Gefangen in Choquai
Version: v1.0
Eine erbarmungswürdige Gestalt kämpfte sich durch das Gebirge. Ihr unförmiger Körpe...
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Gefangen in Choquai
Version: v1.0
Eine erbarmungswürdige Gestalt kämpfte sich durch das Gebirge. Ihr unförmiger Körper war mit verdreckten Lumpen bedeckt, ihr Gang kaum mehr als ein unkontrolliertes Torkeln. Mit ihren über feinen Sinnen roch die Kreatur das saftige Grün um sie herum, und sie hörte das Rauschen des majestätischen Yangtze. Doch sie hatte keine Augen für die Schönheiten der Natur. Denn Wang Youwei war blind – und fast wahnsinnig vor Durst. Es war Tage her, dass er seinen letzten Führer getötet und gierig das Blut aus dessen Adern getrunken hatte. Doch Youwei beklagte sich nicht. Er war bereit, jedes Opfer zu bringen, um seine Mission zu erfüllen. Es schien ihm eine Ewig keit her zu sein, dass der Regent von Wuchang ihn auf eine Selbstmordmission an die Grenzen des Reiches geschickt hatte. Doch das Schicksal hatte es gut gemeint mit Youwei. Und jetzt war er auf dem Weg zurück nach Wuchang, um das Reich seines neuen Herrn zu vergrößern. Das Reich von Kuang-shi, dem obersten Herrscher der Vampire.
Kalifornien, Los Angeles County, irgendwo am Fuß der San Gabriel
Mountains
»Ich bring dich um, Blutsauger!«, schrie Gryf ap Llandrysgryf. Nicole Duval hörte den Silbermond-Druiden kaum. Verstört starr te sie auf den zum Altar umfunktionierten Tisch, auf dem eben noch Professor Zamorra gelegen hatte. Bevor er verschwunden war. Einfach so. Ins Nichts. Jetzt lag auf dem mit magischen Zeichen beschrifteten Seidentuch nur noch ein rot pulsierender Stein. Der Hong Shi! Zamorra hatte das magische Kleinod benutzt, um Nicoles Leben zu retten. Und dann hatten sich die Ereignisse überstürzt. Der aktivierte Hong Shi hatte Zamorras Geist verwirrt und zugleich Fu Long auf den Plan gerufen. Der chinesische Vampir hatte Nicole niedergeschlagen und den hilflosen Parapsychologen entführt.* »Beruhige dich, Gryf«, sagte eine ruhige Stimme, die erfüllt war von natürlicher Autorität. Sie gehörte Fu Long. Der Vampir hatte mit Zamorra gerade ein geheimnisvolles Ritual durchgeführt, als sich Nicole, Gryf und Chin-Li per zeitlosem Sprung mitten im Raum materialisiert hatten. Doch sie waren zu spät gekommen. Sie hatten das Ritual nicht mehr stoppen können. »Mich beruhigen? Du spinnst wohl! Wo ist Zamorra?«
Gryf hatte sich drohend vor dem Vampir aufgebaut. Fu Long
wirkte extrem zerknirscht, aber nicht im Geringsten verängstigt. »Die Antwort wird dir nicht gefallen, Gryf«, sagte er. »Rede schon!«, schrie Gryf. »Bevor ich dir jedes Wort einzeln aus deiner verdammten Kehle reiße!« *siehe PZ 798: »Die Rache der Tulis-Yon«
»Er ist in Choquai.« »Was?« Fu Longs Antwort riss Nicole aus ihrer Starre. »In der gol denen Stadt der Vampire? Du hast ihn Kuang-shi zum Fraß vorge worfen?« In seinem Zustand wäre Zamorra nicht mal in der Lage gewesen, sich gegen einen gewöhnlichen Straßenräuber zur Wehr zu setzen. Nicole wurde schlecht bei dem Gedanken, dass ihr Lebensgefährte in diesem Moment allein und hilflos durch das Reich eines chinesi schen Supervampirs irrte. Nur eiserne Disziplin hielt sie davon ab, Fu Long auf der Stelle zu töten. Sie brauchten ihn noch, wenn sie Zamorra retten wollten! »Es ist seine Bestimmung, Nicole Duval. Er muss dorthin, wo alles angefangen hat. Ich dachte lange, ich wäre der Träger des Hong Shi, von dem die Prophezeiung spricht. Aber ich habe mich geirrt. Er ist es. Nur Zamorra kann Kuang-shi besiegen.« »Da gibt es nur ein klitzekleines Problem, Blutsauger«, fauchte Gryf und deutete auf den rot pulsierenden Stein auf dem Altartisch. »Wenn ich mich nicht sehr irre, ist das da der Hong Shi. Wenn Za morra damit Kuang-shi in den Arsch treten soll, was zum Teufel macht er dann hier?« »Wenn ihr das Ritual nicht gestört hättet, wäre das alles nicht pas siert. Wenn Zamorra stirbt, hast du ihn auf dem Gewissen, Gryf ap Llandrysgryf, nicht ich. Ohne euer vorschnelles Eingreifen hätte er jetzt den Hong Shi und sein Amulett. Und er wüsste, wer er ist.« »Was soll das heißen, er wüsste, wer er ist?«, fragte Nicole und hob drohend den Blaster. »Ich musste Zamorras Gedächtnis blockieren. Der Hong Shi hatte seinen Geist verwirrt. Seine Persönlichkeit wurde überlagert von der Tsa Mo Ras. Also musste ich beide vorübergehend ausschalten.« Tsa Mo Ra war vor über zweitausend Jahren ein menschlicher
Zauberer am Hofe Kuang-shis gewesen, und einiges sprach dafür, dass Zamorra und Tsa Mo Ra ein und dieselbe Person waren. Die jüngsten Ereignisse schienen diese These zu bestätigen. »Im Moment des Übergangs sollte Zamorra sein Gedächtnis zu rück erlangen. Der Hong Shi entfesselt seinen zerstörerischen Ein fluss nur in dieser Welt. In Choquai hätte er ihm nichts mehr anha ben können. Doch dank eures Eingreifens konnte ich die Blockade nicht mehr aufheben.« »Lass mich das zusammenfassen«, sagte Gryf gefährlich ruhig. »Zamorra ist unbewaffnet und ohne jede Erinnerung an sein frühe res Leben im Reich dieses durchgeknallten Götterdämons?« »So sieht es aus. Obwohl ›durchgeknallt‹ vielleicht nicht ganz das treffende Wort ist …« »Okay«, sagte Gryf und zog beinahe beiläufig einen Eichenpflock aus seinem Gürtel. »Dafür werde ich dich töten, hier und jetzt.« Und dann stürzte er sich mit einem hasserfüllten Schrei auf den Vampir.
* Choquai, drei Wochen nach der Ankunft des Fremden Die Wärter kamen pünktlich auf die Minute. Der Gefangene hatte keine Uhr, aber sein Körper hatte die Regelmäßigkeit ihres Erschei nens längst als feste Zeiteinheit akzeptiert. Wie immer ahnte er ihr Kommen wenige Sekunden bevor er das Nahen ihrer schlurfenden Schritte und das Klappern der Schlüssel tatsächlich hörte. Der Gefangene wusste, was ihm bevorstand. Wochen waren ver gangen, seit ihn die Soldaten auf der Straße aufgelesen und inhaf
tiert hatten, und seitdem hatten sie ihn täglich gefoltert und verhört. Doch er wusste ja selbst nichts. Weder wer er war, noch wie er hier her gekommen war. Eines Tages hatte er die Augen geöffnet und sich hier wiedergefunden. In einer Stadt voller Vampire. Der Mann ohne Vergangenheit hatte diese Tatsache erstaunlich schnell als Normalität akzeptiert. Nur seine Mitgefangenen, die apa thisch mit ihm in der verschmutzten Zelle hockten, waren mensch lich, alle anderen, denen er in dieser seltsamen Stadt begegnet war, besaßen die typischen verlängerten Eckzähne. Der Gefangene lauschte auf die Schritte, die die Zelle fast erreicht hatten. Nur ein schmales vergittertes Fenster knapp unterhalb der Decke ließ etwas Tageslicht herein. Im Halbdunkel sah er die re gungslosen Gesichter seiner Mitgefangenen. Die glanzlosen Augen in ihren ausgemergelten Gesichtern sahen ihn stumpf an. Keiner von ihnen hatte die Hoffnung, je wieder das Licht der Freiheit zu sehen. Doch der Gefangene war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Er warf dem Mann zu seiner Rechten einen kurzen Blick zu. Chiu, so hatte er sich vorgestellt, war der Älteste der Gruppe und der Einzi ge, dessen Lebenswille offenbar noch nicht ganz gebrochen war. Im merhin hatte er vom ersten Tag an auf den neuen Gefangenen einge redet und versucht, sich ihm mitzuteilen. Natürlich hatte der nicht das Geringste verstanden. Die Sprache, die in dieser Stadt gesprochen wurde, war ihm völlig unbekannt. Aber immerhin hatte er hier und da ein paar Brocken aufge schnappt, die sich nach und nach wie die Teile eines Puzzles zu ei nem Ganzen zusammenfügten. Ja, dank einer geheimnisvollen Gabe schien er sich regelrecht in die fremde Sprache einzufühlen, von der schon bald fast jedes Wort verstand. Inzwischen wusste er auch, dass er sich in einer abtrünnigen chi
nesischen Provinz namens Choquai befand, deren Bewohner den allmächtigen Götterdämon Kuang-shi anbeteten. Die Menschen, die in diesem Vampirreich lebten, waren entweder schon hier geboren oder in den umliegenden Tälern von Sklavenjägern gefangen wor den. Sie dienten den Herren der Stadt als Sklaven oder als Nahrung. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür sprang knarrend auf. Die anderen Gefangenen zogen sich noch weiter ins Dunkel der Zelle zurück und senkten die Blicke. Sie wussten, dass die Wärter nicht wegen ihnen gekommen waren, aber jeder falsche Blick konnte tödlich sein. Nicht aufzufallen war der beste Weg, um noch für ein paar Tage weiter zu leben. Und sei es nur in diesem dreckigen, stin kenden Loch. Sie waren wie immer zu zweit. Die Vampirsoldaten trugen glän zende Lederharnische und golden schimmernde Brustpanzer, die mit dem stilisierten Abbild eines Wolfskopfes verziert waren. Der Größere der beiden packte den Gefangenen und riss ihn aus der Zelle. Der Mensch verlor das Gleichgewicht und knallte gegen die groben Steinquader der gegenüberliegenden Wand. Er sah die gierigen Blicke der Wärter, als heißes Blut seine Stirn hinunter lief. Aber sie hielten ihren Durst unter Kontrolle. Offenbar hatten sie strikten Befehl, ihn am Leben zu lassen – vorerst. Der Gefangene kannte den Weg fast auswendig. Die Prozedur war immer die gleiche. Sie brachten ihn in eine Art Verhörraum, wo ein ungehobelter Kerl – offenbar eine Art Offizier – ihm immer die glei chen Fragen stellte. Er wollte wissen, wer der Fremde war, woher er kam und ob ihn der Herrscher von Wuchang als Spion nach Cho quai geschickt hatte. Am Anfang hatte der Gefangene nicht einmal die Fragen verstan den. Und auch jetzt gab er mit keinem Wort zu erkennen, dass er ihre Sprache fast so gut beherrschte wie sie selbst.
Was hätte er ihnen auch sagen sollen? Was das für eine fremde Sprache war, in der er seine Qualen heraus schrie, wenn sie ihn fol terten? Oder warum er deutlich größer und hellhäutiger war als sei ne Mitgefangenen? Er wusste es selbst nicht. Aber ihm war klar, dass seine Peiniger das als Antwort nie akzeptieren würden. Und da gab es noch etwas, was seine Wärter zutiefst verstörte. Oft hing ihm die Haut nach dem Verhör in blutigen Fetzen vom Leib. Doch während selbst kräftigere Männer nicht selten an den Folgen der Folter starben, erholte sich der Gefangene immer verblüffend schnell. Der Fremde war ein Rätsel. Und so lange es nicht gelöst war, wür de er am Leben bleiben. Also schwieg der Gefangene beharrlich wei ter und wartete, bis sich eine Gelegenheit zur Flucht ergab. Denn der Gedanke an Flucht war das einzige, was ihn am Leben erhielt. Ihr Weg führte durch düstere, aus grob gehauenen Steinen gemau erte Gänge, die im krassen Gegensatz standen zur Pracht und zum offen zur Schau gestellten Reichtum, die der Gefangene in der Stadt gesehen hatte. Rußende Fackeln wiesen ihnen den Weg. Die Wärter trieben ihn an unzähligen weiteren Zellen vorbei, bis sie an die Tür kamen, die er inzwischen selbst in seinen Träumen nicht mehr ver gaß. Grinsend zog der größere der beiden Vampire sie auf und stieß den Gefangenen hinein. Der Raum war etwa zehn mal zehn Meter groß und wurde domi niert von einem schweren Holztisch. Hinter ihm saß wie immer der Offizier, der aus Vorfreude auf die bevorstehenden Quälereien grin send die Fangzähne bleckte. Doch er war nicht allein. Rechts und links von dem eher grob schlächtigen Offizier saßen zwei Wesen, die sich schon durch den feinen Stoff ihrer Kleidung als höherrangige Wesen zu erkennen ga ben.
Links saß eine wunderschöne Vampirfrau, die den Gefangenen neugierig ansah. Ihre vollen Lippen umspielte ein irritierend ironi sches Lächeln. Doch trotz ihrer Schönheit gönnte der Fremde der Vampirin nicht mehr als einen flüchtigen Blick. Völlig fasziniert starrte er die andere Kreatur an. Der Körper sah aus wie der eines normalen, gut gewachsenen Mannes. Doch auf den Schultern thron te der Kopf eines Pavians. In den Augen der grotesken Gestalt blitz te pure Arroganz. Mit einer erstaunlich wohlklingenden Stimme, die vor Hohn und Verachtung triefte, sagte die Kreatur: »Setz dich, Tsa Mo Ra!«
* Irgendwo am Fuß der San Gabriel Mountains Fassungslos sah Nicole zu, wie Gryf und Fu Long wie tollwütige Hunde aufeinander losgingen. »Sag deinem verfluchten untoten Leben auf Wiedersehen. Hier ist dein Weg zu Ende, Blutsauger«, schrie Gryf und stieß mit dem Pflock zu. Doch Fu Long wich der tödlichen Waffe mit einer ge schickten Drehung aus und rammte dem rasenden SilbermondDruiden sein rechtes Knie in die Magengrube. Schnell setzte er mit einem präzise platzierten Handkantenschlag auf Gryfs Nacken nach. Keuchend brach Gryf zusammen. Doch der Silbermond-Druide war noch lange nicht geschlagen. Er packte Fu Longs Beine und riss den Vampir zu Boden. Dann warf er sich auf seinen Gegner und wollte erneut zustoßen. »Wir müssen sie aufhalten, Chin-Li!«, rief Nicole.
Irritiert starrte die junge Chinesin Nicole an. »Warum? Er hat den Tod verdient.« »Ohne Fu Long gibt es keinen Weg mehr, Zamorra zurückzuho len.« Chin-Li nickte. In atemberaubender Geschwindigkeit wirbelte die Ex-Profikillerin durch den Raum und riss Gryf von seinem Opfer. Der Eichenpflock flog im hohen Bogen durch den Raum und landete irgendwo hinter dem Altartisch. »Was tust du da?«, fauchte der Silbermond-Druide und befreite sich per zeitlosem Sprung aus der eisernen Umklammerung. Er rema terialisierte sich fünf Meter weiter, doch da war Chin-Li schon wie der bei ihm und schickte ihren Liebhaber mit einem brachialen Kung-Fu-Tritt zu Boden. »Ich will dir nicht weh tun«, sagte sie. »Dann lass es doch einfach, verdammt!«, grummelte Gryf und ver schwand erneut, um gleich wieder neben dem Holzpflock aufzutau chen. Der Silbermond-Druide ergriff die Waffe, hechtete über den Altar – und prallte gegen Chin-Lis rechte Faust. Fu Long nutzte die Atempause, um wieder auf die Beine zu kom men, doch da war schon Nicole bei ihm und presste ihm den Ab strahlpol ihres Blasters an den Schädel. »Schön ruhig, sonst ist die Schonzeit gleich wieder vorbei. Und lass dir ja nicht einfallen, deine verdammte Untotenfamilie zu Hilfe zu holen.« Nicole wusste nicht genau, wo sie sich befanden, aber sie hatte nicht vergessen, dass Fu Long selbst nach der verheerenden Schlacht gegen die Tulis-Yon immer noch über eine ganze Armee von Vampiren gebot. »Der einzige Grund, warum meine Söhne und Töchter mir noch nicht zur Hilfe geeilt sind, ist, dass ich es ihnen telepathisch verbo ten habe«, sagte Fu Long so gelassen, als sei die Energiewaffe an sei
nem Schädel ein Plastikspielzeug für Kinder. »Und ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn du mir mit deinem Amulett nicht zu nahe kommen würdest. Es mag mich nicht besonders!« »Dann sind wir ja schon zu zweit!«, zischte Nicole. Trotzdem zog sie sich die Silberkette mit Merlins Stern über den Kopf und warf das magische Kleinod auf den Altartisch. Sie würde das Amulett im Notfall jederzeit rufen können. »Danke. Und jetzt sollten wir vielleicht in Ruhe bereden, wie wir Zamorra helfen können.« Vorsichtig senkte Nicole den Blaster. »In Ordnung. Reden wir!« Aus den Augenwinkeln sah die Dämonenjägerin, dass Gryf den Pflock immer noch in der Hand hielt. »Das gilt auch für dich, Gryf. Ich werde nicht zulassen, dass du Zamorras Leben durch deine kin dischen Rachegelüste aufs Spiel setzt.« Für einen Moment sah es so aus, als wolle der Silbermond-Druide wütend etwas erwidern. Doch dann schleuderte er den Holzpflock mit einem wütenden Aufschrei durch den Raum. »Sehr vernünftig«, sagte Fu Long ruhig, während er gedankenver loren seine Kleidung glattstrich. »Okay, beweise mir, dass es kein Fehler war, dich am Leben zu lassen«, forderte Nicole. »Wie kannst du Zamorra zurückholen?« »Gar nicht, Nicole. Zumindest nicht direkt«, erwiderte Fu Long und fügte schnell hinzu: »Aber es gibt trotzdem eine Möglichkeit, ihn zu retten.« »Und die wäre?« »Ich muss ihm folgen …« »Und dich dabei gleich vor uns in Sicherheit bringen. In einer Welt, die von Blutsaugern wie dir beherrscht wird. Tolle Idee!« »Glaube mir, Gryf, ich wäre überall lieber als in Choquai. Und
Kuang-shi wird mich in seinem Reich sicher nicht liebevoll aufneh men.« »Das ist der größte Mist, den ich je gehört habe …«, schäumte Gryf, doch Nicole unterbrach ihn. »Nein, warte! Ich gebe es nicht gern zu, aber Fu Long hat Recht.« »Wie bitte?« »Überleg doch mal: Wir wären in Choquai nur Fremdkörper. Aber wer würde in einer Welt voller Vampire weniger auffallen als ein Vampir? Ich fürchte, es ist unsere einzige Chance.« »Okay«, sagte Gryf zögerlich. »Aber wenn du Zamorra nicht zu rückholst, dann verfolge ich dich bis ans Ende der Welt. Und wenn ich dafür jeden einzelnen Blutsauger in Choquai persönlich pfählen muss!« »Und ich helfe dir«, fügte Chin-Li, die dem Gespräch bisher schweigend zugehört hatte, entschlossen hinzu. Fu Long lächelte schmal. »Wenn ich Zamorra nicht rette, bedeutet es genau das: das Ende der Welt. Habt ihr euch zufälligerweise mal draußen umgesehen, nachdem Zamorra den Hong Shi eingesetzt hat?« Die drei Dämonenjäger sahen sich verwirrt an. Sie waren von dem Lagerhaus in Orange County, wo sie Kuang-shi in die Falle gegan gen waren, direkt in Fu Longs Versteck gesprungen. Nicole und Gryf hatten mit ihren Para-Sinnen zwar deutlich die magischen Schock wellen gespürt, die vom Hong Shi ausgegangen waren, aber was sie abgesehen von Zamorras verwirrtem Geisteszustand bewirkt hatten, wussten sie nicht. »Was ist passiert?«, fragte Nicole leise. Fu Long erzählte es ihnen. Schweigend hörten die Dämonenjäger zu, als ihnen der Vampir berichtete, wie die Welt um sie herum im Chaos versank. Überall in Los Angeles waren prachtvolle chinesi
sche Bauten aufgetaucht, und Horden martialisch aussehender Vampirkrieger patrouillierten durch die Straßen. Noch waren die Veränderungen nicht permanent, einige Erscheinungen verschwan den sofort wieder, während an anderer Stelle neue hinzu kamen. Aber das Phänomen breitete sich immer weiter aus. »Die Wiederkehr von Choquai hat begonnen«, sagte Fu Long düs ter. »Die Realitäten vermischen sich – bis am Ende unsere Welt ganz von Kuang-shis Reich absorbiert ist.« »Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte Nicole. »Ich weiß es nicht. Kuang-shis Welt lebt von Träumen und Erinne rungen. Deshalb hat die Blockade von Zamorras Erinnerungen an Choquai den Prozess verlangsamt. Aber das verschafft uns nur eine Gnadenfrist. Wir müssen jetzt sofort handeln, sonst ist es zu spät.« »Okay«, sagte Nicole und heftete den Blaster an die Metallplatte ihres Gürtels. »Du gehst nach Choquai. Was können wir tun?«
* Choquai Tsa Mo Ra. Das war sein Name. Zumindest glaubte er das. Er hörte noch den Schrei – den Schrei einer Frau, die dieses eine Wort gerufen hatte. »Zamorra!« Sonst war da nur Schwärze. Und dann hatte er sich in diesem Albtraum wiedergefunden. Als die Vampirsoldaten ihn ohne Erinnerung in der Stadt aufgrif fen, hatte er gehofft, dieses eine Wort würde alles erklären. Doch das war ein Irrtum. Aber immerhin hatte er jetzt einen Namen: Zamorra, oder – wie
seine Wärter es aussprachen – Tsa Mo Ra. »Setz dich, Mensch!«, bellte der Paviankopf. Auch wenn Tsa Mo Ra seine Worte nicht verstanden hätte, wäre die Geste eindeutig gewesen, mit der die groteske Kreatur auf den Schemel vor dem Tisch wies. Zögernd setzte sich der Gefangene. Was hatten diese Wesen mit ihm vor? Offenbar waren sie zu dem Schluss gekommen, dass sie durch Folter allein nichts aus ihm her auskriegen würden. Doch was sie jetzt mit ihm vorhatten, mochte noch sehr viel schlimmer sein. Eine Weile lang geschah nichts, zumindest nichts, was sichtbar ge wesen wäre. Doch Tsa Mo Ra wusste, dass der Eindruck trog. Er ahnte mehr als dass er wirklich spürte, wie etwas nach seinen Ge danken griff, in ihn einzudringen versuchte. Er hatte schon bei den vorhergehenden Verhören das Gefühl gehabt, dass der Offizier nicht nur durch Worte etwas aus ihm herauszukriegen versuchte. Mögli cherweise waren diese Vampire Gedankenleser. Als er das erste Mal schwach die Präsenz eines anderen Geistes in sich wahrnahm, hatte er verzweifelt versucht, sich dagegen zu weh ren – und plötzlich hatte er gespürt, wie sein Geist eine Mauer er richtete, die ihn vor solchen Attacken schützte. Es war so, als habe er unbewusst den richtigen Schalter betätigt, der einen gut verborge nen Schutzmechanismus in Gang setzte. Der Offizier hatte ihn da mals vor Wut halb tot geprügelt, aber seitdem wusste Tsa Mo Ra, dass er diesen Wesen nicht ganz hilflos ausgeliefert war. Und auch die affenköpfige Kreatur schien sich an ihm die Zähne auszubeißen. »Es hat keinen Zweck«, erklärte die bizarre Gestalt nach einer Wei le. »Etwas blockiert seine Gedanken.« »Du gibst zu schnell auf, Wu Huan-Tiao. Es muss einen Weg ge ben, in seinen Geist einzudringen.«
»Bitte, hochverehrte Shao Yu. Wenn du meinst, dein Können sei größer als das meine, wird es mir eine Ehre sein, an deinem Tri umph teilzuhaben.« Erstaunt belauschte Tsa Mo Ra das im Ton größter Höflichkeit ausgetragene Streitgespräch. Offenbar waren die beiden fremden Wesen erbitterte Rivalen. Der Gefangene sah, wie es herausfordernd in den Augen der Vam pirfrau blitzte, als sie sich ihm wieder zuwandte. Minutenlang starr te sie ihn konzentriert an, bis sie schließlich ebenfalls frustriert auf gab. »Es ist, als habe er in seinem Geist eine mentale Sperre aufge baut.« »Das ist unmöglich«, sagte der Pavianköpfige namens Wu HuanTiao verächtlich. »Er ist nur ein Mensch.« »Ja, aber offenbar ein Mensch mit ganz besonderen Kräften. Ver giss nicht, dass er offenbar auch über besondere Heilkräfte verfügt. Vielleicht ist er ein Zauberer.« Das Lachen der pavianköpfigen Gestalt war laut und dröhnend. »Ein Zauberer? Menschliche Magie soll so stark sein, Vampirmagie aufzuhalten? Das glaubst du doch selbst nicht, rosengleiche Shao Yu.« »Nun, wenn es nicht so ist, dürfte es für dich wohl kein Problem sein, die Geheimnisse dieses Mannes zu entschlüsseln, weiser Wu Huan-Tiao.« Die Kreatur grunzte missmutig. »Vermutlich gibt es gar kein Ge heimnis. Dieser Tsa Mo Ra ist einfach ein Irrtum der Natur, eine Missgeburt. Ein Mensch mit ein oder zwei Fähigkeiten, die eigent lich nur Vampiren zustehen. Oder sein Kopf ist so leer, dass wir ein fach nichts darin finden können. Vielleicht sollte ich sein Gehirn auf schneiden, um sein Geheimnis zu ergründen.« »Das sollten wir Kuang-shi entscheiden lassen.«
»Ausgeschlossen. Wir können den Obersten Guan von Choquai nicht mit solchen Bagatellen belästigen. Das käme einem Frevel gleich.« Der Gefangene wurde hellhörig. Offenbar war dieser Kuang-shi keine abstrakte Gottheit, die von den unheimlichen Wesen dieser Stadt angebetet wurde, sondern ein höchst reales Wesen. Tsa Mo Ra wusste nicht, ob er die Begegnung mit diesem Vampirgott erhoffen oder fürchten sollte. Aber musste er nicht jede Chance, die sich ihm bot, ergreifen, und sei sie noch so winzig? »Willst du riskieren, dass der Mensch stirbt, ohne uns seine Ge heimnisse verraten zu haben? Geheimnisse, die für Choquai lebens wichtig sein könnten?« »Was soll das bringen, edle Shao Yu? Dieses Tier beherrscht noch nicht einmal unsere Sprache.« Ein Räuspern riss die beiden fremdartigen Wesen aus ihrer Kon versation. »Es wäre mir eine Ehre, Euren hochehrwürdigen und weisen Herrscher Kuang-shi kennen lernen zu dürfen«, sagte Tsa Mo Ra in holprigem, aber gut verständlichen Chinesisch.
