brot!« Das Mädchen dachte: ›Wie sollte ich das nicht können!‹ Sie rief ihre Diener und ließ alles Brot und allen Wein, den es in der Stadt gab, herbeischaffen. Doch die beiden Männer waren nicht satt zu bekommen. Der eine rief immerzu: »Wie es mich hungert!« und der andere: »Was ich für einen Durst habe!« Was blieb dem Mädchen anderes übrig, sie mußte Datua folgen. Der König machte sie zu seiner Schwiegertochter. Datua aber gab er seine eigene Tochter zur Frau und sein halbes Reich dazu.
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Philosophierende und moralisierende Märchen Was die Erde fordert Es war einmal eine Witwe, die hatte einen Jungen. Dieser wuchs heran und sah, daß außer ihm alle einen Vater hatten. Das Kind ließ der Mutter keine Ruhe: »Mutter, alle haben einen Vater, warum habe ich keinen?« Die Mutter sagte: »Er ist gestorben, Kind!« »Dann kommt er nicht wieder? Was ist denn der Tod?« fragte das Kind. »Er kommt nicht wieder, Kind, aber wir werden zu ihm gehen. Dem Tod kann niemand entgehen, wir alle müssen zu Erde werden und sterben!« »Ich habe Gott nicht gebeten, mich zu erschaffen. Aber wenn er mich erschaffen hat, weshalb sollte er mich dann töten?« sagte der Junge. »Ich will einen Ort suchen wo es keinen Tod gibt!« Die Mutter versuchte ihn aufzuhalten, aber er ließ sich diesen Gedanken nicht ausreden. Er zog durch die ganze Welt. Wo er hinkam, fragte er: »Gibt es hier den Tod?« Überall hörte er nur die eine Antwort: Ja. Da wurde er traurig. Es gab also keinen Ort, wo es den Tod nicht gegeben hätte. Damals wurde er gerade zwanzig Jahre alt. Einmal kam er auch auf eine Ebene. Weit vor sich erblickte er einen Hirsch, dessen Geweih bis an die Wolken reichte. 180
Der junge Mann näherte sich dem Tier, denn sein Geweih gefiel ihm sehr, und er fragte: »Ehre deinem Erzeuger, kennst du ein Land, wo es den Tod nicht gibt?« Der Hirsch entgegnete: »Ich bin ein Bote Gottes und erfülle Gottes Gesetz. Solange mein Geweih den Himmel nicht berührt, werde ich leben. Stößt es an den Himmel, muß auch ich sterben. Wenn du willst, bleibe bei mir. Solange ich lebe, wirst auch du leben!« Der junge Mann erwiderte: »Wenn ich leben will, muß ich immer leben. Sterben kann ich auch, ohne hierherzukommen.« Der junge Mann machte sich wieder auf den Weg. Er zog durch Wiesen, Felder, Wälder und über Felsen, bis er an eine Schlucht gelangte. Sie bestand nur aus steilem Gefels und war so tief, daß kein Auge bis zum Grund blicken konnte. Am Rande der Schlucht saß ein Rabe auf einem Felsen und ließ seinen Kot in die Schlucht fallen. Dieser Rabe war ein Bote Gottes. Der junge Mann fragte den Raben: »Kennst du ein Land, wo es den Tod nicht gibt?« Der Rabe antwortete: »Gott hat mir so lange Leben versprochen, bis ich die Schlucht mit meinem Kot gefüllt habe. Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben und so lange leben, bis auch ich sterbe. Wir brauchen uns um nichts zu sorgen, alles steht für uns bereit!« Der junge Mann blickte in den Abgrund, aber seine Tiefe erschien ihm zu gering. Irgend etwas in seinem Inneren trieb ihn weiter. So trennte er sich von dem Raben, ließ das Festland hinter sich und begab sich an die Küste des Meeres. Er befuhr das Meer in alle Richtungen. Zwei Tage war er unterwegs, aber er traf niemanden. Am dritten Tag 181
erblickte er in der Ferne einen gleißenden Spiegel. Als der junge Mann näher kam, sah er, daß es ein Haus aus Glas war. Der junge Mann ging um das Haus herum, konnte aber nirgends eine Tür finden. Schließlich entdeckte er an einer Stelle einen kleinen Strich. Er trat näher und fand eine Tür, öffnete sie und ging hinein. Im Innern des Hauses lag ein Mädchen, das war so schön, daß die Sonne sie um ihre Schönheit beneidete. Dem jungen Mann gefiel das Mädchen, und ihr gefiel der Mann. Er fragte sie: »Schöne, ich bin vor dem Tod geflohen. Kennst du einen Ort, wo es den Tod nicht gibt?« Sie antwortete: »So einen Ort gibt es nicht. Warum suchst du diesen Ort, bleib bei mir!« Der Mann entgegnete jedoch: »Nicht deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich bin hierhergekommen, um einen Ort zu finden, wo es den Tod nicht gibt!« »Was die Erde fordert, mußt du ihr geben. Du könntest dich ja doch nicht an die Unsterblichkeit gewöhnen. Sage mir, wie alt mag ich sein?« fragte das schöne Mädchen. Der junge Mann sah sie an: Ihre eben erblühte Brust, ihre rosenfarbenen Wangen waren so wunderschön, daß er den Tod für einen Augenblick vergaß, und er sagte: »Du kannst höchstens fünfzehn Jahre alt sein!« »Nein«, antwortete sie, »ich bin am ersten Tag der Schöpfung entstanden, und seitdem habe ich mich nicht verändert. Ich heiße Turpa, die Schöne, und altere nicht. Ich werde immer so sein und auch nicht sterben. Du könntest hier bei mir bleiben, aber du wirst dich nicht daran gewöhnen können, die Erde wird dich zurückrufen!« 182
Der junge Mann versprach ihr, niemals von ihr fortzugehen. Und so begannen sie gemeinsam zu leben. Die Jahre verflogen wie Augenblicke. Vieles änderte sich, viele starben, viele wurden zu Erde, viele wurden geboren, die Erde änderte ihr Gesicht, allem war dies anzumerken. Nur der junge Mann merkte nicht, wie die Zeit verflog. Das Mädchen war noch immer so schön, und der junge Mann war noch ebenso jung. Es vergingen tausend Jahre. Der junge Mann bekam Sehnsucht nach seinem Land, und es drängte ihn, seine Mutter und seine Verwandten zu sehen. Er sagte zu dem Mädchen: »Ich muß gehen und meine Mutter und meine Verwandten sehen!« Sie ließ ihn nicht fort: »Nicht einmal ihre Knochen werden mehr dasein!« Der junge Mann sagte: »Was redest du da? Drei, vier Tage werden vergangen sein, seit ich gekommen bin. Wann sollen sie denn gestorben sein?« »Habe ich dir nicht gesagt, daß die Erde das Ihre fordert? Gut, geh nur. An allem, was dir geschieht, trägst du selbst die Schuld!« entgegnete das Mädchen. Drei Äpfel gab sie ihm: »Wenn du ankommst, dann iß diese Äpfel!« Der junge Mann brach auf, die ihm bekannten Orte aufzusuchen. Zuerst gelangte er an die bodenlose Schlucht, der Rabe war längst gestorben. Die Schlucht war bis zum Rand gefüllt, und er selbst hockte vertrocknet auf einer Felsenspitze. Dem jungen Mann wurde es schwarz vor Augen. Er erinnerte sich an die Worte des Mädchens und wollte umkehren. Aber die Erde, das Schicksal ließen es nicht zu. So ging er weiter.
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Nun gelangte er zu jener Ebene. Als er sie zur Hälfte durchquert hatte, sah er, daß das Hirschgeweih den Himmel berührte. Der Hirsch war schon lange tot. Jetzt war der junge Mann überzeugt, daß wirklich eine lange Zeit vergangen war. Trotzdem zog es ihn seinem Land entgegen. Er ging hin, traf jedoch keinen Bekannten mehr. Er fragte nach seiner Mutter, aber niemand konnte sich auch nur an sie erinnern. Schließlich fand er einen alten Mann. Auch ihn fragte er nach seiner Mutter und erzählte ihm seine Geschichte. Aber der Alte glaubte sie ihm nicht, denn die Frau hatte, wie seine Ahnen erzählt hatten, vor tausend Jahren gelebt. Wie sollte ihr Sohn jetzt noch am Leben sein! Auch das Volk glaubte ihm nicht und meinte, er sei aus dem Jenseits geschickt. Der Ruf verbreitete sich in den Dörfern, und die Leute umlagerten den jungen Mann wie Heuschrecken, um ihn zu sehen. Endlich gelangte er an jene Stelle, wo einst ihr Haus gestanden hatte. Die Mauern, auf denen gelbes Moos wuchs, ragten noch aus dem Boden. Der junge Mann erinnerte sich an seine Mutter und an seine Kindheit, und er wurde traurig. Da dachte er: ›Ich will einen von den Äpfeln essen.‹ Er nahm ihn heraus, aß ihn auf, und im selben Augenblick hing ihm ein zottiger Bart bis zum Gürtel. Er aß den zweiten, und die Knie versagten ihm. Er konnte den Arm nicht mehr heben, er war lahm und greis geworden. Da war er sich selbst zuwider. In der Nähe sah er ein Kind, das rief er: »Komm her, in der Tasche habe ich einen Apfel, hol ihn mir heraus!« Das Kind 184
holte ihm den Apfel hervor, der Greis aß ihn und hauchte seine Seele aus. Das Dorf geleitete ihn zur letzten Ruhe und begrub ihn in Ehren.
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Der Faulpelz Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann war sehr faul. Er tat nichts, sondern saß nur herum, aß und drehte sich von einer Seite auf die andere. Die Frau dagegen arbeitete, soviel sie konnte, und ernährte ihren Mann und sich selbst. Trotzdem lebten sie in großer Armut, denn zu ihrem Unglück besaßen sie nur ein Stück Land weit ab auf Steinen und Sand, wo nichts anderes gedieh als Brennesseln und Ampfer. Wieder war es Frühling geworden, und die Frau bat die Nachbarn, ihr beim Pflügen behilflich zu sein. Danach borgte sie sich Samen und säte. Die Saat ging auf, und was war das für eine Saat! Das Getreide wogte wie ein Meer. Als die Erntezeit herankam, sagte die Frau zu ihrem Mann: »Steh auf und sieh nach, ob auf unserem Feld etwas gewachsen ist und wir nicht umsonst gehofft haben!« Der Faulpelz erhob sich schließlich und ging, um sich das Feld anzusehen. Er hatte noch nicht die Hälfte des Wegs zurückgelegt, als er wieder umkehrte und seiner Frau vorlog: »Ich bin dort gewesen, aber außer Brennesseln und Ampfer ist nichts gewachsen. Wozu hast du den Samen vergeudet!« Die Frau wußte jedoch, wie prächtig das Getreide gewachsen war, und merkte, daß ihr Mann log, doch sie sagte nichts. Als das Getreide reif war zur Mahd, sagte sie zu dem Faulpelz: »Mann, entweder du gehst das Feld mähen, oder du bleibst zu Hause, butterst, 186
fütterst die Glucke und die Kücken und paßt auf sie auf, siebst Mehl und bäckst Brot!« Der Faulpelz zog es vor, zu Hause zu bleiben. Damit die Hühner nicht fortlaufen konnten, nahm er ein Garnknäuel seiner Frau, band die Kücken und die Glucke zusammen und ließ sie hinaus auf die Tenne. Plötzlich tauchte ein Habicht auf, stürzte auf die Hühner hinab und flog mit ihnen davon. Da lud sich der Faulpelz ein Sieb, einen Sack Mehl sowie das Milchschüttelgefäß auf den Rücken und begann die Verfolgung. Er wollte dem Habicht die Glucke samt den Kükken abjagen, und dabei sollte sich das Mehl von selbst sieben und die Milch zu Butter werden. Dies sollte alles auf einmal geschehen. Doch er bekam seine Hühner nicht zurück, und das Mehl ging ihm auch noch verloren. Da kehrte der Faulpelz nachdenklich nach Hause zurück. Was soll ich nur meiner Frau sagen, überlegte er, woher soll ich Hühner oder Mehl beschaffen! Er überlegte und überlegte und hatte einen Einfall: Meine Frau hat doch Eier, die lege ich ins Nest, setze mich darauf, und bis meine Frau von der Mahd zurückkommt, habe ich die Kücken ausgebrütet. Er legte tatsächlich Eier ins Nest, setzte sich selbst darauf und fing an zu brüten. Am Abend kehrte die Frau vom Feld zurück und rief: »Öffne mir die Tür!« »Kruch, kruch, kruch!« hörte sie es von drinnen, als ob dort eine Glucke brütete. »Öffne mir die Tür!« wiederholte die Frau. »Kruch, kruch, kruch«, klang es abermals aus dem Haus.
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Da rief sie zum dritten Mal: »Wo bist du, öffne mir die Tür!« Niemand antwortete ihr jedoch, nur jenes Glucken war zu hören. Da brach die Frau die Tür auf, ging hinein und fand ihren Mann auf dem Hühnernest sitzend, um Eier auszubrüten. »Was treibst du da, Mann? Komm aus diesem Korb heraus!« »Der Habicht hat mir die Glucke samt den Kücken geraubt, und nun wollte ich selbst Eier ausbrüten!« entgegnete der Mann. »Von dir möchte ich keine Kücken ausgebrütet haben«, meinte die Frau, »steig aus dem Korb!« Sie zog ihn aus dem Korb und setzte ihn an den Herd. Am nächsten Tag fragte sie den Faulpelz: »Was willst du tun, willst du wieder das Haus hüten, oder gehst du zur Mahd?« »Ich gehe mähen«, entgegnete der Mann, »wenn du mir für den Tag drei Hühner schlachtest: eins für Mittag, eins zur Vesper und eins als Abendbrot. Ich werde das Feld ganz allein mähen!« »Wenn du mir nur das Feld mähst, dann will ich dir sogar vier Hühner schlachten«, sagte die Frau. Der Faulpelz ging aufs Feld. Den ganzen Tag über mähte er keine zwei, drei Garben zusammen. Immerfort lag er da und schlief, nur die drei Hühner aß er auf. So vergingen drei, vier Tage. Das Getreide auf dem Feld verbrannte. Eines Tages stand die Frau des Faulpelzes auf, lieh sich ein Pferd, zog Männerkleider an und bewaffnete sich. Dann schwang sie sich auf das Pferd und ritt zu ihrem Mann. Als sie ankam, rief sie: »Schnitter, kennst 188
du nicht einen Faulpelz? Der Königssohn liegt im Sterben, und es heißt, die Leber eines Faulen könne ihn heilen!« Da erschrak der Faulpelz und schwor: »Ich habe erst vor einer Stunde mit dem Mähen begonnen und konnte nicht mehr schaffen!« »Wenn du das Feld bis zum Abend nicht abgemäht hast, schlage ich dir den Kopf ab und nehme deine Leber heraus!« sagte der Reiter, gab seinem Pferd die Sporen und ritt davon. Da legte sich der Faulpelz mächtig ins Zeug und hatte bis zum Abend das gesamte Feld abgemäht. Danach setzte er sich erschöpft hin und keuchte. Abends brachte ihm seine Frau das Abendbrot, aber ihm stand nicht der Sinn danach. Er saß da und stöhnte aus Leibeskräften. Seine Frau fragte ihn absichtlich: »Wieso bist du so müde?« Der Faulpelz berichtete: »Ein Mann des Königs ist vorbeigekommen und hat mir gedroht: ›Wenn du dieses Feld nicht bis zum Abend abgemäht hast, dann komme ich, schlage dir den Kopf ab, schneide dir die Leber heraus und nehme sie mit!‹« Die Frau beruhigte ihn: »Fürchte dich nicht, du hast es ja abgemäht. Jetzt kann er dir nichts mehr anhaben!« Schließlich brachten sie auch die Garben heim, droschen und füllten die Körner in Säcke. Der Faulpelz besaß jedoch ein Schwein, dem fütterte er, was er besaß. Seine Frau sagte zu ihm: »Mann, wir selbst haben nichts zu essen, aber deinem Schwein fütterst du unsere Vorräte. Wir wollen es schlachten, dann sind wir es los!«
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»Bevor ihm nicht das Fett zum Hintern herauskommt, schlachte ich es nicht«, sträubte sich der Mann. Da stand die Frau auf, ließ Schmalz zerlaufen, goß es über das Schwein, brachte es zu ihrem Mann und sprach: »Sieh nur, es ist so gemästet, daß das Fett bereits zum Hintern herauskommt!« Der Faulpelz schlachtete tatsächlich sein Lieblingsschwein, denn den eigenen Bauch liebte er noch mehr. Das Fleisch hatte er bald aufgegessen, nur eine Haxe war noch übrig, diese hatte seine Frau vor ihm versteckt. Der Mann wußte davon und drängte sie, ihm auch diese Haxe zu geben. Doch die Frau weigerte sich. »Ich sterbe, wenn du sie mir nicht sogleich gibst«, sagte der Faulpelz. Die Frau gab ihm die Haxe jedoch trotzdem nicht. »Ich sterbe«, wiederholte der Faulpelz. »Stirb nur. Wem wirst du schon fehlen, wenn du gestorben bist«, entgegnete seine Frau. Da stand der Faulpelz auf, legte sich aufs Sofa, schloß die Augen, atmete aus und stellte sich tot. Die Frau begann ihren Mann lauthals zu beweinen. Sie holte einen Priester, ließ einen Sarg anfertigen, legte den Mann hinein und trug ihn in die Kapelle. Noch einmal kam die Frau zu ihrem Mann und flüsterte ihm zu: »Werde lebendig, sonst begraben wir dich!« »Ich bin tot, wie könnte ich da lebendig werden!« entgegnete er. »Werde lebendig!« drängte die Frau. »Wenn du mir die Schweinshaxe gibst, werde ich wieder lebendig!« entgegnete der Mann nun. »Nein!« erklärte die Frau. 190
»Dann steh ich auch nicht auf!« Sie nahmen den Faulpelz und bahrten ihn in der Kapelle auf. Als es Nacht wurde, stand die Frau des Faulpelzes auf, ging zur Kapellentür und rief hinein: »Ihr Toten, alte und neue, merkt auf! Erhebt euch, im Himmel wird eine Kapelle gebaut. Die Neuverstorbenen müssen zweihundert Ziegelsteine hinauftragen und die bereits länger Verstorbenen einhundert!« Da dachte der Faulpelz: ›Hierzulande bringe ich keine fünf Ziegelsteine hoch, welcher Teufel sollte mich da bewegen, zweihundert dort hinaufzutragen!‹ Er sprang auf und rannte aus der Kapelle. Seitdem ist er nicht wieder gestorben. Er fragte auch kein weiteres Mal nach der Schweinshaxe und wälzte sich nicht mehr von einer Seite auf die andere. Immer war er fleißig, und die beiden lebten in Wohlstand und waren glücklich.
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Falsche Tränen Es war einmal ein junges Mädchen, das ging Wasser holen. Am Fluß setzte es sich unter einen Baum und dachte: ›Wenn ich heiraten würde und ein Kind bekäme, würde es zum Fluß gehen und auf diesen Baum klettern. Wenn es vom Baum herunterfiele, würde es ins Wasser fallen und ertrinken. Wehe seiner Mutter!‹ Und das Mädchen begann zu weinen. Inzwischen kam seine Mutter und fragte: »Warum weinst du denn, Kind?« »Wie sollte ich nicht weinen«, sprach das Mädchen. »Wenn ich heiraten würde und ein Kind bekäme, dann würde es hierherkommen, auf den Baum klettern, ins Wasser fallen und ertrinken. Wer soll dich dann Großmutter nennen, und wie sollte ich darüber nicht weinen?« »Weh deiner Mutter, worauf bist du gekommen!« Und die Mutter begann zu klagen und zu weinen. Da kam der Vater des Mädchens und fragte: »Weshalb weint ihr, was habt ihr?« Die Frau sagte: »Wenn unser Mädchen heiratet und ein Kind bekommt, dann würde das Kind auf diesen Baum klettern, herunterfallen und im Wasser ertrinken. Wer sollte dann Großvater zu dir sagen? Du weinst nicht um dein Enkelkind, was bist du für ein Großvater?« Da sagte der Mann: »Warte, ich will den Ast von dem Baum abbrechen, damit das Kind nicht hinaufklettern kann!« 192
Er brach den Ast ab und verprügelte Frau und Tochter.
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Die Braut Ein Ehepaar hatte einen Sohn. Alle drei waren fleißige Leute. Vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Nacht arbeiteten sie im Weingarten. Aber die drei hatten niemanden, der sich um das Haus kümmerte und das Essen zubereitete. Da kamen sie überein, den Sohn heiraten zu lassen. Sie wollten ihm damit eine Freude bereiten und gleichzeitig der Familie einen Dienst erweisen. Gesagt, getan. So holten sie eine Braut ins Haus, diese erwies sich jedoch als faul. Kaum war sie morgens aufgestanden, aß sie alles auf, was sie vorfand. Dann setzte sie sich an die Tür des Nachbarn, schwatzte den ganzen Tag und kaute Sonnenblumenkerne. Am Abend ging die müde Schwiegermutter daran, das Abendbrot zuzubereiten und das Haus aufzuräumen. Die Schwiegereltern waren betrübt, und sie kamen überein, sich am Abend um die Arbeit zu streiten, denn sie hofften, die Braut würde sich dann schämen und die Arbeit selbst erledigen. Ins Gesicht wagten sie ihr nichts zu sagen, um keinen Zwist zwischen den jungen Leuten zu entfachen. Eines Abends nahm die Schwiegermutter müde den Krug und sagte: »Ich gehe Wasser holen, wir haben keinen Tropfen mehr im Haus!« Der Mann wollte ihr den Krug aus der Hand nehmen: »Was redest du da, Frau, du hast heute den ganzen Tag gearbeitet, und jetzt willst du Wasser holen?« 194
Die Frau aber gab nicht nach: »Hast du vielleicht auf der faulen Haut gelegen? Den ganzen Tag hast du dich beim Hacken abgemüht, da soll ich dir jetzt den Krug in die Hand geben?« Die junge Frau, die währenddessen mit ihrem Mann scherzte, wandte sich zu ihnen um und meinte: »Warum streitet ihr denn, Leute, es kann doch erst der eine Wasser holen und dann der andere!«
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Die Eule und der Mann Ein Mann hatte eine Eule gefangen, baute ihr einen hübschen Käfig, setzte sie hinein und pflegte sie gut. Vier Jahre vergingen, ohne daß der Mann es ihr an etwas mangeln ließ. Doch die Eule war trotzdem unzufrieden. Einmal beabsichtigte der Mann, irgendwohin zu gehen. Die Eule merkte dies und fragte: »Wo gehst du hin?« »In die Stadt«, antwortete der Mann. Die Eule sagte: »Unterwegs kommst du durch den Wald. Dort werden dir meine Gefährten begegnen. Sag ihnen, daß ich am Leben bin und in einem Käfig wohne.« Der Mann brach auf. Der Weg zur Stadt führte tatsächlich durch den Wald. Auf dem Ast eines niedrigen Baumes sah der Mann eine Eule sitzen und sprach zu ihr: »Dein Kamerad ist bei mir. Ich halte ihn in einem Käfig, und er fühlt sich wohl.« Als die Eule das hörte, fiel sie vom Baum. Der Mann lief zu ihr hin, aber sie war tot. Da ließ er sie liegen und setzte seinen Weg fort. Als er wieder heimkam, erzählte er der Eule im Käfig die Begebenheit mit ihrem Kameraden. Da stellte die Eule sich tot und fiel in einen Winkel des Käfigs. Hastig öffnete der Mann die Tür, holte die Eule heraus und versuchte lange, sie wieder zu beleben. Aber als sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab, nahm der Mann sie mit hinaus und warf sie weg. Sogleich schlug die Eule mit den Flügeln und flog in den Wald. 196
Sonne und Regen Ein Bauer hatte zwei Töchter. Eine gab er einem Bauern zur Frau, die andere einem Töpfermeister. Die Zeit verging, und die Frau des Bauern sagte: »Geh und sieh nach, wie deine Kinder leben, was sie bedrückt und was ihnen Freude bereitet!« Der Bauer brach auf. Er kam an den Hof seines Schwiegersohnes, der Bauer war. Sie begrüßten sich, und der Schwiegervater fragte: »Wie steht es mit deiner Ernte?« »Was soll ich dir sagen! Wenn in dieser Woche kein Regen fällt, gehe ich zugrunde.« Jetzt begab sich der Bauer zu dem anderen Schwiegersohn, und auch ihn fragte er: »Wie steht es um dein Geschäft? Du hast reichlich Geschirr gemacht, du wirst doch gut über den Winter kommen?« »Was soll ich dir sagen«, antwortete dieser Schwiegersohn, »wenn diese Woche nur sonnige Tage bringt, kann ich das Geschirr gut trocknen, und mein Glück ist gemacht. Wenn es aber regnet, gehe ich zugrunde.« Als der Bauer nach Hause zurückgekehrt war, fragte ihn seine Frau: »Wie geht es unseren Kindern?« Da antwortete der Bauer: »In dieser Woche werden wir eines von beiden verlieren.«
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Drei Taube Ein tauber Mann besaß sieben Ziegen, die er sehr gern hatte. Ständig war er bei ihnen, ließ sie weiden und versorgte sie. Einer der Ziegen war irgendwann ein Horn abgebrochen. Einmal schlief der Taube ein, und alle sieben Ziegen liefen weg. Lange suchte er, konnte sie aber nirgendwo finden. Da gelobte er Gott, demjenigen, der ihm seine Ziegen finden helfe, die Ziege mit dem abgebrochenen Hörn zu schenken. Er fand einen Mann, der mit einem Hakenpflug Land bearbeitete. Dieser Mann war noch tauber als der Ziegenbesitzer. Der Ziegenhalter fragte ihn: »Ich habe meine Ziegen verloren, hast du sie vielleicht gesehen?« Der Pflüger verstand nicht, was er gefragt wurde, und gab zur Antwort: »Heute pflüge ich hier, und morgen muß ich da drüben pflügen.« Und er wies mit der Hand in jene Richtung. Der Ziegenhalter dachte, seine Ziegen wären dort und ging, wohin der Pflüger ihn gewiesen hatte. Die Ziegen fand er tatsächlich. Er trieb sie zusammen und brachte sie zu dem Mann, der pflügte. Um sein Gelöbnis zu erfüllen, gab er dem Mann die Ziege mit dem abgebrochenen Horn: »Da, sie gehört dir, weil du mir meine Ziegen hast finden helfen!« Der Pflüger schwor dem Mann: »Ich habe dieses Horn nicht abgebrochen, ich habe die Ziege nicht einmal gesehen!«
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Er nahm seinen Pflug und ging nach Hause. Doch der Ziegenhalter ließ nicht locker: »Mach mich nicht vor Gott wortbrüchig, sondern nimm die Ziege!« Sie kamen ins Dorf und sahen, daß der Dorfschulze unter einem Baum saß und sehr zornig war. Der Schulze war jedoch noch tauber als die anderen beiden. Seine Frau hatte sich mit ihm überworfen und ihn aus dem Haus gejagt. Der Ziegenhalter und der Pflüger klagten ihm ihr Leid. Doch der Dorfschulze dachte, sie wären von seiner Frau geschickt, und sagte: »Selbst wenn sie vierzig Männer zu mir schickt, ich werde mich trotzdem nicht wieder mit ihr vertragen!«
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Die Schlange und der Mann Einmal saßen ein Mann und eine Frau auf ihren Pferden und ritten aus, um einen Besuch zu machen. Auf den Weg, den auch der Mann und die Frau nehmen mußten, hatten sich junge Schlangen zum Sonnen gelegt. Der Mann hielt die Pferde an, sprang ab und sagte: »Ich habe gehört, auch einer Schlange soll man das Kind nicht töten.« Er scheuchte die Schlangen vom Weg und trieb sie in ihr Nest. Sie waren in einem alten Schloß zu Besuch. Als sie Abendbrot aßen, sagte jeder etwas. Man bat auch diesen Mann, ein Wort zu sagen. Abends kehrte die Schlange heim. Die Jungen klagten: »Ein Mann ist vorübergekommen und hat uns fürchterlich geschlagen.« Die Schlange folgte der Spur und kam zu jenem Schloß. Sie kroch um das Gebäude herum, steckte den Kopf zum Dach hinein und wollte alle beißen, wenn sie eingeschlafen waren. Die Gesellschaft setzte dem Mann abermals zu: »Sprich doch ein Wort, du bist ein erfahrener Mann, du kennst sicher neue Geschichten.« Er erinnerte sich: »Ja, als wir hierher ritten, lagen viele Schlangenjunge auf dem Weg. Ich sprang vom Pferd und trieb sie in ihr Nest, damit die Pferde sie nicht zertreten konnten.« Als die Schlange das hörte, dachte sie: ›Dieser Mann hat Gutes getan, und was haben mir meine Jungen erzählt!‹ Sie kroch zu ihrem Nest und schlug ihre Jungen zur Strafe. 200
Am Morgen führte der Mann die Pferde zur Tränke. Am Wasser stieß er auf die Schlange. Vor Angst bekam er fast einen Herzschlag. Die Schlange sprach: »Steck die Zunge heraus, ich will dich küssen!« Der Mann erschrak noch mehr. Das Herz versagte ihm beinahe. Er blickte dem Tod ins Auge. »Steck die Zunge heraus und fürchte dich nicht. Ich will dir Gutes tun und nichts Böses.« Ängstlich steckte der Mann seine Zunge heraus. Die Schlange küßte ihn auf die Zungenspitze und sagte: »Welches Tier auch sprechen wird, du wirst seine Sprache verstehen. Aber wenn du dein Geheimnis verrätst, wirst du auf der Stelle sterben!« Der Mann kam zu seinen Gastgebern zurück. Sie aßen, ruhten sich aus und setzten sich dann wieder auf ihre Pferde, um zurückzureiten. Die Frau des Mannes war schwanger. Sie saß auf einer trächtigen Stute, und ihnen folgte ein größeres Fohlen. Das Fohlen blieb zurück, und der Mann hörte, wie es sagte: »Warte auf mich, Mutter!« Die Stute rief ihm zu: »Schämst du dich nicht? Ich laufe mit vier Seelen, und du eine Seele, noch dazu so jung, sagst mir, ich soll warten!« Als der Mann den Wortwechsel hörte, mußte er lachen. Er verstand, wovon die Stute redete: die Frau war schwanger, und das Pferd trächtig. Die Frau fragte: »Warum hast du gelacht?« »Ich mußte einfach lachen!« antwortete er. »Nein, du mußt mir sagen, warum du gelacht hast!« »Ich habe einfach lachen müssen, was gibt es da zu erzählen! Reiten wir weiter!« sagte der Mann.
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»Nein, du mußt mir sofort sagen, warum du gelacht hast, sonst komme ich nicht weiter mit!« drohte die Frau, sprang vom Pferd und stellte sich widerspenstig. »Komm, Frau, zu Hause will ich es dir sagen. Wenn ich es dir hier sage, werde ich sterben, und es ist besser, wenn ich zu Hause sterbe!« meinte der Mann. Sie ritten weiter und kamen nach Hause. Ohne sich erst auszuziehen, bestürmte die Frau ihren Mann: »Jetzt sag mir schnell, warum du gelacht hast!« »Geh morgen zur Messe, dann will ich es dir sagen!« Am nächsten Tag ging die Frau früh zur Kirche, um die Messe zu hören. Aber sie war überhaupt nicht bei der Sache. Sie dachte nur daran, schnell zu erfahren, worüber ihr Mann gelacht hatte. Als die Frau aus dem Haus gegangen war, setzte sich der Mann ans Feuer und überlegte: ›Wenn ich das Geheimnis verrate, muß ich sterben.‹ Auf seinen Knien saß die Katze. Plötzlich kam der Hahn herein, hackte und schlug auf die Katze ein: »Steh auf, du Elende und lauf umher, statt dir am Feuer die Augen zu entzünden! Geh und fang wenigstens eine Maus!« Die Katze sagte: »Ach, du stolzt zwar umher, aber den Schmerz in meinem Herzen siehst du nicht.« »Was bedrückt dich denn?« »Gleich wird die Frau kommen und dem Mann ein Geheimnis abverlangen. Er wird es ihr sagen und sterben. Ich habe Angst, daß diese böse Frau mich dann aus dem Haus jagen wird!« »Der Blitz soll euch treffen, dich und den Mann!« sagte der Hahn. »Was ist das für ein Mann! Ich habe hundert Frauen, und keine wagt mir zu widersprechen. Kann er etwa nicht den Stock nehmen und ihr Verstand beibringen?« 202
Jetzt besann sich der Mann und streute dem Hahn Weizenkörner hin. Als seine Frau nach Hause kam, hielt er den Stock bereit, sie hatte ihr Tuch noch nicht abgelegt, da drängte sie ihn schon: »Schnell, sag mir jetzt, warum du gelacht hast!« »Zieh erst das neue Kleid aus und ein altes an, dann sage ich es dir!« Kaum hatte die Frau das neue Kleid abgelegt, da packte sie der Mann und prügelte sie mit dem Stock: »Was weiß ich, warum ich gelacht habe!« Als er sie tüchtig durchgehauen hatte, ließ er sie los. Die Frau konnte kaum noch atmen, alles tat ihr weh. Als die Schmerzen ein wenig nachließen, sagte sie: »Warum hatte ich mir das nur in den Kopf gesetzt, was wollte ich von meinem armen Mann. Soll er doch lachen, soviel er will!«
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Der König und der Diener Es war einmal ein König, der liebte das Trinken und Vergnügen über alles. Dieser König hatte einen Diener, der dieses Verhalten tadelte und ihm oft Vorwürfe machte: »Dem König ist das ganze Land anvertraut, er darf nicht nur an sich selbst denken, sondern muß für das Wohl des Volkes sorgen.« Der König gab sein Treiben jedoch nicht auf, sondern versuchte den lästigen Diener loszuwerden. Einmal rief der König seinen Diener zu sich und sprach: »Ich will dir drei Aufgaben stellen und gebe dir für die Beantwortung drei Tage Zeit. Wenn du in diesen drei Tagen die Lösung nicht findest, schlage ich dir den Kopf ab!« »Sprecht!« erwiderte der Diener. Der König begann: »Trink das ganze Meer aus! Finde heraus, wie groß der Abstand zwischen Himmel und Erde ist, und sage mir, was ich denke!« Betrübt ging der Diener davon. Er wußte nicht, was er tun sollte. In drei Tagen erwartete ihn der Tod. Unterwegs traf er einen alten Mann. »Guten Tag, warum bist du so betrübt und nachdenklich?« fragte der Alte. »Wie sollte ich nicht nachdenklich sein, muß ich doch heute oder morgen sterben«, antwortete der Diener und erzählte dem Greis, was ihn bewegte. »Hab keine Angst, ich rette dich aus dieser Not. Du mußt dem König nur einen Sack Bindfaden abverlangen. Das andere besorge ich mit meiner Erfahrung«, meinte der alte Mann. 204
Der Diener freute sich sehr und bat den König um einen Sack Bindfaden. Dieser gab ihm das Verlangte. Der Greis zog die Kleider des Dieners an, lud sich den Sack mit dem Bindfaden auf den Rücken und begab sich zum König. »Nun, hast du meine Aufgaben gelöst?« fragte der König sogleich, als der Alte eingetreten war, denn er hielt ihn für seinen Diener. »Ja, mein Lieber, ich habe sie gelöst!« »Hast du das Meer ausgetrunken?« »Ich werde es austrinken, Herr, wenn Ihr alle Flüsse aufhaltet, die hineinfließen.« Der König blickte ihn erstaunt an. »Weißt du, wie groß der Abstand zwischen Himmel und Erde ist?« »Ich habe es herausgefunden, Herr, und habe als Maß diesen Bindfaden mitgebracht. Wenn Ihr mir nicht glaubt, könnt Ihr selbst nachmessen und Euch überzeugen, daß ich recht habe«, gab ihm der Alte zur Antwort. »Gut, nehmen wir an, daß es so ist. Jetzt sage mir, was ich denke!« »Ihr denkt jetzt, Herr, daß Euer Diener vor Euch steht, aber Ihr irrt Euch.« Bei diesen Worten legte der Greis die Kleider des Dieners ab. Da begriff der König, daß er hereingefallen war. Er schämte sich, wurde ganz rot und schloß den Diener wieder in sein Herz.
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Der geizige Kaufmann Es war einmal ein geiziger Kaufmann, der hatte viel Geld, aber er gönnte seiner Familie und sich selbst nichts. Er kaufte nichts anderes als Innereien. Eines Tages konnte er auf dem Markt keine Innereien bekommen. Was hätte er für zwei Schauri auch anderes kaufen können? Er machte sich also auf und ging zu einem anderen Markt. Lange war er unterwegs. Einmal überraschte ihn plötzlich die Nacht. Da ging er in ein Haus und bat um Übernachtung. Man gewährte ihm Obdach. In diesem Haus wohnten ein Mann und eine Frau. Sie deckten den Tisch, und der Mann fragte seine Frau: »Wollen wir ihn erst schlagen oder wollen wir erst essen?« »Zuerst wollen wir ihn schlagen, damit wir feiern können«, sagte die Frau. Sie holten einen Toten hervor, der in ein Tuch gehüllt war, schlugen ihn erbarmungslos, wickelten ihn wieder in das Tuch und warfen ihn in eine Ecke. Dann setzten sie sich und ließen es sich schmecken. Der Geizige fragte: »Wer ist der tote Mann, und warum schlagt ihr ihn?« Die Frau antwortete: »Das war mein Mann. Er war Großkaufmann und hatte so viel Geld, daß es der ganzen Stadt gereicht hätte, aber er aß nichts anderes als Innereien. Als er endlich gestorben war, habe ich diesen Mann geheiratet. Jener hat mir nichts gegönnt, bei diesem hier lebe ich froh und lasse es jenen entgelten.« 206
Der Geizige hörte sich das an. Am anderen Morgen stand er zeitig auf, verabschiedete sich, lief auf den Markt, kaufte einen Truthahn, Bratenfleisch, Weißbrot und Wein, lud es einem Träger auf und ließ es nach Hause bringen. Seine Frau wunderte sich so sehr, daß sie sich fragte, ob ihr Mann nicht verrückt geworden sei. Sie fragte ihn: »Mann, was hast du da zusammengekauft, was hast du gesehen?« »Ich habe deinen zweiten Mann gesehen und meine Frau, die mich schlägt«, gab der Mann ihr zur Antwort.
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Für einen Abasi Eier Es war einmal ein Großkaufmann. Eines Tages reiste er, wie er es oft tat, in ein fremdes Land, trieb dort Handel, lud das Erworbene auf seine Maultiere und Kamele und zog wieder heimwärts. Unterwegs kam er an ein Dorf. Er ging aber nicht in das Dorf hinein, sondern lud den Tieren am Rand des Dorfes auf einer Wiese die Lasten ab und schlug das Lager auf. Am Abend schickte der Kaufmann einen Jungen ins Dorf, um Lebensmittel zu kaufen. Der Junge konnte aber nichts bekommen. Als er schließlich umkehrte, traf er eine Frau, die unterwegs war, gekochte Eier zu verkaufen. Der Junge nahm der Frau für einen Abasi Eier ab und versprach: »Morgen komme ich hier vorbei und bringe dir das Geld.« Der Kaufmann und seine Begleiter aßen die Eier zum Abendbrot und legten sich schlafen. Am nächsten Tag beluden sie ihre Maultiere und Kamele und brachen auf. Als sie eine Tagesstrecke weit gezogen waren, fiel dem Kaufmann ein, daß er der armen Frau den versprochenen Abasi für die Eier nicht bezahlt hatte. Da war er sehr betrübt, aber was sollte er tun? Er überlegte und überlegte und sagte sich: ›Diesen Abasi, der der Frau gehört, will ich nicht zu meinem Geld legen. Ich will mit ihm gesondert handeln und ihn so mehren.‹ 208
So geschah es auch. Als fünf Jahre vergangen waren, hatte der Kaufmann den einen Abasi derart vermehrt, daß es achtzig Tumani geworden waren. Im sechsten Jahr mußte der Kaufmann wieder in jenes Land ziehen, wo er vor fünf Jahren gewesen war. Als er an das Dorf kam, in dem er von der Frau für einen Abasi Eier gekauft hatte, lud er seinen Maultieren und Kamelen die Lasten ab und schlug am Dorfrand sein Lager auf. Dann sagte er zu den Dienern: »Geht und sucht die Frau und sagt ihr: ›Der Kaufmann läßt dich rufen, er hat eine wichtige Sache mit dir zu bereden.‹« Sofort liefen sie ins Dorf. Nach langem Fragen fanden sie die Frau und richteten ihr die Worte des Kaufmanns aus. Die Frau machte sich sogleich auf und folgte ihnen zum Kaufmann. Der Kaufmann sprach: »Mutter, vor fünf Jahren war ich hier und habe von dir für einen Abasi Eier gekauft, aber vergessen, sie dir zu bezahlen. Diesen Abasi habe ich seither für dich vermehrt, mittlerweile sind es achtzig Tumani geworden. Diese achtzig Tumani will ich dir jetzt geben.« Darauf antwortete die arme Frau: »Hab ich dich gesucht und gefunden! So kommst du mir nicht davon! Hätte ich meine Eier einer Glucke untergelegt und hätte sie diese ausgebrütet, wären Kücken ausgeschlüpft. Diese wären aufgewachsen, hätten wieder Eier gelegt und Kücken ausgebrütet. So hätte ich in fünf Jahren dreihundert Tumani Gewinn gehabt. Gib mir die dreihundert Tumani freiwillig, sonst klage ich sie übers Gericht ein.«
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Das hatte der Kaufmann nicht erwartet. Er war sprachlos und dachte nur: ›So hat sich meine Güte in Undank verwandelt.‹ Die Frau ging zum Gericht und verklagte den Kaufmann auf dreihundert Tumani. Der Kaufmann wurde bestellt, und der Richter sagte zu ihm: »Du hast von dieser Frau vor fünf Jahren für einen Abasi Eier bekommen, ohne dafür zu zahlen. In fünf Jahren hätte sie mit diesen Eiern dreihundert Tumani hinzugewonnen. Du mußt dieser Frau dreihundert Tumani zahlen.« Da war der Kaufmann sehr betrübt und bat um drei Stunden Bedenkzeit, um sich zu beraten. Der Richter gewährte ihm diese drei Stunden. Da ging der Kaufmann hinaus und sah einen kleinen Jungen. Den hielt er an und sagte zu ihm: »Junge, ich muß dich etwas fragen.« »Frag nur, Onkel«, antwortete der Junge. Der Kaufmann begann: »Die Sache verhält sich so, mein Junge: Vor fünf Jahren habe ich von einer Frau für einen Abasi Eier gekauft, aber vergessen zu bezahlen. Diesen einen Abasi habe ich gewinnbringend angelegt, mittlerweile sind achtzig Tumani daraus geworden. Ich gebe sie der Frau, aber sie ist damit nicht zufrieden. Sie sagt: ›Meine Eier hätten mir bis jetzt dreihundert Tumani eingebracht, und du mußt mir dreihundert Tumani geben.‹ Deshalb hat sie mich beim Gericht verklagt, und der Richter hat ihrer Meinung entsprechend entschieden. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.« »Onkel, hat dir die Frau gekochte Eier verkauft oder ungekochte?« fragte der kleine Junge. »Gekochte«, antwortete der Kaufmann. 210
»Dann geh doch, Onkel, kauf für einen Abasi gekochte Eier, lege sie auf einen Teller und stelle sie vor den Richter hin. Wenn der Richter dich fragt, was das sei, dann sage ihm: ›Laßt aus diesen Eiern Kücken ausbrüten, und ich will der Frau statt dreihundert Tumani sechshundert geben‹«, riet der kleine Junge dem Kaufmann. Dem Kaufmann gefiel der Rat des Jungen, rasch kaufte er für einen Abasi gekochte Eier, legte sie auf einen Teller und stellte sie vor den Richter. »Wozu bringst du diese Eier?« fragte der Richter den Kaufmann. »Bitte, Herr Richter, laßt aus diesen Eiern Kücken ausbrüten, dann will ich meiner Klägerin statt dreihundert Tumani sechshundert geben«, antwortete der Kaufmann. »Sind die Eier gekocht oder roh?« fragte der Richter. »Gekocht«, antwortete der Kaufmann. »Wie soll man denn aus gekochten Eiern Kücken ausbrüten?« wunderte sich der Richter. »Ja, wofür wollt ihr mich dann die dreihundert Tumani zahlen lassen?« erwiderte der Kaufmann. »Wie denn«, fragte der Richter, »hast du von der Frau gekochte Eier gekauft oder rohe?« »Fragt die Frau selbst, sie soll es sagen«, antwortete der Kaufmann. Der Richter befragte die Frau: »Hast du dem Kaufmann gekochte Eier verkauft oder rohe?« „Gekochte«, sagte die Frau. Da entschied der Richter: »Der Kaufmann soll für einen Abasi gekochte Eier kaufen und sie der Frau geben.«
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So erhielt der Kaufmann durch den Rat des kleinen Jungen recht. Die Frau erhielt weder die achtzig Tumani noch überhaupt etwas. Wer zuviel will, wird auch das wenige verlieren.
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Rätselmärchen Die Pappel aus der Schlangenhaut Ein Großkaufmann hatte stets einen Arbeiter für ein ganzes Jahr angestellt. Er bezahlte ihm drei Tumani im Jahr. Eines schönen Tages verdingte sich ein armer Bauer bei ihm. Nach einem Jahr legte der Großkaufmann ihm drei Tumani hin und sagte: »Willst du diese drei Tumani oder drei Worte?« Der Bauer dachte: ›Ich bin ohnehin so bettelarm, daß mich drei Tumani nicht reich machen können. Ich verzichte auf das Geld und lasse mir drei Worte sagen.‹ Der Großkaufmann steckte die drei Tumani sofort in seine Tasche und sagte ihm: »Erstens – wenn du von hier fortgehst, nimm das, was deinen Augen gefällt, auch wenn es nur ein gewöhnlicher Kiesel ist, und trag es nach Hause. Zweitens – was du nicht erreichen kannst, danach sollst du nicht trachten. Drittens – sage das, was dir dein Herz rät, niemandem, nicht einmal deiner Frau!« Der Bauer stand auf und ging. ›Ach, ihr drei Tumani, wozu brauchte ich diese drei Worte. Mit drei Tumani hätte ich meiner armen Frau und den Kindern ein wenig helfen können‹, dachte er traurig. Gedankenvoll ging er seines Wegs. Eine Schlange hatte ihre bunte Haut abgeworfen, diese lag auf dem Weg. Sie gefiel ihm. Er erinnerte sich an das Wort des Großkaufmanns, nahm sie auf, faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. Als 213
er auf den Hof kam, wollte er die Schlangenhaut wegwerfen, aber er fürchtete, sie könne jemandem Schaden bringen, und legte sie unter einen großen Stein. Er ging ins Haus, legte sich hin und wollte schlafen. Die Frau fragte ihn: »Was hast du verdient?« »Warte, bis es Morgen wird, dann sage ich es dir!« Ein friedlicher Morgen brach an. Die Frau trat aus dem Haus und sah, daß über Nacht im Hof eine riesige Pappel gewachsen war. Ihr Wipfel ragte in den Himmel. Die Frau lief ins Haus und fragte den Mann: »Hast du etwa diese Pappel mitgebracht? Gestern war sie noch nicht da, woher ist sie gekommen?« Als sich der Bauer selbst überzeugt hatte, sagte er sich, einen Tumani habe er schon wieder eingenommen. Nun begann man im Dorf darüber zu reden, woher diese Pappel so plötzlich gekommen sei und wie sie so schnell wachsen konnte! Der Bauer sagte zu den Leuten: »Wenn ihr es unbedingt wissen wollt, ich weiß, woraus diese Pappel gewachsen ist. Schließen wir eine Wette ab. Wenn es jemand herausfindet, schlagt mir den Kopf ab, wenn nicht, dann bezahlt die Wette!« Tagein, tagaus gewann der Mann seine Wette. Immer neue Wettspieler stellten sich ein. Eines Tages kam ein Kaufmann ins Dorf. Als er die Leute versammelt sah, fragte er: »Weshalb ist das Volk zusammengekommen?« »Diese Pappel ist in einer einzigen Nacht emporgewachsen. Der Besitzer weiß, woraus sie gewachsen ist. Er hat mit uns gewettet, und da wir die richtige Lösung nicht finden, gewinnt er ständig die Wette«, erhielt der Kaufmann zur Antwort.
