Gejagt von Lucy, dem Ghoul von Jason Dark, erschienen am 25.09.1995, Titelbild: Manuel Prieto
Lucy verspürte Hunger! S...
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Gejagt von Lucy, dem Ghoul von Jason Dark, erschienen am 25.09.1995, Titelbild: Manuel Prieto
Lucy verspürte Hunger! Sie hockte in ihrem Loch, schmatzte, schlürfte und röchelte. Sie war unruhig und gierig geworden. Mit ihren Händen rieb sie über den Körper hinweg. Schleimfäden und dicke Tropfen lösten sich und klatschten zu Boden. Lucy wurde fast verrückt. Sie mußte endlich wieder zu Kräften kommen, deshalb brauchte sie Nahrung: Fleisch, Tote...
Der Parkplatz lag im Wald. Einsam, versteckt, erreichbar über einen schmalen Weg, den der Reporter Bill Conolly gefahren war. Er hatte auf seinen privaten Porsche verzichtet und sich einen Leihwagen, einen Opel Corsa, besorgt, um nicht aufzufallen. Bill fuhr eine letzte Runde und parkte den Corsa mit der Schnauze zum Weg hin. Die bleichen Glotzaugen der Scheinwerfer erloschen. Als einzige Lichtquelle blieb ein blasser Mond. Sein Schein legte sich gespenstisch auf die Lichtung. Nicht weit entfernt sah Bill die Umrisse eine Grillhütte. Um diese winterliche Zeit kümmerte sich kein Mensch darum. Die Grillzeit würde erst im späten Frühjahr anfangen. Bill war allein gefahren. Er hatte auf diese Bedingung seines Informanten eingehen müssen. Zudem war dem Reporter auch nicht viel erzählt worden, aber der Begriff Grabkriecher hatte ihn hellhörig werden lassen, und er fragte sich natürlich, was dahinter steckte. Allein der Begriff Grabkriecher war dazu angetan, um eine Gänsehaut zu erzeugen. Bill hatte auch überlegt, ob er seinen Freund John Sinclair nicht einweihen sollte. Er war davon abgekommen, denn er wußte nicht, was an der Sache dran war. Und blamieren wollte er sich auf keinen Fall. Deshalb hatte er davon Abstand genommen und nur seine Frau Sheila mit wenigen Worten informiert. Sie war natürlich gegen diesen Einsatz gewesen, hatte allerdings auch einsehen müssen, daß ein freier Journalist seine Recherchen durchführen mußte, um an Geschichten heranzukommen, die sich auch verkaufen ließen. Und Bill war nun mal ein gefragter Mann, der für mehrere internationale Magazine arbeitete. Er hatte sich, ähnlich wie sein Freund, der Geisterjäger John Sinclair, auf die geheimnisumwitterten Geschichten spezialisiert, denn die kamen immer an. Der Leser wollte oft den berühmten Schauer spüren. Bill wußte nicht, ob er dem Informanten trauen konnte. Er kannte ihn nur flüchtig. Der Kerl, Goldman mit Namen, hatte die Finger in vielen Geschäften, über die Bill nicht näher nachdenken wollte. Unter anderem bezog er sein Honorar auch von Zeitungen. Bill schaute auf die Uhr. Es waren noch gut zehn Minuten Zeit bis zur vereinbarten Uhrzeit. Er hoffte daß der Kerl pünktlich war und ihm auch keine Falle stellte. Der Reporter kurbelte die Seitenscheibe nach unten. Die kühl-feuchte Luft wehte in sein Gesicht. Es regnete Die Temperaturen lagen über dem Gefrierpunkt. Die Stille kam dem wartenden Mann bedrückend vor Hin und wieder nur hörte er ein Rascheln oder Knacken, wenn Tiere durch den Wald huschten. Er zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch fand seinen Weg durch das
Fenster und zerflatterte. Bill saß so, daß er auch in den Innenspiegel schauen konnte, doch es war nicht viel zu sehen, die Schatten der Nacht umlagen die Lichtung wie dicke Wolken. Es war nicht unbedingt damit rechnen, daß Goldman in einem Fahrzeug ankam. Er war einer, der sich an allem vorbeimogelte, um nicht erwischt zu werden. Es war auch möglich, daß er Bill längst beobachtete, um abzuwarten, ob er auch tatsächlich allein gekommen war. Das Spiel der Wolken über ihm glich einem mächtigen Puzzle, das über den Himmel getrieben wurde, ohne jedoch zusammengesetzt zu werden. Hin und wieder fuhr der Wind gegen die kahlen Äste der Bäume und ließ sie zittern Bill hatte soeben die Zigarette ausgedrückt, als er den Pfiff hörte. Von einem Vogel stammte der sicherlich nicht. Das mußte ein Mensch gewesen sein. Unbeweglich blieb Bill sitzen. Er schielte in die Richtung, aus der er den Pfiff zu hören geglaubt hatte. An der linken Seite spürte er plötzlich den Druck der Waffe und dachte daran, daß er sich schon würde zu wehren wissen, wenn es Ärger gab. Goldman erschien. Seine Gestalt bewegte sich vom Waldrand her quer über die Lichtung. Er gab sich gelassen, sogar die Hände hatte er in den Taschen seiner Hose vergraben. Und er pfiff weiter, so gelassen und locker gab er sich. Sein Weg führte ihn zwar zum Corsa hin, aber nicht zur Fahrerseite, er wollte auf der anderen Seite einsteigen. Bill zog den kleinen Drücker in die Höhe und machte die Bahn frei. Leise lachend stieg Goldman ein. Nachdem er sich gesetzt hatte, nickte er. »Da bin ich.« »Sehr pünktlich.« »Bin ich doch immer.« Bill schaute ihn an. Goldman trug einen Jogginganzug. Auf seinen Kopf hatte er eine Strickmütze gesetzt, die das Haar fast vollständig verdeckte. Nur an der Rückseite schauten ein paar Strähnen hervor. Nur das Gesicht war zu sehen. Ein blasses Oval, in dem ein struppiger Bart wuchs. »Und?« fragte Bill. Goldman lachte, als er Daumen und Zeigefinger gegeneinander rieb. »Wie sieht es hiermit aus?« »Kriegen Sie.« Bill lächelte eisig. »Allerdings später. Ich möchte keine Katze im Sack kaufen.« »Kaufen Sie bei mir auch nicht.« »Sind Sie sicher?« »Ja.«
Bill schnüffelte, denn der Typ roch nach Erde und Feuchtigkeit. Als wäre er durch den Wald gekrochen. Oder durch ein Grab . . . »Es geht um die Grabkriecher.« Goldman nickte. »Sie wissen mehr.« Der Mann neben Bill fing an zu grinsen. »Kann sein. Es kommt darauf an, was ich weiß.« »Was tun diese Grabkriecher?« »Denk nach. Wie der Name schon sagt. Sie kriechen durch Gräber. Sie sind etwas Besonderes.« »Ghouls?« Goldman hob die Schultern. »Ich weiß zwar nicht genau, wer oder was Ghouls sind, aber ich denke mir, daß ich sie nicht bei mir zu Hause im Bett beherberge.« »Bestimmt, das würde man riechen.« »Witzig.« »Los, rücken Sie schon raus damit!« Goldman stöhnte auf. »Was immer du auch wissen willst, Conolly, nichts ohne Kohle.« Bill holte einige Scheine aus der Tasche. Es waren Dollarnoten, wie vereinbart. »Fünfzig sind es.« »Danke, ich traue dir.« Der Informant steckte sie weg. »Das ist schon ein Anfang.« »Dafür will ich auch etwas hören.« Goldman schob die Mütze hoch und puhlte sich im Ohr. »Du hast dich doch schon vorher mit den Grabkriechern befaßt. Dann wirst du auch wissen, wo du sie finden kannst.« »Nicht weit von hier.« »Richtig.« »Können wir den Ort zu Fuß erreichen?« »Auch das ist möglich, aber es ist mir zu kalt. Wir werden hinfahren. Ich erkläre dir den Weg.« Bill hob die Schultern. »Wie du willst, aber ewig habe ich auch nicht Zeit. Manchmal vermißt mich meine Frau, hin und wieder auch meine Freunde. Ich hoffe, du weißt, was ich damit habe sagen wollen.« »Alles klar, fahr los.« Bill startete. Es gab nur den Weg, den er gekommen war. Den mußten sie auch wieder zurück. Der Corsa hoppelte über den unebenen Boden. Die Lichter tanzten auf und nieder, verwandelten den Waldrand in eine bleiche Kulisse, die aussah, als wäre sie der Hort für zahlreiche Gespenster und märchenhafte Gestalten. Goldman hockte schweigend neben dem Reporter. Er bewegte seine Wangen, da er auf irgendeinem Zeug herumkaute. Seinem Gesichtsausdruck war nicht anzusehen, was er dachte. Und auch das leise Summen des Mannes beruhigte Bill keineswegs.
Der Reporter mußte auch zugeben, daß er leider zuwenig wußte. Er hatte von einer Bande gehört, die sich Grabkriecher nannte. Was genau dahintersteckte, mußte er noch in Erfahrung bringen, wobei er hoffte, daß Goldman ihm weiterhalf. Er traute diesem Typen noch immer nicht. Vielleicht lag es auch am Geruch, den Goldmans Kleidung ausströmte. Er selbst schien einem Grab entstiegen zu sein. »Was ist das denn für ein Friedhof?« fragte Bill, als er den schmalen Weg ansteuerte. »Ein alter, aufgegebener. Dort wird niemand mehr begraben. Vor einigen Jahren bildete er die Kulisse für Gruselfilme. Als sich die Zeiten änderten und Horror nicht mehr so gefragt war, geriet er in Vergessenheit. Dabei ist er wirklich toll. Ein richtiges Kleinod, so wie man sich einen Friedhof immer vorstellt.« »Und wie muß man sich den vorstellen?« »Na ja, wie ich schon sagte . . .« Goldman hob die Schultern. »Mit alten Gräbern und so. Du wirst es schon sehen.« »Und die Grabkriecher.« »Kann sein.« Bill ging auf die letzte Bemerkung nicht ein und fragte: »Sind es möglicherweise Grufties?« »Wie?« »Die den Friedhof bevölkern und sich Grabkriecher nennen, die meine ich.« Goldman fing an zu lachen. »Nein, nur das nicht. Du meinst doch nicht die komischen Spinner, die daran Freude haben, auf alten Friedhöfen Gräber leerzubuddeln und sich trauernd um die alten Knochen versammeln.« »Doch, die meine ich.« »Stimmt aber nicht.« »Gut, ich bin . . .« Bill verschluckte sich mitten im Satz. Ein Fluch drang über seine Lippen, als er das Gestrüpp sah, das ihnen den Weg versperrte. Mit seinem Wagen konnte Bill das Hindernis nicht durchbrechen. Er mußte bremsen. Und er wußte genau, daß es bei seiner Herfahrt dort noch nicht gelegen hatte. Eine Falle also! Es war Bills Nachteil, daß er die Hände am Lenkrad hatte. Bevor er seine Waffe ziehen konnte, hörte er die Stimme seines Nebenmanns. »Beweg dich lieber nicht, Conolly, es sei denn, du willst spüren, wie es ist, ein Schaschlik zu sein . . .« Etwas davon spürte Bill, denn die Spitze des Messers war durch seine Kleidung gedrungen und ritzte seine Haut. Der Schmerz war auszuhalten. »Danke«, sagte der Reporter.
Goldman war so überrascht, daß er dümmlich lachen mußte. »Für was denn?« »Für die Falle.« Goldman lachte nicht, er grinste jetzt. »Ich habe sie nicht aufgestellt. Ich nicht!« »Das glaube ich dir sogar, aber du warst daran beteiligt.« »Irgendwie schon«, gab Goldman zu. »Schließlich muß ich ja sehen, wo ich bleibe. Du kannst als Schnüffler wichtig sein, aber andere Pfründe sind verlockender.« »Welche denn?«. »Hältst du mich für saublöde? Ich werde einen Teufel tun und dir etwas verraten. Für mich ist der Job beendet. Alles andere werden diejenigen übernehmen, die dafür ausgesucht worden sind. Ich habe meine Pflicht getan und werde dich bald alleine lassen.« Mit ähnlichem hatte Bill natürlich gerechnet. Der Baum quer über der Straße war sicherlich nicht grundlos gefallen. Da war schon manipuliert worden, aber die Typen ließen sich nicht blicken, und jetzt, wo Bill ruhiger geworden war, sann er auch über einen Ausweg nach. Goldman hielt das Messer wie eine Trumpfkarte in der Hand. ' Bill hörte nicht nur das zischende Atmen seines Nebenmannes, er sah auch die drei Typen, die wie böse, märchenhafte Gestalten das Dunkel des Waldrands verlassen hatten und mit schnellen Schritten auf den Wagen zukamen. Sie wirkten wie düstere Gespenster, es mochte auch daran liegen, daß von ihren Gesichtern so gut wie nichts zu erkennen war. Die Männer hatten die Haut mit irgendeinem Zeug geschwärzt. Soldaten taten das im Manöver und im Krieg. Er sah aber auch die Waffen in ihren Händen, und gerade die machten die Hundesöhne so gefährlich. Das Metall schimmerte, die Tritte waren so gut wie nicht zu hören, und der Druck der Klinge verstärkte sich an seiner Hüfte. Einer riß die Fahrertür auf. Der Mann hatte sich gebückt. Er zielte mit der Mündung auf den Reporter. Bill konnte erkennen, daß er von einem Revolver bedroht wurde. Goldman sprach. »Ist alles klär?« »Ja.« »Dann kann ich gehen?« »Noch nicht. Du kannst dann fahren, wenn das Zeug hier vom Weg geräumt wurde.« »Sehr gut.« Auch die Kleidung der Männer war dunkel. Sie lag eng an den Körpern, vergleichbar mit den Jogginganzügen, wie auch Goldman einen trug. Und Mützen saßen ebenfalls auf den Köpfen der Typen. »Steig aus, Schnüffler!« »Und dann?«
Der Mann trat gegen den Kotflügel. »Steig aus oder ich schieß dir eine Kugel in das Bein.« »Keine Sorge, ich komme schon.« Bill stieg aus. Der Kerl mit dem Revolver war einen kleinen Schritt nach hinten getreten, um Bill den entsprechenden Platz zu schaffen. Als er sich aus dem Corsa drückte und dabei nach rechts schaute, sah er den zweiten am Heck des Wagens stehen, natürlich auch mit schußbereiter Waffe. Die überließen nichts dem Zufall. Wo sich der dritte Typ aufhielt, wußte Bill nicht. Er deckte sicherlich den Hintergrund ab. Wie dem auch war, eine Chance hatte Bill kaum. Neben dem Wagen blieb er stehen. Nummer eins winkte mit der Waffe. »Tritt ein Stück vor, dann geh zur Seite und leg dich auf den Bauch. So, als wolltest du schlafen. Und laß die Hände dabei oben. Du weißt ja, der Beinschuß.« »Ist schon okay.« Bill ärgerte sich maßlos, in diese Falle getappt zu sein. Er hätte auf Sheila hören sollen, er hätte auch seinen Freund John Sinclair informieren sollen. Er hatte es nicht getan, aus welchen Gründen auch immer, und nun steckte er mit beiden Beinen im Schlamm. Bill baute sich auf dem Weg auf. Hinter ihm hielten sich zwei der Typen auf. »Runter!« »Und dann?« »Auf die Knie und dann auf den Bauch!« »Schon gut.« Bill ließ sich auf die Knie fallen. Der spürte den Druck und auch den Schmerz, denn er hatte sein Gewicht nicht abfedern können. Die Welt kam ihm plötzlich klein vor aus dieser Perspektive. Die Arme hielt er halb angehoben. Diese kniende Haltung kam ihm so demütigend vor, so verdammt schlimm. Wie ein aufgerichteter Wurm, der jeden Augenblick zertreten werden konnte. Hinter sich hörte er die Tritte. Dann erwischte ihn der harte Schlag mitten ins Kreuz. Bill Conolly konnte den Schrei nicht unterdrücken. Er fegte nach vorn und hatte Glück, nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu schlagen. Aber er lag auf dem Bauch, sein Rücken brannte, und so hatten es die Typen haben wollen, so und nicht anders. Ein Eisenstempel wurde gegen seinen Rücken gepreßt. Das Gefühl zumindest konnte er haben, statt dessen war es nur der Fuß eines Peinigers. Bill wartete förmlich darauf, daß ihm jemand die kalte Mündung des Revolvers in den Nacken preßte und eine Kugel alles beendete. Es passierte nicht, dafür blieb der Hundesohn in seiner Nähe, und Bill nahm auch dessen Geruch auf. Der Kerl stank nach Friedhof, nach alter Graberde. Das war keine Einbildung, es lag auch auf der Hand, denn es ging um die Grabkriecher.
»Eigentlich bist du schon tot, Schnüffler!« »Okay, dann schieß doch!« Das Lachen war widerlich. »Nein, so leicht werde ich es dir nicht machen. Du wirst noch eine andere Welt kennenlernen, unsere Welt nämlich. Hast du gehört?« »Ja.« »Wunderbar, Schnüffler. Du wirst begeistert sein. Nur schade, daß du darüber nicht mehr großartig schreiben wirst. Wir wollen nämlich unter uns bleiben. Wir haben lange gesucht und diesen einen wunderbaren Platz gefunden, den lassen wir uns nicht nehmen. Für uns ist es wie für andere der Himmel.« »Wie lange soll ich hier noch liegen?« »Bis wir genug davon haben.« »Und wann ist das?« »Jetzt!« Bill hielt den Atem an. Sein Körper spannte sich. Der Magen schien eine Stahlhaut zu bekommen. Er wußte was kam, er hatte sich darauf eingestellt, aber er schaffte es nicht, sich dagegen zu wehren. Der Treffer landete in seinem Nacken. Bills Kopf flog auseinander. Zumindest glaubte der Reporter daran. Dann war es vorbei. Das tiefe Loch nahm ihn auf und zerrte ihn hinab bis zu seinem Grund. Schlaff blieb er liegen. *** »Sieh mal, Sheila«, sagte ich und legte meine Hände auf die ihren. Zwischen uns befand sich noch der kleine Tisch, der in einem Wintergarten stand und indirekt beleuchtet wurde. Die beiden mit Rotwein gefüllten Gläser glitzerten in diesem Licht. »Sieh mal«, wiederholte ich, »dein Mann ist erwachsen, er hat einen Job, er muß recherchieren, wenn es um bestimmte Dinge geht. Ich weiß, daß du dich darüber schon seit Jahren aufregst und um ihn zitterst, aber du mußt ihm auch etwas zutrauen, meine ich. Du kannst ihn doch nicht wie ein kleines Kind behandeln.« Sheila schaute mich an. Sie zog ihre Hände unter den meinen weg und drückte den Rollkragen des lindgrünen Pullovers ein wenig nach vorn. »Ich weiß, John, daß ich dir damit auf die Nerven gehe. Wir haben auch lange Zeit nichts mehr voneinander gehört oder uns gesehen. Ich weiß auch, daß dich die ersten Wochen des Jahres gestreßt haben. Du hast mir ja von diesen Satanisten berichtet, den Höllensöhnen, und du hast auch von diesem seltsamen Pharaonen-Kind erzählt. Du bist wieder einmal lebend herausgekommen, das ist alles wahr, das akzeptiere ich.«
Ich trank einen Schluck Wein, der so herrlich weich über die Zunge floß. »Da bin ich aber froh.« »Laß bitte den Spott, John.« »Das war nicht so gemeint.« Sheila pustete eine blonde Haarsträhne in Richtung Stirn, die sie gerunzelt hatte. »Aber du bist nicht Bill. Er hat sich da auf etwas eingelassen, das ich für gefährlich halte. Ich säße ja nicht hier mit dir zusammen, wenn er meinem Ratschlag gefolgt wäre und dich angerufen hätte. Das hat er leider nicht getan. Er wollte die Sache allein durchziehen, und ich weiß nicht, weshalb er sich so stur anstellt.« »Weil er kein Kindermädchen mehr braucht.« »Das sagst du.« »Es stimmt doch. Bill ist erwachsen!« »Und zieht wie magisch die Gefahren an, weil er sich um Fälle kümmert, die ihn eigentlich nichts angehen sollten. Es gibt so viele Themen, über die er berichten kann. Er kann sich auf Klatsch spezialisieren, auf Politik, auf Gesundheit, aber was tut er?« Sheila schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Er sucht und forscht nach irgendwelchen Fällen und Geheimnissen, die noch nicht aufgeklärt sind.« »Und hat Erfolg damit«, sagte ich. »Das bestreite ich auch nicht. Aber wer denkt dabei an mich und an unseren Sohn?« r~ »Das tut Bill.« Sheila runzelte die Stirn. »Da habe ich so meine Zweifel. Tut mir leid, John.« Ich verdrehte die Augen. »Himmel, Sheila, was willst du eigentlich? Möchtest du, daß dein Mann in Rente geht? Dazu ist er ja wohl noch zu jung.« Sie war etwas ärgerlich, als sie den Kopf schüttelte. »Das will ich natürlich nicht, aber er sollte sich doch, wenn er schon Fällen nachgeht, die gefährlich sind, mehr an dich wenden. Ihr könnt euch absprechen, so hat Bill eine Rückendeckung. Das wollte ich dir sagen, und ich möchte, falls du es willst, daß du es ihm sagst, damit ihr beide besser zusammenarbeitet.« Das gab mir eine Nachdenkzeit und trank zwischendurch. »Ist nicht schlecht, die Idee.« »Aber . . .« Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Du kennst mich gut, Sheila, und du darfst nicht vergessen, daß wir keine Partner im eigentlichen Sinne sind. Wenn Bill etwas recherchiert hat und sich in einen Fall hineinbeißen will, dann muß er das tun. Ich würde ihn natürlich gern häufiger unterstützen, aber du darfst nicht vergessen, daß ich noch einen Beruf habe. Wenn ich hier bin und Zeit habe, werde ich Bill
natürlich unterstützen, das habe ich in der Vergangenheit oft genug bewiesen, doch ich kann ihm wirklich nicht bei jeder Recherche zur Seite stehen, es sei denn, er wartet mit seiner Geschichte, bis ich greifbar bin.« Sheila nickte mir zu. »Ja, da hast du recht.« Sie lächelte. »Jedenfalls ist es schwierig, einen Konsens zu finden.« »Das gebe ich zu. Aber laß uns nicht weiter von der Zukunft reden, sondern mehr von der Gegenwart. Wir haben uns getröffen, finde ich auch toll, und du wolltest mir mehr über Bills neue Geschichte erzählen.« »Ja.« »Um was geht es?« Sheila hob ihre Augenbrauen. In ihre Augen trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Wenn ich das genau wüßte, John. Jedenfalls hat mich Bill mal wieder nicht eingeweiht. Er ist nicht weit weg, er will in der Nacht wieder zurück sein.« Sheila schaute auf die Uhr. »Wir haben jetzt frühen Abend. Vor drei Stunden verschwand er und hat sich einen Mietwagen genommen, das bekam ich noch mit, weil er telefonierte.« »Wo ist er hin?« Sheila senkte den Blick. Dann nahm sie die schmale Handtasche vom Tisch und stellte sie auf den Schoß. Sie öffnete die Tasche, kramte darin herum und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Schließlich legte sie einen Zettel auf den Tisch. »Ich habe es sicherheitshalber aufgeschrieben. Hier steht es. Er wollte sich auf die Spur der Grabkriecher setzen.« Während sie das sagte, schüttelte sie den Kopf. »Bitte?« »Ja, du hast richtig gehört, John. Grabkriecher.« Ich spürte einen heißen Strom durch mich jagen. Grabkriecher, das hörte sich nicht gut an. Ein Mensch, der nicht meinen Job hatte, hätte sicherlich darüber gelacht oder es mit einer Handbewegung abgetan, bei mir allerdings lösten solche und ähnlich Begriffe gewisse Assoziationen aus. Wenn ich das Wort hörte, dann dachte ich sofort an Ghouls, an Nachzehrer oder ähnliche Geschöpfe, die sich auf Friedhöfen zumeist ausbreiteten und sich von den Leichen ernährten. Den Begriff Grabkriecher allerdings hatte ich in einem derartigen Zusammenhang noch nicht gehört. »Du bist so still, John.« »In der Tat.« »Ist es der Begriff Grabkriecher gewesen, der dich geschockt hat?« Ich nickte. »Mich hat er auch geschockt. Und deshalb mache ich mir Sorgen.« »Das verstehe ich natürlich, Sheila«, erwiderte ich mit ruhiger Stimme. »Aber laß uns die Emotionen mal zur Seite drängen und die Sache ruhig angehen. Wie ist Bill auf diesen Begriff gekommen, und wohin ist er gefahren?«
»Wie er an die Grabkriecher genau herankam, kann ich dir nicht sagen, John. Er hat wohl darüber gelesen und weitere Informationen gesammelt. Die Grabkriecher muß es geben, und er hat auch einen Menschen gefunden, der mehr über sie weiß.« »Wer ist das?« »Ein Informant.« Ich schaute Sheila direkt in die Augen und schüttelte den Kopf. »Es ist wenig, das weißt du selbst. Ich würde sogar sagen, daß es zuwenig ist.« »Da gebe ich dir recht. Du willst einen Namen hören, vermute ich.« »Das wäre zumindest ein Fortschritt.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe Bill natürlich danach gefragt, doch er hat mich nicht eingeweiht. Er sah es als besser an, wenn ich nichts weiß.« »Hatte er einen Grund?« »Sicher. Dieser Mann muß eine geheimnisvolle Person gewesen sein. Einer, der sich nicht gern in der Öffentlichkeit zeigte und im geheimen arbeitet. Das alles lief in Richtung Agententätigkeit.« »Meinst du wirklich?« Sie hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Ich kann es dir nicht mit Sicherheit sagen.« Ich nahm eine andere Sitzhaltung ein und schaute durch die Glaswand nach draußen. Im Außengarten, der ebenfalls zu diesem kleinen Lokal gehörte, gaben die Laternen ihr Licht ab. Es war dunkler als die bleichen Ständer der Lampen. Dahinter sah ich eine dunkle Hecke, die ineinander verfilzt war und dicht wie eine Mauer wirkte. »Was sollten wir denn tun, John?« »Können wir etwas tun?« fragte ich zurück. »Keine Ahnung. Ich weiß einfach zu wenig. Er hat den Namen Grabkriecher erwähnt, zudem einen Friedhof, aber wo sich der befindet, das wissen die Götter und er.« »Das stimmt.« »Wir können auch nicht alle Friedhöfe absuchen. . .« »Stimmt auch.« »Was schlägst du vor?« Es lag auf der Hand, daß Sheila von mir einen Rat wollte. Eine zündende Idee war mir zwar auch nicht gekommen, aber ich dachte in diesen Minuten mehr wie ein Polizist, der am Beginn eines Falls steht und sich auf eine Spurensuche begibt. »Wenn wir anfangen, Sheila, müssen wir beide sehr persönlich werden. Ich werde mir dabei vorkommen wie ein Schnüffler, der in die Privatsphäre eines Freundes eindringt.« Sheila hatte die Stirn gerunzelt. »Noch verstehe ich dich nicht richtig, John.« »Ich will es dir erklären«, sagte ich nach einem Schluck Wein. »Wir werden gleich zu dir fahren und uns in Bills Arbeitszimmer umschauen. Es
kann möglich sein, daß wir dort etwas finden, das uns weiterbringt.« »Was sollte das sein?« Ich hob die Schultern. »Eine Notiz, ein auf Band gesprochenes Telefonat, etwas, daß uns zumindest den Anfang des Wegs weist. Im Augenblick ist das mein einziger Vorschlag.« »Hm . . .« Sheila schaute in ihr Glas. »Nicht begeistert?« »Wenig.« »Jubeln kann ich auch nicht, aber siehst du eine bessere Möglichkeit? Wenn ja, bin ich dir dankbar.« »Leider nicht.« Sie trank etwas hastig. »Du kannst dir natürlich vorstellen, daß ich mir auch den Kopf zerbrochen habe, nur ist dabei leider nicht viel herausgekommen. Ich hätte mich mehr mit Bills Arbeit beschäftigen müssen, aber du kennst ihn, das wollte er auch nicht.« »Stimmt, Sheila. Nur ist das alles kein Grund, den Kopf hängen zu lassen oder ihn in den Sand zu stecken. Ich bin davon überzeugt, daß wir es schaffen werden. Und noch eines kommt hinzu: Wenn Bill wirklich felsenfest davon überzeugt gewesen wäre, das diese Recherchen lebensgefährlich sind, hätte er mich bestimmt eingeweiht. So verantwortungsbewußt ist er immer.« »Bist du davon überzeugt?« »Klar.« »Ich weniger.« »Spielt auch keine Rolle, Sheila. Wir beide werden versuchen, die Spur aufzunehmen.« Sie nickte. »Wie du meinst. Hoffentlich geht das nicht schief.« »Das wird es schon nicht, keine Sorge.« Ich drehte mich auf dem Stuhl, weil ich nach dem Kellner suchte. Der junge Mann lehnte im Vorderraum an der Theke und sprach mit einer jungen Frau, die ein hautenges, rotes, tief ausgeschnittenes Kleid trug. Der Knabe war so in den Anblick vertieft, daß er die Gäste vergessen hatte. Verständlich in seiner Lage, aber wir wollten zahlen. Ich ging deshalb zur Theke und klopfte ihm auf die Schulter. Er schrak zusammen und drehte sich um. »Ich hätte gern die Rechnung.« »Ja, sofort.« Sheila war schon aufgestanden. Sie kam auf mich zu, den leichten Wollmantel locker über den Arm gehängt. Auch ich war schon in meine Jacke geschlüpft. Die Perle im roten Kleid lehnte an der Theke und saugte ihr Glas durch einen Strohhalm leer. Mich bedachte sie mit keinem Blick. Vielleicht stand sie nur auf junge Männer mit schwarzen Haaren. Die Kasse hatte den Beleg inzwischen ausgespuckt. Ich zahlte und legte auch noch ein Trinkgeld hinzu. Dann gingen wir.