* Irgendwo am Fuß der San Gabriel Mountains »Bist du sicher, dass dies der einzige Weg ist?« Jin Mei versuchte, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Aber das leichte Zittern in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Ich muss ihm folgen«, sagte Fu Long. Sanft strich er seiner Ge fährtin über die Wange. Die zärtliche Berührung versetzte ihm einen Stich! Vermutlich war dies der letzte intime Moment, den sie mitein
ander teilten. Sie wussten beide, dass Fu Long kaum eine Chance hatte, zurückzukehren. »Zamorra ist in Choquai ohne meine Hilfe verloren. Doch das ist gar nicht das Wichtigste. Jemand muss Kuang-shi aufhalten. Jemand, der den Hong Shi beherrscht.« Das magische Kleinod sah wieder aus wie ein ganz gewöhnlicher schwarzer Stein. Der Hong Shi lag auf dem Altar, der erneut für das Ritual vorbereitet war. Nur dass jetzt Fu Long auf dem Tisch liegen und Jin Mei die Zeremonie durchführen würde. Die Vampirin hatte sich als aufmerksame und kluge Schülerin erwiesen, aber Fu Long wusste nicht, ob die Zeit gereicht hatte. Er selbst hatte Jahre ge braucht, um das Ritual zu studieren. Dass die Grenzen zwischen den Welten brüchig geworden waren, erleichterte den Übergang nach Choquai. Allerdings gab es ein er hebliches Problem. Da das erste Ritual gestört worden war, wusste Fu Long nicht genau, wann Zamorra in Choquai angekommen war. Es war deshalb durchaus möglich, dass er selbst Jahre vor oder nach dem Parapsychologen in Kuang-shis Reich eintraf. Hoffentlich lebst du noch, wenn ich komme, alter Freund. »Bist du bereit?« Fu Long nickte. Er umarmte seine Gefährtin ein letztes Mal, dann legte er sich auf den mit einem roten Tuch bedeckten Schreibtisch. Die rote Seide war mit geheimnisvollen Schriftzeichen beschrieben, die entfernt an Chinesisch erinnerten. Nach einem genau vorgegebe nen Muster waren im Raum Kerzen verteilt und goldene Schalen, in denen magische Kräuter verbrannten. Der Vampir schloss die Augen und konzentrierte sich. Er hörte, wie Jin Mei die uralten Formeln murmelte, die er ihr beigebracht hatte, und dann spürte er, wie sich um ihn ein magisches Kraftfeld aufbaute. Im nächsten Augenblick sah Fu Long das grelle Licht der Sonne.
* Choquai »So, du willst also Kuang-shi sprechen?« Wu Huan-Tiao gluckste fast vor Vergnügen. »Mal sehen, was noch von dir übrig ist, wenn er mit dir fertig ist, Menschlein.« Der pavianköpfige Zauberer versetzte Tsa Mo Ra einen kräftigen Tritt, der ihn zu Boden schleuderte. Wortlos rappelte sich der Gefan gene wieder auf und durchschritt mit gesenktem Kopf die riesige Halle, während Wu Huan-Tiao und Shao Yu an der Tür zurückblie ben. Nachdem die beiden Zauberer die Überraschung verdaut hatten, dass er jedes ihrer Worte verstand, hatten sie ihn herbringen lassen. Die prachtvolle mehrstöckige Pagode, die alle anderen Gebäude der Stadt an Größe und Schönheit übertraf, war offenbar Kuang-shis Pa last. Betreten hatten sie das Gebäude durch zwei riesige Flügeltüren, die bis in den Himmel zu ragen schienen. Auf ihrem Weg waren sie nicht nur unzähligen Vampirsoldaten begegnet, sondern auch Kriegern einer anderen Rasse. Groß ge wachsenen, kahlköpfigen Männern und Frauen, deren Lederunifor men mit Wolfsfell verziert waren. Sie hatten keine spitzen Eckzähne, aber irgendetwas sagte Tsa Mo Ra, dass sie ebenfalls keine Menschen waren. Vielleicht lag das an dem lauernden, fast raubtierhaften Blick, mit dem sie ihn ansahen. Sie trugen lange dünne Stäbe aus Holz. Tsa Mo Ra ahnte, das diese so harmlos wirkenden Hölzer in den Händen dieser unheimlichen Krieger tödliche Waffen waren.
Am Eingang zum Thronsaal erwartete ihn der nächste Schock. Die Tür wurde von vier weiteren Kriegern mit Holzstäben bewacht – doch ihre Köpfe glichen denen von Wölfen. »Tulis-Yon«, hatte Shao Yu leise erklärt. »Sie sind Gestaltwandler.« Die Wolfskrieger hatten sie reglos passieren lassen, und jetzt be fanden sie sich mitten im Heiligtum von Choquai. Aus den Winkeln seiner zu Boden gerichteten Augen bemerkte der Gefangene, dass der Thronsaal fast leer war. An seinem Ende gab es eine Art Podest, auf dem der Thron des Herrschers von Choquai zu stehen schien. Doch wer oder was darauf saß, konnte Tsa Mo Ra nicht erkennen. »Was immer auch geschieht, Mensch, sieh nicht auf, bevor Kuang shi es dir erlaubt. Er würde dir dieses Sakrileg nie verzeihen«, hatte ihm Shao Yu ins Ohr geflüstert, bevor der pavianköpfige Zauberer ihn zu Boden gestoßen hatte. Obwohl es Tsa Mo Ra zutiefst widerstrebte, sich so kriecherisch zu verhalten, hielt er sich besser an Shao Yus Rat. Langsam ging er wei ter. Er spürte mit jedem weiteren Schritt, wie sich sein Magen immer mehr verkrampfte, nur mit Mühe unterdrückte er ein Würgen. Tsa Mo Ra ahnte, dass es seine Überlebenschancen nicht unbedingt ver besserte, wenn er sich vor den Füßen des Herrschers von Choquai übergab. Also bot er all seine Kräfte auf, um seinen rebellierenden Magen zur Ordnung zu rufen. Endlich hatte Tsa Mo Ra das Podest erreicht. Er sank auf die Knie und presste die Stirn gegen den hellen Mamorboden. »Du bist also der Mensch, der es geschafft hat, zwei der größten Zauberer meines Reiches in tiefste Verwirrung zu stürzen.« Die Stimme war seltsam dunkel, und sie klang fast amüsiert. »Das war nicht meine Absicht, großer Kuang-shi«, sagte Tsa Mo Ra. Er versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu klingen, doch es gelang ihm nicht ganz.
»Nein, das war es wohl nicht«, fuhr Kuang-shi fort. »Und doch würde dich Wu Huan-Tiao am liebsten auf der Stelle umbringen. Wu ist ein weiser und überaus mächtiger Mann, aber Duldsamkeit ist nicht gerade seine Stärke. Dagegen scheint die schöne Shao Yu durchaus ein gewisses – Interesse an dir zu haben.« Tsa Mo Ra hatte selbst bemerkt, dass die Vampirfrau ihm manch mal Blicke zuwarf, die verrieten, dass sie in ihm möglicherweise mehr sah als ein faszinierendes Rätsel. Und er konnte nicht leugnen, dass er dieses eigenartige Wesen ebenfalls sehr anziehend fand. »Kreaturen wie du kommen normalerweise nicht in mein Reich, Tsa Mo Ra. Und wenn doch, dann bestimmt nicht freiwillig. Aber ein Spion der benachbarten Reiche bist du sicher auch nicht. Mit dei ner Größe und deiner rosigen Haut wärst du für jemanden, dessen Aufgabe es ist, im Verborgenen zu agieren, viel zu auffällig. Also verrate mir, Mensch, wer bist du?« »Es tut mir Leid, Oberster Guan von Choquai. Ich weiß es selbst nicht. Ich erinnere mich an nichts, was vor dem Tag, an dem mich Eure Soldaten gefangen haben, passiert ist. An nichts außer meinem Namen.« »Tsa Mo Ra, ein seltsamer Name, fürwahr«, sagte Kuang-shi. Und dann spürte Tsa Mo Ra, wie etwas nach seinem Geist griff. Es war ähnlich wie vorher beim Verhör, nur sehr viel intensiver. Etwas schien sein Gehirn zu umklammern und bei der Suche nach einem Einfallstor fast zu zerquetschen. Dann, nach einer Ewigkeit, ließ der Druck nach. Als Kuang-shi wieder seine Stimme erhob, klang sie eher neugie rig als verärgert. »Du bist wirklich ein erstaunliches Wesen, Tsa Mo Ra. Selbst mir gelingt es nicht, die Geheimnisse deines Geistes zu er forschen. Dafür erkenne ich ein ungeheures magisches Potenzial in dir. Wärst du hierher gekommen, um meinem Volk zu schaden, wärst du vielleicht die größte Bedrohung, der sich Choquai je gegen
über gesehen hätte.« Tsa Mo Ra sah schweigend zu Boden. Er wusste, dass die nächsten Sekunden über sein Schicksal entscheiden würden. Und er ahnte, dass die Sache nicht gut für ihn aussah. Umso mehr erstaunten ihn die nächsten Worte des Götterdämons: »Aber ich erkenne keine Bös artigkeit in dir. Deine Aura ist die eines aufrechten Wesens, und mein Instinkt hat mich bisher noch nie getäuscht. Vielleicht bin ich zu großmütig, aber ich werde dir dein Leben schenken. Mehr noch: Ich lade dich ein, als Gast in meinem Reich zu leben, Tsa Mo Ra. Du bist anders als die Menschen, die uns als Sklaven oder als Nah rung dienen. Es wird auch für uns von Vorteil sein, von deinen Fä higkeiten zu profitieren.« Tsa Mo Ra neigte den Kopf noch tiefer. »Ich danke Euch, Kuang shi. Ich stehe tief in Eurer Schuld.« »Ja, das tust du. Und jetzt sieh mich an, Tsa Mo Ra!« Der Mensch hob den Kopf und sah zum ersten Mal das Wesen, das ihm gerade das Leben geschenkt hatte. Kuang-shis Körper war in eine schlichte Robe aus roter Seide gehüllt. Der Kopf war schma ler als der eines Menschen und ebenso wie die Hände mit weißem Fell bedeckt. Die gelblichen, spiralförmig gedrehten Fingernägel wa ren über einen Meter lang, und zwei Fangzähne ragten wie die eines Säbelzahntigers über die Unterlippe. Ein plötzlicher Fluchtimpuls erfüllte Tsa Mo Ra. Doch er wusste, dass sein gerade wieder gewonnenes Leben damit unrettbar verlo ren gewesen wäre. Außerdem schien von dieser unheimlichen Krea tur keine unmittelbare Gefahr auszugehen. Im Gegenteil, Kuang-shi lächelte ihn milde an. »Wu Huan-Tiao und Shao Yu sind zwei der größten Magier, die Choquai je hervorgebracht hat. Aber es kann nicht schaden, die Zahl meiner Zauberer zu vergrößern. Ich werde Shao Yu bitten, deine
Ausbildung zu übernehmen. Willkommen in meinem Reich, Tsa Mo Ra.«
* China, Yangtze-Gebiet, zehn Jahre nach der Ankunft des Fremden Mit einem entsetzten Schrei sprang Fu Long auf und starrte in die pralle Mittagssonne, die das schroffe Gebirge in ein gleißendes Licht tauchte. Für einen Moment glaubte der Vampir, dass es keinen schöneren Tod als diesen geben könne, bei dem es ihm noch einmal vergönnt war, die Sonne zu sehen. Doch wider Erwarten blieb der alles ver nichtende Schmerz aus. Sein Körper ging nicht in Flammen auf, um sich anschließend in ein Häufchen Staub zu verwandeln. Es gab nur eine Erklärung: Der Übergang hatte funktioniert. Er war in Choquai! Doch ihn umgaben nur steile, mit saftigem Grün bewachsene Ber ge. Von einer mächtigen Stadt oder auch nur einer kleinen Ansied lung war nicht das Geringste zu sehen. Offenbar dehnte sich Kuang shis Machtbereich weit über die Stadtmauern auf die ganze verlorene Provinz aus, wie der Beamte Wang Youwei Kuang-shis Reich in sei nen Aufzeichnungen genannt hatte. Hoffentlich bemerke ich rechtzeitig, wo Kuang-shis Machtbereich endet, sonst kann jeder Schritt bei Tageslicht mein letzter sein, dachte Fu Long. Nach Youweis Beschreibung befand sich die goldene Stadt der Vampire in einem Tal. Also machte sich Fu Long auf gut Glück an
den Abstieg. Obwohl er sich in Feindesgebiet bewegte, fühlte sich Fu Long fast beschwingt, als er zum ersten Mal seit fast 150 Jahren im warmen Licht der Mittagssonne badete. Beinahe hätte er vor lau ter Übermut eine alte chinesische Weise angestimmt. Und dann sah er das Glitzern. Zuerst wirkte es nur wie ein leichtes Flimmern der erhitzten Luft, doch dann gab es keinen Zweifel mehr: Vor ihm lag eine Stadt. Und ihre Dächer waren bedeckt mit Gold! Choquai musste noch mindestens drei Kilometer entfernt sein. Wie winzige Spielfiguren sahen die Männer, Frauen und Tiere aus, die sich vor der prächtigen Kulisse der Stadt bewegten. Eine offen bar schwer beladene Karawane zog auf einer staubigen Straße in Richtung Stadttor. Parallel dazu wand sich anmutig ein schmaler Fluss durch die fruchtbare Landschaft, offenbar ein Nebenarm des Yangtze. Umgeben wurde die Stadt von endlos wirkenden Reisund Baumwollfeldern, die bis zu den die Stadt von allen Seiten um schließenden Bergen reichten. Wider Willen spürte Fu Long, wie Bewunderung in ihm aufstieg. Wie friedlich diese Stadt wirkte, die für ihn immer der Inbegriff des absolut Bösen gewesen war. Hatte er wirklich das Recht, diese Welt zu zerstören, in der Wesen wie er ohne Angst vor Verfolgung mit einander leben konnten? Doch dann dachte er an die Welt, aus der er kam, und in der Cho quais Realität das Leben, wie er es kannte, komplett auszulöschen drohte, und seine Zweifel waren verflogen. Entschlossen setzte Fu Long seinen Weg fort. Beinahe hätte er die Leiche übersehen, die am Rande seines Weges in einer Felsspalte lag. Es war ein junger Mann, nicht älter als acht zehn, und jemand hatte ihm das Blut ausgesaugt und dann den Kopf abgerissen. Der Körper des Jungen war hager, fast ausgemergelt. Die Klei
dung bestand aus einer Jacke und einer Hose in einer undefinierba ren Farbe und wies große Löcher auf. Was hatte ein Mensch hier zu suchen? In unmittelbarer Nähe von Kuang-shis Bestien? Vielleicht war der Junge ein Sklave aus Choquai, der seinen Besit zern entkommen war, nur um kurz vor der ersehnten Freiheit doch noch von seinen Verfolgern erwischt zu werden. Oder er stammte aus der von Menschen bewohnten Region jenseits der Berge und hatte sich bei der Suche nach etwas Essbarem oder einer entlaufenen Ziege zu weit in die Nähe der Untoten gewagt. Es war müßig, dar über nachzudenken. Der Junge wurde davon nicht wieder lebendig. Und dann entdeckte Fu Long die Spuren. Sie stammten von einem Mann, der offenbar feste Schuhe getragen hatte und sehr schwer war. Fettleibigkeit war unter Chinesen eher selten. Die meisten Men schen auf dem Land arbeiteten hart und hatten gerade so viel zu Es sen, dass es zum Überleben reichte. Sofort schoss Fu Long ein Gedanke durch den Kopf. War es mög lich, dass … – aber nein, das konnte nicht sein. Doch dann sah der Vampir, dass die Fußspur direkt zu einem einsamen Baum führte. Offenbar war der fette Mörder geradewegs davor gerannt. Als ob er blind wäre … »Youwei«, flüsterte Fu Long fassungslos. Konnte es tatsächlich sein, dass er ausgerechnet auf die Spur des Beamten aus Wuchang gestoßen war, dessen Bericht sie einen Groß teil ihres Wissens über Choquai und den geheimnisvollen Hofzau berer Tsa Mo Ra verdankten?* Der Regent von Wuchang hatte Wang Youwei nach einer vorlauten Bemerkung auf eine Selbstmordmissi on an die Grenzen des Reiches geschickt. Am Oberlauf des Yangtze war Youwei auf die legendäre goldene Stadt der Vampire gestoßen *siehe PZ 724: »Vampirträume«
und gefangen genommen worden. Bei einem Fluchtversuch war der fast erblindete Beamte im Haus Tsa Mo Ras von einem Vampir an gegriffen und verwandelt worden. Was der Hintergrund der Attacke war, verriet das Manuskript nicht. Nach Vampirwerdung hatte Youwei jedoch Choquai verlas sen, um sich an seinem ehemaligen Herrn zu rächen. Dann brachen die Aufzeichnungen ab … Fu Long betrachtete die Leiche intensiver. Der Junge war höchs tens einen Tag tot. Wenn er sich beeilte, war es ihm vielleicht noch möglich, Youwei einzuholen. Entschlossen wandte der Vampir Cho quai den Rücken zu und setzte seinen Weg in entgegengesetzter Richtung fort.
* Los Angeles Die Downtown glich einer Geisterstadt. Die Straßen waren wie leer gefegt. Während die eine Hälfte der Bevölkerung verzweifelt aus der Stadt floh, folgte die andere der Anordnung des Präsidenten und wartete in ihren Wohnungen darauf, dass der Schrecken vor überging. Doch er würde nicht vorübergehen. Zumindest nicht durch die Panzer, die auf L.A. zurollten und die Hubschrauber, die in einiger Entfernung über der Stadt kreisten. Los Angeles stand unter Kriegsrecht, doch das würde Kuang-shi kaum aufhalten. Gryf war mit Nicole und Chin-Li direkt ins Stadtzentrum gesprun gen. Während Fu Long Zamorra nach Choquai folgte, mussten sie
dem einzigen Anhaltspunkt folgen, den sie hatten. Vorsichtig näherten sich die drei Dämonenjäger dem repräsentati ven Firmengebäude in der Hope Street, in dem Gryf und Chin-Li letzte Nacht vereint gegen die Tulis-Yon gekämpft hatten, das wolfs köpfige Kriegervolk Kuang-shis. Patrick Lau Enterprises stand in großen Lettern über dem Eingang. Patrick Lau war ein erfolgreicher chinesischstämmiger Unternehmer – und ein Tulis-Yon. Der Götter dämon hatte offenbar die ganze Firma übernommen, um sie für sei ne Zwecke einzusetzen. Dazu zählte unter anderem die Entführung von rund 250 Chine sen aus einem Dorf am Yangtze. Wozu Kuang-shi die Menschen brauchte und ob sie noch lebten, wussten die Dämonenjäger nicht. Das Lagerhaus in Orange County, auf das Chin-Li in Laus Compu terdateien gestoßen war, hatte sich als falsche Fährte herausgestellt. Offenbar hatte Kuang-shi die chinesische Leibwächterin und Ex-Kil lerin ohne ihr Wissen benutzt, um Zamorra und Nicole in eine Falle zu locken. In diesem Teil der Stadt war von der Vermischung der Realitäten, die bereits weite Teile von Los Angeles erfasst hatte, noch nichts zu sehen. »Sieht ruhig aus«, sagte Gryf, als sie sich vorsichtig dem in völliger Dunkelheit daliegenden Gebäude näherten. »Was meint ihr?« Der Silbermond-Druide sah zu Chin-Li, die die Firmenzentrale am besten kannte. Als Laus ehemalige Assistentin, Leibwächterin und Sicherheitschefin hatte sie gelernt, selbst auf scheinbar harmlose De tails zu achten. »Ich kann nichts erkennen«, sagte Chin-Li. »Aber sie sind be stimmt noch da.« »Vielleicht rechnen sie einfach nicht mit uns«, mutmaßte Gryf. »Sie werden glauben, dass wir mit Zamorra genug zu tun haben. Sie wis
sen ja nicht, dass er längst in Choquai ist.« Nicole schüttelte den Kopf. »Kuang-shi war uns bisher immer mindestens zwei Schritte voraus. So leicht wird er sich von uns be stimmt nicht überrumpeln lassen. Aber vielleicht haben sie diesen Stützpunkt einfach aufgegeben. Wer braucht in einem Vampirreich schon ein Import-Export-Unternehmen?« »Dann sollten wir einfach mal nachsehen«, sagte Gryf entschlos sen. »Anschnallen, Ladies, Onkel Gryf spendiert euch einen Frei flug.« Der Silbermond-Druide berührte die beiden Frauen an den Ar men, konzentrierte sich auf den zeitlosen Sprung und – nichts gesch ah. »Was …?« Irritiert versuchte es Gryf noch einmal. Mit dem glei chen Ergebnis. »Was ist los?«, fragte Nicole. »Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler«, zischte Gryf. Der blonde Vampirjäger schloss die Augen, konzentrierte sich erneut und griff mit seinen Druiden-Sinnen hinaus in die Nacht. Und dann spürte er es. Eine magische Barriere, die das Gebäude umgab und vor unge betenen Besuchern schützte. »Verdammt«, fluchte Gryf. »Nichts zu machen. Irgendein Bann verhindert, dass wir auf magische Weise in das Gebäude eindrin gen. Da hat uns jemand ausgetrickst.« »Und ich weiß auch wer«, sagte Nicole. »Wu Huan-Tiao.« Der pavianköpfige Magier war wie Tsa Mo Ra Hofzauberer in Choquai gewesen. Er war es, der die Aktion in Orange County gelei tet und Zamorra gezwungen hatte, den Hong Shi einzusetzen. Nach Gryfs erstem Eindringen in die Firmenzentrale hatte er offenbar Ge genmaßnahmen getroffen. »Dann müssen wir irgendwie anders ins Gebäude kommen«, sagte
Gryf. »Chin-Li, hast du eine Idee?« »Ich habe noch meinen Plastikausweis, aber der ist bestimmt in zwischen ungültig«, sagte Chin-Li. »Dann machen wir es auf die altmodische Weise«, sagte Nicole und zog den Blaster. »Schießen wir uns den Weg frei!« »Nein, warte«, meinte Chin-Li. »Das Gebäude ist sehr gut gesi chert. Ich weiß es, das Konzept stammt von mir. Wir würden nicht weit kommen und nur unnötig Blaster-Energie verbrauchen. Und die brauchen wir für die Tulis-Yon.« »Wo ist das Problem? Du hast in deinem famosen Sicherheitskon zept doch sicher irgendein Hintertürchen eingebaut, durch das wir jetzt schlüpfen können«, meinte Gryf. Die junge Chinesin sah den Silbermond-Druiden verstört an: »Na türlich nicht! Eine Sicherheitslücke könnte auch von jedem anderen entdeckt werden. Das Risiko wäre viel zu groß.« »Na toll. Dann können wir es also vergessen. Und jetzt?« Chin-Li verzog ihre Lippen zu einem leichten Lächeln. »Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte immer schon mal wissen, ob ich mich selbst austricksen kann.«
* Choquai, zwei Jahre nach der Ankunft des Fremden Unzählige Geräusche und Wohlgerüche erfüllten die Stadt. Die
Händler, die edle Gewürze, kostbare Geschmeide oder feinste Sei
denstoffe feilzubieten hatten, überboten sich in ihren Versuchen, lautstark und mit möglichst originellen Sprüchen die Aufmerksam keit der Passanten zu erheischen, die gemächlich vorbei schlender ten und die herrliche Mittagssonne genossen. In solchen Momenten vergaß Tsa Mo Ra, dass er eigentlich nicht hierher gehörte. Doch wo gehörte er schon hin? Tsa Mo Ra hatte es aufgegeben, nach einer Antwort zu suchen. Alle Versuche, die Blo ckade in seinem Gedächtnis zu durchbrechen, waren erfolglos ge blieben. Nur in den Nächten träumte er gelegentlich von einer anderen Welt, die vielleicht einmal die seine gewesen war. Immer wieder sah er dort eine wunderschöne Frau, in deren braunen Augen goldene Tüpfelchen funkelten. Aber er träumte auch von endlosen Kämpfen mit Legionen albtraumhafter Kreaturen, deren Zahl mit jedem Sieg nur noch zu wachsen schien. Wenn dies einmal sein Leben gewesen sein sollte, war er froh, ihm mit heiler Haut entkommen zu sein. Tsa Mo Ra verdrängte die düsteren Gedanken. Er spürte die wohltuende Kühle von Shao Yus Haut, die sich durch den dünnen Stoff ihres Gewandes an ihn schmiegte. Auf Kuang-shis Befehl hin hatte sich Yu seiner angenommen, um Tsa Mo Ra in die Geheimnisse der Zauberkunst einzuführen. Doch bald war aus dem Verhältnis der Meisterin zu ihrem Adepten mehr geworden, und inzwischen wa ren sie ganz offen ein Paar, dem der Oberste Guan selbst seinen Se gen gegeben hatte. Und da das so war, wagte es niemand in Choquai, etwas gegen diese ungewöhnliche Verbindung zu sagen. Natürlich hatte Tsa Mo Ra bemerkt, dass ihm die Vampire anfänglich mit Misstrauen oder sogar offener Verachtung begegnet waren. Doch das hatte sich längst geändert, denn Tsa Mo Ra hatte bewiesen, dass er nur zu ger ne bereit war, sein außergewöhnliches magisches Potenzial zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen.