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Der sagte sich: ›Das kann ich nur von seiner Frau in Erfahrung bringen. Der Mann wird es mir nicht erzählen.‹ Eines Morgens kam er zeitig vorbei. Noch niemand war zu dem Bauernhof gekommen. Er nahm zehn Meter Kattun und warf sie vor die Tür. Am nächsten Morgen warf er zehn Meter Seidenstoff und am dritten Morgen Kleiderstoff in den Hof. Jetzt rief ihn die Frau: »Komm hierher, warum wirfst du die Stoffe weg, was führst du im Schild?« »Viele Jahre schon liebe ich dich, offen wage ich es dir nicht zu zeigen, daher möchte ich dir so von fern etwas zukommen lassen!« antwortete der Kaufmann. Die Frau dachte: ›Wenn dieser Kaufmann mich liebt, dann will ich ihn auch lieben!‹ Sie willigte in seine Liebe ein; und der Kaufmann begann sie zu besuchen. Es vergingen Tage, ein Monat, ein Jahr. Eines Tages fragte er die Frau: »Weißt du eigentlich, woraus dieser Baum gewachsen ist?« »Ich weiß es nicht und habe auch nicht danach gefragt.« »Frag doch heute abend deinen Mann und bring die Wahrheit in Erfahrung!« Als der Mann am Abend kam, fragte die Frau: »Wie schön wäre es, wenn auch ich wüßte, woraus dieser Baum gewachsen ist. Sagst du es mir?« »Wozu willst du es wissen?« »Wieso denn nicht? Heute habe ich einen hohen Betrag verloren. Du warst nicht zu Hause, und die Wettlustigen sind wieder gegangen. Wüßte ich es, hätte ich die Wette gewonnen!« »Das ist nicht schlimm. Was ich gewinne, genügt!« entgegnete der Mann. 215
Die Frau ließ nicht locker. Tag und Nacht setzte sie ihm zu, bis er nachgab. »Gut, morgen will ich es dir sagen«, willigte er wütend ein, »aber niemand darf es erfahren!« Am nächsten Tag verständigte die Frau den Kaufmann: »Leg dich hinter die Tür und höre mit an, was mir mein Mann sagen wird.‹ Der Kaufmann schlich sich nachts an die Tür und belauschte das Gespräch der beiden. Es war Mitternacht, und der Mann erzählte leise: »Niemand darf es erfahren, diese Pappel ist aus einer Schlangenhaut gewachsen!« »Was, aus einer Schlangenhaut?« rief die Frau laut, damit der Kaufmann, der an der Tür lauschte, es verstehen konnte. Der Kaufmann hatte alles gehört, er begab sich heim und legte sich vergnügt schlafen. Am Morgen machte er sich mit Maultieren und Kamelen zum Hof des Bauern auf. »Schließen wir eine Wette ab, komm heraus!« rief er den Bauern. »Ich weiß, woraus dieser Baum gewachsen ist. Wenn ich es herausfinde, will ich meine Hand auf drei Dinge in deiner Familie legen, und du mußt sie mir geben. Kann ich es nicht herausfinden, kannst du in meinem Haus auf drei Dinge deine Hand legen!« Sie schlossen die Wette ab, und der Kaufmann sagte: »Diese Pappel ist aus einer Schlangenhaut gewachsen!« »Das stimmt. Sie ist wirklich aus einer Schlangenhaut gewachsen!« antwortete der Bauer verwundert. Man fällte die Pappel und fand die Schlangenhaut. Der Bauer hatte die Wette verloren. Doch er bat den Kaufmann: »Du hast zwar gewonnen, aber gib mir 216
noch einen Tag und eine Nacht Frist, dann kannst du dir, wie es abgemacht war, jene drei Dinge, die du dir wünschst, mitnehmen!« Der Kaufmann ließ ihm diese Zeit. Er selbst feierte seinen Sieg. Der Bauer aber eilte zu dem Großkaufmann. Den wunderte es, daß der Bauer zu ihm kam: »Was fehlt dir, weshalb bist du so betrübt, ist dir etwas zugestoßen?« »Meine Sache steht schlecht, ich habe die Wette verloren, hilf mir.« »Setz dich, erst wollen wir essen und dann überlegen!« meinte der Großkaufmann. Sie setzten sich, aßen und unterhielten sich. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dieses Geheimnis niemandem anvertrauen? Du hast es verraten und deshalb die Wette verloren.« »Was sollte ich tun, die Frau hat mich verleitet. Ich dachte, daß ich ihr vertrauen kann, da sie doch meine Frau ist.« Der Großkaufmann gab ihm ein Chorassanschwert und einen Schleifstein. Auch trug er ihm auf: »Geh und schärfe die ganze Nacht hindurch dieses Schwert. Schärfe es gut und stell dich am Morgen auf die Treppe. Wenn der Kaufmann kommt und die erste Stufe betritt, wird er mit einer Hand ans Geländer fassen. Beim zweiten Schritt wird er die Hand das zweite Mal auflegen und beim dritten Schritt das dritte Mal. Dann halte ihn sofort auf und sage ihm, daß er seine Hand bereits auf drei Dinge gelegt hat. Schneide ihm das Geländer ab und gib es ihm.« Erfreut begab sich der Bauer heim. Die ganze Nacht schliff er das Schwert. Seine Frau verging fast vor Angst: ›Wenn er mir den Kopf abschlagen will, wes217
halb nimmt er sich dazu soviel Zeit!‹ Vor Furcht konnte sie nicht einschlafen. Als der Morgen graute, kam der Kaufmann. »Nun, Freund, ich habe die Wette gewonnen. Bist du bereit?« »Komm herein, ich bin bereit, lege deine Hand auf das, was du wünschst, und nimm es mit!« Er stellte sich auf die fünfte Stufe und erwartete ihn mit seinem Schwert. Der Kaufmann kam emporgestiegen. Als er die erste Stufe betrat, legte er seine Hand aufs Geländer und beim zweiten Schritt ein zweites Mal. Kaum hatte er sie zum dritten Mal aufgelegt, hieb der Bauer das Geländer ab und sagte: »Dreimal hast du deine Hand auf etwas gelegt. Nimm es, es gehört dir!« Die Leute sagten: »Der Mann hat recht, er lügt nicht!« »Nein, Bruder, ich will dein Geländer nicht, mag es hier bleiben. Ich sehe, du hast mich übertroffen«, entgegnete der Kaufmann und ging mit leeren Händen aus. Der Bauer wandte sich um und fiel über seine Frau her: »Nachts habe ich dir das Geheimnis anvertraut, und am Morgen hast du mich bereits verraten. Was für ein Mensch bist du!« Bei seinen Wetten hatte der Mann von einem Herrscher ein Messer mit goldenem Griff gewonnen. Dieser Herrscher war bereits verstorben, sein Sohn regierte jetzt das Reich. Dem neuen Herrscher wurde die Begebenheit hinterbracht: »Dein Vater besaß ein Messer mit goldenem Griff. Ein Bauer hat es ihm bei einer Wette abgewonnen. Du mußt ihn zu dir einladen und das Messer wieder in deinen Besitz bringen.« 218
Der Herrscher lud zahlreiches Volk ein, so auch den Bauern und den Großkaufmann. Allen Gästen wurden gebratene Hühner oder Truthähne vorgesetzt. Der Gastgeber erklärte: »Wir haben keine Messer, um sie zu zerteilen. Zieht eure eigenen Messer hervor, zerlegt das Geflügel und bedient euch.« Alle zogen ihre Messer und begannen die Brathühner zu zerlegen. Der Bauer aber holte sein Messer nicht hervor. Seine Frau setzte ihm zu: »Hol dein Messer heraus, wozu hast du es denn!« Der Großkaufmann bedeutete ihm, nicht so dumm zu sein und es besser nicht hervorzuholen. Doch die Frau gab keine Ruhe. Sie drängte ihn, das Messer zu ziehen. Sobald er aber das Messer ansetzte, um dem Brathuhn Flügel und Beine abzuschneiden, rief der Sohn des Herrschers ihm zu: »Leg es hin, das ist das Messer meines Vaters. Du hast meinen Vater getötet und ihm das Messer abgenommen!« Man nahm den Bauern gefangen und warf ihn ins Gefängnis. Die Leute feierten weiter. Als der Morgen anbrach, sagte der Großkaufmann: ›Einmal will ich ihm noch helfen. Einen Tumani bin ich ihm noch schuldig.‹ Er nahm eine kleine Katze und ging damit zum Gefängnis. Der Gefangene schaute aus dem Fenster und sah die beiden. »Du weißt doch«, sagte der Großkaufmann, als unterhielte er sich mit der Katze, »man wird dich fragen, wer dir das Messer gegeben habe. Steh auf und antworte: ›Es ist wahr, das Messer gehörte deinem Vater. Er hatte Schulden bei meinem Vater, die er nicht beglich. Mein Vater wurde zornig, hat deinen Vater getötet und ihm das Messer abgenommen. Wenn du mich die Schuld meines Vaters begleichen läßt, sollst du wissen, daß auch du nicht 219
wissen, daß auch du nicht verschont bleiben wirst und mein Sohn es dir vergelten wird.‹« Der Gefangene hatte diese Worte verstanden. Am Morgen ließ ihn der Herrscher vorführen und fragte ihn: »Wer hat dir dieses Messer gegeben?« »Es ist wahr, das Messer gehörte deinem Vater. Er hatte Schulden bei meinem Vater, die er nicht beglich. Da hat mein Vater deinen Vater getötet und ihm auch das Messer abgenommen. Wenn du mich die Schuld meines Vaters begleichen läßt, sollst du wissen, daß auch du nicht verschont bleiben wirst und mein Sohn es dir vergelten wird«, antwortete der Bauer. Da sagte sich der Herrscher: ›Das Messer kann ich ihm zwar wegnehmen, aber wie rechtfertige ich seinen Tod?‹ Und er ließ den Bauern frei. Als der Bauer nach Hause kam, verprügelte er seine Frau gehörig, weil sie ihre Zunge nicht im Zaum halten konnte. Seither leben sie einträchtig und sind guter Dinge.
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Pisasos Märchen Es war einmal ein großer Herrscher, der hatte drei Söhne und drei Töchter. Als er im Sterben lag, gab er den Kindern sein Vermächtnis bekannt: »Kinder, mein ganzes Reich soll euch gehören. Verwaltet es, wie ihr wollt. Laßt eure drei Schwestern nicht unglücklich werden, gebt sie dem ersten, der um ihre Hand anhält!« Dem jüngsten Sohn gab er einen Stein und sagte ihm, wenn er in Not sei, werde dieser ihn retten. Auch zeigte er den Kindern einen schwarzen Berg und warnte sie: »Steigt nicht auf jenen Berg dort! Auf dem roten und dem weißen Berg jedoch könnt ihr jagen!« Der Herrscher starb. Man bestattete ihn, wie es einem Herrscher gebührte, und trauerte. Zwei Monate gingen ins Land. Eines Tages ließ sich eine Eule auf dem großen Stein nieder, der vor dem Tor lag. Sodann sandte sie einen Mann zu den Brüdern und erbat eine Schwester zur Frau. Der älteste und der mittlere Bruder griffen zu den Stöcken. »Soll sie sich hinscheren, wo sie herkommt! Wie könnten wir unsere Schwester einer Eule geben!« Der jüngste Bruder aber nahm die älteste Schwester bei der Hand. »Ich kann das Vermächtnis des Vaters nicht brechen«, sagte er und gab sie der Eule. Die Eule nahm das Mädchen auf die Schultern und flog davon. Am nächsten Tag erschien ein Wolf. Die größeren Brüder gaben ihm dieselbe Antwort wie der Eule. Der jüngste Bruder nahm eine Schwester und gab sie ihm. 221
Am dritten Tag kam ein Falke geflogen, und der jüngste Bruder gab ihm die jüngste Schwester. Der Falke setzte sich das Mädchen auf die Schultern und flog in die Wolken hinauf. Als der jüngste Bruder die Schwestern verheiratet hatte, überlegte er: ›Ein Vermächtnis des Vaters habe ich erfüllt. Deshalb will ich nun zum schwarzen Berg ziehen, um mich zu überzeugen, was es dort so Schreckliches gibt.‹ Er legte seine Rüstung an, nahm Waffen, schwang sich auf sein Pferd und ritt auf die Jagd. Den ganzen Tag jagte er auf dem schwarzen Berg, ohne ein Tier oder eine Pflanze zu erblicken. Er konnte kein Wild erlegen. So blieb er auch die Nacht über auf dem Berg. Am zweiten Tag ritt er weiter und erblickte schließlich einen See, in dessen Mitte eine Gans schwamm. Es schien, als habe sie die Beine oder Flügel gebrochen. Der junge Mann dachte: ›Ich habe nichts erlegt, deshalb will ich versuchen, diese Gans zu töten, sonst schnürt mir der Hunger die Kehle zu.‹ Er ritt an den See heran und begann auf sie zu schießen, jedoch traf er sie nicht. Wenn ein Schuß fiel, tauchte die Gans unter und kam bald hier, bald dort wieder zum Vorschein. Der junge Mann schoß so lange, bis ihm Pulver und Blei ausgingen. Schließlich schwang er sich auf sein Pferd und verfolgte sie, aber die Gans schwamm so geschickt, daß nicht einmal der Teufel sie gefangen hätte. Bald schwamm sie vor dem Pferd, bald hinter ihm, bald unter seinen Hufen hindurch, bald weit in der Ferne, bis sie den jungen Mann weit in den See hineingelockt hatte. Plötzlich gingen Pferd und Reiter im See unter. Dem Jüngling gelang es zwar zurückzu222
schwimmen, doch sein Pferd und seine Waffen blieben im Wasser. Erschöpft und hungrig stieg er aus dem See. Soeben brach die Nacht herein. Irgendwo tief im Wald flammte ein Feuer auf, und der junge Mann ging auf das Feuer zu. Er lief und lief und gelangte endlich in ein Eulendorf. Die Eulen pflügten und säten. Er ging auf sie zu und grüßte sie: »Guten Tag, ihr Eulen aus dem Eulenland! Kennt ihr keine Begrüßung? Habt ihr keinen Herrn?« Die Eulen waren Menschen, trugen aber Eulenbälge. »Wir kennen wohl eine Begrüßung und haben auch einen Herrn!« antworteten die Eulen. »Unser Herr hat die Schwester eines neuen Herrschers geheiratet, und alles freut sich!« »Zeigt mir doch, wo das Haus eures Herrn steht!« sagte der junge Mann. Man zeigte ihm ein großes, schönes Haus. Er ging darauf zu und erkannte schon von weitem seine älteste Schwester. Sie begrüßte und umarmte ihn und begann ihn zu küssen. Die beiden setzten sich und tauschten Neuigkeiten aus. Als der Abend herankam, warnte die Schwester ihren Bruder: »Bruder, jetzt mußt du in ein anderes Zimmer gehen. Wenn der Eulenherr kommt, könnte er dich mit seinen Krallen und dem Schnabel verletzen.« Abends kam die Eule. Sie warf das Gefieder ab, und ein schöner Mann kam zum Vorschein. Als er seine Frau begrüßte, meinte er, er spüre den Geruch eines fremden Menschen. »Du bist über die Erde geflogen. Der Geruch der Menschen wird dir noch anhaften, was soll es sonst sein!« sagte die Frau. 223
Dann fragte sie: »Wenn jetzt mein Bruder hier wäre, was würdest du tun?« »Dem ältesten und mittleren Bruder würde ich die Augen aushacken, den jüngsten aber würde ich umarmen und küssen.« »Hier ist mein Bruder«, sagte die Frau und holte ihren Bruder herein. Die Eule umarmte ihren jüngsten Schwager und küßte ihn. Dann fragte sie ihn nach dem Grund seines Kommens. Der junge Mann berichtete, was ihm zugestoßen war. Die Eule erzählte: »Drei Jahre lang habe ich jene Gans verfolgt, es ist ein Mädchen, aber ich habe sie nicht fangen können. Was hättest du da ausrichten können!« »Du meinst, ich kann sie nicht fangen?« fragte der junge Mann. »Ich kann dir nicht helfen«, erklärte die Eule. »Vielleicht kann der Wolf dir nützlich sein.« Der junge Mann ging zum Wolf. Dieser sprach: »Zwei Jahre lang versuchte ich sie einzufangen, aber vergeblich. Vielleicht kann der Falke dir helfen.« So lief der junge Mann zum Falken. Auch der Falke empfing ihn mit großer Freude. Als der Schwager ihm sein Erlebnis mitgeteilt hatte, sagte der Falke: »Diese Gans verfolgst du vergeblich. Sie ist ein wunderschönes Mädchen, das in Gänsegefieder umherschwimmt. Ein ganzes Jahr war ich hinter ihr her, stieg in den Himmel hinauf und rauschte von dort hernieder, doch sobald die Gans auch nur das leiseste Zucken meiner Schulter bemerkte, tauchte sie auf den Grund des Sees hinab. Niemand kann sie fangen. Hier gibt es einen Riesen. Dessen eine Seite ist abgestorben, die an-
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dere gesund. Vielleicht kann er dir etwas über die Gans sagen.« Sogleich eilte der junge Mann zu jenem Riesen. Nach langem Wandern erblickte er schließlich auf einem Hügel einen baumgroßen Mann. Er näherte sich diesem von der abgestorbenen Seite her und sagte: »Guten Tag, Vater!« »Komm hierher«, antwortete der Riese. »Hättest du mich nicht Vater genannt, wäre es dir schlecht ergangen! Was fehlt dir, daß du es wagst, zu mir zu kommen?« Nun erzählte der junge Mann seine Abenteuer. Der Riese entgegnete: »Ich war der Herrscher der Riesen. Acht Frauen hatte ich. Aber weil die Gans ein schönes Mädchen ist, wollte ich auch sie erbeuten. Ihr Haus ist weit von hier entfernt. Nachts kehrt sie vom See nach Hause zurück. Ich ging in ihr Haus und versteckte mich, da ich sie entführen wollte. Sie hat es jedoch erfahren. Da brachte sie Sturm und Hagel über mich, so daß ich floh. Als ich gerade ihre Grenze überschreiten wollte und bereits mit einem Bein auf meinem Land stand, packte mich der Sturm und versteinerte mich zur Hälfte. Wenn jemand als Gast zu ihr geht, dem tut sie nichts an. Aber wer sie zur Frau gewinnen möchte, der muß sie drei Worte sagen lassen. Gelingt ihm das nicht, schlägt sie ihm den Kopf ab. Hätte ich mich doch damals versteinern lassen und nicht den einen Fuß auf meinen Boden gesetzt, dann hätte meine Qual ein Ende!« Der junge Mann bedankte sich und machte sich auf den Weg. Er lief und lief und kam zum Haus des Mädchens. Er ging hinein und legte sich auf ein Sofa in der Hoffnung, 225
sie schon irgendetwas sprechen zu lassen, denn er kannte viele Märchen und Gedichte. Am Abend kam das Mädchen und legte sich dem jungen Mann gegenüber. Sie war so schön, daß er darüber alles vergaß. Die Zeit verstrich, ohne daß der junge Mann etwas sagen konnte. Da dachte er: ›Die Nacht vergeht, und morgen wird man mir den Kopf abschlagen, wenn mir nichts einfällt.‹ Da erinnerte er sich an den Stein, den sein Vater ihm gegeben hatte. ›Wozu habe ich diesen Stein, wenn er mir jetzt nicht helfen kann!‹ Er holte den Stein hervor und sagte zu ihm: »Hilf mir jetzt!« Zu Füßen des Mädchens stand eine Kerze. Der junge Mann legte den Stein neben die Kerze. Nun sprach der Stein zu dieser: »Pisaso, Leuchtkerze, du siehst doch, daß unsere Herrschaften traurig sind. Erzählen wir ihnen ein Märchen und verwandeln sie!« »Was sollen wir denn erzählen?« meinte die Kerze. »Abends hat man mich angezündet. Feuer hängt über meinem Kopf, und bis zum Morgen werde ich zerschmelzen.« »Gut«, entgegnete der Stein, »dann erzähle ich dir etwas.« Und der Stein begann: »Ein Priester, ein Schneider und ein Tischler gingen des Wegs. Im Wald wurden sie von der Nacht überrascht, sie zündeten ein Feuer an und ließen sich nieder. Als sie sich schlafen legen wollten, kamen sie überein, der Reihe nach zu wachen, damit ihnen wilde Tiere nichts antun könnten. Sie losten und die erste Wache fiel an den Tischler. Als nun der Priester und der Schneider schliefen, holte 226
der Tischler, um nicht einzuschlafen, sein Werkzeug hervor, schnitzte eine schöne Frau aus Holz und lehnte sie an einen Baum. Als schließlich die Zeit des Tischlers um war, begann der Schneider seine Wache. Er gewahrte die hölzerne Frau, die an dem Baum lehnte. Um nicht einzuschlafen, nahm er sein Werkzeug hervor und nähte ihr ein schönes Kleid, zog es ihr wie einer Puppe an und lehnte sie abermals an den Baum. Nun kam die Reihe an den Priester, auch er wachte. Als er jene Frau erblickte, die an dem Baum lehnte, dachte er: ,Das könnte der Teufel sein’, und er rief: ›Wer bist du, der Teufel oder ein Mensch?‹ Die Frau antwortete nicht. ›Du Verfluchte, wer bist du?‹ wiederholte der Priester. Die Frau schwieg jedoch. Der Priester war beherzt, ging zu ihr, faßte sie an und wollte sie ins Feuer werfen, da merkte er, daß sie aus Holz war. Sogleich begriff er alles. Er holte das Kreuz und die Heilige Schrift hervor und begann zu beten. Lange betete er, und schließlich wurde die Frau lebendig. Jetzt, Pisaso, Leuchtkerze, sag, wem gehört die Frau?« fragte der Stein, »dem Tischler, dem Schneider oder dem Priester?« »Wie soll ich das wissen, über meinem Kopf hängt Feuer, bis zum Morgen werde ich aufgebraucht sein«, erwiderte die Kerze. »Was kümmert es mich!« Da richtete sich das Mädchen auf und sagte zornig zur Kerze: »Du benimmst dich so, als wärest du noch nicht bei mir gewesen! Natürlich dem, der das Werk begonnen hat. Hätte der Tischler nicht angefangen, 227
hätte der Schneider ihr nichts anziehen und der Priester sie nicht zum Leben erwecken können…« »Das war das erste Wort«, sagte der junge Mann. »Pisaso, Leuchtkerze, jetzt bist du an der Reihe!« sagte der Stein zur Kerze. »Was interessieren mich Märchen?« entgegnete die Kerze. »Über meinem Kopf hängt Feuer, bis zum Morgen werde ich vergehen!« »Gut, dann erzähle ich noch ein Märchen«, sagte der Stein und begann: »Drei Männer gingen des Wegs: Ein Schnelläufer, ein Hellseher und ein Arzt. Den Schnelläufer drängte es, schnell zu laufen, und er sagte zu dem Hellseher: ›Wirf doch einen Blick in die Weltschale, vielleicht ist jemand krank, dann kann der Arzt ein Heilmittel zubereiten, ich laufe damit hin, und wir heilen ihn.‹ Der Hellseher schaute in die Schale und sagte: ›In einem Land liegt das Kind des Königs im Sterben, das können wir heilen!‹ Der Arzt bereitete sofort ein Heilmittel zu, der Schnelläufer löste die Mühlsteine von seinen Füßen und eilte zu jenem König. Er brachte ihm das Heilmittel und heilte das Königskind. Jetzt sage du mir, Pisaso, wer das Königskind geheilt hat!« »Was weiß ich«, gab Pisaso zur Antwort, »Du siehst doch, ich habe meinen eigenen Kummer, ich verbrenne!« »Du Verwunschene, sag, derjenige, der die Arznei überbracht hat«, rief das Mädchen zornig der Kerze zu. »Das war das zweite Wort«, sagte der junge Mann. »Jetzt erzähle du, Pisaso«, wandte sich der Stein an die Kerze. »Immer rede nur ich, und du sagst nichts.«
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»Mir ist nicht nach Reden«, erwiderte die Kerze, »über meinem Kopf hängt Feuer, bis zum Morgen werde ich zerschmelzen.« »Dann ist es nicht meine Schuld, wenn ich noch ein weiteres Märchen erzähle«, entgegnete der Stein. Und er begann: »Ein Mann ging, begleitet von seiner Frau und seinem Schwager, des Wegs. Unterwegs lauerten ihnen Räuber auf, raubten sie aus, schlugen den Männern die Köpfe ab und warfen diese weg. Die Frau weinte zuerst um den Mann, dann um den Bruder. Gott erhörte ihr Schluchzen und entsandte zwei Engel: ›Geht hin und helft ihr!‹ Die Engel kamen geflogen, ließen sich wie Tauben auf einen Baum in der Nähe der Toten nieder, warfen einen Zweig hinab und sprachen: ›Wenn die Frau uns hören könnte und mit diesem Zweig die Toten berührte, würden sie wieder lebendig werden!‹ Die Frau nahm diesen Zweig und bestrich damit die Toten. Die Toten erwachten, aber unglücklicherweise trug der Bruder den Kopf ihres Mannes und ihr Mann den des Bruders. Jetzt sag du mir, Pisaso, wem soll die Frau angehören?« »Was geht mich das an«, antwortete Pisaso. »Du siehst doch, daß ich am Ende bin, das Feuer legt sich auf meinen Kopf, und mir vergehen die Sinne!« »Ach, du Verwunschene«, sagte das Mädchen und stand auf. »Bist du denn nicht in meiner Hand, daß du nichts antworten kannst? Sag ihm, sie wird dessen Frau sein, auf dessen Körper der Kopf ihres Mannes sitzt.«
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»Das war das dritte Wort«, rief der junge Mann. »Du wirst meine Frau!« Und er umarmte das Mädchen. Sie feierten Hochzeit, und das Märchen ist aus.
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Der blaue Fisch Es war einmal ein König, der anderen Königen in vielem überlegen war. Diesem König begannen die Augen zu schmerzen, und er erblindete. Zwar lud er alle Ärzte an seinen Hof ein, aber sie vermochten ihm nicht zu helfen. Endlich kam eine alte Wahrsagerin und gab ihm den Rat: »In Eurem Fluß lebt ein blauer Fisch. Den laßt von Euren Fischern fangen und legt ihn im Morgengrauen auf Eure Augen.« Da gab der König Befehl, diesen Fisch zu fangen. Die Fischer zogen aus, um den Befehl auszuführen. Zwei Tage lang mühten sie sich, und am dritten Tag gelang es ihnen, jenen Fisch zu fangen. Mit großer Freude brachten sie ihn dem König. Der steckte den Fisch in ein Glas, denn es war noch zu zeitig, ihn auf die Augen zu legen. Der König hatte einen fünfzehnjährigen Sohn, und als dieser sah, daß der Fisch sich in dem Glas quälte, nahm er ihn heraus und setzte ihn im Bach wieder aus. Der Fisch bewegte die Flossen und folgte dem Lauf des Baches. Als es tagte und der König den Fisch verlangte, war dieser nicht mehr da. Da rief er seinen Sohn und sprach: »Hol mir diesen Fisch her oder tritt mir nicht wieder unter die Augen!« Der Junge brach auf und lief und lief, bis er an eine Stelle kam, wo die Wege sich teilten. Dort fand er einen Jungen seines Alters. Der Königssohn grüßte ihn, sie fragten einander nach ihrer Herkunft, und es stellte sich heraus, daß beide den gleichen Weg gekommen waren. Da nahmen sie ihre Reisebündel und setzten 231
ihren Weg gemeinsam fort. Sie wußten selbst nicht, wohin sie gingen. Nach langem Wandern gelangten sie in eine Stadt, wo sie zuerst eine alte Frau trafen. Diese baten sie eindringlich, ihnen Obdach zu gewähren, und die Alte nahm sie wie ihre eigenen Kinder auf. Die Frau hatte eine Tochter, zu der verhielten sich die Burschen wie zu einer Schwester. Eines Abends kam die Alte nach Hause und sagte zu den Burschen: »Ich habe einen Tschonguri gekauft, aber könnt ihr auch spielen?« Der Königssohn erwies sich als ein Meister des Tschongurispiels. Jeden Abend verdiente er so viel Geld mit seiner Kunst, daß sie Geld im Überfluß hatten. Eines Abends rief nun die alte Frau die beiden jungen Männer zu sich und sprach: »Kinder, es ist an der Zeit, daß ihr heiratet. Hier lebt ein Mädchen, sie ist die Tochter eines Königs. Sie stellt jedem Freier eine Frage, und wenn er antworten kann, heiratet sie ihn, wenn nicht, schlägt sie ihm den Kopf ab. Gibt es etwas, das ihr nicht herausfinden könntet?« Am nächsten Tag ging der Königssohn zu diesem Mädchen. Sie sprach zu ihm: »Ich will dir ein Rätsel aufgeben, und wenn du es errätst, kannst du mich heiraten, wenn nicht, schlage ich dir den Kopf ab. Ich lasse dir drei Tage Zeit.« Nach diesen Worten fragte sie: »Was waren Sulambara und Gulambara für einander?« Da ging der Königssohn nach Hause und erzählte seinem Gefährten und der alten Frau, was ihn die Königstochter gefragt hatte. Die alte Frau zeigte ihm das Haus einer Frau und sagte: »Steig dort auf den Balkon hinauf, ohne daß die Frau dir zuvorkommt!« Der Gefährte ließ den Königssohn nicht gehen, sondern ging selbst hin. Er ging so vor, wie die Alte geraten hatte. 232
Von der Frau erfuhr er, daß auf einer riesigen Ebene ein Haus stand, in dem ein Kaufmann lebte. Er sollte dorthin gehen, wo der Kaufmann war, und diesen bitten, ihn als Tagelöhner einzustellen. In der darauffolgenden Nacht sollte er nicht im Laden bleiben, sondern dem Kaufmann folgen. Folgte er dem Kaufmann, würde er alles erfahren, würde jedoch nicht lebend davonkommen. Deshalb sollte er dreimal pfeifen, dann wollte die Frau ihm helfen. Da brach der Bursche auf, ging zu jenem Kaufmann und fragte: »Brauchst du nicht einen Tagelöhner?« Der Kaufmann stellte ihn ein, und als er am Abend nach Hause gehen wollte, sagte der Bursche, er wolle ihn begleiten. Der Kaufmann wollte ihm dies ausreden, aber der andere bestand darauf. Da erklärte der Kaufmann: »Ich nehme dich mit, aber du kannst von dort nicht lebend zurückkehren.« Der Bursche war einverstanden und folgte ihm. Kaum war er eingetreten, sah er ein Schwert und eine Peitsche hängen. Nach dem Abendbrot stellte der Kaufmann einen Stuhl in die Mitte, nahm das Schwert und die Peitsche und legte sie daneben. Nun kroch er unters Sofa und holte zwei Menschenschädel hervor. Er nahm den einen, legte ihn auf den Stuhl und begann ihn zu herzen und zu küssen, und dabei weinte er. Doch dann griff er zur Peitsche, schlug mit aller Kraft auf den Schädel ein und stieß ihn wieder unter das Sofa. Jetzt nahm er den zweiten Schädel, bearbeitete ihn gleichfalls mit der Peitsche und warf ihn ebenfalls unter das Sofa. Verwundert sah der Bursche zu und fragte, was das bedeuten solle. Da erzählte der Kaufmann, der erste Schädel, den er genommen habe, sei der seiner Frau Sulambara, der 233
andere der seines Angestellten Gulambara. Beide hatten sich ineinander verliebt, der Kaufmann hatte davon erfahren und beide getötet. Diese Geschichte kannten nur er und die Königstochter. Nun weinte der Kaufmann, er müsse auch den Burschen töten, aber dieser bat: »Laß mich ein letztes Mal im Freien beten.« Der Kaufmann gewährte ihm die Bitte, und der Bursche ging hinaus. Dreimal pfiff er, zuerst leise und dann lauter. Plötzlich erschien jene Frau neben ihm, die ihm den Weg gezeigt hatte. Sie lud ihn sich auf den Rücken und verschwand in der Finsternis. Der Morgen des dritten Tages graute bereits, als sie nach Hause kamen. Der Bursche berichtete, was er gehört und gesehen hatte, und schickte den Königssohn zu dem Mädchen. Der erzählte nun der Königstochter die Geschichte von Sulambara und Gulambara und heiratete sie. Alle drei machten sie sich auf den Weg und kamen schließlich an jenen Ort, wo sich die beiden Burschen zum ersten Mal begegnet waren. Da sprach der Gefährte zum Königssohn: »An deinem Erfolg habe auch ich einen Anteil, laß uns alles teilen.« Als sie zu teilen begannen, verwandelte sich der Bursche plötzlich in einen blauen Fisch, schwamm durchs Wasser, und als er wieder herauskam, sprach er zum Königssohn: »Ich bin der Fisch, den du damals in den Bach gelassen hast.« Sie bauten sich ein Haus und lebten darin glücklich und zufrieden.
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Elf Brüder Vor einigen hundert Jahren lebte ein König, der war sehr hartherzig und stolz. Niemandem schenkte er Gnade, sein ganzes Volk lebte in Not und Pein, nur jene nicht, die Tag und Nacht sein Lob sangen. Weil das Volk bei diesem König wie in der Hölle lebte, gab man ihm den Beinamen Dshodshocheta. In seinem Reich lebte ein armer Mann, der hatte elf Söhne und eine Tochter. Der Arme führte mit seinen Kindern jede Anordnung des Königs aus. Als Dshodshocheta ihm aber zehn Söhne auf einmal abforderte, weigerte sich der Mann. Dshodshocheta wollte nämlich seine Tochter verheiraten und dem Schwiegersohn auserwählte Männer als Mitgift mitgeben, darunter die zehn Söhne des Armen. Als Dshodshocheta von der Weigerung des Armen erfuhr, geriet er in Zorn und schickte seine Wesire aus, um es dem Mann heimzuzahlen. Doch der Arme war ein kluger Mann und wußte, daß der König ihm seine Weigerung vergelten würde. Deshalb suchte er mit seinen Kindern im unzugänglichen Wald Zuflucht und baute sich dort eine Feste. Der König verfolgte die Flüchtigen mit seinen Wesiren und Soldaten, aber da sie ihren Zufluchtsort rechtzeitig befestigt hatten und die Söhne gute Krieger waren, konnte ihnen das Heer des Königs nicht beikommen und kehrte schließlich zurück. So entstand eine Feindschaft zwischen dem König und dem armen Mann. Der Arme zog des öfteren mit seinen Söhnen aus, überfiel die Schatzkammern des Königs und schleppte weg, was er fand: Geld, Kleidung, Waffen 235
und andere Sachen. Stets kehrten sie unversehrt zu ihrem Zufluchtsort zurück. Im Verlaufe mehrerer Jahre erbeutete der arme Mann mit seinen Söhnen so viel Geld und Kleidung, daß der König verarmte. Die überflüssigen Dinge schenkte der Mann den Armen, den Reichen aber setzte er zu, wo er nur konnte. Die Jahre vergingen, den König Dshodshocheta bedrückte großer Kummer. Schließlich erfand er eine List. Er schickte seinen treuen Wesir zu dem Mann und bat ihn, in sein altes Haus zurückzukehren, er wolle ihn vom heutigen Tag an nicht mehr befehden. Außerdem wolle er, wenn es ihm erlaubt sei, die Tochter des Mannes mit seinem Sohn verheiraten. Die meisten Söhne waren mit dem Friedensangebot des Königs einverstanden. Nur der jüngste Bruder, Dshichwa, riet ab. »Er wird uns sicher betrügen«, warnte Dshichwa. »Er wird unsere Schwester nicht mit seinem Sohn verheiraten, wir bringen sie nur grundlos in Schande. Auch wir haben von ihm nichts Gutes zu erwarten. Der König will sich bestimmt an uns rächen.« Der Vater war der gleichen Ansicht wie der jüngste Sohn, doch die älteren Söhne machten ihm Vorwürfe: »Wie lange sollen wir noch so weltabgeschieden in diesem Wald hausen? Wir haben weder Frauen noch Kinder und kennen kein menschenwürdiges Leben. Wenn du nicht willst, dann gehen wir allein, und ihr beide bleibt hier.« Dshichwa erwiderte: »Geht nur, ich komme nicht mit.« Der Vater dachte nach. Er wollte nicht fortziehen und mit dem König Frieden schließen. Deshalb ließ er dem König übermitteln: »Ich will nur dann mit dir 236
Frieden schließen, wenn du meine Tochter nicht zu deiner Schwiegertochter machen willst und du uns alles vergibst und wenn du die Schätze, die wir erbeutet und ans Volk verteilt haben, den Leuten nicht wieder wegnimmst.« Der König willigte ein. Da brach die Familie des Armen auf. In der alten Wohnstatt wurde das Feuer angezündet und es zog wieder Leben ein. Der König war freundlich zu ihnen und kam der Familie näher. Oft ließ er Dshichwa, der ein guter Jäger, Sänger und Ballspieler war, zu sich kommen. Zur Mittagstafel und zum Abendbrot hatte er ihn bei sich. Häufig sah Dshichwa die Königstochter Siara, die im heiratsfähigen Alter war, und sie gefiel ihm sehr. Aber wer hätte ihn für würdig befunden, mit ihr zu sprechen! Auch dem Mädchen gefiel der junge Mann, doch sie wußte, daß ihr Vater sie niemals mit ihm verheiraten würde und gab sich daher stolz. Einige Jahre gingen ins Land. Einmal begab sich der König auf Reisen, um seine Schatzhäuser zu besichtigen. Dort sagte man ihm, daß jener Mann mit seinen Söhnen soundsoviel geraubt hatte. Da überkam den König die Rachsucht, und eines Tages ließ er den Vater und seine Söhne unverhofft von seinen Gefolgsleuten gefangennehmen. Den Mann und seine elf Söhne warf man einzeln in Gruben und stellte Wachen auf. Die Tochter aber gab der König seiner Tochter als Dienerin. Die Brüder konnten einander nicht sehen und wußten nicht, wem was zugestoßen war. Sie kannten weder das Schicksal des Vaters noch das der Schwester, auch der Vater wußte nicht, wie es seinen Kindern ging. Da erinnerten sich die älteren Brüder an Dshichwas Worte, doch was konnten sie tun, sie waren ja in der Grube gefangen. Den Vater bedrückte der Gedan237
ke an seine Kinder, und die Brüder machten sich Sorgen um den Vater und die Schwester. Als Nahrung erhielten sie jeder ein kleines Stück Brot und einen Krug Wasser. Monate vergingen so. Die Männer in den Gruben verfielen zusehends. Dshichwa war tottraurig und grub mit seinen Fingernägeln Löcher in die Grubenwand, um den Fuß hineinzustellen und irgendwie hinaufklettern zu können. Aber für jede Stufe brauchte er einige Monate, und wann würde er für diese tiefe Grube genügend Stufen gegraben haben? Dshichwa wußte, daß er lange dazu brauchen würde. Und er dachte daran, daß er es vielleicht gar nicht schaffen und bald sterben könnte. Doch er gab die Hoffnung nicht auf und arbeitete rastlos Tag und Nacht, um herauszugelangen und den Vater und die Brüder zu befreien. Während Dshichwa solchen Gedanken nachhing und arbeitete, fiel etwas auf seinen Kopf. Erschrocken tastete er danach und war erstaunt, als er ein Seil in der Hand hielt. Er faßte daran empor und überzeugte sich, daß das Seil von oben herabhing. Der junge Mann band es sich um den Gürtel, hielt sich fest und stemmte sich mit den Füßen gegen die Grubenwand. Schon nach wenigen Minuten kletterte er aus der Grube. Sobald er aber ins Freie gelangt war, schwanden ihm die Sinne, denn er war durch die Nässe und die stickige Luft in der Grube sehr schwach geworden. Jemand faßte ihn bei der Hand, half ihm auf und legte ihn ein paar Schritte weiter auf einen Filzmantel. Dann hielt er ihm ein Riechmittel an die Nase, das Dshichwa wieder zur Besinnung brachte. Als Dshichwa die Augen aufschlug, sah er neben sich einen Menschen, erkannte aber nicht, wer es war. Der Unbekannte gab Dshichwa 238
noch einige kräftigende Mittel, und bald konnte er aufstehen. Dshichwa schaute den Menschen an, der im Dunkel vor ihm stand, und erkannte die Königstochter Siara. Da schämte er sich, daß er ihr Schwäche gezeigt hatte. Doch Siara merkte dies und sprach: »Es ist keine Zeit zu verlieren. Das Pferd steht bereit, du mußt fortreiten und Kräfte sammeln. Dann mußt du Leute um dich scharen, dir Waffen beschaffen und zurückkommen, um gegen meinen Vater zu kämpfen. Ich werde dir vom Palast aus helfen. Um deine Brüder, deinen Vater und deine Schwester brauchst du dich nicht zu sorgen, ich lasse sie nicht umbringen. Das andere ist deine Sache. Der König wird nicht kampflos weichen. Leb wohl!« Sie brachte ihm das Pferd, half ihm in den Sattel, küßte ihn und ließ ihn davonreiten. Dshichwa ritt los, aber er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Nach langem Ritt sah er am Fuße eines Baumes einen jungen Mann, dessen Äußeres ihm gefiel. Er ritt zu ihm hin und stieg ab. Das Pferd ließ er grasen, er selbst ging zu dem jungen Mann, der sehr traurig war. Dshichwa fragte, wer er sei, und der andere sah ihn an und faßte Vertrauen zu ihm. Er erzählte: »Ich bin der Sohn eines mächtigen Herrschers. Mein Vater war auf beiden Augen blind und sehr alt. Trotzdem überließ er mir nicht die Regierung, sondern suchte seine Augen zu heilen. Mehrere Ärzte bemühten sich um ihn, aber sie vermochten es nicht, ihm sein Augenlicht zurückzugeben. Da kam ein Mönch, der meinem Vater Heilung versprach. Er sagte zu meinem Vater, daß seine Augen sehend würden, wenn er sie im Blut von sechzig kleinen Mädchen und sechzig kleinen Jungen badete. Mein Vater glaubte dem Mönch. Er 239
schickte Soldaten durch sein Reich und ließ hundertzwanzig Jungen und Mädchen zusammenholen. Man zog ihnen die Kleider aus und begann ihnen Blut abzuzapfen. Die armen Kinder weinten und wanden sich vor Schmerz. Während drinnen die Kinder weinten und nach ihren Eltern um Hilfe riefen, zerkratzten sich diese draußen vor Qual das Gesicht. Ich hielt es nicht mehr aus. Meine Sinne waren verwirrt. Ich stürzte in das Zimmer meines Vaters, riß ein Schwert an mich und hieb auf meinen Vater ein, der aufgestanden war, auf dem Bett saß und darauf wartete, daß er in jenem Blut baden und seine Augen sehend machen könnte. Doch ich schloß ihm die Augen für immer. Dann lief ich hinaus, wo die Kinder litten, schlug mit dem Schwert auf ihre Peiniger ein und befreite die Kinder. Aber inzwischen waren mindestens zehn Kinder gestorben. Nun stürzte ich ins Freie und lief, ohne zu wissen wohin, bis ich hierherkam. Kehrte ich nach Hause zurück, hätte ich nichts Gutes zu erwarten. Deshalb habe ich vor, irgendwo anders hinzugehen.« Auch Dshichwa erzählte ihm seine Erlebnisse, und sie schlossen Freundschaft. Im nahe gelegenen Dorf beschafften sie sich Pferde, und beide ritten gemeinsam weiter. Nach langem Ritt gelangten sie in ein Königreich. Dort gingen sie zu einer alten Frau und baten sie um Obdach. Die Alte nahm sie auf. Einige Tage blieben sie da und sahen sich die Stadt und die umliegenden Dörfer an. Eines Tages kamen sie am Schloß des Königs vorbei und sahen, daß die Schloßmauer ein Geländer aus Menschenköpfen trug. Da wunderten sich beide. Als sie wieder zu der Alten kamen, fragten sie: »Großmutter, sag uns doch, weshalb sind rings um das Schloß Menschenköpfe aufgespießt?« Doch die Alte 240
weigerte sich, darauf eine Antwort zu geben. Aber sie ließen ihr keine Ruhe, besonders Dshichwa drängte immer wieder: »Bei meinem Kopf schwöre ich dir, daß dir und deiner Familie Schlimmes widerfahren wird, wenn du es mir nicht sagst.« Da erschrak die alte Frau und sprach: »Ich will es euch sagen. Wenn euch aber ein Unglück daraus erwächst, dann soll es nicht meine Schuld sein.« Die jungen Männer erklärten, sie seien zum Kampf geboren und würden nichts bereuen. Sie wollten ihr auch keine Vorwürfe machen. Da erzählte die Alte: »Unser König hat eine schöne Tochter. Wenn jemand um sie freit, schlägt man es ihm nicht ab, sondern nennt die Bedingung, die besagt, daß das Mädchen dem Freier ein Rätsel aufgibt. Löst er es, wird sie seine Frau. Kann er es aber nicht lösen, wird sein Kopf abgeschlagen. Aus aller Herren Länder kommen junge Männer, um das Mädchen zu freien. Sie gibt ihnen das Rätsel auf, keiner konnte es aber bisher lösen, daher schlug man ihnen die Köpfe ab und spießte sie auf die Mauer.« Als die jungen Männer das hörten, sprachen sie: »Wir sind beide fast gleich alt, wer soll hingehen und um ihre Hand anhalten?« Da sagte Dshichwa zu dem Königssohn: »Dir als Königssohn steht es zu, um sie zu werben, und ich werde dir, wenn es nötig werden sollte, helfen.« Als der nächste Morgen anbrach, begaben sich beide zum Schloß. Dshichwa blieb draußen und sprach: »Wenn sie dir das Rätsel aufgibt, dann antworte nicht sofort, selbst wenn du die Lösung weißt. Sag, daß sie dir Zeit zum Überlegen gewähren soll, und berichte mir dann, worum es sich handelt. Mein Herz sagt mir, daß dieses Mädchen kein gutes Wesen hat, und ich 241
möchte nicht, daß sie dir etwas Böses antut.« Dshichwa wartete nun ungeduldig. Erst als es dunkelte, kam der Königssohn betrübt zurück. »Was ist los?« fragte Dshichwa. »Sie hat mir ein Rätsel aufgegeben und will mich beim Wort nehmen und mir den Kopf abschlagen, wenn ich es nicht lösen kann. Das Rätsel lautet: ›Rate, wer Sulambara und Gulambara waren!‹« Als sie zu der alten Frau kamen, erzählten sie ihr die Geschichte. Da wurde die Alte sehr traurig und wußte nicht, womit sie ihnen helfen konnte. Sie hatten zwar drei Monate Zeit, aber sie wußten nicht, wo sie die Geschichte von Sulambara und Gulambara erfahren könnten. Sie reisten durch die verschiedensten Städte, doch alles Mühen war vergeblich. Die Tage und Wochen vergingen, aber nirgends konnten sie etwas erfahren. Der Königssohn sah schon den Tod auf sich zukommen. Eines Tages zogen sie getrennt los, um des Rätsels Lösung zu finden. Dshichwa kehrte eilig zu der alten Frau zurück. Er ging zu ihr hinein und fand sie allein in der Stube. Dshichwa trat zu ihr hin, packte ihre Hand und drückte sie so kräftig, daß die Knochen knackten. Die Alte begann zu schreien. Da sprach Dshichwa: »Sieh her, willst du diesen Beutel voll Gold, oder willst du sterben? Du mußt uns die Geschichte von Sulambara und Gulambara erzählen.« Die Alte bekam Angst und dachte, er werde sie sicher töten, wenn sie ihm nicht gehorchte. Deshalb sprach sie: »Laß mich los, ich will sie dir erzählen.« Dshichwa ließ sie los, und die Alte berichtete: »Die Geschichte von Sulambara und Gulambara kenne ich nicht, aber ich werde dir einen Ort zeigen, wo du alles erfahren kannst.« Sie zeigte ihm eine hohe Mauer 242
draußen vor der Stadt: »Dort wohnt ein Kaufmann, der kennt die Geschichte. Wenn es dir gelingt, durch die Mauer zu gelangen, wirst du die Geschichte erfahren, sonst nicht. Die Befestigung gehört jenem Kaufmann, der hier am Ende der Straße seinen Laden hat. Jetzt liegt alles bei dir. Aber weil du dich um die Sache kümmerst und für deinen Freund dein Leben einsetzt, will ich dir helfen. Hier hast du drei von meinen Haaren, verwahre sie gut. Solltest du in Not sein, dann hole sie hervor und pfeife dreimal. Aber du mußt an einer Stelle pfeifen, wo der Schall nach draußen an die Luft dringt. Dann werde ich im gleichen Augenblick zur Stelle sein.« Dshichwa verabschiedete sich von der alten Frau und bat, sie solle den Königssohn nicht weggehen lassen. Es war keine Zeit mehr zu verlieren, und so machte sich Dshichwa auf und ging zu jener Mauer. Sie war so hoch, daß man den oberen Teil nicht mehr erkennen konnte. Was hinter der Mauer war, wußte Dshichwa nicht. Er lief um die Mauer herum, konnte aber den Eingang nicht finden. Da kehrte er um, ging zu dem Laden des Kaufmanns, den ihm die Alte gezeigt hatte, sah, daß der Kaufmann allein war, und trat ein. »Ich komme aus einem fremden Land und habe keine Arbeit. Nimm mich als Gehilfen in deinen Laden«, bat er den Kaufmann. Der Kaufmann lehnte die Bitte nicht ab, denn er brauchte jemanden im Geschäft. Von den Hiesigen trat niemand in seinen Dienst. Tagsüber arbeitete Dshichwa im Laden. Er fegte aus und säuberte den Raum. Abends, wenn der Laden geschlossen wurde, ließ der Kaufmann Dshichwa in seinem Geschäft, er selbst aber verließ den Laden, schloß ab und ging. Traurig blieb 243
Dshichwa zurück. Aber was hätte er auch tun sollen? In jener Nacht gingen ihm tausenderlei Gedanken durch den Kopf. Als es Morgen wurde, kam der Kaufmann, schloß den Laden auf und begann seinen Handel. Abends wollte er wieder die Tür verschließen, aber Dshichwa ging mit hinaus und bat ihn, mitkommen zu dürfen und ihn hier nicht allein zu lassen. »Gestern Nacht sind mir tausend Teufel erschienen und haben mir Angst gemacht. Nimm mich mit, ich flehe dich an!« Doch der Kaufmann weigerte sich: »Komm nicht mit, sonst wirst du noch Schlimmeres erleben.« »Komme, was da wolle, ich werde nicht jammern. Nur laß mich nicht hier zurück, sondern nimm mich mit.« Da sprach der Kaufmann: »An dem, was dir widerfahren wird, trägst du selbst die Schuld.« Er schloß den Laden ab und nahm Dshichwa mit. Sie kamen an die hohe Mauer. Dort zog der Kaufmann einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete eine kleine Tür. Dshichwa und er gingen hinein, und der Kaufmann schloß die Tür von innen wieder ab. Sie gingen weiter und kamen an eine zweite Mauer. Wieder öffnete der Kaufmann eine kleine Tür und verschloß auch diese von innen. So durchquerten sie zwölf Mauern, und alle zwölf Türen verschloß der Kaufmann von innen. Dann gelangten sie zu einem Haus. Dieses hatte ebenfalls zwölf Türen, und alle zwölf schloß er hinter sich wieder zu und steckte die Schlüssel in seine Tasche. Im zwölften Raum ließen sie sich auf einem Sofa nieder. Der Kaufmann brachte Speisen, und sie aßen Abendbrot. Niemand anderes war zu sehen. Als der Kaufmann den Tisch abgeräumt hatte, nahm er eine Eisenrute von der Wand, die dik244
ker als ein Arm war. Er schaute unter das Sofa und holte einen Menschenkopf hervor. Dieser hatte das Gesicht eines Mannes. Er legte ihn auf den Tisch und begann mit ihm zu sprechen: »Warum hast du mir das angetan, warum mußtest du mich hintergehen?« Und dann begann er ihn zu beschimpfen. Schließlich nahm er die Rute und schlug ihn solange, bis er müde wurde. Da setzte sich der Kaufmann hin, ruhte sich aus und schob den Kopf wieder unter das Sofa. Dann holte er einen anderen Kopf hervor, der hatte das Gesicht einer Frau mit langem Haar. Der Kaufmann kniete vor ihm nieder, weinte lange und murmelte dabei etwas vor sich hin. Dann nahm er die Rute und schlug auch ihn, bis er müde war. Er schob auch diesen Kopf wieder unter das Sofa und weinte noch immer. Als er sich ausgeweint hatte, sprach er zu Dshichwa: »Leg dich jetzt da auf dem Sofa schlafen.« Doch Dshichwa erwiderte: »Ich lege mich nicht schlafen und rühre mich auch nicht lebend von dieser Stelle, solange ich nicht die Geschichte dieser beiden Köpfe erfahren habe.« Doch der Kaufmann sprach: »Laß diese Geschichte. Ich habe sie noch niemandem erzählt und werde sie auch dir nicht berichten.« »Du mußt sie mir erzählen«, beharrte Dshichwa, »sonst bringe ich dich um und mich dazu.« Da meinte der Kaufmann: »Mich kannst du nicht töten. Aber weil du die Geschichte hören willst, werde ich sie dir erzählen. Doch dann werde ich auch dich töten, und dein Kopf wird der dritte sein, den ich schlagen muß.« Dshichwa antwortete: »Erzähle, und dann geschehe alles nach deinem Willen.« Da berichtete der Kaufmann: »Der Männerkopf war der meines Angestellten, der andere der meiner Frau. Ich habe meinem Angestellten zu Reichtum verholfen, 245
aber er hat mir meine Güte nicht vergolten. Er hat sich in meine Frau verliebt, und sie gewannen Leute, die mich töten sollten. Doch ich kam ihnen zuvor, denn ich überraschte sie hier und schlug beiden den Kopf ab. Diese Geschichte habe ich nur der Königstochter erzählt, die die beiden Gulambara und Sulambara nennt. Viele haben schon versucht, das Rätsel zu lösen, aber niemandem ist es gelungen. Jetzt kennst du die Geschichte. Du wirst sie anderen erzählen, und ich werde in einen schlechten Ruf kommen. Deshalb bereite dich jetzt darauf vor, daß ich dir den Kopf abschlage.« Dshichwa überlegte fieberhaft. Es gab keine Möglichkeit zur Flucht! Der Kaufmann nahm sein Schwert von der Wand, um ihn zu töten. Dshichwa war sehr betrübt. Er dachte nach und erinnerte sich, daß morgen jene drei Monate verstrichen sein würden, und er wußte, daß man dem Königssohn den Kopf abschlagen würde. Da fielen ihm die Haare der Alten ein. Er freute sich und sagte zu dem Kaufmann: »Dein Wille soll geschehen, schlage mir den Kopf ab. Ich bitte dich nur um eins: Ich bin Christ, laß mich einen Augenblick nach draußen auf den Balkon, damit ich allein beten kann. Dann sollst du deinen Willen vollstrecken.« Der Kaufmann dachte: ›Er kann nirgendwohin fliehen, ich will ihn hinauslassen, damit er beten kann.‹ Er öffnete die Balkontür und Dshichwa trat hinaus. Dreimal pfiff er, und im selben Augenblick war die Alte da, nahm ihn auf ihre Schultern und war im Handumdrehen mit ihm zu ihrem Haus geflogen. Der Kaufmann wartete lange, aber Dshichwa kam nicht wieder herein. Da ging er auf den Balkon, und als er ihn dort nicht finden konnte, nahm er sich das Leben. 246
Als der Morgen anbrach, standen Dshichwa und der Königssohn auf und begaben sich zum Schloß. Der Königssohn ging zu dem Mädchen hinein, und sie sprach zu ihm: »Die Frist ist abgelaufen. Sage mir, wer Sulambara und Gulambara waren. Kannst du es mir nicht sagen, muß ich dir den Kopf abschlagen.« Da entgegnete der Königssohn: »Gulambara war der Angestellte eines Kaufmanns, er verliebte sich in dessen Frau. Beide wollten den Kaufmann umbringen, doch der tötete sie und schlug ihnen die Köpfe ab. Diese Geschichte hat er nur dir erzählt, und du verwendest sie als Rätsel.« »Das ist wahr«, erwiderte das Mädchen. »Du hast mein Rätsel gelöst. Nach der Abmachung bin ich deine Frau.« Sie holten Dshichwa ins Schloß und feierten Hochzeit. Der König gab seiner Tochter eine reiche Mitgift, und Dshichwa öffnete den Laden des Kaufmanns und nahm auch dessen Vermögen an sich. Sie luden alles auf Kamele und zogen los, bis sie an jenen Ort kamen, wo sie sich das erstemal begegnet waren. Da sprach Dshichwa: »Hier haben wir uns getroffen, und hier können wir uns auch wieder trennen, doch dann wäre unsere Mühe umsonst gewesen. Wir wollen jemanden in dein Reich schicken, damit sie dich einlassen und als König einsetzen. Wenn nicht, dann müssen wir sie im Kampf bezwingen.« Sie entsandten einen Mann, erhielten aber eine abschlägige Antwort: »Den Mörder unseres Herrschers lassen wir nicht in unser Reich.« Da kehrte Dshichwa zum Schwiegervater seines Freundes zurück, holte von dort Truppen, unterwarf in zweitägigem Kampf das Reich und setzte den Königssohn als Herrscher ein. Jetzt sprach Dshichwa: »Was 247
wir an Vermögen außerhalb deines Reiches erworben haben, wollen wir brüderlich teilen.« Was konnte der Königssohn entgegnen, hatte doch Dshichwa mehr geleistet und war doch alles durch Dshichwa erworben. Er sagte: »Gern nehme ich diesen Vorschlag an, teile nur, wie du willst!« Dshichwa teilte alles. »Eins bleibt uns noch zu teilen, das ist die Königstochter, an ihr habe ich auch einen Anteil.« »Die Königstochter können wir doch nicht teilen. Wenn du sie willst, überlasse ich sie dir.« Doch Dshichwa bestand darauf: »Nein, wir müssen sie in der Mitte teilen, die eine Hälfte für dich, die andere für mich.« »Wie du willst«, gab der Königssohn schließlich nach. Dshichwa sprach zur Königstochter: »Steh gerade, ich muß dich in der Mitte durchspalten.« Er schwang sein Schwert, und da erschrak die Frau so sehr, daß ihrem Mund gallegrünes Gift entwich. Da steckte Dshichwa das Schwert wieder in die Scheide zurück und sagte zu dem Königssohn: »So, nun ist sie wirklich deine Frau. Was sie an Bosheit im Herzen hatte, ist ihr jetzt entwichen, und sie ist geläutert. Jetzt bitte ich dich, gib mir einige Krieger, damit ich meinen Vater, meine Brüder und meine Schwester befreien und das Volk vom König Dshodshocheta erlösen kann. Schließen wir eine echte Freundschaft, laß unsere Länder zu blühenden Gegenden werden.« Der Königssohn sammelte Truppen, sie zogen in das Reich des Königs Dshodshocheta, überfielen dessen Schloß, setzten den König ab und befreiten Dshichwas Vater, Brüder und die Schwester. Dshichwa heiratete Siara, die Tochter des Königs Dshodshocheta. Dshichwas Vater und einer seiner älteren Brüder waren in der Grube jedoch schwer erkrankt und starben bald. Deshalb wählten sie 248
den Königssohn zum elften Bruder. Sie vereinten ihre Königreiche und sorgten für ein angenehmes und glückliches Leben.
