In Galatea 2.2 treibt Richard Powers den Streit, wer stärker ist – Kultur oder Technik –, zu einer ironischen Pointe. Die Wette gilt: Besteht ein mit Weltliteratur gefütterter Computer die Magisterprüfung? Es gelingt – fast. *** An einem interdisziplinären Forschungszentrum in Urbana, Illinois, läßt Lentz, ein älterer Kybernetiker, sich auf eine Wette ein: Gemeinsam mit dem jungen Schriftsteller Powers muß es ihm gelingen, innerhalb von zehn Monaten Computerprogramme so zu vernetzen, daß sie die Landkarte des menschlichen Gehirns simulieren. Dann soll der Computer die Magisterprüfung in Englisch bestehen: Technik gegen Kultur, Software gegen Synapsen. Alles verläuft nach Plan, bis der Computer fragt: »Was ist das, die Liebe?« Um es zu erklären, liest der Schriftsteller ihm seine Liebesbriefe vor – die Maschine scheint zu antworten. Powers nennt sie Helen und verstrickt sich in eine kybernetische Dreiecksgeschichte. Er entdeckt, daß Wissen nicht vor Sehnsucht schützt und ein Leben erst erlebt ist, wenn man es als Erinnerung erzählt. Das Experiment gelingt beinahe, wird für den Schriftsteller aber zu einer seelischen Hypothek. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine verwischt. Der Computer wird zu einem Kunstgebilde, das der Schriftsteller wie Pygmalion zum Leben erwecken möchte. Richard Powers lebt in Illinois, USA, mehr ist über den scheuen Autor nicht zu erfahren. Er hat bislang fünf Romane veröffentlicht: Galatea 2.2 wurde für den National Book Award nominiert, Time Magazine zählte den Roman zu den fünf besten Büchern 1995. »Virtuos … ein Roman, der den Kopf beschäftigt und das Herz bezwingt.« –– New York Times »Sein Erfindungsreichtum und sein enzyklopädisches Wissen erinnern an den späten Thomas Mann oder den frühen Thomas Pynchon … Absolut brillant.« –– John Updike, The New Yorker
RICHARD POWERS
G a l a t e a 2.2 ROMAN Aus DEM AMERIKANISCHEN VON WERNER SCHMITZ
Non-profit ebook by tg Dezember 2004 Kein Verkauf!
AMMANN VERLAG
Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Galatea 2.2 bei Farrar, Straus & Giroux, New York Übertragung des Gedichts von Emily Dickinson: Beate Hellbach. In: Emily Dickinson: Eden ist nicht einsam, Berlin 1991. Zitate aus Shakespeare-Sonetten nach der Übertragung von Christa Schuenke, in: Shakespeare Sonette, Straelen 1995. Alle anderen Shakespeare-Zitate nach der von Schlegel/Tieck herausgegebenen Übersetzung.
© 1997 Ammann Verlag & Co., Zürich Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © by Richard Powers 1995 Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-250-6007-5
Verstand ist weiter als der Himmel – Stellst du sie Seit an Seit Wird eins umfassen das andre Und dich noch jederzeit Verstand ist tiefer als die See – Hältst du sie blau vor blau Wird eins verschlingen das andre Wie den Eimer der Schwamm Verstand ist grad so schwer wie Gott – Wiegst du sie Gramm für Gramm Sind ungleich sie, wenn überhaupt Wie Silbe und Klang Emily Dickinson
Es war so, aber anders. Ich verlor mein fünfunddreißigstes Jahr. Wir gerieten auseinander im Wirrwarr einer fernen Stadt, wo die Sprache fremd war und die Behörden feindselig. Es war meine Schuld. Ich hatte ihm gesagt: »Warte hier. Ich gehe nur was Geld wechseln. Unsere Papiere überprüfen lassen. Rühr dich nicht von der Stelle, egal, was passiert.« Und diesen Augenblick wählte das Chaos zur vollen Entfaltung. Meine anderen Jahre bleiben gleich den Fremden, die ich, intim in fünf Minuten, noch immer im Schlaf umarme. Manche Jahre streifen ihre Puppenhaut ab, hinterlassen bloß eine Hülle, um ihren Platz im Ablauf zu markieren. Jedes Jahr ist eine schwierige Geliebte, mit der ich zusammengewohnt habe und die mir mit jedem Ticken der Uhr verkündet, was sie duldet und was nicht. Mein fünfunddreißigstes traute niemandem. Kaum hatte ich gesagt, ich käme gleich wieder zurück, wußte es, wie uns geschehen würde. Fünfunddreißig beschämte mich mit der Erkenntnis, daß ich bis dahin alles hoffnungslos falsch verstanden hatte. Daß ich nicht einmal meine eigenen Jahre begreifen konnte. Mit fünfunddreißig geriet ich in die Staaten zurück. Weder Start noch Ziel unterlagen meinem Beschluß. Ich war gar nicht in der Lage, etwas zu beschließen. Mangels anderer Pläne akzeptierte ich ein Angebot aus meinem alten Studienort U. Der Job war gut bezahltes Nichtstun, ein verfrühter Lohn für ein Werk, das längst das eines anderen zu sein schien. Ich dachte mir das Jahr als bezahlten Urlaub. Als Gastspiel, bei dem ich am empfohlenen Nullpunkt noch einmal von vorn anfangen konnte. Wohnung, Essen, Büro und Spesen und keinerlei Pflicht als die zu leben. Ich ergriff das Angebot ohne 6
großes Nachdenken. Mir blieb auch nichts anderes übrig. Alternativen konnte ich keine erkennen. Und U. mußte es sein. U. war die einzige Stadt, die ich noch ertragen konnte, der einzige Punkt im Atlas, den ich ganz und gar absorbiert hatte. Die erforderlichen Antikörper hatte ich vor langer Zeit entwickelt. Kassiert man zu viele entscheidende Treffer an einer Stelle, kann einen dort nichts mehr schmerzen. Nichts erinnerte auch nur entfernt noch an Heimat. Aus meinem Geburtsort hatte die Zeit einen exotischen Vergnügungspark gemacht. Ich war dort aufgewachsen, hätte aber kein Visum dafür bekommen. Schon das Land, in dem ich die letzten sieben Jahre verbracht hatte, war mir als Exil erschienen. Aber nach U. konnte ich mich zurückstehlen, es würde mich immer aufnehmen. Wir glichen einem alten Ehepaar, das müde Frieden miteinander geschlossen hat. Hier habe ich die Schule beendet, deklinieren und differenzieren gelernt, programmieren und komponieren. In U. habe ich Professor Taylors weichenstellendes Seminar für Studienanfänger gehört. Und bei einem kurzen Aufenthalt zwölf Jahre später mußte ich, ein Fremder in der Stadt, miterleben, wie Taylor mit entsetzlicher Würde starb. In U. habe ich zum erstenmal gesehen, wie Farbe Politik chiffrieren kann; zum erstenmal gehört, wie eine Sonate als lebende Hierarchie geschichtet ist; zum erstenmal empfunden, wie Sätze sich zu Engagement verdichten. In U. bin ich zum erstenmal ins feuchte Chamois eines anderen Körpers eingedrungen. Die erste Liebe wurde hier geschmolzen, sublimiert und verdampfte in vier flüchtigen Jahren. In dieser Stadt betrog ich meine geliebte Physik und zog mit der Literatur zusammen. Hier rief mein jüngerer Bruder an und benachrichtigte mich von Vaters Tod. In U. verband ich mein Leben mit dem von C. Gemeinsam ließen wir U. hinter uns, kehrten dem Kaff den Rücken, um uns die Welt anzusehen und einander alles zu sein, ein Abenteuer, das mit fünfunddreißig 7
endete. Unwahrscheinlich, daß dieses Nest mir noch etwas anhaben konnte. Seit meinem letzten Besuch hier hatte ich es zu einem gewissen Ruhm gebracht. Sohn der Stadt macht Karriere. Freilich würde mein Name nie auf dem Ortsschild prangen. Diese Ehre war dem hier geborenen Olympioniken vorbehalten. Doch immerhin verschaffte mir mein Name eine auf ein Jahr befristete Berufung an das riesige neue Zentrum für Moderne Wissenschaften. Offiziell wurde ich als Gast geführt. Inoffiziell war ich der Vorzeigehumanist. Den Posten verdankte ich meinem dritten Roman. Das Buch war ein umständliches Surrogat der wissenschaftlichen Laufbahn, die ich nicht eingeschlagen hatte. Das Zentrum sah in mir ein Bindeglied zur Öffentlichkeit. Es hatte Mittel übrig, die Stelle kostete nicht viel, und ich war gut für die Werbung. Und wer weiß? In einer Institution von dieser Größe könnte ein professioneller Horcher mit anerkannten Fähigkeiten jede Menge Stoff zum Schreiben finden. Ich hatte nicht den Wunsch, über Wissenschaft zu schreiben. Nach meinem dritten Roman hatte ich von diesem Thema genug. Ich beendete gerade ein viertes Buch, in dem ich wider die kalte Vernunft Stellung nahm. Dieses neue Buch entwickelte sich schnell zu einem düsteren barocken Märchen über vagabundierende und verschwindende Kinder. Selbst mir entging die Ironie dabei nicht, kehrte ich doch an den Ort zurück, den ich zum fiktiven Schauplatz meines wuchernden wissenschaftlichen Reiseberichts gemacht hatte. Die Universität brachte mich in einem Haus unter, das ein Siebziger-Jahre-Äquivalent der Mietskaserne war, in welcher der Held meines Buchs nach seiner Ankunft in der Stadt gelebt hatte. Von Bett und Schreibtisch abgesehen, stellte ich zu Ehren meiner Figur keine weiteren Möbel in die Zimmer. Ich kaufte mir ein gebrauchtes Fahrrad, genau das Richtige für die Strecke von meinem Haus zum Zentrum. Dieser For8
schungskomplex war seit meinem letzten Besuch aus dem Boden geschossen. Ein Gebäude von der Länge eines Blocks ist in einer Stadt von der Größe U.s schlechterdings eine Zumutung. Die Architektur des Zentrums bestand aus lauter ironischen Zitaten. Es war ein postmoderner Aufguß flämischer Renaissance. In den Niederlanden hatte ich in einem Nachkriegsbau aus Gußbeton gewohnt. Das Zentrum war von einem alten Stifterpaar gebaut worden, zwei Menschen, die altmodisch genug gesinnt waren, am Eheleben festzuhalten. Am Ende ihres gemeinsamen Daseins fiel ihnen für ihre gut fünfzig Millionen kein besserer Verwendungszweck ein als die Förderung der Wissenschaft. Ob sie Kinder hatten oder was die Kinder nach dem Tod der beiden bekamen, ist mir unbekannt. U. jedenfalls bekam eine Unzahl von Büros, Computern, Konferenzräumen, Trocken- und Naßlabors, einen Vortragssaal und eine Cafeteria, und das alles unter diesem Durcheinander von flämischen Giebeln. Die kleine Stadt beherbergte mehrere hundert Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen. Wenig beachtete Doktoranden führten, mehr oder weniger unter Aufsicht älterer Professoren aus allen Winkeln der Welt, den Großteil der arbeitsintensiven Experimente durch. Die Aufgabengebiete des Zentrums waren so esoterisch, daß ich aus ihren Bezeichnungen nicht auf ihren Inhalt schließen konnte. Die Hälfte der Fachbereiche trug zusammengesetzte Namen. Das kreative Spiel kannte keine Grenzen und vermehrte sich durch Fremdbestäubung wie hybrides Getreide in tropischem Klima. Die Gespräche dort nahmen sich aus wie ein Picknick der UNO: aufgeregt, ungestüm und wechselseitig unverständlich. Es gefiel mir, daß man, selbst nachdem es einem erklärt worden war, nie genau wissen konnte, wer dort was tat. In der Hauptsache ging es um komplexe Systeme. Im Zenit mehrerer sich kreuzender Strahlen – künstliche Intelligenz, 9
Kognitionswissenschaft, Visualisierung und Datenverarbeitung, Neurochemie – lockte als Krönung für das lange Abenteuer des Bewußtseins eine Gebrauchsanleitung für das Gehirn. Mit seinen zahllosen isolierten und parallelen Subsystemen erschien mir das Zentrum als titanisches Analogen jener Neuronenmasse, deren Erforschung es sich widmete. Das Zentrum und zwei Dutzend ähnliche Einrichtungen hier und im Ausland würden darüber entscheiden, ob die Spezies in letzter Minute noch einen Aufschub bekäme oder ob sie das ihr anvertraute Gut auf die von ihr gewollte Weise verpulvern würde. Das Leben bog schon auf die Zielgerade ein, und hier würde das Rennen im Fotofinish enden. Biochips wurden gesät, um die Komplexitätsschwelle zu überwuchern. Transparente Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine. Kontrolle der Proteinbildung. Hochaufgelöste digitale Reue. Das Gebäude barg die verschiedensten Berufe: Theoretiker, Experimentatoren, Techniker, Zauberer. Alles, was nur irgendwie zuckte, wurde mit Sonden untersucht. In einem Flügel wimmelte es von Wissenschaftlern, die behaupteten, sie hätten die Technik hinter sich gelassen. In einem anderen arbeiteten Techniker, die von einer solchen Abgrenzung ganz und gar nichts wissen wollten. Was auf einer Etage tabu war, breitete sich in der nächsten aus wie Schimmel. Das Zentrum war groß. So groß, daß ich im ersten Monat zweimal mein Büro nicht wiederfand, etwa so, wie man im Parkhaus eines Flughafens den gemieteten Platz nicht wiederfindet. Seine schiere Größe war der Hauptvorzug des Zentrums. Selbst die peinliche Aussicht, mit ein und demselben Kollegen zweimal zu sprechen, zerrann in einem so riesigen Gebäude. In einem so ausgedehnten Raum konnte ich hoffen, daß ein Jahr zu kurz wäre, als daß irgend jemand mehr als flüchtiges Interesse für mich aufbringen könnte. Mehr noch, der Komplex öffnete sich über ein weitverzweigtes Netzwerk in den virtuellen Raum. Ich hatte ein Büro mit 10