Gerade kamen sie von den Baumwollfeldern außerhalb der Stadt zurück. Ein hartnäckiger Parasit, gegen den kein noch so bewährtes Hausmittel half, hatte die gesamte Ernte zu vernichten gedroht. Tsa Mo Ra und Shao Yu hatten eine Zaubertinktur erstellt, mit deren Hilfe das Problem innerhalb weniger Stunden gelöst sein würde. Für die beiden Magier war es kaum mehr als eine kleine Finger übung gewesen, aber den Bauern hatte es die Existenz gerettet. Mit solchen Hilfeleistungen hatte Tsa Mo Ra schnell das Herz der Be wohner von Choquai erobert, ganz im Gegensatz zu Wu Huan-Tiao, der aufgrund seiner unerträglichen Selbstsucht und Arroganz von den Vampiren zwar respektiert, aber nicht geliebt wurde. Nach Tsa Mo Ras unerwartetem Aufstieg herrschte zwischen dem Menschen und dem affenköpfigen Zauberer offene Feindschaft. »Sieh zu, dass du mir nie in die Quere kommst. Es wäre dein letzter Fehler, Menschenwurm«, hatte Wu gedroht, doch Tsa Mo Ra hatte ihm nur offen ins Gesicht gelacht. Seitdem gingen sich die beiden möglichst aus dem Weg. Doch dies war ein viel zu schöner Tag, um ihn mit Gedanken an Wu Huan-Tiao zu verschwenden. Yu hatte vorgeschlagen, den Wa gen vorauszuschicken und zu Fuß nach Hause zu laufen. Auf seinen Einwand, er müsse noch ein paar bedeutende magische Schriften studieren, hatte sie nur gelacht: »Du studierst doch Tag und Nacht. Für heute haben wir unser Tagewerk getan. Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit!« Sanft zog der Zauberer seine Gefährtin zu sich heran. Ihre spitzen Eckzähne spielten sanft mit seinen Lippen, als er sie küsste. Die Be rührung jagte kalte Schauer über seinen Rücken. »Wir hätten die Kutsche doch nicht wegschicken sollen. Ich kann es kaum erwarten, bis wir zu Hause sind«, flötete sie, als ein plötzlicher Tumult sie un terbrach. Irgendwo, ein paar Dutzend Meter von ihnen, krachte et was zu Boden, und dann ertönte lautes Geschrei.
»Die Gefangene, die Gefangene! Haltet sie!« Und dann sahen sie sie. Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, hatte sich irgendwie aus dem Käfigwagen eines Sklavenhändlers be freit, der in den umliegenden Tälern auf Jagd ging, um die Bestände aufzufüllen, die durch Überarbeitung, Krankheit und Treibjagden regelmäßig dezimiert wurden. Offenbar hatte einer der Handlanger des Sklavenhändlers nicht aufgepasst und dem Mädchen so die Flucht ermöglicht. Doch wo wollte es hin – in einer Stadt voller Vampire? »Wir müssen sie aufhalten«, sagte Shao Yu, und was Tsa Mo Ra in ihren Augen erblickte, erschreckte ihn zutiefst. Es war die reinste Blutgier. Das Mädchen hatte sie fast erreicht. Seit seiner Befreiung aus dem Kerker hatte Tsa Mo Ra jeden näheren Kontakt zu anderen Wesen seiner Art gemieden – und jetzt wusste er auch, warum. Er konnte unmöglich zulassen, dass dieses unschuldige Mädchen vor seinen Augen abgeschlachtet wurde. Aber konnte er sich wirklich offen ge gen die stellen, die ihm so großherzig ihre Gastfreundschaft angebo ten hatten? Fieberhaft überlegte Tsa Mo Ra, was er tun sollte. Der fette Skla venhändler schrie Zeter und Mordio, war aber offenbar nicht bereit, selbst einzugreifen. Stattdessen trat er nach seinem trotteligen Handlanger, der das Mädchen hatte entkommen lassen. Missmutig rannte der Gescholtene hinter der Sklavin her, doch die Todesangst schien dem Mädchen Flügel zu verleihen. Die Passanten griffen nicht ein. Lieber genossen sie das Schauspiel wie eine der öffentlichen Hinrichtungen, die Kuang-shi manchmal zu ihrem Vergnügen veranstaltete. Aber Shao Yu hatte das Jagdfieber gepackt. »Lass uns ein bisschen mit der Kleinen spielen. Ich treibe sie zu dir«, rief sie. Mit einem ge
waltigen Satz sprang sie an die gegenüberliegende Hauswand, stieß sich dort ab und landete fauchend hinter dem Mädchen. Sie packte die junge Frau an der grauen Kleidung, riss sie zu sich und bohrte ihr die Fänge tief in den Hals. Voller Panik schlug die Kleine um sich, und schließlich gelang es ihr, die Vampirfrau zu Boden zu schleudern. Wie von tausend Teufeln gehetzt rannte sie los – direkt auf Tsa Mo Ra zu. »Ja, Mädchen, lauf! Du wirst weit kommen, hier im Reich der Vampire«, rief Yu, und die Umstehenden fielen in ihr Gelächter ein. Niemand merkte, wie Tsa Mo Ra hinter seinem Rücken mit den Fingern geheimnisvolle Zeichen in die Luft schrieb, während er fast unhörbar einen Zauberspruch vor sich hin murmelte. Dann war das Mädchen da. Tsa Mo Ra sah ihren schreckgeweite ten Blick, als er vorsprang und mit beiden Händen den Kopf des Mädchens packte. »Ja, lass sie nicht entkommen! Ich bin noch durstig!«, rief Shao Yu. »Das Mädchen gehört mir!«, schrie der Sklavenhändler empört. »Wenn du von ihr trinken willst, musst du bezahlen.« In dem Tohuwabohu fiel es niemandem auf, dass sich durch Tsa Mo Ras Berührung etwas an dem Mädchen veränderte. »Hör zu«, flüsterte der Zauberer. »Du wirst für deine Jäger mindestens zwei Stunden unsichtbar sein. Das reicht, um in die Berge zu fliehen. Nut ze deine Chance!« Die Kleine sah den Zauberer fassungslos an. Dann krächzte sie »Danke!« »Viel Glück«, sagte Tsa Mo Ra. Dann warf er sich mit einem Auf schrei zur Seite, als habe ihn das Mädchen mit dem Knie an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen. »Nein!«, schrie Shao Yu, doch dann tauchte das Mädchen im Ge wühl unter – und war verschwunden. Die Vampirin hetzte dem
Mädchen hinterher, aber schließlich musste sie die Jagd abbrechen. Tsa Mo Ra konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken. Er hat te die Aura des Mädchens so verändert, dass sie nicht über die Ab messungen des eigenen Körpers hinausging. Und auch ihren spezi ellen Menschengeruch und ihren Herzschlag hatte er für die Außen welt magisch abgedämmt. Vampire hatten sehr feine Nasen und Ohren. Der Zauberer wusste, dass er einen Verrat begangen hatte, aber er konnte das Mädchen nicht einfach so sterben lassen. Wie leicht hätte er sich selbst in dieser Situation wiederfinden können, wenn die Dinge zwei Jahre zuvor nur ein wenig anders gelaufen wären. »Verdammt«, zischte Yu, als sie zu Tsa Mo Ra zurückkehrte. Frus triert wischte sie sich mit einem fein bestickten Taschentuch das Blut von den Lippen. »Wie konnte das passieren? Sie ist doch nur ein Mädchen!« »Aber ein verflucht gewitztes. Hat mich genau an der falschen Stelle getroffen«, sagte Tsa Mo Ra scheinbar zerknirscht. Er nahm seine Frau in den Arm und versuchte ein Lächeln, doch es gelang ihm nicht ganz.
* Los Angeles »Was macht sie da?«, fragte Gryf fassungslos. Ohne jeden Kommentar hatte sich Chin-Li in die Lotushaltung be geben und die Augen geschlossen. Seit über zehn Minuten hatte sie sich nicht mehr bewegt. Nur das regelmäßige Heben und Senken des Brustkorbs bewies, dass die junge Chinesin nicht zu Stein er
starrt war. »Ich meine, nichts gegen ein bisschen Meditation, aber jetzt ist vielleicht nicht gerade der ideale Zeitpunkt für etwas chinesische Traditionspflege.« »Sie tut nur das, was du auch ab und zu mal tun könnest«, sagte Nicole grinsend. »So, und das wäre?« »Sie geht in sich, anstatt sich blindlings in die Schlacht zu stürzen.« »Na toll, ich hätte Karten mitbringen sollen, dann hätten wir we nigstens was zu tun.« »Nicht nötig«, sagte Chin-Li und erhob sich mit einer fließenden Bewegung aus ihrer sitzenden Position. »Ich habe einen Weg gefun den! Und Nicole hat Recht – dir könnte ein bisschen Meditation auch nicht schaden.« Verblüfft starrte der Silbermond-Druide Chin-Li an, während sich Nicole zurückhalten musste, um nicht laut loszuprusten. »Das hast du gehört? Du warst doch total weggetreten …« »So laut wie du warst, dürfte selbst Kuang-shi alles mitbekommen haben.« »Okay, meine mandeläugige Miss Oberschlau, und was hat dir dein Oberstübchen so Geniales verraten?« Chin-Li sagte es ihm. Gryf starrte die Chinesin eine Weile wortlos an. Dann sagte er: »Du hast völlig den Verstand verloren.«
* »Es gibt keine andere Möglichkeit«, beharrte Chin-Li. »Das Gebäude
ist abgesichert wie eine Festung. Man brauchte eine ganze Armee, um da rein zu kommen. Der einzige Weg, der den Hauch einer Chance bietet, ist von oben.« »Das ist Wahnsinn«, sagte Gryf. »Wenn auch nur das Geringste schief geht, sind wir alle tot.« »Wenn wir nicht irgendwie in dieses verdammte Gebäude kom men, sind wir das bald sowieso«, schaltete sich Nicole ein. Die Dä monenjägerin hatte sich bisher noch nicht zu Chin-Lis Plan geäu ßert, sondern fieberhaft nach einer Alternative gesucht. Aber die Chinesin hatte Recht. So aberwitzig sich die Idee anhörte, es konnte klappen. Gryf zuckte resigniert mit den Schultern: »Okay, spielen wir also Superman und Batman. Aber beschwert euch nicht bei mir, wenn wir nachher zerschmettert auf irgendeinem Hausdach liegen.« »Wir brauchen Ausrüstung«, sagte Nicole. »Es gibt ein Sportkaufhaus hier ganz in der Nähe«, erinnerte sich Chin-Li. »Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß.« »Wozu der Aufwand?«, fragte Gryf. »Ich brauche von dir nur ein klares Gedankenbild, das ich telepathisch erfassen kann. Dann kön nen wir springen.« Eine Sekunde später standen sie vor einem mehrstöckigen Sport geschäft, dessen Eigenwerbung vollmundig versicherte, dass es nichts gäbe, was es dort nicht gäbe. Normalerweise hatte das Kauf haus bis weit in die Nacht geöffnet, doch jetzt war es genauso ver schlossen wie die umliegenden Geschäfte. Vermutlich hatten sich die Angestellten zu Hause mit ihren Familien verkrochen, oder sie versuchten verzweifelt, auf einem der verstopften Freeways die Stadt zu verlassen. Niemand hielt die Dämonenjäger auf, als sie mit Gryfs Hilfe ins In nere des Gebäudes sprangen und sich nach dem umsahen, was sie
für ihr waghalsiges Unternehmen benötigten. Eine halbe Stunde später standen sie wieder vor Patrick Lau Enter prises. Gryf und Nicole hatten sich leichte Sportfallschirme umge schnallt, an Chin-Lis Gürtel hing ein zusammengerolltes Nylonseil, an dessen einem Ende ein Bumerang befestigt war. »Bist du sicher, dass du das schaffst, Chin-Li?«, fragte Nicole be sorgt. Die Chinesin hatte sich selbst bei ihrem selbstmörderischen Plan den schwierigsten Part zugewiesen. Wenn sie versagte, waren die beiden anderen auch so gut wie tot. »Erinnerst du dich an das Peninsula Hotel?« Nicole nickte. Wie hätte sie ihre erste Begegnung mit Chin-Li ver gessen können? Die junge Asiatin hatte damals als Killerin der Neun Drachen versucht, Zamorra und Nicole zu töten.* Als die beiden Franzosen unerwartet heftigen Widerstand leisteten, war Chin-Li geflohen: mit einem Sprung aus dem zehnten Stock des altehrwürdi gen Peninsula Hotels, den ein normaler Mensch niemals überlebt hätte. »Okay, das war nicht schlecht damals. Jackie Chan wäre stolz auf dich«, grinste Nicole. »Jackie Chan ist ein Weichei«, sagte Chin-Li mit dem Brustton der Überzeugung und nickte Gryf zu. Sie war bereit! »Na gut, meine Damen, dann wollen wir mal. Stürzen wir uns ins Unglück!«, sagte Gryf resigniert und berührte die beiden Frauen am Arm. Nicole spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor – und dann fiel sie. Wu Huan-Tiao hatte das Gebäude magisch vor dem Eindringen per Teleportation geschützt. Aber der Zauber galt nur für das Ge *siehe PZ-Buch 6: »Drachentöter«
bäude selbst. Er wirkte nicht über ihm. Gryf hatte sich mit den Frauen 50 Meter über dem Firmengebäude materialisiert. Sofort ließ er Chin-Li los. Die Chinesin streckte die Arme vor, senkte den Oberkörper und glitt in eine stromlinienförmi ge Tauchhaltung, die ihren Sturz noch beschleunigte. Direkt unter ihr befand sich das Dach von Patrick Lau Enterprises. Und es wurde von Sekunde zu Sekunde größer.
* Choquai, vier Jahre nach der Ankunft des Fremden »Was ist los, Geliebter? Komm ins Bett!« Shao Yus Stimme besaß diese Mischung aus lasziver Forderung und Kleinmädchen-Koketterie, der ihr Gefährte sonst nie widerste hen konnte. Doch diesmal war es anders. Tsa Mo Ra stand am Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Vor ihm breitete sich das prächtige Pan orama der Vampirstadt aus, in der selbst um diese Zeit noch reges Treiben herrschte. Unzählige Nachtschwärmer, Liebespaare und Händler bevölkerten die Straße vor dem Haus, doch der Zauberer bemerkte sie kaum. Er hatte nur Augen für die von martialisch aussehenden Soldaten bewachten Käfigwagen, die durch die nächtliche Stadt gezogen wurden. In ihnen kauerten zerlumpte Gestalten jeglichen Alters, mit
Gesichtern, aus denen blankes Entsetzen sprach. Diese Wesen wuss ten, was ihnen bevorstand. Und sie wussten, dass sie nicht die ge ringste Chance hatten, den nächsten Tag zu überleben. »Was gibt es da draußen zu sehen, Geliebter?«, fragte Yu, obwohl Tsa Mo Ra ahnte, dass sie es bereits wusste. Mit ihren feinen Vam pirsinnen musste sie das Wimmern der Gefangenen und das heisere Brüllen der Wächter längst gehört haben. »Sie bringen die Sklaven in den Park«, sagte Tsa Mo Ra leise, ohne sich umzudrehen. »Natürlich tun sie das, Dummerchen. Morgen ist Jagdtag, hast du das vergessen?« Nein, das hatte er nicht. Wie hätte er die Jagden im südlichen Park vergessen können. Sie gehörten zu den größten Attraktionen, die Choquai seinen Bewohnern zu bieten hatte. Kuang-shi persönlich verließ seinen Palast, wenn er jeweils zu Beginn des Monats mindes tens ein Dutzend Sklaven opferte, die seine Untertanen nach Her zenslust im Park jagen und zerfleischen durften. »Es mag dir barbarisch erscheinen, Tsa Mo Ra«, hatte Kuang-shi gesagt. »Aber selbst eine so zivilisierte Gesellschaft wie die unsere funktioniert nicht ohne solche Rituale, die an die tierischen Instinkte in uns appellieren. Von Natur aus sind wir Jäger. Doch sieh uns an: Die meisten meiner Untertanen sind Händler, Handwerker, Künst ler und Bauern. Man muss sie ab und zu daran erinnern, wer wir wirklich sind.« Tsa Mo Ra hatte darauf nichts geantwortet, doch er war sicher, dass sein Herr gemerkt hatte, wie abstoßend er die Jagdtage trotz dieser philosophischen Unterfütterung weiterhin fand. Einmal hatte der Zauberer zugesehen, wie die Sklavenwärter die Überreste der Beute aus dem Park eingesammelt hatten, um sie vor den Toren der Stadt zu verscharren. Er hatte sich mitten auf der Straße übergeben
müssen und tagelang nichts mehr essen können. Shao Yu wusste nichts davon. Sie hätte es nicht verstanden. Gleichwohl konnte man den Vampiren ein gewisses Gefühl für Rücksichtnahme nicht absprechen. Obwohl die Jagdtage für ganz Choquai bedeutende Festtage waren, hatte niemand von Tsa Mo Ra verlangt, dort zu erscheinen oder gar an der Jagd teilzunehmen. Niemand nahm es ihm übel, wenn er es vorzog, den Tag in der Bi bliothek über seinen geliebten Büchern zu verbringen. »Hattest du jemals Mitleid mit einem dieser Wesen?«, fragte Tsa Mo Ra unvermittelt. »Mitleid?« Shao Yu lachte laut auf, so absurd erschien ihr diese Frage. »Wie kommst du denn darauf? Hat der Wolf Mitleid mit dem Lamm, das er verschlingt? Oder der Adler mit der Taube? Es sind doch nur – Menschen. Sie sind dazu da, um von uns gejagt zu wer den. Das ist ihr eigentlicher Lebenszweck.« Tsa Mo Ra drehte sich um und sah seine Gefährtin fest an. Sie kam ihm plötzlich unendlich fremd vor. »Ich bin auch ein Mensch.« »Das ist doch etwas ganz anderes!« »Ist es das?« »Natürlich, Dummerchen. Oder hätte eine von diesen armseligen Kreaturen es je zu einem der mächtigsten Zauberer von Choquai ge bracht? Du bist nicht wie sie!« »Was bin ich dann für euch, Yu? Ein besonders gelehriges Äff chen?« Shao Yu bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, und Tsa Mo Ra entging nicht der leise Zorn, der sich nun in ihre Stimme mischte. »Du bist der Mann, den ich liebe, und es ist mir egal, wer oder was du bist. Aber manchmal verstehe ich dich einfach nicht. Manchmal – weiß ich wirklich nicht, wer du eigentlich bist! Und das macht mir Angst.«
Wortlos wandte Tsa Mo Ra sich ab und starrte wieder aus dem Fenster. Draußen waren die Käfigwagen längst verschwunden. Höchstens zwölf Stunden blieben den Gefangenen noch, dann wür den sie in den Park getrieben – wo hunderte blutgieriger Vampire bereits auf sie warteten! Und er fragte sich, was der Mensch, der er einst gewesen war, denken würde, wenn er ihn hier sähe, als einer der angesehensten Männer eines Reiches, in dem Wesen wie er gejagt und getötet wur den.
* Los Angeles Chin-Li hörte das Pfeifen des Windes. Sie spürte, wie die Schwer kraft nach ihr griff und sie dem Boden entgegen riss. Und sie fühlte sich frei! Ein wildes Lachen entwich ihrer Kehle, als sie im freien Fall zu Bo den stürzte. Dann war der Moment des Rausches vorüber, und kalte Professionalität trat an seine Stelle. Das Dach des Firmengebäudes füllte schon fast ihr gesamtes Ge sichtsfeld aus. Direkt unter ihr befand sich eine prächtige Glaskup pel, und genau die war ihr Ziel. Patrick Lau war als Kind armer Einwanderer aufgewachsen, mit sechs Geschwistern hatte er sich ein winziges Zimmer teilen müs sen. Umso mehr hatte er als erfolgreicher Geschäftsmann Wert auf ein repräsentatives Auftreten gelegt. Er trug teure Anzüge, fuhr lu xuriöse Autos und hatte auch bei seiner Firmenzentrale nicht ge spart. Besonders stolz war er auf die verschwenderisch gestaltete
Eingangshalle, die sich durch alle zehn Stockwerke zog. Nutzloser Raum, der nur einem Zweck diente – zu zeigen, dass man ihn hatte. Um die Eingangshalle verliefen Galerien, die zu den Büroräumen in den jeweiligen Etagen führten. Gekrönt wurde dieses imposante Atrium von einer eleganten Glaskuppel. Chin-Li hatte die Stärke nie überprüft, aber sie wusste eins: Sie würde einem Blasterschuss nicht standhalten. Während sie über sich hörte, wie Nicole und Gryf ihre Fallschirme auslösten, zog Chin-Li die Laserwaffe, richtete sie auf die Kuppel und feuerte. Ein blassroter Strahl zerschnitt die Nacht. Den Bruchteil einer Sekunde lang schien das Glas dem Dauerfeuer Stand zu hal ten. Dann zersprang es mit einem lauten Knall in tausend Scherben, die in einem tödlichen Regen zu Boden prasselten. Keine Sekunde zu früh, denn Chin-Li hatte die Kuppel schon fast erreicht. Der erste Teil des Plans hatte funktioniert. Sie hatte einen Weg ins Gebäude gefunden – jetzt musste sie nur noch den Sturz überleben. Schnell stopfte die Chinesin den Blaster in den Hosenbund und riss das Seil vom Gürtel. In atemberaubender Geschwindigkeit ras ten die obersten Galerien an ihr vorbei. Dann schleuderte Chin-Li den Bumerang. Viel Zeit zum Zielen hatte sie nicht – und einen zweiten Versuch würde es nicht geben. Der Bumerang wickelte sich im sechsten Stock um eines der Me tallgeländer. Chin-Li spürte den Ruck, als das Seil ihren Fall stoppte. Während sie mit fast unverminderter Geschwindigkeit auf die Gale rien zu schwang, sah sie über sich, wie Nicole und Gryf an den Fall schirmen ins Gebäude schwebten. Und sie sah über ihnen das Blitzen gelber Raubtieraugen. Natürlich war ihr Eindringen nicht unbemerkt geblieben. Und Ni cole und Gryf waren praktisch wehrlos.
Chin-Li zog den Blaster und feuerte, als sich ein Tulis-Yon drei Etagen über ihr auf Nicole stürzte. Nicole hatte den Wolfsköpfigen auch bemerkt, aber sie hatte kein freies Schussfeld. Zu groß war die Gefahr, ihren eigenen oder Gryfs Fallschirm zu treffen. Ein blassroter Strahl zischte an der Französin vorbei und ließ den Angreifer mit einem dumpfen Knall in Flammen aufgehen. Schrei end stürzte der Tulis-Yon an Nicole vorbei in die Tiefe. Doch er war nicht allein. Ungefähr ein Dutzend Tulis-Yon versam melten sich im Foyer, um die Eindringlinge in Empfang zu nehmen.