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Königsmärchen lrmisa Es war einmal ein alter Mann. Der war kinderlos geblieben. Er und seine Frau baten Gott immer wieder, ihnen doch ein Kind zu schenken. Die Zeit verging, und sie bekamen ein Kind, aber der Alte starb. Der Frau ging vor Kummer die Milch aus, und sie konnte das Kind nicht mehr ernähren. Sie vertraute es daher einer lahmen Hirschkuh an und bat sie: »Zieh du es für mich auf!« Das Kind gewöhnte sich an den Hirsch, folgte ihm in den Wald und trank, wenn es wollte, aus seinem Euter. In der Gegend, wo dieser Hirsch lebte, ging oft des Königs Sohn jagen. Einmal sah er ein Kind, das einem Hirsch folgte. Der Königssohn ließ von der Jagd ab und ritt nach Hause. Als er heimgekommen war, fragte der Vater: »Kind, warum hast du nicht gejagt?« Der Sohn gab keine Antwort. Er bat nur darum, ihm schwere Ketten und hundertzwanzig Kettenwerfer zu besorgen. Der Vater erfüllte ihm seinen Wunsch, verschaffte ihm Ketten und Männer. Nun gingen sie abermals auf die Jagd. Als der Königssohn in den Wald kam, suchte er nach dem Kind, und als er es fand, befahl er seinen Männern, es zu fangen. Sie warfen die Ketten nach ihm und verstrickten es darin, doch als das Kind aufsprang, zersprangen die Ketten, und es gelang ihm zu entkommen. 250
Die zersprungenen Ketten trafen die Männer, so daß außer dem Königssohn alle ums Leben kamen. Als der Königssohn nach Hause kam, erklärte er dem Vater: »Wenn du mir meinen Wunsch nicht erfüllst, bringe ich mich um!« Der Vater entgegnete: »Kind, weshalb willst du dich um dein Leben bringen?« »Ich habe ein kleines Kind im Wald gesehen, das einem lahmen Hirsch folgte, und ich konnte es nicht fangen«, antwortete der Sohn. Der Vater gab ihm abermals schwere Ketten und Männer, aber auch jetzt gelang es ihnen nicht, das Kind zu fangen. Die Ketten zersprangen, die Leute kamen um, und das Kind entkam. So geschah es fünfmal. Schließlich gelang es ihnen doch, das Kind zu fangen, und sie nahmen es mit. Die Hirschkuh folgte ihnen. Das Kind war nackt, es konnte nicht sprechen. Der Königssohn gab dem Kind ein Zimmer. Wenn es Hunger hatte, lief es hinunter zum Hirsch und saugte an seinem Euter. Der Königssohn nahm sich vor, es zu lehren, wie man ißt und sich kleidet. Mittags und abends ging er zu ihm, deckte den Tisch, brachte Speisen, wusch sich Gesicht und Hände und setzte sich, um zu essen. Auch kam er stets neu gekleidet. Das Kind begann sich ebenso zu verhalten wie der Königssohn. Es stand auf, kleidete sich, wusch sich zitternd das Gesicht und setzte sich an den Tisch, um zu essen. Lange ging das so. Eines Tages bemerkte dies der Königssohn. Freudig lief er zu seinem Vater und erzählte ihm davon. Der Vater befahl: »Bringt das Kind ins Schloß, damit es bei uns wohnt!« 251
Anfangs konnte es noch nicht sprechen, aber das gemeinsame Leben lehrte es das Sprechen, und es gewöhnte sich an die anderen. Weil das Kind von einem Hirsch aufgezogen worden war, erhielt es den Namen Irmisa. Zur Jagd zogen der Königssohn und Irmisa immer gemeinsam aus, aber Irmisa war kräftiger. Wenn er einen Pfeil hinaufschoß und dieser sich beim Herabfallen in die Erde bohrte, vermochte der Königssohn ihn nicht herauszuziehen. Irmisa dagegen zog ihn mühelos heraus. Einmal reiste der Herrscher fort. Den Schlüssel gab er Irmisa und befahl ihm: »Wenn mein Sohn aufwacht und dir sagt, zeige mir die Gemächer, dann zeige ihm elf Zimmer. In das zwölfte darfst du ihn nicht einlassen, das wäre sein Verderben!« Der König ritt fort. Der Königssohn stand auf und sagte: »Zeige mir die Gemächer!« Irmisa war einverstanden, nur das zwölfte Zimmer enthielt er ihm vor: »Das ist nichts für dich.« Der Königssohn zog seine Lanze und drohte: »Wenn du es nicht öffnest, bringe ich uns beide um!« Da öffnete Irmisa auch diese Tür. Kaum war dies geschehen, da erblickte er das Bild einer zauberhaften Frau. Der Königssohn fiel wie tot zu Boden. Irmisa richtete ihn auf, legte ihn in sein Zimmer und sagte zu ihm: »Wenn du nur gesund bleibst. Ich finde sie schon für dich!« Als der König kam, bemerkte er, was geschehen war, und machte Irmisa Vorwürfe: »Warum hast du mir das angetan, wozu hast du meinem Sohn jenes Bild gezeigt?«
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Irmisa erwiderte: »Ich bringe die Frau her, gebt mir nur Euer Einverständnis, in die Ferne zu ziehen.« Der König war einverstanden, und beide, Irmisa und der Sohn des Königs, zogen los. Lange waren sie unterwegs, ein ganzes Jahr reisten sie bereits. Endlich gelangten sie an die Küste eines Meeres. Dort stand ein Apfelbaum. Irmisa sagte zu dem Königssohn: »Wirf Äpfel herab!« Der Königssohn vermochte es jedoch nicht. Da schlug Irmisa die Äpfel mit seiner Faust herunter. Beide ließen sich nun nieder, um zu essen. Plötzlich entstieg dem Meer ein Ungeheuer und brüllte: »Wer wagt es, von dem Apfelbaum zu essen, den mein Großvater gepflanzt hat. Ich bringe ihn auf der Stelle um!« Irmisa erwiderte: »Komm her, ich will dir gebührende Antwort geben!« Kaum war das Ungeheuer herangekommen, schlug Irmisa mit seiner Faust zu und tötete es. Ein zweites Ungeheuer kam ans Land. Es wiederholte die Worte des ersten Ungeheuers, und Irmisa tötete auch dieses. Das dritte Ungeheuer war bei diesem Geschehen nicht in der Nähe gewesen. Als es herzukam, begann es ebenfalls zu brüllen. Irmisa rief ihm zu: »Komm her, deine Gefährten sind hier, sieh sie dir an!« Als es herangekommen war, fiel Irmisa über es her, und sie rangen miteinander. Lange kämpften sie, aber schließlich gewann Irmisa die Oberhand und tötete auch dieses Ungeheuer. Er stand auf, sammelte die Äpfel zusammen, steckte sie in sein Gewand, nur einige behielt er in der Hand, und zwei gab er dem Königssohn. Dann setzten beide ihren Weg fort. Lange waren sie unterwegs, bis sie zum Haus eines der Ungeheuer kamen. Hier erblickten sie zwei seiner 253
Frauen. Beide rieten ihnen: »Ihr Burschen, geht rasch weiter, sonst kommen die Ungeheuer und fressen euch auf!« Irmisa schenkte ihnen kein Gehör und setzte sich in den Schatten. Sie holten jene Äpfel hervor und fingen an zu essen. Die Frauen der Ungeheuer wurden zugänglicher, und statt zu drohen, waren sie sehr entgegenkommend. Als sie gerade beim Apfelessen waren, kamen drei Brüder Ungeheuer herzu. »Was für Wesen seid ihr, daß ihr in mein Haus kommt und euch in den Schatten setzt?« fragte das erste Ungeheuer. Irmisa antwortete: »Komm her und ich werde es dir sagen!« Sowie das Ungeheuer herangekommen war, fiel Irmisa über es her, warf es zu Boden und stellte sein Bein darauf. Nun kam das zweite Ungeheuer und wiederholte die Worte des ersten. Irmisa warf auch dieses zu Boden und legte die beiden übereinander. Schließlich kam das dritte Ungeheuer und brüllte: »Wer wagt es, meine Brüder übereinanderzulegen, um sie zu töten. Ich bringe denjenigen auf der Stelle um!« Irmisa entgegnete: »Komm her, und ich werde dir sagen, wer ich bin!« Kaum war es herangekommen, schüttelte es seine Fäuste. Irmisa packte es am Arm und brachte es zu Fall. Nun legte er alle drei Brüder übereinander und fragte: »Soll ich euch töten oder nicht?« Die Ungeheuer flehten ihn an: »Von heute an werden wir deine Brüder sein, und ihr sollt unsere Brüder sein!«
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Da ließ Irmisa sie aufstehen, und sie gingen ins Haus. Die Ungeheuer bewirteten den Königssohn und Irmisa. Dann erklärten sie, welchen Weg sie nehmen müßten, um zu jener Frau zu gelangen. »Wenn ihr so geht«, und sie wiesen einen Weg, »braucht ihr dreißig Tage, aber der Weg ist gefahrlos. Nehmt ihr den anderen Weg, würdet ihr in zehn Tagen ans Ziel gelangen, doch die Ungeheuer sind mächtig und werden euch auffressen. Wenn ihr diesen Ungeheuern entkommt, dann gelangt ihr zu jener Frau. Wenn es Nacht wird, wird sie euch das Bett aufschlagen, das Essen bereiten und euch zur Ruhe betten. Wenn sie sich zu dir schleichen will, werfen wir von hier aus eine Fackel. Falls die Frau bis zu dir gelangt und dir einen Ring an den Finger steckt, damit du nicht erwachst, wird sie dich sicher töten. Deshalb solltet ihr euch nach dem Abendbrot nicht in ihrem Haus schlafen legen. Wir werden die Fackel werfen, und dann könnt ihr die Frau fangen.« Beide machten sich auf den Weg. Lange waren sie unterwegs, bis sie zum Haus eines Ungeheuers gelangten. Das Ungeheuer lag da, und eine Gefangene verscheuchte ihm die Fliegen. Kaum hatte sie die jungen Männer erblickt, warnte sie beide: »Geht rasch fort, sonst frißt das Ungeheuer, wenn es erwacht, mich und euch dazu!« Irmisa entgegnete: »Komm her, ich weiß schon, was das Ungeheuer mir anhaben kann!« Die Frau erwiderte: »Die Fliegen werden sich auf das Ungeheuer setzen, es wird davon aufwachen und uns umbringen!« 255
Irmisa gebot ihr: »Komm her!« Da ging sie hin. Das Ungeheuer erwachte und brüllte: »Wer hat mir meinen Fraß weggenommen?« Irmisa antwortete: »Das war ich!« Wütend kam das Ungeheuer aus dem Haus und verwickelte Irmisa in einen Streit. Irmisa tötete es nach langem Kampf. Er nahm die Frau mit und übergab sie der Obhut der drei Ungeheuer, die über sie wachen sollten wie über ihre eigene Schwester. Wieder machten sie sich auf den Weg und gelangten nach langer Zeit zu einem Schloß, wo Ungeheuer gerade eine Hochzeit feierten. Die beiden betraten den Hof. Als der Anführer der Ungeheuer sie erblickte, schickte er einen seiner Untergebenen hinunter, um zu erfahren, wer sie seien. Sie erfuhren, daß es Leute anderer Art waren. Da schickte er den Untergebenen ein zweites Mal mit dem Auftrag hinab, sie zu töten, wenn sie nicht zu ihnen heraufkämen. Aber Irmisa tötete kurzerhand das Ungeheuer. Als man die Tat bemerkte, wurde ein zweites Ungeheuer zu Irmisa und dem Königssohn geschickt. Auch dieses tötete Irmisa sowie auch alle anderen. Schließlich kam die Reihe an den Anführer. Kaum war der herabgekommen, ging er auf Irmisa los. Sie begannen miteinander zu ringen. Lange kämpften sie. Das Ungeheuer stieß Irmisa bis zu den Knien in die Erde. Dann schleuderte Irmisa es bis zum Gürtel ins Erdreich. Schließlich gewann Irmisa die Oberhand. Er stieß das Ungeheuer bis zu den Köpfen in die Erde und ging daran, diese abzuschlagen. Es besaß hundert Köpfe. Irmisa schlug ihm neunundneunzig ab und fragte: »Was willst du lieber, den Tod oder das Leben?« 256
Das Ungeheuer antwortete: »Das Leben ist mir lieber. Laß mich aufstehen, mein Schloß gehört dir.« Es verbürgte sich bei Gott für diese Worte. Als es dem Erdreich entstiegen war, entfachte es abermals einen Streit. Auch diesmal bezwang Irmisa das Ungeheuer. Da sprach das Ungetüm: »Himmel und Gott in der Höhe und Erde und Wasser in der Tiefe sollen meine Bürgen sein, nur laß mich aufstehen, meine ganze Kraft will ich dem Königssohn geben!« Irmisa half ihm auf. Den Königssohn ließ er mit dem Ungeheuer zurück, er selbst zog weiter. Beim Abschied sagte er: »Lehre ihn all deine Listen und deine Stärke, sonst töte ich dich, wenn ich zurückkomme!« Irmisa machte sich auf den Weg. Er begab sich zu jener Frau, die sie suchten. Es war Abendzeit. Die Frau bereitete ihm Abendbrot, richtete das Bett und legte ihn zur Ruhe. Als eine Stunde vergangen war, ging sie zu ihm, nahm einen Ring, um diesen an seinen Finger zu stecken. In diesem Augenblick schleuderten die drei Ungeheuer die Fackel, sie traf ihn in den Rücken, und Irmisa ergriff blitzartig die Hand der Frau, als sie ihm gerade den Ring anstecken wollte. Sie sagte: »Ich bin dein Glück«, und steckte sich jenen Ring an den Finger. Irmisa erwiderte: »Nicht für mich, sondern für meinen Bruder will ich dich zur Frau.« Als der Morgen graute, befahl die Frau der Stadt der Ungeheuer, jeder solle kostbare Bettwäsche als Geschenk bringen, sie heirate einen Fremdling. Alle brachten diese Gabe bis auf einen Hof, der sich weigerte. Irmisa packte dieses Ungeheuer, warf es zu Boden und erklärte der Frau und den Kindern des Unge257
tüms: »Wenn ihr mir nicht kostbare Bettwäsche bringt, töte ich diesen und euch obendrein.« Abermals verweigerten sie jenes Geschenk. Da setzte Irmisa dem Leben des Ungeheuers, seiner Frau und seiner Kinder ein Ende. Als der nächste Tag anbrach, versammelten sich die Ungeheuer bei Irmisa und geleiteten die Frau samt ihrer Mitgift zum Königssohn. Dieser hielt sich noch im Haus des Ungeheuers auf, um dessen List und Stärke zu erwerben. Aber als sie beim Königssohn anlangten, sahen sie, daß er in der Asche saß und nicht mehr Kraft besaß, sondern weniger als früher. Irmisa ging zu dem Ungeheuer und fragte: »Warum hast du dein Versprechen nicht gehalten?« Sofort gab das Ungeheuer auf Geheiß von Irmisa dem Königssohn seine Kraft. Irmisa tötete das Ungeheuer. Seine Habe nahm er mit, und alle zogen zusammen weiter. Als sie zu den drei Brüdern Ungeheuer kamen, feierten sie Hochzeit. Drei Tage lang blieben sie dort, dann zogen sie weiter. Lange waren sie unterwegs, bis sie zu jenem Apfelbaum gelangten. In der Nacht blieben sie dort: die Ungeheuer, der Königssohn, Irmisa und fünf Frauen. Drei von den Frauen waren die Schwestern der drei Brüder Ungeheuer, die eine Frau hatte Irmisa aus der Gewalt des Ungeheuers befreit, und die fünfte war die Frau des Königssohns. Alle legten sich nieder, um zu schlafen. Auch Irmisa schlief ein. Da kam ein Lebewesen herangeflogen und entführte die Frau des Königssohnes in die Lüfte. Irmisa sprang auf, weckte die Gefährten und sprach: »Seht ihr nicht, daß ein Ungeheuer die Frau des Königssohns geraubt hat!« 258
Der Königssohn war sehr betrübt, doch was konnte er tun? Irmisa befahl den Ungeheuern: »Ihr bleibt hier, bis ich wiederkomme, sonst bringe ich euch alle um.« Die Ungeheuer waren einverstanden und blieben dort, während sich Irmisa und der Königssohn auf den Weg machten. Nach langer Zeit kamen sie zum Haus jenes Ungeheuers. Das Ungetüm selbst war auf die Jagd gegangen. Die entführte Frau ging im Hof spazieren. Als sie Irmisa und den Königssohn erblickte, freute sie sich sehr. Aber sie beschwor die Ankömmlinge: »Flieht rasch, sonst kommt mein Mann, das Ungeheuer, und frißt euch beide!« Doch Irmisa erwiderte: »Wir bitten dich, bringe in Erfahrung, wo das Ungeheuer seine Seele hat.« »Gut«, entgegnete die Frau und verabredete mit ihnen einen Ort, an dem sie sich einen Monat später treffen wollten. Irmisa und der Königssohn entfernten sich und schlugen ihr Lager in einer Höhle auf. Als das Ungeheuer heimkam, fragte es seine Frau: »Ist niemand dagewesen?« Sie antwortete: »Niemand.« Eine Woche später fragte sie das Ungeheuer: »Wo ist deine Seele? Ich möchte ihr etwas Gutes tun.« Das Ungeheuer erwiderte: »Wozu willst du das wissen?« »Ich will ihr etwas opfern, damit es dir wohl ergeht, und diese Tat ist sicher auch für mich günstig«, antwortete die Frau. Das Ungeheuer sagte: »Meine Seele ist in der Säule da!« 259
Die Frau bemalte jene Säule so schön, daß nichts über ihren Anblick ging. Als das Ungeheuer dies sah, sagte es: »Wenn du meine Seele so liebst, so muß ich dir sagen, daß sie in jener Katze dort ist!« Die Frau richtete die Katze so schön her, wie es ihr möglich war. Sie nähte ihr hübsche Dinge und zog ihr kostbare Kleider an. Als das Ungeheuer dies sah, gefiel ihm das noch besser, und es sagte: »Meine Seele befindet sich hinter neun Bergen. Dort hängt an einem Baum ein neunköpfiges Ungeheuer. In dessen Innerem befindet sich ein Hirsch, in dem Hirsch ein Reh, in dem Reh ein Hase, in dem Hasen ein Häschen, in dem Häschen ein Kästchen, in dem Kästchen drei Schwalben, zwei Schwalben sind meine Augen, und eine ist meine Seele.« Die Frau freute sich, daß sie alles erfahren hatte, denn am nächsten Tag sollten der Königssohn und Irmisa kommen. Die beiden kamen, und die Frau berichtete ihnen, was sie von jenem Ungeheuer erfahren hatte. Als sie gehen wollten, hielt die Frau sie zurück: »Nehmt euch in acht, denn jenes neunköpfige Ungeheuer kann euch auf große Entfernung zu sich heranziehen, wenn es euch wittert, und wird euch auffressen!« Irmisa beruhigte sie: »Hab keine Furcht, ich werde es schon bezwingen!« Beide machten sich auf den Weg. Lange waren Irmisa und der Königssohn unterwegs, bis sie den ersten Berg erreichten. Schließlich überquerten sie alle neun Berge. Als sie am Fuße des Berges angekommen waren, zitterte der Königssohn, so stark blendete das Licht des Ungeheuers. Aber Irmisa flößte ihm Mut ein. Als sie sich näherten, warf der 260
Lichtschein beide zu Boden. Aber dennoch gelang es Irmisa, das Seil durchzuschneiden. Das Ungeheuer stürzte herab, Irmisa hieb ihm seine neun Köpfe ab, schlitzte es in der Mitte auf und holte den Hirsch hervor. Auch diesen schnitt er auf, und heraus sprang das Reh. Als er dieses aufschnitt, sprang der Hase heraus. Er ergriff ihn, schnitt auch ihn auf und fand in ihm ein Häschen. Schließlich holte er aus dem Häschen das Kästchen. In diesem Augenblick erkrankte das Ungeheuer, Irmisa öffnete das Kästchen, entnahm ihm eine Schwalbe und tötete sie. Da erblindete das Ungeheuer auf einem Auge. Irmisa ging zu dem Ungeheuer und sagte: »Weil du diese Frau geraubt hast, deshalb ist es dir so ergangen!« Da sprach das Ungeheuer: »Wenn der Mann der Frau Glauben schenkt, richtet er die Welt zugrunde!« Irmisa holte nun die zweite Schwalbe heraus und tötete auch sie. Nun erblindete das Ungeheuer auch auf dem anderen Auge. Sie nahmen die Frau mit sich und kamen zu jenem Apfelbaum, wo sie alle drei Brüder Ungeheuer trafen. Nachts blieben sie dort, aber Irmisa schlief nicht, weil er befürchtete, jemand könne die Frau entführen. Als es Mitternacht wurde, näherten sich drei böse Geister, ließen sich im Wipfel des Baumes nieder und begannen zu reden. Der eine sagte: »Welches Schicksal wollen wir dem Ehepaar auferlegen?« Der zweite sagte: »Wenn der Bräutigam in den Hof reitet und sein Pferd tänzeln läßt, soll er herunterfallen und sterben!«
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Der dritte sagte: »Wenn er überlebt, soll die Frau des Königs der Schwiegertochter einen goldenen Gürtel und goldene Schuhe schenken, und wenn sie dieses Geschenk annimmt, soll sich der Gürtel in eine Schlange verwandeln und die Braut verschlingen. Sollte sie das überstehen, dann sollen ihr die Schuhe die Füße brechen.« Der erste Geist sagte wieder: »Übersteht sie auch dies, wird nachts ein Drachen kommen und beide verschlingen. Hört jemand davon und sagt es weiter, soll er zu Stein werden!« Irmisa hatte alles mit angehört, sagte aber niemandem ein Wort davon. Am nächsten Tag kehrten sie nach Hause zurück. Als sie in den Hof einritten, schlug der Königssohn das Pferd mit der Peitsche, um es tänzeln zu lassen, aber Irmisa gebot ihm Einhalt. Er griff dem Pferd in die Zügel, und sie saßen ab. Nun wollte die Schwiegermutter der Braut einen goldenen Gürtel und goldene Schuhe überreichen, aber Irmisa kam ihr zuvor, zerbrach sie und warf sie weg. Alles war überstanden, nur in der Nacht lauerte noch Gefahr. Irmisa legte sich in dieser Nacht nicht schlafen. Er bewachte das Gemach, in dem der Königssohn mit seiner Frau schlief. Um Mitternacht kam der Drache. Irmisa tötete ihn, schleppte ihn hinaus, brachte ihn in ein anderes Haus und warf ihn dort ab. Er selbst legte sich hin und schlief. Als er aufstand, zerstörte er das Haus. Die Hochzeit wurde gerichtet und dauerte drei Tage.
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Nach den Feierlichkeiten kehrten die Ungeheuer in ihre Behausungen zurück. An einem Feiertag gingen der König und sein Sohn aus, um zu beten. Da fingen die Königin und die Schwiegertochter an, Irmisa auszufragen: »Warum hast du nicht zugelassen, daß der Königssohn sein Pferd tänzeln ließ? Und weshalb hast du den goldenen Gürtel und die goldenen Schuhe zerbrochen und weggeworfen?« Irmisa antwortete nicht. Er bat nur, sie mögen ihn in Ruhe lassen. Lange bedrängten sie ihn, bis er schließlich sagte: »Ihr wollt meinen Tod, so will ich es euch sagen!« Irmisa erzählte ihnen, was die bösen Geister miteinander gesprochen hatten, und als er endete, wurde er zu Stein. Da begannen die Königin und die Schwiegertochter zu weinen. Die Schwiegertochter machte sich auf und ging zu einer Zauberin und bat: »Sag mir ein Mittel, wie man einen Stein zum Leben erweckt!« Die Zauberin entgegnete: »Koche dein Kind in siedendem Wasser und gieße es über den Stein. Das Kind und Irmisa werden beide zu dir kommen!« Da ging die Frau, kochte ihr eigenes Kind, goß das Wasser über Irmisa aus und ging in ihr Gemach. Bald darauf kamen beide singend zu ihr gelaufen. Seitdem lebten alle glücklich miteinander.
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Die Boshmi-Blume Es waren einmal sieben Brüder. Diese waren sehr reich und hatten ein riesiges Vermögen. Sie kannten nicht einmal die Zahl ihrer Edelsteine und Perlen, ständig lebten sie in Saus und Braus, aber sie hatten auch keinen Feind und keinen Freund. Sie kümmerten sich nicht um die Welt. Schließlich sagten sich die Brüder, so könne ihr Leben nicht weitergehen. Und sie kamen überein, in die Welt zu ziehen und entweder einen Feind oder einen Freund zu gewinnen. Gesagt, getan. Sie behängten sieben Pferde mit sieben Tragetaschen voller Edelsteine und Perlen, versahen sich mit Waffen und machten sich auf, Feind oder Freund zu suchen. Nach einiger Zeit kamen sie auf ein großes freies Feld. Sie hielten Ausschau: Weit und breit war nichts weiter zu sehen als eine Schafherde, die das gesamte Feld weiß bedeckte, und der Schäfer. Die Brüder eilten zu ihm und trugen ihm ihr Anliegen vor: Sie wollten ihn als Freund gewinnen. Der Schäfer freute sich. Sofort lud er sie in sein Haus ein und bewirtete sie aufs beste. Sein Kind, das getauft werden sollte, ließ er von ihnen taufen, und so wurden sie Anverwandte. Als die Brüder aufbrechen wollten, gab er ihnen so viele Schafe mit, wie sie mitnehmen konnten. Erfreut zogen die Brüder weiter, denn sie hatten einen Freund gefunden. An den Schafen jedoch hatten sie keine 264
Freude, weil sie selbst ausreichend Lebensmittel besaßen. Es verging eine lange Zeit. Die Brüder erfuhren nichts mehr von jenem Schäfer und er nichts mehr von ihnen. Sie sahen sich nicht mehr. Schließlich sagten sich die Brüder: »Besuchen wir doch einmal unser Patenkind und seinen Vater.« So zogen sie hin und fanden weder das Patenkind noch den Schäfer. Kein Schaf war mehr zu sehen und kein Schäfer. Da wunderten sie sich sehr. Lange suchten sie und nahmen viele Mühen auf sich. Endlich fanden sie einen Alten, den fragten sie: »Wo ist denn der Schäfer hingezogen?« Der Alte antwortete: »Himmel, der Schäfer ist schon lange gestorben. Ein Kind hat er hinterlassen. Es ißt mal bei dem einen, mal bei dem anderen, und wo es von der Nacht überrascht wird, dort bleibt es, denn es hat kein Dach über dem Kopf!« Die Brüder baten den Alten: »Such uns den Jungen, und wir geben dir alles, worum du uns bittest!« Der Alte brachte ihnen ihr Patenkind, und sie sahen, daß der Junge groß geworden war. Die Brüder freuten sich, als sie ihn sahen. Sie nahmen ihn mit, gaben ihm zu essen, versorgten ihn mit Kleidung und Wohnstatt, badeten ihn, wuschen seine Sachen, richteten ihm ein Daunenbett und sagten: »Ruhe dich aus!« Doch der Junge lehnte ab: »Ich kann nicht. Auf so einem Lager kann ich nicht einschlafen. Ich werde aufs Dach hinaufgehen und dort schlafen. Mit einer Decke will ich mich zudecken.« Die Brüder ließen ihm seinen Willen. Der Junge stieg hinauf und schlief auf dem Dach.
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In dieser Nacht hatten eine Königstochter und ein Königssohn miteinander vereinbart, sich, auf dem Dach zu treffen und zur Trauung zu gehen. Das Mädchen kam als erste. Nirgends konnte sie ihren Königssohn finden. Da ging sie hin und hob die Decke hoch, ob er vielleicht darunter liege. Aber er war es nicht. Lange wartete sie vergebens. Als der Königssohn jedoch immer noch nicht kam, meinte sie, er habe sie betrogen und mit Schande bedeckt. Und sie sagte sich: ›Was Gott mir gibt, will ich nicht verlieren!‹ Sie weckte den jungen Mann und sagte zu ihm: »Rasch, gehen wir und lassen wir uns trauen, ich will dich zum Manne nehmen!« Der Bursche klagte: »Ich bin ein armer Mann. Ich besitze nicht mehr, als du an mir siehst. Ich habe kein Haus, keine Güter, weder Speisen noch Getränke oder Kleider!« »Das macht nichts«, entgegnete die Frau, »das alles habe ich!« Sie nahm ihn mit zu sich nach Hause. Später zogen sie von dort fort und gelangten in die Stadt eines Herrschers. Von ihm mieteten sie ein Haus, in dem sie wohnten. Die junge Frau war so schön, daß sie den Herrscher fast um den Verstand brachte. Er rief seine Nasire und Wesire zu sich und sprach: »Ich habe eine Frau, die so schön ist, daß ein Christenmensch bei ihr keinen Bissen essen kann. Aber seht nur, was dieser Mann aus dem Gebirge für eine unwiderstehlich schöne Frau hat!«
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»Was sollen wir tun, großer Herrscher?« fragten die Nasire und Wesire. »Gewaltsam können wir sie ihm nicht wegnehmen!« Der Herrscher befahl, sie sollten sich eine List ausdenken, um ihm die Frau zu entführen. Die Nasire und Wesire überlegten hin und her. Dann sagten sie sich, dieser Mann stammt aus dem Gebirge. Er hat nichts weiter gesehen. Wir wollen ihn zum Essen einladen. Wenn er sich am Tisch nicht zu benehmen versteht, soll der Herrscher zornig werden und ihm die Frau wegnehmen! Sogleich sandten sie einen Mann zu ihm, der ihn für den nächsten Tag zum Essen beim Herrscher einladen sollte. Der junge Mann wurde nachdenklich: ›Ich weiß nichts, ich habe nichts weiter gesehen. Ich weiß nicht, wie man sich bei Tische zu benehmen hat!‹ Die Frau gab ihm Ratschläge: »Wenn du hineinkommst, darfst du nicht lachen. Wenn sie zu lachen beginnen, dann kannst auch du lachen. Wenn sie sich unterhalten, darfst auch du dich unterhalten!« Schließlich gab sie ihm sechs Äpfel. »Wenn das Essen vorüber ist, lege diese sechs Äpfel auf einen Teller und reiche sie dem Herrscher. Der Herrscher wird sie dir wieder zurückgeben. Nimm sie und reiche sie ihm abermals. Wenn man dir Speisen bringt, nimm von jeder nur einen Happen und stell sie dann zur Seite. Dann steh auf, verneige dich und geh!« Der junge Mann verhielt sich so, wie es ihm seine Frau geraten hatte. Als das Essen vorüber war, stand er auf, verbeugte sich und ging.
