Stefan Wolf
Gefährliche Diamanten Ein Fall für
TKKG
Pelikan
ISBN 3 - 8144 - 0134 - 4 © 1983 by Pelikan AG • D-3000...
65 downloads
747 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Stefan Wolf
Gefährliche Diamanten Ein Fall für
TKKG
Pelikan
ISBN 3 - 8144 - 0134 - 4 © 1983 by Pelikan AG • D-3000 Hannover l Alle Rechte vorbehalten Gesamtleitung und Textredaktion: f-press medien produktion gmbh, München, Egon Fein Umschlag-Gestaltung und Text-Illustration: Reiner Stolte, München Graphische Gestaltung: Heinrich Gorissen, München Gesamtherstellung: westermann druck, Braunschweig Schrift: 10/12 Punkt Palatino Printed in Germany
Inhalt 1. Überfall im P a r k h a u s . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Trick mit der S c h e c k k a r t e . . . . . . . . . . . 3. Schwarzer Tod aus G e n u a ? . . . . . . . . . . . . . 4. Den Falschen e r w i s c h t . . . . . . . . . . . . . . . 5. Berni und I s o l d e . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Anfang der G e b u r t s t a g s p a r t y . . . . . . . . . 7. Bankraub mit G e i s e l . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ab in den S c h l u p f w i n k e l ! . . . . . . . . . . . . . . 9. F e h l s c h l a g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Verhängnisvolle Ä h n l i c h k e i t . . . . . . . . . . . . l l. Rettung in letzter S e k u n d e . . . . . . . . . . . . . 12. Oskar entdeckt den G a n o v e n . . . . . . . . . . . . 13. Ein ungebetener G a s t . . . . . . . . . . . . . . . .
. 11 24 35 52 65 76 90 103 114 129 144 157 170
TARZAN heißt in Wirklichkeit Peter Carsten, aber kaum einer nennt ihn so. Er ist der Anführer unserer vier Freunde, der TKKG-Bande. Warum sie so heißen? Weil das die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen sind: Tarzan, Klößchen (auch das ist freilich nur ein Spitzname), Karl und Gaby. Tarzan, 13 Jahre und ein paar Monate alt, ist immer braun gebrannt und ein toller Sportler — vor allem in Judo, Volleyball und Leichtathletik, und da besonders im Laufen. Seit zwei Jahren wohnt der braune Lockenkopf in der Internats-Schule, geht jetzt in die Klasse 9 b. Sein Vater, ein Ingenieur, kam vor sechs Jahren bei einem Unfall ums Leben. Seine Mutter, die als Buchhalterin arbeitet, kann das teure Schulgeld nur mühsam aufbringen. Doch für ihren Sohn ist ihr nichts zuviel. Tarzan dankt es ihr mit guten Zeugnissen. Aber deshalb würde ihn niemand — nicht mal im Traum — für einen Streber halten. Im Gegenteil: Wenn es irgendwo ein Abenteuer zu erleben gibt, ist er der erste und immer dabei. Ungerechtigkeit kann ihn fuchsteufelswild machen. Und so kommt es, daß er für andere immer wieder Kopf und Kragen riskiert.
KARL, DER COMPUTER geht in dieselbe Klasse wie Tarzan, in die 9b, wohnt aber nicht im Internat, sondern bei seinen Eltern in der Stadt. Er heißt mit Nachnamen Vierstein, und sein Vater ist Professor für Mathematik an der Universität. Wahrscheinlich hat Karl von ihm das tolle Gedächtnis geerbt, denn er merkt sich einfach alles — wie ein Computer. Karl ist lang und dünn, und wenn ihn etwas aufregt, putzt er sofort die Gläser seiner Nickelbrille. Bei einer Prügelei nützt ihm sein Gedächtnis leider wenig. Muskeln wären dann besser. Weil er die nicht hat, bleibt er lieber im Hintergrund und kämpft mit den Waffen seines Gehirns — aber feige ist er nie.
KLÖSSCHEN ist ein prima Kerl, an dem man nichts auszusetzen hätte, wenn er bloß nicht so vernascht wäre. Eine Tafel Schokolade — und er wird
schwach. Noch lieber sind ihm zwei, drei oder gar fünf Tafeln. So bleibt es nicht aus, daß Willi Sauerlich — so heißt er mit vollem Namen — immer dicker und unsportlicher wird. Zusammen mit Tarzan, in dessen Klasse er auch geht, wohnt er im Internat in der Bude ADLERNEST. Klößchens Eltern, die sehr reich sind und in der gleichen Stadt leben, haben nichts dagegen, denn dem Jungen gefällt es bei seinen Kameraden besser als zu Hause. Da ist mehr los, sagt er. Sein Vater ist Schokoladen-Fabrikant, und er hat sogar einen Zwölf-Zylinder-Jaguar. Heimlich wünscht Klößchen sich, so schlank und sportlich zu sein wie Tarzan.
GABY, DIE PFOTE hat goldblonde Haare und blaue Augen mit langen dunklen Wimpern. Sie ist so hübsch, daß Tarzan manchmal nicht hingucken kann, weil er sonst rot wird. Er mag sie halt sehr gern. Aber affig ist Gaby Glockner deshalb kein bißchen — im Gegenteil: Sie macht alle Streiche mit. Selbstverständlich passen die drei Jungens immer auf sie auf, besonders wenn's gefährlich wird. Vor allem Tarzan ist dann sehr besorgt. Er gibt es zwar nicht zu, aber wenn es darauf ankäme, würde er sich für Gaby zerreißen lassen. Sie wohnt, wie Karl, bei ihren Eltern in der Stadt, besucht aber auch die Klasse 9b im Internat. Der Vater ist Kriminalkommissar, die Mutter führt ein kleines Lebensmittelgeschäft. Als Rückenschwimmerin ist Gaby unschlagbar, und in Englisch hat sie die besten Noten. Sie ist sehr tierlieb und läßt sich von jedem Hund die Pfote geben, deshalb heißt sie auch „Pfote". Kein Wunder, daß sie mit großer Liebe an Oskar hängt, ihrem schwarz-weißen Cocker-Spaniel, Leider ist er auf einem Auge blind. Aber er riecht alles, besonders gebratene Hähnchen.
Stefan Wolf Ein Fall für TKKG Die Jagd nach den Millionendieben Der blinde Hellseher Das leere Grab im Moor Das Paket mit dem Totenkopf Das Phantom auf dem Feuerstuhl Angst in der 9 a Rätsel um die alte Villa Auf der Spur der Vogeljäger Abenteuer im Ferienlager Alarm im Zirkus Sarani Die Falschmünzer vom Mäuseweg Nachts, wenn der Feuerteufel kommt Die Bettelmönche aus Atlantis Der Schlangenmensch Ufos in Bad Finkenstein X 7 antwortet nicht Die Doppelgängerin Hexenjagd in Lerchenbach Der Schatz in der Drachenhöhle Das Geheimnis der chinesischen Vase Die Rache des Bombenlegers In den Klauen des Tigers Kampf der Spione Gefährliche Diamanten Die Stunde der schwarzen Maske
1. Überfall im Parkhaus Wäre Tarzan dabei gewesen, hätte er die Katastrophe sicherlich verhindert. Aber der Anführer der TKKG-Bande befand sich beim Judo-Training in der Stadt - glänzte also mit Abwesenheit, schon als alles begann. Es war an einem Freitagnachmittag Ende November. Ein grauer Himmel hängte seine Regenwolken über die Internatsschule und in Dr. Rönschls Ein-Zimmer-Wohnung summte der Teekessel. Rönschl — auch Schorsch genannt, was wohl mit seinem Vornamen Fritz-Georg zusammenhing — bewirtete den Rest der TKKG-Bande. Aber Gaby, Karl und Klößchen waren nicht deshalb hier, sondern um ihm beim Geldzählen zu helfen. Berge von Münzen bedeckten den Tisch. Keiner von ihnen hatte jemals soviel Hartgeld auf einem Haufen gesehen. Es war das überwältigende Ergebnis des November-Bazars (Bazar = Verkaufsausstellung zu wohltätigen Zwekken). Der hatte gestern stattgefunden. Hunderte von Schülern hatten Bastelarbeiten in der Turnhalle ausgestellt. Klößchens Vater, der Schokoladenfabrikant Sauerlich, hatte 200 Tafeln seiner besten Produkte gestiftet, und die Gäste waren aus der Stadt herbeigeströmt, hatten gekauft und gespendet. Zu Weihnachten sollte der Erlös einem städtischen Waisenhaus übergeben werden. Jetzt durfte man gespannt sein, wieviel es wohl war. „Ich wette, es ist ein Vermögen", sagte Klößchen. „Also wirklich - man könnte die Waisenkinder beneiden. " „Doch nicht wegen der paar Kröten", meinte Karl, der Computer, „die sowieso dringend gebraucht werden: für Anschaffungen. Du hast ja ein sonniges Gemüt, Willi. " „Im November nutze ich jeden Sonnenstrahl aus", nickte Klößchen. „Sogar wenn er von mir kommt. Au wei! Jetzt habe ich vergessen, wieviel schon im Sack ist. " 11
Er zählte Zwei-Mark-Stücke in einen Jutesack von Handtaschengröße, sah ihn vorwurfsvoll an, kippte den Inhalt wieder aus und mußte von vorn anfangen. Gaby hatte sich die Markstücke vorgenommen. Wieselflink arbeiteten ihre schlanken Finger. Sie zählte stumm, kaum daß die zarten Lippen sich bewegten. Dann und wann pustete sie gegen ihren goldblonden Pony, der — wiedermal - ziemlich tief in die Augen hing.
12
„Ist dir warm, Gaby?" fragte Dr. Rönschl, der das Pusten mißverstand. Bevor sie antworten konnte, kollerte Klößchen vor La-
chen. „Das macht Pfote doch nur, damit sie ab und zu mal was sieht. Vorn sind ihre Haare zu lang. Sie schneidet sie
selbst, hahah! Mit der Gartenschere. " „Mit der Papierschere", bestätigte sie. „Und was gibt's da zu lachen? Ich lache ja auch nicht, weil du vorn zu dick bist.
13
Hinten übrigens auch — von den Seiten ganz zu schweigen. Es ist höchstens zum Weinen. " Rönschl schmunzelte vor sich hin — auf eine Hügellandschaft von 50-Pfennig-Stücken. Karl grinste hinter seinen Brillengläsern. Und Klößchen murmelte, zum Teufel!, diese ständige Kritik an seiner vollschlanken Figur bringe ihn ganz durcheinander. Jetzt müsse er zum dritten Mal mit den Zwei-Mark-Stücken anfangen. Rönschl war Anfang Dreißig, schmächtig wie ein Hungerkünstler, der seine Kunst übertreibt, und äußerst beliebt: bei Schülern wie bei Kollegen. Er hinkte, eine Behinderung von Kindheit an. Ein großer Sportler zu sein, war sein heimlicher Traum, aber unerfüllbar. Nur der Weg ins Wasser stand ihm offen, vielmehr: ins Becken der Internats-Schwimmhalle. Dort plagte er sich mächtig, denn das Wasser mochte ihn nicht. Es behandelte ihn wie ein Stück Bleirohr oder — einen Sack voller Münzen. Es trug ihn einfach nicht. „Ist riesig nett von euch, daß ihr mir helft", sagte er jetzt. „Allein hätte ich mir die Finger wund gezählt. Wer will noch Tee?" Alle wollten, und in Klößchens Tasse plumpsten fünf Stückchen Zucker. Damit nicht genug, zog er eine Tafel seiner unvermeidlichen Notnahrung aus der Tasche: Schokolade. „Möchte jemand?" erkundigte er sich ängstlich. , 'Nein, nein", sagte Gaby. „Kannst alles allein essen. Fängst du jetzt zum vierten Mal an?" „Nein, nunmehr bin ich ganz konzentriert. Mir hat Nahrung gefehlt. In Geld wühlen wie ein Maulwurf unter Tage — und dann Hunger. Das paßt nicht zusammen. " Gaby sparte sich die Entgegnung und band den dritten Jutesack zu. Die Beträge, die jeder gezählt hatte, wurden auf einem Block notiert. Dort standen stattliche Summen. Denn nicht nur Münzgeld war eingegangen, sondern auch manche 14
Banknote. Die Scheine waren bereits gebündelt und in Umschläge eingetütet. „Vergeßt morgen abend nicht!" sagte Rönschl. „Wie könnten wir?" lächelte Gaby. „Darauf freuen wir uns seit Tagen. " Das betraf die Einladung. Britta Jacoby, eine Klassenkameradin, hatte Geburtstag. Sie war mit Gaby befreundet, heimlich in Tarzan verschossen und auch mit Karl und Klößchen vertraut. Also hatte sie die TKKG-Bande zum Abendessen eingeladen und - außerdem — ihren Lieblingslehrer, Rönschl nämlich, der andererseits Herrn Franz Jacoby, ihren Vater, gut kannte. Somit sprach alles dafür, daß es ein lustiger Abend würde. „Ist ja tierisch!" Klößchen ließ die Hände sinken. „Was?" fragte Gaby. „Ich bin bei 344. " „Was ist daran tierisch?" „Ich weiß nicht mehr, ob ich nur die Geldstücke gezählt oder ob ich jedes gleich mal-zwei genommen habe. Sind's also 344 Mark oder 344-Zwei-Mark-Stücke. " Gaby verdrehte die Augen. Karl stieß ein hohles Lachen aus. Studienrat Rönschl griff den Jutesack und luchste hinein. „Da sind auf keinen Fall mehr als 172 Münzen, Willi. " „Danke, Herr Doktor! Bin ich eigentlich eine Hilfe?" „Gute Frage", meinte Gaby. „Doch, Willi ist eine Hilfe", wiegelte Rönschl ab. „Außerdem sorgt er für Spaß. " „Humor ist, wenn man trotzdem lacht", foppte Gaby. „Willi, wie war's, du fängst nochmal an. Oder kannst du beschwören, daß es 172 Münzen sind. " „ . . . waren!" Er hob einen Finger, der Spuren von Schokolade aufwies. „Jetzt sind es schon 179. Ich zähle wie ein Haifisch. " „Was zählt denn der?" erkundigte sich Karl. „Heringe?" 15
„Weiß ich nicht. Jedenfalls ist er schnell. " Irgendwann wurden sie fertig. Sogar Klößchen konnte seinen Jutesack zubinden. Stolz schrieb er seine Summe auf den Block - und in Klammern dahinter: ungefähr. „Wieso ungefähr?" fragte Gaby. „Na, auch ein Haifisch kann sich irren. Und die bei der Bank zählen es sowieso nochmal. " Doch dann — als Rönschl sich mit einer Um-Himmels-Willen-Geste an die Schläfen griff, grinste Klößchen bis zu seinen Segelohren. „War nur Spaß, Herr Doktor. Ich verbürge mich. Ja, ich wette meinen Schokoladenvorrat, daß die Summe stimmt. " Rönschl zählte die Beträge zusammen. „Ihr werdet es nicht glauben! Es sind 7772 Mark und 77 Pfennig. " Er griff sofort in die Tasche und zog sein Portemonnaie hervor. „Aber das nehme ich nicht hin. Wenn Schnapszahl, dann richtig. " Er warf ein Fünf-Mark-Stück in einen der Säcke. „So, das kann man sich merken: sechs mal die Sieben und ein Komma. " „Das hat sich gelohnt", äußerte Karl. „Enorm! Naja, bei dem Publikumsandrang. Aber unsere Kunstwerke hätten das bei weitem nicht eingebracht. Da ist enorm was an Spenden geflossen. Bringen wir's jetzt zur Bank?" Rönschl nickte. „Und ihr begleitet mich, wie abgemacht. Leider hat die Bank schon geschlossen. Nach 16 Uhr geht da nichts mehr. Aber wir werfen die Geldsäcke in den Nachttresor. " Jedem wurde ein Zettel beigefügt - mit dem Hinweis, der Betrag sei dem Konto der Internatsschule gutzuschreiben. Im übrigen würde es da keine Schwierigkeiten geben, denn der Leiter des Geldinstituts war verständigt: jener Herr Franz Jacoby, bei dem man morgen abend zu Gast war. Draußen dunkelte es. Im Park pflückte der Wind die letzten Blätter von den Bäumen. Hinter allen Fenstern strahlte Licht: im Hauptgebäude, im Gelben Haus, im Pauker-Silo, in 16
den zahlreichen Nebengebäuden und sogar in der Turnhalle. Hunderte von Internatsschülern — nur Jungen, denn im Internat waren keine Mädchen zugelassen — hockten jetzt in der Arbeitsstunde, um — je nach Veranlagung — zu pauken oder zu pennen. Klößchen war heute davon befreit — aufgrund seiner verantwortungsvollen Tätigkeit. Vermutlich war die Befreiung der einzige Grund, weshalb er sich zum Geldzählen gemeldet hatte. Gaby und Karl, die Stadtschüler, kannten die Arbeitsstunde ohnehin nur vom Hörensagen. Daß man auf Tarzans Gegenwart in der Arbeitsstunde verzichtete, lag daran: Er bereitete sich vor auf ein Judo-Turnier — und das sozusagen im Namen der Schule. Rönschl und seine drei Helfer schleppten schwer an den Geldsäcken. Als sie am Küchengebäude vorbei kamen, hörten sie das Klappern von Töpfen und Pfannen. Durch das geöffnete Oberlicht der Fenster drang verlockender Duft. Heute abend gab's Goulasch. Klößchen mußte schlucken, sonst wäre seine Aussprache feucht geworden. „Hm, Herr Doktor! Ich glaube, es gibt Goulasch. " „Du erhältst eine doppelte Portion - nach der Arbeit. " „Sehr verständnisvoll. Wirklich, Herr Doktor! Sie sind ein sehr verständnisvoller P . . . ", beinahe hätte er Pauker gesagt, aber das schien ihm dann doch zu respektlos. Verzweifelt suchte er nach einem Wort, das mit P begann, salonfähig war und in den Zusammenhang paßte. Aber ihm fiel — Potztausend, wie peinlich! — nichts ein. Doch jetzt zeigte sich, wie der TKKG in Notzeiten zusammenhält. „ . . . ädagoge", ergänzte Gaby, als sie Klößchens Blackout (im übertragenen Sinne: Mattscheibe) bemerkte. „Komisch, daß du dir das Wort nicht merken kannst. Pädagoge (Erzieher), Pädagoge... Sprich's nach. " 17
„Pädagoge, Pädagoge", echote Klößchen. „Das sind die Wissenschaftler der Pädagogik (Erziehungslehre), nicht wahr? Damit sie nach dem Studium pädagogisch (erzieherisch) am Pädagogium (Lehranstalt) wirken können, nicht wahr?" „Jaaah!" Himmel! dachte sie. Er zertrampelt wirklich jede Brücke, die man ihm baut. Und wie stehe ich jetzt geistig vor Schorsch Rönschl da? Wie ein Waisenkind vor verschlossener Tür. Karl gab einen Grunzlaut von sich — vermutlich ein Lachen. Rönschl schmunzelte und zog seinen Autoschlüssel hervor, während sie sich dem Parkplatz näherten. Sein weißer Opel wartete dort auf Benutzung. Sie verstauten die Münzsäcke im Kofferraum. Auch den federleichten Sack, der den Umschlag mit den Scheinen enthielt. Karl und Klößchen stiegen hinten ein. Gaby setzte sich neben Rönschl und nahm ihr blaues Strickmützchen ab. Es war aus demselben Material wie ihr Pullover und das Blau der Wolle fast so blau wie das ihrer Augen. Eine Behauptung, der Tarzan widersprochen hätte. Denn Gabys Augen - dagegen waren Vergißmeinnicht und Kornblumen, das weite Meer und der Sommerhimmel eine farblose Angelegenheit. Der Motor war kalt, sprang aber dann doch an, und sie fuhren durchs Tor und über die einsame Zubringerstraße zur großen Stadt. Auf den Feldern hockten Raben, wie Gaby manchmal im Licht der Scheinwerfer sah. Und in der Ferne hatte der Abenddunst einen gelblichen Schimmer. Das bewirkten die Lichtquellen der Stadt. Die Bank, zu der sie wollten, lag in der Fußgängerzone. „Da müssen wir uns nochmal ein Stück Weges placken", meinte Rönschl. „Klimpert, bitte, nicht mit den Münzsäkken. Sonst denken die Leute, wir hätten Automaten geplündert. "
18
Er lenkte den Wagen in ein Parkhaus am Rand der Fußgängerzone. Es war vierstöckig und innen sehr dunkel, obwohl man die Wände aus lichtdurchlässigen Glasbausteinen errichtet hatte. In drei Etagen fand sich keine Lücke. Also kurvten sie durch den engen Betonschlauch unters Dach hinauf. Suchend rollte der Opel an dicht besetzten Reihen entlang. Keine Menschenseele war zu entdecken — als parkten hier die Fahrzeuge für Tage oder Wochen. Endlich entdeckte Rönschl eine leere Box hinter einem Pfeiler, und der Opel reihte sich ein. Gaby stieg aus. Sie krauste das Naschen. Die Luft roch nach Abgasen. Kalt war es auch. Und Willi, der Tolpatsch, stieß mit der Tür an das Nachbarauto. Das freilich war mindestens zwölf Jahre alt und immer lieblos behandelt worden. Auf eine Beule mehr oder weniger kam es nicht an. Rönschl öffnete den Kofferraum. Er und die Jungs nahmen die schwersten Säcke. „7777 Mark", frohlockte Klößchen, „und 77 Pfennig. Vielleicht werde ich später Bazar-Leiter. Das wird sicherlich gut bezahlt. Und von der gespendeten Schokolade könnte i c h . . ." Weiter kam er nicht, denn Gaby schrie auf. Sie wurde hinterrücks gepackt. Ein Arm umschlang sie. Ein großer Kerl — offenbar — preßte sie an sich, benutzte sie wie einen Schild und riß sie zurück, daß ihre Hacken über den Betonboden schlurften. Sie ruderte mit den Armen. Fast, daß ihr vor Schreck das Herz stehenblieb. Dann erstarrte sie, und die Angst breitete sich in ihr aus wie eine lähmende Krankheit. Etwas Kaltes wurde unterm Mützenrand an ihren Kopf gedrückt. „Keiner rührt sich", sagte eine heisere Stimme — zugleich hinter und über ihr. „Sonst ist es um die Kleine geschehen! Kapiert? Meine Pistole ist geladen!" 19
20
Überfall! dachte sie. Mein Gott, warum wir? Und jetzt! Wo wir doch das Geld bei uns h a b e n . . . Rönschl war zur Salzsäule erstarrt, zu einer sehr mageren Säule — Karl, der dünne Computer mit seinen Windhundgliedern, glich ihm darin wie ein Zwilling. Klößchen ließ den Sack mit den Markstücken fallen. Er platschte in den Kofferraum zurück, und die Münzen klirrten. „ W a s . . . wollen Sie?" fragte Rönschl mit bebender Stimme. „Leg die Säcke wieder rein, Mann!" befahl der heisere Kerl. „Und deine Brieftasche! Den Autoschlüssel läßt du am Kofferraum stecken. Los!" Rönschl gehorchte. Auch Karl entledigte sich seiner Münzlast. Die Fahrertür stand offen. Das Innenlicht reichte, um die Szene zu erhellen. Der Lehrer und die Jungs hatten bleiche Gesichter. Klößchen glotzte offenen Mundes, als verstünde er die Welt nicht mehr. „Herr Räuber", sagte er, „das Geld ist für Wohltätigkeit. Für Waisenkinder. Damit die Weihnachten auch etwas kriegen. Lassen Sie uns das Geld, ja? Ich schenke Ihnen eine Tafel Schokolade. " „Halt den Mund, Fettmops!" Klößchen schluckte. Gaby konnte ihm förmlich vom Gesicht ablesen, was er dachte. Nicht nur, daß man uns beraubt — ich muß mich auch noch beleidigen lassen. Und das nach der Hundsarbeit mit den Zwei-Mark-Stücken! Gaby konnte kaum atmen, steckte wie in einem Schraubstock, hatte vergeblich versucht, aus der Umklammerung rauszurutschen und spürte, daß der Heisere nach Frisörsalon roch — zumindest nach Rasierwasser. Er roch besser als die Parkhausluft mit ihren Abgasen, etwas jedenfalls. Sie sah, wie Rönschl seine Brieftasche auf die Münzsäcke 21
legte. Sein Gesicht schien gefroren: bläulich-weiß und eiskalt. „Kofferraum schließen!" befahl der Heisere. Warum kommt denn niemand? dachte Gaby. Wenn jetzt eine Reisegruppe käme, wären wir gerettet. Oder wenn Tarzan hier wäre. Bestimmt hätte er den Kerl überwältigt, ihn trotz der Pistole bezwungen — mit irgendeinem JudoTrick. Und warum kommt jetzt kein Streifenwagen? Unbedingt muß ich Papi sagen, daß hier Polizeistreifen sein müssen. Hier in Parkhäusern! Hier ist es am wichtigsten! „Zu der Tür dort!" befahl der Heisere jetzt. „Schnell, schnell! Beweg dich, Hinkebein!" Das galt Rönschl und war eine gemeine Verhöhnung. Nur eine Tür befand sich in der Nähe. Eine Stahltür, die in den Innenbau führte, das betonierte Rechteck, das den Mittelpunkt jeder Etage bildete. Hinter grauen Betonmauern verliefen Auf- und Abfahrt. Und etwas Platz war noch ausgespart für einen kleinen, fensterlosen Raum. Er enthielt Reinigungsgeräte, Eimer, aufgerollte Kabel und zwei Säcke Gips: Zeugs also, für das sich kein Schwein interessierte. Vielleicht steckte deshalb der Schlüssel. Oder war es ein Nachschlüssel, den der Heisere mitgebracht hatte? Rönschl und die Jungs marschierten in die Kammer. Gaby wurde hingeschleift — gleichsam unterm Arm des Heiseren, daß diesmal ihre Schuhspitzen schlurften und sie sich behandelt fühlte wie ein Putzlumpen. Am liebsten hätte sie gekratzt und wie ein Fohlen hinter sich gekeilt. Aber da war die Pistole, und die Mündung berührte noch immer ihr Goldhaar. „Ein Maskottchen (glückbringender Gegenstand) wie dich", sagte der Heisere, „würde ich am liebsten mitnehmen, Süße! Aber das fiele wohl auf. " Er meint mich, dieser Verbrecher. Pfui Teufel! dachte Gaby. 22
„Ihnen würde ich nur Unglück bringen", sagte sie heftig. „Und das wünsche ich Ihnen auch. Willi hat die Wahrheit gesagt. Das Geld ist für Waisenkinder bestimmt. Sie nehmen es ihnen weg, Sie elender Mensch. " „Aber, aber!" lachte er. „Ich bin doch selber ein Waisenkind. " Dann stieß er sie zu den dreien in die Dunkelheit der muffigen Kammer. Krachend fiel die Tür zu. Der Schlüssel knirschte im Schloß und wurde dann abgezogen. Gaby war gegen Karl getaumelt, beide stolperten über irgendwelche Geräte. Klößchen jaulte kurz auf, als er sich in der Finsternis das Knie anstieß. Dann fand Rönschl den Lichtschalter, und eine schmucklose Glaskugel flammte auf.
23
2. Der Trick mit der Scheckkarte Die vier sahen sich an. Auf allen Gesichtern stand Entsetzen. Rönschl begriff das Unglück noch nicht und bewegte die Lippen, als hätte er die Sprache verloren. „Jetzt fährt er ab", sagte Klößchen. „Mit Ihrem Auto, Herr Doktor. " In der Tat — sie hörten, wie der Wagen zur Abfahrt rollte. Wie zum Hohn tippte der Heisere dreimal kurz auf die Hupe. „Aber er kann nicht raus", sagte Karl. „Jedenfalls nicht mit dem Wagen. Er hat die Parkhausgebühr noch nicht bezahlt. Immerhin sind wir schon fünf Minuten hier. Außerdem — der Parkschein! Wo ist der? Wenn er den nicht... " „Den habe ich noch in der Tasche", flüsterte Rönschl. Seine Hand griff unter den Mantel. Er zog den Parkschein hervor. „Nur wenn er den in den Automaten am Ausgang schiebt, geht die Schranke hoch", erklärte Klößchen, was alle wußten. „Er ist gefangen, hahah!" Zum dritten Mal probierte er die Klinke. Aber die Tür war und blieb verschlossen. „Ich glaube, das hilft nicht viel", überlegte Karl laut. „Dieser heisere Mistkerl ist ja nicht mit dem Fahrrad hier. Wahrscheinlich parkt sein Wagen weiter unten. Und er fährt nur hin, damit er die Münzsäcke nicht schleppen muß. Dort lädt er um und verduftet, und wir ahnen nicht mal, wie seine Karre aussieht — geschweige denn, daß man sein Nummernschild kennt. Was ist denn, Herr Doktor?" Rönschl war stöhnend gegen die Wand getaumelt und schlug eine Hand vors Gesicht. „Entsetzlich!" murmelte er. „ M e i n e . . . Scheckkarte ist in der Brieftasche. Und der Zettel mit dem Code auch. " Klößchen verstand nur Bahnhof. Selbst Gaby und Karl wußten nichts genaues, hatten nur den nebelhaften Ver24
dacht, womit es wohl zusammenhänge - denn um weltläufig mit Scheckkarten umzugehen, dafür waren sie wirklich noch zu jung. Gesichter wie Fragezeichen sahen den Studienrat an. Für Momente gewann — selbst jetzt — der Lehrer in ihm die Oberhand, und er erklärte, was er meinte — mit einer Stimme, als verlese er sein eigenes Todesurteil. „Die Geldinstitute", sagte er, „haben sogenannte Geldausgabe-Automaten eingerichtet. Damit man sich Geld beschaffen kann — rund um die Uhr, also auch, wenn die Bankschalter längst geschlossen haben. Fast jeder Inhaber eines Bankkontos besitzt eine Scheckkarte. Habt ihr sicherlich schon gesehen. Sie ist aus Plastik. Darauf steht der Name des Bankkunden, dessen Unterschrift ist drauf, die Nummer seines Kontos und anderes mehr, was der Computer abliest und auswertet. Damit meine ich einen richtigen Computer, eine Denkmaschine, nicht unseren Karl. " Die drei wußten nicht, ob sie lächeln sollten. Die Situation war nicht für Witze. „Mit dieser Scheckkarte", fuhr Rönschl fort, „geht man also zum Geldausgabe-Automaten. Die meisten stehen neben dem Eingang der Bank. Hier in unserer Stadt gibt es insgesamt 40 Automaten, wie ich zufällig weiß. Man schiebt die Karte in den Automaten. Der liest ab, was draufsteht, erkennt, Aha! Einer unserer Kunden' und händigt den Betrag aus, den der Kunde — als Wunsch - auf einer Tastatur eingetippt hat. Natürlich keinen xbeliebigen Betrag, sondern im allgemeinen bis höchstens fünfmal 1000 Mark pro Tag. Das wird von Bank zu Bank verschieden gehandhabt. " „Macht 5000", sagte Klößchen - nicht ohne Stolz. „Geht das einfach so?" forschte Karl. „Oder gibt es eine zusätzliche Sicherung?" „Gibt es", nickte Rönschl. „Den Code (Verschlüsselung, Geheimnummer) nämlich. Das ist eine vierstellige Zahl.
25
Man soll sie sich merken und dann den Zettel mit der Zahl vernichten. Aber mit meinem miesen Zahlengedächtnis hätte ich den Code sofort vergessen. " „Wollen Sie damit sagen", Karl war entgeistert, „auch der Zettel mit der Zahl steckt in Ihrer Brieftasche?" „Ja", stöhnte Rönschl, „in dem Fach bei der Scheckkarte. " „Sch... limm!" sagte Klößchen. „Was passiert denn nun, wenn der Räuber das findet?" „Er kann zu meiner Hausbank gehen. Das ist die, bei der ich mein Konto habe. Übrigens dieselbe, zu der wir jetzt hinwollten. Der Computer zahlt nur aus, wenn das Konto die Deckung aufweist. Das heißt, wenn genug Geld auf dem Konto ist. Ich habe mehr als 5000 Mark gespart. Also wird der Computer fünfmal 1000 Mark auszahlen — ehe ich morgen früh die Bank vom Diebstahl verständigen kann. Dann wird sofort in den Computer eingespeichert, daß mein Konto gesperrt ist, und er zahlt nichts mehr aus. " „Das Bazar-Geld ist futsch", stellte Gaby kummervoll fest, „und Sie sind vermutlich um 5000 Mark ärmer. Oh, dieser elende Verbrecher!" „Wir müssen hier raus", sagte Karl, „und die Bank verständigen. Damit die Computersperre einsetzt. " „Bei den Banken ist jetzt Feierabend. " Rönschls Stimme klang dumpf. „Da erreichst du keinen mehr. Höchstens den Nachtwächter. Und was der vom Cumputer versteht — dagegen bin ich ein Experte (Fachmann). Nein, vor morgen früh läuft nichts. Das Unglück hat mich am Schöpf gepackt. Der Heisere sahnt ab, und ich bin sein Opfer. " „Wir müssen raus!" beharrte Karl. „Sie sind doch mit Herrn Jacoby befreundet. Für Sie ist der bestimmt zu erreichen. Herr Jacoby wird verhindern, d a ß . . . " „Natürlich!" rief der Studienrat. „Wie konnte ich das vergessen! Der Schreck lahmt mein Gehirn. " Suchend sah er sich um. „Wir müssen die Tür aufbrechen. Aber womit? Warum ist hier kein Stemmeisen! W i r . . . " 26
Er hielt inne und reckte lauschend den Kopf. Alle hörten die Stimmen: ein Mann und eine Frau unterhielten sich und kamen näher. Parkhauskunden. Augenblicklich hämrnerte Klößchen, der der Tür am nächsten stand, wie wild an das StahlbIech. ,, Haaallloooo!" brüllte er.,, Man hat uns hier eingeschlossen. Wir wollen raus, raus, raus! Bitte, verständigen Sie die Feuerwehr den Mann an der Kasse.
