Auf der Suche nach ihrem Schulfreund Danny machen Clark. Lana und Chloe eine schreckliche Entdeckung: Danny und seine g...
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Auf der Suche nach ihrem Schulfreund Danny machen Clark. Lana und Chloe eine schreckliche Entdeckung: Danny und seine ganze Familie sind anscheinend einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen. Doch damit nicht genug: Zur gleichen Zeit wird Lionel Luthor, Lex’ Vater, entführt. Verzweifelt versuchen Clark und seine Freunde die Hintergründe der Morde aufzuklären, während Lex natürlich alles daransetzt, seinen Vater aus den Händen der Entführer zu befreien. Als sich herausstellt, dass die beiden Verbrechen miteinander in Verbindung stehen, muss Clark rasch handeln. Aber weder seine Superkräfte noch Lex’ Macht und Reichtum können dieses Mal weiterhelfen.
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Dean Wesley Smith
Gefährliche Jagd Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Erstveröffentlichung bei DC Comics 2003 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Smallville – Whodunnit Smallville and all related characters, names and elements are trademarks of DC Comics © 2003 Das Buch »Smallville – Gefährliche Jagd« entstand parallel zur TV-Serie Smallville, ausgestrahlt bei RTL. © 2003 Warner Bros. Television © RTL Television 2003, vermarktet durch RTL Enterprises GmbH
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2003 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Anja Schwinn Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-3265-1 Besuchen Sie unsere Homepage www.vgs.de
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Für Kris, das ewige Mysterium meines Lebens
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1 MANCHMAL MUSSTE CLARK KENT Dinge verbergen, die gar nicht vorhanden waren. Heute war der heißeste Tag dieses Frühlings, aber auf seiner Haut zeigte sich nicht eine einzige Schweißperle. Schwitzen war etwas, was er nicht vortäuschen konnte, ganz gleich, mit welchen besonderen Fähigkeiten er ansonsten ausgestattet war. Und so hielt er etwas Abstand zu Lana Lang und Chloe Sullivan und hoffte, dass ihnen nichts auffallen würde. Sie waren noch nicht lange unterwegs, aber Chloe und Lana waren schon jetzt schweißgebadet, was bei der derzeitigen Temperatur von 34 Grad im Schatten kein Wunder war. Clark hatte zwar vorgeschlagen zu warten, bis sich die Hitze etwas gelegt hatte, doch Lana hatte darauf gedrängt, sofort loszugehen. Sie musste endlich Danny Franklin suchen. Lana war zusammen mit Danny mit einem Laborprojekt beauftragt worden, doch Danny war seit drei Tagen nicht mehr in der Schule gewesen, und bei den Franklins ging niemand ans Telefon. Und so hatte Lana Clark gebeten, sie zu den Franklins zu begleiten. Sie wollte nicht allein hin. Natürlich war Clark einverstanden gewesen, und Chloe, die zufällig bei ihnen gesessen hatte, hatte angeboten, sie zu fahren. Lana hatte beide dankbar angelächelt. Sie hatte kein Wort darüber verloren, warum sie die Franklin-Farm nicht allein besuchen wollte; schließlich war sie mit Danny Franklin seit ihrer Kindheit befreundet. Aber Clark hatte keine Fragen gestellt. Eigentlich wollte er den Grund auch gar nicht wissen. Er hätte sie überallhin begleitet. Er konnte Lana Lang einfach nichts abschlagen.
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Die Schwüle machte die Luft schwer und dick und dämpfte das Knirschen ihrer Schritte auf der kiesbedeckten Zufahrt, die zum Haus der Franklins führte. Bäume überschatteten diesen Teil des Weges und verschafften ihnen eine kleine Erfrischung. Clark sah, dass die Schotterstraße vor ihnen über einen niedrigen Hügel führte. Ihnen blieben noch einige wenige Schritte im Schatten, dann würden sie wieder dem unbarmherzigen Sonnenlicht ausgeliefert sein. Clark war noch nie hier gewesen. Er hatte es bisher nur zu dem Tor geschafft, das etwa hundert Meter hinter ihnen lag. Dort hatte Chloe ihr Auto geparkt, da das Metalltor und ein Vorhängeschloss, das rostig aussah, die Zufahrt blockierten. Clark hatte keine Ahnung, warum jemand eine Zufahrt mit einem Tor versperrte, wenn es auf beiden Seiten des Tores keinen Zaun gab. Nur Gräben und Unkraut markierten die Grenze zwischen der Straße und den offenen Feldern. Jeder Truck konnte mühelos durch den Graben rumpeln und das Tor umfahren, um auf die Zufahrt zu gelangen. Chloe hatte auf einen Abdruck im Unkraut gezeigt und bemerkt, dass das Tor aussah, als hätte es Jahre offen gestanden und wäre erst vor kurzem geschlossen worden. Clark beschlich ein unbehagliches Gefühl. »Vielleicht mussten die Franklins wegen eines Krankheitsfalls in der Familie nach Metropolis fahren«, sagte Lana, während sie eine widerspenstige Haarsträhne hinter ihr Ohr strich. »Das erklärt aber nicht, warum sie das Tor verriegelt haben«, meinte Chloe. »Niemand verriegelt in dieser Gegend sein Tor.« Clark nickte zustimmend. Auch die Kent-Farm hatte ein Tor, das die Grenze des Grundstücks markierte, aber Clark konnte sich nicht erinnern, dass es jemals geschlossen gewesen war. Er hatte das Unkraut im Umkreis des Tores öfter gemäht, als er zählen wollte, doch er hatte keine Ahnung, warum es überhaupt aufgestellt worden war. Und er hatte nie gefragt. 7
Höchstwahrscheinlich dienten die Zufahrtstore in diesem Teil von Kansas nur dazu, um anzuzeigen, dass eine Straße Privatbesitz war. »Vielleicht haben die Franklins das Tor nur geschlossen, um etwaigen Lieferanten zu zeigen, dass sie weggefahren sind«, spekulierte Clark. »Vielleicht«, sagte Chloe. »Aber ich finde es trotzdem merkwürdig.« »Du findest doch alles in dieser Stadt merkwürdig«, erwiderte Clark. Er schenkte ihr ein Lächeln und stieß sie mit der Hüfte an. »Das stimmt«, gab Chloe lächelnd zurück. Sie gelangten wieder ins pralle Sonnenlicht. Clark konnte die Hitze sofort spüren, aber sie störte ihn nicht so wie die Mädchen. Er wusste nicht warum, doch an Tagen wie heute konnte er sich glücklich schätzen, dass es so war. Er achtete darauf, langsam genug zu gehen, damit Lana und Chloe mit ihm Schritt halten konnten. Er musste zumindest den Eindruck erwecken, dass die Hitze auch ihm zu schaffen machte. Leichter Wind kam von Süden auf, aber er war nicht stark genug, um die Schwüle der Luft und Clarks seltsames Gefühl zu vertreiben, dass etwas Unangenehmes sie erwartete. »Ich kann mich nicht erinnern, gehört zu haben, dass es so heiß werden soll«, sagte Chloe und wischte sich mit der Hand die Stirn ab. »Ich hoffe nur, dass morgen in der Schule die Ventilatoren funktionieren.« »Wir sind noch an die Kälte gewöhnt«, entgegnete Lana. »Deshalb kommt es uns so warm vor.« Clark lächelte. »Ja, im August werden wir das hier für kühl halten.« »Unwahrscheinlich«, widersprach Chloe. »Ich werde dann genauso schwitzen wie jetzt.« »Ich dachte, Mädchen schwitzen nicht«, sagte Clark. »Das stimmt«, bestätigte Lana lachend. »Wir glühen.« 8
»Du kannst so viel glühen, wie du willst«, sagte Chloe. »Ich schwitze und ich hasse es. Eines Tages werde ich nach Alaska ziehen, nur um diese blöde Schwüle nicht mehr ertragen zu müssen.« »Willst du etwa Fotos von Bären und Moosen und Schneehaufen machen?«, fragte Clark und grinste sie spöttisch an. »Du wirst den ganzen Spaß hier in Smallville vermissen.« »Ich werde die Merkwürdigkeiten vermissen«, korrigierte Chloe. »Aber nicht die Hitze.« Sie erreichten den Kamm des Hügels und blieben stehen. Unter ihnen erhob sich die Franklin-Farm in dem flachen Tal. Ein großer Teich nahm die rechte Seite des Tales ein. Die Zufahrt führte am linken Ufer des Gewässers vorbei und endete in einem Wendekreis vor dem weißen Haus. Zwei große Scheunen beherrschten den Hügelhang hinter dem Haus. Rechts befand sich ein großer, in Beete unterteilter Garten. Es gab keine Pflöcke, Schnüre oder Markierungen am Ende der Beete, sodass Clark bezweifelte, dass schon gesät worden war. Er wusste, dass seine Mom heute anfangen würde, ihre Gärten zu bestellen, und wenn er nach Hause kam, würde er ihr helfen müssen. Kein Wagen stand auf der Franklin-Zufahrt, und die Scheunentore waren geschlossen. Nichts rührte sich. »Sieht verlassen aus«, sagte Lana. Sie klang überrascht. Clark war es nicht – und er wusste auch warum. Die Stille. Auf bewirtschafteten Farmen war es im Frühling niemals still. Sie hätten schon vom weitem das Motorengedröhn eines Traktors oder die Stimmen der Menschen hören müssen, die auf den Feldern arbeiteten. Außerdem gab es keine Gerüche. Im Moment war die KentFarm von dem durchdringenden Geruch von Dünger erfüllt. Clarks Dad benutzte Mist – ein altmodisches Düngemittel, wie er sagte, aber das beste. Andere Farmer setzten chemische
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Mittel ein, doch auch diese stanken genauso intensiv wie der Kuhmist. Stille und kein Gestank. Geschlossene Scheunentore und keine Autos. Irgendetwas war hier passiert. Clark konnte es spüren. Und als Farmersohn wusste er, dass keine Farmerfamilie im Frühling ihren Hof verließ, sofern es dafür nicht einen guten Grund gab. »Ist dir Danny irgendwie bedrückt vorgekommen?«, fragte Clark Lana. »In der letzten Zeit schon«, gab sie zur Antwort. »Zum einen hat er sich Sorgen gemacht, ob er es schafft, zusätzlich zur Schule noch die vielen Arbeiten auf der Farm erledigen zu können. Und dann wurde sein Dad von der LuthorCorp entlassen, sodass auch noch finanzielle Probleme hinzukamen.« »Die Franklins hatten schon immer finanzielle Probleme«, warf Chloe ein. »Ja«, nickte Clark. »Wie die meisten Farmerfamilien.« Lana warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, aber er ignorierte ihn. Er hatte das nicht gesagt, um Lanas Mitleid zu wecken. Die Kents kamen einigermaßen über die Runden. Aber Clark konnte sich noch lebhaft an die Reaktion seines Vaters erinnern, als Jed Franklin, Dannys Dad, seine Vollzeitarbeit auf der Farm aufgegeben und einen Job bei der LuthorCorp angenommen hatte. »Wenn man das macht«, hatte Clarks Dad gesagt, »geht es mit der Farm bald bergab.« »Aber welche Wahl hat er, wenn sie nicht genug Geld haben?«, hatte Clark gefragt. »Eine Farm kann die Familie immer ernähren, Clark«, sagte sein Dad. »Vergiss das nie.«
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»Kannst du wegen des Laborprojekts nicht mit Mr. Philips reden?«, fragte Clark jetzt Lana. »Damit er dir einen anderen Partner zuteilt?« »Wie es aussieht, werde ich es wohl tun müssen«, seufzte Lana. »Ich möchte nur zu gern wissen, was passiert ist. Danny hat nicht erwähnt, dass er die Stadt verlässt.« »Manche Leute melden es nicht der Schule, wenn sie die Stadt verlassen«, sagte Chloe. »Danny spricht mit mir über alles«, erwiderte Lana. »Er hätte es mir gesagt.« Clark unterdrückte die Eifersucht, die blitzartig in ihm hochstieg. Danny war nicht Lanas Freund! Das war Whitney, der momentan bei der Marine war. Lana hätte wahrscheinlich in demselben Tonfall »Er spricht mit mir über alles« gesagt, wenn es um Clark gegangen wäre. Aber Clark war der wehmütige Ausdruck in Dannys Gesicht nicht entgangen, wenn er Lana betrachtete. Clark kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Lana war nicht bewusst, wie attraktiv sie war, doch genau darauf beruhte ein Teil ihres Charmes. Chloe warf Clark einen Blick zu. Er wusste, wie sensibel sie für seine Stimmungen war. Sie spürte sofort, wenn ihn etwas bedrückte. Nachdenklich wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete die Farm. »Oh je«, seufzte sie, »ich bin total erledigt. Schlimmer kann es gar nicht werden. Am besten klopfen wir an, um sicherzugehen, dass niemand zu Hause ist.« Clark lächelte und nickte. Lana zuckte die Achseln. »Von mir aus.« Sie gingen schweigend den Hügel hinunter. Chloe nahm ihren Fotoapparat von der Schulter. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie es kaum erwarten konnte, ihre Fähigkeiten als Reporterin unter Beweis zu stellen. Clark nutzte die Zeit, um das Haus und die Scheunen mit seinem Spezialblick nach etwaigen Gefahren abzusuchen. 11
Doch er konnte nichts Außergewöhnliches sehen. In dem Haus befand sich niemand. Dennoch verließ ihn das Gefühl nicht, dass irgendetwas nicht stimmte. Am Fuß des Hügels führte die Straße an einem großen Teich vorbei, bevor sie im Wendekreis vor dem Haus mündete. Die Hügel, die nahen Bäume und die Felder hinter den Scheunen ließen die Farm sehr abgeschieden wirken. Die Gebäude waren gepflegt und sahen aus, als wären sie erst im letzten Sommer frisch gestrichen worden. Kein Unrat bedeckte den Hof, und nirgendwo lagen rostige Werkzeuge herum. Aus den Blumenbeeten vor dem Haus sahen die ersten Tulpenspitzen hervor, und der kleine Rasen war gemäht. Dannys Dad kümmerte sich offenbar sehr gewissenhaft um seinen Besitz. Trotzdem waren Dannys Eltern in finanziellen Schwierigkeiten. Seit Jed Franklins Kündigung hatten Dannys ältere Schwestern Teilzeitjobs in der Stadt angenommen, um der Familie zu helfen. Trotzdem war bei ihnen das Geld so knapp, dass Lana die Laborutensilien bezahlen musste, die sie und Danny brauchten. Seit seiner Kündigung hatte Jed schon mehrmals in diversen Kneipen Smallvilles betrunken auf die LuthorCorp geschimpft. Clark hatte gehört, wie seine Eltern ein paar Mal darüber gesprochen hatten. Sein Dad war der Ansicht gewesen, dass Jeds Zorn verrauchen würde, wenn das Wetter besser würde und er wieder auf den Feldern arbeiten könnte. Und die sorgfältig gepflügten Felder verrieten Clark, dass Jed Franklin genau das gemacht hatte. Auch Clark und Jonathan hatten vor einem Monat mit der Farmarbeit begonnen. Sie hatten Steine entfernt, dann das Land umgepflügt und letzte Woche alles mit Dünger bedeckt. Jemand hatte auch hier die Steine entfernt und gepflügt. Und es sah aus, als wären die Franklins nach demselben Zeitplan
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vorgegangen wie die Kents. Doch dann hatten sie die Arbeit aus irgendeinem Grund unterbrochen. »Clark!« Chloes Stimme hatte einen schrillen Unterton. Sie war plötzlich stehen geblieben. Alarmiert drehte er sich zu ihr um. Chloe zeigte ins Wasser. »Was ist?«, fragte Lana und starrte die Stelle an, auf die Chloe deutete. Etwas trieb dicht unter der Oberfläche des Teiches. Zuerst hielt es Clark für den Ast einer Birke, deren weiße Borke im braunen Wasser fast durchscheinend wirkte. Doch dann sah er blauen Stoff und begriff, dass das, was er für einen Ast gehalten hatte, in Wirklichkeit eine weiße Hand war. Sie war etwa drei Meter von dem Unkraut entfernt, das die Straße begrenzte. Jemand lag im Wasser! Clark rannte zum Ufer des Teiches und watete hinein. Das Wasser, aus dem sich die Kälte des zurückliegenden Winters noch nicht hatte vertreiben lassen, war eisig. Das störte ihn nicht weiter, er hoffte nur, dass derjenige, der sich im Wasser befand, noch nicht allzu lange dort lag. Er wusste nicht genau, wie lange ein normaler Mensch bei dieser Kälte im Wasser überleben konnte. Die Wellen, die Clark erzeugte, ließen den Arm auf und ab tanzen. Eine Hand sah aus dem Wasser hervor, schlammbedeckt, mit Schmutz unter den Fingernägeln. Das Wasser ging Clark an dieser Stelle bis zur Brust. Er spürte, wie der Schlamm am Grund an seinen Schuhen zerrte. Endlich erreichte er die Hand und zog an ihr. Er erkannte sie sofort. Der Körper, zu dem sie gehörte, war nicht mehr am Leben. Und das schon seit längerer Zeit. Das kalte, schleimige Gefühl der Haut erinnerte ihn an einen toten Fisch, der zu lange in einer Kühltasche gelegen hat.
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Sein Magen zog sich zusammen. Er versuchte, tief durchzuatmen. Vorsichtig lockerte er seinen Griff um die schlüpfrige Hand ein wenig und zog dann daran. Der Körper tauchte vor ihm auf, mit dem Gesicht nach unten, leicht aufgebläht unter der Kleidung. Danny Franklins blonde Haare trieben im Wasser und strichen über Clarks Brust. »Oh nein!«, rief Lana entsetzt. Es klang, als wäre sie kurz davor, die Nerven zu verlieren. »Oh nein.«
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2 DIESE VERFLUCHTE HITZEWELLE mitten im April. Sie machte ihm nicht nur das Leben schwer, sondern behinderte auch auf hundert verschiedene Weisen seine Geschäfte. Lionel Luthor strich sein Seidenjackett glatt, doch es hatte keinen Zweck. Seide war für vierunddreißig Grad heiße Tage nicht geeignet. Er hatte Sommeranzüge für dieses Wetter. Als hätte er nicht schon genug Probleme. Als er an diesem Morgen zur Arbeit gekommen war, war die Heizung noch immer eingeschaltet gewesen. Seine Sekretärin hatte die Hausverwaltung angerufen, dort aber nur erfahren, dass der Hausmeister der einzige Mensch war, der wusste, wie man die Klimaanlage von Heizen auf Kühlen umstellen konnte, doch dieser war bis zur nächsten Woche im Urlaub. Es dauerte zwei Stunden, eine Lösung zu finden. Zwei Stunden, in denen Luthor das altmodische Gebäude verfluchte, das er sonst liebte. Nicht einmal die Fenster in seinem Büro ließen sich öffnen. Das genügte, um Lionel Luthor an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Glücklicherweise hatte er Geschäfte in der City Bank zu erledigen und die letzten drei Stunden in ihrem klimatisierten Konferenzraum verbracht. Die kühle Luft hatte seinen Zorn etwas gedämpft. Das Treffen mit dem Bankdirektor war genau so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Lionel wollte eine Firma namens Stanley Feed and Grain übernehmen. Es war ihm egal, dass Stanley Feed and Grain in weniger als einem Monat in Konkurs gehen, ihre Aktiva verkaufen und ihre langjährigen Beschäftigten entlassen musste. Das war sogar seine Absicht
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gewesen, als er die Aktienmehrheit des Unternehmens gekauft hatte. Jetzt würde er seinen Vorteil ausspielen. Hätten die Besitzer von Stanley Feed and Grain nicht gewollt, dass er ihr Unternehmen auf diese Weise ruinierte, hätten sie ihm nicht die Aktienmehrheit verkaufen dürfen. Natürlich hatten die Idioten keine Ahnung gehabt, warum er diese Anteile haben wollte. Doch es würde ihnen bald dämmern. So etwas sah Lionel Luthor als eine Art Bildungsauftrag an. Er zeigte unfähigen Geschäftsleuten, wie man erfolgreich arbeiten konnte. Doch das Gefühl der Befriedigung verließ ihn, als er in einen kleinen verglasten Sicherheitsbereich zwischen der Bank und der Straße trat. In dem Raum war es so heiß wie in seinem Büro. Neben ihm seufzte Hank Bender, der derzeitige Sicherheitschef der LuthorCorp. Hank schien sich noch unbehaglicher zu fühlen als Lionel Luthor. Kein Wunder, denn Hank war ein großer Mann, kräftig und muskulös. Er sah oft aus, als hätte man ihn in seine Anzüge hineingeschossen. Heute sah er aus, als hätte man ihn in seine Kleidung hineingeschossen, als sie noch nass war. »Ungewöhnliches Wetter, Boss«, sagte Hank. »Unangenehm ja, ungewöhnlich nein«, widersprach Lionel Luthor. »Laut der Morgenzeitung leidet Kansas im April gelegentlich unter hohen Temperaturen.« »Muss wirklich gelegentlich sein, denn ich kann mich nicht daran erinnern, so was schon im April erlebt zu haben.« Lionel Luthor auch nicht. Bisher war die beste Jahreszeit in Kansas für ihn der Frühling gewesen. Die Winter waren hier zu kalt, die Sommer zu heiß. Wenn die schlimmste Hitze einsetzte, flüchtete er sich jedes Jahr in kältere Gefilde.
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Die große Einwohnerzahl der Stadt und alles, was damit einherging, die Autos und die U-Bahnen beispielsweise, steigerten die Hitze ins Unerträgliche. Bender öffnete ihm die Glastür, und er ging nach draußen. Er hatte das Gefühl, voll angekleidet ein Dampfbad zu betreten, und die Menschen auf der Straße schienen ähnlich zu empfinden. Die meisten Männer hatten ihre Jacketts über einen Arm gehängt und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Keine der Frauen schien Nylonstrümpfe zu tragen; bei vielen konnte man sogar sehen, dass ihre nackten Füße in den Schuhen angeschwollen waren. Lionel Luthor schüttelte den Kopf. Durch die Menge konnte er seine Limousine sehen, die in der Ladezone parkte. Der Motor lief, um das Innere kühl zu halten. Er hatte seinen Fahrer Jerome Jenkins angewiesen, dies jeden Sommer zu tun. Und als guter Angestellter hatte sich Jenkins bei der Hitze sofort daran erinnert. Tony Kodale, Lionel Luthors Leibwächter, hatte die Bank bereits verlassen und überprüfte wie stets die Umgebung, bevor er signalisierte, dass alles in Ordnung war. Ab und zu übernahm Bender diesen Job, aber Lionel Luthor zog Kodale vor. Manchmal schien es Lionel Luthor, als hätte Kodale Augen im Hinterkopf. Was ihn auch nicht weiter verwundert hätte. Er hatte schon seltsamere Dinge gesehen. Lionel Luthor ging über den Bürgersteig, und Kodale öffnete die hintere Tür der Limousine. Ein eingespieltes Team, obwohl Kodale heute ruhig noch ein paar Sekunden hätte warten können. Er ließ die kostbare kühle Luft entweichen. Menschen strömten vorbei, doch keiner von ihnen hatte es besonders eilig. Selbst Luthor ging langsamer als gewöhnlich. Bender schritt vor ihm her, um ihm das Fortkommen zu erleichtern. Aus den Augenwinkeln heraus sah Luthor einen hoch gewachsenen Mann in einem dicken Mantel und einer Wintermütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. 17
Was ihn wohl zu dieser Kleiderwahl bewogen hatte? Luthor schüttelte den Kopf, als er vom Bürgersteig trat. Der Mann in dem Mantel drängte sich an Kodale vorbei, ohne irgendjemanden anzusehen. Kodale funkelte ihn verärgert an und wollte gerade etwas sagen, aber es kam kein Ton über seine Lippen. Im nächsten Moment sah Luthor, wie Kodale die Augen verdrehte. Dann wurden seine Schultern schlaff, und er fiel mit einem dumpfen Poltern auf den Bürgersteig. Bender eilte zu ihm und blieb dann so abrupt stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Langsam brach auch er auf dem Bürgersteig zusammen. Luthor hatte keinerlei Waffen gesehen, und dennoch waren seine Leibwächter innerhalb weniger Sekunden ausgeschaltet worden. In diesem Moment lief der Mann in dem Mantel um die Kühlerhaube des Wagens. Er riss die Fahrertür auf. Jenkins kippte heraus. Offenbar war er bereits bewusstlos gewesen, als sich Luthor dem Wagen genähert hatte. Lionel Luthor war spätestens jetzt klar, dass er in Schwierigkeiten steckte. Er sah über seine Schulter und suchte nach einem Fluchtweg. Aber er war in der Menge gefangen. Eine Hand versetzte ihm von hinten einen groben Stoß, der ihn zu der offenen Tür der Limousine stolpern ließ. »Rein mit Ihnen, Mr. Luthor!« Luthor wich zur Seite aus, wie sein Sicherheitsteam es ihn gelehrt hatte. Das sollte ihm einen Überraschungsmoment verschaffen, da die meisten Leute nach vorn oder nach hinten, jedoch niemals zur Seite flohen. Er warf sich gegen die Menge und hörte einen Mann stöhnen, als er ihm in den Magen schlug. Eine Hand packte seine Schulter und hielt ihn fest. Erneut versuchte er zur Seite zu treten und fuhr dabei herum. Ein feiner Sprühnebel traf ihn direkt ins Gesicht und brannte in seinen Augen. Der intensive Orangengeruch brachte ihn zum
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Würgen – er war nicht fruchtig, sondern erinnerte an Orangenlimonade, die zu lange in der Sonne gestanden hatte. Die Welt drehte sich, und er konnte die Gestalten um sich herum nur noch schemenhaft wahrnehmen. Er versuchte, sich zu wehren, doch seine Hände versagten ihm den Dienst. Seine Knie gaben nach. Er würde neben Kodale auf dem Bürgersteig landen, so viel war klar. Wie war es möglich, dass sein Sicherheitsteam so leicht ausgeschaltet werden konnte? Er hatte Vorsichtsmaßnahmen für derartige Fälle getroffen. Ein Sicherheitsnetz über das andere gelegt. Wie konnten es diese Leute wagen, ihn zu überfallen? Er kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben, aber er spürte, wie es ihm entglitt. Grobe Hände schoben ihn vorwärts. Seine Füße stießen gegen Kodales ausgebreiteten Körper, und er stolperte und fiel mit dem Gesicht voran durch die offene Limousinentür. Sein Gesicht prallte gegen den weichen Ledersitz. Er versuchte, sich aufzurichten, zu fliehen, aber er konnte es nicht. Er konnte überhaupt nichts mehr tun. Der Übelkeit erregende Gestank des Sprays schien hier drinnen noch intensiver zu sein. Das war sein letzter Gedanke, bevor er in eine tiefe Bewusstlosigkeit abglitt.
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3 CHLOE BRAUCHTE FAST EINE MINUTE, bevor sie sich daran erinnerte, dass sie ihren Fotoapparat in den Händen hielt. Genauso lange stand Lana schon am Rand des Teiches, die Hände vor den Mund geschlagen. Sie hatte aufgeschrien, als sie erkannt hatte, dass die Leiche, die im Wasser trieb, Danny Franklin war. Seitdem hatte sie keinen Laut mehr von sich gegeben. Chloe fragte sich, ob Lana noch atmete. Clark hielt noch immer Danny Franklins Hand fest. Er zog die Leiche zum Ufer des Teiches und löste dabei Wellen aus, die das Wasser um sie herum ringförmig auseinandertrieben. Clark sah konzentriert und gleichzeitig mitgenommen aus, während sich seine hoch gewachsene, breitschultrige Gestalt über die Leiche beugte, als könnte er sie noch irgendwie beschützen. Die Sonne stand direkt hinter ihm. Es sah aus, als ginge ein Leuchten von ihm aus. Als würde sie ihm übermenschliche Kraft verleihen. Chloe war überwältigt. Sekundenlang starrte sie ihn an, bis etwas anderes sie in die Realität zurückholte. Der Gestank von verwesendem Fleisch, begleitet von etwas Fauligem wie Sumpfgas. Blasen stiegen um die Leiche auf, und jetzt war Chloe an der Reihe, ihr Gesicht zu bedecken. Der Gestank stammte von Dannys Leiche. Chloe verspürte den übermächtigen Drang, sich zu übergeben, schluckte aber stattdessen hart. Wenn sie eines Tages eine richtige Reporterin sein wollte, würde sie mit solchen Erlebnissen umgehen müssen. Aber ihr Magen war von solchen Überlegungen nicht so leicht zu beeindrucken. Wieder spürte sie, wie die Übelkeit in ihr hochstieg. Schnell hob sie den Fotoapparat.
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Entweder sie blickte durch die Linse, oder sie würde auf der Stelle die fade Pizza von sich geben, die sie in der Cafeteria zu Mittag gegessen hatte. Stur richtete sie die Kamera auf Clark und schoss ein Foto nach dem anderen, wobei sie versuchte, sich nur auf die Lichteffekte und Clark zu konzentrieren. Nur nicht an den Jungen denken, den er ans Ufer zog, den Jungen, mit dem sie noch vor einer knappen Woche herumgealbert hatte, um ihn wegen seiner Zuneigung zu Lana Lang aufzuziehen. Warum hatten eigentlich alle ein Auge auf Lana geworfen? Chloe blickte zu ihr hinüber. Immer noch stand sie da wie angewurzelt, mit ihren langen Haaren, die ihr über den Rücken fielen, und zitterte am ganzen Körper, als wäre ihr plötzlich kalt geworden. Sie tat absolut nichts. Clark und Chloe taten etwas. Aber Lana stand nur herum. Und das ging Chloe allmählich auf die Nerven. »He, Lana!«, rief Chloe und war überrascht, dass ihre Stimme völlig normal klang. »Hast du dein Handy dabei?« Lanas Hand verschwand in ihrer Büchertasche, dann drehte sie sich um, und Chloe glaubte, Dankbarkeit in ihren Augen zu sehen. »Ja.« Lana entfernte sich vom Teichufer und wühlte dabei in ihrer Tasche. »Ich schätze, wir sollten jemanden anrufen, nicht wahr?« »Die Polizei«, sagte Chloe. »Wir brauchen sicher keinen Krankenwagen.« Sie versteckte sich wieder hinter der Kamera, betätigte wieder und wieder den Auslöser und hielt das Objektiv auf Clark gerichtet, während er Dannys Leiche an Land zog. So fühlte sie sich einigermaßen stark. Aber wenn sie diesen Fotoapparat senkte, würde sie sich der Realität stellen müssen. Sie hatte einen Freund verloren. Zwar war sie mit Danny nicht so gut befreundet gewesen wie Lana, aber sie hatte ihn dennoch gut gekannt. 21
Chloe schluckte und machte ein paar weitere Aufnahmen, froh darüber, dass sie ihre Digitalkamera dabei hatte und nicht die Fünfunddreißigmillimeter der Schule. Die Digitalkamera hatte eine Kapazität von zweihundert Bildern, und sie würde sie wahrscheinlich alle verbrauchen. Lana war hinter sie getreten. »Ja, das ist ein Notfall«, sagte sie gerade in den Hörer. »Wir haben einen Mitschüler gefunden.« Clark hatte das Ufer erreicht und zerrte die Leiche an dem Schilf vorbei, das am Rand des Wassers wuchs. Chloe machte zwei weitere Fotos. »Es ist Danny Franklin«, sagte Lana. »Er ist tot.« Chloes Hand zitterte. Sie senkte die Kamera. Danny trug Jeans und ein Arbeitshemd aus Jeansstoff. Hatte er das nicht auch beim letzten Mal getragen, als sie ihn gesehen hatte? Er besaß nicht viele Kleidungsstücke, aber er trug auch nicht jeden Tag dieselben Sachen. »Ich bin ziemlich sicher, dass er ertrunken ist. Wir sind auf der Farm, und er lag im Teich und Clark hat ihn gerade herausgezogen... Clark Kent... Ich bin Lana Lang. Hören Sie, es ist dringend...« Chloe zwang sich, tief durchzuatmen und die Situation nüchtern zu betrachten. Der Teich war nicht besonders tief. Er reichte Clark nur bis zur Brust; Clark war zwar außergewöhnlich groß, aber trotzdem. Jungs wie Danny Franklin ertranken nicht in einem Teich, in dem sie schwimmen gelernt hatten. Jungs wie Danny waren vernünftig und besonnen und... »Clark!«, schrie Chloe, als ihr bewusst wurde, zu welcher Erkenntnis sie das führte. »Clark!« Lana hörte auf zu reden. Clark blickte auf. Sein Gesicht war blass. Er sah krank aus. Chloe konnte sich nicht erinnern, wann Clark zum letzten Mal krank ausgesehen hatte. »Tu nichts mehr. Rühr ihn nicht mehr an.« 22
Clark ließ ihn los, als hätte er nur darauf gewartet, dass ihm jemand die Erlaubnis dazu gab. Er wich von der Leiche zurück. Seine Kleidung klebte an ihm, und an seiner Jeans hingen Algen. »Was ist los?« Clarks Stimme hallte über den Teich. Er klang so verstört, wie Chloe sich fühlte. Lana starrte sie noch immer an. Eine Stimme, leise und unverständlich, quäkte aus dem Handy. »Es ist okay«, rief Chloe Lana zu. »Sorg nur dafür, dass sie herkommen.« Lana nickte und sprach wieder in das Handy. Chloe ging zu Clark, die Kamera fest in der Hand. Als sie sich dem Teich näherte, schlug ihr der Geruch des schleimig grünen Wassers entgegen, gemischt mit diesem gasähnlichen Gestank, den sie schon vorher bemerkt hatte. Doch die Fäulnis des verwesenden Fleisches überlagerte beides. Erneut drehte sich ihr der Magen um. Clark beobachtete sie. Seine rechte Hand hielt er weit weg von seinem Körper, als wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Danny lag zu seinen Füßen, reglos und so bleich, dass es aussah, als würde er aus Eis bestehen. »Das ist der Tatort eines Verbrechens, Clark«, sagte sie, als sie ihn erreichte. »Das ist nicht geklärt«, erwiderte Clark. »Er kann sich genauso gut den Kopf gestoßen haben und dann ins Wasser gefallen sein. Er –“ »Egal!« Sie hätte sofort daran denken müssen. Aber sie war eben noch nicht die professionelle Reporterin, die sie gerne gewesen wäre. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass das hier ein Unfall war. Aber der Gerichtsmediziner und die Polizei würden es sicher schnell feststellen, wenn wir nicht die Spuren verwischt hätten.« Clark schloss einen Moment die Augen, öffnete sie dann wieder und nickte. »Ich hab’s vermasselt.« 23
»Nein«, wehrte Chloe ab. »Es ist nicht deine Schuld.« »Mir ist erst klar geworden, dass er tot ist, als ich ihn angefasst habe.« Clark schnitt bei den letzten Worten eine Grimasse. Chloe blickte auf Dannys Leiche hinunter. Natürlich hatte sie bemerkt, wie verändert er aussah, aber sie hatte nicht daran gedacht, wie er sich wohl anfühlte. Schleimig? Kalt? Tot. Definitiv tot. »Und dann konnte ich nur daran denken, ihn da rauszuziehen.« Clark sah sie an, als erwartete er, dass sie ihn im nächsten Moment anschreien würde. »Das ist ganz normal, Clark. Jeder würde im ersten Moment so reagieren. Aber wir sollten jetzt besser nichts mehr verändern.« Clark nickte. Gerade klappte Lana ihr Handy zusammen und steckte es in ihre Büchertasche. »Sie kommen«, sagte sie. »Sie wollen, dass wir warten.« Natürlich wollten sie das. Lana, Clark und Chloe waren Zeugen. Der Gestank war hier stärker. Chloe war nicht sicher, wie lange sie ihn noch ertragen konnte – wie lange sie verdrängen konnte, dass Danny, den sie immer gemocht hatte, hier tot zu ihren Füßen lag. Chloe blickte zum Haus hinüber. Still. Leer. Die Scheunentore geschlossen. Sie hob die Kamera. »Wir haben noch etwas Zeit, bis die Polizei eintrifft«, erklärte sie. »Will jemand mit mir kommen? Ich sehe mir das Haus an.« »Chloe«, sagte Clark in diesem speziellen Tonfall, in dem er nur mit ihr sprach. Es klang nicht direkt missbilligend, sondern sogar etwas bewundernd. Aber seine Absicht war klar: Er wollte sie aufhalten.
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»Clark, ich bin Reporterin«, erwiderte sie. Oder ich wäre zumindest gern eine, dachte sie bei sich. »Und kein Reporter würde sich die Chance entgehen lassen, ein wenig am Tatort herumzuschnüffeln. Und ich habe sogar meine Kamera dabei.« »Was erwartest du zu finden?«, fragte Lana. »Nichts«, sagte Chloe, aber sie log. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass das Haus eine Menge Geheimnisse barg. Sie hoffte nur, dass sie die Chance haben würde, ein paar von ihnen zu lüften, bevor die Polizei das Kommando übernehmen würde. »Absolut nichts.« Lex Luthor widerstand dem Drang, das Telefon auf die Gabel zu knallen. Stattdessen legte er den Hörer vorsichtig auf und erhob sich. Gut, dass er allein in seinem Arbeitszimmer war. Sonst hätte er dem Bedürfnis, jemanden anzuschreien, wohl nachgegeben. Er schob seinen Ledersessel zurück, trat dann ans Fenster und blickte hinaus in den Garten. Nach außen wirkte er völlig ruhig. Das war eines der vielen Dinge, die er sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte: gelassen zu wirken, auch wenn er innerlich vor Wut kochte. Und das tat er im Moment. Seit drei Tagen weigerte sich sein Vater schon, mit ihm zu sprechen, und wimmelte ihn jedes Mal ab, wenn es Lex gelang, ihn zu erreichen. »Ich habe dir gesagt, dass du die Verantwortung für die LuthorCorp-Fabrik in Smallville trägst, Lex«, sagte sein Vater stets. »Ich habe damit nichts mehr zu tun. Du musst alleine klarkommen.« Aber Lex rief nicht wegen der LuthorCorp an – jedenfalls nicht direkt. Er rief nicht einmal an, um sich Rat zu holen. Er wollte seinen Vater über die wachsende Unruhe in Smallville informieren.
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Obwohl sein Vater immer wieder betonte, dass Lex die LuthorCorp-Fabrik leitete, traf sein Vater noch immer die letzten Entscheidungen. Und die Kündigungen, die Lionel vor drei Monaten angeordnet hatte, bereiteten Lex große Kopfschmerzen. Lex wollte, dass sein Vater nach Smallville kam, um selbst zu sehen, welche Empörung die Kündigungen ausgelöst hatten. Irgendwie schien sein Vater das zu ahnen, denn er wich Lex seit Tagen aus. Und an diesem Nachmittag war er überhaupt nicht zu erreichen gewesen. Nicht einmal an sein Handy war er gegangen. Lex musste es von einem Telefon aus probieren, dessen Nummer sein Vater nicht kannte. Vielleicht würde er dann abnehmen. Lex lehnte seinen Kopf an das Fenster. Das Glas fühlte sich heiß an, und er wich zurück. Er hatte die Hitze draußen ganz vergessen. Seine Klimaanlage sorgte das ganze Jahr über für eine konstante Temperatur von angenehmen zwanzig Grad. Aber draußen schienen die Pflanzen zu leiden. Die Tulpen, die er extra aus Holland importiert hatte, welkten dahin. Sie sahen schon ganz vertrocknet aus. Sogar die Bäume, die erst in den letzten Tagen neue Blätter bekommen hatten, wirkten angegriffen. Hätte er nicht den Wetterbericht auf einem Lokalsender gesehen, hätte er sich gefragt, von welcher seltsamen Anomalie Smallville dieses Mal heimgesucht wurde. Aber das ungewöhnlich warme Wetter reichte von New York bis Denver. Drei Viertel der Nation war davon betroffen. Ein geringer Trost. Ein ebenso geringer Trost war, dass sein Vater selten Anrufe entgegennahm. Aber bisher hatte er auf die seines Sohnes stets reagiert, selbst wenn sie Streit hatten. Was meistens der Fall war. Lex wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu und seufzte. Dort stand das Telefon auf der Schreibunterlage und schien ihn 26
zu verhöhnen. Vielleicht sollte er noch einmal die Sekretärin seines Vaters anrufen und sie dazu zwingen, ihn durchzustellen. Sie würde Lex nicht zweimal mit derselben Ausrede kommen können, ohne das sie sich seinen Zorn zuzog. Das wusste sie aus Erfahrung. Sein Vater war niemals unerreichbar. Wenn es etwas gab, das Lex über seinen Vater wusste, dann das. Die wichtigen Leute, die zu ihm durchkommen mussten, schafften es auch. Offenbar gehörte Lionel Luthors Sohn nicht mehr zu diesen Leuten. Resigniert schüttelte Lex den Kopf. Er hätte damit rechnen müssen. Er und sein Vater hatten nie ein gutes Verhältnis gehabt. Lex schob das Telefon von der Schreibunterlage, weg von der Mitte des Schreibtischs. Er würde sich ganz allein um die Situation in Smallville kümmern müssen. Was er ohnehin vorgehabt hatte. Er hatte seinem Vater nur noch einmal vor Augen führen wollen, wie schlimm sie war. Aber sein Vater stellte sich nicht gern den negativen Auswirkungen seiner Geschäfte – besser gesagt, sie waren ihm egal, solange es sich für ihn rechnete. Lex fragte sich, warum er sich der Illusion hingegeben hatte, dass er auf seinen Vater mehr Einfluss hatte als irgendjemand anders. Nach all den Jahren und Gelegenheiten, bei denen sein Vater ihm wieder und wieder zu verstehen gegeben hatte, wie wenig er von Lex und seinen Fähigkeiten hielt, war er darüber erstaunt, wie tief ihn die Zurückweisung seines Vaters noch immer schmerzte. Clarks Hand fühlte sich an, als wäre sie voller Schleim. Seine feuchte Kleidung klebte an ihm, und seine Schuhe quatschten bei jedem Schritt. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie sich Danny Franklins Hand in seiner eigenen angefühlt hatte, wie die Haut
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über den Knochen gerutscht war, als Clark die Leiche zum Rand des Teiches gezogen hatte. Als er, Lana und Chloe die am nächsten gelegene Scheune erreicht hatten, hatte er an der Pumpe stehen bleiben und sich die Hände waschen müssen. Weder Chloe noch Lana sagten etwas, als er seine Finger unter dem kalten Wasser säuberte. Eigentlich hatte er einen Einwand von Chloe erwartet, von wegen Spuren verwischen und so, aber sie schwieg. Stattdessen warf sie ihm einen mitfühlenden Blick zu, bevor sie sich abwandte und weiter die Umgebung betrachtete. Lana starrte Clark ihrerseits unentwegt an, schien ihn aber nicht wahrzunehmen. Vermutlich stand sie unter Schock, doch er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Er fühlte sich selbst nicht gerade großartig. Auch er hatte Danny Franklin gemocht. Sie waren keine engen Freunde gewesen, doch sie kannten sich schon seit Jahren. Die Arbeit auf einer Farm, durch die sie daran gehindert wurden, im Footballteam mitzuspielen, hatte zwischen ihnen ein Gefühl der Verbundenheit entstehen lassen. Obwohl die Farmarbeit eigentlich nicht der Grund war, warum Clark keinen Sport trieb. Die Wahrheit war, dass seine Eltern befürchteten, er könnte im Eifer des Gefechts seine Vorsicht vergessen und seine Fähigkeiten unfairerweise zu seinem Vorteil einsetzen. Und das konnte er ihnen nicht einmal verdenken, da genau das passiert war, als er einmal im Team mitgespielt hatte. »Ich denke, wir sollten uns verteilen«, wandte sich Chloe an Lana. »Vielleicht finden wir irgendetwas.« Clark schüttelte leicht den Kopf. Er kannte Chloe gut genug, um zu wissen, dass sie genauso geschockt war wie er und Lana. Sie überspielte es nur besser. Was nicht bedeutete, dass sie mit dem Schock besser zurechtkam als Lana. Clark wusste aus Erfahrung, dass ihre Methode – die Ich-muss-auf-der-Stelle-so-viele-Informationen28
wie-möglich-haben-Methode – gefährlicher sein konnte, als untätig zu bleiben. In ihrem Übereifer neigte Chloe nämlich dazu, die falschen Türen zu öffnen, sich in die falsche Situation zu begeben und die falsche Sache zur falschen Zeit zu entdecken. »Verteilen?«, echote Lana, aber es schien nicht bei ihr anzukommen. Noch immer umklammerte sie das Handy mit ihrer rechten Hand und blickte zum Teich hinüber. »Ich halte das für keine gute Idee, Chloe«, warf Clark ein, während er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Das fühlte sich gut an. Vielleicht hatte ihm die Hitze doch mehr zugesetzt, als er dachte. »Ich denke, wir sollten zusammenbleiben.« »Du glaubst doch nicht, dass derjenige, der Danny getötet hat, noch immer hier ist, oder?«, fragte Chloe. »Der Danny getötet hat?« Lana blinzelte. Der Satz schien sie etwas aus ihrer Lethargie zu reiften. »Ich dachte, er ist ertrunken!« »Das wissen wir nicht«, sagte Clark. »Er sieht aus, als wäre er ertrunken, aber Chloe hat Recht, wenn sie sagt, dass das Ganze nicht nach einem natürlichen Tod aussieht. Vielleicht müssen wir wirklich von einem Verbrechen ausgehen.« Lana runzelte leicht die Stirn. »Es bedeutet aber auch nicht zwangsläufig«, fügte Clark hastig hinzu, »dass Danny ermordet wurde. Nur, dass sein Tod auf jeden Fall ungewöhnlich ist.« »Um es vorsichtig auszudrücken.« Chloe trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Bist du jetzt sauber genug, Clark? Können wir weiter? Ich denke nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt.« Da war er, dachte Clark, dieser Unterton in ihrer Stimme, den sie bekam, wenn sie es nicht zulassen wollte, dass sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde. »Gehen wir.« Clark ließ die Pumpe los und marschierte zielstrebig an Chloe vorbei. Er würde bei dieser Suche die 29
Führung übernehmen, und wenn er etwas entdeckte, das ihm nicht gefiel, würde er sie sofort abbrechen. »Ich denke, wir sollten zuerst im Haus nachsehen«, sagte Lana. »Vielleicht vermissen sie Danny schon länger und suchen nach ihm. Vielleicht wissen sie nicht...« Ihre Stimme verklang, und sie senkte den Blick. Clark legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz, bevor er sie wieder losließ. Seine nassen Finger hinterließen einen feuchten Handabdruck an ihrer Bluse. Lanas Überlegungen erschienen ihm sehr unwahrscheinlich. Wenn Danny Franklin von seiner Familie vermisst würde, hätte schon ganz Smallville davon erfahren. Denn in Smallville hatten sich schon so viele merkwürdige Vorfälle ereignet, dass die Polizei sehr mitteilsam war, wenn es um die Suche nach einer vermissten Person ging. Aber es hatte nichts in der Zeitung gestanden, keine Flugblätter waren verteilt worden, und die Schule hatte man auch nicht informiert. Bis auf Lana schien sich kein Mensch wegen Dannys Fehlen Sorgen gemacht zu haben. Sie hatte lange vor dem Abgabetermin ihres Projekts davon gesprochen. Aber sie war von den anderen – Clark eingeschlossen – erst ernst genommen worden, als sie die Laborarbeit erwähnt hatte. Er seufzte und beschleunigte seine Schritte, um Chloe einzuholen. »Hatte er eine Beule am Kopf?«, fragte sie Clark. »Die hätte er bekommen müssen, wenn er sich den Kopf gestoßen hätte und dann ins Wasser gefallen wäre.« Dannys Gesicht war kalkweiß gewesen, mit durchschimmernden blauen Linien. Selbst seine Augenlider waren blau gewesen. Seltsam, fand Clark, als er jetzt intensiver darüber nachdachte. Danny hatte die Augen geschlossen gehabt.
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Clark hatte noch nie zuvor einen Ertrunkenen gesehen, doch er hatte eine vage Ahnung, dass keiner von ihnen mit geschlossenen Augen starb. »Ich habe nicht so genau hingesehen, Chloe«, antwortete Clark ausweichend. Er überquerte den Hof und betrat den Gehweg. In den Ritzen im Beton wuchs Unkraut. Aus der Nähe betrachtet wirkte die Farm nicht so gepflegt, wie er zunächst angenommen hatte. Zwischen den Narzissen und Tulpen lagen morsche Zweige, Blätter und die braunen Überreste der Blumen, die im letzten Herbst gepflanzt worden waren. Sah ganz so aus, als hätte niemand die Blumenbeete gesäubert, nachdem der Schnee geschmolzen war. Er bezweifelte auch, dass der Rasen gemäht worden war, obwohl sich das so früh im Jahr schwer feststellen ließ. Der Boden der vorderen Veranda war vom Schmutz des vergangenen Winters noch nicht befreit worden, und in einer Ecke lag ein Haufen Blätter, die noch vorn Herbst stammen mussten. Würde er das Herbstlaub auf der Kent-Farm so lange liegen lassen, wäre der Ärger mit seinem Vater vorprogrammiert. Blätter ergaben guten Kompost und sollten deshalb lange vor Einbruch des Winters auf dem Komposthaufen landen. Das hatte er schon als kleiner Junge gelernt. »Die Farm sieht verwildert aus«, bestätigte Chloe seinen eigenen Eindruck. Lana starrte die Blätter an. »Früher sah es hier ganz anders aus. Früher war hier alles sauber. Dannys Mutter hat ihr Haus immer in perfekter Ordnung gehalten – und das bei drei Kindern.« Clark warf Lana einen Seitenblick zu. Natürlich, sie hatte Danny früher oft besucht. Es versetzte ihm einen Stich. Lana bemerkte seinen Blick nicht, aber Chloe schon. Sie verdrehte
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die Augen, wie sie es immer machte, wenn sie ahnte, was in Clark vorging. »Offensichtlich führt die Veranda um das ganze Haus«, warf Chloe ungeduldig ein, »also müssten wir ins Innere sehen können. Ich muss nur einen Blick durch dieses Aussichtsfenster werfen und kann dann vielleicht ein paar Fotos machen.« »Ich halte das für keine gute Idee, Chloe«, erwiderte Clark. »Schließlich weißt du nicht, was du finden wirst.« Und er wusste es auch nicht. Es wurde Zeit, dass er sich vergewisserte. Er blieb auf dem Gehweg stehen, um mit seinem Röntgenblick das Innere des Hauses abzusuchen. Er konzentrierte sich und konnte im nächsten Augenblick die Zimmer und ihren Inhalt deutlich erkennen. Menschen konnte er nicht ausmachen – weder tote noch lebendige. »Ich will nicht reingehen, Clark.« Chloe stieg hastig die Treppe hinauf. »Ich werde nur das Gefühl nicht los, dass wir hier vielleicht noch auf etwas anderes stoßen werden.« Auch Clark hatte dieses Gefühl, aber im Gegensatz zu Chloe gefiel ihm der Gedanke nicht, etwas anderes zu finden. Er eilte zur Treppe und folgte ihr hinauf. Lana kam zögernd nach und strich mit einem Finger über das Geländer, als wäre sie überrascht, es ebenfalls schmutzig vorzufinden. Chloe ging zum Aussichtsfenster hinüber und drückte ihr Gesicht an die Scheibe. Clark trat neben sie und spähte hinein. Er benötigte seinen Spezialblick nicht, um zu erkennen, dass Chloes Ahnung richtig gewesen war. Die Couch war umgekippt, ein Tisch gegen die Wand geschleudert worden, und in der Mitte des Zimmers lag ein zusammengeknüllter Teppichläufer. Andere Möbel waren zur Seite geworfen worden, als wären sie jemandem im Weg gewesen. Lana erreichte die beiden und blieb neben Clark stehen. Chloe hatte bereits ihre Kamera gezückt und machte Fotos. 32
Clark war froh, dass Chloe darauf bedacht war, keine Spuren zu verwischen. Das bedeutete, dass sie nicht hineingehen würde, so gern sie es auch getan hätte. »Denkst du, dass es schlimm ist, wenn ich einfach nur in jedes Zimmer gehe und Fotos mache?«, fragte Chloe, als könnte sie Clarks Gedanken lesen. »Ja«, sagte er. Chloe sah stirnrunzelnd das Haus an. »Vielleicht wenn ich einfach draußen herumgehe –“ »Nein, Chloe«, unterbrach Clark sie schnell. Lana hatte sich nicht vom Fenster weggerührt. »Das Haus hat nie so ausgesehen. Wenn Mrs. Franklin hier wäre, hätte sie sauber gemacht, ganz gleich, was passiert ist.« »Ich denke, es ist ziemlich klar, dass die Franklins nicht mehr hier sind«, sagte Chloe. »Oder drinnen«, fügte Lana hinzu. Es war offensichtlich, was sie dachte. Sie dachte, dass sich noch mehr Leichen im Haus befanden. Clark hätte ihr gerne die Gewissheit verschafft, dass wenigstens im Haus keine weiteren Leichen zu finden waren. Aber das konnte er nicht, und es wäre ohnehin nur ein schwacher Trost gewesen. Er hatte keine Ahnung, was der Franklin-Familie zugestoßen war, aber eines war sicher: Es konnte nichts Gutes sein.