meinem Namen an der Tür und einen Computer, der ans Weltnetz angeschlossen war. Niemand argwöhnte, daß ich keine Forschungsgruppe hatte, daß ich ein feldreagibles Polymer nicht von Spinglas unterscheiden konnte. Ich kam und ging mit unerhörter Freiheit, ein vollendeter Hochstapler. Auch das Drumherum war mir seltsam sympathisch, wußte ich doch, daß mich abends ein Haus erwartete, das gleichermaßen leer und gemietet war. Genau dies muß ich seit langem angestrebt haben. Fehlerlos und kaltgestartet, ein Fremder mit Wohnsitz. Auf der Durchreise durch die alte Alma mater. Das Zentrum hatte manches für sich. Seine Türen erkannten mich schon von weitem. Sie öffneten sich auf Befehl einer infrarot sendenden Passierkarte, die ich nicht einmal aus der Brieftasche zu nehmen brauchte. Ich wackelte den Sensoren wie ein Mandrill mit dem Hintern zu. Sollte das, aus Zufall oder Nostalgie, in hundert Jahren jemand lesen: mein Wort darauf, der Gag war Wirklichkeit. Die parabelförmige Eingangshalle sammelte die Geräusche. Ich stand gern im Fokus und hörte dem Rauschen meines Atems zu, dem Pulsieren des Bluts in meinen Adern. Ich lauschte dem Tosen meines Körpers, das sich für alle Welt ausnahm wie die Nachricht auf einem Anrufbeantworter, gesprochen von einem, der wenige Stunden darauf gestorben ist. Ich bastelte an meinem neuen Roman, klapperte bei geschlossener Tür und ohne Neonlicht auf der Tastatur herum. Mein Büro war mit modernster Technik ausgestattet und steril wie ein OP. Der ideale Ort, meine tausendjährige Gutenachtgeschichte schlafen zu legen. Ich drückte auf einen Knopf an meinem Monitor, und als ich nach oben zum Laserdrucker ging, warteten dort achtzehn Monate Arbeit auf mich. Ich sah mich im Weltnetz um. Der Einstieg geschah über den hauseigenen Einwählknoten, der mehr Megabytes pro Sekunde in meinen Rechner lud, als ich mir wünschen konnte. Kurze elektronische Adressen verbanden mich mit Maschinen auf der 11
gesamten Erdoberfläche. Das Netz: eine weitere totale Desorientierung, die zum Status quo wurde, ohne daß jemand es merkte. Ein Fingerschnipsen, eine Satellitenschaltung, und schon war ich mit einem Großrechner in meiner früheren Heimat verbunden, einer alten Bergwerksstadt sieben Zeitzonen entfernt. Ich konnte die Zeiten der Abendandachten in Cambridge abrufen, die Malerei der Maurja-Dynastie auf den Bildschirm laden oder mit Cook eine Reise durch Neuseeland machen. In Sekundenschnelle konnte ich Menüs in Sprachen durchlaufen lassen, von denen ich nicht einmal die Namen wußte. Von meinem Stuhl im unbefleckten Zentrum aus besuchte ich noch einmal jede Stadt, in der ich je gewesen war, und Hunderte, die ich in diesem Leben nie zu Gesicht bekommen würde. Die Stadt hatte sich während meiner Abwesenheit in ein weitmaschiges globales Netzwerk hineingestrickt. Das Netz assemblierte sich allem Anschein nach selbst. Unzählige örtliche Anfragen schossen zusammen wie Keime von Eiskristallen, die eine Fensterscheibe überziehen. Das Netz erdrückte mich. Lieber bildete ich mir ein, daß die Chatbox in Pakistan, mit der ich kommunizierte, in Wirklichkeit eine Attrappe am anderen Ende des Gebäudes sei. Ich hatte keine Ahnung, wie und ob überhaupt meine Spritztouren um die Welt abgerechnet wurden. Eine Zeitlang empfand ich einen gewissen Nervenkitzel, in einer Epoche zu leben, in der etwas so Beispielloses Gestalt annahm. Aber nachdem ich einige Wochen um den Hyperglobus gejettet war, erschien mir das Netz bloß noch als das jüngste Glied einer uralten polynomischen Entwicklung. Jeder Strich auf der Zeitachse spie irgendeinen Vorläufer aus. Jeder, der je gelebt hatte, hatte in einer gleichermaßen erstaunlichen Epoche gelebt. Das Netz verknüpfte sich schon seit langer Zeit. Es selbst war auch nur eine Übergangsphase in einem Gesamtplan, ent12
worfen auf dem Schmierzettel des Gehirns. Das Ganze war ein ewig zaghaftes, provisorisches Herumgeschnippel. Eine Notbrücke auf jener groben Bleistiftskizze zum endgültigen Triumph über Zeit und Raum. Ich erkundete das erste Netzwerk der Welt im embryonalen Zustand. Tagsüber mit verschwindenden Kindern beschäftigt, spielte ich abends im größten virtuellen Sandkasten aller Zeiten. Ich war an ein Bündel Gratisreiseschecks geraten. Ich logierte in U., wohnte aber woanders. Ich dachte: womöglich kann ein Mensch in all dem Ätherraum Leben erzeugen. Jeder Tag brachte neue Unwahrscheinlichkeiten hervor. Ich durchsuchte Kartotheken in Kyoto und Buchbesprechungen aus Bombay. Meine E-Mail-Box füllte sich mit Fußballergebnissen aus Deutschland und Berichten über Nordlichtbeobachtungen in Alaska. Ich lauschte internationalen Diskussionsgruppen, permanenten interaktiven Scheherezaden, in denen jedes nur denkbare Thema, von Rüstungskontrolle bis hin zu elektronischen Erotika, abgehandelt wurde. Dateifäden teilten sich und wucherten in Meiose. Debatten strömten ohne Anfang und Ende, verzweigten sich und mäanderten, Antworten auf Antworten auf Antworten. Unermüdliche Protagonisten aus sämtlichen Zeitzonen, die sich täglich ein dutzendmal oder öfter zu Wort meldeten. Allein in meinem Büro, abgeschirmt durch das Summen des Zentrums, kam ich mir vor wie ein Junge, der in einer Provinzbücherei zufällig auf die Odyssee gestoßen ist. Ich wollte auf den Flur rennen und jede meiner Entdeckungen ausposaunen. Aber wem konnte ich davon erzählen? Die einsamen Seelen, die am meisten zu gewinnen hatten, würden nur verwirrt, in jeder Hinsicht ausgeschlossen, den Kopf schütteln. Und diejenigen, die meine Aufregung nachvollziehen konnten, hatten sich längst an das Unvorstellbare gewöhnt. Für die Wissenschaft war das Netz natürlich ein enormer 13
Gewinn. Die Arbeitsgruppen im Zentrum konnten jetzt Zeitschriftenartikel lesen, Monate bevor sie im Druck erschienen. Auf den Datenautobahnen gab es kein Tempolimit. Sie schleuderten einen weltweit vor jedes Forschungsergebnis, kaum daß man es angeklickt hatte. Forscher spähten ihren Kollegen auf anderen Kontinenten in Echtzeit über die Schulter. Sie sahen sich in 3 D gemeinsam Daten an, während sie sie sammelten. Auf allen Seiten meiner Kabine durchsuchten Experimentatoren die Leitungen. Das Netz half ihnen, Wiederholungen zu vermeiden und wichtige Resultate zu lokalisieren, die ihnen sonst vielleicht völlig entgangen wären. Die Telekommunikation sorgte für eine Effizienz, die das Tempo der Forschung steigerte. Und die Forschung wiederum beschleunigte die universale Verknüpfung. Doch je länger ich verweilte, desto trauriger wurde mein Urlaub. Die Netzbenutzer wurden seltsam. In öffentlichen Foren verhehlten sie ihr Geschlecht, ihr Alter, ihren Namen. Sie stürzten sich in die elektronische Rauferei und verbargen sich hinter aggressiven Masken, die gar nicht zu ihnen paßten. Sie bombardierten sich mit binären Dateien über den ganzen Planeten hinweg, denselben Planeten, auf dem bettelarme Dorfbewohner noch staunend vor einem Kugelschreiber standen. Das Netz erschien mir wie ein riesenhafter, stiller Börsensaal, in dem immer anonymere und feindseligere Brieffreunde ihre Transaktionen tätigten. Das Netz bot eine noch wesentlich einsamere Umgebung als die, an deren Stelle es trat. Seine Einsamkeit war größer und schneller. Wenn die gnadenlose Intelligenz ihr Programm zu Ende geführt haben würde, wenn die letzte Steckverbindung das allerletzte barfüßige, mißbrauchte Kind online gebracht hätte und dann wirklich jeder alles ohne Zeitverlust jedem lebenden Wesen sagen könnte, würden wir, wie ich es sah, einander immer noch nichts zu sagen haben, nur daß wir viel mehr Möglichkeiten hätten, unsere Sprachlosigkeit zu verbreiten. 14
Aber ich kam nicht los davon. Immer länger und immer häufiger bereiste ich in diesem Herbst das Netz. Und bald war es soweit, daß ich mich selbst in der virtuellen dritten Person sah, so wie meine körperlose Weltnetzadresse es vorgab:
[email protected]. Wie lange konnte ich mich im Zentrum aufhalten und vollkommen unnützen Tätigkeiten nachgehen! Das Problem der Produktivität. Das Problem der reinen Forschung. Das Problem der Inspiration, des blinden Vertrauens. Ich konnte mich unbegrenzt treiben lassen, ohne mir je einen Tadel einzuhandeln. Das Jahr war mir geschenkt. Auch wenn ich gar nichts tat, wenn ich nur auftankte, ausruhte und nachlud, würde sich keine Milbe auf der Wimper der expandierenden digitalen Überseele daran stören.
Ich hatte vor, mit der Revision des neuen Buchs so viele Wochen herauszuschinden wie nur möglich. Über diesen Punkt hinaus versuchte ich nicht nachzudenken. Dreimal zuvor hatte der Abschluß eines umfangreichen Projekts den Beginn eines anderen ausgelöst. Die Kunst des abrupten narrativen Kurswechsels war mir kein Geheimnis mehr. Theoretisch also konnte ich mich jederzeit wieder neu formieren. Und ewig weiterarbeiten. Aber diesmal war es anders. Diesmal erwartete mich, nachdem ich dem Rattenfänger Tribut gezollt hatte, nichts Neues auf der anderen Seite des klaffenden Gebirges. Nichts als der unabänderliche Status quo. Das wenige, das mir an zerstreuender Arbeit blieb, zog ich nach Kräften in die Länge. Hatte ich zwei Kilobyte neuen Text geschrieben oder vier gründlich revidiert, war der Tag in Ehren zugebracht. Die restlichen Stunden danach konnte ich guten Gewissens genießen. Anderthalb Seiten, und ich war ein freier 15
Mann. Nach Feierabend streifte ich am liebsten durch das Zentrum. Das Gebäude leerte sich abends fast vollständig. Die nächtliche Forschungsgemeinschaft strahlte ein nüchternes Fieber aus. Eine Handvoll bleicher, erregter Gestalten, die nicht anders konnten als dableiben. Ihre Recherchen hatten sie süchtig gemacht und so unabhängig von den sporadischen Gehaltszahlungen wie ihre Versuchstiere. Kurz vor dem Durchbruch, gleichgültig gegen die Uhrzeit, streiften sie unruhig durch die Korridore. In zielstrebiger Zerstreutheit schlichen sie von Labor zu Labor und tasteten mit den Augen jedes Blickfeld ab, nur die Flure nicht, durch die sie schritten. Von diesen süchtigen Wahrheitssuchern abgesehen, hatte ich das Haus für mich allein. Schon dafür lohnte sich der Aufenthalt: Baulichkeiten im Wert von fünfzig Millionen Dollar, angefüllt mit Geräten für mehrere hundert Millionen, Kästen, die glühten vor gebändigter Entschlossenheit, selbstvergessen wie in elektronischer Verzückung. Niemand konnte einen tieferen Sinn für Geschichte haben als der Nachtwächter eines solchen Gebäudes. Die Nacht entgrenzte das Haus. Mit Hilfe der Maschine auf meinem Schreibtisch konnte ich durch das koaxiale Kaninchenloch an jeden beliebigen Ort verschwinden. Ich hatte ein Telefon für Gespräche nach draußen, aber es läutete nie. Ich hatte eine weiße Tafel und bunte Filzschreiber, die sich spurlos davon abwischen ließen. Ich unterhielt mich damit, in verschiedenen Farben so viele erste Sätze von Büchern aufzuschreiben, wie mir einfielen. Ab und zu mogelte ich und verifizierte sie übers Netz. Diese Abende waren vor Hochgefühl wie abgestorben. Wie wenn man im Angesicht eines heftigen Sturms auf See die Luken dichtgemacht hat. Ich konnte nur warten und die geistigen Kerzen hüten.