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Der Herrscher war sehr ungehalten über die Nasire und Wesire. »Ihr Esel«, schrie er sie an. »Ihr seid wirklich Esel und nicht dieser Mann aus dem Gebirge. Wie habt ihr mich in Schande gestürzt! Jetzt denkt euch etwas anderes aus, sonst ist es mit eurem Leben vorbei!« Die Nasire und Wesire sagten zu ihm: »Reite spazieren und laß dich von ihm begleiten. Er wird entweder vorreiten oder zurückbleiben und nicht wissen, wie man sich verhält. Darüber mußt du in Zorn geraten!« Der Herrscher ließ den jungen Manu zu sich kommen und befahl ihm: »Morgen reite ich spazieren, und du sollst mich begleiten!« Betrübt kehrte der Mann zu seiner Frau zurück. »Worüber bist du so traurig?« fragte diese. »Hier hast du einen Pferdeschweif und einen Ball. Stecke beides in deine Tasche, und wenn du dich der Gesellschaft näherst, dann zieh den Pferdeschweif hervor. Kommt ihr an einen Platz, dann reiße dein Pferd plötzlich herum, so daß der Ball aus deiner Tasche springt und zu hüpfen beginnt. Dein Pferd wird mit ihm spielen, und der Herrscher wird dir zuschauen. Unterwegs darfst du keinesfalls vorreiten oder zurückbleiben. Wenn sie die Pferde antreiben, dann treibe deines auch an, und wenn sie sie zügeln, dann zügle deines ebenfalls.« Der junge Mann ging und nahm Pferdeschweif und Ball mit. Als der Herrscher und die Fürsten zum Ausreiten herauskamen, holte er den Pferdeschweif hervor, und plötzlich stand ein schönes Pferd neben ihm. Er schwang sich in den Sattel und ritt dem Herrscher zur Seite. 268
Wenn der Herrscher sein Pferd anspornte, spornte auch er sein Pferd an. Ritt der Herrscher langsam, dann ritt auch er im Schritt. Als sie an einen Platz kamen, riß der junge Mann auf einmal sein Pferd herum. Der Ball sprang aus seiner Tasche, und sein Pferd begann mit dem Ball zu spielen. Alle Fürsten sowie der Herrscher blieben stehen und sahen erstaunt diesem Spiel zu. Als das Spiel zu Ende war, verneigte sich der junge Mann vor dem Herrscher und ritt nach Hause. Jetzt war der Herrscher noch wütender über seine Nasire und Wesire: »Ihr Esel, nun habt ihr auch mich zum Esel gemacht. Wer hat je einen besseren und wohlerzogeneren Reiter gesehen als ihn?! Wenn ihr nichts ausdenkt, was wir ihm antun können, dann wehe eurer Haut!« Die Nasire und Wesire überlegten lange. Schließlich kamen sie überein: »Er soll die Boshmi-Blume herbringen, von jenem Ort kehrt er bestimmt nicht mehr zurück.« Sie gingen zum Herrscher und unterbreiteten ihm den Vorschlag. Der Herrscher war hocherfreut. Am nächsten Tag befahl er den jungen Mann zu sich und gebot ihm: »Du mußt mir die Boshmi-Blume bringen!« Der junge Mann verneigte sich und ging. Er lief zu seiner Frau und berichtete ihr von seinem Auftrag: »Was soll ich tun?« Die Frau entgegnete: »Geh und bitte den Herrscher um neun Monate, neun Tage und neun Stunden Zeit und für mich um Speise und Trank!« Da ging der Mann zum Herrscher und erbat dies alles. 269
Als er zu seiner Frau zurückkehrte, brachte er für neun Monate Lebensmittel mit. Er selbst aber begab sich auf die Suche nach der Boshmi-Blume. Lange suchte er und kam viel herum, doch wo er auch nach der Boshmi-Blume fragte, überall gab man ihm die gleiche Antwort: »Viele sind hier schon entlanggekommen, um die Boshmi-Blume zu holen, aber nicht einer ist mit ihr heimgekehrt!« Nach einiger Zeit kam der Mann zu einem Ort mit drei Feldern. Drei Brüder mähten Getreide, einer unten, einer in der Mitte und einer auf der Höhe. Sie mähten und konnten die Felder dennoch nicht abmähen. Der junge Mann stieg ab und grüßte. Sie wünschten sich ›Guten Tag‹ und fragten einander nach ihren Vorhaben. Der junge Mann sagte: »Ich bin auf der Suche nach der Boshmi-Blume, und wenn du darüber etwas wissen solltest, dann hilf mir!« Der Mann war so alt, daß sein weißer, moosbedeckter Bart bis zum Gürtel reichte. Er sprach: »Ich weiß nichts. Geh hinauf zu dem, der dort mäht. Das ist mein älterer Bruder, vielleicht weiß der etwas!« Der junge Mann dankte ihm und stieg zum zweitältesten Bruder hinauf, der nur wenige graue Strähnen in seinem Bart hatte und rüstig war. Er grüßte, und sie tauschten gute Wünsche aus. Dann setzten sie sich, um auszuruhen. Drei Tage verbrachte der junge Mann bei ihm, drei Tage hatte er auch bei dem ältesten Bruder verbracht. Inzwischen waren neun Monate vergangen und sechs Tage. Drei Tage und neun Stunden waren ihm nur noch verblieben. 270
Sie befragten sich nach ihrem Wie und Woher, und der junge Mann erzählte ihm alle seine Erlebnisse: »Ich bin nach der Boshmi-Blume unterwegs und weiß nicht, ob ich sie finden werde. Vielleicht weißt du, wo sie ist und wie ich zu ihr gelangen kann?« Der Mann schüttelte den Kopf: »Das weiß ich nicht. Vielleicht weiß mein älterer Bruder etwas davon. Wenn du da hinaufgehst, kommst du zu ihm.« Der junge Mann verabschiedete sich von ihm und stieg zum ältesten Bruder hinauf. Dieser schlief gerade, und an der Tür traf er dessen Frau, die ihn freundlich aufnahm und nach dem Grund seiner weiten Reise fragte. Der junge Mann sagte: »Ich bin auf der Suche nach der Boshmi-Blume, und vielleicht weiß Euer Mann etwas darüber!« »Mein Mann schläft«, sagte die Frau, »ich werde ihn wecken, damit du ihn fragen kannst.« Sie öffnete die Truhe, holte ihre neun Jahre alten Verlobungs-Pantoffeln hervor und schlurfte damit durchs Zimmer, um ihn durch dieses Geräusch zu wecken. Der Mann erwachte und meinte vorwurfsvoll: »Warum hast du mich geweckt?« Er warf einen Blick in den Spiegel, sah, daß ein weißes Haar in seinem Bart schimmerte, riß es heraus und warf es weg. Seine Frau erklärte: »Dieser junge Mann ist auf der Suche nach der Boshmi-Blume. Weißt du nicht, wo sie zu finden ist?« »Warte«, sagte der Mann, »erst wollen wir essen und uns die Zeit vertreiben, dann will ich es dir verraten. Aber leicht ist sie nicht zu beschaffen!« 271
Sie setzten sich zu Tisch. Als sie mit dem Essen fertig waren, sagte der Mann zu seiner Frau: »Geh und bring eine Zuckermelone herauf!« Die Frau war schwanger und ging im letzten Monat. Sie stieg hinab, um die Zuckermelone heraufzuholen. Als sie sie brachte, wies er sie zurecht. »Die taugt nichts, bring eine andere!« Die Frau stieg zum zweiten Mal hinunter. Aber auch diesmal gefiel sie dem Mann nicht, und so ging die Frau ein drittes Mal. Der junge Mann merkte, daß es der Frau sehr schwerfiel, sie war ganz in Schweiß gebadet. Ihr Mann ließ trotzdem nicht locker. Neunmal ließ er sie hin- und herlaufen. Schließlich bat der junge Mann den Alten: »Quäl deine Frau nicht, es fällt ihr schwer!« Doch er hörte nicht auf ihn. Schließlich sagte er: »Du hast doch gesehen, wie meine jüngeren Brüder aussehen und wie wohl ich mich befinde. Dieses eine Mal hat mich meine Frau gegen meinen Willen geweckt, und sogleich hatte ich ein weißes Haar in meinem Bart. Die Leute denken, sie seien die älteren und ich der jüngere Bruder. Das liegt daran, daß ich so eine gute Frau habe. Neun Jahre lang schon hat meine Frau mir nicht widersprochen. Als ich mit ihr verlobt war, haben sich meine Brüder mit mir zerstritten. Lange konnten wir uns nicht einigen. Schließlich kam ein Fremder und sprach sein Urteil über uns: ›Wer sich als erster mit jener Frau verlobt hat, dem soll sie gehören.‹ Seitdem hört mein jüngster Bruder nichts als Hundegebell in seinem Leben, der mittlere nichts als Eselsgeschrei, und ich höre nichts als Hähnekrähen. So hat es das Schicksal uns beschieden.«
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Dann erklärte er dem jungen Mann, wo die BoshmiBlume zu finden sei. Er zeigte ihm einen Felsen, dessen Spitze weiß war, die Mitte rot und der Grund schwarz. Der Felsen war so hoch, daß nicht einmal ein Platanenwipfel hinaufreichen konnte. »Auf diesem Felsen sitzt eine Geisterfrau und läßt ihr Haar herabhängen. In ihrem Haar blühen BoshmiBlumen. Wenn sich jemand dort verbirgt, kann er von dem Haar am Grund des Felsens die Boshmi-Blume pflücken. Viele junge Männer hat jedoch die Geisterfrau schon getötet. Wenn du hinkommst, dann wickle ihr Haar um deine Hand, sie wird dann schon wissen, ob sie dich töten soll oder nicht.« Der junge Mann ging und setzte sich am Grund des Felsens nieder. Die Geisterfrau kam heraus und breitete ihr goldenes Haar über den Felsen, in dem tausend verschiedene Blumen blühten. Der junge Mann lief hin, wickelte sich ihr Haar um seinen Arm und wollte sie festhalten. Die Frau spürte das Gewicht, begriff, was geschah, zog ihr Haar empor, raffte es zusammen und schleuderte den jungen Mann in ihr Gemach. Sie selbst folgte ihm. Der Mann stand wohlbehalten auf den Beinen. Nun fragte ihn die Frau: »Was willst du, wie kannst du es wagen hierherzukommen?« »Ich möchte die Boshmi-Blume«, antwortete er. »Ich weiß, warum du sie willst«, entgegnete die Frau. »Wir wollen keine Zeit mehr verlieren. Nur neun Stunden verbleiben dir noch. Gehen wir, ich komme mit!« Sie schwangen sich auf Windpferde und jagten davon. 273
Es war Nacht, als sie zu Hause ankamen. Sie sprangen an der Tür ab, und der junge Mann klopfte. Verzweifelt stürzte die Frau herbei. Sie dachte, der Herrscher habe nach ihr geschickt, um sie holen zu lassen. »Ihr Gottlosen, hättet ihr wenigstens das Morgengrauen abgewartet, bevor ihr kommt!« Hinter der Tür hatte sie einen eingewachsten Strick festgemacht. In den hätte sie ihren Kopf gesteckt und sich erhängt, wenn die Frist verstrichen und der Mann nicht zurückgekommen wäre. Die Geisterfrau sagte zu dem jungen Mann: »Hast du denn nichts von deiner Frau, um ihr zu zeigen, daß sie nicht betrübt sein soll?!« Er trug einen Ring, den zog er vom Finger und warf ihn seiner Frau zur Tür hinein. Die Freude war riesengroß, sie öffnete ihrem Mann und umarmte ihn. Am nächsten Tag schickte die Geisterfrau dem Herrscher die Boshmi-Blume und ließ ihm ausrichten: »Großer Herrscher, was für ein Herrscher bist du nur. Als ich über das Meer kam, lag keine Brücke darüber. Besorge mir drei Frauen und schicke sie zu mir. Ich will eine Brücke bauen, sie sollen sie emporheben und über das Meer legen!« Der Herrscher beschaffte drei Frauen und schickte sie ihr. Nun verwandelte die Geisterfrau ihre Zöpfe in Bäume und befahl jenen Frauen, sie als Brücke über das Meer zu legen. Die Frauen hoben sie an und legten die Brücke, und die Geisterfrau verbarg sich darin. Die Brücke war so wunderbar, daß man sich keine bessere wünschen konnte. Die Geisterfrau ließ dem Herrscher ausrichten: »Ruf alle deine Fürsten zusammen und schaut euch die Brücke an! Nur deine Frau laß zu Hause!« 274
Der Herrscher machte sich mit seinen Fürsten, den Nasiren und Wesiren auf, um die Brücke zu besichtigen. Sie betraten sie und liefen darauf entlang. Sie gefiel ihnen ausnehmend gut. Als sie zum dritten Mal darüberliefen und in der Mitte anlangten, hob die Geisterfrau die Brücke in die Höhe, verwandelte die Bäume wieder in Haare, raffte sie zusammen und stürzte den Herrscher samt seinem Gefolge zum Fraß für die Fische ins Meer. Den jungen Mann setzte sie als Herrscher ein, seine Frau blieb bei ihm. Die Frau des alten Herrschers jedoch stellte die Geisterfrau als Dienstmagd an. Sie selbst verabschiedete sich und kehrte zu ihrem Felsen zurück.
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Der Herrscher und seine neun Söhne Es war einmal ein großer Herrscher, der hatte neun Söhne. So viele Söhne hätten einen anderen sicher froh gemacht, aber jener Herrscher betrachtete das mit ganz anderen Augen. Mit dem einen Auge weinte er, und mit dem anderen lachte er. Hätte ihn jemand gefragt: ›Großer Herrscher, warum freust du dich so, daß du mit einem Auge lachst und mit dem anderen weinst?‹ dann hätte er geantwortet: ›Mit einem Auge lache ich, weil ich neun Söhne habe, und mit dem anderen Auge weine ich, weil unter diesen neun Söhnen keiner ist, der mein Werk fortführen könnte.‹ Einmal hörte der älteste Sohn die Worte des Vaters, da ging er zu ihm und sagte: »Vater, was bedrückt dich, weshalb weinst du, du hast so viele Kinder, was betrübt dich?« »Mich bedrückt«, antwortete der Herrscher, »daß von euch neun Söhnen keiner so geworden ist, daß er meine Geschäfte in die Hand nehmen könnte.« »Vielleicht sind wir doch dazu imstande, Vater, warum machst du dir im voraus das Herz schwer!« entgegnete der Sohn. Der Vater wollte es ihm nicht sagen, aber weil der Sohn nicht nachgab, sprach er: »Kannst du, noch ehe ein Fasan gebraten ist, losziehen und das Wasser der Unsterblichkeit holen?« »Nein!« gab der Sohn zur Antwort. Dann kam der zweitälteste Sohn, den fragte der Herrscher dasselbe. Einige Söhne waren nicht bereit, diese Probe zu wagen, andere machten sich auf den 276
Weg, aber wenn sie zurückkehrten, war stets der Fasan zu Asche zerfallen. Endlich ging der jüngste Sohn zu seinem Vater und sagte: »Vater, ich will aufbrechen und jenes Wasser holen, wenn du mir nur dein Pferd gibst!« Der Vater weigerte sich hartnäckig. Da stahl der Sohn dem Vater das Pferd, schwang sich in den Sattel und flog in die Luft hinauf. Als der Vater hörte, der Sohn habe sein Pferd gestohlen, verfluchte er ihn: ›Wenn du so fortgezogen bist, sollst du nicht wiederkommen!‹ Der Sohn jagte zur Quelle der Unsterblichkeit und reichte der Fischfrau den Krug, damit sie ihm Wasser heraufholte. Die Frau stand im Wasser der Unsterblichkeit, war oberhalb des Gürtels Frau und unterhalb Fisch. Die Fischfrau sagte zu ihm: »Kehr um und geh nicht nach Hause zurück! Du bist von deinem Vater verflucht worden. Etwas Gutes hast du nicht zu erwarten, du wirst unterwegs sterben!« Der junge Mann ließ nicht von seinem Vorhaben ab. Er nahm das Wasser der Unsterblichkeit, schlug dem Pferd eins mit der Peitsche über und jagte nach Hause. Doch im Gebirge lauerten ihm Daghestaner auf, die ihn töteten, in Stücke zerteilten und diese an das Pferd hängten. Dieses Pferd trabte zurück und kam wiehernd zur Fischfrau. Sie legte die Leiche des jungen Mannes Glied für Glied zusammen, begoß sie mit dem Wasser der Unsterblichkeit und belebte ihn wieder. »Oh, wie lange habe ich geschlafen!« sagte der junge Mann und rieb sich die Augen. »Habe ich dir nicht gesagt, daß niemand dem Fluch seines Vaters entrinnen kann«, sprach die Fischfrau vorwurfsvoll. »Wären ich und dein Pferd nicht gewe277
sen, dann wäre deine Leiche jetzt nirgends mehr zu finden. Reite nicht nach Hause zurück, sondern irgendwo anders hin!« Der junge Mann verabschiedete sich von der Frau. Er wies seinem Pferd die Richtung und ritt davon. Nach einiger Zeit kam er auf eine Ebene. Er blickte sich um und sah, daß auf der Ebene etwas leuchtete. Es war etwas so Wunderbares, so Farbiges, wie es sonst nichts auf der Welt gab. Als er näher kam, sah er, daß es eine Feder war. Er fragte sein Pferd: »Was rätst du mir, soll ich sie aufheben?« »Hebst du sie auf, wirst du es bereuen«, antwortete das Pferd. »Hebst du sie nicht auf, wirst du es ebenfalls bereuen!« »Was mir auch immer geschehen mag, ich hebe sie auf!« sagte der junge Mann. Er hob sie auf, steckte sie in seine Tasche und setzte seinen Weg fort. Nach langem Umherreiten gelangte er zu einem Herrscher und verdingte sich bei ihm als Stallknecht. Am nächsten Tag ritt er auf seinem Pferd hinaus und nahm zwei Burschen mit. Sie trieben die Pferde auf die Weide. Dort holte der junge Mann seine Feder hervor, nahm sie in die Hand und schaute sie den ganzen Tag lang an. Er vergaß die Pferde und die Welt. Zwei Tage lang sahen sich seine Kameraden das mit an, dann meldeten sie es dem Herrscher: »Unser neuer Stallknecht, großer Herrscher, hat irgend etwas. Er holt es hervor und starrt es den ganzen Tag lang an. Er ißt nichts und gibt auch den Pferden kein Futter. Die armen stehen den ganzen Tag angebunden Seite an Seite!«
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Sofort befahl der Herrscher den Stallknecht zu sich und fragte ihn: »Was hast du, das du den ganzen Tag anstarrst?« »Was soll ich haben?« antwortete der junge Mann. »Besäße ich etwas, würde ich mich nicht bei Euch als Stallknecht verdingen!« »Nein«, entgegnete der Herrscher, »du mußt es mir unbedingt geben!« Da zog der junge Mann die bunte Feder aus der Tasche und gab sie dem Herrscher. Der stand da wie versteinert und starrte mit offenem Mund die Feder an. Er konnte nichts anderes mehr tun als hinzuschauen, er brauchte weder Speise noch Trank! »Was sperrst du Mund und Augen auf«, sagte die Feder zu ihm, »an mir ist nichts wunderbar. Wunderbar ist der, dem ich ausgefallen bin!« »Wer soll ihn denn herbringen?« fragte der Herrscher. »Der mich hierhergebracht hat«, antwortete die Feder. Sogleich rief der Herrscher den jungen Mann zu sich und sprach: »Du mußt losziehen, wohin auch immer, und den Vogel holen, dem diese Feder ausgefallen ist!« Der Jüngling war sehr betrübt. Er ging und beklagte sich bei seinem Pferd: »Schlecht steht es um meine Sache. Der Herrscher hat mir aufgetragen, den Vogel zu holen, der die Feder verloren hat.« »Was hilft da Klagen«, antwortete das Pferd, »wir müssen ausziehen und ihn herbringen. Geh zum Herrscher und laß dir ein Maultier, einen Hammer und neun Sattelriemen geben!«
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Der junge Mann ging, beschaffte alles und brachte es zum Pferd. »Sitz auf, wir reiten los!« gebot das Pferd. Der junge Mann sprang aufs Pferd und ritt aus, jenen Vogel suchen. Sie kamen auf einen Berg. Dort sagte das Pferd zu dem jungen Mann: »Diese Vögel lassen sich hier nieder. Schlachte das Maultier, nimm die Därme heraus, ramme einen großen Eisenpfahl sehr fest in den Boden, binde das Maultier daran, damit es der Vogel nicht wegtragen kann, und setz dich in das Maultier hinein. Der Vogel wird kommen, einmal rundum fliegen und dann seine Krallen hineinschlagen, um es fortzutragen. Aber weil es festgebunden ist, kann er es nicht emporheben. Er wird es ein zweites Mal versuchen. Maultierfleisch hat er sehr gern, deshalb wird er sich hinsetzen und zu fressen beginnen. Nun mußt du ihn packen und festhalten. Ich werde dir dabei helfen. Zuerst werden wir ihn müde machen, dann setzt du ihn auf mich und bindest ihn mit den neun Sattelriemen fest. Du setzt dich auf den Vogel, und sooft er sich emporschwingen will, schlägst du ihm mit dem Hammer auf den Kopf!« Der junge Mann befolgte den Rat des Pferdes. Der Vogel kam geflogen. Er war so herrlich, daß keines Menschen Auge je etwas Schöneres gesehen hatte. Zuerst fiel er über das Maultier her und krallte sich daran fest, aber er konnte es nicht wegtragen. Er versuchte es ein zweites Mal, aber auch diesmal war es vergeblich. Da ließ er sich nieder und begann das Fleisch zu zerreißen. Der Mann saß in dem Maultier. Vorsichtig streckte er die Hand aus, packte den Vogel und hielt ihn fest. Der 280
Vogel zog ihn empor, aber der junge Mann sprang auf ihn und trat ihn mit den Füßen. Das Pferd kam ihm zu Hilfe, und schließlich konnten sie den Vogel überwältigen. Sie setzten den geschwächten Vogel aufs Pferd und schnallten ihn mit neun Sattelriemen fest. Obenauf setzte sich der junge Mann, dann brachen sie auf. Unterwegs wurde der Vogel munter, wollte sich in die Lüfte erheben und begann die einzelnen Sattelriemen zu zerreißen. Der junge Mann schlug ihm mit aller Kraft den Hammer auf den Kopf, aber damit konnte er ihm nicht viel antun. Acht Riemen hatte der Vogel schon zerrissen, nur mit einem einzigen war er noch angebunden, in dem Augenblick trafen sie beim Herrscher ein. Der junge Mann schrie: »Helft mir!« Sofort eilte man ihm zu Hilfe und brachte den Vogel in einen gesonderten Raum. Der Herrscher betrachtete den Vogel und konnte kein Auge mehr von ihm lassen. »Was sperrst du Mund und Augen auf«, sagte der Vogel zu dem Herrscher, »was bin ich schon. Wunderbar ist die, die mich aufgezogen hat!« »Wer soll sie herbringen?« fragte der Herrscher den Vogel. »Der mich hierhergebracht hat! Ihm wird es nicht schwerfallen, auch sie zu holen.« Auf der Stelle befahl der Herrscher den Jüngling abermals zu sich und sagte: »Du mußt gehen, wohin auch immer, und das Mädchen holen, das diesen Vogel aufgezogen hat!« »Aber woher denn, Herr!« sträubte sich der junge Mann, »woher soll ich wissen, wo dieses Mädchen lebt!« 281
»Das ist deine Sache«, sagte der Herrscher, »tue, was du willst, nur bring mir das Mädchen!« Was sollte der Ärmste machen? Traurig ging er zu seinem Pferd zurück. »Was betrübt dich, mein Herr?« fragte das Pferd. »Warum bist du so nachdenklich? Laß keinen Kummer in dein Herz, sonst wird es krank!« »Ich habe einen neuen Auftrag«, antwortete der junge Mann, »und weiß nicht, was ich tun soll.« »Mach dir darüber keine Gedanken«, beruhigte ihn das Pferd. »Geh und laß dir zwei Gläser Schmalz und zwei Schafe geben, dann wollen wir aufbrechen!« Der junge Mann begab sich zum Herrscher, erbat sich zwei Gläser Schmalz und zwei Schafe, schwang sich aufs Pferd und ritt davon. Nach einiger Zeit kamen sie an jenen Ort, wo das Haus des Mädchens stand. Das Pferd sprach: »An der Tür sitzen zwei Löwen, die fressen uns, wenn du ihnen nicht die Schafe vorwirfst. Dann sind noch zwei Hunde da, denen wirf die Schmalzgläser hin, damit sie uns durchlassen. Wenn du in das Haus trittst, lege alles zusammen, was ausgebreitet ist, und falte auseinander, was zusammengelegt ist, denn dort liegen tausend verschiedene Stoffe aus Seide und mit Gold durchwirkt. Darinnen ist das Mädchen versteckt. Du würdest sie sonst nicht finden.« Da ging der junge Mann zum Haus des Mädchens. Als er die Löwen vor sich sah, warf er ihnen die Schafe hin und ging an ihnen vorbei. Den Hunden warf er die Schmalzgläser hin und trat in das Zimmer des Mädchens. Was er zusammengelegt fand, breitete er aus, und was er ausgebreitet fand, faltete er zusammen. Da kam das Mädchen zum Vorschein. Sie war so wun282
derschön, daß man sich nach ihren Anblick sehnte. Der junge Mann setzte das Mädchen aufs Pferd und jagte mit ihr zum Herrscher. »Helft mir, meine Löwen!« rief das Mädchen, »der Feind entführt mich!« »Wir haben keine Zeit, wir müssen noch die Reste von den Schafen auffressen!« entgegneten die Löwen. »Dann helft ihr mir wenigstens!« rief sie den Hunden zu, aber auch die Hunde hörten nicht auf sie: »Wir haben keine Zeit, wir müssen die Schmalzgläser auslecken!« Der junge Mann ritt mit dem Mädchen zum Herrscher und sagte: »Hier habe ich Euch das Mädchen gebracht!« Der Herrscher konnte sich vor Freude nicht mehr auf den Beinen halten, aber bald verging ihm die Freude, denn das Mädchen sagte: »Wenn mir niemand die Milch meiner Lieblingspferde bringt und ich nicht darin baden kann, heirate ich dich nicht!« »Wer soll denn die Milch deiner Lieblingspferde holen?« fragte der Herrscher. »Der mich hierhergebracht hat!« antwortete das Mädchen. Sofort ließ der Herrscher abermals den jungen Mann zu sich rufen und gebot ihm: »Du mußt gehen und die Milch der Pferde dieses Mädchens holen!« Der junge Mann kehrte betrübt zu seinem Pferd zurück. »Wieso bist du so traurig?« fragte das Pferd. »Wie sollte ich nicht traurig sein, jetzt schickt er mich nach der Milch ihrer Pferde«, antwortete er.
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»Mach dir keine Sorgen!« tröstete ihn das Pferd. »Geh zum Herrscher und laß dir das Fell von neun Büffeln, neun Sattelriemen und eine Flasche Öl geben!« Der junge Mann ging hin, erbat sich dies alles, und sie brachen auf. Sie gelangten an ein Meer, in dem die Pferde des Mädchens lebten. Da sprang der Mann ab, und sie ruhten sich aus. Das Pferd sprach zu ihm: »Hülle mich in jene neun Büffelhäute und binde die neun Riemen darum. Ich schwimme ins Meer hinaus. Du aber gießt die Flasche Öl nach und nach ins Wasser. Wenn weißer Schaum emporkommt, bin ich am Leben und werde bald auftauchen. Wenn nicht, dann bin ich tot, und du brauchst nicht mehr auf mich zu hoffen!« Das Pferd tauchte ins Meer und trieb die Pferde des Mädchens zusammen. Manche schlug es mit seinen Hufen, andere biß es. So jagte es sie hinauf. Aber die Pferde des Mädchens blieben nichts schuldig. Sie wehrten sich und bissen zurück, daß die Büffelhäute zerrissen. Schließlich war nur noch eine einzige Büffelhaut übriggeblieben. Der junge Mann goß das Öl ins Meer, und weißer Schaum stieg empor. Da wußte er, daß sein Pferd wieder heraufkommen würde. Bald tauchte es auf und trieb die Rosse des Mädchens vor sich her. Sie hatten vereinbart, der junge Mann solle sich auf einen Baum setzen und plötzlich auf sein Pferd herunterspringen. Das Pferd galoppierte unter dem Baum entlang, der junge Mann sprang in den Sattel, und sie jagten davon. Sie trieben die Pferde zum Sitz des Herrschers und kamen donnernd zu seinem Hof. Der junge Mann ging zum Herrscher und meldete ihm, daß auch dieser Auftrag erfüllt sei. Der Herrscher freute 284
sich sehr. Man molk die Pferde und bereitete das Bad. Die Pferdemilch war so ungestüm, daß immerfort Schaum emporspritzte: Sie kochte und kochte und wollte nicht aufhören zu kochen. »Steig hinein, Herrscher, du sollst zuerst baden!« sagte das Mädchen. »Aber ich bin doch gebadet und sauber«, erwiderte der Herrscher. »Ich will nicht mehr baden!« Das Pferd sprach zu dem jungen Mann: »Ich will hineinblasen, daß sie abkühlt. Steig du hinein und bade. Danach wird das Mädchen hineinsteigen. Dann werde ich wieder blasen, und die Milch wird wieder zu kochen beginnen. Der Herrscher wird hineinsteigen, und was ihm geschieht, soll ihm geschehen!« Das Pferd blies in die Milch, und der junge Mann stieg in den Kessel, badete und kam wieder heraus. Das Mädchen folgte ihm und kam ebenfalls heraus. Der Herrscher sagte sich: ›Wenn diese baden und ihnen nichts geschieht, warum sollte dann mir etwas passieren?‹ Und er stieg ebenfalls hinein. Das Pferd blies in die Milch, sie begann abermals zu kochen, und man zog den Herrscher tot aus dem Kessel. Das Mädchen und der junge Mann feierten Hochzeit. Das Reich gehörte jetzt ihnen und auch das Schloß. Als die Hochzeit zu Ende war, besuchte der junge Mann seine Eltern. Er nahm seine Frau mit und bereitete den Eltern eine große Freude. Der Vater segnete seinen Sohn wieder, und noch heute leben sie im Glück, essen weißes Brot und trinken roten Wein.
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Die Tochter der Sonne Es waren einmal drei Freunde. Drei Tage lang pflügten sie das Land, dann säten sie. Der eine hier, der andere dort und der dritte in der Mitte. Es gedieh eine prächtige Saat. Das Feld wogte wie ein Meer. Die Männer freuten sich, wenn sie ihre Felder betrachteten. Aber welches Unglück! Eines schönen Tages bewölkte sich der Himmel. Es hagelte, und das mittlere Feld wurde dem Erdboden gleich. Die beiden Felder an den Rändern aber blieben unversehrt. Als der Besitzer kam und sein Feld sah, brach ihm das Herz. Trotzdem sagte er kein Wort, nahm die Sense über die Schulter und machte sich auf, sein Glück zu suchen. Er lief und lief und kam zu einem reichen Mann. Der Reiche besaß ein Stück Land, das hundert Tage Zeit zur Bearbeitung brauchte. Der Mann ging zu dem Reichen und sagte: »Was gibst du mir, wenn ich dein Land an einem einzigen Tag abmähe?« »Ich gebe dir die Hälfte der Ernte!« antwortete der Reiche. Da ging der junge Mann hin und begann, aus Strohhalmen Bindfäden zu drehen. Bis zum Mittag drehte er Fäden, dann nahm er die Sense und mähte. Nur eine einzige Garbe hatte er noch zu binden, als die Sonne unterging. Da zog der Mann vor der Sonne seine Kappe vom Kopf und flehte sie an: »Geh noch nicht unter, warte noch ein wenig!« Doch die Sonne wartete nicht. Er band die letzte Garbe, da kam auch schon der Besitzer des Feldes. Er staunte sehr über die Arbeit des 286
Mannes und sagte: »Teilen wir, wie es abgemacht war!« Aber der junge Mann schüttelte den Kopf, schulterte die Sense und sagte: »Ich habe nun einmal kein Glück. Ich habe die Abmachung nicht rechtzeitig erfüllt. Behalte meinen Teil.« Er ging und kam nach einiger Zeit zu einem Herrscher. Bei ihm verdingte er sich für vier Jahre als Schäfer. Sie vereinbarten, daß weder der Wolf in diesen vier Jahren etwas reißen noch eine Seuche Schaden anrichten durfte, mit einem Wort, kein Härchen durfte den Schafen gekrümmt werden. Am Ende wollten sie die Herde teilen. Die eine Hälfte sollte dem Herrscher gehören, die andere dem Schäfer. Wenn aber ein Schaf fehlte, sollte der Schäfer leer ausgehen. Der Schäfer begann seinen Dienst. Es vergingen vier Jahre. Kein Lammohr fehlte. Er hütete die Schafe so gut, daß die Erde von ihnen ganz schwer wurde. Er wollte die Herde gerade in die Hürde treiben, um sie zu teilen, als plötzlich ein Wolf auftauchte, ein Schaf anfiel und es in den Wald schleppte. Der Herrscher wollte ihm trotzdem die Hälfte geben, aber der Schäfer lehnte ab und ging seines Wegs. Einige Zeit später kam er an einen Fluß, setzte sich hin und ruhte sich aus. Als er aufblickte, sah er, daß drei Sonnenjungfrauen herabgekommen waren und sich im Wasser badeten. Kein Menschenauge hatte je etwas Schöneres gesehen. Der Mann stand auf, schlich sich zu den Jungfrauen und entführte eine von ihnen. Er lief mit ihr weit weg und brachte sie auf eine Ebene. Dort baute er eine Hütte, in der sie lebten. Aber sie besaßen nichts. Der Mann wollte auch nicht
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mehr arbeiten gehen: »Was ich versucht habe, ist mir mißlungen, wo sollte ich wohl noch hingehen?« Die Frau besaß einen Zauberring. Sie gab den Ring ihrem Mann und sagte: »Das ist meine Mitgift, etwas anderes besitze ich nicht. Wenn du ihn auf die Erde legst, wird sich eine Tafel entfalten. Legst du ihn auf die Tafel, deckt sie sich mit Speisen und Getränken. Nimmst du ihn herunter, räumt sich das Geschirr ab. Legst du ihn wieder auf den Tisch, dann deckt er sich abermals.« Der Mann freute sich sehr. Er machte sich ein leichtes Leben. Bisweilen erwog er, den Herrscher einzuladen. Die Frau riet ihm jedoch ab: »Bleib in deiner Haut, strebe nicht nach Unerreichbarem! Es ist nicht so einfach, den Herrscher zu bewirten. Wir haben nur diesen einen Ring. Willst du den auch noch verlieren?« »Wir müssen ihn einladen und ihm unser bäuerliches Leben zeigen«, beharrte der Mann. »Der Hof soll sehen, daß wir auch den Herrscher bewirten können.« Am nächsten Tag brach der Mann auf, um den Herrscher einzuladen. Er überreichte ihm ein Geschenk und bat ihn: »Macht uns glücklich und kommt zu uns speisen.« Der Herrscher mußte lachen: »Was bist du denn schon, was kann deine Tafel schon bieten!« Trotzdem sagte er: »Ich kann nicht kommen, aber meine Nasire und Wesire werden der Einladung Folge leisten.« Der Herrscher ließ die Nasire und Wesire rufen und befahl ihnen: »Geht und seht euch an, wozu euch dieser Mann einlädt, ob er wirklich etwas zu bieten hat oder mich zum Narren halten will!« Der Mann ging voran, und die Nasire und Wesire folgten ihm mit ihren Soldaten. Unterwegs bekamen 288
die Truppen und die Nasire und Wesire Hunger. Sie erlegten einen Fasan, gaben ihn einem Burschen und schickten diesen in die Hütte voraus, um den Fasan braten zu lassen. Der Bursche briet den Fasan und schaute immerzu nach der Sonnenfrau. Sie bezauberte ihn derart, daß er den Fasan vergaß. So verbrannte er zur Hälfte. Er brachte ihn dennoch den Nasiren und Wesiren. Diese fragten nach der Ursache des Verbrennens. »Götter, eine schöne Frau war in der Hütte des Mannes, die hat mich so gefesselt, daß ich an nichts anderes mehr gedacht habe!« Die Nasire und Wesire trieben die Soldaten zur Eile an. Sie saßen auf und ritten zur Hütte des Mannes, weil sie begierig waren, die Frau zu sehen. Als sie herankamen, sprangen sie ab. Der Mann der Sonnenfrau legte den Ring unter die Pferde, und jedes Pferd erhielt einen Haufen Heu und einen Sack mit Gerste. Dann nahm er ihn wieder auf, und die leeren Säcke lösten sich von den Pferden. Er legte den Ring hin und deckte den Tisch für das Heer. Immer wieder kamen neue Speisen und Getränke. Die Nasire und Wesire standen verwundert da. Kein Haus war da, nichts zu sehen, und trotzdem geschah dies alles. Als sie aber seine Frau sahen, verloren sie völlig den Verstand. Der Mann bewirtete sie auf das köstlichste und setzte die Nasire und Wesire in Erstaunen. Diese kamen zum Herrscher zurück. »Wie hat euch mein Untertan bewirtet?« fragte der Herrscher. Die Nasire und Wesire lobten ihn sehr: »Ganz ohne Feuer hat er uns Speisen zubereitet. Aber seine Frau 289
hat nicht ihresgleichen. Das ist keine Frau für diesen Mann, sondern für einen Herrscher. Wenn Ihr ihm die Frau wegnehmt, werdet Ihr der glücklichste Mensch sein!« »Wie soll ich sie ihm wegnehmen?« fragte der Herrscher. »Solange er am Leben ist, wird er sie nicht ohne Grund hergeben.« Die Nasire und Wesire rieten ihm: »Laßt den Mann zu Euch kommen und befehlt ihm, Euch den goldenen Widder der Sonne zu bringen. Er wird losziehen und nie mehr zurückkehren, und die Frau wird Euch gehören!« Da ließ der Herrscher den Mann der Sonnenfrau rufen und sagte: »Du mußt gehen und mir den goldenen Widder der Sonne holen!« Der Mann ging nach Hause und klagte seiner Frau: »Der Herrscher schickt mich zur Sonne, ich soll ihm den goldenen Widder bringen.« »Was hilft’s jetzt«, sprach die Frau, »das hättest du dir früher überlegen sollen. Jetzt helfen keine Klagen. Es ist besser, du machst dich auf den Weg!« Sie gab ihm ein Zeichen mit und schickte ihn los. Lange war der Mann unterwegs, viele Länder durchquerte er, bis er ans Ende der Welt kam, wo das Reich der Sonne beginnt. Er lief und lief und gelangte dorthin, wo Sonne und Mond waren. Die Sonne war unterwegs auf ihrer Bahn, um die Erde zu erleuchten. Der Mond sah den Mann, erkannte ihn und freute sich sehr. Er fragte den Mann nach dem Grund seines Kommens, und der Mann der Sonnenfrau erzählte ihm alles.
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»Wenn die Sonne kommt, wirst du ihr Licht nicht ertragen und verbrennen!« sagte der Mond. So verwandelte er ihn in eine Nadel und spießte diese in einen Pfahl. Am Abend kam die Sonne. »Hier riecht es nach einem Lebewesen«, rief die Sonne, »wer ist in mein Reich gekommen?« »Was du nicht sagst«, hielt ihr der Mond entgegen, »du ziehst über die Erde, deren Geruch wird dir anhaften. Wenn nun dein Schwiegersohn hier wäre, würdest du ihn verbrennen?« »Nein«, schwor die Sonne, »nur zeig ihn mir, damit ich mit eigenen Augen sehen kann, was mein Schwiegersohn für ein Mann ist!« Der Mond gab dem Schwiegersohn wieder seine menschliche Gestalt und stellte ihn der Sonne vor. Die Sonne liebkoste ihn und fragte ihn nach dem Grund seines Besuchs. »Der Herrscher will mich von deiner Tochter trennen«, berichtete der Schwiegersohn. »Er hat gehört, daß die Sonne einen goldenen Widder besitzt, und hat mich hergeschickt, diesen zu holen.« »Mach dir keine unnützen Gedanken mehr«, ermunterte ihn die Sonne, »komm mit und erhole dich in meinem Garten.« Der Mann betrat den Garten. Er sah sich um, und es gefiel ihm über alle Maßen. Der Garten war wirklich sehr schön: Manches war schon reif, anderes blühte noch, wieder anderes bekam erst Blätter, und manchem fielen sie schon wieder aus. Die Sonne sagte zu ihrem Schwiegersohn: »Bleib hier im Garten, Elias und der Wolf werden dir das Essen bringen...« 291
Der Mann bekam Hunger. Er setzte sich und begann zu warten. Da kam der Wolf und brachte den Tisch, und Elias reichte ihm Speisen und Getränke. Der Schwiegersohn der Sonne hatte eine Keule. Er rief den Wolf beiseite und fragte ihn: »Als ich vier Jahre lang kein einziges Lammohr verloren hatte – so gut habe ich die Herde gehütet – und die Frist gerade ablief, kamst du und hast mir ein Schaf gerissen. Weshalb hast du das getan?« Er hieb auf den Wolf ein und schlug ihn, soviel er konnte. Dann rief er Elias zur Seite und fragte ihn: »Als ich von drei Feldern das mittlere besaß, hast du es hageln lassen und mein Feld und meine Ernte vernichtet. Warum hast du das getan?« Er verprügelte ihn, hieb ihm die Keule in die Augen und drückte sie ihm heraus. Dann setzte er sich und begann zu essen. Danach wütete er durch den Garten der Sonne, hieb die Obstbäume um und zerschlug alles, bis der Garten schließlich ganz und gar verwüstet war. Die Sonne ging zu ihrem Schwiegersohn und sah, daß der Garten so verunstaltet war, daß es selbst einen Feind erbarmt hätte. »Weshalb hast du das getan?« fragte sie den Schwiegersohn. »Weshalb habt ihr mir das angetan? Als ich ein elendes Stück Land besaß, hat Elias es hageln lassen und alles vernichtet. Vier Jahre lang habe ich einem Herrscher umsonst gedient, der Wolf hat mich um meinen Anteil gebracht. Und als ich ein hundert Tage großes Feld an einem einzigen Tag mähte und nur noch eine einzige Garbe zu binden hatte, bat ich dich: ›Warte, geh noch nicht unter!‹ Aber du hast nicht einmal hingehört!« 292
Die Sonne fand kein Wort der Erwiderung. Sie gab ihm den goldenen Widder und ließ ihn in Frieden ziehen. Der Mann brachte den goldenen Widder zum Herrscher. Der verlor seine Hoffnung, die Frau zu bekommen. Er fragte die Nasire und Wesire: »Was kann mir noch helfen?« Die Nasire und Wesire rieten ihm, den Mann ins Jenseits zu schicken und ihn jenen Ring holen zu lassen, den die Mutter des Herrschers mitgenommen hatte. Der Herrscher ließ den Schwiegersohn der Sonne rufen und befahl ihm: »Geh ins Jenseits. Meine Mutter hat einen Ring dorthin mitgenommen, den sollst du mir bringen.« Der Mann kam zu seiner Frau und klagte: »Der Herrscher schickt mich nun ins Jenseits, er will dich mir wegnehmen!« Die Frau gab ihm einen Apfel und sagte: »Laß diesen Apfel rollen, folge ihm, wohin er auch rollt!« Der Mann nahm den Apfel, ließ ihn rollen und ging ihm nach. Der Apfel rollte, und der Mann gelangte auf eine weite Ebene. Dort stand ein Hirsch, dessen Geweih bis zum Himmel reichte. »Guten Tag!« grüßte der Mann den Hirsch. »Guten Tag!« antwortete der Hirsch. »Wohin gehst du, was hat dich hierhergeführt?« »Ich gehe ins Jenseits, ich muß den Ring der Mutter des Herrschers holen!« »Bring mir eine Arznei mit, ich kann das Geweih nicht mehr tragen!« flehte der Hirsch. Der Mann trennte sich von dem Hirsch und gelangte an einen Felsen, an dem ein Stier angebunden war. Er
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hatte weder Wasser zum Trinken noch Gras zum Fressen, aber er war so fett, daß er schon aufplatzte. Der Mann wunderte sich sehr, und er fragte den Stier: »Du frißt nichts. Wie kommt es, daß du so fett bist?« »Wenn du wieder vorbeikommst, sage ich es dir!« antwortete der Stier. Der Mann ging weiter und kam an eine schöne Wiese. Im Gras, das im Hauch des Windes wie ein Meer wogte, rauschten und glucksten Quellen. Mitten auf der Wiese stand ein Stier. Das Maul war ihm wie zugeschnürt. Er konnte weder fressen noch trinken und war sehr mager. Erstaunt fragte der Mann: »Wie kommt es, daß du so mager bist, obwohl du solch saftiges Futter vor dir hast?« Der Stier erwiderte: »Viele habe ich diesen Weg ziehen sehen, kein einziger ist zurückgekehrt!« Der Mann ließ den mageren Stier stehen, ging weiter und traf einen Priester. Der trug eine Kapelle auf seinem Rücken, ging seines Wegs, und wenn er jemanden sah, stellte er sie ab und grüßte. Der Priester grüßte auch den Mann und fragte ihn nach dem Ziel seiner Reise, und der Schwiegersohn der Sonne fragte, weshalb er die Kapelle auf seinem Rücken trage. Der Priester bat ihn: »Bring doch im Jenseits in Erfahrung, was ich mit der Kapelle anfangen soll. Ständig kann ich sie doch nicht auf dem Rücken tragen. Gib mir Nachricht!« Der Mann ging weiter. Nach einiger Zeit kam er an einen Ort, da lagen ein Mann und eine Frau auf dem Stiel eines Beiles, umarmten und küßten sich, und von
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dem Beilstiel war sogar auf jeder Seite noch ein Stück frei. Der Mann sah verwundert das seltsame Paar an: »Sagt mir, wie es kommt, daß ihr zu zweit auf einem Beilstiel liegt und hüben und drüben noch Platz ist?« »Viele sind diesen Weg gegangen, nicht einer ist zurückgekommen!« antworteten die Eheleute. »Geh, und wenn du wiederkommst, werden wir dir alles erzählen.« Da ging der Mann verwundert weiter. Nach einiger Zeit begegnete er abermals einem Ehepaar, das lag auf einem Büffelfell. Der Mann rollte hierhin, die Frau dorthin, und sie stießen sich gegenseitig. Jeder wollte dem andern seinen Platz streitig machen. Der Schwiegersohn der Sonne ging hin, grüßte sie und fragte: »Was ist das für ein Unglück mit euch. Ihr liegt auf einem Büffelfell, und euch kommt es zu klein vor?« »Viele sind diesen Weg gegangen, aber nicht einer ist je zurückgekommen!« antworteten die Eheleute. »Geh, und falls du wiederkommst, kannst du den Grund erfahren!« Der Mann lief weiter. Unterwegs traf er eine Frau, die hatte einen Haufen Eier vor sich und baute daraus einen Turm. Sie schichtete ihn ein Stück auf, entfernte etwas Erde, und die Eier begannen zu rutschen und fielen herunter. Von neuem begann sie den Turm zu bauen. Der Mann ging zu ihr und fragte verwundert: »Was machst du? Wer hat je einen Turm aus Eiern erbaut?!« »Komm wieder vorbei, dann will ich dir den Grund nennen!« antwortete die Frau.
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Der Mann ging weiter. Unterwegs kam er zu einem Backofen. Eine Frau stand davor und buk Brot. Sie gab Brot hinein, das weiß wie Watte war, und holte Brot heraus, das schwarz wie Mist war. Der Mann ging zu ihr und fragte verwundert: »Wie kommt es, daß du weißes Brot hineingibst und so häßlich schwarzes herausholst?« »Viele sind diesen Weg gegangen, aber nicht einer ist zurückgekehrt!« antwortete die Brotbäckerin. »Geh nur, und wenn du wiederkommen solltest, will ich es dir sagen.« Da ging der Mann weiter. Unterwegs sah er einen Mann, der lag als Brücke über einem Tal. Wer auf die andere Seite wollte, mußte über ihn hinweggehen. »Was ist mit dir los?« fragte der Schwiegersohn der Sonne. »Viele sind diesen Weg gegangen, aber kein einziger ist zurückgekommen!« antwortete der Mann. »Geh nur weiter, wenn du zurückkommen solltest, werde ich es dir sagen.« Der Schwiegersohn der Sonne lief weiter und kam zur Mutter des Herrschers. »Dein Sohn läßt dir ausrichten«, sagte er zu ihr, »du möchtest ihm jenen Ring schicken, den du mitgenommen hast!« Die Mutter des Herrschers gab ihm den Ring und sagte: »Nimm ihn, gib ihn meinem Sohn und richte ihm folgendes aus: ›Weil du mir selbst hier keine Ruhe läßt und mich aufregst, sollst du verflucht sein! Deine Sache soll sich so wenden, daß deine Wesire dich auffressen!‹« Der Mann fragte: »Unterwegs habe ich einen Hirsch gesehen, dessen Geweih reichte bis zum Himmel. Er 296
kann nicht mehr laufen und bat mich, ihm eine Arznei zu beschaffen. Gib mir einen Rat! Ein Priester trug eine Kapelle auf seinem Rücken, und wenn er jemanden sah, trug er sie hin, stellte sie ab und begrüßte ihn. Was soll er mit der Kapelle anfangen?« Die Mutter des Herrschers sagte: »Der Hirsch soll Maiwasser trinken, dann fällt ihm sein Geweih ab. Der Priester soll die Kapelle in ein Dorf tragen und in dessen Mitte aufstellen. Er soll Glocken in die Kapelle hängen, und wenn das Gebet beginnt, diese läuten. Wer beten will, wird kommen und beten. Wer nicht will, wird nicht kommen, aber das ist nicht des Priesters Schuld.« Der Mann nahm den Ring und machte sich auf den Rückweg. Unterwegs kam er zu jenem Mann, der als Brücke über dem Tal lag, und fragte ihn nach dem Grund seiner Qual. Der Mann sagte: »Ich besaß eine Brücke, über die ließ ich niemanden unentgeltlich gehen. Ich machte keinen Unterschied zwischen arm und reich, alle ließ ich gleichermaßen zur Ader. Jetzt siehst du, wie es mir ergeht!« Der Schwiegersohn der Sonne ging weiter. Die Brotbäckerin sagte ihm: »Ich war in jener Welt so geizig, daß ich, wenn beim Brotbacken ein hungriger Wanderer oder Armer vorbeikam, mir die Augen im Backofen verbrannte, um sie nicht zu sehen und ihnen kein Brot geben zu müssen. Jetzt ergeht es mir so: Sooft ich auch weißes Brot hineingebe, es verwandelt sich stets in Dreck!« Er kam zu der Frau, die den Eierturm baute. Sie sprach zu ihm: »Ich habe in jener Welt Eier gestohlen, jetzt muß ich mich so quälen!«
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Er verließ die Frau und ging weiter. Schließlich kam er zu jenem Ehepaar, das auf dem Büffelfell lag. Sie sagten: »In jener Welt haßten wir uns, die Welt war für uns zu eng, wir paßten beide nicht hinein. Deshalb passen wir auch jetzt nicht auf ein Büffelfell. Aber sosehr wir uns auch hassen, wir können nicht voneinander lassen!« Der Mann kam zu dem Ehepaar auf dem Beilstiel. Sie sagten: »In jener Welt liebten wir uns, und wir lieben uns auch hier. Verliebten Eheleuten ist selbst ein Beilstiel nicht zu klein zum Leben. Die Hauptsache ist, man bleibt gesund.« Nach einiger Zeit kam der Mann zu dem Priester, der die Kapelle auf dem Rücken trug, und überbrachte ihm den Rat der Mutter des Herrschers. Er ging weiter und kam zu dem Stier, der auf der schönen Wiese stand, Futter und Wasser in Hülle und Fülle hatte und trotzdem so mager war. Der Stier sagte: »Ich habe meinem Herrn nicht genützt, ich habe nicht gearbeitet, und jetzt ergeht es mir so!« Als er den mageren Stier verließ, kam er zu jenem fetten Stier, der an dem Felsen angebunden war. Der fette Stier sagte: »Ich war meinem Herrn ergeben, habe ihn nicht enttäuscht, und mein Herr hat mich gut versorgt. Auch wenn ich jetzt nichts fresse und trinke, ich werde trotzdem fett!« Endlich kam der Mann zu dem Hirsch und richtete ihm aus, er solle Maiwasser trinken, dann werde sein Geweih abfallen. Der Hirsch trank Maiwasser, und das Geweih fiel ab.