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4 LIONEL LUTHORS SCHULTERN SCHMERZTEN bei jeder Bewegung. Er kannte dieses Gefühl von früher, als er an seinen Armen von der Turnstange in seinem privaten Fitnessraum gehangen und sie mit seinem ganzen Gewicht belastet hatte. Aber seinen Schmerzen waren keine Trainingseinheiten vorangegangen. Sie stammten von den Fesseln, mit denen seine Hände im Rücken zusammengebunden worden waren. Seine Handgelenke waren gekreuzt und fühlten sich wund an. Außerdem war er müde. Sehr müde. Das Nächste, was in sein Bewusstsein drang, war die Übelkeit. Eine Art Schwindel erregende Übelkeit, wie man sie sich einhandelte, wenn man zu viel getrunken hatte und dann den Kopf ruckartig bewegte. Er merkte, dass er in einem Auto saß, das viel zu schnell um die Kurven fuhr. Anscheinend befanden sie sich auf einer schlecht gepflasterten Straße voller Schlaglöcher, sodass sein Gesicht von Zeit zu Zeit gegen den ledernen Autositz schlug. Sein Kopf wackelte. Getrockneter Speichel klebte an seinen Mundwinkeln. Sein ganzer Mund war so trocken, als hätte er seit Tagen keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen. Zusammengeschnürt lag er auf einer Seite, die Knie bis knapp unter sein Kinn gepresst. Seine Augenlider flatterten, aber er öffnete die Augen nicht. Ihm fiel – gerade noch rechtzeitig – ein, was passiert war. Wie seine Sicherheitsleute ausgeschaltet worden waren. Wie sein Limousinenfahrer – sein Lieblingsmitarbeiter – bewusstlos auf die Straße gefallen war. Die Klimaanlage war eingeschaltet. Ihn fröstelte richtig. Vielleicht war es auch eine Nebenwirkung der Droge, die ihn betäubt hatte. 34
Der Wagen bog erneut ab, diesmal scharf nach links, sodass er auf dem Sitz ins Rutschen geriet. Die Übelkeit wurde stärker. Unwillkürlich stöhnte er auf. Im nächsten Moment hätte er sich dafür ohrfeigen können. Jetzt wussten seine Entführer, dass er zumindest dabei war, aus seiner Ohnmacht zu erwachen. Aber er konnte es nicht mehr rückgängig machen. Verdammt, er musste vorsichtiger sein! »He, Boss.« Boss! Ein Wort wie aus einem schlechten alten Gangsterfilm. Doch etwas stimmte nicht mit der Aussprache: Es musste mit einem Jersey-Akzent – oder genauer einem Joisey-Akzent – ausgesprochen werden. Aber die Stimme, die er gerade gehört hatte, konnte einen Hauch von Kansas – die Prärien, nicht Metropolis – schlecht verbergen. Luthor hielt die Augen geschlossen, ohne sie zuzukneifen. Trotzdem flatterten seine Lider. Was war das für eine Droge gewesen, die ihn die Kontrolle über seinen Körper hatte verlieren lassen? »Ich denke, er kommt wieder zu sich.« »Verpass ihm noch eine Dosis.« Eine andere, tiefere Stimme. Sie hatte ebenfalls einen Kansas-Akzent, Prärie, nicht städtisch, und etwas an der Art, wie die Worte ausgesprochen wurden, ließ Luthor vermuten, dass »Boss« weniger gebildet war als der erste Sprecher. »Noch eine? Wird ihm das nicht schaden?« Eine dritte Stimme, ebenfalls männlich. Derselbe Akzent. Er konnte sich nicht erinnern, einen dritten Entführer gesehen zu haben, aber im Nachhinein war es nur logisch. Es erforderte mehr als zwei Leute, um sein Sicherheitsteam auszuschalten. »Was kümmert dich das?« Wieder »Boss«! »Wir wollen ihn nicht verletzen«, sagte Stimme Nummer drei. »Wir wollen ihn nicht töten«, korrigierte »Boss«. »Ob er verletzt wird, ist mir egal.« 35
Luthor versuchte, regungslos liegen zu bleiben, damit sie dachten, er wäre noch immer bewusstlos. Die kleinste Bewegung würde ihn verraten, da in der Limousine überall Überwachungskameras installiert waren. Er hatte sie einbauen lassen, damit er den Fahrer beobachten oder, wenn er auf dem Vordersitz saß, sehen konnte, was im Fond passierte. Damit hatte er sich jetzt ein Eigentor geschossen. Wenn sie ihn von vorne aus beobachteten, konnten sie jede seiner Bewegungen sehen. »Eine zweite Dosis wird ihn nicht umbringen«, sagte »Boss«. »Außerdem haben wir ihm weniger verpasst als seinen Angestellten. Und die sind nicht gestorben. Er wird schon nicht draufgehen, wenn wir ihm noch eine Dosis verpassen.« »Woher sollen wir wissen, dass sie es überlebt haben?«, fragte Stimme Nummer drei. »Wir haben sie schließlich dort zurückgelassen.« Luthor gefiel diese Information. Dadurch würden die Umstände seines Verschwindens schnell klar werden. Und wenn der mächtigste Mann von Metropolis entführt worden war, würde die Polizei sofort handeln. Sie würde das FBI alarmieren, das mit Luthors Sicherheitsteam schon immer hervorragend zusammengearbeitet hatte. Wenn es ihm gelang, am Leben zu bleiben, hatte er gute Chancen, befreit zu werden. »Hätten wir sie umbringen wollen, hätten wir sie umgebracht«, sagte »Boss«. »Jetzt halt’s Maul!« Vielleicht konnte er mit diesen Männern verhandeln. Sie wollten offensichtlich etwas von seinem Unternehmen – oder von ihm selbst. Wenn sie es nur auf sein Geld abgesehen hatten, konnte er es ihnen geben. Für ihn wäre das ein Leichtes, und er konnte sehr überzeugend sein, wenn es nötig war. Er musste mit ihnen ins Gespräch kommen, bevor sie ihn wieder betäubten.
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Er öffnete gerade die Augen, als er auch schon eine behandschuhte Hand mit einer Spraydose auf sich zukommen sah. Weiter oben, wo sich ein Gesicht hätte befinden müssen, erblickte er nur einen Schlauch an Stelle eines Mundes, klare, rechteckige Augen und etwas Grünes. Hatte das Gift schon solche Halluzinationen bei ihm hervorgerufen, oder hatte er es tatsächlich mit Außerirdischen zu tun? Die Finger betätigten die Spraydose, bevor Luthor reagieren konnte. Er hatte den Mund halb geöffnet, als das Spray sein Gesicht traf. Ein Teil davon landete auf seiner Zunge und erfüllte seinen Mund mit dem ranzigen Geschmack von verdorbener Orangenlimonade. Als er wieder das Bewusstsein zu verlieren begann, wurde ihm klar, dass er keinen Außerirdischen vor sich hatte. Es war nur ein Mann, der eine Gasmaske aus Militärbeständen trug, damit das Spray nicht auch auf ihn einwirkte. Seine Benommenheit wuchs, und er kämpfte dagegen an, wie er es beim ersten Mal getan hatte, obwohl er wusste, dass er verlieren würde. Hatten die Kidnapper schon Gasmasken getragen, als sie ihn und sein Sicherheitsteam auf der Straße angegriffen hatten? Wahrscheinlich. Sie hatten die Köpfe gesenkt gehalten. Aber wenn das Spray so gefährlich war, dass die Entführer solche Sicherheitsvorkehrungen treffen mussten, bedeutete das, dass nicht nur er und seine Leute betäubt worden waren. Andere... Der Gedanke brach ab. Die Welt um ihn herum wurde schwarz. Erneut umfing ihn eine tiefe Bewusstlosigkeit. Der Krankenwagen traf zuerst ein, ohne Blaulicht und Sirene. Der Fahrer raste über die Zufahrt, dass der Schotter nach allen Seiten wegspritzte. Hinter ihm folgte ein Polizeiwagen mit flackernden roten und blauen Lichtern.
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Offenbar hatte das verriegelte Tor am Ende der Zufahrt sie nicht behindert. Hatten sie es umfahren? Oder hatten sie es öffnen können? Diese Gedanken schossen Clark durch den Kopf, als er von der Straße trat und Lana und Chloe mit sich zog. Lana sah noch immer sehr blass aus. Chloes Digitalkamera war endlich der Speicherplatz ausgegangen, und sie hatte gerade vorgehabt, die Fotos auf ihren Laptop zu überspielen, als der Krankenwagen aufgetaucht war. »Warum bringen sie einen Krankenwagen mit?«, fragte Lana. »Ich weiß es nicht«, sagte Clark. »Sie werden ihre Gründe haben.« »Weil man nie wissen kann«, warf Chloe ein, als wäre sie genauestens in die Vorgehensweise der Polizei eingeweiht. »Manchmal kann man nicht genau sagen, ob jemand tot ist oder nicht.« Lana sah über die Schulter zu Dannys Leiche hinüber. Clark folgte ihrem Blick. Danny lag noch immer mit dem Gesicht nach unten im Unkraut, an der Stelle, wo ihn Clark zurückgelassen hatte. Einer der Sanitäter stieg aus dem Krankenwagen. »Wo?«, fragte er knapp. »Dort drüben.« Clark deutete in die Richtung, wo Dannys Leiche lag. Die Sanitäter eilten die sanft abfallende Böschung zum Teich hinunter. Als sie Danny erreichten, knieten sie nieder. Lana wandte sich ab. »Habt ihr uns angerufen?« Ein Lowell-County-Deputy, den Clark nicht kannte, näherte sich ihnen über die Zufahrt. Ein weiterer Deputy, ebenfalls in Uniform, gesellte sich zu den Sanitätern. In der Ferne heulten Sirenen. Sie schienen schnell näher zu kommen. 38
»Ich habe angerufen«, erwiderte Lana. Ihre Stimme klang gefasster, als Clark es erwartet hatte. »Also habt ihr drei ihn gefunden?« Der Deputy blickte misstrauisch drein. »Clark war es«, ergriff wieder Lana das Wort. Offenbar hatte sie im Gegensatz zu Clark den misstrauischen Unterton in seiner Stimme nicht bemerkt. »Du?«, wandte sich der Deputy nun an Clark. Clark nickte. »Warum bist du ins Wasser gegangen? Um nackt zu baden?« Chloes Gesicht lief zornesrot an. »Natürlich nicht!«, antwortete sie, obwohl die Frage an Clark gerichtet war. »Wir sind hergekommen, um Danny zu suchen.« »Und ihr habt ihn gefunden!« Die Augenbrauen des Deputys schossen nach oben, als käme ihm die ganze Sache höchst merkwürdig vor. »Das ist ziemlich seltsam.« Lana runzelte die Stirn. »Was ist denn daran seltsam? Er trieb im –« »Ich habe ihn zuerst gesehen«, unterbrach Chloe sie. »Clark hat ihn nur rausgezogen.« »Es war –« »Roberts!« Der andere Deputy winkte ihm von unten zu. »Komm und sieh dir das an.« »Ihr wartet hier«, befahl der Deputy, dessen Nachname offenbar Roberts war. Dann trottete er zum Ufer des Teiches hinunter. »Als würden wir flüchten«, sagte Lana gedämpft. Sie hatte den Schock überwunden und wirkte jetzt sichtlich verärgert. Clark und Chloe ging es nicht anders. Dieser Cop war ihnen gegenüber mehr als unverschämt gewesen. Anscheinend traute er ihnen nicht. Die Sirenen kamen immer näher. Chloe beobachtete die Sanitäter und die beiden Deputys. Sie hatte die Arme über dem Riemen ihrer Kamera verschränkt. 39
»Es scheint ihnen völlig egal zu sein, dass sie auf den Spuren herumtrampeln.« »Es gibt also keine Möglichkeit mehr, dass er am Leben ist, Clark?«, fragte Lana leise. Clark schüttelte den Kopf. Kein lebendiger Mensch konnte sich so kalt und gummiähnlich anfühlen. Von der Schlüpfrigkeit ganz zu schweigen. Clark fröstelte unwillkürlich. »Aber was machen sie denn dann da unten?«, fragte Lana. Chloe runzelte die Stirn. Sie trat einen Schritt näher und kniff die Augen zusammen. »Sie scheinen noch etwas anderes gefunden zu haben.« »Was?«, fragte Lana. Clark wusste es. Er hatte gespürt, wie etwas sein Bein gestreift hatte, als er ins Wasser gewatet war. Etwas Kaltes und Schleimiges, das ihn wie ein Hauch berührt hatte. Es hatte sich angefühlt wie Finger, die über seinen Fußknöchel strichen. Er hatte den Mädchen nichts davon gesagt. Noch geschockt davon, Dannys Leiche gefunden zu haben, hatte Clark sie ans Ufer gezogen und dann vorgehabt, umzukehren und im Wasser nach der Ursache dieser gespenstischen Berührung zu suchen, doch Chloe hatte ihn mit ihrem Gerede über Tatorte und das Verwischen von Spuren zurückgehalten. Clark sah zu dem Haus hinüber. Lana hatte gesagt, dass sie es noch nie in diesem Zustand gesehen hatte. Das Auto war verschwunden. Das Scheunentor war verschlossen und das Tor verriegelt. Jemand wollte nicht, dass der Franklin-Farm ein Besuch abgestattet wurde. Es sollte der Eindruck erweckt werden, dass niemand dort war. »Was ist, Clark?«, fragte Chloe. Die Sirenen waren jetzt ganz nahe, so nahe, dass sie in seinen Ohren schmerzten. Sein Gehör war schon immer sehr empfindlich gewesen, aber momentan schien es noch 40
empfindlicher zu sein. Chloe und Lana schienen die Sirenen gar nicht wahrzunehmen. Er wandte den Blick von dem Haus ab und sah wieder zum Teich hinunter. Die Sanitäter zeigten auf den Rand des Wassers. Zwei weitere Streifenwagen rasten die Zufahrt herunter und kamen in einer Wolke aus Staub zum Halt. Die Sirenen verstummten, aber die Lichter flackerten weiter. »Clark?«, fragte Chloe erneut. »Steck deine Kamera ein, Chloe«, sagte Clark. Er musste sie irgendwie ablenken, um seinen Verdacht überprüfen zu können. »Ich will ja gar keine Fotos mehr machen. Ich kann gar keine mehr machen, weil ich keinen Speicherplatz mehr habe. Also ist es egal, wo –“ »Steck sie ein, Chloe«, sagte er wieder, »oder die Polizei wird sie womöglich als Beweismittel beschlagnahmen.« »Das dürfen sie nicht. Ich bin eine Vertreterin der Presse«, setzte Chloe ihm entgegen. »Ich glaube nicht, dass sie von einer Vertreterin der Fackel sonderlich beeindruckt sein werden«, sagte Lana. »Du wirst dir nur Ärger einhandeln.« »Da könntest du leider Recht haben«, seufzte Chloe und bückte sich, um ihre Büchertasche aufzuheben. Clark nutzte den Moment und konzentrierte sich auf den Teich. Er setzte seinen Röntgenblick ein, um das trübe Wasser zu durchdringen. Er hatte eine Menge Sand und Schlick aufgewirbelt, als er hineingewatet war. Das Sonnenlicht drang durch die Fluten und erleichterte ihm seine Suche. Eine Hand tanzte leicht am schlammigen Grund. Clark stockte der Atem. Er blickte genauer hin. Der Körper in der Nähe des Ufers schien lang und dünn zu sein. Haare verhüllten das Gesicht, aber die Hand lieferte ihm 41
den entscheidenden Hinweis. Er kannte die mit falschen Steinen geschmückten Fingernägel und die Ringe an jedem Finger. Die Erinnerung, wie sich diese Fingernägel an seinem Kopf angefühlt hatten, als sie ihm vor einer knappen Woche die Haare zerzaust hatten, während er von dem intensiven Geruch nach Kaugummi und Vanilleparfüm überwältigt worden war, durchzuckte ihn wie ein Blitz. »Wow, Danny, du hast mir vorenthalten, wie gut sich Clark entwickelt hat«, hatte Betty Franklin gesagt. Betty war Dannys stets zu einem Flirt aufgelegte ältere Schwester – gewesen. Er konnte sich auch daran erinnern, wie ihre Zwillingsschwester Bonnie Clark an jenem Tag ein mitfühlendes Lächeln geschenkt hatte, fast so, als wollte sie sich für Betty entschuldigen. Bonnie war nie so kokett wie ihre Schwester gewesen, doch die beiden waren so gut wie unzertrennlich. Bis jetzt. Denn Bonnie lag nicht in dem Teich. Niemand sonst lag dort. Nur Betty. »Was ist los, Clark?«, fragte Lana, die ihn beobachtet hatte. Er schluckte und wusste nicht, was er antworten sollte. Das übernahmen glücklicherweise Sanitäter für ihn. »Wir haben noch eine gefunden!« Woraufhin unten am Teich alle in hektische Betriebsamkeit ausbrachen.
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5 DIE COPS RANNTEN den Hang des Hügels hinunter, zertrampelten das Unkraut und hinterließen unzählige Fußabdrücke im Schlamm. Eine Gruppe von Männern hatte sich am Rand des Wassers versammelt, und zwei von ihnen – Sanitäter? – wateten hinein und zogen irgendetwas hinaus. Chloe eilte die Zufahrt hinunter und verließ an derselben Stelle wie die Cops den Kiesweg. Keiner konnte ihr nachsagen, dass sie nicht aus ihren Fehlern lernte. Peinlich genau achtete sie darauf, nur in die Fußstapfen der Cops zu treten. In ihren Fingern juckte es, nach der Kamera zu greifen, aber sie hielt sich zurück. Clarks Warnung war berechtigt gewesen; die Cops würden nicht zögern, ihren Fotoapparat und alles andere, was sie bei sich trug, vielleicht sogar ihr Notizbuch, zu konfiszieren. Sie konnte nur eines tun: sich alles, so gut es ging, einzuprägen. Der einzige Nachteil war, dass sie ihre Beobachtungen sofort aufschreiben musste, wenn sie hier fertig waren. Wenn sie das tat, würde sie einen Artikel haben, der gut genug war, um von der Lokalzeitung übernommen zu werden, vielleicht sogar gut genug, um ihn an den Planet zu verkaufen. Clark rief ihr irgendetwas nach. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass sie zum Teich ging. Es war süß, dass er sie beschützen wollte, auch wenn er nicht dieselbe Zuneigung für sie zu empfinden schien wie sie für ihn. Aber sie würde nicht auf ihn hören. Sie musste mit eigenen Augen sehen, was vor sich ging. Die Männer wühlten das Wasser auf und erzeugten dabei Wellen. Diesmal stieg kein Gestank auf, sah man von dem Geruch des abgestandenen Wassers und der Algen ab.
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Niemand sagte etwas. Sie arbeiteten in völliger Stille, als hätten sie so etwas schon häufiger tun müssen. Sie beobachtete, wie die Sanitäter ins Wasser griffen und an etwas zogen. Ein Arm tauchte auf. Chloe konnte nur den Ellbogen und einen Teil des Bizeps sehen, anmutig und dünn. Der Arm sah unnatürlich weiß aus. Endlich verstand sie die Bedeutung des Wortes »Alabaster«. Allerdings war eine Person mit Alabasterhaut normalerweise nicht tot. Chloe wurde schwindlig, doch sie zwang sich, tief durchzuatmen. Sie war eine professionelle Reporterin. Professionell. Ruhig, was auch immer sie entdeckte. Alle Details in sich aufnehmend. Es funktionierte. Das Schwindelgefühl verschwand. Bisher hatte niemand bemerkt, dass sie dort stand, aber es war nur eine Frage der Zeit. Zwei der Cops wateten um die Leiche herum und packten sie an den Fußknöcheln. Wasser tropfte von den Jeans und dem Pullover, der den Rumpf bedeckte. Lange Haare – dunkel, aber die genaue Farbe konnte Chloe nicht erkennen – klebten am Gesicht und verhüllten es. Der Körper war weiblich; so viel war klar, doch Chloe wusste noch immer nicht, um wen es sich handelte. Bis der Arm wieder auf den Wellen tanzte und die Hand sichtbar wurde, die so gekrümmt war, als würde sie nach etwas in den schlammigen Tiefen greifen. An jedem Finger befanden sich Ringe, darunter ein großer falscher Türkis an einem der Daumen. Sie kannte nur ein einziges Mädchen, das einen Türkisring an ihrem Daumen trug. Eine Oberstufenschülerin. Stets zum Flirten aufgelegt, extrem hübsch, aber schwierig. Danny Franklin hatte immer den Kopf geschüttelt, wenn seine Schwester vorbeiging, und gesagt, dass sie mit ihr noch große Probleme bekommen würden.
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Chloe hatte das bisher nur für eine Redensart gehalten. Im Nachhinein erhielt sein Spruch eine andere Bedeutung. »Du solltest nicht noch näher herangehen!« Es war Clark, der dicht hinter ihr stand. Chloe hatte ihn nicht kommen gehört, und sie merkte immer, was Clark tat. Immer. »Ich wollte gar nicht näher herangehen«, erwiderte sie mit gedämpfter Stimme. Sie wollte so lange wie möglich keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. »Es ist Betty Franklin.« »Ich weiß«, sagte Clark leise. »Oh...«, erklang hinter ihnen Lanas Stimme. Offenbar hatte sie sich zu ihnen gesellt. Auch das war Chloe entgangen. Sie warf Lana einen Seitenblick zu. Lana hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. »Warst du auch mit Betty befreundet?« Lana schüttelte den Kopf. »Sie war in der Oberstufe und viel zu beliebt, um jemanden wie mich wahrzunehmen.« Oh klar, Lana Lang, das beliebteste und hübscheste Mädchen in ihrer Klasse, war ja auch so unauffällig! Sei nicht albern, hätte Chloe normalerweise gesagt, aber die Umstände waren alles andere als normal, und so behielt sie es für sich. Die Männer waren dabei, die Leiche aus dem Teich zu tragen. Das Wasser schwappte und wogte. Fast sah es wie ein seltsames Lebewesen aus. Dieser Gedanke war nicht so absurd, wie er zunächst schien. Nicht in Smallville. Chloe widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzutreten. Sie war nicht nahe genug am Wasser, um von ihm berührt zu werden. »Clark, meinst du, dass das Wasser...?« Chloe brach ab, denn sie hatte das Gefühl, dass das, was sie fragen wollte, pietätlos war. Irgendwie kam es ihr nicht richtig vor, sich über so etwas Gedanken zu machen, während die Polizei die Leichen von Menschen, die sie kannte, aus einem Teich holte. Aber Clark sah sie mit seinen blauen Augen durchdringend an. »Dass das Wasser was ist?« Chloe zuckte betont lässig die Schultern. »Nichts.« 45
»Denkst du, das hier ist etwas für die Wand der Merkwürdigkeiten?«, fragte Lana. Da war eine Traurigkeit in ihrer Stimme, die Chloe überraschte. Sie hatte eher erwartet, dass Lana zornig reagieren würde, denn Lana hasste es, dass Chloe Artikel über all die sonderbaren Dinge, die in Smallville und Umgebung passierten, an eine Wand im Fackel-Büro heftete. Was durchaus verständlich war, wenn man bedachte, dass Lanas Eltern in dem Meteoritenhagel umgekommen waren, der nach Chloes Meinung die merkwürdigen Ereignisse ausgelöst hatte. Lana war eines der Kernstücke – ein Foto, das sie als Dreijährige zeigte, zierte die Titelseite einer Zeitschrift. »Ich kann es nur einfach nicht fassen«, sagte Chloe, die sich entschieden hatte, die Frage nicht zu beantworten. »Ich befürchte, dass es noch schlimmer wird«, warf Clark ein. »Wie meinst du das?« Lana stellte die Frage so leise, dass Chloe sie kaum verstehen konnte. Clark wirkte so bedrückt, als würden alle Sorgen der Welt auf seinen Schultern lasten. »Betty ist ohne Bonnie nirgendwohin gegangen. Und du hast selbst gesagt, dass Dannys Mom das Haus nicht in einem derartigen Zustand belassen würde.« »Habe ich das?« Lana kniff den Mund zu einem Strich zusammen. Chloe spürte ein Flattern in ihrem Magen. Die Nerven. Es mussten die Nerven sein. Die Sanitäter legten Betty neben Danny ab. »Niemand lässt eine Farm in diesem Zustand zurück, nicht im Frühling, nicht ein Farmer, dem seine Arbeit so wichtig ist wie Dannys Dad.« Clark beobachtete die Cops. Sie durchkämmten den Teich, so gut es ohne Taucher ging. Aber Clark hatte ihn bereits abgesucht. Er wusste, dass sie dort keine weiteren Leichen finden würden. »Glaubst du, sie sind alle tot?«, fragte Chloe. 46
Clark sah ihr in die Augen. Die Intensität seines Blickes warf sie fast um. »Was denkst du?«, fragte er zurück. »Ein Teenager in einem Teich ist wahrscheinlich ein tragischer Unfall. Aber bei zweien sieht die Sache anders aus. Da muss jemand nachgeholfen haben.« »Der Meinung bin ich auch«, nickte Clark. »Ich kann nicht glauben, dass die ganze Familie tot sein soll«, rief Lana eine Spur zu laut. Chloe bedeutete ihr sofort, leiser zu sein, aber es war bereits zu spät. Der Cop, der so unfreundlich zu ihnen gewesen war, kam aus dem Wasser gewatet und winkte ihnen zu. »Ihr da«, rief er. »Verschwindet von hier. Es gibt nichts mehr zu sehen.« Clark legte eine Hand auf Chloes Schulter, um sie zu beschwichtigen. »Gehen wir«, sagte er leise. Ein weiterer Cop näherte sich ihnen. Chloe bewegte sich nicht von der Stelle, obwohl Clark versuchte, sie wegzuziehen. »Wir haben jedes Recht, hier zu sein«, sagte Chloe. »Wir sind –« »Diejenigen, die die erste Leiche gefunden haben, ich weiß«, unterbrach der Deputy. Er war jünger als der andere und kam ihnen bekannt vor. Chloe hatte ihn oft in der Stadt gesehen, seit sie die Fackel übernommen hatte. Er war jünger und auch viel netter als die anderen Officers. »Wir brauchen von euch allen eine Aussage, also müsst ihr hier bleiben, aber Roberts hat schon Recht. Ihr müsst nicht dabei zusehen.« »Denken Sie, dass Sie noch mehr Leichen finden werden?«, fragte Chloe. Der Cop warf ihr einen prüfenden Blick zu. Dann blitzte Erkennen in seinen Augen auf. »Du bist das Mädchen, das die Fackel herausgibt, nicht wahr?« »Ich bin die Chefredakteurin«, erwiderte Chloe etwas pikiert. »Ich kann dir im Moment leider kein Interview geben. Wir müssen den Fall erst untersuchen.« 47
»Aber Sie denken, dass Sie noch etwas anderes finden werden?«, hakte Lana nach. Sie hatte die Gabe, ihre Fragen unschuldig klingen zu lassen, während Chloes Fragen immer nach einem Verhör klangen. Sie musste sich diesen Trick unbedingt merken, nahm sich Chloe vor. »Sagen wir einfach, dass die Möglichkeit besteht«, erwiderte der Cop. Er breitete seine Arme aus, um sie zum Gehen zu bewegen. »Ich bringe euch jetzt zum Tor. Jemand wird in Kürze zu euch kommen, um eure Aussagen aufzunehmen.« »Wir können doch auch vor dem Haus warten«, schlug Chloe vor. Der Cop schüttelte den Kopf. »Hier sind schon genug Leute. Wir müssen unseren Job ungehindert machen können.« Chloe seufzte, aber sie fügte sich seinen Anweisungen. Und in der verbleibenden Zeit konnte sie alles notieren, was sie beobachtet hatte. »Ich habe die Franklins immer gemocht«, sagte Lana, als sie auf das Tor zugingen. »Warum musste ihnen so etwas zustoßen?« Diese Frage beschäftigte sie alle. Weder Chloe noch Clark hatten eine Antwort parat. In Smallville hatten sich schon so viele schreckliche Dinge ereignet. Chloe wusste dies besser als jeder andere in der Stadt. Aber das Wissen darum machte Tage wie diesen auch nicht leichter. Lex erfuhr die Neuigkeit per E-Mail. Er hatte das Programm so eingestellt, dass er sofort benachrichtigt wurde, wenn sich irgendetwas im Aktiengeschäft tat. Als er gerade das Arbeitszimmer verlassen wollte, um zu seinem Fechtunterricht zu gehen, hörte er das Signal seines Computers.
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Lex zögerte, ob er nachsehen sollte, was es Neues gab. Aber er hatte auf diese Weise schon einige große Kaufgelegenheiten an der Börse verpasst. Also ging er zurück zu seinem Schreibtisch. Das Alarm-Icon leuchtete in der oberen rechten Ecke seines Computermonitors. Er klickte es mit der Maus an und öffnete die neue E-Mail. »LUTHORCORP-AKTIEN ABGESTÜRZT« stand dort groß als Überschrift. Ihm stockte der Atem. Er hatte die Börse erst vor dreißig Minuten überprüft. Alles war in Ordnung gewesen. Er riss sich zusammen und begann den Artikel zu lesen. ... die LuthorCorp-Aktien sind zum Objekt regen Handels geworden, während die Analysten versuchen, die Sondermeldung des heutigen Nachmittags über den LuthorCorp-Gründer Lionel Luthor zu verarbeiten. Luthors Sicherheitsleute und sein Fahrer wurden bewusstlos vor der City Bank gefunden, zusammen mit einigen Passanten, die ebenfalls auf der Straße zusammengebrochen waren. Ursprünglich glaubten die Behörden, dass die Massenohnmacht eine Folge der schrecklichen Hitze war, aber mittlerweile geht die Polizei davon aus, dass Luthor und seine Leute gezielt angegriffen wurden... Lionel Luthor, der zuletzt am Tatort gesehen wurde, wird ebenso vermisst wie eine der Limousinen des Unternehmens, ein schwarzes Streckmodell mit dem Kennzeichen LUTHOR 1... Lex stockte der Atem. Niemand hatte ihn angerufen. Die gesamte Belegschaft der LuthorCorp – zum Teufel, wahrscheinlich die gesamte Bevölkerung Kansas’ – wusste bereits, dass sein Vater entführt worden war, und niemand hatte es für nötig gehalten, ihn zu informieren. 49
Lex ballte die Fäuste. Wütend stand er auf und erstarrte dann plötzlich. War es ein Trick? Sein Vater steckte sicher nicht dahinter, aber die Luthors hatten viele Feinde. Dauernd versuchten irgendwelche Leute, die Firma zu ruinieren. Lex nahm den Hörer von der Gabel und wählte erneut die Handynummer seines Vaters. Es klingelte endlos, dann meldete sich die Mailbox. Genau wie in den letzten Stunden. Lex’ Magen zog sich zusammen. Auf der zweiten Leitung klingelte es, und Lex nahm den Anruf entgegen. »Was ist?« »Mr. Luthor?« Lex erkannte die Stimme nicht, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sein Vater wechselte seine Angestellten so oft, dass Lex den Überblick verloren hatte. »Hier ist Lex Luthor.« »Ich bin John Harrison. Ich bin einer der stellvertretenden Sicherheitschefs der Firma Ihres Vaters.« Ein stellvertretender Sicherheitschef, der tief genug auf der Gehaltsskala stand, dass er den Auftrag bekommen hatte, Lionel Luthors aufsässigen Sohn anzurufen, um ihm die schlechte Nachricht zu überbringen. Noch vor ein paar Jahren hätte Lex diesen Gedanken wahrscheinlich sogar laut ausgesprochen. Doch er hatte gelernt, sich zu beherrschen. Er würde zunächst einmal den Ahnungslosen spielen. »Ja?«, fragte er mit ausdrucksloser, desinteressierter Stimme. »Äh, haben Sie die Nachrichten gehört, Mr. Luthor?« »Welche Nachricht hätte ich denn hören sollen?« »Äh, die über Ihren Vater.« »Mein Vater ist fast jeden Tag in den Nachrichten, Mr. Harrison. Ich kann nicht jedes Mal darauf achten, ob sein Name fällt. Oder geht es um etwas, das ich wissen sollte?«, 50
fügte Lex hinzu. Diese Andeutung müsste einem klugen Menschen zu erkennen geben, dass Lex mehr wusste, als er sagte. »Ihr Vater, Sir!« Harrisons Stimme bebte. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass er entführt worden ist.« Also stimmte es. Lex umklammerte den Hörer so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Sind Sie sicher?« »Ja, Sir. Wir haben bisher noch keine Bestätigung bekommen, aber –“ »Was für eine Art Bestätigung brauchen Sie?«, fragte Lex. »Entweder ist er entführt worden oder nicht.« »Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet, um eine Lösegeldforderung zu stellen.« »Sie wissen also nicht, ob er entführt oder ermordet wurde.« Lex’ Fingernägel bohrten sich in den Hörer. Er konnte spüren, wie sich alles in ihm verkrampfte. »Nun, Sir, ich würde doch eher von einer Entführung ausgehen, Sir. Ich meine, den Leibwächtern ist nichts passiert – « »Tatsächlich?« Lex seinem Ärger Luft. »Dann haben sie und ihr tolles Sicherheitsteam wohl versagt! Ihr Job war, meinen Vater zu beschützen, notfalls unter Einsatz ihres Lebens.« »Gewiss, Sir. Aber –« »Aber?« Lex stand auf. »Was können Sie denn zu ihrer Entschuldigung vorbringen? Hmmm? Mein dummer E-MailAktieninformationsdienst hat mich eher informiert als Sie. Mein Vater ist am helllichten Tag auf einer belebten Straße in Metropolis verschleppt worden. Mehrere Leibwächter und Passanten wurden dabei betäubt. Mein Vater wurde in seinem eigenen Wagen entführt. Was haben Sie und Ihre Leute eigentlich in der Zwischenzeit getan? Sie haben sich mit mir nicht in Verbindung gesetzt. Ich nehme an, Sie waren zu beschäftigt.« »Wir versuchten zunächst eine Bestätigung –“ 51
»– für das zu bekommen, was passiert ist? Während das Leben meines Vaters auf dem Spiel steht? Wissen Sie nicht, dass die ersten Stunden nach einer Entführung entscheidend sind? Machen Sie sich an die Arbeit, Mann. Sorgen Sie dafür, dass die Polizei von Metropolis – ach, zum Teufel. Ich werde mich selbst darum kümmern.« Lex schmetterte den Hörer hart auf die Gabel. Er war so wütend. Diese Sicherheitsleute waren völlige Versager. Sie waren nur Befehlsempfänger ohne Verstand. Ohne jemanden, der ihnen sagte, was zu tun war, waren sie hilflos. Idioten. Sie ließen seinen Vater sterben. Bei diesem Gedanken erstarrte Lex. Sein Vater – tot. Wie oft hatte er sich das gewünscht? Fast jeden Tag, seit er von ihm ins Internat geschickt worden war. In der letzten Zeit etwas weniger häufig. Doch manchmal hatte Lex eine leise Ahnung, dass er ohne seinen Vater, ohne diesen ständigen Kampf um Anerkennung, ohne jemand, der starken Druck auf ihn ausübte, niemals so weit gekommen wäre. Sein Vater war entführt, vielleicht sogar ermordet worden. Es konnte sein, dass Lionel Luthor nicht mehr existierte. Das war nicht möglich. Sein Vater war unverwüstlich. Oder zumindest war Lex in diesem Glauben aufgewachsen. Von dieser Vorstellung konnte er sich auch als Erwachsener schlecht lösen. Doch in dieser Situation wurde ihm bewusst, dass sein Vater ein Mensch wie jeder andere war. Genauso verletzlich. Er konnte sterben, wie jeder andere auch. Sofern nicht ein fähiger Mann etwas unternahm. Sofern nicht Lex etwas tat. Er griff über den Schreibtisch, schaltete den Bildschirmschoner aus und fuhr dann den Computer herunter. Dann nahm er sein Handy und den Schlüssel seines Porsches.
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Als er den Raum durchquert hatte, telefonierte er bereits mit dem Privatjetdienst der LuthorCorp. Er machte ihnen klar, was er brauchte: Wenn er Smallvilles winzigen Flughafen erreichte, wollte er, dass dort ein aufgetankter und abflugbereiter Firmenjet auf ihn wartete. In einer Stunde würde er in Metropolis sein. Denn dank Schwachköpfen wie Harrison durfte keine Zeit mehr verloren werden.
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6 »WAS FÜR EINE SCHRECKLICHE TRAGÖDIE!« Martha legte beide Hände auf Clarks Schultern und drückte ihn an sich. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, ein Kind zu verlieren, von zwei ganz zu schweigen.« Der Küchentisch bog sich unter den Schüsseln und Töpfen voller Essen, die auf ihm standen. Sein Vater hatte den Grill aus der Garage geholt, ein Frühlingsritual, zu dem sie in diesem Jahr noch nicht gekommen waren. Das Hühnchen roch verführerisch, und Clarks Mom hatte die Mahlzeit mit gebackenen Bohnen, Kartoffelsalat und selbst gebackenem Maisbrot abgerundet. Normalerweise hätte ein solches Festmahl Clark aufgemuntert. Aber die Ereignisse des Tages hatten ihn zu sehr erschüttert. Er wurde das Gefühl nicht los, versagt zu haben. Hätte er nur früher gewusst, dass etwas nicht stimmte, hätte er sie vielleicht retten können. Natürlich sagte er seinen Eltern nichts davon. Sie hatten dieses Gespräch schon oft geführt. Seine Eltern würden ihm sagen, dass er nicht für die Taten anderer Leute verantwortlich war und dass er manchmal nicht verhindern konnte, dass etwas Böses geschah, ganz gleich, über welche Fähigkeiten er verfügte. Clark wusste, dass seine Eltern Recht hatten, aber das änderte nichts an seinen Gefühlen. Manchmal fragte er sich, wofür all seine wundersamen Kräfte gut waren, wenn er den Leuten, die ihm wichtig waren, nicht helfen konnte. Sein Vater nahm einen gegrillten Hähnchenschenkel von dem Teller in der Mitte des Tisches. Er sah Clark an – mit einem warnenden Blick, den Clark nicht ganz verstand. Vermutlich ging es um seine Mutter und die Sorgen, die sie sich machte, doch Clark wusste, wie er damit umzugehen hatte. 54
»Wir wissen nicht, was dort oben passiert ist, Martha«, sagte sein Dad. »Die Polizei äußert sich noch nicht dazu.« »Was Clark uns erzählt hat, ist schlimm genug.« Noch einmal drückte sie Clark, dann löste sie sich von ihm und nahm einen Teller mit frischem Maisbrot von der Anrichte. »Mindestens zwei der Franklin-Kinder sind tot. Wer weiß, was dem Rest der Familie zugestoßen ist!« »Die Farm sah völlig verlassen aus.« Clark griff nach der Steingutschüssel mit gebackenen Bohnen. Vor einer Stunde hatte er noch gedacht, nie mehr einen Bissen herunterbringen zu können. Aber sein Magen knurrte wie immer. Wenn er nur nicht ständig an Danny und Betty Franklin denken müsste. »Aber die Felder waren gepflügt?«, fragte sein Dad zum zweiten Mal. »Gepflügt, aber nicht gedüngt. Es sah aus, als hätten sie letzte Woche die Arbeit eingestellt«, antwortete Clark. »Wenn die Leichen länger als eine Woche im Wasser lagen – « »Genug«, unterbrach ihn seine Mom. Sie stellte das Maisbrot neben den Kartoffelsalat auf den Tisch. »Wir essen jetzt zu Abend.« Normalerweise hasste es Clark, wenn sie Gespräche beim Essen verbot, aber heute Abend war er dankbar dafür. Er wollte nicht mehr an die Leichen denken. »Ich will damit nur sagen, Martha, dass es klingt, als wäre die Arbeit eingestellt worden, bevor diese schrecklichen Dinge passierten.« Jonathan nahm Clark die gebackenen Bohnen aus der Hand. »Jedenfalls würde kein Farmer zu dieser Jahreszeit die Arbeit auf der Farm einstellen.« Clarks Mom angelte sich mit einer Gabel einen Hähnchenschenkel vom Teller. »Was ist deiner Meinung nach passiert?«
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»Ich weiß es nicht«, erwiderte sein Dad. »Wenn das Haus so verwüstet war, dann ist vielleicht ein Fremder eingedrungen und hat versucht, sie auszurauben.« »Und Betty und Danny getötet?«, hakte seine Mom nach. »Aber was ist mit dem Rest der Familie?« »Das haben wir uns auch schon gefragt.« Clark griff nach einem Stück Hähnchenbrust und einer Scheibe Maisbrot. Auf den Kartoffelsalat verzichtete er. Die Eier flößten ihm auf eine unerklärliche Weise Unbehagen ein. »Ich habe das Haus mit meinem Spezialblick durchsucht, aber ich habe niemand gesehen. Bevor wir gingen, habe ich auch die beiden Scheunen überprüft. Da war auch nichts.« »War das Wasser in irgendeiner Form ungewöhnlich, Clark?«, fragte seine Mutter. »Mir ist nichts aufgefallen.« Clark nahm einen Bissen von dem Hühnchen. Es war gut. Er hatte vergessen, wie sehr er die erste gegrillte Mahlzeit des Jahres mochte. »Keine Meteoriten in der Nähe?« »Nein«, sagte Clark. »Und ich war nahe genug, um welche zu bemerken.« »Wir sind schrecklich stolz auf dich, Clark«, sagte sein Dad. »Du bist sofort ins Wasser gegangen.« »Ich würde mich besser fühlen, wenn ich Danny gefunden hätte, bevor er ertrunken ist«, murmelte Clark. »Ich dachte, die Polizei weiß nicht genau, wie er gestorben ist.« Seine Mom hörte auf, ihr Maisbrot mit Butter zu bestreichen. Sie musterte ihn und hielt dabei das Messer hoch, als wäre es eine Waffe. »So ist es auch«, bestätigte Clark. »Ich schätze, ich hoffe einfach, dass es ein Unfall war.« »Ich fürchte, das können wir ausschließen«, warf sein Dad ein. »Es wäre schön seltsam, wenn zwei Menschen in einem seichten Teich, den sie ihr Leben lang kannten, gleichzeitig ertrinken würden.« 56
»Vielleicht waren sie betrunken und sind dann hineingefallen?«, schlug Clarks Mom zaghaft vor. »Danny hat nicht getrunken«, sagte Clark. »Er war nicht von der wilden Sorte.« »Jeder schlägt mal über die Stränge, Clark«, erwiderte seine Mom. »Und wir kennen die Menschen nicht immer so gut, wie wir meinen.« Sein Dad war mit dem ersten Hähnchenschenkel fertig und griff nach dem nächsten. »Ich weiß, Dad«, nickte Clark. »Aber Teenager verheimlichen es normalerweise nicht, wenn sie trinken, wenigstens nicht vor anderen Kids. Danny hat sich nie damit gebrüstet. Betty kannte ich nicht so gut. Sie war in einer anderen Clique. Aber für Danny lege ich meine Hand ins Feuer. Er war viel zu interessiert an guten Noten und der Schule, als dass er Freitagnacht mit den Trinkern herumgehangen hätte.« »Wahrscheinlich hatte er dafür auch gar keine Zeit«, warf Clarks Mom ein. »Wenn sein Dad zur Arbeit ging, musste er die vielen Aufgaben auf der Farm erledigen. Und Danny verfügte nicht über Clarks Fähigkeiten.« »Ich weiß.« Clarks Vater seufzte. »Das Problem ist, Martha, zwei tote Kids und ein verwüstetes Haus lassen für den Rest der vermissten Familie nichts Gutes hoffen.« »Das Auto ist auch verschwunden«, sagte Clark. »Vermutlich hat es derjenige mitgenommen, der die Franklins umgebracht und das Haus verwüstet hat. Ich bin sicher, dass die Polizei dieser Spur nachgeht.« Clarks Mom legte ihre Serviette neben ihren Teller. »Ich stelle mir vor, dass es schwierig wäre, eine ganze Familie zu ermorden, zumal die Kinder fast erwachsen waren.« »Du denkst an nur einen Mörder«, sagte Clarks Dad. »Eine Mörderbande?«, fragte Clark. »Ist das für Smallville nicht etwas weit hergeholt?« 57
»Diese Stadt ist nicht so friedlich und sicher, wie wir sie gerne hätten, Clark«, erwiderte sein Dad. »In dieser Hinsicht hat sich einiges geändert.« »Trotzdem«, wandte seine Mutter ein, »sollte man meinen, dass jemand hätte entkommen und Hilfe holen können.« Clark hatte daran nicht gedacht. Er hatte an diesem Nachmittag so viele schreckliche Dinge gesehen, die ihn genau so verstört hatten wie Lana und Chloe. Es war schwer, einem toten Freund ins Gesicht zu sehen. »Es gibt dort eine Menge Wälder«, überlegte seine Mom weiter. »Jemand, der die Gegend kennt, könnte sich dort tagelang verstecken.« »Ohne Hilfe zu holen?«, fragte sein Dad. »Wir hätten längst davon erfahren.« »Das Wetter ist bis auf heute nicht besonders gut gewesen, Jonathan. Und wenn die Person verletzt wurde, besteht vielleicht die Möglichkeit, dass sie noch immer irgendwo dort draußen ist.« »Vielleicht sollte ich mich umsehen«, schlug Clark vor. »Ich hätte es vorhin schon tun müssen. Chloe wollte es, aber ich hielt es nicht für richtig.« »Ganz meine Meinung, Clark«, sagte sein Dad. »Außerdem bin ich überzeugt, dass die Polizei auch schon auf diese Idee gekommen ist. Sie haben die Wälder wahrscheinlich schon durchsucht.« »Aber sie haben nicht die Möglichkeiten, die ich habe«, entgegnete Clark. »Ich kann Dinge sehen, die niemand sonst sehen kann.« »Ich halte das dennoch für keine gute Idee, Clark.« Sein Dad schob seinen Teller zurück. »Überlass die Nachforschungen der Polizei.« Martha runzelte die Stirn. »Du hast doch noch eine andere Vermutung, Jonathan!«
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Sein Dad stellte seinen Teller weg. »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.« Clark trank einen Schluck Milch. Sie war kalt und frisch. Sie schmeckte gut. »Wie meinst du das, Dad?« Jonathan schüttelte den Kopf. »Jetzt hast du damit angefangen«, sagte Martha. »Du kannst es nun auch zu Ende bringen.« »Jed Franklin hat unter großem Druck gestanden, das ist bekannt. Und manchmal tun Leute, die unter Druck stehen, Dinge, die man nicht nachvollziehen kann.« Abrupt rückte er seinen Stuhl vom Tisch. Dann nahm er seinen Teller und trug ihn zur Spüle. »Du denkst doch nicht...?« »Ich bin sicher, dass ich nicht der Einzige bin, der das in Betracht zieht, Martha«, erwiderte Jonathan. »Du hast selbst betont, wie schwierig es wäre, eine ganze Familie zu töten.« Martha schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jed Franklin irgendjemand etwas zu Leide tun könnte. Er schien immer so ein sanftmütiger Mensch zu sein.« »Dräng einen Menschen an den Abgrund, und er fällt hinein«, sagte Clarks Dad. »Jed Franklin hat sich schon seit Jahren am Rande dieses Abgrunds aufgehalten. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hat er ein paar ziemlich hässliche Dinge über die LuthorCorp gesagt, Dinge, von denen ich nie erwartet hätte, sie aus Jed Franklins Mund zu hören.« »Es ist ein langer Weg vom Hass auf die LuthorCorp zur Ermordung der eigenen Familie«, widersprach Clarks Mom. »Außerdem müsste man völlig verrückt und am Ende sein, um so etwas zu tun«, fügte Clark hinzu. Sie sahen sich alle einen Moment lang an. Das Schweigen seines Dads war viel sagend. Clark schüttelte leicht den Kopf. Jonathan hatte ein gutes Gespür für Menschen. Wenn er das Gefühl hatte, dass Jed Franklin durchdrehen konnte, war es vielleicht auch möglich. 59
Clarks Dad griff nach der Kaffeekanne, goss sich eine Tasse ein und kehrte an den Tisch zurück. »Hoffen wir nur, dass ich mich irre«, sagte er. Sein Nacken schmerzte. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust, und seine Lippen waren so aufgesprungen, dass sie brannten. Sein Mund stand offen und war völlig ausgetrocknet. Er hatte mehr als nur Durst. Mit was auch immer sie ihn ausgeschaltet hatten, es hatte einen schrecklichen Baumwollgeschmack auf seiner Zunge hinterlassen. Lionel Luthor hielt die Augen geschlossen und zwang sich, seine Lage zu analysieren. Vorhin hatte er den Fehler begangen, seine Entführer merken zu lassen, dass er zu sich gekommen war. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Offensichtlich war er dieses Mal ziemlich lange bewusstlos gewesen. Seine Schultern schmerzten noch immer, nur diesmal an einer anderen Stelle. Er saß auf einem ungepolsterten Stuhl und hatte nicht das Gefühl, sich zu bewegen. Offenbar hatten sie ihr Ziel erreicht. Er fragte sich, wo er war und wie lange er wohl ohnmächtig gewesen war. Durch die Bewusstlosigkeit hatte er sein Zeitempfinden völlig verloren. Er hatte keine Ahnung, ob er noch in der Nähe von Metropolis war oder ob sie ihn irgendwohin geflogen hatten oder nur im Kreis mit ihm gefahren waren. Er würde niemandem Tipps geben können, ihn zu finden – vorausgesetzt, dass er sich irgendwie befreien konnte. Sie hatten ihn nicht geknebelt. Das war ein schlechtes Zeichen. Es bedeutete, dass er schreien konnte, so viel er wollte, ohne dass ihn jemand hören würde. Aber auch das gab ihm keinen Anhaltspunkt, wo er sich aufhalten könnte.
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Vermutlich hatten sie ihn irgendwo aufs Land gebracht, in eine abgeschiedene Gegend ohne Nachbarn und verkehrsreiche Straßen. In Kansas gab es eine Menge derartiger Gegenden. In ganz Amerika, um genau zu sein. Es brachte ihn nicht weiter. Er konnte überall sein. Er unterdrückte einen Seufzer und zog weiter Bilanz. Seine Hände waren auf seinem Rücken gefesselt, und die Stricke saßen so fest, dass sie ihm in die Haut schnitten. Seine Füße standen auseinander, und er bemerkte, dass seine Fußknöchel an irgendetwas festgebunden waren – wahrscheinlich an die Beine des Stuhles, auf dem er saß. Der Raum roch nach Staub und Schimmel und speicherte die Resthitze dieses verfluchten Aprilnachmittags. Ansonsten konnte er keine Gerüche ausmachen, kein Essen, keine Haustiere, keinen Müll. Der Ort, an dem er sich befand, musste verlassen sein oder wurde nur selten benutzt. Vielleicht eine Werkstatt oder ein Lagerhaus, eine Jagdhütte, irgendetwas fernab der Straße. Dann hörte er ein Geräusch. Irgendwo in der Nähe schnarchte ein Mann. Tiefe, grollende Schnarchlaute, unterbrochen von Grunzen und einem gelegentlichen Schnauben. Die Geräusche von jemandem, der tief schläft. Sonst war nichts zuhören. Nur das Schnarchen. Konnten seine Entführer so sorglos sein? Konnten sie ihn hierher gebracht und dann mit einem schlafenden Wächter allein gelassen haben? Oder testeten sie ihn, um zu sehen, ob er so einfallsreich war, wie alle behaupteten? Schlussendlich spielte es keine Rolle. Am Ende würden diese Kerle ihn umbringen, wenn er sich nicht etwas Gutes einfallen ließ. So gingen Entführer nun einmal vor. Selbst wenn sie es
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anfänglich nicht geplant hatten, würden sie zu der Erkenntnis gelangen, dass Luthor zu viel über sie wusste. Wenn das Lösegeld bezahlt wurde, würde er keinen Wert mehr für sie haben. Flucht. Überleben. Beides hing nur von ihm ab. Er öffnete die Augen gerade so weit, dass er durch seine Wimpern spähen konnte. Eine kleine Lampe brannte auf einem wackeligen Tisch. Auf einer schäbigen Couch lag ein Mann, einen Arm über den Augen. Der Schnarcher trug ausgefranste Jeans und ein Flanellhemd, das für das heiße Wetter zu dick war. Seine schlammverschmierten Stiefel ruhten auf der Armlehne der Couch. Luthor war nicht sicher, ob er den Mann früher schon einmal gesehen hatte oder nicht. Der Mann hatte ein schmales Gesicht, einen mehrere Tage alten Bart und zottiges Haar, das dringend geschnitten werden musste. Hätte er einen Pickuptruck und einen Köter gehabt, dann hätte er Luthors Definition von einem Proleten perfekt erfüllt. Doch es fehlte noch ein entscheidendes Element: leere Bierdosen um ihn herum. Luthor hielt den Atem an und wünschte sich, dass das Schnarchen aufhören würde. Er konnte sonst niemanden atmen oder sich bewegen hören, doch er traute seinen Ohren nicht. Niemand sonst schien im Raum zu sein. Das Licht von der einsamen Lampe beleuchtete das Zimmer nur notdürftig. Wenn er seinen Kopf nicht bewegte, konnte er es riskieren, sich seine Umgebung noch ein bisschen genauer anzusehen. Er schlug die Augen auf und starrte den zerkratzten Holzfußboden an. Schlamm bedeckte ihn. Die Schlammspur reichte nicht nur zu den Schuhen des Schnarchers. Ein Teil führte um Luthor herum. Noch mehr lag vor der Tür, als hätten mehrere Leute ihn herein- und hinausgeschleppt. Der Schlamm war außerdem noch immer schwarz. Noch nicht getrocknet. Ihm gefiel nicht, wie er aussah. Eine Menge 62
Straßen abseits des Haupthighways waren unbefestigte oder kiesbestreute Pisten, genau wie die meisten Zufahrten. Die Menschen, die in diesen armen Gegenden lebten, leisteten sich normalerweise auch keine Fußwege aus Beton. Er war eindeutig nicht mehr in Metropolis. Es handelte sich um ein kleines Blockhaus mit einer niedrigen Decke und rissigen, verdreckten Fensterscheiben. Die Tür hing schief in den Angeln. Er konnte Licht durch den Rahmen sehen – ein trübes elektrisches Licht, das wahrscheinlich von einer Verandalampe stammte. Der Schnarcher schien also auf jemanden zu warten. Oder das Blockhaus lag so abgeschieden, dass eine einzelne Außenlampe keine Aufmerksamkeit erregen würde. Luthor hob langsam den Kopf. Sein Nacken verkrampfte sich, und er biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Der Schnarcher schnaubte, seufzte und drehte sich um, sodass sein Gesicht gegen die Rücklehne der Couch prallte. Er schien nichts bemerkt zu haben. Luthor sah sich weiter um. Ein Hauptraum, spärlich möbliert. Ein handgefertigter Tisch mit Stühlen stand nahe der offenen Küche. Doch es war vermessen, diesen Bereich als Küche zu bezeichnen. Da war lediglich eine Spüle, ein Kühlschrank, der sicherlich älter als er selbst war, und ein kleiner Herd, auf dem eine Kaffeekanne stand. Es war Jahrzehnte her, seit Luthor zuletzt eine Kaffeekanne auf einem Herd gesehen hatte. Für einen Augenblick überkam ihn das Gefühl, in die Vergangenheit gereist zu sein. Ein dünner rosa Teppich bedeckte den Bereich vor der Spüle. Und schmutzige, fadenscheinige Handtücher hingen an einem Wandhalter neben dem Kühlschrank. Die Spüle jedoch war makellos sauber, genau wie der Herd. Kein Geschirr stand herum, und keine Krümel befleckten die
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kleine Anrichte. Entweder war diese Hütte seit längerer Zeit nicht mehr benutzt worden, oder der Besitzer war sehr reinlich. Was allerdings gar nicht zu dem Schlamm passte. Schnell warf er einen Blick über seine Schulter. Eine offene Tür führte in ein kleines Bad. Hinter einer weiteren Tür befand sich offenbar ein Schlafzimmer. Er glaubte, den Rand eines Bettes zu sehen, sah es aber nicht genau. Ein offener Schrank mit einem Vorhang an Stelle einer Tür stand gegenüber der Küche. Andere Türen gab es nicht in dem Raum. Nur einige rissige Fenster und den Hauptausgang. Ein Fluchtweg führte entweder an dem Schnarcher vorbei, oder er musste ein Fenster einschlagen. Immer vorausgesetzt, dass er seine Fesseln lösen konnte. Er bewegte seine geschwollenen Finger. Sofort durchzuckten seine Hände schmerzhafte Stiche. Obwohl er seine Fesseln mit den Fingerspitzen berühren konnte, konnte er nicht ausmachen, aus was sie bestanden. Er hatte nicht genug Gefühl. Ein Blick auf seine Füße hinunter bestätigte seine Vermutung, dass sie mit einem dicken Strick gefesselt waren. Er nahm an, dass seine Hände auf dieselbe Weise gebunden waren. Ein dicker Strick war gar nicht so schlecht. Er ließ sich nicht so fest zuziehen wie ein dünner Strick, und vielleicht gelang es ihm, sich herauszuwinden. Der Schnarcher schluckte, schnaubte und drehte sich erneut um. Offenbar waren seine Träume alles andere als angenehm. Luthor beobachtete ihn und wartete darauf, dass der Mann erwachte. Als er es nicht tat, drückte Luthor seine Hände so weit er konnte auseinander. Der Strick schnitt tiefer in seine Haut, aber er glaubte zu spüren, wie er ein wenig nachgab. Vielleicht weit genug, um sich zu befreien, wenn er seine Bemühungen fortsetzte. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihm noch blieb. 64
Aber er wusste, dass er schnell und entschlossen handeln musste. Es war die einzige Möglichkeit zu entkommen.