16
An einem solchen Abend lernte ich Lentz kennen. Vom ersten Anblick an erschien er mir als derjenige, um dessentwillen ich nach U. zurückgekehrt war. Während ich bloß als Zuschauer agierte, war dieser Mann der Prototyp dessen, worauf die Menschheit zustrebt, seit sie aus den Startlöchern ist. Im Jahr unserer Bekanntschaft holte Philip Lentz ein Leben von den Toten zurück. An dem fraglichen Abend hatte ich mich durch enorme Nullaktivität so erfolgreich zerstreut, daß ich noch lange nach Mitternacht nicht aus dem Gebäude gekommen war. Auf einem Streifzug durch die Flure im Stockwerk über meinem Büro blieb ich vor einem Konferenzraum stehen und las einen Anschlag mit der Überschrift »Elastizität neuronalen Wachstums auf Halbleitersubstrat«. Jemand hatte Nervenzellen dazu gebracht, sich zu reinen, geometrischen, lebenden Chips zusammenzuschließen. Und hatte zum Beweis elektronenmikroskopische Aufnahmen davon gemacht. Ich empfand meine vollkommene Einsamkeit. Hier und da hielten Neonlampen ein paar inhaftierte Pflanzen am Leben. Wie immer, wenn ich allein bin, summte ich vor mich hin. Nur daß ich plötzlich aus der Ferne die Musik vernahm, die ich summte. Mozart, das Klarinettenkonzert, der Mittelsatz. Eine Komposition, die C. für das schmerzlichste Palliativ der ganzen Schöpfung gehalten hatte. Hier, in der ausgestorbenen, empirischen Finsternis und Jahre zu spät, hörte ich, daß sie recht hatte. Im Zentrum, wo keine Vögel sangen, verlangsamten sich diese Klänge bis fast zum Stillstand, verzichteten auf jede Hoffnung, jemals ausdrücken zu können, was genau dieser Verzicht zum Inhalt hatte. Zu dieser unmöglichen Stunde, als auch die unerbittlichsten Forscher längst zu Hause waren bei dem, was an Familie sie für sich hatten auftreiben können, blieb nur noch Musik zurück, um von der hinreißenden Belanglosigkeit der Forschung zu künden. 17
Klarinette und Orchester kommunizierten, trieben die Entwicklung voran, entfalteten sich, holten Luft weit über die Fassungskraft ihrer Lungen hinaus wie ein Patriarch, der vom Tod seines letzten Urenkels erfährt. Die endlose Phrase erzählte vom Erreichen eines Alters, in dem jede Antwort, die erreichbar wäre, keiner Frage mehr wert ist. Wer in all diesem rastlosen Messen hatte noch Zeit für eine so unendlich kleine Nebensache? Der nächtliche Hörer, wer auch immer es sein mochte, muß sich allein gewähnt haben. Nicht einmal die Putzkolonne war mehr im Haus. Die Frühaufsteher, die allerzähesten Hacker, würden erst in zwei Stunden an ihre düsteren Tastaturen taumeln. Normalerweise hätte mich jedes Geräusch zum Notausgang gejagt. Jetzt aber zog es mich audiotrop zur Quelle, dem einsamen Signal entgegen. Der Sound wurde realer. Näherte sich der Asymptote einer Liveaufführung. Noch eine Biegung im Labyrinth der Korridore, und es flöge ein Schwarm befrackter Musiker auf. Der tönende Faden führte mich durch einen Seitengang, von dessen Existenz ich nichts gewußt hatte, vor ein Büro. Die Zellentür stand weit offen. Das Adagio drang daraus hervor wie aus dem Urquell aller Improvisation. Der hoffnungslose Frieden der Musik machte mich kühn. Ich trat neben die Tür und spähte hinein. Bis auf die Musik war der Raum leer. Ich badete in der Leere. Im Dunkeln schimmerten zahllose Apparate, hauptsächlich Systemkomponenten in schmucklosen Regalen. Einige dieser Geräte produzierten diese ätherische Darbietung, während andere sie nur kontemplativ in sich aufnahmen. Aus einer Instrumentenhöhle in der Ecke blinkte auf zwei kleinen Flächen Licht. Was ich für zwei banale LCD-Anzeigen gehalten hatte, kristallisierte sich zu einer fast undurchsichtigen Brille. Das Wesen dahinter starrte mich an, ohne etwas wahrzunehmen. Archimedes, wie er träge zu dem römischen Solda18
ten aufblickt, der ihn durchbohren will: Störe meine Kreise nicht. Der mit dieser Brille verknüpfte Kopf wölbte sich zu einer schütteren Kuppel. Eine abnorm breite Stirn, die Schläfen tief eingeschnürt, darunter ein monströser Schnabel. Selbst nachdem ich mich in den Anblick hineingefunden hatte, schockierte mich das Gesicht. Der Mann lag nach hinten gestreckt in einem Bürosessel. Sein Kopf lehnte an einem Flachbett-Scanner. Die Füße ruhten auf einem Berg Sonderdrucke. Auch in dieser horizontalen Lage konnte er nicht größer als eins fünfundsechzig sein. Dennoch rutschten ihm das rehbraune Jackett und das weiße Oxfordhemd an den Armen hoch, als ob das Gewebe sich aufribbelte. Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, weder auf den Korridoren noch irgendwo anders. Nicht einmal ich hätte eine solche Gestalt vergessen können. Er mußte mindestens sechzig sein, in irdischen Jahren. Nach seiner Blässe zu urteilen, vermied er jeden Kontakt mit natürlichem Licht. Sein verwirrtes Blinzeln ließ darauf schließen, daß er auch, so weit es in seiner Macht stand, jeden Kontakt mit Menschen vermied. Ohne den Blick von mir zu wenden, setzte er seine Serie infinitesimaler Manipulationen in dem Raum vor ihm fort. Er schob auf der verkabelten Fläche seines Schreibtischs einen Satz reibungsfreier Eishockeypucks herum. Das Spielfeld sah aus wie die Kreuzung aus einer Akupunkturkarte und der Walze eines mechanischen Klaviers. Ich konnte nicht erkennen, wer oder was hier führte oder folgte: die Musik oder diese obskuren Handbewegungen. Der Dirigent gestikulierte vor seiner elektronischen Partitur und starrte mir in die Augen, bis das Adagio sich ausgespielt hatte. Dissonanz und Auflösung, der quälende Aufschrei der Bläser, ein Anrennen der Tonfolge an die Grenzen meines kranialen Horchpostens, ein Reiz, gewaltig und verlangsamt bis 19
zur Unbegreiflichkeit. Der lemurenhafte Mann musterte mich unbefangen. Wir stellten interstellaren Kontakt her, gelähmt vom beiderseitigen Wissen, daß jeder Kommunikationsversuch an der Verschiedenheit unserer Kulturen scheitern mußte. Schlimmer als sinnlos. Das Schweigen nach solchen Klängen wurde unerträglich. Ich brach es zuerst. »Mozart«, sagte ich. Und nachdem ich einmal angefangen hatte, mich zum Narren zu machen, konnte ich die Sache auch zum Abschluß bringen. »KV 622. Was ist mit dem Finale?« Die Hände des Mannes kamen zum Stillstand und verschränkten sich hinter seinem Kopf. Er schnaubte aus dem Mundwinkel, als ob er die Vorstellung zwischen den Zähnen hervorspuckte. »Kein Finale. Wir befassen uns hier ausschließlich mit Mittelsätzen.« Er nahm die Pucks und begann sie wieder herumzuschieben. Musik stieg aus der akustischen Gruft. Von neuem erklang die paralysierende Schlichtheit der Klarinette. Wie zuvor atmeten die vollkommenen Töne, durchdrungen von quälender Ergebenheit. Doch diesmal entfaltete sich etwas anderes. Ein langsameres, verzweifelteres Geräusch. Worin der Unterschied bestand, war nicht zu erkennen. Der Eulenmann machte seine mechanischen Handbewegungen, als ob er selbst diese Musik aus einem computergesteuerten Leierkasten träumte. Er legte Schalter um und fummelte an Schiebereglern. Mein Schatten muß auf den Rand seiner Netzhaut gefallen sein, denn er blickte auf, erstaunt, mich noch immer in der Tür zu sehen. »Danke für die nette Plauderei«, sagte er. »Gute Nacht.« Ich nickte lächerlich zustimmend und zog mich, ins Sichere entlassen, rückwärts in den Flur zurück.
20
Ich
weiß nicht, was ich eigentlich erwartet habe. Vielleicht Höflichkeit. Beachtung. Den Austausch von Namen. All die gesellschaftlichen Feinheiten, die ich seit meiner Blockade hier so beflissen gemieden hatte. Ich schmollte anderthalb Tage lang und dachte mir trockene ironische Erwiderungen aus. In Gedanken erklärte ich dem Mann unmißverständlich, daß ich weder eine Nervensäge noch ein Trottel war. Im Schutz des Tages kehrte ich zurück und stahl von der Bürotür seinen Namen. Philip Lentz: der Name so gelehrt wie der Mann mißgestaltet. Nach Auskunft der Werbebroschüre des Zentrums war sein Forschungsgebiet Kognitionsökonomie mit Hilfe neuronaler Netze. Es wurde nicht einmal nebelhaft angedeutet, was damit gemeint sein könnte. Jahrelang, ehe mich später ein Foto veranlaßte, der Software den Rücken zu kehren, hatte ich mein Geld mit dem Schreiben von Programmen verdient. Doch ein neuronales Netz, so erfuhr ich bei meiner Suche im Weltnetz, hatte mit dem, was ich damals programmiert hatte, überhaupt nichts zu tun. Die Erforscher neuronaler Netzwerke gaben sich nicht mehr damit ab, Routinen oder bestimmte Arbeitsschritte für Computer zu entwerfen. Sie verzichteten auf allgemeine Ablaufdiagramme und Befehle. Statt dessen verwendeten sie eine große Anzahl einzelner Prozessoren und simulierten damit das Ineinanderwirken von Gehirnzellen. Sie brachten ganzen Gruppen dieser unabhängig entscheidenden Einheiten bei, ihre Verbindungen untereinander zu modifizieren. Dann traten sie zurück und sahen zu, wie ihre synthetischen Neuronen mit dem Ordnen und Verknüpfen externer Reize fertigwurden. Die einzelnen Neuroden waren jeweils mit mehreren anderen verbunden, womöglich gar mit allen anderen Neuroden im Netz. Empfing eine dieser Neuroden einen Reiz, sandte es ein Signal durch seine verschieden gewichteten Leitungsbahnen. Neuroden, die dieses Signal empfingen, bauten es mitsamt seiner Gewichtung in ihre anderen kontinuierlichen Inputs ein. 21
Teils unter Verwendung von Fuzzy Logic wurde sodann das zusammengesetzte Signal mit einem variablen Schwellenwert verglichen. Weiterleiten oder nicht? Bei Vergrößerung der Versuchsanordnung stellten sich Überraschung gen ein. In keinem Fall war ein Ergebnis vorgegeben. Die Programmiererin schrieb keinen Algorithmus. Die Entscheidungen dieser simulierten Zellen ergaben sich jeweils aus ihrem inneren und ständig wechselnden Status. Jede Entscheidung, einen Reiz weiterzuleiten, sandte ein neues Signal durch das elektronische Netz. Mehr noch: die Reize kehrten auf Umwegen ins Netz zurück und korrigierten die Gewichtungen der Signale und die Reizschwellen. Das Auf und Ab der Reizübertragung band das Ganze chaotisch zusammen. Je nachdem, ob es seine Synapsen stärkte oder schwächte, konnte das Gewirr von Verbindungen sich erinnern. Auf primitivem Niveau imitierte und – wer weiß? – reproduzierte das Netz den Prozeß des assoziativen Lernens. Die Forscher ordneten ihre Kader künstlicher Zellen schichtweise an. Vor der grenzenlosen Außenwelt wurde eine Inputschicht angebracht. Auf der anderen Seite, jenseits des verflochtenen Zellgestrüpps, eine Schicht, die als Auslaß für den Geist der Maschine fungierte. Dazwischen der Werkzeugkasten simulierten Denkens. In den sogenannten verborgenen Schichten befand sich der gesamte verknüpfte Raum, in dem das Netz und Forscher wie Lentz assoziierten. Dieses Forschungsgebiet war unter dem Spitznamen Konnektionismus bekannt. Neugierig geworden, suchte ich im Netz nach einer Diskussionsgruppe zu diesem Thema und schloß mich ihr an. Lesen bildete einen guten Kontrapunkt zu meiner Schlußrevision. Außerdem eignete es sich großartig als Tagvertreib und Verzögerungstaktik. Solche Studien schoben den Zeitpunkt hinaus, an dem ich keine Revision mehr zu kontrapunktieren hätte. Wenn ich mich jetzt ins System einloggte, strömten mir von 22
überall her Auskünfte zu diesem Thema zu. Einige Teilnehmer, die wie ich als Besucher im Zentrum arbeiteten, tauschten Nachrichten mit Kollegen aller Kontinente aus. Aber falls dieser Lentz nicht gerade mit einem Pseudonym unterzeichnete, machte er offenbar einen weiten Bogen um die Gruppe. Ich verfolgte den Meinungsaustausch. Die Stammkunden nahmen Konturen an. Der dänische Apostat. Der geniale Provokateur in Berkeley. Slow und Steady, angesehene Autoren, im ständigen Kampf mit ihrem Erzrivalen Flash-in-the-Pan. Die einen spekulierten. Andere gaben huldvoll nach. Ich sah mich selbst als Figur in dieser endlosen Versammlung von Profis: der literarische Lauscher. Der grünschnäblige Amateur, dessen Anwesenheit im Symposium von niemandem bemerkt wurde. Aber auch das Lauschen hinterließ eine Signatur. Ich erfuhr, daß Netze nicht einmal richtig programmiert wurden. Sie wurden trainiert. Wiederholte Eingaben und Feedback von außerhalb lösten Assoziationen aus und brannten sie ein. Diese Information löste bei mir eine Assoziation aus. Der Mann hatte nach Mitternacht in seinem Büro gesessen und einem ansonsten leeren Gebäude immer wieder dieselben fünf Minuten Mozart vorgespielt. Einer Gruppe von Computern. Dieser Lentz, folgerte ich, hatte in seinem Maschinenpark ein neuronales Netz begraben. Eins, das er trainierte, Schönheit zu erkennen. Eins, das ihm nach mehrmaligem Hören sagen würde, wie diese schlichten Bläsersätze die Gewichtungen der Signale, die in Seelen Reaktionen auslösten, positiv oder negativ beeinflußten.