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Der Schwiegersohn der Sonne kam nach Hause und überbrachte dem Herrscher den Ring seiner Mutter und ihren Fluch. Da verwandelte sich der Herrscher in einen Hasen. Die Nasire und Wesire, die zu Wölfen wurden, fraßen ihn auf. Das Reich und den Thron aber bekam der Schwiegersohn der Sonne.
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Das zwölfköpfige Ungeheuer Es war einmal ein König, der hatte eine wunderschöne Frau. Als sie den dritten Sohn zur Welt brachte und das Kind noch in der Wiege lag, kam ein zwölfköpfiges Ungeheuer und entführte die Königin. Der König war untröstlich, aber er war machtlos. Er wußte genau, daß das zwölfköpfige Ungeheuer unsterblich und jeder Widerstand fruchtlos war. Er schlug sich an den Kopf und weinte oft, doch schließlich beugte er sich dem Schicksal, und sein Schmerz wurde erträglich. Der kleine Sohn wuchs rasch heran. Was andere in einer Woche wuchsen, wuchs er an einem Tag. Und in einer Woche war er so groß geworden wie andere nach einem Jahr. Als er erwachsen wurde, fragte er den Vater: »Habe ich eine Mutter gehabt oder nicht?« »Natürlich hattest du eine Mutter«, antwortete der Vater und begann zu weinen. »Ein zwölfköpfiges Ungeheuer hat sie entführt, als du noch in der Wiege lagst.« Seit der junge Mann dies gehört hatte, fand er keine Ruhe mehr. Tag und Nacht mußte er an den Verlust der Mutter denken. Er haßte das Ungeheuer bis aufs Blut. Einmal rief er seine Brüder und sagte: »Ein zwölfköpfiges Ungeheuer hat unsere Mutter entführt. Seitdem ich das weiß, finde ich keine Ruhe mehr. Ich dürste nach dem Blut des Ungeheuers. Wenn ihr meine Brüder seid und die Mutter liebt, dann kommt mit. Wir wollen aufbrechen, das Ungeheuer zu töten und unse300
re Mutter zu befreien, oder selbst unser Leben opfern.« Die Brüder waren einverstanden und kamen mit, um das zwölfköpfige Ungeheuer zu suchen. Nach einiger Zeit gelangten sie an eine Wegkreuzung. Drei Wege trafen sich hier. Auf dem einen Weg war ein Stein eingerammt, darauf stand geschrieben: ›Wer diesen Weg geht, wird mühelos zurückkehren.‹ Auf dem Stein des zweiten Weges stand: ›Wer diesen Weg geht, wird vielleicht zurückkehren.‹ Für den dritten Weg war zu lesen: ›Wer diesen Weg wählt, wird nie mehr zurückkehren.‹ Der jüngste Sohn wählte den gefährlichen Weg, der mittlere Bruder jenen Weg, auf dem man vielleicht wieder zurückkehren würde, und der älteste Bruder den mühelosen Weg. Sie verabschiedeten sich voneinander und zogen ihrer Wege. Der jüngste Bruder ritt und ritt. Hinter neun Bergen sah er eine Stadt. Die Bewohner wußten nicht mehr ein noch aus vor Angst. Ein wilder Eber kam häufig aus dem Meer, verwüstete die Stadt und wütete unter den Menschen. Groß und klein war betrübt. Niemand wußte, wie man dem abhelfen könnte. Als der junge Mann in die Stadt kam, stachelte ihn seine Kraft an, so daß er beschloß, ans Meer zu gehen. Dort wollte er den wilden Eber treffen und mit ihm kämpfen. Der junge Mann kam ans Meer und hielt Ausschau. Im Meer stand ein Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reichte. Auf dem Turm stand eine wunderschöne Frau und beleuchtete das Meer. Sie rief dem jungen Mann zu: »Wie konntest du es wagen hierherzukommen, wo aus Furcht vor dem zwölfköpfigen Un-
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geheuer kein Vogel in der Luft fliegt und keine Ameise über den Boden kriecht?« »Ich bin gekommen, weil mein Schicksal es so will«, antwortete der Jüngling. »Aber was hat dich zu dem zwölfköpfigen Ungeheuer geführt?« »Das Ungetüm hat mich geraubt, als ich meinen dritten Sohn geboren hatte und er noch in der Wiege lag.« »Ich bin dein Sohn, der damals noch in der Wiege lag«, rief der junge Mann der Mutter zu. »Jetzt haben meine Brüder und ich uns aufgemacht, dich zu suchen und zu befreien.« »Ach, Kind! Das zwölfköpfige Ungeheuer ist sehr stark und unsterblich, weil es seine Seele irgendwo verborgen hat.« »Flehe es an, Mutter, vielleicht verrät es dir, wo seine Seele ist und worin seine Kraft liegt.« Das zwölfköpfige Ungeheuer befand sich zu dieser Zeit auf der Jagd. Der junge Mann lief in die Stadt zurück. Als das Ungeheuer heimkam, rief es: »Hier riecht es nach einem Menschen, es ist doch niemand hiergewesen?« »Nein«, sagte die schöne Frau und tupfte ihm mit ihrem seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Aus Furcht vor dir wagt kein Vogel am Himmel zu fliegen und keine Ameise auf der Erde zu kriechen. Da sollte ein Mensch sich hierherwagen ?« Die Frau umsorgte das Ungeheuer. Sie reichte ihm Speise und Trank. Dann fragte sie es: »Ich staune über deine Kraft und deine Seele. Es gibt kein Wesen, das dich nicht fürchtet, und man nennt dich unsterblich. Worin besteht deine Kraft und Unsterblichkeit, und wo sind sie zu finden?« 302
»Meine Seele ist dort unter dem Herd vergraben«, entgegnete das Ungeheuer. Als es wieder jagen ging, kam der jüngste Sohn zur Mutter und fragte: »Hast du etwas erfahren können, Mutter?« »Ich habe erfahren, daß sich seine Seele unter dem Herd dort verborgen hält.« »Schmücke den Herd, Mutter, bedecke ihn ganz mit Blumen.« Als der Sohn der Mutter diesen Rat gegeben hatte, begab er sich wieder in die Stadt. Die Mutter tat, was der Sohn ihr geheißen hatte, und als das Ungeheuer von der Jagd zurückkam und den Herd sah, brach es in Lachen aus. »Was hast du da gemacht, Frau, wozu hast du den Herd geschmückt?« »Ich liebe deine Seele, und damit will ich dir meine Liebe beweisen.« »Meine Seele ist gar nicht unter dem Herd, sie ist in dieser Säule.« Als das Ungeheuer gegangen war, kam der Sohn und fragte: »Was hast du erfahren?« »Die Seele dieses Verfluchten steckt nicht unter dem Herd, sondern in der Säule da.« »Schmücke diese Säule. Wenn ich mich überzeugt habe, wo sich seine Seele befindet, weiß ich, was ich zu tun habe.« Nach diesen Worten ging der Sohn wieder fort. Die Mutter behängte die Säule mit Blumen. Als das Ungeheuer kam, sagte es: »Was tust du da, Frau?« und bog sich vor Lachen. »Meine Seele ist ja gar nicht in der Säule verborgen.« »Wo ist sie denn, damit ich ihr Ehre erweisen kann?« 303
»Meine Seele befindet sich in zwei Tauben, die oft auf meinen Turm geflogen kommen. In beiden liegt ein ungelegtes Ei, und darin ist meine Seele verborgen. Meine Gesundheit und Kraft aber stecken in einem Eber, der in diesem Meer lebt.« Am nächsten Morgen ging das Ungeheuer abermals zur Jagd. Der Sohn kam zur Mutter und erfuhr alles. Da sagte er: »Wenn das Ungeheuer kommt, frag es, wie der wilde Meereseber zu bezwingen sei.« Der junge Mann ging abermals in die Stadt. Als das Ungeheuer heimkam, trocknete ihm die schöne Frau mit einem seidenen Taschentuch den Schweiß auf der Stirn und sagte: »Wie ist es möglich, daß deine Kraft in einem wilden Eber steckt? Du belügst mich wieder.« »Ich sage dir die Wahrheit«, schwor das Ungeheuer. »Der Eber ist ungeheuer stark, und niemand kann ihn überwinden. Es gibt nur ein einziges Mittel, und das kenne nur ich…« »Vertraust du mir etwa nicht?« fragte ihn die Schöne vorwurfsvoll. »Wo sich meine Seele befindet, habe ich dir gesagt. Ich will dir auch dies nicht verheimlichen: Außer einem Schwert, das in meinem Schweiß gehärtet sein muß, kann diesen Eber keine Waffe, und sei sie noch so scharf, verwunden oder töten.« Als das Ungeheuer wieder auf die Jagd ging, kam der Sohn der Frau, und die Mutter erzählte ihm alles genau. Der Sohn sagte zur Mutter: »Immer wenn das zwölfköpfige Ungeheuer schwitzend zurückkommt, mußt du ihm mit dem Taschentuch den Schweiß abwischen. Diesen Schweiß sollst du auswringen und in ei304
nem Gefäß sammeln. Hast du genügend Schweiß gesammelt, dann gib ihn mir. Ich weiß schon, was ich zu tun habe.« Die Mutter sammelte so viel Schweiß von dem Ungeheuer, wie zum Härten eines Schwertes nötig war. Der junge Mann nahm diesen Schweiß, ging in die Stadt zu einem Schmied und ließ sein Schwert in dem Schweiß härten. Er gürtete es sich um und wandte sich geradewegs und unerschrocken zum Meer. Die Einwohner der Stadt verschlossen ihre Häuser, Läden und überhaupt alles, denn sie fürchteten, der Eber könnte in Zorn geraten, über sie herfallen und alle auffressen. Der junge Mann stürmte zum Meer. Kaum hatte der Eber ihn erblickt, kam er aus dem Meer und sperrte den Rachen auf, um ihn zu verschlingen. Da zückte der junge Mann das Schwert und hieb den Eber mittendurch. Als er aufsah, bemerkte er zwei Tauben, die aus der Höhe herab schwebten, um den Eber mit ihren Flügeln zu berühren und ihn wieder zu beleben. Der junge Mann schwang abermals das Schwert und hieb auch diese beiden Tauben in der Mitte durch. Aus jeder Taube fiel ein Ei, die nahm der junge Mann an sich und stieg nun den Turm hinauf. Kraftlos schleppte sich das Ungeheuer aus dem Gebirge heran. Der junge Mann rief ihm zu: »Du Unglücklicher, ein Wort von dir, und ich lösche dein Leben aus. Du siehst doch, ich halte deine Seele in der Hand!« »Ich sage kein Wort«, beteuerte das Ungeheuer. »Dann lade rasch auf deinen Rücken, was du in dem Turm an Besitz hast, und folge mir samt deiner schönen Frau!« Unverzüglich kam das Ungeheuer dem Befehl nach. 305
Sie zogen los und gelangten zum Schloß des Königs. Als sie näher kamen, schickte der junge Mann einen Boten zum Vater und hieß ihn ausrichten: ›Dein Sohn kommt, er bringt seine Mutter mit und das zwölfköpfige Ungeheuer.‹ Als der König das erfuhr, bebte er vor Angst. Er hatte weder seinen Sohn noch das Ungeheuer oder seine schöne Frau gewollt. Er floh mit den beiden älteren Söhnen, die lange schon zurückgekehrt waren, und verbarg sich hinter neun Schlössern. Als der jüngste Sohn nach Hause kam, nahm er dem Ungeheuer alles ab. Er holte seine Brüder aus ihrem Versteck, gab jedem ein Ei in die Hand und sagte zu ihnen: »Geht zu diesem Felsen dort und zerschlagt diese Eier auf dem Stein. Nehmt das Ungeheuer mit und stürzt es vom Felsen hinunter.« Die Brüder befolgten diesen Befehl und brachen dem Ungeheuer das Genick. Jetzt erst wagte sich der König aus seinem Versteck hervor. Er umarmte seine Frau und den Sohn, und seine Freude kannte keine Grenzen. Nun lebten sie glücklich und in Frieden.
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Das Wunderliche Es war einmal ein König, der hieß der Aufgehende. Er hatte drei Söhne. Als er alt wurde, sagte er zu seinen Söhnen: »Kinder, ich bin alt geworden. Meine Augen und meine Knie sind schwach. Wenn ihr jetzt loszöget, die Welt durchreistet und etwas Wunderliches sehen oder erleben würdet, das mich in Erstaunen versetzen könnte, würde ich wieder jung werden!« Da stand der älteste Sohn auf, griff zu seinen Waffen, zäumte sein Pferd, schwang sich in den Sattel und machte sich auf, Wunderliches zu suchen. Nach einiger Zeit sah er an einem Ort einen Baum. Der hatte so große Blätter, daß eines davon die ganze Stadt zudecken konnte. Der Sohn riß ein Blatt ab, nahm es mit und kehrte voller Freude heim zum Vater. Er war sich sicher, daß er den Vater mit dem Blatt in Erstaunen versetzen konnte. So ging er zu seinem Vater und sagte: »Vater, ich habe dir etwas Wunderliches gebracht, du wirst wieder jung werden! Ich habe ein Blatt gebracht, das ausgebreitet eine ganze Stadt zudecken kann.« »Nein, Kind, das erstaunt mich nicht. Ich und mein Pferd haben uns oft, wenn wir müde waren, in seinem Schatten ausgeruht!« Die Reihe kam man an den mittleren Sohn. Auch er erhob sich, wappnete sich, zäumte sein Pferd, schwang sich in den Sattel, verabschiedete sich von allen und machte sich in der Hoffnung auf den Weg, ganz sicher etwas Wunderliches zu finden. 307
Es verging einige Zeit, dann kam er an eine Quelle. Er war müde, sprang vom Pferd, band es an und trank vom Quellwasser. Kaum hatte er getrunken, verstand er alles, was in der Welt gesprochen wurde: das Flüstern des Grases, die Sprache der Vögel, das Heulen des Windes und das Rauschen des Wassers. Alles kannte und verstand er, keine Ameisenstimme blieb seinem Ohr verborgen, selbst das Summen der Fliege wußte er zu deuten. Da kehrte auch dieser Sohn froh und erleichtert zurück. Er wollte den Vater mit dieser Geschichte in Erstaunen versetzen. Mit freudigem Gesicht kam er zum Vater. »Was hast du mir Wunderliches gebracht, mein Kind, oder was hast du gesehen und erlebt?« fragte der Vater den Sohn. »Ich hatte ein wunderliches Erlebnis. An einer Quelle sprang ich vom Pferd, weil ich von der Hitze ermattet war. Ich trank vom Quellwasser, und mit einemmal gab es keine Stimme und keine Sprache mehr, die ich nicht verstanden hätte: die der Vögel, des Wildes, der Insekten, des Wassers, der Wolken, des Grases, der Bäume und Steine, die Stimme von allem, was es unter dem Himmel gibt. Ist das nicht wunderlich?« »Nein, Kind, das erstaunt mich nicht«, sagte der Vater. »Ich und mein Pferd haben, wenn wir müde und durstig waren, von dieser Quelle getrunken und in ihr gebadet!« Da kam die Reihe an den jüngsten Sohn. Er stand auf, wandte sich an den, der Himmel und Erde erschaffen hatte, kleidete und bewaffnete sich, zäumte sein Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt davon.
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Die älteren Brüder lachten ihn aus: »Wir haben nichts Wunderliches bringen können, da wirst du es ganz bestimmt holen!« Unterwegs kam der jüngste Bruder an einem Friedhof vorbei. Dort lag ein Feind des Königs, der der Aufgehende genannt wurde, begraben. Sein Totenschädel kam aus dem Grab und rollte dem jungen Mann brüllend hinterher. Der Jüngling sah sich um und gewahrte, daß ihm der Schädel nachrollte und etwas zurief. Sofort zügelte er sein Pferd und fragte: »Totenschädel, was willst du, warum klapperst du mir nach?« »Wohin reitest du?« fragte der Schädel. »Ich muß meinem Vater etwas bringen, das ihn verwundert!« antwortete der junge Mann. »Warte«, sprach der Totenschädel zu ihm, »mit diesem Pferd kannst du deinem Vater nichts Wunderliches bringen. Wenn du ihm etwas Wunderliches bringen willst, dann reite heim zu deinem Vater und sage ihm: ›Wenn du willst, daß ich dir etwas Wunderliches bringe, dann gib mir das Pferd, das du hinter neun Schlössern gefangenhältst!‹« Der junge Mann kehrte um. Der Vater kam ihm entgegen und fragte: »Weshalb bist du so früh zurückgekommen, hast du mir etwas Wunderliches mitgebracht?« »Als ich unterwegs war«, sagte der Sohn, »kam ich an einem Friedhof vorüber. Aus einem Grab erhob sich ein Totenschädel und folgte mir. Ich wandte mich um und sah, daß er mir nachrollte, rasselte und mich rief. Ich hielt mein Pferd an und fragte: ›Was klapperst du so, armer Schädel, warum folgst du mir?‹ Er sagte mir, wenn mein Vater etwas Wunderliches wolle, solle 309
er mir jenes Pferd geben, das hinter neun Schlössern angebunden ist!« »Ach, dieser Verfluchte! Als er noch lebte, war er mein Feind. Er starb und will mir immer noch nicht wohl. Weil er mir zu Lebzeiten nichts antun konnte, versucht er es jetzt!« Der Vater gab dem Sohn die Schlüssel zu den Zimmern und sagte: »Wenn du acht öffnest und in das neunte kommst, wirst du dort ein Pferd sehen, von dessen Rücken eine Spanne Schimmel hängt. Aus seinen Augen sprüht ständig Feuer. Wische es mit einem Wattekratzer ab und schlage es mit einer Wattepeitsche und führe es so hinaus, sonst wird es dich in Stücke reißen.« Der junge Mann ging hinein. Er öffnete die Türen und sah das Pferd. Eine Spanne Staub lag auf seinem Rücken, und Schimmel hing von ihm herab. Aus seinen Augen sprühte ständig Feuer. Er strich ihm mit dem Wattekratzer über den Rücken, schlug es mit der Wattepeitsche und führte es hinaus. Draußen spielte das Pferd nur mit den Sternen. Der jüngste Sohn schwang sich in den Sattel, das Pferd schnaubte auf und flog in den Himmel. Es stieß an den Himmel, aber der junge Mann klammerte sich am Bauch fest. Es prallte auf die Erde, da saß er schon wieder auf dem Rücken. Bald stieß es gegen diesen Berg, bald gegen jenen. Schließlich wurde es müde, blieb stehen und sagte: »Steig ab, du taugst zum Reiter!« Am nächsten Tag bestieg der jüngste Sohn abermals das Pferd, verabschiedete sich von allen, nahm seine Waffen und brach auf.
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Das Pferd mit dem Jüngling stürmte wie der Wind dahin. Nach einiger Zeit sah er am Wegrand einen Apfel liegen. Er war von leuchtendem Rot. Dem jungen Mann gefiel der Apfel sehr. Er wollte ihn aufheben, aber das Pferd warnte: »Hebst du ihn auf, wirst du es bereuen. Hebst du ihn nicht auf, wirst du es ebenfalls bereuen!« »Wenn ich es in beiden Fällen bereuen muß, dann hebe ich ihn auf«, sagte er, hob ihn auf und steckte ihn in die Tasche. Sie ritten weiter, immer weiter. Da sahen sie in der Ferne eine Feder. Sie war so bunt und leuchtete so stark, daß es nichts Wunderlicheres geben konnte. Man mußte das Auge von diesem Leuchten abwenden, so stark war es. Der junge Mann wollte auch die Feder aufheben. Er fragte das Pferd: »Soll ich sie aufheben oder nicht?« »Hebst du sie auf, wirst du es bereuen. Hebst du sie nicht auf, wirst du es ebenfalls bereuen!« sagte das Pferd abermals. »Wenn ich es schon bereuen muß, ist es besser, sie aufzuheben !« Er hob sie auf und legte sie in seine Tasche. Sie ritten weiter und kamen nach langer Zeit zu einem Herrscher. Der freute sich sehr über die Ankunft des jungen Mannes, denn er hatte gehört, daß er der Sohn jenes Königs sei, den man den Aufgehenden nannte. Er und dieser König waren früher Freunde gewesen und hatten sich lange nicht mehr gesehen. »Gott sei Dank, daß ich noch eines von den Kindern meines Freundes sehe«, sagte der Herrscher, »wärst du nicht gekommen, hätte ich sterben müssen, ohne seine Kinder zu sehen!« 311
Man gab einen großen Empfang und ein Festessen. Der Herrscher begegnete dem Jüngling mit großer Zuvorkommenheit. Das neideten ihm die Höflinge, und sie sprachen: »Wenn wir nichts gegen ihn finden, wird er uns nichts Gutes bringen!« Sie wandten sich an eine Alte: »Du mußt uns helfen und den neuangekommenen Gast verderben!« »Das laßt nur meine Sorge sein«, erwiderte die Alte, »ich weiß schon, was ich zu tun habe!« Die Alte ging zum Herrscher und machte ihn argwöhnisch: »Wenn dein Gast ein anständiger Mann ist und dir Gutes will, warum zeigt er dir dann den Apfel nicht, den er in der Tasche trägt!« Am nächsten Tag begab sich der junge Mann zum Herrscher, aber dieser sprach kein Wort mit ihm. »Großer Herrscher, was habe ich getan, daß du kein Wort mehr mit mir sprichst?« fragte der Jüngling. »Wenn du ein guter Mensch bist, warum hast du mir nicht den Apfel gezeigt, den du in der Tasche trägst. Geh, bring den Baum her und pflanze ihn in meinen Garten!« Da ging der junge Mann betrübt zu seinem Pferd und klagte ihm seinen Kummer. Das Pferd sprach: »Ich habe dir gesagt, daß du es bereuen wirst, wenn du ihn aufhebst. Kennst du den Weg zu dem Apfelbaum, den du holen sollst?« »Ich bin zu dir gekommen, damit du mir den Weg zeigen und mich hintragen sollst. Wenn ich den Weg wüßte, wäre ich nicht zu dir gekommen!« entgegnete der junge Mann. »Gut, wenn es so ist«, meinte das Pferd, »dann geh, beschaffe dir drei Krüge Salz und kehre hierher zurück!« 312
Als er das Salz brachte, sprach das Pferd: »Schlage mich dreimal mit der Peitsche, dann werden sich drei Häute von mir lösen! Schütte die drei Krüge Salz darauf, dann werde ich wild, fliege davon, reiße den Apfelbaum aus, bringe ihn hierher, und wir können ihn einpflanzen!« Der junge Mann setzte sich auf das Pferd, schlug es dreimal mit der Peitsche, daß sich drei Häute lösten, schüttete drei Krüge Salz darauf, und das Pferd stob davon. Es jagte dorthin, wo der Apfelbaum stand. Dieser hatte seine Wurzeln dort ausgestreckt, wo gefährliche Schlangen hausten. Die Schlangen bissen und töteten jeden sofort, der die Wurzeln berührte. Das Pferd flog durch die Luft, schlug die Vorderbeine in den Wipfel des Apfelbaumes, stieß und zerrte, riß ihn aus dem Boden, warf die Schlangen noch in der Luft ab und entführte den Baum. Die Schlangen verfolgten das Pferd, aber wie hätten sie es einholen sollen! Der junge Mann nahm den Apfelbaum und pflanzte ihn in den Garten des Herrschers. Seither war der Herrscher noch zuvorkommender zu ihm. Aber die Alte kam abermals zum Herrscher und sagte: »Daß er dir den Apfelbaum gebracht und in deinen Garten gepflanzt hat, ist nichts Besonderes. Aber er hat in der Tasche eine Feder. Wenn er den bringt, dem diese Feder ausgefallen ist, dann ist er deine Zuvorkommenheit wert!« Eines Tages ging der junge Mann zum Herrscher und sah, daß dieser wieder ungnädig war. Der Jüngling sagte: »Was habe ich verschuldet, großer Herrscher, womit habe ich Euch gekränkt, daß Ihr mir so zürnt?« »Du hast eine Feder in deiner Tasche, die hast du mir nicht gezeigt«, entgegnete der Herrscher. »Wenn 313
du fortziehst und den Vogel herbringst, dem diese Feder ausgefallen ist, will ich dir vergeben. Bringst du ihn nicht her, vergebe ich dir nicht.« Betrübt ging der junge Mann zu seinem Pferd und klagte: »Der Herrscher will, daß ich ihm jenen Vogel bringe, dem diese schöne Feder ausgefallen ist!« Das Pferd antwortete: »Wir haben keine Wahl. Setz dich auf mich, wir reiten los. Wir müssen zu einer Tenne reiten, wo alle Vögel hinkommen, die Gott geschaffen hat. Von Gott bekommt dort ein jeder sein Futter, und wenn wir jenen Vogel fangen wollen, können wir ihn nur dort fangen. Nur eines mußt du beachten. Du darfst nicht als erster nach dem Vogel greifen, ich werde ihn selbst fangen.« Der junge Mann setzte sich aufs Pferd, und sie ritten zu jener Tenne. Als sie dort ankamen, versteckten sie sich und warteten. Die verschiedensten Vögel kamen zur Tenne geflogen. Sie kamen der Reihe nach geflogen, einer nach dem anderen. Alle Vögel gab es hier, alle Farben, alle Stimmen, alle Größen und alle Schönheit. Endlich kamen auch die Goldvögel geflogen. Einer rief den anderen zu: »Setzt euch nicht, wie könnt ihr den Mist anderer aufpicken!« Die anderen ließen sich nicht stören und setzten sich nieder. Sie pickten geraume Zeit, dann flogen sie wieder davon. Einer blieb da. Die anderen riefen ihm zu: »Los, fliegen wir!« »Wartet«, rief er, »mir fehlt eine Feder, ich kann nicht so schnell wie ihr fortfliegen. Wenn ich nur wüßte, wer meine Feder an seinem Hut trägt!« Als er das gesagt hatte, wollte er auffliegen, aber das Pferd pack-
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te zu und hielt ihn fest. Sie steckten ihm die Feder in sein Gefieder und brachten ihn zum Herrscher. Der Herrscher freute sich sehr. Er erwies dem jungen Mann immer größere Ehren. Aber die Alte ging wiederum zum Herrscher und sagte: »Was sind schon der Apfelbaum und der Vogel! Wenn er dir Gutes will und ein guter Junge ist, dann soll er die Herrin des Vogels herbringen!« Sogleich rief der Herrscher den jungen Mann zu sich und befahl ihm: »Geh, wohin auch immer, und hole mir dieses Mädchen her!« Da wurde der junge Mann traurig, ging zu seinem Pferd und klagte: »Jetzt schickt er mich zur Herrin der Goldvögel!« »Das ist ein schwieriger Weg«, meinte das Pferd, »aber wenn du befolgst, was ich dir sage, werden wir sie bestimmt herbringen. Nimm ein abgehäutetes Schaf mit, ein pelzbesetztes Kleid, drei Krüge Fett und einen Fettschwanz.« Der junge Mann besorgte, was das Pferd ihm auftrug. Er saß auf und ritt los. Das Pferd sprach: »Unterwegs werden wir einem vergifteten Birnbaum begegnen. Zu ihm mußt du sagen: ›Was hast du für köstliche Birnen! Wenn ich Zeit hätte, würde ich mich an dir gütlich tun.‹ Dann läßt er dich ziehen. Sprichst du nicht diese Worte zu ihm, wird er dich vergiften und töten. Dann werden wir auf eine stinkende Quelle stoßen. Auch dieser mußt du schmeicheln und sagen: ›Was für eine schöne Quelle du bist! Wie klar und kalt das Wasser ist! Wenn ich doch Zeit hätte, dann würde ich hier trinken und baden.‹ Sagst du ihr dies, läßt sie dich ziehen. Sagst du es aber nicht, wird sie dich mit ihrem Gestank ersticken. Dann 315
werden Raben geflogen kommen, denen mußt du das Fett hinwerfen. Sie werden sich über das Fett stürzen, und wir können unseres Wegs ziehen. Am Tor steht eine Alte, umhülle sie mit dem pelzbestickten Kleid, und sie läßt dich durch. Tust du das nicht, kannst du ihr nicht entrinnen. Einen Zahn hat sie im oberen Himmel stecken, den anderen im unteren Himmel. Dort treibt sich auch ein Wolf herum, dem mußt du das geschlachtete Schaf vorwerfen. Er wird es auffressen und uns nicht anrühren. Nun müssen wir durch eine Tür gehen. Diese Tür öffnet sich und schließt sich bald darauf wieder. Einen Fremden läßt sie nicht durch, sondern zerquetscht ihn. Bestreiche sie mit dem Fettschwanz, dann öffnet sie sich und läßt dich ein.« So sprach das Pferd und fügte hinzu: »Daß du meine Worte aber nicht vergißt!« Sie ritten und ritten und kamen schließlich zu jenem vergifteten Birnbaum. Der junge Mann sprach zu ihm: »Oh, Birnbaum, wie schön bist du, und was für schmackhafte Früchte trägst du! Hätte ich Zeit, dann würde ich mich an dir satt essen!« Der Birnbaum ließ sie ziehen, und sie kamen zu jener stinkenden Quelle. Er sagte zur Quelle: »Oh, wie schön bist du, wie du sprudelst und wie rein und schmackhaft du bist! Hätte ich Zeit, dann würde ich mit deinem kalten Wasser meinen Durst löschen!« Die stinkende Quelle ließ ihn weiterziehen. Als sie dahinritten, kamen Raben geflogen, um sie zu fressen. Der junge Mann holte die drei Krüge Fett hervor und warf sie ihnen vor. Die Raben zerrten sie hin und her, schenkten dem Mann keine Beachtung, und er ritt rasch davon.
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Als sie die Raben hinter sich gelassen hatten, gelangten sie an ein Schloß. Dort stand eine Alte. Ein Zahn steckte im oberen und einer im unteren Himmel. Der junge Mann ging zu ihr und legte ihr das pelzbesetzte Kleid um die Schultern. Die Alte wünschte ihnen eine gute Reise. Als sie die Alte verlassen hatten, trafen sie den Wolf. Der Jüngling warf ihm das geschlachtete Schaf vor. Der Wolf begann zu fressen, und der Mann und das Pferd konnten weiterziehen. Sie kamen zu jener Tür. Der junge Mann strich mit dem Fettschwanz darüber, da öffnete sie sich, und er ging ungehindert hindurch. Das Pferd gab ihm einen weiteren Rat: »Sie werden dir einen goldenen Tschonguri geben, aber du darfst nicht auf ihm spielen!« Der Königssohn trat ins Schloß des Mädchens. Mit Mühe nur erkannte man den Gast, so lange war es her, daß man im Schloß einen Menschen gesehen hatte. Man freute sich und lief sogleich, Speise und Trank zu holen. Auch brachte man ihm einen goldenen Tschonguri. »Spiel!« wurde der junge Mann aufgefordert. »Ich bin der Sohn des Königs, den man den Aufgehenden nennt«, antwortete der Jüngling, »ich habe das Tschongurispiel nicht gelernt. Bei uns spielen andere den Tschonguri und den Panduri.« Und er legte den Tschonguri zur Seite. Das Mädchen saß wütend da: »Wie konntet ihr jene hereinlassen, die meinen Vogel geraubt haben! Wie konntet ihr sie mir vor die Augen treten lassen!«
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Als alle zur Tür hinausgingen, nutzte der Königssohn die Gelegenheit und entführte das Mädchen. Er setzte sie aufs Pferd und jagte mit ihr davon. »Los, Tür, hilf uns!« riefen die Diener. »Sie haben uns das Mädchen entführt!« »Was soll ich euch helfen«, sagte die Tür, »ihr habt mich nicht einmal mit Wasser abgerieben, er aber hat mich mit einem Fettschwanz bestrichen. Gott segne seinen Weg!« »Wolf, hilf du uns!« riefen die Diener nun. »Warum soll ich euch helfen?« entgegnete der Wolf, »ihr werft mir nicht einmal einen Knochen zu, und er hat mir ein ganzes Schaf gegeben. Gott bereite ihm eine gute Reise, soll er das Mädchen nur entführen!« »Alte, hilf uns!« riefen die Diener wieder. »Ich kann euch nicht helfen«, antwortete die Alte, »ihr gebt mir nicht einmal Lumpen zum Anziehen, Hitze und Kälte plagen mich. Er aber hat mir ein pelzbesetztes Kleid gebracht. Gott stehe ihm bei und gebe ihm eine glückliche Reise!« »Ihr Raben, helft uns!« »Was sollen wir euch helfen? Ihr laßt uns nicht einmal einen weißen Knochen zukommen. Ganze Tage fliegen wir hungrig umher und suchen Futter. Er aber hat uns mit drei Krügen Fett gefüttert. Gott segne seinen Weg!« »Quelle, hilf uns!« »Ich kann euch nicht helfen«, antwortete auch die Quelle, »ihr sagt nie ein gutes Wort zu mir, es sei denn, daß ihr mich stinkend nennt, er aber hat mich mit der Quelle der Unsterblichkeit verglichen!« Der Königssohn und das Mädchen ritten unbehelligt an der Quelle vorbei. 318
»Birnbaum, hilf du uns wenigstens!« baten die Diener den vergifteten Birnbaum. »Wie sollte ich euch helfen«, entgegnete der Birnbaum, »ihr geht nie an mir vorbei, ohne mich vergiftet zu nennen. Er aber hat meine Birnen köstlich genannt. Wenn er nicht in Eile gewesen wäre, hätte er von meinen Früchten gekostet! Gott segne seinen Weg! Gott gebe ihm eine gute Reise!« Der Königssohn ritt auch am vergifteten Birnbaum vorbei und war in Sicherheit. Er brachte dem Herrscher das Mädchen. Der freute sich sehr und wollte es auf der Stelle heiraten, doch es sagte: »Solange ich nicht in Milch baden kann, heirate ich dich nicht!« »Lauft und melkt Büffelkühe, damit wir das Mädchen baden können!« befahl der Herrscher seinen Knechten. »In solcher Milch bade ich nicht«, sagte das Mädchen, »es muß Milch von Sturmrossen sein, mit anderer Milch benetze ich nicht einmal meinen Finger!« »Wer soll denn die Milch der Sturmrosse holen und woher?« fragte der Herrscher das Mädchen. »Der mich hierhergebracht hat! Wenn er mich herbringen konnte, wie sollte er da nicht die Milch der Sturmrosse holen können!« Man ließ den jungen Mann kommen, und der Herrscher befahl ihm: »Geh, wohin auch immer, und bring mir die Milch der Sturmrosse!« Da ging der Königssohn zu seinem Pferd und klagte ihm sein Leid. Das Pferd sprach: »Fürchte dich nicht, Herr, sei zuversichtlich. Bring mir ein Büffelfell und hülle mich damit ein. Dann schütte Kies auf das Fell, und darüber mußt du wieder ein Büffelfell legen. Dann können wir aufbrechen!« 319
Der junge Mann befolgte den Rat des Pferdes. Dann schwang er sich in den Sattel, und sie stoben zu den Sturmrossen davon. Das Pferd mischte sich unter eine Herde von Sturmrossen und begann sie zu töten. Die Sturmrosse wehrten sich und bissen das Pferd. Sie rissen ihm das Büffelfell ab und zermalmten den Kies, der darin lag. Daran verzweifelten die Sturmrosse und fragten das Pferd: »Sag uns, was du willst! Warum tötest du uns?« »Ihr müßt uns eure Milch geben!« »Das hättest du eher sagen können!« erklärten die Sturmrosse und molken eine Menge Milch. Der Jüngling nahm die Milch, und sie kehrten damit zurück. Der Herrscher befahl sofort, die Milch in einen Branntweinkessel zu gießen. »In einem Branntweinkessel bade ich nicht«, sagte das Mädchen. Bringt einen Kessel, wie Riesen ihn haben, sonst werde ich nicht deine Frau!« »Wer soll ihn herbringen?« fragte der Herrscher. »Der, der mich und die Milch der Sturmrosse gebracht hat!« Der Herrscher ließ den Jüngling abermals rufen und trug ihm auf: »Du mußt mir einen Kessel holen, wie ihn Riesen im Himmel haben!« Der junge Mann ging zu seinem Pferd und fragte es um Rat. Das Pferd sagte: »Zäume mich mit neun Riemen und schlage mich dreimal mit der Peitsche, dann werden sich drei Häute lösen. Schütte drei Krüge Salz auf mich, dann werde ich in den Himmel fliegen und dich zu den Riesen bringen!«
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Der Königssohn zäumte das Pferd mit neun Riemen, schlug es dreimal mit der Peitsche, daß sich drei Häute lösten, und schüttete drei Krüge Salz darüber. Da flog das Pferd hinauf zum Haus der Riesen. Diese begingen die Totenfeier ihres Vaters. Das Pferd sagte: »Ich werde mich in ein Fohlen verwandeln, führe mich hin und binde mich am Henkel des Kessels fest. Wenn ich mit dem Ohr wackle, ist es Zeit aufzubrechen.« Das Pferd verwandelte sich in ein Fohlen. Der Mann nahm es am Zügel und ging zu den Riesen. Die Riesen baten ihn ins Haus. Der junge Mann lehnte ab: »Ich habe mein Fohlen hier angebunden und habe Angst, es könnte sich verstricken und ersticken.« Die Riesen gaben nicht nach und führten ihn ins Haus. Der Königssohn setzte sich so, daß er sein Pferd sehen konnte. Als die Riesen tranken und schließlich trunken waren, wackelte das Pferd mit einem Ohr. Der junge Mann stand auf, um zu seinem Pferd zu gehen. »Wo gehst du hin?« fragten die Riesen. »Das Fohlen hat sich in den Riemen verstrickt, ich will ihm helfen!« Er ging zu seinem Fohlen, es verwandelte sich wieder in ein Pferd, der junge Mann saß auf, sie raubten den Kessel und brachten ihn dem Herrscher. Man brachte die Milch der Sturmrosse zum Kochen. Das Mädchen stieg hinein, badete und kam wieder heraus. »Wer hineinsteigt und darin badet, der wird mein Mann!« rief das Mädchen. Der Herrscher sprang hinein, und man zog ihn gekocht wieder heraus. Da sprangen die Nasire und Wesire hinein, aber auch sie wurden gekocht wieder herausgezogen. Das Pferd sagte zum Königssohn: »Ich 321
kenne eine Stelle mit Schnee, dort will ich hineilen, mir Nase und Ohren füllen und die Milch damit ein wenig abkühlen. Ich werde den Schnee heimlich hineinstreuen, die Milch wird sich abkühlen, dann springe du hinein und bade. Eher darfst du aber nicht hineinspringen!« Das Pferd stob zu dem Ort davon, wo es den Schnee wußte. Im Handumdrehen hatte es sich Nase und Ohren gefüllt, brachte ihn und streute ihn in die Milch. Die Milch kühlte ab. Der junge Mann sprang hinein, badete und kam wieder heraus. Er heiratete das Mädchen. Es wurde ein großes Hochzeitsfest gefeiert. Seine Frau besaß das Handtuch der Unsterblichkeit. Sie nahmen es und reisten zum König, den man den Aufgehenden nannte. Dieser war bereits so gealtert, daß er nicht mehr auf seinen Füßen stehen konnte. Die Frau des Königssohns deckte das Handtuch über ihre Schwiegereltern, da wurden sie wieder jung. Der Apfelbaum und der Goldvogel blieben bei ihnen.
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Der Sohn des Jägers Es war einmal ein berühmter Jäger, der jeden Tag viel Wild erlegte. Einmal trat der Jäger auf ein freies Feld hinaus, als plötzlich ein weißer Hirsch aufsprang, vor ihm stehenblieb und sprach: »Schieße auf mich! Wenn du triffst, ist es zu deinem Glück. Triffst du mich aber nicht, dann wehe dir!« Der Jäger schoß auf den Hirsch, verfehlte ihn aber. Der Hirsch stob davon. Als der Jäger nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: »Heute habe ich auf einen weißen Hirsch geschossen und ihn verfehlt. Ich werde sterben, bereite mir das Leichentuch.« In der Nacht starb der Jäger wirklich. Seine schwangere Frau blieb allein zurück. Sie gebar einen Sohn, der war so stark und tüchtig, daß ihm niemand gleichkam. Einmal fragte der Sohn die Mutter: »Mutter, wer hat meinen Vater getötet?« »Das Schicksal, Kind«, antwortete die Mutter. »Nein, du mußt es mir sagen«, drängte der Sohn. Schließlich gab die Mutter nach und erzählte ihm alles. Da stand der Sohn des Jägers auf, nahm das Gewehr, lud es, schnitzte eine Zielscheibe und feuerte drei Schüsse ab. Alle drei Kugeln durchbohrten die gleiche Stelle. Da hängte er sich das Gewehr über die Schulter und ging in den Wald, um jenen Hirsch zu suchen. Er zog durch Wälder und Schluchten und kam zu dem Feld, wo sein Vater auf den Hirsch geschossen und ihn verfehlt hatte. Plötzlich sprang der weiße Hirsch auf, blieb vor ihm stehen und sprach: »Schieße 323
auf mich! Wenn du triffst, ist es zu deinem Glück. Triffst du mich aber nicht, dann wehe dir!« Der junge Mann zielte und traf ins Herz. Der Hirsch brach zusammen und starb. Da ging der junge Mann hin, schnitt das Fleisch heraus und warf es weg, das Fell mit dem Schwanz, den Beinen und dem Kopf aber nahm er mit nach Hause zur Mutter. Er legte all das hin und ruhte sich aus. Inzwischen war der Hirsch wieder lebendig geworden. In seinem Fell hingen Perlen und Edelsteine. Er lief umher und klirrte mit diesen Kleinodien. Der Jägersohn staunte, brachte den Hirsch sofort ins Haus und umhegte ihn. Wenn der Hirsch sich schüttelte, fielen Perlen und Edelsteine herab. In einer Woche füllte der Jägersohn damit das ganze Haus. Er wurde sehr reich und baute sich Häuser, die eines Königs würdig gewesen wären. Doch eines Tages sagte der Sohn zur Mutter: »Mutter, wozu brauchen wir soviel Vermögen, wenn wir nicht unter die Leute gehen und in Erscheinung treten. Laden wir den König ein, um ihm unseren Reichtum zu zeigen!« »Lade den König nicht ein, er wird uns nichts Gutes bringen«, riet die Mutter ihrem Sohn. Aber der Sohn ließ sich nicht umstimmen: »Wir müssen ihn unbedingt einladen.« »Wie du willst«, seufzte nun die Mutter. Sofort ließ der junge Mann ein prächtiges Mahl zubereiten, kleidete sich erlesen und begab sich zum König, um ihn einzuladen. Er brachte ihn auch mit in sein Haus, setzte ihm ein gutes Essen vor und zeigte ihm seinen Hirsch. Dem König gingen die Augen über, als er den Hirsch sah. 324
»Diesen Hirsch muß ich mitnehmen«, sagte der König zu dem jungen Mann. Der weigerte sich zwar, aber was sollte er machen? Man nahm ihm den Hirsch weg und führte ihn fort. Der Sohn des Jägers blieb mit leeren Händen zurück. Nach einiger Zeit rief der König den jungen Mann zu sich. Als der Jüngling vor dem Herrscher stand, sagte der: »Diese Räume hier sind voller Perlen und Edelsteine. Davon sollst du mir Häuser bauen, wie sie noch nie ein Mensch gesehen hat.« Vier Räume waren mit Perlen und Edelsteinen gefüllt und ein fünfter bereits zur Hälfte. Der junge Mann erklärte dem König verzweifelt: »Ich bin weder Zimmermann noch Maurer und verstehe mich auch auf kein anderes Handwerk. Wie soll ich da ein Haus bauen?« »Bau es so, wie du willst«, sagte der König. »Gut«, meinte der junge Mann. »Dann laßt zweihundert Ochsenkarren Kalk und zweihundert Ladungen Sand bringen. Ich weiß schon, was ich tun werde.« Man brachte das Gewünschte. Der junge Mann kannte einen See, zu dem die Hexen kamen. Das ganze Volk der Hexen kam hierhergezogen, um aus dem See zu trinken. Der junge Mann nahm allen Kalk und Sand, schüttete ihn in den See und glättete somit den Grund und das Ufer des Sees. Dann gab er ein Schlafmittel hinein. Als die Hexen kamen und das Wasser tranken, wurden sie betäubt und fielen auf der Stelle um. Der Jägersohn schickte Männer zu den betäubten Hexen und ließ allen die Zähne ausreißen. Dann bestellte er Handwerker und ließ aus den Zähnen ein Haus bauen, wie es nicht wunderbarer sein konnte.
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Als der König das Haus sah, fiel er vor Überraschung um. Mit Mühe rief man ihn ins Leben zurück und brachte ihn in jenes Haus. Im Dienst des Königs stand auch eine alte Frau. Die sagte zu ihm: »Großer König, verliere keine Zeit. Dieser junge Mann ist tüchtig. Gebiete ihm, dir die Tochter vom König des Ostens zu bringen!« Der König ließ den Sohn des Jägers rufen und sprach: »Du mußt losziehen und mir die Tochter vom König des Ostens bringen!« Da sagte der Sohn des Jägers: »Großer König! Wenn ich Euch die Tochter vom König des Ostens holen soll, dann gebt mir tausenderlei Stoffe und ein Schiff.« Der König ließ ihm tausenderlei Stoffe kommen, so bunte, daß einem die Augen weh taten. Der Sohn des Jägers lud die Stoffe in das Schiff und fuhr aufs Meer hinaus. Als er eine gute Strecke zurückgelegt hatte, hörte er es rauschen und donnern. Er blickte auf und sah, daß ein weißer Habicht eine Taube verfolgte. Die Taube ließ sich aufs Schiff fallen. »Gib mich nicht dem Habicht«, flehte die Taube den jungen Mann an. »Gib sie mir, und ich werde dir einen Dienst erweisen«, sprach der weiße Habicht. Da gab ihm der junge Mann die Taube, und der Habicht flog davon. Bald darauf vernahm der junge Mann ein fürchterliches Tosen und Gischten. Als er aufblickte, sah er, daß ein roter Fisch von einem weißen Fisch verfolgt wurde. Der rote Fisch sprang aufs Schiff, und der weiße Fisch bat den Sohn des Jägers: »Gib mir den Fisch, und wenn du mich brauchst, will ich dir helfen.«
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Da gab der junge Mann den roten Fisch dem weißen, und der weiße Fisch schwamm weiter. Nach langer Fahrt kam der junge Mann zum Haus jener Königstochter. Er breitete all seine Stoffe vor ihrer Tür aus, und als das Mädchen heraustrat, betrachtete sie entzückt die Ware. Da sprach der Sohn des Jägers: »Was ist das schon! Meine schönsten Stoffe habe ich dort auf dem Schiff. Wenn Ihr wollt, dann kommt mit und seht sie Euch an!« So überlistete er das Mädchen, brachte sie auf sein Schiff und stach in See. Unterwegs sagte das Mädchen: »Warum hat dein Schiff nicht wenigstens ein Fensterchen, damit man den Himmel sehen kann?« Sofort schnitt der junge Mann oben ins Schiff ein Loch. Da verwandelte sich das Mädchen in eine Taube und flog davon. Der Sohn des Jägers blieb allein zurück. Doch plötzlich kam der weiße Habicht geflogen. Er hatte die Taube eingefangen und brachte sie dem jungen Mann zurück. Auf dem Schiff verwandelte sich die Taube wieder in jene Königstochter. Das Mädchen und der Mann fuhren weit über das Meer. Endlich sagte das Mädchen: »Wenn du mir schon das Himmelsblau nicht mehr zeigst, dann zeige mir wenigstens die Wogen des Meeres!« Der junge Mann schnitt eine Öffnung ins Schiff. Das Mädchen stellte sich so, als betrachte sie das Meer. Plötzlich verwandelte sie sich in einen Fisch und verschwand im Meer. Der junge Mann schlug sich an den Kopf, doch was konnte er tun? Betrübt segelte er weiter. Auf einmal hörte er es rauschen, und als er aufblickte, sah er, daß der weiße Fisch jenen Fisch, in den sich das Mädchen verwandelt hatte, gefangen hatte 327
und zu ihm brachte. Er trug ihn heran und warf ihn aufs Schiff. Jetzt fragte das Mädchen den Sohn des Jägers: »Für wen willst du mich?« »Für den König«, antwortete der junge Mann. »Nein, den König heirate ich nicht. Du sollst mein Mann sein und ich deine Frau«, sagte das Mädchen. »Wie soll das geschehen? Der König wird dich mir wegnehmen.« »Ich weiß schon wie. Nimm zum König mit, was ich dir gebe, und sage ihm: ›Dieses Geschenk schickt Euch das Mädchen. Ihr und Eure Nasire und Wesire sollt es öffnen.‹« Der junge Mann nahm, was ihm das Mädchen gab, brachte es dem König und sagte: »Ihr und Eure Leute sollt es öffnen, das Mädchen schickt es Euch.« Er selbst verließ den Raum. Der König und seine Nasire und Wesire begannen das Geschenk des Mädchens zu öffnen. Plötzlich zerbarst es und streckte alle nieder. Dem Sohn des Jägers blieben das Mädchen und das Königreich.