* Aus den Augenwinkeln sah Nicole, wie Chin-Li das Nylonseil losließ und sich von ihrem eigenen Schwung über die Brüstung im vierten Stock tragen ließ. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit ih rem Empfangskomitee zu. In wenigen Sekunden würden sie am Bo den angekommen sein. Und solange sie noch an diesem verdamm ten Fallschirm hing, war sie hilflos. »Gryf, gib mir Feuerschutz!« »Geht klar!« Während der Silbermond-Druide etwa drei Meter über ihr die Wolfskrieger ins Visier nahm, löste Nicole rasch ihr Geschirr, bis sie nur noch der feste Griff ihrer Hände mit dem Schirm verband. Dann ließ sie los. Es waren nur noch zwei Meter bis zum Boden. Nicole kam, rollte sich ab und schoss noch in der Bewegung. Sie erwischte einen TulisYon, doch vier weitere stürzten sich gleich auf sie – und wurden von dem herabfallenden Fallschirm überrascht. Bevor die Bestien wuss ten, wie ihnen geschah, hatten sie sich heillos in Stoff und Seilen ver
heddert. Die Dämonenjägerin brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit und setzte den nutzlos gewordenen Fallschirm samt den darin ge fangenen Wolfskriegern in Brand. Dann hatte auch Gryf es ge schafft. Der Silbermond-Druide kam direkt neben Nicole auf dem Boden auf. Für jemanden, der eigentlich ohne jedes Hilfsmittel zu reisen pflegte, ging Gryf erstaunlich virtuos mit dem Fallschirm um. Schnell befreite er sich aus seinem Geschirr, während Nicole mit dem Blaster die übrig gebliebenen Tulis-Yon auf Abstand hielt. »Erstaunlich. Ich hätte nie gedacht, dass das klappt«, sagte Gryf ungerührt. »Wo ist Chin-Li?« »Keine Ahnung. Sie ist irgendwo in den oberen Stockwerken ver schwunden.« »Na toll. Dann wollen wir sie mal suchen gehen.« »Ich fürchte, unsere haarigen Freunde haben was dagegen«, erwi derte Nicole und wies auf die Tulis-Yon, die einen Halbkreis gebil det hatten und jetzt langsam auf sie zukamen. »Gebt auf, ihr habt keine Chance gegen uns«, sagte der Tulis-Yon, der ihnen am nächsten stand. Die Stimme war erstaunlich weich und angenehm und passte so gar nicht zu der blanken Mordlust, die in seinen gelben Raubtieraugen blitzte. »Es gibt keine größere Ehre, als Kuang-shi zu dienen.« »Lieber würde ich für McDonald’s arbeiten, und das ist so ziem lich das Fieseste, was ich mir vorstellen kann«, zischte Gryf. »Wie du willst, Frevler! Dann stirb!« »Du zuerst!«, rief eine Stimme hinter dem Tulis-Yon. Der Wolfs köpfige fuhr herum, aber er hatte keine Chance. Ein Laserstrahl traf ihn mitten in die Brust und schleuderte ihn zu Boden. Und dann nahm sich Chin-Li die restlichen Tulis-Yon vor.
* Choquai, sieben Jahre nach der Ankunft des Fremden »Nein! Das ist nicht fair!« Irgendetwas zersprang im Nebenraum mit lautem Klirren. »Dieses gottverdammte Schwein! Wie hat er das nur geschafft?« Wieder zerbrach etwas. Es klang groß und teuer. Tsa Mo Ra hatte seine Frau noch nie so außer sich gesehen. Was war passiert? Er wusste es selbst nicht so genau. Denn eigentlich war doch alles sehr gut gelaufen. Sie hatten sich gemeinsam mit Wu Huan-Tiao einer offiziellen Prü fung, dem Zauberduell, gestellt. Anlass war das Dahinscheiden des obersten Zauberers und Bewahrers der Sprüche, Ting Chuan. Tsa Mo Ra hatte den uralten Vampir nie kennen gelernt, der sich bei ei nem schief gegangenen Experiment eine unheilbare Krankheit zuge zogen hatte. Schon bei Tsa Mo Ras Ankunft hatte er abgeschottet und mehr tot als lebendig in seiner Klause gelebt. Doch jetzt waren er, Shao Yu und Wu aufgerufen gewesen, um die Ehre seiner Nach folge zu kämpfen. Tsa Mo Ra wusste, dass Yu lange auf diesen Tag gewartet hatte. »Das ist unsere Chance. Dann müssen wir uns nicht mehr die Arro ganz dieses affenköpfigen Bastards bieten lassen!« Ihre Abneigung gegen Wu hatte in den letzten Monaten fast krankhafte Züge ange nommen, wie Tsa Mo Ra besorgt festgestellt hatte. Und er wagte sich gar nicht auszumalen, wie sie reagierte, wenn Wu siegen wür
de. Doch es war alles gut gegangen. Shao Yu hatte das Duell knapp gewonnen. Doch immerhin hatten sich ihre beiden Konkurrenten so gut geschlagen, dass Kuang-shi Wu Huan-Tiao zum zweiten und ih ren Ehemann zum dritten Hofzauberer ernannt hatte. Eine weise Entscheidung, wie Tsa Mo Ra fand. Doch seine Frau war anderer Meinung: »Nie werde ich die Macht mit dieser widerwärtigen Krea tur teilen. Nie!«, schrie sie im Nebenraum, während ein weiteres kostbares Stück der Einrichtung zu Bruch ging. »Als zweiter Hof zauberer hat er genug Möglichkeiten, um mir in die Quere zu kom men. Früher hat man die unterlegenen Zauberer einfach umge bracht!« Tsa Mo Ra verzichtete auf den Hinweis, dass diese unbarmherzige Regelung zwangsläufig auch ihn das Leben gekostet hätte. Stöhnend ließ er sich auf einen Stuhl sinken und versuchte, die Zerstörungsor gie im Nebenraum zu ignorieren. »Es gibt nur eine Möglichkeit …« »Und die wäre?« »Wir müssen ihn selbst aus dem Weg räumen!« »Was?« Mit einem Satz war Tsa Mo Ra ihm Nebenraum. Das Zim mer glich einem Erdbebengebiet. Shao Yu sah ihn entschlossen an. »Wir müssen es tun. Es ist der einzige Weg!« »Nein!«, sagte Tsa Mo Ra. »Auf gar keinen Fall!«
* Los Angeles Es war ein harter, aber kurzer Kampf. Gegen die drei mit Blastern
bewaffneten Dämonenjäger hatten die verbliebenen Tulis-Yon keine Chance. Außerdem hatten sie einen weiteren unschätzbaren Vorteil. Wus Zauber hinderte Gryf zwar daran, ins Gebäude zu springen. Im Gebäude selbst funktionierten seine Kräfte aber uneingeschränkt. Mit einem animalischen Schrei stürzte sich der letzte Wolfskrieger auf den Silbermond-Druiden, der im letzten Moment verschwand und sich hinter der Bestie wieder materialisierte. Eine Sekunde spä ter sank der Tulis-Yon brennend in sich zusammen. »Dann wollen wir mal schauen, ob sonst noch jemand da ist«, sag te Gryf. »Dann wird er schnell Bekanntschaft hiermit machen«, erwiderte Chin-Li grimmig und hob den Blaster. Ohne Vorwarnung berührte Gryf seine Mitstreiterinnen und nahm sie mit in den zeitlosen Sprung. Sie materialisierten sich in der obersten Etage, in der Gryf eine Nacht zuvor mit Chin-Li gegen eine Horde Tulis-Yon gekämpft hat te. Einer davon war Chin-Lis ehemaliger Chef gewesen. Und mit et was Glück war er auch jetzt nicht weit. Sie fanden Patrick Lau in seinem Büro. Der chinesischstämmige Jungunternehmer saß leger auf seinem Schreibtisch und rauchte eine Zigarette, als die drei Dämonenjäger mit schussbereiten Waffen den Raum betraten. Chin-Lis ehemaliger Arbeitgeber hatte seine menschliche Gestalt angenommen – im Gegensatz zu den drei ande ren Wolfskriegern, die sich hinter ihm aufgestellt hatten und die Eindringlinge mit unverhohlener Blutgier anstarrten. »Agkar wusste, dass ihr es schaffen würdet«, sagte Lau anerken nend. »Ich habe es ja kaum für möglich gehalten, aber ihm war klar, dass man euch nicht unterschätzen darf. Respekt, Chin-Li. Dieser Stunt war eine oskarreife Leistung, selbst für eine ehemalige Killerin der Neun Drachen.« »Freut mich, dass es dir gefallen hat«, sagte Chin-Li und hob den
Blaster. Doch Nicole Duval hielt die Chinesin mit einer knapper Geste zurück. »Noch nicht, Chin-Li. Wir brauchen ihn noch. Nur er kann uns sa gen, wo Kuang-shi ist.« Chin-Li nickte, obwohl es ihr sichtlich schwer fiel, ihren Ex-Boss nicht auf der Stelle in ein Häufchen Asche zu verwandeln. »Die Dateien in deinem Computer waren eine Falle …« »Und sie hat ja auch bestens funktioniert, oder?« Mit einem fast verträumten Lächeln zog Patrick Lau an seiner Zigarette. »Ich sollte sie finden und Zamorra und Nicole Duval zu diesem Lagerhaus in Orange County führen.« »Ja, genau das war der Plan. Schließlich mussten wir Tsa Mo Ra ir gendwie dazu bringen, den Hong Shi einzusetzen. Und Kuang-shi wusste, dass er alles tun würde, um seine Gespielin zu retten.« Laus ebenmäßiges Gesicht verzog sich zu einem hasserfüllten Grinsen. »Dein Pech, Nicole Duval. Du hättest eine von uns werden können. Wie ist es, das Paradies zu sehen und im letzten Moment wieder in dein jämmerliches Menschsein zurückgerissen zu werden?« »Ich pfeife auf euer Paradies!« »Auch gut«, sagte Lau – und verwandelte sich in einen Wolf. Die anderen drei Tulis-Yon nahmen das als Zeichen zum Angriff. Doch sie hatten keine Chance. Blassrote Laserstrahlen beendeten ihre dämonische Existenz, bevor sie ihren Gegnern auch nur nahe kamen. Der einzige, der übrig blieb, war Patrick Lau. Sein wütendes Aufheulen verriet, dass er mit diesem Verlauf der Ereignisse nicht gerechnet hatte. »Warum neigt ihr Höllenbiester immer zu so einer maßlosen Selbstüberschätzung?«, fragte Gryf kopfschüttelnd. Patrick Lau sah ihn hasserfüllt an. »Uns könnt ihr töten, aber unse
ren Herrn Kuang-shi werdet ihr damit nicht aufhalten. Wir opfern unser Leben gern für seinen Sieg!« »Das kannst du gerne haben«, sagte Nicole. »Aber vorher brau chen wir noch etwas von dir.« »Vergiss es, Hure!« Verächtlich spuckte der Tulis-Yon vor der Dä monenjägerin aus. »Von mir erfahrt ihr nichts.« »Oh, ich glaube doch. Chin-Li!« Mit einem lauten Kampfschrei flog die Chinesin durch den Raum und kam katzengleich hinter Lau auf. Bevor der verdutzte Wolfs krieger reagieren konnte, presste ihn die Ex-Killerin auf den Schreib tisch. Verzweifelt versuchte der Tulis-Yon, nach seiner ehemaligen Leibwächterin zu schlagen, doch es war vergeblich. Wie Schraubstö cke umschlossen ihre Finger seine Arme und ließen ihm keinen Mil limeter Bewegungsspielraum. »Der Griff der Tausend Arme«, zischte Chin-Li. »Wenn du dich mehr für die Traditionen deiner Vorfahren interessiert hättest, wür dest du ihn kennen. Selbst ein stärkeres Wesen als du könnte daraus nicht entfliehen.« »Was habt ihr vor?«, fauchte Lau. »Das ist ganz einfach«, meldete sich Gryf zu Wort. »Wir brauchen Informationen, und du wirst sie uns geben.« »Das glaube ich kaum. Eher verrecke ich!« »Du hast kaum eine andere Wahl«, sagte Gryf und drang in den Geist seines Gegenübers ein. Der Tulis-Yon heulte vor Wut auf, als er verstand, was mit ihm geschah. Er versuchte sich gegen den Ein dringling zu wehren, aber der Widerstand war nur von kurzer Dau er. Dafür zeigte der Tulis-Yon Gryf etwas völlig Unerwartetes. Der Silbermond-Druide wurde blass, als ihn Patrick Lau mit dem Glück konfrontierte, dass ein Diener Kuang-shis selbst dann noch emp fand, wenn er für seinen Herrn sterben durfte. Nur mit größter Kraft
gelang es Gryf, dieser Faszination nicht zu erliegen, die seinen Geist zu lähmen schien. Und dann spürte er, wie sich die Welt um ihn herum auflöste. Der Tulis-Yon war dabei, sich selbst zu vernichten, um Kuang-shis Geheimnisse zu bewahren – und er wollte Gryf mit sich nehmen. Verzweifelt wehrte sich der Silbermond-Druide gegen den Sog, der ihn mit in den Abgrund zu ziehen drohte. Doch noch konnte er sich nicht aus Patrick Laus Geist zurückziehen. Nicht, bevor er gefunden hatte, was er brauchte. Es war so, als würde ein Haus über ihm zusammenstürzen, wäh rend er durch die Kellerräume raste und nach einem verborgenen Tresor suchte. Dann fand er die richtige Tür, öffnete sie und – Patrick Laus Geist erlosch.
* Choquai Es war schon seit einer Stunde dunkel, als Shao Yu aus dem Haus schlich. Die schöne Vampirfrau hatte eine grüne Robe übergewor fen, deren Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Es war besser, wenn sie keiner auf ihrem Weg durch die Straßen von Choquai er kannte. Tsa Mo Ra hatte sich in der Palastbibliothek in ein paar uralte Schriften über die Entstehung des Universums vergraben. Er würde sicher nicht vor dem Morgengrauen zurückkehren, und Yu hatte den Sklaven bei ihrem Leben verboten, etwas von ihrer nächtlichen Abwesenheit zu erzählen.
Ich liebe dich, wie ich noch nie einen Mann geliebt habe, Tsa Mo Ra. Aber du würdest es nicht verstehen. Nach Sonnenuntergang waren die Straßen von Choquai kaum we niger belebt als am Tage. Während sich die Familien in die Beschau lichkeit der eigenen vier Wände zurückgezogen hatten, schlug jetzt die Stunde der Nachtschwärmer und der Vergnügungssüchtigen, die auf den belebten Plätzen, den nächtlichen Märkten und in den Bordellen etwas Abwechslung von den Anstrengungen des Tages suchten. Dies ist unsere Zeit, dachte Shao Yu. Auch wenn wir dank Kuang-shis unermesslicher Macht auch am Tage existieren, in der Nacht sind wir uns selbst am nächsten. Auch wenn viele von uns inzwischen so vermensch licht sind, dass sie längst vergessen haben, wer wir wirklich sind. Es war kein Wunder, dass der Mond neben dem mächtigen Wolfs kopf das wichtigste Symbol in Choquai war. Der Mond, in dessen weißem Licht sich Tsa Mo Ra und Shao Yu ewige Treue geschworen hatten. Die Zauberin hatte diesen Schritt nie bereut. Und doch wusste sie, dass sie Tsa Mo Ra nicht in ihr Vorhaben einweihen durfte, bis sie unabänderliche Tatsachen geschaffen hatte. Er würde nie die zwin gende Notwendigkeit ihres Planes verstehen. Bei all seinen Fähig keiten, die ihn von anderen Wesen seiner Art unterschied, war er eben doch nur ein – Mensch. Shao Yu mied die großen Straßen und belebten Plätze und drückte sich durch die engsten und verrufensten Gassen der Stadt. Einmal hielt eine Tulis-Yon-Patrouille sie auf. Agkars Polizeitruppe stellte sicher, dass die Bewohner der Stadt ihre naturgegebenen räuberi schen Triebe nur in kontrollierten Bahnen auslebten und nicht wild übereinander herfielen. Die beiden Wolfskrieger hatten den Schreck ihres Lebens bekommen, als sie erkannten, wer unter der unschein baren Kapuze steckte. Und sie hatten die nächtliche Passantin auf
Knien um Verzeihung für ihren Frevel gebeten und versichert, nie mandem von ihrem Ausflug zu berichten. Shao Yu hatte huldvoll genickt – und den beiden dann mit einem Zauberspruch jede Erin nerung an ihre nächtliche Begegnung genommen. Sie konnte keine Zeugen gebrauchen. Dann endlich, nachdem sie fast die halbe Stadt durchquert hatte, war sie an ihrem Ziel. Das unscheinbare Haus schien einer anderen Welt anzugehören als die prachtvollen Bauten im Zentrum von Choquai. Shao Yu zögerte, als sie an die roh gezimmerte Tür klopfen wollte. Es ist so lange her … Dann fasste sie sich ein Herz und schlug kräftig gegen das Holz. Ein Weile geschah nichts. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt, und ein dunkles Augenpaar starrte sie an. »Du?« Das schmächtige Mädchen, das jetzt die Tür ein Stück weiter öff nete und den Gast mit einer verhuschten Geste hereinbat, war Shao Yu wie aus dem Gesicht geschnitten, wirkte jedoch deutlich jünger. Im Hintergrund erhob sich eine andere Frau von einem Sitzkissen. Auch bei ihr war die Familienähnlichkeit unübersehbar. Mit einem dankbaren Nicken setzte sich Shao Yu auf den Platz, den ihr das Mädchen anbot. Dann sagte sie mit einem einnehmenden Lächeln: »Es ist wahr, meine Schwestern: Ich habe euch lange nicht besucht. Doch jetzt haben wir etwas zu besprechen.«
* Los Angeles Mit einem leisen Stöhnen brach Gryf zusammen. Nicole konnte den
Silbermond-Druiden gerade noch auffangen, bevor er auf den Bo den knallte. Mit einem Seitenblick sah sie, dass auch Patricks Laus Körper kraftlos in Chin-Lis Umklammerung hing. Das Gesicht des Tulis-Yon war wieder menschlich geworden. Schnell überprüfte Nicole Gryfs Puls. Der Herzschlag war schwach, aber regelmäßig. »Ist er …?«, fragte Chin-Li. So sehr sie sich auch um einen sachli chen Tonfall bemühte, die Besorgnis in ihrer Stimme war unüber hörbar. »Nein, er lebt.« »… aber es geht ihm echt beschissen«, murmelte der SilbermondDruide in Nicoles Armen. Er griente, während er sich mühsam wie der aufrappelte. »Das wäre beinahe schief gegangen.« »Was ist passiert?«, fragte Nicole, während sie Gryf auf die Beine half. »Keine Ahnung. Ich glaube, er hat sich gerade selbst ausgelöscht. Und mich wollte er mitnehmen.« »Es stimmt. Er ist tot«, bestätigte Chin-Li, die ihren Ex-Boss einer genauen Untersuchung unterzogen hatte. Dann zog sie den Blaster, richtete ihn auf Laus Leichnam und drückte ab. Es roch nach ver branntem Fleisch, als der Körper des Tulis-Yon in Flammen aufging. »Aber sicher ist sicher!« »Selbstmord? Wie kann das sein?«, fragte Nicole. »Er hatte noch nicht einmal eine Verletzung.« »Ich weiß es nicht«, gestand Gryf. »Vielleicht ein posthypnotischer Befehl, den Kuang-shi ihm eingepflanzt hat und mit dem er sich je derzeit das Leben nehmen konnte, um seinen Boss nicht verraten zu müssen. So eine Art mentale Zyankalikapsel. Diese Biester würden ja alles für ihren Obermotz tun. Vermutlich war es für ihn noch eine Ehre, für Kuang-shi verrecken zu dürfen!«
»Also war alles umsonst«, meinte Nicole frustriert. »Keineswegs!« Gryfs Grinsen war so breit, dass man darin ein Zelt hätte aufspannen können. »Ich gebe zu, es war knapp. Ich spürte schon, wie das große Nichts an mir zerrte, als unser haariger Freund seinem Schöpfer entgegeneilte. Aber im letzten Moment hat er seine Geheimnisse doch noch preisgegeben. Der gute Patrick war ziemlich frustriert, als er kapierte, dass er sich ganz umsonst geopfert hat.« »Spann uns nicht auf die Folter. Wo ist Kuang-shi?« »In Vernon.«* »Da haben wir eine Reihe von Lagerhäusern und einen großen Teil unseres Fuhrparks«, schaltete sich Chin-Li ein. »Früher war ich mit Patrick öfter da, aber in letzter Zeit hat er mich nicht mehr mitge nommen.« »Kein Wunder! Die Aura eines uralten Vampirgottes wäre dir be stimmt aufgefallen. Also los, worauf warten wir noch?« »Halt, nicht so schnell«, sagte Nicole. »Du willst da doch nicht so einfach hingehen? Zu dritt halten wir gegen Kuang-shi und seine Meute keine zwei Minuten durch.« »Fällt dir was Besseres ein?« »Um Kuang-shi zu besiegen, brauchten wir eine Armee. Und ich glaube, ich weiß, wo wir eine finden können.« Gryf sah sie irritiert an. Dann verstand er. »Nein, hey, warte, das ist nicht dein Ernst.« »Wir brauchen Verbündete!« »Aber nicht solche! Vergiss es, da mache ich nicht mit!« »Du hast kaum eine andere Wahl. Es sei denn, du gibst den Kampf gleich verloren. Und damit auch Zamorra und den Rest dieser unbe *Industriegebiet südöstlich von Downtown. Obwohl Vernon nur rund 90 Einwohner hat, gilt es als eigenständige Stadt.
deutenden kleinen Welt.« Voller Wut trat Gryf gegen den angekokelten Schreibtisch. Es schepperte und klirrte, als die edlen Büroutensilien zu Boden fielen. Dann hatte sich der Silbermond-Druide wieder gefangen. »Na fein, machen wir’s so. Aber nur fürs Protokoll, falls etwas schief geht: Ich war von Anfang an dagegen!« »Ist notiert«, grinste Nicole. »Und jetzt sollten wir sehen, dass wir aus dieser Festung irgendwie wieder rauskommen.«
* Choquai Es half nichts, er musste mit Wu reden. Tsa Mo Ra hatte diesen Schritt lange hinausgezögert, aber er konnte nicht riskieren, dass die Situation noch weiter eskalierte. Shao Yu hatte sich, was Wu HuanTiao betraf, in eine wahre Hysterie hineingesteigert, manchmal er kannte er sie kaum wieder, wenn sie sich in ihren Hasstiraden er ging. Vielleicht gelang es ihm, mit Wu einen Kompromiss auszuhan deln, wie sie die Macht teilen konnten, ohne sich gegenseitig ins Ge hege zu kommen. Tsa Mo Ra wusste, dass Yu diesen Schritt nicht billigen würde. Deshalb hatte er sie gar nicht erst gefragt. Und da sie sich an diesem Abend, wie so oft in letzter Zeit, mit ihren Schwestern traf, würde sie von seiner Abwesenheit gar nichts bemerken. Tsa Mo Ra betrachtete auch diese Entwicklung mit Misstrauen. In den ersten Jahren seiner Zeit in Choquai hatte Yu ihre beiden Schwestern höchstens mal am Rande erwähnt, doch jetzt verbrachte sie fast jede freie Minute mit ihnen. Yim-Fong und Siu-Ling waren
ebenfalls Zauberinnen, doch sie hielten sich vom Leben am Hofe möglichst fern, möglicherweise nicht zuletzt, weil Shao Yu diese Do mäne für sich haben wollte. Die beide Schwestern besaßen einen hervorragenden Ruf als Hei lerinnen und Mischerinnen von Liebestränken, trotzdem waren sie selbst den nicht gerade zart besaiteten Bewohnern von Choquai un heimlich. Deshalb praktizierten sie ihre dunklen Künste lieber im Verborgenen. Es war schon dunkel, als Tsa Mo Ra sich dem Haus von Wu HuanTiao näherte. In einigen Räumen brannte Licht. Der Hausherr war also offenbar zu Hause. Trotzdem öffnete niemand, als Tsa Mo Ra den mächtigen Türklopfer in Form eines Wolfskopfs betätigte. Tsa Mo Ra spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten. Ir gendetwas stimmte hier nicht! Aber konnte er einfach so in das Haus seines Rivalen eindringen, um nach dem Rechten zu sehen? Er würde einiges zu erklären haben, sollte er sich irren. Tsa Mo Ra beschloss, das Risiko einzugehen. Er berührte die Tür mit beiden Händen, sprach eine Zauberformel und spürte erleich tert, wie der Riegel zurück glitt. Offenbar hatte es Wu Huan-Tiao in seiner Selbstgefälligkeit für überflüssig gehalten, sein Haus durch Magie gegen Eindringlinge zu schützen. Schnell glitt Tsa Mo Ra ins Hausinnere – und erstarrte. Vor ihm la gen zwei Diener auf dem Mamorboden und schienen zu schlafen. Doch der Schlaf war sicher nicht natürlichen Ursprungs. Tsa Mo Ra holte aus seinem Lederbeutel mit Zauberutensilien, den er immer bei sich trug, ein rot glitzerndes Pulver hervor, mit dem er den Die nern magische Zeichen auf die Stirn schrieb. Stöhnend erwachten sie aus ihrem Schlaf. Der Diener, der Tsa Mo Ra am nächsten lag, wäre beinahe wieder ohnmächtig geworden, als er den Menschen erblickte, der sich über
ihn beugte. »Bitte, Herr, tut mir nichts. Ich bin nur ein Diener, tötet mich nicht«, stammelte er. »Was ist passiert?« »Ich … ich …« »Wo ist dein Herr Wu Huan-Tiao?« Zitternd deutete der Diener in Richtung Hauptgebäude. Tsa Mo Ra sprang auf und rannte durch den Innenhof, der zum Wohntrakt führte. Der Zauberer musste nicht lange suchen, er wurde im ver schwenderisch eingerichteten Hauptraum fündig – und was er sah, ließ ihn vor Schreck erstarren. Auf dem Boden lagen Yim-Fong und Siu-Ling. Ihre Körper waren stocksteif und unnatürlich verkrümmt, aber sie lebten. Voller Entset zen flehten ihn ihre großen braunen Augen um Hilfe an. Doch sie mussten warten. Denn in der Mitte des Raumes standen sich Shao Yu und Wu Huan-Tiao wie Kampfhähne gegenüber. Und jeder schien fest entschlossen zu sein, den anderen zu töten.