27
Das Judo-Training war beendet. Tarzan hatte geduscht und sich angezogen. Mit seinem Campingbeutel auf der Schulter verließ er die Halle des Sportvereins. Sein Rennrad stand auf dem vereinseigenen Parkplatz: zwischen Kleinwagen und Feuerstühlen aller Hubraumklassen wie ein Exote (Fremdartiger) inmitten heimischen Uradels. Der Abend war so dunkel wie die Nacht, und die Großstadt hatte alle Lichter entzündet. Es war kalt und feucht, und an jeder Ecke wurde geniest. Tarzan trug seine neue Steppjacke, die noch fast keine Flecken hatte. Er sah auf die Uhr, schätzte, wie lange seine Freunde und Rönschl wohl zum Geldzählen brauchten, und fuhr dann in Richtung Innenstadt. Nach seiner Berechnung konnten die vier noch nicht fertig sein. Immerhin war Klößchen dabei — also mit Verzögerung zu rechnen. Wenn er bei der Bank wartete, mußten sie ihm in die Arme laufen. Welcher Nachttresor die Münzschätze aufnehmen sollte, war ihm bekannt. Er brauchte nicht weit zu strampeln. Am Rand der Fußgängerzone stieg er ab und schob seinen Drahtesel. Hier, zwischen Kauf- und Geschäftshäusern im Herzen der Stadt, herrschte enormer Betrieb. Alle Welt machte Besorgungen. Strapazierte Hausfrauen schleppten Berge von Einkäufen. Diebe und Handtaschenräuber hatten Hochsaison. Polizisten mit Sprechfunkgeräten standen an jeder Ecke. Müßiggänger schlenderten von einer Stehbierhalle zur nächsten. Beim Geldinstitut waren die Schotten dicht. Tarzan postierte sich am Eingang. Der lag etwas zurückgesetzt - hinter drei Säulen, die noch zu neu waren, um Würde auszustrahlen. Auf der einen Seite des Eingangs verkündeten Leuchtbuchstaben, daß hier der Nachttresor sei. Auf der anderen Seite war der Geldausgabe-Automat. Der hatte noch Kunden, hin und wieder jedenfalls. Eben zog eine Dame sich ein paar Hunderter. Sie trug einen Luchsfellmantel. Während sie am Automaten hantierte,
28
machte sie ein Gesicht, als hätte sie sich gebückt, um Pfennige aus der Gosse zu klauben. Mißtrauisch äugte sie zu Tarzan her. Beim dritten Blick meinte er: „grrrrrhhhhh... nun beeilen Sie sich, gnädige Frau! Sonst gerate ich noch in Versuchung. Im allgemeinen mache ich Überfälle nämlich erst nach 20 Uhr. " Sie stutzte. Dann glitt ein dümmliches Lächeln über ihr Hochmut-Gesicht. „Bist du immer so frech?" erkundigte sie sich. „Nur zu Damen mit Pelzmänteln. Als Tierfreund kann ich nicht anders. " „Tiere mag ich auch", meinte sie und verzog sich. Tarzan beobachtete einen Penner, der betrunken umhertorkelte. Er stolperte häufig, fiel aber nicht und lallte jeden Passanten an, ob der eine Mark für ihn hätte. Dann kam ein großer Kerl zum Bankeingang. Er trug eine grüne Thermo-Hose (Thermo = Wärme), wie sie dieses Jahr modisch war, einen ebensolchen Steppmantel und viel Mütze: nämlich was Gestricktes, das er sich bis zu den Brauen gezogen hatte. Das Gesicht war olivbraun doch nicht das eines Farbigen. Vielmehr hatten Wind und Wetter und vielleicht auch die Gelbsucht ihm die Haut gegerbt. Es war ein kantiges Gesicht, aus dem ein mächtiger Schnauzbart hing. In den Kohleaugen schienen Funken zu glimmen. Er ging langsam, vermied offensichtlich jede rasche Bewegung, doch sein Blick wanderte unablässig umher. Aber er äugte nicht wie jemand, der sucht, sondern wie jemand, der befürchtet, daß man ihn sucht. Wenn ich dessen Gewissen hätte, dachte Tarzan, würde ich heute nacht wach liegen. Was treibt den? Will er die Bank überfallen? Aber, Mann, doch nicht nach Schalterschluß! Tarzan lehnte an der Wand. Keinen Blick ließ er von dem Mann. Der bemerkte das, blieb stehen, schob das Kinn vor, 29
blickte rechts, blickte links, trat dann zum Geldausgabe-Automaten und fütterte ihn mit seiner Scheckkarte. Tarzan beobachtete, wie er eintippte. Der Automat schien einverstanden und zahlte zehn Hunderter aus. Tarzan zählte mit. Der Mann steckte das Geld ein. „Ist was?" fragte er heiser. „Meinen Sie mich?" „Nee, den Halbaffen neben dir. Oder bist du's, der so glotzt?" Plötzliche Erkenntnis durchzuckte Tarzan. Zwar nützte sie nichts. Aber vielleicht ließ der Schnauzbärtige sich verunsichern. „Kann man da eigentlich mit einer geklauten Scheckkarte Geld rausholen?" fragte er. Der Mann lächelte nicht. Sein Gesicht blieb unbewegt. „Nee, kann man nicht, mein Freund. Die Scheckkarte allein hilft gar nichts. Man muß auch die persönliche Geheimnummer wissen. " Damit wandte er sich ab und verschwand hinter der Ecke. Tarzan sah auf die Uhr. Hatte Klößchen soviel Mist gebaut? Allmählich könnten sie kommen. Die Betriebsamkeit in der Fußgängerzone nahm ab. Der Strom der Passanten wurde zum Rinnsal. Tarzan beobachtete diesen und jenen und begann dann zu hüpfen, denn die Kälte drang jetzt durch jedes Knopfloch. Weitere zehn Minuten vergingen. Dann rollte ein Streifenwagen durch die Fußgängerzone und — hielt vor der Bank. Als Gabys Vater, Kommissar Glockner, ausstieg, hechtete Tarzan hinter den Säulen hervor. Er war gespannt wie ein Abschleppseil, das gerade benutzt wird, und erfreut zugleich - darüber nämlich, dem Kripo-Kommissar zu begegnen. Herr Glockner war sein väterlicher Freund. „Hallo, Herr Glockner. " „Nanu, du bist schon hier? Ach so, du warst ja nicht dabei. " 30
Er legte ihm den Arm um die Schultern. „Wartest du auf die ändern?" „Sie müßten längst da sein. Mit dem Geld. " Forschend sah er Glockner an. „Ist was passiert?" Der Kommissar war ein großer Mann von 43 Jahren, mit kräftigem, offenen Gesicht und forschendem Blick. Er nickte. „Einzelheiten weiß ich noch nicht. Jedenfalls - die vier wurden im Parkhaus überfallen. Das Geld ist geraubt. Außerdem hat Studienrat Rönschl seine Brieftasche eingebüßt - samt Scheckkarte und Code. Er ist Kunde dieser Bank hier 31
und befürchtet, der Täter könnte jetzt am Geldautomaten sein — Rönschls — Konto erleichtern. Zeitlichen Vorsprung hat er. Denn die vier wurden eingesperrt — sind aber inzwischen befreit. Und auf dem Weg hierher. " Tarzan blieben die Worte weg. „Beraubt?" „Von einem bewaffneten Täter. " Warum muß ich an den Schnauzbart denken? dachte Tarzan. Nur weil mir der Mann nicht sympathisch war? Da gäbe es ja viele, die ich verdächtigen könnte. Andererseits — zeitlich käme es hin. Und wie der sich benahm! Dem quoll ja der Argwohn aus allen Poren. „Sind Sie hergekommen, um den Automaten abzuschirmen?" fragte er. Glockner hatte seinem Fahrer, einem uniformierten Beamten, Zeichen gegeben, am Lenkrad zu bleiben. Wieder wandte er sich Tarzan zu. „Ja, das auch. " „Dann liegt eine Beschreibung des Täters vor?" „In groben Umrissen. " Glockner hob die Brauen. „Hast du einen Verdächtigen bemerkt?" „Einen großen Kerl mit Strickmütze und Steppmantel. Dunkler Teint. Schnauzbart. Schwarze Augen. " Glockner schlug mit der Faust in die Handfläche. „Das ist er. Wann war er hier?" „Vor reichlich zehn Minuten. " „Und wohin ging er?" „Dort um die Ecke. " Das hieß soviel wie: nirgendwo und überall hin. Rechts um die Ecke — das führte ins Herz der Stadt. Von dort standen dem Verbrecher alle Möglichkeiten offen. Er konnte sein: auf dem Weg zur Grenze, in einem Bierkeller, im Bahnhof, im Hotel, auf einem Spaziergang in Parkanlagen oder unterwegs, um das nächste Opfer zu suchen. Tarzan erzählte. Gerade als er fertig war, kamen vier traurige Gestalten aus der nächsten Gasse. 32
Rönschl hinkte noch stärker als sonst. Karl wirkte wie ausgehöhlt von innerem Frust (Frustation = seelische Enttäuschung). Klößchen sah aus wie sonst nur bei gigantischem Hunger. Lediglich Gaby verströmte Lebenskraft. Ihre Blauaugen blitzten vor Zorn und Empörung. Sie fiel ihrem Papi um den Hals. Ihrem Freund piekte sie den Finger in die Rippen. „Wenn man dich braucht, bist du nicht da. " „Tut mir ja leid. Aber wer konnte das ahnen. " „Wir hätten Begleitschutz gebraucht", erklärte Klößchen mit Grabesstimme. „Wie das bei Geldtransporten üblich ist. Er hat den Waisenkindern das Geld weggenommen. Was machen wir jetzt? Noch einen Bazar?" Das war aus vielen Gründen nicht möglich. „Wir jagen dem Kerl das Geld wieder ab", sagte Tarzan sofort. „Was sonst? Wie er aussieht, wissen wir ja. " „Ich nicht", sagte Gaby. „Mich hat er von hinten gepackt. Aber mit der Nase würde ich ihn erkennen. Er roch stark nach Rasierwasser. " Sie berichtete. Rönschl ergänzte. Der Kommissar hörte aufmerksam zu. Tarzans Gesicht wurde hart wie eine Holzmaske. Wer ihn kannte, wußte, wie es jetzt in ihm aussah. Hatte dieser Verbrecher Gaby gepackt, umhergeschleift und — unfaßlich! — sie als Druckmittel benutzt und ihr Leben bedroht. Die Pistole hatte er ihr an den Kopf gehalten - und wie leicht geht so ein Mordwerkzeug los! Sicherlich — Gaby verkörperte Tapferkeit, wie man's von so einem zarten Geschöpf kaum erwarten kann. Sie dachte an die Waisenkinder, die nun leer ausgingen, und nicht an sich. Dennoch — der Schock des Erlebten klang in ihr nach. Ihre Hände waren unruhig, zitterten etwas. Tarzans fing Glockners besorgten Blick auf. Dann legte der Kommissar einen Arm um seine Tochter und zog sie beschützend an sich. 33
Am liebsten hätte Tarzan dasselbe getan. Aber so mutig, ja kühn er sonst ist: Mut dieser Art fehlte ihm — noch. Glockner deutete zum Streifenwagen. „Der Wachtmeister bleibt hier. Für den Fall, daß der Täter nochmal zum Automaten will. Sie, Herr Rönschl, und euch muß ich bitten, zum Präsidium mitzukommen. Ich habe wegen des Täters einen bestimmten Verdacht. Uns ging heute ein Fahndungsersuchen der italienischen Polizei zu — mit dem Foto des Betreffenden. Wenn ihr in ihm den Täter erkennt, wäre das - sehr schlimm. Aber warten wir erstmal ab. " Er blickte auf seine Tochter. Mit dem Handrücken strich er über ihre Wange. Als müsse er sie trösten, dachte Tarzan. Nein, eher, als stünde Pfote Schreckliches bevor. Um Himmels willen, was meint er?
34
3. Schwarzer Tod aus Genua? Gino Cordone war nicht groß, aber fast so breit wie hoch. Er konnte Hufeisen aufbiegen. In dem verwüsteten Gesicht hatten Pocken und andere ansteckende Krankheiten ihre Spuren hinterlassen. Da halfen weder Creme noch Massage. Immerhin verfügte er über eine schwarze Krause, die seinen Schädel dicht und gleichmäßig überzog — wie Moos einen Felsblock. Er war 39 Jahre alt und Berufsverbrecher. Das letztere war er gern. Seit — wie ihm schien - ewigen Zeiten gehörte er einer internationalen Verbrecher-Organisation an. Die BRÜDER, wie sie sich intern (innerbetrieblich) nannten, hatten ihren Hauptsitz in Italien. Von dort hatte man Gino nach Deutschland geschickt, vor kurzem, um hier eine Zweigstelle der BRÜDER zu errichten. Zum Programm gehörte alles, womit sich schnell und leicht viel Geld verdienen läßt. Womit nicht gewisse legale (gesetzmäßige) Geschäftsmethoden gemeint sind, sondern alle Verbrechen von Bankraub über Rauschgifthandel bis Mord. Allein, um sich von keiner Frau oder Freundin in die Karten gucken zu lassen, bewohnte er einen Bungalow in bester Lage der Stadt - hielt aber Abstand zu den Nachbarn, die ihn ohnehin nicht mochten. Nach sorgfältiger Prüfung hatte er zwei Helfershelfer ausgesucht. An Gewissenlosigkeit und Rohheit standen sie ihm in nichts nach. Es waren Deutsche — und seltene Blüten auf dem Mistbeet der hiesigen Unterwelt. Der eine hieß Norbert Bonsen, auch genannt: der schöne Wiener. Der andere war ein gewisser Paul Thiebel, ausgestattet mit dem Spitznamen Geldmelker - was im Ganovenjargon Steuer- oder Schuldeneintreiber bedeutet. An diesem Freitagabend hatte Gino Cordone die beiden zu sich bestellt. Nicht nur, um den morgigen Coup zu besprechen. Da war nahezu alles geregelt. Sondern weil eine aktu35
eile (zeitnahe) Neuigkeit auf dem Tisch lag, über die man nur
staunen konnte. An jenem Tisch saßen sie jetzt, und jeder genoß seinen Schnaps aus feinstem Kristallglas. Bonsen stammte aus dem Ruhrgebiet. In Wien war er nur kurze Zeit gewesen, um Banken zu überfallen und Geldtransporte zu plündern. Gleichwohl — seit diesem Unterweltsgastspiel hatte er seinen Spitznamen weg. Er sah aus wie ein Tanzlehrer aus den Dreißiger Jahren: schlank, gepflegt und etepetete (geziert). Aber das Äußere täuschte. Er war böse und gierig wie ein altes Krokodil. Jetzt führte er sein Glas an den Mund. „Prost! Auf das, was wir lieben!" „Also auf Geld!" blökte Thiebel. Sein Gelächter erschütterte den gewaltigen Brustkorb. Er war ein Koloß, kahlköpfig und laut. Früher hatte er als Rausschmeißer in Nachtlokalen bestimmter Sorte gearbeitet - und die Störenfriede so zugerichtet, daß sie im Krankenhaus aufwachten. Das hatte ständigen Ärger mit der Polizei zur Folge gehabt. Den Ärger mit der Polizei vermied er jetzt, indem er nicht mehr jobbte, sondern nur noch Verbrechen beging. Die Kunst dabei war, sich nicht erwischen zu lassen. Cordone kratzte sich unter den Achseln. Er trug ein Seidenhemd, das vorn offen war. Mit seiner Brustbehaarung hätte er einen Gorilla neidisch gemacht. „Es geht um was Besonderes, Leute", sagte er. „Geld?" dröhnte Thiebel, der Koloß. „Nicht direkt. " Cordone kratzte sich an der Brust. „Sondern?" näselte Bonsen, der schöne Wiener. Er näselte nicht immer. Manchmal vergaß er 's.
„Menschenjagd. " Grinsend wies Thiebel auf seinen Boss. „Mir scheint eher, du jagst Flöhe, hahahahah... " Cordone sah ihn an wie einen vorlauten Schüler. „Wir wissen alle, Paul, was für ein großartiger Spaßvogel
36
du bist. Aber nun mal ernsthaft! Wir sollen einen Typ suchen, finden und erledigen. " „Wen?" fragte Bonsen.
„Edwin Kohaut, das Sparschwein. " „Nie gehört. " Thiebel nickte. „Den kenne ich nicht. " 37
„Die Zentrale in Genua (italienische Hafenstadt) hat mich verständigt", sagte Cordone. „Man vermutet, daß Kohaut hierher kommt. Deshalb fällt uns diese Aufgabe zu. " „Und weshalb hat er sein Erdendasein verwirkt?" Thiebel polierte mit flacher Hand auf seiner Glatze, als fehle es ihr an Glanz. „Der Dreckskerl hat uns geprellt. Er gehörte zur Organisation. Er ist Deutscher, wurde aber hauptsächlich in Genua und Neapel eingesetzt. Vor vier Tagen traf dort eine Sendung heißer Diamanten ein. Aus Beirut (Hauptstadt des Libanon). Die Steine — 37 insgesamt — sind mehr als zwei Millionen Mark wert. Soviel ich hörte, stammen sie aus mehreren Überfällen — sind also brandheiß. Und schwer verkäuflich, vorläufig jedenfalls. Weil 's eben nicht irgendwelche Klunkern sind, sondern hochkarätige Superdiamanten. Mit besonderem Schliff. Experten erkennen da sofort, was anliegt. Juweliere verlangen, daß der Verkäufer den Eigentumsnachweis erbringt. Und die Hehler zahlen so wenig, daß der Verkauf idiotisch wäre. Das heißt also, zunächst sitzt Kohaut auf den Kieseln wie auf 'nem Ladenhüter. Das große Geld kann er damit erst viel später machen. " „Hat er sie unterschlagen?" fragte Bonsen. „Die Diamanten kamen per Schiff", erklärte Cordone. „Mit der Esmeralda. Die hatte eine lange Fahrt hinter sich, war in Fernost und Indien und — was weiß ich. In Beirut hat ein gewisser Portugiso, ein Matrose, die Steine übernommen. In Genua sollte er sie übergeben. Nicht an Kohaut, sondern an einen unserer Bosse. Aber Kohaut wußte von dem Zusammentreffen und dachte wohl, er könnte da mit links einen Reibach (sehr lohnendes Geschäft) machen. Jedenfalls hat er Portugiso überfallen, als der zu der Verabredung wollte. Kohaut war maskiert. Aber der Matrose wehrte sich und riß ihm die Maske runter. Kohaut wurde erkannt. Portugiso hat überlebt, liegt aber schwerverletzt im Krankenhaus. Er scheint auch sonst irgendwie krank zu sein - jedenfalls 38
läßt man niemanden zu ihm. Im übrigen ist zu befürchten, daß er - aus Schiß oder im Zustand geistiger Verwirrung durch Betäubungsmittel - den Bullen verzinkt (verraten) hat, was sich tat. Nämlich, wer ihn so übel zugerichtet hat und warum dies geschah. " „Alles klar", nickte Thiebel. „So weit, so klar", schränkte Bonsen ein. „Aber wieso glauben die Bosse, daß Kohaut hierher kommt?" „Er wurde hier geboren, hat hier lange gelebt und eine große Liebe zurückgelassen. An der hängt er immer noch. Sie heißt Leni Stegmüller, genannt die blaue Taube. War früher 'ne Taschendiebin, hat sich aber ehrlich gemacht. " „Aha!" nickte Thiebel. „Kohaut", fuhr Cordone fort, „konnte in Genua nicht in seine Wohnung zurück. Deshalb hat er vermutlich nur wenig Geld bei sich. Er wird versuchen, an Bares ranzukommen. Denn die Diamanten, wie gesagt, nützen ihm zur Zeit einen Dreck. In seiner Wohnung fand man Hinweise, die den Schluß zulassen, daß er hierher will. Er hatte die neue Adresse der Frau notiert und ein Geschenk lag bereit. Leider wurde unser Mann, als er die Wohnung filzte, von den Bullen überrascht. Er mußte türmen und ließ die Hinweise zurück. " „Dann wissen also auch die Bullen, daß er hier ist oder herkommen könnte", folgerte Bonsen messerscharf. Cordone bejahte. „Wenn die sich für ihn interessieren und wir ihn jagen", freute sich Thiebel, „sitzt er zwischen zwei Feuern. Das wird aber heiß für ihn, wie? Wann schmelzen Diamanten? Hahahah! Jetzt kommt's darauf an, daß wir ihn zuerst erwischen. " „Sonst können wir die Diamanten abschreiben. " Bonsen trank noch einen Schluck. „Wo setzen wir an?" fragte Thiebel. „Bei der Frau?" „Wir behalten sie im Auge. Irgendwann wird Kohaut dort auftauchen. Dann greifen wir zu. Aber der Mann ist nicht 39
dumm. Er ahnt zumindest, daß wir über ihn und seine Flamme Bescheid wissen. Also wird er vorsichtig sein. " Eine Weile schwiegen sie. „Ach ja! Daß ich das nicht vergesse", meinte Cordone dann und zog ein Foto aus der Tasche. „Prägt ihn euch ein. " Es war ein Paßfoto und zeigte einen kantigen Typ. Er hatte olivbraune Haut, schwarze Augen und einen gewaltigen Schnauzbart. „So sah er zuletzt aus. Daß er sich von seinem Bart trennt, ist kaum anzunehmen. An dem hängt er — buchstäblich. " Cordone drehte das Foto um und las vor, welchen Steckbrief man in der italienischen Zentrale verfaßt hatte: „38 Jahre, ca. 182 cm groß, kräftig, raucht stark, deshalb heisere Stimme, benutzt Rasierwasser und ist bewaffnet. " „Gut, gut", sagte der schöne Wiener. „Da wissen wir schon viel. Berührt die Jagd nach Kohaut unsere sonstigen Pläne?" Cordone schüttelte den Kopf. „Wäre ja lächerlich, wenn wir uns damit auslasten. Wir sind Freiberufler, Norbert, keine Arbeitnehmer mit Verträgen auf Lebenszeit. Wir müssen was tun. Und das tun wir auch. Wir fahren Kohle ein. An dem Coup morgen abend ändert sich nichts. "
Gaby und Tarzan fuhren mit Glockner im Streifenwagen. Das Rennrad lag im Kofferraum, der sich deshalb nicht schließen ließ. Der Deckel klapperte im Rhythmus der Straßenschäden. Karl und Klößchen waren mit Rönschl zum Parkhaus zurückgegangen, wo man — nach der Befreiung aus der Kammer durch den Kassierer — den Opel im ersten Stock entdeckt hatte. Der Zündschlüssel steckte. Aber die Geldsäcke und die Brieftasche des Studienrats waren verschwunden. An einen Typ wie den Täter konnte sich der Kassierer nicht erinnern. Doch das wollte nichts heißen, hatte doch der 40
Mann an der Kasse Augen wie eine Blindschleiche. Was sich jenseits seiner Nasenspitze abspielte, nahm er nur verschwommen wahr. Gerade, daß er das Geld noch erkannte, mit dem er umging. Tarzan fiel auf, wie häufig Glockners Blick über sein Töchterchen glitt, voller Besorgnis. Gaby hatte sich gefangen, sah süßer aus denn je und ihre Hände lagen ruhig auf den Winterjeans. Alles schien in Ordnung. Was quälte den Kommissar? Es hängt mit der Identität (Personengleichheit) des Täters zusammen, dachte Tarzan. Wenn es der ist, nach dem die italienische Polizei fahndet, dann haben wir den Salat. Dann , wäre das sehr schlimm', wie Herr Glockner gesagt hat. Warum bloß? Sie erreichten das Polizeipräsidium nach kurzer Fahrt. Vor dem Eingang warteten sie, bis Rönschl mit den Jungs eintraf. Sie stiefelten in Glockners Büro hinauf. Der Platz reichte nicht für alle. Ein Stuhl fehlte. Aber Tarzan verzichtete und hockte sich auf den Papierkorb. Glockner holte einen Schnellhefter aus der Schreibtischlade und entnahm ihm ein Fahndungsfoto. Rönschl, Karl und Klößchen warfen nur einen Blick darauf. „Das ist er. " Tarzan bestätigte, das sei der Mann, mit dem er am Automaten die Plänkelei hatte. Gaby konnte nur die Achseln heben. Sie hatte den Kerl lediglich gehört und gerochen. Aber ihrer Bestätigung bedurfte es nicht mehr. Glockner seufzte. Seine Befürchtung hatte sich bestätigt. „Aber erst rufen wir den Leiter der Bank an", sagte er. „Franz Jacoby, nicht wahr?" Rönschl wußte die Rufnummer. Glockner machte sich eine Amtsleitung frei und versuchte
es mehrmals. Doch bei den Jacobys hob niemand ab. 41
„Das habe ich befürchtet", murmelte der Studienrat. „Franz hatte erwogen, am Vorabend von Brittas Geburtstag aufs Land zu fahren. Mit Britta und Johanna, seiner Frau. Gleich nach Dienstschluß — irgendwohin in einen Landgast-
hof. Nur bis morgen mittag, denn abends sind wir ja ihre Gäste. " „Ist kein Unglück", sagte Glockner. „Der Automat wird bewacht. An Ihr Geld kommt er nicht mehr ran, der Kerl. " Er griff abermals zum Telefon und veranlaßte, daß der Wachtmeister vor der Bank durch zwei Kollegen verstärkt wurde. Der Heisere, dachte Tarzan, scheint ein gefährlicher Kerl zu sein. Soll er. Was kann das Gaby anhaben? Glockner saß aufrecht, aber mit gesenktem Kopf hinter seinem Schreibtisch. „Der Mann heißt Edwin Kohaut", sagte er, „und gehörte einer mafia-ähnlichen Verbrecher-Organisation an. Er hat seine eigene Bande beraubt - nämlich 37 sehr wertvolle Diamanten an sich gebracht: durch einen Überfall auf einen Kurier (Überbringer). Das geschah vor vier Tagen in Genua. Seitdem ist Kohaut auf der Flucht. Vor der Polizei und vor seinen eigenen Leuten, denn er wurde erkannt bei dem Überfall. " „Wieso kommt er hierher?" fragte Tarzan. „Wäre es nicht sicherer für ihn, er hätte sich nach Rio, New York oder Hongkong abgesetzt?" Glockner lächelte. „Vielleicht. Aber er stammt aus unserer schönen Stadt, und in seiner Genueser Wohnung wurden Unterlagen gefunden, aus denen unter anderem hervorgeht, daß er hier eine ehemalige — oder noch aktuelle — Freundin aufsuchen will. Doch das alles ist nebensächlich, denn im Vordergrund steht eine andere Gefahr. " Er machte eine Pause. Nicht um Spannung zu erzeugen, sondern — offensichtlich — weil er nach einem Weg suchte, seine Unglücksbotschaft schonend anzubringen. 42
„Die Diamanten hat er einem gewissen Portugiso abgenommen. Dieser Kurier ist als Matrose unterwegs. Sein Schiff kam aus Fernost, hat auch in indischen Häfen angelegt. Wo es passiert ist, weiß kein Mensch. Auch Beirut kommt in Frage. Sogar Neapel o d e r . . . ist ja auch egal. Jedenfalls... " Wieder stockte er. Tarzan saß wie auf Stecknadeln. „Und was ist passiert, Herr Glockner?" „Portugiso wurde mit schweren Verletzungen — die ihm Kohaut zufügte — ins Krankenhaus eingeliefert. Dort ist er jetzt auf der Isolier-Station (isolieren = absondern von ändern). Er ist nämlich erkrankt. Er hat die Pest. " „Die Pest?" krähte Klößchen. „Das ist doch das, was man seinen Feinden an den Hals wünscht, nicht wahr? Mit Pikkeln und so. " „Mann!" flüsterte Karl. „Die Pest war die Geißel der Menschheit, die schlimmste Krankheit aller Zeiten. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hat der Schwarze Tod, wie man die Krankheit auch nennt, auf dem Erdball gewütet. Besonders schlimm ging's zu im 14. Jahrhundert. Allein zwischen 1348 und 1352 starben in Europa 25 Millionen Menschen an ihr. Das war ein Drittel der damaligen Gesamtbevölkerung. Durch die Pest kamen mehr Menschen ums Leben als durch alle anderen Katastrophen und durch alle Kriege. Das muß man sich vorstellen! Damals breitete sich die Pest als Pandemie aus, das heißt, als ansteckende Krankheit über mehrere Länder. Nämlich von Europa, wo zum Beispiel auf Zypern und Island niemand überlebte, bis nach China, wo über 13 Millionen Menschen in kurzer Zeit hingerafft wurden. Fest steht auch, daß zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, also 1618, etwa 30 Millionen Menschen in Deutschland lebten. Als der Krieg zu Ende ging, 1648, waren es nur noch fünf
Millionen. Aber nur jeder Zehnte war von Menschenhand getötet worden. Die anderen starben an der Pest. " 43
Für Karl, den Computer, war das geradezu ein Kurz v
o
nem Vater, dem Mathematik-Professor Vierstein, geerbt
hatte, war Karl mehr berüchtigt als berühmt. Gingen doch bisweilen die Gäule der Mittelsamkeit mit ihm durch, und er nervte dann seine Zuhörer mit endlosen Vorträgen. Doch heute abend war sein Wissen gefragt. Dem Kommissar schien es geradezu willkommen, daß Karl seine Informationen (hier = Belehrungen) anbrachte.
Jedenfalls lehnte er sich zurück und ermunterte ihn. „Sprich nur weiter, Karl, falls du noch mehr darüber weißt. "
Das ließ der sich nicht zweimal sagen. 44
r
45
„Erreger der Pest", fuhr er fort, wobei seine Augen blitzten, „sind Bakterien (kleinste, einzellige Lebewesen). Sie werden von Flöhen übertragen, nämlich vom Rattenfloh. Die Ratte selbst bekommt im Verlauf ihrer Krankheit Fieber und verliert dann ihre Scheu vor dem Menschen. So kann der Floh von einem kranken oder verendeten Tier auf den Menschen überspringen und durch seine Stiche die Seuche übertragen. Im Mittelalter waren die Häuser der Städte von Ratten bevölkert. Es gab keine Hygiene (Gesundheitslehre). Abfälle und Schmutz aller Art bedeckten die Straßen. Kein Wunder, daß sich die Pest ausbreiten konnte wie Lauffeuer. Denn im Dreck gediehen die Ratten und auf ihnen die Flöhe. Dem konnte man erst Einhalt gebieten mit der Schaffung der Kanalisation, und indem man die Ratten aus den Häusern verbannte. Deshalb ist in unseren Breiten die Pest so gut wie ausgerottet. Freilich — i n , unterentwickelten' Gebieten kommt es auch heutzutage noch zu Pesterkrankungen. Aber daraus wird keine Seuche mehr, die sich uferlos ausdehnt. " „Dann hat sich der Matrose die Krankheit dort geholt", warf Klößchen ein. „Wo es unhygienisch zugeht, nicht wahr?" Karl nickte. „Es gibt immer noch Länder, in denen die Pestgefahr ständig vorhanden ist: in Madagaskar, Korea, Vietnam, Kambodscha, Südindien und zum Teil in Nordafrika. Mangelnde Hygiene, schlecht funktionierende Kanalisation und Müllberge erhöhen die Pestgefahr. Wenn in amerikanischen Großstädten die Müllmänner streiken, werden dort sofort Soldaten eingesetzt, um den Abfall zu beseitigen. Aus eben diesem Grund. " „Und wie verläuft die Krankheit?" fragte Tarzan. „Wie gefährlich ist sie heutzutage für den Betroffenen?" „Wie ich schon sagte: Die Pest wird durch Flöhe übertragen, die von Ratten auf die Menschen übergehen. Die Ansteckung von Mensch zu Mensch geschieht wieder durch Flöhe oder — durch den Atem. Manchmal auch durch Klei46
dungsstücke oder Gegenstände. Es gibt nun zwei Verlaufsformen der Krankheit: Beulenpest und Lungenpest. Bei der durch Flöhe übertragenen Beulenpest schwellen die Lymphdrüsen an, und es kommt zu den sogenannten Pestbeulen auf der Haut. Als Endstadium kann sich eine Lungenpest entwickeln, und die wird von Mensch zu Mensch übertragen. Früher führten beide Formen fast unweigerlich zum Tode. Heute eigentlich nie. Mit sogenannten Antibiotika (biologischen, aus Kleinlebewesen gewonnenen Wirkstoffen gegen Bakterien) kann man jeden Pestkranken retten. Fast jeden. " „Das war sehr umfassend, Karl", sagte Glockner. „Vielen Dank. Dein Wissen ist beneidenswert. " Karl lächelte glücklich. Klößchen betrachtete mißtrauisch seine Cordjeans, ob sich etwa ein Rattenfloh eingenistet hätte. Tarzan hatte vor Schreck eiskalte Hände. Schauder rannen ihm über den Rücken, denn er hatte längst eins und eins zusammengezählt. Das also bedrückte den Kommissar! In diesem Moment blitzte der Gedanke auch in Gabys Gehirn auf. „Papi", sagte sie mit tonloser Stimme, „wenn der Matrose an Pest erkrankt ist, könnte Kohaut sich an ihm angesteckt haben, nicht wahr?" Glockner nickte und wollte was hinzufügen. Aber Gaby war schneller. „Kohaut hat mich umschlungen, hat mich fast erdrückt, hat mich umher geschleift und so dicht über mir geredet... Um Himmels willen, Papi! Habe ich jetzt die Pest?" Tarzan hielt den Atem an. Karl und Klößchen schauten verblüfft. Gaby hatte sich kalkweiß gefärbt, sah schon ganz krank aus und preßte die Hände zusammen. Am liebsten hätte Tarzan seine Freundin in die Arme genommen, egal ob Ansteckungsgefahr bestand oder nicht. 47
48
Karl grinste. „Nee, Pfote! Bestimmt nicht. Kohaut sah ja noch ganz gesund aus, nicht wahr? Hätte ihn ein infizierter
(mit Krankheit befallener) Rattenfloh gestochen, wäre er voller eitriger Beulen. Außerdem schon tot — nach drei Tagen nämlich, ohne Behandlung. Und wenn er, was wahrscheinlicher wäre, sich am Atem des Matrosen angesteckt hätte, also mit Lungenpest, dann genügen schon Stunden — und er ist tot. " „Ist das ganz sicher?" forschte Gaby. „Naja, ich bin kein Arzt. Aber was man darüber nachlesen kann, das habe ich hier. " Er tippte an seinen schmalen Schädel. „Und ich glaube nicht, daß ich mich irre. " Gabys Gesicht gewann etwas Farbe. Aber beruhigt war sie noch nicht. Fragend sah sie ihren Vater an. „Wir gehen kein Risiko ein", sagte er. „Ich mußte erst Gewißheit haben, daß es sich tatsächlich um Edwin Kohaut handelt. Ich fahre jetzt mit dir ins Stadtkrankenhaus. Da werden wir hören, was zu tun ist — und ob überhaupt was zu tun ist. Meines Wissens starben früher 60 bis 70 Prozent der Erkrankten. Heute hingegen wird, wie Karl bereits ausführte, mit Antibiotika jeder geheilt. Man impft auch nicht vorbeugend — wie etwa bei Pocken. Ausgenommen natürlich das Pflegepersonal der Krankenhäuser, das mit den Kranken in Berührung kommt. " „Aber ganz ist nicht auszuschließen", sagte Gaby matt, „daß es mich erwischt hat. Mein Gott! Mir ist schon ganz übel. Im Kopf dreht sich alles. Ich glaube doch, daß ich angesteckt bin. " „Du kriegst eine Erkältung", sagte Tarzan mit fester Stimme. „Das ist alles. " Gaby sah ihn an. Und erkannte, wie ihm zu Mute war. Sein Lächeln war wie aus Holz. „Wenn die Ärzte meinen, es bestehe Ansteckungsgefahr", sagte Rönschl, „sperren sie uns alle - wie wir hier sind — auf 49
die Isolierstation. Wir waren alle in Gabys Nähe — falls Gaby Überträger ist — haben ihre Atemluft geatmet und könnten a l s o . . . O verdammt! Das Bazargeld ist weg. 1000 Mark habe ich eingebüßt. Und jetzt auch noch das!" „Wie ist denn das Essen auf so einer Isolierstation?" erkundigte sich Klößchen. „Wird man ausreichend verpflegt, oder gibt's da Diät?" Das brach den Bann. Kommissar Glockner begann lautlos zu lachen. Und das - hoffentlich nur das — steckte an. Als man sich beruhigt hatte, meinte Glockner, es wäre wohl das beste, der Studienrat und die Jungs blieben erstmal hier, während er mit seiner Tochter zum Krankenhaus fahre. „Entweder man behält uns gleich da und schickt Krankenwagen für euch. Oder die Sache ist halb so schlimm, und wir können alle nach Hause. " Aber daran glaubte er nicht. Das war seiner Miene zu entnehmen. Gaby reichte Tarzan beide Hände. „Wünsch mir Glück! Ich will keine Pestbeule sein. " „Alles Gute, Pfote. Wirklich! Gesundheit, sturmfeste Gesundheit! Ich würde die Pest gern auf mich nehmen, wenn du dadurch verschont bliebst. Und wenn n i c h t . . . " . . . dann sterben wir eben zusammen, hätte er beinahe gesagt. Aber was, um Himmels willen, würden die ändern da denken? Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er seine Gefühle bloßgelegt hatte. Blut schoß ihm ins Gesicht, und am liebsten hätte er sich unterm Schreibtisch verkrochen. Aber Gaby sah das anders. Sie lächelte, als hätte er einen Heiratsantrag gemacht, dem sie gnädigst zugeneigt war, und überließ ihm ihre Hände noch weitere drei Sekunden. „Wir müssen los!" Glockner hatte seinen Mantel angezogen. Es klopfte, und ein Bürobote trat ein. „Da sind noch einige dringende Fernschreiben, Herr Kommissar. " Er legte sie auf den Scheibtisch. 5 0 .