Einige Tage später schob sich der Schnabel, ohne anzuklopfen, in mein Büro. Aufrecht wirkte Dr. Lentz noch wackliger als im Liegen. Selbst wenn er stillstand, krängte er wie eine Marionette auf einem Katamaran, die Türklinke sein Ruder. Wieder der 23
Sommeranzug: der letzte Wissenschaftler, der noch so was trug, ohne vor dem Kongreß aussagen zu müssen. Er hatte die Blässe eines Schulfernsehmoderators aus den Sechzigern und sah aus, als hätte er Selbstbräunungscreme oral eingenommen. »Schriftsteller lebt zurückgezogen in den Niederlanden?« Sein Tonfall war eher anklagend als fragend. Eine Anspielung auf eine Bildunterschrift in einem großen Wochenmagazin. Man hatte mich in Sonora vor ein paar importierten Palmen fotografiert. Der Text darunter war eine äußerst knappe Skizze meines Lebens und traf inzwischen in keinem der drei Punkte mehr zu. Ich aktivierte den Bildschirmschoner, um den belastenden Text auf meinem Monitor verschwinden zu lassen. Er hätte ihn auch aus diesem Winkel lesen können. Seine Augen schienen an Stielen zu sitzen. »Hm. Das bin ich.« »Hm? Das soll ›brillant und geistreich‹ sein? Also erzählen Sie. Was haben Sie eigentlich mit den Holländern?« »Pardon?« »Die treiben sich in Ihren Texten herum wie Mistkäfer in einer Cholerastation. Haben in jedem Ihrer Bücher mindestens eine Nebenrolle. Fünfzehn Millionen tulpenlutschende, holzschuhschnitzende Wasserteufel. Na und? Das ist weniger als die Bevölkerung im Großraum New York.« Er hatte seine Hausaufgaben gemacht. Und wollte es mich spüren lassen. »Keine Ahnung«, gab ich zurück. »Zufall. Reine Koinzidenz.« »Unsinn. Literatur erlaubt keinen Zufall. Und die wenigen Koinzidenzen, die sie zuläßt, sind alles andere als rein. Warum schreiben Sie nicht über richtige Länder? Da draußen ist die ganze globale Gemeinschaft und schleift gefesselt hinter ihrem ökonomischen Auspuff her. Der Norden gegen den Süden, darum geht es. Die Besitzenden gegen die Besitzlosen. Wie wär’s 24
mal mit einer Reise durch die Tropen? Die Länder mit sechsprozentigem Bevölkerungswachstum und zweihundert Dollar Jahreseinkommen?« Ich wies in Richtung der Festplatte auf meinem Schreibtisch, wo mein fast fertiges Neuestes lagerte. »In dem Neuen kommt einiges davon vor –« Er winkte ab. »Die Holländer sind bestimmt auch mit dabei, wieder mal.« Zwei Worte zum Schluß. Das Liebe Kitty der kleinen Frank. Er grinste hämisch. Ich blickte weg. »Sie und Ihre feinen bourgeoisen Königinnenreiche. Was geht es mich an? Warum sollte ich fünfundzwanzig Dollar bezahlen –« »Das Taschenbuch kostet nur dreizehn.« Der Witz traf ins Leere. Inzwischen hätte ich ihm meine gesammelten Werke zum Selbstkostenpreis überlassen, nur um ihn wieder loszuwerden. »Fünfundzwanzig Dollar, um etwas über eine unbedeutende Nation zu lesen, deren Währungseinheit sich anhört wie das Zeug, womit man früher den Kesselflicker oder den Flickschuster bezahlt hat.« »Immerhin haben sie einmal die Welt beherrscht.« »Für wie lange – zwanzig Jahre? Das Goldene Zeitalter.« Er trat auf der Stelle. Seine blickeschleudernde Gereiztheit ging mir langsam auf die Nerven. Ich schob ihm den freien Stuhl hin. Er setzte sich grinsend. »Die großen Mittelsmänner, Ihre Holländer. An- und Verkauf sämtlicher Rassen, Religionen und Hautfarben. Erzählen Sie. Was ist das für ein Gefühl, in einem Land zu leben, das seine große Zeit vor drei Jahrhunderten hatte?« »Kann ich nicht sagen.« Ich war mir noch nicht einmal klar darüber geworden, was es für ein Gefühl war, in einem Land aufzuwachsen, das seine große Zeit drei Jahre vor meinem Versuch hatte, mich daraus abzusetzen. 25
Mir lag aber nichts daran, mit einem Fremden Beleidigung gen auszutauschen. Ich war bereits zu demselben Schluß gelangt wie er, dieser Kognitionsökonom, der meine Romane bestenfalls vor dem »P«-Regal im Unibuchladen überflog. Er hatte recht. Es war Zeit, die Holländer ruhen zu lasen. Nach meinem letzten Buch wollte ich sie ein für allemal loswerden. Andererseits hatte ich vor, beim nächstenmal alles hinzuschmeißen. Nicht bloß das Exotische, den bunten Reisebericht. Sondern alles, einschließlich meiner Muttersprache. Unterdessen glaubte ich wenigstens diesen Wissenschaftler piesacken zu können. Ich hatte an diesem Nachmittag ohnehin sonst nichts vor. Außer schreiben. »Für ein unbedeutendes Land hatten sie überdurchschnittlich viele Maler und Komponisten von Weltniveau.« »Mr. Powers, ich bitte Sie. Von europäischem Niveau. Die Welt ist, auch wenn Sie diese Neuigkeit verblüffen mag, vorwiegend von Schwarzhaarigen bevölkert. Die Mehrheit davon hat kein anständiges Dach überm Kopf und würde Die Anatomie des Dr. Tulp zum Dachausbessern benutzen, wenn sie könnte.« »Und Ihr Mozart?« Normalerweise habe ich etwas gegen billige Retourkutschen, aber der Mann wollte es nicht anders. Er zuckte die Achseln. »Das Stück war zufällig zur Hand. Ein winziger Bruchteil des vorhandenen Repertoires. Austauschbar, versichere ich Ihnen.« Er stand auf und schritt zu meiner Tafel. Ohne zu fragen, wischte er aus, was ich dort hingeschrieben hatte, und zeichnete eine Matrix mit leeren Kästchen. »Na schön. Die hübschen Bilder und ein paar nette Melodien will ich Ihnen zugestehen. Aber in der Abteilung Romane haben Sie’s nicht allzu weit gebracht, richtig?« »Das liegt nur an den Übersetzungen.« »Nicht an den Beschränkungen dieses schleimlösenden niederdeutschen Dialekts? Eine Orthographie zum Davonlaufen. Mannomann! Wie kommen Sie nur mit dieser Syntax zurecht? 26
Eine auch von Muttersprachlern erst nach das Hirn immer quälender in Kortikalverschlingungen verwickelnden Bemühungen um Herstellung eines Zusammenhangs beim Eintreffen der allerletzten grammatikalischen Einheit zu entwirrende Wortfolge.« Seine Persiflage war absolut perfekt. Und er ratterte sie einfach so herunter. Es überlief mich eiskalt. Wieviel Hausaufgaben hatte der Mann gemacht? Konnte ein Kognitionslinguist eine Sprache parodieren, die er nicht beherrschte? Ich wollte es gar nicht wissen. Und ich hatte nicht vor, ihm auf gleiche Weise zu antworten, selbst wenn er umschwenken würde. Ich träumte noch immer in dieser Sprache. Das ruinierte mein Englisch. Über ein halbes Jahr lang weg, sah ich immer noch jedesmal den Turm des Utrechter Doms, wenn ich am Turm des Zentrums vorbeikam. Ich kam nicht los von einem Ort, an dem ich mich nie heimisch gefühlt hatte. Und das alles nur wegen eines toten polnischen Kindes, das nicht weit vom Haus meines Vaters auf die Grundschule gegangen war. Eines Kindes, das die Niederlande nicht von Ostindien unterscheiden konnte. Mit acht Jahren hatte ich mir gegen Ende des Winters in einem feuchten Chicagoer Vorortkeller ein Bild von diesem Land gemacht. Ein kindlicher Bericht von der Flut, die kurz vor meiner Geburt Zeeland verwüstet hatte, wurde in meinem Kopf zur Wirklichkeit. Typisch für einen Achtjährigen. Die Worte haben sich noch nicht von ihrem tödlichen Inhalt getrennt. Anderthalb Wochen lang sah ich überall Menschen auf Häusern mit steilen Giebeln kampieren, Inselträumen in stetig steigendem Wasser. Dies war mein unerschütterliches Bild von einem Land, von dem ich nie geglaubt hatte, daß es jemals mehr als ein Bild für mich sein könnte. Bei dem Wort »Holland« konnte ich nur an katastrophale herbstliche Sintfluten denken. Und das legte sich auch nicht, nachdem ich bereits jahrelang weit im Landesin27
nern, ganz oben auf den holländischen Bergen, gelebt hatte. An dem Tag, als ich siebenundsechzig Blocks nördlich des Loop dieses Buch las, wohnte C. siebenundsechzig Blocks südlich von mir und hegte in ihrer Phantasie ein vollständig anderes Bild von den Niederlanden. Jeder besitzt ein geheimes Niederland des Herzens, wo er hätte geboren sein sollen. C. verpaßte das ihre um ein Jahr und eine Ansammlung von Wellen. Als ich C. in U. kennenlernte, war sie holländischer als nach ihrer Auswanderung. Mit fünfundzwanzig erfuhr sie, daß sie die Staatsbürgerschaft jederzeit vor Erreichen des dreißigsten Lebensjahrs beantragen konnte. Es war, als läge die Zugehörigkeit in einer mit Elfenbeinintarsien verzierten Credenza im Haag, die nur darauf wartete, vor dem Verfallsdatum geöffnet zu werden. Und das ganz umsonst, da ihre Eltern gebürtige Holländer waren, auch wenn sie später halbherzig den Staatsschoner verlassen hatten. Sobald sie ihr Geburtsrecht geltend machte, wurde die Ablösung unabänderlich. Ich konnte die Spur der Verlagerung bis zu einem neunzehnjährigen Polen zurückverfolgen, über den ich kaum etwas in Erfahrung brachte. Ein Junge von der South Side, der nie von zu Hause hätte weggehen sollen. Sein Name war eine Ballung von widerspenstigen slawischen Konsonanten. Für mich war er einzigartig. Dabei nimmt dieser Nachname, soweit ich weiß, im Telefonbuch von Cicero anderthalb Spalten ein. Die Verlagerung des Jungen mußte mindestens eine Generation früher begonnen haben. Aber ich habe die Einzelheiten seines Falls nie erfahren. Seine wenn auch noch so vergängliche Heimat war nicht Chicago per se, sondern jene Emulation von Krakau, die von Zwischenkriegspolen an der Südwestseite des ehemaligen Fort Dearborn installiert wurde. Als der Zweite Weltkrieg bis an die Haustür schwappte, meldete sich der Junge freiwillig. Seine Familie schickte ihn zurück, ein Heimatland zu befreien, das er nur aus der Vorstellung kannte. Vor der Abreise heiratete er. 28
Man heiratete jung in diesen Zeiten, kurzentschlossen und eigenwillig, um den Zufällen des Schicksals zuvorzukommen. Der Junge hieß Eddie. In meinem zweiten Buch benannte ich meinen Vater und ein hybrides Ich nach ihm. Eddie und seine Kriegsbraut lebten für höchstens zwei Stromrechnungen zusammen. Dann verschwand er. Er fiel in der ausgedehnten Panzerschlacht, die sich von den Wäldern im Osten Belgiens durch Limburg bis nach Nijmegen und Arnhem erstreckte. Sein Leben war nicht lang genug, mehr als eine Episode zu sein. Nämlich diese hier. Er hinterließ nur eine einzige Spur. Das heißt, seine Wahlregierung hinterließ sie: eins dieser urtümlichen Steinkreuze auf einem dieser flimmernd gemusterten Friedhöfe, die sich über die vergessende Landschaft hinziehen. Die Niederlande sind darauf spezialisiert. Als der Krieg wieder abflaute, mußte sich jemand um all diese Kreuze kümmern. Es waren mehr Tote als Kinder auf die Welt gekommen, und es kam die Zeit, daß sie adoptiert werden mußten. Dorffrauen in ganz Limburg meldeten sich für die Betreuung von Margraten. Eine noch junge Frau, die von einem Hügel aus die Stadt Karls des Großen hatte brennen sehen, die einmal, als sie von einem auf der Landstraße liegenden angeschossenen Pferd hörte, mit einem Schnitzmesser hinausgelaufen war, adoptierte Eddie. Der Auftrag war simpel. Die Stelle sauberhalten, an den Geburtstagen der Geschichte einen Strauß hinlegen. Die Frau tat dies und mehr. Sie begann einen Briefwechsel mit der Witwe und der verwirrten Mutter des Kriegsopfers. In welcher Sprache, weiß der Himmel. Die Witwe – die schon immer gewußt hatte, daß sie am Ende nichts als unlesbare Briefe von Ausländern bekommen würde – sprach Englisch und Polnisch. Die Mutter nur Polnisch. Die freiwillige Grabpflegerin sprach nur den Limburger Dialekt und Niederländisch, das sie als aufgezwungene Fremdsprache empfand. 29