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Der lahme Büffel Es war einmal ein Mann, der hatte eine Tochter und einen Sohn. Als seine Frau starb, heiratete er ein zweites Mal. Die Stiefmutter aber haßte die Kinder derart, daß ihr schon ihr Anblick zuwider war. Die Kinder taten zwar alles, was die Stiefmutter ihnen auftrug, aber ihr Herz konnten sie dennoch nicht gewinnen. Die Stiefmutter schickte sie immer die gefährlichsten Wege. Wenn sie die Schweine hinaustrieb, trieb sie diese weit fort, auf die andere Seite des Flusses. Oder sie trieb die Rinder in den Wald und in die Berge. Abends schickte sie die Kinder aus, um sie im Waldesdickicht zu suchen. In solch eine Gefahr brachte die Stiefmutter die Kinder. Aber zum Glück für die Kinder besaß der Mann einen lahmen Büffel und einen trächtigen Hund. Wenn die Frau abends den Kindern befahl, das Vieh zu suchen, und sie weinend hinausgingen, folgten den Kindern der Büffel und der Hund und schützten sie vor wilden Tieren. Der Büffel nahm die Kinder auf seinen Rücken und half ihnen beim Suchen. Die Stiefmutter trieb das Vieh nur deshalb so weit fort und entfernte seine Spur, damit die Kinder beim Suchen im Wald von wilden Tieren aufgefressen würden. Doch der lahme Büffel und der trächtige Hund paßten gut auf. Wenn die Frau die Kinder schlug, dann stieß der Büffel so kräftig gegen das Haus, daß die Frau dachte: ›Das Haus muß jeden Augenblick einstürzen!‹ Die Nachbarn, die das sahen, sagten: ›Die Seele der Mutter dieser Kinder ist auf den Büffel übergegangen. 329
Wenn dieser Büffel nicht wäre, hätten entweder die wilden Tiere die Kinder gefressen oder die Stiefmutter sie umgebracht.‹ Der Stiefmutter gelang ihr Vorhaben nicht, denn der Büffel war ihr dabei im Wege. Aber schließlich dachte sie sich eine List aus. Als der Mann eines Tages von der Arbeit heimkehrte, fand er die Frau schwerkrank. »Was ist mit dir?« fragte der Mann. »Ich bin krank. Ich habe die Weissagerin kommen lassen, und sie hat mir gesagt: ›Wenn du nicht die Innereien deines Büffels ißt, mußt du sterben.‹« Den Mann durchfuhr ein Schreck. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wie konnte er den Büffel schlachten? Er erhielt doch die ganze Familie, hatte seine Kinder genährt und beschützt! Wie konnte er das zulassen! Wenn der Büffel nicht mehr sein würde, müßte die Familie zugrunde gehen. Er weigerte sich, den Büffel zu schlachten, und wollte nach einem Ausweg suchen. »Es gibt keinen Ausweg, ich muß sterben! Du bestehst auf meinem Tod«, sagte die Frau zu dem Mann. Sie ließ die Weissagerin zu sich kommen und trug ihr auf: »Sage meinem Mann, daß ich sterben muß, wenn er mir nicht Herz und Leber des Büffels zu essen gibt.« Da ging die Weissagerin zu dem Mann und sprach: »Was bist du für ein Mann. Eine Frau ist dir schon gestorben, weil du dich nicht um sie gekümmert hast. Willst du die zweite auch durch deine Nachlässigkeit umbringen? Wie ist es möglich, daß du einen Büffel nicht opfern willst, um die Frau zu retten! Sie wird dir sterben, wenn du ihr nicht Herz und Leber des Büffels zu essen gibst!« 330
Der Mann überlegte. Wenn er den Büffel schlachtete, bedeutete das ein großes Unglück für seine Familie. Aber was blieb ihm anderes übrig, wenn seine Frau sonst sterben mußte! Er rang sich durch, den Büffel zu schlachten. Eines abends rief er den Nachbarn: »Hilf mir, ich muß den Büffel schlachten!« Der Nachbar wunderte sich: »Mann, was ist los mit dir? Weshalb willst du das nützliche Tier töten?« »Was soll ich denn machen? Ich weiß ja selbst, daß das unser Untergang ist, aber meine Frau liegt im Sterben. Und die Wahrsagerin meint, daß ihr nichts anderes helfen kann als die Innereien des Büffels.« »Gut, morgen früh will ich dir helfen«, erklärte der Nachbar. Der Mann holte ein großes Messer und wetzte es an einem Stein. Dort ließ er es über Nacht liegen, um am Morgen den Büffel zu schlachten. Nachts schliefen alle. Die Kinder wußten nicht, daß der Büffel geschlachtet werden sollte. Sie waren in tiefem Schlaf, als sie durch eine Stimme geweckt wurden. Sie standen auf und liefen hinaus. Da rief dieselbe Stimme den Kindern zu: »Setzt euch auf den Büffel, nehmt das Messer und den Hund mit und reitet dorthin, wo der Büffel euch hinführt.« Die Kinder kletterten auf den Büffel, und der setzte sich in Trab. Der Hund folgte ihnen. Als es Morgen wurde, hatten sie schon zwei Gebirgsketten überquert. Am nächsten Tag lief der Büffel bis zum Abend ohne Unterbrechung. Am Abend machten sie in einem Wald Rast. Der Büffel legte sich nieder, und der Hund legte sich zu ihm. Da rief die Stimme den Kindern zu: »Schneidet dem 331
Büffel die Kehle durch, häutet ihn ab und schneidet ihn in Stücke. Legt das Fleisch um die Wiese aus, setzt euch in die Mitte und hüllt euch in das Büffelfell!« Als die Kinder das hörten, fingen sie an zu weinen. In dieser menschenleeren Gegend war der Büffel ihre einzige Hoffnung. Sie umarmten das Tier und vergossen bittere Tränen, denn sie wußten, daß sie ohne den Büffel nicht leben konnten. Doch da streckte sich der Büffel der Länge lang aus, und aus seinem Bauch sprach es: »Schneidet ihm schnell die Kehle durch, sonst fressen euch die wilden Tiere!« Da nahm der Junge das Messer, stieß es dem Büffel in den Hals und schnitt ihm den Kopf ab. Er zog das Fell ab und schnitt das Fleisch in Streifen, dann legten sie es aus, setzten sich in die Mitte der Wiese, deckten sich mit dem Fell zu und schliefen ein. Als es Morgen wurde, stand ein befestigtes Schloß da, wie es nicht prächtiger sein konnte. Die Kinder schliefen in kostbaren Betten. Um den Hof spannte sich ein steinerner Wehrgang, durch den eine schwer zu öffnende steinerne Tür führte. Im Haus fanden sie unermeßlichen Reichtum. Die Geschwister verloren fast den Verstand, als sie das alles sahen. Sie freuten sich, daß sie so reich geworden waren. Mehr noch aber freuten sie sich, daß sie sich nicht mehr vor der Stiefmutter fürchten mußten. Sie lebten gemeinsam in dem Schloß. Das Mädchen wuchs heran und wurde eine Frau. Aus dem Jungen wurde ein Mann. Er fertigte sich Pfeil und Bogen. Die Hündin, die sie mitgebracht hatten, hatte vier Junge geworfen, die zu treuen, klugen Hunden herangewachsen waren. Die Hunde schützten die Geschwister vor allen Gefahren. Der junge Mann erlegte Wild und 332
brachte es nach Hause. Seine Schwester und seine Hunde liebte er über alle Maßen. Jeden Tag begab sich der junge Mann auf die Jagd. Das Mädchen blieb allein im Haus. Sie bekam Langeweile, und wie sie eines Tages im Hof umherlief, dachte sie: ›Ich will einmal die Tür öffnen und einen Blick nach draußen werfen!‹ Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Da sah sie, daß ringsum dichter Wald stand. Sie schaute nach der anderen Seite, dort stand ein junger Waldgeist, sah sie immerzu an und lachte ihr zu. Schon lange hatte sie außer ihrem Bruder keine Menschenseele mehr gesehen. Jetzt wunderte sie sich, als sie diesen Mann sah. Dabei fühlte sie eine seltsame Angst. Sie stürzte durch das Tor in den Hof zurück und schloß die Tür. Am folgenden Tag ging sie wieder im Hof auf und ab und dachte: ›Wenn ich doch wüßte, wer dieser Mann war, den ich gestern gesehen habe. Vielleicht ist er heute wieder da!‹ Sie lief hinaus und sah den Mann abermals. Diesmal hatte sie keine Furcht mehr. Der Mann kam zu ihr und nahm ihre Hand. Sie wehrte sich nicht, sondern führte ihn in den Hof. Beide verliebten sich ineinander, und sie vergnügten sich miteinander bis zum Abend. Abends öffnete die Schwester das Tor und ließ den Waldgeist hinaus, damit ihr Bruder, der bald zurückkommen mußte, ihn nicht tötete. Der Waldgeist hatte große Furcht vor dem Bruder. Auf das Mädchen hatte er es schon lange abgesehen, doch der Bruder war ihm im Weg gewesen. Als der Bruder am Abend mit den Hunden von der Jagd zurückkehrte, fand er seine Schwester etwas blaß. Sie begrüßte ihn auch nicht wie sonst. Er lief zu 333
ihr hin und küßte sie. »Was ist mit dir, Schwester, du bist doch nicht etwa krank?« Die Schwester antwortete: »Nichts weiter, mir schmerzt nur der Kopf ein wenig, weil ich solange auf dich warten mußte.« Am nächsten Tag zog der junge Mann wie stets mit seinen Hunden auf die Jagd. Sofort stand die Schwester auf, öffnete dem Waldgeist die Tür, ließ ihn ein, und sie begannen abermals ihr Liebesspiel. »Wenn ich mich nicht vor deinem Bruder fürchtete«, sagte der Mann, »möchte ich immer bei dir sein.« Und die junge Frau antwortete: »Wenn ich nicht vor meinem Bruder und seinen Hunden Angst hätte, würdest du jeden Tag bei mir sein können.« Da riet ihr der Mann: »Denk dir etwas aus und schicke deinen Bruder weit fort, daß er eine Woche lang nicht zurückkommt.« Das Mädchen war einverstanden. Als es Abend wurde, schloß sie das Tor auf und ließ den Waldgeist hinaus in den Wald. Sie selbst zog sich aus und legte sich ins Bett. Am Abend kam der Bruder mit seinen Hunden und der Jagdbeute zurück. Als er die Schwester im Bett fand, rief er bestürzt: »Schwester, was ist dir zugestoßen? Bist du krank?« Die Schwester gab jammernd zur Antwort: »Mir geht es ganz elend, Bruder, vielleicht muß ich sterben.« Erschrocken rief der junge Mann: »Was soll ich tun! Wenn ich nur wüßte, was dir helfen kann!« Da sagte die Schwester: »Ich kenne ein Heilmittel, Bruder, aber man muß es von sehr weit her holen, und ich kann dich doch nicht hinschicken, es mir zu bringen.«
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»Schwester«, bat der junge Mann, »sag nur, was dir helfen kann. Ich und meine Hunde werden überall hingehen, selbst in die Unterwelt oder in die Lüfte.« Da sprach die Schwester: »Zwischen dem Schwarzen und dem Weißen Berg leben ein Bär und eine Bärin. Wenn ich Herz und Leber des Bären esse, kann ich wieder gesund werden, wenn nicht, gibt es keine Heilung für mich.« Der Mann rief seine Hunde, hängte sich Pfeil und Bogen um und machte sich auf den Weg. Kaum hatte er den Hof verlassen, stand die Schwester auf und öffnete das Tor. Dort wartete bereits der Waldgeist. Sie nahm ihn ins Haus, und eine Woche lang vergnügten sie sich miteinander. Und das Mädchen meinte: »Wenn doch mein Bruder gar nicht mehr wiederkäme!« Traurig zog der Bruder seines Wegs. Die Tränen standen ihm in den Augen, und er fürchtete, sich mit dem Heilmittel zu verspäten. Während er so seinen Gedanken nachhing, hörte er es pfeifen. Er blickte auf und sah auf einem Hügel ein schönes junges Mädchen stehen. Als er zu ihr hinsah, winkte sie ihm. Da ging er zu ihr. Aber sie war so schön, daß er ihr nicht in die Augen sehen konnte. Er war verlegen und wollte ihr ein liebes Wort sagen. Sie bemerkte dies und kam ihm zuvor. »Wo gehst du hin?« fragte sie. Der junge Mann erzählte ihr, was ihn bewegte. Da sprach das Mädchen: »Deine Schwester lügt. Sie ist nicht krank. Sie liebt einen Waldgeist, der sich jetzt bei ihr die Zeit vertreibt. Dich haben sie weggeschickt, damit du gegen die Bären kämpfst. Das hat sich deine Schwester ausgedacht, um dich loszuwerden. Kehre augenblicklich um und töte deine
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Schwester und den Waldgeist. Beide haben dich hintergangen.« Sie gab ihm einen Dolch in die Hand, aber der junge Mann fuhr zornig auf: »Wem wagst du es, Verrat vorzuwerfen! Du selber lügst! Wer bist du, daß du so sprechen kannst! Meine Schwester würde mir so etwas nie antun. Sie ist krank und hat mich nach einem Heilmittel geschickt. Das werde ich ihr auch bringen.« Das Mädchen versuchte ihn zu überzeugen, aber er glaubte ihr nicht und setzte seinen Weg fort. Dem Mädchen tat der junge Mann sehr leid. Sie rief ihm nach: »Komm zurück, ich muß dir noch etwas sagen, wenn du dich nicht von deinem Vorhaben abbringen läßt. Nimm diesen Dolch und meine Hunde mit, damit deine Hunde stärker sein werden.« Als der junge Mann das hörte, ging er zurück und nahm den Dolch und die Hunde mit. Das Mädchen wußte, daß er unweigerlich zwischen dem Schwarzen und Weißen Berg umkommen mußte, wenn sie ihm für den Kampf mit den Bären nicht den Dolch und ihre Hunde mitgab. Der junge Mann setzte seinen Weg fort. Nach drei Tagen kam er zu der Bärenhöhle und begann mit den Bären zu kämpfen. Obwohl es ein schwerer Kampf wurde, gelang es ihm dennoch dank seiner Hundemeute und seiner Tapferkeit, die Bären zu töten. Er schnitt den Bären auf, nahm Herz und Leber heraus und machte sich blutüberströmt auf den Heimweg. Unterwegs begegnete er abermals dem schönen Mädchen. Sie lud ihn in ihr Haus ein, aber er folgte ihr nicht. Er gab ihr den Dolch und die Hunde zurück, dankte ihr für die Hilfe und ging.
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Als er nach Hause kam, fand er seine Schwester noch immer bettlägerig. Er brachte ihr das Herz und die Leber des Bären, und sie aß diese. Eine Woche lang wich er seiner Schwester nicht von der Seite. Ständig war sie niedergeschlagen. Sonst war ihr nichts anzumerken. In der zweiten Woche ging der Bruder wieder auf die Jagd. Wieder kam der Waldgeist zu dem Mädchen. Nach den Liebkosungen begannen sie zu beraten, wie sie den Bruder loswerden könnten. Der Waldgeist sagte: »Ich bringe dir einen Knäuel Seidenfaden, und du erprobst damit seine Kraft.« »Gut«, sagte die Schwester, »bring das Knäuel her!« Da brachte der Waldgeist einen Knäuel Seidenfaden und sagte ihr, was sie tun sollte. Als der junge Mann seine Schwester wieder betrübt vorfand, fragte er abermals: »Was ist los? Bist du etwa krank?« »Ich bin nicht krank, aber ich bin sehr traurig, ich habe viel über dich nachgedacht.« »Warum, Schwester?« »Weil du durch die Wälder streifst. Wer weiß, was für wilde Tiere dir begegnen können. Ich weiß nicht einmal, wieviel Kraft du besitzt. Ein wildes Tier könnte dich zerreißen! Deshalb will ich deine Kraft erproben.« Sie brachte ihm den Seidenfaden, umwickelte ihn damit und sagte: »Recke und dehne dich! Wenn du ihn zerreißen kannst, dann bin ich überzeugt, daß du sehr viel Kraft besitzt und werde beruhigt sein.« Der junge Mann bewegte Schultern und Arme, aber es gelang ihm nicht, auch nur einen Faden zu zerreißen. Er strengte sich an, aber der Faden schnürte ihn ein und 337
fesselte ihn. Statt freizukommen, verstrickte er sich nur noch mehr. In diesem Augenblick kam aus einem Winkel der Waldgeist hervor, der sich dort verborgen gehalten hatte. Als er den jungen Mann wehrlos sah, griff er nach dessen Hals, um ihn zu erwürgen. Doch da stürzten die Hunde zur Tür herein, fielen über den Waldgeist her und setzten ihm derart zu, daß er nur mit Mühe entrinnen konnte. Weinend kam die Schwester herein und rief: »Was ist mit dir, Bruder?« Und sie befreite ihn aus dem Gewirr der Fäden. Die Hunde legten sich zu Füßen des jungen Mannes nieder. »Das ist ja alles ganz schön«, meinte der Bruder, »aber wer war der Mann, der mich überfiel, als ich gefesselt war?« »Wie soll ich das wissen, mein Lieber«, antwortete die Schwester, »ich habe dir doch gesagt, daß im Wald viele Gefahren lauern.« Dem jungen Mann kam ein Verdacht. Er erinnerte sich daran, was jenes Mädchen ihm gesagt hatte. Aber diese Gedanken zerstoben rasch wieder, und er blieb von der Treue seiner Schwester fest überzeugt. Drei Monate lang ließ sich der Waldgeist nicht mehr sehen. Dann ging er eines Tages zu dem Mädchen und sprach: »Wir müssen etwas gegen die Hunde unternehmen. Ich habe einen solchen Zorn auf deinen Bruder, daß ich ihn mit den Zähnen zerreißen und fressen könnte, wenn er die Hunde nicht hätte.« Und er riet ihr, wie sie sich verhalten sollte: »Du mußt dich krank stellen. Fragt dich dein Bruder nach der Ursache, dann erzähle ihm, daß du krank bist. Er wird wie gewöhnlich
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ein Heilmittel suchen wollen. Dann schicke ihn fort.« Und er sagte ihr, wohin sie ihn schicken sollte. Als der Bruder eines schönen Tages von der Jagd heimkam, fand er die Schwester krank. »Was hast du, mein Liebling, was ist dir zugestoßen, welches Mittel kann dir Heilung bringen?« »Ach, Bruder«, seufzte die Schwester, »ich muß sterben, es gibt keine andere Wahl.« »Was kann dir Heilung bringen?« fragte der Bruder. Das Mädchen antwortete: »Was mich heilen kann, gibt es nur sehr weit von hier. Wenn ich es dir sagte, würdest du dorthin gehen wollen, ich möchte aber nicht, daß du fortgehst. Wer weiß, was dir zustoßen kann.« Als der Bruder nicht nachgab, erzählte sie: »Im Süden erhebt sich ein großer Berg. Dieser Berg dreht sich. Er öffnet und schließt sich alle zwei Stunden. Wenn er sich öffnet, wirst du einen herrlichen Garten sehen. Dort hängt eine grüne Weintraube. Nur diese Weintraube kann mir helfen und sonst nichts.« Da meinte der Bruder: »Was mir auch zustoßen mag, ich muß dir diese Weintraube bringen.« Er zog davon und nahm seine vier Hunde mit. Nach langem Suchen fand er den Berg, der sich jede zweite Stunde öffnete und schloß. Darinnen erblickte er einen schönen üppigen Weingarten. Er wartete, bis der Berg sich gedreht hatte und öffnete, sprang blitzschnell hinein, pflückte eine Traube und hastete wieder hinaus, bevor der Berg sich schloß. Er selbst kam zwar heraus, aber seine Hunde blieben drinnen. Und obwohl er das Kläffen und Winseln der Hunde hörte, eilte er nach Hause, denn er glaubte, seine Schwester sei wirklich schwer erkrankt. 339
Als der junge Mann nach Hause kam, feierten der Waldgeist und seine Schwester gerade. Sie hatten den Tisch gedeckt, sich umarmt und tranken und aßen. Da sahen sie den jungen Mann eilig herankommen und merkten, daß er seine Hunde nicht bei sich hatte. Diesmal verbarg sich der Waldgeist nicht. Als der junge Mann zur Tür hereintrat, ging ihm der Waldgeist lachend entgegen: »Was hast du jetzt vor, Bursche?« Der junge Mann stand wie erstarrt und hielt die Weintraube in der Hand. Er wollte sich zum Kampf rüsten, doch durch den Verrat seiner Schwester war er so entkräftet, daß er den Arm nicht mehr heben konnte. Er setzte sich unter einen Baum im Hof und bat: »Gebt mir zehn Minuten Zeit, damit ich ausruhen kann. Dann bin ich zum Kampf bereit.« Der Waldgeist und die Schwester lachten und sagten: »Bleib nur sitzen! Nicht nur zehn Minuten, sondern eine ganze Stunde sollst du haben, wir fürchten uns nicht vor dir!« Der junge Mann verschränkte die Arme vor der Brust und begann zu weinen. Währenddessen liefen der Waldgeist und die Schwester vor ihm auf und ab und küßten sich immerzu. Dem jungen Mann brach das Herz, als er das sah. Aber was sollte er tun? Jetzt war ihm alles klar. Während sich dies im Hof des jungen Mannes zutrug, erfuhr jenes Mädchen, das ihm schon einmal geholfen hatte, von seiner Not. Im gleichen Augenblick ging sie zu dem Berg, in dem die Hunde verblieben waren, und schlug mit einem Stock auf den Berg, so daß der sich öffnete und die Hunde bellend und win-
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selnd herausstürzten. Das Mädchen schickte auch ihre beiden eigenen Hunde zum Haus des jungen Mannes. Wie der junge Mann noch weinte und sich für den Kampf vorbereiten wollte, blickte er auf und sah, daß sechs Hunde heranjagten, so, als wollten sie die Erde abschleifen. Die Hunde kamen herangesprungen und legten sich dem jungen Mann zu Füßen. Er küßte jeden Hund einzeln und freute sich sehr. Er dankte dem Himmel und der Erde, und sein Herz erwärmte sich in Liebe zu dem Mädchen, das ihn errettet hatte. Inzwischen kam der Waldgeist zu ihm heraus und fragte: »Nun, wie stehst du zu deinem Wort?« »Das ist meine Antwort«, rief der junge Mann und spannte den Bogen. Sein Pfeil traf den Waldgeist mitten ins Herz. Der brüllte fürchterlich auf und kam auf den jungen Mann zu, um ihn zu zerreißen. Doch da stürzten sich die Hunde auf ihn und richteten ihn so zu, daß sein Fleisch in Stücken auf der Wiese herumlag. Der junge Mann schnitt dem Waldgeist mit dem Dolch, den er von dem Mädchen geschenkt bekommen hatte, die Kehle durch. Dann trat er zu seiner Schwester und sprach: »Für den da hast du mich hintergangen, Schwester? Von jetzt an bin ich für dich tot. Ich könnte dir wie diesem Waldgeist die Kehle durchschneiden, aber ich will dein Blut nicht vergießen. Es mag genügen, daß du dich selbst quälst.« Er rief die Hunde, wandte sich um und ging. Bald fand er das Mädchen, das ihm geholfen hatte, und wurde von ihr freudig begrüßt.
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»Jetzt bist du frei«, sprach das Mädchen, »laß uns zusammen leben, ich liebe dich sehr. Komm mit zu mir. Niemand wird dich betrüben oder verraten.« Zuerst wollte der junge Mann ihr nicht glauben, hatte ihn doch sogar die eigene Schwester hintergangen. Aber er war von der Treue dieses Mädchens so bezaubert, daß er ihren Worten Glauben schenkte. Er umarmte und küßte sie. Arm in Arm gingen sie zur Wohnung des Mädchens. Sie öffnete ein schweres Eisentor, und sie traten ein. Im Hof waren ein großer Garten und Wasserbecken. Im Haus aber gab es großen Reichtum. Die Räume waren voller kostbarer Perlen und Edelsteine. Das Haus besaß zwölf Räume, und alle waren prächtig ausgestattet. Das Mädchen öffnete ihm alle Zimmer und zeigte ihm, was sich darin befand. Nur ein einziges Zimmer öffnete sie nicht. Da meinte der junge Mann: »Du hast mir alle Räume aufgeschlossen und gezeigt. Warum zeigst du mir diesen nicht?« Das Mädchen erwiderte: »Nein, mein Lieber, bitte mich nicht, diesen Raum zu öffnen.« Der junge Mann entgegnete nichts, aber er war gekränkt. Wie, wenn er wieder betrogen wurde? Er sagte zwar kein Wort, aber er war argwöhnisch geworden: ›Weshalb hat sie ihm das Geheimnis nicht verraten, was mochte wohl in dem Zimmer sein?‹ Beide gingen gemeinsam auf die Jagd und lebten sehr glücklich. Drei Jahre vergingen so, aber kein einziges Mal schloß das Mädchen die Tür zu jenem Zimmer auf. Der Argwohn des jungen Mannes nahm zu. Obwohl er das Mädchen immer an seiner Seite hatte, schöpfte er
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doch Verdacht, sie könnte einen anderen in dem Zimmer verborgen halten. Eines Tages konnte er diesen Gedanken nicht länger ertragen und fragte: »Warum bist du nicht aufrichtig zu mir. Warum verrätst du mir nicht das Geheimnis dieses Zimmers, was ist darin?« Das Mädchen warf sich ihm weinend an die Brust. »Bitte mich nicht, diesen Raum zu öffnen, sonst bin ich für dich verloren.« Der junge Mann gab sich scheinbar mit dieser Antwort zufrieden, doch sein Argwohn blieb. Da stellte er sich eines Tages krank und ließ das Mädchen allein auf die Jagd ziehen. Er selbst stand auf, fand den Schlüssel zu jenem Zimmer und öffnete es. Er trat ein und konnte nichts darin finden außer einem Tisch, der in einer Ecke stand. Auf dem Tisch stand ein kleines Kästchen. Er ging hin, öffnete es und fand darin ein Bild des Mädchens, weiter nichts. Aber kaum hatte er das Kästchen geöffnet, schwebte das Bild heraus und flog davon. Der junge Mann stürzte schreiend und mit den Händen gestikulierend hinterher, doch das Bild flog in die Ferne. Was sollte der junge Mann machen? Er war sehr betrübt, doch was half das schon! Als das Mädchen die Geschichte erfuhr, schlug sie die Hände an den Kopf. Sie weinte und klagte, weshalb er das getan habe. Nun habe er sie verloren. Jetzt war der junge Mann zwar von der Treue des Mädchens überzeugt, aber das Bild des Mädchens war davongeflogen. Verzweifelt wartete er, was geschehen würde. Sechs Monate lang geschah nichts. Sie lebten so glücklich wie zuvor.
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Als sie eines Abends hinausschauten, sahen sie eine bucklige Alte an der Tür sitzen. Da fragten sie: »Was willst du, wer bist du?« Die Frau antwortete: »Ich bin eine arme Bettlerin und gehe von Dorf zu Dorf. Nun bin ich in diese menschenleere Gegend gekommen und habe sehr großen Hunger. Ich habe nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Gebt mir diese Nacht ein Obdach, meine Lieben, Gott wird euch dafür segnen!« Weil die Frau ihnen leid tat, ließen sie sie ins Haus ein, wiesen ihr einen Platz zu und gaben ihr zu essen. Am nächsten Tag stellte sich die Alte krank und stand nicht auf. Das Mädchen wollte die alte Frau den Tag über nicht allein lassen und ging nicht mit auf die Jagd. Sie ließ den jungen Mann fortgehen, sie selbst aber blieb zu Hause. Als die Alte das Mädchen allein wußte, sprang sie aus dem Bett und nahm die Gestalt eines Mannes an. Sie packte das Mädchen bei den Haaren und schleifte sie zur Tür hinaus. Dort pfiff sie, und sofort kam ein schwarzer Mann aus dem Wald, der brachte einen großen Kessel, in den steckten sie das Mädchen und banden ihn oben zu. Die Alte nahm den Kessel auf eine Schulter und ging damit fort. In einem Land lebte ein König, der war alt geworden, ohne geheiratet zu haben. Man brachte ihm Mädchenbilder von überallher, aber keines wollte ihm gefallen. Eines Tages fanden Viehtreiber im Wald das Bild jenes Mädchens. Sie hoben es auf und brachten es dem König. So ein schönes Mädchen hatte der König einmal im Traum gesehen, und gerade sie war es, die er solange schon suchte. Kaum hatte er einen Blick auf das 344
Bild geworfen, erkannte er sie sofort wieder und befahl: »Ich will den mit Gold beschenken, der mir dieses Mädchen bringt.« Die Goldgierigen stellten das ganze Land auf den Kopf, sie konnten aber kein Mädchen finden, das diesem Bild ähnelte. In jenem Land lebte auch eine listige Frau, eine Zauberin. Kaum hatte sie das Bild erblickt, sagte sie: »Ich werde das Mädchen herbringen.« Sie zog davon und brachte dem König in einem Kessel das Mädchen. Als man das Mädchen herausholte, erkannte der König sie sofort wieder und feierte mit ihr eine prächtige Hochzeit. Den jungen Mann hatte der Verlust des Mädchens so hart getroffen, daß er einem Toten glich. Mehrmals wollte er sich das Leben nehmen, aber die Hoffnung, sie doch noch wiederzusehen, hielt ihn davon ab. Er verließ die Gegend, zog durch die Wälder und jagte. Seine Kleider zerrissen, er lief barfuß umher und alterte zusehends. Eines Tages starb der König, und seine Frau sagte: »Jetzt bin ich Königin in diesem Land. Ich will meinen ersten Mann suchen, ihn heiraten und zum König machen.« Sie gab den Befehl, nach ihm zu suchen und ihn herzubringen. Die Kundschafter zogen aus. Ein Jahr lang waren sie unterwegs, ohne ihn finden zu können. Da befahl die Königin ihren Dienern: »Errichtet einen Pfahl an einer großen Straße und heftet mein Bild daran. Wenn jemand fragen sollte: ›Wo ist diese Frau‹ oder sagen sollte: ›Das ist meine Frau‹, den sollt ihr festnehmen und herbringen!« Der Befehl wurde augenblicklich ausgeführt. Man stellte am Wegrand das Bild auf. Die Wächter standen bereit, und die Vorübergehenden betrachteten das 345
Bild. »Das ist eine schöne Frau«, sagten sie nur, mehr nicht. Eines Tages kam ein Bettler daher. Er war ganz zerlumpt. Nur Fetzen hingen an seinem Leib. Er trat zu dem Bild, und kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, als er fürchterlich aufschrie, sich an den Pfosten klammerte und das Bild herunterreißen wollte. Aber man hinderte ihn daran. Da begann er zu schreien und zu weinen: »Das ist mein Bild, und die Frau gehört mir. Zeigt mir, wo sie ist, gebt mir mein Bild!« »Wer soll dir denn das Bild geben, du Bettler«, erwiderten die Wächter. »Das ist das Bild der Königin.« Doch der Mann gab nicht nach. Er wollte sich umbringen. Sie prügelten ihn und verfolgten ihn, aber sie konnten ihn nicht fernhalten. Da nahmen sie ihn gefangen, brachten ihn ins Schloß der Königin und sagten: »Dieser Mann läßt nicht von Eurem Bild ab.« Als der Mann die Königin sah, schrie er auf. Aber die Königin erkannte ihn nicht, sie dachte nur: ›Vielleicht hat er sich, nachdem er mich verloren hat, so verändert.‹ Sie blickte ihm in die Augen, und da erkannte sie ihn wieder. »Wie mager du geworden bist, du Armer, wie bist du heruntergekommen«, sprach die Frau. Der Mann antwortete: »Was sollte mir denn Gutes widerfahren sein, seit ich dich verloren habe?« Die Frau umgab ihn sofort mit Dienern und ließ ihn baden. Sie ließ ihn ruhen und in kostbare Gewänder kleiden. Sechs Monate später feierten sie Hochzeit. Schließlich setzte sie ihn als König ein. Er erwies sich als sachkundiger und tüchtiger Herrscher. Das ganze Land liebte ihn. Beide lebten wieder zusammen,
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und bis an ihr Lebensende begegnete ihnen kein Ungemach mehr.
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Der Bettler und das Tuch Es war einmal ein Bettler, der wanderte von Dorf zu Dorf, und als er die Dörfer hinter sich gelassen hatte und auf die Straße hinauskam, fand er ein Tuch. Darauf stand geschrieben: ›Glücklich wird sein, wer mich, die dieses Tuch verloren hat, heiratet.‹ Der Bettler ging in die Stadt, betrat ein Gasthaus und sagte zu dem Wirt: »Gib mir dafür gut zu essen.« Der Koch aber fluchte: »Was kannst du dafür Gutes bekommen!« Im Gasthaus hielt sich gerade ein Königssohn auf, der sah das Tuch und sagte zu dem Bettler: »Gib es mir!« Er warf dem Wirt ein Zehntumanistück zu und befahl: »Gib dem Bettler, was er verlangt, gib ihm Speise und Trank und auch das Kleingeld heraus! Das Tuch aber bring mir her.« Als er das Tuch in der Hand hielt, las er: ›Glücklich wird sein, wer mich, die dieses Tuch verloren hat, heiratet.‹ Der Königssohn begab sich nach Hause, sagte dem Vater aber kein Wort von dem Vorfall. Bald wurde er krank vor Kummer. Der Vater umgab ihn mit Ärzten, doch diese konnten ihm nicht helfen. Schließlich sprach der Sohn: »Vater, du kannst mich nicht heilen, auch wenn du dein ganzes Reich verpfändest.« Er zog das Tuch hervor, zeigte es dem Vater und sagte: »Wenn ich die Besitzerin heirate, werde ich wieder gesund, wenn nicht, ist mein Leben nichts mehr wert.« Da rief der Vater: »Mein Sohn, stehen dir nicht alle Schatzkammern zur Verfügung? Nutze sie, das Mädchen zu finden!« 348
Nun brach der junge Mann auf und reiste durchs Land, aber er konnte das Mädchen nicht finden. Da ging er außer Landes und kam in die Nähe eines Königsschlosses. Als der Herrscher ihn sah, befahl er: »Bringt ihn her!« Ein Diener rief ihn und brachte ihn zum Herrscher. Unterwegs kam der Königssohn an einer Grube vorbei, in die man einen Mann geworfen hatte. Zwölf Männer standen mit Eisenhämmern am Rand der Grube, und sobald der Gefangene sich ein Stück hinaufgezogen hatte, schlugen sie ihn auf den Kopf und stießen ihn wieder hinab. Dem Königssohn tat der Mann leid. Als der junge Mann beim König anlangte, fragte der: »Wessen Sohn bist du?« Der Königssohn gab Auskunft. Da umarmte und küßte ihn der König, denn er und der Vater des jungen Mannes waren Verwandte. Er gab dem Koch Anweisung: »Ein teurer Gast ist gekommen, bereite ein gutes Mahl.« Als der Koch bekanntgab, das Essen sei fertig, lud der König den jungen Mann zur Tafel. Doch der Königssohn erwiderte: »Ich habe in deinem Reich so Schreckliches gesehen, daß ich nicht eher einen Bissen hinunterbringe, bis ich das Land wieder verlassen habe.« »Was bedrückt dich?« fragte der König. »In einer Grube steckt ein Mann, und zwölf Männer stehen mit Hämmern um die Grube. Wenn er etwas verbrochen hat, dann töte ihn oder ertränke ihn oder verbanne ihn. Weshalb duldest du so etwas Schreckliches?« »Wenn ich diesen Mann herauslasse«, sprach der König, »dann wird er mein Land hungrig fressen. Zwölf Bäcker muß ich anstellen, die ihm Brot backen, zwölf Ochsen schlachten und ihm zwölf Schläuche Wein vorsetzen, und das alles verschlingt er mit einem Mal.« 349
Da meinte der junge Mann: »Also, dann lebt wohl.« Und er brach auf. Jetzt überlegte der Herrscher: ›Solange habe ich ihn nicht gesehen, wie kann ich ihn da fortziehen lassen, was werden seine Eltern sagen?‹ Er gab Befehl, den jungen Mann zurückzuholen. Gleichzeitig ordnete er an, die Bäcker sollten Brot backen. Er ließ zwölf Ochsen schlachten und zwölf Schläuche mit Wein füllen, und dann gebot er: »Laßt den Mann heraus.« Als die Wächter das hörten, warfen sie die Hämmer fort und entfernten sich. Der Mann aber kletterte aus der Grube. Weil er so unerhört viel trinken konnte, hatte er den Namen Gardakeschani erhalten. Als er sich jetzt umblickte und die vielen Brote sah, die in zwölf Tagen gebacken worden waren, aß er diese wie auch die zwölf Ochsen auf und trank dazu zwölf Schläuche Wein. Dann rieb er sich die Augen und fragte: »Wer hat mir die Freiheit wiedergegeben?« Da trat der Königssohn vor und sagte: »Das war ich.« Gardakeschani sprach: »Was soll ich dir dafür geben, Bruder, daß du mir solche Güte erwiesen hast?« »Nichts«, antwortete der junge Mann, »ich bin ein Königssohn. Was gälte mein Rang, wenn ich nicht wenigstens einem Menschen die Freiheit geben könnte?« »Trotzdem sollst du mir sagen, womit ich dir dienen kann«, meinte Gardakeschani, »Reichtümer besitze ich zwar nicht, aber alles andere will ich dir verschaffen.« Da zeigte ihm der junge Mann das Tuch und sagte: »Wenn du mir die findest, der dieses Tuch gehört, will ich dir ein Geschenk machen.« Gardakeschani lachte nur: »Ich will tot umfallen, wenn ich das Mädchen nicht finde.« Die Reste der Mahlzeit wickelte er in ei350
nen Zipfel seiner Tschocha, in den anderen Zipfel den jungen Mann und machte sich auf den Weg. Er kam an einen diamantenen Felsen. Dieser Felsen öffnete und schloß sich. »Hier befindet sich das Mädchen«, sagte Gardakeschani. »Ich verhindere mit meinen Händen, daß sich der Felsen wieder schließt, und du gehst hinein. Wenn das Mädchen dich sieht, wird sie auf dich zukommen und sagen, sie wolle deine Frau sein. Nimm sie bei der Hand und führe sie rasch heraus.« Als der Felsen sich öffnete, streckte Gardakeschani seine Arme aus, damit er sich nicht wieder schließen konnte. Der Königssohn ging hinein und entfaltete das Tuch. Kaum hatte das Mädchen ihn erblickt, sagte sie: »Du sollst mein Mann und ich will deine Frau sein.« Da sprach der Königssohn: »Komm rasch mit hinaus.« Er führte das Mädchen ins Freie, und der Fels schloß sich wieder. Zu dritt zogen sie los und kamen an ein Schloß, das mitten im Wald stand. Da sagte Gardakeschani: »Geht weiter. Ich will nur nachsehen, wer in diesem Schloß wohnt, und werde euch bald einholen.« Er stieg zu dem Schloß hinab, rief, und sofort kamen acht Riesen auf Knien aus dem Haus gerutscht und sprachen: »Gott sei Dank, Gardakeschani, daß du wieder frei bist.« Diese Riesen hatten einen Bruder mit neun Köpfen. Der stürzte aus dem Haus und brüllte: »Du Hund, wie kommst du hierher? Aus Furcht vor uns wagt es kein Vogel zu fliegen und keine Ameise wagt es zu kriechen.« Aber Gardakeschani packte ihn und schleuderte ihn fort, so daß er hinter dem Berg herunterfiel. Dort war der zehnte Bruder, ein Riese aus Eisen, angebunden. 351
Gerade bei diesem Riesen fiel der Neunköpfige herunter. »Was ist dir zugestoßen?« fragte der eiserne Riese. Der Neunköpfige antwortete: »Gardakeschani ist frei. Er ist zu uns gekommen, hat mich gepackt und hierher geschleudert.« »Binde mich schnell los«, drängte der eiserne Riese. Da kroch der Neunköpfige zu ihm hin und befreite ihn. Unterdessen zogen der junge Mann und das Mädchen sorglos ihres Wegs. Plötzlich vernahmen sie ein Rauschen. Der eiserne Riese kam auf sie zu, schlug den jungen Mann zu Boden und entführte das Mädchen. Als Gardakeschani ihnen nacheilte, suchte er sie vergeblich. Er irrte umher, mit jedem Schritt legte er zehn Meilen zurück, aber von dem jungen Mann und dem Mädchen war nichts zu sehen. Er wunderte sich, so schnell konnten die doch nicht gelaufen sein! Er ging einen Schritt zurück – nichts. Er machte einen zweiten Schritt, da sah er den jungen Mann bewußtlos in einem Graben liegen. Er zog ihn heraus, brachte ihn ins Leben zurück und fragte ihn, was geschehen sei. Der junge Mann berichtete: »Ein eisernes Ungetüm hat uns überfallen. Mir hat es einen Schlag versetzt, daß ich umfiel, und das Mädchen hat es geraubt.« »So«, meinte Gardakeschani, »wo soll ich jetzt suchen?« Er kehrte zu den Riesen zurück und sagte: »Eure Schuld ist es, daß meine Schwägerin entführt wurde.« Sie verteidigten sich: »Als du unseren Bruder fortschleudertest, muß er dort, wo er landete, unseren Bruder, den eisernen Riesen, freigelassen haben. Wieso ist das unsere Schuld?« Da sprach Gardakeschani zu den Riesen: »Diesen meinen Bruder hier sollt ihr zwanzig Tage bei euch 352
aufnehmen, jeden Tag baden und ihm gute Speisen vorsetzen. Komme ich in zwanzig Tagen zurück, ist es gut. Wenn nicht, dann macht mit ihm, was ihr wollt.« Und er brach auf und lief und lief, bis er an einen Berg kam. Dort fragte er die Rinderhirten: »Wißt ihr, wo der eiserne Riese wohnt?« Die Rinderhirten antworteten: »Seit drei Tagen sind zwei Büffel ineinander verhakt. Wenn du sie trennst, wollen wir es dir sagen.« Da ging er hin, schleuderte den einen Büffel hierhin und den anderen dorthin. Nun sagten die Rinderhirten: »Wir wissen es nicht, aber da sind Schafhirten, die werden es dir sagen.« Er ging zu den Schafhirten: »Könnt ihr mir sagen, wo der eiserne Riese wohnt?« Aber sie antworteten ihm: »Wozu willst du das wissen? Du kannst ihm ja doch nichts anhaben, wenn du mit ihm kämpfen willst. Ist es nicht schade um dich? Er ist doch durch und durch aus Eisen.« »Ich will nicht mit ihm kämpfen«, entgegnete Gardakeschani, »sondern er ist mein Freund.« Da gaben sie ihm einen Schäfer, der führte ihn auf einen Hügel und zeigte ihm das Haus. »Siehst du das Haus dort?« fragte der Schäfer. »Ja, ich sehe es.« »Das ist sein Haus.« Da ging Gardakeschani zu dem Haus. Das Mädchen war allein zu Hause, der eiserne Riese war auf die Jagd gegangen. Als das Mädchen ihn sah, schluchzte es auf: »Ach, mein Schwager, was hat dich hierhergeführt? Er ist doch ganz aus Eisen und nicht zu besiegen. Wenn du mich entführst, wird er uns einholen und vernichten.« Aber Gardakeschani tröstete sie: »Hab keine Angst! Befolge stets meine Worte, dann wird sich alles zum Guten wenden. Wenn der Riese heimkommt, dann setze dich hin und weine so laut, daß er es hören muß. 353
Fragt er dich, weshalb du weinst, dann sage ihm: »Du hast mich in diese vier Wände gebracht und läßt mich allein, während du jagen gehst. Kein Mensch ist hier, und nicht einmal deine Seele vertraust du mir an! Wo ist deine Seele, damit ich wenigstens mit ihr spielen kann?‹« Am Abend begann das Mädchen zu weinen. Der Riese fragte: »Warum weinst du?« Sie antwortete, was Gardakeschani ihr geraten hatte. Da sagte der Riese: »Meine Seele ist im Kamin.« Als der Riese am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte, kam Gardakeschani und fragte: »Was hat er dir gesagt?« Sie antwortete: »Im Kamin ist seine Seele.« »Dann schmücke den Kamin über und über mit Blumen und tue so, als ob du ihn liebst. Wenn er das sieht, wird er dir die Wahrheit sagen.« Das Mädchen bekränzte den Kamin mit Blumen, setzte sich daneben und sang. Als der Riese das sah, freute er sich und fragte: »So sehr liebst du meine Seele?« Das Mädchen antwortete: »Wen sollte ich sonst wohl lieben, wen habe ich außer dir?« Da dachte der Riese: ›Wenn sie mich so liebt, will ich ihr die Wahrheit sagen.‹ Er führte sie hinaus, zeigte ihr einen Berg und sprach: »Siehst du diesen Berg?« »Ich sehe ihn«, sagte das Mädchen. »Auf diesem Berg lebt ein Hirsch, dem mähen dreihundert Schnitter jeden Tag Gras, das sie an drei Stellen aufhäufen müssen. Der Hirsch muß es mit drei Happen verschlingen können. Fehlt auch nur ein Hälmchen Gras, dann frißt er alle auf. Im Kopf dieses Hirsches befindet sich ein Kästchen, in dem drei Schwalben sitzen. Diese Schwalben sind meine Seele: die eine ist meine Gesundheit, die
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andere mein Augenlicht, die dritte mein Leben. Wenn man sie tötet, muß auch ich sterben.« Als Gardakeschani wiederkam, fragte er: »Was hast du erfahren, Schwägerin?« Da erzählte das Mädchen, was der Riese ihr gesagt hatte. Gardakeschani nahm Pfeil und Bogen und machte sich auf zu dem Berg, wo der Hirsch lebte. Als er hinkam, sah er, daß wirklich dreihundert Männer mähten, und er sagte ›Guten Tag‹. Doch niemand hob den Kopf. Erst als er zum dritten Mal grüßte, antwortete der Älteste. »Mann, warum bringst du uns in Schwierigkeiten. Hier gibt es einen weißen Hirsch, der gehört dem eisernen Riesen. Wenn wir dem nicht drei große Haufen Gras vorsetzen, bringt er uns alle um.« Da fragte Gardakeschani: »Wieviel habt ihr denn schon gemäht?« Und sie antworteten: »Zweieinhalb Haufen.« »Laßt ab von der Arbeit«, sagte Gardakeschani, »ich will euch von dieser Not befreien.« Die Männer dachten: ›Vielleicht hat Gott wirklich jemanden zu uns geschickt‹, und sie beendeten die Arbeit. Gardakeschani fragte: »Woher kommt der Hirsch?« Sie zeigten ihm die Richtung. Da sagte Gardakeschani: »Bringt das Heu her und häuft es über mich. Laßt mir nur einen Spalt zum Ausblicken frei.« Die Männer erfüllten seine Bitte und ließen ihm einen schmalen Spalt frei. Als der Abend anbrach, kam auch der Hirsch. Sobald er das Heu erblickt hatte, freute er sich: »Uch, wieviel sie gemäht haben.« Er schlang den ersten Haufen hinunter, und als er sich an den zweiten machte, schoß Gardakeschani einen Pfeil ab, der traf seinen Kopf. Der Hirsch stürzte zu Boden. Gardakeschani sprang hervor, zog sein Schwert, schlug dem Hirsch
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den Kopf ab, brach ihm die Schädeldecke auf und holte das Kästchen heraus. Als Gardakeschani jener Schwalbe, die die Gesundheit des Riesen verkörperte, den Kopf abriß, wurde der Riese krank. Da wußte er, daß das Mädchen ihn verraten hatte, und wandte sich nach Hause. Als er sich seinem Haus näherte, trat das Mädchen heraus und begann zu lachen. Zur gleichen Zeit ging Gardakeschani auf das Haus zu. Er nahm jene Schwalbe, in der das Augenlicht des Riesen verborgen lag, und zerschmetterte ihren Kopf. Da erblindete der Riese und fiel zu Boden. Er flehte das Mädchen an, ihn doch wenigstens bis zum Haus zu schleppen. Doch das Mädchen gab zur Antwort: »Hast du etwa nicht gewußt, daß mich mein Schwager Gardakeschani nicht für dich aus dem Felsen geholt hat?« Sie achtete nicht auf das Flehen des Riesen. Gardakeschani riß auch der dritten Schwalbe den Kopf ab, und der Riese starb. Als Gardakeschani den Hirsch getötet hatte, gebot er den dreihundert Männern: »Geht nicht von hier weg, bis ich wiederkomme!« Nachdem er den Riesen getötet und das Mädchen befreit hatte, hob er es auf seine Schultern und trug es zu den Rinderhirten und Schäfern. Bei den dreihundert Männern angelangt, sagte er: »Das gesamte Gebiet des Riesen soll von jetzt an euch gehören. Lebt hier, wie ihr wollt. Fürchtet euch nicht, einmal im Jahr werde ich zu euch kommen.« Dann verließ er diese Gegend und zog heimwärts. Den Schäfern schenkte er noch die Schafe und den Rinderhirten die Rinder, da neigte sich der zwanzigste Tag seinem Ende zu. Er sagte dem Mädchen, daß die Zeit bald um sei, und er fürchtete, die Riesen könnten 356
seinen Bruder auffressen. Da wünschte er sich, sein Pfeil solle den Turm der Riesen treffen, ihn zerstören und sich oben in das Mauerwerk bohren. Er schoß den Pfeil ab, der flog davon, zerstörte den Turm und bohrte sich oben in das Mauerwerk. Da wußten die Riesen, daß er auf dem Weg zu ihnen war, und gingen ihm zur Begrüßung entgegen. Gardakeschani trat zu ihnen hin und fragte: »Habt ihr meinen Bruder etwa töten wollen?« »Nein«, logen die Riesen. In Wirklichkeit hatten sie schon die Messer geschliffen. »Dann gebt meinem Bruder und der Schwägerin ein gutes Zimmer und bereitet ein schmackhaftes Abendbrot, ich habe Hunger.« Diese Nacht verbrachten sie dort, und am nächsten Tag sprach Gardakeschani zu den Riesen: »Ich will diesen meinen Bruder und meine Schwägerin zum König bringen. Dann komme ich zurück und werde bei euch wohnen.« Er machte sich auf und nahm den jungen Mann und das Mädchen mit. Als sie sich dem Königreich näherten, sahen sie, daß alles in Schwarz gehüllt war. Da sagte der junge Mann: »Sie trauern um mich.« Bevor sie zum Schloß kamen, begegneten sie einem Mann, der lief zum König und überbrachte ihm die Freudenbotschaft: »König, dein Sohn kommt! Er bringt ein wunderschönes Mädchen mit, und ein riesenhafter Mann folgt ihm.« Der König und die Königin liefen hinaus und begrüßten sie. Da gab es viel Freude und auch Tränen. Der König befahl, die Trauerkleider abzulegen und Festkleider zu tragen, weil sein Sohn wiedergekommen war. Am nächsten Tag fand die Hochzeit statt. Gardakeschani feierte drei Tage und drei Nächte lang, dann 357
sprach er zu dem jungen Mann: »Wenn ich hierbliebe, würde das Reich deines Vaters keine drei Jahre für mich reichen. Deshalb will ich zu meinen Riesen gehen.« Er gab ihm einen kleinen Spiegel und sagte: »In diesen Spiegel sollst du schauen, wenn du in Not bist oder uns einladen möchtest.« Nach diesen Worten zog er davon. Die Zeit verging, und es verbreitete sich die Kunde, daß der Königssohn ein wunderschönes Mädchen geheiratet hatte. Da drohten sieben Königreiche, sie wollten mit vielen Kriegern anrücken, um die schöne Frau gewaltsam zu holen, wenn man sie ihnen nicht freiwillig gebe. Der König wagte es nicht, seinem Sohn davon zu erzählen. Die sieben Königreiche stellten ihre Heere rings um das Reich auf. Erst da begab sich der König zu seinem Sohn und sagte: »Kind, sieben Königreiche stehen mit ihren Truppen an unseren Grenzen, um deine Frau zu holen. Was sollen wir tun?« »Warum hast du mir das nicht schon eher gesagt?« fragte der Sohn. Er ging ins Nebenzimmer, nahm den Spiegel und sah hinein. Gardakeschani hatte gerade eine große Schale Wein zum Trinken angesetzt, die fiel ihm aus der Hand. »Mein Bruder ist in Gefahr«, rief er, »los, Riesen, brechen wir auf!« Eilig machten sie sich auf den Weg und kamen bald im Schloß an. »Was bedrückt euch?« fragte Gardakeschani. »Sieben Königreiche wollen mir die Frau wegnehmen«, antwortete der junge Mann. Da wandte sich Gardakeschani an die Riesen: »Wollt ihr in den Kampf ziehen, oder soll ich kämpfen?« Die Riesen erwiderten: »Wozu willst du dich bemühen.« Da befahl ihnen Gardakeschani: »Vernichtet alle Truppen und bringt alle sieben Könige hierher!« 358
Die Riesen zerschlugen die Heere der sieben Königreiche, daß kein Krieger übrigblieb. Die sieben Könige nahmen sie gefangen und brachten sie ins Schloß. Gardakeschani sprach zu ihnen: »Ihr seid es nicht wert zu herrschen.« Den einen stellte er als Stallknecht an, den anderen im Hühnerhof, den dritten als Gärtner, einen als Straßenkehrer, einen als Diener und so weiter. Gardakeschani verbrachte eine schöne Zeit im Schloß, aber schließlich sagte er: »Jetzt gehören euch acht Königreiche, und ihr müßt sie regieren. In diesen Spiegel sollt ihr nur schauen, wenn ihr uns einladen wollt. Von heute an braucht ihr nichts mehr zu fürchten.« Damit zog er fort. Noch oft besuchte er seinen Freund, und sie verlebten angenehme Tage.