Ich hörte noch, wie die junge Frau fragte: »Was war das denn für ein Typ?« »Keine Ahnung, den habe ich hier zum erstenmal gesehen . . .« *** Goldman hatte noch den dumpfen Schrei des Reporters mitbekommen, danach war es still. Eine nahezu unnatürliche Ruhe lag über der Lichtung. Die drei Typen bewegten sich nicht. Schließlich drehte sich der Mann, der Bill niedergeschlagen hatte, um und ging auf Goldman zu. »Hat ja gut geklappt, nicht wahr?« »Ja, wie immer.« »Du arbeitest zum erstemal für uns. Wir haben dich auf eine Empfehlung hin genommen.« »Mancher hat eben einen guten Ruf.« »Dann zeige dich würdig.« »Wie meinst du das?« »Du kannst uns helfen, den Baum zur Seite zu schaffen.« »Gehört noch zum Service«, erklärte Goldman. Er grinste dabei, obwohl ihm nicht danach zumute war. Die anderen hatten recht, es war wunderbar gelaufen, und ihre geschwärzten Gesichter konnte er nicht identifizieren. Das hatte Gründe. So reagierten Menschen, die keine Zeugen haben wollten, und Goldman war auf der Hut. Er gratulierte sich auch selbst zu seinem neuen Sicherheitseinfall, denn darüber hatte er noch mit keinem anderen gesprochen. »Soll ich den Baum denn allein wegschieben?« »Nein, die zwei anderen helfen dir.« Die beiden Kumpane des Sprechers hatten im Hintergrund gewartet. Auf einen Wink hin traten sie näher. »Seht mal zu, daß das Ding wegkommt.« Die drei Männer bemühten sich. Auch Goldman gab sein Bestes. Er ärgerte sich über die sperrigen Zweige und Äste, die wie starre Arme in alle Richtungen zeigten. Die Männer zerrten den Baum über den schmalen Weg ins Unterholz. Dabei mobilisierten sie all ihre Kräfte. Goldman wischte die Hände an seiner Hose ab und drehte sich um. Bisher hatte immer nur ein Mann gesprochen, und der stand neben dem Bewußtlosen. Conolly lag starr auf dem Boden. Er hätte auch tot sein können. Vielleicht ist er es auch, dachte Goldman. »Kann ich jetzt verschwinden?« fragte er. »Sicher.« »Auch mit dem Wagen?« »So war es abgemacht.« Der Sprecher kam näher, und Goldman bewegte sich bereits auf den Corsa zu. »Was soll ich mit ihm machen?«
»Du kannst ihn in die Themse fahren, wenn du willst.« »Dazu ist er zu schade.« »Egal, nimm ihn.« »Okay.« Goldman grinste verzerrt. »Dann werde ich mal einsteigen.« »Tu das.« Goldman traute dem Frieden nicht. Es gab keinen sichtbaren Grund, alles war so gelaufen wie geplant und besprochen. Trotzdem konnte er das ungute Gefühl nicht vertreiben, und er war ein Mensch, der auf seine innere Stimme hörte. So etwas brauchte er bei seinem Job zwischen den Fronten. »Das Geld hast du?« Der Informant hatte bereits die Fahrertür geöffnet und hielt sich daran fest. »Ja, ich habe es.« »Dann ist die Sache erledigt.« Beide lächelten, und Goldman fragte sich, ob es einer von ihnen ernst meine. Er stieg in den Corsa, dessen Zündschlüssel steckte, wollte die Fahrertür zuziehen, als er merkte, daß sie sperrte. Er schaute nach rechts. Neben dem Wagen stand der Sprecher. Er hielt die Tür fest, hatte sich dabei leicht gebückt, so daß Goldman auch die rechte Hand sehen konnte. Die Mündung eines schallgedämpften Revolvers glotzte ihn an. Und er sah das Lächeln auf dem gefärbten Gesicht. »Bisher ist alles lautlos über die Bühne gegangen, und ich möchte jetzt auch keinen Krach. Nicht beim Sterben.« Goldman rührte sich nicht. Er hatte verstanden. Sein Gefühl hatte ihn getrogen. »Du willst mich killen?« »Ich muß.« »Warum?« »Spuren, mein Freund. Aber keine Angst. Es heißt so schön, daß Sterben nicht weh tut. Du wirst sogar im Wagen sterben, bekommst einen Sarg aus Blech und Glas.« »Ich werde . . .« Der Schuß fiel. Nein, es war kein richtiger Schuß, zumindest nicht mit der großen Lautstärke verbunden. Kein Knall echote durch den Wald, um sich zwischen den Bäumen zu verlieren. Doch während der Schuß fiel, hatte sich Goldman bewegt. Er war zur Seite gezuckt, eine instinktive Reaktion, und er spürte den Aufprall der Kugel wie einen harten Schlag gegen seine linke Schulter. Der Treffer hinterließ bei Goldman einen Schock. Er spürte nicht einmal den Schmerz, alles war plötzlich taub, aber Goldman sah seine Umgebung überdeutlich, als würde er durch ein Fernglas schauen.
Er hörte auch den widerwilligen, brummigen Laut des Schießers, der mit dem Treffer in die Schulter überhaupt nicht zufrieden war. Er senkte die schallgedämpfte Waffe, drehte sie noch etwas und visierte die Brust an. Wieder schoß er. Und wieder machte es nur »Plopp«. Das Geschoß traf Goldman in die Brust. Beim Einschlag zuckte er zusammen, und der Mörder war sicher, alles in die Wege geleitet zu haben. Er schlug die Fahrertür zu und drehte sich um. Seine beiden Kumpane warteten im Hintergrund. Einer lachte ihm entgegen. »Du wirst alt, früher hast du es mit einem Schuß geschafft.« Der Angesprochene richtete die Mündung auf den Sprecher. »Bei dir schaffe ich es auch mit einer Kugel.« »Schon gut, ist ja schon gut. . .« »Dann beeilt euch.« »Wieso? Sollen wir die Leiche . . .?« »Die erst später. Zunächst schaffen wir den Schnüffler weg. Danach kehren wir zurück und kümmern uns um die Leiche und den Wagen. Es wird alles so laufen wie vorgesehen.« »Faßt du mit an?« »Nur wenn einer von euch unter der großen Last zusammenbricht«, erklärte der Mörder und hatte den Satz dabei durch die Zähne gezischt. Damit war für ihn die Sache erledigt. Während seine Kumpane den bewußtlosen Bill Conolly anhoben, schaute der dritte Mann ins Leere. Gedanklich war er schon einige Schritte weiter, und das Lächeln auf seinen Lippen zeigte, daß es gute Gedanken waren . . . *** Schmerzen, Luftmangel, der Brustkorb war eingedrückt, und aus dem halb geöffneten Mund drang ein Stöhnen. Der linke Arm war noch vorhanden, aber er fühlte ihn nicht mehr. Wie ein abgestorbener Ast hing er an seiner Seite herab, und Taubheit reichte bis hinein in die Hand und dort bis zu den Fingerspitzen. Goldman hielt die Augen geschlossen. Durch den offenen Mund saugte er die Luft ein, und er spürte bei jedem Atemzug die Schmerzen. Sie tobten durch den Oberkörper, doch sie zeigten ihm, daß er noch lebte. Die zweite Kugel hatte ihn nicht getötet, seine Weste, seine große Sicherheit, hatte sich zum erstemal bezahlt gemacht. Es war eine dieser schußsicheren Westen, wie sie auch Polizisten bei Spezialeinsätzen trugen. Im Test hatte es immer gut ausgesehen, und in der Praxis hatte sie ihm tatsächlich das Leben gerettet. Sein »Mörder« ahnte das sicherlich nicht. Sein Mörder!
Diese beiden Begriffe schössen durch sein Gehirn. Der Killer war zu ihm gekommen, und der Killer rechnete damit, ihn auch erledigt zu haben. Er und seine Freunde aber mußten sich noch irgendwo in der Nähe aufhalten. Sie hatten noch einen anderen Mann wegzuschaffen, und Goldman drehte den Kopf. Er versuchte dabei, sowohl in den Innen- als auch in den Außenspiegel zu schauen. Er wollte wissen, ob sich in der Umgebung des Wagens noch etwas bewegte. Es war alles ruhig. Plötzlich mußte er lachen. Das Geräusch drang stoßweise aus seinem Mund. Natürlich war alles ruhig, denn sie hielten ihn ja für tot. Da aber hatten sie sich geirrt. Trotz aller Komplikationen hätte es für ihn besser nicht laufen können. Er saß in einem Fahrzeug, dessen Zündschlüssel steckte. Der Weg vor ihm war freigeräumt worden. Er brauchte den Wagen nur starten und wegzufahren. Konnte es besser laufen? Bestimmt nicht. Eine Kugel steckte in der Schulter. Lächerlich im Vergleich dazu, daß er noch lebte. Es war möglich, daß er sich eine Prellung an der Brust oder an den Rippen eingefangen hatte, doch das würde vergehen. Bevor er startete, drehte er den Kopf nach links, um sich die Schulter anzuschauen. In seiner Kleidung befand sich ein nasses Loch. Die Nässe stammte von seinem eigenen Blut, das aus der Wunde gesickert war. Er spürte auch, wie die Wunde zuckte, als wäre sie ein Maul, das sich immer wieder leicht zusammenzog und dann öffnete. Den Arm würde er nicht einsetzen können. Er mußte alles mit der rechten Hand machen. Lenken, das Schalten, den Blinker setzen, aber darüber würde er schon hinwegkommen, denn die Tatsache, noch am Leben zu sein, hatte ihm die nötige Kraft gegeben. Goldman wußte auch, wohin er zu fahren hatte. Nicht zu ihm nach Hause, nein, er hatte ein anderes Ziel. Es würde nicht lange dauern, dann hatten die drei Killer festgestellt, daß der Wagen mitsamt Inhalt verschwunden war. Sie würden sich auf die Suche machen, und sie würden ihn sicherlich finden, denn unsichtbar zu machen, das schaffte er sicherlich nicht. Goldman startete. Er mußte sich dabei bewegen, was Schmerzen durch seinen Oberkörper schießen ließ. Der Mann biß die Zähne zusammen. Du schaffst es! sagte er sich. Du schaffst es! Der Motor sprang an. Die erste Hürde war überwunden. Schweiß bedeckte Goldmans Gesicht und auch seinen Körper. Aber er biß die Zähne zusammen. Er mußte
durchhalten, nur eine halbe Stunde oder vielleicht etwas länger. Dann aber würde er es geschafft haben. Der Corsa fuhr an, und Goldman schrie auf. Der unebene Boden hatte den kleinen Wagen zum Schaukeln gebracht und den Schmerz durch Goldmans Körper schießen lassen. Sogar hinein bis in den Kopf, und wieder preßte er die Zähne zusammen. Weiter, nur weiter . . . Es klappte. Er ignorierte die Schmerzen. Je weiter er sich vom Platz des Geschehens entfernte, um so mehr wuchs sein Haß. Es waren drei Männer gewesen, er war nur allein, aber sie würden noch von ihm hören... *** Hinter der verlassenen Grillhütte waren die drei Männer im Wald verschwunden. Zu dieser Jahreszeit wo die Blätter als Laub auf dem Boden lagen, war der Platz zwischen den Bäumen lichter geworden, und sie konnten selbst in der Dunkelheit den schmalen Pfad erkennen, den sie gehen mußten, um das hinter dem Wald liegende Ziel zu erreichen. Ihren Friedhof, ihre Kulisse, die so immens wichtig für sie war. Urplötzlich blieben sie stehen, und der bewußtlose Bill wäre den beiden Trägern beinahe aus den Griffen gerutscht, denn alle drei zugleich hatten etwas gehört. Ein Geräusch! »Was war das?« Der Mörder gab keine Antwort. Er lauschte, das Geräusch blieb, klang dann anders und entfernte sich. »Hat sich angehört, als wäre jemand mit einem Wagen davongefahren«, sagte der Mann, der Bill Conollys Beine festhielt. »Ich weiß«, erwiderte der Schießer. »Deshalb werde ich auch jetzt zurückgehen und nachschauen.« »Können Tote denn Auto fahren?« »Halt dein Maul, verdammt!« »Schon gut.«. »Ihr wartet hier!« erklärte der Killer und machte sich auf den Weg. Er ging schnell, seine eigene Furcht trieb ihn voran. Immer wieder erinnerte er sich an die Szene. Verdammt noch mal, er hatte zweimal geschossen! Eine Kugel steckte in der Schulter des Hundesohns, die andere war ihm in die Brust gefahren. Und zwar in die Nähe des Herzens oder direkt hinein, und das bedeutete den Tod. Er hatte zwar nicht genau nachgeschaut, aber er war sich schon sicher, letztendlich gehörte er ja zu den perfekten Profis.
Oder war noch ein zweites Fahrzeug gekommen? Ausschließen konnte und wollte er nichts. Wer wußte denn, ob dieser Goldman nicht eine Sicherung eingebaut hatte? Der Killer war froh, als er die Grillhütte vor sich sah. Es waren nur noch wenige Meter, dann hatte er freie Sicht, und er lief auch an der rechten Seite der Hütte vorbei. Die Lichtung lag vor ihm, dann auch der Weg, wo der Corsa eigentlich hätte stehen müssen. Er stand nicht mehr da. Dafür blieb der Mörder stehen. Vor Zorn biß er seine Lippen blutig. Er hätte am liebsten seinen Haß und seine Enttäuschung herausgeschrien. Doch er beherrschte sich. Es brachte nichts, wenn er jetzt durchdrehte. Die Karten waren neu gemischt und anders verteilt worden, und es würde sicherlich Schwierigkeiten geben. Der Mörder nickte. »Gut,«wenn du es nicht anders haben wolltest, Goldman, ich mache das Spiel mit.« Die Worte klangen sicher. Doch so fühlte er sich beileibe nicht. Noch immer fragte er sich, wie es Goldman geschafft hatte, diesen Treffer ins Herz zu überleben? Letztendlich mußte sein Killer zugeben, daß er den Mann unterschätzt hatte . . . *** Man kann Glück und man kann Pech haben. Oft wechseln sie einander ab. Sheila und ich waren an der Reihe, Pech zu haben, denn durch einen verdammten Wasserrohrbruch kamen wir nicht mehr auf unserer Straße weiter, also blieb uns nur ein Umweg, den aber nahmen auch andere Autofahrer, und so gerieten wir bald in einen Stau. »Da kann man nichts machen!« Sheila drehte sich um. »Kannst du nicht wenden?« »Jetzt nicht mehr.« Ich hatte das helle Scheinwerferpaar hinter uns gesehen. Sheila schaute auf die Uhr. »Wie lange kann so ein Stau denn dauern, John?« »Keine Ahnung, aber haben wir es so eilig?« »Nein, das wohl nicht, aber ich bin innerlich unruhig. Ich will einfach nach Hause und versuchen, eine Spur zu finden. Das kannst du doch verstehen?« »Bestimmt.« Sheila nestelte an ihrer Handtasche. »Es ist ja möglich, daß Bill tatsächlich die eine oder andere Notiz hinterlassen hat, wenn er hinterher noch auf etwas zurückkommen will . . .« »Kann alles sein. Stell dir mal vor, Sheila, er ist schon wieder zu Hause.«
»Was?« Sie schaute mich aus großen Augen an. »Ich soll mir das vorstellen?« »Ja.« »Das glaube ich nicht.« »Ich im Prinzip auch nicht, aber es ist eine Möglichkeit.« »Dann ruf doch an.« »Mach du es.« »Gut.« Sie hielt den Hörer schon in der Hand, als ich sie fragte: »Wo steckt denn euer Sohn?« »Johnny und seine Klasse sind für einige Tage in irgendein Jugendhotel gefahren.« »Hat der es gut.« »Hoffentlich passiert da nichts. Erinnere dich mal vor Jahren, als die Brut hinter der Mauer lauerte.«* »Das weiß ich noch.« Sheila hatte die eigene Nummer getippt, wartete eine Weile ab, aber es meldete sich niemand. Selbst der Anrufbeantworter war nicht eingeschaltet. »Das hätte ich mir alles denken können«, gab sie zu und legte den Hörer wieder hin. Ich stieg aus, um zu sehen, was weiter vor mir ablief. Die uniformierten Kollegen hatten die Straße nicht mehr ganz abgesperrt, sondern inzwischen eine Lücke geschaffen, durch die sich die Fahrzeuge schieben konnten, um ihren Weg fortzusetzen. Es würde nur langsam vorangehen, aber es ging voran, und ich stieg wieder ein. »Was ist?« Ich winkte ab. »Es dauert nicht mehr lange.« Sheila nickte. »Ich bin nur froh, daß ich meinen Wagen zu Hause gelassen habe.« »Warum?« »Allein wäre ich zu sehr auf negative Gedanken gekommen. Ich kann es dir erklären, aber etwas ist in mir, das mich so schrecklich nervös und unruhig macht.« »Liegt es nur an Bill?« Sheila senkte für einen Moment den Kopf, bevor sie ihn schüttelte. »Nein, nicht nur, es liegt auch an mir. Ich fühle mich in der letzten Zeit nicht besonders. Woran es liegt, weiß ich nicht. Ich vermisse meine innerliche Zufriedenheit. Alles läuft bestens, alles ist okay, aber etwas stört mich.« »Wie macht sich das bemerkbar?« wollte ich wissen. »Tagsüber weniger, die Nächte sind schlimmer. Ich schlafe nicht mehr so tief und fest, werde oft wach, bleibe dann auch wach, wobei ich nur schwer wieder einschlafen kann. Dann drehen sich die Gedanken, und ich bekomme seltsamerweise Furcht. Ich weiß, du wirst mich auslachen, aber es ist halt so. Ich komme damit nicht zurecht, ich habe mich selbst ausgeschimpft und ausgelacht, denn es gibt ja keine Gründe. Wir führen
ein gutes Familienleben, und trotzdem sitzt da etwas tief in meinem Innern, das ich nicht begreife.« »Hast du schon einmal mit Bill darüber gesprochen?« »Nein, habe ich nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich zu feige bin, John. Ja, ich bin zu feige.« Sie nickte, um sich selbst zu bestätigen. »Das mag für dich alles verrückt klingen, aber es ist leider so.« »Nun, Sheila, ich bin kein Psychologe, aber du solltest dich schon etwas näher beobachten und auch mit Bill darüber reden.« »Das werde ich wohl auch machen«, versprach sie. »Aber da gibt es noch etwas.« »Und was?« »Die Angst!« »Nicht nur die Unruhe?« »Nein, die Angst davor, daß etwas . . .« Sie schüttelte den Kopf und fing plötzlich an zu weinen. »John, eine Angst vor nichts, die aber trotzdem vorhanden ist.« »Nicht vor dir selbst.« »Nein«, flüsterte sie. »Ich habe Angst um Bill, um Johnny, um meine Familie eben.« »Die hattest du doch schon früher.« »Ja, das stimmt«, gab sie zu, suchte dabei in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und fand es auch. »Aber das hat sich in der letzten Zeit verstärkt.« »Gab es denn einen Grund, ein Motiv? Ist etwas bei euch vorgefallen?« »Nein, überhaupt nicht.« »Eine Krise?« Sheila schneuzte ihre Nase. »Ja, eine Krise. So wird es wohl gewesen sein, John.« Sie lehnte den Kopf gegen meine Schultern. »Eine Krise, die aus dem Nichts gekommen ist.« »Tja, Sheila, das kann ich nicht Unterstreichen. Ich will auch nicht belehrend sein, aber jede Krise hat irgendwo ihren Ursprung, denke ich mal.« »Bestimmt.« »Darüber solltest du nachdenken. Zusammen mit Bill natürlich. Gemeinsam erreicht ihr bestimmt eine Lösung. Wenn nicht, dann . . .« " »Keine Therapie, bitte.« Ich lächelte. »Es wäre auch das letzte, was ich vorschlagen würde. Ich habe nur gemeint, daß ich vielleicht dabeisein kann. Oft sieht man als dritte Person mehr als diejenigen, die direkt von einer Sache betroffen sind.« »Ich werde darauf zurückkommen.« Sie setzte sich wieder normal hin und tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
Es ging auch allmählich weiter. Ich sah, wie sich der vierte Wagen vor uns in Bewegung setzte und langsam an den Neugierigen auf den Gehsteigen vorbeirollte. Obwohl es nichts zu sehen gab, hatten sich einige Menschen versammelt, anstatt in ihren Wohnungen zu bleiben und in die Glotze zu schauen oder sonst etwas zu machen. Ich lächelte Sheila von der Seite her zu. »Keine Sorge, Mädchen, da wird schon alles gutgehen.« »Wenn du meinst. . .« »Klar, wir haben bisher alles im Griff.« Sie stöhnte und lachte auf. »Ich wollte, ich könnte ebenso denken wie du.« »Versuche es.« »Ich werde mich bemühen.« Der Wagen vor uns setzte sich in Bewegung. Auch für mich wurde es Zeit. Ich startete den Motor und fuhr los. Was Sheila mir da gesagt hatte, beunruhigte mich schon. Ich dachte auch über die Gründe nach und mußte zugeben, daß sie und ihre Familie zwar äußerlich ein normales Leben führten, aber im Laufe der Jahre schon einiges mitgemacht hatten. Bei einem sensiblen Menschen blieb das auch in der Seele hängen. Vielleicht war das alles für Sheila zuviel gewesen, vielleicht reagierte sie deshalb so überzogen, ohne es allerdings aus eigener Kraft ändern zu können. Glücklicherweise brauchten wir nicht mehr weit zu fahren. Das Haus der Conollys befand sich in der Nähe. An der nächsten Kreuzung würden wir in den ruhigen Teil der Wohnanlage hineinfahren, wo nur Einfamilienhäuser standen. Wer hier lebte, zählte nicht zu den armen Menschen. Auch den Conollys ging es finanziell relativ gut, ohne daß es ihnen zu Kopf gestiegen war. Sheila reckte sich und schüttelte den Kopf. »Möglicherweise mache ich mir auch zu viele Gedanken, John.« »Bestimmt.« »Sollten wir etwas finden, was wirst du dann tun?« »Der Spur nachgehen.« »Heute noch?« »Darauf kannst du dich verlassen. Bill ist mein Freund. Da schlage ich mir doch gern so manche Nacht um die Ohren, und ich werde Suko mitnehmen.« »Das beruhigt mich.« »Auch der Wagen dort?« »Welcher Wagen?« »Da, an eurem Haus. An der Einfahrt. Er steht dort quer, weil das Tor verschlossen ist. Und der Fahrer hat nicht zurückgesetzt, so blockiert er den Gehsteig.« Ich schaltete das Fernlicht ein, damit Sheila alles besser sehen konnte.