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7 DIE TÜR DES FACKEL-BÜROS stand offen, und man sah die Lampen an jedem Schreibtisch schon von weitem brennen, obwohl das helle Morgenlicht durch die Fenster drang. Auch die Wand der Merkwürdigkeiten wurde von Licht überflutet. Clark kam herein. Er machte sich Sorgen um Chloe, die er den ganzen Morgen nicht gesehen hatte. Sogar zum Englischunterricht in der ersten Stunde war sie nicht erschienen, dabei war es ihr Lieblingsfach. »Chloe?«, rief er. Ihre Büchertasche lag auf einem der Schreibtische. Ihre Handtasche hing an einem leeren Stuhl. Ihre Kamera war per Kabel mit einem der Computer verbunden, auf dessen Bildschirm eine Meldung blinkte: Download abgeschlossen, Download abgeschlossen, Clarks Magen zog sich zusammen. Es passte gar nicht zu Chloe, sich so still zu verhalten. Das Erlebnis von gestern Nachmittag hatte ihn ängstlich gemacht. »Chloe?« »Sie ist unten im Mädchenumkleideraum.« Das war Lanas Stimme hinter ihm. Er fuhr herum. Lana lehnte an der Tür und hielt einige Bücher an ihre Brust gedrückt. Sie trug eine weite Bluse, enge Jeans und Sandalen. Es sollte heute nicht so warm werden, aber die Hitze vom Vortag hatte auch niemand vorhergesagt. »Im Umkleideraum? Was macht sie da?« »Sich waschen.« Lana betrat das Zimmer und lehnte sich an einen der Computertische. »Sie hat die ganze Nacht hier verbracht.« »Und was getan?«, fragte Clark. »Im Franklin-Fall recherchiert. Sie hat überprüft, ob auf der Farm in der Vergangenheit schon merkwürdige Dinge passiert sind, ob es zum Beispiel Geistersichtungen gegeben hat oder 66
ähnliche Sachen.« Lanas Augen sahen wie immer wunderschön aus, doch unter ihnen lagen dunkle Ringe. Obwohl es ihr besser als gestern zu gehen schien, war sie von Danny Franklins Tod noch immer sichtlich verstört. »Hat sie irgendetwas entdeckt?« Lana zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich habe sie heute Morgen hier gefunden. Sie war eingeschlafen. Also habe ich ihr eine frische Bluse aus meinem Spind geliehen, und sie ist nach unten gegangen, um zu duschen.« »Sie hat ihre Handtasche hier gelassen«, sagte Clark. Der Anblick der Handtasche hatte ihn in Panik versetzt. Mädchen schleppten ihre Handtaschen normalerweise immer mit sich herum. »Ich weiß. Ich bin hergekommen, um sie zu holen.« Lana ging um Clark herum und griff nach der Handtasche. »Außerdem soll ich das Büro abschließen.« »Was ist los?« Pete Ross spähte stirnrunzelnd durch die Tür. »Ich schließe ab«, sagte Lana. »Wo ist Chloe?«, fragte Pete und kam herein. »Lange Geschichte«, antwortete Clark. »Ich habe es in den Lokalnachrichten gesehen. Wenn ich einmal vernünftig bin und in der Schule bleibe, um mein Laborprojekt zu beenden, stolpert ihr natürlich über eine aufregende Sache.« »Es war keine aufregende Sache, Pete.« Lanas Stimme war kaum hörbar. »Es war schrecklich.« Pete biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir Leid, Lana. So habe ich es nicht gemeint. Ich meinte nur –“ »Wir wissen, was du gemeint hast.« Clark überspielte den peinlichen Moment, so gut er konnte. Pete war mit Danny Franklin nicht so gut befreundet gewesen. Clark erinnerte sich vage, dass sich Pete und Danny vor ein paar Jahren gestritten hatten. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. »Warum suchst du Chloe?« 67
»Eigentlich«, sagte Pete, »habe ich dich gesucht. Hast du das von Lex gehört?« »Was ist mit ihm?«, fragte Lana, bevor Clark es tun konnte. »Sein Dad ist entführt worden.« Pete klang deswegen nicht besonders bedrückt. Er hatte noch nie viel für die Luthors übrig gehabt. »Lex ist gestern Nachmittag überstürzt von hier aufgebrochen.« »Nach Metropolis?«, hakte Clark nach. »Ja. Sein Dad ist dort verschleppt worden. Vor einer Bank. Sie sind in seiner Limousine geflüchtet. Du hast wirklich nichts davon gehört?« Clark schüttelte den Kopf. Er hatte die Nachrichten nicht gesehen und war die ganze Zeit mit den Franklin-Morden beschäftigt gewesen. Er fragte sich, wie es Lex ging. Lex und sein Vater kamen nicht gut miteinander aus, aber Clark wusste, dass Lex seinem Vater nahe stand. Dies musste sehr schwer für ihn sein. »Ich dachte, du hättest ihn begleitet«, sagte Pete zu Clark. »Warum sollte ich ihn begleiten?« »Weil ihr Freunde seid.« Pete sprach es beiläufig aus, doch sie wussten beide, dass mehr dahinter steckte. Pete hatte sich in der letzten Zeit aus Clarks Leben ausgesperrt gefühlt, und dafür gab er Lex die Schuld. »Ich war gestern ziemlich beschäftigt«, erwiderte Clark. »Ich habe nichts von der Entführung gehört.« »Was ist denn genau passiert?«, fragte Lana. »Das weiß man nicht«, erklärte Pete. Er hatte offensichtlich die ganze Geschichte verfolgt. Pete hatte die Luthors nie gemocht. Er hatte das Gefühl, dass sie seine Familie betrogen hatten, als sie vor Jahren die Buttermaisfabrik von Petes Dad gekauft und sie in eine Düngemittelfabrik verwandelt hatten. »Niemand äußert sich dazu. Sie haben nicht einmal gesagt, ob Lösegeld gefordert wurde.«
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Clark schluckte. Ihm kam etwas sehr Beunruhigendes in den Sinn. »Steht es denn fest, dass es eine Entführung ist?«, fragte er zögernd. »Und kein Mord?«, erwiderte Pete. »Sie behaupten, dass es eine Entführung ist. Aber sehr überzeugend klingt das für mich nicht.« »Der arme Lex.« Lana drückte ihre Bücher noch fester an sich. »Was er jetzt wohl durchmacht?« »Die Hölle, wette ich.« Die drei fuhren zusammen. Chloe stand in der Tür. Sogar Clark hatte sie nicht kommen gehört. Ein Beweis dafür, dass ihm eine Menge Gedanken durch den Kopf gingen. Normalerweise bekam er alles um sich herum mit. Chloe trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Ihre lockigen Haare waren noch immer feucht. Die Bluse, die sie trug, war für ihre Verhältnisse mit zu vielen Rüschen besetzt. Selbst wenn Lana Clark nicht erzählt hätte, dass sie Chloe die Bluse geliehen hatte, hätte er gewusst, dass sie Chloe nicht gehörte. Sie passte überhaupt nicht zu ihr. Doch irgendwie sah sie darin viel freundlicher und sanfter aus als sonst. Vielleicht unterdrückt Chloe ihre weiche Seite ja immer, überlegte Clark, wurde dann aber wieder von Chloe abgelenkt, die mit ihrer Handtasche vor Lanas Nase herumfuchtelte. »Ich bin froh, dass ich nicht auf dich gewartet habe.« »Es tut mir Leid«, sagte Lana. »Pete hat uns gerade von Lex erzählt.« »Ich habe davon gehört«, nickte Chloe. »Die ganze Schule spricht darüber.« »Nicht über Danny Franklin?« Clark spürte einen Anflug von Traurigkeit, dass Danny nicht einmal im Tod genügend Aufmerksamkeit bekam. »Oh nein«, sagte Chloe. »Sie sprechen auch über ihn. Die Leute fragen sich, ob es einen Zusammenhang gibt. Schlechte 69
Dinge passieren jedem, der in irgendeiner Form mit Smallville verbunden ist. Wie üblich.« Leider! Normalerweise widersprach Clark Chloes Theorien, doch angesichts von Chloes Wand der Merkwürdigkeiten konnte er es schwerlich abstreiten. »Glaubst du, dass es einen Zusammenhang gibt?«, fragte Pete Chloe. »Ist nicht auszuschließen.« Sie warf ihre Tasche über die Schulter und ging dann zu dem Computer, auf den sie die Fotos von ihrer Kamera überspielt hatte. Sie bewegte die Maus und speicherte die Fotos auf einer CD. »Es ist durchaus möglich, dass da ein Zusammenhang besteht.« Pete lehnte sich an einen nahen Schreibtisch. »Schon Sherlock Holmes hat gesagt, dass es keine Zufälle gibt!« »Ich glaube, der Ausspruch ist moderner.« Lana trat zu Chloe und sah ihr bei der Arbeit zu. »Aber mir fällt im Moment nicht ein, von wem er stammt.« »Ich dachte, er wäre von Holmes«, bekräftigte Pete nochmals seine Meinung. »Wenn Lana sagt, er ist nicht von Holmes, dann stimmt das auch«, sagte Clark. »Sie hat, wie es scheint, so ziemlich alles gelesen.« Lana schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Nicht alles, Clark. Obwohl das eins meiner erklärten Ziele ist.« »Sehr unwahrscheinlich, dass du das schaffst«, warf Chloe ein, während sie sich zum Hauptcomputer wandte. »Bei der Flut von Büchern, die ständig veröffentlicht werden.« »Momentan versuche ich nur, mich durch die Sammlung alter Taschenbücher meiner Eltern zu schmökern. Aber hin und wieder greife ich auch zu einem neuen Buch, das mir auffällt.« Lana beugte sich nach vorn und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Bildschirm von Chloes Computer. »Was machst du da?« 70
»Ich suche nach Informationen über die Entführung. Ich habe nicht mitbekommen, wo es passiert ist. Wisst ihr mehr?« »Metropolis«, warf Pete ein. »Vor der City Bank.« »Metropolis«, murmelte Chloe. Sie klickte ein paar Mal mit der Maus. Clark sah Textzeilen über den Bildschirm flimmern. »Das ist frustrierend«, bemerkte Chloe. »Was meinst du?«, fragte Lana. »Anscheinend wurde er in seiner eigenen Limousine entführt.« Chloe setzte sich auf den Holzstuhl vor dem Computer. »Und?«, fragte Pete. »Was hattest du erwartet?« Clark trat näher und legte seine Bücher auf einem der Schreibtische ab. »Sie hat gehofft, dass ein gewisser roter, zehn Jahre alter Pick-up darin verwickelt ist.« Chloe sah ihn grinsend an. »Schlaues Kerlchen!« »Was?«, fragte Pete verwirrt. »Ich weiß nicht genau«, sagte Lana, »aber ich glaube, sie reden über den Pick-up der Franklins. Chloe hat auf einen Zusammenhang gehofft.« »Ich glaube noch immer, dass es einen gibt«, erklärte Chloe. »Ich finde, es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass die Verbrechen am gleichen Tag verübt wurden.« »Gut, dass du kein Cop bist«, meinte Pete. »Du würdest versuchen, einen Handtaschenraub in Los Angeles mit einem Bankraub in London in Verbindung zu bringen, nur weil sie am gleichen Tag passiert sind.« »Wenn ich ein Cop wäre«, sagte Chloe, »dann läge mindestens eins dieser Verbrechen nicht in meinem Zuständigkeitsbereich.“ Die ganze Zeit, auch während sie sprach, tippte sie weiter. Die Tastatur machte klickende Geräusche, die im Raum widerhallten. »Gibt es irgendetwas Neues über den Rest der Familie?«, fragte Clark. 71
Chloe schüttelte den Kopf. »Die Polizei durchsucht noch immer alles. Bisher weiß niemand, was passiert ist.« »Es ist so traurig«, sagte Lana. »Ich versuche, nicht die ganze Zeit daran zu denken. Aber ich frage mich, wer sich um Danny kümmern wird. Ihr wisst schon, um das Begräbnis und so.« »Die Franklins haben noch Verwandte in einem anderen Staat«, erklärte Pete. »Ich bin sicher, dass sie auf dem Weg hierher sind.« »Sofern sie nicht mit Mr. und Mrs. Franklins und Bonnies Verschwinden zu tun haben«, meinte Chloe. »Wenn wir nur wüssten, was passiert ist«, seufzte Clark. »Ich weiß zumindest, was mit uns passieren wird, wenn wir es nicht pünktlich zur dritten Unterrichtsstunde schaffen«, sagte Pete. »Wer den Unterricht bei Mr. Gates schwänzt muss nachsitzen.« »Ich habe noch nie den Unterricht bei Mr. Gates geschwänzt«, erinnerte Clark. »Wegen dir mache ich mir auch keine Sorgen.« Pete grinste. »Gehen wir.« Er wandte sich zur Tür, aber Clark zögerte. Als er seine Bücher von dem Schreibtisch nahm, wandte er sich an Chloe: »Du gehst doch heute in den Unterricht?« »Sobald ich finde, wonach ich suche«, nickte sie. »Du weißt, dass Direktor Kwan dir nicht erlauben wird, weiter die Fackel herauszugeben, wenn deine Zensuren schlechter werden.« »Meine Zensuren werden nicht schlechter, Clark«, konterte Chloe. »Ich habe bereits all meine Lehrbücher für dieses Schuljahr gelesen. Manchmal habe ich das Gefühl, selbst unterrichten zu können.« Clark schüttelte den Kopf, doch er wusste, dass es sinnlos war zu drängen. Seufzend folgte er Pete hinaus auf den Korridor. Lana schloss sich ihnen an.
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»Manchmal frage ich mich, warum ich so viel lernen muss«, sagte sie, »während Chloe alles in den Schoß fällt.« »Zensuren sind nicht alles im Leben, Lana«, erwiderte Clark, während sie durch den leeren Korridor gingen. Die zweite Unterrichtsstunde war noch nicht beendet, aber das FackelBüro war ziemlich weit vom Chemielabor entfernt. »Manchmal wünschte ich, es wäre so«, sagte Lana. »Und, dass es feste Regeln im Leben gäbe, die jeder verstehen könnte.« Sie löste sich von ihnen und ging zu ihrem Spind. Pete sah ihr nach. »Wie meinte sie das?« »Ich denke, dass sie an Lex’ Dad und Danny Franklin dachte«, antwortete Clark. »Da hat sie Recht. Wenn es so wäre, wäre dieses schreckliche Unglück nicht passiert, das meinte sie doch, oder?«, fragte Pete. Clark nickte, aber er musste in Mr. Gates’ Chemieunterricht die ganze Zeit an diese Bemerkung denken. Diese ganze Geschichte hatte sie alle zutiefst erschüttert und verstört. Würde das unbehagliche Gefühl, das er mit sich herumschleppte, seit sie die Leichen gefunden hatten, jemals wieder verschwinden? Lex Luthor stand in der Ladezone vor der City Bank. Der Bereich war nicht abgesperrt – wir sind zu beschäftigt für einen derartigen Unsinn, hatte ihm der unsympathische Police Officer erklärt –, also hatte Lex seine Sicherheitsleute damit beauftragt, die Passanten und den Verkehr fern zu halten. Er wollte sich den Tatort selbst ansehen. Das Überwachungsband der Bank hatte er bereits überprüft. Mehrere Videokameras filmten ständig die Ladezone, den Bürgersteig und die Parkplätze. Und so hatte er die Nacht damit verbracht, sich die Bänder anzuschauen, den Vorfall im Geiste immer wieder 73
durchzuspielen und darauf zu warten, dass sich die Entführer mit ihm in Verbindung setzten und Lösegeld forderten. Die Polizei und das FBI waren ebenfalls zur Stelle, mit ihren Abhörgeräten und Anweisungen. Lex hatte die so genannten Behörden ignoriert. Sie waren für ihn nicht von Bedeutung. Die Statistiken – ob nun mit oder ohne Eingreifen der Polizei – ließen für seinen Vater nichts Gutes hoffen. Die meisten Entführer töteten ihre Opfer in den ersten achtundvierzig Stunden. Vierundzwanzig dieser achtundvierzig waren fast verstrichen, und irgendwelche Fortschritte waren nicht in Sicht. Seine letzte Hoffnung, irgendwelche Spuren zu finden, hatte Lex in die Überprüfung des Tatorts gelegt. Er fand ihn völlig anders vor als am Vortag, und das nicht nur, weil die Überwachungsbänder ihn nur in körnigem Schwarzweiß wiedergegeben hatten. Die Limousine war natürlich nicht da, und die Menge wirkte kleiner. Eine Reihe Leute blieben stehen und gafften. Offenbar wussten sie, wer er war. Sie fragten sich wahrscheinlich, was er vorhatte. Schade, dass niemand beobachtet hatte, wie sein Vater entführt worden war. Die Polizei hatte die Gesichter auf dem Überwachungsband zu identifizieren versucht und die Öffentlichkeit zur Mithilfe aufgefordert. Doch wie gewöhnlich hatte niemand etwas gesehen. Zumindest hatte sich bisher niemand gemeldet. Wenn sich weiterhin nichts tat, wusste Lex, wie er das ändern konnte. Geld brachte die Leute immer zum Reden. Er ging die kurze Strecke von den Banktüren zur Ladezone. Er brauchte nur ein paar Sekunden dafür. Viele der Passanten blieben stehen und beobachteten ihn. Seine Sicherheitsleute – oder vielmehr die Sicherheitsleute seines Vaters – sahen ihm ebenfalls zu. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie irgendeine Ahnung, was er da machte. Und er würde sie nicht aufklären. 74
Er suchte den Boden nach Glasphiolen oder Spraydosen ab, nach irgendetwas, das drei erwachsene Männer binnen weniger Sekunden zu Boden geschickt haben konnte. Die Passanten waren ebenfalls betroffen gewesen, was bedeutete, dass das, was die Entführer benutzt hatten, um alle auszuschalten, in der Luft gewesen war. Niemand war ernsthaft verletzt worden, zumindest nicht durch das K.-o.-Gas (auf ein paar Leuten war herumgetrampelt worden, nachdem sie zusammengebrochen waren, und ein paar andere waren recht hart mit dem Kopf aufgeschlagen), aber den Ärzten war es bisher nicht gelungen, die eingesetzte Chemikalie zu identifizieren. Das erschwerte die Behandlung, wie sie Lex erklärt hatten, denn sie fürchteten eine mögliche Wechselwirkung mit der verwendeten Droge. Auch ein Bluttest bei den Leuten, die ohnmächtig geworden waren, führte zu keinem Ergebnis. Die Ärzte machten außerdem Nasen- und Rachenabstriche und hofften, so zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen. Aber bis die Resultate vorlagen, würden Tage vergehen. Doch Lex wusste, dass für seinen Vater jede Minute zählte. Lex rieb sich die Augen. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Er hatte sich immer wieder die Überwachungsbänder angesehen, die Unterlagen seines Vaters durchgeschaut und die Drohbriefe und -mails gelesen, die sein Väter ständig erhielt. Obwohl er wusste, dass sein Vater Feinde hatte, war Lex schockiert von den hasserfüllten Schreiben, die Lionel Tag für Tag bekam. Es war ein Wunder, dass ihm nicht schon früher etwas passiert war. Wenn man all diesen Hass bedachte, war es erstaunlich, dass sich sein Vater überhaupt noch auf die Straße traute. Aber noch immer wusste er nicht, warum sich sein Vater nicht für die Unruhe in der Smallviller Fabrik interessiert hatte. Die Sache, wegen der Lex versucht hatte, ihn den ganzen Tag 75
über telefonisch zu erreichen, war nichts im Vergleich zu den Dingen, mit denen es sein Vater in Metropolis zu tun hatte. Im Rinnstein glitzerte braunes Glas. Lex kniete nieder und besah sich die Scherben genau. Sie waren dick – die Art Glas, die man für Bierflaschen verwendete. Nach einem Moment entdeckte er den Hals der Flasche etwas weiter im Rinnstein liegen, auf einem Kanaldeckel. Nichts. Es gab keinen Beweis dafür, dass hier irgendetwas geschehen war. Es gab keinerlei Anhaltspunkte, und so langsam beschlich ihn das Gefühl, dass er diesen Kampf allein führte. Die Sicherheitsleute seines Vaters schienen nicht zu wissen, was sie tun sollten. Die Polizei und das FBI machten nur das Nötigste, wenn überhaupt. Sie würden die Entführer vielleicht finden, aber erst, wenn Lionel Luthor längst tot war, davon war Lex überzeugt. Lex Luthor musterte erneut die Stelle, an der sein Vater verschwunden war. Der schmale Streifen wurde von großen Steingebäuden begrenzt, die hier seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts standen. Ihre Fenster waren vergittert, damit niemand einbrechen konnte. An der Ecke befand sich ein Taxistand und etwas weiter dahinter eine Bushaltestelle. Er war bereit, sein ganzes Erbe darauf zu verwetten, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Leute auf der anderen Seite der Straße zu befragen. Er winkte Harrison zu. Der Mann mit dem kräftigen Körper eines Ex-Footballspielers, der langsam verfettet, schlenderte zu ihm herüber. »Mr. Luthor?« Lex zeigte auf die Gebäude. »Sehen Sie diese Fenster dort drüben?« »Ja, Sir.«
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»Ich will, dass jeder, der dort wohnt, über das Verschwinden meines Vaters befragt wird. Ich will, dass sich die Fragen auf einen Zeitraum von drei Tagen vor der Entführung bis zum Morgen der Entführung erstrecken. Ich will alles wissen, was passiert ist, so belanglos es auch erscheinen mag. Wenn irgendein Eichhörnchen eine Nuss in diesen Abwasserkanal geworfen hat, will ich es wissen. Haben Sie das verstanden?« »Ja, Sir.« Harrison war erstaunlich folgsam gewesen, seit Lex eingetroffen war. Offenbar hatte er Angst, gefeuert zu werden. Lex wusste noch nicht, ob er die Leute seines Vaters feuern würde. Wenn sie sich bewährten, indem sie seinen Vater fanden, würde er es sich überlegen. Aber er glaubte nicht, dass sie es schaffen würden. Gott sei Dank hatte Lex hier in Metropolis sein eigenes Netzwerk, das aus Leuten bestand, mit denen er im Internat befreundet gewesen war. Leute mit einer mehr oder weniger kriminellen Vergangenheit. Lex hatte bereits seine Fühler zu ihnen ausgestreckt. Wenn sie irgendetwas hörten, würden sie ihn informieren. Sie wussten, dass sie jeden Betrag, den irgendjemand für ihr Schweigen zahlen würde, von Lex doppelt oder dreifach bekommen würden. Er würde seinen Vater auf die eine oder andere Weise finden, bevor es zu spät war.
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8 LIONEL LUTHOR HATTE ES GESCHAFFT, die Stricke, mit denen seine Hände gefesselt waren, um etwa einen halben Zentimeter zu lösen, als der Schnarcher erwachte. Der Mann schnaubte, hustete, setzte sich auf und hielt sich die Stirn, als hätte er Schmerzen. »Schätzchen?«, rief er mit tiefer, rauer Stimme. Luthor rührte sich nicht. Er drückte seine Hände so weit es ging auseinander, um die gelockerten Stricke zu verbergen. Der Mann schien ihn nicht zu bemerken. Jedenfalls nicht sofort. Luthor sah, wie er blinzelte und sich dann mit dem Handrücken die Augen rieb. Einen Moment lang glaubte Luthor, dass sich der Mann wieder hinlegen würde, aber er tat es nicht. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis der Mann aufgewacht war. Die Sonne war schon vor einer ganzen Weile aufgegangen. Licht fiel durch die Fenster hinter Luthor und erhellte den Dreck und die Mäuseköttel, die sich mit dem Schlamm auf dem zerkratzten Holzfußboden mischten. Niemand sonst hatte das Blockhaus betreten, und Luthor konnte durch die Fenster vor ihm nicht erkennen, ob dort draußen vielleicht ein Auto oder ein anderes Transportmittel stand. Wenn er sich in der Zwischenzeit nur von seinen Fesseln hätte befreien können. Nach einem Moment drehte sich der Mann, stellte seine Füße auf den Boden und stöhnte. Dann stand er auf, rückte seine Jeans zurecht und ging in Richtung Bad. Auf halbem Weg dorthin sah er Luthor an. Ihre Blicke trafen sich. Seltsamerweise wirkte der Mann niedergeschlagen, als wäre er und nicht Luthor der Gefangene.
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Ohne ein Wort zu sagen wandte er sich ab. Luthor wartete, bis der Mann das Badezimmer erreicht hatte, dann ergriff er das Wort. »Ihnen ist klar, dass ich auch mal dahinein muss.« Der Mann seufzte, senkte den Kopf und sah noch niedergeschlagener aus. »Das ist nicht mein Problem.« »Das wird es aber werden«, sagte Luthor. »Ich bin für meine eiserne Selbstbeherrschung bekannt, aber nach einer Weile gibt selbst die eisernste Selbstdisziplin dem Unvermeidlichen nach.« »Mir egal.« Der Mann ging ins Bad und schlug die Tür hinter sich zu. Luthor schloss frustriert die Augen. Wenn er den Mann dazu bringen konnte, zumindest eine seiner Hände loszubinden, hatte er vielleicht eine Chance. Aber vermutlich würde er trotzdem nicht viel ausrichten können. Schließlich hatte er dann immer noch diverse Nachteile. Er musste einfach einen Weg finden, seine Nachteile in einen Vorteil zu verwandeln. Darin war er gut. Er hatte so etwas sein ganzes Leben lang gemacht. Einen Mann zu beeinflussen, der derart nervös war, dürfte ihm keine Schwierigkeiten bereiten. Doch er musste sich beeilen. Die anderen würden über kurz oder lang zurückkommen. Luthor sah zu den Fenstern hinüber. Draußen schien alles ruhig zu sein. Plötzlich hörte er, dass im Bad Wasser aufgedreht wurde. Der Typ nahm eine Dusche? Er schien ihn zu unterschätzen. Luthor lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Vielleicht würde es leichter werden, sich einen Vorteil zu verschaffen, als er gedacht hatte. Chloe war nicht zum Geometrieunterricht erschienen. Clark löste gerade die letzte Aufgabe des Leistungstests, den sie überraschend geschrieben hatten, und überprüfte seine Ergebnisse dann noch einmal. Da der Geometrieunterricht in 79
der letzten Schulstunde des Tages stattfand, konnten die Schüler, die fertig waren, ihre Tests abgeben und nach Hause gehen. Pete war ebenfalls gerade fertig geworden. Er verzichtete darauf, die Ergebnisse noch mal durchzugehen, sondern stand auf und brachte seinen Testbogen nach vorne. Clark folgte ihm. Lana war nicht in dieser Klasse. Sie hatte früher am Tag Geometrie gehabt. In ihrer letzten Unterrichtsstunde an diesem Tag hatte sie Sozialkunde, und ihr Lehrer ließ selten jemanden gehen, bevor es klingelte. Pete wartete an der Tür auf Clark. Sie verließen zusammen das Klassenzimmer und traten auf den breiten, leeren Korridor, bevor sie irgendetwas sagten. Selbst hier hielten sie ihre Stimmen gedämpft. Wenn sie beim lauten Reden erwischt wurden, würde man ihnen nicht mehr erlauben, den Klassenraum vor der Pausenklingel zu verlassen. »Chloe wird ziemlich sauer sein, dass sie einen Leistungstest versäumt hat«, sagte Pete. »Vielleicht kann sie ihn nachschreiben«, meinte Clark. »Hoffentlich. Ansonsten wird es nicht gerade ihre Stimmung heben, wenn wir es ihr erzählen.« »Und dabei wollte ich vorschlagen, dass wir zum FackelBüro gehen, um nachzusehen, ob sie etwas herausgefunden hat«, seufzte Clark. »Es müsste schon die Nachrichtenstory des Jahrhunderts sein«, sagte Pete, »denn die Zwei, die sie in diesem Halbjahr in Geometrie bekommen wollte, ist gerade geplatzt.« Clark nickte. Er fragte sich, ob Chloe es, in ihre Recherchen versunken, überhaupt mitkriegen würde. Wahrscheinlich würde es ihr erst bewusst werden, wenn sie ihre Story druckreif vor sich liegen hatte. Die beiden gingen schweigend durch die Korridore. Die Klassenzimmertüren waren alle geschlossen, und durch die kleinen, rechteckigen Fenster in jeder Tür konnte Clark sehen, 80
wie sich die Lehrer zwischen den Pulten hin und her bewegten. In einigen Räumen saßen die Schüler aufmerksam da, während in anderen das Chaos zu herrschen schien. Als er den Sozialkunderaum passierte, sah er, wie Lana einer Freundin einen Zettel zuschob. Das Mädchen las ihn, blickte zu Lana hinüber und grinste. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, weißt du das?« Pete schlug Clark auf die Schulter. »Gehen wir weiter.« Er war ein hoffnungsloser Fall. Er wusste das. Und manchmal glaubte er, dass Lana tatsächlich bemerkte, dass er mehr als nur Freundschaft für sie empfand und seine Gefühle erwiderte. Doch dann erzählte sie von Whitney und seiner Arbeit bei der Marine, und Clark dämmerte, dass sie ihn doch nur für den Jungen aus der Nachbarschaft hielt. Ein paar Minuten später erreichten sie das Fackel-Büro. Wie erwartet saß Chloe an ihrem Lieblingscomputer und tippte eifrig. »Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Clark, als er seine Bücher auf einen nahen Schreibtisch legte. Chloe zuckte zusammen und legte eine Hand auf ihr Herz. »Mein Gott, Clark. Eine nette Begrüßung wäre zur Abwechslung auch mal schön.« »Du hättest mich doch gar nicht gehört, wenn ich höflich gewesen wäre«, erwiderte Clark. »Genau«, bestätigte Pete und stellte einen Stuhl neben Chloe. »Jemand hätte dir die seltsamsten Dinge erzählen können, aber wenn sie nichts mit dem Franklin-Fall zu tun gehabt hätten, hättest du nichts mitbekommen.« »Ich hätte es zumindest bemerkt, wenn sie etwas mit der Luthor-Entführung zu tun gehabt hätten.« Chloe tippte weiter. Sie recherchierte im Internet. Ein Werbebanner flimmerte über den oberen Teil des Bildschirms, gefolgt von einer Menge Text. 81
»Du hast also nichts herausgefunden?«, fragte Clark. »Über Lionel Luthor oder über die Franklins?«, erwiderte Chloe, ohne die Augen von dem Monitor zu wenden. »Über Lionel Luthor«, sagte Clark im gleichen Moment, in dem Pete »über die Franklins« sagte. »Nein«, antwortete Chloe. »Es gibt nichts Neues.« »Über wen denn jetzt?«, fragte Pete. »Über Lionel Luthor«, sagte Chloe. »Es wurde nicht einmal eine Lösegeldforderung gestellt.« »Das ist nicht gut.« Pete schien seine Einstellung zur LuthorEntführung geändert zu haben. »Nein, das ist es nicht«, bestätigte Clark. Er fragte sich, ob er Lex erreichen konnte. Natürlich hatte er keine Ahnung, was er ihm sagen sollte, wenn es ihm gelang. Es gab wirklich nichts, was er tun konnte. Außerdem musste Clark seinem Vater ausnahmsweise einmal Recht geben: Die Polizei war besser in der Lage, eine Entführung zu handhaben. Zumindest bis sie einen Verdächtigen hatten. Danach konnte Clark vielleicht einen Weg finden, unbemerkt zu helfen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren für ihn sehr frustrierend gewesen. Er hatte Danny oder Betty Franklin nicht helfen können, und im Moment gab es auch nichts, was er für Lex tun konnte. Trotzdem hatte er das Gefühl, irgendetwas unternehmen zu müssen. Clark nahm sich einen Stuhl und gesellte sich zu den beiden. »Was machst du?« Sie beugte sich vor, sodass sie ihm den Blick auf den Bildschirm versperrte. »Ich arbeite.« »Das dachte ich mir schon. An was?« Sie war zu dünn, um den Bildschirm sowohl vor Clark als auch vor Pete zu verbergen, und sie wusste es. Sie sah zuerst Clark, dann Pete an und seufzte. »Einer von euch schließt die Tür, okay?« 82
Pete saß am nächsten. Er stand auf und schlug die Tür zu. »Okay«, sagte er, als er zurück zu seinem Platz ging. »Raus damit.« »Ich habe die ganze Zeit Nachrichten gehört.« Chloe nahm einen kleinen Walkman aus ihrer Handtasche. Die Bewegung ließ ein dünnes Kabel sichtbar werden, das unter ihrer Bluse versteckt war. Das Kabel führte zu ihrem linken Ohr. »Sie haben eine Theorie entwickelt.« »Es geht um die Franklin-Sache, richtig?«, warf Pete ein. »Richtig«, nickte Chloe. Sie legte den Walkman zurück in die Tasche. »Und?«, fragte Clark. »Wie sieht die Theorie aus?« »Sie sind der Ansicht, dass Jed Franklin seine ganze Familie umgebracht hat.« Pete verzog das Gesicht. »Warum sollte er das getan haben?« »Ich weiß nicht warum«, sagte Chloe. »Ich weiß nur, dass sie ein paar Berichte über ihn haben, nach denen er sich vor dem Fund der Leichen verdächtig benommen hat. Und jemand behauptet, ihn nach dem vermutlichen Zeitpunkt von Dannys Tod gesehen zu haben.« »Jemand?«, hakte Clark nach. Chloe warf ihm einen verlegenen Blick zu. »Ich war im Französischunterricht.« »Mit anderen Worten, du hast es verpasst«, sagte Pete. »Ich habe es verpasst«, bestätigte Chloe. »Aber sie werden die Meldung bestimmt wiederholen.« »In der Zwischenzeit hast du im Internet nachgesehen«, stellte Clark fest. »Nicht direkt.« Chloe verschränkte die Arme. »Hört mal, wenn ich euch erzählen würde, was ich getan habe, könnten wir alle Ärger bekommen.« »Mir ist es egal, ob ich Ärger bekomme«, erklärte Pete. »Wie steht es mit dir, Clark?«
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Eigentlich war es Clark nicht egal. Wann immer Chloe derartige Bedenken hatte, hatte sie einen guten Grund dafür. Es würde ihn nicht einmal wundern, wenn sie etwas Gesetzwidriges getan hätte. Doch seine Neugier siegte. »Was hast du getan?«, fragte er, bevor Pete es tun konnte. »Hast du Jed Franklin je kennen gelernt?«, wich Chloe Clarks Frage aus. Offenbar war momentan niemand bereit, klare Antworten zu geben. »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern«, erwiderte Clark. »Lana sagte, er wäre nett. Meine Mom hat ihn als sanftmütig bezeichnet.« Nur Clarks Vater hatte sich negativ geäußert. Doch das behielt Clark lieber für sich. »Genau so habe ich ihn auch immer eingeschätzt. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht stark genug war, sich gegen andere Leute durchzusetzen, Mrs. Franklin eingeschlossen.« »Derartige Menschen drehen leicht durch«, sagte Pete. »Man muss auf die Stillen aufpassen. Ihr wisst schon, wie unser Kumpel Clark hier.« Clark spürte, wie Hitze in seine Wangen stieg. »Ich bin nicht still.« »Du trägst dein Herz aber auch nicht gerade auf deiner Zunge«, erwiderte Pete. »Manchmal ist es schwer, dich zu durchschauen.« »Darum geht es nicht«, sagte Chloe. »Clark ist sanftmütig. Er würde etwas Derartiges nie tun.« »Denkst du«, warf Pete flapsig ein. »Ich meine es ernst, Pete.« Chloe sah ihn missbilligend an. Pete musterte sie einen Moment lang und nickte dann. »Tut mir Leid. Ich komme mit dieser Sache nicht besonders gut zurecht. Es ist leichter, Witze darüber zu machen.«
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»In den letzten paar Tagen ist eine Menge passiert«, sagte Clark. »Und nichts davon gefällt mir«, fügte Pete hinzu. »Genau darum geht es.« Chloe griff nach dem Notizbuch, das sie neben ihrem Computer aufbewahrte. Sie schlug eine Seite auf, die mit ihrer Handschrift bedeckt war. Clark starrte sie erstaunt an. Chloe machte selten handschriftliche Notizen, da sie es für altmodisch hielt. »Die Polizei glaubt«, sagte Chloe, die weiter in ihrem Notizbuch blätterte, »dass Jed Franklin es getan hat. Ich glaube aber, dass die Familie auf der Flucht war.« »War?«, fragte Pete. Chloe hob einen Finger, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Laut meiner Quelle im Büro des Sheriffs –“ »Du hast eine Quelle?«, unterbrach Pete. »Ein Deputy, der sie süß findet«, sagte Clark. »Hat sie dir nichts davon erzählt?« »Dass sie einen Verehrer hat?«, fragte Pete. »Dass sie geflirtet hat, um keinen Strafzettel zu bekommen, und seitdem den armen Kerl benutzt, um an Informationen zu gelangen.« Chloe gab Clark einen Rippenstoß. »Hör auf damit. Das hier ist kein Spaß.« »Ich kläre Pete nur über die Fakten auf.« Pete grinste Clark an. »Fakten, die ein Mann benutzen kann.« Clark nickte. »Leute«, sagte Chloe. »Das ist wichtig.« »Tut mir Leid«, brummte Pete und beugte sich vor. »Fahren Sie fort, Frau Chefreporterin.« »Laut meiner Quelle«, erklärte Chloe, seine Bemerkung ignorierend, »verfügt die Polizei über einige Informationen, die sie nicht an die Öffentlichkeit weitergibt.« »Das ist ein Skandal«, spottete Pete.
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»Zum Beispiel darüber«, fuhr Chloe mit noch größerem Nachdruck fort, »dass Mr. Franklin noch vor zwei Tagen in Smallville gesehen wurde.« »Von dem mysteriösen Jemand«, nickte Pete, der wieder sichtlich ernst geworden war. »Du sagtest vorhin, dass es im Radio gemeldet wurde«, erinnerte Clark sie. »Dass er gesehen wurde«, bestätigte Chloe. »Aber nicht, dass es in Smallville war, und auch nicht, dass es ein glaubwürdiger Zeuge war – nein, ich habe den Namen nicht in Erfahrung bringen können. Meine Quelle sagt außerdem, dass Mr. Franklin im letzten Monat dreimal wegen Trunkenheit und Sachbeschädigung festgenommen wurde. Er hat sogar eine Bar verwüstet.« »Du sagtest doch, er wäre sanftmütig.« Pete runzelte die Stirn. »Deshalb habe ich nachgehakt, und wie sich herausstellte, bestand die ›Verwüstung‹ darin, dass er ein paar Gläser und einen Tisch umgekippt hat. Vorher hat er noch herumgebrüllt, wie sehr er die LuthorCorp hasst, und das hat eine Menge Leute ziemlich aufgeregt, aber mehr ist nicht passiert.« Chloe hatte jetzt aufgehört, in ihrem Notizbuch zu blättern. »Sie gründen den Verdacht, dass er seine Familie umgebracht hat, auf diesen Vorfall?«, fragte Clark ungläubig. »Und auf ein paar andere Dinge«, sagte Chloe. »Die Obduktion hat ergeben, dass Danny und Betty nicht ertrunken sind. Sie wurden beide erwürgt, und Danny hatte eine Menge Blutergüsse an seinen Händen und Armen, als hätte er sich heftig gegen seinen Mörder zur Wehr gesetzt. Beide sind weder gefesselt noch geknebelt worden, und sie wurden auch nicht mit einem Kissen oder so erstickt. Wer auch immer sie getötet hat, er hat seine Hände benutzt.« »Man muss ziemlich kräftig sein, um das zu können«, meinte Pete. 86
»Von der Entschlossenheit ganz zu schweigen.« Clark schüttelte den Kopf. Er wusste, dass er die Kraft dazu hatte, jemanden auf diese Weise zu töten, aber er konnte sich nicht vorstellen, so etwas Brutales zu tun. »Diese Fakten sprechen aber nicht für Jed Franklins Täterschaft. Der Täter musste seinen Opfern ins Gesicht sehen.« »Wobei wir wieder bei der Psychokiller-Theorie angelangt wären«, sagte Pete. »Ich habe im Internet recherchiert«, fuhr Chloe fort, »und es gibt eine Menge Material zum Thema Familientragödien. In der letzten Zeit hat es einige Fälle gegeben, bei denen ein Elternteil die ganze Familie ermordet hat. Zum Beispiel in Georgia, Oregon –“ »Bleib beim Thema, Chloe«, fiel ihr Clark sanft ins Wort. Sie nickte, holte aber kaum Luft, ehe sie fortfuhr. »Jedenfalls hatten all diese Mörder dasselbe Motiv: Sie glaubten, dass es ihren Familien dadurch besser gehen würde. Es war für sie ein Akt der Liebe.« »Ja, genau.« Pete stand auf. »Das ist –“ Die Tür öffnete sich und Pete verstummte. Lana sah herein. »Ich dachte mir schon, dass ich euch hier finde. Gibt es etwas Neues?« »Wir versuchen, das gerade von Chloe zu erfahren«, antwortete Clark. »Doch es erweist sich als überraschend schwierig.« Lana grinste. »Komm rein oder bleib draußen«, sagte Chloe, »aber schließ auf jeden Fall die Tür.« Pete pfiff. »Mann Chloe, komm runter.« »Ich habe euch einiges zu erzählen«, erklärte Chloe, »was wirklich nicht die ganze Schule erfahren sollte.« »Okay, du hast mich über zeugt.« Lana kam herein und zog die Tür hinter sich zu. Dann nahm sie sich einen Stuhl und
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setzte sich zu den anderen. »Was habe ich verpasst? Ich muss alles wissen.« Chloes Mund verzog sich zu einem dünnen Strich. Lana sah sie an und blickte dann mit funkelnden Augen zu Clark hinüber. »Clark und ich haben Chloe auch schon auf diese Weise verärgert«, sagte Pete. »Und die Erwähnung ihres Copfreundes hat sie auch nicht gerade aufgeheitert.« »Du hast einen Freund, der Polizist ist?«, fragte Lana. Sie klang beeindruckt. Chloe warf Pete einen finsteren Blick zu. Clark fragte sich, warum sie nicht ihn damit bedachte. Schließlich war er es gewesen, der ihr Geheimnis verraten hatte. »Er ist eine Quelle, mehr nicht.« »Ist es dieser Deputy, der auch auf der Farm war?«, fragte Lana. »Er ist süß.« Chloes Augen verengten sich. Clark kannte diesen Ausdruck. Sie würde gleich explodieren. »Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Clark, um weiterem Streit aus dem Weg zu gehen. »Bei irgendeiner abstrusen Theorie über Leute, die ihre Familien aus Liebe ermorden«, erwiderte Pete. »Oh Gott!« Lana runzelte die Stirn. »Sie denken, dass Mr. Franklin es getan hat? Das kann nicht sein. Er ist so nett.« »Ich weiß nicht einmal mehr, warum du diese Theorie überhaupt erwähnt hast«, warf Pete ein. »Weil«, sagte Clark, »ich erwähnt habe, dass man dem Opfer ins Gesicht sehen muss, wenn man es auf diese Weise tötet. Ich glaube nicht, dass ein Vater so etwas tun könnte. Wenn er hingegen denkt, es aus Liebe getan zu haben...« »Nein.« Lana schüttelte den Kopf. »Mr. Franklin ist nicht verrückt. Er würde so etwas nie tun.« »Jemand hat es getan, Lana«, erinnerte Pete.
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»Ich glaube auch nicht, dass es Mr. Franklin war«, warf Chloe ein. »Ach ja.« Clark sah wieder auf ihr Notizbuch. »Du sagtest, du hast eine andere Theorie.« »Ich glaube, ›hattest‹ ist das zutreffendere Wort«, meinte Pete. »Sie hat die Vergangenheitsform benutzt.« »Ich hatte eine andere Theorie, aber dann habe ich einige Dinge gefunden, die sowohl meine Theorie als auch die der Polizei widerlegen.« Sie blickte zur Tür. »Deshalb wollte ich auch nicht, dass uns jemand zuhört.« »Wegen deiner Theorie?«, fragte Pete. »Nein«, erwiderte Chloe. »Wegen dem, was ich tun musste, um sie zu widerlegen.« »Klär mich bitte auf«, sagte Lana. »Ich kenne deine Theorie nicht.« »Ich habe sie Clark und Pete auch noch nicht erzählt«, antwortete Chloe. Sie stand auf, warf einen Blick aus dem Fenster und fing an zu sprechen, während sie durch den Raum tigerte. »Einen Teil der Theorie habe ich mir schon zurechtgelegt, als wir auf der Franklin-Farm waren. Vielleicht erinnert ihr euch noch, wie seltsam ich es fand, dass das Auto weg war. Ich hatte gehofft, dass die anderen drei Mitglieder der Familie entkommen konnten.« »Du benutzt wieder die Vergangenheitsform, Chloe«, bemerkte Pete. Chloe nickte. Sie rüttelte an der Schranktür und blieb dann vor der Wand der Merkwürdigkeiten stehen. Sie legte eine Hand darauf, als würde sie ihr Kraft geben. »Nachdem ich mit meiner Quelle gesprochen hatte –“ »Dem süßen Deputy«, warf Clark ein. »– entschloss ich mich, einige Nachforschungen anzustellen.« Chloe funkelte Clark an.
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Er verstand die Botschaft: Er sollte den Mund halten. Aber ihm erging es genau wie Pete, er konnte den Ernst der Lage nicht ertragen. Die albernen Witze entsprangen dem verzweifelten Versuch, sich nicht von den schrecklichen Erlebnissen des vergangenen Tages überwältigen zu lassen. »Ich sagte mir, wenn die Familie auf der Flucht ist, würde ich sie aufspüren können«, fuhr Chloe fort. »Und wie?«, fragte Lana. »Sie hätten sich von irgendwoher Geld besorgen müssen. Es hätte also wenigstens eine große Abhebung von ihrem Girokonto geben müssen. Oder sie benutzten Schecks oder Kreditkarten. Aber es haben überhaupt keine Kontobewegungen stattgefunden«, seufzte Chloe. »Chloe«, brach es aus Clark heraus, bevor er sich zurückhalten konnte. »Das ist illegal.« Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Deshalb die geschlossene Tür«, nickte Lana. »Woher weißt du, wie man so was macht?«, fragte Pete. »Ich kann nicht behaupten, dass es schwer war«, erwiderte Chloe. »Denkst du nicht, dass die Polizei dasselbe tun wird?«, fragte Clark. »Sicher, sobald sie sich eine gerichtliche Verfügung besorgt hat«, erklärte Chloe. »Ich habe nut eine kleine Abkürzung genommen.« »Und du hast nichts gefunden?«, erkundigte sich Pete. »Nichts.« Chloe setzte sich wieder. Sie griff nach ihrem Notizbuch. »Aber die Konten sind ziemlich leer geräumt. Sie haben weniger als zweihundert Dollar auf ihren Spar- und Girokonten. Ihre Kreditkarten sind ausgereizt, und die Bank hat ihnen ihre Kredite gestrichen.« »Das muss sehr belastend gewesen sein«, meinte Lana. Chloe nickte.
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»Wenn sie ihre Kreditkarten ausgereizt haben«, sagte Clark, »konnten sie sie auch nicht benutzen.« »Ich habe eine Tankstellenkarte gefunden, die Mr. Franklin für die Farmgeräte und seinen Truck verwendet hat. Die Karte war nicht ausgereizt, und mit ihr hätten sie Smallville weit hinter sich lassen können. Aber sie ist nicht benutzt worden.« »Sie könnten mit Bargeld bezahlt haben«, spekulierte Pete. »Woher sollte das kommen?«, fragte Chloe. »Sie haben kein Geld von ihren Konten abgehoben.« »Viele Farmerfamilien haben die Angewohnheit, ihr Geld zu Hause in einem Safe aufzubewahren. Mein Großvater sagt, das geht auf die Weltwirtschaftskrise zurück«, sagte Pete. »Das ist schon lange her«, entgegnete Clark. »Wir sind eine Farmerfamilie, benutzen aber die Bank wie andere Leute auch.« »Ich denke nicht, dass sie Geld zu Hause in einem Safe oder unter der Matratze oder sonst wo versteckt hatten«, sagte Lana. »Danny war voller Angst, als wir das Laborprojekt zugeteilt bekamen. Wir mussten Laborausrüstung kaufen, und Danny konnte sich nicht einmal das Mittagessen leisten. Erinnerst du dich, Clark, als er gegen den Süßwarenautomaten getreten hat?« Clark nickte. Der Süßwarenautomat im Pausenraum hatte einen Dollar geschluckt, den Schokoriegel aber nicht ausgespuckt, den Danny haben wollte. Er hatte so hart gegen den Automaten getreten, dass eine Delle zurückgeblieben war. Lana hatte Danny beruhigt, während Clark mit seinen Superkräften die Delle unauffällig beseitigt hatte. Er hatte nicht gewollt, dass Danny noch mehr Schwierigkeiten bekam, als er ohnehin schon hatte. An diesem Tag hatte Lana ihr Mittagessen mit Danny geteilt. Clark fragte sich, an wie vielen anderen Tagen sie es noch getan hatte.