Die Niederlande waren für die Amerikanerinnen so sagenumwoben wie für die Limburgerin die Staaten. Aber irgendwie brachten sie eine Kommunikation zustande. Witwe und Mutter besuchten das Grab. Sie wohnten bei der Grabpflegerin, deren Mann und ihren zwei kleinen Kindern. Die Chicagoer Polen boten sich den jungen Eheleuten als Bürgen an, sollten sie jemals in die gepriesene Hemisphäre auswandern wollen. Limburg war nie reich gewesen, und wie immer hatten die ohnehin schon Mittellosen die Kriegslasten zu tragen. Der Mann der Grabpflegerin, ein Eisenbahnarbeiter, erklärte, er werde sich jedem Land anschließen, das ihn ernähren wolle. Und so wurde ein Kellerraum in Klein Krakau zur Heimat seiner Familie. Nach einem Jahr hielt es seine Frau in der Neuen Welt nicht mehr aus. Sie floh mit ihren zwei Kindern im Schlepptau in ihr geliebtes Limburg zurück. Dem Eisenbahner war die Schmach der Rückkehr zu groß. Er blieb und schrieb ihr Briefe in seinem frischerworbenen Schulbuchenglisch: »Ich arbeite hier. Du weißt, wo du hingehörst.« Nach sechs Monaten zog die Frau wieder heim zu ihrem Kellervolk. C.s Geburt war der Trostpreis ihrer Mutter, das einzig Gute an diesem unbewohnbaren Ort. Das Paar benannte C. nach der Witwe des Gefallenen, die sich keinen neuen Mann mehr nahm. Kein Platz mehr für einen anderen Toten nach diesem ersten. Die Familie mietete ein Haus im litauischen Ghetto unweit der Schlachthöfe. Leben später ließ ich in diesem Haus eine fiktive holländische Einwandererfamilie stranden. Das schriftliche Exemplar erbaute ich nach den Beschreibungen, die C. mir aus der Erinnerung vorsagte. Zwei Jahrzehnte lebte C.s Familie in dieser Stadt und kommunizierte untereinander in einer Geheimsprache. Damit konnte man überall alles sagen. Und nur die Vertriebenen konnten einen verstehen. Sie hielten sich am Leben wie alle Menschen im Exil: mit Ri30
tualen und Erinnerungen, die für die in der Heimat Gebliebenen nicht mehr erkennbar waren. C.s Mutter erzog die Tochter mit Blick auf ein magisches Dorf namens E. Das Niederniederland, in dem C. aufwuchs, war mit Dutzenden von Tanten und Onkeln und Hunderten von Vettern und Kusinen bevölkert, die alle archaische Namen und märchenhafte Lebensläufe hatten. Man sollte sein Leben nie mit dem einer Frau verbinden, die zehn Dutzend Verwandte ersten Grades hat. Man sollte nie in ein Land auswandern, dessen Währungseinheit Gulden heißt. C. versuchte es trotzdem. Sie mußte. Das Bild, das ihre Mutter von E. entwarf, hatte sich C. schmerzhafter eingeprägt als jede Gegend, in der sie leibhaftig gelebt hatte. C. wollte dieses Fabelvolk wieder für sich gewinnen. Und ich versuchte ihr zu folgen. »Ach, Beau!« sagte sie zu mir. »Es ist so schön dort. Der Anblick ist Balsam für die Seele.« Und so war es noch immer. Jedenfalls stellenweise. Hier und da schauten noch Fachwerkdörfer zwischen neuen Industriegebieten hervor, wie Spuren von Fresken an renovierten Wänden. C. kehrte in ihr E. zurück, die erste Heimfahrt überhaupt. Als sie, die wiederhergestellte Bürgerin, dort ankam, wurde sie als Kuriosität bestaunt. Ihr Dialekt, mußte sie feststellen, war in der Zeit erstarrt, voller Wendungen, die schon die Generation davor ausrangiert hatte. Und sie sprach dieses tote Idiom mit Chicagoer Akzent, was die Einwohner von E. an Gangster denken ließ, die allesamt bereits dreißig Jahre bevor C.s Eltern ihren Slang nach dem Lehrbuch erlernten, erschossen worden waren. Ich ließ mich von C. mitziehen. Mein erster Lehrbuchsatz: Nederland is een klein land. Ein unbedeutendes Land. Ein winziger Staat, der für die meisten Amerikaner irgendwo in Skandinavien liegt. Hat einmal die Welt beherrscht, zwei Jahrzehnte lang. Das Abenteuer endete von neuem im Exil. Ich kam in die 31
Staaten zurück und erkannte sie nicht mehr wieder. Dieses klein land kam mit mir zurück, es hatte mein Inneres befallen wie eine durch den Zoll geschmuggelte Fruchtfliege. Seine Nationalhymne mit der absurden letzten Zeile »Ich bin dem König von Spanien immer treu gewesen« ist die schönste der Welt, und es tat mir weh, wenn ich merkte, daß ich sie wieder einmal vor mich hinsummte. Der Gedanke an diese gelben Züge, pünktlich auf die Viertelminute, nahm mir jede weitere Lust am Reisen. Der Anblick eines orangen Fußballtrikots erfüllte mich immer noch jedesmal mit der knabenhaften Hoffnung, Goliath doch noch zu besiegen, und dies um so grausamer, weil ich eben kein Knabe mehr war. Sirupwaffeln in einem Importladen trafen mich wie ein Holzschuhtritt vor die Brust. Das Holländische war eine Schrapnellwunde. Wie C. war ich ein anderer Mensch mit diesem fremden Vokabular im Mund. Jetzt haßte ich den Klang dieser Wärter. Ich hätte sie mir liebend gern aus dem Gedächtnis geschlagen. Aber wenn ich die Sicherheit von Geheimsprachen brauchte, sagte ich sie mir noch immer vor. Jede Silbe ließ mich altern. Ich wußte die Bedeutung der einfachsten Wörter nicht mehr. Ich wurde sie niemals los, was auch immer mein nächstes Buch davon abtöten mochte. Aber ich hatte nicht vor, Dr. Lentz mit dieser Erzählung zu beglücken. Typen wie er waren mir nicht sonderlich sympathisch: Empiriker, die die Welt außerhalb ihrer drei Variablen allenfalls einer geistreichen Herablassung für wert erachteten. Ich hatte auf Veranstaltungen des Zentrums zu viele von seiner Sorte kennengelernt. Am Ende rieten sie mir alle, ich sollte mir ein Pseudonym zulegen. Das würde sich enorm auf meine Verkaufszahlen auswirken. Lentz stand an der Tafel und zog routiniert Verbindungsleitungen zwischen den leeren Kästchen. Ich räusperte mich. »Die Niederlande sind eins der zwei oder drei Länder auf der Welt, 32
wo die westliche Zivilisation fast funktioniert.« »Gott. Danken Sie mir lieber für ein paar Informationen.« Seine Antwort kam ohne Nachdenken, er drehte sich nicht einmal um. »Wenn Sie unbedingt auf den Holländern herumreiten wollen, warum schreiben Sie nicht mal die Geschichte jener Handvoll entschlossener molukkischer Separatisten, die, von ihrer alten kolonialen Hurenmutter belogen und verraten, einen Personenzug kapern, mitten auf der Strecke von Amsterdam nach –« »Keine Sorge«, sagte ich. »Die sind bereits Geschichte. Ich werde sie nie mehr in einem Buch erwähnen.«
Danach gingen wir uns aus dem Weg. Als ich Lentz das nächstemal zufällig auf dem Flur vor einer obligatorischen Veranstaltung wiedersah, begrüßte er mich sonor. »Der kleine Marcel! Was macht die Schreiberei?« »Nennen Sie mich nicht so. Das ist nicht sehr geistreich.« »Wer will denn hier geistreich sein?« »Sondern überheblich und gönnerhaft.« Lentz zog einen Flunsch und schwieg. Er erwog, mich mit einem Hieb zu erledigen. Machte dann aber eine rasche Kehrtwendung. »Entschuldigen Sie. Das war nicht meine Absicht. Ich bin im Umgang mit Menschen ziemlich ungeschickt. In diesem Gewerbe sind wir das alle. Gehört einfach dazu. Ganz typisch für unsereins.« Er strich mit den Händen um sich her, wie ein Magier Tücher über seiner glitzernden Assistentin schwenkt, die er gleich zersägen wird. »Kurzsichtigkeit, Zwergwuchs, Aggressivität, affektierte Schroffheit, Skoliose, besserwisserische Megalo…« Sein geknickter Gang war mir aufgefallen, aber an Rückgratverkrümmung hatte ich dabei nicht gedacht. Er mußte schon früh gelernt haben, das zu verheimlichen. Es tat mir leid, daß er 33
mir auf die Nerven gegangen war. Auch ein Mensch, der die Funktionsweise des Gyrus frontalis inferior nachgebildet hat, konnte von den Ungeheuern geplagt werden, die dieser Gyrus entfesselte. »Schon gut«, sagte ich. »Wir alle sind Kritiker.« »Kann ich mir denken. Ihre Arbeit bietet viel Reizstoff. ›Niemand hat es verdient, lebendig mit dem Leben davonzukommen‹?« »Richtig, und ›Schreiben Sie mir das Buch, das ich geschrieben hätte.‹« »Überall Neid. Ihr haltet euch für die Größten, stimmt’s?« »Sie scherzen. Früher vielleicht. Vor hundert Jahren. Heute ist alles Kino und Literaturkritik.« »Ach, mein ausgestoßener Freund. Wo soll das nur hinführen?« »Pardon? Wo soll das …? Dr. Lentz, ich muß es zugeben. Ich kann Ihnen nicht immer folgen.« »Aber ich bitte Sie. Die offene Parenthese! Wie soll ich Sie eigentlich anreden?« »Wie soll ich das wissen? Was paßt Ihnen denn an meinem Namen nicht?« »Ein bißchen phantasielos für jemanden aus Ihrer Branche, meinen Sie nicht?« Ich fühlte mich in zwei Spielen doppelt geschlagen. Auf alle Fälle wußte ich jetzt, mit wem ich es zu tun hatte. »Ist mir egal. Sie können mich anreden, wie Sie wollen, Ingenieur.« Ein Tiefschlag, diesmal aber von mir. Philip Lentz lächelte, und zwar so freundlich, daß ich sah, daß ihm die Hälfte der unteren Zähne fehlte. Die verbliebenen waren zusammengerückt, um den Mangel zu kaschieren. »Kleiner Marcel, ich weiß nicht, ob Sie mir sympathisch sind.« Auch das war ein Zitat von mir, aus einem Dialog, den ich längst vergessen hatte. Ich sagte, was zu sagen war, was für 34
mich bereits im Drehbuch festgelegt war: »Ganz meinerseits, Ingenieur.«
Lentz’
Friedensangebot landete nächste Woche in meinem Briefkasten. Eine stark zerlesene Kurzgeschichtensammlung. Mishimas »Patriotismus« war mit einer Haftnotiz markiert. Die Geschichte schildert atemberaubend detailversessen den Selbstmord eines jungen Mannes und seiner Frau. Auf dem Zettel stand: »Ich hoffe, das bereitet Ihnen ebensoviel Vergnügen wie mir.« Unterschrift: »Mit aufrichtiger Bitte um Verzeihung, der Ingenieur.« Als ich den erstaunlichen Text überflog, fragte ich mich, ob er mich schon wieder auf den Arm nehmen wollte. Diese Erzählung war als Ratgeber für mich gedacht. Eine Anleitung zum Selbstmord für den ehrbefleckten Autor. Nicht daß erst irgendein Stück aus einer Anthologie in mir den Wunsch wecken mußte, Schluß zu machen. Mit der Schlußrevision meiner vagabundierenden Kinder war ich so gut wie fertig. Ich ließ mir bloß Zeit damit bis zu dem von New York festgesetzten Ablieferungstermin. Obwohl ich laut Vertrag nach diesem noch ein weiteres Buch abzuliefern hatte, würde ein zeitlich gut geplanter Mishima meinerseits in New York mit Begeisterung aufgenommen werden und mich, wenn auch nur für kurze Zeit, auf die von meinem Lektor so genannte Liste bringen. Bei jedem meiner drei früheren Romanversuche hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits irgendein neues Thema ergeben. Was der Schluß des aktuellen Buchs nicht löste, ging in das nächste über. Diesmal – und dabei verbrachte ich Tage mit nichts anderem als Horchen – klang das Schweigen am anderen Ende wie einer dieser Anrufer, die nicht die Höflichkeit besitzen, einem zu sagen, daß sie sich verwählt haben, bevor sie den Hörer hin35
knallen. Vertrag oder nicht, ich wollte es noch einmal versuchen. Mein viertes war ein zu düsteres Intervall für eine Kadenz. Der Blitzkrieg sollte in meiner Prosa nicht das letzte Wort behalten, so sehr ich auch nach Realismus strebte. Ein Roman stand mir noch bevor. Aber bis jetzt hatte ich nur die erste Zeile. Ich wußte nur, das Buch sollte mein Abschied sein. Der erste Satz mußte lauten: »Stell dir einen Zug nach Süden vor.« Ein Satz, wie vom Himmel vorgegeben, befreiend wie das Azur des Oktobers. Dennoch konnte ich mich nicht einfach darauf stürzen und weiterschreiben. Ich hing schon bei der Abfahrt fest, und das aus dem schlichten Grund, daß ein derart perfekter erster Satz durch jedwede Fortführung nur kompromittiert werden konnte. Die Worte verfolgten mich wie ein Kinderlied. Schließlich vermutete ich darin irgendeine unbewußte Anspielung. Das konnte nicht von mir sein, so unverbürgt kam es mir vor. Ich verschob die Hoffnung auf weitere Starthilfe und suchte auf sämtlichen Frequenzen. Ich ließ Boolesche Suchalgorithmen über unvorstellbar große Textmengen laufen. Süden, Zug, vorstellen; mit UND verbunden, über Felder von zehn Wörtern. Ich ersetzte jedes Wort durch jedes denkbare Synonym, vage Termini aus Hypertextthesauren. Aber falls das junge digitale Nervensystem der Welt überhaupt etwas von meinem geheimnisvollen Anfangssatz wußte, gab es dieses Wissen nicht preis. Ich fragte mich, ob womöglich mein Gedächtnis nachließ. Wie ein Mann, der im Badezimmerspiegel fieberhaft nach Anzeichen für das Schwinden seiner Haare sucht, stellte ich mir Tag für Tag Prüfungsfragen nach den ersten Sätzen der Bücher, die ich mit Sicherheit gelesen hatte, und derjenigen, die ich geschrieben zu haben glaubte. Unbestreitbar: mein Erinnerungsvermögen war nicht mehr so, wie ich es in Erinnerung hatte. Bald würde ich sogar die tröstliche Last des Vergessens vergessen. Die Aufforderung, 36
sich etwas vorzustellen, bewegte sich wie jener abfahrende Zug selbst nach Süden. Der Satz ließ seinen letzten Aufruf über die Lautsprecher ertönen, ein transalpiner Intercity, der den Bahnhof verließ.