Sie starrte hin, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Das ist wohl nicht Bill. Der fährt so einen Wagen nicht.« »Hattest du nicht von einem Leihwagen gesprochen?« »Stimmt ja.« Sie war plötzlich wieder aufgeregt. Es kann doch sein, daß es Bill ist. Wenn ja, warum wartet er dann auf diese Art und Weise?« Ihre Stimme zitterte plötzlich, und Sheila warf mir einen ängstlichen Blick zu. »Das werden wir noch herausfinden.« Ich schaltete das Fernlicht wieder aus und ging auch mit der Geschwindigkeit herunter. Wir schlichen uns förmlich an das andere Fahrzeug heran. Mein Rover stand noch nicht ganz, da war Sheila schon aus dem Wagen. Sie lief auf den Corsa zu, wobei ihre Hand zum Türgriff zuckte, doch sie öffnete die Tür nicht, bückte sich statt dessen, um einen Blick ins Fahrzeug zu werfen. Als ich sie erreichte, richtete sie sich wieder auf. »Es ist nicht Bill!« In ihrer Stimme schwang Erleichterung mit. »Ich kenne den Mann nicht. Er rührt sich auch nicht, John . . .« Die Stimme versickerte. »Der sieht aus wie tot.« »Moment, das werden wir gleich haben.« Ich schob Sheila sanft zur Seite, um die rechte Tür öffnen zu können. Es ging ganz leicht, doch der Schreck durchfuhr mich im nächsten Augenblick. Der Fahrer war nicht angeschnallt gewesen. Er lastete mit seinem Gewicht auf der Tür und kippte mir beim Öffnen entgegen . . . *** Das Erwachen war - wie immer nach derartigen Niederschlägen - brutal. Der Reporter hatte den Eindruck, als sollte sein Hals zerrissen und ihm der Kopf gesprengt werden. Auf seinen Augen lastete ein Druck, als bestünden die Lider aus Eisen. Es war ihm zunächst nicht möglich, sie zu bewegen, und so blieb er still liegen. Man hatte ihn auf den Rücken gelegt. Der steinige Boden war kalt und Bill fror. Er bewegte sich nicht. Er tat zunächst das, was wichtig war. Er versuchte zu rekapitulieren, was ihm widerfahren war. Deshalb kramte er in der Erinnerung. Es war einiges schiefgegangen. Bildfragmente huschten wie Filmschnipsel durch seinen Kopf. Er sah die Dunkelheit, er sah einen schattigen Wald, er sah eine Lichtung, ein Auto, er sah Gesichter. Eines schälte sich deutlich hervor. Ein Gesicht mit Bart, ein Mann, der ihn an diesen einsamen Treffpunkt bestellt hatte, und Bill grübelte über den Namen des Mannes nach, der ihm zunächst nicht einfallen wollte.
Nach einer Weile riß die Blockade. Er wußte jetzt, mit wem er es zu tun gehabt hatte. Der Mann hieß Goldman! Ja, das war sein Name gewesen, und er hatte ihm etwas berichten wollen. Aber was? Bill war noch zu down, als daß ihm der Name eingefallen wäre. Aber er sah plötzlich drei Gestalten mit geschwärzten Gesicherten, die ihm die Falle gestellt hatten. Er sah sich am Boden liegen, dann hatte er den Schlag bekommen und mußte weggeschafft worden sein, denn unter freiem Himmel war er nicht erwacht, das wußte er genau. Aber wo bin ich dann? Es war nur eine schlichte Frage, die sich in seinem Kopf ausbreitete, aber sie beschäftigte ihn so stark, daß er sich plötzlich fürchtete und diese absolute Dunkelheit ihm vorkam wie Wände, die langsam auf ihn zurückten, um ihn zu zerquetschen. Bill hörte den eigenen Herzschlag überlaut. Sein Gesicht mußte rot angelaufen sein. Er hatte den Eindruck, es würde brennen, während gleichzeitig er im Rücken fror. Seine Kopfschmerzen blieben. Sie waren wie eine böse Warnung zu verstehen, die besagte, daß er sich um Himmels willen nicht übernehmen sollte. Er mußte nur ruhig bleiben, er durfte auf keinen Fall gewisse Dinge überstürzen. Dieser Schlag hatte ihn hart erwischt, und er konnte sich durchaus eine Gehirnerschütterung eingefangen haben. Natürlich machte sich Bill Vorwürfe. Schließlich war er durch seine eigene Dummheit in diese Lage hineingeraten, aber niemand konnte in die Zukunft sehen. Er hatte diesem Goldman vertraut, der etwas von den Grabkriechern berichtet hatte, auf dessen Spuren sich Bill schon seit gut einer Woche befunden hatte. Jetzt war er möglicherweise am Ziel. Nur konnte er damit nichts mehr anfangen. Er wußte ja nicht mal, wo sie ihn hingeschafft hatten, denn um ihn herum lag die Dunkelheit dicht wie schwarze Watte. Es brachte nichts, wenn er auf dem Rücken liegenblieb und darauf wartete, daß sich etwas tat. Auch wenn es ihm nicht besonders ging, er wollte die Dinge selbst in die Hand nehmen und zumindest nach einem Ausweg suchen. Die Augen hielt er halb geöffnet. Zwar drückten die Lider noch immer, das mußte er eben akzeptieren, und die rechte Hand ließ er über seinen Körper gleiten, dorthin, wo die Pistole steckte. Gesteckt hatte, denn sie war verschwunden. Die anderen hatten sie ihm abgenommen. Mist, dachte er, verzog die Lippen zu einem kantigen Grinsen, als er damit begann, sich langsam in die Höhe zu schieben. Bill wollte sich hinsetzen. Wenn das geschafft war, hatte er die zweite Stufe seines Planes erreicht.
Es klappte, auch wenn durch die Bewegung die Schmerzen in seinem Kopf für eine Weile zunahmen. Mit durchgedrücktem Rücken blieb er sitzen. Seine Kleidung hatte man ihm gelassen, und Bill ließ die Hand in die rechte Jackentasche gleiten, denn dort befand sich ein wichtiger Gegenstand, sein Feuerzeug. Er holte es hervor und ärgerte sich darüber, daß seine Hände plötzlich zitterten. Nach einigen Sekunden hatte er sich so weit beruhigt, daß er das Feuerzeug anschnicken konnte. Die Flamme stand wie eine leuchtende Insel in der Dunkelheit. Ein Kreis entstand inmitten der Luft und hatte sich so weit ausgebreitet, daß er auch die Wände und die Decke berührte, wo er helle Schatten hinterließ. Im Sitzen schaute sich der Reporter um. Viel konnte er nicht erkennen, aber was er sah, das reichte ihm aus. Er hockte in einem fensterlosen Raum oder in einer viereckigen Höhle, umgeben von dicken Wänden und einer ebenso dicken Decke. Eine Tür sah er nicht, es gab auch keine Einrichtungsgegenstände, das hier war ein Loch, eine Gruft, ein Grab . . . Bills Gedanken stockten. Grab? Genau das war es. Er hockte in einem großen Grab oder in einer Gruft. Man hatte ihn hergebracht, und er dachte daran, daß die Gräbkriecher auch mit einem Friedhof zu tun hatten. Es war da von einem Friedhof die Rede gewesen, der allerdings nicht mehr benutzt wurde, sondern mehr als Kulisse gedient hatte. Ein Friedhof mit Gräbern . . . Und er befand sich in einem davon. Bill hatte die Flamme wieder gelöscht, das Feuerzeug weggesteckt und stützte sich mit der rechten Hand ab, um auf die Füße zu gelangen. Die Decke lag so hoch, daß er sich normal hinstellen konnte, ohne mit den Haaren darüber hinwegzuschleifen. Bill taten die Knochen weh. Er bewegte sich wie ein alter Mann, aber er wollte nicht aufgeben. Er stand unsicher auf seinen Füßen, kämpfte gegen die Schmerzen an und versuchte, sich auf die neue Lage einzustellen. Sein Atem floß keuchend und pfeifend aus dem Mund. Erst jetzt merkte er, wie schlecht und mies die Luft letztendlich war. Sie schmeckte alt und verbraucht, sie roch auch nach Moder, als lägen irgendwelche Leichenteile in einer Decke, die allmählich verwesten. Aber er hatte nichts gesehen. Bill dachte nach. Jemand hatte ihn in diese Gruft hineingeschafft, und es mußte demnach einen Eingang geben, das sagte ihm allein die Logik. Nur mußte er diesen erst finden. Bill Conolly »marschierte« ein paar Schritte und hielt dabei die Arme ausgestreckt. Schon bald spürte er die rauhen Steine einer Wand unter
seinen Handflächen. Er tastete sich weiter, gab dabei mehr Druck, weil er nach einer Stelle suchte, wo sich möglicherweise ein Kontakt befand, durch den sich eine Stelle an der Wand oder der Decke öffnete und ihm den Weg in die Freiheit erlaubte. Es war nichts da. Bill war enttäuscht. Hin und wieder holte er das Feuerzeug hervor. Im Schein der Flamme orientierte er sich, doch nichts in seinem unterirdischen Gefängnis hatte sich verändert. Und doch gab es einen Fortschritt. Bill stand plötzlich starr, als er das Geräusch über seinem Kopf hörte. Ein leises Schnarren und Kratzen, das er sich bestimmt nicht einbildete. Bill ließ das Feuerzeug rasch verschwinden. Er wollte sich durch nichts ablenken lassen, denn dieses neue Geräusch würde für ihn sehr wichtig werden. Er wartete. Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt und hielt den Blick nach oben gerichtet. Obwohl er noch nichts sah, hielt er die Augen weit offen und hatte sich sicherheitshalber ein paar Schritte zurückbewegt und mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Warten, die Schmerzen vergessen, dafür wuchs die Spannung in seinem Innern. Bill wußte nicht, wer oder was ihn erwartete. Er machte sich schon seine Gedanken, die sich natürlich um die drei Gestalten drehten, die ihn überwältigt hatten. Sie würden ihn auch holen . . . Und dann? Was geschah dann? Seine Gedanken wurden durch das wiederholte Knirschen an der Decke unterbrochen. Bill konnte nichts' sehen, aber er hatte den Eindruck, als würde sich dort etwas bewegen. Es war eine Ahnung, die ihn befallen hatte. Er richtete seinen Blick in die Höhe, schmeckte Staub und sah plötzlich einen hellen Lichtstreifen durch einen breiten Spalt fallen. Dann tauchte das Gesicht einer Frau in dem Spalt auf! *** Ich war in das kleine Gästebad gegangen und wusch mir dort das Blut von den Händen. Beinahe versonnen schaute ich dem rosig gefärbten Wasser nach, das gurgelnd im Ausfluß verschwand und sich dabei drehte. Es war nicht mein Blut, das ich wusch, sondern das Blut des Mannes, der angeschossen im Wagen gesessen hatte. Wir hatten ihn ins Haus geschafft, wollten ihm helfen, doch er wollte weder einen Arzt noch die Polizei sehen. Er hieß Percy Goldman, den Namen hatte er uns wenigstens gesagt.
Weder Shao noch ich hatten diesen Namen jemals gehört. Wahrscheinlich kannte ihn Bill, aber so weit waren wir noch nicht. Während ich mir die Hände abtrocknete, dachte ich darüber nach, daß Goldman auf jeden Fall in die Hände eines Arztes gelangen mußte, denn eine Kugel in die Schulter war gefährlich. Das Blei mußte herausoperiert werden, es durfte nicht zu einem Wundbrand kommen, und leichtes Fieber schien der Verletzte schon zu haben. Als meine Hände trocken waren, ging ich zu einem der Gästezimmer des Hauses. Sheila hatte überall das Licht eingeschaltet, auch die Außenleuchten brannten. Sie erklärte mir, daß sie sich so wohler fühlte, was ich verstehen konnte. Ich befand mich bereits im Keller und brauchte nur zwei Türen weiter zu gehen. Als ich den Raum betrat, trank der Mann soeben Wasser. Sheila saß neben dem Bett auf einem Stuhl, sie war unruhig, auch wenn sie sich äußerlich kaum bewegte. Ihr Blick aber sagte etwas anderes. Sie hatte Goldman eine Schlinge angelegt, damit der Arm ruhig gestellt würde. Der Verletzte trug noch immer seine Stoffmütze#. Das Gesicht wirkte eingefallen, der* dunkle Bart umgab das Kinn wie Gestrüpp. Die Augen glänzten fiebrig, und wir hatte auch seine schußsichere Weste gesehen und die Delle darin, genau in Herzhöhe. Diese Kugel hätte Percy Goldman sofort getötet. Sheila nahm ihm das leere Glas ab. Ich holte einen zweiten Stuhl und setzte mich ebenfalls. »Hat er schon etwas gesagt?« fragte ich Sheila. »Nein, kaum.« Ich schaute Goldman an. Er machte auf mich einen erschöpften Eindruck. Sein Gesicht war mehr als blaß, und Schweißperlen verteilten sich dort wie kleine Tropfen. »Können Sie sprechen?« fragte ich ihn. Goldman wartete einen Moment, bevor er mir den Kopf zudrehte. »Es muß ja gehen«, flüsterte er. »Ich habe es so gewollt. Ich bin extra zu Bill Conolly gefahren, um mit ihm . . .« Seine Stimme sackte ab. »Ich kenne Bill, aber nicht Sie.« »Ich bin ein Freund.« »Ach ja . . .« »Mein Name ist John Sinclair.« Der Mann schloß für einen Moment die Augen. »Verdammt, der Bulle, der Freund, der Geisterjäger!« brach es aus ihm hervor. »Ich wollte doch keine Polizei.« Er erhielt von mir die entsprechende Antwort. »Wenn Sie mich schon kennen, werden Sie auch wissen, daß ich zwar Polizist bin, mich aber
um bestimmte Fälle kümmere und weder etwas mit der Mordkommission noch mit der Metropolitan Police zu tun habe.« Goldman öffnete wieder die Augen. Sein Mund war verzerrt, sicherlich wegen der Schmerzen in seiner Schulter. »Ja, ich weiß, aber trotzdem, Mister.« »Hier geht es nicht um Sie und schon gar nicht um mich, sondern um Bill Conolly!« machte ich ihm klar. »Sie, Mr. Goldman, sind es gewesen, der zu diesem Haus fuhr. Also wollten Sie hier auch etwas - und sicherlich nicht einbrechen.« »Nein das bestimmt nicht.« Er schluckte nervös. »Ich wollte mit Mrs. Conolly reden.« »Worüber?« fragte Sheila. »Über Ihren Mann.« »Den Sie kennen und dem Sie einen Tip gegeben haben, denke ich, denn Bill hat von einem Informanten gesprochen, aber seinen Namen mir gegenüber nicht erwähnt. Ich glaube fest daran, daß Sie dieser Informant waren.« »Das ist wahr.« Ich mischte mich wieder ein. »So, und jetzt berichten Sie, um was es überhaupt ging. Wenn ich Sie mir so betrachte, Goldman, muß mir einfach der Verdacht kommen, daß man Sie reingelegt hat. Ja, Sie sind reingelegt worden.« Der Verletzte verdrehte die Augen. Wahrscheinlich wollte er mich bestätigen. »Wie ist mein Mann überhaupt auf Sie gekommen?« wollte Sheila wissen. »Gehören Sie zu seinem weiteren Bekanntenkreis?« Goldman hustete. »Das kann man so sagen«, murmelte er. »Ich bin jemand, der Informationen verkauft. Unter anderem auch an Zeitungen, aber nicht nur daran.« »Nachrichtenhändler?« fragte ich. »Im kleinen, nur im kleinen«, bestätigte er. »Mehr ist nicht drin. Ich treibe mich herum, ich halte die Augen und die Ohren offen, und ich habe auch von diesem seltsamen Friedhof erfahren, der nicht mehr benutzt wird, aber trotzdem bewohnt ist, auf irgendeine Art und Weise. Und zwar von Grabkriechern.« Wir schwiegen. Ich blieb unbeweglich sitzen, während Sheila die Hand vor ihren Mund gepreßt hielt. Darüber sah ich ihre Augen größer werden. Sie ließ die Hand auch wieder sinken und flüsterte »Grabkriecher?« »Ja, so werden sie genannt.« »Wen nennt man so?« fragte ich. »Die Männer.« »Okay, wieviele sind es, was tun sie?« »Drei.« »Und weiter?«
»Sie haben ihr Versteck auf einem alten Friedhof gesucht. Er ist ein Prachtstück, denn früher diente er als Filmkulisse für Gruselstreifen. Einiges ist echt, anderes wurde nachgebaut, und da haben sich die Grabkriecher verkrochen.« Die Rede hatte den Mann angestrengt, auf seiner Stirn hatte sich der Schweiß verdickt, und mit dem Rücken der freien Hand wischte er ihn ab. »Diese Grabkriecher sind normale Menschen - oder?« hakte ich nach. Meine Frage hatte ihn aus der Lethargie gerissen. »Verdammt, was sollen sie sonst sein?« »Es könnten Gestalten sein, mit denen unser Verstand nicht mehr zurechtkommt«, antwortete ich ausweichend. »Nein, normale Menschen.« »Die Sie kennen, Goldman?« »Nicht direkt.« »Was soll das heißen?« »Fragen Sie mich nicht. Ich bin nur durch Zufall darauf gestoßen. Ich habe erfahren, daß sich die Grabkriecher auf dem Friedhof bewegen, weil sie das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Sie müssen dort etwas versteckt haben.« »Und das haben Sie herausgefunden?« »So ähnlich.« »Wie - so ähnlich?« »Ich wußte nicht, was es genau war. Es ist auch verborgen, versteckt in den Gräbern, und es wird von jemandem bewacht, der unheimlich ist. So jedenfalls sagt man.« »Ein unheimlicher Bewacher?« » Richtig.« »Und was hat Bill Conolly damit zu tun gehabt?« »Ist doch ganz einfach«, flüsterte der Verletzte. »Conolly ist Reporter, er ist immer heiß auf Neuigkeiten. Auf so etwas springt er doch an, verdammt.« »Ja, das hat mein Mann getan«, flüsterte Sheila. »Und dann haben Sie ihn in eine Falle gelockt.« Sie kochte vor Wut. Ihr Gesicht war rot angelaufen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Sie, Mr. Goldman haben es nicht verdient, daß wir uns um Sie kümmern.« »He, hören Sie! Ich hätte auch direkt zu einem Arzt fahren können, aber ich bin zu Ihnen gekommen, weil Ihr Mann und ich reingelegt worden sind. Die anderen haben etwas bemerkt. Sie wußten plötzlich Bescheid, haben mir und Ihrem Mann eine Falle gestellt. Er wurde niedergeschlagen, mich aber wollten sie erschießen, und hätte ich nicht meine schußsichere Weste getragen, wäre ich jetzt irgendwo zwischen Himmel und Hölle . . .« »Ihre Worte besagen nicht, daß mein Mann noch lebt«, erklärte Sheila.