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»Er war ziemlich wütend, weil er einen Dollar verloren hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich so verhalten hätte, wenn die Familie Bargeld gebunkert hätte«, sagte Lana. »Vorausgesetzt, er wusste davon«, warf Pete ein. »Ich denke, er wusste alles, was es über das Geld der Familie zu wissen gab«, erwiderte Chloe. »Er war derjenige, der sich um die Farm gekümmert hat, während sein Dad bei der LuthorCorp arbeitete. Das ging auch aus den Finanzunterlagen hervor.« »Vielleicht haben sie irgendwelche Sachen beim Pfandleiher versetzt«, sinnierte Pete. »Die Franklins leben schon seit Generationen in diesem Haus. Vielleicht hatten sie wertvolle Erbstücke.« Chloe schüttelte den Kopf. »Wenn sie etwas zu versetzen gehabt hätten, hätten sie es schon vor langer Zeit getan. Als die Bank ihnen den Kredit strich zum Beispiel.« »Stimmt«, erwiderte Clark. »Sie mussten für Saatgut und Dünger und Benzin bezahlen, nur um die Farm am Laufen zu halten. Normalerweise finanziert die Bank diese Sachen und der Farmer zahlt es später zurück. Wenn sie keinen Kredit mehr hatten, haben sie sich das Geld woanders besorgt. Ihre Felder waren gepflügt. Sie hatten also Geld für Saatgut.« »Okay.« Lana lehnte sich zurück. »Jetzt bin ich etwas verwirrt. Welchen Schluss zieht ihr daraus?« »Dass wir zwei wohl falsche Theorien über das Verbrechen haben«, antwortete Chloe. »Unwahrscheinlich, dass Mr. Franklin es getan hat – schließlich würde auch er Geld brauchen.« »Aber Chloe, eine Person kann leichter fliehen als drei«, erinnerte Pete. »Vielleicht hat er gestohlen.« Chloe schüttelte den Kopf. »Die Polizei hat die Beschreibung seines Wagens und sein Kennzeichen. Sie haben bis jetzt keinerlei Hinweise erhalten. Es gab ein paar Meldungen über
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den Truck, doch bei der Überprüfung stellte sich jedes Mal heraus, dass es das falsche Fahrzeug war.« »Könnte sich die Familie vielleicht getrennt haben?«, fragte Pete. Diesmal schüttelte Clark den Kopf. »Nicht nach einem derart traumatischen Erlebnis.« »Stimmt.« Pete verschränkte die Arme. »Aber was ist dann passiert?« »Und wo ist der Rest der Familie?«, fügte Lana hinzu. Chloe blickte zur Wand der Merkwürdigkeiten hinüber. »Immer wenn man denkt, schon alles gesehen zu haben...« »Aber das ist nichts für die Wand der Merkwürdigkeiten, oder?«, fragte Pete. »Ich meine, so etwas passiert überall, nicht nur in Smallville.« »Ein Kriminalroman, den ich mal gelesen habe, handelte von der Ermordung einer Familie in Kansas«, sagte Lana. »Er heißt Kaltblütig.« »Worum ging es genau?«, fragte Clark. Lana sah ihm einen Moment in die Augen. »Das ist das Traurige. Es war völlig sinnlos. Er handelte von zwei Dieben, die hörten, dass es eine Menge Geld in einem Farmhaus gab. Sie brachen ein und töteten die ganze Familie, aber sie fanden kein Geld.« »Denkst du, dass das auch hier passiert ist?«, wandte sich Pete an Chloe. »Es ist eine Möglichkeit«, antwortete Chloe. Clark runzelte die Stirn. Er stand auf und ging zur Wand der Merkwürdigkeiten. Mutantenfrösche, Meteoriten, grüne Steine. Mit alldem konnte er umgehen. Aber gegen sinnlose Gewalt war er machtlos. »Wenn es so gewesen ist«, sagte er, »warum wurden dann die Leichen im Teich versteckt? Warum wurden sie nicht dort zurückgelassen, wo sie ermordet worden waren?«
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»Und warum wurden sie erwürgt und nicht erschossen?«, fügte Pete hinzu. »Das ist die Frage«, nickte Chloe. »Warum sie erwürgt wurden?«, fragte Lana. Chloe schüttelte den Kopf. »Warum die Leichen versteckt wurden. Deshalb denkt die Polizei, dass es Mr. Franklin war. Sie glaubt, dass er sein Verbrechen vertuschen wollte.« »Das ergibt für mich Sinn«, sagte Pete. »Aber die Leichen zu verstecken ist die Tat einer rationalen Person, nicht die einer irrationalen«, wandte Chloe ein. »Die meisten dieser Familienmörder töten alle –“ »Mit einer Waffe«, schloss Lana. Clark sah sie überrascht an. Sie zuckte die Schultern. »Ich lese viel. Und in der letzten Zeit habe ich viel über wahre Verbrechen gelesen. Es war so eine Art Flucht für mich vor all den seltsamen Dingen in Smallville.« »Das ist aber eine merkwürdige Flucht«, bemerkte Pete. »Aber Lana hat Recht«, sagte Chloe. »Normalerweise erschießen diese Kerle – meistens sind es die Männer – ihre ganze Familie und anschließend sich selbst. Aber es gibt keine Spuren einer Schießerei im Haus.« »Und Mr. Franklin konnte diese Morde nicht begangen haben, wenn er bei klarem Verstand gewesen wäre«, nickte Lana. »Mir ist es egal, wie viele Fakten gegen ihn sprechen. Ich werde es nie glauben.« »Also«, sagte Pete, »wer würde zwei Teenager ermorden und sie dann in einem Teich verstecken?« Clark runzelte die Stirn. »Jemand, der daraus einen Nutzen ziehen könnte.« »Was kann es einem bringen, wenn man Highschoolschüler ermordet?«, konterte Lana. »Man kann Druck ausüben«, sagte Chloe.
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Pete nickte. »Wenn du einen Mann zwingen willst, etwas zu tun, bedrohe seine Familie.« »Aber wer würde Mr. Franklin so etwas antun?«, fragte Lana. »Es hat sicher etwas mit Geld zu tun«, erklärte Chloe. »Es hat immer etwas mit Geld zu tun.« »Ich kann nicht glauben, dass es in Smallville einen Geldhai von der Mafia gibt«, sagte Lana. »Vielleicht nicht in Smallville«, erwiderte Clark. Er musste an all die zwielichtigen Dinge denken, die Lex ihm erzählt hatte. »Aber ich wette, dass es eine Menge davon in Metropolis gibt.« Chloe kehrte an ihren Schreibtisch zurück und griff nach ihrem Notizbuch. »Wenn jemand Mr. Franklin das angetan hat, müsste er eine Spur hinterlassen haben. Er hätte überall in Smallville nach Geld oder Hilfe gesucht.« Alle schwiegen. Clark sah wieder zur Wand der Merkwürdigkeiten hinüber. Irgendetwas stimmte nicht. Es gab ein Puzzleteil, an das sie nicht gedacht hatten, einen Aspekt, den sie kannten, aber übersahen. »Dann sind wir also wieder am Anfang«, stellte Pete fest. Neben der Wand der Merkwürdigkeiten hatte Chloe eine Karte von Smallville und Umgebung befestigt. Mehrere Punkte waren mit Stecknadeln in verschiedenen Farben markiert: grüne, wo Meteoriten niedergegangen waren; kleinere grüne, wo Meteoriten gefunden worden waren; andere Farben für all die seltsamen Vorfälle, die sich in Smallville ereignet hatten. Die Franklin-Farm hatte sie noch nicht markiert. »Was suchst du, Clark?«, fragte Lana. Er antwortete nicht. Stattdessen trat er einen Schritt näher zu der Karte. »Ist die Karte aktuell, Chloe?« »Vom letzten Jahr«, sagte sie. »Warum?« »Hat die Polizei die ganze Farm durchsucht?« 95
»Natürlich«, nickte Chloe. »Auch den zweiten Teich?« »Welchen zweiten Teich?«, fragte Chloe. Clark zeigte auf die Karte. In einem Wald lag ein kleinerer Teich versteckt. Für jemanden, der das Terrain nicht kannte, wäre er auf den ersten Blick nicht sichtbar gewesen. Aber es sah so aus, als wäre der zweite Teich der Hauptteich gewesen, als die Farm kleiner gewesen war. Chloe kam zu ihm herüber und studierte die Karte. »Ich wusste gar nicht, dass dieses Gebiet noch zu der Farm gehört.« »Ich auch nicht, bis ich es mir näher angesehen habe«, erwiderte Clark. Lana trat zu ihnen. »Es ist umzäunt. Ich kann mich erinnern, es schon mal gesehen zu haben. Warum ist dieses Gebiet umzäunt worden?« »Farmer stellen Zäune auf, um Tiere draußen oder drinnen zu halten«, erklärte Clark. »Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich meinem Vater schon geholfen habe, Zäune aufzustellen, um das Rotwild von dem Gemüsegarten meiner Mutter fern zu halten.« »Ich wette, die Polizei hat dort nicht gesucht«, sagte Chloe. »Dann sollten wir ihnen vielleicht Bescheid sagen«, schlug Pete vor. Chloe schüttelte den Kopf. »Lasst es uns zuerst selbst überprüfen. Wir wollen sie schließlich nicht unnötig belästigen.« »Nicht einmal den süßen Verkehrspolizisten?«, fragte Clark nur halb im Scherz. »Nicht einmal ihn.« Chloe hatte bereits den Raum durchquert und griff nach ihrer Handtasche und zwei verschiedenen Kameras. »Kommt schon, Leute. Gehen wir.«
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9 SELBST IN DIESER BESONDEREN SITUATION konnte es Lex nicht über sich bringen, das Büro seines Vaters zu benutzen. Er war noch nicht bereit dafür. Falls er eines Tages die LuthorCorp übernehmen würde, würde er wahrscheinlich dieses Büro beziehen. Vorher nicht. Lex passierte die Tür zur Büroetage der LuthorCorp und betrat ein großes Büro, das er benutzte, seit er in Metropolis eingetroffen war. Eigentlich war es das Büro des Stellvertreters seines Vaters, aber solange er sich erinnern konnte, hatte sein Vater nie einen Stellvertreter gehabt. Früher einmal hatte Lex gedacht, dass das Büro auf ihn wartete. Und wenn er seinen Vater nicht so gut gekannt hätte, hätte er wohl geglaubt, dass es bei dem Angebot, das ihm sein Vater vor ein paar Wochen gemacht hatte – das Angebot, zurück nach Metropolis zu kommen – um die Position des Stellvertreters ging. Natürlich war dies nicht der Fall gewesen. Sein Vater hatte nur eine neue Seite an Lex entdeckt, die aber schon immer da gewesen war: Lex’ dunkle, skrupellose Seite, die sein Vater in all den Jahren der Psychospielchen in ihm gestärkt hatte. Lionel Luthor hatte lediglich seine Spielchen weitergetrieben. Lex durchquerte den Raum. Er war groß, mit einem Standardfirmenschreibtisch und einem rollenden Bürosessel mit lederner Rückenlehne. Leere Aktenschränke standen an einer Wand, und ein Telefon mit mehreren Anschlüssen befand sich auf der Schreibunterlage. Das Beste an dem Zimmer war die Aussicht. Sie war spektakulär, was man allerdings vom schicksten Gebäude in einer der teuersten Städte der Welt auch erwarten konnte. Ganz Metropolis lag einem von hier aus zu Füßen. Lex kam die 97
Vorstellung des Kaisersohns, der das Reich betrachtete, das er nach dem Tod seines Vaters, erben würde, in den Sinn. Er ballte die Fäuste. Gestern noch hatten ihn die widersprüchlichsten Gefühle beherrscht, aber als er hier eingetroffen war, hatte er es tief im Herzen gespürt: Er wollte nicht, dass sein Vater starb. Nicht auf diese Weise. Nicht entführt, seiner Macht beraubt, gedemütigt. Lex hatte anderes mit seinem Vater vor, und diese Entführer hatten seine Pläne, so belanglos sie auch sein mochten, durchkreuzt. Und wenn sich herausstellen sollte, dass diese Leute keine Entführer, sondern Mörder waren, dann würde Lex sein Ziel, die Zuneigung seines Vaters zu gewinnen, indem er ihm bewies, dass er seiner Liebe würdig war, nie mehr erreichen. Über Lex’ Gesicht huschte ein bitteres Lächeln. Selbsterkenntnis war keine angenehme Sache. Er wusste, was ihn antrieb; er verstand all seine Beweggründe und verabscheute sie trotzdem. Ihnen lag der tief in seiner Kindheit verwurzelte Wunsch nach Anerkennung und Liebe zu Grunde. Er war überzeugt davon, dass er nicht dieser innerlich zerrissene junge Man wäre, wenn er Clark Kents Eltern gehabt hätte. Dann hätte er seinen Platz in der Welt längst gefunden und wäre damit zufrieden. Obwohl Lex vor Selbstbewusstsein nur so zu strotzen schien, wurde er ständig von Selbstzweifeln geplagt. Lex hätte es niemals zugegeben, aber obwohl Clark manchmal unsicher wirkte, hatte er zwanzig Mal so viel Selbstvertrauen, wie er es jemals haben würde. Lex trat ans Fenster und sah hinaus. Die Gebäude breiteten sich vor ihm aus wie Welten, die es zu erobern galt. Sein Vater war irgendwo dort draußen und mit etwas Glück noch am Leben. Lex musste ihn nur noch finden. Ihm standen ungeheure Geldsummen zur Verfügung, und deshalb war es für Lex ein Schock, nicht mehr Informationen 98
bekommen zu haben. Selbst seine Unterweltkontakte hatten ihn nicht weitergebracht. Nun, immerhin waren sie sich darin einig, dass derjenige, der Lionel Luthor entführt hatte, eine Menge Mut und keine Verbindungen zur Unterwelt von Metropolis hatte. Niemand dort würde es riskieren, eine derartige Aufmerksamkeit auf sich und seine Geschäfte zu lenken. Demnach schienen die Entführer von außerhalb zu kommen. Und die Aktion musste schon lange geplant worden sein, wie ein Kontaktmann nach dem anderen Lex versichert hatte. Er ging zurück zum Schreibtisch. Obwohl dieses Büro nicht ihm gehörte, hatte er nach vierundzwanzigstündiger Arbeit seine Spuren hinterlassen. Mehrere leere Capuccinotassen, ein halb aufgegessenes Plunderteilchen, die Überreste einer Pizza, die er mitten in der Nacht bestellt hatte, lagen auf dem Tisch verteilt. Der Abfallkorb war voller zerknüllter Blätter und die Schreibunterlage mit seinen Kritzeleien bedeckt. Den Laptop, der ebenfalls auf dem Schreibtisch stand, hatte er von zu Hause mitgebracht. Er besaß mehrere neue Modelle, alle mit Programmen ausgestattet, die er brauchte, um das Internet nach tiefer greifenden Informationen zu durchsuchen. Seine Kontaktpersonen in Metropolis waren derweil nicht untätig; sie verfolgten jeden noch so kleinen Hinweis, der sie zu den Kidnappern führen könnte – Geldflüsse, eine unbedachte Bemerkung in einem Chatroom, eine scheinbar unschuldige Frage nach Lionel Luthors persönlichen Gewohnheiten. Bis jetzt hatte Lex von ihnen noch keine Hinweise erhalten, und auch er hatte nichts herausfinden können. Dieser Stillstand frustrierte ihn am meisten, und wenn er ehrlich war, machte er ihm auch am meisten Sorgen. Normalerweise meldeten sich Entführer sehr bald, um Lösegeld zu fordern. Wenn sie es nicht taten, bedeutete das nichts Gutes. 99
Er setzte sich an den Schreibtisch und holte den Computer per Mausklick aus dem Schlafmodus heraus. Ein Briefumschlag blinkte an der Seite des Bildschirms. Er musste den Signalton, der ihn informierte, dass er eine EMail bekommen hatte, überhört haben. Schnell griff er nach seinem Pager und überprüfte ihn. Nichts – obwohl er ihn so eingestellt hatte, dass er ihn benachrichtigte, wenn er eine neue E-Mail erhielt. Seine Schädeldecke prickelte. Wenn er noch Haare im Nacken gehabt hätte, hätten sie sich jetzt aufgerichtet. Mit zitternden Händen klickte er zweimal mit der Maus, und sein E-Mail-Programm öffnete sich. Da waren fünfzig neue Mitteilungen, von denen die meisten Müll waren – Spinner, die auf die Nachrichtensendungen reagierten, ein paar interne Memos. Aber eine erregte seine Aufmerksamkeit. Sie stammte von LL, und in der Betreffzeile stand ebenfalls LL. Die Nachricht war mit einem roten Ausrufezeichen versehen, das sie als dringend kennzeichnete. Plötzlich merkte Lex, dass er schon seit geraumer Zeit den Atem anhielt. Er stieß langsam die Luft aus, wie er es beim Yogaunterricht im Internat gelernt hatte. Die E-Mail hatte zwei Anhänge, die durch seine Firewall gekommen waren. Trotzdem war er nicht sicher, ob sie virenfrei waren. Im Stillen verfluchte er sich selbst. Er hätte die E-Mail mit einem anderen Computer abrufen sollen, nicht mit einem, den er täglich benutzte und auf dem sich wichtige Dokumente befanden. Kurz überlegte er, ob er sie doch noch weiterleiten sollte, aber dann entschied er sich, das Risiko einzugehen, sie zu öffnen. Vorsichtshalber ließ er zuerst sein Antivirusprogramm durchlaufen. Nichts passierte, und so öffnete er die E-Mail. Sie lautete: 100
Lex Luthor, für 30 Millionen Dollar können Sie Ihren Vater zurückhaben. Zahlen Sie wie folgt: Zehn Millionen in Bar. Zwanzig Millionen auf ein Nummernkonto, das wir Ihnen später nennen werden. Wenn das Geld sicher in unseren Händen ist, werden wir Ihren Vater zu einem Ort unserer Wahl bringen. Beantworten Sie diese E-Mail nicht. Wir werden uns wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. P. S. Der Anhang ist ein Beweis unseres guten Willens. Bevor Lex die Anhänge anklickte, unterbrach er die Verbindung des Computers zum Firmennetzwerk und schaltete das Modem aus. Wenn die Anhänge ein Virus oder einen Wurm enthielten, würde so wenigstens nicht das gesamte Unternehmen infiziert werden. Sobald er damit fertig war, öffnete er den ersten Anhang. Er enthielt mehrere Bilddateien, auf denen sich Fotos seines Vaters befanden. Das erste zeigte, wie sein Vater in die Limousine gestoßen wurde. Auf dem nächsten saß sein Vater vor einem weißen Vorhang, mit ausgestreckten Beinen, die Augen offen, aber starr ins Leere gerichtet. So hatte Lex seinen Vater noch nie gesehen. Er schluckte hart. Er musste diese Fotos jemandem zeigen, der ihm sagen konnte, ob sein Vater tot war oder nur unter Drogen stand. Dann öffnete er den letzten Anhang. Es war ein kurzes Video. Sein Vater, in einem abgedunkelten Raum an einen Stuhl gefesselt. Die Kamera war starr auf sein Gesicht und seine Brust gerichtet. Die aktuelle Morgenausgabe des Daily 101
Planet – die Ausgabe, die kurz nach Mitternacht herauskam – war an seinem Hemd befestigt. Die Augen seines Vaters waren geschlossen, sein Kopf hüpfte auf und ab wie der eines Mannes, der versuchte, in einem Flugzeug zu schlafen. Seine Brust hob und senkte sich ebenfalls. Zumindest zu diesem Zeitpunkt hatte sein Vater noch gelebt. Dann brach das Video abrupt ab. Lex spielte es erneut ab und suchte nach irgendetwas, das ihm einen Hinweis darauf liefern konnte, wo sich sein Vater aufhielt. Er fand nichts, aber das bedeutete nicht, dass ein Experte mit der richtigen Ausrüstung nicht Einzelheiten entdecken konnte, die bei der Fahndung helfen würden. Er würde das Video in die Computerlabors hier in der LuthorCorp bringen und es auch einigen seiner zwielichtigeren Freunde zeigen. Wenn er etwas übersehen hatte, würden sie es finden – eine Spur, einen Hinweis, irgendetwas. Dieses Material musste irgendetwas hergeben. Lex speicherte die E-Mail auf Diskette und fuhr dann den Laptop herunter. Von jetzt an würde er ihn als kontaminiert ansehen. Er würde den Ersatzcomputer in seinem Apartment benutzen müssen, um die Suche im Web fortzusetzen. Er steckte die Diskette in seine Tasche und erhob sich. »Mr. Luthor?« Die Sekretärin seines Vaters stand in der Tür. Sie war schüchtern und noch sehr jung. Zweifellos entsprach sie nicht dem üblichen Bild von einer Managersekretärin. Natürlich hatte sein Vater noch eine andere Sekretärin – eine ältere, klügere Angestellte – für die komplizierteren Büroarbeiten. Lex hatte das unbehagliche Gefühl, dass sein Vater hübsche Sekretärinnen einstellte, um sich an ihnen auf die eine oder andere Weise zu erfreuen. Am besten dachte er nicht weiter darüber nach. »Was?«, sagte er in einem Ton, der ihr unmissverständlich klar machte, dass er sehr beschäftigt war und nicht gestört werden wollte. 102
»Gerade ist dieses Fax angekommen, Sir. Ich dachte, Sie würden es gern sehen.« Sie streckte ihm ein Blatt Papier entgegen. Er sah, dass ihre Hand zitterte. Er griff nach dem Laptop, klemmte ihn unter den Arm und ging zu ihr hinüber. Sie lehnte sich an den Türrahmen wie ein Soldat, der Angst hatte, seinen Posten zu verlassen. Ungeduldig riss er ihr das Fax aus der Hand. Die Schrift war etwas matt – das Faxgerät brauchte dringend neuen Toner – aber der Text ließ sich mühelos entziffern. Lex Luthor, sehen Sie nach Ihren E-Mails Er inspizierte das Blatt und suchte nach der Faxnummer des Absenders, konnte sie aber nicht finden. »Danke«, sagte er zu der Sekretärin. Ihre großen, braunen Augen blickten ihn furchtsam und besorgt an, und er fand es erstaunlich, dass jemand diese Gefühle – echte Gefühle – für seinen Vater haben konnte. »Wollen Sie nicht nach Ihren E-Mails sehen?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Das habe ich schon.« Er schenkte ihr sein wärmstes Lächeln. »Aber trotzdem danke.« Dann drängte er sich an ihr vorbei und nahm das Fax mit. Im Korridor blieb er auf halbem Weg stehen. »An welchem Faxgerät ist es gekommen?«, fragte er. »An dem in Mr. Luthors Büro.« Natürlich. Lex nickte. »Sorgen Sie dafür, dass niemand in die Nähe dieses Geräts kommt, bis ich es mir angesehen habe.« »Ja, Sir.« Sie hatte sich von der Tür entfernt. »Was ist mit dem FBI, Sir?« »Ich werde mich darum kümmern«, versicherte ihr Lex. Nachdem er sich persönlich um einige andere Dinge gekümmert hatte.
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Clark saß auf dem Beifahrersitz von Chloes Wagen und betrachtete durch das Fenster die vorbeihuschenden Bäume. Pete und Lana saßen im Fond. Für ihre Verhältnisse fuhr Chloe sehr vorsichtig. Erstaunlich, wie schnell sich das Wetter ändern konnte. Zwar war es noch immer warm, aber die sengende Hitze des gestrigen Nachmittags hatte nachgelassen. Chloes Vorsicht anscheinend auch. Statt wie am Vortag vor dem Tor zu parken, folgte sie den Spuren, die die Streifen- und Krankenwagen in der weichen Erde zurückgelassen hatten. Unkraut und Steine zerkratzten den Lack ihres Wagens, aber Chloe schien es nicht zu kümmern. Sie wurde von dem Gedanken beherrscht, wieder einen Knüller zu landen. Die Fotos in der Nachmittagsausgabe der Fackel waren beeindruckend gewesen. Zu Clarks Missvergnügen zeigte das große Bild auf der Titelseite, wie er gerade Dannys Leiche aus dem Wasser zog. Zwar fiel das Sonnenlicht von hinten auf Clark, sodass sein Gesicht halb im Schatten verschwand. Trotzdem würde ihn jeder, der ihn schon einmal gesehen hatte, sofort erkennen. Er hasste es, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Das hatte er Chloe schon oft genug erklärt, aber sie schien es nicht zu verstehen. Für sie war die Story das Wichtigste. Sie dachte nie über die Konsequenzen ihrer Artikel nach. Auch seine Eltern schätzten den Medienrummel, der aufgrund dieser Aufnahme nicht lange auf sich warten lassen würde, ganz und gar nicht. Es würde ihnen auch nicht gefallen, dass er noch einmal hierher gekommen war. Wenn er es ihnen gesagt hätte, hätten sie ihm wahrscheinlich geraten, die Polizei zu informieren. Aber er wollte die Polizei nicht auf eine womöglich fruchtlose Suche schicken. Er hoffte noch immer, dass sich ihre Befürchtung als falsch herausstellen würde. Außerdem sollten sie es vermeiden, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu 104
lenken. Die Tatsache, dass er, Lana und Chloe die ersten beiden Leichen gefunden hatten, konnte man als Zufall betrachten. Wenn sie noch mehr fanden – oder zumindest wussten, wo welche sein könnten –, machten sie sich vielleicht verdächtig. Aber aus einer Ahnung heraus die Polizei zu rufen und dann festzustellen, dass sie sich geirrt hatten, konnte dasselbe zur Folge haben. Die Franklin-Zufahrt war voller Schlaglöcher, die der eisige Winter zurückgelassen hatte. Zu den ersten Dingen, die Clarks Dad im Frühling in Angriff nahm, gehörte die Reparatur der Straße. Dadurch, sagte er, würden die Farmmaschinen das ganze Jahr über in einem besseren Zustand bleiben. Es sei vernünftiger, vorher ein paar Dollars auszugeben, als hinterher viel mehr in die Reparatur der teuren Maschinen zu stecken. Das Farmhaus huschte an ihnen vorbei, als Chloe der Zufahrt folgte, die zwischen den Scheunen entlangführte. Gelbes Polizeiabsperrband verschloss die Türen des Hauses und die Tore der Scheunen. »Chloe«, sagte Clark in die Stille hinein. »Hat dein Informant irgendetwas über die Scheunen gesagt?« »Nein.« Sie runzelte die Stirn, während sie die Straße im Auge behielt. Ihr Auto war für derartige Pisten nicht geeignet, und das wurde ihr offenbar allmählich klar. »Warum?« »Die Polizei hat die Scheunentore versiegelt«, erwiderte Clark. »Wahrscheinlich ist die ganze Farm als Tatort abgesperrt worden«, warf Pete ein, »ganz gleich, ob sie noch etwas gefunden haben oder nicht.« »Vielleicht.« Aber Clark war nicht überzeugt. Vielleicht gab es in den Scheunen Beweismittel, die die Theorie der Polizei stützten. »Meint ihr, wir sollten mal nachsehen?«, fragte Lana. »Wenn wir mit dem Teich fertig sind«, nickte Chloe. 105
»Glaubt ihr, dass wir dort wirklich etwas finden werden?«, fragte Pete. »Ich hoffe nicht!« Die Räder rutschten in eine Spurrinne, und Chloe musste kräftig gegenlenken, um nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Clark unterdrückte den Impuls, die Hand auszustrecken und ihr zu helfen. Als er es einmal getan hatte, war sie fast ausgerastet. »Ich finde, wir sollten uns auf jeden Fall in der Scheune umsehen«, warf Lana ein. »Nachdem wir uns den Teich angesehen haben«, beharrte Chloe auf ihrer Planung. »Die Scheunen hat schon die Polizei untersucht, den Teich hat sie aber übersehen.« »Wenn sie die Scheunen nicht erwähnt haben, haben sie vielleicht auch den Teich nur nicht erwähnt«, sagte Clark. Chloe schüttelte den Kopf. »Ich habe mich genau erkundigt, wo sie gesucht haben. Es hieß, dass sie den ganzen Farmbereich überprüft haben. Aber wenn das Gebiet, das den Teich umfasst, umzäunt ist, haben sie es vielleicht nicht als Teil der Farm angesehen.« Der Wagen wurde erneut durchgeschüttelt. Clarks Knie stießen gegen das Armaturenbrett. Je größer er wurde, desto unbequemer wurden kleine Autos für ihn. Die Straße führte weiter geradeaus zu den Feldern. Aber auf der linken Seite entdeckte Clark schwache Linien, die auf eine alte Straße hindeuteten. Die Linien waren von Unkraut und Buschwerk überwuchert, aber er musste nicht einmal seinen Röntgenblick aktivieren, um sie zu sehen. »Halt hier an«, befahl er. Chloe trat auf die Bremse. Die Reifen quietschten, als der Wagen über den Kies rutschte und schließlich zum Halt kam. Staub stieg hinter ihnen auf, als wären sie von einem starken Sturm erfasst worden. »Mein Gott, Chloe«, stöhnte Pete. »Hättest du nicht sanfter anhalten können?« 106
»Wenn du dein eigenes Auto hast, kannst du das gerne tun«, konterte sie und strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Sie stieß die Autotür auf, und Staubwolken drangen her ein. Clark hustete, stieg aus und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sodass sein Kopf über der Staubwolke war. Pete folgte ihm. »Ich kann nichts sehen.« »Warte, bis sich der Staub gelegt hat«, schlug Lana vor. »Das habe ich nicht gemeint«, erwiderte Pete. »Ich meine, ich sehe keinen Grund, warum wir angehalten haben.« »Ich auch nicht«, gestand Chloe. »Aber Clark schon, und da er in der letzten Zeit mehr zu sehen scheint als wir alle, vertraue ich ihm.« Clark spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Aber er sagte nichts, denn er wusste, dass Chloe nur einen Scherz gemacht hatte. Wobei sie der Wahrheit bedrohlich nahe gekommen war. Der Staub legte sich. In dieser Mulde hinter den Farmgebäuden war die Luft so stickig und schwül, als hätte sich die gesamte Hitze des Vortags hier gesammelt. Es roch außerdem schwach nach Lehmerde, verrottender Vegetation und abgestandenem Wasser. »Ich weiß, warum wir angehalten haben.« Lana trat zu den schwachen Rillen, die Clark entdeckt hatte. »Das war früher eine Straße, nicht wahr?« Pete und Clark kamen um den Wagen herum. Chloe starrte die Rillen an. »Ich hätte sie übersehen«, sagte sie. »Wenn man auf einer Farm lebt«, antwortete Clark, »achtet man auf den Boden.« »Irgendwie ist es unheimlich hier unten.« Pete rieb sich den linken Arm, als hätte er Schmerzen. »Seid ihr gestern hier gewesen?« »Nein«, erwiderte Lana. »Wir waren oben auf der Zufahrt. Von dort haben wir die... nun, Danny gesehen.« 107
Pete nickte. »Es sieht nicht so aus, als wäre jemand hier unten gewesen«, stellte Chloe fest. Sie musterte die Schotterstraße. Außer den Spuren ihres Trucks war nichts auf dem Boden zu sehen. »Die Polizei hätte auch hier suchen müssen«, sagte Lana. »Es ist ziemlich nahe am Haus.« »Aber es sieht unbenutzt aus«, meinte Pete. Clark schirmte seine Augen mit der Hand ab. Diese Mulde in der Straße sah von der Rückseite des Hauses aus betrachtet nicht nach sehr viel aus, da war er ziemlich sicher. Der Kiesbelag ließ sie mehr wie einen zusätzlichen Parkplatz, nicht wie eine richtige Straße erscheinen. »Ich denke, die Polizei war eher darauf konzentriert, den Truck der Franklins zu finden, als das Anwesen zu durchsuchen«, sagte Chloe. »Was ist, wenn der Rest der Familie noch am Leben ist und sich irgendwo versteckt?«, fragte Pete. »Ich glaube nicht, dass sie sich hier in der Nähe verstecken.« Lana war tiefer ins Unkraut gegangen. »Die Rillen führen ins Unterholz.« Ein Mückenschwarm wurde durch Lanas Eindringen ins Gebüsch aufgescheucht. Geistesabwesend schlug sie auf ihre Arme. Ein Moskito umkreiste Pete. Er verscheuchte ihn. »Ist es nicht etwas zu früh für Insekten?« »Es liegt an der Hitze von gestern«, sagte Clark. »Hoffen wir, dass es noch einmal richtig kalt wird.« »Das hoffe ich allerdings nicht«, knurrte Pete. »Du weißt, dass ich den Winter hasse.« »Ich dachte, du hasst Insekten noch mehr«, erwiderte Clark, dann wandte er sich Lana zu. Sie war am Rand des Unterholzes stehen geblieben. »Seht ihr?«, sagte Lana. »Ich denke, hier ist seit langer Zeit niemand mehr gewesen.« 108
»Irgendjemand schon.« Chloe zeigte auf einen Fetzen Stoff, der an einem Zweig hing. Es war ein grüner Flanellstoff, der von einigen Blüten, die in dem warmen Wetter aufgegangen waren, fast verdeckt wurde. Chloe hatte sich beide Kameras um den Hals gehängt. Sie griff nach einer und machte ein Foto. »Aber dieses Gebüsch ist undurchdringlich«, widersprach Pete. Clark wies auf eine dunkle Stelle, die in den Schatten verborgen war. »Ein Rotwildlager«, sagte er. »Ein schmaler Trampelpfad führt dort hindurch. So kommt man hinein und wieder heraus.« »Wir können da nicht rübergehen«, entgegnete Chloe. »Sonst verwischen wir wieder Spuren am Tatort.« »Wir wissen nicht, ob es ein Tatort ist.« Lana klang aufgeregt, was ungewöhnlich für sie war. »Ich kann abgestandenes Wasser riechen«, sagte Clark. »Ihr auch?« Lana schnüffelte. »Brackig. Ja, ich rieche es auch.« »Von dort kommen auch deine Moskitos«, sagte Chloe zu Pete. Dann marschierte sie an ihnen vorbei und verschwand geduckt an der dunklen Stelle, die Clark entdeckt hatte. Irgendwie schaffte sie es, den Stofffetzen nicht zu berühren. »Wow«, sagte sie mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu dringen schien. »Ich komme mir vor, als wäre ich in Mittelerde.« »Wie bitte?«, fragte Pete. »Ich hab auch keine Ahnung, wovon sie redet«, sagte Clark. »Habt ihr Herr der Ringe nicht gelesen?«, fragte Lana, während sie Chloe folgte. »Ich habe den Film gesehen«, flüsterte Pete Clark zu. »Zählt das?« »Wahrscheinlich nicht für Lana«, flüsterte Clark zurück. 109
Er wollte sich schon in Bewegung setzen, als er Lana pfeifen hörte. »Nicht Mittelerde, Chloe«, sagte Lana mit seltsam schwach klingender Stimme. »Eher wie in Alice im Wunderland. Jetzt fehlen nur noch eine riesige Raupe und eine Wasserpfeife.« Die Dornenzweige verfingen sich in Clarks Haaren, und etwas stach in die nackte Haut an seinem Handrücken. Es fühlte sich fast an, als würde dieses Etwas das Stück Haut wieder ausspucken, bevor es davonflog. Clark grinste. Er wurde nicht sehr oft von Insekten gestochen, und jene, die es doch wagten, schienen es im Nachhinein zu bereuen. »Ich werde hier bei lebendigem Leib aufgefressen.« Pete war direkt hinter Clark. Obwohl er kleiner war, blieb er überall hängen. »Es liegt an deinem Aftershave«, sagte Chloe. Ihre Stimme klang jetzt näher. »Hat dir niemand gesagt, dass man in den Wäldern kein Aftershave benutzt?« »Ich hatte auch nicht vor, durch die Wälder zu kriechen, als ich heute Morgen aufgewacht bin«, erwiderte Pete bissig. Clark trat aus dem Dornengestrüpp in einen dunklen Bereich. Riesige Pilze wuchsen am Stamm eines nahen Baumes. Die Luft roch hier feucht, der Boden war morastig. Chloe stand in der Nähe des Baumes. Lana war ein paar Schritte weitergegangen und hatte Fußspuren im Schlamm hinterlassen. Pete brach als Letzter durch das Dornengestrüpp. »Wow«, machte er. »Man könnte fast meinen, wir wären nicht mehr in Kansas.« »Wir haben Vorschläge für Oz und Mittelerde«, sagte Lana. »Möchtest du auch noch etwas beisteuern, Clark? Wir akzeptieren Vorschläge aus den Bereichen Literatur und Film.«
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Aber Clark verzichtete. Dieser Ort erfüllte ihn mit großem Unbehagen. Zwar gab es hier keine Meteoriten oder sonst etwas Gefährliches, aber diese Stelle wirkte so abgeschieden. Er musterte den Boden und sah, dass die Rillen verwittert waren. Ein kleiner Haufen Dreck war in der Nähe des Baumes angeweht worden. Im Winter war es hier wahrscheinlich bitterkalt, und der letzte Schnee musste erst vor ein paar Tagen geschmolzen sein. Das würde ihre Suche behindern. Der Morast half ihnen auch nicht weiter. Die Fußabdrücke, die Lana hinterlassen hatte, füllten sich bereits mit Wasser. Sie verschwanden fast so schnell, wie sie entstanden waren. »Ich sehe keinen Teich«, sagte Pete. »Das ist auch kein Teich«, erklärte Lana. »Das ist ein Sumpf.« »Deshalb haben sie auch ihren eigenen Teich angelegt«, sagte Clark. »Das Wasser hier wurde sicher schnell schmutzig.« »Ist auch nicht gerade ein lauschiges Plätzchen«, sagte Pete schaudernd. »Wie es aussieht, wird es dort vorne tiefer.« Chloe zeigte auf eine Stelle neben dem Baum. Clark blieb neben ihr stehen. Seine Schuhe wurden allmählich nass. Der Boden war hier durchweicht. »Das ist der perfekte Ort, um Leichen zu verstecken«, sagte Chloe. »Wenn Mr. Franklin seine Familie umgebracht hat, dann hätte er sie doch hier und nicht in dem anderen Teich versteckt, oder?« »Ein weiteres Argument dafür, dass er es nicht getan hat.« Lana hatte sich am weitesten vorgewagt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sah sich um. »Wie kann man hier rein, ohne klatschnass zu werden?« »Man könnte sich auf der Farm problemlos säubern«, erwiderte Pete. »Gab es Schlamm im Haus?« 111
»Wir haben keinen gesehen«, antwortete Chloe. »Vor dem Haus steht eine alte Pumpe«, erinnerte Clark. »Ich habe sie gestern benutzt. Dort könnte sich jeder waschen.« Pete nickte. »Wie sollen wir diesen Sumpf durchsuchen?« »Das tun wir nicht«, sagte Lana. »Nicht ohne die richtige Ausrüstung. Direkt vor mir wird er tiefer.« »Vielleicht kann ich durch das Teleobjektiv mehr erkennen«, erklärte Chloe. Sie hob die Kamera zu ihrem Gesicht und drehte an dem Objektiv, als wäre es ein Teleskop. Clark ging zu Lana hinüber. Er sank tiefer in den Morast ein als die anderen, weil er größer und schwerer war. Wenn irgendetwas hier hineingeworfen worden war, würde es sehr schwer sein, es zu finden. Lana sah sich weiter um und drehte den Kopf in Chloes Richtung. Clark sah sich ebenfalls um. Das Sonnenlicht fiel durch die Bäume. Fliegen summten und kleine Mückenschwärme stiegen hoch, als wären sie eine einzige Kreatur. Eine Menge der Bäume in der Umgebung waren verrottet und an den Seiten von Moos bewachsen. Der brackige Geruch war stark, jedoch nicht überwältigend. Clark kannte den Geruch, er war mit ihm aufgewachsen. Er konnte sehen, warum die Franklins diesen Teil des Landes nie genutzt hatten und warum er auf der Karte als eingezäunt markiert war. Es sah so aus, als wäre der Zaun schon vor langer Zeit verrottet. Der Boden war zu nass, um als Farmland zu dienen. Wahrscheinlich gab es in der Nähe einen Bach oder unterirdische Quellen, die diesen Sumpf speisten. Was auch immer für den durchweichten Boden verantwortlich war, im Sommer musste dieser Ort mit der Hitze, dem Geruch und den Insekten die Hölle sein. »Ich glaube, ich sehe dort noch ein Stück Flanell.« Chloe zeigte auf eine alte Eiche, die aussah, als wäre sie vor langer 112
Zeit von einem Blitz gespalten worden. Sie hob die Kamera zu ihrem Gesicht und justierte dann das Objektiv. »Ich bin mir ziemlich sicher.« »Lass mich mal sehen«, sagte Lana und griff nach der Kamera. Chloe gab sie ihr, und Lana hob sie zu ihren Augen. Clark konnte aus dieser Entfernung nichts erkennen. Aber er konnte ins Wasser sehen. Er setzte seinen Röntgenblick ein, suchte zunächst das Wasser vor ihnen ab und arbeitete sich dann Stück für Stück zu der gespaltenen Eiche vor. Der Morast war tiefer, als er erwartet hatte, und mit winzigen Knochen gefüllt, die größtenteils von Vögeln oder Tieren stammten, die sich nicht mehr aus dem Wasser hatten befreien können, oder von Beutetieren, die dort gefressen worden waren. Kleine, spitz zulaufende Schädel, die von irgendwelchen Nagetieren herrührten, bedeckten einen ganzen Bereich. Menschliche Überreste waren dort nicht auszumachen. An der Eiche wurde das Wasser noch tiefer. Die winzigen Knochen, die er vorhin gesehen hatte, fehlten hier, als hätten sich die Tiere nicht hierher gewagt, weil es zu tief war. »Ich sehe etwas«, sagte Pete. Er hatte sich niedergekauert und spähte durch das Unterholz. Alle drehten sich in die Richtung, in die er zeigte. Ein weiterer abgerissener Flanellfetzen und eine Menge abgebrochener Zweige waren zu erkennen. Die Bruchstellen wirkten sehr frisch. »Denkt ihr, dort drüben ist es seichter?«, fragte Chloe. Lana senkte ihren Fotoapparat. »Man müsste es schon testen.« »Ich würde an diesem Ort nichts testen wollen«, sagte Pete. Clark suchte diese Stelle mit seinem Spezialblick ab, aber auch dort konnte er nichts entdecken. Er richtete seinen Blick wieder auf die Eiche und ihre Umgebung. Es dauerte einen 113
Moment, bis sich seine Augen an den Röntgenblick gewöhnten, aber als das geschehen war, entdeckte er etwas, das er zuvor übersehen hatte. Zwei Hände, verkrampft, im Pflanzengewirr am Grund verheddert. Die Hände waren mit Armen verbunden, doch Clark konnte nicht sehen, wie weit sie reichten oder ob sie zu einem Körper gehörten. »Nun, Adlerauge«, sagte Chloe zu ihm. »Siehst du irgendetwas?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Kann ich die Kamera haben?« Lana gab sie ihm. Clark drückte die Kamera an sein Auge und justierte das Objektiv. Es funktionierte wie ein Teleskop. Die Eiche war jetzt viel deutlicher zu erkennen. Er konnte sogar die beschädigte Borke sehen. Und an dieser Borke hing etwas – nicht nur ein Stofffetzen, sondern Strähnen braunen Haares, die zu lang waren, um von etwas anderem als einem Menschen zu stammen. Außerdem befand sich zwischen den Wurzeln des Baumes ein Fußabdruck, der so groß wie sein eigener war. »Ja«, sagte Clark. »Ich sehe Haare neben dem Flanell hängen, und da ist ein Abdruck am Fuß des Baumes.« Pete schlug sich so fest auf den Arm, dass es knallte. Alle zuckten zusammen. »Ich hab’s euch doch gesagt«, knurrte Pete. »Ich werde hier bei lebendigem Leib aufgefressen.« Chloe entriss Clark die Kamera und sah sich an, was er entdeckt hatte. »Und«, fuhr Clark fort, nicht sicher, wie weit er sich vorwagen konnte, »ich dachte, ich hätte noch etwas anderes gesehen.« »Was?« Chloe drehte am Objektiv. »Ich sehe die Haare – ganz deutlich. Respekt, Clark.« »In der Nähe des Abdrucks ist noch etwas. Siehst du dieses Ding am Rand des Wassers? Ist das ein Ärmel?« 114
Er wusste, dass es Blätter waren, die an der Oberfläche trieben, doch vielleicht würde sie es falsch einschätzen. »Könnte sein«, meinte sie. Lana blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm auf. »Willst du es dir wieder aus der Nähe anschauen, Clark?« »In dieses Wasser steigen?«, fragte Pete. »Er müsste eine Woche lang duschen, um wieder wie ein Mensch zu riechen.« Clark dankte ihm im Stillen. »Beim letzten Mal bin ich hineingegangen, weil ich dachte, Danny wäre noch am Leben. Aber wer auch immer in diesem Sumpf liegen mag, ist nicht mehr zu retten.« Chloe machte ein paar Fotos, dann senkte sie die Kamera. »Du hast Recht. Und wir sollten die Polizei nicht noch mehr verärgern.« »Aber wir haben vielleicht etwas gefunden«, erwiderte Lana. »Gerade deshalb«, erwiderte Chloe. »Sie werden sich fragen, warum wir dauernd über irgendwelche Leichen stolpern.« »Du meinst, wir sollen einfach von hier verschwinden?«, fragte Lana ungläubig. Chloe schüttelte den Kopf. »Oh nein, das habe ich nicht vor. Obwohl es ziemlich hart werden könnte, wenn da drinnen wirklich jemand liegt.« Pete schlug sich erneut auf den Arm. »Könnten wir unsere Entscheidung vielleicht im Auto treffen? So langsam habe ich genug davon, einer ganzen Horde von Moskitobabys als Abendessen zu dienen.« »Das sind Moskitomamas«, verbesserte ihn Lana. »Das ist mir völlig egal«, knurrte Pete. »Mir reicht’s jedenfalls.« »Mein Handy liegt im Wagen«, warf Chloe ein. »Ich möchte noch ein paar Fotos machen. Wirst du die Behörden anrufen, Pete?« »Wenn du nichts dagegen hast, dass ich einsteige und die Türen und Fenster schließe?« 115
Chloe schenkte ihm ein geistesabwesendes Lächeln. »Absolut nicht.« »Dann werde ich das übernehmen.« Pete verschwand im Dornengebüsch und bahnte sich fluchend seinen Weg. »Ich werde ihm helfen«, erklärte Lana. »Wir können hier sowieso nichts mehr tun.« Clark blieb stehen, während Chloe weitere Fotos schoss. Er ging am Rand des tieferen Wassers entlang und setzte seinen Spezialblick ein, um zu sehen, ob er noch mehr Leichen entdecken konnte. Er hatte fast die Stelle erreicht, wo der andere Flanellfetzen hing, als er etwas sah. Die Arme, die er schon vorhin entdeckt hatte, gehörten zu zwei Körpern. Er hatte gehofft, dass die Arme sterbliche Überreste waren, die vielleicht von einem alten Friedhof in den Sumpf gespült worden waren. Aber die Knochen waren nicht alt, im Gegensatz zu den meisten Tierknochen. Soweit er sehen konnte, waren die Körper aneinandergedrückt, als wären sie gefesselt. Doch genau konnte er es nicht feststellen, sie lagen zu tief. Clark hoffte, dass er die Polizei dazu bringen konnte, Taucher einzusetzen. Gleichzeitig hoffte er, dass er sich irrte. Dass die Leichen schon länger dort lagen. Denn wenn sie erst vor kurzem ins Wasser geworfen worden waren, musste es sich um zwei weitere Franklins handeln. Und es war gut möglich, dass in dem Sumpf noch mehr zu finden war. Nur mit Hilfe der Polizei würden sie es mit Sicherheit feststellen können.
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10 BISHER WAR DIESER TAG einer der schlimmsten in Lionel Luthors Leben gewesen – und es sah aus, als würde er immer schlimmer werden. Luthor war noch immer an den Stuhl gefesselt. Als sein Entführer am Morgen duschte, versuchte er, mit seinem Stuhl zur Küche zu rutschen. Da seine Stricke bereits etwas nachgegeben hatten, hoffte Luthor, dort etwas Scharfes zu finden, mit dem er die Fesseln zerschneiden konnte. Aber er hatte nicht mit dem unebenen Boden gerechnet. Gerade als er die Mitte des Raumes erreicht hatte, blieb eins der Stuhlbeine an einem hochstehenden Dielenbrett hängen. Der Stuhl wackelte einen Moment gefährlich, dann kippte er zur Seite. Da seine Hände gefesselt waren, konnte er den Sturz nicht abschwächen. Er landete hart auf seinem linken Ellbogen. Das Knacken, das dabei zu hören war, und der Schmerz, der durch seinen Arm schoss, erhöhten seine Erfolgsaussichten für eine Flucht nicht gerade. Das Krachen seines Sturzes hallte durch das ganze Haus, und die Dusche wurde abgedreht. So sehr sich Luthor auch bemühte, er konnte seinen Stuhl nicht wieder aufrichten. Sein Entführer kam aus dem Bad gerannt. Als er Luthor in der Küche liegen sah, rief er: »Oh, verdammt, Mr. Luthor. Wir können nicht zulassen, dass sie Sie so erwischen.« Sie und wir. Als wären sie nicht die Komplizen dieses hageren Entführers mit den stechenden Augen. Wir, als wären er und Luthor Verbündete. Luthor nahm an, dass dieser Kerl der Trottel der Gruppe war, dem sie weisgemacht hatten, dass er eine Menge Spaß haben würde, während er am Ende die ganze Drecksarbeit machen musste.
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Dem Mann gelang es, Luthors Stuhl aufzurichten – er war erstaunlich kräftig für einen so hageren Mann –, aber er zitterte dabei. »Mr. Luthor, Sie scheinen den Ernst der Lage zu verkennen. Das hier ist kein Film. Gesetzt den Fall, Sie könnten aus dem Haus entkommen, würden Sie sich garantiert draußen verirren. Die anderen würden Sie finden und erschießen. Es ist besser, Sie bleiben hier und hoffen, dass Ihr Sohn mit dem Geld rüberkommt. Dann können wir alle nach Hause gehen.« Luthor ließ ihn reden, in der Hoffnung, dass er etwas verraten würde, was ihm weiterhelfen konnte, doch das war nicht der Fall. Im Lauf des Tages entspannte sich die Situation. Als dem Entführer klar wurde, dass Luthors Arm gebrochen war – worauf die Schwellung und der Bluterguss hinwiesen –, entschied der Mann, dass er diese Hand von den Fesseln befreien konnte. Die Folge war, dass Luthor nun – ungeschickt, denn der Arm war tatsächlich verletzt – in der Lage war, selbst etwas zu essen und zu trinken. Er konnte außerdem die Toilette benutzen – wobei der Mann zuerst seinen gesunden Arm an einen Handtuchhalter band. Luthor versuchte, die Hand mit seinem verletzten Arm zu befreien, doch ohne Erfolg. Über seinen Bauch nach der gefesselten Hand zu greifen, schmerzte ihn so sehr, dass er bei dem Versuch fast aufschrie. Also ließ er es sein. Sein Entführer verbrachte den Großteil des Nachmittags an einem Computer im Hinterzimmer. Er redete nicht mehr viel. Die einzigen Laute, die zu Luthor drangen, waren das Klappern der Finger auf der Tastatur und ein gelegentlicher Fluch. Luthor hatte sich gerade vorgenommen, seinen Entführer zu überreden, die Fesseln zu lockern, als er einen Truck draußen vorfahren hörte.
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Der Truck war wohl einmal rot gewesen, aber das raue Kansas-Wetter hatte die Farbe zu einem schmutzigen Rostton verblassen lassen. Beulen an der Seite der Karosserie verrieten, dass der Truck häufig benutzt worden war. Luthor fragte sich, was aus seiner Limousine geworden war. Er kam zu dem Schluss, dass diese Entführer gerissener waren, als er anfänglich gedacht hatte. Sie wussten, dass nach der Limousine gefahndet wurde, deshalb hatten sie sie weggeschafft. Sein Wächter kam aus dem Hinterzimmer, sah den Truck und wurde tatsächlich blass. Luthor fand dies höchst interessant. Diese Reaktion kannte er von Angestellten, die sich vor ihm fürchteten, aber sie verhielten sich nur so, wenn sie einen Fehler gemacht hatten. Hatte dieser Mann etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen? Doch diese Überlegung führte zu nichts. Sein Wächter kam näher und legte seine Hände auf Luthors Schultern, der die Geste sowohl als beruhigend wie auch als bedrohlich empfand. Luthor war nicht daran gewöhnt, dass ihn jemand so behandelte, doch der Griff des Mannes war leicht, fast freundlich. »Mr. Luthor, diese Kerle hier sind keine netten Menschen. Ich gebe Ihnen den guten Tipp, sie nicht zu verärgern. Sie haben noch immer nicht entschieden, was sie mit Ihnen tun werden, wenn das Geld gezahlt wird. Also –« Schritte auf der Veranda ließen ihn verstummen und zurückweichen. Die Hände lösten sich von Luthors Schultern, dem ein Schauder über den Rücken lief. Als sich die Tür öffnete und das Sonnenlicht und den Geruch von neuem Frühlingsgras hereinließ, atmete Luthor tief durch. Das alles konnte nur ein Spiel sein, das sie mit ihm trieben, damit er irgendetwas verriet.
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Aber spielen konnte er besser als jeder andere, und er würde ihre Regeln nicht akzeptieren. Er würde seine eigenen entwickeln. Die beiden Männer, die durch die Tür traten, kamen ihm irgendwie bekannt vor. Luthor war nicht sicher, ob er sie wirklich schon einmal gesehen hatte oder ob sie nur seiner Vorstellung von typischen Proleten entsprachen. Diese beiden hätten jedenfalls gerade einem Gangsterfilm entstiegen sein können. Sie waren groß, kräftig und stämmig, hatten Vollbärte, die den Großteil ihrer Züge verbargen. Zur Krönung trugen sie halb in die Stirn gezogene Hüte, die ihre Augen fast verbargen. Trotzdem sah Luthor den gemeinen Ausdruck in den Augen des Anführers mehr als deutlich. Zum ersten Mal überkam ihn wirkliche Angst, aus dieser Situation nicht lebend herauszukommen. »Ach Lionel, wie tief sind Sie gesunken«, sagte der zweite Mann, als er in den Raum stapfte. Seine Stiefel hinterließen noch mehr getrockneten Schlamm auf dem Holzboden. Der erste Mann schwieg, ohne die Augen von Luthors Gesicht zu wenden. »Haben Sie nichts zu sagen, Lionel?«, fragte der zweite Mann. »Ich bin nicht der Typ, der bettelt«, erwiderte Luthor, »und ich bezweifle, dass eine höfliche Bitte um Freilassung, mich weiterbringen wird.« »Da haben Sie Recht.« Der Mann lachte. Er wandte sich von der Tür ab, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Bier heraus. Luthors ursprünglicher Wächter verfolgte dies mit unverhohlener Beklommenheit. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er den ersten Mann. Endlich löste dieser den Blick von dem Gefangenen. Für Luthor fühlte es sich an, als wäre ein körperlicher Druck von 120
ihm genommen worden. »Keine Ahnung. Das liegt an dem Jungen.« »Es geht das Gerücht um, dass der Junge seinen Dad hasst«, sagte der Wächter. »Stimmt das, Lionel? Können Sie nicht mal Ihr eigenes Kind dazu bringen, sich für Sie zu erwärmen?« Der zweite Mann griff nach einem Stuhl, zog ihn heran, setzte sich und streckte die Beine aus. »Was hat Lex damit zu tun?«, fragte Luthor, obwohl er eine Ahnung hatte. Sein Bestreben war, so viel wie möglich mit ihnen zu reden. So konnte er eventuell ihre Beweggründe in Erfahrung bringen, und was noch wichtiger war: Vielleicht gelang es ihm, sie gegeneinander auszuspielen. Sofern der Schmerz in seinem geschwollenen Arm und die Kopfschmerzen, die davon herrührten, seine Konzentration nicht zu sehr schwächten. »Alles!« Der erste Mann ergriff zum ersten Mal das Wort, und Luthor erkannte die Stimme aus der Limousine wieder. Er war derjenige, der seiner Meinung nach weniger gebildet geklungen hatte als einer der anderen. War sein Wächter demnach der Gebildete? Vielleicht verwechselte er aber auch die Stimmen. »Denken Sie, der Junge hat genug für Sie übrig, um zu zahlen?«, fragte der zweite Mann. »Denn wenn er es nicht tut, sind wir alle erledigt.« »Nein, das sind wir nicht.« Der erste Mann versetzte seinem Partner einen so heftigen Klaps gegen den Kopf, dass ihm der Hut herunterflog und in den Schoß seines Partners fiel. Als der Mann sich nach vorn beugte, bemerkte Luthor, dass seine Schädeldecke schon recht kahl war. Also war er nicht so jung, wie Luthor ursprünglich gedacht hatte. Luthor wartete schweigend. Er wollte wissen, warum seine Entführer nicht erledigt waren, wenn Lex das Lösegeld nicht zahlte. 121
»Komm schon. Ich dachte, es geht hier um die Kohle«, sagte der zweite Mann. »Es geht auch um Rache«, bemerkte Luthors Wächter. Er stand hinter ihm, und es war fast so, als würde er ihm den Rücken decken, aber das konnte nicht sein. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und er spürte, dass dies der Schlüssel zu seinem Überleben war. Er würde beobachten, zuhören und schließlich verstehen, was hier vorging. »Rache?«, fragte er. »Für was?« »Für alles, Lionel. Sie haben den Leuten so viel angetan, dass Sie anscheinend nicht mehr wissen, was Sie alles getan haben.« Der zweite Mann trank einen weiteren Schluck von seinem Bier. Dann setzte er den Hut wieder auf den Kopf. »Sehen Sie, wenn Sie nur ein schlechter Mensch und kein durch und durch böser alter Knacker wären, hätten Sie wenigstens eine Ahnung, was uns so wütend gemacht hat. Aber Sie haben im Lauf der Jahre so viele schreckliche Dinge getan, dass es zu weit führen würde, alles aufzuzählen. Im Grunde ist es auch besser, wenn Sie es nicht wissen. Sie können sich viel schlimmere Dinge vorstellen, als wir uns jemals ausdenken könnten.« Das stimmte wahrscheinlich – zumindest, was den zweiten Mann anging. Er sah nicht aus, als hätte er viel Fantasie. Aber der erste, der Mann der wenigen Worte, der offensichtliche Anführer, schien sich eine Menge vorstellen zu können. »Was haben wir bis jetzt?«, fragte Luthors Wächter. »Irgendetwas Neues?« »Nicht von der LuthorCorp direkt.« Der erste Mann nahm sich eine Cola aus dem Kühlschrank. Es gab also keine Hoffnung, dass sie sich alle betrinken und unaufmerksam werden würden. Dieser Mann würde dies nicht zulassen.