Aus Florida rief mein Bruder Russie an. Das tat er fast nie. Er wollte wissen, wie ich als Junggeselle so zurechtkäme. Ich fragte ihn, ob er sich an ein bestimmtes Buch erinnern könne. Eins, das unsere Mutter uns wahrscheinlich vorgelesen hatte. »Mom? Unsere Mom? Sprechen wir von derselben Frau?« »Laß das. Sie hat uns doch ständig vorgelesen. Sie hat mir das Lesen beigebracht.« »Ich weiß nicht, was deine Mutter getan hat; meine hat mich immer nur vor die Kathodenstrahlröhre gesetzt.« »Hat sie nicht. Das war streng rationiert.« Die letzten Kinder in Amerika, die noch fragen mußten, ob sie die Kiste anmachen durften. »Mag sein, daß das bei euch so war.« »Sicher, du warst jünger als wir«, gab ich zu. Ich hörte Russ’ argwöhnisches Schweigen am anderen Ende. Müssen wir Experten zu Rate ziehen? Brauchen wir einen Vermittler? »Ja, Bruder. Ich war jünger als ihr.« Ich konnte mir nicht denken, wo sonst dieser Satz herstammen mochte. Stell dir Geleise vor, die sich gemächlich nach Süden ziehen. Der Tag schwingt sich auf. Es sollte noch nicht allzu frisch sein, nicht allzu kalt und herbstlich. Langsam erwacht der Zug zum Leben. Der Dampfdruck steigt. Er gewinnt an Kraft, entfaltet sich in dieser ersten weiten Kurve, und der Abschied wird Wirklichkeit. Keine Frage: es hinterließ etwas Beklemmendes, dem höhnischen Horizont entgegenzufahren. Das Buch, das ich schreiben wollte, das Buch, das ich irgendwann in früher Kindheit gehört 37
haben mußte, lag weit jenseits der Lokomotive, weiter, als ich sehen konnte, auch wenn ich mich noch so weit hinauslehnte. Die Fahrt ging über eine weitere Strecke als die Liebe, als jede Ausflucht, als die Mitgliedschaft in diesem Leben. Sie zog sich hin wie eine erste Unterrichtsstunde. Überdauerte sogar mein Bedürfnis, die beschädigte Erinnerung zu haschen und zu offenbaren. Dieser Satz, die Rückfahrt aus dem Norden, mühte sich, auf das Gleis der Sehnsucht zu springen. Aber er brauchte mich im Tender. Ich durfte umsonst mitfahren, und solange ich Volldampf gab und den Kessel mit Kohle versorgte, durfte ich mich an den eiligen Lauf meines Satzes ankoppeln. Doch das leise Gehämmer der Schienen, das meinen lebenslangen Tag verfolgte, wurde zu einem fernen Pochen, je länger es sich mir entzog. Ich kam mir vor wie ausgesetzt an einem verlassenen Nebengleis, betäubt und ahnungslos, wie ich dort hingekommen war.
Ich schickte Lentz ebenfalls eine Haftnotiz. Die Dinger waren niederträchtig: gerade genug Adhäsion für ein kurzes Kleben. »Danke für das Geschenk. Entschuldigung überflüssig. Aber bitte: keine Belletristik mehr. Ich brauche Fachliteratur.«
Kaum hatte ich das Wort gesagt, schon strömte Fachliteratur herbei. Lentz schickte mir Sonderdrucke seiner Artikel. Er schickte mir Aufsätze von Kollegen und Konkurrenten. Er lieferte zehn Jahre altes Material und Beiträge, die noch gar nicht publiziert waren. Er legte keine Zettel mehr bei. Wenn ich seine Sachen lesen wollte, sollte es ihm recht sein. Aber bevor38
munden wollte er mich nicht. Neuronale Netze, erfuhr ich, neigten dazu, sich über Menschen zu werfen. Den wundersamen Artikeln zufolge, die Lentz mir schickte, gab es kein heißeres Thema. Forscher aus dem gesamten Spektrum der Fachgebiete leerten ihre tiefen Taschen in die verheißungsvollen Windungen simulierten Gehirns. In einem früheren Leben hatte ich einmal kurz mit Maschinenintelligenz zu tun. Ein paar Monate lang schrieb ich Programme, die Konsumgüter künstlich vernünftig machten. Ich arbeitete für eine Firma, die Haushaltsgeräte so klug machen wollte, daß sie Bedürfnisse vorhersehen konnten, von denen potentielle Käufer noch gar nicht wußten, daß sie sie hatten. Ich brachte Apparaten bei, sich selbst zu bedienen. Ich ersann die Regelbasis und nahm die Feinabstimmung ihres Denkvermögens vor. Ich verband eine Tabelle möglicher Maschinenzustände mit einer Liste von Syllogismen, die dem Gerät sagte, wie es in jedem einzelnen Fall zu reagieren hatte. Ich koppelte die Geräte an Sensoren, die in einen Strom von Daten aus der Wirklichkeit getaucht waren. Diese Verteiler konditionierten die Denkfabrik eines bestimmten Geräts wie Ratten im Labyrinth eines Verhaltensforschers. Wenn die Daten ihren Weg zu einem Ausgang fanden, wurden sie zu Schlußfolgerungen. Den Rest erledigte die edle Kunst der Schnittstellen. Ich brachte das Gerät dazu, die Situation zu gewichten. Es lernte von mir Sätze wie: »He! Willst du das wirklich machen?« oder »Versuchen wir’s noch mal mit ›Pürieren‹, na los!« Den Anwender zu überzeugen, war das Heikelste dabei, viel schwieriger, als dem Gerät beizubringen, eine Entscheidung zu treffen. Meine Expertensysteme waren gewiß nicht intelligent. Aber sie veranlaßten mich, darüber nachzudenken: was wäre wenn! Ich habe lange über diese Frage nachgedacht, auch nachdem ich die kommerziellen Interessen aufgegeben hatte. Was ist 39
Erinnerung? Wo, wenn überhaupt, hat sie ihren Sitz! Wie sieht eine Idee aus! Wie entwickelt sich Verstehen, ästhetischer Geschmack oder Temperament? Logische Aussagen wanden sich durch mein neuronales Labyrinth. Resultat meiner großartigen Schlußfolgerungen war, daß ich vom Wesen der Erkenntnis nicht die nebelhafteste Ahnung hatte. Niemand hatte eine Ahnung, und die Aussicht, daß sich daran etwas änderte, schien ziemlich dürftig. Es gab kein schwierigeres Problem. Und auch kein anderes. Wenn wir die Welt nur durch Synapsen kennen, wie können wir dann die Synapsen kennen? Ein Gehirn, das so verwickelt ist, daß es sich selbst erforschen kann, muß zu verwickelt sein, um erforscht werden zu können. Schwierig auch die Untersuchung der Funktionsweise eines Gegenstands, an den man nicht herankommt, ohne ihn zu zerstören. Um die Zeit meines dreißigsten Geburtstags habe ich die Beschäftigung mit diesem Thema aufgegeben. An der Grundsatzdebatte störte mich vor allem folgendes. Einerseits behaupteten Philosophen, der einzige Weg ins Gefängnis der Begriffe sei die Introspektion. Dies wiederum ließ die Empiriker die Zellenwände hochgehen. Wesenloser Nullentitäten überdrüssig, füllten sie chaotische Archive mit zusammenhanglosen Ergebnissen der Neurochemie. Die Analytiker schlugen zurück: da bei Planung und Interpretation von Experimenten das Denken eine Rolle spiele, untergrüben die Neurologen ihr eigenes Tun. Erkenntnis stelle sich selbst in Frage. Seinem Wesen nach rekursiv, sei das Denken allein durch Vermessen nicht zu definieren. Die Kognitionswissenschaft schien mir in einer Sackgasse zu stecken. Doch über Nacht, als ich weg war, wurde alles anders. Die Sackgasse öffnete sich an beiden Enden. Intelligente Apparaturen schafften den Durchbruch. Die Bastler in ihren Laboren entwickelten Instrumente, mit denen sie das Omelett darstellen konnten, ohne ein einziges Ei zerschlagen zu müssen. Gleich40
zeitig entdeckten auch die Analytiker einen Ansatzpunkt, nämlich die neuronalen Netze, wie sie in den von Lentz geschickten Artikeln beschrieben wurden. Konnektionismus. Die konnektionistischen Querköpfe bewegten sich irgendwo in der Mitte zwischen den Programmierern der künstlichen Intelligenz, die sich mit den formalen Algorithmen des Denkens befaßten, und den Schneckendompteuren, die Struktur und Funktionsweise des Hirngewebes selbst zu ergründen suchten. Die Labyrinthe des Zentrums boten Platz für jede Spezies. Doch in der Zwischenwelt der neuronalen Netze war offenbar Dr. Philip Lentz der maßgebliche Mann. Die Dynamik des neuen Gebiets führte unvermeidlich zu Kontroversen. Vielen von Lentz’ Publikationen merkte ich einen defensiven Tonfall an. Neurophysiologen wie Algorithmiker hatten für den Konnektionismus nur Spott übrig. Zugegeben, neuronale Netze zeigten raffinierte Verhaltensweisen. Aber das, so erklärte die Opposition, seien nur Tricks. Gags. Ein simples Erkennen von Mustern. Scheinbilder ohne jede echte neurologische Parallele. Was auch immer diese Netze hervorbrachten, Gedanken waren es nicht. Nicht einmal annähernd, ganz zu schweigen davon, daß damit das Problem gelöst wäre. In seinen Artikeln griff Lentz diese Anschuldigungen auf. Das Gehirn sei kein sequenzieller Binärprozessor, wie die Verfechter der künstlichen Intelligenz voraussetzten. Andererseits sei es freilich auch mehr als die Summe der Chemikalien, die durch seine neuronalen Bläschen strömten. Das Gehirn sei ein Modellkonstrukteur, der von dem, was er zu konstruieren versuche, fortwährend umprogrammiert werde. Und warum sollte man nicht davon ein Modell bauen und dann sehen, welche Einsichten sich daraus ergäben? Nachdem ich einmal auf den Konnektionismus gestoßen war, konnte ich dem Wort nicht mehr entgehen. Ich hörte es auf den Korridoren. Ich vernahm es in Seminaren des Zentrums, wo ich 41
hinten saß, um schnell verschwinden zu können. Allenthalben stieß ich darauf, sowohl in den weltweiten Computerdateien als auch in den zerstreuenden Texten, die meine nächtliche Dosis vergessener Bücher ersetzt hatten. Die Simulation neuronaler Prozesse, ihr Ruch des nie Dagewesenen breiteten sich überall aus. Meine Lippen bewegten sich kindlich mit, wenn ich in Lentz’ Ausführungen las, wir hatten die ersten Klippen unbelebten Denkens überwunden. Lentz beschrieb synthetische Neuronen, die assoziieren, lernen und urteilen konnten, ohne dabei schon erkenntnisfähig zu sein. Der nächste Schritt, prophezeite er, würde lediglich etwas mehr Raffinesse erfordern, höhere Geschwindigkeit, weitere Miniaturisierung, feinere Gravuren, dichtere Gewebe, größere untereinander vernetzte Gemeinschaften, Verbindungen höherer Ordnung und subtiler verteilte Pferdestärken. Die intelligenteste Maschine, die ich je assembliert habe, folgte nur einem sklavischen, hirnlosen Reflex. Gewiß, ich brachte das Ding dazu, sich an elementare Dinge zu erinnern. Aber diese Erinnerungen mußte ich mir erst einmal selbst ausdenken, bevor ich sie implementieren konnte. Von echtem Lernen konnte keine Rede sein, ebensowenig von einem Verhalten, das flexibel genug gewesen wäre, seine Regeln im Verlauf ihrer Anwendung zu ändern. Die Formalisierung selbst des fundamentalsten, flüchtigsten Wissens war im Vergleich zu echtem Erkennen eine bloße Trivialität. Irgendwann zwischen damals und heute war die Idee vom künstlichen Denken zum Leben erweckt worden. Und Lentz war einer ihrer Geppettos. Meine Gedanken spielten mit diesen glänzenden neuen kognitiven Artefakten, als hätte man sie gerade erst an den Ufern des Tigris ausgegraben. In seinem lesbarsten Aufsatz gab Lentz den Bericht eines fernen akademischen Kollegen wieder, der ein Makramee aus künstlichen Neuronen geknüpft hatte. Und das erregte ein solches Aufsehen, daß sogar in pseudowissen42