»Nun ja, sie hätten ihn ja gleich abknallen können. Das aber haben sie wohl nicht getan.« Sheila schaute mich an und fragte: »Was sagst du denn dazu? Bist du auch der Meinung?« »Ja, und das meine ich ehrlich. Ich gehe mal davon aus, daß sie Bill am Leben gehalten haben und noch etwas mit ihm vorhaben, aber das werde ich herausfinden.« Mit einer ruckhaften Bewegung drehte ich mich wieder dem Verletzten zu. »So, Meister, Sie werden uns jetzt erklären, wo dieser Friedhof genau liegt und wie ich dorthin gelange.« »Wollen Sie das wirklich?« »Ja, denn ich liebe Grabkriecher.« Er dachte nach. Sheila hatte etwas zu schreiben geholt und einen dünnen Block. Unter der ersten Seite lag sogar noch Kohlepapier, richtig schön altmodisch, aber wirkungsvoll, so hatten wir direkt einen Durchschlag. Percy Goldman fing an zu sprechen. Er redete mit ruhiger Stimme, weil er sich so stark konzentrierte. Er sprach davon, daß der Friedhof westlich von London lag und etwas südlich von Windsor. Ich schrieb alles auf und auch, daß dieses Ziel am besten durch den Wald jenseits der Grillhütte zu erreichen war. »Okay«, sagte ich dann, »ich hoffe, Sie haben sich nicht geirrt.« »Bestimmt nicht.« »Und Sie sind sicher, daß mich nicht mehr als drei Grabkriecher erwarten?« »Ja, und dieser andere.« »Der Aufpasser.« Er nickte. »Namen wissen Sie nicht?« »Nein.« Ich glaubte ihm. In seiner Lage hätte er alles gesagt, aber trotzdem hatte ich den Eindruck, daß er uns etwas verschwiegen hatte. Ich wollte nicht nachfragen, zudem drängte die Zeit. Ich gab Sheila ein Zeichen. Gemeinsam verließen wir das Zimmer und blieben im Kellerflur stehen. »Was jetzt, John?« »Ganz einfach. Ich werde Suko nicht anrufen . . .« »Warum nicht?« fragte sie schnell. »Das wirst du übernehmen.« Ich deutete auf die Durchschrift in ihrer Hand. »Erkläre ihm den Weg, sag ihm auch, was los ist, auch, daß er vorsichtig sein soll.« Sheila nickte. »Mach ich. Und was ist mit unserem Freund dort drinnen?« »Er muß in ein Krankenhaus.« »Ja, da rufe ich auch an.« Sie schaute mich aus Augen an, in denen sich Verzweiflung und Hoffnung paarten. »Bitte, John, sei du auch vorsichtig.« »Darauf kannst du dich verlassen, und ich hole Bill zurück, wobei ich ihn dir „dann vor die Haustüre stelle!« fügte ich noch mit einem Grinsen auf den Lippen hinzu.
Sicher war ich mir aber nicht. *** Das Gesicht war da gewesen, Bill hatte es gesehen, aber es hatte sich auch blitzartig wieder zurückgezogen, und der Reporter blieb allein zurück in der Finsternis. Hatte er nur geträumt? Bestimmt nicht, denn etwas war zurückgeblieben. Ein stinkender Schleier, ein Geruch nach Moder, verfaultem Fleisch, Verwesung, wie auch immer. Das war kein Traum. Es war geblieben, zurückgeblieben durch sie. Zwar hatte es schon zuvor nicht gut gerochen, aber dieser Restgestank raubte ihm fast den Atem. Sollte tatsächlich diese Frau den Gestank abgegeben haben? Es gab keine andere Möglichkeit. Nur entdeckte Bill in ihrem Erscheinen auch einen Vorteil. Er wußte jetzt, wie er sein verdammtes Loch verlassen konnte. Die Luke war in die Decke integriert, und sie lag nicht so hoch, als daß er sie nicht hätte erreichen können. Dennoch ging ihm der Anblick des Gesichts nicht aus dem Kopf. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte die Frau blonde Haare gehabt, ein gar nicht mal schlimmes Gesicht. Nicht aufgequollen, nicht durch Schleim gezeichnet, wie es denn bei einem Ghoul der Fall war. Aber der typische Leichengestank eines Ghouls war gewissermaßen als ihr Erbe zurückgeblieben, und den konnte der Reporter nicht wegdiskutieren. Wie schwer war die Klappe? Bill fühlte sich nicht besonders in Form. Er würde Schwierigkeiten bekommen, sie anzuheben. Die Schmerzen in seinem Kopf waren geblieben. Durch die Anstrengungen würden sie sich noch verstärken. Bill sah trotzdem nur diese eine Chance. Er hatte sich sehr genau gemerkt, wo er den Druck ansetzten mußte und hoffte, daß auf die Luke kein schwerer Gegenstand gelegt worden war. Noch einmal erinnerte er sich an den verbissenen Gesichtsausdruck der Frau, doch nichts hatte darauf hingewiesen, daß diese Person zu den Ghouls zählte, bis auf den Geruch. Es konnte auch sein, daß die Unbekannte diesen Geruch mit sich herumschleppte und selbst nicht zu dieser schrecklichen Dämonenabart zählte, vor der man sich nur fürchten konnte. Bill drückte seine Arme hoch. Mit den Händen stütze er sich ab. Das Gestein war rauh und feucht, und es bestand die Gefahr, abzurutschen. Daran aber wollte er nicht denken, denn er mußte raus aus diesem feuchten Loch. »Dann los!«
Er hatte sich selbst den Befehl gegeben. Seine Armmuskeln zuckten, er stöhnte auf, die Kraft seiner Arme übertrug sich auf das Gestein. Er hoffte, die richtige Stelle erwischt zu haben. Knirschte es? Bill machte weiter. Etwas bewegte sich über ihm, aber es war noch nicht der richtige Griff oder Druck gewesen, denn die Platte kantete nicht in die Höhe. Bill ließ seine Hände wandern. Dabei probierte er es immer wieder. Er mußte die Stelle finden, wo er ansetzen konnte. Sein Atem drang schwer und unregelmäßig aus dem Mund. Hinzu kam die steife Haltung, auch die Kopfschmerzen waren nicht verschwunden, aber er machte weiter und hatte dann Glück, genau die richtige Stelle zu entdecken, wo- er den Druck ansetzen mußte. Diesmal bildete sich Bill das Knirschen nicht ein. Außerdem rieselten Staub und winzige Steine auf den Körper des Reporters nieder. Er drückte die Arme noch weiter hoch und damit auch die Platte. Ein Spalt entstand! Frische Luft drang ihm entgegen, das spornte ihn an, und er verdoppelte die Anstrengungen, auch wenn er dabei den Eindruck bekam, sein Kopf würde explodieren. So stark hatten sich seine Bemühungen auf die Schmerzen ausgewirkt. Es klappte. Der Stein, die Platte, was immer da die Gruft bedeckt hatte, konnte von Bill nicht nur hoch, sondern auch zur Seite geschoben werden. Geschafft! Bill wäre am liebsten auf die Knie gesunken, um sich zu erholen, aber er wollte raus und schaute in die Höhe, um festzustellen, wie er dies am besten anpackte. Durch die Lücke konnte er den Himmel sehen und lächelte verzerrt, als er die wolkige Kulisse über sich entdeckte. Ein Himmel ohne Sterne, ein Himmel mit Wolken, aber einer, der noch vorhanden war und ihm von der Freiheit berichtete, die er bald erleben würde. In seiner Brust hämmerte das Herz. Jeder Schlag war wie ein Echo in seinem Hirn, brachte Schmerzen zurück, aber Bill war ein knochenharter Typ und so leicht durch nichts zu erschüttern. Er hatte schon einiges hinter sich und würde sich auch vor dem Herauskriechen aus dieser Gruft nicht bange machen lassen. Die Lücke war groß genug, um den Oberkörper hindurchzwängen zu können. Der Reporter dachte daran, daß er in die Oberwelt eines ungewöhnlichen Friedhofs klettern würde, eines Geländes, das aus alt und neu bestand. Die Filmemacher hatten den Friedhof nach ihren Wünschen umgestaltet, so konnte vieles echt sein und manches unecht. Bill stemmte sich hoch. Wenn jetzt jemand erschien, wo er dabei war, aus der Gruft zu klettern, war er wehrlos.
Er dachte an alles, und seine Kehle verengte sich, als er sich mit einem derartigen Gedanken beschäftigte. Nur trat das nicht ein. Es war wunderbar, es lief glatt und sicher, als gäbe es keinen einzigen Feind in der Nähe. Bill drehte sich über den Rand, zog die Beine an, stieß sich so ab und krabbelte wirklich auf dem Bauch ein Stück voran, nur weg von diesem Loch. Irgendwo hat jeder Mensch eine Grenze. So erging es auch dem guten Bill. Er merkte sehr bald, daß er sich übernommen hatte und nicht mehr konnte. Für seine Befreiung zahlte er jetzt den entsprechenden Tribut. Bill konnte einfach nicht mehr. Es war ihm egal, wo er sich befand, er mußte liegenbleiben und Atem schöpfen, zur Ruhe kommen, wieder zu sich selbst finden, erst dann ging es weiter. Aber er war frei! Dieser Gedanke putschte ihn auf. Frei zu sein, bedeutete die halbe Miete. Und wie es schien, befand sich niemand in der Nähe, der ihn hätte gefangennehmen wollen. Diese Freiheit mußte er auskosten, am besten sofort, sich Ruhe gönnen. Er wälzte sich auf den Rücken, blieb wieder still liegen und hatte jetzt den Atem einigermaßen unter Kontrolle bekommen. Der Druck auf seiner Brust wurde schwächer. Er war beim Hochklettern mit der Brust über die Kante geschabt. Das Stechen im Hals und im Kopf blieb jedoch. Hinzu kam sein Durst. Bill drehte den Kopf. Er konnte nicht ausspeien, denn Speichel gab es kaum. Es lag auch daran, daß er durch den offenen Mund atmete. Noch immer starrte er zum Himmel und beobachtete den Mond, der zwischen den Wolken hervorschaute. Der Mond - Vollmond! Kraftspender für alles Schwarzmagische. Freund der Vampire und Wer-wölfe, ein bleiches Ungeheuer, dessen blasses Silberlicht eine Umgebung verzaubern, aber auch unheimlich machen konnte. Es kam eben immer auf die Umgebung an. Hier sorgte das Mondlicht für den gespenstischen Touch. Im Liegen konnte Bill nicht viel sehen, hier und da einen Grabstein, einen Busch, das hohe Gras, aber die Kulisse war schon passend, denn die Dunkelheit war gewichen. Steine und Gräser waren in ein grünliches Licht getaucht worden. Bill fühlte sich in seiner Rückenlage alles andere als wohl. Er mußte endlich wieder hoch. Wenn er auf dem Boden lag, dann kam er sich jedesmal wie ein Verlierer vor. Und so drückte er sich langsam in die Höhe, stemmte sich dabei mit einer Hand ab, war froh, als er schließlich saß und auch nicht den Schwindel bekam, mit dem er gerechnet hatte. Du bist okay, alter Junge, sagte er sich. Du bist okay. Du wirst dich schon durchkämpfen. Er streckte die Arme und Füße entgegen und atmete wieder tief durch.
Die Gymnastik tat gut, sie entspannte und lockerte. Mit Bills Befreiung war der Fall noch nicht beendet, im Gegenteil, er würde jetzt erst richtig anfangen. Noch immer sitzend, schaute sich Bill um. Er war mittlerweile auch davon überzeugt, daß er keine Gehirnerschütterung zurückbehalten hatte, denn übel war ihm nicht. Er drehte sich langsam nach rechts und kam wieder auf die Beine. Nicht sehr schnell, auch nicht geschmeidig, Bill war vorsichtig. Er wußte ja, was er sich zutrauen konnte und was nicht. Dann stand er. Endlich kam er dazu, sich umzuschauen, und er lächelte, weil er dieses Stehen als einen Erfolg bewertete. Er fühlte sich wie ein Sieger nach gewonnener Schlacht. Er hatte etwas erreicht, sich selbst aus dieser Gruft befreit, das gab ihm Auftrieb. Bill blickte sich um. Es klappte nicht so gut wie immer. Auch jetzt mußte er den Kopf vorsichtig bewegen, und er war froh, daß der volle Mond sein bleiches Licht über das Gelände streute, denn so konnte Bill auch Gegenstände erkennen, die nicht unbedingt in seiner Nähe standen. Am eindrucksvollsten waren die Gräber, besonders die Grabsteine, die, verschieden hoch, an markanten Stellen des Friedhofs standen. Dabei war für Bill nicht zu erkennen, welche echt und welche nachgebildet worden waren. Die Filmleute hatten da gute Arbeit geleistet. Kreuze sah er nicht. Nur Steine. Mal breit, mal schmal, mal schief, mal gerade, mal hoch und flach. Sie bildeten das Muster auf diesem alten Friedhof, aber sie zeigten nur die Oberfläche und nicht, was darunter lag. Bill selbst war . aus einem Grab gestiegen oder aus einer Gruft, und ging davon aus, daß dieser Friedhof von zahlreichen Hohlräumen durchzogen war. Für Grabkriecher also bestens geeignet. Drei von ihnen hatte er gesehen. Ob noch mehr dazugehörten, wußte er nicht. Das war für ihn auch nicht das Problem. Er wollte herausfinden, weshalb sich die Bande gerade auf dem Friedhof hier aufhielt. Es war nicht eben ein Platz, um sich wohlzufühlen. Da mußte mehr dahinterstecken. Und Bill wunderte sich über eine andere Tatsache. Die Befreiung war ihm relativ leicht gelungen. Niemand hatte ihn dabei gestört, nicht mal die geheimnisvolle Frau. Auch jetzt ließ sie sich nicht blicken, und die Grabkriecher erst recht nicht. Es kam die Frage auf, ob sie das Gelände verlassen hatten, weil sie sicher gewesen waren, daß Bill ihnen nicht entwischen konnte. Wenn es tatsächlich der Fall war, hatte er die große Chance, abzuhauen und sich an seinen Freund John Sinclair zu wenden. Mit ihm zusammen würde er auf dieses Gelände wieder zurückkehren.
Der Reporter bewegte sich zur Seite. Seine Füße schleiften durch das Gras. Er spürte Steine unter den Sohlen und suchte sich einen hohen und breiten Grabstein als Standplatz aus. Es war dunkel, er roch nach Stein, er war noch einer der alten, und sein Schatten schluckte Bill. Von diesem Ort hatte er einen günstigen Überblick, den er auch haben mußte, denn Bill kannte das Gelände überhaupt nicht. Er wußte nicht, in welche Richtung er schauen sollte, wichtig war für ihn eine Orientierung, die ihm durch das Mondlicht erleichtert wurde. Er sah auch die Ränder des Friedhofs, denn dort wuchsen die Bäume in die Höhe und bildeten' den kahlen Winterwald. Bill erinnerte sich daran, daß er bei seiner Ankunft auf der Lichtung ebenfalls den Wald gesehen hatte. Wahrscheinlich hatten ihn die anderen Mähner durchquert, eben mit ihm als Beute. Es blieb still. Er hörte nur den Wind, der den kühlen Hauch in sein Gesicht drückte. Und er fragte sich, wo sich die drei Grabkriecher versteckt hielten. Er ging schließlich langsam weiter, um sich zumindest dem Wald zu nähern. Bill glaubte daran, daß er durch ihn den Weg in die Freiheit finden könnte. Er kam sich vor wie jemand, der durch eine Kulisse schreitet. Die Grabsteine wanderten an ihm vorbei. Es fehlte nur mehr der Nebel, der sich wie dünne Watte auf dem Boden verteilte und alles umgab. Auf dem Boden lag das alte Laub, es knirschte unter seinen Füßen. Es waren die einzigen Geräusche, die er hörte. Wo steckte die Frau? Er hatte sie sich nicht eingebildet. Sie war dagewesen, und sie hatte auch gerochen. Ein weiblicher Ghoul! Bill schluckte, als er daran dachte. Er wollte es nicht wahrhaben. Diese doch hübsche Person konnte einfach kein Leichenvertilger sein. Das war unmöglich . . . Oder nicht? Der scharfe Strahl einer lichtstarken Taschenlampe oder sogar eines Scheinwerfers riß die Dunkelheit entzwei. Plötzlich befand sich Bill im Zentrum, und ihm wurde brutal klargemacht, daß er sich auf dem Friedhof doch nicht allein bewegte. Er blieb stehen. Und eine Stimme sagte aus der Dunkelheit. »Es ist auch gut so, Schnüffler!« *** Die Grabkriecher hatten ihn gestellt, daran gab es für Bill nicht den geringsten Zweifel. Vorbei war sein Optimismus, sein Denken nach vorn,
die große Chance zur Flucht, das alles konnte er sich abschminken, denn der Mann hinter dem Scheinwerfer war bewaffnet, davon mußte Bill ausgehen. Er dachte auch weiter und kam zu dem Entschluß, daß die andere Seite ihn gar nicht flüchten lassen konnte. Er hatte sie entdeckt, sie würden ihn fertigmachen und dafür sorgen, daß er kein Wort an andere Menschen weitergeben konnte. Es war immer das gleiche Spiel, dessen Regeln die Gangster diktierten. Bill kannte sich da aus. Und er war das Opfer! Die Stimme und das Licht hatten ihm seinen Optimismus genommen, er war innerlich erschlafft und spürte auch die dumpfen Schmerzen wieder in seinem Kopf. Aber in ihm stieg auch eine gewisse Wut hoch, die er nicht mehr zügeln konnte. »Verdammt noch mal, warum schießt ihr nicht!« »Das werden wir auch!« erklärte die Stimme, »aber das mußt du schon uns überlassen.« »Weiß ich.« »Wie schön, Schnellmerker. Zuvor haben wir einige Fragen an dich. Es geht um deinen Kumpel.« »Wer soll das denn sein?« »Percy Goldman!« Bill blinzelte in das grelle Licht. Jeder konnte sehen, daß er den Mund zu einem abwertenden Grinsen verzog. »Tut mir leid für euch, aber Goldman ist nicht mein Freund.« »Was ist er dann?« »Ein Hundesohn, der mich reingelegt hat. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er hat mein Geld genommen, aber ich gehe davon aus, daß ihr ihm mehr bezahlt habt.« »Spielt keine Rolle.« »Klar, mir soll es egal sein.« Die nächste Frage des Unbekannten überraschte den Reporter. »Glaubst du eigentlich an den Tod?« »Wie bitte?« »Ob du an den Tod glaubst, verdammt!« »Ja, denn jeder muß sterben.« »Und wenn man gestorben ist, was dann?« Bill lachte. »Hör zu, willst du mich verarschen?« Die Antwort erfolgte prompt, aber anders, als Bill sie sich vorgestellt hatte. Der Typ im Hintergrund schoß auf ihn. Es war nicht viel zu hören, nur das typische Geräusch eines Schalldämpfers, der den Abschußknall stark dämpfte. Die Kugel fuhr dicht an Bill vorbei und hämmerte mit einem dumpfen Laut in einen künstlichen Grabstein, den sie glatt durchschlug.