Glockner hatte andere Sorgen, unterdrückte aber sein Pflichtgefühl nicht. Flüchtig sah er die FS (Fernschreiben) durch. Eins fesselte seine Aufmerksamkeit. „Das kommt aus Genua. Der Name Kohaut steht drin. Ansonsten verstehe ich kein Wort. Italienisch müßte man kön-
nen. Wo, zum Teufel, kriege ich jetzt einen Übersetzer her?" Rönschl streckte die Hand aus. „Darf ich?" Tarzan wußte: Rönschl beherrschte die romanischen Sprachen perfekt. Der Studienrat las. Ein Lächeln breitete sich über sein hageres Gesicht. Die Augen begannen zu leuchten. „Das kommt ja wie ein Stichwort — und auf die Sekunde genau. Wie gut, Herr Glockner, daß Sie und Gaby noch hier sind. Also: Die Genueser Polizei teilt im Nachtrag zu dem vorausgegangenem FS mit, aufgrund falscher Informationen habe sich ein Fehler eingeschlichen. Nunmehr stehe aber zweifelsfrei fest, daß der Matrose Esteban Portugiso nicht an Pest erkrankt ist — vielmehr an einer allergischen Hautkrankheit, die ähnliche Symptome (Merkmale) zeige, aber weder ansteckend noch gefährlich sei. " Für einen Moment herrschte Stille. Dann brach der Jubel los. Klößchen klatschte sich immer wieder auf die Schenkel. Rönschl schwenkte das FS wie einen — wiedergewonnenen — 1000-Mark-Schein. Karl hüpfte von einem Bein aufs andere. Und Gaby lag Tarzan plötzlich in den Armen - aber nur für eine halbe Sekunde. „Hurra! Wir haben die Pest besiegt", krähte Klößchen. „Das heißt, sie ist gar nicht erst angetreten, sondern hat kampflos das Feld geräumt. " Gaby war so erleichtert, daß ihr Freudentränen über die Wangen liefen. Weil sie nicht gleich ein Taschentuch fand, reichte ihr Tarzan sein eigenes. Das war erst ein einziges Mal benutzt worden. 51
4. Den Falschen erwischt Leni Stegmüller, in Ganovenkreisen ehemals als, blaue Taube' bekannt, arbeitete als Kassiererin in einem Supermarkt. Aber jetzt war Feierabend, und sie befand sich bereits auf dem Heimweg, der anfangs durch lebhafte Geschäftsstraßen und später durch ein ruhiges Wohnviertel führte. Leni war 37 und attraktiv. Ihre blauschwarzen Locken trug sie hochgesteckt. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit etwas üppigem Mund und wäscheblauen Augen. Ihr roter Steppmantel wärmte sie. Und die weichen Sohlen ihrer Stiefel verursachten trotz flotter Schritte fast kein Geräusch. An der Ecke zur Kranzler-Straße blieb sie vor einer Boutique stehen. Sie suchte was Schickes. Von Lothar Apel, ihrem Bekannten, wollte sie das als Weihnachtsgeschenk. Aber noch schwankte sie unschlüssig, ob sie sich für ein vielfarbiges Seidenkleid oder einen Strickanzug entscheiden sollte. Preislich kam's auf dasselbe raus. Die Straßen hatten sich geleert. Es war Zeit fürs Abendessen - und wer ließ sich das entgehen? Deshalb überblickte Leni, wer außer ihr unterwegs war. Und hier, vor der Boutique, fiel ihr der Typ zum ersten Mal auf. Er stand zwei Geschäfte entfernt vor dem Salon eines Damenfrisörs — ausgerechnet! — und war scheinbar in den Anblick billiger Kunsthaarperücken vertieft. Aber jetzt äugte er her zu ihr, um dann rasch den Kopf wegzudrehen. Meint der mich? dachte sie. Daß man ihr nachstieg oder sie anredete, war sie gewöhnt. Gefiel sie doch vielen. Aber auf die Bewunderung dieses Kerls legte sie keinen Wert. Er sah aus wie ein Berufsringer, und auf seinem Kahlschädel spiegelte sich das Licht der Straßenbeleuchtung. Als sie weiterging, merkte sie, daß er ihr folgte. Sie ging rascher, aber auch sein Schritt wurde schneller. 52
Jetzt erreichte sie das Wohnviertel, wo nur der Nebel die Straßen belebte, und plötzlich spürte sie Angst wie eine lähmende Übelkeit. Was wollte der? Wenn er was wollte, warum sprach er sie nicht an? Kam er näher? Nein. Noch nicht. Aber er folgte beharrlich — immer im selben Abstand. Schauergeschichten aus der Tagespresse fielen ihr ein. Entmutigende Nachrichten aus dem Alltag einer großen Stadt: über Handtaschenräuber, Unholde und gemeingefährliche Geisteskranke. War das so einer? Oder hatte der zufällig denselben Weg? Unsinn! dachte sie. Und die Angst ließ sie zittern. Sie mußte durch eine lange Straße. Niemand kam ihr entgegen. Niemand stand vor einem der Häuser. Zwar brannte Licht hinter vielen Fenstern. Aber was würde geschehen, wenn sie um Hilfe rief? Vielleicht öffnete ein Neugieriger das Fenster. Vielleicht verständigte ein Verantwortungsbewußter die Funkstreife. Aber hier draußen im Nebel dieser kalten Herbstnacht war sie mit dem Kahlkopf allein, und niemand würde ihr helfen. Sie erwog, einfach an einem der Häuser zu klingeln und sich telefonisch ein Taxi herzubestellen. Doch dann zögerte sie, hatte Hemmung, sich lächerlich zu machen, und jetzt fiel der Verfolger zurück. Sie hörte am Klang seiner Schritte, daß der Abstand zwischen ihnen wuchs. Als sie den Lichtkreis der nächsten Laterne durchquert hatte, sah sie sich um. Tatsächlich — der Mann ging jetzt langsam, bummelte wie jemand, der sich nicht nach Hause traut - weil dort vielleicht Besuch sitzt, dem er entgehen will. Leni atmete auf. Ganz koscher (unverdächtig), dachte sie, ist der nicht. Aber daß ich sein Opfer werde, hat er sich abgeschminkt. Würde ich jetzt rennen, könnte er mich nicht mehr einholen. Denn flinker als ich ist der nicht. Sie rannte nicht. Aber sie achtete darauf, daß er nicht 53
54
55
näher kam. Dann hatte sie sich soweit entfernt, daß ihn der Nebel verschluckte; und sie fragte sich, ob sie denn nun ein
ängstliches Huhn sei — oder ihre Vorsicht berechtigt. Sie wohnte in einem Viertel, wo kleine Gärten die Häuser umgaben. Straßen zogen sich kreuz und quer. Laternen waren selten. In frostklaren Nächten miauten überall verliebte Kater, und die angebeteten Kätzinnen wurden mit Halsband und Leine nur mal eben ums Haus geführt, was die Besitzer für Tierliebe hielten. Leni bog in die Straße, wo ihr Zuhause war, und näherte sich dem kleinen Zweifamilienhaus. Sie hatte die Parterrewohnung gemietet. Jetzt, auf den letzten Metern, spürte sie die Einsamkeit ringsum. Nur noch 50 Schritte bis zum Haus. Die Gärten waren dunkel. Der Nebel roch wie Seifenlauge. Wind raschelte im Laub, und am Ende der Straße fuhr ein Wagen ab. Erleichtert sah sie, daß im Obergeschoß Licht brannte. Die Thalers waren zu Hause. Wieso auch nicht? Er war 80, sie 72 — und zu Hause waren sie jeden Abend. Als sie die Gartenpforte erreichte, sah sie den Schatten. Schräg gegenüber stand jemand am Zaun: ein Schatten, eine dunkle Silhouette. Die Gestalt verschmolz mit den herbstkahlen Fliederbüschen und rührte sich nicht. Unter anderen Umständen hätte Leni nichts bemerkt. Aber durch die Verfolgung des Kahlköpfigen waren ihre Sinne geschärft, und sie vermeinte zu erkennen, daß dort ein Mann stand. Aber es war nicht der Kahlköpfige. Sie stieß die Pforte auf und rannte durch den Vorgarten, vorbei an hohen Büschen, einem Stück Hecke und abgeknickten Sonnenblumen. Bei der Eingangstür fiel ihr fast der Schlüssel aus der Hand. Dann endlich war sie in der Diele, hatte Licht gemacht und lehnte keuchend an der Wand. Spinne ich? dachte sie. Der Mann hat das Recht, dort zu stehen! Vielleicht wartet er auf wen? 56
Aber sie wußte: Auf der anderen Straßenseite zog sich ein endloser Zaun hin, von keiner Pforte, keinem Eingang unterbrochen, und das nächste Haus drüben war weit. Sie trat in ihre Wohnung.
Als sie den Mantel ablegte, schrillte das Telefon. „Hallo?" meldete sie sich, ohne ihren Namen zu nennen. Irgendjemand war am anderen Ende der Leitung. Dieser Jemand atmete. „Hallo?" fragte sie abermals. „Schön, deine Stimme zu hören", sagte er. Sie erkannte ihn sofort. Sicherlich — seine Stimme war noch heiserer geworden, aber ihr Ohr erinnerungsfähig. Ihn hätte sie auch nach 50 Jahren noch erkannt. Jetzt durchfuhr der Schreck ihre Glieder. Die Hand, die den Hörer hielt, schien abzusterben. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, ihn nie wieder zu sehen. Und nichts mehr von ihm zu hören. „Du sagst nichts", meinte er. „Weißt du nicht, wer ich bin. " „Doch, Edwin. Rufst du aus Genua an? Deine Stimme klingt so nah. " „Ich bin zurück. " „Du bist hier?" Das klang nach Schrecken, nicht nach Begeisterung. Doch er überhörte den Ton, oder er kriegte es nicht mit. „Seit heute, mein Schatz. Du liebst mich doch noch?" Er lachte rauh. „Das ist lange her, Edwin. " „Ich habe dir damals gesagt, eines Tages kehre ich zurück und schließe dich wieder in die Arme. Und du hast geschworen, immer und ewig auf mich zu warten. Jetzt, mein Schatz, ist es soweit. " Er senkte die Stimme zum Flüstern. „Leni, die Bullen sind hinter mir her. Und meine ehemaligen Freunde auch. " Sie fröstelte. „Weshalb?" 57
„Es gab da eine kleine Panne. Aber ich bereue nichts. Ich bin jetzt zwei Millionen wert. Aber vorläufig ist das Eingemachtes, an das ich nicht ran kann. Leni, du mußt mir helfen. " „Edwin, i c h . . . " „Aus alter Liebe", unterbrach er. „Edwin, i c h . . . " „Außerdem wird es dein Schaden nicht sein. " Sie faßte sich. „Edwin, ich will mit alldem nichts mehr zu tun haben. " „Auch mit mir nicht?" „Ich möchte in nichts hineingezogen werden. " „Ich brauche etwas Bargeld und einen Unterschlupf. Kann ich zu dir kommen? Jetzt gleich?" „Nein, unmöglich. Ich erwarte Besuch. " Das entsprach sogar der Wahrheit. „Also morgen abend?" „Morgen bin ich nicht da. " „Dann Sonntagabend. Punkt 20 Uhr stehe ich vor deiner Tür. Die neue Adresse habe ich. In Ordnung?" „Also gut", sagte sie zögernd. „Übrigens habe ich dich heute in der Stadt gesehen. Entzückend siehst du aus. Wer war denn das Mädchen an deiner Seite?" „Welches Mädchen? Ich war mit keinem Mädchen zusammen. " „Aber, Leni! Glaubst du, ich erkenne dich nicht. Du hattest einen roten Mantel an und gingst mit einem etwa 13jährigen Teenager ins Cafe Mozart. Wärst du allein gewesen, hätte ich mich auf deine Spur gesetzt u n d . . . " „Ich war nicht im Cafe, Edwin. Du hast mich verwechselt. " „Unmöglich. Wer ist das Mädchen? Sie sieht dir irgendwie ähnlich mit ihrem langen, schwarzen Haar. " „Ich war nicht im Cafe Mozart, Edwin. Ich habe den gan58
zen Nachmittag im Supermarkt gearbeitet. Außerdem muß ich jetzt Schluß machen. Es hat geklingelt. Tschüß!" Sie legte auf, preßte die Lippen zusammen und schüttelte heftig den Kopf. Zur Tür ging sie nicht. Niemand hatte geklingelt.
Lothar Apel wohnte in derselben Gegend wie seine Verlobte. So bezeichnete er Leni Stegmüller, für die er — seit dem ersten Tag ihrer Bekanntschaft — in heißer Liebe entbrannt war. Er war Uhrmacher und angestellt in einem Fachgeschäft. Über Lenis Vergangenheit wußte er Bescheid. Es störte ihn nicht. Hatte sie doch zurückgefunden in geordnete Verhältnisse, zu einem arbeitsamen, ehrlichen Leben. Überhaupt, daß sie damals auf die schiefe Bahn geraten war, lag sicherlich nur an ihrer trostlosen Jugend. Ihren Vater hatte sie nie gekannt, und die Mutter war eine lieblose Person gewesen, an der Leni nur gelitten hatte: von kleinauf bis ins 16. Lebensjahr. Lothar war sparsam. Zur Hochzeit wollte er für Leni und sich eine Eigentumswohnung erwerben. Also legte er auf die hohe Kante, was sich erübrigen ließ. Nur zweimal im Monat führte er seine Liebste zum Essen aus — und auch dann nur in preisgünstige Restaurants. Letzten Freitag waren sie in der Pizzeria RENZO gewesen. Also blieb man diesen Freitag zu Hause, nämlich bei Leni, wo es gemütlicher war als in seinem möblierten Zimmer, das immer etwas abgestanden roch, weil er selten lüftete — um Energie zu sparen, Heizenergie. Er wußte genau, wann Leni nach Hause kam, ließ ihr Zeit, sich frisch zu machen, und entschied dann, daß es jetzt an der Zeit sei. Er zog seinen Mantel an, nahm die Flasche Wein, die er im Angebot erstanden hatte, das ebenfalls preiswürdige Salzgebäck und machte sich auf den Weg. 59
Je nach Tempo benötigte er elf bis dreizehn Minuten. Er
mußte dreimal links abbiegen, und die Route führte durch dunkle Straßen, die so interessant waren wie die Gebrauchsanweisung für eine Kartoffelschälmaschine. Auf dem letzten Stück pfiff er, wohlgelaunt. Aus seiner breiten Brust strömten kräftige Töne. Lothar war groß und stabil. Er hatte melancholische Augen. Um seine Anfälligkeit gegen Erkältungen herabzusetzen, hatte er sich — schweren Herzens — die Anschaffung einer Höhensonne zugestanden. Er benutzte das Gerät auch und verfügte jetzt — trotz Novembers — über eine gesunde Bräune. Daß er außerdem einen buschigen Schnauzbart trug, begünstigte die Verwechselung - jedenfalls in der Dunkelheit. Am Ziel trat er durch die Gartenpforte.
Es passierte, als er an der Hecke vorbei ging. Plötzlich war jemand hinter ihm. Ein Arm — massig und
würgend wie der Tentakel (Fangarm) eines Tiefseekraken — schlang sich hinterrücks um seinen Hals. Lothar wurde zurückgerissen. Er wollte schreien, konnte
aber nur krächzen. Hals und Kehle steckten wie in eiserner Zwinge. Er verlor die Tüte mit Wein und Salzgebäck. Sie fiel auf die Steinfliesen, und die Flasche zerbrach mit dumpfem Platzlaut, was ihm wie ein Nadelstich ins Nervenzentrum fuhr — dorthin, wo sein Empfinden für Sparsamkeit lag. Was ist denn? dachte er. Überfall! Gut, daß ich kein Geld bei mir habe! Aber was trinken wir jetzt? Er wehrte sich nicht. Gegen den Herkules hinter ihm wäre das sinnlos gewesen. Der hatte auch Lothars linken Arm gepackt und nach hinten gedreht — so wie man einen leeren Ärmel umdreht. „Ich habe ihn", blökte ihm eine laute Stimme ins Ohr. Aber die Mitteilung war für andere bestimmt. Zwei Schatten tauchten auf — aus den Büschen, von irgendwoher. 60
61
„Pst!" zischte der eine, der nicht hoch, aber massig war.
„Man hört dich ja meilenweit. " Der andere Schatten, schlank und behende, richtete den Schein einer Taschenlampe auf Lothars Gesicht. Lothar blinzelte. Der Lichtstrahl blieb an ihm kleben. Für Sekunden herrschte Stille. „Mensch, das ist er ja gar nicht", sagte der Massige. „Keine Ähnlichkeit. " „Oberflächlich schon", näselte der Schlanke. „Und Seegras hängt ihm auch unter der Nase. Gib ihm mal Luft, Paul!" Paul, der Herkules, lockerte seinen Tentakelarm. Röchelnd sog Lothar den Nebel ein. Die Bauchschmerzen, eine Folge von Angst und Schrecken, ließen etwas nach. Man hatte ihn verwechselt und das erkannt. Dann war ja die Sache gleich überstanden. „Wie heißt du?" fragte der Massige. Lothar wollte antworten. Aber seine Stimmbänder hingen offenbar so schlapp wie Segel bei Flaute (Windstille). Der Massige mißverstand das und hielt das Schweigen für Bockigkeit. Seine Faust traf Lothars Mund. Das kam unvermittelt, und der Schmerz zuckte bis in den Hinterkopf. Lothar spürte, wie seine Lippen aufplatzten und bluteten. Statt eines Schreis drang nur ein Krächzen durch die Zähne. Seine Knie gaben nach. Er hätte der Länge nach den Weg ausgemessen, wäre er nicht in dem Tentakelarm hängen geblieben. „Wie du heißt!" „ L o t h a r . . . Apel. " „Kennst du Kohaut?" „Nein. Den N a m e n . . . habe ich nie gehört. " Das stimmte nicht. Leni hatte auch mit ihrem privaten Vorleben nicht hinter dem Berg gehalten. „Wohnst du hier?" 62
„ I c h . . . ich besuche d i e . . Herrschaften", stotterte Lothar. „Herrn und Frau Thaler. "
Die Frage nach Kohaut hatte ihn alarmiert. Er ahnte nun, worum es ging. „Hör genau zu, du Flasche", sagte der Massige. „Du hast nichts gesehen von uns, klar? Die Schnauze hast du dir an 'nem Pfahl wund gestoßen, klar? Wenn du von uns was erzählst, drehen wir dich durch die Mangel, klar?" Lothar nickte. Der Herkules stellte ihn senkrecht. Die Taschenlampe erlosch. Mäntel raschelten. Leise Schritte entfernten sich. Er hörte, wie sie zur Straße gingen. Aber er wagte nicht, sich umzusehen. Mit dem Taschentuch betupfte er die blutenden Lippen. Er hob die Tüte auf. Sie roch nach Moselwein, einer lieblichen Sorte. Die Gebäckschachtel war durchgeweicht, trotzdem nahm er sie mit. Als er geklingelt hatte, kam Leni an die Tür.
„Wie siehst du denn aus?" fragte sie entgeistert. „Schnell rein, ehe sie wieder kommen. "
In ihrer Diele sah er in den Spiegel. Sein Mund war blutig, aufgeplatzt und verquollen. Eine Gemeinheit, einen harmlosen Menschen so zuzurichten. Er trat in ihr Bad, kühlte sich mit kaltem Wasser und spürte
ihren fragenden Blick. Er umarmte sie kurz. „Ich wurde überfallen, Schatz. Vor deiner Tür. Im Garten. Von drei Schlägern. Wie sich rausstellte, haben sie mich verwechselt. Du ahnst nicht, mit wem!" „Mit Edwin Kohaut", sagte sie. Verblüfft sah er sie an. „Ja. Genau. Ich habe behauptet, ich hätte noch nie von ihm gehört und wollte die Thalers besuchen. Du weißt anscheinend, was da läuft. " „Ich weiß nur Folgendes... " Sie berichtete von Kohauts Anruf und davon, daß er offenbar in Schwierigkeiten stecke. „Da gibt's keinen Zweifel, Lothar: Die drei gehören zu der Organisation, für die er gearbeitet hat. Scheint so, er hat die
betrogen. Jetzt jagen sie ihn und sind ihm dicht auf den Fer63
sen. Er sprach von zwei Millionen, und daß auch die Polizei hinter ihm her ist. Und jetzt zieht er mich mit hinein, dieser unverbesserliche Ganove. Mein Gott! Wie unerfahren und dumm muß ich damals gewesen sein — daß ich mich an so einen gehängt habe!" Dazu sagte er nichts. Aber er sagte: „Ich lasse es nicht zu, Leni, daß dieser Lump zerstört, was wir uns aufbauen. " „Dazu wird es nicht kommen. " „Sondern?" „Wenn er Sonntagabend herkommt, wird ihn die Polizei erwarten. " „Gut. " Er nickte und drückte an seinen Lippen herum. „Das wäre die eine Lösung. Die andere wäre, du tust gar nichts und überläßt alles den drei Mitmenschen. " Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nicht an seinem Tod schuld sein. Wenn er seine Kollegen von der Mafia um zwei Millionen betrogen hat, dann bringen sie ihn um. " Das sah Lothar ein, und obwohl er auf seinen Vorgänger eifersüchtig war, ging seine Feindschaft nicht so weit, ihm das Schlimmste zu wünschen. Während er sich einen Eierlikör einschenkte, weil nichts anderes da war, blätterte Leni im Telefonbuch. Sie rief im Präsidium an. Einem Beamten, dessen Namen sie nicht verstanden hatte, erklärte sie, ihre Mitteilung betreffe einen kriminellen Profi, der vermutlich gesucht werde und Edwin Kohaut heiße. „Augenblick", sagte der Beamte. „Ich verbinde Sie mit Kommissar Glockner. "
64
5. Berni und Isolde Klößchen fuhr mit Rönschl zum Internat zurück. Kommissar Glockner hatte Spätdienst und mußte im Präsidium ausharren. Karl nahm den nächsten Bus in Richtung Lindenhof Allee, wo die Viersteins eine romantische, alte Villa bewohn-
ten — in einem Außenbezirk der Großstadt. Für Tarzan war es selbstverständlich, daß er Gaby nach Hause begleitete. Es war stockdunkel geworden. Vom Himmel sah man nichts. Der Nebel füllte Straßen und Plätze, umfloß Laternen und Lichtpeitschen und wallte durch die Parks. Alle Lichtquellen hatten milchige Höfe, und manches Auto fuhr mit Nebelscheinwerfern. Gaby fröstelte und zog die Hände in die Ärmel ihres dikken Pullovers, während sie nebeneinander gingen. „Frierst du sehr?" fragte er und zog schon den Zipp seiner Steppjacke auf. „Nö. Ist nicht so schlimm. Die Pest wäre schlimmer. " „Vielleicht wäre es ganz lustig geworden auf der Isolierstation. " „Für dich bestimmt nicht. Gerade du wärst ausgenippt. Wo dich doch nichts im Bett hält. Nicht mal 40 Grad Fieber. Warum ziehst du die Jacke aus?" Er schob sein Rad mit der Linken. Mit dem rechten Arm war er aus dem Ärmel geschlüpft. Gaby hatte kein Rad mit. Sie und Karl hatten nachmittags den Bus benutzt, um zum Internat zu fahren. „Mir ist heiß" behauptete er. „Wenn der Frost klirrt, ziehe ich die Jacke wieder an. Jetzt genügt mir mein Pulli. Soll ich sie über den Sattel hängen, oder möchtest du sie anziehen?" Gaby lächelte. Sie durchschaute sein Manöver. Erbefürchtete, sie könnte ablehnen, wenn er ihr die Jacke direkt anbot. Dem beugte er vor, indem er trotz schweinekalten Mistwetters Hitzequalen vortäuschte. 65
„Das wäre wirklich sehr nett, Tarzan, w e n n . . . " So weit kam sie, da steckte sie auch schon in der Jacke, und
er schloß den Reißverschluß bis zu ihrem Kinn und stellte den Kragen hoch. „Besser so, ja?" „Viel besser. Danke. Und dir ist wirklich nicht kalt?" „Kein bißchen, Pfote. " „Für mich ist es fast ein Mantel, und die Ärmel sind auch zu lang. Sehe ich sehr doof aus?" „Nein, hinreißend. Wie immer. Dir steht einfach alles. " „Vielen Dank für das Kompliment", sagte sie sanft. Sie gingen zügig. Die Straßen hatten sich geleert. In der Straßenbahn, die gerade vorbei fuhr, saß nur eine Handvoll Leute. Aus einem Fußgängertunnel stieg ein alter Mann herauf und mußte auf jeder Stufe verschnaufen. Auf der anderen Straßenseite pinkelte sich ein Hund, ein Mischling, von Ecke zu Ecke. Aber dann wurde gepfiffen, und der Vierbeiner flitzte zurück und verschwand in einem Hauseingang. Tarzan sagte: „Ich habe vergessen, deinen Vater nach Kohauts Freundin zu fragen. " „Wie? Ach so. Warum willst du das wissen?" „Der Strolch hat erstens dich brutal behandelt und zweitens 7777, 77 Mark Bazargeld geraubt - ganz zu schweigen von Schorsch Rönschls Tausender. Bei der Bank ist Kohaut bis jetzt nicht wieder aufgetaucht, und ich glaube auch nicht, daß er den Uniformierten in die Arme läuft. Aber wir haben mit dem Kerl ein Hühnchen zu rupfen. Und wir wollen das Geld zurückhaben, weil's für die Waisenkinder bestimmt ist und nicht für diesen Ganoven. Wir müssen ihn finden. Das ist ein Fall für TKKG. " „Und deshalb willst du wissen, wer Kohauts Freundin ist. " „Klar. Vielleicht erwischen wir ihn dort, bevor er mit drei Kilo Münzgeld in der Hosentasche einen Großeinkauf macht. " 66
67
Gaby begann zu kichern. „Stell dir das vor! Da braucht er aber einen festen Gürtel. Sonst zieht das Geld ihm die Hose aus. Und wenn er dann bezahlt — und eine Mark nach der ändern hinlegt! Bei höheren Beträgen dreht die Kassiererin durch. " „Vielleicht wechselt er die Münzen irgendwo ein. " „Jedenfalls glaube ich nicht, daß mein Papi uns sagt, wer die Freundin ist. Da können wir noch so harmlos fragen. Papi hört doch gleich die Nachtigall trapsen. Ich nehme an, die Frau wird observiert (beobachtet), und der Zugriff erfolgt, sobald Kohaut sich zeigt. " „So wird's sein", seufzte Tarzan. Er hätte es zu gern gehabt, daß ein Problem, das zum TKKG-Fall erklärt ist, auch von den zuständigen Leuten gelöst wird: nämlich von ihm und seinen Freunden. Um abzukürzen, durchquerten sie einen Park. Die Wiesen waren fahl, wie man im Laternenlicht sah. Es tropfte von den Bäumen, und kein Mensch ging spazieren. Plötzlich schrie Gaby auf. „O Gott! Da liegt wer. I s t . . . ist der tot?" Jetzt sah auch Tarzan die Gestalt. Sie lag auf einer Bank, die unter einem schmalen Schutzdach stand, und rührte sich nicht. Es war dunkel dort. Aber als beide näher traten, sahen sie das Gepäck: einen vollgestopften Rucksack und eine Art Campingbeutel. Im selben Moment hörten sie leises Weinen. Jedenfalls kein T o t e r . . . vielmehr: keine Tote! dachte Tarzan. Es war ein Mädchen. Sie steckte in einem Schlafsack. Daß sie's gemütlich hatte, konnte niemand ehrlichen Herzens behaupten. Außerdem hatte sie Kummer, denn Freudentränen vergoß sie nicht. Sie hatte sich mit dem Gesicht zur Lehne gewandt. Ihr strähniges Haar hing herab. Jetzt hörte sie die beiden, nämlich deren Schritte im Kies, und wälzte sich herum. 68
„Berni?" „Hallo", sagte Tarzan. „Wie geht's denn so? Kühles Plätzchen, wie? Hast du Kummer? Können wir dir irgendwie helfen?" Sie mochte 16 oder 17 sein, wie er aus der Nähe sah. Sie hatte ein schmales Gesicht mit ziemlich großen Augen. Ihr langes, braunes Haar lechzte nach Schampun (nüssiges
Haarwaschmittel). Aber da mußte wohl erst ein Wunder geschehen, bis diese Maid mal wieder in die Badewanne oder unter die Dusche kam. Offensichtlich handelte es sich um eine Trebegängerin (Herumtreiberin). „Ach", meinte sie und öffnete ihren Schlafsack soweit, daß sie aussteigen konnte. „Ist 'ne Saukälte hier. Deshalb habe ich mich eingepackt. " Sie war samt ihren schmutzigen Turnschuhen in den
Schlafsack gestiegen. Tarzan stellte fest, daß sie klein und sehr zierlich war. Ihre Miene drückte Hilflosigkeit aus. „Wartest du auf jemanden?" fragte Gaby. „Auf meinen Freund. Er heißt Berni. Ich bin die Isi. Getauft hat man mich auf Isolde. Aber das ist ja zum Kotzen. " Sie gab Gaby die Hand und dann Tarzan. „So übel ist der Name nicht", meinte Gaby. „Weshalb hast du geflennt?" Isi lächelte kläglich. „Ich glaube, Berni hat die Platte geputzt (abhauen). Wir sind hier verabredet. Schon seit nachmittags um fünf. Aber er ist nicht gekommen. Ohne ihn weiß ich nicht, wohin ich soll. "
„Du bist nicht von hier?" vermutete Gaby richtig. „Nein. Berni und ich sind auf Tour. Schon seit Sommer. Wir sind beide zu Hause abgehauen. Dort hängst du doch nur dumm rum. Ich hatte zwar 'ne Lehrstelle, bin aber rausgeflogen, weil in der Kasse was fehlte. Ich war's nicht — auf Ehre und Gewissen. Aber alle haben mich verdächtigt. Mein Alter ist nämlich 'n Säufer und vorbestraft. Der Apfel fällt
69
nicht weit vom Stamm, haben die alle gedacht. Mir hat's gereicht. Na, und Berni — der hat gar nicht erst 'ne Lehrstelle gefunden, obwohl er in der Schule ganz gut war. " „Wenn ihr schon so lange zusammen seid", meinte Tarzan, „wird er dich doch jetzt nicht sitzenlassen. " „Weiß nicht. " Isi zuckte die Achseln. „Wir hatten Knies, und ich habe ihn angeschrien, ich käme auch ohne ihn zurecht, und er sollte sich dünne machen. Das war mittags. Eigentlich müßte er wissen, daß ich das nie so meine. Aber er ist nicht gekommen. " „Wo übernachtest du?" fragt Tarzan. „Bei gutem Wetter im Freien. Seit es kalt ist, gehen wir zur Bahnhofsmission. Manchmal nehmen sie uns auch in der Jugendherberge. " „Und wovon lebt ihr?" Isi zog ein schiefes Gesicht. „Meistens von der Hand in den Mund. Ein paar Mark sind schnell zusammengebettelt. Und wir brauchen nicht viel. " Gaby hatte einen Entschluß gefaßt. „Heute nacht sinken die Temperaturen unter null. Du kannst hier nicht auf deinen Berni warten und darauf, daß dir die Füße erfrieren. Am besten, du kommst erstmal mit zu mir. Siehst ja richtig verhungert aus. Meine Eltern finden dann bestimmt eine Bleibe für dich. Ich bin Gaby Glockner. Das ist Tarzan. So heißt er zwar nicht wirklich. Aber unter dem Spitznamen findest du ihn, wen du hier auch fragst. " Isi lächelte. „Ihr seid ja ein süßes Paar", stellte sie mit der Weisheit ihrer 16/17 Jahre fest. „Ist 'n tierisch nettes Angebot. Aber wenn er nun doch noch kommt?" Sie meinte Berni. „Hinterlaß eine Nachricht", schlug Tarzan vor. Er hatte nichts Schreibbares bei sich. Aber Isi wühlte ein Notizbuch samt Kugelschreiber aus ihrem Rucksack. Dabei passierte es, daß sie unfreiwillig Einblick gewährte. Fellig und dunkel glänzte ein Stück. Trotz mangelnder Be70
71i
leuchtung erkannte Tarzan, daß es sich um einen Nerzpelz handelte. Um einen Mantel freilich nicht, aber um ein kurzes Cape oder eine Stola. Hm! dachte er ironisch. Sicherlich kriegt man sowas bei der Bahnhofsmission, wenn's einen am Buckel friert. Oder sie hat das Wertstück in der Mülltonne gefunden. Aber er sagte nichts, tauschte nur einen Blick mit Gaby. Doch sie lächelte mild, hatte offenbar nichts bemerkt. Isi verstellte ihr die Sicht auf den Nerz. Die Tippelschwester riß ein Blatt heraus und notierte Gabys Adresse — mit dem Hinweis, sie — Isi — wäre jetzt dort. Sie legte den Zettel auf die Bank und beschwerte ihn mit einem Stein, während Tarzan das Globetrotter-Gepäck auf seinen Drahtesel hievte. Zu dritt gingen sie weiter. Isi erzählte von sich. Sie hatte eine freudlose Kindkeit erlebt und hegte keine großen Erwartungen, was die Zukunft betraf. Alles hörte sich so mut- und trostlos an, daß es Tarzan nervte. Am liebsten hätte er sie geschüttelt und ihr klargemacht, daß es gar nichts bringt, wenn man sich und die Ohren hängen läßt. Aber seine Devise (Wahlspruch), man habe sein Lebensglück selbst in der Hand, wäre bei ihr sicherlich auf steinigen Boden gefallen. Weder Gaby noch er kamen dazu, von sich zu erzählen. Dann erreichten sie das malerische Altstadtviertel, wo die Glockners wohnten. In der Straße war es still. Die Laternen gössen mattes Licht in den Nebel. Weit reichte die Sicht nicht. Trotzdem sah Tarzan, wie ein Radfahrer vor Frau Glockners Lebensmittelgeschäft hielt, abstieg und sein Rad umständlich an die Wand lehnte. Denn auf dem Gepäckträger schwankte ein Tourenrucksack. Er dachte gerade: Wäre ja lustig, wenn dieser Berni vor uns hier ist — als Isolde einen Freudenquietscher in den Nebel stieß.