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Der Kupferwolf Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne, diese waren alle unverheiratet. An einem anderen Ort lebte ein wunderschönes Mädchen, das hatte einen Kanarienvogel und eine Nachtigall. Ein Riese hatte dieses Mädchen in seiner Gewalt. Die ältesten Söhne kamen überein, hinzuziehen und das Mädchen zu holen. Sie brachen auf und begegneten nach einiger Zeit einem kupfernen Wolf. »Guten Tag, ihr jungen Männer!« »Guten Tag, Wolf!« »Wohin geht ihr?« fragte der Wolf. Da erzählten sie ihm ihr Vorhaben. Der Wolf sprach: »Gebt mir einen Bissen zu fressen, dann will ich euch den Weg zeigen.« Doch die Brüder entgegneten: »Einen Bissen willst du? Die Pest sollst du haben!« Da verfluchte sie der Wolf, und sie verwandelten sich in Steine. Die Zeit verging, aber die Brüder kehrten nicht nach Hause zurück. Mutter und Vater wurden sehr traurig. Da sprach der jüngste Sohn: »Ich will ausziehen, um nach meinen Brüdern zu suchen.« Er brach auf, und nach einiger Zeit begegnete auch er dem Kupferwolf. »Guten Tag, Wolf!« »Guten Tag, junger Mann!« antwortete der Wolf. »Wohin des Wegs?« Der junge Mann entgegnete: »Ich bin unterwegs, um meine Brüder zu suchen und ein schönes Mädchen nach Hause zu bringen.« »Gib mir einen Bissen zu fressen, dann will ich dir alles sagen.« Da kaufte der junge Mann für den Wolf ein Schaf, und der Wolf sagte: »Schlachte mich und nimm mir ein Auge heraus. Wirf es ins Meer, dann trocknet es aus, so daß du hindurchgehen kannst. 360
Wenn du das Mädchen mit dir führst, werden Steine, Felsen und Löcher zu schreien beginnen: ›Sie haben das Mädchen, den Kanarienvogel und die Nachtigall entführt!‹ Doch fürchte dich nicht. Kommst du aus dem Meer heraus, so nimm das Auge wieder mit und setze es mir ein, dann werde ich wieder lebendig!« Der junge Mann tat, was der Wolf ihm gesagt hatte. Er entführte das Mädchen, den Kanarienvogel und die Nachtigall. Und wirklich, alles begann zu schreien, aber er fürchtete sich nicht, sondern zog weiter. Als er das Meer verließ, hob er das Auge auf, und das Meer strömte wieder zusammen. Er ging zu dem Wolf, setzte ihm das Auge ein, und der Wolf wurde wieder lebendig. Da sagte der junge Mann: »Du weißt sicher auch, wo meine Brüder sind?« »Das stimmt«, gab der Wolf zu, »ich will sie wieder lebendig machen, aber sie werden dich im Stich lassen. Gehe erst nach Hause, dann werde ich sie dir nachschicken«, sprach der Wolf. »Nein, du sollst sie mir auf der Stelle lebendig machen. Du hast mir versprochen, meine Bitte zu erfüllen.« Da gab der Wolf dem jungen Mann einen Rat: »Wenn sie Durst haben, darfst du nicht nach Wasser gehen, sondern mußt sie selbst schicken, sonst hintergehen sie dich.« Der Kupferwolf gab den älteren Brüdern das Leben zurück und verabschiedete sich von ihnen. Gemeinsam zogen sie davon. Unterwegs bekam das Mädchen Durst, aber nirgends war eine Quelle. Nach einiger Zeit gelangten sie an einen Brunnen. Da sagten sie zu dem ältesten Bruder: »Steig hinab und bring uns Wasser herauf.« Er ließ sich hinab, rief aber sogleich: »Ich habe mich verbrannt, zieht mich hinauf!« Sie zogen ihn 361
herauf und ließen jetzt den Zweitältesten Bruder hinab. Der rief das gleiche. Da holten sie auch ihn wieder herauf. Dem Mädchen war vor Durst so übel, daß sie fast starb. Da sagte der jüngste Bruder: »Laßt mich hinunter, und sooft ich rufe, daß ich mich verbrannt habe, sollt ihr mich noch ein weiteres Stück hinablassen.« Er ließ sich hinab und reichte ihnen das Wasser hinauf. Sie tranken, aber als er von unten rief, sie sollten ihn hinaufziehen, schnitten seine Brüder das Seil durch. Da stürzte der junge Mann in die Unterwelt. Seine Brüder aber nahmen das Mädchen und brachten es nach Hause. Auf die Frage der Eltern, ob sie nicht ihren Bruder gesehen hätten, antworteten sie nur: »Nein.« Der jüngste Bruder lief unterdessen durch die Unterwelt und gelangte zu einer alten Frau. Er hatte Hunger und bat: »Mutter, gib mir etwas Brot zu essen.« »Warte, Kind, ich werde backen.« Sie siebte das Mehl, kauerte sich darüber, um Wasser zu lassen und dann den Teig kneten zu können. »Was machst du da, Mutter?« »Kind, wir haben kein Wasser, die Drachen haben es in ihrer Gewalt. Wer ihnen ein Kind opfert, kann einen Krug Wasser bekommen. Ich habe kein Kind, das ich ihnen geben könnte.« »Gib mir nur Gefäße, ich will Wasser holen, sollen sie mich meinetwegen fressen«, sagte der junge Mann. Die Alte gab ihm Krüge. »Etwas anderes haben wir nicht«, erklärte sie. »Sind denn keine Kwewri da?« fragte er. »Doch«, meinte die Alte. Der junge Mann riß den Kwewri aus dem Erdreich und ging zum Wasser. Als er hinkam, sah er ein Mädchen, das weinte so bitterlich, daß es einen Stein erweichen konnte. Dieses Mädchen hatte der König hergebracht, weil er Wasser brauchte. Der 362
junge Mann sprach zu ihr: »Weine nicht, ich will dir helfen. Ich hole nur Wasser und komme zurück.« Er brachte der Alten das Wasser, und sie buk ihm Brot. Er aß sich satt und ging dann wieder zu dem Mädchen. Doch das Mädchen sprach: »Geh nach Hause. Ich bin es, die das Opfer sein soll. Es wäre schade, wenn auch du ums Leben kämst.« Aber der junge Mann ließ sich nicht beirren: »Ich will auf deinem Schoß schlafen. Sobald der Drache kommt, sollst du mich wecken. Ich werde schon mit ihm fertig.« Der Himmel öffnete sich, und donnernd kam der Drache herangeflogen. Das Mädchen weckte den jungen Mann. Der schoß seinen Pfeil nach dem Drachen und zerriß ihn in der Mitte. Der Kupferwolf hatte ihm ein Stück Fell mitgegeben und gesagt: »Wenn du in Not bist, hole es hervor, dann werden alle Tiere der Welt um dich sein.« Jetzt zog der junge Mann das Fellstück hervor, und sofort waren alle Tiere da. Der Mann rief: »Helft mir, ihr Tiere, jetzt brauche ich euch!« Da fielen sie über den Drachen her und töteten ihn. Nun sprach das Mädchen: »Komm mit zu uns.« Der junge Mann erwiderte jedoch: »Ich kann nicht mitkommen, aber warte drei Monate, drei Tage, drei Stunden und drei Augenblicke, dann komme ich.« Er holte ihr eine Kutsche herbei und ließ sie nach Hause fahren. Unterwegs sagte der Kutscher: »Wenn du dem König nicht sagst, daß ich den Drachen bezwungen habe, töte ich dich auf der Stelle.« Das Mädchen erschrak und versprach: »Ich werde es ihm sagen.« Als der König seine Tochter sah, freute er sich sehr: »Kind, wie bist du hierhergekommen?« Und das Mädchen antwortete: »Der Kutscher hat den Drachen mit seiner Peitsche erschlagen.« 363
Ein Tag verging. Da nahm der König seine zweite Tochter mit sich, denn er wollte Wasser holen. Er brachte sie zu jener Stelle und nahm sich Wasser. Das Mädchen weinte, daß es den Wald erschütterte und die Steine zerbarsten. Da kam abermals der junge Mann und sagte: »Weine nicht, ich helfe dir. Ich will meinen Kopf eine kleine Weile auf deinen Schoß legen, denn ich bin müde.« Mehr sagte er nicht. Nach einiger Zeit öffnete sich der Himmel, und der zweite Drache kam feuerspeiend herangeflogen. Als er sich ihnen näherte, weckte das Mädchen den jungen Mann. Er rieb sich die Augen, spannte seinen Bogen und traf den Drachen mitten in den Leib. »Ihr Tiere, kommt herbei und helft mir«, rief der junge Mann. Sofort stürzten die Tiere herzu und fielen über den Drachen her. Der junge Mann bat das Mädchen: »Warte drei Monate, drei Tage, drei Stunden und drei Augenblicke auf mich.« Er verschaffte auch ihr eine Kutsche und ließ sie heimfahren. Unterwegs drohte abermals der Kutscher dem Mädchen: »Wenn du dem König nicht sagst, daß ich den Drachen getötet habe, bringe ich dich auf der Stelle um«. Da versprach ihm das Mädchen, seinem Befehl zu gehorchen. Als das Mädchen zu Hause ankam, rief der König: »Kind, wer hat dich hierhergebracht, wer hat dich vor dem Rachen des Drachen gerettet?« Das Mädchen antwortete: »Vater, der Kutscher hat ihn getötet.« Da erklärte der König: »Ich will den Thron verlassen und diesen dem Kutscher überlassen.« Wieder wollte der König Wasser holen. Er nahm seine dritte Tochter mit sich und holte Wasser. Und wieder kam der junge Mann herzu und sagte zu dem Mäd-
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chen: »Ich will meinen Kopf in deinen Schoß legen. Wecke mich, wenn der Drache kommt.« Der Himmel öffnete sich, und donnernd kam der dritte Drache angeflogen. Das Land dröhnte unter seinem Gebrüll, als er den jungen Mann bei dem Mädchen erblickte. Das Mädchen weckte den jungen Mann. Er sprang auf, schoß einen Pfeil ab und traf den Drachen in der Mitte. »Ihr Tiere«, rief der Bursche, »helft mir!« Als die eine Hälfte des Drachens ihn gerade zerschmettern wollte, stürzten die Tiere heran und töteten das Scheusal. »Komm mit zu uns«, sagte das Mädchen. Der junge Mann versprach zu kommen, wie er es auch den anderen versprochen hatte, und ließ sie in einer Kutsche nach Hause fahren. Der Kutscher drohte ihr wie ihren Schwestern, und sie versprach ihm zu berichten, wie er es verlangte. Das Mädchen erzählte dem Vater, der Kutscher habe den Drachen getötet. Da stieg der König vom Thron und setzte den Kutscher als König ein. Der junge Mann war müde geworden, und er sprach zu den Tieren: »Ich muß schlafen, wacht über mich.« Denn er wußte, daß der Kutscher ihn töten wollte. Die Wache wurde dem Fuchs übertragen, weil dieser aufmerksam war. Aber auch der Fuchs schlief ein. Der Kutscher schlich sich unbemerkt heran und schnitt dem jungen Mann die Kehle durch. Als die Tiere erwachten, waren sie bestürzt, denn der junge Mann war tot. An einem Ort gab es eine Quelle. Wenn man einen Toten mit ihrem Wasser benetzte, wurde er sofort wieder lebendig. Die Tiere schickten den Fuchs hin, um jenes Wasser zu holen. Der Fuchs lief los, aber als er mit dem Wasser zurückkam, schossen die Verfolger 365
auf ihn und töteten ihn. Als der Fuchs nicht zurückkehrte, schickten die Tiere den Hasen. Aber dem erging es genauso. Jetzt machte sich der Bär auf, um jenes Wasser zu holen. An einer Stelle schwamm ein Fisch mit zwei seiner Kinder. Der Bär schlug zu und tötete die jungen Fische. Da sprach der Fisch: »Warum hast du meine Kinder umgebracht?« Der Bär erwiderte: »Schwimm zu der Quelle dort und bringe mir das Wasser, dann will ich sie dir wieder lebendig machen.« Der Fisch schwamm hin und brachte ihm das Wasser. Der Bär besprengte damit die Jungen des Fischs, so daß sie wieder lebendig wurden. Dann trug er das Wasser zu dem jungen Mann. Er legte den Kopf wieder zum Körper, bespritzte ihn mit dem Wasser und rief ihn damit wieder ins Leben zurück. Der junge Mann schlug die Augen auf und sagte: »Wie lang ich geschlafen habe!« Die Tiere entgegneten: »Möge dein Feind so schlafen, wie du geschlafen hast!« Da verabschiedete sich der junge Mann von den Tieren und ging zu dem Haus, wo die Mädchen wohnten. Als die Mädchen ihn erblickten, liefen sie zu ihm und fielen ihm um den Hals. Der König wunderte sich über alle Maßen. Wer war dieser Mann, daß seine Töchter ihn so liebkosten! Die Mädchen erzählten ihm: »Vater, dieser Mann hat uns vor dem Drachen gerettet und nicht der Kutscher. Der hat uns nur gezwungen zu lügen.« Da ließ der König den Kutscher ergreifen, an den Schweif eines Pferdes binden und zu Tode schleifen. Zu dem jungen Mann aber sprach er: »Verlange, was du willst, ich will es dir geben.« Doch der junge Mann antwortete: »Nichts anderes will ich, als daß du mich in die Oberwelt hinaufbringst.« Da ließ der König 366
Brot backen und zwei Kühe schlachten und alles herrichten. Er hatte einen Vogel, der den jungen Mann nach oben tragen sollte. Der König sagte ihm nun, wie er sich zu verhalten habe: »Wenn der Vogel mit dem Flügel schlägt, dann stecke ihm ein Stück Fleisch und ein Brot in den Schnabel.« Der junge Mann verabschiedete sich, und der Vogel trug ihn empor. Bei jedem Flügelschlag steckte er ihm einen Bissen Fleisch und ein Brot zu. Als sie fast angelangt waren, hatte der junge Mann kein Fleisch mehr. Da schnitt er sich eine Wade ab und steckte sie dem Vogel in den Schnabel. »Wie gut dieses Fleisch war!« lobte der Vogel. Als sie angekommen waren, hinkte der junge Mann. »Wieso hinkst du?« fragte der Vogel. Da antwortete er: »Ich habe mir Fleisch abgeschnitten und es dir zu fressen gegeben.« Kaum hatte der Vogel das gehört, riß er sich eine Feder aus, strich damit über die Wunde und heilte sie. Der junge Mann kehrte nach Hause zurück. Als der Kanarienvogel und die Nachtigall ihn sahen, fingen sie an zu zwitschern. Vorher hatten sie nicht einmal den Schnabel aufgetan. Der Sohn erzählte seinem Vater, was sich zugetragen hatte, und der Vater fragte: »Soll ich deine Brüder töten lassen, oder was soll ich mit ihnen machen?« Der junge Mann heiratete das Mädchen, das die ganz Zeit auf ihn gewartet hatte. Von den Brüdern aber trennte er sich.
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Ilankugha Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn namens Ilankugha. Er ließ ihn in einem Turm aufziehen, damit er vom irdischen Leben nichts erführe. Einmal schaute der Junge zum Fenster hinaus und sah, wie man einen Toten vorübertrug. Er fragte seinen Erzieher: »Was tragen die da?« Und der Erzieher erzählte ihm, wie der Mensch stirbt. Da sprach Ilankugha: »Den Tod gibt es also auch! Wozu werde ich so erzogen, daß ich von der Welt nichts weiß!« Und er ging zu seinem Vater hinunter. Hinter neun Bergen hielten die neun Brüder Ungeheuer, von denen jedes neun Köpfe hatte, hinter neun schweren Toren ihre wunderschöne Schwester gefangen. Nur nachts ließen sie die Schwester ins Freie hinaus wie den Mond. Da Ilankugha zu einem sehr starken jungen Mann heranwuchs, ließ ihn der Vater nicht aus dem Turm, denn er fürchtete, jemand könnte Ilankugha diese Geschichte erzählen, er würde aufbrechen, um das Mädchen zu suchen, und die Ungeheuer könnten ihn umbringen. Der König gab in seinem Reich den Befehl, niemand dürfe die Geschichte dieses Mädchens seinem Sohn erzählen. Eines Tages war Ilankugha mit Gleichaltrigen zusammen. Sie begannen zu spielen, und er packte einen Burschen seines Alters, maß seine Kräfte mit ihm und riß ihn dabei beinahe in Stücke. Da sagte der Unterlegene: »Mich zu besiegen, ist keine Kunst. Wenn du deine Kraft beweisen willst, dann raube die Schwe368
ster der neun Brüder Ungeheuer und nimm sie zur Frau!« Ilankugha eilte zu seinem Vater und sprach: »Gib mir ein Pferd, ich muß losziehen und will die schöne Schwester der neun Brüder Ungeheuer rauben und zur Frau nehmen!« Der König weinte und bat ihn inständig, er solle nicht fortgehen, doch der junge Mann bestand darauf und ritt los. Lange war er unterwegs, da überraschte ihn die Nacht. Auf einem freien Feld sah er ein Haus stehen, aus dem der Schein eines Feuers zu sehen war. Er gedachte hier zu übernachten, sprang vom Pferd, band das Tier an einen Baum und trat ins Haus. Als er aber das Feuer sah, wunderte er sich sehr: Drei Bratspieße drehten sich von selbst darüber und brieten Fleisch. In einer Ecke stand ein Sofa, und an der Wand hingen ein Schwert, eine Kappe und ein Handtuch. Ilankugha dachte: ›Ich muß herausfinden, wem dieses Haus gehört.‹ Deshalb versteckte er sich unter dem Sofa und gab acht. Das Haus gehörte aber drei Teufeln. Nach einer Weile kamen sie herein, deckten den Tisch, holten den Braten und fingen an zu essen. Dabei begannen sie sich zu unterhalten. Der eine sagte: »Sprecht, wenn einer von euch etwas weiß!« »Wenn ich es meinem Schwert befehle, dann fährt es aus der Scheide und haut allen die Köpfe ab, wie viele es auch sein mögen!« sagte der eine. »Meine Kappe macht unsichtbar. Wer sie aufsetzt, kann selbst alle sehen, aber von niemandem gesehen werden!« sprach der zweite. »Mein Handtuch kann einen Toten wieder zum Leben erwecken!« fügte der dritte hinzu. 369
Dann sagten sie: »Daß nur Ilankugha nicht hier ist, wenn wir so reden!« Als die Teufel ihr Abendbrot verzehrt hatten, verließen sie das Haus. Ilankugha kam hervor, nahm die Kappe von der Wand, setzte sie sich auf, gürtete sich das Schwert um, steckte das Handtuch in seine Tasche und ging. Endlich gelangte er zum Gehöft der neunköpfigen Ungeheuer. Bei den Ungeheuern war es Brauch, daß sie zum Abendbrot und zum Mittagessen zu ihrer Schwester hineingingen und ihr Speisen brachten. Ilankugha setzt die Tarnkappe auf und wartete. Als die Ungeheuer die Türen öffneten, um ihrer Schwester das Abendbrot zu bringen, folgte er ihnen, denn er war ja unsichtbar. Die Brüder tischten der Schwester das Abendbrot auf und gingen wieder hinaus. Hinter sich schlossen sie alle neun Türen zu. Als die Schöne gegessen hatte, legte sie sich schlafen. Da ging Ilankugha zu ihr und küßte sie. Sie schrie dabei so laut auf, daß die Ungeheuer herbeigestürzt kamen und fragten: »Was ist geschehen, warum hast du geschrien?« »Jemand hat mich geküßt!« sagte die Schwester. Die Brüder suchten lange, konnten aber niemanden finden. Da meinten sie zu ihrer Schwester: »Du hast geträumt!« Und sie gingen wieder hinaus und schlossen die Türen abermals zu. Wieder kam Ilankugha und küßte noch einmal das Mädchen. Da sprach sie: »Was quälst du mich? Wer du auch bist, ob Ilankugha oder ein anderer, gib dich zu erkennen!« »Ich bin Ilankugha!« sagte der Königssohn.
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Das Mädchen spreizte die Finger und sprach: »Wenn du diese Finger zusammendrücken kannst, bist du wirklich Ilankugha!« Ilankugha ergriff ihre Hand und zerdrückte sie beinahe. »Laß mich los!« bat das Mädchen. Ilankugha ließ sie los und sagte nun seinerseits: »Versuche jetzt, ob du meine Finger zusammendrükken kannst!« Das Mädchen drückte seine Hand, konnte die Finger aber nicht zusammenführen. Da versprachen sie sich, Mann und Frau zu werden. Ilankugha hatte Hunger und bat: »Sage deinen Brüdern, daß du nachts Hunger bekommen wirst. Sie möchten dir mehr zu essen bringen!« Als die Brüder heimkamen, sprach die Schwester: »Bringt mir noch mehr Abendbrot!« Sie brachten es ihr, und beide aßen davon. »Jetzt laß uns gehen!« sagte Ilankugha zu dem Mädchen. Er zerschnitt die Tarnkappe in der Mitte, setzte die eine Hälfte sich selbst auf und gab die andere dem Mädchen. Kaum hatten sie die Kappen aufgesetzt, da kamen die Brüder wieder herein. Und als sie hinausgingen, folgten ihnen unbemerkt Ilankugha und das Mädchen. Sie setzten sich aufs Pferd und ritten davon. Nachdem sie lange Zeit geritten waren, sagte Ilankugha zu dem Mädchen: »Sieh dich um, ob uns jemand verfolgt !« »Sie folgen uns, so groß wie Fliegen sehen sie aus«, berichtete das Mädchen. Nach einer Weile sah sie sich abermals um und rief: »Sie haben uns eingeholt!« 371
Da befahl Ilankugha dem Schwert: »Komm heraus, mein Schwert, und schlage den neun Brüdern Ungeheuer die Köpfe ab!« Das Schwert fuhr aus der Scheide und schlug allen die Köpfe ab. Darüber war das Mädchen sehr unglücklich. Und der Königssohn sprach: »Warum bist du so betrübt? Wenn du willst, kann ich deinen Brüdern auf der Stelle das Leben zurückgeben!« Zuerst strich er einem mit dem Tuch über den Leib und machte ihn lebendig. Dann nahm er diesem das Versprechen ab, ihm friedfertig die Schwester zu überlassen. Nun belebte er den zweiten, den dritten. Alle Brüder wurden nacheinander wieder lebendig. Allen nahm er das gleiche Versprechen ab, und sie zogen fröhlich weiter. Als Ilankugha mit dem Mädchen und ihren Brüdern zu seinem Vater kam, richtete der Herrscher eine große Hochzeit aus, und große Freude herrschte in seinem Reiche.
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Das Schlangenjunge Es lebte einmal ein armer Mann mit seiner Frau. Die Frau fertigte ein Garnknäuel an und gab es dem Mann, damit er es verkaufte. Unterwegs sah der Mann, daß ein Schlangenjunges Kindern in die Hände geraten war, die es quälten. Dem Mann tat die kleine Schlange leid. Er gab den Kindern das Garnknäuel und nahm das Schlangenjunge mit nach Hause. Die Frau aber machte ihrem Mann Vorhaltungen: »Was wollen wir mit dem Schlangenjungen. Wie konntest du dafür das Garnknäuel hingeben! Schaff mir die Schlange aus dem Haus, wirf sie fort!« »Wo soll ich sie heute abend noch hinbringen? Soll sie dableiben, morgen will ich sie zu ihren Eltern bringen«, antwortete der Mann. Am anderen Tag brachte er die Schlange weg. Unterwegs begegnete er einem Schäfer. »Dieses Schlangenjunge will ich seinen Eltern zurückbringen, aber ich weiß nicht, wo sie sind. Vielleicht kennst du dich aus und kannst mir einen Rat geben«, bat der Mann den Schäfer. »Ich weiß, wo sie wohnen«, antwortete der Schäfer und nannte ihm den Ort. »Wenn sie dich sehen, werden sie dir unzählige Perlen und Edelsteine, Gold und Silber anbieten. Aber nimm nichts davon. Sie haben einen alten Tisch, das ist ein Zaubertisch. Wenn du ihn deckst, gibt er dir alles, was du dir wünschst. Bitte um diesen Tisch und nimm ihn mit«, sagte der Schäfer. 373
Der Mann machte sich auf den Weg. Als er zu jenem Ort kam, den ihm der Schäfer genannt hatte, und das Schlangenjunge mitbrachte, freuten sich die Schlangen sehr. Sie luden den Mann in ihre Behausung ein und breiteten Gold und Silber, Perlen und Edelsteine vor ihm aus und baten ihn, sich auszusuchen und zu nehmen, soviel er wollte. Der Mann aber nahm nichts von den Schätzen, sondern bat nur um den alten Tisch. Ohne zu zögern, gaben ihm die Schlangen das Gewünschte. Der Mann begab sich mit dem Zaubertisch wieder nach Hause. Seine Frau machte ihm aber Vorwürfe: »Wozu brauchen wir diesen alten Tisch, wir haben doch selber einen. Warum hast du nicht Gold, Silber, Perlen und Edelsteine mitgenommen?!« Da nahm der Mann den Tisch, deckte ihn und sprach: »Tisch, setze uns vor, was uns armen Leuten ansteht.« Im Nu füllte sich der Tisch mit den verschiedensten Speisen und Getränken. Alles, was sie sich wünschten, deckte der Tisch ihnen auf. So wurden die Eheleute reich. Einmal sprach die Frau zu ihrem Mann: »Wir wollen den König zu uns einladen.« Der Mann wollte erst nichts davon wissen, aber schließlich stimmte er zu. Sie luden den König samt dessen Nasiren und Wesiren ein. Als sie den Tisch deckten, füllte sich alles mit den verschiedensten Speisen und Getränken. Der König wunderte sich, denn die Speisen kamen auf den Tisch, ohne daß Diener zu sehen waren.
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Schließlich begriff er, was es mit dem Tisch für eine Bewandtnis hatte. Kaum hatte er das Mahl beendet, nahm er den Tisch, legte ihn zusammen, gab ihn seinen Wesiren, damit sie ihn mitnähmen, und ging wieder. Da waren die Frau und der Mann sehr betrübt, und der Mann machte sich auf und ging abermals zu den Schlangen. Unterwegs traf er wieder den Schäfer und klagte: »Ich hatte den König zu mir eingeladen. Mein Tisch hat ihm gefallen, und er hat ihn mir weggenommen.« Da sagte der Schäfer: »Die Schlangen werden dir wieder viel Gold und Silber, Perlen und Edelsteine anbieten, aber nimm nichts davon. Hinter der Tür haben sie ein Pferd, das schnaubt aus der einen Nüster Gold, aus der anderen Silber. Bei jedem Schnauben füllt es einen ganzen Sack. Bitte um dieses Pferd, und sie werden es dir geben.« Der Mann ging zu den Schlangen. Kaum hatte das Schlangenjunge ihn erkannt, kam es erfreut auf ihn zu und ringelte sich um seinen Hals. Die Schlangen begrüßten ihn und boten ihm Gold und Silber, Perlen und Edelsteine an. Er aber nahm nichts davon, sondern bat um jenes Pferd, und die Schlangen gaben es ihm ohne Bedauern. Er führte das Pferd nach Hause. Jedesmal wenn es schnaubte, füllte es einen Sack mit Gold und Silber. Wieder wurden die Eheleute reich. Eines Tages bestand die Frau darauf, auf dem Pferd ins Bad zu reiten. Als sie dort ankam, badete gerade die Frau des Königs. Kaum hatte sie das schöne Pferd erblickt, packte sie der Neid: »Irgendeine dahergelaufene Frau soll so ein Pferd haben, und ich besitze nur ein einfaches 375
Pferd?« Sie band das Pferd los, setzte sich darauf und ritt davon. Ihr eigenes Pferd ließ sie zurück. Als die Frau aus dem Bad kam, setzte sie sich auf das Pferd und ritt heimwärts. Sie merkte nicht, daß man ihr das Pferd vertauscht hatte. Als sie zu Hause ankam, meinte sie zu ihrem Mann: »Siehst du, wie unser Pferd die Farbe gewechselt hat?« Wenn das Pferd schnaubte, fiel kein Gold und Silber aus seinen Nüstern. Da begriffen sie, daß die Frau des Königs das Pferd entführt hatte. Wieder ging der Mann zu den Schlangen. Unterwegs begegnete er abermals dem Schäfer und klagte: »Die Frau des Königs hat mir das Pferd weggenommen.« Da gab ihm der Schäfer den Rat: »Die Schlangen werden dich wieder mit großer Freude aufnehmen und dir Gold und Silber, Perlen und Edelsteine anbieten. Nimm aber nichts davon. Bitte um den Kürbis, der dort liegt, und sie werden ihn dir geben. Trage den Kürbis zum König und verlange deinen Tisch und das Pferd zurück. Wenn er sich weigert, wird der Kürbis zerplatzen und das Haus des Königs niederbrennen. Dann werden der Tisch, das Pferd und das ganze Königreich dir gehören.« Der Mann setzte seinen Weg zu den Schlangen fort. Sie empfingen ihn wieder voller Freude, zischten und boten ihm Schätze an. Doch er nahm sie nicht, er dankte für die Zuvorkommenheit und bat um den Kürbis. Ohne zu zögern, gaben ihm die Schlangen den Kürbis. Der Mann nahm den Kürbis, trug ihn zum König und verlangte seinen Tisch und das Pferd zurück. 376
Als der König das hörte, geriet er in Wut und befahl seinen Dienern, den Mann hinauszuprügeln. Doch wie sie über ihn herfallen wollten, zerplatzte der Kürbis mit lautem Knall und hüllte das Königsschloß und die ganze Umgebung in Flammen. Das Pferd, der Tisch und das ganze Königreich fielen dem Mann zu.
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Das Zauberhemd Es war einmal ein König im Westen, der hatte drei Söhne. Einmal wurde der König sehr krank. Er rief seine Söhne zu sich und sprach: »Ich weiß, mein Todestag ist herangekommen, ich werde nicht mehr gesund. Wenn es euch an irgend etwas fehlen sollte, wendet euch an den König des Ostens und bittet ihn um Unterstützung.« Der König starb, und man begrub ihn, wie es ihm gebührte. Kaum hatten die umliegenden Reiche vom Tod des Königs erfahren, fielen sie über den Besitz der Waisen her, daß diese nur mit Mühe entrinnen und sich zum König des Ostens retten konnten. Der König des Ostens nahm sie gut auf, gab ihnen ein eigenes Haus und eigene Diener und war ihnen wohlgesonnen. Einem seiner Aufseher befahl er: »Die Königssöhne scheinen gut erzogen zu sein, bring mir Nachricht, was sie heute zum ersten Mittagessen sagen.« Unter den vielen Speisen wurde auch ein Lämmchen aufgetragen. Sie setzten sich zu Tisch. Der älteste Bruder nahm das Brot in die Hand und sprach: »In das Mehl für dieses Brot ist Menschenblut gemischt.« Der mittlere sagte: »Dieses Lamm ist nicht am Euter seiner Mutter aufgewachsen, es hat aus einem Hundeeuter getrunken.« Der jüngste meinte: »Ich habe den König betrachtet. Er kann kein Königssohn sein.« Der Aufseher berichtete dem König ihre Worte. Der König befahl, den Bauer herzubringen. Als dieser da war, fragte ihn der König: 378
»Warum ist Blut unter das Mehl für dieses Brot gemischt?« »Ich habe mich beim Säen in die Hand geschnitten, und wenn ich eine Handvoll Weizen ausstreute, war Blut daran«, antwortete der Bauer. Da ließ der König die Schäfer holen und fragte sie: »Warum habt ihr diesem Lamm ein Hundeeuter gegeben, weshalb habt ihr es von seiner Mutter getrennt?« Die Schäfer antworteten: »Seine Mutter ist gestorben. Wir zogen es mit Milch auf, und es gewöhnte sich an den Hund.« Der König verabschiedete sie und ging hinein zu seiner Mutter: »Mutter, gestern im Traum habe ich erfahren, daß ich, wenn du mir deine Brust gibst, ein hohes Alter erreichen werde!« Die Mutter gab ihm ihre Brust. Der König nahm sie, biß hinein und sagte: »Ich weiß, daß ich kein Königskind bin. Sage mir, wer mein Vater ist. Wenn du es mir nicht sagst, lasse ich dich nicht los.« Was blieb ihr anderes übrig? Die Mutter gab nach und sagte: »Du bist der Sohn eines Stallknechts.« Da war der König überzeugt, daß die drei Brüder seiner Aufmerksamkeit wert waren. Er versorgte sie noch besser, erzog sie, und als sie volljährig waren, entließ er sie in ihre Heimat. Einem jeden von ihnen gab er ein Pferd, beladen mit Edelsteinen, Perlen und Geld und ließ sie ziehen. Sie brachen auf. Nach einiger Zeit kamen sie an eine Kreuzung, wo sich vier Wege trafen. Dort lag ein großer Stein, und sie ruhten sich aus. Auf dem Stein stand geschrieben: ›Wer diesen Weg nimmt, kehrt wieder zurück. Wer den anderen Weg zieht, kehrt vielleicht wieder zurück. Wer den dritten Weg wählt, kehrt nie mehr zurück.‹ Der vierte Weg 379
war ihr Heimweg. Dieser Weg lag in der Mitte, und alle Inschriften galten auch für ihn. »Was sollen wir zu Hause«, meinten die Brüder, »der Feind wird alles zerstört haben.« Sie entschieden sich, auf verschiedenen Wegen weiterzuziehen. Der älteste Bruder wählte den Weg, auf dem geschrieben stand: ›Wer diesen Weg nimmt, kehrt wieder zurück.‹ Der mittlere Bruder zog den Weg vor, auf dem er vielleicht wieder zurückkehren würde, und der jüngste Bruder wählte den Weg, von dem es kein Zurückkehren gab. Die älteren Brüder rieten ihm, einen ihrer Wege zu wählen, aber er hörte nicht auf sie. Jeder zog einen Ring vom Finger, sie legten die Ringe unter einen Stein in die Erde. Und wer als erster vorbeikäme, sollte seinen Ring hervorholen und zur Wohnung des Vaters reiten. Dann zogen sie los. Der jüngste Bruder ritt weit in die Ferne. Er ritt ohne Weg und Steg und wußte nicht einmal wohin. Endlich kam er auf einen breiten Weg, dem folgte er und gelangte ans Meer. Es wurde Nacht, und er fand in der Nähe eine Hütte. Er wunderte sich, daß hier, in dieser abgeschiedenen Wildnis, jemand wohnte. Als er hinging, sah er, daß eine alte Frau in der Hütte war. Die Alte wunderte sich und fragte: »Kind, was hat dich hierher in diese abgeschiedene Wildnis geführt?« Die Gegend war wirklich so öde, daß niemand hier leben und nichts gesät werden konnte. Ringsum gab es keine Erde, nur Sand. »Gib mir eine Unterkunft«, sagte der Königssohn zu der alten Frau. »Ich möchte hier übernachten!« Die Alte bat ihn ins Haus und band sein Pferd draußen an. Die Tragsäcke aber schnallte sie ab und brachte sie in die Hütte. Als es dunkel war, schaute der Kö380
nigssohn noch einmal nach seinem Pferd, um es zu versorgen, da sah er plötzlich im Meer ein großes Schloß stehen, das über und über wie ein Feuer leuchtete. Der Königssohn bekam einen gewaltigen Schreck, aber schließlich nahm er sich zusammen, ging zu der Alten und fragte: »Was ist das, was auf dem Meer so leuchtet?« »Das ist ein goldenes Haus. Darin wohnt eine wunderschöne Königstochter. Sie hat ein Tuch vielfach um den Kopf geschlungen, und trotzdem beleuchtet ihre Schönheit alles ringsum«, antwortete die alte Frau. »Wie lebt sie denn? Wen hat sie bei sich? Und wie kann man zu ihr gelangen? Du wirst es wissen, sag es mir«, bat der junge Mann. Die Alte sprach: »Als der König noch lebte, stand hier eine Stadt, und viele Leute wohnten in ihr. Als er diese Tochter bekam, versammelte er Zauberkundige, ließ dieses Schloß in die Luft hängen und vom Land eine Treppe zu dem Schloß bauen, auf der er selbst zu seiner Tochter emporstieg. Diese Treppe bewachten tausend Krieger, und kein anderer konnte sie betreten. Einmal geriet das Meer in Aufruhr und verschlang alle Häuser und Menschen. Ich war damals auf einen Berg hinaufgestiegen, um Lebensmittel zu beschaffen, und bin deshalb am Leben geblieben. Seitdem lebe ich allein hier, nicht einmal der Tod erbarmt sich meiner. Das Mädchen muß von Gott Nahrung erhalten. Ich wüßte nicht, wie sie sonst leben könnte. Daß sie am Leben ist, weiß ich genau, denn sie leuchtet in der Nacht. Auch ich erhalte die Nahrung, von der ich lebe, vom Himmel.« Als der Königssohn diese Geschichte gehört hatte, war er so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er die 381
ganze Nacht nicht schlafen konnte. Am nächsten Tag steckte er ein wenig Geld zu sich, schwang sich auf sein Pferd und ritt davon. Er gelangte in eine Stadt, kaufte Holz, stellte einen Zimmermann und Tischler in seinen Dienst und ließ von den Meistern eine Treppe zum Haus des Mädchens bauen. Er beschenkte die Handwerker reich und bat sie, wenn er oben sei, die Treppe abzureißen und ins Meer zu werfen. Er nahm Abschied von der alten Frau und stieg zum Haus des Mädchens empor. Die Handwerker rissen hinter ihm die Treppe ab und warfen sie ins Meer. Der Königssohn stieg aufs Dach hinauf und begann hinund herzulaufen. Unten hörte das Mädchen die Schritte und rief: »Was für ein Wesen bist du? Wer ist hierhergekommen? Noch nie ist ein Mensch hier gewesen, woher bist du gekommen ?« »Der Herr hat mich dir zur Kameradschaft geschickt«, antwortete der junge Mann. Das Mädchen sagte: »Vom Herrn erhalte ich Nahrung, und wenn er jetzt Speise und Trank auch für dich mitschickt, dann ist dein Wort wahr. Solange aber sollst du oben bleiben!« Es verging einige Zeit, und wirklich war zu Mittag beiden der Tisch gedeckt. Da sagte das Mädchen: »Du bist mir wirklich vom Herrn als Kamerad geschickt. Andernfalls hätte ich dir schon gezeigt, was es heißt, heimlich heraufzukommen!« Sie schworen einander, daß nur der Tod sie auseinanderreißen könnte, und setzten sich zu Tisch. Sorglos lebten sie zusammen. Das Mädchen zeigte ihm acht Gemächer, die voll waren mit den verschiedensten Sehenswürdigkeiten. In dem einen waren Vögel, 382
die sangen süße Weisen, im zweiten saß ein Papagei, der plapperte wie ein Mensch. Im dritten häuften sich unzählige Perlen und Edelsteine, Gold und Silber. Im vierten gab es, nur Frauenkleider. Eins hatte sie selbst als Wohnraum hergerichtet, und in den anderen Gemächern war ein Garten mit tausenderlei Blumen und Obstbäumen. Ähnliche Früchte gab es nirgends auf der Welt. Es gab sogar Blumen, die sprechen konnten. Eine sagte: »Wenn du mich ißt, mußt du sterben.« Eine andere sagte: »Wenn du mich auf einen Toten legst, wird er wieder lebendig.« Das neunte Gemach zeigte sie ihm nicht, sondern sagte: »Bitte mich nicht, es dir zu zeigen!« Einmal, als das Mädchen schlief, nahm er den Schlüssel und ging, sich das neunte Gemach anzusehen. Er öffnete es und wunderte sich: Darin befand sich ein noch kleineres Zimmer. Der Anblick setzte ihn so in Erstaunen, daß er die Tür offen ließ und hinging, um dieses kleine Zimmer zu öffnen. Kaum hatte er es aufgeschlossen, sah er einen Vogel, der mit seinem Schnabel ein Hemd webte. Als der Vogel den Fremden erblickte, flog er fort und nahm das Hemd mit. Der Königssohn ging traurig zurück und setzte sich neben das Mädchen. Als das Mädchen erwachte, wußte sie sofort, was geschehen war, und sagte: »Wenn du dir so sehr gewünscht hast, das neunte Gemach zu sehen, hättest du es mir sagen sollen, und ich hätte es dir gezeigt. Hätte ich das Hemd anziehen können, dann könnte die ganze Welt gegen mich kämpfen und mir doch nichts antun. So aber muß ich jetzt immer in Furcht und Trübsal leben.«
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Als der Vögel das Hemd wegtrug, flog er damit in die Ferne auf ein freies Feld. Dort ließ er das Hemd fallen und flog weiter. Es war Frühling. Die Hirten trieben die Schafe auf die Bergweiden. Auf jenem Feld mußten sie eine Nacht zubringen. Sie hatten aber kein Feuer. Da hielten sie ringsum Ausschau, ob vielleicht andere Schäfer in der Nähe waren, von denen sie Feuer holen könnten. In der Ferne sahen sie ein Feuer und schickten einen Hirten hin, der das Feuer holen sollte. Je näher der Hirt kam, desto mehr wunderte er sich, es war kein Feuer, was sie gesehen hatten, und dennoch leuchtete es. Furcht packte den Schäfer, doch seine Neugier war stärker. Als er näherkam, sah er, daß da ein Hemd lag. Er nahm es und ging zurück. Wie er so lief und sich freute, dachte er: ›Was habe ich da für ein schönes Ding gefunden. Ich werde es zum König bringen, und er wird mich dafür beschenken.‹ Seine Kameraden staunten, als er zu ihnen kam, denn das Hemd war nicht gewebt, nicht gestickt, auch nicht mit der Hand genäht. Sie schickten den Hirten zum König und gaben ihm das Hemd mit. Der König wunderte sich, er dachte, es sei vom Himmel gefallen. Er gebot seinen Nasiren und Wesiren, in Erfahrung zu bringen, ob jene, die dieses Hemd anzog, von der Erde oder vom Himmel sei. Die Wesire meinten: »Herr, wir wollen Männer ausschicken. Wenn sie von der Erde stammt, werden sie schon etwas erfahren.« Der König vergaß den Hirten, aber der vergaß sich nicht, und er erinnerte den König: »Was befehlt Ihr, Herr, soll ich das Hemd wieder mitnehmen, oder wollt Ihr es haben?«
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Da lachte der König und beschenkte ihn. Dann sandte er Männer in alle Richtungen, die in Erfahrung bringen sollten, wem dieses Hemd gehörte. Sie zogen los, suchten ein ganzes Jahr lang und kehrten, weil sie nichts erfahren konnten, betrübt zurück. Auch der König wurde mißmutig, er verließ das Schloß nicht mehr. Er erteilte noch einen Befehl: »Dem, der das Mädchen findet, gebe ich die Hälfte meines Reiches.« Da kam eine alte Frau und sagte: »Gott schenke dem König ein langes Leben! Weshalb seid Ihr so traurig, gebt mir ein kleines Schiff, einen Krug mit einem Schlafmittel und einen mit Wein, und ich bringe Euch das Mädchen.« Da freute sich der König, gab ihr das Gewünschte und entließ sie wieder. Die Alte ließ das Boot ins Meer und fuhr los. Nach langer Fahrt kam sie zum Haus des Mädchens und begann darum herum zu fahren. Zu dieser Zeit gingen das Mädchen und der junge Mann im Garten spazieren und blickten aufs Meer. Da sahen sie, wie eine alte Frau die Hände erhoben hatte und um Hilfe flehte: »Nehmt mich hinauf, sonst muß ich umkommen!« Der junge Mann rannte nach einem Seil. Das Mädchen war dagegen: »Laß sie nicht herauf, es ist zu unserem Verderben.« Aber er hörte nicht auf sie, ließ das Seil hinab und zog die Alte herauf. Diese dankte ihm für die Rettung, das Boot aber befestigte sie so geschickt an der Hauswand, daß ihm vom Meer keine Gefahr drohte und weder das Mädchen noch der Königssohn etwas merkten. Sie blieb bei ihnen, leistete ihnen gute Dienste und unterhielt sie mit interessanten Geschichten. Eines Tages entsann sie sich, daß ihr noch der 385
Wein und das Schlafmittel geblieben waren. Sie selbst trank den Wein, den beiden aber bot sie das Schlafmittel an. Weil sich die beiden Gefäße glichen, schöpften sie keinen Verdacht und tranken. Das Mädchen und der Mann schliefen ein. Da stand die Alte auf, schnitt dem jungen Mann die Kehle durch, ließ das Mädchen am Seil hinunter, kletterte nach und fuhr mit ihr davon. Eilig brachte sie das Mädchen zum König. Man trug die Schlafende hinauf und legte sie in ein Zimmer, das für sie vorbereitet worden war. Das Mädchen erwachte bald und wunderte sich, als sie sich in einem fremden Haus wiederfand. Die Diener berichteten dem König, daß das Mädchen aufgewacht sei. Er freute sich und eilte zu ihr. Als das Mädchen den Fremden erblickte, zog sie ein Messer hervor und setzte es sich auf die Brust: »Komm nicht näher, sonst bringe ich mich auf der Stelle um!« Und sie begann ihn auszufragen: »Wer hat mich hierhergebracht? Wie heißt diese Gegend, und wer bist du?« Der König sagte: »Ich bin der Herrscher dieses Landes. Eine alte Frau hat dich hierhergebracht und deinen Mann getötet. Jetzt werde ich dich heiraten. Auch dein Hemd habe ich hier. Wenn wir heiraten, gebe ich es dir zurück. Bis dahin werde ich es behalten.« »Gut«, sagte das Mädchen, »ich bin in deinen Händen, was soll ich machen. Aber gib mir ein Jahr Zeit, damit ich um meinen Mann trauern kann. Niemand soll zu mir hereinkommen. Wenn jemand wagen sollte einzutreten, werde ich mich töten! Laß auch in deinem Reich Trauerkleider tragen und hülle das Haus in einen Trauerflor!« Der König war mit allem einverstanden.