»Nur damit du klar siehst, Schnüffler. Ich gebe hier den Ton an. Und meine Fragen haben einen Sinn, auch wenn sie dir noch so idiotisch erscheinen mögen.« »Verstanden!« »Klasse, Schnüffler. Noch mal von vorn. Wie war das mit dem Tod? Wenn jemand gestorben ist, auf welche Weise auch immer, ob erschossen, ob erdolcht oder einem Herzschlag erlegen, ist er tot. Da sind wir uns einig, oder?« »Klar.« »Wie ist es dann möglich, daß sich ein Toter trotzdem bewegen kann. Daß er aufsteht und losmarschiert. Kannst du mir darauf eine Antwort geben? Ich will sie hören, aber ich warte nicht zu lange. Denk an die Wahrheit, Schnüffler.« Bill kam noch immer nicht zurecht. Er räusperte sich die Kehle frei, er dachte nach, er runzelte die Stirn, aber er wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Die Frage hatte er verstanden, nur war sie ihm so fremd vorgekommen, auch wenn Tod und Friedhof zueinander paßten. »Warum sagst du nichts?« »Mir hat es glatt die Sprache verschlagen. Wenn jemand tot ist, dann ist er tot.« »Im Normalfall schon«, gab die Stimme zu. »Ich aber habe es anders erlebt. Ich habe jemand erschossen, und als ich ihn wegschaffen wollte, war er verschwunden.« »Der Tote?« »Wer sonst.« »Man wird ihn abgeholt haben.« »Das kannst du vergessen, Schnüffler, das kommt nicht hin. Man hat ihn nicht abgeholt, höchstens weggefahren, weil die Leiche in einem Wagen saß, aber der war auch verschwunden, und alles wies darauf hin, daß der Tote selbst gefahren ist.« Bill Conolly hatte die Worte sehr genau gehört und dabei auch nachgedacht. »Kann es sein, daß ich diesen Toten kenne?« »Jetzt kommen wir der Sache schon näher.« »Wer war es denn?« »Dein Freund Goldman.« Der Reporter hatte nicht damit gerechnet, noch einmal überrascht werden zu können. In diesem Fall allerdings war er es, und er spürte es kalt und heiß durch seinen Körper rieseln. Die Worte bedeuteten nichts anders, als daß Goldman tot war. Erschossen, von der Stimme aus der Dunkelheit, von dem Mann, mit dem Goldman neben Bill ebenfalls Geschäfte gemacht hatte. Das war ein Hammer, und die Fragen waren nicht weniger geworden. »Überrascht?« »Das bin ich«, gab Bill zu. »Ich frage mich nur, warum du ihn erschossen hast. Goldman stand doch auf deiner oder eurer Seite. Er hätte euch nichts getan.«
»Er war nicht nur eine Schmeißfliege, er war auch wie ein Aal. Man fand ihn, aber man konnte ihn nicht fangen, er glitt immer wieder durch die Hände. Dem wollte ich ein Ende machen. Ich schoß zweimal auf ihn. Einmal traf ich seine Schulter, zum zweiten setzte ich ihm die Kugel ins Herz. Er war tot!« knirschte der Mann. »Er muß tot gewesen sein!« Seine Stimme wurde keuchend, der Lichtkegel bewegte sich in Bills Gesicht, ohne ihn jedoch aus seinen Fängen zu lassen. »Aber er ist mitsamt dem Wagen verschwunden, Schnüffler, und ich will von dir wissen, wieso dies geschehen ist. Laß dir etwas einfallen, wenn nicht, wirst du mir nicht mehr entwischen, auch nicht als Toter.« »Ich weiß, Mister, aber ich kann euch nicht helfen. Ihr habt mich niedergeschlagen. Alles, was anschließend passiert ist, habe ich nicht mitbekommen.« »Da gebe ich dir recht.« »Danke.« »Ich möchte nur wissen, wieso das überhaupt möglich ist. Daß ein Toter verschwindet.« »War er denn tot?« Die Stimme sprach nicht, sie lachte jetzt. »Wenn ich ziele, schieße und treffe, gibt es keine andere Möglichkeit. Das solltest du dir gut merken, Schnüffler. Ich bin ein perfekter Schütze, daran gibt es nichts zu rütteln.« »Gut, das sehe ich ein. Und Goldman verschwand samt dem Wagen, in dem du ihn umgebracht hast.« »Ja.« Eine Pause entstand. Bill suchte fieberhaft nach einem Ausweg und einer Erklärung, aber er war selbst überfragt und wollte noch einmal wissen, warum er gerade die Lösung haben sollte. »Weil du Goldman gekannt hast. Hatte er etwas Besonderes an sich? Ist er überhaupt ein Mensch gewesen?« »Was hätte er denn sonst sein sollen?« Der Mann lachte dumpf. »Ich weiß, daß es zwischen Menschen und Engeln noch andere Wesen gibt.« »So?« »Und du weißt es auch.« »Woher ist dir das bekannt?« »Ich laufe nicht auf Ohren durch die Welt. Ich habe einige deiner Berichte gelesen. Sie erschienen in verschiedenen Zeitschriften, aber im Grunde waren sie gleich. Du hast dich stets mit Dingen beschäftigt, die von einem rätselhaften Hauch umgeben waren, um die sich oft Legenden und Sagen rankten, und deshalb wirst du auch wissen, daß zwischen Himmel und Erde manch unerklärliche Dinge existieren.« »Das Verschwinden Goldmans rechnest du dazu?« »So ist es.« Der Mann lachte. »Denn auch hier auf dem Friedhof existiert jemand, dessen Vorhandensein mir unerklärlich ist.«
»Die Frau?« »Du kennst sie?« »Flüchtig.« »Frau ist gut.« Der Kerl kicherte. »Ja, das ist sogar sehr gut. Sie sieht zwar aus wie eine normale Frau, aber . . .« »Wie heißt Sie denn?« »Lucy.« »Und weiter?« »Einfach nur Lucy, nicht mehr und nicht weniger. Sie ist blond, sie ist nicht unhübsch, aber sie hat etwas an sich, über das wir uns gewundert haben. Ihr gehört der Friedhof hier, und wir haben uns mit ihr arrangiert, denn wir sind es eigentlich, die ihr die Nahrung geben, die sie benötigt.« Bill mußte schlucken. Er merkte, wie sich in seinem Magen ein Klumpen verdichtete. »Nahrung?« wiederholte er. »So ist es.« »Ich möchte nicht mehr darauf eingehen, ich habe sie gesehen und auch gerochen, aber ich glaube nicht, daß es zwischen Lucy und Percy Goldman eine Verbindung gibt. Wenn Lucy anders ist, mag sie anders sein, aber Goldman war normal.« »Das ist deine feste Überzeugung?« »Mehr kann ich dir nicht sagen.« »Wieso ist der Tote dann verschwunden?« »Du hast schlecht gezielt. Vielleicht ist er nicht weit gekommen und irgendwo gegen einen Baum gefahren. Ich an eurer Stelle würde dort mal nachschauen.« »Keine Sorge, so schlau waren wir auch. Nur haben wir dort nichts gefunden.« »Das ist euer Problem.« »In der Tat.« Der Sprecher lachte. »Du wirst bald keine Probleme mehr haben. Und dich treffe ich richtig, darauf kannst du dich verlassen, Schnüffler.« Da war sie wieder, diese verdammte Gefahr, die Bill spürte. Sie ballte sich in seinem Körper zusammen, und der Magen bildete dabei einen dicken Klumpen. Der Reporter suchte nach einem Ausweg. Er mußte sich anstrengen, um der Stimme einen relativ normalen Klang zu geben, und er sagte: »Es gibt noch eine Möglichkeit.« »Für dich nicht mehr.« »Ich meine nicht mich, sondern Goldman »Aha, Schnüffler, du hast das letzte Wort.« »Hast du schon von kugelsicheren Westen gehört? Goldman kann eine solche getragen haben. Diese Westen sind nicht mehr so dick wie früher. Sie sind dünner, leichter und auch besser geworden, denn sie halten auch Kugeln ab, die aus kurzer Distanz abgefeuert werden.« Mehr sagte Bill nicht. Er war gespannt, wie der Typ darauf reagierte, und zunächst
einmal erhielt er keine Antwort. Dann hörte er ein Murmeln, konnte allerdings nichts verstehen, und erst nach einem leisen Knurren nahm die Stimme wieder an Lautstärke zu. »Nicht schlecht, nicht schlecht. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Danke für den Tip.« »Gern geschehen.« Der Grabkriecher lachte. »Das sagst du so einfach? Glaubst du im Ernst, du hättest dich damit aus der Schußlinie gebracht? Nein, Schnüffler, auf keinen Fall. Das ist nicht möglich. Du stehst noch voll im Saft oder bist im Rennen. Aber bald bist du draußen. Ich werde es auf jeden Fall prüfen lassen, aber du kannst dich darauf verlassen, wir werden diesen Hundesohn zu fassen kriegen, sollte er dann noch leben. Alles andere ist uninteressant. Wir kriegen ihn!« »Das glaube ich sogar.« »Darauf kannst du Gift nehmen!« Der Strahl veränderte seine Position. Er bewegte sich von Bills Gesicht weg, auf die Brust zu, wo er einen hellen, runden Fleck hinterließ, eine Zielscheibe. Das wurde dem Reporter schnell klar, und sein Hals trocknete noch stärker aus. »Dir werde ich in die Brust schießen, und glaub mir, ich kann dich nicht verfehlen. Es gibt keine bessere Zielscheibe als der Kegel meiner Lampe. Ich bedanke mich sogar für deine guten Ideen. Schade, daß wir nicht zusammenarbeiten. Wir wären sicherlich ein gutes Team geworden. Du hättest uns prima verstärkt.« »Kann sein.« * »Aber das ist vorbei.« Er kam noch einen Schritt näher. Bill senkte den Blick, schaute auf die Brust, wo sich der Kegel des Scheinwerfers als scharfer Umriß abzeichnete. »Es ist vorbei, Schnüffler. Du wirst nicht viel hören, aber du kennst es ja, dieses satte Geräusch des Schalldämpfers.« Da hörten die beiden Männer das Knirschen! *** Es gibt Dinge, die einen ärgern, die man aber leider nicht ändern kann. Ich hatte dies am späten Abend erlebt, denn auch nach dem dritten Anruf hatte Sheila bei Suko wieder nur den Anrufbeantworter »angetroffen«, und das hatte sie mir mit enttäuschter Stimme mitgeteilt. »John, da kann man nichts machen. Suko und Shao sind leider nicht zu Hause. Wir sind . . .« »Schon gut, Sheila.« »Und jetzt?«
Ich lachte leise. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Sache allein durchzuziehen.« Sheila schwieg einen Moment. »Das gefällt mir aber gar nicht«, murmelte sie dann. »Mir wäre es auch lieber, Suko an meiner Seite zu haben, aber ich weiß nicht, wo er und Shao sich befinden. Wahrscheinlich sind sie Essen gegangen. Sie haben es sich verdient nach dem letzten Fall, an dem beide beteiligt waren. Außerdem hätte niemand ahnen können, daß sich unser kleines Treffen so entwickeln würde.« »Da hast du allerdings recht. Wo steckst du eigentlich jetzt?« Ich mußt einen Moment überlegen und sagte dann: »Weit bin ich nicht mehr vom Ziel entfernt. Ich werde gleich die Autobahn verlassen und fahre in Richtung Camberly.« »Das ist gut.« Sheila erreichte mein Lachen. »Sag ich doch. Okay, dann drücke mir bitte die Daumen.« »Das werde ich, John, darauf kannst du dich verlassen. Aber nicht nur dir, sondern auch Bill.« »Geht in Ordnung, Sheila, bis später.« »Alles Gute.« Bei diesen beiden Worten klang die Stimme der Frau gepreßt. Sheila machte sich starke Sorgen um ihren Mann. Zu Recht, wie ich meinte. Bill war auf eine rätselhafte Art und Weise verschwunden, und der Begriff Grabkriecher deutete nicht eben auf etwas Positives hin. Ich verließ den Motorway M3 und fuhr nicht nach Windsor, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Tagsüber hätte sich jeder Tourist an einer typisch britischen Landschaft erfreuen können, die Dunkelheit aber bügelte alles gleich. Wälder, freie Flächen, hin und wieder das matt schimmernde Auge eines kleinen Sees, all das wechselte sich ab. Eine wirklich gepflegte Landschaft mit winzigen Dörfern, die von Wind-sors Flair existierten, denn zahlreiche Touristen wollten sich auch die Umgebung anschauen. Hierher hatte Bill also sein Weg geführt. Leider nicht hinein in die touristische Harmlosigkeit, sondern in eine verfluchte Falle. Die Landstraße vor mir wurde ins Licht der Scheinwerfer getaucht. Ich fuhr in eine Kurve hinein und wurde erst langsamer, als die schlanken Pappeln an den Seiten verschwanden und der Blick über freies Feld glitt. Ich stoppte in einer schmalen-Einbuchtung neben der Straße und stellte den Motor aus. Bis hierher war ich gut gekommen, von nun aber wurde es kritisch, und ich mußte erst mal auf dem Zettel nachschauen, der für mich sehr wichtig war. Die Gegend lag in einem tiefen Schweigen. Aber sie war nicht zu dunkel, denn die runde Mondscheibe am Himmel sorgte für eine unnatürliche
Helligkeit, wie man sie oft auch in alten Gruselfilmen sah. Alles leuchtete in einem dunklen Grün. Darum kümmerte ich mich nicht. Im Licht der Innenbeleuchtung studierte ich,die Beschreibung. Freudig stellte ich fest, daß ich mich auf der richtigen Straße befand. Ich mußte sie weiterfahren, bis ich an der der linken Seite einen schmalen Weg sah, der zu einer Grillhütte und einer Lichtung im Wald führte. Dahinter lag dieser ungewöhnliehe Friedhof wie eine schaurige Kulisse. Es war leicht. Innenb eleuchtung aus, Motor an. Ich war praktisch allein auf der Straße, denn in diese Einsamkeit südlich von Windsor verirrte sich nachts kaum ein Autofahrer. Die Sommermonate ausgenommen. Manchmal, besonders nahe der Seen und Teiche - lagen schwache Nebelschleier wie dünne Wattestreifen über dem Gelände. Ansonsten war die Luft klar, und auch die dicken Wolkenmassen hatten sich am Himmel verzogen, um dem Vollmond freie Sicht zu verschaffen. Es war eine Nacht, in der Menschen oft unruhig waren, keinen Schlaf fanden, weil sich eben das Licht des Mondes ungünstig auf ihre Psyche auswirkte. Zwar fühlte ich mich auch kribbelig, das aber hatte andere Gründe. Nicht mehr so schnell wie zuvor fuhr ich dahin und achtete schon jetzt auf Lücken an der linken Straßenseite. Außer einem Feldweg entdeckte ich nichts. Eine Rechtskurve lag vor mir. Ich näherte mich ihr und entdeckte schon bald den dunklen Schatten an der linken Straßenseite. Das eingeschaltete Fernlicht zeigte mir, daß sich dort ein Wald enhob, und genau dort mußte mein Ziel liegen. Oft sind die Wege, die zu Grillhütten führen, durch Hinweisschilder gekennzeichnet, das war auch hier der Fall, denn in den starken Lichtschein hinein schob sich der knorrige Pfahl eines Hinweisschildes, dessen Spitze nach links zeigte. . Da mußte ich ab. Ich rollte noch langsamer dahin, setzte den Blinker und mußte den Rover scharf herumziehen, um die schmale Einfahrt nicht zu verpassen. Grillhütten nebst ihren Lichtungen liegen nie tief im Wald versteckt. Sie mußten schnell zu finden sein. Ich hatte da meine Erfahrungen, denn es lag noch nicht lange zurück, da hatten Wir auf einem Grillplatz einen brutalen Henker gejagt, und da war dieser Flecken Erde zu einem Totenplatz geworden. Ob die Lichtung von irgendwelchen Leuten beobachtet wurde, wußte ich nicht. Wenn ja, dann hatte man den Wagen zumindest entdeckt, der auf einen Beobachter wie ein Ungeheuer mit hellen Augen wirken mußte, das sich langsam voranschob.
Deshalb riskierte ich es auch, das volle Licht noch einmal einzuschalten, und es bestrahlte die vor mir liegende freie Fläche wie der Glanz eines Su-permondes. Ich rollte langsam auf die Lichtung zu, diesmal in völliger Dunkelheit und mich nur nach dem Glanz des Mondes richtend, der sich ebenfalls auf der freien Fläche fand. Der Rover rollte auf sein Ziel zu. Gras hatte den Untergrund weich gemacht. Es lagen genügend feuchte Blätter herum, die zusätzlich für einen Teppich sorgten, der die meisten Unebenheiten ausglich. Langsam fuhr ich eine Runde und hielt so an, daß die Schnauze des Rovers zum Weg hin wies, so konnte ich im Fall des Falles direkt starten. Ich stoppte, löschte das Licht und blieb zunächst einmal im Dunkeln sitzen. Abwarten, ob etwas geschah. Wenn man mich beobachtet hatte, dann mußte sich jemand zeigen. Wer immer der Gegner war, er blieb bestimmt nicht in der Defensive. Er mußte etwas tun, denn ich stand dicht davor, ihn zu entdecken. In den folgenden zwei Minuten passierte nichts. So konnten sich meine Augen an die Umgebung gewöhnen, an das schwache Mondlicht und an den dunklen Wald, der mir vorkam wie ein dunkles Bauwerk. Es bewegte sich nichts, was keine natürliche Ursache gehabt hätte. Wenn sich das Gras bog, dann lag es einzig und allein am Nachtwind, der mit dem Gras spielte und auch die alten Blätter zittern ließ. Es kam niemand. Überzeugt davon, nicht beobachtet zu werden, war ich nicht. Ich verließ den Wagen, hatte die Beleuchtung zuvor abgestellt und drückte die Tür leise ins Schloß. Neben dem Rover blieb ich für einen Moment stehen. Die frische Luft tat mir gut. Sie war würzig. Nichts wies auf einen Friedhof hin oder - noch schlimmer - auf verwesende Leichen. Die Ruhe des Waldes und der Natur umgab mich. Eine tückische Stelle? Ich glaubte auch daran, daß Bill es so empfunden haben mußte. Ich wollte nicht immer an derselben Stelle stehenbleiben und nachschauen, ob Percy Goldman recht gehabt oder gelogen hatte. Wenn er hier in Bills Leihwagen gewartet hatte, mußten noch Spuren zu sehen sein. Während ich ging, bückte ich mich. Ich wollte kein Licht machen. Die Taschenlampe ließ ich stecken. Der Schein des Mondes reichte sogar aus, um die Spuren sehen zu können. Es stimmte also. Etwa in der Mitte der Lichtung blieb ich stehen, drehte mich wieder um und schaute zurück zu meinem Rover, hinter dem sich das Gerüst der hölzernen Grillhütte mit dem Pilzdach abhob. Dort sah ich die Bewegung!
Es konnte durchaus sein, daß dort jemand auf mich gelauert hatte, und meine Schritte wurden plötzlich schnell, als ich geduckt auf den Rover zueilte, urri ihn als Deckung zu nehmen. Ich erreichte ihn unbeschadet. Neben der Fahrerseite duckte ich mich. Allmählich nur gewöhnte ich mich wieder an die Stille, atmete selbst sehr flach und achtete angespannt auf jedes fremde Geräusch. Auf ein Rascheln oder auf vorsichtig gesetzte Tritte. Nichts tat sich. Ich griff zur Beretta, ließ sie aber noch stecken und lockerte sie nur. Dann kroch ich geduckt, in der Deckung des Rover, auf die Grillhütte zu. Unter deren Dach war es noch dunkler als in der Umgebung. Ich überlegte, ob sich dort jemand versteckt halten konnte. Vielleicht nicht direkt unter dem Dach, sondern in dessen Nähe, verborgen zwischen den Bäumen. Der nächste Schritt brachte mich an dem Wagen vorbei. Und plötzlich huschte ich vor. Wer immer auf mich lauerte, ich mußte ihn durch diese Handlung erschreckt haben. Ich hatte auch meine Taschenlampe gezogen, schaltete sie ein, nahm das Risiko, dadurch besser gesehen zu werden, bewußt in Kauf, ließ den Arm kreisen und sah tatsächlich die Bewegung jenseits der Hütte zwischen zwei Pfosten. Eine Gestalt schoß in die Höhe. Sie war dunkel gekleidet, und ich hörte dieses saugende Geräusch, als der schallgedämpfte Schuß aufklang. Die Kugel traf mich nicht trotz der eingeschalteten Lampe. Ich hatte den Heckenschützen wohl nervös gemacht, schleuderte die Leuchte fort, sie war mittlerweile ausgeschaltet und lag einen Atemzug später schon auf dem Boden. Blitzartig rollte ich mich über die feuchte Erde, hörte dann einen Fluch und wieder das Schußgeräusch. Die Kugel schlug in meiner Nähe ein. Es war verdammt gefährlich, aber wenig später ging es mir besser, da hatte ich den Bereich der Grillhütte passiert. Ich war durch die Lücke zwischen zwei Pfosten getaucht, kroch weiter und erreichte nicht das Unterholz. Dort hineinzukriechen, wäre nicht geräuschlos abgegangen, deshalb blieb ich, wo ich war. Langsam richtete ich mich auf, bis ich eine geduckte Haltung erreicht hatte. Als ich mit dem linken Arm ebenfalls nach links tastete, um mich abzustützen, spürte ich unter der Hand etwas Hartes, Festes und gleichzeitig Rauhes. Es war ein Stück Holz, ein Kloben, der hier noch vom Sommer her lag, weil er nicht mehr gebraucht worden war. Ich wollte ihn haben, denn mich hatte eine Idee durchzuckt. Vorsichtig zog ich den Kloben zu mir heran und nahm ihn in die rechte Hand. Er eignete sich gut als Wurfgeschoß, denn in dieser Stille war ein Schuß meilenweit zu hören, und einen Schalldämpfer trug ich leider nicht bei mir.
Meine Reaktion mußte den anderen nervös gemacht haben. Er konnte nicht wissen, ob er mich angeschossen hatte oder nicht. Also würde er versuchen, mich zu finden und würde sich dabei auf sein Schießeisen verlassen. Es würde ein Katz-und-Maus-Spiel werden. Für mich nicht neu, und ich dachte auch, daß ich die besseren Nerven hatte. Der Unbekannte sah mich nicht. Wäre es so gewesen, dann hätte er schon längst geschossen. Aber es blieb ruhig, er tat nichts, und das gegenseitige Belauern dauerte an. Meine Blicke waren auf die Grillhütte gerichtet. Nichts bewegte sich unter dem Pilzdach. So mußte ich davon ausgehen, daß sich der Unbekannte außerhalb aufhielt. Warten, abwarten, keine Nerven zeigen . . . Ich kannte mich aus und gestattete mir ein Lächeln, als ich das Geräusch hörte. Das mußte er sein. Er kam von der linken Seite, auf dem schmalen Streifen zwischen Hütte und Unterholz, wo auch ich lauerte. Mein Platz war recht günstig gewählt, denn hinter mir streckte ein Busch seine kahlen Zweige in die Höhe. Hin und wieder kitzelten sie über meinen Nacken hinweg, wenn der Wind sie bewegte. Das alles ließ sich ertragen, zudem war ich nervenstark genug, im Gegensatz zu meinem Gegner. Zum erstenmal hörte ich seine Stimme und erkannte sofort die Nervosität. »He, Hundesohn, ich kriege dich! Ich habe eine Kanone, der nächste Schuß sitzt. Komm lieber raus, dann können wir reden . . .« Einen Teufel würde ich tun. Warten, lauern . . . Dann wieder der andere. »Du willst nicht? Du glaubst, mir entwischen zu können?« Er lachte. Es klang leicht schrill und überdreht. Außerdem schien er sich selbst Mut zu machen. Ich hatte mit der linken Hand einen kleinen Stein aufgenommen und hielt ihn bereits fest. Es war ein alter Trick, aber der Typ erschien mir so nervös, daß ich fest davon ausging, ihn reinlegen zu können. Aus dem Handgelenk schleuderte ich den Stein unter den Pilz. Gut hörbar schlug er dort auf. Und der Kerl reagierte. Er schaltete seine Taschenlampe ein! Ich hatte inzwischen ausgeholt. Der Beginn des Lichtstrahls hatte mir den richtigen Fixpunkt gezeigt. Zielen, werfen - Treffer! Es war ein dumpfes Geräusch zu hören, als der schwere Holzkloben den Körper des anderen erwischte. Plötzlieh fing der Strahl an zu zittern, dann leuchtete er flach über den Boden hinweg, weil die Lampe im Gras lag, die der Mann verloren hatte.
Ich befand mich schon auf dem Weg. Natürlich dachte ich an die Waffe, deshalb mußte ich schnell und auch vorsichtig zugleich sein. Vor mir bewegte sich jemand zuckend und stöhnend. Der Mann lag auf dem Rücken. Er sah aus wie ein großer, schwarzer Käfer, aber er hielt noch seine Waffe mit dem Schalldämpfer fest. Eine Sekunde später nicht mehr. Da hatte ihn mein gezielter Tritt gegen das Handgelenk das schallgedämpfte Schießeisen aus den Fingern geschleudert. Wo es landete, sah ich nicht. Ich hatte mich gebückt und den Mann am Kragen seiner dicken Strickjacke zu fassen bekommen. Blitzschnell riß ich ihn in die Höhe blieb nicht an meinem Platz, sondern schleuderte ihn nach links, durch die Lücke zwischen den Pfosten, auf den leeren Grillplatz, wo die Lampe noch einen hellen Strich auf den Boden zeichnete. Der Kerl stolperte, rutschte aus, landete auf seinem Hinterteil und geriet auch in die Ausläufer des Lichts. Von der Stirn her rann ein dunkler Faden über sein ebenfalls schmutziges oder geschwärztes Gesicht, so genau war das nicht zu erkennen, aber mein zielsicher geworfener Holzkloben hatte ihn ziemlich außer Gefecht gesetzt. Als eine direkte Gefahr sah ich diesen Typen weiß Gott nicht mehr an. Er hob die Arme an und preßte sie gegen seine Wunde, dabei stöhnte er leise, konnte auch nicht normal auf dem Boden sitzen bleiben, sondern schwankte leicht. Bevor ich mich ihm näherte, hob ich die Taschenlampe auf und strahlte ihn direkt an. Ich traf sein Gesicht, damit auch die Augen, aber sie waren von seinen Händen verdeckt. Er hörte mich kommen. Der Strahl wanderte tiefer und erwischte sein Kinn. In einer günstigen Entfernung blieb ich stehen, und er hörte zum erstenmal meine Stimme, die nicht besonders freundlich klang. »Runter mit den Händen. Ich will sehen, wer mich aus dem Hinterhalt erschießen wollte . . .« *** Bill war nicht mehr geblendet, seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnen können, und seine plötzliche Todesangst war auch verschwunden, weil er dieses kratzige Geräusch vernommen hatte, das ihm nicht fremd war. Die Waffe war noch immer auf ihn gerichtet, und Bill hütete sich auch, einen Angriffsversuch zu unternehmen, er schaute nur in die Tiefe und zugleich etwas nach links, denn nicht weit von seinen Füßen entfernt hatte er den Laut gehört. Genau dort bewegte sich die Erde . . .