72
„Da ist er ja! Berniiiii... " Sie stürmte los, und er empfing sie mit weit geöffneten Armen. „Hast du den Zettel gelesen, ja? Und gleich die Straße gefunden. " Sie hing an ihm - tatsächlich und auch im übertragenen Sinne, war er doch offenbar ihr einziger Halt. Gaby und Tarzan machten sich mit Bernhard Maas, wie er mit vollem Namen hieß, bekannt. Er war 18, sah nicht übel aus, aber recht verwahrlost. Er hatte semmelblondes Haar und am linken Ohr einen kleinen Goldring. „Ist ja riesig nett", meinte er, „daß ihr euch um Isolde gekümmert habt. Aber ich hätte doch meine Isi nicht im Stich gelassen. " Grinsend strich er ihr über die strähnigen Haare. „War nur verhindert, Isi-Schatz. Konnte einfach nicht kommen. Das erzähle ich dir noch. Jedenfalls haben wir ein Nachtquartier, und du kommst am besten gleich mit. " Sie lächelte selig. Tarzan bemerkte, wie ihr Blick voller Neugier immer wieder zu Bernis Rad wanderte, einem ziemlich neuen, ziemlich teuren Tourenrad. Das hat er wohl auch erst seit eben, dachte Tarzan. Und bestimmt nicht bezahlt. Aber kann ich das beweisen? Wenn ich mich nun irre und ihn trotzdem des Diebstahls bezichtige, ist er mit Recht sauer. Gaby sagte: „Jedenfalls wißt ihr ja nun, wo ich wohne. Damit habt ihr eine Anlaufadresse, falls ihr Hilfe braucht. " Beide bedankten sich. Bevor sie voneinander schieden, meinte Tarzan beiläufig: „Hast ja eine tolle Tretmühle, Berni! Gib darauf acht. Hier in der Stadt werden Räder geklaut, daß die Polizei nicht mehr nachkommt. 'Ne Gemeinheit sowas. Aber es gibt eben gewissenlose Typen. " „Jaaahhh, die gibt es", murmelte der junge Mann und rieb sein unberingtes Ohr. 73
Er lud Isis Gepäck auf sein Zweirad um, dann schoben beide ab. Isolde Pönig - sie hatte auch ihren Familiennamen
bekannt gegeben — winkte noch einmal, bevor der Nebel die beiden schluckte. „Würdest du mit mir auf Trebe gehen (vagabundieren)?" fragte Gaby. „Jederzeit. Hast du bestimmte Pläne?" Sie lachte. „Es war nur eine Frage. Ich sehe keinen Grund zur Herumtreiberei. So gern wie ich bei meinen Eltern bin — und in der TKKG-Bande. Und überhaupt: Wir vier sind beneidenswert dran. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir uns über andere Gedanken machen — und über sie urteilen. Berni und Isi waren wohl nie auf Rosen gebettet. Vielleicht muß man deshalb weggucken, wenn man so einiges bemerkt. " „Ach, was denn?" „Zum Beispiel einen Nerzpelz oder einen Drahtesel, nach dem vielleicht schon gesucht wird. " Tarzan stieß einen Pfiff aus. „Ist dir also nicht entgangen. Ich dachte, dein Argwohn schliefe. Aber nein, er war hellwach. " „Hätten wir ihnen Schwierigkeiten machen sollen?" „Darüber habe ich nachgedacht, seit ich den Pelz in Isis Rucksack sah. Mein Mitleid war stärker als die Pflicht, einen eventuellen Diebstahl anzuzeigen. " Sie nickte. „Ich kann ja meinen Papi mal fragen", wechselte sie dann das Theme, „wer Kohauts Freundin ist. Vielleicht sagt er's uns doch. Auf morgen abend bei Britta Jacoby freue ich mich. Das wird bestimmt nett. Ich muß das Geschenk noch einpakken. " Die vier Freunde hatten zusammengelegt und sich als Geburtstagsgeschenk eine Überraschung ausgedacht: Ein gestochen scharfes Foto von der hübschen Britta war auf Posterformat vergrößert worden. Damit es Überlebenschan74
cen hatte, war es außerdem zwischen zwei Glasplatten eingekerkert und fachmännisch gerahmt worden: eine wirklich
attraktive Wanddekoration (Dekoration = Ausschmückung) für Brittas poppiges Zimmer. Das Foto war übrigens ein gelungener Schnappschuß, den Karl gemacht hatte. Britta kannte das Foto noch nicht. „Dann gute Nacht, Pfote. Bis morgen. " Sie gab ihm seine Jacke zurück. Er war blau gefroren. Aber auf dem Rückweg zum Internat fuhr er wie ein rekordverdächtiger Radprofi, und das heizte die Muskeln auf.
75
6. Der Anfang der Geburtstagsparty Oben im ADLERNEST, der gemeinsamen Bude von Tarzan und Klößchen, roch die Luft nach Kakao. Tarzan schloß die Tür hinter sich. Im ganzen Haus dröhnte Feierabendlärm — besonders hier in der 2. Etage des Haupthauses, wo die Schüler der Mittelstufe ihre Buden hatten. Das Abendessen im großen Speisesaal war längst beendet - Tarzan zu spät gekommen, also leer ausgegangen. Jetzt blickte er staunend auf seinen dicken Freund. Klößchen trug seinen karierten Anzug, den feinsten, über den er verfügte. Er hatte ein weißes Hemd an und einen grün-rot-gemusterten Querbinder, eine sogenannte Fliege. Vor dem Wandspiegel, der sonst soviel Beachtung fand, als gäbe es ihn nicht, wendete und drehte er sich — spreizte sozusagen das Gefieder wie ein Pfau. „Wie wirke ich?" fragte er. Tarzan zog seine Steppjacke aus. „Längenstreifen wären günstiger als kariert. Kariert ist mehr was für Schmächtige. " „Du weißt doch, daß das ein englischer Anzug ist von hervorragender Qualität. Allein das Futter hat ein Vermögen gekostet. " „Das sieht man aber nur, wenn du ihn wendest. " „Ist doch kein Wendeanzug. Außerdem behagt mir das Wissen um die inneren Werte. Um das Seidenfutter, meine ich. Und wie sitzt die Fliege?" „Hervorragend. " Tarzan biß die Zähne zusammen, um ernste Miene zu machen. „Ich möchte morgen abend einen günstigen Eindruck hinterlassen", verriet Klößchen. „Den hinterläßt du. " „Warum sprichst du so eng durch die Zähne?" „Habe hier was. " Tarzan zwickte an seinem Kiefer herum, ließ ungesagt, ob 76
es sich um Zahnschmerzen oder ein Kaugummi handelte, und verbiß sich mannhaft das Lachen. „Britta ist nämlich e i n . . . ä h . . . recht hübsches Mädchen. Sie könnte mir gefallen. " Klößchen zupfte am Hemdkragen. „Sie ist allgemein beliebt. Was riecht denn hier nach Kakao?" Tarzans Blick hatte vergeblich nach einer Tasse oder Kanne gesucht. „Kakao? Ach, du liebe Güte! Ich wollte Schokolade anwärmen und habe sie auf die Heizung gelegt. " Klößchen griff nach der Tafel, aus der es bereits tropfte, und platschte sie auf den Tisch. Seine Leib- und Magenspeise hatte sich in Creme verwandelt, und er nahm gleich einen Teelöffel aus dem Nachttisch, um sich darüber herzumachen. „Hast du Hunger?" erkundigte er sich. „Willst du mitessen?" „Hunger habe ich schon. Aber das heißt nicht, daß ich nasche. Wie spät? Naja, jetzt ist auch in der Küche schon Feierabend. Dann faste ich eben bis zum Frühstück. Mir gelingt das nämlich - was dir zum Beispiel guttäte. " „Ich weiß, was mir guttut. " Klößchen griente wie ein Vollmond im Sonnenbad. „Hast also Hunger?" „Es läßt sich aushalten. " „Aber ein dickes Wurstbrot wäre angenehm?" Tarzan setzte sich aufs Bett und zog die Turnschuhe aus. „Willst du mich ärgern?" „Ich will dir nur zeigen, wie weitblickend und selbstlos ich bin. " „Aha. Bis zu welcher Schokoladentafel blickst du denn?" Tarzan legte den Pulli ab und streckte sich aufs Bett. „Vorsicht! Du zerdrückst ja die Leberwurst!" rief Klößchen. „Was?" „Unterm Kopfkissen!" 77
78
Tarzan hatte schon gemerkt, daß da was klumpte, es aber für seinen Pyjama gehalten. Als er jetzt das Kopfkissen anhob, sah er den Teller. Er war mit Zellophanpapier umhüllt, aber mit durchsichtigem, so daß der Inhalt zur Geltung kam: ein Leberwurstbrot, ein zweites mit Aufschnitt, eine aufgeschnittene Tomate schon etwas wässerig, und — der Vitamine wegen — ein Büschel Schnittlauch. „Ich habe der Köchin gesagt", meinte Klößchen, „daß du später kommst, also vom Goulasch höchstens noch den Duft ereilst. Da hat sie dir das gemacht. Sie kann dich wirklich gut leiden. " „Mensch, Willi! Klasse! Vielen Dank! Auf deine Freundschaft kann man wirklich bauen. Das ist ja wie Zimmerservice (Bedienung auf dem Hotelzimmer). " Klößchen strahlte, als hätte er das Bundesverdienstkreuz erhalten oder sogar eine Ehrenurkunde beim Schulsportfest. Tarzan aß und erzählte von Isolde und Berni. Später kamen andere Schüler ins ADLERNEST! Der Überfall hatte sich rumgesprochen. Klößchen mußte immer wieder berichten. Viele machten ihrer Empörung mit wilden Drohungen Luft. Aber das half alles nichts. Das Geld war erstmal weg, und der beliebte Schorsch Rönschl hatte seinen Schaden. Mitten in der Nacht wachte Tarzan auf, weil Klößchen im Schlaf sprach. „rrrrrhhhhh... ", verstand Tarzan. „Gib das Geld her, Ganove! Sonst... rrrrhhhhh... zerfrmengsdemncvzwlbcxw... ich dich!... rrrrrhhhhh.... " Offenbar hatte Klößchen sich träumend in einen gefährlichen Polizeihund verwandelt, der gleichwohl die menschliche Sprache beherrschte und soeben zurückeroberte, was für die Waisenkinder bestimmt war.
79
Cordone fuhr. Norbert Bonsen, genannt der schöne Wiener, saß neben ihm. Paul Thiebel, der Geldmelker, räkelte sich im Fond, wo seine riesenhafte Gestalt kaum Platz fand. Sie hielten vor einem Grundstück in einem Außenbezirk der Stadt. Es war eine feine, aber nicht zu feine Gegend. „Das habe ich unter Falschnamen angemietet", sagte Cordone und strich mit beiden Händen über seinen Krauskopf,
als wäre der Bewuchs nicht echt, sondern Perücke, und er müsse den Sitz überprüfen. „Vom Haus sieht man rein nichts", röhrte Thiebel mit seiner Disco-Stimme, die — bei häufigem Anhören — unweigerlich Hörschäden hinterlassen würde. „Eben drum. Ist ja Absicht. Da sind wir ungestört. Außerdem ist es unser Notquartier, falls mal irgendwas schiefgeht. Und wir uns absetzen müssen. " „Hoffentlich nie!" meinte der schöne Wiener. Eine hohe Hecke umschloß das Grundstück auf allen vier Seiten. Sie war dicht und verwildert. Zwei mächtige Tannen ragten auf. Vom Haus sah man nur ein Stück Schornstein und die oberste Reihe der Dachziegel. Die drei stiegen aus und betraten das Grundstück. Die eiserne Gartenpforte quietschte. Auch der Garten war verwildert. Aber der Romantik-Look (Look = Aussehen) stand ihm gut. Cordone schloß auf, und sie betraten das Haus. „Ist ja möbliert", staunte Thiebel. „Ich hab's möbliert gemietet", nickte Cordone. „Plüsch und Plunder von 1920", meinte Bonsen verächtlich. „Wo ist das Gerät?" „Im Keller. " Cordone führte sie hinunter. „Die Firma hat es gestern noch geliefert", erklärte er. „Es nennt sich Xerox 6500 Color Copier, ist also ein Farbkopiergerät. Ich hab's erstmal für zwei Monate gemietet. " Die beiden Komplicen bestaunten das Gerät, wußten sie 80
doch, wie toll das arbeitete. Goldene Eier sollte es ihnen legen — das war der nächste Coup, mit dem sie Moneten machen wollten, bis der Reichtum unerträglich wurde. „Gut, gut!" meinte Bonsen. „Das wäre dann Heimarbeit. Aber so langweilig wird's heute abend nicht. " „Nöööhhh", dröhnte Thiebel. „Heute melken wir Geld. Aber mit 'nem Ballermann. Montagfrüh sind die Gazetten (Zeitungen) voll und wir Tagesgespräch. Genial, wie du das eingefädelt hast, Gino. " „Hängt und fällt alles mit diesem Jochen Linkelpart", erwiderte Cordone. „Er ist der Schlüssel zum Erfolg. " „Wird ein Mordsspaß, wenn wir die Geburtstagsparty platzen lassen", wieherte Thiebel — mit der Lautstärke eines Ackergauls, nicht mit der eine Ponys. „Informationen sind alles", nickte Cordone. „So, das war's. Gehen wir. Die Geldmaschine bleibt noch kalt. " Als sie das Haus verließen, kam die Sonne hinter grauen Wolken hervor, denn es war Samstagnachmittag, und Petrus wollte wenigstens so tun als ob. „Und Kohaut?" fragte Bonsen. „Wann kümmern wir uns um den? Ist ja schließlich unser Auftrag. " „Eins nach dem ändern", nickte Cordone. „Der Fuchs riecht die Falle, glaube ich. Deshalb wird er noch abwarten, ehe er bei Leni Stegmüller auftaucht und der blauen Taube das Gefieder streichelt, hahah! Soll er sich ruhig dort einnisten. Morgen abend sehen wir nach. " „Wir sind die reinsten Abendarbeiter", maulte der schöne Wiener. „Man kommt kaum noch zum Fernsehen. " „Was verpaßt du denn da?" „Auch wieder wahr. " Sie gingen zur Straße. Wieder quietschte die Pforte. Es war eine Wohngegend, kein Geschäft oder Kaufhaus in der Nähe. Wochenendstille schien sogar die Sperlinge anzustecken, die im Garten gegenüber ein Vogelhaus belagerten, aber entweder sattgefressen oder herbstlich müde waren. 81
Ein junger Bursche lehnte am Zaun und beobachtete die Gefiederten. Er war semmelblond und trug verdreckte Klamotten wie ein Walzbruder, der alle Brücken Europas schon kennt, weil er darunter geschlafen hat. Was die Sperlinge betraf, schien er Bauklötzer zu staunen, als begreife er nicht, wie sich Lebewesen ohne Motor und Treibstoff in die Lüfte erheben. Cordone warf ihm einen mißtrauischen Blick zu — eigentlich nur, weil der Bursche am linken Ohr einen kleinen, goldenen Ring trug. Cordone mochte das nicht.
Rönschl hatte Tarzan und Klößchen in seinen Wagen geladen. Sie waren zur Stadt gefahren, hielten jetzt in der Lindenhof Allee, und Karl, der am Eingang seines romantischen Elternhauses wartete, kam im Schweinsgalopp herbei. Auch er hatte sich fein gemacht. Als er zu den beiden einstieg - in den Fond —, warnte Klößchen: „Stoß nicht an meine Fliege!" „Ist ja ein tolles Ding", meinte Karl, nachdem er alle begrüßt hatte. „Auf welchem Flohmarkt kriegt man denn sowas?" „Was heißt hier Flohmarkt?" schnappte Klößchen. „Du warst wohl noch nie bei einem Herrenausstatter!" „Sobald der Fasching beginnt, werde ich mich dort umsehen", versprach Karl. Aber Klößchen bezog das nicht auf sich, saß vielmehr stocksteif, um seine Eleganz in den Abend hineinzuretten. Der war bereits angebrochen. Es dunkelte früh heute. Und an einem Samstagabend in der Großstadt funkelt immer viel Leuchtreklame, was nicht zu übersehen war, als sie durch die Straßen fuhren. Sie holten Gaby ab, die aber nicht vor der Tür wartete, sondern von Tarzan rausgeklingelt wurde. Sie sah hinreißend aus, trug ausnahmnsweise mal ein Kleid, hatte das Goldhaar
82
zum Pferdeschwanz gebunden und die Frische der Vorfreude auf den Wangen. Tarzan nahm ihr das ziemlich sperrige Geschenk für Britta ab. Es wurde im Kofferraum verstaut, wo es wegen Glasbruchgefahr auf einer Wolldecke lag. „Hab ich einen Hunger!" sagte Klößchen. Rönschl schmunzelte, aber Gaby befürchtete Schlimmes. „Willi", sagte sie. „Wir sind zum Abendessen eingeladen. Das heißt aber nicht, daß du sofort in die Küche marschierst und in die Töpfe guckst. Es schickt sich auch nicht, daß du deinen Magen knurren läßt oder auf andere Weise die Verköstigung beschleunigst. Sowas paßt einfach nicht zu einer eleganten Erscheinung. " „Kann ja heiter werden", meinte er und griff erst rechts und dann links in seine Brusttaschen. „Ist die Jacke zu eng?" fragte Gaby. „Er hat vorgebaut", sagte Tarzan, „und in jeder Innentasche eine Tafel Schokolade. Das trägt zwar etwas auf, aber wer so elegant auftritt, kann sich das leisten. " „Will ich meinen", nickte Klößchen. „Im übrigen ist das kein Mißtrauen gegen Frau Jacoby. Ich bin nur vorsichtig. Schließlich habe ich noch nie dort gespeist. Vielleicht sind die Jacobys kalorienbewußt, und ich bleibe - ohne daß sie's wollen — auf der Strecke. " „Satt wirst du bestimmt", versprach Rönschl. „Frau Jacoby kocht sehr gut. " Die Familie des Bankdirektors bewohnte einen Bungalow, der zwar sehr dicht an der Straße stand, aber auf der Rückseite über einen ausgedehnten Garten verfügte. Alle Fenster waren erleuchtet. Die Lampe über dem Eingang brannte. Die Gäste spürten, daß sie erwartet wurden. Britta ließ sie ein. Gaby fiel ihr um den Hals und gratulierte. Dann wünschten die ändern viel Heil und viel Segen. Zu fünft sangen sie , Hoch soll sie l e b e n . . . ', und Britta wurde so verlegen, daß sie bis zur dritten Strophe nur auf Klößchens Querbinder sah, was den Träger vor Glück ganz taumelig machte. 83
Herr und Frau Jacoby standen in der Tür zum Kaminzimmer und genossen lächelnd, was ihrer Tochter galt. Dann begrüßten auch sie die Gäste, und Rönschl überreichte der Dame des Hauses Blumen im Namen aller. Britta packte ihr Geschenk aus und war hingerissen. In der Tat — auf dem Poster war sie genau so hübsch wie in Wirklichkeit. Johanna und Britta, also Mutter und Tochter, ähnelten sich sehr, wie Tarzan beobachtend feststellte. Er kannte zwar Frau Jacoby bereits. Aber jetzt, als die beiden nebeneinander standen, fiel es besonders auf. Beide hatten blauschwarzes Haar. Britta trug es lang, die Mutter hochgesteckt. Beide hatten hübsche Gesichter und leuchtend blaue Augen. Den etwas üppigen Mund hatte Johanna der Tochter vererbt. Franz Jacoby war der Typ des dynamischen Managers und nicht nur für das Geldinstitut in der Fußgängerzone verantwortlich, wie Rönschl den TKKG-Freunden erzählt hatte. Vielmehr leitete Jacoby auch zwei andere kleinere Stadtteilfilialen (Zweigstellen) und wußte sicherlich sämtliche Börsenkurse auswendig, ebenso den Kontostand seiner wichtigsten Kunden. Während die Erwachsenen einen Aperitiv (appetitanregendes Alkoholgetränk) zu sich nahmen, verzogen sich die fünf in Brittas Zimmer. Sie zeigte ihre Geschenke und wählte dann einen Platz für das Foto-Poster aus. Es gab einen Werkzeugkasten. Britta holte Hammer und Nagel. Beinahe hätte Klößchen sich erboten, den Nagel in die Wand zu schlagen. Doch ihm fiel noch ein, daß er auch die Daumen zum Essen benötigte. Tarzan hämmerte, und das Poster wurde aufgehängt. „Jetzt ist mein Zimmer noch mal so schön", jubelte Britta. Während des Essens am festlich gedeckten Tisch sprach man über den gestrigen Überfall und über die Möglichkeiten, Mißbrauch zu treiben mit den Geldausgabe-Automaten. 84
85
„Schuld ist immer menschliches Versagen", erklärte Jacoby. „Den Vorwurf kann ich dir nicht ersparen, Schorsch. Es war grenzenloser Leichtsinn, daß du einen Zettel mit der Code-Zahl bei der Scheckkarte aufbewahrt hast. Da wußte dieser Kohaut ja gleich, worum es sich handelt. Den Tausender kannst du erstmal abschreiben. " „Es ist meine Schuld. Ich weiß", nickte Rönschl. „Ich beherrsche fünf Fremdsprachen. Aber die verflixte Zahl merke ich mir nie. Zudem habe ich mir eingebildet, daß zwar an-
dere überfallen werden, es mich aber niemals trifft. " „Straßenräuber haben schon oft Scheckkarten erbeutet",
sagte Jacoby, „und das Opfer mit Waffengewalt gezwungen, den Code zu nennen. Verängstigte haben dann tatsächlich die richtige Zahl verraten. Andere haben den Räuber reingelegt, indem sie eine falsche Zahl angaben. "
„Was geschieht denn dann?" fragte Tarzan. „Ich meine, wie verhält sich der Automat?"
„In den mußt du, wie du sicher weißt, die Scheckkarte einlegen. Wenn nun auf der Tastatur ein falscher Code getippt wird, schluckt der Automat die Karte und gibt sie nicht wieder her. Damit hat sich's. " Frau Jacoby erwies sich als exzellente (hervorragende) Gastgeberin. Es gab fünf Gänge, und ein beseligter Ausdruck lag auf Klößchens Gesicht. Als der Nachtisch serviert wurde, nämlich Schokoladenmus, hätte er Brittas Mutter am liebsten die Hand geküßt. Das Gespräch drehte sich jetzt um die bangen Minuten, die man gestern abend in Kommissar Glockners Büro verbracht hatte. Der letzte Bissen war genossen. Also konnte man - natürlich mit aller Zurückhaltung — ein so unappetitliches Thema wie den Schwarzen Tod anschneiden. „Arme Gaby!" sagte Johanna Jacoby. „Ich kann nachfühlen, welche Angst du ausgestanden hast. " Und ich erstmal! dachte Tarzan. Aber nicht um mich, sondern um Pfote. 86
„Das war ein Schreck in der Abendstunde", nickte Gaby. „Wie schnell sich alles ändern kann. Gestern um diese Zeit habe ich gezittert und gebibbert. Und jetzt sitzen wir hier nach diesem herrlichen Abendessen. Unsere Welt ist heil. Alle Bedrohung fern. Und nichts könnte schöner sein. " Die Kunde von Klößchens Appetit war offenbar bis hierher gedrungen. Jedenfalls stellte Frau Jacoby eine Schale mit köstlichem Gebäck auf den Tisch — und in Klößchens Nähe, während Britta und Gaby abräumten und die Herren sich Zigarren anzündeten. Klößchen probierte gleich drei Mandelplätzchen auf einmal. „Phantastisch!" lobte er vollmundig. „Wohl auch eigene Herstellung, Frau Jacoby?" „Die nicht", lachte sie. Und Britta ergänzte: „Die haben wir gestern nachmittag noch rasch vom Cafe Mozart geholt. Die machen das beste Gebäck, finde ich. " „Jetzt sollten wir die Jalousien runterlassen", sagte Frau Jacoby zu ihrer Tochter. „Mache ich. " Britta trat zum Blumenfenster. Draußen lag der dicht bepflanzte Garten, schwarz und abweisend wie die Herbstnacht. Etwas Lampenlicht fiel auf die Terrasse. Neben dem Blumenfenster war die Tür. Tarzan saß mit dem Rücken zur Gartenfront. Er sah Gaby zu, die gerade die Kristallschüssel mit dem Rest Schokoladenmus abräumen wollten. Klößchens Miene verriet, daß er nur zu gern den Finger hineingetaucht hätte. Aber der karierte Anzug, das wertvolle Seidenfutter und die enorme Fliege verpflichteten zu weltmännischen Manieren. Zum Ausgleich schob er sich drei Kekse in den Mund. Dann traten seine Augen hervor, als werde er gewürgt. Krümel fielen ihm aus dem Mund. Der fassungslose Blick ging an Tarzan vorbei — in Richtung Fenster. In derselben Sekunde schrie Britta auf. 87
Gleichzeitig schien Gaby vor Schreck zu versteinern. Sie ließ die Schüssel fallen, während sie zur Terrassentür starrte. Das Aufschlagen der Schüssel mischte sich mit dem Klirren der Glasscheibe. Tarzan wirbelte herum — und glaubte zu träumen. Ein riesenhafter Kerl — maskiert mit einem schwarzen Gebilde in Form einer Henkerskappe — hatte die Scheibe mit der Schulter eingedrückt wie Seidenpapier, stieg einfach durch den Rahmen, wobei ihm Glassplitter auf die Schulter rieselten, und richtete seine Maschinenpistole auf die kleine Geburtstagsparty, während Britta — knieweich vor Entsetzen — vor ihm zurückwich. „Niemand rührt sich!" blökte er — mit einer Stimme, als hätte er einen Lautsprecher unter der Maske. Hinter ihm stiegen zwei weitere Maskierte durch die zerstörte Terrassentür: ein schlanker Typ und ein klotziger von knapp mittlerer Größe. Sie waren mit Pistolen bewaffnet und alle drei auf gleiche Weise gekleidet: blaue Arbeitsjeans, dunkle Windjacken und Hallenturnschuhe. Wie hat Gaby gesagt? schoß es Tarzan durch den Kopf. Heile W e l t . . . Bedrohung f e r n . . . nichts könnte schöner sein... Ich glaube, sie hat sich geirrt.
89
7. Bankraub mit Geisel In der Schrebergartenlaube war es weder warm noch gemütlich. Aber Isi hatte sich in ihren Schlafsack gehüllt, und Berni entzündete soeben seinen Spirituskocher, um Pulverkaffee zu bereiten. Sie waren hier eingedrungen — wie woanders schon viele Male auf ähnliche Weise. Sie fühlten sich geborgen. Und was man als Komfort (Behaglichkeit) ansieht, ist immer eine Frage des Standpunkts. Wer gewohnt ist, im Freien zu übernachten, dem erscheint eine Gartenlaube wie ein Schloß. „Im Winter wird's härter für uns", sagte er. „Da geht's nicht ohne Geld. Und das besorge ich uns. " „Ich weiß nicht, Berni. Ich bin dagegen, daß du klaust. Die Nerzstola schleppe ich nun schon seit Wochen mit mir rum. Es wäre besser gewesen, du hättest sie gar nicht erst genommen. Auch das mit dem Fahrrad heute... Wie kannst du! Übrigens glaube ich, dieser Tarzan hat was gemerkt. Er war nur zu anständig, um dich festzunageln. " Berni brummelte was. Er konnte sehr dickköpfig sein. Die bläulichen Flämmchen spiegelten sich auf seinem Ohrring. „Was soll's", sagte der dann. „Zurück können und wollen wir nicht. Unser Weg führt erstmal nach Süden. Aber nicht ohne Pinke. Es muß sein, Isi-Schatz! Glaub mir und sei nicht immer so spießbürgerlich ehrlich! Natürlich nehme ich nie wieder irgendwelchen Trödel, den man erst verscherbeln muß — und wofür man dann doch nichts kriegt. Ich nehme nur noch Bargeld. " „Ach, Berni", seufzte sie. Ihr eigenes Schicksal fiel ihr ein. Sie hatte nichts aus der Kasse genommen, doch der Verdacht war an ihr hängen geblieben. „Die Bude, die ich ausgewählt habe", fuhr er fort, „ist genau richtig. Hohe Hecke ringsrum — also kann mich niemand beobachten, wenn ich einsteige. Die Eigentümer — 90
drei Männer — sind nahezu nie da. Zwar habe ich sie heute gesehen. Aber sie kamen nur auf 'ne Stippvisite (Kurzbesuch) und blieben keine Viertelstunde. " „Woher willst du wissen, daß du dort Geld findest?" „Ich probiere es eben. Habe schon durch die Fenster gelinst. Alles teure alte Möbel. Da ist was drin. " Er füllte die beiden Blechbecher, gab viel Zucker hinein, holte die Dose mit Kaffeesahne aus dem Rucksack und bohrte mit dem Pfriem seines Universal-Taschenmessers zwei Löcher in den Deckel. Den Kaffee tranken sie heiß. Er erwärmte Isis Magen, aber nicht ihr Gemüt. Auf Trebe gehen, dachte sie, ist eine Sache, einbrechen und stehlen eine andere. Hoffentlich geht das nur gut.
Entsetzen versteinerte alle — ausgenommen Tarzan. Zwar fühlte er sich keineswegs behaglich - angesichts der drohenden Waffen, doch er blieb innerlich wie äußerlich ruhig und musterte die drei, ohne zuviel Neugier zu zeigen. Er
wollte sich Einzelheiten einprägen, um später der Polizei Hinweise geben zu können. Aber da war nichts, was ins
Auge sprang. Nur figürlich unterschieden sie sich. „Wer von euch ist Franz Jacoby?" rörte der Herkules. Er trat vor die beiden Männer. Rönschls Hände lagen auf dem Tisch und zitterten leicht. Als das Tischtuch qualmte, angesengt von seiner brennenden Zigarre, legte er sie in den Aschenbecher. „Ich", sagte Jacoby. „Du wirst uns jetzt begleiten", verriet der Ganove. „Bis zu eurer Filiale Heimstetter Straße. Da liegt 'ne ziemliche Menge Geld im Tresor, nicht wahr?" „Wenn es darum geht", sagte Jacoby fest, „hätten sie sich die Mühe sparen können. Gewiß, da ist viel Geld im Tresor. Aber ich allein kann ihn nicht öffnen. " 91
„Ach nee? Sondern?" „Dazu sind zwei Schlüssel notwendig. " Der Herkules schien unter seiner Maske zu grinsen. „Was du nicht sagst, Jacoby! Und wer hat den zweiten?" Der Bankdirektor schwieg. Der Bankräuber bewegte seine Maschinenpistole, als wollte er damit zuschlagen. Johanna Jacoby schrie auf. Verzweifelt suchte Tarzan nach einer Möglichkeit, dem Bedrohten zu helfen. Aber es gab keine. Die beiden ändern schienen zu merken, daß — im Falle eines Falles — Tarzan der einzige ernstzunehmende Gegner war. Mit ihren Pistolen hielten sie ihn in Schach. Zum Glück unterblieb die Rohheit. Jacoby wurde nicht geschlagen, sondern der Herkules von dem klotzigen Typ gebremst. „Laß den Quatsch!" sagte er mit fremdländischem Akzent (Betonung). „Brauchst nicht Katze und Maus mit ihm zu spielen. Kostet nur Zeit. " Er trat vor. Sofort wich der Herkules zurück und nahm sei-
nen Platz ein. „Du hast den einen Schlüssel, Jacoby", sagte der Klotzige. „Dein Prokurist (Geschäftsführer) hat den ändern. Und wir haben euch beide. Jochen Linkelpart liegt gefesselt im Kofferraum unseres Wagens. Du kannst vorn Platz nehmen, wenn du vernünftig bist. Klar?" Jacoby schluckte. „Du holst jetzt deinen Schlüssel und kommst mit uns", befahl der Klotzige. „Die ändern bleiben hier und werden von meinem Kollegen bewacht. Bete, Jacoby, daß alles glattgeht, sonst haben es die hier zu büßen. Nachher", er lachte fettig, „könnt ihr dann weiterfeiern. " Jacoby mußte aufstehen. Er wurde hinausgedrängt. Der Herkules nahm ihn regelrecht am Kragen. Der Klotzige schloß die Jalousien vor Tür und Fenstern — wozu Britta nicht mehr gekommen war. Offenbar befürch92
tete er Augenzeugen, obschon aus Nachbargrundstücken niemand herein sehen konnte. Das war nur möglich für jemanden, der sich unbefugt im Garten aufhielt. „Paß gut auf!" empfahl er dem Schlanken. „Wir rufen an, sobald alles gelaufen ist. " „Gut, gut!" näselte der Schlanke. Er setzte sich in einen Sessel nahe der Tür und schlug die Beine übereinander. Frau Jacoby, Britta und Gaby, die noch standen, mußten sich an den Tisch setzen. Alle hörten, wie die Bankräuber mit Jacoby das Haus verließen. Fast augenblicklich erklang Motorengeräusch, und der Wagen entfernte sich. Karl nahm vorsichtig seine Brille ab und polierte die Gläser am Ärmel. Er war aufgeregt. Tarzan sah Gaby an. Eine blonde Strähne hatte sich aus der Pferdeschwanz-Schleife gelöst und rahmte ihr Gesicht auf einer Seite. Das verlieh ihr einen Ausdruck von Aufregung und Hast. „Darf ich essen?" fragte Klößchen mit wackliger Stimme. „Friß, bis du platzt!" erwiderte der Ganove. Das traf Klößchens Stolz, und er verzichtete darauf, die Gebäckschale leerzumachen. Eine Viertelstunde, dachte Tarzan, werde ich hier sitzen wie eine Jammergestalt. Dann steht seine Meinung über mich fest, und die Wachsamkeit läßt nach. Die Zeit schlich dahin. Kein Wort wurde geredet. Frau Jacoby und Britta hatten fahlweiße Gesichter. Dieser - Brittas — 14. Geburtstag würde in die Familiengeschichte eingehen. Aber nicht als ein Jubeltag. Gaby hatte sich etwas gefaßt und tauschte Blicke mit Tarzan. Rönschl atmete ab und zu, als lägen ihm Zentnergewichte auf der Brust. Karl polierte zum dritten Mal seine Brille. Klößchen, der allem widerstehen kann — nur nicht der Versuchung, nahm nun doch einen Keks. „Darf ich mal zur Toilette?" fragte Tarzan schüchtern. 93
„Nein. " „Bitte, es muß sein. " Er machte ein unglückliches Gesicht.