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»Und indirekt?«, fragte Luthors Wächter. Er klang gierig. Vielleicht war er doch nicht so nett, wie Luthor anfangs geglaubt hatte. Der erste Mann lächelte. Es war ein bedächtiges, kaltes Lächeln. »Der Aktienkurs ist um zehn Punkte abgestürzt und scheint sich auch weiter auf dem absteigenden Ast zu befinden. Wie es scheint, denkt das ganze Land, dass die LuthorCorp ohne Sie nicht überleben kann, Mr. Luthor.« Sinkende Aktienkurse waren normal. Wenn Luthor freikam, würde sich der Kurs wieder erholen. Aber falls er nicht freikam und die Analyse des ersten Mannes richtig war, würde alles, wofür Luthor sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, verloren sein, verloren wie er. Er achtete darauf, nicht bedrückt zu wirken. Auch das hatte er im Geschäftsleben gelernt: wie man seine Gefühle verbarg. »Erzählen Sie uns von Ihrem Jungen«, forderte ihn Nummer zwei auf. »Was wollen Sie wissen?«, fragte Luthor. »Wie kommt es, dass er noch nicht auf unsere Nachricht reagiert hat?« »Ich nehme an, Sie haben ihm eine Möglichkeit gegeben, Ihnen zu antworten«, sagte Luthor, wobei er sorgfältig darauf achtete, seine Stimme nicht hoffnungsvoll klingen zu lassen. Wenn es Lex möglich war, ihnen zu antworten, dann gab es auch einen Weg, diese Schurken aufzuspüren. »Nicht direkt.« Nummer eins lächelte süffisant. Er hatte einen abgebrochenen Zahn in der unteren Reihe. Sein ganzes Gebiss war gelblich verfärbt, der abgebrochene Zahn am stärksten. »Wie können Sie dann behaupten, dass er noch nicht reagiert hat?«, fragte Luthor. »Es tut sich nichts auf den Konten«, erklärte Nummer zwei. »Eigentlich müsste er dabei sein, das Geld zusammenzukratzen.« 123
Luthors Magen zog sich zusammen. »Nun, für mich klingt es so, als hätten Sie es ihm schwer gemacht, das Geld zusammenzubekommen. Sie wissen, dass die meisten Unternehmen keine großen Bargeldreserven haben, und unsere Kreditlinien sind an den Aktienkurs gebunden.« »Können Sie vielleicht ein bisschen deutlicher werden?«, fragte Nummer zwei. »Das ist er doch«, warf Luthors Wächter ein. »Er sagt, dass du dich selbst ausgetrickst hast.« »Wir haben uns selbst ausgetrickst, mein Freund«, gab Nummer eins zurück, und in diesem Moment wusste Luthor, dass sie klüger waren, als er ursprünglich angenommen hatte. Mein Freund hatte er gesagt. Sie sprachen sich nicht mit ihren Namen an. Allerdings zeigten sie ihm ihre Gesichter. Das ließ nichts Gutes für ihn hoffen. Vielleicht wollten sie nicht, dass er ihre Namen erfuhr, weil sie ihn mit Lex telefonieren lassen wollten. Dass sie ihre Gesichter nicht verhüllten, ließ nur einen Schluss zu: Sie hatten vor, ihn zu töten, sobald sie das Geld bekommen hatten. »Du denkst, was er sagt stimmt?«, fragte Nummer eins Luthors Wächter. Dieser zuckte die Schultern. »Das Geschäftsleben ist nicht meine Stärke.« »Nun, Geld ist Geld, und du kannst mir nicht erzählen, dass eins der größten Unternehmen der Welt nicht genug Vermögen hat, um zehn Millionen in bar aufzutreiben.« Luthors Kehle zog sich zusammen. Zehn Millionen? Sie verlangten nur zehn Millionen für ihn? Gleich darauf musste er fast über sich selbst lachen, weil er sich den Kopf darüber zerbrach, wie viel er für Kriminelle – Kriminelle, die gerade zugegeben hatten, keine Ahnung vom Geschäftsleben zu haben – wert war.
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»Sind Sie sicher, dass Ihr Junge mit dem Geld rüberkommen wird?«, fragte Nummer zwei erneut. Ach ja, diese Frage hatte er nicht beantwortet, und das nicht, weil er ihr auswich. Er kannte die Antwort einfach nicht. Er hatte keine Ahnung, was Lex tun würde. Er hoffte, dass Lex alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel – und davon gab es schließlich eine ganze Menge – einsetzen würde, um diesen Ort zu finden und ihn zu befreien. Luthor hoffte außerdem, dass Lex klug genug war, so zu tun, als würde er auf ihr Spiel eingehen. Je länger Luthor darüber nachdachte, um so nervöser wurde er. Lex war hochintelligent und hatte dies, wie es Luthor erschien, bis vor kurzem verborgen. Eines Tages würde Lex erkennen, dass er klüger als sein Vater, klüger als alle um ihn herum war, und er würde dies zu seinem Vorteil nutzen. Die Unterhaltung, die sie vor ein paar Wochen geführt hatte, kam Luthor plötzlich wieder in den Sinn. Er konnte sogar Lex’ Stimme hören: »Weißt du, wovor die Kaiser, von denen du so gern sprichst, wirklich Angst hatten? Dass ihre eigenen Söhne erfolgreiche Männer werden und an der Spitze ihrer eigenen Armeen nach Rom zurückkehren würden.« Als Luthor ihn gefragt hatte, ob er mit seiner eigenen Armee nach Metropolis kommen würde, war Lex der Frage ausgewichen. Die Situation hatte sich geändert. Jetzt brauchte er keine Armee mehr. Er musste nur dasitzen, abwarten, und der Kopf seines Dads würde ihm auf einem Silbertablett serviert werden. Luthor fröstelte. Der Tag war definitiv schlimmer geworden. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis die Polizei eintraf, und dann war es nur ein Wagen in Zivil. Clark beobachtete nervös, wie er die Zufahrt heruntergebraust kam und dabei den Staub aufwirbelte. 125
Die vier lehnten an Chloes Auto und warteten. Lana hatte vor kurzem ein zweites Mal angerufen, nur um sicherzugehen, dass wirklich jemand kam. Gerade wollte sie noch einmal zum Handy greifen, als sie die quietschenden Reifen gehört hatten. Dass es nur ein einziger Wagen war, irritierte sie. Ohne etwas zu sagen, drängten sie sich schutzsuchend zusammen. »Das ist doch die Polizei, oder?«, fragte Pete verunsichert. »Jeder mit der richtigen Ausrüstung kann Handys abhören«, warf Chloe zur allgemeinen Beruhigung in die Runde. »Was soll das heißen?«, fragte Lana alarmiert. »Das heißt, dass Chloe sich nicht sicher ist«, erwiderte Clark. »Aber ich schon. Der Mann am Steuer ist Deputy Roberts.« Deputy Roberts war auch gestern am Tatort gewesen. Er hatte sie zwar nicht gerade freundlich behandelt, aber sobald er den Ernst der Lage erkannt hatte, war er so professionell wie möglich vorgegangen. Ein weiterer Mann saß mit ihm im Wagen. Während das Auto immer näher kam, straffte sich Pete. »Ich glaube, ich habe zu viel ferngesehen«, sagte er. »Was meinst du damit?«, fragte Chloe. »Das heißt, ich bin nicht überzeugt, dass diese Kerle die Guten sind, nur weil sie Polizisten sind. Sollten wir nicht einen Notfallplan haben? Ich meine, was ist, wenn sie die Mörder sind?« »Wie kommst du denn darauf?«, fragte Lana. »Welchen Grund sollten sie gehabt haben, Danny und Betty zu töten?« Pete zuckte die Schultern. »Welchen Grund hatte irgendjemand anders?« »Das führt doch zu nichts«, meldete sich Clark zu Wort. Er glaubte nicht, dass Roberts in irgendetwas Illegales verwickelt war, aber falls Pete doch Recht haben sollte, würde Clark es nicht zulassen, dass seinen Freunden irgendetwas geschah. »Uns wird nichts passieren«, versuchte er, die anderen zu beruhigen. 126
»Ach ja?“, sagte Pete. »Sie haben Waffen. Wir nicht.« »Wenn sie es getan haben, werden sie keine Waffen benutzen«, erwiderte Chloe. »Danny und Betty wurden erwürgt.« »Die Polizei hatte nichts damit zu tun«, erklärte Lana. »Ihr seid paranoid.« Der Wagen des Sheriffs kam schlingernd vor ihnen zum Stehen. Erneut wurde Staub aufgewirbelt, der sie zum zweiten Mal an diesem Nachmittag einhüllte. Clarks Augen brannten. Lana an seiner Seite hustete und Pete spuckte. Nur Chloe blieb still. Die Wagentüren wurden geöffnet und zugeschlagen. Clark brauchte einen Moment, bis er wieder klar sehen konnte. Roberts und sein Partner, derselbe Mann, der am Vortag mit ihnen gesprochen hatte, dessen Namen sie aber nicht kannten, kamen auf sie zu. »Hängt ihr nur gerne hier herum oder steckt ein tieferer Sinn dahinter?«, fragte Roberts. »Wir sind Dannys Freunde«, antwortete Lana. »Ihr habt eine seltsame Art, das zu zeigen. Indem ihr dort herumschnüffelt, wo ihr nichts zu suchen habt.« Sein Partner hielt sich zurück. Er musterte sie nur eingehend. Beide Männer trugen Zivilkleidung. »Haben Sie den Sumpf überprüft?«, fragte Chloe unvermittelt. »Warum?«, fragte Roberts. »Wenn Sie es getan haben«, warf Clark ein, »haben wir Sie grundlos belästigt. Aber wenn nicht, dann gibt es dort unten etwas, das Sie sich ansehen sollten.« »Etwas, das ihr dort deponiert habt?« »Nein«, sagte Pete. Er klang zutiefst gekränkt. »Wir sind anständige Bürger. Was ist Ihr Problem?«
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Der Partner trat vor und legte eine Hand auf Roberts’ Arm. »Wir sind nicht daran gewöhnt, dass sich junge Leute in unsere Untersuchungen einmischen.« »Wir sind nicht daran gewöhnt, Freunde zu verlieren«, konterte Lana. Der Mund des Partners zuckte, und Clark hätte schwören können, dass er ein Lächeln unterdrückte. »Nun, dann...« »Ich werde das übernehmen, Davies.« Roberts trat einen Schritt näher zu ihnen. Er schien zu versuchen, sie einzuschüchtern. Bei Clark würde das nicht funktionieren. Aber Roberts blieb nicht vor Clark stehen. Er baute sich vor Chloe auf. »Diese Fotos in der Fackel haben mir nicht gefallen. Wir brauchen deinen Film für die Untersuchung. Den hättest du uns übrigens schon gleich aushändigen müssen.« »Ich habe keinen Film benutzt«, erklärte Chloe. »Die Fotos sind digital. Soll ich sie Ihnen per E-Mail schicken?« »Hör zu, junge Dame, ihr seid bereits in Schwierigkeiten, weil ihr ständig am Tatort herumlungert. Du willst es doch nicht noch schlimmer machen?« »Sie ist Reporterin«, sagte Clark. »Sie macht nur ihren Job.« »Sie ist eine Highschoolschülerin«, stellte Roberts richtig, »die sich gerade Ärger einhandelt.« »Ohne sie hätten Sie nicht einmal einen Fall«, entgegnete Pete. »Ohne sie und Lana und Clark. Sie sollten froh sein, dass jemand etwas unternimmt. Lassen Sie das Herumstänkern sein und hören Sie ihnen zu. Wir haben etwas in diesem Sumpf gesehen. Sie müssen es überprüfen.« Roberts kniff den Mund zusammen. Ihm gefiel die Kritik offenbar nicht. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, trat Davies an seine Seite und ergriff das Wort. »Woher wusstet ihr, dass dort ein Sumpf ist?«, fragte er. »Im Fackel-Büro hängt eine alte Karte«, antwortete Clark. »Ich habe sie mir angesehen und einen Teich mit einer Zaunmarkierung darauf entdeckt. Wir nahmen an, dass die 128
meisten Leute dieses Gebiet nicht für einen Teil der FranklinFarm halten würden.« »Außerdem konnten wir uns nicht erinnern, einen weiteren Teich oder Zaun gesehen zu haben«, fügte Chloe hinzu. »Wir dachten, wenn wir ihn nicht bemerkt haben, dann haben Sie ihn möglicherweise auch nicht gesehen.« »Und da seid ihr hierher gekommen, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen«, nickte Roberts. »Ihr hättet anrufen können.« »Daraufhin hätten Sie sich natürlich gleich auf den Weg gemacht! Wir haben ja gesehen, wie lange Sie gebraucht haben, um heute auf unseren Anruf zu reagieren«, fauchte Lana. Clark warf ihr einen überraschten Blick zu. So hatte er sie noch nie gesehen. Ihre Wangen waren gerötet. Offensichtlich war sie wütend darüber, dass sie wie Schwerverbrecher behandelt wurden. »Seien Sie ehrlich: Wie hätten Sie reagiert, wenn wir Sie gebeten hätten, den Sumpf zu untersuchen, ohne zu wissen, ob an unserer Vermutung etwas dran ist.« Roberts blickte noch immer finster drein, aber Davies lächelte. »Ein Punkt für die junge Dame. Du hast mich überzeugt. Würde jetzt jemand so freundlich sein, mir zu zeigen, was ihr gefunden habt?« »Ich übernehme das.« Chloe führte ihn zu der dunklen Öffnung im Dornengestrüpp. »Ich komme mit«, sagte Clark. Er würde Chloe nicht allein mit Davies zu diesem Ort gehen lassen, nicht nach der kleinen Rede, die Pete gehalten hatte. Vielleicht war er ja wirklich paranoid, aber ein bisschen Vorsicht konnte nicht schaden. Er arbeitete sich geduckt durch das Dornengestrüpp, spürte, wie die Mücken wieder über ihn herfielen, und dann schlug ihm der brackige Gestank des abgestandenen Wassers entgegen. Chloe und Davies standen bereits am Rand des Sumpfes. Chloe zeigte auf die gespaltene Eiche. 129
Davies schien den Ernst der Lage erfasst zu haben. Er richtete das Teleobjektiv, das sie ihm angeboten hatte, in Richtung des Stofffetzens. Natürlich konnte er so keine Leiche oder die Finger, die Clark vorgegeben hatte zu sehen, entdecken, doch seine kleine Lüge erfüllte ihren Zweck. Als er Chloe die Kamera zurückgab, sagte Davies: »Wir hätten das schon gestern überprüfen müssen. Ich bin sogar hier heruntergekommen. Allerdings habe ich gedacht, dass hier nichts als undurchdringliches Dickicht ist. Wir werden über Funk ein paar Taucher anfordern, die den Teich überprüfen sollen.« Clark schauderte bei der Vorstellung, in dieses Wasser zu gehen, aber dann sagte er sich, dass es ihr Job war. Er wünschte nur, sie würden sich beeilen. Ihm gefiel nicht, dass er der Einzige war, der wusste, dass mindestens zwei weitere Leichen in diesem Sumpf lagen. Außerdem wollte er endlich wissen, wer sie waren.
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11 LEX STAND IN EINEM WINZIGEN NEBENRAUM hinter dem Club Noir, der sich in einem der zwielichtigeren Viertel von Metropolis befand, und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Ihm war schon vor Jahren geraten worden, hier drinnen nichts anzufassen, und er hatte sich seitdem daran gehalten. An der Decke des Raumes waren Neonröhren angebracht, die aber anscheinend nie eingeschaltet waren. Licht spendete allein das gute Dutzend Computerbildschirme verschiedener Formen und Größen. Über einem Schreibtisch brannte außerdem eine kleine Halogenlampe. Die abgestandene Luft roch nach scharfem mexikanischem Essen. Hinzu kamen noch die schwachen Düfte von Alkohol, Parfüm und Zigaretten, die aus dem Club herüberwehten. Drei minderjährige Jungen, von denen Lex nur die Webdecknamen kannte – DeadMan, Terror und Aces –, saßen an ihren Computern und ließen die Finger über die Tastaturen huschen. Am größten Bildschirm saß ein alter Schulkamerad von Lex, dessen richtigen Namen er kannte, aber niemals laut aussprechen würde. Er bearbeitete die digitalen Bilder. Er war ein Jahr älter als Lex und hatte das Internat verlassen müssen, als das FBI ihn wegen verbotener Hackeraktivitäten verhaften wollte. Sein richtiger Name, Phil Brodsky, klang eigentlich relativ harmlos. Doch der Schein trog. Brodsky konnte jede Datei öffnen, jede verborgene Information finden, jedes verschlüsselte System knacken, über das er stolperte. Und er stolperte über eine Menge. Lex war gern in seiner Nähe. Brodsky hatte Lex alles, was er wusste, über Computerhacken beigebracht, aber Lex fehlte im Gegensatz zu Brodsky das natürliche Talent und Interesse 131
dafür. Brodsky war auf seinem Gebiet ein Genie, dem alles zuzufliegen schien. Lex hingegen musste sich jeden einzelnen Schritt sorgfältig überlegen. Hacken übte auf ihn keine Faszination aus. Lex zog es vor, mit Menschen zu arbeiten, sie dazu zu bringen, ihre Schwächen zu enthüllen, statt diese Schwächen versteckt in irgendeinem obskuren Teil des Internets aufzuspüren. »Eigentlich dürfte es nicht besonders kompliziert sein«, sagte Terror. Er hatte den Auftrag, den Absender der E-Mail ausfindig zu machen. Die beiden anderen Jungen arbeiteten an den Videobildern und Fotos. »Sie haben den Ludditenführer für Computerhacker benutzt. Das ist ziemlich offensichtlich.« Terror lehnte sich zurück und knackte mit seinen Knöcheln. »Du meinst den Idiotenführer?«, fragte Lex. »Nein«, sagte Terror. »Ich meine den Ludditenführer.“ »Ob die modernen Ludditen überhaupt wissen, dass es ein anderes Wort für Maschinenstürmer ist?«, fragte Lex. »Nicht, wenn sie in unserem Alter sind. Aber die älteren bestimmt«, erwiderte DeadMan. »Derartige Bücher werden vor allem von älteren Leuten benutzt. Die meisten Kerle, die sich wirklich für dieses Thema interessieren, lernen durch Erfahrung.« »Und dann«, nickte Lex, »laden sie ihre Informationen herunter.« »So ist es, Alter«, bestätigte DeadMan. Von Brodskys drei Freunden war DeadMan derjenige, den Lex am wenigsten mochte. Er war nicht so talentiert wie die beiden anderen und fühlte sich ständig von Lex angegriffen. Lex wusste, dass DeadMans Auftreten einer Unsicherheit entsprang, die er durch sein betont cooles Auftreten überspielen wollte, aber genau das war es, was Lex nervte. »Dieser Ludditenführer«, sagte Lex, »beschreibt tatsächlich, wie man eine nicht zurückverfolgbare E-Mail sendet?« 132
»Er ist aber schon von 1999«, erwiderte Aces. Seine Finger huschten weiter über die Tastatur, während er sprach. Er hatte sich ein einzelnes digitales Bild vorgenommen und es vergrößert, sodass er jetzt einen winzigen Ausschnitt riesenhaft vergrößert vor sich hatte. Lex war zu weit entfernt, um zu erkennen, was darauf genau zu sehen war. »Wie sehr unterscheidet es sich von der heutigen Methode?«, fragte Lex. »Heute gibt es dafür ungefähr eine Million bessere Möglichkeiten«, erklärte Terror. »Die hier folgt genau den Anweisungen im Buch. Ich meine damit, dass ich sie mit geschlossenen Augen zurückverfolgen könnte.« »Ich will es mal so ausdrücken«, sagte Aces. »Niemand macht es heute noch auf diese Weise.« »Wenn so etwas gedruckt wird, Mann, ist es schon so veraltet, als käme das Material von Henry Ford.« DeadMan stand auf, warf einen Pappbecher über Lex’ Kopf, verfehlte den Abfallkorb aber knapp. Doch er dachte nicht daran hinüberzugehen, um den Becher aufzuheben. Lex war versucht, es selbst zu tun. Unordnung und Chaos waren ihm zuwider. Doch er beherrschte sich. »Und woher kommt dann diese E-Mail?«, wollte Lex wissen. »Aus Metropolis«, antwortete Terror. Diese Antwort hatte Lex erwartet. Alles andere wäre eine Überraschung für ihn gewesen. »Kannst du mir den genauen Ort nennen?«, erkundigte sich Lex. »Aus einem Internet-Café, das fünf Blocks von hier entfernt ist. Ich kenne den Kerl, der es betreibt. Die E-Mail ist mit einem Zeitkode versehen. Vielleicht erinnert er sich, wer sie gesendet hat.« Lex bezweifelte, dass sich der Besitzer daran erinnern würde, aber es war einen Versuch wert. »Okay. Ich werde einen meiner Leute hinschicken.« 133
»Ich will dir nicht zu nahe treten, Lex«, sagte Brodsky, »aber deine ›Leute‹ werden nichts aus ihm herauskriegen.« »Dann werde ich selbst das übernehmen«, erklärte Lex. »Nicht nötig«, wehrte Terror ab. »Ich habe ihm bereits eine E-Mail geschickt. Er müsste jeden Moment antworten.« Selbst Lex, der es gewohnt war, zügig und flexibel zu agieren, war von dieser Schnelligkeit überrascht. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, sie hätten keine E-Mail gesendet. Er wollte die Augen des Mannes sehen, wenn ihm diese Frage gestellt wurde, um zu erkennen, ob er log oder ob er sie sogar selbst geschickt hatte. Aber im Moment war Lex auf die Hilfe seiner Freunde angewiesen. »Was ist mit dem Fax?«, wechselte er das Thema. »Das ist schwieriger«, sagte Aces. »Du müsstest uns in das Büro deines Dads lassen, damit wir an dem Gerät arbeiten können.« »Das kann ich nicht«, erwiderte Lex. Er hatte zu viel Angst davor, dass sein Vater plötzlich zurückkehrte und Lex’ Vorgehensweise nicht nachvollziehen konnte. Außerdem war da noch Lex’ Befürchtung, dass sein Vater irgendwie in die Entführung verwickelt war, dass es ein Trick war, um ihn und seine Qualitäten zu testen. Falls er entdeckte, dass dem wirklich so war, würde er augenblicklich jeden Versuch, seinen Vater zu retten, einstellen. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, dass Lionel beabsichtigte, den Markt ein wenig zu erschüttern, um herauszufinden, wie die Aktienkurse auf einen derartigen Vorfall reagieren würden. So etwas würde er seinem Vater durchaus zutrauen. Er traute ihm so einiges zu. Trotzdem ließ ihn irgendetwas in seinem Inneren daran zweifeln. »Ich weiß, Alter«, riss ihn Aces aus seinen Gedanken. Er hatte auf seinem Bildschirm ein kleineres Fenster geöffnet, das flimmernde Zeilen mit einem Kode zeigte. Im großen Fenster 134
bearbeitete er weiter das digitale Bild. »Ich musste mich in die Telefongesellschaft einhacken. Das Büro deines Dads ist zu streng gesichert.« In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. »Die Telefongesellschaft ist leichter zu knacken«, fügte Brodsky hinzu. »Viel leichter, Alter«, sagte DeadMan in einem Ton, der Lex verriet, dass sie bereits versucht hatten, in die LuthorCorp einzudringen. DeadMan versuchte, ihn zu provozieren, aber Lex ignorierte ihn. »Und?«, fragte Lex nur. »Was meint die Telefongesellschaft?« »Das Fax kam aus einem Kopierladen auf der anderen Seite von Metropolis, gute acht oder neun Kilometer von dem Internet-Café entfernt. Es wurde zur selben Zeit abgeschickt wie deine E-Mail.« »Der Kopierladen hätte es zu einem vorher festgesetzten Zeitpunkt senden können, oder?«, fragte Lex. »Das bezweifle ich«, erwiderte Aces. »Der Laden hätte sicherlich seine Nummer auf dem Fax hinterlassen. Was nicht der Fall ist.« »Wie schwer ist es, die Nummer des Absenders zu unterdrücken?«, fragte Lex. »Nicht besonders schwer, wenn man ein Handbuch hat. Schwerer, wenn man keins hat. Und ziemlich schwer in einem derartigen Laden, wo die Nummer fest mit dem Gerät verdrahtet ist. Man braucht dafür einen richtigen Technikfreak, Lex«, erklärte Aces. »Zwei, denke ich«, fügte Brodsky hinzu. »Mindestens.« Drei. Das bestätigte, was das Überwachungsvideo zeigte. Es bedeutete, dass zwei Männer an diesem Morgen die technischen Fragen in Metropolis geklärt hatten und ein Mann seinen Vater in der Zwischenzeit bewachte. Zumindest wäre Lex so vorgegangen. 135
Aber er wusste, wie gefährlich sein Vater war. Er hätte dafür gesorgt, dass der alte Mann ständig im Auge behalten wurde. Die meisten Leute unterschätzten Lionel Luthor und hielten ihn für einen primitiven Klotz. Lex kannte ihn besser. Allerdings gab es noch eine andere Möglichkeit. Alle drei Entführer waren in Metropolis und verschickten ihre Mitteilungen, während sein Vater irgendwo tot in einem Straßengraben lag. Doch darüber dachte er lieber nicht länger nach. Ein Computer pingte. »Da kommt die Antwort«, sagte Terror. »Mit Bildern. Schau sie dir an.« Lex trat näher zu Terrors Rechner. Das E-Mail-Programm war geöffnet. Eine E-Mail aus dem Internet-Café füllte den Monitor; sie war mit Anhängen versehen. Die E-Mail begann ohne Anrede oder Gruß, als führten die beiden Männer eine Unterhaltung, statt sich Briefe zu schreiben. Der Mann, nach dem du fragst, ist ein merkwürdiger Kerl. Ich fand ihn bedrohlich, deshalb habe ich ein paar Bilder aus verschiedenen Winkeln von ihm gemacht. Leider hat die Computerkamera hauptsächlich Nasenhaare eingefangen, aber ich bekam ein paar gute Fotos, als er bezahlte. Sieh sie dir an. Ich hatte übrigens den Eindruck, dass er nicht mal weiß, was eine E-Mail ist. Sag deinem Kumpel, dass seitdem niemand die Tastatur benutzt hat. Ich habe sie zur Seite gelegt und eine neue angeschlossen. Sieh zu, dass keine offensichtlichen Bundesagenten bei mir erscheinen, aber ich werde sie ihnen aushändigen, wenn sie in Zivil kommen. Gib mir Bescheid.
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»Das ist nett von ihm«, sagte Lex, während er sich fragte, was für den Cafébesitzer dabei heraussprang. Erwartete er eine Bezahlung? »Alter, er ist nicht nett. Er will nur keinen Ärger bekommen, und er erkennt belastende Beweise, wenn er sie sieht, weil er selbst einige Erfahrung damit hat, wenn du weißt, was ich meine.« DeadMan hatte seinen Stuhl gedreht und sah Lex viel sagend an. »Ich schätze, wir alle haben Erfahrung mit belastenden Beweisen«, erwiderte er. Oh ja, das hatten sie. Doch die Zahl seiner Haftbefehle war nicht leicht zu schlagen. Die Zahl der Verurteilungen stand dazu allerdings in keinem Verhältnis. Es hatte schon Vorteile, einen Vater mit Freunden bei den Behörden zu haben. Einen Vater mit Einfluss. Einen Vater, der vielleicht tot war. Lex kauerte hinter Terrors Stuhl nieder. Das Stehen hatte ihn müde gemacht. Die Tatsache, dass er seit über sechsunddreißig Stunden auf den Beinen war, forderte allmählich ihren Tribut. »Mal sehen, was dein Freund unter einem merkwürdigen Kerl versteht«, sagte er. Terror öffnete die Anhänge. Die ersten Fotos waren aus zu großer Nähe aufgenommen worden, genau wie der Cafébesitzer angekündigt hatte. Lediglich eine einzelne Augenbraue und ein paar Poren waren auszumachen. Die anderen Fotos, die am Ladentisch geschossen worden waren, zeigten einen breitschultrigen Mann mit Hut und einem Bart, der echt sein konnte oder auch nicht. Sein Flanellhemd, die ziemlich schmutzige Jeans und die Arbeitsstiefel verrieten seine Herkunft vom Land. »Wow«, machte DeadMan. »Proletenalarm!« »Kein Wunder, dass er den Kerl nicht in seinem Laden haben wollte«, sagte Aces, der Terror über die Schulter sah. »Warum?«, hakte Lex nach. 137
»Er vertreibt die Stammgäste. Dieser Kerl sieht nicht so aus, als würde er an seine Großmutter schreiben. Mit so jemandem macht ein anständiges Café keine Werbung«, erklärte Terror. »Willst du damit sagen, wenn er so ausgesehen hätte wie einer von euch, wäre er niemand aufgefallen?«, fragte Lex. »Verdammt richtig«, nickte DeadMan. »Farmer betreten derartige Läden nur, wenn sie nicht wollen, dass ihr Pfarrer mitbekommt, was sie treiben. Es geht dabei entweder um Bomben oder Kinderpornos.« Lex nickte. Er stand auf. Seine Knie knackten. »Für mich ist es jedenfalls ein Glücksfall, dass er so aufgefallen ist. Kannst du mir ein paar dieser Fotos ausdrucken?« »Bin schon dabei«, sagte Terror. »Ich dachte mir, dass du sie haben willst.« »Unsere Sachen sind übrigens nicht gekennzeichnet«, erklärte Brodsky. »Deine FBI-Kumpel werden hier also nichts finden.« »Sie werden hier nicht einmal suchen«, entgegnete Lex. »Warum, glaubst du, bin ich zu euch gekommen?« Brodsky nickte. »Gib mir noch eine Stunde. Dann haben wir die Bilder analysiert. Ich bin sicher, dass wir dann mehr Informationen für dich haben.« Lex nahm die Fotos, die Terror ihm reichte, entgegen. »Was wir bis jetzt haben, ist schon mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Sag deinem Freund im Café, dass ich einen FBI-Mann in Zivil zu ihm schicken werde. Er wird ihm seine Marke zeigen – diskret. Vielleicht helfen uns die Fingerabdrücke weiter.« »Sofern der Kerl vorbestraft ist«, gab Brodsky zu bedenken. »So erfolgreich, wie diese Nachforschungen bisher gelaufen sind«, erwiderte Lex, »würde es mich wundern, wenn es nicht so wäre.« Chloe hätte Pete am liebsten geküsst. Wenn es darauf ankam, konnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Als die 138
Taucher eintrafen, hatte er Detective Roberts von ihr abgelenkt, sodass sie zum Sumpf zurückschleichen und sie bei der Arbeit fotografieren konnte. Sie hatte bereits mehrere gute Aufnahmen gemacht. Ihre Schuhe waren voller Wasser, sie hatte Schlamm zwischen den Zehen und ihre Füße waren fast erfroren, während sie sonst am ganzen Körper glühte, aber es kümmerte sie nicht. Sie würde sich diese Story nicht entgehen lassen. Sie hatte bereits einen Ordner mit Zeitungsausschnitten, der dick genug war, um sich beim Daily Planet für ein Sommerpraktikum zu bewerben. Geistesabwesend schlug sie nach einem Moskito und beobachtete, wie die Taucher erneut ins Wasser gingen. Diese Story wäre eine ausgezeichnete Probe für ihre Bewerbungsmappe. Besser als die ganzen Artikel über die Auswirkungen von Meteoriten, Fleisch fressenden Pflanzen und verrückten Wissenschaftlern, die sich eher für ein Praktikum bei einem der Revolverblätter als bei einer angesehenen Zeitung wie dem Planet eigneten. Aber sie fühlte sich schuldig, weil sie so auf ihren Vorteil bedacht war. Gleichzeitig fühlte sie eine tiefe Traurigkeit, und ein Großteil ihrer Entschlossenheit, diese Story zu bringen, entstammte diesem Gefühl und ihrer Freundschaft zu Danny. Er war ein netter Kerl gewesen, und sie hatte in der letzten Zeit bemerkt, dass es ihm nicht gut ging. Sie hatte nur nichts dagegen getan. Obwohl sie die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Danny hatte sie gebeten, über Mr. Franklins Kündigung zu berichten. Das Gespräch war ihr in der letzten Nacht, als sie kaum geschlafen hatte, immer wieder durch den Kopf gegangen. »Danny, es tut mir Leid, dass dein Dad gefeuert wurde. Aber solche Dinge passieren. Sie gehören in die Wirtschaftspresse, nicht in die Fackel. Wenn du willst, werde ich einen Artikel darüber bringen, doch das wird nichts ändern.« 139
»Chloe, es wurden noch ganz gezielt andere Mitarbeiter gefeuert. Nicht nur mein Dad, sondern andere Leute, Leute, die endlich eine zweite Chance bekommen hatten.« »Es tut mir Leid, Danny. Es werden ständig Leute entlassen. Das klingt vielleicht hart, aber so ist es nun mal. Darüber schreibt man keinen Bericht.« Was sie meinte, war, dass es für sie nicht interessant genug war. Es beschleunigte weder ihren Puls, noch wurde sie davon gefesselt. Sie wollte keine Reporterin werden, die über die Sitzungen des Stadtrates und Kündigungen und andere banale Dinge berichtete. Im Nachhinein bedauerte sie es. Sie hatte Danny nicht einmal richtig zugehört. Wenn sie mit seinem Vater gesprochen hätte, wäre alles vielleicht anders gekommen. Womöglich hätte sie sogar noch etwas anderes herausgefunden, etwas, das die schrecklichen Vorfälle verhindert hätte. Der Kopf eines Tauchers durchbrach die Wasseroberfläche. An seiner Tauchermaske hingen Pflanzenreste. Er schien sie nicht zu bemerken. Er winkte dem zweiten Taucher zu und verschwand dann wieder in der Tiefe. »Haben sie etwas gefunden?« Clark war hinter sie getreten. Chloe fuhr nicht zusammen, aber ihr Herzschlag beschleunigte sich. Clark hatte die Fähigkeit, sich so lautlos wie eine Katze zu bewegen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Sie sind wieder getaucht. Diesmal schien es dringend zu sein.« Clark nickte. Er wirkte bedrückt. Vielleicht weil Lana so unglücklich war. Chloe hatte nicht gewusst, wie nahe Lana Danny gestanden hatte; Clark offenbar auch nicht. Chloe sah über ihre Schulter, aber sie konnte das Dickicht nicht durchdringen, das den Sumpf umgab. Lana war mit Pete ein Stück weiter hinten geblieben. Sie sprach gerade mit Detective Davies. Detective Roberts stand am Wasser und blickte verärgert drein. 140
»Was ist los?«, fragte Clark. »Weißt du«, erwiderte Chloe bedächtig, »Danny ist letzte Woche mit einer Bitte zu mir gekommen, die ich ihm abgeschlagen habe. Jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht getan.« »Was war das?« »Er hat mir von den Kündigungen erzählt. Er sagte, es wurden noch gezielt andere Leute entlassen, die so ihre zweite Chance verloren.« »Wie sein Dad?«, fragte Clark. Chloe runzelte die Stirn. »Das dachte ich, als er es erwähnte, und es tat mir Leid, aber ich wusste, dass ich nichts dagegen tun konnte. Ich meine, wir alle haben es erlebt. Die Kündigungen, die Veränderungen. Als die LuthorCorp hierher kam und die Buttermaisfabrik dichtmachte, haben eine Menge Leute ihre Jobs verloren.« Clark machte eine Handbewegung, als wollte er sie zum Schweigen bringen. »Pete ist nie darüber hinweggekommen. Seine Eltern hatten, als sie die Fabrik verkauften, eine Art Garantie von der LuthorCorp bekommen, dass die Mitarbeiter ihre Jobs behalten würden.« Chloe nickte. »Ich erinnere mich. Pete hat es oft genug erzählt. Aber die LuthorCorp eröffnete eine völlig neue Fabrik, sodass die Vereinbarung nicht mehr galt.« »Du denkst, dass sich Danny darauf bezog?« »Nein«, sagte Chloe. »Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Danny ist hier aufgewachsen, wie wir auch. Und ich weiß, dass er persönlich betroffen war, aber er ist vorher nie mit einer Idee für eine Story an mich herangetreten. Es war, als wäre da noch etwas anderes gewesen, etwas, das ihm Sorgen machte.« »Die Kündigungen.« Clark seufzte, blickte an ihr vorbei und starrte auf die Stelle, an der die Taucher verschwunden waren. Er schien mehr zu sehen als alle anderen. 141
»Was ist?«, fragte Chloe. »Lex«, antwortete er. »Er war mit den Kündigungen nicht einverstanden. Sein Vater hatte sie angeordnet, und Lex war ziemlich wütend darüber. Er sagte, wenn sein Vater wolle, dass er die Fabrik leite, dann solle er sie ihn auf seine Weise leiten lassen.« »Das war nicht das erste Mal, dass sich sein Vater eingemischt hat«, nickte Chloe. »Nein«, sagte Clark. »Und bei allen Auseinandersetzungen zwischen Lex und seinem Vater ging es um das Verhältnis zu den Mitarbeitern.« Beide Taucher durchbrachen wieder die Wasseroberfläche. Einer von ihnen schwamm zu der Eiche hinüber. Der Sumpf musste dort sehr tief sein. Chloe war froh, dass sie nicht versucht hatte, zu dieser Stelle zu gelangen. Sie hätte sich mehr als nur die Füße nass gemacht. Der Taucher sprach mit Roberts, der fortwährend nickte. »Ich habe versucht, Lex anzurufen, aber ich habe ihn nicht erreicht«, sagte Clark. »Hast du es in Metropolis versucht?« Clark schüttelte den Kopf. »Ich schätze, er hat genug zu tun, auch ohne dass seine Freunde ihn alle fünfzehn Minuten anrufen. Ich habe eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen, dass er sich jederzeit bei mir melden kann, wenn er mich braucht, aber ich bezweifle, dass er es tun wird.« »Selbst wenn er es tut, willst du ihn in seiner derzeitigen Situation bestimmt nicht nach den Kündigungen fragen.« Chloe kannte Clark gut genug, um zu wissen, dass er so dachte. Sie selbst hätte damit keine Schwierigkeiten gehabt, aber sie war auch kein sehr taktvoller Mensch. Ihre direkte Art gehörte zu den Eigenschaften, die ihrer Ansicht nach eine gute Reporterin ausmachten.
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»Findest du es nicht auch seltsam«, fuhr Clark bedächtig fort, »dass Lex’ Dad an demselben Tag entführt wurde, an dem wir Dannys Leiche entdeckt haben?« »Habe ich doch schon gesagt.« Die Antwort kam schnell. »Aber es werden ständig Verbrechen verübt, Clark. Ungewöhnlich ist nur, dass wir zufällig die Leute kennen, die darin verwickelt sind.« »Hm, stimmt.« Er klang nicht sehr überzeugt. »Ich dachte, du glaubst nicht an Zufälle«, fügte er dann hinzu. Chloe biss sich auf die Unterlippe. Aber ihr wurde eine Antwort erspart. Die Taucher kamen aus dem Wasser und schleppten etwas ans Ufer. Sie griff nach ihrer Kamera und richtete das Teleobjektiv auf die Szene bei der Eiche. Nun konnte sie es sehen: Die Taucher trugen eine Leiche – die Leiche einer Frau. Chloe konnte es an den langen, herunterhängenden Haaren erkennen. Die Leiche war von braunem Schlamm bedeckt. »Es ist Bonnie«, sagte Clark. Chloe fragte sich, wie er das erkennen konnte. Er war genauso weit entfernt wie sie, und ihm stand kein Teleobjektiv zur Verfügung. Aber er hatte Recht. Sie wusste schon, dass er Recht hatte, als er es aussprach. Sie sah durch das Objektiv Bonnies Profil, das Gesicht bleich und starr. Chloe schoss wie in Trance ein paar Fotos. Sie machte ein paar ziemlich gute Aufnahmen von den Tauchern, die die Leiche ans Ufer schleppten, und sie hoffte, dass Roberts den Film nicht konfiszieren würde. Sie musste ihn irgendwo verstecken, bevor er zu ihnen herüberkam. Fast so, als könnte er ihre Gedanken lesen, blickte Roberts in ihre Richtung. Er schien sie noch immer zu verdächtigen. Chloe war froh, dass Lana am Wagen geblieben war. Bonnies
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Tod und die Tatsache, dass Roberts ihnen nicht traute, hätten sie nur aufgeregt. Die Taucher legten die Leiche auf den Boden und gingen wieder ins Wasser. »Oh Gott«, keuchte Chloe. »Es sind noch mehr da?« »Vielleicht die ganze Familie«, sagte Clark leise. »Und ganz Smallville gibt Jed Franklin die Schuld an dem Verbrechen.« Chloe schüttelte den Kopf. Sie senkte einen Moment die Kamera. »Er könnte mit dem Rest der Familie dort unten liegen.« »Das wissen wir noch nicht, Chloe.« »Ich weiß«, nickte sie. »Je öfter das passiert, desto mehr zweifle ich an dem, was wir wissen.« Roberts kniete neben dem Gerichtsmediziner nieder, der zusammen mit den Tauchern eingetroffen war. Sie beugten sich über die Leiche und wirkten noch erschütterter als am Vortag. »Ich frage mich, was da los ist«, sagte Chloe. »Ich könnte hinübergehen und es herausfinden«, schlug Clark vor. Sie schüttelte den Kopf. »Wir werden es noch früh genug erfahren.« Clark warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Das passt gar nicht zu dir, Chloe.« Sie zuckte die Schultern. »Ich habe für so was nicht den Magen, schätze ich.« Wieder blickte er ihr forschend in die Augen, als könnte er in ihre Seele schauen. »Diese Story bewegt dich mehr als die anderen, habe ich Recht?« »Wie meinst du das?«, fragte sie. »Du kennst alle Beteiligten, und wir haben es hier mit einem Rätsel zu tun. Du bist zweimal am Tatort gewesen. Das ist deine Story, nicht die von jemand anderem. Du hast sogar den Daily Planet ausgestochen.« 144
»Sie sind an banalen Mordfällen nicht interessiert«, erwiderte Chloe. »Das ist kein banaler Mordfall«, sagte Clark. »Es steckt offenbar viel mehr dahinter. Und du hast ihn aufgedeckt.« Sie nickte. »Vielleicht hast du Recht.« »Enthüllungsjournalisten suchen nach guten Storys, Chloe, und diese ist dir einfach in den Schoß gefallen. Du musst am Ball bleiben und herausfinden, was passiert ist.« »Woher weißt du so viel über Enthüllungsjournalismus, Clark?«, fragte sie. Sie hatte vorher noch nie sein Interesse am Journalismus bemerkt, aber schließlich hielt Clark viele Seiten von sich verborgen. »Ich denke, es gibt nichts Wichtigeres als eine gute Journalistin, Chloe.« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Und du bist eine der besten.«
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12 BEI ANBRUCH DER DÄMMERUNG stellten die Taucher ihre Arbeit ein. Sie hatten den Grund des Sumpfes abgesucht und waren von oben bis unten mit Pflanzen und Schlamm bedeckt. Noch einmal setzte er seinen Röntgenblick ein, konnte dort unten aber nichts mehr finden, die gespaltene Eiche war zu weit weg. Als einer der Cops sich erbot, sie nach Hause zu fahren, nahmen Pete und Lana dankend an, doch Clark, der wusste, dass Chloe nicht von hier verschwinden würde, solange die Polizei noch da war, entschloss sich, bei ihr zu bleiben. Er grübelte immer noch darüber nach, was ihn dazu gebracht hatte, Chloe all das zu sagen. Es stimmte, dass er ihre Entschlossenheit bewunderte, ihre Bereitschaft, jeder wichtigen Story nachzugehen, über die sie stolperte. Und er wusste auch, dass sie ein ungewöhnlicher Mensch war, wie es ihn in der Schule und in Smallville selten gab. Allmählich dämmerte ihm, welch große Wirkung ein guter Journalist haben konnte. Chloe besaß die Art logischer Intelligenz, die jeder gute Reporter brauchte, und dazu kam, dass sie hervorragend schreiben konnte. Außerdem hatte sie eine Nase dafür, die Storys auszugraben, die die Leute verbergen wollten. Sie war es gewesen, die darauf gedrängt hatte, noch einmal hierher zu kommen. Er war nicht sicher, ob er es ohne sie getan hätte. Auf ihre Bitte hin steckte er den Film ein, als Roberts auf sie zukam. Auf diese Weise konnte sie ihm, wenn er sie fragte, ehrlich sagen, dass der Film, den sie ihm gab (hauptsächlich Fotos von Clark und dem Sumpf), der Einzige war, den sie hatte.
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Doch Roberts eilte wortlos an ihnen vorbei, was Chloe mehr als recht war. Sie hatte vor, einen der Taucher abzufangen, die gerade zu den Autos zurückkehrten. Der Gerichtsmediziner blieb bei der Eiche und kümmerte sich um die Leichen. Einige der Officers halfen ihm. Davies suchte offenbar die Umgebung nach Spuren ab, die sie vielleicht übersehen hatten. Der Taucher, den Chloe auserkoren hatte, näherte sich ihr, und Clark und nahm dabei seine Maske ab. Seine Haut war vom Druck der Maske gerötet. An seinem Kinn hingen noch immer Pflanzenreste und Algen. Er schien viel jünger zu sein, als Clark gedacht hatte. Clark fragte sich, ob er wirklich ein Police Officer oder nur jemand aus der Gegend war, der mit einem Sauerstoffgerät umgehen konnte und wusste, wie man unter Wasser suchte. Chloe eilte auf den Taucher zu, wobei sie bis zu den Knöcheln im Morast versank. »Entschuldigen Sie«, sprach sie ihn an. »Ich möchte Sie nicht belästigen, aber –« »Ich darf niemandem Auskunft geben«, unterbrach der Taucher sie sofort. Er klang erschöpft und heiser. »Ich weiß«, sagte Chloe. »Aber wir sind diejenigen –“ »Ihr seid diejenigen, vor denen ich gewarnt wurde«, fiel ihr der Taucher erneut ins Wort. »Der zuständige Detective sagte schon, dass ihr ganz schön neugierig seid.« Chloe straffte sich, reagierte aber nicht über, wie Clark es erwartet hatte. »Wir sind nicht neugierig«, erwiderte sie. »Clark hier ist derjenige, der Danny gefunden hat. Er ist ohne Maske und Taucherausrüstung in den Teich im oberen Teil der Farm gegangen und hat Danny herausgezogen.« Clark spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. Der Taucher hob den Kopf und sah an Chloe vorbei zu Clark hinüber. Der Gesichtsausdruck des Tauchers war undurchschaubar. Clark kam er verächtlich vor. »Du hast eine Leiche herausgezogen?«, fragte der Taucher. 147
»Ich dachte, er wäre vielleicht noch am Leben«, verteidigte sich Clark. Der Taucher nickte. »Ich habe das schon ein paar Mal gemacht. Es ist irgendwie ein Schock, wenn die Haut so kalt ist, nicht wahr?« »Und schleimig«, sagte Clark. »Das hat mich wirklich fertig gemacht.« »Hat sie sich bewegt? Ist sie über den Knochen gerutscht? Dieses Gefühl verfolgt mich manchmal bis in meine Träume.« Chloe schauderte. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch dann überlegte sie es sich anders. Clark streckte seine Hand aus. »Ich bin Clark Kent.« Der Taucher ergriff sie. »Mike Hawthorne. Ich bin bloß ein Freiwilliger. Lowell County hat nicht genug Geld, um einen fest angestellten Taucher bezahlen zu können. Wir suchen immer Leute mit Erfahrung.« »Ich bin noch nie getaucht«, entgegnete ihm Clark. »Ich könnte dich ausbilden. Allerdings ist das kein leichter Job.« Hawthorne klang müde. »Kann ich mir vorstellen«, sagte Clark. »Ich glaube, ich werde nie darüber hinwegkommen, Danny so gesehen zu haben.« »Er war ein Freund von euch?« »Ich kannte ihn fast mein ganzes Leben lang«, antwortete Clark. »Das ist hart.« Hawthorne ging an Chloe vorbei. Sie folgte ihm auf dem Fuß. »Aber ich kann nicht fassen, dass du geglaubt hast, er wäre noch am Leben. Nicht mit einem derart verletzten Schädel.« »Sein Schädel war nicht verletzt«, sagte Clark. »Er sah ziemlich normal aus – abgesehen von den Blutergüssen und der Hautfarbe.«
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Das Bild von Dannys bläulich weißer Haut tauchte wieder vor Clarks geistigem Auge auf, und er hatte Mühe, es zu verdrängen. »Normal? Ich hatte angenommen, die beiden anderen wären demselben Verbrechen wie die hier zum Opfer gefallen.« »Ich weiß es nicht, wir haben sie ja nicht richtig gesehen«, erwiderte Clark. »Das Einzige, was wir erkennen konnten, war, dass eine davon aus der Ferne wie Bonnie aussah.« Hawthorne nickte. »Sie und ihre Mutter. Beiden wurde in den Kopf geschossen.« »Geschossen?!«, rief Chloe und schlug dann die Hand vor den Mund. Hawthorne fuhr zusammen. Erst jetzt merkte er, dass sie ihm gefolgt war. »Ich habe schon zu viel gesagt.« »Danny wurde nicht erschossen«, sagte Clark. »Seine andere Schwester auch nicht.« Hawthorne sah zu der Eiche hinüber, wo sich der Gerichtsmediziner noch immer an den Leichen zu schaffen machte. Clark fragte sich, warum die Untersuchung so lange dauerte. Wahrscheinlich musste er einen vorläufigen Bericht anfertigen, bevor er sie in sein Labor schaffte. »Diese beiden wurden definitiv erschossen«, erklärte Hawthorne. »Die Eintrittswunde kann man manchmal übersehen, aber Austrittswunden wie diese...« Er verstummte und schüttelte dann den Kopf. Chloe blickte noch immer zu dem Baum hinüber. Clark kannte diesen Gesichtsausdruck. Sie wäre zu gern hingegangen, um die Leichen zu fotografieren. Aber sie wagte es nicht. Sie hatten sich schon genug Ärger eingehandelt. »Hört mal, ich habe euch nichts erzählt!«, sagte Hawthorne. »Ihr habt es nicht von mir gehört.« »Ich habe überhaupt nichts gehört«, versicherte Clark. »Aber vielen Dank, dass Sie mit uns geredet haben.«
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»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mir ein Vergnügen war. Wisst ihr, als ich mein Diplom bekam, habe ich mir nicht vorstellen können, eines Tages so etwas zu machen.« Mit diesen Worten trottete er davon und verschwand geduckt in der Öffnung im Unterholz. Chloe watete zu Clark hinüber. Er streckte die Hand aus und half ihr auf festeren Boden. Ihre Beine waren bis zu den Knien derart von Schlamm verschmiert, dass man nicht sagen konnte, ob sie Schuhe trug. »Erschossen«, sagte sie leise. »Ich kann es nicht fassen.« »Ich bin auch ziemlich überrascht«, nickte Clark. »Das beweist jedenfalls, dass es mehr als einen Mörder gegeben hat«, überlegte Chloe. »Es beweist nur, dass der Mord geplant worden ist.« Clark sprach gedämpft. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass Roberts hörte, worüber sie sprachen. »Ich verstehe das nicht, Clark. Wir haben zwei verschiedene Tatorte und dazu zwei verschiedene Tötungsmethoden. Das ist höchst ungewöhnlich.« Clark zog Chloe an sich heran. Sie zitterte. Er musste sie nach Hause bringen. »Ich bin kein Experte, Chloe. Aber es wäre möglich, dass Jed mit seinen Händen angefangen hat, möglicherweise sogar ungeplant. Daraufhin geht seine Frau oder Tochter mit einer Waffe auf ihn los, er entreißt sie ihr und erschießt die restlichen Mitglieder der Familie.« »Ich dachte, du glaubst nicht, dass Jed Franklin der Täter ist.« »Ich dachte, du glaubst das«, sagte Clark. »Ich dachte, du glaubst dasselbe wie ich«, konterte Chloe. Clark seufzte. »Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Ich weiß nur, dass eine ganze Familie ausgelöscht wurde.« »Bis auf den Vater.« »Der von Anfang an unter Verdacht stand.«
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»Definitiv wissen wir jetzt, dass Mrs. Franklin es nicht getan hat.« »Ja, das wissen wir.« Chloe sah an sich hinunter. »Mann, was für ein Schlamassel. Ich werde nicht nur zu spät, sondern auch völlig verdreckt zum Abendessen kommen.« »Hast du deine Eltern erreicht?« »Nein. Ich hab ihnen aber auf den Anrufbeantworter gesprochen«, sagte Chloe. »Hoffen wir nur, dass sie ihn abgehört haben, bevor Mom den Tisch gedeckt hat.« Clark nickte. Er hatte mit seiner Mom telefoniert, die ihn gedrängt hatte, nach Hause zu kommen. Aber er hatte ihr erklärt, dass er Chloe beistehen müsse, und das hatte seine Mutter sofort eingesehen. Das Sonnenlicht war schon längst aus diesem Teil des Waldes verschwunden. Im Sumpf wurde es schneller dunkel als an jedem anderen Ort. Einige Moskitos summten an ihm vorbei, ohne sich auf ihm niederzulassen. Sie hatten sich anscheinend alle auf Chloe gestürzt. Sie wischte sich mit der Hand über das Gesicht, wobei sie eine Schlammspur hinterließ. »Ich fühle mich total verdreckt und eklig«, sagte sie. Clark lächelte. »Du siehst gut aus.« Kopfschüttelnd trottete sie an ihm vorbei. Ihre Schuhe machten quatschende Geräusche. Die Moskitos verfolgten sie, als wäre sie die beste Mahlzeit, die sie seit Wochen aufgetan hatten. Pete wäre glücklich gewesen, wenn er das gesehen hätte. Clark musste sich beeilen, um sie einzuholen. Elegant glitt sie durch das Loch im Dornengebüsch, als würde sie das jeden Tag machen. Er folgte ihr, ohne dass ihm die Ranken auch nur einen Kratzer zufügten. Er war froh, den Sumpf und mit ihm das Gefühl des Verlustes und der Traurigkeit hinter sich zu lassen. Doch er wusste, dass es nicht ganz verschwinden würde. 151
Wer auch immer die Leichen hier versteckt hatte, hätte sich keinen besseren Ort aussuchen können. Dieser Fall verängstigte ihn zutiefst. Irgendwie passte nichts zusammen. Zwei Opfer waren erschossen worden, die anderen beide erwürgt. Zwei waren in einen Teich geworfen worden, der leicht zu sehen war, und zwei in einen Sumpf, von dem nur die Familie wusste. Das Haus war verwüstet worden, der Truck war verschwunden und ein Familienmitglied wurde noch immer vermisst. Nichts davon ergab Sinn. Als Clark aus dem Dickicht trat, stieß er fast mit Chloe zusammen. Sie stand direkt vor der Öffnung. Deputy Davies war an ihrer Seite. »Ich wusste nicht, dass du noch immer hier bist«, sagte Davies gerade zu ihr. Clark richtete sich langsam hinter ihr auf. Davies sah ihn an. »Dass ihr beide hier seid«, fügte er trocken hinzu. »Wir wollten wissen, was passiert ist«, erwiderte Chloe. »Wisst ihr es jetzt?«, fragte Davies zurück. Chloe schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht für Clark sprechen, aber ich bin verwirrter denn je.« »Wir können erst genaue Angaben machen, wenn der gerichtsmedizinische Bericht vorliegt«, erklärte Davies. »Im Moment gibt es zu viele Unklarheiten.« »Die alle mit Jed Franklin zu tun haben?«, fragte Clark schnell. Chloe warf ihm einen zustimmenden Seitenblick zu. Offenbar war das die Frage, die sie selbst gestellt hätte, wenn Clark ihr nicht zuvorgekommen wäre. »Offen gesagt würde es mich nicht überraschen, wenn wir die Leiche im umliegenden Wald finden würden – oder in seinem Truck, der irgendwo in der Nähe abgestellt ist«, antwortete Davies. 152
»Sie gehen also davon aus, dass auch er ermordet wurde?«, hakte Chloe nach. »Erschossen, oder?«, fragte Clark. »Genau«, nickte Davies. »Wir werden das umliegende Gebiet heute Nacht gründlich durchkämmen. Wir sind euch zu großem Dank verpflichtet.« »Detective Roberts denkt darüber anders«, sagte Chloe. »Er hat von Anfang an den Eindruck erweckt, als würde er uns verdächtigen.« »Ihr scheidet aus«, erwiderte Davies. Clark blickte überrascht auf. Chloe war schon einen Schritt weiter. »Sie haben uns überprüft?« »Natürlich haben wir das getan«, bestätigte Davies. »Alibis, Schulunterlagen, alles. Das gehört zu unserer Routinearbeit.« »Und wir stehen nicht mehr unter Verdacht«, stellte Clark fest. »Ja, wegen eurer Alibis und eurer persönlichen Eigenschaften.« Davies grinste Chloe an. »Ich glaube, Direktor Kwan sagte, dass du ›hartnäckig‹ bist, wenn du eine Story witterst, und deine Freunde würden dir immer dabei helfen, an diese Story zu kommen.« »So viel zu Direktor Kwan«, murmelte Chloe. »Hmm?«, machte Davies. Chloe schüttelte den Kopf. »Wir werden also keinen Ärger mit Roberts bekommen?« »Ich denke nicht, dass diese Gefahr je bestanden hat.« Davies sah sich suchend nach Roberts um. Mehrere Streifenwagen waren auf dem Hof eingetroffen. Eine ganze Armee Deputys, viele in Uniform, machte sich auf den Weg in den Wald. Clark konnte Roberts nicht entdecken, aber das bedeutete nichts. Der Mann hatte die Fähigkeit, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen. »Dann verstehe ich nicht, warum er so unfreundlich zu uns ist«, sagte Chloe. 153
Davies starrte sie überrascht an. »Unfreundlich?« »Er hat uns von Anfang an nicht geglaubt. Er hat uns alle möglichen Dinge vorgeworfen, und heute Nachmittag, als wir den Sumpf fanden, war er richtig wütend.« Davies steckte die Hände in die Taschen. Clark trat einen Schritt näher zu Chloe. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, ihr den Rücken stärken zu müssen. »Er ist nicht unfreundlich«, sagte Davies nach einem Moment des Nachdenkens. »Er ist nur frustriert und wahrscheinlich wütend auf sich selbst.« »Warum?«, fragte Clark. »Er war derjenige, der letzte Woche nach Franklins Verhaftung die Akte bekam. Er sollte der Sache nachgehen. Aber er hat es nicht getan.« Clark spürte, wie sich Chloe anspannte. »Franklin wurde letzte Woche verhaftet? Wie kommt es, dass das nicht bekannt gegeben wurde?« »Das wurde es.« Davies lächelte andeutungsweise. »In der Mitteilung, die die meisten Reporter ignorieren, dem wöchentlichen Verhaftungsbericht. Er findet selten seinen Weg in die Großstadtzeitungen.« »Bekommt die Fackel ihn?«, fragte Clark. »Nein«, sagte Chloe. »Die großen Zeitungen haben ihre Leute, die im Polizeirevier nachsehen oder sich eine Kopie machen oder so. Aber wir haben niemanden dafür. Nur mich.« Clark wusste, was sie für sich behielt: Normalerweise hielt sie Dinge wie Polizeireviere und Stadtratberichte für unter ihrer Würde. »Warum wurde er verhaftet?«, fragte Chloe. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Davies. »Ruhestörung, Trunkenheit und Sachbeschädigung, irgendetwas in der Art.« »Aber mit so etwas würde sich doch ein Detective nicht befassen, oder?«, fragte Clark.