Knirschende Laute entstanden. Dazwischen ein Schaben, dann sickerte ein Lichtstrahl ins Freie. »Sie kommt!« flüsterte die Stimme »Lucy?« »Ja.« »Ich kenne sie.« Der andere lachte. »Das weiß ich. Sie hat dir den Weg ins Freie gezeigt. Nur glaube nicht, daß du damit gewonnen hast. Lucy ist gierig, sie ist ein Tier. Nein, sie ist schlimmer, aber das wirst du bald am eigenen Leib erleben.« »Ein Ghoul, nicht?« Der Mann gab keine Antwort. Er kannte das Spiel bereits und brauchte sich nicht darauf zu konzentrieren, wie Lucy allmählich aus der Tiefe hervorkletterte. Er behielt den Reporter vor seiner Mündung. Der Spalt nahm an Größe zu, die Lichtmenge ebenfalls. Sie war nicht strahlend, aber in der finsteren Umgebung kam sie dem Reporter schon überhell vor. Wieder sah er das Gesicht. Er wußte nicht, ob es vor Anstrengung oder vor Gier verzerrt war, jedenfalls schlug die Zunge einmal kurz aus dem Mund und zeichnete die Lippen nach wie das Ende eines Schlauchs. Dann hörte Bill das böse klingende Zischen. Noch war nur das Gesicht zu sehen. Die schwere Steinklappe lastete auf den Schultern der Person, der dies nichts auszumachen schien. Lucy bewegte sich hin und her, dabei schob sie die Klappe noch höher, verbreiterte den Spalt, und der Lichtschein floß hin bis zu den Füßen des wartenden Reporters. Noch weiter drückte die Person die Klappe in die Höhe, die von einer Halterung gebremst wurde und in einem schrägen Winkel zur Ruhe kam. Zwischen Rand und Klappe war der Platz breit genug, um jemanden durchzulassen. Auch Lucy nahm die Chance wahr. Sie kroch hervor. Bill schaute ihr zu, wobei er daran dachte, daß diese Klappe wahrscheinlich nicht zum alten Friedhof gehörte, sondern von den Filmleuten nachträglich eingebaut worden war. War Lucy tatsächlich ein weiblicher Ghoul? Da Bill diese Wesen kannte, konnte er es sich bei Lucy nur schlecht vorstellen. Sie hatte nichts Ghoulartiges an sich. Sie war kein zitternder Schleimklumpen, sie hatte einen völlig normalen Frauenkörper, wenigstens auf den ersten Blick hin. Aber den Geruch brachte sie mit. Er schlug Bill entgegen wie unsichtbarer Nebel und raubte ihm den Atem. Er strömte aus der Gestalt hervor. Lucy hatte ihr Versteck jetzt verlassen. Sie baute sich vor dem Reporter auf. Sie trug eine helle Kutte, in diesem Fall wohl ein Leichenhemd, das an ihren Massen festklebte. Bill schaute auf die Hände. Es waren keine
schlanken Frauenhände, die Finger wirkten stumpf und wurstig. Runde Schultern, schwere Brüste, die nach unten hingen, kompakte Beine und ein Gesicht, das für Bill deshalb so gut zu erkennen war, weil der Mann im Hintergrund es direkt anleuchtete. Ein rundes Gesicht, dessen Ausdruck trotz der aufgeplusterten Wangen nicht eben freundlich oder gemütlich wirkte, sondern gierig und bösartig. Es war nicht zu erkennen,.ob Lucys Gebiß aus spitzen Reißzähnen bestand. Alles war bei ihr eben anders, ghoul-fremd, und trotzdem gehörte sie zu diesen Spezies. Bill sah, daß sie ihre rechte Hand hob. Die Fläche hielt sie nach außen gedreht, Bill sollte sie sehen, und sie befand sich auch im Schein der Lampe. Auf der Haut zeichnete sich eine dünne Schicht ab. Sie schimmerte wie Schweiß, nur ging der Reporter davon aus, daß es kein Schweiß war, der auf der Haut lag, sondern eben das, was einen Ghoul ausmachte und so typisch für ihn war. Schleim . . . Stinkender, widerlicher Schleim, eklig, sich vermehrend, wenn der Ghoul anfing, sein Opfer zu zerreißen. Ein Schleim, der auch wie Säure wirken konnte, sich oft zu Tropfen sammelte und an der schrecklichen Gestalt entlangrann. »Hi, Lucy!« Der Typ mit der Waffe hatte sie angesprochen, aber seine Stimme klang etwas unsicher, als wüßte er nicht, ob er der Gestalt trauen konnte. Lucy nickte nur. Dann strich sie mit dem Handrücken über ihre Lippen hinweg, was von einem Schmatzen begleitet wurde. »Du wolltest ihn haben?« »Eigentlich schon.« »Nein, ich habe Hunger. Ich will ihn bekommen. Hast du das verstanden?« »Alles klar, Lucy.« »Gut.« »Ich kann ihn für dich erschießen, dann hast du es wesentlich leichter.« Bill Conolly hatte zugehört, und in seinem Innern verkrampfte sich so einiges. Er konnte nicht sagen, was es genau war, aber die Reaktion ließ sich zurückführen auf die plötzliche Angst, die den Reporter durchströmte. Sein Schicksal stand wieder auf der Kippe. Tod oder Leben? Es lag einzig und allein in den Händen des Killers und des weiblichen Ghouls, der seinen Kopf gedreht hatte, um Bill Conolly anzuschauen. Lucy war nicht nur kompakter, sondern auch kleiner als er, und sie mußte aus ihren glasartigen Augen in die Höhe blicken, um ihm ins Gesicht schauen zu können.
Der Reporter senkte seinen Kopf nicht. Er wollte, er mußte dem Blick standhalten. Es tat ihm persönlich gut, denn es war einzig und allein sein Risiko. Lucy bewegte ihre Lippen, was mit einem Schmatzen verbunden war. »Ich habe lange keinen Spaß mehr gehabt«, brachte sie flüsternd hervor. »Du verstehst, was ich meine.« »Klar, Lucy«, sagte die Stimme. »Ich will aber Spaß haben.« »Dann sollst du ihn bekommen.« Bill merkte, wie sich die Spannung in ihm allmählich abbaute. Er stand nicht mehr so dicht an der Schwelle zum Jenseits, zuckte aber zusammen, als Lucys Hand seinen Oberschenkel begrapschte, als wollte sie durch den Stoff seiner Hose herausfinden, wie hart und fest seine Muskeln waren. Ein zufriedenes Grunzen zeugte davon, daß sie recht zufrieden war. Bill war froh, als das Wesen seine Hand wieder von ihm genommen hatte. Sicherheitshalber trat er einen Schritt zurück, was der Stimme nicht paßte, denn er hörte den Befehl, sich still zu verhalten. Dann fragte der Kerl: »Wie hast du dich entschieden, Lucy.« »Er gehört mir!« »Das sowieso.« »Mein Spiel.« Der Hundesohn lachte. »Ja, gut, es soll dein Spiel werden.« Seine Stimme wurde lauter, weil er näher an Bill herantrat, dessen Haut sich auf dem Rücken zusammenzog. Der Reporter wußte nicht, was mit der Antwort gemeint war, ein Spaß würde es für ihn bestimmt nicht werden. Er hatte den anderen Kerl noch immer nicht gesehen, dafür tauchte plötzlich der zweite auf, ebenfalls mit einem geschwärzten Gesicht. Er hatte hinter einer Hecke gelauert, deren Zweige er jetzt zur Seite bog, so eine Lücke schuf und sich nun zeigte. »Hast du es gehört, Danny?« Der zweite Typ nickte. »Es soll Lucys Spiel werden.« »Ja.« Danny lachte. »Dann wird er zum Grabkriecher. Da kann er dann ausloten, wie ein alter Friedhof in der Tiefe aussieht. Wird ihm bestimmt Spaß machen, ist auch neu für ihn.« »Das denke ich.« Bill ahnte mittlerweile, was auf ihn zukommen würde. Zunächst einmal trat der Typ in seinem Rücken noch näher an ihn heran. Der warme Atem floß dabei über Bills Nacken, so daß sich die kleinen Härchen leicht krümmten. Im nächsten Moment wurde der warme Hauch von einem kalten Druck abgelöst, und Bill wußte genau, daß es die Mündung des Schalldämpfers war, die einen Kreis in sein Fleisch zeichnete. »Hast du alles verstanden?« »Nein, aber . . .«
»Ist auch nicht nötig!« wurde Bill von der Stimme unterbrochen. »Ist wirklich nicht nötig. Wir ziehen das Spiel durch, und wir haben sogar zwei Titel gefunden.« »Da bin ich aber gespannt«, flüsterte der Reporter. »Einmal heißt das Spiel: Gejagt von Lucy, dem Ghoul, und der zweite Titel lautet: Futter für den Ghoul oder den Leichenfresser.« Bill schluckte. »Warum sagst du nichts?« höhnte der Kerl hinter ihm. »Du gestattest doch, daß mir beide Titel nicht gefallen.« Ein scharfes Lachen glitt an seinen Ohren entlang. »Recht hast du. Mir an deiner Stelle würden sie auch nicht gefallen, aber uns machen sie Spaß. Lucy ist unsere Freundin. Sie kann sich auf uns verlassen, denn wir sind es, die sie des öfteren mit Nahrung versorgen.« »Das dachte ich mir.« Bill hatte Mühe beim Sprechen. »Dann schafft ihr Leichen hierher.« »Manchmal schon, aber ich will dir gegenüber ehrlich sein. Viel größeren Spaß bereitet es Lucy, wenn sie ihre Opfer selbst durch die Gänge jagen kann. So wie bei dir, Schnüffler.« »Ich habe verstanden.« »Gut, dann . . .« »Eines noch«, sagte Bill. »Okay, aber beeil dich. Lucy ist schon nervös. Sie riecht dein Fleisch. Es sagt ihr zu.« Das sah Bill, denn der weibliche Ghoul bewegte sich unruhig und der Geifer tropfte ihm aus dem Maul. »Es ist bei euch einiges schiefgegangen. Ich gehe mal davon aus, daß Percy Goldman dir den Schuß nicht vergessen hat. So wie ich ihn einschätze, wird er sich dafür rächen wollen, und zwar so schnell wie möglich. Deshalb kann es sein, daß die Polizei bereits . . .« Bill wurde durch einen scharfen Zischlaut unterbrochen. »Erzähle mir doch nichts, verdammt! Goldman wird alles tun, er wird sich nur nicht bei den Bullen blicken lassen. Das kann er sich nicht leisten. Er hat für viele Chefs und Organisationen gearbeitet, aber die Bullen hat er stets gemieden.« »Er könnte es sich anders überlegen.« »Sei froh, daß ich es mir nicht anders überlegt habe, so hast du noch die Chance, für eine gewisse Zeit am Leben zu bleiben. Du kannst deine letzten Minuten genießen, dann aber wird dich Lucy packen. Ich glaube, daß eine Kugel gnädiger gewesen wäre.« »Weiß ich nicht.« Die Stimme amüsierte sich. »Ich glaube, du rechnest dir tatsächlich noch eine Chance aus. Wie willst du waffenlos und mit bloßen Händen gegen einen Ghoul kämpfen?«
Bill schwieg, außerdem spürte er wieder die Berührung der beiden Hände an seinem Körper. Lucy hatte zugegriffen, sie wollte nicht mehr, daß Bill noch länger redete. Die klobigen Finger hatten den Stoff der Hosenbeine zusammengedrückt, und sie zerrten Bill dabei auf sein Ziel zu, auf den Einstieg. Der Reporter erkannte, daß er die unterirdische Welt des Friedhofs dort betreten sollte, wo Lucy sie verlassen hatte. Es lag schon lange zurück, aber vor Jahren war er schon einmal von einem Ghoul durch die Gänge unter den Gräbern gejagt worden. Von einem Ghoul namens Abbot, der seine Opfer in gläsernen Särgen aufbewahrte. Damals war die Geschichte gut ausgegangen, über die heutige wagte Bill es nicht, eine Prognose zu stellen. Während er gebückt vor der Luke stand, hatte er beschlossen, um sein Leben zu kämpfen. Einfach wollte er es Lucy nicht machen. Überhaupt - Lucy. Welch ein Name für einen Ghoul. Er schaute in das Loch. Das Licht stammte von einer alten Ölleuchte. »Wenn du jetzt nicht hineinsteigst, trete ich dir das Kreuz kaputt!« sagte die Stimme. »Okay.« »Dann fröhliches Grabkriechen, Schnüffler!« Bill glitt in das Loch, das nicht mal sehr tief war. Neben der Lampe blieb er stehen. Bevor er in die Höhe schielte, blickte er um sich. Zur linken Seite hin öffnete sich diese unterirdische Welt, denn dort sah er einen Gang. Nur ihn konnte er nehmen. Aber Bill tat noch etwas. In dem Moment, als sich auch Lucy in Bewegung setzte, packte er das Untergestell der Öllampe. Er trug das Licht vor sich her wie eine Tasse auf dem Tablett, duckte sich und war wenig später im unterirdischen Tunnel verschwunden. Den Fluch bekam er noch mit, konnte aber nicht sagen, welcher der beiden Männer ihn ausgestoßen hatte. *** Der vor mir liegende Mann hatte Angst, das sah ich ihm an. Die Augen fielen in dem geschwärzten Gesicht besonders stark auf. Der auf seiner Stirn geronnene Blutstreifen war in Höhe des rechten Auges unterbrochen, trotzdem zwinkerte der Typ. Er lag zwar noch auf dem Rücken, hatte seine Beine allerdings angezogen und die Arme ebenfalls angewinkelt. So wirkte er beinahe wie ein Baby, das darauf wartete, gewickelt zu werden. Und er schaute in die Mündung meiner Beretta! Ich war dabei auf Nummer Sicher gegangen und hatte die Waffe gezogen. Nur kein Risiko eingehen, alles andere wäre fatal gewesen.
Dieser Typ gehörte zu einer Bande, die meinen Freund Bill in den Krallen hielten, und sie hatten sich nicht gescheut, auf einen Wehrlosen zu schießen, um ihn umzubringen. Wer so etwas tat, war nicht nur brutal, hinter dem mußte auch etwas stecken, was keinesfalls ans Tageslicht gelangen durfte, aber ich wollte es wissen. »Sag deinen Namen, Killer!« verlangte ich. »Warum?« »Ich will wissen, wer auf Goldman geschossen hat!« »Das war ich nicht.« »Nein, wer dann?« »Das war Zappow.« »Aha. Und wer ist Zappow?« »Der Chef.« »Gut. Dann bist du . . .« »Kondy.« »Mehr nicht?« »Es reicht »Ja, es reicht, Kondy, denn jetzt will ich haarklein von dir wissen, was hier gespielt wird. Und ich höre mir von dir keine Lügen an. Ich merke sofort, wenn mir jemand etwas unter die Weste schieben will. Da habe ich meine Erfahrungen.« Ich leuchtete in sein Gesicht, und die Augen des Liegenden verengten sich. »So reden nur Bullen!« »Ach ja?« Er deutete im Liegen ein Nicken an. »Damit kenne ich mich verdammt gut aus.« »Vielleicht hast du recht.« Kondy schwieg. Daß er einem Polizisten in die Arme gelaufen und von ihm überwältigt worden war, stellte ihn vor ganz neue Probleme. Wahrscheinlich war für ihn eine Welt zusammengebrochen. Er und seine Kumpane hatten hier etwas aufgebaut, das nicht ans Tageslicht gelangen durfte. Vor allen Dingen nicht durch Polizisten entdeckt werden sollte. »Ihr seid doch zu dritt . . .« »Kann sein.« »Wie heißt der dritte?« »Danny .« »Toll, du arbeitest gut mit, Kondy. So etwas kann sich nur positiv auswirken. Ich weiß noch zuwenig und muß dich nach dem Friedhof fragen. Um ihn zu erreichen, muß ich wahrscheinlich durch den Wald hinter der Grillhütte gehen. Ist das so?« Er lächelte plötzlich. Verräterisch kurz. Sein nachfolgendes Zögern nahm ich ihm nicht ab. »Rede, Kondy!« »Glaube schon«, flüsterte er. »Wunderbar. Also durch den Wald. Da werde ich auf einen Friedhof stoßen und deine beiden Kumpane treffen, die sich zwischen den Grabsteinen herumtreiben und sich Grabkriecher nennen?« Meine Stimme wurde schneidend. »Warum nennen sie sich so?«
»Es gefiel uns.« »Das glaube ich dir nicht ganz. Es hört sich an, als würdet ihr unter der Erde zwischen den Gräbern herumkriechen. Das tut niemand freiwillig, so schlau bin ich auch. Ich will deshalb wissen, weshalb das bei euch geschieht .« »Es hat uns Spaß gemacht.« »Ich hasse Lügen, Kondy. Oder kann es sein, daß ihr dort etwas versteckt habt?« Er schwieg. Diesmal preßte er die Lippen fest zusammen. Es war mir Antwort genug. Also sagte ich. »Ihr hab also etwas versteckt!« »Das habe ich nicht gesagt.« »Stimmt, aber ich sehe es dir an, Freund!« »Was denn?« »Nichts! « Ich schüttelte den Kopf und beugte mich tiefer. »Kommen wir doch mal zu dem, was ich noch gehört habe. Da soll ein Aufpasser oder Wächter auf dem Friedhof herumgeistern. Wer immer es sein mag, ich habe keine Ahnung, aber ich würde gern von dir darüber aufgeklärt werden. Gibt es diesen Wächter, und wenn ja, wie heißt er?« Kondy überlegte. Er kaute, ohne etwas im Mund zu haben. »Scheiße, ich habe Kopfschmerzen.« »Die lassen sich ertragen. Goldmans Schmerzen waren stärker, und die meines Freundes Bill Conolly sicherlich auch. Also, wer ist der Wächter?« Kondy strich Schweiß von seiner Stirn. Er gab dabei ein seltsam klingendes Lachen ab. »Du wirst es mir nicht glauben, Bulle, deshalb kann ich auch mein Maul halten.« »Uberlasse das mir und versuche es trotzdem.« »Es ist eine Frau!« Eine Frau also. Ich wollte lachen, grinsen, wie auch immer. Statt dessen sagte ich nichts, nur spürte ich, wie die Wut allmählich in mir hochstieg. Ich erwischte auch einen Blick auf Kondys Gesicht. Der Mann wurde nicht geblendet, der Lampenstrahl schien nicht direkt hinein, und ich fragte sicherheitshalber noch einmal nach. »Eine Frau also? Habe ich richtig gehört?« »Klar.« »Was macht diese Frau auf einem alten Friedhof? Ich könnte mir eine passendere Bleibe für sie vorstellen.« »Sie lebt dort.« Versonnen schaute ich meine Waffe an und wußte nicht, ob ich reingelegt werden sollte oder nicht. »Ist der Friedhof ihr Zuhause?« »Muß wohl. Ich weiß aber nicht, wie lange sie dort haust. Sie ist der Wächter oder die Wächterin.« »Was bewacht sie denn?«
»Denn Friedhof.« »Und sie kriecht durch die Gräber. Sie ist also eine Grabkriecherin, wie ich gehört habe.« »Das kann auch sein.« »Es gibt diesen Begriff, .Kondy. Grabkriecher. Oder sind deine Kumpane die Grabkriecher?« »Sie kennen sich aus.« »Auch unter den Gräbern?« »Klar.« »Hat die Frau etwas Besonderes an sich?« Kondys Grinsen zeigte mir, daß er mich auf den Arm nehmen wollte. »Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Ist doch klar, wenn man so haust wie sie. Ja, mitgenommen, dreckig, schmutzig, wie auch immer. Aber sie fühlte sich dort wohl.« »Und sie versteht sich mit euch?« »Manchmal.« »Sehr schön. Aber ihr lebt nicht auf dem Friedhof?« »Nein.« »Die Frau bewacht demnach euer Versteck!« Kondy schwieg. Sein Gesicht wurde zu einer Maske, und mir war klar, daß er sich vorgenommen hatte, nichts mehr zu sagen. Ich war kein Mensch, der andere dazu zwang, ihre Aussagen zu machen. Doch mit Samthandschuhen konnte ich diesen Kondy nicht anfassen. Ich mußte ihn außer Gefecht setzen, bevor ich mich auf den Weg zu dem geheimnisvollen Friedhof machte. Er schien meinem Gesicht anzusehen, welche Gedanken mich beschäftigten. »He, was ist los? Was denkst du?« »Einiges. Ich möchte, daß du aufstehst, Kondy.« »Und dann?« »Das wirst du schon sehen.« Er war unsicher und bewegte hektisch seine Augen. Er wußte auch nicht, ob er sich schnell oder langsam erheben sollte, entschied sich für die letzte Möglichkeit und drehte sich dabei so, daß er mich auch anschauen konnte. Besonders die Mündung der Beretta behielt er im Auge, denn er traute mit alles zu. Ich wartete ab, bis er stand. Dann schlug ich zu. Blitzschnell und gezielt. Auch wenn Kondy damit gerechnet haben mochte, er schaffte es nicht, den Kopf zur Seite zu drehen. Die Waffe in meiner Hand traf ihn hart und an der richtigen Stelle. Vor meinen Füßen brach er bewußtlos zusammen. Sicherlich war er für einige Stunden außer Gefecht gesetzt, deshalb verzichtete ich auch darauf, ihm Handschellen anzulegen. Die konnte ich möglicherweise bei einem anderen besser gebrauchen.
Ich zerrte Kondy anschließend dorthin, wo er nicht so rasch entdeckt werden konnte. Zudem hoffte ich, daß sein Verschwinden den anderen nicht auffiel. Wie ich die Lage einschätzte, war Kondy als Wächter und Aufpasser losgeschickt worden. Das Verschwinden Goldmans mußte die Typen unsicher gemacht haben. Furcht davor, daß ihre Geschäfte ans Licht der Öffentlichkeit gerieten, hatten sie allemal. Deshalb auch das Versteck auf dem alten Friedhof, der gleichzeitig als Filmkulisse benutzt worden war. Blieb das Rätsel um die Frau. Sie sollte etwas bewachen. Was es war, hatte Kondy mir nicht gesagt. Da war der Bogen weit zu spannen, vom Rauschgift bis zur Hehlerware. Und dazwischen steckte Bill Co-nolly. Was sie mit ihm getan hatten, war mir unbekannt. Ich konnte nur hoffen, daß die beiden Typen nicht die Nerven verloren und Bill umgebracht hatten. Die Namen Danny und Zappow sagten mir nichts, wobei der Name Zappow schon wieder auf den Osten hinwies, und ich darüber nachdachte, ob gewisse Schiebergeschäfte mit elektronischen Waren oder Waffen durchgeführt wurden. Alles Spekulation. Für mich war es wichtig, loszugehen, aufzupassen und den Friedhof zu finden. Erst dann konnte ich eine Entscheidung treffen . . . *** Bill hatte die Öllampe mitgenommen und sich so weit und tief wie möglich zurückgezogen. Es war eine Leuchte mit gedrechseltem Griff und einem runden Ständer. Die Flamme wurde von einem Glaszylinder geschützt. Unter dem Zylinder befand sich das flache Gefäß für das Öl, und die Flamme tanzte auf der Spitze des ölgetränkten Dochts. In gebückter Haltung hatte Bill den Tunnel durchlaufen können. Dann kam er nicht mehr weiter. Er hielt die Lampe fest. Ihr Licht glitt in die Umgebung hinein und zeigte dem Reporter, wo er sich befand. In einem Schacht. Eine glatte Decke, glatte Wände, auch ein glatter Fußboden. Das wies darauf hin, daß dieser Gang nicht zu den älteren auf dem Friedhof gehörte. Es mußte nachträglich angelegt worden sein, damit die Filmleute eine für sie entsprechende Kulisse besaßen. Ob es früher während der Dreharbeiten auch gestunken hatte, konnte Bill nicht sagen, hier aber umgab ihn der Geruch, der ihn anekelte, der ihm aber bekannt war. Ghoulgestank ... Der Duft von Moder und Verwesung. Eine widerliche Komposition, die ein Mensch nur hassen konnte. Sie umgab den Reporter, sie war
permanent vorhanden. Er würde sich nie daran gewöhnen können, und sie raubte ihm auch einen großen Teil der Atemluft. Bill mußte weg, das wußte er. Er steckte in einer unterirdischen Sackgasse. So konnte er zu einer idealen Beute für den weiblichen Ghoul werden. Lucy würde ihn verfolgen, aber Lucy war noch nicht da. Nur ihr Geruch überschwemmte ihn permanent, und der würde sich verstärken, wenn Lucy auf ihn zukam. Gänge zwischen Gräbern waren für Ghouls ideal. Dank ihrer Schleimhaut konnten sie sich dort wunderbar bewegen. Sie glitten über Böden und Wände hinweg, sie drehten sich durch Luken und Ausstiege, und manchmal waren sie nur noch Schleimberge, die durch Gänge krochen. Ihre menschliche Gestalt war oft genug hinter dem Schleim versteckt. Bill wollte nicht warten, bis Lucy ihn erreichte. Er suchte nach einem Ausweg. Schon einmal hatte ihm eine Luke an der Decke geholfen, und die Filmleute hatten beim Umbau des Friedhofs sicherlich für weitere Überraschungen gesorgt. Bill probierte es an der Decke. Diesmal hatte er Pech gehabt. Auch wenn sie nachträglich eingebaut worden war, hatte sie doch eine Festigkeit, die er durch seine Kraft nicht hochstemmen konnte. Er ärgerte sich. Dann schaute er auf die Lampe, die zu seinen Füßen stand, als sollte ihm die Flamme eine Erleuchtung bringen. Sie erwischte ihn auch, denn Bill versuchte weiterhin den einfachen Weg zu gehen und fing damit an, die Wände abzutasten. Er gab den nötigen Druck, seine Hände berührten bestimmte Stellen, er klopfte auch hin und wieder die Flächen nach hohlen Stellen ab und spürte, daß sich die Geräusche plötzlich anders anhörten, daß sie hohler klangen, und dann verstärkte er den Druck genau an dieser Stelle. Die Wand gab nach. Langsam nur, dann schneller, sie kippte mit der oberen Hälfte nach vorn, und Bill wäre beinahe ins Leere gefallen, so sehr hatte ihn diese Aktion überrascht. Er hielt sich aber und schaute auf das Brett, das an einem Querbalken hin- und her schwang. Er lächelte und dankte den Leuten vom Film für diese neue Chance. Bill drückte sich flach auf den Boden. Die Lampe schob er zuerst unter dem Querbalken hindurch, schaute noch einmal den Weg zurück, den er gekommen war, aber in der stockigen Schwärze war keine Bewegung zu erkennen. Auch der Leichengeruch hatte sich nicht verstärkt. Lucy wartete wohl noch . . . Es war dem Reporter egal. Er wollte so schnell wie möglich weg, kroch unter dem Balken hindurch und hatte das Glück, sich in einer kleinen
Höhle zu befinden. Er stellte sich hin, hob auch die Ölleuchte an und bewegte sich im Kreis. Hinter ihm war die Wand wieder geschlossen. Das Licht flackerte über die Gegenstände, die das Filmteam zurückgelassen hatte. Hier unten war einmal gedreht worden. Bill entdeckte einen schmutzigen Regiestühl und ein schmales Stehpult. Ein völlig verschmutztes Storyboard fiel ihm ebenfalls auf, die Papierfetzen lagen auf dem Boden, und als er einige Schritte zur Seite ging, da stockte ihm plötzlich der Atem. Was er da sah, hatten die Filmleute sicherlich nicht zurückgelassen, denn das Bleiche waren schlicht und ergreifend Knochen. Bill hielt auch weiterhin die Luft an. Er ging langsam näher. Tierknochen waren es bestimmt nicht. Die Gebeine lagen in der Ecke und übereinander. So bildeten sie einen wirren Haufen, eben die Beute des verdammten Ghouls. »Lucy!« keuchte Bill. »Lucy hat von ihrer Beute die Reste liegengelassen.« Er nickte, denn er wußte auch, daß Ghouls mit Knochen nichts ^anfangen konnten. Ihnen ging es einzig und allein um das Fleisch und die Haut der Menschen. Mit Haut und Haaren . . . Dieses alte Sprichwort traf besonders auf die Aasfresser zu. Es war wie für sie gemacht. Bill durchschritt die kleine Höhle. Er freute sich darüber, normal und aufrecht gehen zu können, aber die Höhle selbst brachte ihm nichts, er wollte sie auch wieder verlassen, möglichst durch einen anderen Ausgang, den es seiner Meinung nach geben mußte, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, daß die Leute vom Film ihr gesamtes Gerät durch den schmalen Gang geschleppt hatten. Das hätte sie zu viel Mühe gekostet. Wenn sie für sich etwas gebaut hatten, dann praktisch. Bill blieb ruhig. Die erste Panik lag hinter ihm. Zudem war er ein Mensch, der sich so leicht nicht verrückt machen ließ und sich mit gewissen Gelegenheiten abfand und auch auf Situationen einstellen konnte. Er hielt die Leuchte in der rechten Hand und hob den Arm an. Der Himmel über ihm war eine schwarze Decke, die aussah wie ein leicht abgeschrägtes Kohleflöz. Man hatte den dunklen Untergrund mit einem Leim bestrichen, der im Licht glänzte. Weitersuchen. Bill schritt an den Gebeinen vorbei. Der Hintergrund dieser Höhle trat allmählich aus seinem Schatten hervor. Bill sah das Loch in der Wand, und über seinen Mund huschte ein Lächeln. Wie er es sieh vorgestellt hatte. Das Team hatte sich noch einen zweiten Zugang zu diesem Drehort geschaffen. Schon am Anfang des Gangs sah er, daß dieser anstieg. Seinen Berechnungen nach würde er irgendwann an die Oberfläche führen.