„Ich habe sechs Glas Cola getrunken und außerdem Tee. " Davon stimmte kein Wort. Und das wußten alle am Tisch. „Hm", näselte der Bankräuber. „Also gut. Aber ich komme mit, und du läßt die WC-Tür offen. " Er stand auf. „Ihr ändern rührt euch nicht von der Stelle. Das sage ich nicht zum Spaß. " Tarzan trottete zur Tür. Der andere war hinter ihm. Als sie am Garderobenspiegel vorbeikamen, sah Tarzan, daß die Pistolenmündung zu Boden wies. Er wirbelte herum. Sein Ellbogen traf die schwarze Maske in Kinnhöhe. Gleichzeitig landete Tarzans Handkante auf dem Pistolenarm. Das war, als würde er mit einem Eichenbrett zuschlagen. Die Waffe fiel zu Boden. Ein Röcheln drang durch den Stoff. Und schon wurde der Kerl gepackt und mit einem der härtesten Judo-Würfe erst an die Wand und dann zu Boden befördert. Dort blieb er liegen und sah aus, als bestünde er aus mehreren Teilen, die nicht zueinander passen. Die Wand bebte noch. Ein Bild war heruntergefallen. Im Kaminzimmer sagte Klößchen: „Ich glaube, jetzt macht er ihn fertig. Der arme Bankräuber!" Tarzan hob die Pistole auf. Sie war tatsächlich entsichert. Weil er aber nicht genau wußte, wie man mit dem komplizierten Meuchelpuffer umgeht, legte er ihn in die Schublade der Flurgarderobe. Dann zog er dem Besinnungslosen die Maske ab. Das affige Gesicht wies keine Verletzung auf. Nur vorn am Kinn schwoll eine Beule an. Der Ellbogenstoß hätte genügt. Der Kerl war schon groggy gewesen. Tarzan packte ihn an den Füßen. Als er ihn ins Kaminzimmer schleifte, sprangen alle von den Sitzen. „Nennst du das zur Toilette gehen?" krähte Klößchen. Dann griff er mit beiden Händen in die Gebäckschüssel. 94
„Mein Gott!" Johanna Jacobys Seufzer zitterte durch den Raum. Im nächsten Moment lief sie zum Telefon. „Nein!" rief Tarzan. „Um Himmels willen. " „ I c h . . . ich will doch nur die Polizei anrufen", stammelte sie. „Das geht nicht. Jedenfalls nicht mit diesem Apparat. Wenn die Ganoven jetzt zurückrufen und der Anschluß besetzt ist, könnten sie mißtrauisch werden. Wer weiß, was dann mit Ihrem Mann und dem Prokuristen geschieht. " „Das ist richtig", schaltete Rönschl sich ein. „Wir müssen noch warten oder vom Nachbarn a u s . . . " Er stockte, denn der Ganove kam zu sich. Er wurde hochgerissen von Tarzan und in einen Sessel gestoßen. Der Typ sah käsig aus, und seine Kinnlade zitterte. Glasig blickte er um sich. Dann ging ihm ein Licht auf, und er sank stöhnend zurück. Tarzan hielt ihm die Faust vor die Augen — als unmißverständliche Geste. „Wie heißt du?" „ I c h . . i c h . . ä h . . bin der schöne.. schöne Wiener. " „Daß du schön bist, sehen wir. Aber so heißt du nicht. Also?" „Bonsen... Norbert Bonsen. " „Wie soll 's weitergehen? Was soll geschehen, wenn deine Spießgesellen hier anrufen?" „ D a n n . . . dann sperre ich euch im Weinkeller ein u n d . . . haue ab. „Gibt es im Haus einen Weinkeller?" fragte Tarzan über die Schulter. Frau Jacoby bestätigte. „Und der ist wirklich wie ein Kerker. Da kämen wir nicht raus. " „Wenn deine Komplicen anrufen, Bonsen", sagte Tarzan, „nimmst du dich zusmmen und erklärst mit normaler Stimme, alles sei in Ordnung, und du kämst. Mach das über96
zeugend, rate ich dir. Sonst bleibt nichts von dir übrig, was sich noch zum Einlochen lohnt. Klar?" Bonsen nickte. Er war völlig fertig, auch mit den Nerven.
Daß ihn ein Jugendlicher geschafft hatte, war ein Schlag ins Gesicht seiner Ganovenehre. Blamiert fühlte er sich bis auf
die Knochen. Woher sollte er auch wissen, daß dieser kräftige Junge einer der besten Judo-Kämpfer ist weit und breit — trotz seiner Jugend. „Geben wir ihm was zum Trinken", schlug Karl vor. „Er
spricht noch so, als hätte er tote Mäuse im Mund. " Das war ein guter Vorschlag, und Bonsen durfte sich an
dem Kaffee laben, der eigentlich für die Gäste bestimmt war, damit nach üppigem Mahl keine Müdigkeit aufkomme. Kaum hatte Bonsen mit der zweiten Tasse die toten Mäuse weggespült, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ans Ohr.
„Hallo?" „Bist du 's, Norbert?" fragte eine gaumige Stimme. „Wir haben unheimlich Kasse gemacht. Kannst jetzt abhauen. Sind sie schon im Weinkeller?" „Noch nicht", antwortete Bonsen. „Ich bringe sie jetzt runter. " Tarzan drückte auf die Gabel. „Wer war das? Von deinen Komplicen war's keiner. Das habe ich an der Stimme gehört. " Bonsen grinste. „Ach, habe ich das noch nicht gesagt. Jochen Linkelpart ist mit von der Partie. Er hat uns den Tip gegeben und kriegt 25 Prozent. Von ihm wissen wir, daß da zur Zeit viel Geld im Tresor ist. Auch, daß es hier einen Weinkel-
ler gibt, der sich als Gefängnis eignet. Für 'ne Weile jedenfalls. " „O nein!" flüsterte Johanna Jacoby. „Linkelpart? Der?" Tarzan wählte bereits. Gabys Vater war zu Hause und meldete sich. „Ich bin's, Herr Glockner! Tarzan! Ja, es ist was passiert. 97
Aber keine Sorge! Wir haben die Situation und den Kerl fest im Griff. D e n n . . . " Er berichtete, spürte, wie Gabys Vater die Luft weg blieb
- aber nur für einen Moment, und wiederholte die wichtigsten Fakten. „ . . . die Filiale in der Heimstetter Straße. Und Linkelpart gehört zu den Bankräubern. "
„Ich jage sofort das Überfallkommando los", sagte Glockner. „Und schicke einen Wagen zu euch raus. Bei der Bank
werden wir die Täter nicht mehr antreffen, befürchte ich. Tarzan, frag den Kerl, wie die beiden ändern heißen. Den
Bonsen kenne ich. Aber bisher hat der immer allein gearbeitet. " „Augenblick!" Tarzan wandte sich an den Ganoven. „Wie heißen deine Komplicen?"
Bonsen schob die Unterlippe vor. Trotzig senkte er den Kopf. „Karl, halt mal den Hörer", sagte Tarzan. „Und wenn die Damen bitte solange rausgehen möchten. " „Gino Cordone", sagte Bonsen. „Und Paul Thiebel. " „Du weißt bestimmt die Adresse", ermunterte ihn Tarzan.
„Sie wohnen nicht zusammen. " Bonsen nannte zwei Adressen. „Jetzt wollten wir uns bei Gino treffen. Dort sollte ich dazu stoßen. " „Aber inzwischen ist dir was zugestoßen", meinte Tarzan und nahm wieder den Hörer. „Herr Glockner, e s . . . " „Ich habe alles gehört", wurde er unterbrochen. „Du
glaubst nicht, Tarzan, was für ein Fang das ist — vielmehr werden kann. Zu Cordone fahre ich selbst. Im übrigen — hoffentlich ist in der Bankfiliale alles gut gegangen. Daß Linkelpart so ungeniert am Telefon redete, wundert mich näm-
lich. Er wird doch weiterhin das unschuldige Opfer spielen. Also darf Jacoby nichts wissen. Na gut, wenn er bewußtlos
ist, hört er nichts. A b e r . . . Ach, Unsinn! Wäre ja heller Wahnsinn, dem Bankdirektor was anzutun. Bis später!"
98
Die Verbindung wurde unterbrochen. Tarzan hatte den Hörer ans Ohr gepresst. Kein Wort war vorbei geschlüpft. Nur keine Panik! dachte er. Aber Britta und ihre Mutter hatten nichts gehört. Jetzt hieß es warten. Klößchen nutzte die Zeit, um das Gebäck aufzuessen. Bonsen war in sein Schicksal ergeben, aber Tarzan ließ ihn nicht aus den Augen. Schließlich klingelte es am Eingang. Die Polizei war da, endlich und lang ersehnt. Bonsen wurde mit der stählernen Acht gefesselt. Aber wie es in der Bankfiliale Heimstetter Straße stand, wußten die Beamten nicht. Frau Jacoby ließ sich nun durch nichts zurückhalten. Sie und Britta wollten sofort hinfahren, zitterten sie doch um den Ehemann und Vater und sein noch Ungewisses Schicksal. Frau Jacoby hatte schon ihren roten Steppmantel angezogen, als draußen abermals ein Polizeifahrzeug hielt. Es brachte den Hausherrn. Ehefrau und Tochter fielen ihm um den Hals. Johanna brach in Tränen aus, Britta musterte ihren Vater, ob er etwa verletzt wäre. Aber ihm fehlte nichts — nur ein bißchen Frische im Gesicht, was die Aufregung verursacht hatte, begreiflicherweise. Mit einem Lächeln der Erleichterung nahm er eine Flasche Cognac aus der Hausbar. Er wollte auch den Polizeibeamten flüssige Stärkung anbieten, aber die waren im Dienst und mußten dankend verzichten, obschon sie liebend gern mit -geprostet hätten. Si
zeugt, was hier geschehen war, baten Herrn Jacoby, am Montag ins Präsidium zu kommen — wegen des Protokolls — und verabschiedeten sich dann. Im Hinausgehen sagte ein junger Inspektor zu Tarzan: „Das hast du wiedermal gut gemacht. Du gehörst ja fast schon zu uns. Kommissar Glockner ist stolz auf dich. " 99
Tarzan machte ein Gesicht, als stünde er in Unterhosen da — so verlegen war er. Aber Gaby stellte sich neben ihn, als würde gleich ein Foto gemacht — von ihm, auf das sie mit drauf wollte. Rönschl und die Jacobys tranken auf den Schreck einen Cognac. Dann erzählte der Bankdirektor. „Im Wagen wurden mir sofort die Augen verbunden. Geredet haben sie fast gar nicht. Linkelpart lag wohl wirklich im Kofferraum. Jedenfalls, der Wagen hielt dann auf unserem Hof — hinterm Haus. Und den Schlüssel zur Hintertür hatten sie Linkelpart schon abgenommen. Angeblich! Ich weiß! Er und ich wurden reingeführt. Das entnahm ich den Worten, denn ich hatte noch immer das Tuch vor den Augen. Dann ging's gleich runter ins Untergeschoß, wo der Tresorraum ist. Sie konnten ihn öffnen, und dort lagen über 400. 000 Mark. Der Kleinere, der offenbar der Anführer ist, sagte dann, sie würden mich und Linkelpart jetzt einsperren — aber jeden für sich. Mir wurden zusätzlich noch die Hände auf den Rücken gefesselt, und sie schlössen mich im Heizungskeller ein. Erst als die Polizei mich dort befreite, erfuhr ich, was in der Folgezeit geschehen war. " Er trank einen zweiten Cognac, damit auch die rechte Gesichtshälfte die fahle Blässe verlor. Denn bis jetzt war nur die linke Hälfte, wie Tarzan verwundert bemerkte, zur alten Frische zurückgekehrt. „Die Polizei ist um eine Nasenlänge zu spät gekommen", fuhr Jacoby fort. „Die beiden Täter konnten zwar entwischen — und sie haben auch die Beute — aber sie konnten nicht mehr in den Wagen steigen, sondern sind zu Fuß geflohen: querhof über die Hinterseiten und Rückfronten — über dieses altstädtische Labyrinth (Irrgarten), das sich ja leider im Osten an die Heimstetter Straße anschließt. Der Wagen, den sie zurückgelassen haben, war übrigens heute nachmittag gestohlen worden. " „O weh!" sagte Tarzan. „Jetzt sind die beiden gewarnt. 100
Dann werden sie nicht zu Cordones Adresse gehen, weil ja auf der Hand liegt, daß hier mit Bonsen was passiert ist. Wie schnell der schlappmacht und auspackt, haben wir erlebt. Mich wundert nur, daß sie sich soviel Zeit ließen. " „Die fühlen sich sicher", nickte Jacoby, „und haben noch im Schalterraum rumgestöbert. Unter Glas waren dort Goldmünzen ausgestellt. Auch die haben sie mitgenommen. Aber dann sahen sie offenbar, wie die Polizeiwagen vor dem Haus hielten, und ergriffen die Flucht. Ich wurde befreit und auch Zeuge, wie man Linkelpart aus der Toilette holte, wo er — gefesselt wie ich — eingesperrt war. Er fiel fast in Ohnmacht, als man ihm die Fesseln abnahm und statt dessen Handschellen anlegte. Das war ein Schock für diesen Heuchler. Er hat sofort ein Geständnis abgelegt und auch die Namen und Adressen, die Bonsen angab, bestätigt. Jedenfalls stellte der Einsatzleiter Übereinstimmung fest. Hättest du das von diesem Linkelpart geglaubt?" wandte er sich jetzt an seine Frau. Johanna schüttelte den Kopf. „Das heißt — gemocht habe ich ihn nie. " „Hm. Fachlich war er gut. Ein sehr beschlagener Bankkaufmann. Aber geldgierig, wie wir jetzt wissen. " „Die Bank ist beraubt, Vati. " Britta kuschelte sich an ihn. „Aber du bist gesund. Nur das zählt. O je, ist das ein Geburtstag! Da fällt mir ein: Linkelpart hat mir heute morgen Blumen geschickt! Dieser falsche Fünfziger! Da wußte er doch längst, daß meine Feier von den Verbrechern gestört wird. Aber er hat mir auf der Karte alles Liebe gewünscht. Man hält es nicht für möglich. " „Jetzt kriegt er sein Fett", sagte Karl. „Vielleicht darf er im Gefängnis die Kasse verwalten, damit er dort keine berufsfremde Tätigkeit ausüben muß. Wegen der späteren Eingliederung in die menschliche Gesellschaft. " „Aber erst viel später", sagte Gaby. Man blieb noch zusammen — trotz des Schreckens, trotz 101
zerbrochenen Geschirrs, trotz der zerstörten Tür. Alle beteiligten sich beim Aufräumen. Für Klößchen fand sich noch ein Rest Schokoladenmus im Eisschrank. Tarzan mußte erzählen, wie er Bonsen überwältigt hatte. Im offenen Kamin war ein Holzstoß errichtet. Herr Jacoby riß ein Streichholz an und hielt die Flamme an das Papier unter den Spänen. Als die Scheite loderten, löschte man das Lampenlicht, und alle
setzten sich im Halbkreis um den Kamin. Britta holte ihre Gitarre. Und siehe d a . . . Wie hat Gaby gesagt? überlegte Tarzan:... nichts könnte
schöner sein... Stimmt! 102
8. Ab in den Schlupfwinkel! Die Flucht war geglückt. Cordone und Thiebel hatten Haken geschlagen. Jetzt fühlten sie sich in Sicherheit und schritten durch nächtliche Straßen wie zwei, die vom Stammtisch kommen. Natürlich hatten sie die Masken abgelegt und die Waffen verstaut. Das geraubte Geld befand sich in einer großen Segeltuchtasche. „Wir müssen feststellen, was schiefgegangen ist", knurrte Cordone. Sein narbiges Gesicht war maskenhaft starr. „Hat uns jemand bei der Bank bemerkt und die Polizei alarmiert? Oder hat Norbert Mist gebaut? Das ist verdammt entscheidend für uns. " „Als Linkelpart ihn anrief, war doch noch alles in Ordnung", sagte Thiebel. Er redete halblaut - jedenfalls hielt er das für halblaut. „Das ist es ja, was mich beunruhigt. Denn 'ne Minute später rollten die Bullen an. Vielleicht stand Norbert bereits unter Druck und Linkelpart hat's nicht gemerkt. Jedenfalls gehen wir beim Polizei-Präsidium vorbei. Das liegt sowieso am Weg. " „Du meinst, wir können was beobachten?" „Wo denn sonst, wenn nicht dort?" Das Präsidium liegt an einem verkehrsreichen Platz, den auf der anderen Seite eine Grünanlage verschönt. Im Sommer plätscherte dort ein Springbrunnen. Jetzt sammelte sich Laub im Becken, und niemand spazierte über die asphaltierten Wege. Das Duo (zwei) verbarg sich hinter immergrünen Sträuchern. Über den - um diese Zeit leeren - Platz hinweg konnten sie beluchsen, was sich drüben tat. Das Portal war erleuchtet. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht. Streifenwagen parkten vor dem Eingang. Andere benutzten die Einfahrt zum Hof. Hier herrschte ständi-
103
ges Kommen und Gehen — rund um die Uhr. Die Samstagnacht in einer Großstadt ist für diensthabende Beamte nicht zum Ausschlafen da. Die Mauern des riesenhaften Gebäudes hatten schon viel gesehen. Das Präsidium war vor hundert Jahren entstanden und die Fassade schnörkelig und würdevoll wie der Stil jener Zeit. Die beiden Ganoven brauchten nicht lange zu warten. Ein Fahrzeug des Überfallkommandos rollte heran und hielt vor dem Eingang. Jochen Linkelpart trug Handschellen, als er hineingeführt wurde: ein dürrer, bebrillter Typ, der sich auch dann gebeugt bewegte, wenn er in Hochstimmung war oder reines Gewissen vortäuschte. Cordone zischte durch die Zähne. „Das sagt alles. " „Wieso?" brummte Thiebel. Seine Gehirnzellen arbeiteten langsamer. „Linkelpart ist aufgeflogen. Woher wissen die Bullen das? Nur Bonsen — unser lieber Norbert, dieser Glattschmuser (Verräter) kann's ihnen geflüstert haben. Aber wenn der schöne Wiener auspackt, dann schont er auch uns nicht. Das heißt, die Bullen wissen, wer wir sind. Damit kannst du deine Bude vergessen, Paul. Und ich sehe meine auch nicht wieder. Verdammt! Was da noch rumliegt!" Der Herkules knirschte mit den Zähnen, als beiße er Haselnüsse auf. „Du befürchtest, Gino, die sind so flink, daß sie schon bei uns vor der Tür stehen?" „Garantiert. " „Zaster haben wir ja genug. Mann, bist du weitblickend! Ohne das neue Notquartier säßen wir jetzt auf der Straße und könnten uns den Arsch abfrieren. Aber in der romantischen Bude... " Er stockte. Bedenken bremsten seine Zunge. „Ouuuhhhh", meinte er dann. „Wenn der schöne Wiener das nun auch verzinkt (verraten) hat!" „Das glaube ich nicht. " 104
„Nein?" „Für ihn geht es jetzt darum, daß sich sein Verhalten nicht
strafverschärfend auswirkt. Macht er auf bockig und schweigt, gilt das vor Gericht als uneinsichtig, und er ist noch ärmer dran. Deshalb wird er erstmal an sich denken und uns in die Pfanne hauen. Aber damit hat er sein Soll an
Wohlverhalten geleistet. Vom Notquartier braucht er ja nichts zu wissen. Wer wollte ihm deshalb Vorwürfe machen. " „Leuchtet ein. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein, bevor wir dort aufschließen. " „Was dachtest du denn? Wir prüfen erst ganz genau, ob
die Luft rein ist. Sieh hin! Da kommt er. " 105
Wieder kam ein Wagen an. Norbert Bonsen - noch schwach in den Knien und gefesselt wie Linkelpart — wurde von zwei Beamten in die Mitte genommen und verschwand im Präsidium. „Schluß der Vorstellung!" meinte Cordone. „Gehen wir!"
Klößchen schlief sich aus. Sein karierter Anzug lag über dem Stuhl, die rotgrüne Fliege hing am Schrank, und das
runde Mondgesicht lächelte im Schlaf. Sicherlich träumte er von dem günstigen Eindruck, den er auf die Jacobys gemacht hatte — trotz aller Verfressenheit. Tarzan, der auch nach kurzen Nächten früh aufwacht, hatte im Speisesaal gefrühstückt und hielt es jetzt für zumutbar, seinen schnarchenden Freund zu wecken. Der maulte zwar, stand aber auf und schlurfte mit geschlossenen Augen in den Waschsaal, um heroisch (heldenhaft) einer kalten Dusche zu trotzen. Als er zurückkam, war seine Haut krebsrot. „Hast du dich verbrüht?" fragte Tarzan. „Wieso? Nein! Neuerdings dusche ich doch eisig, um mich für den Winter abzuhärten", erklärte er mit harmlosem Gesicht - und stieg eilig in seine Klamotten, denn die Haut dampfte wirklich. „Für welchen Winter?" fragte Tarzan. „Für den am Äquator (größter Breitenkreis, der die nördliche und südliche Erdhälfte trennt)!" „Naja", räumte Klößchen ein. „Der Kaltwasserhahn ist kaputt. Da mußte ich heiß duschen. " Er griff nach seiner Fliege. „Wo doch heute Sonntag ist — was meinst du: Soll ich sie anlegen?" „Täte ich nicht. Die Wirkung könnte sich abnutzen. Man darf auch Eleganz nicht vergeuden. " Klößchen nickte. „Außerdem — unterm Rollkragenpullover sieht man sie sowieso nicht. Ich hätte nur einen Hals wie einen Kröpf. " 106
Sie verließen das ADLERNEST, holten ihre Tretmühlen aus dem Fahrradkeller und radelten zur Stadt, wo sie am sogenannten Kohlmarkt auf Karl stießen, verabredungsgemäß. Er war ganz fummelig vor Neugier, denn bis jetzt wußte keiner der Jungs, wie die Glocknersche Polizeiaktion letzte Nacht ausgegangen war. Als sie Gaby nach Hause gebracht hatten, war ihr Vater vom Dienst noch nicht zurück gewesen, und jetzt holte er sicherlich etwas Schlaf nach. Aber die Vermutung traf nicht zu. Die ganze Familie Glockner saß bereits bei einem späten Frühstück. Gaby, blankäugig und taufrisch wie ein Röslein, ließ die Jungs ein. Oskar, ihr schwarzweißer Cockerspaniel, hatte sie zur Haustür begleitet und jaulte vor Freude, als er feststellte, wer da kam. Tarzan war sein besonderer Freund, und die stürmische Begrüßung mit allen Streicheleinheiten dauerte wie üblich recht lang. „Stören wir deine Eltern auch nicht?" fragte Tarzan. Das trug ihm einen erstaunten Blick ein. „Ihr stört doch nie", sagte sie. Frau Glockner war gerade in der Küche, um frischen Kaffee zu holen. Herzlich, wie sie immer war, begrüßte sie die Jungs. „Und wer außer Willi frühstückt sonst noch mit uns?" fragte sie. Tarzan und Karl hatten keinen Appetit. Daß Klößchen zulangen würde, galt hingegen als selbstverständlich — bei allen, die ihn kennen. Allerdings war er heute noch nüchtern, hatte nämlich die - am Sonntag sehr ausgedehnte — Frühstückszeit des Internats verpennt. Der Kommissar war erst morgens heimgekommen und hatte keine Mütze voll Schlaf gehabt, sah aber erholt aus. Das lag an seinem sportlichen Lebenswandel und an seiner eisernen Disziplin (Zucht, Selbstzucht). „Was durch dein beherztes Eingreifen, Tarzan, so erfolg107
verheißend anfing, verlief dann leider im Sand", erzählte er. „Mit meinen Leuten habe ich die ganze Nacht bei Cordones Adresse gelauert. Andere Kollegen hatten Thiebels und Bonsens Zuhause umstellt. Aber die beiden sind nicht mehr aufgetaucht. Sie haben die Falle gerochen. Und das war zu erwarten, nachdem meine Kollegen ziemlich blindwütig in der Heimstetter Straße angestürmt sind — statt, wie ich vorgeschlagen hatte, die Bank lautlos einzukreisen. " Er trank einen Schluck Kaffee. Klößchen verputzte bereits den dritten Honig-Toast. Er hatte auch Honig an den Fingern und lutschte sie mit Hingabe ab. Belustigt sah Frau Glockner ihm zu. Sie war eine sehr aparte Frau und Gaby ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. „Als nicht mehr zu erwarten war, daß die beiden kommen", fuhr Glockner fort, „haben wir die Wohnungen durchsucht. Bei Thiebel und Bonsen fand sich nicht viel. Aber bei Gino Cordone war's wie ein Stich ins Wespennest. Zweifellos gehört dieser Profi zu einer Verbrecher-Organisation. Er ist Italiener. Offenbar kam er her, um hier eine Art Zweigstelle einzurichten. Neben allen anderen Untaten macht er sich damit der Bildung einer kriminellen Vereinigung schuldig. Und das wiegt schwer. Außerdem fanden wir Edwin Kohauts Foto samt Personenbeschreibung. Aus einer Mitteilung - ohne Unterschrift und Absender — geht hervor, daß die drei ihn suchen und ausschalten sollen. Wobei es in der Hauptsache darum geht, ihm jene Diamanten abzunehmen, jene 37 Diamanten, von denen ich euch schon erzählt habe. " „Die hat Kohaut seinen eigenen Leuten geraubt", nickte Tarzan. „Bedeutet das, er gehörte zu demselben Verein wie die drei?" „Richtig. " „Aber wo sind Cordone und Thiebel jetzt?" fragte Karl. „Doch nicht im Hotel. " 108
„Ich vermute, es gibt noch einen Schlupfwinkel. " „Das müßte Bonsen wissen. " „Angeblich nicht. " „Also ist die Lage jetzt so", meinte Tarzan: „Die Polizei sucht sowohl Kohaut als auch Cordone und Thiebel. Die beiden letzteren wiederum suchen Kohaut. Und was sucht der? Jene ehemalige Freundin, die Sie schon erwähnten, Herr Glockner?" „Er hat sie bereits gefunden", lächelte der Kommissar. Für einen Moment schien er zu überlegen. Dann: „Es ist zwar ein Amtsgeheimnis. Aber ihr gehört ja fast zu meiner Fahndungsgruppe und seid vertrauenswürdiger als mancher Kollege. Damit meine ich nicht nur die Unfähigen, sondern vor allem die schwarzen Schafe, die es leider überall gibt. Jedenfalls — Kohaut hat sich bei seiner Freundin gemeldet. Telefonisch. Sie ist vorbestraft, hat aber in ein ordentliches Leben zurückgefunden. Sie ist keine üble Person. Jetzt hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als uns über Kohauts Auftauchen zu verständigen. Wenn er heute abend zu ihr kommt, schnappt unsere Falle zu. " „Waidmannsheil!" Karl wünschte Jagdglück. Tarzan machte sein Da-möchte-ich-dabei-sein-Gesicht. Aber das war unmöglich, wie er natürlich wußte. Schließlich war er ein knapp 14jähriger Internatsschüler und kein Kriminalbeamter im Sondereinsatz. „Werden die drei Wohnungen weiterhin beobachtet?" fragte er. Glockner bejahte. „Das ist zwar Zeitverschwendung und unser Personal knapp. Aber wir müssen sichergehen. " „Wo mag dieser Kohaut jetzt stecken?" meinte Gaby. „Wo? Das weiß niemand", ließ Klößchen sich mit vollem Mund vernehmen. „Aber womit er beschäftigt ist, kann ich mir denken. Bestimmt zählt er unser Geld. Hah! Hoffentlich verzählt er sich so oft, daß er immer wieder von vorn anfangen muß. " 109
Alle lachten. Und Gabys Mutter sagte: „Du scheinst einschlägige Erfahrungen zu haben. " „Wenn es darum geht, Schokoladentafeln zu zählen, ist er noch nie durcheinander gekommen", rief Gaby. „Stimmt", nickte Klößchen. „Woraus du ersiehst, daß ich mir aus Geld nichts mache. Denn man kann immer das am besten, wofür man sich interessiert. Und ich habe mein Leben nun mal den edlen Kakao-Produkten geweiht. "
Er war Komfort gewöhnt, oft sogar Luxus. Zur Zeit fand das Gegenteil statt. Und Kohaut war sauer.
Zwei Nächte und einen Tag hatte er in einer Schrebergartenlaube verbracht. Er fror, fühlte sich erkältet und fluchte auf Leni, die blaue Taube. Daß die ihn so zappeln ließ, diese zickige Ziege! Aber nun trennten ihn nur noch Stunden vom Wiedersehen. Dann würde er zunächst mal bei ihr unterschlüpfen. Bestimmt war es behaglich in ihren vier Wänden. Und dann konnte man weitersehen. Notfalls wollte er ihr einen der Diamanten überlassen. Dafür täte sie ihm jeden Gefallen, glaubte er. Das Wetter war trüb. Nebel umfloß die Stadt. Man sah keine Sonne und statt des Himmels nur wattigen Dunst. Auch im Schrebergartenviertel wirkte alles grau in grau, obwohl die meisten Lauben einen bunten Anstrich trugen. Jene, die Kohaut als Bleibe ausersehen und geknackt hatte, war himmelblau. Er stand jetzt am Fenster, hatte die Hände in den Manteltaschen und starrte hinaus. Er mußte vorsichtig sein. Mit keiner Bewegung durfte er verraten, daß er hier war. Zwar hatte er geglaubt, daß ein Schrebergarten zu dieser Jahreszeit so menschenleer ist wie die Sahara an ihrer heißesten Stelle. Aber das dachten auch andere, die unterschlüpfen wollten. Und deswegen waren sie — hier zwischen Bahngleis und Stoppelfeldern — bereits zu dritt. 110
Ein Pärchen, jugendliche Stromer, hatte sich in der orangefarbenen Laube dort drüben eingenistet. Das Mädchen war klein und zierlich und genau so verlottert wie ihr semmelblonder Begleiter, dem ein Goldring am Ohr hing. Durch Zufall hatte Kohaut die beiden bemerkt. Auch sie benahmen sich stiekum (verstohlen) wie erfahrene Landstreicher. Und der Bursche hatte sein Rad sorgfältig hinter Büschen versteckt. Kohaut dachte an sein eigenes Beförderungsmittel, einen italienischen Flitzer, mit dem er über zwei Grenzen gekom-
men war, um ihn dann auf einem Parkplatz stehen zu lassen - aus Sicherheitsgründen. Damit sich die Spur verlor. Vorgestern hatte er einen gestohlenen Wagen benutzt, aber nur kurzfristig. Jetzt war er auf seine Gehwerkzeuge angewiesen. Eine Reisetasche enthielt ein paar Toilettenartikel, die er unterwegs gekauft hatte, eine blonde Perücke sowie eine dicke Hornbrille: Zubehör, um sich äußerlich zu verwandeln. Bis jetzt hatte er davon noch keinen Gebrauch gemacht. Aber heute abend wollte er's tun — und sich im übrigen auch von seinem Schnauzbart trennen, der ihn so deutlich identifizierte (ermittelte) wie ein Namensschild an der Jacke. Die Säcke mit dem Münzgeld lagen auf dem Tisch. Die
Scheine und der Automaten-Tausender dieses Herrn Rönschl steckten in seiner Brusttasche. In der anderen Brusttasche steckte ein Beutel aus schmiegsamem Leder. Oft berührte er ihn. Dann raschelten die Diamanten leise, als scharre eine Hundepfote im Kies - und das zarte Geräusch klang in seinen Ohren wie ein Fanfarenstoß, der die rosigste
Zukunft ankündet. Zu gern hätte er während der letzten Tage eine italienische Zeitung gehabt - um nachzulesen, ob dieser Esteban Portugiso wieder zu sich gekommen oder auf der Strecke geblie-
ben war. Hatte er ihn umgebracht? Er wußte es nicht. Und 112
wenn schon! Erwischten ihn die Brüder, war sein Leben ohnehin verwirkt. Wenn er sich nur erinnern könnte! Hatte sich in seiner Genueser Wohnung ein Hinweis auf Leni befunden? Soweit er sich entsann — nein! Aber das wußte er nicht mit Sicherheit. Also war Vorsicht geboten - und äußerliche Verwandlung auch. Es hatte noch Zeit, bis es dunkel wurde. Kohaut sah zur Uhr. Erst früher Nachmittag. Drüben linste der Semmelblonde aus der Laube. Als er niemanden ausmachen konnte, kam er ins Freie und trat zur Rückfront, um dort Gartengeräte zu begießen: Spaten, Harke und Rechen. Kohaut grinste und wandte sich seiner Tasche zu. Das Rasiermesser war scharf. Seufzend begann er, seinen Bart abzunehmen.