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Davies schüttelte den Kopf. »Einzelheiten kenne ich nicht. Ich würde euch ja raten, Roberts danach zu fragen, aber er ist im Moment auf dieses Thema nicht gut zu sprechen.« »Er gibt sich die Schuld an dieser Sache?«, fragte Clark. Davies nickte. »Hätte er sich um den Fall gekümmert, wäre vielleicht nichts passiert.« »Oder er wäre vielleicht auch tot«, sagte Chloe nüchtern. Sie legte eine Hand auf Clarks Arm. »Komm, Clark. Der Schlamm trocknet so langsam, und ich befürchte, bald werde ich meine Beine nicht mehr bewegen können.« »Soll ich fahren?«, fragte er besorgt. »Nein, ich bin okay«, sagte sie und wandte sich zum Wagen. Clark wandte sich nochmals an Davies. »Danke, dass Sie mit uns gesprochen haben.« Davies nickte und sah an Clark vorbei zum Farmhaus hinüber. »Ich dachte, dass wir euch etwas schulden«, erwiderte Davies. »Wir hätten uns noch lange über das Schicksal der Frau und der Schwester den Kopf zerbrochen, wenn ihr uns nicht auf die richtige Spur gebracht hättet. Dieses Mal werden wir gründlicher suchen. Dafür sorge ich höchstpersönlich.« Clark nickte ihm zu und ging dann zur Beifahrerseite des Wagens. Als er einstieg, bemerkte er, dass er ebenfalls überall Schlamm hängen hatte. Er wischte ihn ab und verstreute ihn dabei über den Sitz und Boden. »Tut mir Leid, dass ich deinen Wagen dreckig mache«, sagte er zu Chloe. Aber sie starrte ihn nur an und gab keinen Ton von sich. »Es hat seit fast vier Tagen nicht mehr geregnet«, sagte sie nach einer langen Pause. »Und?«, fragte Clark. »Letzte Woche hat es geregnet. Stell dir vor, wie schlammig der Sumpf danach war.« »Und wie schlammbedeckt der Mörder gewesen sein muss«, fügte er hinzu. 155
Sie nickte, ließ dann den Motor an und schaltete in den ersten Gang. Sie drehte auf dem kiesbestreuten Wendekreis und fuhr zur Straße. »Ich dachte, du wolltest nicht mehr so schnell fahren«, bemerkte Clark. »Das war, bevor ich neue Informationen hatte.« Chloe grinste ihn an. »Wir werden diesen Fall vielleicht doch lösen.«
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13 DIE NACHT HATTE SICH über Metropolis gesenkt, aber in der Stadt wurde es niemals dunkel. Die Straßenlaternen, Neonschilder und Schaufenster ließen die gesamte Stadt in einem inneren Glanz erstrahlen. Lex hatte ganz vergessen, wie die Nächte in der Stadt waren, hatte vergessen, wie sie ihn lockten, das Haus zu verlassen, seine Sorgen im Alkohol zu ertränken, mit Frauen zu flirten, die er nie zuvor gesehen hatte, und irgendwelchen Unsinn anzustellen, nur um seinen Vater zu reizen. Sein Vater. Lex wandte sich von der Fensterfront im Büro seines Vaters ab. Er hatte den ganzen Tag nichts von den Entführern gehört, und das machte Lex Angst. Wie die FBIAgenten ihm gesagt hatten, hielten sich die Entführer nicht an das Drehbuch – und jede Abweichung davon ließ für Lionel Luthor nichts Gutes ahnen. Die ganze Sache war natürlich für die Medien ein gefundenes Fressen. Die Bannerschlagzeilen rund um den Platz, der nur ein paar Blocks entfernt war, verkündeten in großen roten Buchstaben: ENTFÜHRER SCHWEIGEN... AUFENTHALTSORT VON FINANZIER LIONEL LUTHOR WEITERHIN UNBEKANNT. Auf der Titelseite des Daily Planet prangte groß das Foto seines Vater, begleitet von der Aufforderung an die Leser, jeden noch so kleinen Hinweis zu melden. Andere Zeitungen waren diesem Beispiel gefolgt, und die lokalen Nachrichtenkanäle strahlten das digitale Video aus, seit die Polizei oder das FBI es ihnen zugespielt hatte. Lex war nicht glücklich darüber. Er hatte vermeiden wollen, dass die Presse über diesen Fall berichtete, und jetzt war er die Hauptstory des Tages.
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Zusammen mit dem Absturz der LuthorCorp-Aktien. Der Kurs war erneut dramatisch gefallen, ohne dass Lex oder der Aufsichtsrat etwas dagegen tun konnten. Wenn das so weiterging, würde Lionel Luthor kein Unternehmen mehr haben, wenn er zurückkehrte. Falls er zurückkehrte! Lex drehte sich um und erstarrte. Vor seinem Schreibtisch stand ein Mann. Er hatte sich nicht im Glas gespiegelt; einen Moment lang glaubte Lex fast, einen Vampir vor sich zu haben. Aber dann sah er, dass sich das Spiegelbild des Mannes an der anderen Fensterfront zeigte. Er stand genau hinter Lex, sodass dieser ihn verdeckt hatte. Nicht schlecht. Lex war beeindruckt. »Wer hat sie hereingelassen?«, fragte er. »Die Sekretärin.« Der Mann hatte einen Boston-Akzent. Lex konnte nicht sagen, ob er echt oder falsch war. Die Haare des Mannes waren vorne kurz und an den Ohren lang, und er trug einen konservativen schwarzen Anzug, der aus den frühen Sechzigern hätte stammen können. Selbst seine Krawatte war altmodisch: Zu lang und zu schmal. »Nun«, sagte Lex, »dann hat sie einen Fehler gemacht. Niemand darf diesen Raum betreten.« »Nicht einmal Sie, nicht wahr, Lex?« Lex blickte ihn drohend an. Normalerweise waren die Leute daraufhin eingeschüchtert. Diesen Kerl schien es nicht zu stören. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.« Der Mann trat einen Schritt vor und streckte seine Hand aus. »Reginald Dewitt. Ich bin der verantwortliche FBI-Agent für den Fall Ihres Vaters.« Lex blickte auf die ausgestreckte Hand. Sie war manikürt, mit sorgfältig geschnittenen und gepflegten Nägeln. Er entsprach nicht den üblichen Vorstellungen von einem FBI158
Agenten, aber Lex wusste, dass in Metropolis alles anders war als sonst wo, warum also nicht auch die FBI-Agenten. Man zeigte hier in den oberen Rängen gern, dass man es geschafft hatte. Genau wie dieser Kerl. »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«, fragte Lex. Dewitt starrte Lex einen Moment an, dann zog er seine Hand zurück. Er griff in die Tasche seines Anzugs und brachte eine goldene Karte mit dem FBI-Logo zum Vorschein. Lex nahm es, musterte es und widerstand dem Drang, darauf zu beißen, wie die Leute in den Filmen es machten, um festzustellen, ob das Gold echt war. Er hatte in der Vergangenheit eine Menge FBI-Marken gesehen. Die hier war in Ordnung. Er wünschte fast, sie wäre es nicht. »Wie kommt es, dass wir uns gestern nicht gesehen haben?«, fragte Lex. »Gestern war ich in London«, antwortete Dewitt. »Dann haben Sie gestern schon mal nicht am Fall meines Vaters gearbeitet.« Lex gab ihm die Marke zurück. »Ob Sie’s nun glauben oder nicht, wir haben noch andere Dinge zu tun.« »Oh doch, das glaube ich Ihnen.« Lex trat hinter den Schreibtisch seines Vaters, um sich zu vergewissern, dass die Schubladen geschlossen waren und auf dem Bildschirm des Computers keine vertraulichen Dinge zu sehen waren. »Ich frage mich nur, warum man Sie von Ihrem Posten abberufen hat, statt den Fall den Agenten zu überlassen, die ihn von Anfang an bearbeitet haben.« »Ich habe mehr Erfahrung mit solch heiklen Angelegenheiten«, erklärte Dewitt. »Eine Menge Leute sind wegen der Entführung Ihres Vaters besorgt.« »Wer hat Sie angefordert?«, fragte Lex. »Denn ich weiß verdammt noch mal genau, dass ich es nicht getan habe.« 159
»Wenn man Ihre Erfahrung mit der Polizei bedenkt, ist das keine Überraschung.« Dewitt ließ sich nicht einschüchtern. Beeindruckend für jemanden, der einen altmodischen Designeranzug trug und seinen Gehaltsscheck von der Regierung bekam. »Ich habe momentan keine Zeit, mit jemandem Smalltalk zu halten«, knurrte Lex. »Werden Sie mir jetzt verraten, wer Sie angefordert hat, oder muss ich Sie von meinem Sicherheitsdienst hinauswerfen lassen?« »Sie werden den Sicherheitsdienst wahrscheinlich sowieso rufen«, sagte Dewitt. Lex griff nach dem Hörer. »Sagen wir einfach, einige sehr wichtige Leute haben in die LuthorCorp investiert und sind über das Debakel am Aktienmarkt in den letzten Tagen nicht besonders erfreut«, warf Dewitt ein. »Klingt so, als wären sie in Panik«, meinte Lex. »Wenn mein Vater zurückkehrt –« »Je länger die Entführer schweigen, desto geringer werden die Chancen, dass Ihr Vater diese Sache überlebt. Das wissen Sie so gut wie ich. Unsere Leute haben sich das Video und die Fotos angesehen. Wir haben herausgefunden, von wo das Fax abgeschickt wurde, und wir hoffen in Kürze zu wissen, woher die E-Mail kam. Wir werden diesen Fall lösen, Lex, und Ihren Vater auf die eine oder andere Weise befreien.« »Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?«, fragte Lex. Seine Stimme klang ruhig, aber er umklammerte den Rand des Schreibtischs so fest, dass seine Finger schmerzten. Er hatte all die Informationen, die das FBI erst allmählich sammelte, schon längst erhalten. »Ich sage Ihnen das«, erklärte Dewitt, »weil ich glaube, dass Sie ein Teil des Problems sein könnten.«
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Lex spürte, wie die Hitze in seine Wangen stieg. Er hätte gar nicht erst in das Büro seines Vaters kommen sollen. Er fühlte sich hier immer unterlegen. »Wie?« »Ich hörte, dass die Entführer eine bestimmte Summe Geldes von Ihnen verlangt haben. Doch bisher haben Sie nichts unternommen, um dieses Geld zusammenzubekommen.« »Ich dachte, man gibt Entführern nicht das, was sie wollen«, entgegnete ihm Lex. »Stimmt, aber man tut so als ob«, erwiderte Dewitt. »Meine Techniker sagten mir, dass diese Kerle einiges von Computern verstehen. Vielleicht sind sie in der Lage, die Konten der LuthorCorp zu überwachen und festzustellen, ob Sie das Lösegeld abheben. Sie haben heute nichts anderes getan als Bars zu besuchen, mit der Presse über die LuthorCorp zu reden und sich in Ihrem Büro zu verkriechen.« Lex spürte, wie Zorn in ihm hochstieg. Bars besuchen? Sie beschatteten ihn also, wussten aber offenbar nicht, was sich in den hinteren Räumen des Club Noir verbarg. Vielleicht dachten sie, dass Lex seinen eigenen Vater entführt hatte. Angesichts Lex’ Vorgeschichte war das gar nicht so weit hergeholt. »Möglicherweise habe ich Zugriff auf Gelder, von denen Sie und Ihre Leute nichts wissen«, sagte er. »Wir wissen eine Menge«, behauptete Dewitt. »Haben Sie schon die Fingerabdrücke überprüft? Die von dem Internet-Café, wo die E-Mail versendet wurde?« Dewitt fuhr zusammen. »Was wollen Sie damit – ?« »Heute Nachmittag haben wir einen Ihrer Leute in ein Internet-Café geschickt, das fünf Blocks von der Stelle entfernt ist, an der mein Vater entführt wurde. Der Besitzer hat uns eine Tastatur übergeben, die zum Versenden der E-Mail benutzt wurde. Ich weiß, dass Ihr Mann die Tastatur zurückgebracht hat. Ich weiß sogar, dass die Abdrücke genommen und an die
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FBI-Zentralkartei übermittelt wurden. Was ich nicht weiß ist, ob sie die Abdrücke identifizieren konnten.« Jetzt errötete Dewitt. »Niemand hat mir gesagt –“ »Natürlich nicht«, unterbrach Lex, »weil Sie sich in eine laufende Untersuchung einmischen. Hat Ihnen niemand gesagt, dass man das niemals tun sollte. Und deshalb will ich, dass Sie von hier verschwinden.« Dewitt starrte ihn stirnrunzelnd an. »Ich bin auf Befehl der – « »Und wenn Sie auf Befehl Gottes hier wären«, sagte Lex, »würde ich genauso entscheiden. Sie können gehen. Wir werden den Fall ohne Ihre Hilfe lösen.« Er schaltete die Gegensprechanlage ein. »Schicken Sie den Sicherheitsdienst herein. Er soll Mr. Dewitt aus dem Gebäude begleiten und dafür sorgen, dass er nie wieder Zutritt bekommt.« »Ja, Sir«, erwiderte die Sekretärin seines Dads. »Mr. Luthor, Sie werden das noch bereuen. Ich verfüge über Erfahrungen, die niemand sonst –“ »Mr. Luthor?«, fragte Lex. »Vor einem Moment sagten Sie noch Lex.« »Mein Fehler«, sagte Dewitt. »Sie werden meine Hilfe brauchen. Allein die finanziellen Angelegenheiten werden schwierig zu lösen sein, und das Team, das wir haben, ist zwar gut, aber diese Agenten haben noch nicht so viele derartige Fälle bearbeitet wie ich.« Lex hörte, wie sich die Außentüren des Büros öffneten. »Verraten Sie mir eins, Mr. Dewitt. Bei all den Fällen, die Sie bearbeitet haben – wie viele der Opfer sind lebend zurückgekehrt?« »Genug«, sagte Dewitt. »Wie viele?«, beharrte Lex. »Fünf«, gestand Dewitt. »Von?« 162
»Einhundert.« »Also hat man mir einen Mann mit einer Fehlerquote von 95 Prozent geschickt? Faszinierend. Vielleicht sollte ich eine Untersuchung gegen das FBI einleiten, um herauszufinden, ob es selbst hinter der Sache mit meinem Vater steckt.« »Mr. Luthor –« Die Türen des Büros öffneten sich. Zwei stämmige Sicherheitsleute, die Lex nicht kannte, kamen herein, gefolgt von Hensen, dem bis jetzt zuständigen FBI-Mann. Hensen funkelte Dewitt an, und Lex bemerkte den Hass in den Augen beider Männer. »Mr. Luthor«, startete Dewitt einen letzten Versuch, während er sich von Hensen und den Wachmännern abwandte, »keines der Unternehmen ist in irgendeiner Hinsicht finanziell geschädigt worden und nichts ist zur Presse durchgesickert. Bis zu diesem Tag wissen die meisten Menschen nicht, was tatsächlich passiert ist: Ich habe es besser als jeder andere Agent geschafft, Stillschweigen über die Situation zu bewahren und das involvierte Vermögen zu schützen.« Lex starrte ihn wieder drohend an. »Sie denken, dass das Vermögen für mich das Wichtigste ist?« »Sie rühren es nicht an. Es muss einen Grund dafür geben.« »Ich weiß, dass es keine Rolle spielt, ob man den Entführern gibt, was sie wollen, oder nicht. Die beste Lösung ist schnelle kriminalistische Arbeit, um herauszufinden, wo sich das Opfer aufhält, und ein Team hinzuschicken, um es zu befreien.« »Das funktioniert nicht, Mr. Luthor. In allen Fällen, in denen das Team zugegriffen hat, sind die Opfer gestorben.« »Dann hat das Team versagt.« Lex gab den Wachen einen Wink. »Schaffen Sie ihn hier raus.« »Mr. Luthor, ich bin nicht von Ihnen angefordert worden. Der Direktor des FBI persönlich hat mir diesen Fall anvertraut. Sie können nichts dagegen tun.« Dewitt gab nicht auf.
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Lex lächelte ihn kalt an. »Sie haben Recht. Ich kann Sie nicht von diesem Fall abziehen. Aber ich kann dafür sorgen, dass Sie keinen Zugang zu diesem Gebäude, meinen Leuten und jeder Information bekommen, die wir zuerst bekommen.« »Ich würde Ihnen davon abraten, sich mit –“ »Und ich habe klargemacht, was ich von Ihren Ratschlägen halte. Gentlemen, ich werde es nicht noch einmal sagen. Schaffen Sie ihn aus diesem Gebäude, oder ich werde jemand anderes finden, der Sie rausschmeißt.« Die Wachmänner packten Dewitt, der sie jedoch abschüttelte. Er funkelte Hensen an und wandte sich dann zur Tür. Ein letztes Mal sah er Lex an. »Sie werden –« »Es bereuen?« Lex zuckte mit den Schultern. »Das bezweifle ich. Ein Typ, der mich nicht in ein paar Minuten von seinen Fähigkeiten überzeugen kann, ist meine Zeit nicht wert, und er sollte auch nicht für diesen Fall zuständig sein.« Die Wachmänner drängten Dewitt aus dem Raum. Hensen wollte ihnen folgen. »Mr. Hensen?«, hielt ihn Lex zurück. »Irgendwelche Fortschritte?« »Sie kennen den Stand der Dinge, Sir.« Hensen schloss die Tür. »Ich habe Ihnen heute Nachmittag diese Fingerabdrücke gegeben«, erinnerte Lex. »Ja, Sir. Wir haben sie an die Zentralkartei weitergeleitet, aber es gibt eine lange Wartezeit –“ »Die Zeit haben wir nicht«, fuhr Lex ihn an. »Wenn sich der Direktor des FBI persönlich Sorgen um die LuthorCorp macht, sollte er in der Lage sein, diese Abdrücke vorrangig analysieren zu lassen.« »Ja, Sir, aber ich weiß nicht, ob ich da viel ausrichten kann. Nicht nach diesem Zwischenfall.« »Das müssen Sie auch nicht.« Lex sprach jetzt gefährlich ruhig. Das war typisch für ihn: Je wütender er wurde, desto 164
ruhiger wirkte er nach außen. »Wenn es sein muss, werde ich direkt mit Ihrem Boss reden.« »Ich werde es auf jeden Fall versuchen, Sir«, beeilte sich Hensen zu sagen. »Gut.« Lex setzte sich an den Schreibtisch seines Vaters. Der Sessel war unbequem – für seinen Vater konstruiert, nicht für ihn. Hensen wartete. »Das ist alles«, sagte Lex. Hensen ging und zog die Tür hinter sich zu. Lex legte eine Hand an die Stirn und schloss die Augen. Es war alles ein Bluff gewesen. Im Grunde hatte er keine Ahnung, was er da tat. Er wusste nur, dass er nicht in die Machtspiele irgendeiner Regierungsbehörde verwickelt werden wollte. Außerdem hätte Dewitt Lex nicht erlaubt, auf seine Art vorzugehen. Hensen ließ sich leichter manipulieren. Der Computerbildschirm vor ihm erwachte flackernd zum Leben. Er hatte seine E-Mails zu diesem Rechner umgeleitet, und jetzt blinkte ein Briefumschlag auf dem Monitor. Er klickte ihn an. Die E-Mail stammte von Brodsky. Zwar war kein Absender angegeben, doch in der Betreffzeile stand »Noir«. Es gab keine Nachricht, nur vier Bilddateien. Auf der ersten war ein Schwarzweißfoto von drei Männern, die vor der City Bank herumlungerten, zu sehen. Die Männer hielten Hüte in den Händen, zwei von ihnen hatten Spraydosen dabei. Alle trugen dichte Bärte, die ihre Gesichter halb verbargen. Der dritte Mann sah vertraut aus – und das nicht nur, weil er der Kerl aus dem Internet-Café war. Lex beschlich das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Die Männer waren weiß, kräftig und für die Hitze des Tages zu dick angezogen. Der dritte Mann blickte mit gerunzelter Stirn zur Straße. 165
Lex fragte sich, warum er die Fotos für so wichtig hielt – abgesehen von der Tatsache, dass Brodsky die Männer für die Entführer hielt. Wenn Brodsky dieses Foto hatte, dann hatten es auch andere. Es stammte vom Überwachungsvideo der Bank. Also musste auf diesen Aufnahmen irgendetwas anderes zu sehen sein, aber er konnte nichts entdecken. Er schloss die Datei in der Absicht, sie später noch einmal unter die Lupe zu nehmen, und öffnete die nächste. Dieses Foto stammte ebenfalls von dem Überwachungsvideo. Es zeigte einen funkelnagelneuen roten Truck mit einem KansasNummernschild, der vor einem der Gebäude auf der anderen Straßenseite parkte. Das Kennzeichen war verschwommen, trotzdem konnte Lex es teilweise entziffern. Das würde ihn weiterbringen. Danach widmete er sich dem dritten Foto. Es zeigte einen Teil des Vorhangs, der auf dem Standbild hinter seinem Vater zu sehen gewesen war. Eine Hand hing dort, als wäre sie versehentlich auf das Bild gelangt. Die Hand war braun, nur auf ihrem Rücken zeugte ein schmaler roter Streifen von einem Frühlingssonnenbrand. An einem Finger steckte ein schlichter goldener Ehering, zerkratzt und im Lauf der Zeit abgewetzt. Lex konnte auch damit nichts anfangen. Er würde darüber nachdenken müssen. Vielleicht würde die vierte Fotografie die Lösung liefern. Er öffnete die letzte Datei. Das Foto stammte von dem digitalen Video, das seinen bewusstlosen Vater zeigte. Das Ohr und die Schädeldecke seines Vaters waren unscharf im Vordergrund zu sehen. Im Hintergrund, scharf, war ein Fenster zu erkennen. Hinter dem Fenster Bäume. Nur Bäume. Sie hatten ihn also aufs Land geschafft. Lex betrachtete erneut die anderen Fotos. KansasNummernschild, Männer vor der Bank und diese sonnenverbrannte Hand. Sie musste jemandem gehören, der im 166
Freien arbeitete. Vielleicht auf seinem eigenen Stück Land. Wenn Lex das Kennzeichen des Trucks in Erfahrung bringen konnte, würde er die Männer finden. Er warf wieder einen Blick auf das erste Foto. Das war es. Nicht die Gesichter, sondern die Stiefel waren das Wichtige. Niemand trug Arbeitsstiefel in Metropolis. Nur Auswärtige und junge Männer, die ihre politische Gesinnung zur Schau stellen wollten. Diese Männer hier waren aber weder jung, noch ging es ihnen um diese Art von Statement. Sie waren hinter etwas anderem her. Es klopfte an der Tür. Lex seufzte und schaltete die Gegensprechanlage ein. »Ich möchte nicht gestört werden«, sagte er. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Hatte sich die Sekretärin etwa von ihrem Schreibtisch entfernt? Er seufzte und verspürte den Drang, sie zu feuern, aber dann musste er an seinen Vater denken. Dieser würde ihren Anblick bestimmt vermissen. Dann piepte die Gegensprechanlage. »Sir, Hensen möchte Sie wegen des Fingerabdrucks sprechen.« »Lassen Sie ihn herein«, sagte Lex kurz angebunden. Die Türen öffneten sich und Hensen kam herein. Lex musterte ihn diesmal eingehend. Hensens Anzug sah nicht gerade nach einer Edelmarke aus. Offensichtlich war er von der Stange, schlecht sitzend und braun. So etwas sah man in Metropolis selten. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand. »Sein Name ist Thomas Porter«, eröffnete Hensen das Gespräch. »Er ist schon als Jugendlicher auffällig geworden und hat bereits für eine Reihe von Verbrechen gesessen; allerdings sind die entsprechenden Jugendgerichtsakten nicht zugänglich. Als Erwachsener hat er mit Raubüberfällen angefangen, dann kamen bewaffnete Raubüberfälle hinzu. Anschließend spezialisierte er sich auf Hightechverbrechen, die 167
ihn auf unsere Beobachtungsliste brachten. Wir hatten keine Ahnung, dass er sich in Kansas niedergelassen hat. Als wir zum letzten Mal etwas von ihm hörten, vor zwei Jahren, hielt er sich in Florida auf.« »Haben Sie ein Verbrecherfoto?«, fragte Lex und streckte seine Hand aus. »Es sind mehrere«, antwortete Hensen und gab ihm das Blatt. Lex nahm das Blatt und betrachtete es eingehend. Fünf verschiedene Verbrecherfotos, alle aus verschiedenen Teilen des Landes und verschiedenen Jahren. Das neueste zeigte Porter mit einem Ziegenbart. Der Kerl sah einem der drei Männer vor der Bank ähnlich. Dann fiel Lex’ Blick auf das letzte Bild. Porters Blick war darauf so intensiv, dass Lex das Gefühl beschlich, er würde sich im Zimmer befinden. Lex hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Der Zorn, den er empfand, seit Dewitt in sein Büro eingedrungen war – seit sein Vater verschwunden war, um genau zu sein –, stieg wieder in ihm hoch. »Der Name dieses Mannes mag Thomas Porter sein«, sagte Lex ruhig. »Aber er hat unter dem Namen J. B. Bynes in der Smallviller Fabrik gearbeitet. Mein Vater hat mich vor drei Monaten angewiesen, ihn zu feuern.« ’ »Warum?«, fragte Hensen. Lex legte das Blatt auf den Schreibtisch seines Vaters. »Bynes hat die Arbeiter aufgewiegelt. Ich wollte ihn auf andere Weise zum Schweigen bringen, aber mein Vater glaubte, dass so jemand sofort hinausgeworfen werden sollte. Es war die erste in einer ganzen Reihe von Kündigungen.« »Die Kündigungen, wegen denen Sie sich mit Ihrem Vater gestritten haben.« Lex sah Hensen an. Der Mann wirkte nervös.
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»Glaubt denn jeder vom FBI, dass ich hinter der Entführung meines Vaters stecke?«, fragte Lex. Hensen holte tief Luft. »Ich denke das nicht, Sir.« »Aber Dewitt wurde deshalb mit dem Fall beauftragt.« »Ja, Sir.« Ein Punkt für Hensen. Zumindest log er nicht. Lex griff nach dem Computer, schaltete den Drucker ein und druckte die Fotos aus, die er vorhin erhalten hatte. Er gab sie Hensen. »Bynes ist eindeutig in die Sache verwickelt«, erklärte Lex. »Wir müssen ihn finden. Ich vermute, das da ist sein Truck. Den müssen wir ebenfalls aufspüren. Er war noch an diesem Morgen in Metropolis. Und wenn es wirklich der Mann ist, den ich entlassen habe, dann gehört er nicht zu der vertrauensseligen Sorte. Er wird in der Nähe meines Vaters bleiben, um ihn und seine Wachen im Auge zu behalten.« »Meinen Sie, sie haben sich in der Stadt versteckt?«, fragte Hensen. »Nein. Das wäre zu riskant.« Lex wollte Hensen vorerst nicht erzählen, dass sein Vater aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Land gefangen gehalten wurde. »Wir sollten zuerst die ländlichen Gegenden überprüfen. Setzen Sie einen Hubschrauber ein. Vielleicht können Sie den Truck so ausfindig machen. Am besten, Sie fangen in dem Gebiet zwischen Smallville und Metropolis an.« »Sie glauben, dass er diese Entführung von langer Hand vorbereitet hat?« »Ich glaube es nicht, Hensen«, erwiderte Lex. »Ich weiß es. Er wäre erst gar nicht nach Smallville gekommen, wenn es nicht so wäre. All seine Pläne müssen sich auf dieses Gebiet konzentriert haben. Wir werden uns deshalb ebenfalls darauf konzentrieren.« Hensen nickte. Er nahm die Fotos und verließ das Büro, ohne darauf zu warten, dass er von Lex entlassen wurde. 169
Lex lehnte sich in seinem Sessel zurück. Sein Magen zog sich zusammen. Er kannte diesen Mann, hatte ihn vor seinem Vater sogar verteidigt und überlegt, ihm einen anderen Posten anzubieten, denn er hatte erkannt, dass Potenzial in ihm steckte. Vielleicht wäre nichts von alldem passiert, wenn er sich dazu durchgerungen hätte. Vielleicht. Aber es hatte keinen Sinn zurückzublicken. Sie hatten einen Namen, sie hatten ein Gesicht, und sie hatten vielleicht sogar ein Motiv. Jetzt mussten sie nur noch J. B. Bynes und seinen Schlupfwinkel finden. Es gab eine Menge Land zwischen Metropolis und Smallville – nicht nur kultiviertes Farmland. Bynes war gerissen. Das Versteck würde sicher schwer zu finden sein. Aber das war es nicht, was Lex am meisten Sorgen bereitete. Bynes’ – oder Porters – Verbrecherakte war es, die ihm Angst machte. Die kriminellen Aktivitäten des Mannes hatten sich im Lauf seines Lebens ausgeweitet. Von bewaffnetem Raubüberfall zu Mord war kein großer Schritt mehr. Und Lex hatte den Verdacht, dass dies die Richtung war, in die zu gehen sich J. B. Bynes entschlossen hatte.
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14 DIE LICHTER IM FACKEL-BÜRO waren gedämpft. Chloe, die an einem der Computer saß, nahm eine Hand voll M&M’s aus der Tüte und aß sie mit sichtlichem Genuss. Sie hatte die Jalousien geschlossen, damit niemand hereinsehen konnte. Clark würde sie für verrückt erklären, wenn er wüsste, dass sie hier war, aber sie hatte das Gefühl, die Zeit drängte. Vielleicht waren es aber auch nur ihre Schuldgefühle, die sie antrieben. Sie hatte weit mehr mit Roberts gemeinsam, als sie zugeben wollte. Hätte sie auf Danny gehört, wäre all das vielleicht nicht passiert. Sie hatten beide die Signale übersehen. Sie fragte sich, wie oft Unglücke auf diese Art und Weise geschahen – wie viele Freunde oder Leute in den Behörden blickten zurück und fragten sich, ob sie etwas hätten verhindern können, wenn sie nur ein bisschen aufmerksamer gewesen wären. Ihre Hand zitterte leicht. Sie hatte schon viel zu viel Kaffee getrunken, und die Nacht hatte gerade erst begonnen. Es würde hart werden, die zweite Nacht in Folge ohne Schlaf zu verbringen, aber wenn sie diesen Fall löste, war es das wert. Sie war nach Hause gegangen, hatte eine Dusche genommen, das aufgewärmte Abendessen, das ihre Mutter für sie zur Seite gestellt hatte, hinuntergeschlungen, und war dann zurück ins Fackel-Büro geschlichen. Ihre Eltern glaubten, dass sie in ihrem Zimmer war und schlief, aber sie hatte wichtigere Dinge zu tun. Wenn sie bemerkten, dass sie fort war, würden sie wissen, wo sie sie finden konnten. Sie waren nicht begeistert davon, dass Chloe sich so sehr für ihre Arbeit bei der Fackel verausgabte, aber sie waren froh, dass sie sich zumindest nicht in die Art Schwierigkeiten
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stürzte, die Mädchen in ihrem Alter oft hatten – Jungs, Alkohol, Kleinkriminalität. Allerdings hätte sie nichts dagegen, sich mit Jungs einzulassen – mit einem bestimmten Jungen. Wenn Clark nur lange genug die Augen von Lana wenden würde, um zu erkennen, dass er und Chloe eine Menge gemeinsam hatten. Es hatte sie überrascht, dass er so viel über Enthüllungsjournalismus wusste – und auch, dass er Menschen bewunderte, die sich in diesem Metier auskannten. Ihre Wangen brannten noch immer, wenn sie daran dachte. Sie nippte an dem großen Pappbecher mit Kaffee, den sie auf der Fahrt ins Büro gekauft hatte. Zwar war er jetzt kalt, aber seinen Zweck, nämlich sie wach zu halten, erfüllte er trotzdem. Bisher hatte sie Festnahmeprotokolle, Internetdateien und alte Zeitungsartikel auf der Suche nach Informationen über Jed Franklin überprüft. Sie hatte einiges gefunden, was sie nicht erwartet hatte. Jed war in jungen Jahren mehrfach wegen Protestaktionen verhaftet worden – Proteste gegen Dinge wie geplante Atommüllendlager hier in Kansas und Aktivitäten der LuthorCorp außerhalb von Smallville. Das war jedoch lange bevor das Unternehmen die Buttermaisfabrik von Petes Vater gekauft hatte. Dann war Jed Franklins Vater gestorben, und Jed hatte die Farm geerbt. Er hatte das College aufgegeben, das Anwesen übernommen, die Teile stillgelegt, die keinen Ertrag brachten – wie der Sumpf –, und die Farm zu einem profitablen Unternehmen gemacht. Kurz darauf hatte er geheiratet, eine Familie gegründet und war, bis auf die Heirats- und Geburtsanzeigen, aus den Zeitungen verschwunden. Bis vor drei Monaten. Zu diesem Zeitpunkt war er von der LuthorCorp gekündigt worden. Er war der Ansicht gewesen, dass er und eine Gruppe anderer Mitarbeiter entlassen worden waren, weil sie mit einigen Gewerkschaftsvertretern über die 172
Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fabrik gesprochen hatten. Daraufhin beschuldigte er Lex Luthor, ihn belogen zu haben. Laut Franklin hatte Lex zunächst den Eindruck erweckt, dass er bereit war, über Veränderungen zu Gunsten der Mitarbeiter zu reden. Lex wollte zwar keine Gewerkschaftsvertreter in der Fabrik haben, doch er versprach zu tun, was er konnte, um die Mitarbeiter zufrieden zu stellen. Franklin war nach dem Gespräch voller Optimismus gewesen. Doch zwei Tage später erfuhr er, dass er und die anderen, die an dem Gespräch teilgenommen hatten – um genau zu sein, jeder, dessen Name in Verbindung mit möglichen Gewerkschaftsaktivitäten gefallen war – gekündigt worden waren. Die Kündigungen waren von der LuthorCorp-Zentrale in Metropolis ausgesprochen worden. Die Zeitungen – auch die Fackel – hatten darüber berichtet, und Chloe erinnerte sich, mit Lex darüber gesprochen zu haben. Er hatte ihr versichert, sich für diese Mitarbeiter einzusetzen, und angedeutet, dass es gegen das Gesetz war, jemanden zu feuern, nur weil er sich gewerkschaftlich betätigte. Aber als Chloe ihn das nächste Mal auf die Kündigungen angesprochen hatte, hatte Lex erklärt, dass sie nichts mit den gewerkschaftlichen Aktivitäten zu tun hatten, und ihr eine Nummer in Metropolis gegeben, die sie anrufen sollte. »Schreib in deiner Zeitung, dass es nicht meine Entscheidung war«, hatte er gesagt. »Mein Vater und ich haben in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Ansichten. Unglücklicherweise muss ich mich im Moment dem Wunsch meines Vaters fügen.« Genau das hatte sie geschrieben, und alle waren der Ansicht gewesen, dass Lex gelogen hatte. Aber als Lex mit ihr darüber gesprochen hatte, hatte es durchaus aufrichtig geklungen. Von Jed Franklin waren in der folgenden Zeit keine weiteren Interviews verzeichnet. Aber er war andauernd in den Bars der 173
Umgebung gesehen worden, wo er sich betrunken und darüber beschwert hatte, wie schnell man ohne Geld dastehen konnte. Zuerst hatte seine Farm die gesamten Ersparnisse verschlungen, und jetzt hatte er den Job verloren, den er angenommen hatte, um seine Farm zu retten. Zum Schluss wusste er nicht mehr, wie er für seine Familie sorgen sollte. Diese Fakten waren Teil eines Artikels gewesen, den der Daily Planet über Kündigungen veröffentlicht hatte – die nicht nur in der LuthorCorp, sondern im ganzen Staat, der unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten litt, vorgenommen wurden. Die meisten Leute klangen nicht so verbittert wie Franklin; sie schienen der Ansicht zu sein, dass sie einen anderen Job finden würden. Aber Franklin behauptete, dass die LuthorCorp es ihm unmöglich machte, einen anderen Job zu bekommen, weil sie allen Firmen, bei denen er sich bewarb, mitteilte, dass er ein Unruhestifter war und sie es sich zweimal überlegen sollten, ihn einzustellen. Chloe nippte wieder an ihrem Kaffee, aber der riesige Pappbecher zum Mitnehmen aus dem Talon war schon leer. Sie würde sich entweder in der kleinen Mikrowelle, die sie für das Fackel-Büro gekauft hatte, einen Instantkaffee machen oder auf schwarzen Tee umsteigen müssen. Irgendwie kam ihr schwarzer Tee für eine Reporterin nicht cool genug vor. Aber Instantkaffee klang auch nicht gerade verlockend. Sie blickte sich suchend um, fand ein paar alte Teebeutel und einen Porzellanbecher und erhitzte das Wasser für den Tee in der Mikrowelle. Dann trug sie den dampfenden Becher zurück zu ihrem Schreibtisch und las den letzten Zeitungsartikel, den sie gefunden hatte. Vor zwei Wochen hatte Franklin einen Schichtleiter der LuthorCorp in einer der örtlichen Bars angegriffen. Die Polizei wurde gerufen, aber der Schichtleiter lehnte es ab, Anzeige zu 174
erstatten. Einige Tage später war Franklin bei zwei verschiedenen Vorfällen wegen Trunkenheit und Ruhestörung angezeigt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er als einer der anständigsten Bürger von Smallville gegolten. Bei dieser Gelegenheit musste der Polizeichef Roberts den Franklin-Fall zugeteilt haben, vielleicht weil er glaubte, dass ein Körnchen Wahrheit in Franklins Behauptung steckte, dass die LuthorCorp versuchte, ihn auf die schwarze Liste zu setzen. Das war alles, was Chloe in den öffentlich zugänglichen Dateien gefunden hatte. Aber als sie vor zehn Tagen mit Danny gesprochen hatte, hatte sie sich hinterher ein paar Notizen gemacht, wie sie es oft tat. Vielleicht würde sie darin noch etwas entdecken. Sie gönnte sich noch ein paar M&M’s und nahm sich das Notizbuch jener Woche vor. Schon bald fand sie die Seite mit Dannys Kommentar. DF sagt, niemand versteht, was dort vorgeht. Er denkt, dass sein Dad den Job in der Fabrik wegen den zwei Kerlen verloren hat, mit denen er sich eingelassen hat. Danny mag sie nicht. Er meint, dass sie seinen Dad auf einen falschen Weg geführt haben. Danny denkt, dass die beiden Typen die Luthors zu der Auseinandersetzung provoziert haben, und dass etwas Größeres dahinter steckt, aber er will nicht sagen, was. Chloe blätterte weiter, aber das war alles gewesen. Auch den verzweifelten Ausdruck in Dannys Augen, als er mit ihr gesprochen hatte, hatte sie nur in ihrem Gedächtnis gespeichert. Sie sah ihn vor sich. Sein trauriges Gesicht, als sie ihn abgewimmelt hatte, weil Kündigungen einfach keinen Nachrichtenwert hatten, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört? Damals hatte sie angenommen, dass er sich auf die Kündigungen bezog, aber nun wurde ihr klar, dass es um etwas ganz anderes ging. 175
Sie sah weiter die Zeitungsartikel durch, doch Franklins Name war der Einzige, der in Zusammenhang mit den Kündigungen erwähnt wurde. Sie musste herausfinden, wer sonst noch entlassen worden war und von welchen Leuten Danny gesprochen hatte. Lex war in Metropolis und kümmerte sich um die Entführung seines Vaters, sodass sich Chloe nicht mit ihm in Verbindung setzen konnte. Aber vielleicht gab es noch andere Leute in der Fabrik, die bereit waren, mit ihr zu reden. Vielleicht sogar der Schichtleiter, der sich geweigert hatte, Anzeige zu erstatten. Zweifellos hatte er Verständnis für das gehabt, was Franklin durchmachte. Chloe musste nur herausfinden, wer er war. Clark saß auf seinem Lieblingsstuhl auf dem Heuboden der Scheune und hatte die Füße auf die Fensterbank gelegt. Verträumt blickte er hinauf zum Nachthimmel. Heute Nacht hatte er keine Lust, durch das Teleskop zu spähen. Darüber zu sinnieren, wer seine leiblichen Eltern waren, wo sie lebten und was sie gedacht haben mussten, als sie ihn in das Raumschiff gesetzt hatten, führte zu nichts. Im Moment beschäftigte ihn mehr der Gedanke, was Eltern ihren Kindern antun konnten. Natürlich wusste er, dass Menschen keine Heiligen waren und die Dinge auf schreckliche Weise schief gehen konnten. Das war ihm schon immer klar gewesen, aber erst Anfang des Jahres hatte er es richtig begriffen, als sein Vater – ein Mann, dessen Familiensinn Clark über alles bewunderte – eine Waffe auf ihn gerichtet hatte. Zugegeben, sein Dad war zu dieser Zeit nicht ganz bei Sinnen gewesen. Er hatte unter dem Einfluss der NicodemusPflanze gestanden. Aber trotzdem hatte Jonathan, als ihm bewusst geworden war, auf wen er zielte, die Waffe wieder gesenkt – selbst unter dem Einfluss der Droge. 176
Der Franklin-Fall war nicht so gut ausgegangen. Das Ganze war so unwirklich. Während der letzten Tage hatte er sich oft gefragt, ob er nur schlecht träumte, aber er wusste, dass das leider nicht so war. Er konnte es nicht genau erklären, aber die Tatsache, dass die Leichen auf verschiedene Arten getötet worden waren, machte die Sache noch schlimmer. Vielleicht, weil die Morde so weniger zufällig erschienen. Seitdem die beiden letzten Leichen gefunden worden waren, hatten sie die Gewissheit, dass die ganze Sache geplant worden war. »He«, hörte er die Stimme seines Vaters. »Kann ich reinkommen?« Clark drehte sich um. Sein Vater hielt mit einer Hand ein Tablett, auf dem zwei große Wassergläser, die seine Mutter auf einem Flohmarkt gekauft hatte, standen. »Weißt du noch, wie wir früher hier gesessen, uns die Sterne angesehen und uns mit den berühmten Erdbeerbechern deiner Mutter voll gestopft haben?«, fragte sein Vater. Clark stellte seinen Stuhl auf alle vier Beine. »Hast du da etwa welche?« »Zwei Spezialbecher, die richtige Menge Erdbeeren, die perfekte Menge Eiscreme und obendrauf selbst gemachte Schlagsahne.« »Wow, sie hat sich richtig Mühe gegeben.« Clark grinste seinen Vater an. »Du kannst reinkommen. Aber du weißt, dass ich so ein Mitbringsel von jetzt an jedes Mal erwarten werde.« Sein Vater lachte leise und setzte sich auf den freien Stuhl neben Clark. Er gab ihm einen der Erdbeerbecher und behielt den anderen für sich. Dann stellte er das Tablett auf den Boden. Aus dem Becher stieg süßer Erdbeergeruch auf. Ein langstieliger Eisteelöffel und ein gebogener Strohhalm sahen aus dem Glas hervor. Seine Mom hatte an alles gedacht. »Sie macht sich Sorgen um mich, nicht wahr?«, fragte Clark.
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Jonathan tauchte einen Löffel in das Eis und schüttelte den Kopf. »Ich denke, sie ist glücklich, hat aber gleichzeitig Schuldgefühle.« »Warum denn das?« »Glücklich, weil wir dich haben. Schuldbewusst, weil wir dich haben.« »Das verstehe ich noch weniger, Dad.« Sein Vater nickte. »Ich rede über die Franklin-Sache. Ich denke, sie hat alle Eltern in Smallville erschüttert. Wir alle sind froh, dass uns das nicht passiert ist. Es hat uns aber auch ins Bewusstsein gerufen, auf welch gefährlich schmalem Grat manche wandeln.« Sein Vater erinnerte sich nicht an den Zwischenfall mit der Waffe, und Clark hatte es ihm nie erzählt. Er hatte es niemandem erzählt. Deshalb wusste er, dass sich sein Vater nicht darauf bezog. »Du denkst noch immer, dass Mr. Franklin es getan hat?« Sein Dad zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Clark. Der ganze Fall ergibt keinen Sinn.« »Dad«, mahnte Clark und steckte einen Löffel voll Eiscreme in den Mund. »Mit mir kannst du Klartext reden.« Jonathan lächelte andeutungsweise, blickte aber weiter zu den Sternen hinauf. »Ich denke, er hat es getan, Clark. Ich denke, es hat sich genau so abgespielt, wie du es Chloe erklärt hast. Jed wurde bei der Tat ertappt und hat extremere Mittel angewendet.« »Das erklärt aber nicht, warum er die Leichen versteckt hat«, widersprach Clark. »Chloe hat im Internet ähnliche Fälle gefunden, und die meisten dieser Täter lassen die Leichen einfach liegen.« »So etwas wie typische Morde gibt es meiner Meinung nach nicht, Clark. Jeder Fall ist anders, und jeder Täter dreht auf andere Weise durch.« Der Löffel seines Dads klirrte gegen das
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Glas. »Ich finde, dieser Fall führt einem klar vor Augen, wie herzlos Smallville geworden ist.« »Wie meinst du das?« Clark führte wieder einen großen Löffel Eis mit Schlagsahne zum Mund. Die Spezialmischung seiner Mutter schmeckte so gut wie immer, aber irgendetwas fehlte. Wahrscheinlich war es der festliche Anlass, zu dem der Becher normalerweise serviert wurde. Zu seiner momentanen Stimmung passte er einfach nicht. Aber er leerte ihn trotzdem, denn er wusste, dass seine Mutter enttäuscht sein würde, wenn er es nicht tat. »Seit die Meteoriten bei uns eingeschlagen sind und diese merkwürdigen Dinge davon ausgelöst wurden, und seit die Luthors in die Stadt zurückgekehrt sind, ist in Smallville nichts mehr, wie es mal war.« Clark runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass du Lex magst, Clark, aber er ist ein Teil dieser Familie, und sie scheint in der Stadt den Ton anzugeben. Im Gegensatz zu früher lebt jetzt jeder für sich. Früher haben wir uns gegenseitig geholfen, anstatt übereinander zu reden. Ich muss ständig daran denken, dass wir vielleicht mehr für die Franklins hätten tun können. Wenn wir mehr Gemeinsinn gehabt hätten, hätte das Unglück vielleicht verhindert werden können.« »Gestern noch, Dad, hast du gesagt, dass man nichts tun kann, wenn die Leute durchdrehen.« Jonathan nickte und stellte dann seinen halb leeren Becher zur Seite. »Ich denke jetzt anders darüber. Ich fand es schon falsch, als ich es sagte. Ich bin mir nicht sicher, ob wir Jed Franklin hätten helfen können, aber seine Familie hätte sich nicht so allein mit ihren Problemen gefühlt. Vielleicht hätten wir seiner Frau und seinen Kindern helfen können, einen Ausweg zu finden.« »Du denkst nicht, dass sie überrascht wurden?« »Ich weiß es nicht«, gestand Jonathan. 179
»Die Polizei hat uns gesagt, dass Mr. Franklin in den letzten zwei Wochen Ärger mit dem Gesetz bekommen hat. Wusstest du das?« »Ich wusste, dass Jed Franklin verrückte Sachen von sich gab, seit er gekündigt wurde, etwas über eine Verschwörung, um die LuthorCorp zu zerstören, aber das war nicht mehr als das Geschwätz eines Betrunkenen. Niemand hat ihm große Beachtung geschenkt.« Die Erdbeeren blieben Clark in der Kehle stecken. Er zwang sich zu schlucken. »Eine Verschwörung, um die LuthorCorp zu vernichten?« Jonathan nickte. »Ich habe einen Teil davon gehört, als ich vor zehn Tagen in der Futtermittel- und Saatguthandlung war. Es war verrücktes Zeug, Clark.« »Findest du es nicht auch seltsam, dass Lex’ Dad zu derselben Zeit entführt wurde, als all das passiert ist?« Jonathan sah Clark an. »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.« »Es würde der LuthorCorp schaden, wenn Lionel Luthor nicht zurückkommen würde, richtig?«, fragte Clark. »Es hat ihr schon geschadet«, erwiderte Jonathan. »Der Aktienkurs ist abgestürzt. Außerdem gibt es Gerüchte über eine Buchprüfung. Der Aufsichtsrat wird langsam nervös, vor allem, weil Lex die Stimmrechte seines Vaters erben wird. Der Wirtschaftsteil der Zeitung ist mit Berichten darüber voll.« Clark nickte. »Was ist, wenn die Morde gar nichts mit Jed Franklin zu tun haben? Was ist, wenn es eigentlich um die LuthorCorp geht?« Jonathan seufzte. »Warum sollte jemand die Familie umbringen, Franklin aber am Leben lassen? Wenn er etwas von einer Verschwörung wusste, warum wurde dann nicht er ausgeschaltet?«
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»Wir wissen nicht, ob er noch lebt«, sagte Clark. »Es hat eine Weile gedauert, die Leichen der anderen zu finden. Vielleicht wurde seine nur noch nicht entdeckt.« Jonathan stand auf und legte eine kräftige Hand auf Clarks Schulter. »Das ist schon möglich, Clark. Aber normalerweise ist die einfachste Antwort die richtige.« »Wieso ist die Verschwörungstheorie abstruser als die von einem Mann, der seine ganze Familie tötet?«, fragte Clark. »Weil so etwas leider häufig vorkommt. In den letzten zehn Jahren ist so etwas bestimmt in jedem Staat passiert«, erwiderte sein Vater. »Aber eine ganze Familie auszulöschen, weil ein Mitglied zu viel wusste – so etwas ist seit den Dreißigern nicht mehr vorgekommen.« Clark hatte keine Antwort darauf. Vielleicht hatte sein Vater Recht. Vielleicht wollte Clark lieber an eine Verschwörung glauben als daran, dass ein einzelner Mann alles zerstörte, was er liebte. Aber auf jeden Fall war diese Theorie es wert, in Erwägung gezogen zu werden. Er würde morgen mit Chloe darüber sprechen. Lionel Luthor war nicht sicher, ob der Bierkonsum seiner Entführer ihm eher schadete oder nutzte. Jedenfalls hatten sie eine Menge davon zu sich genommen und waren dementsprechend betrunken. Niemand schien bemerkt zu haben, dass er seine Fesseln wieder gelockert hatte. Es hatte ihn große Mühe gekostet, zumal sein Ellbogen stark schmerzte. Schweiß perlte über sein Gesicht. Wären die Männer nicht betrunken gewesen, hätten sie es vielleicht bemerkt und wären misstrauisch geworden. Stattdessen saßen sie im Raum verteilt und stritten sich darüber, was sie mit ihm tun sollten.