Damit war Bill voll und ganz einverstanden. Er jubelte trotzdem nicht. Wenn er es sich recht überlegte, hatte es ihm die andere Seite ziemlich leicht gemacht. Er war offensichtlich nicht verfolgt worden, und das gab ihm jetzt zu denken. Lucy und auch ihre Helfer waren raffiniert. Sie ließen ihn erst verschwinden, abtauchen, um anschließend schnell und hart zuschlagen zu können. Und Bill trug keine Waffe bei sich. Wenn Lucy angriff, mußte er sich mit bloßen Händen verteidigen. Bei einem Ghoul unmöglich, der war immer im Vorteil. Daran wollte Bill nicht denken. Er würde sich darauf einstellen, wenn es soweit war. Bill setzte seinen Weg fort. Den rechten Arm mit der Lampe hielt er vorgestreckt. Die Flamme tanzte, sie berührte hin und wieder die Innenseiten des Glaszylinders und gab Rußflocken ab, die auch aus der Öffnung flatterten. An der rechten Seite fiel Bill plötzlich eine Tür auf. Es war mehr ein Zufall, daß er sie überhaupt entdeckt hatte, denn das schmutzige Holz zeigte die gleiche Farbe wie die Wand. Bill blieb stehen. Trotz seiner nicht gerade tollen Lage war die Neugierde in ihm nicht besiegt. Er sah auch die Klinke und nahm sich die Zeit, die Tür zu öffnen. Möglicherweise lag dahinter etwas, das ihm gerade recht kam. Er mußte zerren, weil das Holz mit seiner unteren Kante über den Boden schleifte. Zuerst streckte er den Arm mit der Leuchte in den stockfinsteren Raum hinein, der nicht mehr so finster blieb, denn das Flackerlicht tanzte über zahlreiche Kisten hinweg, die neben- und übereinander gestapelt waren. Einige Kisten waren verschlossen, bei anderen standen die Deckel offen. Der Reporter trat neugierig näher, und er sah zunächst die unregelmäßige Schicht aus Ölpapier, das die Kiste bis zum oberen Rand hin ausfüllte. In dieses Papier war etwss eingepackt. Bill stellte die Lampe auf einer anderen Kiste ab und brauchte die Gegenstände gar nicht aus dem Papier zu wickeln. Er erkannte schon jetzt, daß es sich um Waffen handelte. Gewehre! »Waffenschmuggel, also«, flüsterte er. »Und der Friedhof hat als ideales Versteck gedient.« Er schüttelte den Kopf und mußte gleichzeitig zugeben, daß sich diese Bande hervorragend getarnt hatte, daran gab es nichts zu rütteln. Er packte ein Gewehr aus und schaute es sich an. Es war kein Jagdgewehr, dieses hier wurde von den Soldaten der NATO benutzt, und es sah verdammt neu aus.
Bill legte es wieder weg. In den anderen Kisten wollte er nicht nachschauen. Auch sie würden den gleichen Inhalt haben, vielleicht noch Pistolen oder Maschinengewehre. Das. war alles möglich. Der Reporter zog sich wieder zurück. Im Tunnel blieb er stehen und schnüffelte. Wenn sich Lucy in der Nähe aufhielt, dann hätte er sie erriechen müssen, aber sie war nicht da. Der Geruch hatte sich nicht verstärkt. Noch hielt sie sich zurück. Im Gegensatz zu Bill. Der Tunnel stieg noch immer an. Bill ging ihn weiter, jetzt mit zügigeren Schritten. Er wollte auch endlich wieder frische Luft schnappen, denn was er hier unten einatmete, war einfach furchtbar. Er hatte das Gefühl, von verwesendem Fleisch umgeben zu sein, einfach widerlich. Der Boden zeigte sich glatt, wie festgestampft. Die hier arbeitenden Männer und Frauen hatten es sich schon bequem gemacht, um auch unter diesen extremen Bedingungen optimal arbeiten zu können. Dann sah Bill die Treppe. Zuerst wollte er es nicht glauben. Es war alles wie für ihn gemacht. In der Dunkelheit zeichnete sich das eckige Muster der vier Stufen ab, und es endete vor einer Tür. Lag dahinter schon die Oberfläche? Bill konnte es kaum glauben, aber dieser frische Lufthauch war schon zu spüren. Er mußte durch eine Türritze dringen und wehte ihm ins Gesicht. Was lag dahinter? Bill blieb vor der Tür stehen. Sein Herz klopfte wieder schneller. Die Spannung würde anhalten, sie würde sich sogar noch verstärken, was Bill auch erlebte, als er die Tür aufriß. Dunkelheit - oder? Nein, nicht ganz, denn durch die verglasten Fenster an den Seiten schimmerte blasses Mondlicht. Dahinter lag also der Friedhof. Wenig später hatte Bill den Raum betreten und konnte erkennen, daß er von den Wänden eines kleinen Pavillons umgeben war. Es konnte auch eine Gruft sein, ein großes Grab, gebaut wie ein Haus, das ihn umschloß. Ein Grab, in dem es penetrant nach Leichen stank . . . Bill ging weiter vor, denn er wußte plötzlich, daß Lucy in der Nähe lauerte. Nach dem dritten Schritt sah er sie. Sie saß vor ihm auf einem breiten Stuhl. Eine Masse Mensch, eine Masse Ghoul, ein Mittelding zwischen bei-dem. Schleimig, fett und widerlich, und Lucy hob den rechten Arm an, streckte Bill den Zeigefinger entgegen und sagte, wobei sich die Worte schmatzend und blubbernd anhörten: »Jetzt habe ich dich . . .«
*** Ich hatte den Friedhof erreicht! Es war tatsächlich kein weiter Weg gewesen. Schon dicht hinter der Grillhütte hatte ich ein weniger bewaldetes Gelände erreicht, wobei die Bäume sehr bald verschwanden und wild wachsendem Buschwerk Platz schufen, das silbrig und grünlich schimmernd im Schein des Mondlichts lag und mir vorkam, als würde es darauf warten, erobert zu werden. Als Eroberer sah ich mich nicht an, eher als Mensch, der sehr vorsichtig zu Werke ging. Da die Büsche nicht sehr hoch wuchsen, paßte ich mich ihrer Höhe an und bewegte mich geduckt weiter, wobei ich über einen weichen Boden ging. Einen Pfad oder Weg entdeckte ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich bei Tageslicht so etwas gesehen, aber in der tiefen Nacht mußte ich mich schon quer durch das Gelände bewegen immer sehr vorsichtig, nicht hastig sein, stets auf der Hut. Die Grabsteine bildeten eine Kulisse, wie sie schauriger nicht sein konnte. Hier paßte einfach alles. Die Gräber, die schmalen Wege, die Büsche, auch die alten Hecken, die ziemlich verwildert aussahen. Überhaupt war der gesamte Friedhof verwildert. Niemand pflegte ihn, so hatte die Natur wuchern und sich ausbreiten können. Die noch halbwegs freistehenden Grabsteine machten auf mich den Eindruck stummer Totenwächter. Das erinnerte mich wieder an die Frau. Lucy hieß sie, und ich hielt nach ihr Ausschau. Sie war nicht zu sehen, ebensowenig wie die beiden Kumpane des bewußtlosen Kondy. Der Friedhof sah einsam und verlassen aus. Er war menschenleer. Nur wollte ich das nicht akzeptieren. Wer immer hier sein Unwesen trieb, würde ebenso vorsichtig sein wie ich, weil er irgendwo auch mit Besuch rechnete. Was war echt, was war nachgebaut? In der Dunkelheit und auf den ersten Blick hin konnte ich keine Unterschiede feststellen. Wer immer hier gebaut hatte, der hatte sich den Gegebenheiten des alten, längst verlassenen Friedhofs angepaßt. Keine Bewegung . . . Abgesehen von zitternden Zweigen der Hecken und Büsche, wenn der Wind sie streichelte. Er brachte die Kühle der Nacht, er brachte die Frische mit, aber er konnte den schalen Geruch nicht neutralisieren, der in meine Nase drang. Nein, schal war irgendwie falsch. Es war ein ekliger Geruch, faulig, nach Verwesung riechend, aber nicht nach Humus! Es handelte sich um Ghoulge-stank! Ich roch es sofort.
War Lucy ein weiblicher Ghoul? Ich ging zu fast hundert Prozent davon aus. Es gab für sie kein idealeres Versteck als diesen alten Friedhof. Da war sie eine Grabkriecherin, die sich durch die Gänge wand und sich dorthin mit ihren Opfern zurückzog. War auch Bill zu ihrem Opfer geworden? Diese Befürchtung verdichtete sich immer stärker. Ich kannte auch die Regeln. Wenn Lucy Helfer hatte, dann war Bill möglicherweise von ihnen getötet und anschließend Lucy als Beute übergeben worden. Der Gedanke machte mich leicht nervös und trieb mir sogar den kalten Schweiß auf die Stirn. Plötzlich hörte ich einen Pfiff. Es war nur mehr ein dünner Laut, aber in der Stille durchaus zu hören. Sofort duckte ich mich. Doch nicht zu tief, ich wollte auch sehen können, was geschah, und so peilte ich über die Spitzen zittriger Zweige hinweg. Der Pfiff wurde nicht wiederholt. Dafür vernahm ich ein anderes Geräusch. Tritte waren es, und sie klangen sogar in meiner Nähe auf. Leider konnte ich die Gestalt nicht sehen, ich wußte auch nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war, wartete noch einige Sekunden und schob mich dann um eine Idee höher. Der Mann war hinter einem Grabstein hervorgetreten. Wegen seines geschwärzten Gesichts wirkte er wie ein schauriges Friedhofsgespenst. Ob er gepfiffen hatte, wußte ich nicht. Er blieb jedenfalls an einer bestimmten Stelle stehen und schaute nach unten. »Beide sind weg!« meldete er. Aus dem Hintergrund antwortete ein zweiter, und er lachte dabei. »Dann wird unser Freund in Lucys Arme laufen, wenn er so reagiert, wie sie es sich vorgestellt hat. Sie hat eben gern ihren Spaß.« Ich runzelte die Stirn. Es war von einem Freund gesprochen worden. Für mich gab es nur die Möglichkeit, das Bill Conolly damit gemeint gewesen war. Ein Freund also . . . Von wegen! Der Mahn, der zu Boden schaute, hob den Kopf. »Oder sollen wir nicht lieber auf Nummer Sicher gehen, Zap-pow?« »Wie meinst du das?« »Nun ja, dieser Schnüffler macht mir nicht den Eindruck, als ließe er sich die Butter vom Brot nehmen. Mich hat es stutzig gemacht, daß er nicht in Panik verfiel, als er Lucy sah. Das war bei den meisten anders. Die haben fast durchgedreht, als sie erfuhren, was mit ihnen geschehen sollte, aber nicht der Schnüffler.« »Danny, das stimmt!« »Meine ich auch. Deshalb sollten wir eine Sicherheit einbauen. Ich wäre dafür, daß einer von uns Lucy unterstützt. Nicht so offen zunächst. Er kann ihr ja Rückendeckung geben.«
»Gut!« meldete sich Zappow ziemlich schnell. »Das werde ich dann übernehmen.« »Und was soll ich tun?« »Dort genau stehenbleiben, wo du stehst. Wir müssen noch immer damit rechnen, daß der Schnüffler zurückkehrt und nicht so mitspielt, wie wir es uns gedacht haben.« »Mach ich.« »Ich melde mich dann wieder.« Auch im Hintergrund des Friedhofs hörte ich die typischen Geräusche, die entstehen, wenn sich jemand mit schnellen Schritten einen Weg durch das Gelände bahnt. Danny blieb allein zurück. Er schaute seinem Kumpan so länge nach wie möglich. Ob er ihn dabei sah, wußte ich nicht, ich jedenfalls hatte Zappow noch nicht zu Gesicht bekommen. Zappow war auch nicht das Problem, sondern Danny. Um an Zappow und auch an Bill heranzukommen, mußte ich Danny passieren, und das würde schwer genug werden. Er schaute zwar zu Boden, so sah er nicht, was in seiner unmittelbaren Umgebung geschah, doch es war einfach zu still. Da würde er jedes Geräusch hören können, und lautlos konnte ich mich nicht anschleichen. Was tun? Schnell handeln und treffsicher. Eine Kugel war keine Lösung, auch wenn ich ihn damit nur verletzte. Zappow wäre aufmerksam geworden, und das wäre Bill Conolly bestimmt nicht gut bekommen. Danny ablenken? Der alte Trick mit dem Stein, auf den schon so mancher hereingefallen war? Nein, ich war davon nicht überzeugt. Da mußte es noch andere Wege geben, und die liefen auf ein Weglocken des Wachtpostens Danny hinaus. Ich kannte seinen Namen, und das war gut. Außerdem hatte ich mir Kondys Stimme gemerkt, der Klang lag noch in meinen Ohren. Ich würde versuchen müssen, seine Stimme nachzuahmen. Vielleicht hatte ich so eine Chance, Danny nahe an mich heranzulocken. Nichts im Leben ist ohne Risiko. Wer gewinnen will, muß etwas einsetzen. Auch ich handelte nach dieser Devise. Bisher war ich ruhig stehengeblieben, was sich sehr bald änderte, denn ich tauchte zu Boden, nicht leise und vorsichtig, nein, ich drückte meinen Körper nach vorn und damit auch hinein in das vor mir wachsende Buschwerk, was nicht geräuschlos ablief und von meinem abgehackten Stöhnen zusätzlich verstärkt wurde. Danny hatte die Geräusche gehört. Ich lag kaum am Boden, als er sich umdrehte. Diese Bewegung bekam ich noch mit, dann wurde mir die Sicht versperrt, weil einige Zweige wie starre Gitter vor mir hochwuchsen.
»He . . .« Ich lag auf dem feuchten Boden. Wieder stöhnte ich. Diesmal hatte ich den Kopf gedreht und ihn auch leicht angehoben. So konnte ich zumindest den Unterkörper des anderen sehen. Danny hatte sich gedreht, er schaute wohl in meine Richtung, und ich hörte seine Rufe. »Kondy? Bist du es, Kondy?« Pause. »He, Kondy, verdammt, melde dich!« Ich meldete mich und stöhnte erneut. Danny fluchte. Ich behielt seine Beine im Blick. Er wußte wohl nicht, was er tun sollte, zwar bewegte er seine Füße, aber er trat nur auf der Stelle und hatte sich noch nicht in Bewegung gesetzt. Ich beschloß, den Mann herbeizulocken. »Danny!« stöhnte ich. »Verdammt, Danny . . .« Die Worte klangen aus, und ich drückte mir die Daumen, Kondys Stimme gut genug nachgeahmt zu haben. Der andere brauchte ja nur in meine Nähe zu kommen, dann . . .« »Scheiße, Kondy, was ist? Komm her!« »Kann nicht. . .« »Was ist denn los? Bist du verletzt?« »Ja . . .« »Und warum?« »Hilf mir!« Es war mehr ein Flüstern. Gerade so laut, daß der Wächter es verstehen konnte. Diesmal verließ er tatsächlich seinen Platz. Anhand der Beinstellung bekam ich mit, daß er noch sehr unsicher war. Er bewegte seinen Körper nach links und rechts, schaute sich dabei um, aber seine Gehrichtung behielt er bei. Danny wußte ja, wohin er zu gehen hatte, und der Ausschnitt seiner Gestalt vergrößerte sich für mich, je näher er kam. Ich hoffte. Dann senkte er seinen rechten Arm. In meinen Sichtausschnitt geriet die Hand und ebenfalls die Waffe, die er festhielt. Es war ein stupsnasiger Revolver. Damit hatte ich zwar gerechnet, war aber trotzdem etwas enttäuscht, denn die Lage hatte sich von einem Augenblick zum anderen verschärft. »He, Kondy, was ist mir dir?« Ich wollte nicht mehr reden, er war bereits zu nahe, deshalb stöhnte ich in meine Hände hinein, um auch dieses Geräusch so neutral wie möglich zu halten. Danny war stehengeblieben. Er wippte auf den Fersen, dann senkte er seine Gestalt, um in den Busch hineinzuschauen. Ich lag auf dem Bauch, den rechten Arm angewinkelt und unter meinem Körper vergraben. Die Beretta hielt ich ebenfalls fest, und ich hoffte darauf, daß mir der Busch noch genügend Deckung gab, damit Danny nicht schon jetzt erkennen konnte, wer da tatsächlich lag. Er war verunsichert.
Danny kam näher. Ich schielte in die Höhe. Besonders die rechte Hand interessierte mich. Die Mündung des Revolvers glotzte starr zu Boden, sie war nicht auf mich gerichtet. Noch einen Schritt! dachte ich. Komm noch einen Schritt. Dann bist du nahe genug. Wieder gab ich ein neutral klingendes Stöhnen ab. In meinem Gesicht klebte der Dreck, und er hatte sich ebenfalls auf den Lippen festgesetzt. Warum zögerte Danny? Hatte er etwas bemerkt? War er mißtrauisch geworden? Was immer auch mit ihm geschehen sein mochte, ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, daß er noch mißtrauischer wurde und die Wahrheit schließlich erkannte. Noch konnte ich ihn überraschen! Urplötzlich jagte ich hoch. Ich hatte mich auf diese wichtige Sekunde innerlich vorbereitet. Ich war wie ein starrer Schatten, in den plötzlich Leben gefahren war und sich nicht mehr aufhalten ließ. Selbst Danny, so mißtrauisch er auch war, wurde von meiner Reaktion überrascht. Einen halben Schritt von ihm entfernt kam ich in die Höhe. Trotz der Dunkelheit erkannte ich an ihm jede Reaktion. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck des schlimmen Entsetzens, der Mund stand offen, die Augen ebenfalls, der Schock würde bestimmt nicht lange andauern, dann löste sich der Schrei oder der Schuß. Plötzlich spürte Danny die kalte Mündung der Beretta unter dem Kinn, und er hörte auch meine zischende Stimme. »Keinen Laut!« Danny schwieg. Er zitterte, der Schock hatte ihn nicht starr werden lassen. »Weg mit der Waffe!« Etwas landete mit einem dumpfen Geräusch neben mir am Boden. So hatte ich die zweite Phase auch für mich entschieden. Ich gab der Mündung etwas Druck und hörte das Röcheln des Mannes. Er wußte allerdings auch, was ich wollte und stolperte zurück, bis wir eine relativ freie Fläche erreicht hatten, wo uns kein Buschwerk mehr behinderte. Dort befahl ich Danny flüsternd, stehenzubleiben. Er kam meiner Aufforderung nach. »Wunderbar«, sagte ich, »sehr gut. Alles ist hervorragend. Du bist eine Schau, Danny.« Zum erstemal atmete er. Sein geschwärztes Gesicht sah aus, als wäre er dabei, zu einem Faschingsfest zu gehen, wo er sich leider auf einem Friedhof verirrt hatte. Ich gab ihm eine Chance, eine Frage zu stellen. »Du bist nicht Kondy. Wer bist du?« »Ich suche einen Freund.«
»Den Schnüffler?« »Bingo, Danny.« »Scheiße, ich wußte es. Ich habe es geahnt. Der Schnüffler hat davon gesprochen.« »Und Zappow wollte dir nicht glauben, wie?« Seine Augen wurden rund und die Pupillen weiß. »Woher kennst du Zappow?« Ich lächelte eisig. »Ihr habt euch vorhin laut genug unterhalten, auch über meinen Freund. Du weißt bestimmt, wo ich ihn finden kann, zusammen mit Zappow und deiner Freundin Lucy.« Danny zeigte plötzlich ein verzerrtes Grinsen. »Lucy?« hechelte er. »Ja, die gibt es.« »Ich weiß. Sie riecht auch so gut. Bevor du dir jetzt vorstellst, wie sie dabei ist, die Zähne'in meinen leblosen Körper zu schlagen, möchte ich dir erklären, daß ich mit Wesen, wie Lucy eines ist, sehr gut auskenne. Ich weiß, wie man sie ausschalten kann, und mein Freund Bill Conolly kennt sich ebenfalls aus. Du siehst, daß eure Chancen um einiges gesunken sind.« Danny schwieg. Er stand steif vor mir. Kopf und Rücken zurückgedrückt, und er sah aus, als würde er jeden Moment kippen. »Um dir Ärger zu ersparen, Danny, würde ich gern wissen, wo ich meinen Freund und die beiden anderen finden kann?« Er wollte etwas sagen, keuchte aber nur. »Sag nicht, daß du es nicht weißt. Ich kann sie auch selbst suchen und dir zuvor eine Kugel verpassen.« »Im Grab . . .« »Bitte?« »Im Grab-Pavillon. Die Filmleute haben das Ding gebaut. Es ist sogar massiv aus Stein!« »Herrlich, Danny, danke. Jetzt brauchst du mir nur noch zu sagen, wie ich gehen muß.« »Nach links, am Rand, du kannst es nicht übersehen.« »Wunderbar.« Ich zog die Waffe zurück. Automatisch senkte Danny den Kopf. Darauf hatte ich gewartet und schon ausgeholt, als er sich noch bewegte. Der Waffenlauf erwischte ihn an der Stirn. Dannys Arme zuckten in die Höhe. Genau dort, wo ich ihn getroffen hatte, platzte die Haut plötzlich auf. Blut rann aus der Wunde, er verdrehte die Augen, und ich brauchte kein zweites Mal zuzuschlagen. Danny ging in die Knie, als wäre ich eine Figur, die er anbeten wollte. Ich fing seinen Fall ab, legte ihn dann auf den Boden und war zunächst einmal zufrieden.