113
9. Fehlschlag An diesem Sonntag war Schorsch Rönschl der EvD (Erzieher vorn Dienst). Daß er Tarzan und Klößchen verlängerten Ausgang bewilligte, verstand sich von selbst. Ganz offiziell schwänzten also beide das Abendessen und fuhren abermals in die Stadt, zu Glockners, wo Gaby und ihre Mutter den Tisch schon gedeckt hatten. Karl war bereits eingetroffen und spielte mit Oskar, d. h. sie zerrten an einem alten Hauslatschen, und Oskar stemmte die Pfoten ein, daß der Teppich Falten schlug. Wie wild schüttelte der Vierbeiner seinen edlen Kopf. Schließlich blieb er Sieger, schleppte stolz seine Beute ins Körbchen, um sie dann seinem Frauchen Gaby in den Schoß zu legen — sozusagen als Geschenk. „Die Spannung ist ungeheuerlich", meinte Klößchen. „Sie setzt meinen Nerven zu. " Er saß bereits am Tisch und blickte erwartungsvoll auf Schüsseln und Platten. Aber seine Worte bezogen sich auf den Grund ihres Hierseins. Denn nachher, gegen 20 Uhr, würde die Falle zuschnappen, in der Edwin Kohaut sich fangen sollte: jene polizeiliche Falle, die Kommissar Glockner bei Leni Stegmüller aufbaute - was vermutlich in diesen Minuten geschah. Gabys Vater hatte versprochen, postwendend anzurufen, sobald man des Ganoven habhaft wäre. Und dann würde sich's zeigen, ob er das Münzgeld — die 7777, 77 Mark für die Waisenkinder — bei sich hatte. Und natürlich den Tausender, um den Rönschls Konto geschädigt war. Tarzan seufzte. „Was würde ich darum geben, wenn ich dabei sein könnte!" „Nämlich?" neckte Gaby. „Welchen kleinen Finger wäre dir das wert?" „Das nun nicht gerade", lachte er. „Verstümmeln lasse ich mich nicht. Aber i c h . . . ä h . . . ja, ich würde den Lenker
114
meines Rennrads geben. Und dann nur noch freihändig fahren. Ist das ein Angebot?" „Es kommt zu spät. " Frau Glockner lächelte. „Mein Mann hört es nicht mehr. Aber ich glaube nicht, daß es ihn umgestimmt hätte. Diese Sondereinsätze sind lebensgefährlich. Jedesmal zittere ich um ihn. Ebenso würde deine Mutter um dich zittern, Tarzan. Deshalb, das mußt du einsehen, ist mit amtlicher Erlaubnis nicht zu rechnen. " „Mein Verstand sieht's ja ein", erwiderte er. „Aber meine Abenteuerlust will sich nicht damit abfinden. Und wenn beide streiten, zieht die Vernunft oft den kürzeren. " Er lachte. „Wobei noch nicht feststeht, ob das Gefährliche nicht oft auch das Vernünftige ist. " Während des Essens blickte mal dieser, mal jener zur Uhr. Aber die Zeit schien zu schleichen, verging fast noch langsamer als eine sechste Stunde in der Penne, wenn höchstens ein Erdbeben die Aufmerksamkeit wiederbeleben könnte. 115
Klößchen versuchte, die ungeheuerliche Spannung' zu mildern, indem er was für seine Nerven tat. Er hatte mal gehört, daß auch Nerven Nahrung brauchen, und die gab er ihnen — reichlich. „Was dieser Kohaut verzapft hat", meinte Karl, „geht auf keine Kuhhaut, wenn man seine Sünden mal ausbreitet: ein Berufsverbrecher, der seinesgleichen fast totschlägt, Diebesbeute raubt, nämlich Diamanten, sich dann hierher absetzt und uns und Rönschl so heimtückisch mitspielt. Schlimm! Und jetzt steht er zwischen den Fronten. Die eigenen Leute jagen ihn, und die Polizei ist ihm dicht auf der Spur. Wobei man nur hoffen kann, daß er in die Falle tappt, sonst bringen Cordone und Thiebel ihn um. Diese Mafia-Typen — was wissen die denn von Gnade! Und was ist schuld an allem? Habgier! Hätte er die Diamanten nicht genommen, könnte er jetzt immer noch in Genua eine ruhige Kugel schieben: als Ganove im Angestellten Verhältnis. " „Er hat sich verführen lassen", sagte Gaby. „Von der Gier nach Diamanten. Scheint ein gefährliches Zeug zu sein. " „Aber wertvoll", wußte Klößchen. „Meine Mama hat auch Diamantschmuck. Aber der liegt immer im Banksafe. Sie nimmt ihn nie raus. Weiß gar nicht, wozu sie ihn eigentlich hat. " „Als Geldanlage", erklärte Karl. „Geld kann seinen Wert verlieren, wenn die Inflation (Geldentwertung durch Teuerung) galoppiert. Aber bei Diamanten verläuft das meistens recht günstig. " Hastig kaute er am Rest eines Käsebrotes, offenbar, um Gaumen und Kehle freizumachen für einen seiner Vorträge. „Diamanten", hüb er an sogleich, „bestehen — chemisch gesehen - aus reinem Kohlenstoff und entstehen tief im Erdinnern unter ungeheurem Druck. Sie sind so ziemlich die härteste Materie — weshalb man mit einem Diamanten Glas zerschneiden kann - und auch der größte Wert auf kleinstem Raum. Diamanten gehören zu jedem ordentlichen 116
Kronschatz, und ihretwegen war im Lauf der Geschichte ganz schön was los. Ihretwegen wurde geraubt, gemordet, geklaut. Einige der größten und schönsten sind verschollen. Zum Beispiel, der Großmogul, der wohl schönste, den es je gab. Er wurde geraubt und nie wieder entdeckt. Oder der Pascha von Ägypten, 1879 gestohlen und für immer verloren. Oder der Pigott, seit nun auch schon 150 Jahren untergetaucht. Andere wie der Kohinoor haben Geschichte gemacht. Er ist seit 1304 bekannt. Der Stern des Südens gehört heute einem indischen Prinzen. Bewertet werden Diamanten nach Farbe, Reinheit, Größe und Schliff. Die Größe wird in Karat gemessen. Ein Karat sind 0, 2 Gramm. Beim Schleifen erhält der rohe Stein verschiedene Flächen, in denen sich das, einfallende Licht bricht. Daher das Funkeln und Gleißen. Man unterscheidet Brillant-, Marquise-, Oval-, Smaragdund Tropfenschliff. Außerdem Achtkant, Herzform und Baguette - ja, Willi: Baguette wie das französische Weißbrot. Aber wenn du auf einen Diamanten beißt, splittern dir die Zähne. " Klößchen grinste, „Ich bin doch kein Pudel. " „Wie meinst du?" fragte Gaby. „Och", Klößchen kaute in Ruhe. „Ich denke gerade an Goethe, wo doch Karl das Stichwort liefert. " „Was hat der deutsche Dichterfürst mit Diamantenfressern zu tun?" erkundigte sie sich. „Jedenfalls hat er mal geschrieben: Ein Hündchen wird gesucht, das weder bellt noch beißt, zerbrochene Gläser frißt und Diamanten seh... Und ich glaube, er hat einen Pudel gemeint, den Modehund seiner Zeit. Aber wie ist das denn nun mit der Reinheit, Karl? Werden Diamanten gewaschen?" Frau Glockner wischte sich Lachtränen aus den Augen. Aber Karl war schon wieder beim Thema, indem er erklärte: „Kein Diamant ist frei von Fehlern, sogenannten Einschlüssen. Und die, Willi, kriegst du mit Waschen nicht weg. Die 117
sind nämlich innen. Zwecks Bewertung werden die Steine unter eine sogenannte lOfach-Lupe gelegt. Erscheint der Diamant makellos, spricht man von lupenrein. Aber das kan nur der Fachmann beurteilen. Zu jedem Diamanten gehört auch ein Zertifikat (Bescheinigung), in dem seine Qualität vom Fachmann aufgelistet ist. Erst dieses Papier macht den Stein zur überall einlösbaren Geldanlage. Deshalb würde Kohaut sich schwer tun, wenn er einen seiner gefährlichen Diamanten jetzt irgendwo absetzen will. Im Fachhandel würde er abblitzen, und bei Gaunern nur kleine Summen erzielen. Deshalb muß der den Verkauf der 37 Klunkern sorgfältig vorbereiten. Und die richtigen Leute finden, die ihm auch ohne Zertifikat den ungefähren Wert entrichten. "
„Was mich an dem ganzen Gedöns um diese Glitzersteinchen so fesselt", meinte Tarzan, „ist das Entstehen einer Wertvorstellung. Ich meine, da hält dir jemand einen glitzernden Stein von Kirschgröße unter die Nase und sagt: Der ist fünf Millionen Mark wert. Und du sagst: Wieso?" Karl nickte. „Da ist was dran. Jemand hat mal behauptet, der Handel mit Diamanten ist ein Geschäft mit der großen Illusion (unbegründete Hoffnung, Selbsttäuschung, Luftschloß). Und der Zaubertrick funktioniert so: Jeder Mann, der einen Diamanten verschenkt, rechnet sich zu dem auserwählten Kreis derer, die sich das leisten können. Und eine Frau, die Diamanten trägt, gaukelt sich vor, dadurch schöner zu sein. Und beide unterliegen der Illusion, etwas wirklich Wertvolles zu besitzen. Im Grunde ist das ein Trugschluß — denn die Diamantenpreise werden künstlich - nur künstlich — hochgehalten und noch höher getrieben. Ein mächtiges
Syndikat (Zusammenschluß von Unternehmen mit gemeinsamem Verkauf) besorgt das mit allerhand Tricks, indem sie Diamanten zum Beispiel hortet, um das Angebot gering zu halten — obwohl Diamanten absolut nichts Seltenes sind. Im Gegenteil. Diamanten gibt's - zwar nicht wie Sand am Meer — aber doch massenhaft. Gleichwohl — die Welt hat sich nun 118
mal darauf geeinigt, Diamanten als was besonders Wertvol-
les einzustufen. Aber sowas ist Ansichtssache. Wenn es nichts mehr zu essen gäbe, und der eine hätte ein Butterbrot
und der andere einen Diamanten für fünf Millionen Mark ich wäre dann lieber der mit dem Butterbrot. "
„Ich auch", krähte Klößchen. „Und tauschen würde ich bestimmt nicht. Aber wenn's einer von uns hier wäre, dürfte
er natürlich abbeißen. " „Und trotzdem wird soviel Böses getan", meinte Tarzan, nachdem sich die Heiterkeit gelegt hatte, „um Diamanten zu besitzen. Kohaut riskiert den Hals. Die 37 Diamanten haben
eine Kettenreaktion ausgelöst. Sie kann blutig enden. " Wieder sah Gaby zur Uhr. Es war noch nicht einmal sieben.
Nachdem abgeräumt war, machten sie Spiele. Karl und Tarzan lieferten sich einen Zweikampf auf dem Schachbrett. Karl verlor durch, Matt' trotz seines Computergehirns. Aber wie auch auf der Judomatte — auf dem Schachbrett war Tarzan kaum zu schlagen. Sein mathematisch-begabter Kopf arbeitete mit bezwingender Logik, wie ja auch Mathe sein wissenschaftliches Glanzfach war.
Beim Würfeln beteiligten sich alle. Jetzt war nicht Logik gefragt, sondern das Glück verteilte seine Gunst, und Tarzan verlor unablässig. Er konnte die Würfel schütteln wie er wollte — es kam immer nur eine kümmerliche Augenzahl zusammen. „Hast eben Glück in der Liebe, wie man so sagt", tröstete
Klößchen. Gaby, die im selben Moment mit drei Würfeln vier Augen
erzielte, wurde puterrot. „Du auch, Pfote", baute Klößchen seinen Trost aus, ohne
die Bedeutung seiner Worte abzuschätzen. „Klar!" sagte Tarzan. „Oskar liebt mich. Unterm Tisch leckt er mir die ganze Zeit schon die Finger. Und sein Frauchen liebt er noch mehr. Gaby würfelt noch schlechter. "
119
Klößchen würfelte eine 18. Statt sich zu freuen, murmelte er: „Ich glaube, mich haßt er. Oskar, was habe ich dir getan?"
In einem Taschenspiegel prüfte Kohaut sein Aussehen. Die blonde Perücke machte ihn zu einem anderen Typ. Bartlos wirkte er jünger und jungenhafter. Die Brille milderte die
Härte seines winkligen Gesichts. Zum Henker! - er hätte sich selbst nicht erkannt, wäre er sich unverhofft auf der Straße begegnet.
120
Draußen war Nacht. In der Schrebergartenlaube hätte er nicht mehr die Hand vor Augen gesehen. Aber er behalf sich mit dem Schein seines Feuerzeugs. Die Reisetasche war gepackt — und schwer wegen der Münzen. Die Groschen und Fünf-Pfennig-Stücke ließ er zurück. Da standen Wert und Gewicht in keinem Verhältnis zueinander. Aber auch das Silbergeld wog eine Menge. Hoffentlich hielt die Tasche das aus. Es war noch früh. Zu früh. Er käme um 20 Uhr, hatte er gesagt. Aber daran hielt er sich nicht. Aus Erfahrung wußte er, daß es immer von Vorteil ist, den ändern zu überraschen. Also würde er Leni überraschen, indem er eine Stunde früher eintraf. Ob sie ein Festessen vorbereitete? Blieb ihr die Zeit? Offenbar war sie gestern und auch heute den ganzen Tag beschäftigt gewesen? Womit? Er nahm die Tasche und verließ die Laube. Eisiger Wind fauchte. Er wirbelte Laub auf und bewegte die Gartenpforte. Drüben bei dem Pärchen war alles dunkel. Er wußte, daß sie ihn nicht sehen konnten. Doch selbst wenn - jetzt wäre es ihm gleichgültig gewesen. Die Perücke wärmte wie eine Mütze, der Wind gab zwar mächtig an, war aber nicht so stark, sie ihm runterzupusten. Kohaut kannte die Stadt noch genau. Er mied belebte Straßen und erreichte bald jenes Viertel, in dem Leni Stegmüller wohnte. Während des Weges hatte er unablässig geraucht. Aber jetzt sah er die Einmündung der Straße, die zu Leni führte, und er trat den Zigarettenrest aus, sein Schritt stockte, und etwas Unbehagliches, Bedrohliches schien wie ein Hauch auf ihn zuzukommen. Er hatte Instinkt. Mißtrauen war seine Natur. Wenn Überraschung, dann richtig! dachte er und bog in eine Gasse ein, die zwischen nachtdunklen Gärten verlief. Sie führte, parallel zur Straße, an der Rückseite des Grund121
Stücks vorbei, zu dem er wollte. Keine Laterne kleckste ihr Licht in die Dunkelheit. Mehrere Grundstücke waren unbebaut, zwei kleine Häuser unbeleuchtet, die Bewohner verreist oder im Theater oder in irgendeinem Verkehrsstau stekken geblieben. Kohaut öffnete eine Pforte, schlich durch den Garten, überstieg den Zaun zum Nachbarn und setzte seinen Weg auf dieser Route fort: lautlos und so unsichtbar wie ein Schatten bei Sonnenfinsternis. Er orientierte (zurechtfinden) sich an der Straße drüben. Dort standen Laternen in großen Abständen, und das wies ihm die Richtung. Grund zur Vorsicht bestand immer für einen wie ihn. Die Polizei hatte Sehnsucht nach ihm. Seine ehemaligen Komplicen suchten ihn. Und überhaupt: War Leni noch zu trauen? Bis jetzt hatte er den unbequemen Gedanken beiseite geschoben. Außerdem verletzte der Zweifel seine männliche Eitelkeit. Damals war Leni seine Freundin gewesen — und, wie er hoffte, ihm damit für immer ergeben. Aber war sie das wirklich? Zwischen ihm und dem Haus, in dem sie wohnte, lag nur noch ein einziges Grundstück. Apfelbäume, jetzt kahl wie Fernsehantennen, wuchsen dort. Durchs Geäst sah er zwei, drei erleuchtete Fenster des Hauses. Das hohe Gras war nicht gemäht worden, und die Halme hatten sich wintermatt zur Seite geneigt, bildeten einen dicken Teppich, den er nicht lautlos überqueren konnte. Bei jedem Schritt würde es knistern und rascheln wie im Stroh. Er zögerte. In diesem Moment geschah es. „Stehenbleiben! Polizei!" erscholl eine Stimme. Aber das galt nicht ihm, sondern war weit vorn bei dem Haus. Er zuckte zusammen. Sein Nackenhaar sträubte sich — sogar das der Perücke. 122
Alles geschah in rasender Folge. Hinter dem Haus flammte eine starke Taschenlampe auf, kaum daß die Worte verklungen waren. Im selben Moment krachte ein Schuß. Eine Stimme schrie auf, offenbar die des Polizisten. Die Lampe erlosch nicht, fiel aber zu Boden und strahlte die Rückfront des Hauses an, aber nur bis in Kniehöhe. „Schnell!" schrie der Polizist. „Sie fliehen zur Gasse. Es sind zwei!" Zweige brachen, als galoppierten Wildsäue querbeet. Der Garten erwachte zu Leben. Drei weitere Handscheinwerfer stachen ihre Geisterfinger ins Dunkel, zielten nach den Fliehenden, hatten aber kein Glück. Büsche, Sträucher und Hekken schienen einen Urwald zu bilden. „Links lang!" brüllte ein zweiter Beamter. „Zum Weg!" rief ein anderer. „Seiboldt ist verletzt", rief ein dritter. „Laßt sie laufen. Die erwischen wir nicht mehr. " Im Haus flammte Licht auf. Jedes Fenster war jetzt erleuchtet. Eine Tür knarrte. Ein Mann fragte halblaut. Die Gartenpforte quietschte. Jemand rannte von dort herbei. Dann fragte Leni Stegmüller: „Zwei? Wieso zwei? War er nicht allein?" „Das war gar nicht Kohaut", antwortete Seiboldt — jedenfalls der erste, der die Stille der Nacht zerrissen hatte. Er sprach durch zusammengepreßte Zähne, hatte offenbar Schmerzen, also tatsächlich was abgekriegt. „Nein?" Lenis Stimme bibberte. „Sondern?" Aber Seiboldt antwortete nicht ihr, sondern wandte sich seinem Vorgesetzten zu. „Herr Kommissar, ich meine, ich habe Cordone und Thiebel erkannt. Soweit ich das nach den Fotos beurteilen kann. Ja, doch! Sie waren's. " „Brinkmann", sagte der Kommissar, „verständigen Sie die Zentrale. Die Flüchtenden bewegen sich in Richtung Sebastians-Kirche. " Er hatte die Stimme gedämpft. Doch Kohaut
123
verstand ihn. „Jeder verfügbare Streifenwagen ins Planquadrat elf! Vielleicht haben wir G l ü c k . . . Wie sieht es aus, Sei-
boldt?" „Nur ein Streifschuß am Oberarm, Herr Kommissar. Tut mir leid. Ich habe die Sache vermurkst. Statt sie herankommen zu lassen, habe ich sie verscheucht. Viel zu früh habe i c h . . ." Er sprach nicht weiter. Seine Stimme versank im brackigen Tümpel der Trübsal. Schlimmer als der Streifschuß verwundete ihn die Selbsterkenntnis, daß er versagt hatte.
124
„Lassen Sie's gut sein", sagte der Kommissar. „Peters bringt sie ins Krankenhaus. Alle anderen wieder auf ihre Posten! Frau Stegmüller, bitte ins Haus! Und bleiben Sie dort. Wenn Kohaut kommt, kann's noch gefährlicher werden als
eben. Wie spät ist es?" „Viertel nach sieben", antwortete einer seiner Leute. „Vielleicht klappt es noch", murmelte der Kommissar. „Also los!" Stille kehrte ein. Alle Handscheinwerfer waren ausgeschaltet. Kohaut hörte keinen Schritt. Im Haus erloschen die
125
Lichter - bis auf die drei erleuchteten Fenster. Dann
quietschte die Gartenpforte. Er rührte sich nicht. Er fühlte nur Wut. Mörderische Wut. Sie hatte ihn verraten, dieses Weibsstück. Sie hatte die Polizei verständigt. Sie hatte dafür gesorgt, daß man ihn erwartete. Nur um Haaresbreite war er der Falle entgangen. Wem
verdankte er seine Rettung? Cordone. Thiebel. Er kannte die Namen. Die beiden gehörten zur Organisation. Also waren sie auf ihn angesetzt — und hergekommen, um ihn bei Leni Stegmüller aufzuspüren. Im richtigen Moment waren sie gekommen. Geradezu wie bestellt, um ihn in letzter Sekunde zu warnen. Nicht früher und nicht später hätte das passieren dürfen. Offenbar war das Glück auf seiner Seite.
Vorsichtig setzte er die Tasche auf den Boden. Die Hand war erlahmt. Das Gewicht zog an den Fingern. Er massierte sie. Dann trat er den Rückzug an. Zurück zur Schrebergartenlaube? Nur wenn alle Stricke reißen, dachte er. Wer erkennt mich
denn — so, wie ich jetzt aussehe? Wäre ja gelacht! Ich kann mich in der Öffentlichkeit zeigen. Und ob! Er wandte sich in Richtung Bahnhof. Unterwegs hielt er ein Taxi an. Er ließ sich zu einem Hotel fahren, das er von frü-
her her als üble Absteige kannte. War es das noch? Nichts hatte sich verändert. Das merkte er, als er mit dem schmierigen Portier über ein Zimmer verhandelte. Ein Zwanziger als Trinkgeld beschleunigte die Verständigung.
Der Portier schob den Block mit den Anmeldezetteln beiseite. Kohaut erhielt den Schlüssel zu Nr. 306. Dort konnte er durch eine staubige Gardine in die Großstadtnacht hinausblicken. Er sah über eine Gasse von ungefähr vier Meter Breite auf
126
die graue Wand eines Gebäudes. Eine giftgrüne Leuchtreklame in Form eines Pfeils wies hinab — und darauf hin, daß sich unten Henrys Bar befinde. Das mußte ein Schuppen
sein! Im Bad tropfte der Wasserhahn. In der Wanne klebten Haare. Neben der Tür löste sich die überaus hübsche Nachkriegstapete von der Wand, und das Bett knarzte jämmerlich, als er seine Tasche darauf abstellte. Er griff zum Telefon, klinkte sich eine Amtsleitung ein und wählte Lenis Nummer. „Stegmüller", meldete sie sich. „Hallo", sagte er fröhlich. „Ich bin's, meine Schöne. Erwartest du mich schon?" Sie antwortete nicht sofort. „Hallo", sagte er. „Ja, Edwin. Bin noch da. Entschuldige. Ja, ich erwarte dich. Du wolltest doch längst hier sein. " „Ich verspäte mich etwas. Machst du uns was Schönes?" „Was hättest du gern? „Dein Herz, Lenilein. " Sie lachte. Es klang gezwungen. Warum, zum Teufel, fiel ihm das erst jetzt auf? „Du kannst das wörtlich nehmen", sagte er. „Dein Herz. Auf einem silbernen Teller möchte ich's. Roh! Blutig! So, wie ich's dir rausreißen werde. Oder rausschneiden, du Dreckstück. Kannst den Bullen bestellen, sie dürfen Feierabend machen, denn ich komme nicht mehr. Ich bin dringend verabredet. Und du darfst wissen, meine Süße: Ich werde diese Stadt erst verlassen, wenn ich dich umgebracht habe. Und keine Polizei der Welt kann das verhindern. " Er legte nicht auf. Er wartete auf ihre Antwort. Ihr Atem quälte sich wie der Vorbote eines Asthmaanfalls. Dann sagte eine Männerstimme: „Kohaut, nehmen Sie Vernunft an. Sie können uns nicht mehr entkommen. Es ist das beste für Sie, w e n n . . . " 127
„Weißt du, was du mich kannst, Bulle", fiel ihm Kohaut ins Wort. „Na, also!" Er legte auf. Eine Weile starrte er vor sich hin. Dann ging er hinunter und über die Straße in Henrys Bar, um mit sich selbst zu feiern, daß er den Bullen entwischt war.
128
10. Verhängnisvolle Ähnlichkeit Oskar hob den Kopf und lauschte. Einen Moment später wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Sofort schoß der brave Vierbeiner in den Flur, um sein Herrchen zu begrüßen. Denn Kommissar Glockner kehrte heim. Aber nur für einen Moment. Denn er kam herein, ohne den Mantel abzulegen. Frau Glockner und die TKKGFreunde blickten voller Erwartung. Aber Glockner hätte gar nichts sagen müssen, um das Ergebnis des Sondereinsatzes vorwegzunehmen. Seine Miene drückte den Mißerfolg aus. „Tja", sagte er, „schiefgegangen auf der ganzen Linie. Und gleich in doppelter Hinsicht. Erst sind uns Cordone und Thiebel entwischt, die Kohaut auf ihre Weise kassieren wollten. Und als das passierte, muß er bereits in der Nähe gewesen sein. Später rief er an, um uns lächerlich zu machen. Und er bedroht Leni Stegmüller mit Mord. Das ist die ehemalige Freundin", fügte er, erklärend für die TKKG-Bande, hinzu. Dann berichtete er Einzelheiten. Enttäuschung breitete sich aus. „Es wird wohl doch ein mageres Weihnachtsfest für die Waisenkinder", seufzte Klößchen. „Ist Seiboldt erheblich verletzt?" fragte Frau Glockner. „Gott sei Dank nicht, Margot. Aber zerknirscht ist er. Der Schuß hätte ihn auch tödlich treffen können. So gesehen... naja! Das wollte ich euch nur sagen. Ich muß noch ins Präsidium. " „Wie wird Frau Stegmüller geschützt?" fragte Tarzan. „Einer meiner besten Leute wacht in ihrer Wohnung", erwiderte Glockner. „Heinzelmann. Du kennst ihn. Wir nehmen Kohauts Drohung ernst. Übrigens — was ich euch noch nicht erzählte — dies war bereits der zweite Versuch von Cordone & Co., Kohaut dort aufzuspüren. Am Freitagabend haben sie sich — versehentlich — an Leni Stegmüllers Verlobten vergriffen. Als wir das erfuhren, war für uns klar: Die Unter129
weit ist Kohaut dicht auf den Fersen. Aber wir wußten nicht, um welche drei Figuren es sich handelt. " „Wer ist denn der dritte?" fragte Klößchen, gab sich aber gleich selbst die Antwort. „Ach so, der schöne Wiener. Aber der hat ja jetzt Urlaub. " Margot Glockner brachte eine Tasse Kaffee für ihren Mann. Er bedankte sich mit einem liebevollen Blick und trank hastig. „Kann sein, daß es spät wird", erklärte er. „Als hätte ich nicht genug um die Ohren — jetzt liegt auch noch Falschgeld auf meinem Schreibtisch. Ist heute erstmals in der Stadt aufgetaucht. Jedenfalls wurde es heute entdeckt. Hunderter. Sie sind ausgezeichnet gemacht, und man muß schon sehr genau hinsehen, um die Blüten von den echten zu unterscheiden. Wie es scheint, wurde das Falschgeld mit einem Farbkopiergerät hergestellt. Das wäre eine ganz neue Methode. Da wartet viel Arbeit auf mich. Gute Nacht, Kinder. " „Gute Nacht, Herr Glockner!" antworteten die Jungs dreistimmig. Gaby verabschiedete sich mit einem Gute-Nacht-Bussi. Frau Glockner brachte ihren Mann zur Tür. Dann wurde es auch für die Jungs höchste Zeit, denn morgen früh begann der Alltag mit sechsstündigem Unterricht.
Am Montagnachmittag reparierte der Glaser im Hause Jacoby die Terrassentür. Johanna Jacoby befand sich im Obergeschoß. Als der Handwerker fertig war, wurde sie von ihrer Haushälterin verständigt, und der Mann erhielt erstmal ein großzügiges Trinkgeld. Immerhin war er sofort gekommen: ein Service, der heutzutage — trotz steigender Arbeitslosigkeit — durchaus nicht selbstverständlich ist. „Ich fahre dann in die Stadt und hole Britta ab", sagte Johanna Jacoby. 130
Die Haushälterin nickte. Sie kannte das schon. Jeden Montag wurde Britta vom Ballettunterricht abgeholt. Das war auf jeden Fall besser so, befand sich doch das Ballettstudio in einer übelbeleumundeten Gegend nahe dem Bahnhof. Sicherlich — das Studio gehörte zu den besten der Stadt, aber im Umkreis gab es miese Kneipen und die dazugehörigen Haibund Unterwelttypen. Ohne Begleitung wäre ein junges Mädchen wie Britta Freiwild gewesen — noch dazu in dieser Jahreszeit, wo es so früh dunkelt. Vor dem Spiegel machte Johanna sich stadtfein. Das blauschwarze Haar wurde hochgesteckt. Noch ein bißchen Tusche auf die Wimpern. Dann zog sie ihren roten Steppmantel an, steckte genügend Geld in die Handtasche und verließ das Haus. So übel die Bahnhofsgegend war — nur einen Straßenzug entfernt hatte man eine Fußgängerzone geschaffen mit exklusiven Geschäften. Gutbetuchte Damen kauften hier ein. Johanna hatte das gleiche vor. Meinte sie doch, daß sie unbedingt ihren Bestand an Blusen auffüllen müsse. Und bis zum Ende der Ballettstunde — einer Doppelstunde - war noch viel Zeit. Sie stieg in ihren kleinen Wagen und fuhr durch die Dämmerung, die rasch zum nachtdunklen Abend wurde. Die Stadt war erleuchtet, der Betrieb gewaltig. Johanna hätte gern unmittelbar bei der Fußgängerzone geparkt, aber dort war alles dicht — nicht mal mehr Platz für ein Skateboard (Rollerbrett). Sie mußte auf eine finstere Seitenstraße ausweichen, wo ein paar Gammeltypen herumlungerten. Einer — jung, schmierig und frech — pirschte sich gleich an sie ran. „Schöne Frau! Haben Sie ein Almosen (Gabe) für einen Obdachlosen ohne Arbeit? Fünf Mark genügen. " „Sie riechen nach Schnaps. Gehen Sie weg!" sagte sie mutig-
131
„Zicke!" rief er ihr nach. „Hast ein schönes Auto. Und der Lack ist so neu. " Wäre es klüger gewesen, ihm was zu geben? überlegte sie. Wenn er mir jetzt den Wagen zerkratzt, kommt das teuer. Aber zurückgehen wollte sie nicht. Das wäre ihr vorgekommen, als hätte sie sich einer Erpressung gebeugt. Außerdem trottete der Kerl zu seinen Kumpanen zurück, wie sie mit einem raschen Blick feststellte.
Bei dieser Gelegenheit fiel ihr der Mann auf. Er stand entfernt in der Einmündung einer Gasse. Von der Auseinandersetzung konnte er nichts gehört haben. Aber er starrte unverwandt her zu ihr, und seine Haltung drückte eine innere Spannung aus. Außer Johanna war niemand in der Nähe. Er konnte nur sie meinen. Aber jetzt wich er mit einem raschen Schritt in die Gasse zurück. Johanna dachte nicht lange darüber nach. Sie kannte den Mann nicht. Und daß er's auf ihren Kleinwagen abgesehen hatte, war wohl nicht anzunehmen. In der hellerleuchteten Prachtstraße ließ sie sich von optischen (die Augen betreffenden) Reizen hierhin und dorthin ziehen, von Schaufenster zu Schaufenster, bis sie vor dem Geschäft stand, das sich auf Blusen und Pullover spezialisiert hatte. Eine Weile studierte sie die Auslagen. Dann drehte sie sich um. Sie spürte, daß sie beobachtet wurde. Sie spürte es wie eine Berührung. Er stand auf der anderen Straßenseite, hatte die Hände in den Taschen seines grünen Steppmantels vergraben und hielt die Schultern gespannt. Er war ein großer Kerl mit hartem Gesicht, der Teint dunkel und wettergegerbt. Das blonde Haar wollte nicht dazu passen. Er trug eine Brille. Jetzt schien er ihren Blick zu bemerken. Langsam wandte er sich ab und trat hinter einen Zeitschriftenkiosk. 132
133
Johanna überlegte. Nein, sie kannte ihn wirklich nicht. Auch einer der beiden maskierten - und nun als Gino Cor-
done und Paul Thiebel identifizierten — Räuber konnte es nicht sein.
Vielleicht bin ich sein Typ, dachte sie. Und er beobachtet mich deshalb. Dann rückte wieder der Blusenkauf in den Vordergrund ihrer Gedanken, und sie betrat das Geschäft.
Kaum endete am Spätnachmittag die Arbeitsstunde im Internat, als Tarzan seinem Freund Klößchen die Büchermappe zuschob und wie vom wilden Affen gebissen aus der Klasse spurtete.