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Als sich die drei Brüder getrennt hatten, um jeder seines Wegs zu ziehen, hatte der älteste beim Handel viel Geld gewonnen. Nun hatte er es satt umherzuziehen und kehrte zurück, um seinen Brüdern zu begegnen. Unter dem Stein am Kreuzweg fand er die Ringe. Der mittlere Bruder war schon vorbeigekommen und hatte seinen Ring mitgenommen, der des jüngsten Bruders aber lag noch dort. Er stand auf und nahm denselben Weg, den der jüngste Bruder gewählt hatte. Nach langer Zeit kam er zu der alten Frau und fragte sie: »Vor vier Jahren ist ein junger Mann hier vorbeigekommen, weißt du vielleicht etwas über seinen Verbleib?« Die Alte erzählte ihm, was sie wußte, und fügte hinzu, daß sie, seit er zu dem Mädchen hinaufgestiegen sei, nichts mehr von ihm wüßte. Und seit neun Tagen habe sie auch kein Licht mehr gesehen. Der Königssohn brach auf, um eine Stadt zu suchen. Nachdem er eine Stadt gefunden hatte, stellte er Zimmerleute in seinen Dienst, ließ Holz bringen und daraus eine Treppe bauen, über die er hinaufstieg. Er fand ein reich geschmücktes, wunderbares Schloß und darin seinen Bruder, der lag am Boden und röchelte. In der Eile hatte die Alte ihm die Kehle nicht ganz durchgeschnitten. Er bekam noch Luft. Der Königssohn lief durch alle Gemächer und sah den schönen Garten mit den verschiedensten Obstbäumen und Blumen. Eine Blume rief: »Wenn du mich ißt, mußt du sterben.« Eine andere sagte: »Wenn du mich auf einen Toten legst, wird er wieder lebendig.« Der älteste Bruder pflückte diese Blume, legte sie auf seinen Bruder, und der kehrte wieder ins Leben 387
zurück. Er schlug die Augen auf und sagte: »Wie lange habe ich geschlafen?« Als er seinen Bruder erblickte, staunte er und fragte: »Wie bist du hierhergekommen? Und was ist mit dem Mädchen?« Der Bruder erklärte ihm den Grund seines Kommens, und er berichtete auch, wie er heraufgestiegen war, ihn mit durchschnittener Kehle gefunden und ihn wieder lebendig gemacht hatte. »Ein Mädchen habe ich nicht gesehen«, sagte er. Da erinnerte sich der jüngste Bruder an das, was geschehen war. An allem mußte die Alte schuld sein! Er ging in den Garten, schnitt die Baumkronen ab und band sie zu einem Bündel zusammen. Seinem Bruder sagte er: »Ziehe nach Hause! Wenn ich dieses Mädchen nicht finden kann, dann will ich unterwegs sterben!« Sie trennten sich. Der große Bruder zog heimwärts, der kleine gelangte nach langem Suchen in jene Stadt. Er sah, daß man in der Stadt trauerte. Frauen und Männer trugen schwarze Kleider, selbst die Sonne schien nicht richtig. Er fragte nach dem Grund, und man erzählte ihm: »Der König hat sich eine Frau geholt. Diese Frau trauert um ihren Mann und läßt uns alle Trauerkleider tragen. Sie lacht nicht, ist immer betrübt, und selbst die Sonne scheint uns nicht so wie früher.« Da ging der junge Mann zum Königshof und rief: »Ich verstehe mich aufs Veredeln, ich habe wunderbare Zweige. Wünscht ihr nichts?« Man meldete dies dem König. »Stellt ihn als Gärtner ein!« befahl der König. Der junge Mann pfropfte Zweige auf, und noch im gleichen Sommer trugen die Bäume die köstlichsten 388
Früchte. Der Gärtner sammelte einen Korb voller Früchte und brachte sie dem König. Der wunderte sich über ihre Schönheit, denn solche Früchte hatte er noch nirgends gesehen. Er nahm sie und ließ sie dem Mädchen bringen, um ihr eine Annehmlichkeit zu bereiten. Der Gärtner ging am Fenster des Mädchens vorbei. Sie erkannte ihn sofort und öffnete freudig die Tür. Beide waren glücklich. Sie erzählten sich ihre Erlebnisse. Das Mädchen sagte: »Da ich dich mit eigenen Augen gesehen habe, wird jetzt alles leichter werden.« Man berichtete dem König: »Ihr haben die Früchte sehr gefallen, und sie hat den Gärtner eingelassen.« So begann der junge Mann das Mädchen aufzusuchen. Der König gab seine Erlaubnis, ihr jeden Tag erlesene Früchte zu bringen. Das war ganz in ihrem Sinn. Sie besprachen alles, und das Mädchen sagte: »Wenn das Jahr um ist, wird man mir mein Hemd bringen. Ich werde sagen, bevor wir heiraten, möchte ich ein wenig im Garten umhergehen und mich an den Bäumen und Früchten erfreuen. Ich werde in die Mitte des Gartens gehen, dort sollst du mich erwarten. Schneide die Kronen der veredelten Bäume ab und halte sie bereit. Ich werde das Hemd ausbreiten, wir setzen uns darauf, und es wird uns davontragen.« Als das Jahr um war, schickte ihr der König das Hemd und bat sie: »Komm heraus, wir wollen heiraten!« Das Mädchen bat, ihr einen Wunsch zu erfüllen, eine andere Bitte hätte sie nicht. Der König kam und fragte: »Worum bittest du mich?«
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Das Mädchen sagte: »Bleibt mit Euren Soldaten am Gartentor stehen. Ich will allein in den Garten gehen und mir die Früchte ansehen, die Ihr mir bisher geschickt habt. Ich möchte mit eigenen Augen sehen, wie sie wachsen, möchte mich an ihrem Anblick laben, und dann soll es geschehen, so wie Ihr wollt. Ich habe nichts mehr gegen unsere Hochzeit!« Der König gab sein Einverständnis. Das Mädchen zog das Hemd an, der König und die Soldaten machten am Gartentor halt. Das Mädchen lief in die Mitte des Gartens, zog das Hemd aus, setzte sich darauf, nahm den Gärtner an ihre Seite und sprach zu dem Hemd: »Hebe mich hinauf und trage mich in mein Schloß!« Da erhob sich das Hemd und flog hoch hinauf. Der König und die Soldaten blieben ratlos stehen. Das Mädchen und der Königssohn flogen zu ihrem Schloß, nahmen ihre Schätze, vergaßen auch die alte Frau nicht und nahmen sie mit zu ihren Brüdern. Dort begannen sie ein fröhliches Leben.
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Anhang Kommentar Die Einzelkommentare entstanden unter freundlicher Mitarbeit von Heinz Mode. Der Tschongurispieler Originaltitel: ›Mečongure‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υionti, Tbilisi 1974, S. 21-22. Dieses Märchen wurde auf Grund seines Symbolgehaltes – der gewaltigen Wirkung der Kunst – außerhalb der Gruppeneinteilung an den Anfang des Bandes gestellt. Der Charakter des Märchens läßt die Vermutung zu, daß es relativ spät entstanden ist. Dennoch enthält es Elemente, die auch in vielen älteren georgischen Märchen vorkommen: das Motiv der Suche nach dem Apfel der Unsterblichkeit; das Motiv des Gartens, der von Drachen und Schlangen bewacht wird. Verwandlungsmärchen Verwandlungsmärchen begegnen uns in der georgischen Folklore in mannigfaltiger Gestalt. Ihnen liegt einerseits die Erkenntnis des Menschen von der Veränderung der Natur zugrunde und andererseits der phantastische Wunsch, Möglichkeiten der verschiedenen Übergänge von einem Zustand in einen anderen nach Belieben zu nutzen und unbegrenzt auszudehnen. Verwandlungen sind zwar auch in anderen Märchen anzutreffen, doch nur in den Verwandlungsmärchen 391
selbst sind sie zu einem Grundmotiv geworden, das die Märchenhandlung oder zumindest eine der Haupthandlungen vorantreibt. Verwandlungen können einzeln oder mehrfach nacheinander vollzogen werden. Als Ursache ist der eigene Wunsch oder fremder Wille denkbar, ebenso eine gute oder eine böse Absicht. Auslösende Mittel sind im allgemeinen Zaubersprüche oder Flüche, aber auch Peitschenhiebe oder die Einnahme von Speisen. Auch die von der Verwandlung Betroffenen und die Art der Verwandlung können sich wesentlich voneinander unterscheiden: So begegnen uns Verzauberungen von Menschen in Tiergestalten und umgekehrt, von Menschen in leblose Gegenstände (beispielsweise in einen Stein) oder auch nur eine teilweise Verwandlung (halb Mensch, halb Stein), ja sogar die Umwandlung des Geschlechts wird vollzogen (ein Mädchen wird zum Mann). Tagsüber tot Originaltitel: ›Dγisit mkvdari‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υionti, Tbilisi 1974, S. 30-36. Ein typisches Verwandlungsmärchen, das den Eindruck erweckt, als bestehe es aus zwei ursprünglich voneinander unabhängigen Teilen. Das Motiv von den im Garten wachsenden Früchten, die von Drachen und Schlangen bewacht werden, ist bereits aus dem Märchen ›Der Tschongurispieler‹ bekannt. Das Motiv des am Tage Toten und nachts zum Leben Erwachenden begegnet uns in dem Märchen ›Msetschabuki‹ wieder. Auch die Motive des Angriffs auf die Sonne und der Reise
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zur Sonne sind in der georgischen Folklore weitverbreitet. ›Tagsüber tot‹ gehört zum Typ 425 von Stith Thompson. Dieses Motiv liegt auch den Märchen ›Die Paradiesrose‹ in Dirr ›Kaukasische Märchen‹, Jena 1922, S. 27 ff., ›Der steinerne Jüngling‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 152 ff. und ›Der steinerne Jüngling‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 110 ff. zugrunde. Motivähnlichkeit besteht auch mit ›Grünkappe‹ (hier Suche nach dem verlorenen Ehemann) in ›Märchen aus dem Iran‹, Jena 1939, S. 31 ff. Drei Schwestern Originaltitel: ›Sami da‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 24-28. Eines der wenigen Märchen, in dem ein Drache das Gute versinnbildlicht und Menschengestalt annimmt. In diesem Märchen sind, was für viele georgische Märchen typisch ist, Verspassagen in den Prosatext eingeflochten. Die besondere Bedeutung der Pappel wird auch in anderen Märchen deutlich (beispielsweise ›Die Pappel aus der Schlangenhaut‹). Typisch georgisch ist die Szene am Ende des Märchens (Einladung, Weintrinken und Trinksprüche). ›Drei Schwestern‹ gehört zum Typ Stith Thompson ›Die falsche Braut‹ und ›Die drei Orangen‹ (Typen 408, 425 Q, 437, 533). Vergleiche auch ›Die falsche Schwester‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 68 ff. (hier mit einigen Auslassungen), ›Die drei Schwestern‹ in ›Der Schlangen393
knabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 57 ff. und ›Die drei Schwestern‹ in ›Märchen aus dem Kaukasus‹, Düsseldorf/Köln 1978, S. 91 ff. Anana Originaltitel: ›Anana‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 118-120. Ein Astralmärchen, dessen ursprünglicher Sinn schwer erschließbar zu sein scheint. Verschiedentlich wird vermutet, der Name des Mädchens könnte mit dem sumerischen An (Himmel, Himmelsgott) in Verbindung stehen. Das glückliche Ende in ›Anana‹ ist etwas verwirrend. Die Episode vom Milchbad ist in anderem Zusammenhang jedoch weit verbreitet, meist in den Typen 531 IV und 650 C von Stith Thompson. Wie das Mädchen zum Mann wurde Originaltitel: ›Važad kceuli kali‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 169-178. Die Motive der Riesenmutter, des Durchgangs durch das Meer, des Wassers der Unsterblichkeit wiederholen sich in anderen Märchen, so daß es wohl als aus verschiedenen Motiven und Typen zusammengesetzt betrachtet werden kann (vergleiche Typ 514 – Geschlechterwechsel – in Stith Thompson); zum Geschlechterwechsel vergleiche Beit, Band II, S. 273 (dort auch weiterführende Literaturhinweise).
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Das Schilfmädchen Originaltitel: ›Lercmis kali‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 65-72. Der Beginn des Märchens findet eine Parallele in der Amirani-Sage, wo das Mädchen, dem der zerbrochene Krug gehört, den Hinweis auf das verbundene Auge Sulkalmachis gibt, wodurch Amirani und seine Brüder in gefährliche Abenteuer gestürzt werden. Die Begegnung mit den drei alten Männern, von denen der älteste am jüngsten wirkt, ist ähnlich in Sulchan-Saba Orbelianis ›Weisheit der Lüge‹ wiedergegeben (vergleiche auch das Märchen dieser Sammlung ›Die BoshmiBlume‹). Das Motiv des Arabers oder der Araberfrau, das gelegentlich im georgischen Märchen auftaucht, symbolisiert das Böse. Die Verwandlung der getöteten Braut entspricht dem Typ der schwarzen und weißen Braut (vergleiche Stith Thompson 403). Analogien zum Fluch der Geschädigten nach Zerbrechen des Kruges in ›Hundertblättchen‹, ›Märchen aus dem Kaukasus‹, Düsseldorf/Köln 1978, S. 38 ff. Der Sohn des Adlers Originaltitel: ›Arcivis švili‹ aus ›Xalxuri sitgviereba‹ von P. Umikašvili, Bd. III, Tbilisi 1964, S. 122-126. Hier ist statt der verräterischen Schwester (Stith Thompsons Typ 315) beziehungsweise der verräterischen Gattin (Stith Thompsons Typ 590 A) die Mutter gegenüber ihrem eigenen Sohn verräterisch. Beide Typen enthalten ähnliche MotivKetten. Der Uriah-Brief tritt in zahlreichen Typen 395
auf (unter anderem Stith Thompson 302 A, 428, 462 III, 910 K, besonders in Typ 461, ›Die drei Haare vom Bart des Teufels‹). Ebenso ist das Pferd als Helfer ein weitverbreitetes Motiv, vergleiche dazu ›Ghothisavari (Jam of God)‹ in ›Georgian Folk Tales‹, VI, S. 25 ff. Msetschabuki Originaltitel: ›Mzečabuki‹ aus ›Xalxuri sitqviereba‹ von P. Umikašvili, Bd. III, Tbilisi 1964, S. 188191. Eingangs begegnet uns eine deutliche Parallele zu ›Der Sohn des Adlers‹: Der König sehnt sich ein Kind herbei, und ihm wird eine Schlange (ein Adler) geboren, die in eine Grube geworfen und mit Menschen gefüttert wird. Doch dann entwickelt sich das Sujet in eine ganz andere Richtung, und der Schlangenmensch gerät aus dem Gesichtsfeld. Das Motiv von der Sonne und ihrem heilkräftigen Waschwasser begegnet uns auch in dem Märchen ›Tagsüber tot‹. Tiermärchen Im Tiermärchen begegnen uns sowohl wilde Tiere als auch Haustiere, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit. Bär, Wolf, Fuchs und Löwe haben wesentlich häufiger Eingang in Märchen gefunden als etwa Fisch, Floh oder Adler. Auch Menschen treten als Nebenfiguren im Tiermärchen auf. Die Tiere dieser Märchengruppe verhalten sich wie Menschen. Sie denken und sprechen, zeigen menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen. Freundschaft und Feindschaft, uneigennützige Hilfe und Betrug, 396
Angst, Schlauheit, Selbstsucht und Mitgefühl werden im Reich der Tiere angesiedelt und von den Tieren in treffender Weise dargestellt. Das unterschiedliche Verhältnis der Menschen zu den Tieren äußert sich unter anderem darin, daß Haustiere im allgemeinen mit guten Eigenschaften ausgestattet sind, während Raubtiere Repräsentanten schlechter Charaktere sind. Aber auch hier können gute Eigenschaften mit schlechten einhergehen: Der Fuchs, der stets als listig dargestellt wird, kann einerseits als Vollzieher der Gerechtigkeit auftreten, andererseits als selbstsüchtiger Bösewicht. Die Tiermärchen sind im Vergleich zu anderen Märchen nur im geringen Maße vertreten, auch sind sie einfach im Sujet, der Stil ist lakonisch und die Moral offenkundig. Daher sind sie bei Kindern besonders beliebt. Der Bär, der Fuchs und der Wolf Originaltitel: ›Datvi, melia da mgeli‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 366. Der Altersstreit der Tiere ist schon in einem buddhistischen Jātaka aus Indien erzählt (vergleiche Jātaka Nr. 37). Das Halbhuhn Originaltitel: ›Naxevarkatmis ambavi‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 381-382. Dieses Märchen ist eine allerdings stark abgewandelte Variante von Stith Thompsons Typ 715 (›Demi Coq‹).
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Der Floh und die Ameise Originaltitel: ›Rcqili da čiančvela‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 369-372. Ein sogenanntes Kettenmärchen. Das berühmteste Beispiel ist ›Vom Tod des Hühnchens‹, Typ 2022 bei Stith Thompson. Vergleiche auch ›Floh und Ameise‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 268 ff. Die Freundschaft der Tiere Originaltitel: ›Nadirta zmoba‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 392-393. Motiv der Teilung der Beute vergleiche Typ 52 (der Löwenanteil) bei Stith Thompson. Der Löwe und der Fuchs Originaltitel: ›Lomi da melia‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 392. Ähnlichkeit mit diesem Märchen weist der Typ 50 (Heilung des kranken Löwen auf Kosten des Wolfes) bei Stith Thompson auf. Der Wolf, die Ziege und das Pferd Originaltitel: ›Mgeli, txa da cxeni‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 395. Dieses Märchen weist eine Ähnlichkeit mit Stith Thompsons Typ 47 B auf. Märchen von Freundschaft Das Motiv der Freundschaft wurde unterschiedlich verarbeitet. So finden wir dieses Grundmotiv zwischen Menschen, zwischen Mensch und Tier, aber auch zwischen Mensch und Zauberwesen. 398
Interessant ist, daß im georgischen Märchen bei einer Freundschaft zwischen Mensch und Tier stets der Mensch der nehmende, das Tier der gebende Teil ist, so daß eine derartige Freundschaft als Treuebündnis erscheint: Die Tiere vollbringen für ihre menschlichen Freunde gute Taten, schützen sie vor Gefahren, befreien sie bisweilen sogar aus einer Gefangenschaft. Die freundschaftliche Treue der Tiere kann bis zur Selbstaufopferung gehen. Selbst nach ihrem Tode wirken sie dank der Zauberkraft ihrer Gebeine noch für ihre menschlichen Freunde und schaffen ihnen die Grundlage für ein sicheres Leben. In dem Märchen ›Der goldene Mann‹ entsteht eine Freundschaft zwischen dem goldenen Mann Okrokaza und dem Königssohn über das Gefühl der Dankbarkeit. Hier haben beide Teile etwas gegeben, aber natürlich erweist Okrokaza auf Grund seiner übernatürlichen Fähigkeiten im weiteren Verlauf der Handlung dem Königssohn mehr Dienste als umgekehrt. Für dieses Märchen ist es typisch, daß die Freundschaft bis zum Ende erhalten bleibt und der Tod diesem Bündnis untergeordnet wird. Taria Originaltitel: ›Tarias zγapari‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 91-92. Dieses Märchen ist entgegen der ursprünglichen Ansicht von Washa-Pschawela sekundär aus Schota Rustawelis Epos ›Der Recke im Pantherfell‹ abgeleitet.
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Zikara Originaltitel: ›Cikara‹ aus ›Xalxuri zγaprebi‹ von K. Sixarulize, Tbilisi 1938, S. 21-27. ›Zikara‹ besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, die magische Flucht, erfolgreich bestanden durch Wegwerfen von Gegenständen, ist unter anderem Stith Thompsons Typen 313 III, 314 IV, 315 A III, 325 II, 327 III zuzuordnen (vergleiche auch ›Der treue Rotochs‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 190 ff.). Der zweite Teil (trauriges Ende) ist eher balladenartig. Msekala und Msewarda Originaltitel: ›Mzekala da mzevarda‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 162-168. Motive dieses Märchens begegnen uns in anderen georgischen Märchen wieder, gleichzeitig weist es eine Fülle weitverbreiteter Märchen-Episoden auf: Die gleichzeitige Geburt (Stith Thompsons Typen 300 I und 303), das Pferd als Helfer (Stith Thompsons Typen 314, 502 II, 531 I, 532), UriahBrief (Stith Thompsons Typen 302, 428, 461), Mädchen wird Krieger (Stith Thompsons Typ 514). Vergleiche auch ›Das taubengraue Ross‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 5 9 ff. Der goldene Mann Originaltitel: ›Okrokaca‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 183-188. Die bereits in ›Zikara‹ motivisch aufgenommene Flucht wird hier nur bruchstückhaft erzählt.
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Märchen vom geschickten Burschen Das georgische Volk hat zwar stets zu seinen Herrschern aufgeblickt, sie geachtet und verehrt oder sich kritisch über sie geäußert, aber es hat die einfachen Menschen, die wie seinesgleichen lebten, nicht vergessen. In den Märchen vom geschickten Burschen hat es ihnen seine ganze Sympathie geschenkt. Die Helden dieser Märchen sind Menschen aus dem Volk, niederer Herkunft, unbegütert und manchmal so arm, daß sie fast am Verzweifeln sind. Durch ihre Arbeit, ihre Geschicklichkeit und durch besondere glückhafte Umstände meistern sie die schwierige Situation, in der sie sich befinden, und sichern sich den Erfolg. Mit ihrer Klugheit und ihrem Witz überlisten sie nicht nur Menschen ihres Dorfes sowie Riesen, sondern selbst den König samt dessen Ratgebern. Die Märchen dieser Gruppe sind mit so viel Einfühlungsvermögen erzählt, daß der Leser das Schicksal dieser Helden besonders nachempfinden kann. Chutkuntschula Originaltitel: ›Xutkunčula‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 95-99. Die drei Aufgaben der verräterischen Brüder an den jüngsten Bruder im zweiten Teil des Märchens erinnern an die Motiv-Kette der Milchbad-Episode in ›Anana‹. Die Überlistung des Riesen durch den jüngsten Bruder zeigt charakteristische Episoden (wie Vertauschen der Kappen), die Stith Thompsons Typ 327 zuzuordnen sind.
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Nazarkekia Originaltitel: ›Nacarkekia‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 209-212. ›Nazarkekia‹ weist Episoden aus dem Märchentyp ›Das tapfere Schneiderlein‹ auf (Stith Thompsons Typ 1640), ebenso Tierschwank-Motive, die beispielsweise im bengalischen Märchen ›Das Ende des Schakals‹ nachweisbar sind (vergleiche Mode/Ray ›Bengalische Märchen‹, Leipzig 1967, S. 106 ff.). Ähnlichkeiten sind auch in ›Der Aschenpuster‹ im Band ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 170 ff. auffindbar. Der Rinderhirt Originaltitel: ›Menaxire‹ aus ›Xalxuri zγaprebi‹ von K. Sixarulize, Tbilisi 1938, S. 38-43. Einer der seltenen Fälle, in denen Drachen den Menschen freundlich gesonnen sind. Auch hier wieder die magische Bedeutung der Pappel. Der letzte Teil des Märchens weist Ähnlichkeiten mit ›Vom blinden Schafzüchter Deu und vom Schüler des Webers‹ auf (vergleiche ›Märchen aus dem Kaukasus‹, Düsseldorf/Köln 1978, S. 18 ff.). Die Episode der Wunsch-Schwängerung begegnet uns in Stith Thompsons Typ 675 III. Komble Originaltitel: ›Komble‹ aus ›Xalxuri zγaprebi‹ von K. Sixarulize, Tbilisi 1938, S. 120-123. ›Komble‹ ist ein sehr bekannter und weitverbreiteter Märchentyp. Der Typ vom klugen Bauern (hier ein Schafhirt), der seine neidischen Nach402
barn mit oft sehr fragwürdigen Methoden überlistet (vergleiche Text und Anmerkung in Mode/Ray ›Bengalische Märchen‹, Leipzig 1967, S. 163 ff.); bei Stith Thompson Typ 1535 und 1539; vergleiche auch ›Hütestab‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 197 ff. Die Zauberkappe Originaltitel: ›Učinmačinis kudi‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 225-229. Der Typ dieses Märchens ist aus ›Den Erzählungen aus den Tausendundein Nächten‹ (›Aladin und die Wunderlampe‹) bekannt; bei Stith Thompson Typ 561; vergleiche auch das Titelmärchen des Bandes ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 5 ff. und ›Die Zaubermütze‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 40 ff. Datua Originaltitel: ›Datua‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 233-235. Zu den merkwürdigen Freunden des Helden vergleiche Stith Thompsons Typen 301 II, 513 und 514 (die Helfer des Drachentöters) sowie Typ 653 (die kunstreichen Brüder). Motivanalogien weist auch das Märchen ›Der Träumer‹ in ›Kaukasische Märchen‹, Jena 1922, S. 17 ff. auf. Philosophierende und moralisierende Märchen Moralisierende und pädagogische Elemente und Absichten sind vielen Märchen eigen, aber bei den philo403
sophierenden und moralisierenden Märchen stehen diese Beweggründe im Vordergrund. Durch den Verzicht auf schmückendes, erweiterndes Beiwerk gewinnen diese Märchen an Kürze, die der Klarheit ihres Anliegens dienlich ist. Das Sujet dieser Märchen ist einfach, ja streng zu nennen. Jede Abweichung vom Thema, jede Verlängerung der Handlung wird vermieden. Das Anliegen wird entweder deutlich ausgesprochen oder ergibt sich zwingend aus der Handlung. Mißverständnisse sind ausgeschlossen. Was die Erde fordert Originaltitel: ›Mica tavisas moitxovs‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 79-82. Kein Märchen im eigentlichen Sinn. Vergleiche dazu ›Die Erde nimmt sich das Ihre‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 70ff. Der Faulpelz Originaltitel: ›Zarmaci‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 274-277. ›Der Faulpelz‹ ist ein schwankartiges Märchen. Analogien bestehen zu Stith Thompsons SchwankTyp 1677 (›Der General brütet ein Ei aus‹), aber auch zu Typ 1218. Vergleiche auch das Märchen ›Vom Faulpelz‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 182 ff. Falsche Tränen Originaltitel: ›Tquili tirili‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 348.
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Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Die Braut Originaltitel: ›Patarzali‹ aus ›Kartuli zγagrebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 325. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Die Eule und der Mann Originaltitel: ›Bu da kaci‹ aus ›Kartuli zγagrebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 397. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Sonne und Regen Originaltitel: ›Mze da cvima‹ aus ›Kartuli zγagrebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 324. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Drei Taube Originaltitel: ›Sami qru‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 303-304. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Die Schlange und der Mann Originaltitel: ›Gveli da kaci‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 178-180. Die Kenntnis der Tiersprache ist schon im ältesten georgischen Sagengut angelegt; vergleiche die Sage von Chogais Mindia. 405
Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Der König und der Diener Originaltitel: ›Mepe da msaxuri‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 323. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Der geizige Kaufmann Originaltitel: ›Zunci vačari‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 302-303. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Für einen Abasi Eier Originaltitel: ›Erti abazis kvercxi‹ aus ›Xalxuri zγaprebi‹ von K. Sixarulize, Tbilisi 1938, S. 157160. Lokale Variante eines Schwankmärchens; die Motive des Märchens sind weitverbreitet. Rätselmärchen Georgische Rätselmärchen gibt es nur wenige. Sie fesseln nicht nur durch den Hergang der Erzählung, sondern auch durch die Aufgabe des Rätsels (oder mehrerer Rätsel). Gleichgültig, ob die Lösung des Rätsels schon von Anfang an bekannt ist oder nicht, hängt der Ausgang des Märchens und das Schicksal des Helden von der Lösung des Rätsels ab. Diese Märchengruppe bezeugt ein weiteres Mal die Vielgestaltigkeit der georgischen Märchenwelt, zumal auch hier unterschiedliche Lösungsvarianten möglich sind: Verrat, eigene Taten 406
und Erfahrungen, Hilfe anderer und Zauberkraft. Besonders reizvoll jedoch sind jene Rätsel, die in sich wiederum geschlossene Geschichten darstellen. Die Pappel aus der Schlangenhaut Originaltitel: ›Gvelis tqavze amosuli alvis xe‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 37-41. Der am Anfang des Märchens anklingende Aberglaube, Schlangenhaut bringe Unglück, ist noch heute verbreitet. Die drei Ratschläge, die durch Erfahrung bestätigt werden, sind ein beliebter Tiermärchentyp (Stith Thompsons Typ 150; Einzelmotive bei Thompson). Vergleiche auch ›Märchen vom Armen und den drei Granatäpfeln des Recken‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 27 ff. Pisasos Märchen Originaltitel: ›Pisasos zγapari‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 58-63. Eines der interessantesten und wichtigsten Märchen dieser Sammlung (drei Märchen im Märchen!). Diese drei Typen sind altindischen Märchen nahe verwandt, ebenso die Art, Fragemärchen einzuschieben, 1. Priester, Schneider und Tischler erschaffen eine Frau (vergleiche bei Stith Thompson indischen Typ 653 b); 2. Hellseher, Schnelläufer und Arzt – wer von den Dreien vermochte zu heilen?; 3. die vertauschten Köpfe (auch die letzten beiden Fragemärchen gehören in den Umkreis des gleichen Typs). Be407
kanntlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem indischen Typ von den vertauschten Köpfen mit Goethes Parialegende. Literatur hierzu in ›Kleine Schriften‹ von Theodor Zachariae, Bonn/Leipzig 1920, S. 118. Vergleiche auch ›Pisasos Märchen‹ mit ›Das Märchen vom Kerzlein‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 110 ff.; ›Das Märchen vom Kerzlein‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 104 ff. und ›Das Märchen von der Feldjungfrau‹ in ›Märchen aus dem Kaukasus‹, Düsseldorf/Köln 1978, S. 130ff. (Hier fehlt jedoch der wichtige zweite Teil des Märchens.) Der blaue Fisch Originaltitel: ›Lurži tevzi‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 325-327. Das ›unlösbare‹ Rätsel erinnert an ›Rumpelstilzchen‹ (Stith Thompsons Typ 500). Vergleiche auch ›Der Fischersohn‹ in ›Kaukasische Märchen‹, Jena 1922, S. 1 ff. Elf Brüder Originaltitel: ›Tertmeti zma‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 420-428. Bei abweichender Rahmenerzählung hier die Rätselfrage wie in ›Der blaue Fisch‹. Das Motiv der Teilung einer Frau kehrt in dem Märchen ›Der Kupferwolf‹ wieder. Während es in den ›Elf Brüdern‹ motiviert wurde (Austreibung des Bösen), scheint im ›Kupferwolf‹ der Sinn verlorengegangen zu sein.
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Das Rätsel von Gulambara und Sulambara finden wir auch in ›Georgian Folk Tales‹, VIII, London 1854, S. 42 ff. (›Gulambara und Sulambara‹). Königsmärchen Zahlenmäßig stark sind in der georgischen Märchenliteratur die Königsmärchen vertreten. Hier haben die verschiedensten Abbilder der Herrscher Eingang gefunden: der greise König, der seinen Söhnen Aufgaben stellt; der König, der um die Familiengründung seiner Kinder besorgt ist; der kranke König, der nach Heilmitteln ausschickt; der habgierige König, der andere verderben will, um sich deren Besitz und deren Frauen anzueignen; und schließlich der Königssohn, der von Abenteuer zu Abenteuer zieht. Meist sind es Männer, die mannigfaltige Gefahren zu meistern haben, doch verschiedentlich sind es auch Frauen, die Übermenschliches ertragen, unsagbare Strapazen und Mühen auf sich nehmen und gar bis zur Sonne reisen, um ihren Männern das Leben wiederzugeben. Im Mittelpunkt der meisten Königsmärchen steht die Liebe zwischen Mann und Frau. Ausgangspunkt der Handlung ist oftmals die Erkrankung des Helden vor Sehnsucht nach einem Mädchen. Es scheint keine andere Möglichkeit zu bestehen, den Helden zu retten, als ihn auf die Suche nach jenem Mädchen ziehen zu lassen. Nach langem Suchen und vielen Kämpfen erreicht er sein Ziel, aber ein habgieriger Herrscher macht ihm die Beute streitig. Mit Hilfe seiner Liebsten oder eines Zaubermittels gelingt es jedoch dem Helden, seinen Anspruch durchzusetzen: Der habgierige König kommt um, der Held feiert seinen Sieg. Gerech409
tigkeit und optimistischer Ausgang kennzeichnen den Schluß der Königsmärchen. Irmisa Originaltitel: ›Irmisa‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 44-52. Sprechende Geister (statt Vögel), deren Unterhaltung belauscht wird; ähnlich wie in Stith Thompsons Typ 516 (›Der getreue Johannes‹). Vergleiche auch ›Hirschsohn und Jelena die Wunderschöne‹ in ›Die Zauberkappe‹, Berlin 1963, S. 167 ff. und ›Das Märchen vom Hirschlein und Elena, der Schönen‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 85 ff. Die Boshmi-Blume Originaltitel: ›Božmis qvavili‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 70-77. Die Bedeutung des Namens Boshmi ist unklar. Zu anderen Märchentypen gibt es nur sehr allgemeine Parallelen. Der Herrscher und seine neun Söhne Originaltitel: ›Xelmcipisa da misi cxra važis araki‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 100-105. Die Spanne des Fasanbratens ist ein in der georgischen Folklore beliebtes Zeitmaß. Der junge Held mit der aufgefundenen Feder ist ein in osteuropäischen Ländern, vor allem auch in den Zigeunermärchen, stark verbreiteter Typ (Stith Thomp-
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sons Typ 531), hier fügt sich auch die MilchbadEpisode ein (vergleiche ›Anana‹). Vergleiche auch ›Die Schöne aus dem fernen Lande Nigoseti‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 17 ff. Die Tochter der Sonne Originaltitel: ›Mzis kali‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 106-114. Wie in vielen georgischen Märchen häufen sich auch hier Aufgabenstellungen und Aufträge. Auch die Begegnungen merkwürdigster Art auf dem Weg ins Jenseits überschreiten die ansonsten übliche Zahl drei. Das Schwanenjungfrau-Motiv klingt bei den Sonnenjungfrauen an, die auf Erden baden. Vergleiche hierzu ›Der Hirt und das Göttermädchen‹ in ›Bengalische Märchen‹, Leipzig 1967, S. 31 ff. (Stith Thompsons Typ 400). Das zwölfköpfige Ungeheuer Originaltitel: ›Tormettaviani devi‹ aus ›Kartuli zγagrebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 150-154. Eine Variante des Drachentöter-Märchens (Stith Thompsons Typ 300) mit zahlreichen Episoden: Der Held wächst überdurchschnittlich schnell (Typ 301 I, auch Typ 650 A); der jüngere Bruder wählt an der Wegkreuzung den gefährlichen Weg (Typen 303 II und 581 I); der Held erfährt durch eine List den Sitz der Seele des Ungeheuers (Typen 302 II-III, 412, 462 III und 590IV).
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Das Wunderliche Originaltitel: ›Zγapari sakvirvelisa‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 126-136. In diesem Märchen begegnet uns erneut das beliebte Motiv der Suche nach dem Wunderbaren (vergleiche ›Der Herrscher und seine neun Söhne‹). Das Pferd hilft auch hier dem Helden (unter anderem in der Milchbad-Episode); auch bei diesem Märchentyp besteht eine enge Verwandtschaft mit den osteuropäischen Zigeunermärchen. Vergleiche auch ›Die Schöne aus dem fernen Lande Nigoseti‹ in ›Der Schlangenknabe‹, Moskau 1977 (deutschsprachige Ausgabe), S. 17 ff. Der Sohn des Jägers Originaltitel: ›Monadiris švili‹ aus ›Xalxuri zγaprebi‹ von K. Sixarulize, Tbilisi 1938, S. 127-132. In diesem Märchen begegnen uns bemerkenswerte phantastische Einzelheiten (beispielsweise der Perlen-Hirsch, das aus Zähnen erbaute Hexenhaus). Das Motiv des Hirsches in der Hauptrolle des Tierhelfers vergleiche ›Märchen aus dem Kaukasus‹, Düsseldorf/Köln 1978, S. 152 ff. (hier mit anderen Motivketten). Der lahme Büffel Originaltitel: ›Kočli kameči‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 314-325. In diesem Märchen finden wir deutliche Parallelen zu ›Zikara‹. ›Der lahme Büffel‹ ist wiederum eine Kombination mehrerer Märchentypen: auch hier die böse Stiefmutter wie im Aschenputtel-Typ (Stith Thompsons Typ 510) und die verräterische 412
Schwester (Stith Thompsons Typ 315); das weitverbreitete Motiv vom verbotenen Zimmer begegnet uns in Stith Thompsons Typen 311 I, 312, 313 II, 710 und anderen. Der Bettler und das Tuch Originaltitel: ›Matxovari da xelsaxoci‹ aus ›Xalxuri sibrzne‹ von M. Čikovani, Bd. I, Tbilisi 1963, S. 352-359. Ungeheuer helfen hier, wie häufig im georgischen Märchen, dem Helden gegen andere Ungeheuer. Typenvergleiche sind für dieses Märchen nur sehr allgemeiner Art möglich, so mit den außergewöhnlichen Gefährten aus dem Drachentötertyp 301 (Stith Thompson) oder mit Stith Thompsons Typ 302 (Sitz der Seele). Der Kupferwolf Originaltitel: ›Zγapari spilenzis mglisa‹ aus ›Xalxuri sitqviereba‹ von M. Čikovani, Bd. V, Tbilisi 1956, S. 203-207. Die Unterwelt-Episode erinnert stark an die Amirani-Sage. Zum Motiv der Teilung des Mädchens vergleiche das Märchen ›Elf Brüder‹. ›Der Kupferwolf‹ gleicht mehr den konventionellen Typen der Drachenkämpfermärchen mit den Motiven: hilfreiche Tiere; jüngster Bruder (Held) wird von den älteren Brüdern verraten; Abenteuer des Helden in der Unterwelt; Rückkehr auf einem Vogelrücken in die Oberwelt (hauptsächlich Stith Thompsons Typen 300 und 301). Vergleiche auch ›Märchen aus dem Kaukasus‹, Düsseldorf/Köln 1978, S. 5 ff. 413
Ilankugha Originaltitel: >Ilankuza< aus ›Kartuli zγagrebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 93-95. Im Mittelpunkt des Märchens steht der Kampf der drei Teufel um drei magische Gegenstände, die der Held sich durch eine List verschafft. (Stith Thompsons Typ 518). Das Schlangenjunge Originaltitel: ›Gvelis cicili‹ aus ›Xalxuri zγaprebi‹ von K. Sixarulize, Tbilisi 1938, S. 44-47. Parallele zu ›Tischlein deck dich‹ (Stith Thompsons Typ 563). Das Zauberhemd Originaltitel: ›Sascaulmokmedi perangi‹ aus ›Kartuli zγaprebi‹ von A. Υlonti, Tbilisi 1974, S. 154162. Das Motiv der bösen Alten, die mit List die Helden ins Verderben stürzt, ist mehrfach belegt. Originell ist hier das ›Fliegende Hemd‹. Dieses Märchen ist wiederum dem Drachenkämpfertyp zuzuordnen (Stith Thompsons Typen 300 und 301).
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Worterklärungen Abasi: Silbermünze im Wert von 4 Schauri. Chaschi: knoblauchgewürzte Suppe aus Rinder- oder Schafsmagen. Chorassanschwert: Schwert aus der persischen Stadt Chorassan. Daghestaner: Bewohner von Daghestan, einem nordöstlich an Georgien angrenzenden Gebiet des Kaukasus. Dshodshocheta: Dshodshocheti bedeutet ›Hölle‹. Der Name des Königs ist davon abgeleitet. Imeretier: Bewohner der westgeorgischen Landschaft Imereti. Kapiki: kleine Münze, der hundertste Teil eines Maneti. Kwewri: großer Krug, der in die Erde eingelassen wird und zum Aufbewahren des Weines dient. Maneti: georgische Geldeinheit im Wert von 100 Kapiki. Tamada: Tischführer bei einem Gelage. Tschonguri: viersaitiges Musikinstrument. Tschocha: georgische langärmlige Männerjacke, die über dem Achaluchi getragen wird. Tumani: Währungseinheit, die 10 Maneti entspricht. Schauri: Münze im Wert von 5 Kapiki. Panduri: dreisaitiges Zupfinstrument.
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Insel-Verlag Anton Kippenberg, Leipzig Erste Auflage Lizenz-Nr. 351/260/19/80 LSV 7218 Gesetzt, gedruckt und gebunden in der Offizin Andersen Nexö, Graphischer Großbetrieb, Leipzig III/18/38 Schrift: Garamond-Antiqua (eBook Verdana) Einbandgestaltung von Hans-Joachim Walch Printed in the German Democratic Republic Bestell-Nr. 787 046 8 DDR 10,80 M
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