* »Tsa Mo Ra!«, rief Shao Yu, doch Tsa Mo Ra wusste nicht, ob Er leichterung oder Entsetzen aus ihrer Stimme sprach. »Ah, da kommt der Spießgeselle des Mordkomplotts!«, höhnte Wu. »Ich wusste, dass einem menschlichen Wurm wie dir nicht zu trauen ist. Weiß der Himmelskaiser, wie es dir gelungen ist, selbst den göttlichen Kuang-shi mit deinem süßlichen Gesäusel irrezufüh ren. Aber für diesen Frevel wirst du an den obersten Klippen des Yangtze aufgehängt werden, damit sich die Geier an deinem ver derbten Fleisch laben können.« Der pavianköpfige Zauberer lachte wild, als ergötze er sich jetzt
schon an den zukünftigen Qualen seines Widersachers. Doch Tsa Mo Ra war nicht bereit, diesen aberwitzigen Vorwurf auf sich sitzen zu lassen. »Der Hass muss dir das Hirn vernebelt haben, Wu Huan-Tiao. Was für ein Komplott? Du weißt, dass ich dich bei aller Rivalität im mer mit Respekt und Anstand behandelt habe.« »Die Schau kannst du dir sparen, Mensch, die Maske des Einfalts pinsels steht dir nicht. Aber ich verspreche dir, die Geschichte des armen Sklaven, der es bis zum Hofzauberer gebracht hat, wird man sich noch in Jahrhunderten erzählen – als Warnung, nie einem menschlichen Geschmeiß wie dir zu trauen!« »Was ist hier passiert?«, wandte sich Tsa Mo Ra an seine Gefähr tin. Er hatte langsam genug von diesen sinnlosen Anschuldigungen. »Gut, dass du gekommen bist, Geliebter. Der Affenkopf hat mich unter einem Vorwand hierher gelockt. Er hat behauptet, wichtige In formationen über dich zu haben – über deine Vergangenheit. Dabei wollte er mich nur töten, um selbst das Amt des ersten Hofzaube rers zu übernehmen!« »Das Weib lügt, wenn es nur den Mund aufmacht«, schrie Wu er zürnt. »Du bist mit deinen Teufelsschwestern hier eingedrungen mit dem Vorsatz, mich zu ermorden. Und du wusstest natürlich davon, Tsa Mo Ra, wenn du nicht sogar dahintersteckst. Euer lächerliches Possenspiel könnt ihr also lassen. Damit beleidigt ihr nur meine In telligenz!« »Also gut, Affenkopf, dann sagt dir das hier vielleicht mehr zu«, rief Shao Yu und schleuderte Wu einen Zauberspruch entgegen. In ihrer rechten Hand erschien plötzlich ein Feuerball, der unvermittelt auf Wu zuraste. Doch der hob nur die rechte Hand und zeichnete damit einen Halbkreis in die Luft, während er eine andere magische Formel aussprach. Sofort verzehnfachte sich die Feuerkugel und ras
te in Richtung der Angreiferin zurück. Nur mit einem raschen Hechtsprung konnte sich die erste Hofzau berin in Sicherheit bringen, während die tödlichen Geschosse die Wand hinter ihr in Brand setzten. »Ist das alles, was du zu bieten hast, Yu?« Tsa Mo Ra entging nicht das leichte Zittern in Wus Stimme. Der pavianköpfige Zauberer war nicht annähernd so selbstsicher, wie er sich gab. Beim Zauberduell war er Shao Yu knapp unterlegen, wenn jetzt auch noch ihr Ehemann in den Kampf eingriff, standen seine Chancen mehr als schlecht. Und das wusste auch Shao Yu. »Worauf wartest du, Geliebter? Du siehst, dass er mich töten will. Steh mir bei, und wir werden dieses Ungeziefer ein für alle Mal aus löschen!« Wie erstarrt sah Tsa Mo Ra die beiden Kontrahenten an. Dann traf er eine Entscheidung – und griff an.
* »Was tust du, Geliebter?«, schrie Shao Yu. Doch da war es schon zu spät. Der magische Windstoß, den Tsa Mo Ra entfacht hatte, riss die Vampirin von den Beinen und schleuderte sie gegen die Wand. Auch Wu Huan-Tiao war so verblüfft, dass er gar nicht auf die Idee kam, den Moment der Irritation auszunutzen. »Es tut mir Leid, Yu, aber was du hier tust, ist Unrecht. Ich denke, unser verehrter Kollege Wu Huan-Tiao ist mit uns einer Meinung, dass es zu unser aller Besten ist, in Ruhe nach Hause zu gehen, bis sich die Gemüter etwas abgekühlt haben.« »So leicht kommst du aus dieser Geschichte nicht mehr raus,
Mensch. Kuang-shi wird erfahren, was in dieser Nacht passiert ist, und dann wird es mir ein Vergnügen sein, dabei zuzusehen, wie er euch die Organe einzeln aus den pestilenzverseuchten Leibern reißt!« »Da hörst du ihn, Geliebter. Wir müssen es beenden, hier und jetzt!« Schnell zeichnete Shao Yu einen magischen Spruch in die Luft – und sofort fiel die Luft im Raum unter den Gefrierpunkt. Ein eiskal ter Wind fegte durch den Raum, löschte die Flammen und hüllte den affenköpfigen Zauberer ein. In Sekundenschnelle verdichtete sich der Wind zu einem Wirbel aus Eiskristallen, bis Wu regungslos in einem weißen Block aus Schnee und Eis gefangen war. »Wir sind fast am Ziel, Geliebter. Du musst mir noch helfen, ihm den Todesstoß zu versetzen«, rief Yu, und als Tsa Mo Ra das Glit zern in ihren Augen sah, wusste er, dass Wu die Wahrheit gesagt hatte. Shao Yu war tatsächlich mit ihren Schwestern gekommen, um ihn zu töten. Tsa Mo Ra fühlte sich, als habe jemand die Zeit angehalten und als rase sie zugleich in atemberaubender Geschwindigkeit an ihm vor bei. Was war nur aus der Frau geworden, die er mehr liebte als sein eigenes Leben? Doch war nicht die zügellose Grausamkeit, die ihn so erschreckte, schon immer ein Teil ihrer Persönlichkeit gewesen? Er hatte es lange genug verdrängt. Doch jetzt war damit Schluss. Tsa Mo Ra schrie den nächsten Zauberspruch regelrecht heraus. Der Eisblock zerplatzte mit einem lauten Knall, und Wu stürzte zu Boden. Der Zauberer wirkte stark angeschlagen, aber er lebte. Mit einem Satz war Tsa Mo Ra bei ihm. Und plötzlich war sie in seinem Kopf. Aus irgendeinem Grund war Shao Yu das einzige Wesen, dem es gelang, die Mauer um Tsa Mo Ras Geist zu durchdringen. Vielleicht lag es an ihrer besonderen
Verbundenheit, die ihr mit den Jahren den Weg gewiesen hatte. Und jetzt fühlte er sie so nahe bei sich, dass er zu vergehen glaubte. Was tust du uns an, Geliebter? Warum bist du auf seiner Seite? Ihre Stimme war so traurig, so verletzt. Doch Tsa Mo Ra wider stand der Versuchung, sich von seinen Gefühlen auf ihre Seite zie hen zu lassen. Das bin ich nicht. Aber was du hier tust, ist falsch. Beende diesen Wahn sinn, dann haben wir alle vielleicht noch eine Chance, hier heil herauszu kommen. »Nein!«, schrie Shao Yu und zog etwas aus dem Lederbeutel an ih rem Gürtel hervor. Als sie die mit einem Zauberspruch beschriebe nen Pergamentstreifen in die Luft schleuderte, formten sich daraus plötzlich 50 silbern funkelnde Dolche – und sie rasten direkt auf Tsa Mo Ra zu. Der Tod der Tausend Schnitte, dachte der Zauberer entsetzt, während er verzweifelt versuchte, den heranrasenden Klingen aus zuweichen. Er spürte die Schmerzen kaum, als ein Dutzend Dolche in seinen Körper eindrangen. Shao Yu sah ihn mit weit aufgerissene Augen an »Es tut mir Leid …«, flüstere sie – als sie etwas packte und zu Boden riss. Und dann waren sie überall im Raum. Tulis-Yon! Die Diener müs sen sie gerufen haben, dachte Tsa Mo Ra. Mit letzter Kraft hielt er sich auf den Beinen und sah zu, wie einer der Wolfskrieger seine Frau gegen den Boden presste. Sie waren zu fünft. Vier waren mit ihren berüchtigten Kampfstä ben bewaffnet, und der Geifer tropfte von ihren weit aufgerissenen Raubtierschnauzen. Der fünfte war Agkar, der berüchtigte Anführer der Tulis-Yon. Trotz seines fast jugendlichen Aussehens diente er Kuang-shi schon seit Jahrhunderten, und er war Tsa Mo Ra immer mit äußerstem Misstrauen begegnet. Er trug als einziger der Wolfs krieger sein menschliches Gesicht, das er zu einem grimmigen Lä
cheln verzogen hatte. »Tsa Mo Ra! Ich wusste, dass ich Euch eines Tages auf die Schliche kommen würde. Der ehrenwerte Wu Huan-Tiao hatte Recht. Man kann einem Menschen einfach nicht trauen. Doch dieser feige Mord anschlag wird Euch den Kopf kosten. Abführen!« »Nein, wartet!«, krächzte Wu, während er mit Hilfe eines TulisYon mühsam wieder auf die Beine kam. »Herr?«, fragte Agkar irritiert. »Wartet«, wiederholte der affenköpfige Zauberer. »Der Mensch nicht. Er hat mir das Leben gerettet.« Tsa Mo Ra wollte etwas sagen, als er merkte, wie ihm die Beine wegsackten. Dann wurde um ihn herum alles schwarz.
* Irgendwo am Fuß der San Gabriel Mountains Die Villa mochte einmal einem wohlhabenden Industriellen gehört haben oder vielleicht sogar einem Filmstar. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. Jetzt versprühte das Anfang des 20. Jahrhunderts er baute Gebäude am Fuß der San Gabriel Mountains nur noch den morbiden Charme einer vergangenen Epoche. Die in der heißen kalifornischen Sonne ausgeblichene Farbe war an vielen Stellen abgeblättert, und die Natur hatte längst einen Teil ihres Territoriums zurückerobert. Der Weg zum Gebäude war von Unkraut und kleineren Büschen überwuchert, hier und da fanden sich zersprengte Steinplatten, die den ungehindert wachsenden Pflanzen nicht mehr standgehalten hatten. Aus den mit massiven Läden verschlossenen Fenstern drang nicht
der geringste Lichtschein, und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass es hier menschliche Bewohner gab. Oder zumindest etwas in der Art. Und doch wussten die drei Gestalten, die sich dem Haus vorsich tig näherten, dass ihre Ankunft längst bemerkt worden war. Also unternahmen sie gar nicht erst den Versuch, sich zu verstecken. Nicole Duval trat entschlossen aus dem Schatten der Eichen, die den Weg zum Gebäude säumten, und zeigte sich im vollen Mond licht. Dann hob sie die Arme und drehte sich einmal, um zu zeigen, dass sie keine Waffe bei sich trug. Schließlich zog sie auch noch das Oberteil ihres Kampfanzugs herunter und entblößte ihre nackte Brust, sodass deutlich zu sehen war, dass sie Merlins Stern nicht bei sich trug. Die Dämonenjägerin hatte das Amulett und ihren Blaster Gryf zur Aufbewahrung gegeben. »Ich glaube immer noch nicht, dass das eine gute Idee ist«, mur melte Gryf missmutig. Der Silbermond-Druide stand mit Chin-Li einen Meter hinter Nicole, die sich schnell wieder anzog. Auch sie waren vom Haus aus gut sichtbar. »Mir gefällt es auch nicht. Aber wir haben keine andere Wahl.« »Außerdem macht es mich etwas nervös, dass wir hier wie auf dem Präsentierteller stehen. Jeder Trottel könnte uns auf diese Ent fernung mit Opas Donnerbüchse erledigen.« »Fu Longs Opa lebte in China, und er ist schon sehr lange tot!« »Sehr beruhigend!« »Ich komme mit dir«, sagte Chin-Li mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Doch Nicole setzte sich trotzdem darüber hin weg: »Nein, Chin-Li. Das muss ich allein tun. Wenn es brenzlig wird, kann ich immer noch Merlins Stern rufen. Aber wir müssen ih nen zeigen, dass wir ihnen vertrauen.« »Aber ich vertraue ihnen gar nicht …«, protestierte Gryf.
»Ich auch nicht, aber vielleicht wird es Zeit, damit anzufangen …«, sagte Nicole und machte sich auf den Weg. Die wenigen Schritte bis zum Haus kamen ihr endlos vor. Dann stand sie vor der mit kunst vollen Schnitzereien verzierten Eingangstür. Die Dämonenjägerin hob die rechte Hand, um die Klingel zu betä tigen, als die Tür wie von Geisterhand aufschwang. »Komm herein, Nicole Duval«, sagte Jin Mei.
* Choquai »Tsa Mo Ra, mein Freund. Es freut mich, dass du mir die Ehre dei nes Besuchs erweist.« Wie immer, wenn er Kuang-shis Thronsaal betrat, musste Tsa Mo Ra eine Welle der Übelkeit zurückdrängen, die ihn zu überschwem men drohte. Doch der Moment des Unbehagens dauerte nur einen Moment, dann hatte Tsa Mo Ra seinen Magen wieder unter Kontrol le. Auch das Gehen bereitete ihm kaum noch Schwierigkeiten. Die Ärzte hatten den schwer verletzten Zauberer nach dem Zwischenfall in Wus Haus schon fast aufgegeben, doch dank seiner erstaunliche Selbstheilungskräfte hatte er sich in wenigen Tagen fast vollständig erholt. Selbst die Krücken hatte er diesmal zu Hause gelassen. »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, göttlicher Kuang-shi.« Tsa Mo Ra verbeugte sich tief vor seinem Herrn. Dann, als er lange genug ausgeharrt hatte, stand er auf und näherte sich dem Thron. Kuang-shi empfing seinen menschlichen Diener mit einem milden Lächeln. »Du bist ein wirklich bemerkenswerter Mensch, Tsa Mo Ra. Selbst die Edelsten meines Volkes hätten vermutlich nicht so ent
schlossen ihr persönliches Glück der Einhaltung des Gesetzes geop fert wie du.« »Ich habe nur meine Pflicht getan, Herr.« »Du bist zu bescheiden. Wenn es mehr von deiner Sorte gäbe, wäre es fast eine Schande, dass wir euch jagen, um euer Blut zu trin ken.« Es war eine rein sachliche Feststellung, ohne den Hauch einer Drohung. »Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Die Welt besteht aus Jägern und Gejagten, selbst ich kann daran nichts ändern. Es ist das Grundprinzip des Universums. Ganze Galaxien werden ver nichtet, um in Jahrmillionen wieder geboren zu werden und andere Galaxien zu verschlingen. Ich weiß es, ich habe es mit eigenen Au gen gesehen!« Ein kalter Schauer durchlief den Hofzauberer, als er daran dachte, wie alt und mächtig das schmächtige Wesen sein musste, das da vor ihm auf dem Thron saß. »Aber ich will meinen Diener nicht mit phi losophischen Betrachtungen langweilen, die für einen Gelehrten wie dich nur kindisch und banal klingen müssen. Was kann ich für dich tun, Tsa Mo Ra?« »Ich möchte Euch um Gnade bitten, göttlicher Kuang-shi. Um Gnade für Shao Yu und ihre beiden Schwestern.« Für eine Sekunde hatte Tsa Mo Ra den Eindruck, als fiele die Tem peratur im Raum um mehrere Grad. Doch als der Götterdämon ant wortete, schwang kein Zorn in seiner Stimme mit. »Es tut mit Leid, mein Freund, aber ich kann deiner Bitte nicht entsprechen. Das Le ben ist ein ewiger Kampf, aber dieser Kampf muss festen Regeln ge horchen. Darauf beruht die ganze Ordnung in Choquai. Wir haben die Jagdtage im südlichen Park, die Zauberduelle und vieles mehr. Es sind diese Rituale, die das Raubtier mit der Zivilisation versöh nen – alles andere wäre reine Anarchie. Shao Yu hatte genug Mög lichkeiten, Wu Huan-Tiao herauszufordern. Doch mit ihrem Verbre chen hat sie die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage gestellt.
Dafür muss sie sterben.« Tsa Mo Ra fühlte sich wie betäubt. Er hatte mit diesem Urteilss pruch gerechnet, aber das änderte nichts an den Gefühlen, die ihn zu überwältigen drohten. »Lass mich dir eine Frage stellen, mein Freund: Liebst du sie noch?« Der Zauberer zögerte keinen Moment: »Ja, das tue ich!« »Dann wird es vielleicht dein Herz erleichtern, dass deine Frau nicht als Geächtete sterben wird. Shao Yu hat viel für Choquai ge tan, und das werde ich ihr nicht vergessen. Sie muss sterben, aber im Tod wird ihr und ihren Schwestern eine Ehre zuteil werden, die sie für uns unsterblich machen wird!«
* Die Grotte befand sich tief unter dem Palast. Normalerweise fanden hier magische Experimente oder Zauberduelle statt, doch in dieser Nacht würde sie einem anderen Zweck dienen. Der ganze Hof hatte sich versammelt, um der Hinrichtung beizuwohnen. Kuang-shi wurde flankiert von Tsa Mo Ra und Wu Huan-Tiao. Die beiden Zauberer mieden jeden Blickkontakt. In Wus Gesicht konnte Tsa Mo Ra nicht die geringste Regung erkennen, und er selbst hatte auch nicht vor, sein Innerstes nach Außen zu kehren. Shao Yu und ihre beiden Schwester standen umringt von Agkar und einem halben Dutzend seiner Tulis-Yon am anderen Ende der natürlich gebildeten Höhle. Sie waren nicht gefesselt. Jeder wusste, dass es von hier keine Flucht mehr gab. Das Schicksal der drei Schwestern war besiegelt. Tsa Mo Ra hatte Shao Yu am Vorabend ein letztes Mal in ihrer Zel
le besucht. Seltsam, wie sich die Dinge verkehren, dachte er. Hatte doch alles in eben so einer Zelle begonnen. Das Gespräch zwischen ihnen war unterkühlt, fast sachlich verlaufen, aber in Yus Augen hatte Tsa Mo Ra den brennenden Vorwurf gelesen: Warum hast du mich verra ten? Doch als er ihr Kuang-shis Urteil übermittelt hatte, hatte sie ihn überrascht. Shao Yu hatte ihm gefasst in die Augen geblickt, einmal kurz genickt und gesagt: »Der Wille des göttlichen Kuang-shi möge geschehen. Ich bin bereit.« Die Grotte wurde beleuchtet von unzähligen Fackeln. Doch es war nicht nur der nackte Stein, den sie aus der Dunkelheit rissen. Die hintere Höhlenwand bedeckte ein Bild, so kunstvoll, wie Tsa Mo Ra es noch nicht gesehen hatte. Es zeigte Choquai und die umliegende Landschaft in einem Realismus und Detailreichtum, der den Hof zauberer schwindelig werden ließ. Tsa Mo Ra wusste, dass die besten Künstler des Hofes diese atem beraubende Vision geschaffen hatten, und doch verblüffte ihn dieses Werk zutiefst. Kuang-shi sprach seine Gedanken aus, als er sich mit seiner fast sanften, eindringlichen Stimme an die Anwesenden wandte: »Dieses Bild atmet den Geist von Choquai. Und es wird noch existieren, wenn wir alle längst Geschichte sind. Shao Yu und ihren Schwestern kommt die Ehre zu, dieses Bild zu bewachen, mit ihm und in ihm für alle Ewigkeit. Seid ihr bereit?« Tsa Mo Ra sah die Entschlossenheit in Shao Yus Blick und das Ent setzen in den Augen ihrer Schwestern. Doch dann nickten alle drei. Shao Yu suchte den Blick von Tsa Mo Ra und lächelte. Dann sagte sie: »Ja, das sind wir.« »So sei es!« Ohne Vorwarnung schossen blaue Blitze aus Kuang shis Händen. Tsa Mo Ra schloss die Augen, als Yu und ihren Schwestern die Lebensenergie ausgesaugt wurde. Ein letztes Mal spürte er ihre Präsenz in seinem Geist. Mach’s gut,
mein Geliebter. Ich … Dann war da nur noch Stille.
* Irgendwo am Fuß der San Gabriel Mountains Im Haus war es dunkel und angenehm kühl. Nicole hatte das Ge fühl, als würden sie unzählige Augenpaare aus der Dunkelheit be obachten, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte. Aber vermut lich nahmen Fu Longs Kinder über Jin Mei telepathisch an ihrem Gespräch teil. »Du hast nichts zu befürchten«, sagte die Vampirfrau. »Dir droht hier keine Gefahr. Wir respektieren die Unantastbarkeit des Unter händlers. Außerdem bist du Zamorras Gefährtin, und Zamorra ist unser … Freund.« Nicole schluckte, doch sie erwiderte nichts. Es konnte ihr nur hel fen, wenn dieses Wesen in ihr keine Erzfeindin sah, sondern eine potenzielle Verbündete. Das würde es leichter machen. »Folge mir«, sagte Jin Mei. Die Vampirfrau führte Nicole in ein adrett eingerichtetes Esszimmer. Die wurmstichigen Möbel hätten das Herz jedes Restaurateurs höher schlagen lassen. Vermutlich stammten sie noch vom ersten Besitzer der Villa. Obwohl Nicole erst vor wenigen Stunden in Fu Longs Arbeitszimmer um Zamorras Le ben gekämpft hatte, war ihr dieser Teil des Gebäudes völlig unbe kannt. Jin Mei bot der Dämonenjägerin einen bequem aussehenden Sessel an und wandte sich zu einer Jugendstilanrichte, für die mancher An tiquitätensammler gemordet hätte.