Um Ärger zu vermeiden, mußte er bis zum Abendessen zurück sein. Aber vorher wollte er noch in die Stadt. Das hatte er Gaby versprochen. Im Laufen zog er die Jacke an. Sein Drahtesel stand nicht im Fahrradkeller, sondern lehnte neben der Tür. Tarzan trat in die Pedale - haste was kannste —, flog förmlich über die Zubringerstraße und der Stadt entgegen. Nach seiner Karachofahrt kam er bei Glockners an, und die berückende Gaby wartete bereits. „Du kommst tatsächlich?" „Habe ich doch versprochen. " „Aber du solltest meinetwegen nicht die Arbeitstunde schwänzen. " „Wie kommt du darauf? Ich habe geochst wie ein Büffel. " „Aber bist eher abgehauen!" „Bei Speckeisen? Der paßt doch auf, als wäre Gefängnisaufseher sein Traumjob. " Ihre Kornblumenaugen blickten auf die zierliche Armbanduhr. „Wie schnell bist du denn dann gefahren? Sind die Ohren noch dran?" Beide lachten, und Gaby hängte ihre Einkaufstasche an 134
den Lenker. Der Inhalt klirrte verhalten, und verführerischer Duft stieg auf. „Wärst du nicht gekommen, hätte Mami mich begleitet", sagte sie vergnügt. „Aber so ist es schon toll. " Sie zogen los. Ihr Ziel war das Polizei-Präsidium. In der Tasche befanden sich Thermo (Warmhalte-)Getäße mit delikatem Inhalt: gebratenem Spanferkel und leckeren Beilagen. Frau Glockner hatte nämlich fest daran geglaubt, daß ihr Mann zum Abendessen heimkäme, und den Spanferkelbraten vorbereitet. Doch dann rief Emil Glockner an. Er konnte nicht weg. Dringende Arbeiten würden ihn wahrscheinlich bis Mitternacht festhalten. Seine Stimmung war ganz unten — nicht zuletzt, weil er Spanferkel gern aß. Daß es morgen nicht mehr so schmecken würde wie heute, da es auf den Punkt genau gebraten war — das stand fest. Was lag also näher, als ihn wie vom Party-Service zu versorgen, damit er wenigstens am Schreibtisch speisen konnte. Es war nicht das erste Mal, daß die Familie ihn mit dem Abendessen belieferte. Tarzan, der Gaby bei den Mathe-Aufgaben geholfen hatte, hörte Frau Glockners Telefonat und bot sich als Begleitschutz an. „Kannst du nachher noch mit hochkommen?" fragte Gaby, während sie jetzt durch die nebligen Straßen gingen. „Mami möchte dich kosten lassen. " „Ist wahnsinnig nett, aber zeitlich nicht drin. Ab und zu muß ich auch abends im Speisesaal mit Anwesenheit glänzen. Der Direx hat mich neulich schon gefragt, was ich eigentlich wäre: Ex- oder Interner? Aber das war noch freundlich gemeint. Ihm imponiert's, daß ich mich manchmal so reinhänge. " Sie überquerten den Platz vor dem Präsidium. Tarzan stellte sein Rennrad zwischen zwei Streifenwagen. Gaby hatte die Tasche übernommen und war schon die Stufen hinauf. 135
Sie grüßten den Uniformierten, der in dem Wachlokal saß, das zugleich Pförtnerloge war. Er kannte sie gut, winkte und rief was, das nach, Ah, unsere Mitarbeiter!' klang. Aber man verstand's nicht genau, denn er hatte den Mund voller Butterbrot. Sie stiegen die Treppe hinauf. Im Flur wandten sie sich
nach links. Ein Stück vor ihnen gingen ein Mann und eine Frau. „Da ist ja Brittas Mutter", sagte Tarzan. „Und Inspektor Heinzelmann. Ich dachte, der bewacht diese Leni Stegmüller. " Sie holten auf. Denn natürlich wollten sie ihre Gastgeberin vom Samstag begrüßen — zumal man soviel schon miteinander erlebt hatte an Aufregung und Gefahr. „Guten Abend, Frau Jacoby!" sagte Tarzan. „Guten Abend, Herr Inspektor. Wollen Sie auch zu Herrn Glockner?" Die beiden drehten sich um. Heinzelmann gehörte zu den jüngeren Beamten: ein freundlicher Mann, äußerlich wie ein hellhäutiger Neger. Er konnte grinsen wie ein Haifisch, der einen Schiffbrüchigen erspät. Jetzt lächelte er etwas verständnislos. Frau Jacoby sah verändert aus. Aber Tarzan kam nicht gleich dahinter, woran das lag. Vielleicht an ihrer abweisenden Miene. Ihr Blick war kühl. „Das ist Kommissar Glockners Tochter, die Gaby", sagte Heinzelmann. „Und Tarzan, der spätere Schwiegersohn. " Tarzan nahm sich nicht die Zeit, rot zu werden.
„Frau Jacoby kennt uns doch", sagte er harsch. Und wiederholte, ein bißchen unwillig schon: „Guten Abend, Frau Jacoby. " Dabei hielt er die Rechte sozusagen im Anschlag. Denn daß er und Gaby mit Händedruck begrüßt wurden, lag buchstäblich auf der Hand.
Doch nichts geschah. Die Frau blickte befremdet. 136
„Was meinst du eigentlich mit Frau Jacoby?" fragte Heinzelmann. „Das ist Frau Stegmüller. " Nach einer Weile spürte Tarzan, daß er wohl keinen sehr geistreichen Eindruck machte. Er schloß den Mund und sah Gaby an. Ihre Augen waren noch nie so groß gewesen. „Moment mal!" sagte er. „Es könnte ja sein, daß ich einen Haschmich habe. Aber es widerspricht der Wahrscheinlichkeit, das gleichzeitig bei Gaby ein Sprung in der Schüssel auftritt. Nicht wahr?" Er trat einen Schritt vor, dichter an die Frau heran. „Sie sind Frau Johanna J a . . . Nein! Mich laust der Affe! Pfote, sie ist es wirklich nicht. Jetzt sehe ich's. Aber da braucht man 'ne lOfach-Lupe. Tatsächlich! Unglaublich! Frau Stegmüller, Sie haben eine Zwillingsschwester. " „Ich? Nein. Bestimmt nicht. " Gaby sagte: „Sowas gibt es. Ich habe darüber gelesen. Es ist, als wenn die Natur — ja, als wenn sie sich einen Spaß erlaubt. Indem sie einen Menschen zweimal formt. Äußerlich sind sie zum Verwechseln ähnlich. Aber sie brauchen nicht miteinander verwandt zu sein. " Tarzan musterte die Frau, als könnte er's noch immer nicht glauben, während sie hilflos zu Heinzelmann schaute, der die Stirn in Waschbrettfalten legte und sich hinterm Ohr kratzte. „Genau genommen", sagte Tarzan, „besteht die Ähnlichkeit nur oberflächlich: Gesichtsschnitt, Haar- und Augenfarbe, Mund. Einzelheiten stimmen nicht mehr überein. Ihre Zähne, Frau Stegmüller, stehen anders. Die Nase ist etwas gebogen. Die Ohrläppchen sind angewachsen. Aber die Frisuren stimmen wieder überein, Größe und Figur auch. Und ich glaube, auch Frau Jacoby hat einen roten Steppmantel. Oder irre ich mich, Pfote?" „Nein. Also wirklich, Frau Stegmüler. Sie müssen Ihr Double (eigentlich: Ersatzdarsteller im Film) kennenlernen. " „Hochinteressant", meinte Heinzelmann. „Unsere Stadt 137
138
scheint wirklich groß zu sein. Sonst hätte es schon mal zur Verwechselung führen müssen. " Leni Stegmüller machte ein Gesicht, als sei es ihr gar nicht recht, nun ihrer Einmaligkeit beraubt zu sein. Aber vielleicht ist es das gar nicht, dachte Tarzan, sondern die Situation, in der sie schwebt. Immerhin läuft ein Schwerverbrecher in der Stadt rum, der sie umbringen will. Das zehrt am Gemüt. Da k a n n . . . Sein innerer Redefluß stockte. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Um Himmels willen! Wenn nun auch Kohaut sich irrte! Wenn er zufällig der Frau Jacoby begegnete und sie für die Stegmüller h i e l t . . . Er sah Heinzelmann an. Auf dessen Gesicht stand die gleiche Befürchtung. „Ist es nicht so", sagte Tarzan. „Man kann Jahrzehnte in ein und derselben Stadt leben, ohne eine bestimmte Person jemals zu treffen. Aber wenn es nicht sein soll, weil es schreckliche Folgen hätte, dann passiert's. " „An Frau Stegmüller kommt Kohaut nicht ran", nickte Heinzelmann. „Aber Frau Jacoby ist in Gefahr. Ihr meint doch die Frau des Bankdirektors, wo am Samstagabend der Überfall war?" Sie nickten. „Herr Jacoby war heute hier. Den kennen wir. Aber nicht seine Frau. Himmel, -wer ahnt denn was von einer so verhängnisvollen Ähnlichkeit!" Augenblicke später betraten sie Kommissar Glockners Büro. Aber er war nicht da, sondern in einer Besprechung beim Polizeipräsidenten, wie sie von nebenan erfuhren. Heinzelmann rief bei Jacoby s an. Aber dort ging niemand an den Apparat. „Montags hat doch Britta Ballettunterricht", sagte Gaby plötzlich. „Und soviel ich weiß, wird sie von ihrer Mutter abgeholt. " „Pfote, das ist der Einfall!" rief Tarzan. „Ballettstudio Au-
140
rora, nicht wahr? Im Bahnhofsviertel. Ich weiß, wo das ist. Damit verabschiede ich mich. " Er war schon an der Tür. „Fährst du hin?" fragte Heinzelmann. „Ich muß zwar zur Penne zurück. Aber den kleinen Umweg zu den Hupfdohlen gönne ich mir. Wenn ich Frau Jacoby treffe, werde ich sie warnen. Sonst sage ich's Britta, ihrer Tochter. " „Ich überlege, ob ich einen Streifenwagen losjage", murmelte Heinzelmann. „Aber das wäre wohl übertrieben... " Mehr hörte Tarzan nicht. Er hatte noch einen Blick mit Gaby getauscht und schloß jetzt die Tür. Die Treppe nahm er mit wenigen Sprüngen. Der Uniformierte im Wachlokal kaute am dritten Butterbrot und sah nur einen Schatten vorbeiflitzen. Aha, der Tarzan! dachte er. Entweder brennt's irgendwo, oder er hat keinen Ausgang. Draußen zog sich der Nebel zusammen. Die Luft roch kleisterig. Alle Lichter wirkten trübe im Dunst. Selbst ein Geistesblitz wäre nicht zur Geltung gekommen. Aber Tarzan spürte förmlich, daß Gaby den richtigen Riecher - vielmehr das richtige Naschen — hatte. Beim Ballettstudio, sicherlich, würde er die Jacobys, Mutter und Tochter, antreffen. Er legte einen Affenzahn vor, schaffte zwei Ampeln bei Gelb, sauste wie Velo, das Fahrrad-Phantom, durch Seitenstraßen und erreichte die Fußgängerzone beim Bahnhofsviertel. Ohne abzusteigen, durchquerte er sie im rasenden Zickzackkurs, denn es gab Passanten, die einfach nicht schnell genug zur Seite sprangen, weil sie alt oder klapperig oder stur waren. Jemand rief ihm nach, und andere stimmten ein. Es hörte sich nach Verwünschungen an. Schimpft nur! dachte er. Ihr wißt ja nicht, was mich anmacht.
141
Die Lichterwelt der Geschäfte lag hinter ihm, das Ballettstudio in einer düsteren Seitenstraße, die ehemals hoffähig gewesen war — vor vielen Jahrzehnten —, aber dann immer mehr verluderte. Es gab miese Kneipen, in denen nur zwielichtige Gestalten verkehrten, und einige Nachtlokale, wo Ganoven die Puppen tanzen ließen und Coups ausheckten. Bei Tag konnte man hier passieren (vorbeigehen), sofern man seinen Geldbeutel festhielt. Aber ab Einbruch der Dunkelheit wurde die Szene von Gesindel beherrscht. Freilich — in dieser Nachtluft lungerte keiner herum. Alle saßen in den Kellerlokalen, und die Fahrbahn war frei. Tarzan strampelte bis zum Ende, wo die Straße wie der Stiel eines Ts auf ein Gäßchen stieß. Kurz davor öffnete sich zwischen Häuserblöcken eine dunkle Passage. Sie führte durch den Block und vorbei an einem Innenhof, wo eine Import(Einfuhr)-Gesellschaft ihren Sitz hatte. Fer-
ner gab es dort eine Schlosserei, einen Jeans-Schuppen, eine Partnerschafts-Vermittlung, einen zu vermietenden Laden und die Treppe, die zum Ballettstudio Aurora hinaufführte. Tarzan war mit Gaby mal dort gewesen und hatte gestaunt über den riesigen, hundertjährigen Saal im ersten Obergeschoß. Zwei Tennisplätze hätte man dort untergebracht, ohne daß der Linienrichter den Bauch einziehen müßte. Säle dieser Größe baute heute kein Mensch mehr — schon gar nicht im Zentrum der Stadt. Das war auch der Grund, weshalb das Ballettstudio hier ausharrte — trotz der Umgebung. Vor der Jahrhundertwende war der Saal ein sogenannter Bürgersaal gewesen. Tarzan hielt am Anfang der Passage, wo er seinen Asphaltflitzer an einen Hydranten kettete. Das Funzellicht der Straßenbeleuchtung reichte ein paar Meter weit in die Passage hinein. Hinter der Biegung verklangen die Schritte einer Frau. Ihre Stiefelabsätze tackerten eilig über die Fliesen. Sie entfernte sich in Richtung Innenhof. 142
In gleiche Richtung bewegte sich der Schatten: eine schleichende Gestalt, ein Mann. Er schien blond zu sein, trug einen Mantel und schlich - schlich ganz offensichtlich, wie die geduckte Haltung verriet. Außerdem setzte er die Füße auf, als gleite er über rohe Eier. Auch das noch! dachte Tarzan — und spurtete los.
143
11. Rettung in letzter Sekunde Die Frau hatte den Innenhof erreicht, wo fahles Licht von oben herabflimmerte.
Tarzan erkannte Johanna Jacoby, obwohl er noch 20 Schritte zurücklag. Der Blonde war jetzt unmittelbar hinter ihr. Sie merkte nichts und wandte sich der Treppe zu. Der Mann streckte die Hände aus. Ihren Hals wollte er packen — das war offensichtlich. „Polizei!" brüllte Tarzan mit Stentorstimme (dröhnender Stimme). „Bleiben Sie stehen! Sonst... " . . . setzt es Ohrfeigen! dachte er grimmig — und beschleunigte, wobei ihm Gedanken durch den Kopf schössen. Was geschah hier? War das ein Straßenraub wie zig andere? O d e r . . . Frau Jacoby drehte sich um. Der Blonde änderte seine Absicht. Statt sie zu würgen, ließ er sich bluffen (täuschen) und raste an ihr vorbei. Dabei stieß er sie mit der Schulter. Frau Jacoby schrie auf und stürzte auf die Treppenstufen. Der Blonde stolperte, fing sich und jagte weiter. Aber er verlor eine Perücke. Kohaut! dachte Tarzan. Klar! Er ist es. Mann o Mann! So schnell kann's also gehen, wenn das Schicksal falsch spielt. Kohaut stürmte weiter. Aber Tarzan war schneller. „Stehenbleiben!" schrie er abermals. Im selben Moment wirbelte Kohaut herum. Er streckte die Hand aus und grätschte die Beine. Tarzan sah keine Pistole. Aber die Haltung des Verbrechers war unmißverständlich. Nicht zu glauben! D e r . . . Tarzan hechtete zur Seite, wo der einzige Schutz war: die in den Hof gebaute Treppe. Soeben richtete Frau Jacoby sich auf, noch benommen vom Schreck. 144
Mit einer Körperdrehung
~ habl
Schraube, halb verboge-
ner Nagel - verhinderte Tarzan, daß Brittas Mutter noch-
mals gerempelt und umgestoßen wurde. Ein Schuß peitschte auf
145
Alles geschah in derselben Sekunde. Auch daß die Kugel in die Schaufensterscheibe des vermietbaren Ladens schmetterte und dabei allerhand Schaden anrichtete. Tarzan war auf der dritten Stufe gelandet, eine über Brittas Mutter. „Guten Abend, Frau Jacoby!" sagte er. „Unten bleiben! Der Kerl macht ernst. " Er sah in ihr totenbleiches Gesicht. Fassungslosigkeit nahm ihr die Sprache. Sie brachte kein Wort hervor. Ihre Handtasche und die Einkaufstüte eines Wäschegeschäftes lagen auf dem Boden. Kohaut floh. Tarzan hörte seine Schritte. Aber als er ihm nachblickte, war der Kerl schon am Ende der Passage verschwunden. Ihm nachsetzen? Ich bin doch keine Zielscheibe, dachte Tarzan. Und überraschen könnte ich ihn jetzt nicht. Der ist — weiß Gott! — gewarnt. Er half Frau Jacoby auf die Füße. Sie zitterte. „ D e r . . . d e r . . . Ich kenne den Mann gar nicht. Aber er hat mich beobachtet u n d . . . Was wollte der? Wieso war er plötzlich hinter mir?" „Sie erfahren es ja doch. Sage ich's also lieber gleich. Er wollte Sie umbringen, Frau Jacoby. Es wäre zwar eine Verwechslung gewesen. Aber das hätte Ihnen nichts genützt. Sie haben nämlich eine Doppelgängerin. Auf die hat er 's abgesehen. Übrigens war das dieser Edwin Kohaut, der meine TKKG-Freunde und Herrn Rönschl beraubt hat. " Haltsuchend griff sie zum Treppengeländer. „Umbringen? Mich?" „Sie haben sogar den gleichen Mantel an wie Frau Stegmüller. Fast den gleichen. Ihrer hat einen anderen Kragen. Aber welcher Mörder achtet auf modische Feinheiten, wenn er sich rächen will für Verrat. " „ I c h . . . i c h . . . habe doch niemanden verraten. Ich... " 146
„Sie nicht, aber Frau Stegmüller. " Er merkte, daß der Schock sich auswirkte, sie verwirrte. Sie hatte noch nicht begriffen. „Aber lassen wir das mal. Sie erfahren alles noch ganz genau. Jetzt holen wir Britta ab. Das wollten Sie doch? Und dann soll uns die Funkstreife zum Präsidium bringen. " Er blickte in beide Richtungen durch die Passage. Niemand zeigte sich. Weckte ein Pistolenschuß in dieser Gegend keine Neugier? Wahrscheinlich hat ihn niemand gehört, dachte er. Nicht mal die Hupfdohlen stecken die Nase zur Tür heraus.
In Glockners Büro hing noch der Duft von gebratenem Spanferkel. In aller Eile hatte der Kommissar gegessen. Gaby verstaute Geschirr und leere Thermo-Gefäße in der Einkaufstasche. Johanna Jacoby schluchzte. Der Schreck wurzelte tief. Es gab keinen Zweifel: Nur um Haaresbreite war sie einem entsetzlichen, endgültigen Schicksal entronnen. Kohaut hätte seine Drohung wahrgemacht und seinen Irrtum sicherlich gar nicht gemerkt. Wie sollte er auch? Seit langem war er Leni Stegmüller nicht mehr begegnet. Und selbst jetzt, als man die beiden Frauen nebeneinander sah, verblüffte die Ähnlichkeit. Freilich fielen nun auch die Unterschiede ins Auge. Sie sind von derselben Gattung, dachte Tarzan. Das sowieso. Und sich so ähnlich wie Blumen einer Art. Sagen wir mal: Rosen. Aber dann ist Frau Jacoby eine Edelrose, und Leni Stegmüller ist am Zaun erblüht: als dritte von links auf einer Hecke. Britta tröstete ihre Mutter. Leni Stegmüller blickte aus entsetzten Augen umher. Was würde noch alles passieren? Kommissar Glockner hatte im Bahnhofsviertel eine Groß147
fahndung ausgelöst. Aber Kohauts Vorsprung war doch so beträchtlich, daß man nicht mit Erfolg rechnen konnte. Tarzan fühlte sich genervt. Er mochte es nun mal nicht,
wenn man ihm dankte und er auf diese Weise in den Mittelpunkt rückte. „Was ich getan habe, hätte jeder getan", erklärte er schon zum zweitenmal. „Entscheidend war, daß Gaby die richtige Idee hatte. Ihr fiel ein, wo Frau Jacoby jetzt sein könnte. " „Aber du hast mir das Leben gerettet", schluchzte Brittas Mutter. „Und dein Leben hast du riskiert. Er hat auf dich geschossen, dieser Mörder!" Das war in der Tat nicht sehr angenehm, dachte er, und rücksichtslos von dem Kerl. Aber was zählt die Gefahr, verglichen mit Gabys Besorgnis! Ganz bleich ist sie geworden, als sie davon hörte. An meinem Grab hätte sie sich wahrscheinlich die Augen ausgeweint. Das entschädigt für alles. „Es wäre kolossal nett, Herr Glockner", sagte er, „wenn Sie mal im Internat anriefen und dem EvD erklärten, weshalb ich wiedermal unpünktlich bin. Der Speckeisen wartet doch nur darauf, mir einen Rüffel zu verpassen. " „Das kläre ich", lächelte der Kommissar. „Dann können wir jetzt abzittern", sagte Tarzan zu Gaby. Denn natürlich durfte sie den Heimweg nur in seiner Begleitung antreten. Für Leni Stegmüllers Sicherheit sollte in verstärktem Maße gesorgt werden. Deshalb hatte Heinzelmann die Frau hergebracht. In ihrer Wohnung konnte sie nicht bleiben. Der Kommissar hatte vorgeschlagen, sie in sogenannte Schutzhaft zu nehmen. Damit war sie einverstanden. Tarzan und Gaby verabschiedeten sich. Frau Jacoby konnte nicht anders: Immer noch schluchzend, fiel sie ihm um den Hals. Sie reichte ihm nur bis zur Schulter, wo seine Jacke ganz tränennaß wurde, während er unter einer Woge von Dankesworten fast erstickte. 148
Er stand steif wie ein Pfahl und machte ein unglückliches Gesicht. Über ihren Kopf hinweg sah er Glockner an. Der blinzelte ihm zu, und Tarzan blinzelte zurück. Man verstand sich eben — unter Männern. Als er dann - endlich - mit Gaby draußen war und die Treppe hinunter wollte, faßte er seine Freundin am Arm und zog sie eilig nach rechts hinter die Ecke. „Was ist denn?" „Pst!" „Ach so", hauchte sie. Schon eilte Herr Jacoby an ihnen vorbei — zu Glockners Büro. „Noch einer, der mir gedankt hätte", flüsterte er. „Aber davon habe ich genug für die nächsten fünf Jahre. " Als sie am Wachlokal vorbei liefen, wickelte der Uniformierte gerade ein Butterbrot aus. Offenbar rechnete er mit einer anstrengenden Nacht. „Jetzt können wir uns Zeit lassen", meinte Tarzan. „Ich bin ja entschuldigt. " Sie bummelten, sahen sich Schaufenster an und beobachteten lebende Kreuzottern, die eine Apotheke in Terrarien (Terrarium = Behälter für Kriechtiere) ausgestellt hatte. Gaby wollte genau wissen, was er empfunden hatte, als Kohauts Pistolenkugel an ihm vorbei pfiff. Sie redeten über Frau Jacoby, Leni Stegmüller und Kohaut. Solange sich der auf freiem Fuß befand, bestand Gefahr für seine ehemalige Freundin. Wie lange konnte das dauern? „Für mich wäre es schrecklich, wenn ich mich in Schutzhaft begeben müßte", meinte Gaby. „Dazu kommt es niemals. Wer sollte einem so entzückend e n . . . ä h . . . ich meine, wer sollte einem Mädchen wie dir etwas antun? Außerdem bin ich noch da. Ich würde nicht von deiner Seite weichen. Nur über meine Leiche käme ein Verbrecher an dich ran. " 149
Sie blieb stehen, zupfte an ihrem Mützchen und sah ihn
aus blanken Augen an. „So würdest du mich verteidigen?" „Das weißt du doch. " Angelegentlich beschäftigte er sich mit dem Reißverschluß seiner Jacke, zog ihn auf und zu und prüfte das genau, obwohl der Zipp wie geölt funktionierte.
„Finde ich tierisch nett", sagte Gaby. Dann gingen sie weiter. Als sie sich dem Ziel näherten, reckte Tarzan den Kopf. „Da steht wer bei euch im Hauseingang. " „Doch nicht etwa Kohaut?" „Der nicht. Aber Isolde Pönig. Tatsächlich. Und ganz ohne ihren Berni. " Näherkommend hörten sie das Geschnüffel. Offenbar hatte Isolde nah am Wasser gebaut und heulte, wann und wo man sie traf. „ I c h . . . bin eben erst hergekommen", sagte sie, „und hatte noch keinen Mut, bei dir zu klingeln, Gaby. Ein Glück, daß ihr kommt. Ich hätte nicht gewußt, was ich deinen Eltern sagen soll, Gaby. " „Was ist denn kaputt?" forschte Tarzan. „Berni ist nicht zurückgekommen", schluchzte sie. „Hm. Das kommt mir bekannt vor", meinte er herzlos. „Habt ihr euch wieder gestritten?" „Nein! Diesmal kein bißchen. Überhaupt — so einfach liegt die Sache nicht. Ich glaube, ich muß erstmal beichten, was Sache ist. Zu euch habe ich Vertrauen. " Sie sah aus wie beim ersten Mal: vergammelt und strähnig. Aber das zarte Gesicht erinnerte an ein hilfloses Kind, das sich in fremder Großstadt verirrt hat. Gaby hatte ihren Freund mit einem Blick gerügt. Der verbot Spott und mahnte: Du wirst dir gefälligst ihre Sorgen anhören! Wir müssen uns auch um gesellschaftliche Randgruppen kümmern - und Trebegänger gehören dazu. 150
„Schieß los!" forderte Tarzan das Mädchen auf. Aber Gaby schlug vor, erstmal hinauf zu gehen, wo es gemütlicher sei. „Mein Papi ist nicht da. Noch im Dienst. Und meiner Mami, Isi, habe ich von euch erzählt. Brauchst also keine Hemmungen zu haben. " Zögernd willigte Isi ein und benahm sich dann scheu wie
ein Reh, das Verwundungen kennt. Frau Glockner blickte zwar ein bißchen erschreckt, als ihr die verheulte Gammeltrine vorgestellt wurde, stimmte aber in punkto (bezüglich) Hilfsbereitschaft ganz mit ihrer Tochter überein. Oskar beschnüffelte Isi, als hätte er ein Stück Pansen vor sich und wedelte freundlich. Sie streichelte ihn und war echt begeistert. Tarzan vermerkte ihre Tierliebe wohlwollend. Sie gingen in Gabys Zimmer. Frau Glockner kündigte einen kleinen Imbiß an: Spanferkel nämlich. Für Isi war das, vermutlich seit Wochen, die erste warme Mahlzeit. Sie bewunderte Gabys Zimmer, mit dem sich nachweislich das ADLERNEST nicht messen konnte. Gaby lebte in einer gekonnten Harmonie aus Pop, Romantik und Gemütlichkeit. Tarzan und Klößchen lebten in Kargheit, Enge und zweckmäßiger Ordnung — was in Internaten die Richtschnur zu sein scheint. „Dein Vater ist noch im Dienst", sagte Isi. „Was macht er denn?"
„Er ist Kommissar bei der Kripo", antwortete Gaby. Gleich springt sie aus dem Fenster! dachte Tarzan. Und zweifellos: Der Schreck fuhr Isi wie die Windsbraut in ein schlaffes Segel. Entsetzt riß das Mädchen die Augen auf.
„ P o . . . P o . . . lizei", stammelte sie. „Was ist daran ungewöhnlich?"
„ I c h . . . i c h . . . wußte nicht, d a ß . . . " „Mach dir nicht in die Jeans", sagte er. „Daß Berni das Rad 151
geklaut hat, war uns gleich klar. Daß du einen Nerz mit dir rumschleppst, haben wir gesehen. Aber haben wir euch angezeigt?" „ O h . . . ", flüsterte sie. „Oh, wenn esm nur das wäre. " Ahnte ich doch, dachte er, daß noch was kommt. Mit diesem Verdruß-Pärchen schreitet Unheil einher — würde Kloß152
chen sagen. Hahah! Was, um Himmels willen, haben die angestellt? Mit der Antwort mußte er sich gedulden. Frau Glockner brachte für jeden einen Teller: mit köstli-
chem Spanferkel und ebensolchen Beilagen. Sie stellte auch Tee bereit. Jeder hatte seinen Teller auf dem Schoß. Gaby saß in ihrem roten Sessel, Tarzan neben Oskars Körbchen auf dem Teppich — im Schneidersitz. Isi fühlte sich wohl auf dem großen
Ledersack, einem modernen Sitzmöbel, angefüllt mit irgendwelchem Schaumstoff. Jedenfalls ließ er sich verformen — und paßte sich jedem Hinterteil an. Sie aßen. Oskar setzte sich neben Tarzan und bettelte. Tarzan konnte nicht hart bleiben. Der Vierbeiner erhielt große Stücke vom Braten. „Das ist erzieherisch falsch", sagte Gaby. „Ich weiß. Aber ein guter Pädagoge werde ich nie. " „Unsere K m . . . Ich meine, wenn du später mal Kinder haben solltest, mußt du dich aber mehr bemühen. " „Die Erziehung überlasse ich dann g a n z . . . meiner Frau. " Gaby nickte, war offenbar einverstanden und wandte sich Isi zu. „Was ist mit Berni?" Isi schluchzte über dem Krautsalat. „Bestimmt verachtet ihr uns jetzt. " „Erzähl endlich, was Sache ist!" sagte Tarzan. „ W i r . . . das heißt, j a . . . ich auch. Ich bin mitschuldig. Denn ich weiß davon. U n d . . . habe es gebilligt. Berni i s t . . . Er bricht ein. Davon bestreiten wir unseren Lebensunterhalt. Er klaut nicht viel. Nur, was wir so brauchen. Aber er klaut. Und diesmal, glaube ich, hat man ihn erwischt. " Tarzan nickte. „Sowas ähnliches habe ich vermutet. Aber nun dreh nicht durch, Isi! Den Kopf wird 's nicht kosten. " 153
„Ich meine das anders", schluchzte sie. „Ich meine nicht, daß die Polizei Berni erwischt hat. Sondern ich glaube, man hat ihn umgebracht. " Tarzan ließ sein Besteck sinken. „Wie bitte?" Gaby stellte ihren Teller beiseite. „Berni wollte in ein bestimmtes Haus einbrechen", erzählte Isolde. „Es wird von drei Männern bewohnt. Aber sie sind nur gelegentlich dort. Berni hoffte, Geld zu finden. Letzte Nacht ist er losgezogen. Er wollte noch vor Tagesanbruch zurück sein. Aber er kam nicht. Wir campieren zur Zeit in einer Schrebergartenlaube. Ich habe gewartet und gewartet, Stunde um Stunde. Als er nicht zurückkam, dachte ich natürlich, er säße hinter Schloß und Riegel. Ich bin dann zu einer Telefonzelle und habe bei der Polizei angerufen — sogar im Präsidium. Ich habe behauptet, ich wäre die Schwester von einem gewissen Bernhard Maas, der hier in der Penner-Szene lebe. Ob über ihn was bekannt wäre, denn ich könnte ihn nicht auffinden. Natürlich hätte man mir Auskunft gegeben, wenn er als Einbrecher ertappt worden wäre. Nicht wahr?" Sie sah Gaby an. Gaby nickte. „Aber man kennt ihn nicht?" „Nein. Nichts. Keiner wußte was. Deshalb, glaube ich, muß Berni noch in dem Haus sein. Und es gibt nur eine Erklärung: Die Männer haben ihn überrascht und umgebracht. " Leider vermutet sie richtig, dachte Tarzan. Verdammt! „Ich habe Vertrauen zu euch", fuhr Isi fort. „Sonst hätte ich das nicht erzählt. Daß dein Vater Kriminalbeamter ist, Gaby, ahnte ich ja nicht. Aber bitte, bitte, bitte sagt ihm nichts. Vielleicht klärt sich alles ganz harmlos auf. Die Hoffnung besteht doch noch, nicht wahr? Aber wenn sich die Polizei jetzt einschaltet, sind Berni und ich sofort verratzt (verloren). Dann werfe ich mich vor einen Zug. Das schwöre ich. " Tarzan verzog keine Miene. Was er dachte, war ihm zum Glück nicht ins Gesicht geschrieben. 154
Gaby sagte: „Mein Papi ist kein Unmensch, sondern das Gegenteil. Zu ihm kannst du mindestens soviel Vertrauen haben wie zu uns. Aber nun mal Tacheles (offen reden)\ Was stellst du dir vor?" „Ich dachte", Isi sah Tarzan an, „du würdest mir helfen. Und dort, bei dem Haus, meme ich, vielleicht mal nachsehen. " Tarzan nickte. „Du weißt die Adresse?" „Die weiß ich. " „In Ordnung. Ich mach's. " „Auf ihn", sagte Gaby zu dem Mädchen, „kannst du dich verlassen wie auf niemanden sonst. Er hat vorhin einer Frau das Leben gerettet, indem er sie vor ihrem Mörder bewahrte. Aber das erzähle ich nachher. Tarzan wird nach Berni forschen. Daß im Verlauf dessen vielleicht mein Papi eingeschaltet werden muß, damit solltest du rechnen. Und noch was! Es kommt nicht in Frage, daß du bei diesem Wetter in der Schrebergartenlaube übernachtest. Wir holen deine Sachen. Heute nacht schläfst du bei mir auf der Luftmatratze. Morgen sehen wir weiter. Meine Mami fährt uns zu der Laube. Wir laden euren Kram ein und hinterlassen einen Zettel für Berni. Man kann ja nie wissen. Du, Oskar, kommst natürlich mit", fügte sie hinzu. „Dort draußen ist es einsam und unheimlich. Da brauchen wir einen Wachhund. " „Allerdings", sagte Tarzan zu Isi, „kann ich nicht sofort loslegen. Ich bin nämlich Internatsschüler, und die liegen rechtzeitig im Bett. Das bedeutet: Ich muß erst nochmal heim und so tun, als wenn ich an der Matratze horche. Nach zehn Uhr entwische ich durchs Fenster per Seil. Dann kümmere ich mich um Bernis Verbleib. " „Nimm doch Klößchen und Karl mit", sagte Gaby, „dann stehen drei gegen drei. " „Das sowieso", nickte er. „Drei! Hm! Ist irre und völlig meschugge, manoli, plemplem. Aber mir geht's nicht aus der Hirnmasse. Auch die Ganoven waren mal drei. Jetzt sind es
155
freilich nur noch zwo, denn der schöne Wiener ist eingebuchtet. Aber das ja erst seit Samstagabend. " Er wandte sich an Isi. „Du weißt nicht zufällig, wie die drei Hausherren heißen?" „Ich glaube, das weiß auch Berni nicht. Er hat sie zwar gesehen, aber am Haus war kein Namensschild. " „Wie sehen sie aus?" „Hat er nicht gesagt. " „Naja. Wäre auch zu schön gewesen. Ist sowieso, wie ich schon kundtat, manoli, meschugge, plemplem. Soviel Glück hat unsereins nicht. Und nehmt eine Taschenlampe mit, wenn ihr zu der Laube fahrt. Im Schrebergartenviertel ist es jetzt duster wie in einem Hühnerpopo. "
156
12. Oskar entdeckt den Ganoven Ihm blieb keine Wahl. Im Bahnhofsviertel konnte er nicht bleiben. Hier wimmelte es jetzt von Polizei. Daß sie die anrüchigen Hotels überprüfte, war nur eine Frage der Zeit. Kohaut wußte das. Er türmte — nur Minuten nachdem sein Anschlag auf Leni Stegmüller mißglückt war. Dieser verdammte Bengel! O ja! Er kannte ihn. Er entsann sich genau. Freitagabend vor dem Geldinstitut hatte der ihn beglotzt. So ein saudämlicher Zufall, daß der ausgerechnet jetzt hinterrücks anschlich! Oder war dieser Bengel überall? Kohaut hatte kein Dach überm Kopf und keine Adresse, an die er sich wenden konnte. Wohl oder übel schlich er durch die Dunkelheit zu den Schrebergärten zurück. Ihm grauste vor einer weiteren Nacht in Kälte und Abgeschiedenheit. Er haßte die Laube. An einem Nachmittag im August mochte es ja bei sonnigem Wetter ganz nett sein, dort zu hocken, sein Bier zu trinken und zuzusehen, wie die Petersilie wuchs, die Gurken grünten und die Kürbisse Speck ansetzten. Aber im Eisnebel dieser Nächte... brrrrrhhhhh.... Mit äußerster Vorsicht schlich er an der orangefarbenen Laube vorbei. War das Pärchen noch da? Nichts rührte sich. Kein Laut unterbrach die Friedhofsstelle. Mit Licht — sei 's Zündholz, Taschenlampe oder heller Kopf - hantierten die sowieso nicht. Nein, sie schienen nicht mehr da zu sein. Hatten wohl was Besseres gefunden. Wieder schlüpfte er in seine himmelblaue Laube. Er setzte die Tasche ab. Die Tür, die er aufgebrochen hatte, schloß nicht mehr richtig. Durch den Spalt pfiff eisiger Wind — eisiger noch als in den Nächten zuvor. Zähneknirschend setzte er sich auf einen der beiden Stühle. Schauder überliefen ihn. Im nächsten Moment mußte er niesen, dann nochmal. Diese Mattigkeit in den 157
Knochen? Verdammt! Das fehlte noch, daß ihm das Unglück jetzt eine Grippe bescherte. Fühlte sich der Kopf bereits heiß an? Prüfend legte er eine Hand vor die Stirn. Fieber! dachte er.