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Der Anführer – der große Mann mit dem Bart – wollte ihn töten. Luthor hatte das von Anfang an gespürt. Für den Anführer schien Luthors Tod oberste Priorität zu haben. Luthors Wächter widersprach dem und argumentierte, dass das Geld für sie mehr wert war als irgendeine obskure finanzielle Katastrophe. Und der dritte Kerl, jener, der mit dem Anführer hereingekommen war, hörte schweigend zu und trank ein Bier nach dem anderen, bis seine Augen glasig waren. Er war der Erste, der einschlief. Die beiden anderen schienen es nicht einmal zu bemerken, so sehr waren sie in ihren Streit vertieft. Aber Luthor fiel auf, dass sie trotz ihres betrunkenen Zustandes und ihrer hitzigen Auseinandersetzung darauf achteten, sich nicht namentlich anzureden. Wenn sie bloß wie ihr Komplize einschlafen würden. Er wusste genau, was er dann tun würde. Die Truckschlüssel lagen auf der schmutzigen Küchenanrichte, neben einem der Hüte. Er würde durch den Raum schleichen, die Schlüssel nehmen und nach draußen eilen, ohne den geringsten Lärm zu machen. Dann würde er den Truck anlassen, so schnell er konnte davonfahren und sein Bestes tun, um dafür zu sorgen, dass sie ihm nicht folgten. Das Glück, in dem Truck ein Handy oder eine Waffe zu finden, würde er wahrscheinlich nicht haben. Von dem Moment an, in dem er sich von den Stricken befreite, bis zu seiner Ankunft in der nächsten Stadt, würde er auf sich allein gestellt sein. Er wusste, dass er vorsichtig sein musste. Ein Fehler, und er würde vielleicht seine einzige Chance verpassen. Aber die Situation, auf sich gestellt zu sein, war ihm nicht unbekannt. Er hatte sich noch nie auf andere verlassen. Und mit genau dieser Einstellung war es ihm gelungen, die LuthorCorp aufzubauen. Nur so konnte man im Geschäftsleben Erfolg haben, davon war er überzeugt. 182
Aus den Augenwinkeln sah er, dass seinem Wächter die Dose aus den Fingern geglitten war. Sie rollte ein Stück über den Boden. Der Anführer starrte die Dose an, als wäre sie eine Handgranate. Er griff nach der Pistole, die er auf den Tisch gelegt hatte, richtete sie auf die Dose und folgte ihr über den Boden. Luthor beobachtete ihn und hoffte, dass er nicht auf die Dose schießen würde. Anscheinend hatte er doch zu viel getrunken, um noch klar denken zu können. Die Dose würde sofort explodieren und möglicherweise jemanden verletzen. »Peng«, flüsterte der Anführer und lachte dann. »Habe ich Ihnen Angst gemacht, Mr. Luthor?« Luthor antwortete nicht. Er würde sich nicht provozieren lassen. Die Bierdose kam in der Mitte des Raumes zum Halt, wo sie leicht hin und her schaukelte. Das restliche Bier in ihr schwappte. »Sie wollen nicht zugeben, wie verängstigt Sie sind, was?« Der Anführer stand schwankend auf und hielt sich an der Lehne seines Sessels fest. »Was meinen Sie, sind Sie lebend mehr wert als tot? Es wird Zeit, das herauszufinden! Mal sehen, ob Ihr Sohn das Geld schon zusammenbekommen hat.« »Sie überwachen die Konten meines Unternehmens?«, fragte Luthor. »Was denken Sie denn?« Der Entführer ging in die winzige Küche. Seine Schritte wirkten jetzt sicherer. Luthor hatte nicht mitgezählt, wie viele Bierdosen der Mann tatsächlich geleert hatte. Vielleicht war er nicht so betrunken, wie Luthor dachte. »Wenn Sie das tun«, fuhr Luthor fort, »möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sie einen Fehler machen.« »Ich wette, Sie denken, dass ich eine Menge Fehler mache, Mr. Luthor.« 183
Der Anführer öffnete den Kühlschrank und sah hinein. »Die Idioten kaufen nie genug Bier«, grummelte er vor sich hin. Luthor warf den beiden anderen einen Blick zu. Sein Wächter lag auf der Couch, in derselben Position, in der Luthor ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Das Schnarchen setzte gerade ein – kurze, gedämpfte Grunzer. Schon bald würden sie anschwellen und ohrenbetäubend laut werden, wie Luthor aus Erfahrung wusste. Auf der Armlehne des Sessel hatte der Anführer seine Waffe liegen gelassen. Sehr unvorsichtig! Oder war es Absicht, um zu sehen, was Luthor tun würde? Luthor war sich nicht sicher. Aber er würde es herausfinden. Der Anführer schloss die Kühlschranktür. In seiner Hand hielt er eine neue Bierdose. Er brauchte einen Moment, um die Lasche zu packen. Als er es endlich geschafft hatte, das Bier zu öffnen, zischte die Dose und Flüssigkeit spritzte auf den Boden. Das ganze Blockhaus roch jetzt nach Bier, ein Geruch, den Luthor verabscheute. »Okay«, sagte der Anführer. »Erzählen Sie mir jetzt von meinem ›Fehler‹.« »Lex hat keinen Zugriff auf meine Konten. Er braucht die Zustimmung des gesamten Vorstands oder die meines Finanzchefs, der sich momentan in Kanada aufhält. Lex sind die Hände gebunden.« Es war eine Lüge. Luthor hatte keinen Finanzchef. Er dachte nicht im Traum daran, jemand anderem die Kontrolle über sein Geld zu geben. Der Vorstand würde Lex in diesem Fall sofort die Vollmacht über sämtliche Konten geben, aber das brauchte er diesem Typen ja nicht auf die Nase zu binden. »Soweit ich weiß, haben Sie gar keinen Finanzchef, Mr. Luthor. Ihr Standpunkt ist doch, wenn ich mich recht erinnere, dass man bei Geldangelegenheiten niemandem trauen soll.« 184
Das war einer seiner Grundsätze. Dieser Mann wusste mehr über ihn, als ihm klar gewesen war. »Die LuthorCorp hat einen Finanzchef«, beharrte er trotzdem. »Ich weiß, nicht, woher Sie wissen wollen, dass wir keinen haben.« »Es stand in Business Weekly und Fortune, außerdem des Öfteren im Wirtschaftsteil des Daily Planet. Da stand überall, dass Sie ein absoluter Kontrollfreak sind.« Luthors Erstaunen wuchs mit jeder Minute. Der Mann hatte sich gut vorbereitet. »Das ist genau das Problem. Lex hat keinen Zugriff auf mein Geld, weil er nicht gerade... zuverlässig ist. Wenn Sie sich schon so eingehend mit mir beschäftigt haben, wird Ihnen auch das aufgefallen sein.« »Zum Teufel.« Der Anführer nahm einen Stuhl mit hölzerner Rücklehne, setzte sich und stellte das Bier auf sein Knie. »Wissen Sie, wenn ich die Wahl hätte, Ihnen oder ihm zu vertrauen, würde ich immer Lex nehmen.« »Würden Sie das?« Das Gespräch wurde für Luthor immer interessanter. Warum wusste der Mann so viel über ihn und seine Familienverhältnisse? Er schien zumindest Lex persönlich zu kennen. »Sofort. Lex scheint sich in die Lage der arbeitenden Menschen hineinversetzen zu können, was man von Ihnen nicht gerade behaupten kann.« Luthor schüttelte den Kopf. »Ihnen scheint nicht klar zu sein, dass ich ebenfalls ein arbeitender Mensch bin. Ich habe mein Vermögen aus dem Nichts geschaffen. Ich war einst ein mittelloser Mann, und ich habe mir mein Vermögen hart erarbeitet. Leute wie Sie scheinen zu denken, dass die Welt Ihnen Geld und Wohlstand schuldet. Sie sind derjenige, der nicht dafür arbeiten will.« »Leute wie ich?«, sagte der Anführer sanft. »Was wissen Sie schon von mir, Mr. Lionel Luthor?«
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»Nur dass für Sie die beste Verdienstmöglichkeit darin besteht, gegen das Gesetz zu verstoßen. Und dass Sie wahrscheinlich auch ein Kontrollfreak sind. Mit dem Unterschied, dass es Ihnen gefällt, Menschen unter Ihrer Kontrolle zu haben. Menschen, die mächtiger sind als Sie.« Der Anführer machte einen gewaltigen Satz auf Luthor zu. Er packte ihn an den Haaren, riss seinen Kopf zurück und schlug dabei gegen Luthors verletzten Arm. Unsägliche Schmerzen schossen durch seinen Körper. »Ich habe die völlige Kontrolle über Sie, Luthor. Vergessen Sie das nicht.« Der Atem des Mannes schlug ihm entgegen. Er stank nach Bier. Seine Augen waren rot gerändert und seine Wangen gerötet. Luthor sagte nichts. Nach einem Moment ließ ihn der Mann los, wobei er ihm einen Stoß versetzte. Der Stuhl kippte einen Moment gefährlich, fiel aber nicht um. »Sie werden nie die völlige Kontrolle über mich haben«, stieß Luthor hervor. »Sie können mich schlagen, mich verletzen oder mich töten, aber Sie werden mich nie kontrollieren können.« Die Augen des Mannes verengten sich. »Fordern Sie mich bloß, nicht heraus.« »Warum sollte ich das nicht?«, fragte Luthor. »Ich habe nichts zu verlieren.« Der Mann schlug Luthor so hart ins Gesicht, dass er sich auf die Zunge biss. »Wer Gewalt sät«, sagte Luthor und schmeckte dabei Blut, »wird durch Gewalt umkommen.« Der Mann packte ihn und zog ihn so dicht an sich heran, dass sich ihre Gesichter fast berührten. Dabei klemmte sich Luthors Arm zwischen dem Stuhl und dem Bein des Mannes ein. Der Schmerz war fast unerträglich.
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»Haben Sie sich je gefragt, Luthor, was mit allem, das ein Mensch gelernt hat, passiert, wenn er stirbt?« Luthor starrte ihm in die Augen, und ihm dämmerte, dass er ganz und gar nicht in die Augen eines Betrunkenen sah. »Ich denke«, fuhr der Mann fort, »dass das Wissen einfach verschwindet. Puff! Verschwunden. Weg. Nichts mehr übrig. Deshalb habe ich mir auch nie die Mühe gemacht, etwas zu lernen, das ich später nicht gebrauchen kann.« »Ja«, krächzte Luthor. Durch die unnatürliche Haltung seines Kopfes klangen seine Worte stark gedämpft. »Dieser Plan hat prima funktioniert, wie ich sehe.« Der Mann gab dem Stuhl einen Stoß, und diesmal fiel er um. Luthor landete wieder auf seinem Arm, und der Schmerz, der ihn durchzuckte, war so stark, dass er fast bewusstlos wurde. Aber er fing sich, blinzelte und öffnete dann die Augen. Der Mann kauerte vor ihm. Als er sah, dass Luthor bei Bewusstsein war, trat er ihm, so fest er konnte, in die Nieren. Luthor stöhnte auf. Der Mann grinste. »Wenn ich mich entschließen würde, Sie hier und jetzt zu töten, würde mich niemand aufhalten, Luthor. Die Idioten hier sind eingeschlafen. Keiner würde Ihnen helfen.« Luthor sah schwer atmend zu ihm auf. »Am besten gefällt mir«, fuhr der Mann fort, »dass ich mir Zeit lassen kann. Im Gegensatz zu Ihnen, wenn Sie sich entscheiden, jemanden zu vernichten. Ich kann zuerst zuschlagen...« Und mit diesen Worten schlug er mit seiner Faust gegen Luthors Hals, sodass Luthor unwillkürlich aufkeuchte. »... und dann zutreten.« Sein Stiefel bohrte sich in Luthors Rippen. Luthor schloss die Augen. Er würde diesem Monster nicht zeigen, dass er Schmerzen hatte.
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Luthor wappnete sich. Es würde eine lange Nacht für ihn werden – und er konnte nur hoffen, dass er sie irgendwie überleben würde.
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15 AM NÄCHSTEN MORGEN verpasste Clark absichtlich den Schulbus. Er wartete, bis der Bus um die Ecke gebogen war, bevor er mit Supergeschwindigkeit Richtung Schule rannte. Wenn er sich so schnell bewegte, schien seine Supersicht die Welt um ihn herum zu verlangsamen, sodass er mühelos einen Fuß vor den anderen setzen konnte, ohne ins Stolpern zu geraten. Es war, als wäre die ganze Welt langsamer, nicht er schneller geworden. Er machte am Talon Halt, kaufte für Chloe die Hausspezialität aus Kakao und einem dreifachen Espresso und eilte dann weiter zur Schule, wobei er wieder mit Supergeschwindigkeit rannte, um rechtzeitig vor Schulbeginn da zu sein. Er wusste, wo er Chloe finden würde – und er hatte Recht. Sie schlief vor ihrem Computer im Fackel-Büro. Die Lampen waren gedämpft, wie sie es die ganze Nacht gewesen waren, und die Jalousien geschlossen. Clark öffnete zuerst die Jalousien und ließ die Morgensonne herein. Chloe stöhnte. Er stellte den Kaffee neben sie, zusammen mit dem Teilchen, das er ebenfalls für sie gekauft hatte, und wartete dann ab. »Das ist nicht fair«, murmelte Chloe. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Wer hat nur den Morgen erfunden?« »Ich hoffe, du hast daran gedacht, frische Kleidung mitzubringen«, sagte Clark, »denn ich glaube kaum, dass ich dir etwas leihen kann.« Chloe griff nach dem Kaffee, nahm den Deckel ab und trank einen Schluck. »Oh, Clark. Das ist genau das Richtige.« »Der Kaffee wird dich bis nächste Woche wach halten.« Er setzte sich. »Hat sich die Nachschicht wenigstens gelohnt?«
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»Ja.« Sie nahm einen Bissen von dem Teilchen. »Hm, das ist gut. Du bist ein Heiliger, Clark.« Er spürte, wie er errötete. »Übertreib nicht.« »Achte nicht auf mein Geschwätz«, sagte sie. »Ich bin noch ganz benommen.« Sie biss noch einmal in das Teilchen. Clark war froh, dass er daran gedacht hatte, ihr etwas mitzubringen. Er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal so blass gesehen zu haben – zumindest nicht, wenn sie gesund war. Es steckte mehr dahinter als nur Schlafmangel. Dieser Fall ging ihr unter die Haut, genau wie er ihnen allen nahe ging. »Und?«, fragte er. »Was hast du herausgefunden?« Sie spülte den letzten Bissen mit etwas Kaffee hinunter, schluckte und sagte: »Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll, aber ich habe eine Ahnung, dass alle Vorfälle irgendwie mit der LuthorCorp zusammenhängen.« Clark runzelte die Stirn. »Allmählich glaube ich, dass in Smallville alles mit der LuthorCorp zusammenhängt.« »Würde mich nicht weiter wundern.« Die Wirkung des Zuckers und des Koffeins schien einzusetzen. Chloe wurde immer munterer. »Ich habe ein paar seltsame Dinge herausgefunden.« Sie erzählte Clark von ihren Erkenntnissen – von Jed Franklins Festnahmebericht; die Tatsache, dass er hart geschuftet hatte, um die Farm aufzupäppeln, dann aber doch gescheitert war; von seiner Arbeit bei der LuthorCorp, und schließlich von seinem seltsamen Verhalten in den letzten Wochen, die Verhaftungen eingeschlossen. Dann holte sie tief Luft und trank noch etwas Kaffee. Clark konnte erkennen, dass sie mit ihrer Geschichte noch nicht ganz fertig war. Er gab ihr Zeit, sich zu sammeln. »Clark«, fuhr Chloe fort, »Danny Franklin hat mich vor kurzem gebeten, einen Artikel über die Kündigungen zu schreiben. Er sagte, damit würde etwas nicht stimmen. Etwas 190
Merkwürdiges würde vorgehen, so drückte er sich aus. Aber ich habe ihn abgewimmelt –“ Sie brach ab und senkte den Blick, aber Clark konnte sehen, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Deshalb also war sie von dieser Story so besessen. Sie fühlte sich schuldig, genau wie Roberts. Genau wie Lana. Clark musste an die Worte seines Dads denken. Es schien wirklich so zu sein, als hätten alle die Franklins im Stich gelassen. »Jedenfalls«, sagte Chloe nach einer Weile, »frage ich mich, ob wir der Sache nicht nachgehen sollten. Es könnte mehr dahinter stecken.« Clark nickte. »Gestern Abend hat mein Dad mir erzählt, dass er bei einem von Jed Franklins Ausbrüchen dabei war. Mr. Franklin sagte etwas von einer Art Verschwörung, um die LuthorCorp zu zerstören.« »Glaubst du, Jed wusste von der Entführung?«, fragte Chloe. »Das habe ich meinen Dad auch gefragt, aber er war anderer Meinung. Er hielt Mr. Franklins Gerede für ›verrücktes Zeug‹. Aber ich bin mir nicht mehr so sicher. Vielleicht steckt doch mehr dahinter.« »Das erklärt noch immer nicht, warum die ganze Familie ausgelöscht wurde.« »Vielleicht sollte ursprünglich nur Jed Franklin zum Schweigen gebracht werden, aber die Familie kam dem Mörder oder den Mördern dazwischen, sodass am Ende alle umgebracht wurden«, spekulierte Clark. »Und sie haben Franklins Leiche nur noch nicht gefunden.« »Genau.« Chloe kippte den Rest ihres Kaffees hinunter und stand auf. Sie schien wieder die Alte zu sein, tatkräftig, interessiert und voller Arbeitseifer. »Wir müssen diese Verschwörung aufdecken, Clark.«
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»Wir haben in einer halben Stunde amerikanische Literatur. Ich denke, die Untersuchung kann bis nach der Schule warten.« »Kann sie das?«, fragte Chloe. »Was ist, wenn wir die Entführer aufspüren?« »Jetzt gehst du zu weit«, wehrte Clark ab. »Im besten Fall können wir herausfinden, was Jed Franklin in der letzten Woche durch den Kopf gegangen ist. Und ich bin mir nicht mal sicher, ob wir das schaffen werden.« »Bevor ich eingeschlafen bin, war mein letzter Gedanke, dass wir mit den anderen, denen in der Fabrik gekündigt wurde, sprechen müssen«, sagte Chloe. »Wie wäre es, wenn du in den Unterricht gehst und dir Notizen machst, während ich zur LuthorCorp fahre, um die Namen in Erfahrung zu bringen?« »Wie wäre es, wenn wir beide in den Unterricht gehen und dann in der Mittagspause mit dem Kerl reden, den ich kenne?«, konterte Clark. »Er wird uns wahrscheinlich die Namen von allen Leuten geben können, die von der LuthorCorp entlassen wurden, seit die Fabrik hier aufgemacht hat.« Chloe schüttelte den Kopf. »Warum willst du unbedingt in den Unterricht, Clark?« »Weil die Fackel nicht die Washington Post ist und du nicht die Topreporterin mit dem Topgehalt bist. Du wirst heute keinen Präsidenten stürzen.« »Aber ich könnte einen Mord- und Entführungsfall aufklären«, sagte sie und grinste ihn an. »Und was dann?«, fragte Clark. »Die meisten Zeitungen stellen nur Absolventen einer Journalistenschule ein, Chloe, und um die beste Journalistenschule besuchen zu können, brauchst du erstklassige Zensuren. Du kannst nicht jedes Mal den Unterricht schwänzen, wenn du irgendeiner heißen Sache auf der Spur bist.« Sie griff nach ihrer Büchertasche. »Du hast ja Recht«, knurrte sie. 192
»Du kommst also mit in den Unterricht?« »Wenn du mich danach zu deiner Quelle bringst!« »Versprochen.« Sie hielt ihm die Büchertasche vor die Nase. »Ach ja, übrigens habe diesmal meine eigene Kleidung mitgebracht. Wir sehen uns gleich.« »Ich werde auf dich warten, Chloe!« »Jawohl, Sir. Ich werde kommen, Sir.« Und noch immer lächelnd eilte sie aus dem Raum. Clark blieb noch eine Weile sitzen. An Tagen wie diesem gefiel ihm der Zwang, zur Schule gehen zu müssen, genauso wenig wie Chloe. Aber er wusste, was seine Eltern sagen würden, wenn er wegen einer Sache, die auch bis nach der Schule warten konnte, den Unterricht schwänzte. Außerdem versuchten er und Chloe einen Mordfall aufzuklären. Vermutlich würden seine Eltern nichts dagegen haben, wenn er den Unterricht schwänzte, um jemandem das Leben zu retten. Aber einen Fall zu lösen war etwas ganz anderes. Auch wenn er da nicht so überzeugt war. Lex hatte ein paar Stunden auf der Couch im Büro des nicht existierenden Stellvertreters geschlafen. Das Büro seines Vaters hatte er gegen Mitternacht verlassen, denn dort hatte ihn mehr und mehr das Gefühl beschlichen, sein Vater würde nicht mehr zurückkehren. Das durch die Fensterfront fallende Sonnenlicht hatte ihn aus einem Traum gerissen, in dem sein Vater ein römischer Kaiser war, der durch die Hand seiner Untertanen starb, während Lex auf einem Hügel in der Nähe stand und Fiedel spielte. Ihm gefiel nicht, dass er sich im Traum als skrupelloser Nero sah. Über die Bedeutung wollte er lieber nicht länger nachdenken.
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Er hatte der Personalabteilung die Anweisung gegeben, ihm eine richtige Sekretärin zu schicken, nicht eine Angestellte, die er sich eher auf der Titelseite des Playboys vorstellen konnte. Er hatte sie zwar nicht gefeuert – allerdings hatte er sie um zehn nach Hause geschickt und gebeten, zur üblichen Zeit wiederzukommen –, aber er brauchte zusätzlich eine fähige Sekretärin, die ihre Arbeit machte, ohne dass man ihr ständig Anweisungen geben musste. Die erste Bewährungsprobe, die seine neue Sekretärin bestehen musste, bestand aus einem nahrhaften Frühstück für Lex und jeder Menge Kaffee. Alles musste kochend heiß sein und außerdem noch gut schmecken. Mrs. Anderson – eine grauhaarige Frau mittleren Alters – hatte diese Aufgabe mit Bravour gelöst. Die pochierten Eier und Schinken auf Toast hatte er schon verspeist, nun beäugte er die Teilchen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. Der Kaffee, heiß und frisch, war der beste, den er seit seiner Ankunft in Metropolis getrunken hatte. Er studierte die Satellitenfotos, die Hensen von einer Regierungsbehörde bekommen hatte. Die Fotos waren kurz nach der Morgendämmerung aufgenommen worden und zeigten das Gebiet zwischen Metropolis und Smallville. Es gab viel mehr abgeschiedene ländliche Gebiete, als er gedacht hatte. Kansas, der Staat, in dem er aufgewachsen war, hatte er immer für ein Land der flachen Prärien und weiten Felder gehalten, ohne zu bedenken, wie viele bewaldete Regionen es dort gab und wie viele abgelegene Flüsse und Ströme durch diese Gebiete führten. Kansas hatte außerdem eine blutige Geschichte aus Gesetzlosen und flüchtigen Verbrechern. In den Jahren vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs hatte es viele blutige Kämpfe um Land gegeben. Damals nannten sie den Staat Bloody Kansas. Die Banditen hatten hier zahllose Verstecke gefunden und waren nie erwischt worden. 194
Lex schüttelte die Gedanken ab. Sie würden die Leute kriegen, die seinen Vater gefangen hielten, und sie würden seinen Vater befreien. Lebend. Allerdings glaubte er nicht, dass sein Vater davon beeindruckt sein würde. Fast bildhaft konnte er es vor sich sehen: Er rettete seinen Vater vor dem sicheren Tod, doch dieser dankte ihm nicht dafür, sondern sagte nur: »Typisch für dich, Lex, dass es so lange gedauert hat.« Plötzlich schmeckten die pochierten Eier nicht mehr so gut. Lex griff nach dem Kaffeebecher und stand auf. An seinem Computer angelangt, sah er, dass eine weitere E-Mail auf ihn wartete. Er hatte Brodsky gestern Nacht einen neuen Auftrag erteilt. Brodsky und sein Hackerteam sollten alles, was sie konnten, über Porter alias J. B. Bynes herausfinden. Lex öffnete das E-Mail-Programm. Unter den aufgelisteten E-Mails, den diversen Geschäftsbriefen, die er bekam, und einer ganzen Reihe von Interviewbitten von Reportern, befand sich in der Tat eine Nachricht von Brodsky. Die E-Mail war kurz und knapp. Unser Mann hat ein Apartment in Smallville gemietet. Die Adresse befindet sich wahrscheinlich in den Dateien Ihrer Firma. Allerdings ist das seltsam, da er im Nachbarcounty etwas Land besitzt. Nach den Countyunterlagen befindet sich auf diesem Grundstück ein Haus, doch der Besitzer ist nicht als Bewohner registriert. Aus den Unterlagen geht hervor, dass der Besitzer in Kalifornien lebt. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass der Besitzer, ein gewisser B. J. Ropter, in Wirklichkeit unser Freund Porter/Bynes ist. Die Adresse ist unten aufgeführt. Ein Link führt zur Gebietskarte. 195
Lex klickte den Link an. Sein Internetprogramm öffnete sich sofort, und er sah ein riesiges Grundstück vor sich. Es lag abseits einer Landstraße. Für eine weitere, auf das Grundstück führende Straße, waren Vermessungsarbeiten vorgenommen worden, doch laut der Karte hatte man bis jetzt noch nicht mit dem Bau begonnen. Lex überprüfte das Datum der Karte. Sie war ein Jahr alt. Wenn dieses Grundstück nicht erschlossen war, gab es auch keinen Grund, dort eine Straße anzulegen. Die Eigentümer dieses Grundstücks konnten sich sogar dagegen gewehrt haben – vor allem, wenn sie das unerschlossene Land für die Jagd und ähnliche Aktivitäten benutzten. Er griff nach den Satellitenfotos, blätterte sie durch und musterte die Markierungen, die Hensen wahrscheinlich angebracht hatte, um zu zeigen, wo dieses Grundstück lag. Die Satellitenfotos zeigten ein dicht bewaldetes Gebiet voller junger Bäume. Die Landstraße führte am unteren Rand der Fotografie vorbei. Sie war in einem derart schlechten Zustand, dass sogar auf dem Foto Schlaglöcher zu sehen waren. Mehrere Wege und Zufahrten führten auf die Straße. Durch die Bäume konnte Lex die braunen Dächer einiger Gebäude sehen, die ziemlich weit voneinander entfernt waren. Sein Mund war trocken und die pochierten Eier lagen schwer in seinem Magen. Vielleicht hätte er sie nicht so schnell herunterschlingen sollen. Möglicherweise konnte aber auch der starke Kaffee für sein Unwohlsein verantwortlich sein. Wahrscheinlich lag es einfach an der Aufregung, die die neuen Informationen bei ihm ausgelöst hatten. Er öffnete die oberste Schublade des Schreibtischs, sah, dass sie bis auf ein paar Kugelschreiber leer war, und fluchte. Natürlich war sie leer. Er war ja nicht zu Hause. Er schaltete die Gegensprechanlage ein und sagte zu Mrs. Anderson: »Bringen Sie mir ein Vergrößerungsglas. Schnell.« 196
Sie antwortete mit »Ja, Sir«, aber da hatte er schon wieder abgeschaltet. Er hielt alle Satellitenfotos ins Licht und legte eins nach dem anderen wieder zur Seite, bis er dasjenige fand, das mit der Karte übereinstimmte. Plötzlich sah er etwas auf dem Foto, das seine Aufmerksamkeit erregte – etwas Glänzendes und Metallenes. Ein Blechdach? Sie waren keine Seltenheit bei Gebäuden aus den Dreißiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren. Vor allem in ländlichen Gebieten waren sie häufig zu finden. Ansonsten konnte er nur üppige Vegetation ausmachen. Er legte das Bild auf die Schreibunterlage, griff nach dem Foto eines angrenzenden Gebietes und platzierte es daneben. Ein Weg führte von der Landstraße auf das Grundstück, doch er konnte nicht erkennen, ob er bis zu dem glänzenden Objekt reichte. Der Weg war in einem schlechten Zustand. Offenbar wurde er wenig befahren. Mrs. Anderson kam in das Büro und legte ihm ein Vergrößerungsglas auf seinen Schreibtisch. Ohne ein weiteres Wort ging sie wieder hinaus, was Lex sehr zu schätzen wusste. Er nahm das Vergrößerungsglas und hielt es über das Satellitenfoto. Jetzt sah er das Objekt deutlicher. Es war kleiner als ein Haus. Ein Truck vielleicht oder ein Auto. Daneben war noch etwas, das ihm ohne das Vergrößerungsglas nicht aufgefallen war. Ein moosbedecktes braunes Dach. Vorher hatte es wie ein Teil des Waldes ausgesehen. »Ich habe dich gefunden, du Hurensohn«, flüsterte Lex. »Endlich habe ich dich gefunden.«
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16 ZWEI STUNDEN SPÄTER erhielt Lex einen Anruf. Er hatte den Morgen damit verbracht, seine Leute loszuschicken, um weitere Informationen zu sammeln. Er erzählte den FBI-Agenten gerade genug, damit sie beschäftigt waren. Dann stellte er sein eigenes Sicherheitsteam zusammen. Er würde seinen Vater ohne die Hilfe des FBIs befreien und auf seine eigene Art mit J. B. Bynes fertig werden. Kurz bevor er in den Club Noir aufbrechen wollte, um sich dort mit dem Team zu treffen, das aus alten Freunden bestand, meldete sich Mrs. Anderson über die Gegensprechanlage. »Mr. Luthor«, sagte sie, »Sie haben einen Anruf.« Noch während sie sprach, öffnete sich die Tür zu seinem Büro und Hensen kam herein. »Wir denken, dass er es ist«, erklärte Hensen. »Dann dürfte es Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, den Anruf zurückzuverfolgen«, erwiderte Lex. »Sofern er kein Handy benutzt. Wir haben noch keine genauen Daten, was dafür spricht, dass er mit einem Handy telefoniert, aber das wissen wir gleich. Wir haben da so unsere Methoden.« »Na, da bin ich ja mal gespannt«, sagte Lex zweifelnd. »Es wird funktionieren«, versicherte Hensen. »Sobald wir wissen, welchen Sendemast er benutzt, beordern wir jemanden hin, um ihn aufzuspüren.« Lex widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Er war heilfroh, dass er nicht auf die Polizei oder das FBI angewiesen war. Wäre das der Fall, würde sein Vater, da war er sicher, von den Entführern getötet werden. Kein Wunder, dass Dewitt, der Experte, eine derart erbärmliche Erfolgsrate hatte. »In Ordnung«, sagte Lex. »Sie können jetzt gehen.« 198
»Ich werde Ihnen bei dem Anruf helfen«, erbot sich Hensen. »Nein, das werden Sie nicht.« Lex legte seine Hand auf den Hörer. »Ich riskiere lieber, dass er auflegt, bevor ich in Ihrer Gegenwart telefoniere.« Hensen kniff den Mund zusammen und verschwand durch die Tür, obwohl ihm das sichtlich schwer fiel. Lex nahm den Hörer ab und drückte gleichzeitig den Empfangsknopf, um Hensen hinauszulassen. »Lex Luthor«, meldete er sich. »Sie haben ziemlich lange gebraucht.« Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch Lex wusste nicht, ob dies so war, weil er zu wissen glaubte, wer am anderen Ende der Leitung war. Er fragte sich, was J. B. Bynes tun würde, wenn er ihn mit seinem Namen ansprach. Doch er unterdrückte diesen Impuls. Er wollte den Mann nicht verschrecken. »Wer sind Sie?«, fragte Lex mit kalter Stimme. »Wer ich bin?« Der Mann lachte. »Der war gut. Netter Versuch, Lex, alter Kumpel. Sie wissen genau, wer ich bin. Sie spielen mit mir und versuchen mich am Apparat zu halten, damit Ihre Polizeikumpel diesen Anruf zurückverfolgen können. Sagen Sie ihnen, dass sie nur ihre Zeit verschwenden. Ich benutze keinen Sendemast. Ich habe mir eins dieser Satellitentelefone besorgt...« Etwas, das Menschen in bewaldeten Gebieten oft benötigten, weil es keine Mobilfunksendemasten in der Nähe gab oder der Empfang zu schlecht war. »... Sie werden mich also auf keinen Fall aufspüren können.« »Ich verstehe«, sagte Lex, den diese Information nicht erstaunte. Bynes hatte bisher eine Gerissenheit an den Tag gelegt, die Lex verblüfft hatte, obwohl er es eigentlich besser hätte wissen müssen. Bynes war ein kluger Mann. Lex fragte sich noch immer, ob er diese Entführung schon geplant hatte, bevor er nach Smallville gekommen war. 199
»Ach ja?«, sagte Bynes – oder einer seiner Komplizen. »Ich verstehe allerdings nicht«, fügte Lex hinzu, »warum Sie mir diesmal keine E-Mail geschickt haben.« »Ich dachte mir, dass ich im Internet-Café Ihres Freundes nur einen Versuch habe. Wie ist das Foto geworden? Ich habe mich bemüht, mich von meiner Schokoladenseite zu zeigen.« Also hatte er die kleine Kamera auf dem Computer gesehen. Aber die hinter dem Ladentisch hatte er nicht bemerkt. Lex würde ihn nicht darüber aufklären. »Ihre Poren müssten gereinigt werden«, erwiderte Lex. »Sie sind etwas vergrößert.« »Das werde ich tun, sobald ich das Geld habe«, versicherte Bynes. »Noch ein weiterer Ansporn, es mir zu geben, oder?« »Sie haben mir noch nicht gesagt, wann Sie es haben wollen.« Wenn Bynes ein Satellitentelefon benutzte, dann konnte er jetzt von diesem kleinen Flecken im Wald, der auf dem Foto zu sehen war, anrufen. »Natürlich so schnell wie möglich.« »Sie wollen also herkommen und es abholen?«, fragte Lex. Bynes gab ein bellendes Lachen von sich. »Netter Versuch. Ich habe Anweisungen für Sie. Sind Sie bereit, sie entgegenzunehmen?« »Nein, um ehrlich zu sein.« Lex lehnte sich in seinem Sessel zurück, um sich etwas zu entspannen. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen, und einen Moment lang glaubte Lex, dass Bynes aufgelegt hatte. Dann fragte Bynes: »Nein?« »Nein.« »Dann stimmt es also. Sie hassen Ihren Vater wirklich.« »Meine Gefühle für meinen Vater gehen nur mich und ihn etwas an«, erklärte Lex. »Ich bin nur nicht bereit, Ihnen das Geld zu geben, wenn Sie ihn schon ermordet haben.« Lex wünschte sich sofort, das nicht gesagt zu haben. Wenn Sie ihn schon ermordet haben könnte Bynes erst auf diesen 200
Gedanken bringen, seinen Vater nach der Geldübergabe zu ermorden. »Er ist am Leben«, sagte Bynes. »Ich habe keinen Beweis dafür«, entgegnete Lex. »Sie haben mir nur ein paar Fotos geschickt, die ihn kurz nach der Entführung zeigen, und ein Video, das Gottweißwann aufgenommen wurde. Heute habe ich noch nichts bekommen. Vielleicht sind Sie nicht einmal der Kerl, der ihn in seiner Gewalt hat.« »Ich bin der Kerl.« Bynes klang gekränkt. »Woher soll ich das wissen?«, konterte Lex. »Ich will Beweise sehen.« Bynes ging nicht darauf ein. »Wollen Sie die Anweisungen nun hören oder nicht?« »Sie können sie mir geben«, erwiderte Lex, »aber ich werde sie erst befolgen, wenn ich einen eindeutigen Beweis dafür habe, dass mein Vater noch am Leben ist.« »Und wenn ich den nicht liefern kann?« Lex lief ein Schauer über den Rücken. Er umklammerte den Hörer, als wollte er sich daran festhalten. Doch seine Stimme verriet seine Aufregung nicht. »Dann bekommen Sie Ihr Geld nicht.« »Und Sie bekommen Ihren Vater nicht zurück«, setzte Bynes sofort nach. Lex holte tief Luft und tat sein Bestes, um ruhig zu klingen. »Wenn Sie ihn töten, verlieren wir beide.« »Tatsächlich?«, fragte Bynes. »Ist es nicht so, dass Sie eine Menge erben, wenn er stirbt?« Lex hämmerte den Hörer auf die Gabel. Er wusste nicht, ob das richtig gewesen war. Sein Vater hatte ihn immer ermahnt, nie mit Terroristen, Entführern oder irgendwelchen anderen Kriminellen zu verhandeln. »Das führt zu nichts, Lex«, hatte er gesagt. »Sie werden keine Ruhe geben.«
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Dennoch, die Worte seines Vaters beruhigten ihn nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich noch schlechter. Er spielte mit dem Leben seines Vaters. Das wusste spätestens jetzt auch Bynes, obwohl er wahrscheinlich nicht verstand warum. Falls sein Vater noch am Leben war, würde er es vielleicht nicht mehr lange bleiben. Oder Bynes reagierte, indem er Lex irgendetwas schickte, um zu beweisen, dass sein Vater lebte. Lex verbarg sein Gesicht in den Händen. Er würde nicht auf einen weiteren Kontaktversuch warten. Er musste rasch handeln. Es blieb ihm keine andere Wahl. Clark war auf dem Weg in den Geschichtsunterricht, als er zufällig einen Blick durch die Korridorfenster warf und einen blonden Schopf zwischen den Autos auf dem Parkplatz entdeckte. Chloe! Also wollte sie doch nicht bis zur Mittagspause warten. Er hätte es wissen müssen. Sie war von dieser Sache besessen. Er fragte sich, wohin sie wollte. Er hatte ihr nicht gesagt, wen er befragen wollte. Aber natürlich hatte Chloe ihre eigenen Quellen, und mit denen würde sie reden – ohne ihn. Dann würde sie weitermachen und sich garantiert in Schwierigkeiten bringen, und er würde ihr nicht beistehen können, weil er nicht wusste, wo sie war. »Was ist los?« Pete blieb vor Clark stehen. Lana war direkt hinter ihm. »Chloe. Ich habe ihr versprochen, ihr bei den Nachforschungen zu helfen. Jetzt habe ich gesehen, dass sie ohne mich losfährt.« »Jetzt?«, fragte Lana. »Die Schule hat doch gerade erst angefangen!«
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Clark nickte. »Hört mal, ich werde versuchen, sie aufzuhalten –« »Du wirst sie nicht aufhalten können«, unterbrach ihn Pete. »Dann werde ich sie eben begleiten«, brummte Clark. »Du musst uns entschuldigen, Lana. Sag einfach, ich hätte sie nach Hause gefahren, weil sie krank geworden ist oder so.« »Clark«, mahnte Lana. »Du solltest nicht...« »Ich komme auch mit«, fiel ihr Pete ins Wort. »Wenn ihr alle geht, gehe ich auch«, erklärte Lana. Clark spürte, wie sein Herz sank. Er konnte nicht alle im Auge behalten. »Hört zu, Leute. Ich denke nicht, dass das nötig ist.« »Wir sind alle darin verwickelt, Clark«, erinnerte Lana. Pete wandte sich bereits dem Ausgang neben den Fenstern zu. »Ich werde Chloe aufhalten.« Clark biss sich auf die Zunge. Es wäre wirksamer gewesen, wenn er es getan hätte, aber jetzt würde er keine Chance dazu bekommen. Er hatte keine andere Wahl, als sich Pete anzuschließen. Lana folgte ihnen. »Es wäre besser, wenn du uns einfach entschuldigen würdest«, wandte sich Clark an Lana. »Nicht für mich«, widersprach Lana. »Es ist besser, etwas zu tun, als herumzusitzen und abzuwarten.« Clark schüttelte den Kopf und hielt die Tür für sie auf. »Ich verstehe nicht, was du meinst.« »Du weißt, was ich meine, Clark.« Und er wusste es auch. Leider. Er ließ die Tür hinter sich zufallen. Die Luft war heute ein wenig kühl. Die Hitze der vergangenen Tage war verschwunden. Clark ging über den Bürgersteig zum Parkplatz und war versucht, große Schritte zu machen, damit Lana nicht nachkam.
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Aber es gelang ihr, ihn einzuholen. Sie schien so entschlossen zu sein wie Chloe. Pete hatte den Parkplatz bereits halb überquert. Er rannte und fuchtelte wild mit den Armen. Chloe fuhr bereits auf die Ausfahrt zu, wurde aber langsamer, als sie Pete sah. Sie hielt an und kurbelte ihr Fenster herunter. »Du wirst mich nicht zurückhalten können. Ich habe einen Tipp bekommen...« Dann konnte Clark ihre Stimme nicht mehr hören. Sie musste den Kopf abgewendet haben. Pete trat an die Seite des Wagens. Er antwortete ihr, aber Clark konnte auch ihn nicht hören. Dann griff Pete nach der Autotür und öffnete sie. Doch er stieg nicht ein. Er sah sich nach Clark um. »Komm«, sagte Lana. Sie rannte durch die Lücke zwischen den Wagen auf Chloe zu. Clark folgte ihr und wünschte sich, er hätte einen anderen Vorschlag. Er wusste, dass es besser gewesen wäre abzuwarten, aber niemand außer ihm war dazu bereit. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gefühl, weil sie keinen richtigen Plan hatten. Als er den Wagen erreichte, saßen Lana und Pete bereits im Fond. Er musterte den Beifahrersitz und dachte daran, wie seine Knie bei der letzten Fahrt gegen das Armaturenbrett gestoßen waren. »Steig ein, Clark, bevor Direktor Kwan auftaucht und ich noch mehr Ärger bekomme«, forderte Chloe ihn auf. Clark stieg ein. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du so oder so Ärger bekommen wirst.« »Und«, sagte Chloe, als sie Gas gab, »wo fahren wir hin?« Clark zog die Autotür zu. »Du hast ausgesehen, als wüsstest du es.« »Ich wollte zur Fabrik fahren. Ich dachte, ich könnte jemandem die Namen entlocken. Aber du sagtest, dass du einen Mann kennst, der mit uns reden wird.« Chloe sah ihn an. 204
»Du hast das doch nicht nur gesagt, um mich in der Schule zu halten, oder?« Einen Moment lang überlegte er, ob er lügen sollte. Aber es hätte nichts genutzt. Er kannte Chloe. Sie war fest entschlossen, die Sache in Angriff zu nehmen, ob Clark ihr nun half oder nicht. »Sein Name ist Bob Reasoner«, antwortete Clark. »Er hat früher in der Futtermittel- und Saatguthandlung gearbeitet. Danach ist er von der LuthorCorp eingestellt worden. Jetzt arbeitet er bei der Tankstelle in der Innenstadt. Ich habe ihn vor ein paar Tagen getroffen und auf seinen neuen Job angesprochen. Er sagte, er wäre einer der Unglücklichen, die gefeuert worden sind.« Chloe lächelte Clark strahlend an. »Ich wusste, dass du mir helfen würdest.« »Ich weiß nicht, ob es etwas bringt«, warnte Clark. »Dann werden wir eben in ein oder zwei Stunden wieder zurück sein.« Das bezweifelte Clark allerdings stark.
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17 CHLOE FUHR DURCH NEBENSTRAßEN zu einem Apartmentkomplex, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Sie war noch nie in diesem Teil von Smallville gewesen. Pete und Lana auch nicht, wie ihre Kommentare verrieten. Clark war ungewöhnlich still – selbst für seine Verhältnisse. Kurz zuvor war er mit Chloe an der Tankstelle aus dem Wagen gestiegen, um mit Bob Reasoner zu reden. Reasoner war ein kleiner, pummeliger Mann mit einem bitteren Gesichtsausdruck. Chloe fragte sich, woher Clark ihn kannte. Als Reasoner herausfand, warum sie ihn aufgesucht hatten, war er sehr abweisend geworden. »Hört zu«, hatte er geknurrt. »Ich habe gesehen, was es Jed Franklin eingebracht hat, darüber zu reden. Ich werde euch nichts sagen.« »Sie denken, dass Mr. Franklin seine Familie getötet hat, weil er entlassen wurde?«, fragte Chloe. Reasoner hatte sie mit einem Wie-dumm-bist-du-eigentlichBlick angesehen. »Ich denke, Franklin hat sich mit den falschen Leuten eingelassen, und als er versuchte, darüber zu reden, ist alles nur noch schlimmer geworden.« »Wie meinen Sie das?«, hakte Clark nach. »Ich sagte, ich werde nicht darüber reden, Clark, und ich meine es auch so.« Clark warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und kehrte dann zum Wagen zurück. Chloe war nicht so leicht abzuschütteln. Sie baute sich vor Reasoner auf, so gut das bei ihrer Größe ging. »Ich werde herausfinden, was passiert ist, Mr. Reasoner«, erklärte Chloe. »Und wenn ich das getan habe, werde ich Ihren Namen in der Fackel nennen, zusammen mit denen aller 206
anderen. Sie können also jetzt mit mir reden oder später mit den Reportern der größeren Zeitungen wie dem Daily Planet. Es liegt an Ihnen.« Reasoners Augen hatten sich bei ihren Worten verengt. »Du bist nicht so nett, wie du aussiehst, Kleine!« Chloe verzog die Mundwinkel leicht nach oben. »Bei weitem nicht.« Er seufzte. »Okay, ich werde dir etwas erzählen, dann lässt du mich in Ruhe. Du wirst meinen Namen nicht erwähnen, nicht jetzt und später auch nicht. Verstanden?« »Das hängt davon ab, was Sie mir zu sagen haben, Mr. Reasoner.« Er überlegte einen Moment. Dann setzte er an. »Der ganze Ärger begann, als ein Kerl namens J. B. Bynes in der Fabrik anfing. Von Anfang an stiftete er Unruhe unter den Arbeitern. Er versuchte, sie gewerkschaftlich zu organisieren, aber ich habe nie geglaubt, dass er das aus reiner Nächstenliebe tat, verstehst du? Er hat zu oft darüber geredet, wie viel Geld die Luthors haben und dass wir einen Teil davon verdient hätten. Ich schätze, Daddy Luthor erfuhr davon, und alle, die mit Bynes Kontakt hatten, wurden gefeuert.« »Ich dachte, Sie wurden gekündigt?«, hakte Chloe nach. »Wir wurden gefeuert, erhielten aber eine Abfindung. Deshalb sprechen alle von Kündigung. Man erklärte uns, dass wir die Abfindung nur bekommen würden, wenn wir den Mund hielten.« »Mr. Franklin hat nicht den Mund gehalten.« »Nein. Ich schätze, wenn der alte Luthor davon erfahren hätte, hätte es Schwierigkeiten gegeben. Aber jetzt steckt sogar er in Schwierigkeiten, nicht wahr?« Chloe runzelte die Stirn. »Sie denken, dass da ein Zusammenhang besteht?« »Ich habe schon genug gesagt, Kleine.« Reasoner drehte ihr den Rücken zu und ging davon. 207
»Mr. Reasoner«, rief Chloe. »Noch eine Sache. Wo kann ich J. B. Bynes finden?« Reasoner blieb stehen und sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sonst mithörte. Dann kam er zu ihr zurück. »Er hat ein Apartment am Oak Circle. Das ist dieser Komplex, den sie vor fünfzehn Jahren gebaut haben. Erdgeschoss, erstes Gebäude, erstes Apartment. Du kannst es nicht verfehlen.« Reasoner beugte sich näher zu Chloe. »Ich habe dich nie gesehen. Ich kenne dich nicht, und wenn du irgendjemand erzählst, dass du die Information von mir hast, werde ich behaupten, dass du lügst. Hast du das verstanden?« Er hatte ihr tatsächlich Angst gemacht, nicht weil sie sich bedroht fühlte, sondern weil er selbst so verängstigt wirkte. »Ich habe verstanden«, sagte sie schnell und eilte dann zurück zum Wagen. Daraufhin bot sie den anderen an, sie zurück zur Schule zu fahren, aber ihre Freunde wollten nichts davon wissen. Sie drängten sie, ihnen von ihrem Gespräch mit Reasoner zu erzählen, und nur Clark fand, dass es sehr seltsam klang. »Was ist los mit dir, Clark?«, fragte sie, als sie sich dem Apartmentkomplex näherten. Clark schüttelte nur den Kopf und tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Clark«, sagte Lana. »Tu nicht so geheimnisvoll.« Normalerweise reagierte Chloe ein wenig verärgert, wenn sich Lana einmischte, aber diesmal war sie froh für die Unterstützung. Clark drehte sich zu Lana um. »Das ist nicht meine Absicht.« »Aber was stört dich dann?«, wollte Pete wissen. Clark zuckte die Schultern und sah wieder aus dem Beifahrerfenster. Chloe gab nicht auf.
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»Wenn es wegen diesem Reasoner ist«, sagte sie, »also ich glaube, er wollte sich nur wichtig machen. Derartige Kerle.« »Derartige Kerle sind normalerweise offen und ehrlich, Chloe.« Clark klang ein wenig verärgert. »Ich habe ihn noch nie so erlebt, und ich kenne ihn schon seit Jahren. Er redet nie viel, aber wenn er etwas sagt, sollte man ihm zuhören.« Chloe seufzte. »Ich habe ihm zugehört, Clark. Deshalb sind wir hier.« Sie bog auf den Parkplatz des Apartmentkomplexes. Es handelte sich um eines dieser zweistöckigen Gebäude mit hervorstehenden Erdgeschossapartments. Die Apartments im ersten Stock hatten Balkone, die die Eingänge zu denen im Erdgeschoss überschatteten. Zu seiner Gründungszeit war er vermutlich der beste Komplex in Smallville gewesen. Jetzt war er jedoch heruntergekommen. Genau wie die Bewohner. Die Autos, die auf dem Parkplatz standen, waren mehrere Jahre alt, verbeult und rostig. Chloe hielt vor dem ersten Gebäude an. Sie stellte überrascht fest, dass zu den Häusern Garagen mit Platz für zwei Autos gehörten. »Ich werde das übernehmen«, erklärte sie. »Es würde den Kerl bestimmt nervös machen, wenn wir alle vier bei ihm aufkreuzen.« »Du wirst nicht allein gehen«, widersprach Clark. Chloe sah sich zu Lana und Pete um, die beide nickten. Sie hatte gewusst, dass er das sagen würde. Sie hatte es sogar gehofft. Obwohl sie es niemals zugegeben hätte, hatten Reasoners Bemerkungen auch sie verunsichert. »In Ordnung«, nickte sie. »Nur du, Clark.« Sie griff nach dem Diktiergerät und steckte es in eine Tasche ihrer Jeans. Dann nahm sie ihre Kamera. Clark stieg vor ihr aus.