»Tee?« »Ja, gern«, sagte Nicole. Eigentlich hatte sie gar keinen Durst, aber im Moment war ihr alles recht, was ihr half, die Situation etwas zu entspannen. Die Dämonenjägerin beobachtete, wie Fu Longs Gefährtin mit der ihr eigenen Anmut eine schlichte Kanne von der Anrichte nahm und etwas Tee in ein kleines Schälchen goss. »Trink! Er ist noch frisch.« Sie wusste, dass ich komme, dachte Nicole. Und sie hat bereits alles da für vorbereitet. Jin Mei goss sich ebenfalls etwas Tee ein und setzte sich der Dämonenjägerin gegenüber. Muss die Gewohnheit sein, wun derte sich Nicole. Schließlich brauchten Vampire eigentlich weder Nahrung noch Getränke – außer Blut. Und dann sah sie in den Au gen ihres untoten Gegenübers etwas, das sie zutiefst verwirrte. Trauer. »Was ist mit Fu Long? Hat das Ritual diesmal funktioniert?« »Er ist in Choquai. Zumindest hoffe ich das. Mögen ihm die Göt terdämonen den rechten Weg weisen. War eure Mission erfolgreich?« Nicole nickte. »Wir wissen, wo Kuang-shi ist.« Die untote Chinesin erwiderte nichts. Sie nahm nur einen weiteren Schluck Tee und wartete ab, was Nicole weiter zu sagen hatte. Die Dämonenjägerin entschloss sich, alle Karten offen auf den Tisch zu legen. Sie hatten keine Zeit mehr für Spielchen. »Er ist in einem Lagerhaus in Vernon, vermutlich bewacht von ei ner ganzen Armee von Tulis-Yon. Zu dritt werden wir mit denen niemals fertig. Wir könnten etwas Unterstützung gebrauchen.« Jin Mei stellte die Schale Tee sorgfältig ab und sah Nicole fest in die Augen. »Was schlägst du vor, Nicole Duval?«
»Einen Pakt. Wir brauchen die Reste der Vampirarmee.« Jin Mei zögerte mit der Antwort keine Sekunde. »Ich nehme dein Angebot an. Wenn Fu Long und Zamorra in Choquai Seite an Seite gegen Kuang-shi kämpfen, können wir das hier auch tun. Wir wer den mit euch in den Krieg ziehen, selbst wenn es unser Untergang sein sollte!«
* Choquai Der Besucher kam weit nach Mitternacht. Tsa Mo Ra befand sich in dem Teil des Gebäudes, der traditionell von der Hausherrin be wohnt wurde, als ein Diener den nächtlichen Gast meldete. »Wu Huan-Tiao? Was will er zu dieser Stunde?« »Das hat er nicht gesagt, Herr.« Tsa Mo Ra nickte. »Führe ihn in ins Studierzimmer, und bitte ihn, sich einen Moment zu gedulden.« Der Diener nickte und entschwand fast lautlos. Die anderen Skla ven warteten respektvoll außerhalb des Raumes. Der Hofzauberer hatte sie immer gut behandelt, und so trauerten sie mit ihm, auch wenn sie dem Objekt seiner Trauer – der in Ungnade gefallenen und hingerichteten Zauberin Shao Yu – weitaus weniger Verehrung ent gegenbrachten. Ursprünglich war dies ihr Haus gewesen und Tsa Mo Ra nur Shao Yus Gatte. Doch Kuang-shi hatte ihm das Gebäude zugesprochen. Das war eine großzügige Geste, denn nach dem Gesetz hätte der Oberste Guan von Choquai Yus kompletten Besitz für sich bean spruchen können, ohne dass dies als besondere Grausamkeit emp
funden worden wäre. Und doch hätte es Tsa Mo Ra das Herz gebrochen, die Räume wei ter zu nutzen, in denen Shao Yu so viele Jahre gelebt hatte. Ein letz tes Mal nahm er die Luft ihres Schlafzimmers in sich auf, doch sie kam ihm schal und abgestanden vor. Er hatte befohlen, den Trakt so zu belassen, wie er war. Nur die Diener würden ihn ab und an be treten, um die Räume sauber zu halten und nach dem Rechten zu sehen. Er selbst würde keinen Fuß mehr in diesen Teil des Gebäudes set zen. Zu viel erinnerte hier an Yu – und an sein eigenes Versagen. Tsa Mo Ra hätte nie gedacht, dass sie zu einer solchen Tat fähig wäre. Wie hatte er so blind sein können? Warum war er nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen, um sie von ihrem aberwitzigen Plan abzubrin gen? Tsa Mo Ra verdrängte die düsteren Gedanken. Er hatte Shao Yu geliebt, aber sie hatte ihr Schicksal selbst gewählt. Im Hinausgehen gab er den Dienern einen Wink. Sofort eilten sie zur Tür, um sie zu verschließen. Dann wandte er sich dem bewohnten Teil des Gebäudes zu – er hatte einen Besucher. Wu Huan-Tiao erwartete ihn im Studierzimmer. Erstaunt regis trierte Tsa Mo Ra, dass der sonst bis zur Lächerlichkeit eitle Hofzau berer nur eine schlichte Robe trug; nichts, was einem Mann seines Standes wirklich angemessen gewesen wäre. Etwas Dreck be schmutzte seine edlen Schuhe. Äußerst ungewöhnlich bei jeman dem, der beim Verlassen der Sänfte von einem Sklaven Rosenblätter auf den Boden streuen ließ, um nicht mit dem Staub der Straße in Berührung zu kommen. Der Hofzauberer war zu Fuß gekommen. Offenbar sollten selbst
seine eigenen Diener nichts von dem Ziel seines nächtlichen Aus flugs erfahren. Tsa Mo Ra verneigte sich. »Deine Anwesenheit in meinem beschei denen Haus beschämt mich, Wu Huan-Tiao. Verzeih, dass ich dich warten ließ.« Wu erwiderte den Gruß, auch wenn er sich nicht ganz so tief ver beugte wie sein Gegenüber: »Mir ist es eine Ehre, dein Gast zu sein, Tsa Mo Ra. Du siehst gut aus. Wie man hört, sind deine Wunden fast verheilt.« »Mein Heiler verbringt wahre Wunder. Manchmal frage ich mich, wer von uns der Zauberer ist.« »Ah, der Buddhist!« Diese aus Indien stammende neue Sekte wurde in China mit größ tem Mißtrauen betrachtet. Nicht nur die Anhänger des Konfuzius lehnten die neue Religion ab, sondern auch die geistige Elite von Choquai. Wu Huan-Tiaos spöttischer Tonfall bewies, dass er da kei ne Ausnahme bildete. »Du solltest nicht zu gering von ihm denken. Wu Xihou ist ein Mann von Ehre und unendlicher Weisheit. Ohne ihn würde ich heu te nicht hier stehen.« »So lange er dir hilft, soll es mir Recht sein. Wenn er Glück hat, wird er als Belohnung ja eines Tages als Fliege wiedergeboren – oder als Molch.« Wider Willen musste Tsa Mo Ra schmunzeln. Und dann brach es aus ihm hervor, und plötzlich musste auch Wu laut loslachen. Trä nen liefen Tsa Mo Ras Wangen hinunter, als der pavianköpfige Zau berer unvermittelt fragte: »Warum hast du mich gerettet?« Tsa Mo Ra stockte. Er suchte nach einer Antwort, aber er fand kei ne. »Es wäre so einfach gewesen, euren größten Konkurrenten zu ver
nichten und die Schuld für den Kampf mir in die Schuhe zu schie ben. Außer dem Obersten Guan selbst hätte es in Choquai dann nie manden gegeben, der mächtiger gewesen wäre. Stattdessen hast du deinem größten Feind geholfen – und deine Liebe verraten.« »Ich habe sie nicht verraten«, erwiderte Tsa Mo Ra eisig. »Shao Yu hat sich selbst verraten, indem sie diesen Anschlag geplant hat, ohne mich einzuweihen. Wer weiß, ob ich nicht der Nächste auf der Liste gewesen wäre.« »Ja, das kann man nie wissen«, räumte Wu ein. »Aber ich glaube, es war nicht die Angst vor dem Dolch im Rücken, die dich zu dieser Handlung trieb, sondern ein Gefühl für – Ehre. Und das hätte ich bei dir nie erwartet. Nicht bei einem Menschen.« »Dann hast du meine Rasse vielleicht unterschätzt, verehrter Wu Huan-Tiao.« Der pavianköpfige Zauberer lachte laut auf. »So weit wollen wir dann doch nicht gehen. Dich habe ich unterschätzt, das räume ich gerne ein. Aber mit deinem Volk will ich weiterhin nichts zu schaf fen haben.« »Ich habe immerhin ein Volk.« Wu erstarrte, und für einen Moment glaubte Tsa Mo Ra, der affen köpfige Zauberer würde sich gleich auf ihn stürzen. Doch dann ent spannten sich dessen Züge: »Da hast du leider Recht, Tsa Mo Ra. Und ich muss gestehen, dass ich in deiner Lage vermutlich nicht den Großmut gehabt hätte, den du unter Beweis gestellt hast. Wir waren bisher Rivalen, und daran wird sich vielleicht auch nichts ändern. Aber ich möchte nicht mehr dein Feind sein.« Mit allem hatte Tsa Mo Ra gerechnet, doch nicht damit. Vergeblich versuchte er, im grotesken Gesicht des affenköpfigen Zauberers einen Hinweis auf einen Trick oder eine Falle zu finden, doch Wu Huan-Tiao schien es wirklich ernst zu meinen.
»Ich fühle mich geehrt«, sagte Tsa Mo Ra mit einer Verbeugung. »Und ich nehme dein großherziges Angebot gerne an.« »Dann ist es hiermit beschlossen«, sagte Wu. »Von diesem Zeit punkt an soll keine Feindschaft mehr zwischen uns herrschen. Und wenn der Tag gekommen ist, werde ich mich glücklich schätzen, mich bei dir zu revanchieren.«
* Wuchang, zehn Jahre nach der Ankunft des Fremden Der blinde Vampir lachte, als er die typischen Gerüche der Stadt in sich aufnahm. Es roch nach gebratenem Hühnerfleisch, eingelegten Kräutern, Schweiß und Unrat, aber der Wohlgeruch der edelsten Duftöle hätte Wang Youwei nicht mehr entzücken können. Die Strapazen der letzten Tage waren vergessen. Er war am Ziel. Nur noch ein paar Stunden, und dann endlich würde der Regent von Wuchang seinem Schicksal begegnen. Während er seinen unförmigen Leib an den überfüllten Ständen des Nachtmarkts vorbei zwängte, dachte der ehemalige Beamte an die wundervolle Nacht seiner Wiedergeburt. Der menschliche Hof zauberer Tsa Mo Ra hatte ihn nach wenig angenehmen Stunden im Gefängnis in seinem eigenen Haus übernachten lassen. Doch You wei hatte nur ein Ziel: so schnell wie möglich zu fliehen. Als er sich eines Nachts aus dem Haus schleichen wollte, war er aus Versehen in Tsa Mo Ras Privatgemach geraten. Doch es war nicht der Hausherr gewesen, der ihn angefallen und seine Zähne in
Youweis Hals gebohrt hatte. Youwei lächelte, als er daran dachte, wie er seine Bestimmung trotz seines fast erloschenen Augenlichts plötzlich klar und deutlich vor sich gesehen hatte. Er musste Kuang-shis Reich in dieser Welt vergrößern. Leise in sich hinein kichernd setzte der Vampir seinen Weg durch die überfüllten Straßen fort. Er bemerke nicht die in eine safrangelbe Kutte gehüllte Gestalt, die ihm auf Schritt und Tritt folgte.
* Den Regenten von Wuchang fett zu nennen, wäre eine Schmeichelei gewesen. Siu-Tis Leibesfülle hatte so bedenkliche Ausmaße ange nommen, dass seine extra verstärkte Sänfte von doppelt so vielen Männern getragen werden musste wie üblich. Doch der Regent ver ließ seinen Palast nur noch selten. Er hatte sich den Gesetzen der Schwerkraft inzwischen so sehr gebeugt, dass er die meiste Zeit des Tages im Liegen zubrachte, wobei er von morgens bis abends weite re Köstlichkeiten in sich hineinstopfte. Dass die meisten Bewohner des Reiches kaum mehr als eine Schale Reis pro Tag zu essen hatten, störte Siu-Ti nicht. Das einzige, was den Regenten von Wuchang mit seinen Untertanen verband, war tiefer Ekel. Das einfache Volk war so schmutzig, so verlaust und so gewöhnlich, dass der Regent es die meiste Zeit vorzog zu vergessen, dass es überhaupt existierte. Außer natürlich, wenn es darum ging, eine neue Steuer zu ersinnen, um seinen Untertanen noch ein biss chen mehr Geld abzupressen, oder seine in zahlreichen Kriegen de zimierte Armee wieder aufzufüllen.
An diesem Abend feierte der Regent den 14. Geburtstag seiner jüngsten Konkubine, und der Diener, der sich vor ihm auf den Fuß boden presste, wusste, dass er mit seinem Leben spielte, weil er es wagte, Siu-Ti bei seinen hemmungslosen Genüssen zu stören. Aber die Nachricht, die er ihm zu überbringen hatte, duldete keinen Auf schub. »Es ist Wang Youwei, Herr«, flüsterte der Diener. »Er ist aus der verlorenen Provinz zurückgekehrt, und er hat eine dringende Nach richt für Euch. Es gehe um Leben und Tod, sagt er.« »Youwei?« Der Regent verschluckte sich fast an seinen knusprigen Hühnerkrallen. Wieso lebte dieser fette Bastard noch? Siu-Ti hatte herzlich gelacht, als Wang im Weinrausch gewitzelt hatte, der Kopf des Regenten sei so leer wie der Geldbeutel einer fäulniskranken Hure – und ihn dann mit einer kleinen Sonderaufgabe betraut. Er hatte nicht geglaubt, Wang jemals wiederzusehen. Am liebsten hätte er den Beamten gleich wieder mit Fußtritten aus der Stadt jagen lassen. Aber vielleicht stimmten die düsteren Legen den ja, die sich um die verlorene Provinz am Oberlauf des Yangtze rankten. Konnte es dort etwas geben, was so gefährlich war, dass es ihm selbst hier in Wuchang gefährlich werden konnte? Siu-Ti be schloss, kein Risiko einzugehen. Ich werde ihn erst anhören und dann aus der Stadt jagen. Sicher ist sicher. Müßig ließ der Regent seinen Blick über die Schar der versammel ten Schmarotzer gleiten, während er darauf wartete, dass der Diener mit Youwei zurückkam. Widerliches Pack, das sich auf meine Kosten den Bauch vollschlägt, dachte er angeekelt. Doch dann entdeckte er unter all den Hofschranzen, Konkubinen und Eunuchen eine Ge stalt, die ihn verwirrte. Es war ein Mönch, der eine schlichte safran farbene Kutte trug, und er starrte den Regenten direkt an, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann senkte er demütig wieder den Blick.
Wer ist der Mann? Und wieso starrt er mich so dreist an?, fragte sich der Regent. Er wollte schon die Wache rufen, doch dann erforderte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Der Diener führte eine ver wahrloste Gestalt herein, die so erbärmlich stank, dass Siu-Ti spürte, wie sich die gerade verschlungenen Hühnerkrallen wieder bei ihm meldeten. Sollte das tatsächlich Wang Youwei sein, dem sein gepflegtes Äu ßeres fast immer so wichtig gewesen war wie ein gut gefüllter Ma gen? »Verzeiht, mein Regent, dass ich in einem so erbarmungswürdi gen Zustand vor Euch treten muss«, sagte Wang Youwei, nachdem er sich tief vor seinem Herrn verbeugt hatte. Die Augen des Beam ten starrten ins Leere. Er ist blind, dachte Siu-Ti. Für einen Moment spürte er fast einen Anflug von Mitleid. »Ihr habt es in Eurer unendlichen Weisheit sicher schon gemerkt. Ich habe auf meiner Reise an die Grenzen des Reiches mein Augen licht verloren. Doch das zählt nicht, denn ich habe das bis in alle Ewigkeit strahlende Licht der Wahrheit gesehen.« »Es freut mich, dass Euch die Reise so gut bekommen ist«, höhnte der Regent. »Und Ihr wollt dieses ewige Licht der Wahrheit sicher mit mir teilen.« »Oh ja, das will ich, Herr«, sagte Wang Youwei und stürzte sich auf seinen Herrscher. Als Siu-Ti die Vampirzähne auf seinen Hals zuschießen sah, wusste er, dass alle Legenden über die verlorene Pro vinz wahr waren. Röchelnd versuchte er, sich Wang vom Leib zu halten, als etwas den massigen Körper des untoten Beamten von ihm riss. Fassungslos sah Siu-Ti zu, wie der Mönch, den er eben be merkt hatte, auf Wang hockte und ihm einen angespitzten Pflock ins Herz trieb. In Sekundenschnelle zerfiel der Körper des Vampirs zu
Staub. »Wie kann ich Euch danken?«, stammelte Siu-Ti. Großzügigkeit war eigentlich nicht die hervorstechendste Eigenschaft des Regenten von Wuchang. Aber als Dank für sein Leben würde er gerne ein paar Goldmünzen springen lassen. »Oh, da wüsste ich schon etwas«, sagte der Mönch und enthüllte ebenfalls spitze Eckzähne. »Ich brauche eine Armee …«
* Vernon Es war eine unheimliche Armee, die den Lagerhallen-Komplex ein kreiste. Wie riesige Fledermäuse näherten sich Fu Longs Kinder dem von einem hohen Zaun umschlossenen Gelände von Patrick Lau Enterprises und verschmolzen mit den Schatten. Wohnhäuser gab es hier nicht, und die Straßennutten und Junkies, die ihr Territorium ständig erweiterten, waren noch nicht soweit vorgedrungen. So würde es keine Zeugen geben, wenn es in dieser Nacht zur Entscheidungsschlacht kam. Und keine unschuldigen Opfer. Nicole, Gryf und Chin-Li waren mit einem Chevrolet gekommen, den Jin Mei ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Nicht gerade zu Gryfs Freude, der Autofahren für eine äußerst mittelalterliche Art der Fortbewegung hielt. Aber da er die nähere Umgebung von Kuang-shis Versteck nicht kannte, war ein zeitloser Sprung nicht möglich – und auch nicht ratsam, da sie nicht wussten, welche Über raschungen dort auf sie warteten. Die einzige Alternative wäre gewesen, sich von den Vampiren
durch die Luft tragen zu lassen, und Gryf hätte sich lieber ein Bein abgeschnitten, als das auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie parkten mehrere hundert Meter von den fast in völlige Dunkel heit getauchten Lagerhallen entfernt. Ein paar schwache Straßenla ternen erhellten nicht mehr als die unmittelbare Umgebung des Zaunes, der Unbefugte vom Gelände fernhalten sollte. Selbst auf diese Entfernung war Kuang-shis Aura so deutlich zu spüren, dass sie selbst bei Chin-Li, die als einzige nicht über ParaSinne verfügte, tiefe Beklemmungen auslöste. »Wie halten die Menschen das nur aus? So eine starke Ausstrah lung muss doch auffallen«, fragte sie. »Wahrscheinlich ist die Aura erst seit der Benutzung des Hong Shi so stark geworden, dass sie auch außerhalb des Geländes spürbar ist«, mutmaßte Nicole. »Und die Belegschaft besteht vermutlich längst ausschließlich aus Tulis-Yon.« »Apropos«, mischte sich Gryf ein. »Würde mich nicht wundern, wenn diese wolfsköpfigen Biester unsere Ankunft längst bemerkt hätten. Wahrscheinlich bereiten sie für uns gerade einen warmen Empfang vor.« »Dann wollen wir sie nicht warten lassen«, sagte Chin-Li und zog ihren Blaster. »Nur nichts überstürzen«, warnte Nicole. »Wir dürfen nicht ver gessen, dass wir hier nicht alleine in den Krieg ziehen.« »Wie könnte ich das vergessen – bei so charmanten Verbündeten«, motzte Gryf. Lautlos öffnete der Silbermond-Druide die Beifahrertür und glitt hinaus in die Nacht. Nicole und Chin-Li folgten ihm, die Blaster im Anschlag. Gebückt näherten sie sich dem umzäunten Ge lände. Sie kamen an unzähligen Vampirkriegern vorbei, die hinter Autos, Straßenlaternen oder Zäunen versteckt, fast mit der Dunkel heit verschmolzen.
Doch Nicole gab sich trotzdem keinen Illusionen hin. Sie würden nicht den Vorteil eines Überraschungsangriffs haben. Kuang-shis Truppen wussten, dass sie kamen, und sie würden vorbereitet sein. Vor dem Tor hielten sie inne. Nicole glaubte, für einen Sekunden bruchteil in der Dunkelheit vor ihr gelbe Raubtieraugen aufblitzen zu sehen. Aber das konnte auch eine Sinnestäuschung sein. Nicole blickte sich nicht um, als sie neben sich das leichte Gera schel von Stoff hörte. Fast lautlos landete Jin Mei neben ihr auf dem Asphalt. »Meine Kinder haben ihre Stellungen bezogen. Wir sind bereit.« »Dann los!«, zischte Nicole. Und der Angriff begann.
* Choquai, zehn Jahre nach der Ankunft des Fremden Tsa Mo Ra trieb sein Pferd in vollem Galopp auf das Stadttor von Choquai zu. »Ist das alles, was du draufhast, Mensch? Dein Pferd ist langsamer als eine fußlahme Schnecke«, höhnte Wu Huan-Tiao, der mit seinem Rappen einige Meter vorausritt. Tsa Mo Ra lachte. »Freu dich nicht zu früh, Wu. Mein Pferd hält sich nur zurück, um dich nicht allzu sehr zu blamieren.« »Wirklich sehr rücksichtsvoll«, rief Wu, und gab seinem Rappen wild lachend die Sporen. »Lass mich nicht im Stich«, flüsterte Tsa
Mo Ra seiner Stute zu, und tatsächlich verringerte sich ihr Abstand wieder. Der Hofzauberer fühlte sich prächtig. Seit Wus Friedensangebot hatte sich tatsächlich eine Art von Freundschaft zwischen ihnen ent wickelt, die wohl beide nie für möglich gehalten hätten. Und in Mo menten wie diesen gelang es ihm sogar manchmal, für ein paar Stunden seine Trauer um Shao Yu zu vergessen. »Gewonnen«, rief Wu lauthals, als er als erster das Stadttor er reichte. Einige Vampire sahen sich indigniert um, aber der pavian köpfige Hofzauberer beachtete sie gar nicht. »Du schuldest mir einen von deinen Zaubersprüchen.« »Von wegen! Ich habe genau gesehen, wie du deinem Klepper ein Pülverchen aus deinem Zauberbeutel auf den Zuckerwürfel gestreut hast.« »Das hast du bemerkt?« Wu wirkte kein bisschen verlegen. Er grinste lausbübisch. »Wir sind Zauberer. Warum sollten wir uns bei einem Wettkampf auf die Natur verlassen?« Während sie nebeneinander die Hauptstraße entlang ritten, ließ Tsa Mo Ra seine Gedanken schweifen. Er dachte an den Wang You wei, den fetten, fast erblindeten Beamten aus Wuchang, der vor eini gen Wochen in seinem Haus zu Gast gewesen war. Bis heute wusste niemand, wohin er verschwunden war und wie er aus Choquai hat te entkommen können. Wo immer du bist, ich hoffe, deine Götter haben dir ein gnädiges Schicksal zugedacht, mein Freund, dachte Tsa Mo Ra, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Es war ein älterer Chinese, der am Straßenrand stand und ihn an starrte. Er trug die safrangelbe Kutte eines Mönches, und ein seltsa mes Lächeln umspielte seine Lippen, während Tsa Mo Ra an ihm vorbei ritt. Ich kenne diesen Mann. Ich habe ihn schon einmal gesehen – damals.
Tsa Mo Ra sah zurück. Doch der fremde Mönch war bereits in der Menge verschwunden.
* Die junge Dienerin wirkte nervös, als Tsa Mo Ra nach einem langen Tag in der Bibliothek nach Hause zurückkehrte. Der Mond war schon vor Stunden aufgegangen und tauchte die Stadt in sein fahles Licht. »Ihr habt einen Besucher, Herr. Er ließ sich nicht abwimmeln. Es ist ein Mönch«, sagte Choi-Fung. »Ein Mönch?« Tsa Mo Ra wusste, dass es nur der geheimnisvolle Fremde sein konnte, der ihn am Nachmittag auf der Straße angest arrt hatte. So, als würde er ihn schon sehr lange kennen. »Wie ist sein Name?« »Ich … ich weiß es nicht, Herr«, druckste das Mädchen herum. »Er wollte ihn mir nicht nennen. Aber er sagte, er sei ein alter Freund. Jemand, der Euch … von früher kennt.« »Von früher?« Tsa Mo Ra hatte das ungeklärte Geheimnis seiner Herkunft lange Zeit verdrängt. Und er wusste nicht, ob er gerade jetzt wieder daran rühren wollte. Andererseits war dies vielleicht eine einmalige Chance, etwas über seine Vergangenheit zu erfahren. »Wo ist er? Ich will ihn sprechen!« »Er wartet im Studierzimmer. Soll ich Euch ankündigen?« »Das ist nicht nötig«, sagte Tsa Mo Ra. »Geh ins Bett, es ist spät.« Er nickte dem Mädchen zu und machte sich auf den Weg. Der Mönch hatte ihm den Rücken zugewandt, als der Hofzauberer den Raum betrat, aber Tsa Mo Ra erkannte seinen Besucher dennoch
sofort. Es war tatsächlich der Fremde vom Nachmittag. »Ihr wolltet mich sprechen?« Es zeugte nicht gerade von guten Manieren, so ohne Umschweife zum Thema zu kommen, aber Tsa Mo Ra spürte, dass Höflichkeitsfloskeln hier nicht angebracht wa ren. »In der Tat!« Der Mönch drehte sich um, und Tsa Mo Ra sah die wache Intelligenz, die in den Augen des Fremden aufblitzte. Der Vampir verbeugte sich mit einem leichten Lächeln. »Es ist sehr großherzig, dass Ihr einem unwürdigen Fremden die Gastfreundschaft Eures Hauses anbietet, Herr.« »Wer seid Ihr?« »Mein Name ist Fu Long.« »Was führt Euch zu mir, Fu Long? Meine Dienerin sagte mir, Ihr wärt ein alter Bekannter von mir, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wer Ihr seid.« »Das glaube ich wohl. Man sagt, Ihr wärt ohne Gedächtnis nach Choquai gekommen …« »Da seid Ihr richtig informiert«, sagte Tsa Mo Ra vorsichtig. »Was wisst Ihr darüber?« »Nun … ich bin dafür verantwortlich.« »Was?« Tsa Mo Ra konnte die Dreistigkeit kaum fassen, mit der dieser Fremde ihm eingestand, ihm seine Identität gestohlen zu ha ben. Fu Long sah ihn so freundlich und ungerührt an, als habe er ihm gerade gestanden, in der Küche einen Krug mit Wasser umge stoßen zu haben. »Ihr solltet das besser schnellstens erklären, ehrenwerter Fu Long – bevor ich die Tulis-Yon rufe und Euch in den Kerker werfen lasse.« »Ihr habt nichts von mir zu befürchten, Tsa Mo Ra. Im Gegenteil,
ich bin hier, um Euch zu helfen.« »Mir helfen? Wie das?« »So!«, sagte Fu Long und schnellte vor. Bevor Tsa Mo Ra reagieren konnte, hatte der Vampir ihn gepackt und schleuderte ihn gegen die Wand. Die linke Hand presste er gegen den Mund des Hofzaube rers, damit er nicht um Hilfe schreien konnte, die andere legte er auf seine Stirn. Die Berührung traf Tsa Mo Ra wie ein Schlag. Für einen endlos er scheinenden Moment erstarrte der Zauberer, als sei er aus Stein. Und dann sah er. Unzählige Eindrücke eines fremden Lebens stürzten auf ihn ein, und als es zu viel wurde, wollte Tsa Mo Ra sei nen Schmerz in die Nacht hinaus schreien. Doch kaum ein Ton kam über seine Lippen, nur ein heiseres Röcheln, das Fu Long mit seiner Hand erstickte. Tsa Mo Ra sah ein fremdartig aussehendes Schloss über einem grünen Tal, durch das sich ein großer Fluss schlängelte; er sah un zählige bizarre Kreaturen, von denen einige seine Freunde waren, die meisten aber seine erbitterten Feinde – und er sah eine wunder schöne Frau, die ihn mit hellwachen braunen Augen ansah, in deren Pupillen goldene Tüpfelchen schimmerten. »Nicole!« Dann sackte der Zauberer hilflos in sich zusammen. Fu Long fing ihn auf, bevor er mit dem Gesicht geradewegs auf den harten Stein boden knallte. »Du weißt wieder, wer du bist?«, fragte Fu Long und half dem Mann, der einst Professor Zamorra gewesen war, auf die Beine. Die Knie drohten dem heftig zitternden Menschen wegzuknicken. Er musste sich an dem Vampir festhalten, als er zum nächsten Stuhl wankte. »Ob ich weiß, wer ich bin? Oh j a! Der Mann, dem du zehn Jahre
seines Lebens gestohlen hast. Den du gezwungen hast, seinem größ ten Feind als Hofzauberer zu dienen!« »Es war nicht ganz so«, sagte Fu Long. »Lass es dir erklären …« »Was ist mit Nicole?« »In unserer Welt sind nur ein paar Stunden vergangen. Sie ist noch genau die Frau, die du kennst!« »Na wunderbar«, sagte Zamorra und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er fühlte sich, als habe er gerade ohne Sauerstoffgerät den Mount Everest erklommen. Sein Herz raste, und auch seine Atmung bekam er nur schwer unter Kontrolle. »Aber ich bin nicht derselbe. Ich habe zehn Jahre hier gelebt, als Mensch unter Vampiren – und ich kann mich an jede verdammte Minute davon erinnern. Ich habe eine an dere Frau geliebt! Wie soll ich das je vergessen? Dafür töte ich dich, Fu Long!« »Wenn du Glück hast, übernimmt das Kuang-shi für dich!«, sagte Fu Long lakonisch. »Ja, vielleicht ist er so nett«, murmelte Zamorra. Mit Entsetzen registrierte der Parapsychologe das Gefühlschaos, das in ihm herrschte. Der Vampirgott war einst einer seiner schlimmsten Feinde gewesen, eine der tödlichsten Bedrohungen, mit der die Menschheit je konfrontiert worden war. Doch in den letzten zehn Jahren hatte er einen ganz anderen Kuang-shi kennen gelernt. Einen Kuang-shi, dem er vertraut und den er – verehrt hat te. Doch hatte er sich nicht schon lange angeekelt von den Schatten seiten der Herrschaft Kuang-shis abgewandt? Hatte ihn das Schick sal der unzähligen gefolterten und ermordeten Menschen nicht zu tiefst entsetzt? Und hatte er sich nicht schon vor Shao Yus Tod in nerlich längst von Kuang-shi gelöst? Dann stellte Zamorra die alles entscheidende Frage: »Wie sieht es
in unserer Welt aus?« Fu Long erzählte es ihm. Zamorra hörte dem Vampir schweigend zu und sagte auch nachher eine ganze Weile lang nichts. Dann er hob er sich, ging immer noch leicht unsicher zum Fenster und blick te hinaus in die Nacht. »Dann habe ich den ganzen Schlamassel ausgelöst, als ich den Hong Shi eingesetzt habe …« »Du hast Nicole gerettet.« »Und die Welt damit zum Untergang verurteilt. Kein guter Tausch.« »Noch ist es nicht zu spät. Wir haben noch eine Chance.« »Und die wäre?« Neugierig sah sich Zamorra um zu dem Vampir, der ihn fast gleichmütig ansah. »Ich habe einen Plan. Und ich habe eine Armee …«
* Vernon Auch das Firmengelände war magisch gegen das Eindringen per zeitlosem Sprung beschützt. Doch das hielt die Angreifer nicht länger als ein paar Sekunden auf. Die Blaster schnitten ein großes Loch in den Zaun, und dann waren Nicole, Gryf und Chin-Li auf dem Ge lände. Neben ihnen jagte Jin Mei mit einem gewaltigen Satz über die Absperrung. Und dann schien sich der Nachthimmel zu verdunkeln, als die Vampire aus ihren Verstecken kamen und wie ein Heuschrecken schwarm über das Gelände herfielen. Der Kampf gegen die TulisYon vor einigen Monaten hatte viele Opfer gekostet, doch die Vam
pirarmee zählte immer noch weit über hundert Krieger. Und jeder einzelne von ihnen war bereit, sein eigenes Leben zu opfern, um Kuang-shis Siegeszug zu stoppen. Für einen Moment sah es aus, als würden sie nicht auf Widerstand stoßen. Doch dann kamen sie! Raubtieraugen blitzten wie Edelsteine in der Dunkelheit auf, und dann fielen die Tulis-Yon über die Angreifer her. Es waren unzähli ge, und sie waren eindeutig im Vorteil. Eine einzige Biss- oder Kratzwunde reichte aus, um das Opfer zu einem der ihren zu ma chen, während die Wolfskrieger selbst für einen Vampir nur schwer zu töten waren. Doch die Vampirarmee war nicht unvorbereitet. Kyle und seine Männer hatten bei ihrem Bruch mit der Familie nur einen kleinen Teil des Waffenarsenals mitnehmen können, das Friedhelm Steiner und Fu Long für den Kampf gegen die Tulis-Yon angesammelt hatten.* Nicole kam sich wie in einen Kriegsfilm versetzt vor, als um sie herum Granaten einschlugen und riesige Flammenfinger Tulis-Yon in lebende Fackeln verwandelten. »Ich glaube, es ist dort drüben«, rief Gryf. Der Silbermond-Druide deutete mit der linken Hand auf ein weit entfernt liegendes Lager haus, während er zugleich einen heranstürmenden Tulis-Yon mit seinem Flammenwerfer unter Dauerfeuer nahm. Der Wolfskrieger versuchte verzweifelt, dem tödlichen Feuerstrahl auszuweichen, dann brach er brennend zusammen. »Das Gebäude sieht genauso aus wie das, das ich in Laus Geist gesehen habe.« Nicole nickte. Zu dritt näherten sich die drei Dämonenjäger dem Lagerhaus, während um sie herum die Schlacht unvermindert wei tertobte. Doch Nicole spürte, wie ihr jeder Schritt schwerer fiel. Mit *siehe PZ 798: »Die Rache der Tulis-Yon«
jedem Meter steigerte sich die Aura des Götterdämons immer mehr ins Unerträgliche, und sie befürchtete, sich jeden Moment überge ben zu müssen. Durch einen Seitenblick erkannte Nicole, dass es ihren Gefährten nicht besser ging. Gryf und Chin-Li waren kreidebleich, aber sie kämpften sich tapfer Schritt für Schritt voran. Und dann hatten sie die Lagerhalle erreicht. Einen Schritt noch, ich muss noch einen Schritt gehen, und dann erlebt dieser gottverdammte Raffzahn sein blaues Wunder, dachte Nicole – als sie von einer unsicht baren Macht zurückgeschleudert wurde.