Und die Vorstellung entsetzte ihn, als hätte es geheißen: Tod durch Erschießen.
Er durfte hier nicht bleiben. Eine Grippe in dieser Umgebung würde das Ende bedeuten. Aber wohin? Hotels schieden aus.
Ich muß in ein Haus eindringen, dachte er. Mit meiner Waffe mache ich mir die Bewohner gefügig. Es muß jemand sein, der sowieso wehrlos ist — und nicht vermißt wird,
wenn er 'ne Weile im Haus bleibt;, 'ne alte Rentnerin - das wäre ideal. Oder wenigstens ein Weiberhaushalt, wo die Puppen kuschen, wenn ich ihnen drohe. Ist ja nicht jede wie Leni, das Aas. Ja, so werde ich 's machen. In eine warme Bude, wo ich anständig bekocht werde, wo ich meine Geisel einschließen kann, wenn ich pennen will, w o . . . Aber wo, verdammt, ist das? Ich kann nicht rumgehen und an den Eingängen klingeln!
„Noch ein Stück geradeaus", sagte Isi, „dann den Sandweg rechts rein. Es ist eine orangefarbene Laube. Aber das sieht man ja nicht bei dieser Finsternis. " Der BMW hatte das Schrebergartenviertel erreicht. Frau
Glockner saß am Lenkrad. Sie war damit einverstanden, daß Isi bei Gaby übernachtete. Jetzt kamen die drei her, um das Gepäck zu holen. Gaby saß vorn, angegurtet selbstverständlich. Oskar teilte
sich mit Isi die Rücksitze. Er war aufgeregt. Hechelnd sah er durch die Scheiben hinaus. Daß er abends mitdurfte, kam selten vor. Um so interessanter war es. Was die widerrechtliche Benutzung der Laube betraf,
hatte sich Frau Glockner noch nicht geäußert. Sie fragte auch 158
nicht nach Bernhard Maas, genannt Berni, denn unter vier Augen hatte Gaby angedeutet, daß der in Schwierigkeiten stecke, aber Tarzan und seine Freunde ihm helfen würden. Helfen! Das war jetzt das Nächstliegende. Was das Vagabundenpärchen ausgefressen hatte, würde man später sehen. Ist ja schaurig hier draußen! dachte Gaby. Keine Menschenseele weit und breit. Nur kahle Gärten, Dunkelheit und Kälte. Und hier haben die beiden campiert. Armselig! Und zum Fürchten! Gib es zu, Gabriele Glockner! Allein hättest du Angst. Für nichts in der Welt würdest du hier eine Nacht verbringen - es sei d e n n . . . Ja, natürlich, wenn Tarzan dabei w ä r e . . . Die Scheinwerfer strichen über geteerte Zäune und die Bretterwände der Lauben. „Dort!" rief Isi. „Die!" Frau Glockner hielt, löschte die Scheinwerfer und schaltete den Motor aus. Die plötzliche Stille vermittelte das Gefühl, sie wären auf einem anderen Planeten. Gaby nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. „Darfst ja raus", sagte sie — und meinte ihren Vierbeiner. „Aber wehe, du rennst weg. "
Kohauts Kopf glühte. Innerhalb kurzer Zeit war das Fieber gestiegen. In der Enge der Laube glaubte er zu ersticken. Erst als er draußen im Garten stand, fühlte er sich besser. Der Wind kühlte ihm die Stirn. Er starrte in die Dunkelheit und spürte, wie sich seine Gedanken verwirrten. Ich muß weg von hier! dachte er. In eine normale Behausung! Heute nacht noch. In diesem Moment kam der Wagen. Kohaut schenkte ihm wenig Beachtung, glaubte er doch, das Auto fahre vorbei. Aber es hielt. Motor und Scheinwerfer wurden ausgeschaltet. Dann öffnete sich die Tür, und ein Hund sprang heraus. 159
160
Bellend raste er auf ihn zu, ein kleiner Köter mit zum Teil weißen Fell. Was für eine Rasse es war, erkannte der Ganove nicht; es hätte ihn auch nicht interessiert. Er mochte Hunde so wenig wie andere Tiere. Die Pforte stand offen. Und der verdammte Köter schien eine gute Nase zu haben. Jedenfalls schoß er heran, bellte noch lauter und umkreiste ihn mit komischen Sprüngen. Kohaut trat nach ihm. Aber Oskar wich aus. „Oskar!" rief eine Mädchenstimme. Gaby war ausgestiegen. „Komm sofort her!" Aber Oskar gehorchte nicht. „Was er nur hat?" sagte Gaby. Sie lief zur Pforte, betrat den Schrebergarten und näherte sich. Sie glaubte, Oskar verbelle eine Katze, die sich aufs Dach der Laube gerettet hatte. Aber dann gewahrte sie die Gestalt - und erschrak. Da stand jemand, rührte sich nicht, schien festgewachsen. Ein Mann. Gaby merkte kaum, was sie tat, als sie die Taschenlampe anknipste und auf ihn richtete. Abwehrend riß der Mann eine Hand vors Gesicht. „Verdammt!" fluchte er. „Mach die Lampe aus!" „Entschuldigen Sie!" Gaby senkte den Strahl zu Boden. „Ich wollte Sie nicht blenden. Mein Hund ist nicht gefährlich. Er meldet nur, daß da jemand ist. Das gehört zu seinen Pflichten. " „Aha!" Sie hatte sein Gesicht nicht richtig gesehen, nur erkannt, daß es kein Penner war, jedenfalls trug er einen ordentlichen Mantel. „Gaby!" Frau Glockner rief. Sie hörte, daß sich ihr Töchterchen mit jemandem unterhielt, und war ausgestiegen. Isi blieb noch im Wagen. Sie hatte plötzlich Angst. Sie glaubte, der Eigentümer der Laube sei gekommen und hätte den Schaden entdeckt. 162
„Komme schon, Mami!" rief Gaby. Sie leinte Oskar an, sagte: „Wiedersehen!" und zog ihn zur Pforte. Kohaut erwiderte nichts. Aber ein Gedanke durchzuckte ihn. Eine Frau, zwei Mädchen und ein harmloser Köter! dachte er. Bißchen viel, um drauf aufzupassen. Aber, Junge, ist das nicht genau das, was du suchst? Hilflose Personen, die du in Schach halten kannst! Kein Mann dabei. Und selbst wenn einer zu Hause hockt — der kriegt eins auf die Rübe, und für heute nacht sitze ich warm. Er rannte in die Laube, schnappte seine Tasche, schob die Pistole in die rechte Manteltasche und hastete dann durch den Garten zur Straße, wo der Wagen stand. Frau Glockner war beunruhigt. Ihr gefiel nicht, daß sich hier jemand herumtrieb. Sie zögerte, mit den Mädchen zur Laube zu gehen, um das Gepäck zu holen. Dann wurde sie für einen Moment abgelenkt, denn Gaby stopfte Oskar in den Fond. Aber der Vierbeiner hatte die Freiheit nur kurz geschmeckt, wollte noch nicht verzichten und sträubte sich. Endlich saß er neben Isi. „Steig ein!" sagte Frau Glockner zu ihrem Töchterchen. „Wir fahren zurück. Das Gepäck können wir auch morgen früh holen. Wer weiß, wer der Kerl ist. " Gaby machte große Augen, sagte aber nichts, glitt auf den Beifahrersitz und schloß die Tür. Frau Glockner stieg ein. Gewohnheitsmäßig hatte sie den Zündschlüssel abgezogen. Noch bevor sie ihn ins Schloß stecken konnte, wurde die Tür aufgerissen. „Langsam, meine Schöne!" Isi schrie auf. Oskar kläffte. Gaby erstarrte vor Schreck. Frau Glockner wagte keine Bewegung. Die Mündung der Pistole berührte ihre Schläfe. Aufdringlicher Rasierwasserduft strömte in den Wagen. Der Mann hatte sich hereingebeugt. Gaby sah das olivbraune Gesicht. Zwar kannte sie nur Kohauts Fahndungsfoto, denn gesehen 163
hatte sie ihn während der dramatischen Begegnung im Parkhaus nicht. Aber sie erkannte ihn sofort. Und sein Rasierwasserduft beseitigte jeden Zweifel. Mit einem verspäteten Schreckensschrei schloß sie sich Isi an. Verblüffung breitete sich über Kohauts Gesicht. „Nanu! Da ist ja die Süße vom Hartgeld-Verein. Das nenne ich Fügung. " Er schüttelte die Tasche, die er in der Linken hielt. „Euren Schatz schleppe ich noch mit mir rum. Los, nimm deinen Köter nach vorn!" Isi half, indem sie Oskar über die Lehne reichte, wobei er strampelte und den Mädchen über die Gesichter leckte. Aber seine Zärtlichkeit fand keinen Widerhall. Kohaut stieg hinten ein, setzte sich neben Isi und behielt die Pistole in der Hand. Die Türen waren geschlossen. Die Dunkelheit im Wagen schien den Schreck zu verstärken. Auch Frau Glockner wußte längst, um wen es sich handelte. Kohauts Worte verrieten das. Isi hatte keine Ahnung. Aber ihr genügte, was sie sah: einen bewaffneten Ganoven. Sie zitterte. Seine Pistole berührte Margot Glockners zarten Nacken. „Warum ist dein Alter nicht mitgekommen? Sitzt er zu Hause vorm Fernseher?" „Mein Mann hat Dienst", sagte sie ruhig, obwohl ihr Herz an die Rippen hämmerte. „Dienst? Was macht er?" „Er ist bei der Bundesbahn. Er ist Zugführer. " „Na, da kommt er viel rum. Aber immer auf derselben Strecke, was? Wann kreuzt er zu Hause auf?" „Morgen abend. " Die Mädchen begriffen. Der Ganove sollte sich sicher fühlen. Mit keinem Mucks störten sie den Schwindel. Oskar knurrte wieder, spürte er doch, daß dieser Fahrgast nicht 164
willkommen war. Doch zu wirksamen Verteidigungsmaßnahmen reichte sein, Oskars, Mut nicht. Er war zwar der Liebling der Familie, aber als Cocker Spaniel kein Schutzoder Wachhund. „Macht genau, was ich sage", befahl Kohaut. „Dann geschieht euch nichts. Aber wehe, ihr pariert nicht! Wir fahren jetzt zu euch. Ihr wohnt in der Stadt?" „Im Altstadtviertel", sagte Frau Glockner.
„Haus oder Wohnung?" „Wir haben eine Etagenwohnung über unserem Lebensmittelgeschäft. Es ist ein Mehrfamilienhaus. " „Auch gut. Ich werde mich für kurze Zeit häuslich bei euch niederlassen. Bis mein Grippeanfall vorbei ist. Kapiert? Keiner von euch wird die Wohnung verlassen oder ohne mein Beisein telefonieren. Ich will was Anständiges futtern, 'ne warme Bude, ein Mittel gegen die Grippe und absoluten Gehorsam. Ist das klar!" Er erwartete keine Antwort, sondern stieß Frau Glockner
mit der Pistole an. „Ab geht die Post! Los!"
Als es ganz still geworden war im Haupthaus des Internats, kroch Tarzan aus dem Bett. Er trug Straßenkleidung und zog nur noch die knöchelhohen Turnschuhe an, während sich Klößchen gähnend und grunzend aus den Federn wälzte. Er rumorte, stieß sich das Schienbein, jammerte gedämpft und robbte schließlich auf dem Boden herum. „Was ist los?" Tarzan war fertig. „Herrgott! Ich finde meine Schuhe nicht. Die mit den dikken Specksohlen. Auf denen bin ich besonders leise. " „Nimm andere. Wir müssen los. " „Na gut, dann nehme ich die hier. Nee, das sind Skistiefel. Damit... " „Verdammt! Dann mach Licht! Aber nur ganz kurz. " 165
Klößchen drückte auf den Schalter. Die Helligkeit blendete für einen Moment.
Tarzans dicker Freund trug eine blaue Steppjacke, in der er noch runder erschien, Jeans und auf dem Kopf eine Woll-
mütze mit Bommel. Seine Füße steckten in stabilen Schuhen mit dicker Specksohle.
„Ach, nee", lächelte er verlegen. „Ich hab' sie ja schon an. War ich doch tatsächlich mit Schuhen im Bett. "
Tarzan zischte durch aufeinander gepreßte Zähne. Klößchen löschte das Licht. Der EvD war dagewesen, als beide angezogen im Bett lagen — zugemummelt bis zum Hals. Der EvD hatte Gute Nacht gewünscht, ohne in Klößchens Ecke zu schauen. Tarzan fragte sich, was er wohl gesagt hätte beim Anblick von Klößchens Pudelmütze, die man kaum mit einer Nachtmütze verwechseln konnte. Außerdem trug Klößchen, die Schlafmütze, sowas nicht. „Hoffentlich findest du die Strickleiter, Willi!" „Klar. Die liegt schon unterm Kopfkissen. Vorbereitung ist alles. Und darin bin ich Meister. " Er zerrte sie hervor. Lautlos verließen beide das ADLERNEST. Sie schlichen durch den Flur bis zu jenem Fenster, das sich als nächtlicher Fluchtweg bewährt hatte. Tarzan pflegte hier sein Nylonseil an einen Haken in der Mauer zu hängen, um hinunterzuturnen und — nach der Rückkehr — wieder hinauf. Für einen Supersportier wie ihn war das leicht. Notfalls hätte er es mit einer Hand geschafft, aber Klößchen nicht mal mit dreien. Also besorgte er — um bei nächtlichen Ausflügen dabei zu sein — eine Strickleiter, die auch einem Nicht-Kletterer Abund Aufstieg ermöglicht. Tarzan öffnete das Flurfenster, hakte die Strickleiter fest, ließ sie hinabgleiten, stieg hinaus auf den Sims und half Klößchen beim Überwinden der Fensterbank. 166
Während Klößchen hinunterstieg, zog Tarzan das Fenster zu. Ein Stück Pappe, in den Rahmen geklemmt, verhinderte, daß es sich bei einem Windstoß öffnete. Klößchen hatte sicheren Boden erreicht, ohne die Hauswand nennenswert zu beschädigen. Tarzan landete neben ihm. Die Strickleiter hing im dunklen Winkel zwischen zwei Mauern. Niemand würde sie sehen. Die Jungen liefen zum Tor. Ihre Räder waren außerhalb des Internatsgeländes hinter Büschen versteckt. Dann radelten sie durch die stockfinstere Nacht über die Zubringerstraße zur Stadt. Keifte Menschenseele begegnete ihnen. Der Nebel war dick wie Brei. Dennoch wehte eisiger Wind, was aber Klößchen nur wenig Linderung verschaffte. Er schwitzte gewaltig. Aber er hielt das Tempo mit. Nachher würde er sich für die Anstrengung belohnen. Mit Schokolade, natürlich. Zwei Tafeln steckten in seiner Jackentasche. Karl, der Computer, wartete an der Ecke, wo sie sich verabredet hatten. Er war wetterfest angezogen, und die Brillengläser blitzten unternehmungslustig. Er wußte, worum es ging. Tarzan hatte ihn telefonisch verständigt; und daß Karl seine Hilfe nicht versagte, war selbstverständlich. „Glaubst du, daß diesem Berni wirklich was passiert ist?" fragte er, während sie durch dunkle Straßen fuhren. „Isi befürchtet es. Sonst wäre ihr Berni zurückgekommen, sagt sie. Aber wir müssen ja nicht gleich das Schlimmste annehmen. Daß er einfach getürmt ist, weil ihm Isi zum Hals raushängt, wollen wir mal ausschließen. " „Ist sie denn so mies?" erkundigte sich Klößchen. „Nicht mies, nur verlottert. Und ein bißchen verdreht. Aber das ließe sich reparieren, meine ich. " „Hast du eine Vorstellung, was mit ihm ist?" bohrte Karl abermals. „Ich sehe das so: Was tut ein Normalmensch, der einen 167
Einbrecher ertappt und überwältigen kann? Er ruft die Polizei. Das ist nicht geschehen. Hat nun Berni jemandem was angetan und ist deshalb geflohen? Das Haus wird, laut Isi, gelegentlich von drei Männern bewohnt. Von dreien! Und Berni sah mir nicht aus, als ob er Bäume entwurzelt. Also haben die drei ihn geschnappt. Entweder er weilt nicht mehr unter den Lebenden - was ich nicht glauben will -, oder er
168
ist verletzt, oder er wurde gefangen genommen. Fest steht, daß die Polizei aus dem Spiel blieb. Und das heißt doch, Freunde, daß die drei Hausbewohner was zu verbergen haben. Stimmt 's, oder habe ich recht?" „Absolut logisch!" rief Karl. „Bin gespannt, was uns erwartet. "
169
13. Ein ungebetener Gast Die Adresse, die Isi genannt hatte, lag in einem Außenbezirk. Es war ein Wohnviertel ohne Geschäfte, die Straße wie leergefegt und nur von wenigen Laternen beleuchtet. Die Jungs fuhren über eine schadhafte Asphaltstrecke, die von Zäunen und Hecken gesäumt wurde, aber weder Gehnoch Radweg neben sich mitlaufen ließ. Vereinzelt parkten Fahrzeuge. Kein Mensch war zu sehen. Tarzan zählte die Grundstücknummern. „Das dort ist es", meinte er. Eine verwilderte Hecke verhinderte Einblick. Zwei Tannen ragten in den Nachthimmel. Vom Haus sah man nichts. Am Ende der Hecke stand ein Wagen. Aber man konnte nicht sicher sein, ob er zu diesem oder zu einem ändern Grundstück gehörte. Sie fuhren vorbei. Ein Stück offnen Geländes schloß sich an. Dort schwenkten sie ein, saßen ab und schoben ihre Tretmühlen zur Rückfront des Grundstücks, wo dieselbe Hecke abschirmte wie auch an der Seitenfront. Hier war es finster wie unter Tage. Aber das konnte nur recht sein. Sie legten die Drahtesel ins brüchige Gras; und Tarzan suchte die Hecke ab, bis er eine Lücke entdeckte — jedenfalls eine minder dichte Stelle, wo man sich durchquetschen konnte. Klößchen wäre beinahe steckengeblieben. Aber seine Freunde zerrten an ihm, und plötzlich stand auch er in einem total sich selbst überlassenen Garten, wo Büsche und Sträucher wild um sich wuchsen, als hätten sie von Landschaftsgestaltung noch nie was gehört. Das Haus war nur wenige Meter entfernt. Hinter den Fenstern der Rückseite brannte Licht. Doch man hatte die Vorhänge geschlossen. Sie schlichen näher. Neben einem Fliederbusch verrottete eine Gartenbank. Eine große Blechgießkanne stand darauf. 170
Tarzan war schon vorbei, als Klößchen — der hinter ihm tappte — stolperte. Er stieß gegen die Gießkanne. Sie fiel von der Bank und landete auf einem größeren Stein. Blöööiiing... In der Stille der Nacht war diese Art Gong nicht zu überhören. Augenblicklich wurde im Haus eine Tür aufgestoßen. „Versteckt euch! Zurück!" zischelte Tarzan. Das mußte er nicht zweimal sagen. Karl und Klößchen hetzten zur Hecke. Tarzan warf sich unter den Drahtverhau eines breitnadeligen Latschengewächses — und das geschah keine Sekunde zu früh. Kaum hatte er die Beine angezogen, wurde die Hintertür des Hauses geöffnet. Zwei Gestalten stürmten heraus. Nur scherenschnittartig waren sie für ihn zu erkennen. Aber das genügte. Hätte er nicht schon gelegen, wäre er aus den Pantinen gekippt. Heiliges Kanonenrohr, die kannte er doch! Kurz und breit der eine — mit Bewegungen, als wären einem Vertiko (kleinem Schrank) Beine gewachsen. Der andere war ein plumper Hüne. Seine Stimme, die man nicht vergißt, röhrte: „Nimm die Seite, Gino! Ich suche dort. " Sie hielten Pistolen in den Händen. Das Licht, das aus der geöffneten Hintertür fiel, schimmerte auf brüniertem Metall. Die beiden wetzten los, waren offenbar höchst empfindlich, was Eindringlinge bzw. Einbrecher betraf. Vielleicht wegen Berni? Du kriegst die Motten! dachte Tarzan. Da wären wir ja wieder beisammen. War meine Idee also gar nicht so abwegig. Danke, Berni! Hat doch jede Sache ihr Gutes — sogar dein Einbruch. Ich hoffe, es gibt dich noch. Er glitt aus seinem Versteck, huschte zur Tür, nutzte den unbeobachteten Moment und war schon im Haus, während die beiden Ganoven schimpfend den Garten absuchten. 171
Eine Diele. Die Kellertür stand offen. Sie war massiv wie ein Burgtor, die Treppe erleuchtet. Bevor er hinunter stieg, warf er einen Blick in den plüschigen Wohnraum und die altmodische Küche. Aber dort war nichts von Bedeutung.
Er hatte einen flotten Puls und wußte, was ihm blühte, wenn sie ihn erwischten. Doch wem Abenteuer im Blut
steckt wie Leuko- und Erythro-zyten (weiße und rote Blutkörperchen), der pfeift auf Risiko und Gefahr. Ein Dutzend Stufen. Ein Kellergang. Zwei Türen rechts, zwei links. Die fünfte, vorn, stand offen.
Er blickte in einen Raum, der auf den ersten Blick wie eine kleine Hobby-Werkstatt aussah. Ein Gerät stand in der Ecke.
Technisch interessiert, wie er war, erkannte er sofort, daß es sich um ein Farbkopiergerät handelte. Auf einem Tisch stapelten sich Papierbögen und — Banknoten. Hunderter! Banknoten? Ihm blieb die Spucke weg. Das war kein Geld — obschon es so aussah. Blüten waren das. Falschgeld. Wie hatte Herr Glockner gesagt: Blüten, hergestellt nach einer ganz neuen Methode — nämlich mit einem Farbkopiergerät. Bankraub! Und jetzt das! Die kriegen wohl den Hals nicht voll, dachte Tarzan. Er horchte, ob die beiden zurückkämen. Aber die waren noch beim Geländespiel im nachtdunklen Garten. Er trat zurück und drückte auf die Klinke der ersten Tür links. Verschlossen. Aber der Schlüssel steckte. Als er die Tür öffnete, stöhnte jemand in der Dunkelheit vor ihm. Jetzt fiel der Lichtschein auf eine an die Wand gekauerte Gestalt. Berni hockte, nein, saß dort, angelehnt. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt. Stricke schnürten die Fußknöchel zusammen. Im Mund steckte ein Tuchfetzen als Knebel, und an der Stirn gedieh eine Beule von Hühnereigröße. Tarzan nahm ihm den Knebel ab. 172
„Erkennst du mich?" „Tarzan! Du? Mensch, w i e . . . " „Pst! Die Ganoven sind im Garten, kommen aber gleich zurück. " Tarzan hatte sein Taschenmesser gezückt und zersäbelte die Stricke.
173
„ I c h . . . i c h . . . bin h i e r . . . eingebrochen... ", stammelte Berni. „Das heißt, ich fand ein offnes Fenster und bin eingestiegen. Dachte, es wäre niemand da. Aber sie hatten mich gehört und lauerten. Dummerweise wollte ich systematisch vorgesehen — und das Haus von unten nach oben durchsuchen. Ich fing im Keller an. Dort entdeckte ich die Fälscher-Werkstatt — und saß in der Falle. Hier unten sind nämlich alle Fenster vergittert. Man kann nur über die Treppe raus. Und dort kamen sie mir entgegen. Ich habe eins vor die Hörner gekriegt und bin hier wieder aufgewacht. Später hörte ich dann, wie sie redeten und sich noch unschlüssig waren. Sollten sie mich kaltmachen oder nur so lange festhalten, bis sie mit ihrer Falschgeld-Herstellung fertig sind. Hab ich einen Schiß gehabt!" Tarzan schloß die Tür wieder ab. Berni taumelte. Auf Tarzan gestützt, schaffte er die Treppe. Im Garten näherte sich Stimmengemurmel. Die Ganoven kamen zurück. „Dort rein!" zischelte Tarzan. Es war ein Schlafzimmer. Kaum hatten sie die Tür geschlossen, betraten Cordone und Thiebel das Haus. „Ich wette, es war doch eine Katze", dröhnte Thiebels Stimme. „Unser lausiger Penner hat keinen Anhang. Das sagt er, und das ist glaubwürdig. Nach dem sucht keiner. Wir können weitermachen, Gino. " Gino knurrte Unverständliches. Sie stiegen die Kellertreppe hinunter. „Wir schließen sie ein", sagte Tarzan. „Die Kellertür ist massiv. Die kriegen sie so schnell nicht auf. Außerdem — wenn wir leise sind, merken die gar nicht, was läuft. Im Wohnzimmer habe ich ein Telefon gesehen. In zehn Minuten kann das Überfallkommando hier sein. Warte hier!" Er schlich in die Diele. Leise schloß er die Kellertür. Der Schlüssel steckte. Tarzan sperrte ab. Na, also! 174
Im Wohnraum griff er zum Telefon. Er wählte Kommissar Glockners Büro-Anschluß, und sein väterlicher Freund meldete sich. „Ich bin's", flüsterte Tarzan. „Ich muß leise sprechen, Herr Glockner. Hier läuft nämlich ein heißer Streifen. Es ist s o . . ."
Das Überfallkommando kam mit drei Fahrzeugen. Natürlich ohne Sirenengeheul. Die Beamten wurden von Tarzan, Karl und Klößchen empfangen. Berni hielt sich im Hintergrund. Ihn plagten Schuldgefühle. Kommissar Glockner betrachtete die drei und wußte nicht, ob er schimpfen oder sie mit Lob überschütten sollte. „Cordone und Thiebel sind noch im Keller", sagte Tarzan grinsend. „Aber Vorsicht! Beide haben Pistolen. " Doch davon machten die Verbrecher keinen Gebrauch. Vielmehr waren sie vor Schreck wie gelähmt, als die Kellertreppe hinab plötzlich eine Lautsprecherstimme dröhnte. „Achtung, hier spricht die Polizei. Das Haus ist besetzt. Cordone, Thiebel — werfen Sie Ihre Waffen weg und kommen Sie mit erhobenen Händen die Treppe herauf. Widerstand ist zwecklos. Sie haben eine Minute - dann räuchern wir Sie mit Tränengas aus. " Die Verbrecher brauchten keine Minute. Sie ergaben sich, kamen mit erhobenen Händen aus dem Keller und verstanden die Welt nicht mehr. Sie bemerkten die Jungs. Thiebel glotzte wie ein Mondkalb. Cordone schien zu ahnen, wem er das Ende seiner Ganoven-Laufbahn verdankte, und sparte nicht mit wütenden Blicken. Aber das kümmerte keinen. Das Haus wurde durchsucht. Die Beamten fanden die Bankraubbeute. Dieses und jenes wurde sichergestellt. Währenddessen erklärte Tarzan seinem väterlichen Freund, wie alles zusammenhing — besonders im Hinblick auf Berni und Isolde. 175
Berni wagte nicht, den Blick zu heben, so sehr schämte er sich. Aber Kommissar Glockner merkte bald, daß der Junge nicht übel war, es allerdings höchste Zeit für ihn wurde, von seinen Vagabunden-Gewohnheiten abzulassen. Hoch und heilig versprach Berni das. Und das waren keine leeren Worte. „Isolde Pönig ist, wie gesagt, jetzt bei Ihnen zu Hause, Herr Glockner, als Gast. " Tarzan grinste. „Aber sie wurde völlig hysterisch, als sie von Ihnen hörte. Sie hat Angst bis zur Halskrause. Könnten wir nicht — auf dem Rückweg zum Präsidium — mal rasch bei Ihnen vorbei schauen? Damit Isi schnallt, daß Sie kein Menschenfresser sind, und nicht aus dem Fenster springt oder vor einen Schnellzug. Wenn nur wir mit ihr reden, reicht das nicht aus. " „Also gut", nickte Glockner. „Aber nur für drei Minuten. " Der Wagen hielt vor Frau Glockners Lebensmittelgeschäft. Der Kommissar half den Jungs, die Drahtesel aus dem Kofferraum zu nehmen, wo sie nur mit Mühe Platz gefunden hatten. Sie traten ins Haus, stiegen die Treppe hinauf, und der Kommissar schloß die Wohnungstür auf. In der Diele brannte kein Licht. Oskar befand sich in Gabys Zimmer. Tarzan hörte ihn winseln. Klößchen hatte offenbar zum Abendessen zuviel Tee getrunken. Jedenfalls verschwand er gleich in der GästeToilette neben dem Eingang. Berni sah sich neugierig um. „Wir sind's", rief Glockner. Niemand antwortete. Aber das machte weder ihn noch die Jungs stutzig. Sie marschierten ins Wohnzimmer. Frau Glockner, Gaby und Isolde saßen auf der Couch — aufgereiht wie Hühner auf der Stange. Stummes Entsetzen stand auf den Gesichtern. 176
Tarzan kam als letzter herein. Er wandte sich um, weil er die Tür schließen wollte. Er glaubte zu träumen. „Keine Bewegung!" zischte Kohaut. Er stand im Winkel hinter der Tür. Sein Gesicht war verzerrt. Er sah krank aus. Aber das nahm ihm nichts von seiner Gefährlichkeit. Die Pistole in seiner Hand wies auf Glockner. Aber sein Blick war auf Tarzan gerichtet, als wollte er sagen: Was? Du schon wieder? Bist du denn überall, verdammter Bengel! „Margot!" sagte Glockner. „ D a s . . . ist doch nicht möglich! Wie k o m m t . . . der Kerl hierher?" „Maul halten!" schrie Kohaut. „Zurück! Los, los! Zur Couch!" Glockner, Karl, Berni und Tarzan wichen langsam zurück. Eine Toilettenspülung rauschte. Es klang wie irgendwo im Haus. Aber es war das Gäste-WC. Kohaut hatte sich aus seiner Ecke gelöst. Er stand jetzt mit dem Rücken zur Tür. In diesem Moment tauchte Klößchen hinter ihm auf - lautlos, denn er trug ja die Schuhe mit den Specksohlen. Er schien zu erstarren. Sein Mondgesicht wurde noch runder. Er hatte den Mund zur Begrüßung geöffnet und schloß ihn jetzt wie ein Karpfen, der einen Wurm erwischt hat. Dann tauchte er zur Seite und war verschwunden. „Was wollen Sie hier?" sagte Glockner. „Maul halten!" Panik überfiel Kohaut. Sein Blick flackerte. „Keiner rührt sich! Ich warne euch. " Und wieder war Klößchen da. Um Himmels willen! dachte Tarzan. Sein dicker Freund hielt eine Bodenvase in beiden Händen. Sie stand sonst neben der Garderobe, war einen halben Meter hoch, aus Keramik und sicherlich schwer. Klößchen lief rot an, als er sie über den Kopf stemmte. So fest er konnte, schlug er sie Kohaut aufs Hinterhaupt. 177
Die Vase zerbrach. Kohauts Gesicht schien einzustürzen. Er schielte plötzlich. Tarzan machte einen großen Schritt und trat ihm die Pistole aus der Hand. Sie flog in eine Ecke. „Frau Glockner!" rief Klößchen. „Ich brauche noch eine Vase. Haben wir noch eine?" Doch ein neuer Scherbensalat war nicht nötig. Kohauts Knie knickten ein. Dann lag er auf dem Gesicht und rührte sich nicht mehr. Klößchen setzte ihm einen Fuß zwischen die Schulterblätter und nahm Siegerpose ein. „Bravo!" sagte Tarzan. „Das war stark, Willi! Du hast uns alle gerettet. " Klößchen strahlte. Aber im nächsten Moment verging ihm das Lächeln. „Oh!" meinte er — und rannte zur Toilette. „Margot! Bevor ich überschnappe", sagte Glockner, „sag uns, wie — um Himmels willen — kommt dieser Ganove hierher?"
In Kohauts Reisetasche fand sich das geraubte Geld vom Bazar-Erlös — und die Ursache des ganzen Geschehens: der Lederbeutel mit den 37 — gefährlichen — Diamanten. Freilich: Als sie so vor den Glockners, Isi und den Jungs auf dem Tisch lagen, sahen sie ganz harmlos aus. „Deshalb also riskiert einer sein Leben und gefährdet das anderer", meinte Tarzan kopfschüttelnd. „Komisch. " „Aber hübsch!" Gaby legte sich den größten Stein auf den Ringfinger. Dort sah er prächtig aus, besaß sie doch entzükkende Hände. „So einen Diamanten wünsche ich mir zur Hochzeit. " „Da hat ja dein künftiger Mann noch viel Zeit zum Sparen", meinte Glockner schmunzelnd. Kohaut wurde — fast gleichzeitig mit Cordone und Thiebel 178
179
— ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert, wo Norbert Bonsen, der schöne Wiener, und Jochen Linkelpart, der ehemalige Bank-Prokurist, bereits saßen. Später, vor Gericht, wurden die Verbrecher zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Leni Stegmüller konnte sich wieder ohne Angst auf die
Straße wagen. Ihre Schutzhaft war nur von kurzer Dauer gewesen. Bankdirektor Jacoby belohnte die TKKG-Bande mit einer erheblichen Summe. Schließlich war es den Jungs zu verdanken, daß das geraubte Geld wieder zur Bank zurückkehrte. Tarzan legte seinen Anteil aufs Sparbuch. Er wußte, worauf er sparte. Vielleicht änderte Gaby ihren Sinn noch. Aber wenn sie auch in zehn Jahren unbedingt einen Diamanten haben wollte... Möglicherweise ist bis dahin der Großmogul wieder aufgetaucht, dachte er. Das sollte ich im Auge behalten. -ENDE-
180