schaftlichen Fernsehsendungen davon berichtet wurde. Das Wesen bestand aus drei Schichten, die wie in einem Kondensator angeordnet waren und jeweils etwa hundert Neuroden enthielten. Bei seiner Geburt wurden die achtzehntausend Synapsen arbiträr gewichtet. Die Inputschicht erkannte Buchstaben, die vom Output in Töne verwandelt wurden. Bei seinem ersten Sprechversuch stieß es, wie jedes andere Neugeborene auch, eine Serie unartikulierter Phoneme aus. Aber nach wenigen Stunden las es schon deutlicher. Der Strom monotoner Silben zerfiel in erkennbare Wortformen. Jedesmal, wenn ein Ton zufällig richtig getroffen war, wurden die entsprechenden Verbindungen stärker, während die, die falsche Töne erzeugten, schwächer wurden und sich auflösten. Wiederholte Erfahrung und Selektion lehrten diese Synapsen ihr Abc. Die Maschine wuchs heran. Sie machte den Schritt vom plappernden Kleinkind zum sprechenden Jugendlichen. Nach einem halben Tag hatte das Netz die »Gugu-dada«Phase hinter sich und konnte tausend Wörter verständlich artikulieren. Nach einer Woche übertraf es jeden jungen Leser und näherte sich dem Niveau des durchschnittlichen Lesepublikums. Dreihundert simulierte Zellen hatten Vorlesen gelernt. Niemand sagte dem Ding, wie. Niemand half ihm, Fischer Fritzes frische Fische zu fangen. Wie die Zwischenräume, die sie emulierten, brachten sich die Zellverbindungen das Lesen mit Hilfe wiederholter Bestätigung selber bei. Töne, die mit der Muttersprache übereinstimmten, wurden gelobt. Die Bande zwischen ihnen wurden fester und einer Art von Gedächtnis immer ähnlicher, ein Prozeß vergleichbar dem, wenn ein Schüler durch Approximation eine Quadratwurzel berechnet. Ich las in Lentz’ Bericht, wie sich der Erfinder dieses Netzes die verborgene Schicht der erwachsenen Maschine ansah und dabei eine Überraschung erlebte. In barocken Systemen von Verbindungsgewichten fanden sich alle Regeln der Aussprache wieder. Komplexe Mathematik, Gruppenanalyse und n43
dimensionale Vektorrechnung stießen sämtliche Verallgemeinerungen beiseite. Die Neuroden hatten gelernt, daß, wenn zwei Vokale nebeneinander auftreten, der erste das Wort führt. Und sie hatten ihre Einsichten so elegant schematisiert, daß der Konstrukteur des Netzes behauptete, er selbst hätte das niemals so perfekt ersinnen können. Ich las die Presseberichte. Die Wissenschaft sagte mir nichts. Ich konnte ihr nicht folgen. Zeit und Neigung hatten mich blind für alles Wissenschaftliche gemacht. Ich konnte unmöglich beurteilen, ob der sprechende Kasten von irgendeiner bahnbrechenden Bedeutung war. Allem Anschein nach war seine biologische Triftigkeit bestenfalls marginal. Und von echtem Denken konnte bei dem Ding weiß Gott keine Rede sein. Solche Vorbehalte waren mir gleichgültig. Die Sache packte mich. Ich wollte die Vorstellung, die Idee dieses Experiments begreifen. Ein Kasten hatte Lesen gelernt, und dies nur kraft einer im Verborgenen wirkenden Kette von Reizsignalen. Eine sich selbst korrigierende neuronale Kaskadenschaltung hatte am Ende verständliche Worte gesprochen. Das Ding brauchte nur jemanden wie Lentz, der ihm gelegentlich ein »Bravo!« oder »Versuch’s noch einmal« zurief.
Mein
Jahrzehnt Briefe an C. kam als Paket zurück. Ohne Kommentar. Aber ich brauchte auch keinen. Jede Erklärung hätte mich nur zu einer Antwort verpflichtet. Sie erwartete, daß ich ihr ihre ebenfalls zurückschickte. Ich nahm es mir vor, sobald ich eine Versandtasche hätte und das Postamt aufsuchen könnte. Ich schob das Bündel tief in eine Schublade, neben das Schloß, dessen Kombination ich vergessen hatte. Ich sagte mir, vielleicht könnte der Mist doch einmal nützlich sein. Trotz allem nützlich in irgendeinem anderen Leben, das eines Tages 44
irgendein anderes Ich führen mochte. Eines Tages stolperte ich blindlings ans Ende meines Romans. Ich war mit der Schlußredaktion fertig und wußte, es gab nichts mehr zu ändern. Keinen Tag länger konnte ich mich in gutem Glauben daran festhalten. Ich druckte das Ergebnis aus und packte es in den Karton, in dem mein Verlag mir kürzlich die Belegexemplare der Taschenbuchausgabe meines vorigen geschickt hatte. Ich klebte den Karton mit zuviel Paketband zu, stellte ihn auf die Anrichte in der Küche, setzte mich davor und starrte ihn an. Ich dachte an C.s Urgroßmutter, die schon vor ihrem zwanzigsten Geburtstag im Wald oberhalb von E. drei solche Schuhkartons mit Totgeburten begraben hatte. Ich fragte mich, welcher halbwegs normale Mensch am Ende der Geschichte eine überladene, erdrückende Allegorie über sterbende Kinder würde lesen wollen. Die Überlegung kam ein wenig spät. Ich brachte den Karton mit dem Fahrrad zur Post und schickte ihn als Büchersendung nach New York. New York hatte für diesen Sarg im voraus bezahlt. Der Verlag konnte es sich nicht leisten, von meiner Tat deprimiert zu sein. Das dicke wissenschaftliche Werk war ein Überraschungserfolg gewesen. Jetzt hoffte man auf einen Nachklapp. Ich hatte ihnen keine große Chance gelassen. Kaum hatte ich das Manuskript aus der Hand gegeben, sackte ich zusammen. Ich fühlte mich wie nach einer dreijährigen Regressionsanalyse. Endlich war es mir gelungen, ein längst verjährtes Trauma zu rekonstruieren. Doch ich empfand keine Katharsis, sondern gar nichts. Anästhesie. Was sollte ich mit dem Rest meines Lebens anfangen? Schon der Rest des Nachmittags schien mir unausfüllbar. Ich ging einkaufen. Und bekam wie jedesmal im Gewühl der Geschäfte Kopfschmerzen. Wahrscheinlich würde ich wieder etwas schreiben, wenigstens noch einmal, falls dieser magische erste Satz als Anfang 45
möglich war. Aber der Zug – dieser Zug, den sich vorzustellen ich den Leser aufforderte – war mit Verspätung losgefahren. Er trat die Fahrt nach Süden an. Dann war er verschwunden, und ich saß noch immer im Wartesaal und beharrte auf dem ursprünglichen Fahrplan. Um herauszufinden, wo der Satz hinführte, mußte ich wissen, wo er hergekommen war. Ich glaubte ihn gehört zu haben: es war der Anfang einer Geschichte, die entweder mir jemand oder ich jemandem vorgelesen hatte. Als C. und ich in dem verkommenen Apartment in B. wohnten, lasen wir uns oft etwas vor. Wir schliefen auf dem Boden, auf einer ausgebesserten Matratze von der Heilsarmee, die wir fünf Blocks weit auf den Köpfen herangeschleppt hatten. Unsere Decke war ein flusender brauner Wollteppich, von uns der Bär genannt. Darunter kuschelten wir uns in diesem ersten Winter, als die Temperaturen nachts so tief sanken, daß das Thermometer unbrauchbar wurde. Dann machte auch noch die Heizung schlapp. Selbst voll aufgedreht, kam sie nicht mehr gegen die durch Mörtel und Mauerwerk einsickernde eisige Finsternis an. Das einzige, was uns sonst noch davon abhielt, uns mit dem Erfrieren abzufinden, war lautes Vorlesen. Freilich wollte keiner von uns der Leser sein. Denn um das Buch zu halten, mußte man die Hände aus der Decke strecken. Es wurde so kalt, daß unsere Münder die gedruckten Töne nicht mehr nachbilden konnten. Wir lagen im Bett, versuchten uns gegenseitig zu wärmen, murmelten halberfroren bei spärlichem Kerzenlicht – Silver Blaze, Benvenuto Cellini –, kicherten über die groteske Temperatur und schrien auf vor Schmerz, wenn die eiskalten Zehen des anderen uns berührten. Wir waren unser einziges Publikum, euphorisch im stillen Herzen der arktischen Kälte. So jedenfalls hatte ich das in Erinnerung. Vielleicht haben wir den Gedanken nie laut ausgesprochen, aber allein, daß wir 46
dort im weichen zugefrorenen Strom der Worte lagen, erfüllte uns mit Hoffnung. Die Welt konnte nicht so spröde werden, so streng und gewaltig und stumm, ohne daß sie damit irgend etwas verheißen wollte. Irgendwo in irgendeinem Regal mußte noch ein Buch mit aufgeplatztem schwarzem Ledereinband stehen. Ein Tagebuch, in das G. und ich die Titel aller Bücher eintrugen, die wir einander vorlasen. Wenn es mir gelänge, diese Aufzeichnungen zu finden, dachte ich, könnte ich die ersten Zeilen jedes Eintrags nachschlagen. Unser Leben in B. war ein verspieltes Als-ob. Diese dustere Mietwohnung, eine Südseeinsel, erdacht von einem Kupferstecher des achtzehnten Jahrhunderts. G. bewachte Gemälde im Museum. Ich programmierte Expertensysteme. Zum Spaß malten wir eine Zeitlinie des zwanzigsten Jahrhunderts auf die Rückseite einer gebrauchten Fernschreiberrolle und kleisterten sie oben rund um die Zimmerwände. Der Frieden von Peking. Marconi empfängt den Buchstaben »S« von der anderen Seite des Atlantiks. Usbekistan usurpiert. Chanel erfindet das kleine Schwarze. Der Limbo löst landesweite Tanzhysterie aus. Wir möblierten unser erstes Nest mit Sperrmüll. Freunde machten uns auf einen Polstersessel aufmerksam, den irgendein Frevler auf der anderen Seite des Baseballstadions vor die Haustür gestellt hatte. Keine drei Teller paßten zusammen. Wir besaßen einen einzigen kostbaren Gegenstand: einen Radiowecker. Jeden Morgen erwachten wir von ausgestrahltem Vogelgesang. Wenn wir einander nicht vorlasen, erfanden wir Geschichten aus dem Stegreif. Der Hof vor unserem Fenster war eine Autographensammlung voller Vignetten, die es zu katalogisieren galt. Da unten wurde eigens zu unserer Unterhaltung ein niemals endendes kostenloses Lustspiel gegeben. Gendarmen hoch zu Roß. Räuber in ihren ewigen Spoilerbewehrten Continentals. Elternlose Kinder gruben zwischen den 47
Büschen Dreckklumpen aus und stopften sie sich gegenseitig in den Mund. Ein Konservatoriumsschüler spielte auch im Dezember Saxophon am offenen Fenster. Er taumelte unsicher eine chromatische Tonleiter hinauf, fade musikalische Illustration von Seekrankheit. So wollte ich es in dem Buch darstellen, von dem ich immer noch nicht wußte, daß ich es bald schreiben würde. Beim Aufstieg verfehlte der Spieler immer und jedesmal das As, traf es dann aber zufällig beim Abstieg. »Hat wohl mit der Schwerkraft zu tun«, scherzte C. Junge Erwachsene in Anzügen kamen und wollten uns etwas verkaufen. Sie erzählten ebenso seltsame wie faszinierende Geschichten, eine bedrückender als die andere. Wenn die Vertreter an unserer Haussprechanlage läuteten, kauften wir manchmal eine Kleinigkeit. Oder wir schwiegen, als ob niemand zu Hause sei. Eine korpulente Frau, die von Unfallrente lebte und am Stock ging, humpelte regelmäßig vorbei, um ihren Hund zu lüften. Der Hund hieß Jena – wir nahmen an, er war nach der Schlacht benannt, bei der Hegel beobachtete, wie Napoleon die Preußen in die Flucht schlug – und war ein noch älteres Fossil als sein Frauchen. Fett und reglos stand er auf dem Bürgersteig und träumte vom Ausbruch aus seinem Gefängnis, ohne jemals einen Tropfen zu pinkeln. Sein Frauchen, dessen Namen wir nie erfahren haben, wartete in der Haustür und rief mit der schroffen Panik der Verlassenen immer wieder nach dem Tier. Der Hund starrte eine Ewigkeit lang nach dem Horizont, dann wandte er sich traurig zurück. Diese Anekdoten erzählte ich C., die mit geschlossenen Augen im Bett lag und sich blind und gelähmt stellte, ganz meinen Berichten ausgeliefert. Ich schmückte Ereignisse so übertrieben für sie aus, bis die Unwahrscheinlichkeit der ganzen Erfindung sie zum Lächeln brachte. Wenn sie lächelte, war ich jedesmal verblüfft, daß ich sie entdeckt hatte, bevor dies jemand anderem gelungen war. 48