* Wu Huan-Tiao verfolgte angespannt die Schlacht. Es sah nicht gut aus. Tsa Mo Ras Gefährten und die mit ihnen verbündete Vampirar mee schlugen sich besser als erwartet. Doch immerhin war es ihnen noch nicht gelungen, in die Lagerhalle einzudringen, in der Kuang shi das Ende der Welt herbei träumte. Und das würde auch so bleiben. Die Reihen der Verteidiger muss ten nur noch ein bisschen länger standhalten, bis die Realität von Choquai diese jämmerliche Welt so sehr durchdrungen hatte, dass der Prozess unumkehrbar war. Der pavianköpfige Zauberer beobachtete aus seinem Versteck, wie Nicole Duval, Gryf ap Llandrysgryf und die chinesische Killerin ge gen die magische Barriere prallten, die er um die Lagerhalle errich tet hatte. Doch Wu wusste, dass er vor allem das magische Potenzial des Druiden nicht unterschätzen durfte. Es konnte nichts schaden, die Blockade zu erneuern und zu verstärken. Wu holte aus einem braunen Lederbeutel einen Pergamentstreifen
heraus, auf den er einen entsprechenden Spruch geschrieben hatte. Er warf das Pergament in die Luft – wo es in der Hand eines breit grinsenden blonden Jünglings landete. »Gryf ap Llandrysgryf!« Bevor das Pergament seinen Zauber entfalten konnte, hatte der Sil bermond-Druide es bereits hinuntergeschluckt. Dann rülpste er laut und vernehmlich. »Nicht schlecht. Vielleicht ein bisschen laff.« »Wie kannst du es wagen …« »Ach ja, und wir müssten da vorne mal durch die Tür. Du hast nicht zufällig einen Schlüssel?« Wu Huan-Tiao wollte etwas erwidern, doch dann spürte er, wie etwas nach seinen Gedanken griff. Wenige Augenblicke später brach er bewusstlos zusammen.
* Choquai Es war kurz nach Mitternacht, als Tsa Mo Ra seine Dienerschaft zu sammenrief. Es waren ein knappes Dutzend Männer und Frauen, die sich im Studierzimmer versammelten. Zamorra kannte jeden von ihnen schon seit seiner Ankunft in Choquai und er wusste, dass er jedem einzelnen von ihnen vertrauen konnte. Dennoch war es ein Wagnis, sie in den Plan einzuweihen, den er mit Fu Long besprochen hatte. Doch es gab keinen anderen Weg. Wenn sie Kuang-shi besiegen wollten, brauchten sie Verbündete. Schweigend hörten die Diener zu, als Tsa Mo Ra ihnen erklärte, dass Kuang-shis Herrschaft am nächsten Tag enden würde. »Die meisten von euch wurden als Sklaven geboren, aber niemand von
euch soll als Sklave sterben. Vor den Toren der Stadt wartet die Ar mee des Herrschers von Wuchang nur auf das Zeichen zum Zu schlagen. Doch wir brauchen auch Verbündete in der Stadt, die die Gefangenen aus den Gefängnissen befreien und den Aufstand von einem Haus zum anderen tragen, bis sich alle Sklaven gegen ihre Herren erheben. Ich will euch nichts vormachen. Es ist gefährlich, und viele von euch werden morgen sterben. Aber wenn ihr siegreich seid, wird die Zeit der Willkürherrschaft ein für allemal vorbei sein. Dann seid ihr frei!« Zögerlich sah Choi-Fung zu dem Vampir, der in einer Ecke schweigend den Worten des Hausherrn gelauscht hatte. »Was ist mit ihm, Herr? Er ist doch auch ein …« »Fu Long ist der erbittertste Gegner Kuang-shis, den ich kenne. Ihr könnt ihm vertrauen. Ich tue es auch.« Die junge Dienerin nickte. Die Antwort schien ihr zu genügen. Dann meldete sich Wu Xihou zu Wort. Der buddhistische Heiler war rund 90 Jahre alt und konnte sich nur noch mit Hilfe von zwei Stöcken auf den Beinen halten, doch seine Stimme klang fest und entschlossen wie nie zuvor: »Herr, Ihr wart immer gut zu uns, und Ihr habt uns behandelt wie Menschen, nicht wie Tiere, wie es sonst in dieser Stadt üblich ist. Wir sind keine Krieger. Keiner von uns weiß, wie man ein Schwert führt oder eine Lanze. Aber an Eurer Sei te würden wir gegen jeden Feind in die Schlacht ziehen, um das Joch der Tyrannei endlich abzuschütteln!« Die anderen Diener murmelten zustimmend. »Ich danke euch. Und jetzt geht und ruht euch aus. Morgen früh werden wir die Einzelheiten besprechen.« »Du vertraust mir?«, fragte Fu Long, als der Letzte den Raum ver lassen hatte. »Habe ich eine andere Wahl?«, erwiderte Zamorra mit einem
schmalen Grinsen. »Wahrscheinlich nicht. Aber es ehrt mich trotzdem«, sagte der Vampir ernst. »Was ist mit dem Regenten von Wuchang? Können wir ihm ver trauen?« Fu Long lächelte. »Natürlich nicht. Wie die meisten mächtigen Männer lockt ihn das Gold. Der legendäre Reichtum Choquais hat sich bis nach Wuchang herumgesprochen. Aber er ist ein nützliches Werkzeug, um Kuang-shi zu stürzen.« »Was ist mit den Sklaven? Werden sie wirklich frei sein?« »Freiheit ist ein sehr relativer Begriff, Zamorra. Aber zumindest müssen sie nicht mehr befürchten, im südlichen Park als Jagdbeute zu enden. Und Wuchang und der Regent sind immerhin weit weg.« Zamorra nickte. Aber eine Frage brannte ihm noch auf den Lip pen: »Was ist mit Youwei?« Fu Long sah den Parapsychologen fragend an. »Was soll mit ihm sein?« »Er war in meinem Haus, als er von einem Vampir attackiert wur de. Das Problem ist nur: Seit Shao Yus Tod gibt es hier keine Vampi re. Wer steckt also dahinter?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, räumte Fu Long ein. »Viel leicht war es ein Einbrecher, der zufällig von Youwei erwischt wur de.« »Unwahrscheinlich. Wir sind hier nicht in L.A.« »Oder jemand war der Meinung, dass ein Mensch einfach nicht vertrauenswürdig genug ist, um dem göttlichen Kuang-shi zu die nen. Also beschloss er, ein bisschen nachzuhelfen.« »Jemand wie Agkar, zum Beispiel?« »Zum Beispiel. Nur dass der Attentäter, der aus dir einen getreuen
Vampir machen sollte, seine Zähne aus Versehen in den falschen Hals schlug.« Fu Long hielt einen Moment inne. »Oder die Vorse hung wusste einfach, dass wir einen Köder brauchten, um den Re genten von Wuchang auf unsere Seite zu ziehen.« Zamorra sah Fu Long zweifelnd an. »Man muss wohl Chinese sein, um auf so etwas zu kommen.« Fu Long lächelte. »Es hilft zumindest.«
* Vernon »Ah, die kleine Gespielin des Verräters!« Agkar von den Tulis-Yon hatte Fu Long bisher mit dem größten Respekt behandelt. Aber für die Gefährtin des Vampirs galt das nicht. Der Anführer der Tulis-Yon war in einer Zeit und in einer Kultur aufgewachsen, in der eine Frau nicht mehr wert war als der Dreck, auf dem sie lief. Und obwohl er bei den weiblichen Angehö rigen seines eigenen Volkes eine Ausnahme machte und sie wie vollwertige Krieger behandelte, war seine generelle Einstellung Frauen gegenüber immer noch dieselbe wie vor zweitausend Jahren. Doch Jin Mei war schon in ihrem kurzen menschlichen Leben nie mand gewesen, der sich gern unterordnete. Und daran hatten auch ihr Tod und ihre Wiedergeburt als Vampir nichts geändert. Sie war eine treue Gefährtin ihres Geliebten. Aber sie war auch eine Kriege rin. »Die Machosprüche kannst du dir sparen«, fauchte die schöne Chinesin und bleckte kampfeslustig ihre Zähne. »Auch euer ver staubter Götterdämon müsste langsam mitbekommen haben, dass
wir uns inzwischen im 21. Jahrhundert befinden.« Agkars schmales Lächeln enthüllte im Laufe der Jahrtausende gelb und fleckig gewordene Zähne. »Sprich nur weiter. Für diesen Frevel werde ich dich in Stücke reißen, du Hure!« Schlagartig verwandelte sich sein uraltes, faltiges Gesicht in eine geifernde Wolfsfratze, und Agkar griff an. Doch der Anführer der Tulis-Yon hatte Jin Mei unterschätzt. Sie hatte in den letzten Monaten hart für diesen Tag trainiert, und jetzt setzte sie ihr Können ein. Mit einem atemberaubenden Sprung brachte sich die Vampirin vor Agkars Raubtierzähnen in Sicherheit. Bevor Agkar reagieren konnte, knallten Jin Meis Stiefel hart in sei nen Rücken. Ächzend ging der Alte in die Knie, doch er wirbelte gleich herum, packte Jin Meis Unterschenkel und riss die Vampirin zu Boden. Dann warf sich der Wolfskrieger auf die verzweifelt um sich schla gende Untote. So ausgemergelt er aussah, so unnachgiebig war der Griff, mit dem der Anführer der Tulis-Yon seine Gegnerin zu Boden presste. »Sag mir eins, bevor ich dich von deinem Verräterdasein erlöse …« »Fahr zur Hölle, Hurensohn«, zischte Jin Mei. Sie sah Agkars Hand kaum kommen. Hart knallte ihre rechte Wange auf den Boden. »Wo ist Fu Long? Ist er etwa zu feige, um sich Kuang-shi persön lich zu stellen?« Verächtlich lachte die schöne Vampirin ihrem Widersacher ins Ge sicht. »Im Gegenteil! Er ist dort, wo er ihm am meisten schaden kann.« Perplex starrte der Wolfskrieger Jin Mei an. Dann beugte er seine Schnauze so weit zu ihr runter, dass sie seinen Ekel erregenden
Atem riechen konnte. Er stank nach Tod und Verwesung. »Fu Long ist in Choquai?« »Überrascht?« Ein wildes Knurren entwich Agkars Kehle und für einen Moment befürchtete Jin Mei, der Tulis-Yon könnte sich sofort auf sie stürzen und ihr die Kehle zerfetzen. Doch dann beugte er sich so weit zu ihr runter, dass die grauen Gesichtshaare ihre Wangen berührten. »Es wird ihm nichts nützen. Fu Longs Tage sind längst gezählt. Er wird diesen Krieg nicht überleben.« »Mag sein, aber vorher tritt er deinem Götterdämon noch einmal gehörig in den Arsch.« Der Schock über diesen ungeheuren Frevel dauerte weniger als eine Sekunde, aber das reichte Jin Mei völlig aus. Die Vampirkriege rin hatte sich während des ganzen Gesprächs auf diesen einen Mo ment konzentriert, in dem Agkar abgelenkt war. Ihre rechte Hand fuhr zu ihrem Gürtel, zog etwas hervor und stieß es dem Wolfskrie ger mit aller Kraft in den Unterleib. Ungläubig starrte der Wolfsköpfige sie an, als kaltes Metall seine Bauchdecke durchstieß und tief ins Gewebe eindrang. Jin Mei nutzte die Gelegenheit und befreite sich mit einer geschick ten Drehung aus der plötzlich nicht mehr ganz so festen Umklam merung. »Du hast vielleicht rohe Kraft, alter Mann, aber darum allein geht es nicht«, schrie sie. Mit einem brutalen Kick vor die Wolfsschnauze, der sogar Chin-Li Respekt abgenötigt hätte, schleuderte sie den Tu lis-Yon zu Boden, bevor sie sich selbst mit einem Sprung in Sicher heit brachte. Keine Sekunde zu früh. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Brandgranate, die die Vampirkriegerin Agkar in den Unterleib gerammt hatte. Ver
zweifelt wehrte sich der Anführer der Tulis-Yon gegen sein Schick sal, doch es war zu spät. Die Flammen leckten über seinen Körper, bis sie ihn schließlich ganz umhüllten. Doch selbst im Tod bewahrte der uralte Wolfskrieger seine Würde. Kein einziger Ton des Schmerzes kam über Agkars Lippen, als er zusammenbrach. »Männer!« murmelte Jin Mei. »Das habt ihr davon, uns immer zu unterschätzen!« Dann erhob sie sich in die Luft und suchte im Schlachtgetümmel nach Nicole, Chin-Li und Gryf.
* Choquai »Wer ist dieser Mann?« Agkar von den Tulis-Yon sah Fu Long misstrauisch an. Obwohl der Anführer der Tulis-Yon sein menschliches Antlitz trug, blitzten seine gelben Augen wie die eines lauerndes Raubtiers. »Er ist ein Mönch vom Orden der Silbernen Mondsichel, und er bringt wichtige Nachrichten von der Grenze des Reiches. Lasst uns durch!«, befahl Zamorra. Jetzt, wo er wusste, dass der Tulis-Yon sein Feind war, fiel es ihm schwer, ruhig zu bleiben. Er dachte daran, wie eine dieser wolfsköp figen Bestien Nicole mit ihrem Keim infiziert hatte, um ihn zu zwin gen, den Hong Shi einzusetzen. Wie hatte er zehn Jahre lang inmit ten dieser Bestien leben können? Und wie hatte er Nicole vergessen können?
»Ich kann ihn nicht durchlassen, das wisst Ihr so gut wie ich«, wi dersprach Agkar. »Kein Fremder darf den Thronsaal betreten, wenn es nicht Kuang-shis ausdrücklicher Wille ist.« Zamorra wusste, dass Agkar ungeachtet der Position, die Tsa Mo Ra bei Hofe einnahm, nicht zögern würde, ihn auf der Stelle zu zer reißen, wenn er Kuang-shi in Gefahr wähnte. Und die anderen vier Tulis-Yon, die mit ihm den Eingang zum Thronsaal bewachten, sa hen nicht weniger entschlossen aus. »Vielleicht sollten wir ein anderes Mal wiederkommen, wenn der Oberste Guan von Choquai, möge er zehntausend Jahre leben, in seiner unendlichen Güte geruht, uns vielleicht doch noch zu emp fangen«, schlug Fu Long diplomatisch vor. Doch Zamorra schüttelte den Kopf. Wenn Agkar erst mal seine Spione auf Fu Long ansetzte, war alles zu spät. Der Geheimdienst von Choquai arbeitete schnell und effektiv. Er würde weniger als einen Tag brauchen, um herauszufinden, dass es in dem von Zamor ra genannten Vampirorden keinen Mönch namens Fu Long gab. Au ßerdem würden Choi-Fung, Wu Xihou und die anderen Diener in weniger als einer halben Stunde losschlagen. Sie mussten Kuang-shi jetzt sehen, sonst scheiterte der ganze Aufstand. Doch an den Tulis-Yon war offenbar kein Vorbeikommen. Besorgt registrierte der Dämonenjäger, wie Agkar fast unmerklich sein Ge wicht verlagerte. Der Anführer der Tulis-Yon würde keine weitere Aufsässigkeit gegen seine Anordnungen dulden. Auch nicht von ei nem so engen Vertrauten Kuang-shis. Fieberhaft suchte Zamorra nach einer Lösung, als er bemerkte, wie sich Agkars Blick nach innen richtete. Zamorra kannte die Anzei chen. Offenbar erhielt der Anführer der Tulis-Yon gerade einen tele pathischen Befehl von Kuang-shi. Dann klärte sich der Blick des Wolfskriegers wieder. Mit einem respektvollen Nicken gab Agkar die Tür frei. »Ihr dürft eintreten, weiser Tsa Mo Ra. Verzeiht einem
unwürdigen Diener die Verzögerung.« »Ich danke Euch, Agkar«, erwiderte Zamorra, aber ihm entging nicht das Blitzen in Agkars Augen. Der Anführer der Tulis-Yon blieb weiterhin misstrauisch. Und er würde jede ihrer Handlungen genau beobachten. Zum ersten Mal seit seiner allerersten Begegnung mit Kuang-shi in diesem Raum verspürte Zamorra Angst. Damals war es nur die Furcht eines wehrlosen Menschen ohne Identität vor einer über mächtigen Kreatur gewesen. Doch diesmal ging es um mehr. Dies mal stand das Schicksal der gesamten Menschheit auf dem Spiel. Mit gesenkten Häuptern näherten sich die beiden Verschwörer dem scheinbar in endlose Ferne gerückten Thron des Obersten Guan von Choquai. Wie immer spürte Zamorra die in ihm aufwallende Übelkeit, doch schnell bekam er sie wieder unter Kontrolle. Dann hatten sie den Thron erreicht. Zamorra bewunderte, wie gekonnt der Vampir neben ihm auf die Knie glitt. Immerhin hatte Fu Long im China des 19. Jahrhunderts eine Karriere als kaiserlicher Beamter angestrebt. Offenbar prägte diese Ausbildung fürs Leben – und im Falle des Vampirs auch weit darüber hinaus. »Tsa Mo Ra«, sagte Kuang-shi. »wen bringst du mir da?« »Das ist der Mönch Fu Long von der Grenze Eures Reiches, all mächtiger Kuang-shi.« »Von der Grenze. Interessant«, sagte Kuang-shi. »Habe ich Euch irgendwo schon einmal gesehen, weiser Fu Long? Ihr kommt mir bekannt vor.« »Gesehen? Nein, mächtiger Kuang-shi. Gesehen haben wir uns noch nie. Aber ich habe alle Berichte über Eure Großtaten gesam melt und sie mit größter Aufmerksamkeit geordnet und studiert.« »Ah, ein Chronist!« Zamorra glaubte, leichten Spott in Kuang-shis Stimme zu vernehmen, aber er war sich nicht ganz sicher.
»Etwas in der Art, göttlicher Kuang-shi«, versicherte Fu Long. »Euer Ruf ist weit über die Grenzen Eures Reiches hinaus in die Welt gedrungen.« »Und Ihr seid gekommen, um Euch zu überzeugen, ob er auch der Wahrheit entspricht?« »Ja – und um Euch ein Geschenk zu überbringen.« Von einem Moment zum anderen ließ Fu Long die Tarnung fallen. Er sprang auf und zog etwas aus seiner Kutte hervor. Es war ein un scheinbarer schwarzer Stein. Doch Zamorra wusste, welch ungeheu re Macht in diesem magischen Kleinod steckte. Die Macht, ganze Welten zum Einsturz zu bringen. »Der Hong Shi?« Zum ersten Mal hörte Zamorra so etwas wie Un sicherheit in Kuang-shis Stimme. »Wie kann das sein? Der Hong Shi befindet sich in meinem Besitz.« »Nicht in der Welt, aus der ich komme. Und ich habe Jahre damit verbracht, herauszufinden, wie ich dich damit unschädlich machen kann.« Ein leises Lachen erfüllte den Raum. »Narren«, sagte Kuang-shi mitleidig. Unendlich langsam erhob sich der Götterdämon von sei nem Thron. Während er die Stufen seines Podestes herunter schritt, schien er mit jeder Sekunde zu wachsen. »Tsa Mo Ra, mein Freund, ich war wie ein Vater zu dir. Du hättest von mir noch so viel lernen können! Warum hast du mich verraten?« »Wenn du weiter existierst, wird die Welt, aus der ich komme, zu Grunde gehen.« »Was kümmert sie dich? Du gehörst hierher, nach Choquai!« »Nein, das tue ich nicht.« »Dann stirb mit deiner Welt!«, sagte Kuang-shi und riss unvermit
telt die Arme hoch. Sofort erhob sich ein mächtiger Sturm, der Za morra und Fu Long durch die gesamte Halle trieb und an ihrem Ende gegen die Wand schleuderte. Der Dämonenjäger fühlte sich, als sei jeder einzelne Knochen gebrochen, als er mühsam wieder auf die Beine kam. »Bist du sicher, dass die Sache mit dem Hong Shi funktioniert?«, fragte Zamorra, während er sich mit Fu Long wieder nach vorne kämpfte. »Vertrau mir, Zamorra!« »Ich gebe mir alle Mühe!« Mit einem lauten Knall sprang die Tür auf, und Agkar und die vier Tulis-Yon-Wächter stürmten in den Raum. Hinter ihnen er kannte Zamorra eine weitere Gestalt: Wu Huan-Tiao. Es war das erste Mal, dass Zamorra Agkar verwirrt sah. Er hielt sich kaum mit der Verbeugung auf. »Herr, wir werden angegriffen. Und die Skla ven – sie rebellieren …« »Lass sie rebellieren, wir werden sie zur Rechenschaft ziehen, wenn wir dieses kleine Problem gelöst haben«, sagte Kuang-shi, ohne Fu Long aus den Augen zu lassen. »Tsa Mo Ra, was tust du da?«, rief Wu, doch der Dämonenjäger ignorierte den pavianköpfigen Zauberer. Gebannt starrte er auf Fu Long, der den Hong Shi jetzt hoch über seinem Kopf hielt und Kuang-shi gegen das Tosen des Windes uralte Zaubersprüche entge gen schrie. Der Stein hatte sich dunkelrot verfärbt und die Luft um ihn herum begann, Funken zu schlagen. Doch der Götterdämon lachte nur. »Du glaubst wirklich, dass du den Hong Shi beherrschst? Ich zeige dir, was Macht ist!« Und dann holte der Herrscher von Choquai ebenfalls einen rot pulsierenden Stein hervor – den Hong Shi dieser Welt, der dem an deren wie aufs Haar glich, waren sie doch einst eins gewesen, bevor
Fu Long den Stein aus seiner Welt zurück zu seinem Ursprung ge bracht hatte. Doch was eins gewesen war, wollte auch wieder eins werden. Ver blüfft schrie Fu Long auf, als eine unsichtbare Kraft den beiden Kon trahenten die Steine entriss. Die Hong Shis schwebten zur Decke des Thronsaals und kreisten umeinander, als würden sie einen elegan ten Tanz aufführen, während ihr Pulsieren so an Intensität zunahm, dass Zamorra kaum hinsehen konnte. Und dann verschmolzen die beiden magischen Steine miteinander – und mit ihnen die Realitä ten, aus denen sie kamen.