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Er wartete am Rinnstein auf sie. Zusammen gingen sie auf das erste Apartment zu, während Lana und Pete ihnen neugierig nachsahen. Kleine, ungepflegte Büsche säumten den Gehweg. Tulpen, deren erste Blüte schon Jahre zurücklag, steckten ihre winzigen Knospen aus der trockenen Erde. Die Treppe, die hinauf zum ersten Apartment führte, war rissig und schmutzig vom Winterschnee. Die Reklame, die Monate alt sein musste, war von der Tür weggetreten worden und verrottete auf der Treppe. Clark ging voran, warf einen Blick auf das Namensschild über der Klingel und zuckte die Schultern. »Das ist es.« Chloe holte tief Luft. Es beunruhigte sie, dass sie so froh war, dass Clark ihr half. Eines Tages würde sie allein zu derartigen Orten gehen müssen. Aber etwas an diesem Apartment, vielleicht seine Dunkelheit und offensichtliche Vernachlässigung, erfüllte sie mit größerem Unbehagen, als sie je vor einem Interview gespürt hatte. Sie sah Clark an, der die Augenbrauen hochzog, als würde er sie fragen, ob sie dies wirklich tun wollte. Sie klingelte. Ein schwaches Pfeifen hallte durch das Apartment. Sonst war kein Laut zu hören. Nach einer Weile klingelte Chloe erneut. Nichts. »Er ist nicht da«, drang eine Frauenstimme von oben zu ihnen. Chloe trat einen Schritt zurück, um zu sehen, wer mit ihr sprach. Eine Frau Ende zwanzig, die trotz der Kälte einen Bikini trug und das Gesicht voller Sonnencreme hatte, beugte sich über die Brüstung des Balkons. »Wo ist er?«, fragte Chloe. »Wahrscheinlich auf Arbeitssuche.« Die Frau zuckte die Schultern. »Er sagte, er hätte einen gut bezahlten Job in Aussicht.« Clark trat zurück, sodass er neben Chloe stand. 210
Die Frau grinste erfreut. »Ich wusste doch, dass ich noch jemanden gesehen habe. Hallo Schätzchen, wer bist du denn?« Chloe wollte ihr gerade sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte, aber sie hatte eine Ahnung, dass sie dann nichts mehr aus ihr herausbekommen würde. »Was für einen Job?«, fragte sie stattdessen. »Ich weiß es nicht. Er ist nicht gerade mitteilsam.« Die Frau lehnte sich noch weiter über die Brüstung, die nicht besonders stabil aussah. Chloe an ihrer Stelle hätte sie nicht so sehr belastet. »Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, mischte sich Clark ein. »In der nächsten Zeit wahrscheinlich nicht. Er ist vor etwa einer Woche nach Metropolis gefahren.« »Wo er diesen Job in Aussicht hat?«, hakte Chloe nach. »Weißt du, Süße, so viel Kontakt habe ich nicht mit ihm.« Clark schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. Chloe hatte noch nie erlebt, dass er es bewusst eingesetzt hatte. »Aber ich bin sicher, dass Sie ein paar Dinge gehört haben«, sagte er freundlich. Er flirtete tatsächlich mit ihr. Das hätte Chloe ihm nicht zugetraut. »Süßer, wenn du zu mir raufkommst, werde ich dir ein paar Dinge erzählen.« Clarks Lächeln wurde noch breiter. »Dann stimmt es also?«, sagte er. »Was haben Sie gehört?« »Ich habe gehört, wie er sich mit einem seiner Kumpel gestritten hat. Der Kerl schrie herum und sagte die schrecklichsten Dinge über seine Familie.« »Jed Franklin«, flüsterte Chloe. Clark nickte. »J. B. sagte darauf, bald würde alles gut werden. Dann kam er ein oder zwei Tage später mit einem anderen Kerl hierher zurück. Sie lachten und führten sich auf, als würden sie 211
irgendetwas feiern. Als es mir zu laut wurde, habe ich J. B. gesagt, er soll ruhiger sein. Da sagte er, er müsste noch einen Job beenden, dann würde er von hier verschwinden.« Clarks Lächeln verblasste. »Das hat er gesagt?« »Sicher. Gefällt dir das nicht, Süßer?« »Es klingt nur nicht nach ihm«, sagte Clark schnell, als würde er den Mann kennen. »Oh doch, es klingt genau nach ihm. Du kennst ihn nicht besonders gut, oder?« Die Frau beugte sich noch weiter über die Brüstung. Chloe fragte sich, ob sie zuerst das Bikinioberteil oder das Gleichgewicht verlieren würde. »Möchtest du raufkommen? Ich könnte dir ein paar Dinge zeigen.« »Ich wette, dass sie das könnte«, murmelte Chloe. »Ich meine, ein paar Dinge von J. B.«, verdeutlichte die Frau und funkelte Chloe an. Offenbar hatte sie ihre Bemerkung gehört. »Nein, danke«, wehrte Clark ab. »Ich werde ihm einfach eine Nachricht hinterlassen.« »Befestige sie am besten an seinem Truck«, sagte die Frau. »Wenn er überhaupt noch zurückkommt, dann um ihn abzuholen.« »Welcher ist es?«, fragte Chloe. »Der in der angrenzenden Garage. Ich habe sie ihm vermietet. Er schuldet mir auch noch drei Monate Miete. Ich hoffe nur, dass er bald zurückkommt, oder der Truck gehört mir.« Die Frau löste sich von der Brüstung, als hätte ihr J. B. Bynes’ Truck den Spaß an der Unterhaltung verdorben. Wahrscheinlich hatte sie eingesehen, dass sie Clark nicht dazu bringen konnte, zu ihr hinaufzukommen. Clark sah Chloe an. Sie zuckte die Schultern. Eine derartige Sackgasse hatte sie nicht erwartet. Aus irgendeinem Grund hatte sie fest damit gerechnet, J. B. Bynes in seinem Apartment anzutreffen.
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Lana und Pete waren aus dem Wagen gestiegen. Auf dem Weg zu den Garagen stießen sie zu Chloe und Clark. »Wer war das?«, fragte Pete. »Jemand mit zu viel freier Zeit«, erwiderte Chloe. Sie erreichten die Garage. Das Garagentor war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden, und an der Front war ein großes Stück Holz abgesplittert. Wahrscheinlich hatte es jemand gerammt. Chloe rüttelte prüfend an der kleinen Tür an der linken Seite. Sie war verschlossen. »Was jetzt?«, fragte Lana. »Wir müssen wohl zurückfahren«, sagte Pete. »Das hier ist eine weitere Sackgasse.« Clark trat zu der Tür. »Lass mich es mal versuchen. Vielleicht klemmt sie nur.« Chloe hasste es, dass er ihr körperlich haushoch überlegen war. Sie wusste aus Erfahrung, dass er jede Tür öffnen konnte, selbst wenn sie sicher war, dass sie abgeschlossen war. Und wie erwartet: Als er sich gegen die Tür stemmte und den Knauf packte, öffnete sich die Tür so problemlos, als wäre sie vorher nicht fest verschlossen gewesen. »Kannst du mir nicht mal zeigen, wie man das macht?«, fragte Chloe, als sie sich an ihm vorbei ins dunkle Innere drängte. Die Garage roch nach altem Benzin und Schimmel. Außerdem hing noch ein anderer Geruch in der Luft, der sowohl vertraut als auch beunruhigend auf sie wirkte. Chloe schnüffelte, konnte ihn aber nicht einordnen. Clark kam hinter ihr herein, gefolgt von Lana und Pete. Chloes Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch durch die schmutzigen Fenster drang genug Licht, dass sie etwas sehen konnten. Sie hatten nicht den Eindruck, als würde jemand zurückkommen, um den Truck zu holen. Er war alt und 213
verbeult, genau wie die, die draußen standen. Der Unterschied war, dass dieser nicht verrostet war. Er sah aus, als hätte jemand zumindest versucht, ihn zu pflegen. »Hier riecht es wie im Sumpf«, bemerkte Lana. »Wenigstens gibt es keine Moskitos«, brummte Pete. Chloe starrte Lana an. Sie hatte den richtigen Riecher. Es roch tatsächlich nach dem Brackwasser des Sumpfes. »Chloe«, sagte Clark leise. »Das ist nicht Bynes’ Truck.« »Woher weißt du das, Clark?« »Weil«, sagte Clark, als er sich ihm näherte, »dieser Truck Jed Franklin gehört.« Chloe nahm ihn näher in Augenschein. Clark hatte Recht; der Truck entsprach bis hinunter zum Nummernschild der Polizeibeschreibung. Die Deckenlampe flammte auf. Chloe fuhr leicht zusammen. Pete hatte das Licht angeschaltet und sah sich den Boden an. Dicker Schlamm, noch immer feucht, zeigte Abdrücke von zwei verschiedenen Stiefelpaaren. Ein Paar ging von der Fahrertür das andere von der Beifahrerseite des Trucks aus. Beide führten zum Tor. »Wow«, murmelte Pete. »Du hast es erfasst.« Chloe hob ihre Kamera und schoss ein Foto nach dem anderen, wobei sie darauf achtete, dass sie genug Licht hatte, um gute Bilder von den Stiefelabdrücken zu machen. »Tretet bloß nicht darauf.« »Zwei Personen!«, sagte Clark. »Zwei Personen sind zurückgekommen, nachdem sie die Franklins getötet haben.« »Und sie kamen hierher«, nickte Lana. »Demnach ist dieser Bynes darin verwickelt.« »Vielleicht war die Verschwörungstheorie, von der mein Dad gehört hat, doch nicht so weit hergeholt«, sinnierte Clark. Chloe ging langsam am Truck entlang und machte Fotos vom Heck, den Seiten und dem Innern. Durch das Blitzlicht wurden Papiere, die auf dem Sitz lagen, enthüllt. 214
»Aber es ist trotzdem eine Sackgasse«, seufzte Lana. »Das glaube ich nicht«, widersprach Clark. »Die Frau sagte, dass Bynes der Ansicht war, er würde zu Geld kommen. Könnte sein, dass er Mr. Luthor entführt hat.« »Und die Franklins haben es herausgefunden?«, fragte Pete. Chloe senkte ihre Kamera. Der Geruch nach Schlamm, Schimmel und Dünger wurde intensiver, je näher sie dem Truck kamen. Sie unterdrückte einen Niesreiz. »Vielleicht haben sie es herausgefunden, vielleicht haben sie gedroht, es zu melden, keine Ahnung«, sagte Clark. »Aber es sieht so aus, als ob Mr. Franklin darin verwickelt war.« »Ich habe heute Morgen nicht den Polizeibericht überprüft«, gestand Chloe. »Ich weiß nicht, ob sie seine Leiche gefunden haben.« »Ich wette, sie werden sie noch finden, wenn es nicht schon geschehen ist«, fügte Pete hinzu. »Wir müssen der Polizei mitteilen, dass der Truck hier steht«, sagte Clark. »Am besten machen wir es diesmal anonym«, schlug Lana vor. »Ich glaube, die Polizei könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wenn sie Bynes findet, wird sie auch Mr. Luthor finden«, sagte Pete. »Vielleicht sollte ich Lex Bescheid sagen«, murmelte Clark. Chloe hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie griff durch das offene Beifahrerfenster und nahm einen Zettel, der oben auf den Papieren lag. Er sah nicht wie eine Quittung für Saatgut oder Benzin aus. Er sah wie ein Zettel aus, den man in der Küche benutzte, um sich Notizen zu machen oder eine Einkaufsliste zu erstellen. Sie hielt das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger. »Was ist das?«, fragte Lana. »Ich weiß es nicht«, gestand Chloe. Sie faltete den zusammengeknüllten Zettel vorsichtig auseinander und las: 215
Über Old Country Rd. B etwa 15 Kilometer zum Feldweg 115 423 (schwer zu sehen. Gebüsch). Rechts abbiegen, 4,5 Kilometer folgen. Blockhaus auf linker Seite. »Eine Wegbeschreibung«, sagte Clark, der ihr über die Schulter sah. »Zu einem verborgenen Ort«, fügte Lana hinzu. Chloe nickte. »Ein Blockhaus im Wald.« »Der perfekte Ort, um etwas zu verstecken«, meinte Pete. Chloe steckte den Zettel in ihre Tasche. »Oder jemanden«, fügte sie hinzu.
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18 WIE ES DIE SATELLITENFOTOS schon gezeigt hatten, war die Landstraße voller Schlaglöcher. Lex saß in der Kabine eines Tiefladertrucks, der mit hundert Kilometern pro Stunde über die Straße raste und wurde kräftig durchgerüttelt. Auf der Ladefläche des Trucks saß eine Eliteeinheit von Männern, die teils aus verschiedenen Abteilungen der LuthorCorp kamen und teils alte Freunde von Lex waren. Alle waren gekleidet wie Feuerwehrmänner, die außer Kontrolle geratene Buschfeuer bekämpfen sollten. Der Tiefladertruck, in einem Vorort von Metropolis gemietet, passte perfekt zu dieser Tarnung. Es sah aus, als wären sie eine Feuerwehrmannschaft, die ihrer täglichen Arbeit nachging. Falls jemand sie stoppte, wäre allerdings die Hölle los. Die Feuerkraft auf dem Fahrzeug genügte, um Armeen auszulöschen. Lex hatte nicht den Einfluss seines Vaters, einen Police Officer oder County Sheriff dazu zu bringen, ein Auge zuzudrücken. Die zahlreichen Männer mit dunkler Vergangenheit, die hinter ihm saßen, würden ihm in dieser Hinsicht auch keine Vorteile verschaffen. Wenn sie die Polizei nur von weitem sahen, waren sie weg, und was sollte er dann tun? Deshalb bestand Lex darauf, dass sie mit einer strikten Geschwindigkeit von hundert Kilometern pro Stunde fuhren, was für diese Straße schnell, aber nicht völlig unmöglich war. Jeder, an dem der Truck vorbeifuhr, würde denken, dass sie unterwegs waren, um ein Feuer einzudämmen oder einen Brand zu löschen, der von der Hitze der letzten Tage entfacht worden war.
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Sofern der Beobachter sich überhaupt Gedanken über den Truck machte. Lex verließ sich darauf, dass sie nicht bemerkt wurden. Es war wichtig für seinen Plan. Sein Plan war denkbar einfach. Er würde mit genug Männern und Feuerkraft in das Blockhaus eindringen, die Entführer seines Vaters überwältigen und seinen Vater befreien. Lex war allerdings nicht der Hauptakteur für diese Show. Dafür hatte er einen ehemaligen Green Beret, der wusste, wie man mit derartigen Situationen umging. Außerdem hatte er zwei Scharfschützen und andere Experten im Umgang mit Waffen. Wenn er Glück hatte, würden die Entführer tot sein, bevor jemand das Blockhaus betrat. Der Truck rumpelte über weitere Schlaglöcher. Die Sitze hatten keine Federung. Lex hielt sich am Sicherheitsgurt fest und war froh, dass er im Innern und nicht draußen saß. Die Männer auf der Ladefläche hockten auf Metall. Sie hatten keine Sicherheitsgurte, und wahrscheinlich wurden sie jedes Mal heftig durchgeschüttelt, wenn der Truck über eine Unebenheit in der Fahrbahn fuhr. Lex war hier eigentlich fehl am Platz. Die Männer hatten ihm sogar vorgeschlagen, zu Hause zu bleiben, weil er ihnen möglicherweise nur im Weg sein würde. Aber er musste dabei sein. Er musste mit eigenen Augen sehen, ob alles gut verlief. Er wusste, dass die Aktion riskant war, aber er sah keine andere Lösung. Hensen hatte ihm nach dem Telefonat Vorwürfe gemacht. Er hatte das Gespräch abgehört und war schockiert gewesen, dass Lex die Anweisungen nicht entgegengenommen, sondern die Entführer herausgefordert hatte. Doch Lex hatte Hensen nichts von seinem Plan erzählt und würde es auch nicht tun. Als Lex die LuthorCorp verlassen hatte, hatte er Hensen nicht gesagt, was er vorhatte. Natürlich
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hatte Lex bemerkt, dass ihm die FBI-Agenten gefolgt waren, aber er hatte sie gewähren lassen. Er fuhr zum Club Noir, das Handy an seiner Hüfte, als wäre es der sechsschüssige Revolver eines Marshals aus dem Wilden Westen. Wenn die Entführer zurückriefen, würde Mrs. Anderson das Gespräch zu Lex durchstellen, ganz gleich, wo er war. Bis jetzt hatte es noch keinen Rückruf gegeben, was ihm Sorgen bereitete. Allerdings überwachte Hensen Lex’ E-Mail-Programm. Vielleicht waren die Anweisungen auf diesem Weg eingetroffen. Oder die Entführer hatten Schwierigkeiten, weitere Bilder und Videos zu schicken, ohne erwischt zu werden. Beim ersten Mal hatten sie das Überraschungselement auf ihrer Seite gehabt. Diesmal, so wussten sie, wurde nach ihnen gefahndet. Es würde nicht leicht sein, ein Internet-Café zu finden, das nicht überwacht wurde. Lex wusste, dass er ihnen eine schwierige Aufgabe gestellt hatte. Das Positive war, dass es ihm etwas Zeit verschafft hatte, und die hatte er, so gut er konnte, genutzt. Er hatte bereits einen Mann losgeschickt, um die Gegend zu überprüfen. Lex wollte sicher sein, dass seine Vermutung zutraf, bevor er Männer und Material für die umfangreiche Rettungsaktion einsetzte. Der Mann war losgefahren, als Lex sicher wusste, dass auf dem Satellitenfoto Bynes’ Grundstück zu sehen war. Die Anweisungen an den Mann waren einfach: Überzeugen Sie sich, dass das Blockhaus bewohnt ist; versuchen Sie, die Bewohner zu identifizieren, und stellen Sie fest, ob sich Lionel Luthor im Innern befindet. Der Mann sollte nicht versuchen, allein eine Rettungsaktion zu starten, und wenn er von den
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Entführern entdeckt wurde, sollte er sich als Anhalter ausgeben. Aber er war nicht entdeckt worden. Er hatte sogar einen Hinweis gefunden, der Lex garantierte, dass er auf der richtigen Spur war. Er hatte die Limousine entdeckt, abseits vom Feldweg versteckt. Die Limousine stand in einem Graben, von Blättern und Baumästen bedeckt. Von der Straße oder aus der Luft war sie nicht zu sehen. Lex’ Mann – dessen Namen er nicht kannte – hatte die Limousine nur entdeckt, weil er buchstäblich über sie gestolpert war. Die digitalen Fotos von ihr, darunter eins von dem verschmutzten Nummernschild LUTHOR 1, hatten Lex überzeugt zuzuschlagen. Aber er war sehr vorsichtig. Er hinterließ bei Mrs. Anderson einen Briefumschlag mit Anweisungen, den sie Hensen geben sollte, wenn er sich bis fünf Uhr nicht bei ihr gemeldet hatte. In dem Umschlag befanden sich alle Informationen, die Lex hatte, und seine Pläne bezüglich des Rettungsversuchs. Auf diese Weise würde Hensen erfahren, dass etwas schief gegangen war, und die FBI-Agenten einsetzen. Sie würden es natürlich vermasseln, aber wenn Lex bereits keinen Erfolg gehabt hatte, würde das Versagen der Behörden auch keine Rolle mehr spielen. Sie konnten nicht mehr weit von dem Feldweg entfernt sein, den er suchte. Lex’ Magen zog sich zusammen. »Denken Sie daran«, sagte er zu dem Fahrer. »Wir blockieren den Weg einen Kilometer von der Straße entfernt und gehen dann zu Fuß weiter.« »Wir wissen nicht, wie die Akustik dort oben ist«, warnte der Fahrer. »Ein Kilometer könnte zu nah sein. Sie könnten uns kommen hören.«
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Lex hatte auch daran gedacht. »Das macht nichts. Es sind immerhin fast vier Kilometer von dem Blockhaus zu diesem Teil des Weges. Wenn sie uns hören und überprüfen, umso besser. Das bedeutet, dass mein Vater von weniger Leuten bewacht wird.« »Ich hoffe nur, sie haben die Gegend nicht vermint«, sagte der Fahrer. Lex spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Daran hatte er nicht gedacht. »Wenn es so wäre, hätten wir die Gegend nicht ausforschen können.« Der Fahrer warf Lex einen Seitenblick zu, sagte aber nichts. Er schien nicht viel von ihm zu halten. Lex ignorierte seine unverhohlene Verachtung. J. B. Bynes war ein Krimineller, kein Mitglied des Militärs. Er führte keine umfangreichen Operationen durch. Die Entführung von Lionel Luthor war wahrscheinlich der komplexeste Plan, den Bynes in seinem ganzen Leben entworfen hatte. Und nach Bynes’ Vergangenheit zu urteilen, waren seine Komplizen auch keine Raketenwissenschaftler. Sie nahmen wahrscheinlich alle an, dass das Blockhaus zu abgeschieden war, um gefunden zu werden. Sie wussten nichts von Lex’ Kontakten und den Möglichkeiten des Informationszeitalters, die ihn in die Lage versetzt hatten, sie so schnell aufzuspüren. Lex legte eine Hand an sein Handy. Es hatte noch immer nicht vibriert. Hoffentlich hatte er in Bynes nicht den Eindruck erweckt, dass es ihm unmöglich war, das Geld zu besorgen. Er hatte so ein Gefühl, dass sich Bynes dann darauf konzentrieren würde, die LuthorCorp in den Ruin zu treiben – dabei würde das Leben von Lionel Luthor keine Rolle spielen. Aber da waren immer noch die Komplizen, die er nicht kannte... Doch Lex war fast sicher, dass sie sich damit nicht zufrieden geben würden. Sie wollten Geld sehen. Und wenn
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Bynes ihnen sagte, dass sie nichts bekommen würden, würden sie sich vielleicht gegen ihn wenden. Lex schloss einen Moment die Augen und lehnte sich zurück. Hatte er wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Es gab so viele Unwägbarkeiten. Er würde seinem Instinkt vertrauen müssen, und er wusste, dass sein Instinkt ihn durchaus täuschen konnte. Chloe hatte die Old Country Road B beim ersten Versuch verpasst. Petes lautstarker Protest vom Rücksitz aus hatte sie überzeugt, dass sie zu weit gefahren war. Sofort hatte sie gedreht und Ausschau nach der richtigen Ausfahrt gehalten. Nach längerer, mühsamer Suche waren sie endlich erfolgreich gewesen. Kein Wunder, dass sie die Abzweigung beim ersten Mal verpasst hatten, denn es gab keine offizielle Ausfahrt von dem Highway zwischen Smallville und Metropolis, nur eine Zufahrtsstraße, die zu einer sehr belebten Truckraststätte führte. Hinter der Raststätte befand sich eine Straße, die vom Haupthighway abknickte. Und das war die Old Country Road B. Offenbar war es eine jener Straßen, die nur die Einheimischen kannten. Schlaglöcher groß wie Krater machten die Straße nicht gerade einfach zu befahren. Zu beiden Seiten verliefen tiefe Gräben, sodass Chloe die Befürchtung hatte hineinzustürzen, wenn sie den Schlaglöchern zu weit auswich. »Das ist ein großartiger Ort, um sich zu verstecken«, bemerkte Lana. »Ich glaube, wir sind am Ende der Welt angekommen«, sagte Pete. Chloes Hände hielten das Lenkrad umklammert. Sie schwitzte, obwohl die Fenster offen standen und kühle Luft in den Wagen drang. Clark war wieder sehr schweigsam geworden. Chloe hatte das Gefühl, dass er über etwas nachdachte, doch es hatte 222
keinen Sinn, ihn danach zu fragen. Er würde ohnehin nichts erzählen. »Was tun wir eigentlich, wenn wir diesen Bynes finden?«, erkundigte sich Pete. »Wir werden ihn nach Franklin fragen«, antwortete Chloe. »Glaubst du wirklich, das wäre klug?«, fragte Lana. »Wenn er die Franklin-Familie getötet hat, wird er es uns bestimmt nicht auf die Nase binden. Und wenn doch, könnten wir in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.« Chloe nickte. »Wir müssen eben vorsichtig sein.« Clark rutschte auf seinem Sitz hin und her. Seine Knie stießen gegen das Armaturenbrett, aber er schien es nicht zu bemerken. »Es ist nicht mehr weit«, ergriff er endlich das Wort. »Es müsste einer der nächsten Feldwege sein.« Chloe sah ihn überrascht an. Sie hatte sich an sein Schweigen gewöhnt. Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung war. Ein Truck kam ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegen. Bis jetzt war ihnen noch kein anderes Fahrzeug auf dieser Straße begegnet. Auch die anderen hatten den Truck bemerkt. »Ihr denkt doch nicht, dass sie das sein könnten, oder?«, fragte Pete. »Sie?«, wiederholte Lana. »Du meinst Bynes?« »Ja«, nickte Pete. »Ich weiß es nicht«, gestand Chloe. »Es ist schwer zu sagen.« Der Truck wurde langsamer, als würde der Fahrer ebenfalls nach den Feldwegmarkierungen Ausschau halten. Dann hielt er fast an. Clark betrachtete ihn stirnrunzelnd und legte den Kopf zur Seite. »Was ist los, Clark?«, fragte Chloe. 223
Clark schüttelte nur den Kopf ohne zu antworten. »Clark?« Der Truck bog in einen der Feldwege. Als er abbog, entdeckte Chloe eine Reihe von Männern auf der Ladefläche des Trucks. Vielleicht sechs Kerle, es konnten aber auch mehr sein. Sie sahen nicht gerade freundlich aus. »Was haltet ihr davon?«, fragte Lana. »Ich weiß es nicht«, murmelte Clark, »aber das hat nichts Gutes zu bedeuten.« »Warum?«, wollte Pete wissen. »Weil«, sagte Clark, »dieser Truck, wenn ich mich nicht irre, soeben in den Weg eingebogen ist, der zu Bynes’ Haus führt.«
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19 ERWARTUNGSGEMÄß WAR DER FELDWEG noch holpriger als die Landstraße. Lex wurde heftig durchgeschüttelt und hatte das Gefühl, seine Zähne klapperten so sehr, dass sie jeden Moment aus seinem Mund fliegen würden. Er fragte sich, wie die Männer auf der Ladefläche das aushielten. Lex drehte den Kopf und warf einen Blick auf den Kilometerzähler. Er wollte sichergehen, dass der Fahrer auch wirklich nach einem Kilometer anhielt. Aber er hätte sich deswegen keine Sorgen machen müssen. Sie legten diesen Kilometer in Windeseile zurück, und dann kam der Truck zum Halt. Vor dem Truck stiegen Staubwolken auf. Lex fragte sich, ob man den Staub vom Blockhaus aus sehen konnte. Die Muskeln in seinem Nacken schmerzten von der Belastung. Die Innenseite seiner rechten Wange, auf die er sich gebissen hatte, ohne es zu bemerken, schmerzte ebenfalls. Er holte tief Luft. Hinter ihm klirrte Metall an Metall, als die Männer ihre halb automatischen Waffen von der Ladefläche des Trucks warfen. Dann sprangen die Männer ab. Lex stieß die Tür auf. Die Männer hatten ihre Köpfe bereits mit Blättern bedeckt und ihre Gesichter bemalt, sodass sie im Wald schwer auszumachen waren. Lex selbst hob sich von ihnen ab wie ein Blitzlicht in einer dunklen Nacht. Er konnte fast spüren, wie das Sonnlicht von seinem sehr weißen, kahlen Kopf reflektiert wurde. »Mein Vater muss lebend befreit werden«, betonte Lex noch einmal. »Sie haben das alle verstanden, oder?« Sie nickten.
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Er wollte jedes Risiko ausschließen. Wenn Lionel Luthor diese Entführung nicht überlebte, dann nur, weil er bereits tot war, wenn das Rettungsteam eintraf. Wie auf dem Zettel stand, war der Feldweg 115 423 schwer zu sehen. Größtenteils von Gebüsch verdeckt, erweckte er den Eindruck, als wäre er seit Jahren nicht mehr benutzt worden. »Halt hier an«, befahl Clark. Chloe stoppte. Clark starrte den Feldweg an. Der Staub, den der Truck vor ihnen aufgewirbelt hatte, hing noch immer in der Luft. »Wir müssen unseren Plan ändern«, sagte Clark. »Leute wie ihr dürften nicht dorthin gehen.« »Leute wie ihr?«, wiederholte Pete ungläubig. »Seit wann bist du anders als wir?« Schon immer, dachte Clark, aber er sprach es nicht laut aus. Die Bemerkung war ihm einfach so rausgerutscht. »Habt ihr gesehen, was auf diesem Truck war?«, fragte er. »Eine Menge Männer«, nickte Chloe. »Sie waren wie Soldaten oder Feuerwehrmänner gekleidet«, sagte Clark. »Und alle hatten Waffen dabei.« Er würde den anderen nicht erzählen, dass er außerdem Lex Luthor auf dem Beifahrersitz gesehen hatte. Clark wusste, was da vorging. Lex hatte ein Team zusammengestellt, um seinen Vater zu retten – und dabei würden höchstwahrscheinlich eine Menge Menschen getötet werden. Und das wollte Clark unbedingt verhindern. Er stieg aus dem Wagen. »Was hast du vor?«, fragte Chloe. »Ich werde nur dem Feldweg ein Stück folgen und mich umsehen.« »Wir warten fünf Minuten«, erklärte Chloe. »Wenn du dann nicht zurück bist, kommen wir nach.«
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»Wartet, bis ich euch sage, dass es sicher ist«, mahnte Clark. Dann zwang er sich, sie anzulächeln. »Wer weiß? Vielleicht bekommst du eine noch viel bessere Story.« Sie wollte noch etwas erwidern, aber er war schon aus dem Wagen gestiegen und folgte dem Feldweg. Der Weg war von Unkraut überwuchert. Aber der Großteil des Unkrauts war platt gedrückt, was darauf hindeutete, dass er in der letzten Zeit oft benutzt worden war. Clark ging normal weiter. Sobald er außer Sichtweite des Wagens war, setzte er seine Supergeschwindigkeit ein. Als er den Truck sah, blieb er hinter einem Baum stehen. Um den Wagen herum standen Lex und acht Männer, von denen die meisten halb automatische Gewehre trugen. Lex wirkte nervös. Clark verstand seine Entscheidung. Er hätte genauso gehandelt, wenn sein Vater in Schwierigkeiten gewesen wäre. Zwar hatte er keine Männer mit Waffen mitgebracht, aber er hätte auch kein Lösegeld gezahlt. Er hätte versucht, seinen Vater selbst zu retten. Unglücklicherweise verfügte Lex nicht über Clarks Superkräfte, deshalb hatte er sich Hilfe besorgen müssen. Doch das Waffenarsenal beunruhigte Clark. Es konnte leicht jemand getötet werden – und wahrscheinlich nicht nur die Entführer. Es schien wirklich einen Zusammenhang zwischen der Ermordung der Franklin-Familie und Luthors Entführung zu geben. Wahrscheinlich mussten die Franklins, sterben, weil sie hinter den Plan gekommen waren. Lex schien seinen Männern letzte Anweisungen zu geben. Dies verschaffte Clark die Zeit, die er brauchte. Er musste Bynes und Lionel Luthor zuerst erreichen. Nur dann würde er vielleicht eine Menge Blutvergießen verhindern können.
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Er entschied sich, einfach an dem Truck vorbeizurennen. Die Männer würden nur einen Schatten wahrnehmen. Sie würden nicht wissen, was es war. Und es war besser, als durch den Wald zu stolpern und auf irgendetwas zu treten. Er rannte los und hoffte, dass sein Plan funktionieren würde. Etwas Blaues und Großes raste an Lex vorbei. Ein Streifen aus Licht und Farben, der an ihm und dem Truck vorbeizuckte, dann war wieder alles, wie es vorher war. Wenn Lex nicht das Rauschen gehört hätte – wie von einem Auto, das schneller als dreihundert Kilometer pro Stunde an einem vorbeischoss –, wäre er nicht sicher gewesen, ob seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Das Team hatte es ebenfalls bemerkt. Alle rissen ihre Waffen hoch und zielten, noch bevor Lex sich umdrehen konnte. Er hielt den Atem an: Die Waffen waren auf ihn gerichtet. Dann wurde ihm klar, dass ihre Gewehre an ihm vorbeizielten und nach diesem Schatten suchten. »Nur nicht schießwütig werden, Gentlemen«, sagte er, so ruhig er konnte. »Was zum Teufel war das?«, fragte einer der Männer. »Wahrscheinlich irgendein Vogel«, sagte Lex. »Es muss hier wilde Tiere geben. Wir sollten besser keine hundert Kugeln in ein Kaninchen jagen, und so noch jemanden auf uns aufmerksam machen?« Die Männer senkten ihre Gewehre wieder. Sie waren undisziplinierter, als es ihm lieb sein konnte, aber er hatte keine andere Wahl. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Sollte er sie losmarschieren lassen, das Risiko eingehen und hoffen, dass sie den Job so erledigten, wie er es geplant hatte? Oder sollte er die Aktion abbrechen und die Sache den Behörden überlassen? Aber sein Entschluss stand längst fest. 228
»Ich will keine Schüsse hören, bis wir Bynes im Visier haben, ist das klar?«, fragte er. Die Männer nickten. Lex holte tief Luft. Jetzt oder nie. »Also gut«, sagte er. »Es geht los!«
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20 CLARK ERREICHTE DAS BLOCKHAUS innerhalb weniger Sekunden. Er blieb hinter einem geparkten Truck stehen, der so neu war, dass das Chrom noch immer glänzte, sah man von den Staubschichten auf den Kotflügeln und Radkappen ab. Zwei Männer standen auf der Veranda. Einer von ihnen war groß und bärtig. Er trug ein Flanellhemd und schlammverkrustete Stiefel. Der andere... Der andere war Jed Franklin! Clark spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Franklin war am Leben? Er hatte seine Frau und Kinder für ein bisschen Geld getötet? Clark konnte es nicht glauben. »Du verlangst von mir«, sagte Franklin, »dass ich Selbstmord begehe. Ich werde nicht nach Metropolis fahren. Ich weiß nicht, wie man eine E-Mail abschickt, und ich kann niemanden um Hilfe bitten, vor allem nicht, wenn ich diese Fotos anhängen muss.« Clark richtete seinen Spezialblick auf das Blockhaus. Im Innern befanden sich zwei weitere Personen. Eine saß mit gesenktem Kopf auf einem Stuhl. Das musste Lionel Luthor sein. »Wenn du nicht fährst«, sagte der andere Mann, »ist deine Familie tot!« Ein Schauder des Entsetzens durchlief Clark. Jed Franklin glaubte, dass seine Familie noch am Leben war. Er arbeitete mit den Entführern zusammen, weil er dachte, dass er seiner Familie so das Leben retten konnte. »Was spielt es schon für eine Rolle, ob ich es mache oder nicht?«, erwiderte Franklin. »Du hast mir gesagt, dass meine Familie stirbt, wenn ich erwischt werde. Es gibt für mich 230
keinen Ausweg, J. B. Wenn ich nicht tue, was du sagst, wirst du sie töten, und wenn ich tue, was du sagst, werde ich erwischt, und du wirst sie auch töten.« J. B.! Chloe hatte also Recht gehabt. J. B. Bynes war in den Fall verwickelt. Kein Wunder, dass Reasoner Angst vor ihm hatte. Hatte Bynes auch Reasoner bedroht? Clark warf einen Blick über seine Schulter. Er sah oder hörte nichts von Lex’ Männern, aber das hatte nichts zu bedeuten. Er hatte nur ein paar Minuten, um diese Sache zu klären. »Du musst einfach nur klug genug sein, dich nicht erwischen zu lassen«, sagte J. B. Bynes. Clark suchte das ganze Blockhaus ab und entdeckte einen niedrigen Keller. Das würde sein Vorhaben erleichtern. Er musste Prioritäten setzen. Zuerst musste er Lex’ Dad retten. Dann Jed Franklin von hier wegschaffen. Außerdem musste er die Schießerei verhindern. Er hoffte nur, dass ihm genug Zeit blieb. »Mir gefällt das nicht«, sagte Chloe, als sie aus dem Wagen stieg. »Clark ist schon ewig weg.« »Es sind erst ein paar Minuten, Chloe«, widersprach Pete. »Es dauert sicher eine Weile, bis man das Ende dieses Weges erreicht. Und die fünf Minuten sind noch nicht um.« »Ich hoffe, er ist vorsichtig«, murmelte Lana. »Was ist, wenn er entdeckt wird?« »Clark wird schon aufpassen.« Pete zwängte sich aus dem Fond des Wagens. Chloe blickte den Feldweg entlang. Nichts außer Reifenspuren, Dreck und platt gedrücktem Unkraut war zu sehen. Kein Clark, kein Truck, kein mysteriöser J. B. Bynes. »Ich werde ihm folgen«, verkündete sie plötzlich. »Nein, das wirst du nicht«, protestierte Pete. »Wir warten auf Clark, genau wie wir es versprochen haben.«
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Chloe seufzte. Dann sah sie auf ihre Uhr. »Wenn er in fünf Minuten nicht zurück ist, gehe ich los, ob nun mit oder ohne euch.« Sie hatten sich also entschieden. Und Chloe wusste, dass es die längsten fünf Minuten ihres Lebens werden würden. Clark suchte den hinter ihm liegenden Wald mit seinem Spezialblick ab. Er konnte sieben Männer sehen, die sich mit Waffen in den Händen näherten. Sie würden jeden Moment hier sein. Er rannte mit Supergeschwindigkeit zu dem Blockhaus und grub sich bis zu dem niedrigen Keller durch. Als er darin angelangt war, verstopfte er das Einstiegsloch mit Erdreich. Es roch hier unten nach Schimmel und Tieren. Er kroch über einige Mäuseköttel. Ein Spinnennetz verfing sich in seinem Gesicht. Er war in Bereitschaft, und es hatte nur ein paar Sekunden gedauert. »Was war das?«, hörte er Jed Franklin fragen. »Was?«, sagte Bynes. »Ich dachte, ich hätte etwas vorbeihuschen gesehen.« Ein Moment herrschte Schweigen, während sich Bynes offenbar umschaute, dann folgte das Poltern von Stiefelabsätzen auf der Holzveranda. Clark hielt den Atem an und wartete. »Ich sehe nichts«, sagte Bynes. Clark glitt unter die Dielen. Mit seinem Röntgenblick konnte er den Stuhl über seinem Kopf sehen. Der Mann, der darauf saß, rührte sich nicht. »Hör zu«, sagte Franklin. »Ich werde es tun, wenn du mir verrätst, wo meine Familie ist.« »Wenn du zurückkommst, werde ich es dir sagen«, versprach Bynes. Clark steckte seine Finger in die Ritzen zwischen den Dielen. Da hörte er etwas, was seinen Plan über den Haufen warf. 232
Die Stimme von Lex Luthor. »Ihr da im Blockhaus!«, hallte Lex’ Stimme durch das Tal. »Ihr seid umstellt. Kommt mit erhobenen Händen heraus.« Clark suchte mit seinem Spezialblick die Umgebung des Blockhauses ab. Es stimmte. Lex scherzte nicht. Seine Männer hatten ihre Posten eingenommen und das Blockhaus tatsächlich umstellt. Der Mann in dem Blockhaus stürzte zum Fenster. Dann waren Schüsse von der Veranda aus zu hören. »Was zum Teufel war das?«, fragte Chloe. »Schüsse, ganz in der Nähe.« Pete packte sie an der Hand und zog sie in den Wagen. »Leg dich hin. Wenn wir von Querschlägern getroffen werden, ist ein Verweis wegen Schulschwänzens unsere geringste Sorge.« Weitere Schüsse folgten. Pete kauerte neben ihr nieder und hielt sie unten. »Bist du unten, Lana?«, rief er. Sie antwortete nicht. Stattdessen hörten Chloe und Pete das Piepen von Tasten. Lana versuchte, jemanden anzurufen. »Rufst du die 911 an?«, fragte Chloe. »Das scheint meine Aufgabe zu sein«, sagte Lana. »Wenn sie uns hier finden, werden sie –“ »Mach dir deswegen keine Sorgen«, unterbrach Pete. »Ich bin sicher, dass wir nicht die Einzigen sind.« »Außerdem«, fügte Lana hinzu, »ist Clark mittendrin. Ich will, dass Hilfe hier ist, falls er verletzt wird.« Verletzt. Chloe hatte nicht einmal daran gedacht, dass er verletzt werden konnte. Er wirkte immer so unverwüstlich. Aber Lana hatte Recht. Auch Clark konnte etwas zustoßen. Sie hatte ihn in Gefahr gebracht, und das nur, weil sie diese Story unbedingt haben wollte. Clark hatte gesagt, dass er sie für ihr Engagement bewunderte. 233
Aber Chloe wollte auf keinen Fall, dass diese Bewunderung ihn umbrachte. Für Clark klang es wie der Zweite Weltkrieg. Wieder und wieder hörte er Kugeln durch die Luft pfeifen. Dazwischen Lex’ Stimme. Vergeblich brüllte er: »Hört auf! Hört auf! Mein Vater ist vielleicht da drinnen.« Sein Vater war tatsächlich im Haus, und er war in Gefahr. Clark setzte seine Superkraft ein, durchstieß den Holzboden des Blockhauses, packte die Beine des Stuhles, auf dem Lionel Luthor saß, und zog ihn in den niedrigen Keller. Der Stuhl landete mit einem Schwall aus Staub und Trümmern auf ihm. Er schirmte Lionel Luthor mit seinem Körper vor etwaigen Querschlägern ab und prüfte seinen Puls. Er war kräftig, doch Luthor war in einer schlechten Verfassung. Er war geschlagen worden und bewusstlos. Über ihnen brüllte Lex weiter. Jemand schrie, und Clark hörte ein Poltern. Dann folgte ein weiteres Poltern, woraufhin die Schießerei endete. »Ihr blöden Bastarde.« Lex klang panischer, als Clark ihn jemals erlebt hatte. »Wenn mein Vater tot ist, werdet ihr alle dafür bezahlen.« Clark schlang seine Arme um den Stuhl und den darauf sitzenden Mann, bewegte sich rückwärts durch den niedrigen Keller und durchstieß die Erde, mit der er das Einstiegsloch verstopft hatte. Dabei spähte er mit seinem Röntgenblick durch die Dielen. Er sah, dass einer der Männer in der Nähe des Fensters, ein anderer auf der Veranda lag. Der dritte lehnte an der Verandatür. Clark wusste nicht, ob sie alle tot waren. Er war nicht sicher, was besser für Jed Franklin sein würde. Der Tod oder das Leben. 234
21 J. B. BYNES WAR TOT. Er lag wie eine zerbrochene Puppe auf der Veranda. Der andere Mann – der Lex vage bekannt vorkam – lehnte neben der Tür, noch am Leben, und drückte eine Hand auf eine Wunde an seinem Bein. Lex zitterte vor Zorn. Das Blockhaus war von Kugeln durchsiebt. Diese Männer hatten die Aktion genauso verpfuscht, wie es seiner Meinung nach die Behörden getan hätten. Es müsste schon an ein Wunder grenzen, wenn jemand in dem Blockhaus die Schießerei überlebt hatte. Er eilte den Hügel hinunter. Einer der Männer, die er engagiert hatte, wollte etwas zu ihm sagen, aber Lex wehrte ihn ab. Er hatte versagt. Es erstaunt mich immer wieder, dass mein Sohn so unfähig ist. Lex nickte, als hätte sein Vater tatsächlich zu ihm gesprochen. Er betrat die Veranda, stieg über Bynes’ Leiche und ignorierte den anderen Mann, der nach ihm griff. Lex stieß die Tür auf und blickte hinein. Ein Mann lag unter dem Fenster. Er war zu groß und breit, um sein Vater zu sein. Lex zitterte. Hatte er sich getäuscht? War sein Vater gar nicht hier? Dann sah er das Loch im Boden. Er hielt den Atem an, trat an den Rand und spähte nach unten. Er sah aufgewirbelten Staub und frische Fußspuren. War sein Vater unter dem Blockhaus gefangen gehalten worden? So etwas kam vor. Wenn es so war, dann hatte sein Vater vielleicht überlebt.
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Lex ging um das Loch im Boden herum zur Rückseite des Blockhauses. Und dort, auf dem von Unkraut überwucherten Rasen, saß Clark Kent und befreite gerade seinen Vater von den Stricken, die ihn an einen Stuhl fesselten. Lionel war bewusstlos. Clark hielt ihn mit einer Hand fest, während er mit der anderen die Fesseln löste. Lex riss die Hintertür auf. »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«, stieß er ungläubig hervor. Wie schaffte Clark es nur, jedes Mal aufzutauchen, wenn er in Schwierigkeiten war? Clark schüttelte den Kopf. »Doch ich bin hier.« Lex stieg die Hintertreppe zum Rasen hinunter. Unkraut streifte seine Jeans. In der Ferne hörte er Sirenen. »Dein Vater ist ziemlich mitgenommen, aber er lebt.« Lex kniete vor seinem Vater nieder. So hatte er ihn noch nie gesehen – die Haare schmutzig und zerzaust, das Gesicht voller Blut, die Lippen blau, die Augen geschlossen. »Was machst du hier, Clark?«, fragte Lex. »Eigentlich war Chloe einer Story auf der Spur. Sie war unten auf der Straße, und ich sah diesen Truck hierher fahren. Ich wollte nachschauen und –“ »Du hast es geschafft, meinen Vater ganz allein zu retten?« Lex klang ruhig, hielt sein Gesicht aber abgewendet. Er wollte nicht, dass Clark bemerkte, wie sehr ihn der Zustand seines Vaters erschütterte. »Nein«, sagte Clark. »Er war hier draußen gefesselt. Ich habe ihn nur umgestoßen, als die Schießerei losging.« Das erklärte nicht die Erde an Clarks Rücken oder die Spinnweben in den Haaren von Lex’ Dad. Aber das war Lex im Moment egal. Die Sirenen kamen näher. »Du hättest sterben können«, sagte Lex. »Hätte ich das gewusst«, erwiderte Clark, »hätte ich mich nicht freiwillig gemeldet.« 236
Lex strich die Haare aus dem Gesicht seines Vaters. Es war ein seltsames Gefühl, ihn zu berühren. Er tat es so selten. Clark stand auf. »Ich werde nach Chloe und den anderen sehen.« Lex nickte, aber er richtete sich nicht auf. Er wollte nicht von der Seite seines Vaters weichen. Lex war völlig weggetreten. Clark wandte sich ab. »Clark«, sagte Lex und drehte sich halb zu ihm um. Clark blieb stehen. »Ich schätze, ich schulde dir Dank. Wieder einmal.« Clark zuckte die Schultern. »Du kennst mich, Lex. Immer zur richtigen Zeit am falschen Ort.« Dann drehte er sich um und lief den Weg hinunter.
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22 CHLOE GAB DEN ZEITUNGSARTIKELN, die sie über die Story geschrieben hatte, den letzten Schliff. Sie lehnte sich zurück und streckte ihre Arme, die völlig erschöpft waren. Wie der Rest ihres Körpers. Sie hatte wieder eine ganze Nacht durchgearbeitet. Clark hatte ihr bereits einen Kaffee und ein Zimtröllchen gebracht. An diesen Service könnte sie sich gewöhnen, doch das sagte sie ihm nicht. Er saß auf einem der Stühle an der Wand der Merkwürdigkeiten und las alles, was sie geschrieben hatte, noch einmal durch. Lana saß neben ihm, las die Seiten, mit denen er fertig war, und gab sie an Pete weiter, der im Schneidersitz auf einem Schreibtisch hockte. »Ich kann es noch immer nicht fassen«, seufzte Lana. »Danny Franklin musste sterben, nur weil dieser Bynes das große Geld machen wollte.« »Das hat Mr. Franklin der Polizei gesagt, und alles, was Clark im Blockhaus mitgehört hat, hat das bestätigt.« Chloe beugte sich nach vorn, speicherte den Artikel und öffnete dann ihr E-Mail-Programm. Die Story würde nicht nur in der Fackel, sondern auch im Daily Planet erscheinen. Das war für den Planet die einzige Möglichkeit, den ganzen Knüller zu bekommen. Sie hatte es abgelehnt, sich von ihnen interviewen zu lassen. Zwar war es sehr wahrscheinlich, dass ihr Artikel umgeschrieben und sie am Ende nur zitiert wurde, doch das kümmerte sie nicht. Sie hatte ihren ersten Erfolg gelandet. »Der arme Mr. Franklin«, sagte Lana. »Seine ganze Familie auf diese Weise zu verlieren.« »Er hat sich mit den falschen Leuten eingelassen«, erwiderte Pete und warf Clark einen bedeutungsvollen Blick zu. »Solche 238
Dinge passieren, wenn man die falschen Leute für seine Freunde hält.« Clark hielt seine Augen weiter auf den Artikel gerichtet. Chloe fragte sich, wie er diesen Blick von Pete ignorieren konnte. »Wenigstens geht es Lex’ Dad gut«, meinte Clark ausweichend. »So gut es ihm gehen kann«, unkte Pete. »Pete, hör auf«, sagte Lana. »Der Mann hat eine Menge durchgemacht.« »Er hat die Leute, die für ihn arbeiten, auch eine Menge durchmachen lassen.« Dann griff er nach einer neuen Seite, las weiter und zeigte damit, dass dieser Teil der Unterhaltung für ihn beendet war. »Also haben Bynes und sein Freund, dieser Rowen, die ganze Franklin-Familie getötet und Jed Franklin weisgemacht, dass sie sie entführt haben, nur um ihn zur Kooperation zu zwingen?«, fragte Lana. »Das kommt mir ganz schön umständlich vor.« »Ich denke, sie hatten zuerst vielleicht sogar geplant, sie zu entführen«, erwiderte Chloe. »Der erste Tote – wahrscheinlich Danny – war offensichtlich ein Unfall. Der Gerichtsmediziner sagte, er hätte sich gegen seinen Angreifer gewehrt.« »Es erklärt auch die Zwei-Mörder-Theorie, die wir hatten«, warf Clark ein. »Jeder der Komplizen erledigte zwei Opfer, und sie gingen so schnell vor, dass Franklin dachte, seine Familie sei entführt worden.« »Warum haben sie ihn überhaupt gebraucht?«, fragte Pete. »Er hatte keine besonderen Fähigkeiten. Clark sagte, dass er nichts von Hightech verstand.« »Sie brauchten jemanden, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben konnten, wenn alles vorbei war«, sagte Chloe. »Und er wusste von der Verschwörung. Vergesst nicht, dass er in der Stadt eine Menge Aufhebens darum gemacht hat. Er wurde ihr Opfer.« 239
»Sie hatten eine Menge Opfer«, murmelte Lana. »Zu viele.« Sie senkte den Kopf. »Wir werden ihn alle vermissen, Lana«, sagte Clark sanft. »Ich weiß«, entgegnete Lana. »Und es ist komisch. Jetzt, wo ich weiß, dass sein Vater versucht hat, ihn zu retten statt ihn zu töten, fühle ich mich besser.« »Ich auch«, erklärte Pete. Chloe nickte. »Aber das ist nur ein kleiner Trost für Mr. Franklin.« »Ich bezweifle, dass es für ihn überhaupt einen Trost geben kann«, sagte Clark. Der Unterricht hatte heute früher geendet, damit jene, die wollten, an den Beerdigungen teilnehmen konnten. Clark war dort gewesen und machte sich anschließend auf den Heimweg. Als er die Zufahrt heraufkam, betrachtete er sein Zuhause. Er hatte sein ganzes Leben in dem weißen Haus verbracht, den Großteil der letzten fünf Jahre damit verbracht, vom Heuboden aus die Sterne zu beobachten, und den größten Teil der letzten Jahre damit verbracht, zu lernen, wie er seinem Vater bei der Arbeit helfen konnte. Er hätte alles in einem kurzen Augenblick verlieren können. Der Truck seiner Eltern hielt neben ihm an. Seine Eltern trugen ihre beste Kleidung. Sie kamen ebenfalls von der Beerdigung, aber sie hatten anschließend noch einen Nachbarn besucht und an dem kleinen Leichenschmaus teilgenommen. Clark hatte sich nicht dazu durchringen können. »Willst du den Rest des Weges mitfahren, Sohn?«, fragte sein Dad von der Fahrerseite des Trucks aus. Clark schüttelte den Kopf. »Dad«, sagte er und stellte nun die Frage, die ihn den ganzen Heimweg über beschäftigt hatte, »wenn es uns getroffen hätte und nicht sie –“ »Uns hätte es nicht getroffen, Clark«, erwiderte sein Dad. »Warum nicht?«, fragte Clark. »Wegen meiner Kräfte?« 240
Sein Dad seufzte und sah dann Clarks Mom an. »Fährst du das letzte Stück? Ich werde mit Clark gehen.« Sie nickte. Jonathan stieg aus, und seine Mom rutschte auf den Fahrersitz des Trucks und fuhr langsam zur Auffahrt hinauf. »Clark«, sagte sein Dad, »Jed Franklin hat einen Fehler gemacht.« »Weil er für die LuthorCorp gearbeitet hat?« »Nein. Weil er vergessen hat, dass er Freunde hat. Hätte er sich in dem Moment, in dem er von der Verschwörung hörte, an die Behörden gewandt, wäre nichts von alldem passiert.« »Aber er hatte Angst«, sagte Clark. Jonathan nickte. »Das ist aber keine Entschuldigung, Clark.« »Vermutlich nicht«, seufzte Clark. »Aber du hast gehört, wie er darüber gesprochen hat. Du sagtest, es wäre verrücktes Zeug gewesen.« »Er war betrunken. Das hat ihn nicht glaubwürdig gemacht, ebenso wenig wie sein Hass auf die Luthors. Er war der Ansicht, dass sie bekommen würden, was sie verdienten.« Clark holte tief Luft. Ihm gefiel es nicht, seinen Vater herauszufordern, doch er musste es einfach loswerden. »Du hast das mehr als nur einmal über die Luthors gesagt.« Sein Dad blickte ihn überrascht an. »Das habe ich wohl. Und weißt du was? Ich denke allmählich, dass ich mich geirrt habe. Niemand verdient so etwas. Die Franklins nicht und die Luthors auch nicht.« Clark sah seinen Vater an. »Weißt du«, sagte sein Dad, »manchmal braucht ein Mann zum Trost etwas Gutes zum Essen. Deine Mutter hat neue Erdbeerbecher gemacht. Wie wäre es jetzt damit?« Clark lächelte, als er das Funkeln in den Augen seines Dads sah. »Klingt gut.«
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