Ein schneller Blick in die Runde. Meine Zufriedenheit steigerte sich, denn den Vorgang hatte wohl niemand beobachtet. Jedenfalls bewegte sich auf dem alten Friedhof nichts mehr. Besser konnte es nicht laufen. Ich erinnerte mich daran, was Danny mir erzählt hatte, und an eine Lüge seinerseits glaubte ich nicht. Bevor ich mich der linken Seite zuwandte, hob ich Dannys Revolver auf und steckte ihn in meinen Gurt. Der Mann lag im Gras und rührte sich nicht. Ich.passierte ihn, wandte mich dann nach links und sah die alten Grabsteine vor mir stehen. Einige von ihnen berührte ich. Dabei stellte ich fest, daß nicht alle aus Stein waren, einige hatte man aus einem anderen Material gebaut. Vielleicht aus Holz. Jedenfalls waren sie von den Film-Handwerkern perfekt nachgebildet worden. Mir gereichte das blasse Mondlicht zum Vorteil. Und auch die Klarheit der Nacht. Der Friedhof lag still vor mir. Ich unterschied locker die Umrisse der zahlreichen Denkmale und Figuren, alles war so gut wie perfekt, und ich sah auch den weichen Lichtschimmer. Vor mir, noch relativ weit entfernt. Doch dort, wo ich ihn entdeckt hatte, malte sich auch ein großes, schon hausähnliches Grab ab. Dieser seltsame Pavillon war mein Ziel. Und diesmal würde es härter werden, davon war ich überzeugt. Ich glaubte auch, Stimmen zu hören und nahm zugleich den Geruch wahr, wie ihn nur ein Ghoul abgeben konnte . . . *** Bill erschreckte nicht die Anwesenheit des weiblichen Ghouls, er wunderte sich vielmehr über die Sicherheit, mit der Lucy ihn begrüßt hatte. Durch diese Worte hatte sie ihm zu erkennen gegeben, wie chancenlos er doch war. Bill rührte sich nicht von der Stelle. Er kam sich zudem mit seiner Lampe lächerlich vor. Wie ein Diener, der einen Kandelaber festhielt, um seinem Herrn heimzuleuchten, sich aber im Hintergrund aufhalten mußte, weil er sonst störte. Lucy hatte sich schon einen breiten Stuhl besorgen müssen, um ihre Massen hineinzupressen. Sie hatte sich seit der letzten Begegnung verändert. Sie war noch breiter geworden, und im trüben Lichtschein sah sie aus wie eine stark schwitzende Person. Nur war es kein Schweiß, der in dicken und an Fäden hängenden Tropfen über ihr Gesicht rann. Es war einfach der widerliche Schleim eines Ghouls. Bill Conolly wollte hier nicht das Denkmal spielen und bewegte sich vorsichtig. Außerdem mußte er die Lampe loswerden, um beide Hände freizuhaben. Er ging in die Knie und streckte dabei seinen rechten Arm aus und senkte ihn zugleich.
Noch in der hockenden Haltung stellte Bill die Öllampe auf den Boden, damit er Lucy besser sehen konnte. Lucy war zu einer schleimigen Qualle geworden. Ein aufgedunsener Körper, der durch das Licht einen gelblichroten Schein bekommen hatte. Das alte Leichenhemd umgab auch weiterhin ihren Körper, war aber an zahlreichen Stellen gerissen und wurde nur durch dünne Stoffäden zusammengehalten. Das Haar, zwar noch blond, zeigte sich durch den Schleim naß und dunkel. Der Geruch war unerträglich, Bill versuchte, so wenig wie möglich zu atmen. Er konzentrierte sich auf die Augen der Gestalt. Einen menschlichen Ausdruck zeigten sie nicht. Sie sahen aus, als wären sie kurzerhand in den runden Schädel hineingedrückt worden, einfache dicke Perlen aus Glas. Eine Nase war kaum noch zu erkennen, und wenn, dann nur mehr als kinderfaustgroßer Klumpen. Darunter ein Mund, der auch keiner war. Mehr ein Loch, das sich in verschiedenen Größen zeigte, ein schmatzendes Etwas, gefüllt mit Speichel oder Schleim, dabei immer wieder irgendwelchen Veränderungen unterworfen. Mal zog es sich mit schmatzenden Lauten zusammen, mal öffnete es sich wieder und sonderte blasigen Schleim ab, wobei diese Blasen mit häßlich und satt klingenden Geräuschen zerplatzten. Lucy lachte. Ein widerliches Geräusch, auch von schmatzenden Lauten begleitet. Sie nahm ihre Hand zurück und ließ sie auf die Lehne des Stuhls klatschen. »Ich wußte, daß du schlau bist, das wußte ich. Du würdest den Weg finden, du bist beinahe wie ich, fast ein Grabkriecher. Und weil ich so gut gedacht habe, habe ich auf dich gewartet. Hier ist mein Lieblingsplatz, hier erwarte ich meine Nahrung. Die meisten waren geschockt und entsetzt, als sie mich sahen. Du bist anders.« Ihre Augen zuckten, als wollten sie sich verengen. »Warum?« Bill hob die Schultern. »Es kann sein, daß ich mit dir gerechnet habe, Lucy!« Sie schüttelte fast wütend den Kopf. »Mit mir kann niemand rechnen, nicht mit mir.« »Warum nicht?« »Ich bin anders.« »Stimmt«, erwiderte Bill, »das gebe ich sogar gern zu. Aber du bist nicht einmalig. Es gibt zahlreiche Geschöpfe deiner Art, und einige von ihnen habe ich sogar vernichten können. Ich bin kein Fraß für Ghouls, Lucy, auch nicht für dich.« »Vernichten, he?« »Und du willst auch mich vernichten?« »Da hast du nicht unrecht.« Lucy lachte. Dabei sprühten aus ihrem Mund die Schleimtropfen. »Du besitzt keine Waffe, du hast nur deine Hände, und damit wirst du mich
nicht vernichten können. Oder willst du sie mir um den Hals legen und so lange zudrücken, bis du es schaffst, mir den Kopf vom Körper zu reißen?« »Sicherlich nicht.« »Also wie?« »Ja, Schnüffler, darauf bin ich auch gespannt!« Bill hatte auf einmal den Eindruck, in einer leeren Welt zu stehen und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Diese Stimme hatte ihm ausgerechnet noch gefehlt. Es war der Anführer des Trios, dessen Namen er nicht mal kannte. Er hatte sich ungesehen näher an den Pavillon herangeschlichen und ihn dann betreten. Aus dem Hintergrund kam er hervor, und seine Gestalt bewegte sich an dem hellen Umriß eines der kleinen Fensters entlang, wo sie gut zu erkennen war. Auch die Pistole in seiner Hand. Bill sah, daß es seine mit geweihten Silberkugeln geladene Beretta war, die er ebenso besaß wie John Sinclair und Suko. Die Stimme blieb stehen. »Nun, warum sagst du nichts?« »Ich rede nicht mit Unbekannten.« »Oh - meinen Namen kann ich dir verraten. Ich heiße Zappow, nicht mehr und nicht weniger.« »Danke.« Er lachte. »Ich weiß nicht, ob du dich bei mir bedanken sollst. Oder ist es in geworden, daß man sich bei einem Menschen bedankt, der gleichzeitig der Mörder des anderen sein kann?« »Dann willst du mich töten?« »Lucy steht nur auf Leichen.« »Ja, das weiß ich.« , Der weibliche Ghoul meldete sich. »Ich kann es auch selbst tun, Zappow. Ja - je länger ich darüber nachdenke, um so besser gefällt mir dieser Gedanke, ihn erst töten und mich anschließend mit seiner Leiche beschäftigen.« Lucy hatte die Sätze kaum ausgesprochen, als sie sich bewegte. Schwerfällig beugte sie ihren Körper nach vorn, und auch die Arme machten die Bewegung mit. Sie glitten durch die große Lücke zwischen den gespreizten Beinen hindurch, um nach dem zu suchen, was sich unter dem breiten Stuhl befand. Es dauerte etwas. Bill hörte das leise Klirren. Es erinnerte ihn daran, daß Metall auf Stein traf. Waffen waren aus Metall. Und eine Waffe holte Lucy hervor. Mit den schleimigen Fingern der rechten Hand hielt sie die Griffe einer rostigen Gartenschere umklammert, die früher einmal einem Gärtner öder Totengräber gehört haben mußte, der hier auf dem Friedhof seinen Arbeitsplatz gefunden hatte. Lucy legte die Schere auf ihren Schoß, ohne sie dabei loszulassen. Mit einer langsamen Bewegung senkte sie den Kopf, um auf die Waffe zu schauen. Die beiden Hälften lagen dicht zusammen, sie hätten eigentlich
Rost ansetzen müssen, was nicht geschehen war. Auch ein Hinweis darauf, daß Lucy die Schere des öfteren eingesetzt hatte. Sie hob die Waffe hoch, lachte blubbernd und drückte die beiden Hälften auseinander. »Schnipp!« sagte sie. Bill zuckte zusammen. Lucy aber lachte. Und Zappow redete. »Na, Schnüffler, was sagst du jetzt? Das kann dir doch nicht gefallen - oder?« »Du hast recht.« »Leider kann dir niemand sagen, was es für ein Gefühl ist, eine Gartenschere in den Bauch gerammt zu kriegen. Es ist bestimmt nicht erfreulich. Oder willst du doch lieber eine Kugel?« Die Antwort gab Lucy. »Nein, nein, keine Kugel. Ich hole ihn mir. Ich werde ihn fertigmachen.« Aus dem offenen Mund schlug die schleimige Zunge hervor. Sie sah aus wie eine alte Wurst und umtanzte das häßliche Ghoulmaul. Bill blieb ruhig. Er bewunderte sich irgendwo selbst, daß er nicht die Nerven verlor, sich umdrehte und versuchte, durch ein Fenster zu hechten, egal ob mit oder ohne Glas. Er war ein Mann, der bis zum letzten Atemzug an seine Chance glaubte, und auch in diesem Fall dachte er daran, daß er so chancenlos Lucy gegenüber nicht war. Er mußte nur versuchen, sie zwischen sich und Zappow zu bekommen, dann stiegen seine Möglichkeiten um einiges an. Lucy quälte sich aus ihrem Stuhl hervor. Es war wirklich ein Quälen, denn schon bei den ersten Bewegungen wurden ihre Seiten zusammengedrückt, und aus dem Mund drang, durchsetzt von einem blubbernden Geräusch, ein tiefes Stöhnen. Die Gartenschere hielt sie fest. Ihre Spitze war haargenau auf Bills Körpermitte gerichtet, wahrscheinlich sollte sie ihn dicht oberhalb der Gürtelschnalle treffen. Lucy grinste. Im Licht der Öllampe entdeckte der Reporter die Reißzähne des Ghouls, die sich gebildet hatten. Auch von Lucys Kopf war kaum etwas zu sehen. Er und der Körper gingen ineinander über. Es gab keinen Hals mehr, in der letzten Zeit war sie immer mehr zu einem widerlich stinkenden Schleimklumpen degeneriert, eben zu einem echten Ghoul, der Hunger hatte. Selbst die Augen waren so gut wie nicht mehr zu sehen. Sie waren hinter dieser weichen Masse verschwunden, und immer mehr Schleimfäden tropften oder rannen von der Stirn. Die blonden Haare waren ebenfalls in die Masse integriert worden. Der Schleim bedeckte sie wie eine durchsichtige Haube.
Hinzu kam der Gestank, der an Pe-netranz nicht zu überbieten war. Er raubt Bill den Atem, und der Reporter wunderte sich darüber, daß Zappow es noch aushielt. Wahrscheinlich war dieser Waffenhändler es so gewohnt. Lucy war bereit. Sie nickte Bill zu, schaute auf die Schere und machte den ersten Schritt. Bill verfolgte ihre Bewegungen. Es kam ihm ungewöhnlich abgehackt vor. Bewegung - Schnitt - Bewegung -Schnitt. Auch er blieb nicht stehen. Seinen Plan, Lucy zwischen sich und Zappow zu bringen, hatte er nicht vergessen. Deshalb ging er nach rechts, etwas auf die Ölleuchte zu, und er behielt nicht Lucy im Auge, sondern Zappow, der nicht eingriff. Das wunderte Bill. Er wurde forscher. Die nächsten beiden Schritte ging er schneller. Lucy mußte sich mitbewegen, was ihr aber nichts ausmachte. Seltsamerweise, reagierte Zappow nicht. Er blieb stehen, als wäre er von einer unerklärlichen Starre erfaßt worden. Bill machte sich darüber keine Gedanken, er hörte vor sich den saugenden und gleichzeitig schmatzenden Laut der Ghoulfrau, und dann griff sie an . . . *** Ich konnte das Ziel einfach nicht verfehlen, denn der Geruch trieb mich dorthin. Je näher ich kam, um so intensiver spürte ich ihn. Wenn ich etwas nicht mochte, dann war es der eklige Leichengestank der verdammten Ghouls. In diesem Fall aber kam er mir gerade recht, so brauchte ich mich nicht neu zu orientierer., obwohl ich auch sehr vorsichtig war und dabei an Zappow dachte. Hielt er sich draußen verborgen, oder hatte er den Pavillon betreten? Er sah aus wie ein kleines Mausoleum mit einem halbrunden Dach. Da er ziemlich frei stand und keine Pflanzen außen an den Mauern hoch wuchsen, fiel mir auf, daß dieses rötlichgelbe Licht durch mehrere Fenster fiel und sich rund um die Öffnungen in einem bestimmten Abstand an der Außenmauer verteilte. Ich hörte Stimmen. Sicherheitshalber blieb ich stehen. Da sprach eine Frau, aber ihre Worte wurden ständig durch ein widerliches Schlürfen und Schmatzen unterbrochen, und ich konnte mir vorstellen, mit wem es Bill zu tun hatte. Auch die Stimme eines Mannes vernahm ich. Das mußte Zappow sein. Demnach hielt er sich ebenfalls in diesem Pavillon auf, was für mich nur von Vorteil sein konnte. Ich bewegte mich
schneller auf das Ziel zu, obwohl ich weiterhin darauf achtete, so leise wie möglich zu sein. In der Lücke zwischen zwei matt erleuchteten Fensterscheiben erreichte ich den Pavillon. Dabei drückte ich mich gegen das feuchte Mauerwerk. Vorsichtig bewegte ich den Kopf nach vorn, um einen ersten Blick in das Innere des kleinen Baus werfen zu können. Ich mußte mich zusammenreißen, um mich nicht sofort zurückzuziehen, denn der Gestank raubte mir das letzte Quentchen Atemluft. Was mir da entgegenwehte, war einfach unbeschreiblich, aber einen Geruch kann man nicht sehen, wohl aber nahm ich die Szene wahr, die sich meinen neugierigen Augen bot. Ich sah den fetten weiblichen Ghoul auf einem Stuhl sitzen. Vor Lucy stand Bill Conolly, in seiner Nähe eine alte Ölleuchte, und ich sah den Rücken eines Mannes. Das war Zappow, der nicht im Traum daran dachte, sich umzudrehen und einen Blick auf das eine oder andere Fenster zu werfen. Die Szene vor ihm faszinierte ihn zu sehr; das genau war mein Vorteil. Durch das Fenster wollte ich nicht, denn ich hätte dabei das Glas sprengen müssen. Es gab noch einen normalen Eingang. Er war offen. Abermals ein Vorteil für mich. Ich war sehr leise, niemand hörte mich. Zudem hatte sich Zappow von Lucy und Bill ablenken lassen. Er wartete darauf, zuschauen zu können, wie Lucy Bill die Schere in den Leib stieß. Dazu wollte ich es nicht kommen lassen. Den Gestank ignorierte ich völlig. Der nächste, lautlose Schritt brachte mich über die Schwelle. Ich hob den rechten Arm, ein erneuter Schritt, ich war in Zappows Rücken, der genau in dieser Sekunde wohl etwas merkte, aber nicht mehr dazu kam, sich umzudrehen, denn plötzlich spürte er in seinem Nacken einen kalten, runden Gegenstand. Es war die Mündung. Ein Mann wie Zappow kannte sich in diesem Geschäft aus. Er war Profi genug, um zu wissen, daß die Haut von keinem kalten Finger berührt wurde. Meine Stimme war nur für ihn zu hören, als ich hauchte: »Du rührst dich nicht, sonst bist du tot!« Gehorchte er, gehorchte er nicht? Die Zeit wurde mir lang, und Zappow kam meinem Befehl nach. Er blieb starr stehen. Dafür bewegte sich Lucy. Ich blickte an Zappows Rücken vorbei und schaute zu, wie sich die widerliche Gestalt aus dem Stuhl hervordrückte. Ihr Ziel war Bill Conolly, der es ihr nicht leichtmachen wollte und sich ebenfalls zur Seite hin
bewegte. Bill zog keine Waffe, man hatte sie ihm abgenommen, und ich glaubte mich zu erinnern, sie in Zappows rechter Hand gesehen zu haben, deshalb hauchte ich den nächsten Befehl. »Den rechten Arm senken . . .« Zappow knurrte leicht. Ich verstärkte den Druck der Mündung. Der Mann senkte seinen Arm. Jetzt sah ich, daß er Bills Beretta tatsächlich festhielt. Ich nahm sie ihm noch nicht aus der Hand, weil ich sehen wollte, wie Lucy reagierte. So unförmig Ghouls manchmal auch aussehen, ich hatte erlebt, daß sie verdammt schnell sein können, und hoffentlich erinnerte sich Bill ebenfalls daran. Lucy griff an! Und ich tat nichts dagegen! *** Dafür Bill Conolly. Er hatte nur darauf gewartet, daß sich Lucy auf ihn stürzte. Er sah diesen massigen Körper, der sich ihm wie ein weicher Klumpen entgegenwuchtete, den rechten Arm nach vorn gestreckt, mit den beiden zusammengelegten Scherenhälften auf seinen Bauch zielend, um sie tief hineinzustoßen. Bill hätte sich zur Seite werfen können oder müssen, was er nicht tat. Statt dessen bewegte er nur sein rechtes Bein. Er trat nach der Öllampe. Sie klatschte gegen Lucy, wobei es so aussah, als würde sie an ihrem schleimigen Körper festkleben. Aber sie rutschte ab. Lucy hatte ihren Angriff unterbrochen. Bills Aktion hatte sie überrascht, und sie schaute nach unten, hörte vor ihren Füßen das Klirren. Der gläserne Zylinder der Lampe war zerbrochen, der Deckel der Ölwanne lag plötzlich schief, das Öl lief aus, aber die Flamme am Docht brannte weiter. Sie erfaßte das Öl! Plötzlich war das Feuer da. Ein puffendes Geräusch, Flammen schössen am Körper des schleimigen HorrorWesens in die Höhe und griffen in die alte Kleidung hinein. Die Fetzen brannten sofort lichterloh, und das Feuer ließ sich auch nicht stoppen. Es war .wie. züngelnde Schlangen, wie ein gieriges Tier, das aus Armen bestand und das Schleimwesen als Vorhang einhüllte. Lucy brannte äußerlich, und Lucy drehte durch, denn Ghouls fürchten sich vor Feuer. Sie ging zurück, sie schlug um sich, während Bill zuschaute und an dieser sich bewegenden Flammenwand vorbeiblickte und die Person sah, die sich noch immer nicht rührte.
Jetzt erst sah Bill den Grund. Denn hinter Zappow stand sein Freund John Sinclair ... *** Lucy brannte. Vielleicht nicht ihr schleimiger Körper, sondern nur die Lumpen, doch allein die Tatsache reichte aus, um sie aus dem Konzept zu bringen. Sie taumelte durch den Pavillon, sie schrie, wobei es keine normalen Schreie waren, sondern dumpfe, blubbernde, gequälte Laute, und sie bewegte dabei hektisch ihre dicken, wurstförmigen Arme, um das Feuer zu ersticken. Sie würde wahrscheinlich überleben, zwar angeschlagen, aber immerhin. Und das würde ich verhindern. Blitzschnell nahm ich die Beretta vom Hals des Mannes weg und feuerte an seinem Kopf vorbei. Das geweihte Silbergeschoß hämmerte in den schleimigen Ghoulkörper hinein. Ich hörte das Klatschen, als hätte jemand mit einer Faust dort hineingeschlagen, und ich wußte, daß ich keine-zweite Kugel nachsetzen mußte, denn Lucy würde in den folgenden Minuten austrocknen und als stinkender Kristallhaufen liegenbleiben. Zappow nutzte die Gunst der Sekunde. Er riß die Beretta hoch, um mir eine Kugel in den Leib zu schießen. Er mußte sich aber noch drehen. Diese winzige Zeitspanne war mein Vorteil. Ich schoß ihn in den rechten Arm! Zappow brüllte nicht. Er war steif. Der Schock hatte ihn so werden lassen. Sein rechter Arm, von meiner Kugel getroffen, sackte nach unten. Er blieb wie ein Stock hängen, und die Beretta rutschte aus der Hand und fiel zu Boden. Der Mann ging von mir weg. Er wurde dabei bleicher und bleicher. Seine Lippen zuckten, dann hielt ihn die Wand auf, gegen die er sich lehnte und an ihr entlang zu Boden rutschte. Ich ging schnell zu ihm und fand ebenfalls noch einen Revolver bei ihm. Dann kümmerte ich mich um Bill und Lucy. Mein Freund stand neben dem von einer geweihten Silberkugel getroffenen Ghoulwesen. Er starrte auf den unförmigen Körper, er sah, wie sich in dem schleimigen Innern etwas zusammenzog. Er hörte auch das Knistern und sah, wie die Bewegungen der Kreatur matter wurden, denn der Körper, all der Schleim, trocknete aus und wurde zu einer kristallinen Masse. Bill hob die rechte Hand. Er drehte mir die Fläche zu. Ich klatschte dagegen. Damit war zwischen uns beiden alles gesagt und auch alles klar. »Wer hat dich geschickt, John?« Bill stellte mir die Frage vor dem Pavillon, wo wir jeder eine Zigarette rauchten, um gegen den widerlichen
Geschmack in unserem Mund anzukämpfen. Rauch schmeckt zwar auch nicht besonders, aber etwas mußten wir tun. »Goldman.« »Was? Der Verräter?« »Ja, er kam zu Sheila, aber das erzähle ich dir alles später. Wir müssen noch zwei Typen einsammeln.« Ich ging einen Schritt vor, blieb dann wieder stehen und drehte mich zu Bill um. »Sag mal, mein Freund, was wurde hier eigentlich gespielt? Mit diesen Grabkriechern ist doch nicht nur Lucy gemeint worden - oder?« »Nein, auch die Bande.« »Bande?« »Ja. Waffenschieber. Sie haben sich mit Lucy arrangiert und hier unter dem Friedhof die perfekten Verstecke gefunden. Da haben die Filmleute einiges ausgebaut, du wirst dich wundern, wenn du mal nachschaust.« Ich verzog das Gesicht. »Muß ich das?« Bill grinste mich an. »Nicht unbedingt.« »Dann lasse ich es auch- Und wie Lucy hierhergekommen ist, kannst du mir auch sagen?« Der Reporter hob die Schultern. »Sorry, John, sie war einfach da. Finden wir uns damit ab.« »Klar, was auch sonst?« Dann lachte ich. »Und du mußt Sheila erzählen, weshalb du so nach Verwesung und Moder riechst.« »Das kann ich auch.« Bill kam auf mich zu und sprach weiter. »Weil ich mir endlich mal wieder neue Klamotten kaufen möchte.« »Ja, das ist ein Grund . . .« ENDE