* Vernon »Was ist das denn?« Entsetzt starrte Gryf ap Llandrysgryf auf das albtraumhafte Bild, das sich ihren Augen bot. Über zweihundert Krankenhausbetten waren im ganzen Raum verteilt. In ihnen lagen Chinesen beiderlei Geschlechts und jeden Alters. Die Männer und Frauen hatten die Augen weit geöffnet, schienen aber nicht bei Bewusstsein, sondern in einem tranceartigen Zustand gefangen zu sein. »Die verschwundenen Dorfbewohner«, flüsterte Nicole. Sie hatten also Recht gehabt. Kuang-shi hatte die Menschen, die vor wenigen Tagen aus einem Dorf am Oberlauf des Yangtze verschwunden wa ren, nach Amerika entführt. Unzählige Schläuche führten von den Chinesen zu medizinischen Apparaturen sowie zu einem riesigen Glasbehälter, der sich in der Mitte des Raumes befand. Ein kontinuierlicher Blutstrom floss über
das Schlauchsystem in das Aquarium in der Mitte, das schon fast bis zum Rand gefüllt war. Irgendetwas schwamm in dem gläsernen Be cken, und obwohl sich durch die dunkelrote Flüssigkeit die Umrisse kaum erkennen ließen, wussten die drei Dämonenjäger sofort, wer da in einem Meer aus Blut trieb. Kuang-shi! »Weiß er, dass wir da sind?«, fragte Chin-Li flüsternd. »Ich weiß nicht. Irgendwas stimmt mit seiner Aura nicht«, erwi derte Gryf. »Ich glaube fast er – schläft.« »Er träumt!«, sagte Nicole. »So wie damals, als sein Reich nur in seinen Träumen weiter existierte.« »Nur, dass er diesmal Choquai in unsere Welt träumt.« »So sieht es aus. Und aus irgendeinem Grund gibt ihm das Blut Kraft. Vielleicht haben sich über die Jahrtausende die Erinnerungen an seine Schreckensherrschaft in das Blut der Menschen am Yangtze quasi eingeschrieben. Vielleicht bezieht er daraus jetzt seine Kraft!« »Dann müssen wir die Blutzufuhr unterbrechen«, sagte Chin-Li und wollte sich gleich ans Werk machen, doch Gryf hielt sie zurück: »Wir wissen nicht, welche Auswirkungen das hätte. Wenn die Opfer auch geistig mit Kuang-shi verbunden sind, könnte eine plötzliche Trennung sie umbringen.« »Wir müssen es trotzdem versuchen«, sagte Nicole. »Gryf, kannst du einen Zauber weben, der die Menschen wieder in die Wirklich keit zurückholt? Chin-Li und ich lösen währenddessen die Schläu che.« »Probieren kann ich das, aber ich gebe dir nicht die geringste Ga rantie, dass das auch klappt.« »Für Garantien haben wir leider keine Zeit. Wenn wir nicht schnell handeln, sind sie sowieso verloren.«
»Okay, du hast mich überzeugt.« Der Silbermond-Druide schloss die Augen und hob die Arme. Kaum hörbar kamen geheimnisvolle Worte einer längst vergessenen Sprache über seine Lippen, und plötzlich zuckten grünliche Blitze aus seinen Fingerspitzen hervor, die sich immer mehr verästelten, um sich zu einen wabernden Ener giefeld zu verdichten, das sich langsam über die bewusstlosen Chi nesen senkte. Nicole konnte an Gryfs Gesicht die ungeheure Konzentration able sen, die er aufbringen musste, um die geistige Kontrolle über die Dorfbewohner zu erlangen und sie aus Kuang-shis Umklammerung zu lösen. Der Silbermond-Druide war leichenblass, und dicke Schweißtropfen liefen seine Stirn herunter. Doch noch hielt er der Belastung stand – die Frage war nur, wie lange. Doch Nicole musste sich auf ihre eigene Aufgabe konzentrieren. Hektisch löste die Dämonenjägerin mit Chin-Li die Schläuche, die die entführten Chinesen mit Kuang-shis Blutbecken verbanden. Plötzlich hörte sie Schritte. Sie wollte schon den Blaster ziehen, als sie erkannte, wer sich ihnen näherte. »Jin Mei! Hierher!« Entsetzt starrte die Vampirkriegerin auf die monströse Apparatur: »Was in aller Welt ist das?« »Keine Zeit für Erklärungen. Wir brauchen deine Hilfe!« Selbst zu dritt schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie alle Dorf bewohner von der Apparatur gelöst hatten. Doch schließlich hatten sie es geschafft. »Fertig«, sagte Chin-Li. »Sie sind alle frei.« Auch Gryf war offenbar erfolgreich gewesen. Ein sanftes Lächeln lag auf den Gesichtern der meisten Chinesen, die jetzt friedlich zu schlafen schienen. »Gryf!«
»Alles klar, Nicole. Mir geht es gut. Bin nur etwas wackelig auf den Beinen«, sagte der Silbermond-Druide mit einem schmalen Grinsen. »Die Frage ist nur, was machen wir jetzt? Noch ratzt der alte Stinker friedlich. Das sollten wir vielleicht ausnutzen, um ihn ein für allemal in die ewigen Jagdgründe zu schicken.« »Das wird nicht gehen«, wandte Jin Mei ein. »Kuang-shi ist ein Götterdämon. Man kann ihn nicht töten!« »Heißt das, alles war umsonst?«, fragte Gryf entgeistert. »Nein, wir müssen ihn irgendwie wieder in den tiefen Schlaf schi cken.« »Ich dachte, das wollte Fu Long in Choquai erledigen?« »Offenbar war er damit noch nicht erfolgreich«, sagte Jin Mei leise. Wie aufs Stichwort hörten sie das Geräusch. Ein Stöhnen! Die vier Kämpfer fuhren herum. Da die von den Chinesen ge trennten Schläuche auf dem Boden herumlagen, floss das Blut aus dem Glasbehälter ungehindert auf den Fußboden, der sich zuneh mend in eine klebrige Rutschbahn verwandelte. Jetzt war auch die unheimliche Gestalt besser zu erkennen, die in dem Becken lag. Durch seine bescheidene Größe wirkte die dürre, mit weißen Haa ren bedeckte Kreatur wie eine seltsame Mischung aus einem Greis und einem Kind. Doch allein durch die lähmende Aura, die dieses Wesen umgab, war jedem in diesem Raum klar, wie gefährlich der Götterdämon wirklich war. Und dann bewegte sich etwas in dem Becken. Es war nur ein kaum wahrnehmbares Zucken, doch sie wussten alle, was es bedeu tete. Kuang-shi war erwacht. »Scheiße«, murmelte Gryf – und dann brach die Welt um sie her
um zusammen.
* Choquai Für einen Moment hatte Zamorra den Eindruck, doppelt zu sehen. Er stand immer noch in Kuang-shis Thronsaal. Doch über dieses Bild schob sich ein anderes. Zamorra sah eine Art Lagerhaus, das voll gestellt war mit Dutzenden von Krankenhausbetten. Und dann verdichteten sich die beiden Bilder zu einem. Sie befanden sich noch immer in dem vertrauten Thronsaal. Aber sie waren nicht allein. »Nici!« Die Dämonenjägerin stand mit Gryf, Chin-Li und Jin Mei wenige Meter von ihm entfernt. Für einen Moment sah sie ihn nur fassungs los an, dann löste sich ihre Erstarrung, und die beiden fielen sich in die Arme. »Geht es dir gut, Chef?« Die Frage war mehr als berechtigt. Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, war Zamorras Geist völlig ver wirrt gewesen. »Den Umständen entsprechend. Dank Fu Long bin ich wieder der Alte.« Wenn auch erst seit ein paar Stunden, dachte er grimmig, sprach es aber nicht aus. »Ich will eure Wiedersehensfeier ja nicht stören, aber was ge schieht hier gerade?«, mischte sich Gryf ein. »Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler. Auf jeden Fall sollten wir Fu Long den Rücken freihalten.«
»Na fein«, murmelte der Silbermond-Druide und zog den Blaster. »Und wo fangen wir an?« Die Verschmelzung der Realitäten hatte die Situation tatsächlich nicht gerade übersichtlicher gemacht. Überall im Raum verteilt stan den die Krankenhausbetten herum, die Zamorra in der Lagerhalle gesehen hatte. In ihnen lagen unzählige bewusstlose Chinesen – Za morra vermutete, dass es die Dorfbewohner waren, deren Ver schwinden Nicole und er vor einer halben Ewigkeit von zehn Jahren untersucht hatten. Am deutlichsten wirkten sich die Veränderungen jedoch auf die aus, die in beiden Realitäten existiert hatten. Agkar traf es am schlimmsten. Der Anführer der Tulis-Yon wurde plötzlich von ei nem heftigen Zittern erfasst. Seine Wolfskrieger sahen hilflos zu, wie ihr Oberhaupt sich vor ihren Augen in den uralten Mann verwan delte, den Zamorra aus seiner Realität kannte. In Agkars Bauch klaffte eine riesige Wunde und Flammen verzehrten seinen Körper. »Tsa Mo Ra, wir hätten dir nie vertrauen dürfen«, keuchte der Alte. Dann brach er zusammen, und sein Körper zerfiel zu Staub. Auch Wu Huan-Tiao war älter geworden. Sein Haar wirkte grauer und stumpfer, und aus dem Blick, mit dem der Hofzauberer die Er eignisse verfolgte, sprach blankes Entsetzen. Nur Kuang-shi schien das Geschehen zu genießen. »Das Beste zweier Welten«, höhnte er. »Ist es das, was du mit dei nem sinnlosen Krieg gegen mich erreichen wolltest, Fu Long?« Jetzt, da der Götterdämon aus Choquai mit seiner älteren Version aus Za morras Realität verschmolzen war, wusste er natürlich, wer der ge heimnisvolle Vampir in der Mönchskutte war. »Nicht ganz«, zischte Fu Long. »Aber noch ist es nicht zu spät!« Der Vampir stieß sich vom Boden ab und packte den Hong Shi, der immer noch unter der Decke schwebte. Doch Kuang-shi tat es
ihm gleich. Erbittert kämpften die beiden Kontrahenten hoch über den anderen Anwesenden um die Kontrolle des Hong Shi. Der ma gische Stein war seit der Verschmelzung deutlich größer geworden und sein rot pulsierendes Licht nahm an Intensität immer noch zu. Zamorra wollte Fu Long zu Hilfe eilen, als ihm jemand in den Weg trat. »Wu!« »Es hat lange gedauert, bis aus erbitterten Feinden Freunde ge worden sind«, sagte der pavianköpfige Zauberer. »Ich habe dir so gar mein Leben zu verdanken. Es tut mir Leid, dass es so enden muss.« »Mir geht es genauso, Huan-Tiao«, erwiderte Zamorra ernst. »Aber ich muss meine Welt schützen.« »Das respektiere ich«, erklärte der Zauberer und neigte leicht den Kopf. »Dann wollen wir ein letztes Mal unsere Kräfte messen, alter Freund.« Die beiden Zauberer traten je einen Schritt zurück und hoben die Arme. »Ich nenne diesen Spruch den Zauber des Geflügelten Drachen«, sagte Wu. Er vollführte mit seinen beiden leeren Händen Wurfbe wegungen, während er seine Zauberformeln murmelte. In dem Mo ment, in dem er die Fäuste öffnete, schossen aus ihnen zwei Schlan gen hervor, die direkt auf Zamorra zuflogen. Ausweichen war unmöglich. Also griff Zamorra mit dem Mut der Verzweifelten nach den wild züngelnden Schlangen, während er einen Gegenzauber heraus schrie. Er wirkte keine Sekunde zu früh. Im Moment der Berührung verwandelten sich die Reptilien in spitze Speere. Der Parapsychologe wirbelte einmal um die eigene Achse und schleuderte die tödlichen Waffen aus der Bewegung auf seinen Gegner.
Wu Huan-Tiao hob die Arme, wurde aber von den Speeren durch bohrt, bevor er einen weiteren Spruch anbringen konnte. Röchelnd brach er vor Zamorra zusammen. Das war viel zu einfach, dachte der Dämonenjäger. Wu war ein zu erfahrener Zauberer, um sich so leicht besiegen zu lassen. Oder war das seine Art, eine Schuld zu beglei chen? »Seit wann kannst du so was, Cheri?«, fragte Nicole irritiert. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Zamorra. Ungefähr zehn Jahre lang. Irgendwann würde er Nicole davon erzählen müssen. Und von Shao Yu. Aber erst einmal mussten sie die nächsten Minuten überle ben. Und da sahen ihre Chancen nicht allzu gut aus. Während sich Gryf und Chin-Li der übrigen Tulis-Yon annahmen, rangen Fu Long und Kuang-shi über ihnen immer noch mit aller Macht um die Kontrolle des Hong Shi. Während der Götterdämon den Kampf regelrecht zu genießen schien, sah Fu Long selbst für einen Vampir ungewöhnlich blass aus. Es war klar, dass er nicht mehr lange durchhalten konnte. Also traf Zamorra einen Entschluss. »Chin-Li!« Die Chinesin hatte gerade mit dem Blaster einen weiteren Wolfs krieger ausgeschaltet. Fragend sah sie den Dämonenjäger an, der erst auf sich deutete und dann auf Kuang-shi und Fu Long, die di rekt über ihr an der Decke schwebten. Die junge Chinesin nickte, und Zamorra rannte los. Als er die Ex-Killerin fast erreicht hatte, stieß er sich ab. Sein linker Fuß fand Halt in der von ihren Händen gebildeten Schlaufe, und dann schleuderte ihn Chin-Li mit aller Kraft in Richtung Decke. Instinktiv bekam Zamorra den Hong Shi zu fassen. Die Berührung traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Er spürte, wie etwas unfassbar Mächtiges und zugleich seltsam Vertrautes nach ihm griff. Der
Hong Shi! Am Rande seines Bewusstseins nahm Zamorra die Existenz zweier anderer Wesen wahr – Fu Long und Kuang-shi. Dann fühlte er, wie Fu Longs Geist und sein eigener sich berührten und die Kontrolle über den magischen Stein übernahmen. Und er spürte Kuang-shis plötzliches Entsetzen, als der Götterdämon realisierte, dass er gegen seine vereinten Feinde nicht ankam. Plötzlich hörte Zamorra Kuang-shis Stimme in seinem Kopf, so laut, dass sein Schädel zu platzen schien. Tsa Mo Ra, mein Freund … Dann spürte Zamorra nur noch, wie er fiel.
* Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich wieder bewegen konn te. War er ohnmächtig geworden? Zamorra wusste es nicht. Wie ein hilfloser Käfer lag er auf dem Rücken und sah verschwommen, wie sich besorgte Gesichter über ihn beugten: Nicole, Gryf, Chin-Li und Jin Mei. Und schließlich auch Fu Long. Der Vampir sah erschöpft aus, aber er lächelte: »Wir haben es geschafft. Es ist vorbei!« Irgendjemand schob Zamorra einen Arm unter den Rücken und half ihm auf. Schwankend kam der Parapsychologe auf die Beine. Nicole stützte ihn, als er sich in dem Thronsaal umsah. Der Raum wimmelte nur so von Vampiren, aber sie stammten nicht aus Cho quai. Zamorra hatte einige von ihnen schon vorher gesehen. Sie ge hörten zu Fu Longs Familie. »Sie haben mit uns gegen die Tulis-Yon gekämpft«, erklärte Nico le. »Als die Realitäten verschmolzen, fanden sich die meisten von ih nen in irgendwelchen Räumen des Palastes wieder.« Zu Zamorras Erstaunen kümmerten sich die Vampire geradezu liebevoll um die
chinesischen Dorfbewohner, von denen einige in ihren Betten lang sam zu sich kamen und sich verängstigt umsahen. Der einstige Mittelpunkt von Kuang-shis Vampirreich glich einem Lazarett und der Lärm, der von außen zu ihnen drang, bewies, dass der Krieg noch in vollem Gange war. Doch die entscheidende Schlacht war bereits geschlagen. In der Mitte des Thronsaals lag Kuang-shi. Der Götterdämon hatte wieder seine ursprüngliche Größe angenommen. Er wirkte so steif wie eine Statue und seine Aura war deutlicher schwächer als zuvor. »Er schläft!« Zamorra fuhr herum. Neben ihm stand Fu Long. »Ich habe mich geirrt. Nicht du warst der Träger des Hong Shi, aber ich war es auch nicht. Nur gemeinsam konnten wir Kuang-shi in den ewigen Schlaf schicken.« »Hoffen wir, dass er nie wieder daraus erwacht.« »Das werden wir sicherstellen.« Zamorra nickte. Er wusste, dass er sich in diesem Punkt auf Fu Long verlassen konnte. Der Vampir wollte genauso wenig wie er, dass der Götterdämon je wieder zu Bewusstsein kam. »Was ge schieht jetzt?« »Jetzt, wo Kuang-shi besiegt ist, können wir die Realitäten wieder trennen und euch in eure Welt zurückschicken.« »Euch? Was ist mit dir und deiner Familie?« »Wir bleiben in Choquai.« »Was?« Zamorra glaubte, sich verhört zu haben. »Falls es dir ent gangen sein sollte, die Stadt wird von unseren Verbündeten gerade dem Erdboden gleich gemacht.« Der Vampir lächelte hintergründig. »Mag sein, aber Kuang-shis Reich besteht nicht nur aus einem Palast und mit Gold bedeckten
Häusern. Choquai ist vor allem eine Idee, eine Vorstellung, die sich in unserer Realität einnistet und sie umformt. Und ihr Ursprung liegt genau dort.« Fu Long deutete auf den reglosen Körper des schlafenden Götter dämons. »Du meinst, es gibt noch ein Choquai? In ihm?« »Du warst selbst dort, in seinen Träumen, kurz vor Kuang-shis Er wachen.« »Und du willst in seine Träume einziehen?« Zamorra fand die Idee so absurd, dass er beinahe laut aufgelacht hätte. »Na, dann viel Spaß!« »Nein, ich will sie nur anzapfen, um mit ihrer Hilfe ein neues Cho quai zu schaffen, in einer völlig neuen Realität, gespeist von Kuang shis Träumen, aber kontrolliert durch uns.« »Eine Art Parallelwelt?« »Ja, und ein ideales Exil. In der Welt, aus der wir beide stammen, werden wir für immer Verfolgte sein. Also werden wir uns unsere eigene Welt schaffen, in der wir in Frieden leben können, ohne eure Art zu gefährden. Und sie ist zugleich das perfekte Gefängnis für Kuang-shi. Ihr werdet nie wieder etwas von ihm sehen oder hören.« Zamorra dachte nach. Die Idee hatte tatsächlich etwas Bestechendes. »Und du meinst, das funktioniert?« »Ich habe den Hong Shi lange genug studiert. Mit seiner Hilfe werden wir es schaffen.« Der Dämonenjäger sah sein Gegenüber lange an. »Werden wir uns wieder sehen?« Fu Long sah ihn ernst an. »Ich glaube nicht, mein Freund. Aber zum Abschied habe ich noch ein Geschenk für dich.« Der Vampir ergriff Zamorras Kopf mit beiden Händen. Sofort
schien ein Stromstoß durch das Hirn des Parapsychologen zu fah ren. Er wollte laut aufschreien, doch dann erkannte Zamorra, was Fu Long ihm schenkte – und er lächelte.
* Choquai brannte. Einige der Bewohner stellten sich den Aufständischen und den durch die zerstörte Stadtmauer eindringenden Soldaten entgegen, andere flohen in hellem Entsetzen. Doch als Kuang-shi in den tiefen Schlaf fiel, erlosch die Schutzsphäre, die es seinen Untertanen er laubte, auch bei Tag zu existieren. Als die, die sie beschützen sollten, im grellen Sonnenlicht zu Staub zerfielen, gaben auch die Tulis-Yon den Kampf auf. Doch nur weni gen gelang es, der Wut der ehemaligen Sklaven und der Mordlust der Soldaten zu entkommen. Noch hatte die plündernde und brandschatzende Armee des Re genten von Wuchang den Palast des ehemaligen Herrschers von Choquai nicht erreicht. So bemerkte auch niemand das komplizierte Ritual, das in den lichtgeschützten Räumen der prächtigen Pagode durchgeführt wurde und an dessen Ende sich zahlreiche Chinesen, zwei Westeuropäer und ein Silbermond-Druide in nichts aufzulösen schienen. Die übrig gebliebenen Wesen waren ausnahmslose Vampire. Un ter der Anleitung ihres Oberhauptes versammelten sie sich um den reglosen Körper des uralten Wesens, das für Jahrtausende diesen Teil der Welt beherrscht hatte. Fu Long hielt den Hong Shi in den Händen und flüsterte uralte Be schwörungen. Als der Vampir und seine Familie den Übergang in
eine neue Realität vollzogen, verschwand das, was Choquai zu dem Ort, an dem nur die Toten glücklich sind gemacht hatte, mit ihnen. Was zurück blieb, waren brennende Ruinen.
* Frankreich, Château Montagne Es war schon spät, aber Zamorra und Nicole fanden keinen Schlaf. Während Gryf und Chin-Li sich in einem der Gästezimmer ver gnügten, saßen sie eng umschlungen vor dem Kamin, ohne viel zu reden. Mit ihrem Sieg über Kuang-shi hatte auch die Vermischung der Realitäten schlagartig aufgehört. Der amerikanische Präsident hatte in einer Rede an die Nation die unerklärlichen Phänomene im Groß raum Los Angeles auf einen terroristischen Anschlag mit bisher un bekannten halluzinogenen Drogen zurückgeführt und vorsichtshal ber den Verteidigungsetat erhöhen lassen. Obwohl viele Fragen of fen blieben, war die Welt nur zu dankbar für eine Erklärung, die mit ihrem Realitätsverständnis vereinbar war. Das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang. Zumindest für die meisten … »Und du kannst dich wirklich an nichts erinnern?«, fragte Nicole nach einer Weile des Schweigens. »Nein«, sagte Zamorra. »An nichts.« Nachdenklich nippte der Parapsychologe an seinem Rotwein. Er wusste nicht, wie Fu Long erneut Kontrolle über seinen Geist er langt hatte. Wahrscheinlich hatte sich der Vampir bei Zamorras Zu sammenbruch in Orange County ein Hintertürchen gesichert, durch
dass er jederzeit die geistige Schutzmauer des Parapsychologen durchdringen konnte. Aber als Fu Longs Finger seinen Kopf berühr ten, hatte der Dämonenjäger schlagartig alles vergessen, was in Cho quai passiert war – außer seinem letzten Gespräch mit Fu Long. Zamorra wusste nicht, ob er Tage, Wochen oder sogar Jahre in Kuang-shis Reich gewesen war, und auch nicht, ob er tatsächlich dieser geheimnisvolle Tsa Mo Ra war, von dem die alten Schriften berichteten. Und irgendetwas sagte ihm, dass es besser war, es dabei zu belassen. Ein Geschenk hatte Fu Long es genannt, und Geschenke stellte man nicht in Frage. Zamorra lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die Nähe der Frau, die er liebte, wie er noch nie in seinem Leben eine Frau geliebt hatte. ENDE
Luzifers Höllenfestung
von Werner K. Giesa Der Mann hob die rechte Hand und spreizte die Finger. Plötzlich sa hen diese wie die Klauen einer Echse aus, mit scharfen Krallen und weinroten Hautschuppen und jeweils einem zusätzlichen Glied. Auch die Hände waren mit Schuppen bedeckt, so wie das Gesicht, in dem die Augen schmal geworden waren und in einem eigenarti gen Orangeton schimmerten. Im Gegensatz zum Reptilhaften stand der wilde Haarschopf, der etwas dunkler war als die Schuppen. Der Mann öffnete den Mund und zeigte lange gelbliche Fangzäh ne. Als er die Zunge herausstreckte, brachte diese es auf eine Länge von gut zwanzig Zentimetern. Und sie war von einem dichten Pelz bedeckt! »Jetzt weiß ich, woher der Spruch kommt, jemand habe Haare auf den Zähnen«, raunte Nicole. Langsam richtete sie die Waffe auf das seltsame Geschöpf, das sich eben noch als Mensch gezeigt hatte und dessen Gestalt auch jetzt noch humanoid war …