Wir taten nur als ob, aber ich war mir dessen bewußt. Unser Luftschloß stammte aus einer Sammlung von Horrorgeschichten, die ein berühmter Herausgeber lange vor unserer Kindheit zusammengestellt hatte. Ich erzählte C. aus dem Gedächtnis die von den zwei Männern auf der Intensivstation. Der eine, ein Herzpatient, hat das Bett am Fenster. Den ganzen Tag ersinnt er zur Unterhaltung seines Leidensgenossen kunstvoll gesponnene Nachrichten aus der Außenwelt. Jede Figur bekommt einen Namen: Mr. Rich. Der Botenjunge. Die Dame mit den Beinen. Er webt diesen endlosen, dichten Roman für den vollständig Gelähmten neben ihm, der von seinem Bett nicht aus dem Fenster sehen kann. Eines Nachts bekommt der Fenstererzähler einen Herzinfarkt. Er krümmt sich. Tastet nach dem Medikament auf dem Nachttisch zwischen den Betten. Der Gelähmte ergreift seine Chance, die grenzenlose Welt da draußen endlich mit eigenen Augen zu sehen, zwingt aus dem Nichts eine einzige übermenschliche Armbewegung herbei und fegt das Medikament auf den Boden. Als man ihn am nächsten Tag in das jetzt leere Fensterbett verlegt, sieht er dort nichts als eine Mauer. »Tolle Geschichte«, sagte C. Ich spürte ihre Erregung in der eisigen Finsternis. Die ganze Welt lag vor uns ausgebreitet. »Die gefällt mir. Leider werde ich dich dafür umbringen müssen.«
Mein
einziger Anhaltspunkt war dieser Zug. Er konnte von überall her gekommen sein, auf einem Weg, der so simpel war, daß ich nie darauf kommen würde. Ich selbst konnte mir kein Bild von dieser Fahrt nach Süden machen. Wie konnte ich da den Leser auffordern, er möge sie sich vorstellen? Ich bezahlte Rechnungen, arbeitete alte Briefe ab. Ich erle49
digte alle meine Aufgaben auf die uneffizienteste Weise, die mein Unbewußtes zu ersinnen vermochte. Ich kam einmal mehr dahinter, wie lang ein Abend ohne jede Medien sein kann. Ich durchsuchte meine Notizbücher nach all den Entwürfen, die mir, während ich an etwas anderem arbeitete, so dringlich erschienen waren. Einmal hatte ich die Geschichte eines Mannes schreiben wollen, der davon lebte, daß er eine Statue imitierte. Er bereiste sämtliche Hauptstädte der Welt, sprayte sich mit silberner Farbe ein, legte eine Toga an und stand dann entnervend still, während bewundernde Massen vorbeihasteten und ihm Münzen in seinen Becher warfen. Als ich jetzt aber diesen Statuenmann beobachtete, um zu sehen, was mit ihm passierte, wollte er bloß noch besser werden, noch länger stillhalten, bis die Leute vorbeigingen, ohne ihn zu bemerken. Ich dachte daran, einen Siebzehnjährigen für 329 Tage in einem Kasten auf einem Flaggenmast vor der Mall of America ausharren zu lassen – als Mischung aus Protest gegen die Gesellschaft und dem Versuch, ins Guinnessbuch zu kommen. Ich fand eine Skizze zu einer harmlosen politischen Posse. Ma und Pa Kent, in einem der Staaten zu Hause, die länger sind als breit, haben ein perfekt erzogenes Kind. Es schläft die Nächte durch, ißt regelmäßig und sagt Verzeihung, wenn es rülpst. »Wie der Junge kriecht, Mutter! Der wird mal Präsident.« Der Schwank sollte seinen Weg zur Macht verfolgen, über Smallville High und den rechtwinkligen Bundesstaat im Nordwesten in die Arme von Lobbyisten und Parteikarrieristen. Ich dachte, das könnte mal eine nette Abwechslung sein. Jede dieser embryonalen Ideen schien mir durchführbar. Aus einer davon hätte sich bestimmt etwas machen lassen, wäre ich ein anderer Mensch gewesen, hätte ich das Interesse und die Geduld eines anderen Menschen besessen. Ich stöberte weiter, ich dachte, das Richtige werde mir irgendwann entgegenspringen. Als es ausblieb, sagte ich mir, Hauptsache, du entscheidest 50
dich und fängst einfach an. Und schließlich, war nicht eine Geschichte über das Ausdenken einer Geschichte die einzig wahre? An manchen Vormittagen gab mir ein Stechen im Magen zu verstehen, daß ich nie mehr irgend etwas schreiben würde. Ich hatte nichts mehr in mir außer der Autobiographie, der ich mich von Anfang an, ohne nachzudenken, verweigert hatte. Mein Leben drohte so sinnlos zu werden wie eine drei Monate alte Computerzeitschrift. Ich fragte mich, ob jemand, der lange genug zurückgezogen lebt, das Recht auf ein kurzes Erscheinen in der Öffentlichkeit erwirbt. Die Vorstellung schreckte mich ab. Doch es kam der Zeitpunkt, wo es zur Lebenslüge wurde, unschuldigen, unbeteiligten Dritten die Schuld an allem zuzuschieben. Und nach vier Büchern auf der Suche nach Einfachheit, die sich zu kaum mehr lesbaren Kompliziertheiten ausgewachsen hatten, lautete die Frage: Warum überhaupt an die Öffentlichkeit gehen?
Ich ging ins Zentrum und spielte die humanistische Stubenfliege. Ich las in meinen Notizbüchern. Ich zerstreute mich im Netz. Es kam der Herbst und schwemmte die Schwüle des mittelwestlichen Spätsommers fort. Kühler Regen glasierte die Bürgersteige. Gefallene Blätter verströmten einen Hauch von vorzeitigem Winter. Vogelschwärme sammelten sich und kreisten in V-förmigen Rückzugformationen. Wir traten in die zwei herrlichen Wochen ein, in denen das Wetter von U. den Eindruck vermittelte, jedes Lebewesen könne noch einmal von vorn anfangen. Allen verlorenen Boden zurückgewinnen. Die belebende frische Luft lahmte mich vor Hoffnung. Ich hielt still und wartete; diesmal glaubte ich, daß ich das Bevor51
stehende, die erste Woche der letzten Jahreszeit, vielleicht nicht verscheuchen würde. Ich lebte von dem Satz: Stell dir einen Zug vor. Stell dir einen Zug nach Süden vor. Auch bis zur Unkenntlichkeit entstellt, verzeichnete der Dampfdruck meiner Lok ihren nächtlichen Tadel. Eines Abends besuchte ich eine Bar, in die ich als Student nie einen Fuß gesetzt hatte. Wollte ich aufzählen, wie oft ich in meiner Schulzeit hier ein Bier getrunken habe, käme ich mit einem Viertelbyte aus. Die kostbaren Synapsen schonen. Ich hatte mich sehr bemüht, sie perfekt in Schuß zu halten. Das war mir einmal höchst wichtig erschienen. In den Niederlanden hatte ich eine Vorliebe für refermentierte Fruchtbiere entwickelt. Hier, im Land des dünnen, eiskalten Pilsners, waren sie ebenso teuer wie lächerlich. Aber ein kriek war immer noch wesentlich billiger als ein Hin- und Rückflugticket. Ich bestellte eine Flasche, die der Barkeeper erst abstauben mußte. Ich saß an der Theke, trank langsam vor mich hin und dachte an belgische Fernsehshows, in denen Kandidaten versuchen mußten, Dutzende von Biersorten ihren traditionellen Gläsern zuzuordnen. Mein letztes Bier hatte ich in einer Lütticher Kaschemme getrunken, wo es elfhundert verschiedene Sorten gab, achtzig davon vom Faß. Die Bierkarte hatte Buchformat, mit Register. Ich malte mir aus, ich müßte irgendeinem von C.s hundertzwanzig Verwandten ersten Grades erklären, was Lite bedeutet. Mehr, als das Wort zu buchstabieren, war kaum möglich. Durchs Fenster der Bar sah ich in einiger Entfernung den Vorplatz der Universität. Ich stellte mir vor, das sei ein mir unbekannter, sehenswerter Groote Markt, den ich erkunden würde, sobald ich mein Kirschgebräu ausgetrunken hatte. Im Kopf unternahm ich einen weiteren erzählerischen Versuch. Ein fünfunddreißigjähriger Bauarbeiter in Mechelen, je52
ner einst mächtigen, jetzt in Bedeutungslosigkeit gesunkenen gotischen Stadt, setzt es sich in den Kopf, den Turm der Kathedrale zu vollenden, der einmal als größter der Welt geplant gewesen war. Mein arbeitsloser Tagelöhner, den ich zwischen zwei Schlucken Joris taufte, stellt sich vor, das Bauvorhaben sei eben um einige Jahrhunderte aufgeschoben worden. Jetzt muß er nur noch die Stadt dazu bringen, sich zur Wiederherstellung ihres kirchlichen Ruhms in Konkurs zu stürzen. Die Geschichte schien enormes Potential zu bergen. Der Haken war nur, daß ihr Publikum aus exakt einer Person bestehen würde. Die Bar füllte sich. Ein Korpsstudent stieß mir in seinem Eifer, einen toten Krug wiederzubeleben, an die Schulter. »Tschuldigung, Sir«, beschwichtigte er forsch wie ein Fuchsmajor. Das Wort war ein Schlag ins Gesicht, eine Chiffre für die Selbstgerechtigkeit der Jugend. Leute unter einundzwanzig mußten das in jedes Gespräch einfließen lassen, auch wenn das Gespräch aus nur zwei Wörtern bestand. In diesem Land war Jugend eine gesellschaftlich akzeptierte Form von Aufschneiderei. Furchtbarer Fehler, in diese Collegebar zu gehen, in diese Collegestadt. Das hier waren dieselben Leute, die sich, während ich fleißig fürs Studium büffelte, jeden Abend hatten vollaufen lassen. Sie waren zwanzig geblieben, während ich in die Jahre gekommen war. Um so deprimierender, daß ich nicht der einzige alte Knacker hier war. An einem Tisch im Hintergrund, in der Raucherecke, machte eine Gruppe von Zentrumskollegen Pause von ihren Experimenten, um, wie es von weitem auf mich wirkte, hitzige theoretische Diskussionen zu führen. In ihrer Mitte, außerhalb seines Idioms noch kränklicher und unglaubwürdiger wirkend, gestikulierte Lentz. Seine Hände bauten und demontierten etliche ungestüme Tetraeder in der 53
Luft. Er stellte irgendeine Behauptung auf, die von dem halben Dutzend anderen am Tisch entrüstet, fast schon angewidert abgewiesen wurde. Aus der Distanz betrachtet, hatte Wissenschaft viel Ähnlichkeit mit Literaturkritik. Lentz blickte in meine Richtung, sah durch mich hindurch. Wir waren beide verlegen, heuchelten beide, wir hätten den anderen nicht bemerkt. Wir heuchelten, daß wir einander nicht beim Heucheln ertappt hätten. Ich war erleichtert, aber auch gekränkt, daß er nicht winkte. Nach einer Weile löste sich die einzige Frau aus der debattierenden Gruppe. Sie kam auf mich zu. Sie war groß, liebenswürdig, aufgeregt, ihre Sommersprossen wie Sternbilder in einem Heimplanetarium. Ich hatte sie auf den Fluren gesehen. Unmöglich zu sagen, wie alt sie war. Die Fähigkeit, Alter zu schätzen, hatte ich eingebüßt. Während sie den Raum durchquerte, entwarf ich eine Geschichte von einem professionellen Schätzer, der Alter, Gewicht, Größe und gesammelte Sorgen von jedem, der ihm begegnete, innerhalb unglaublich enger Toleranzgrenzen abzuschätzen vermochte. »Ich möchte Sie zu uns holen«, erklärte sie im Näherkommen. »Die braven Leutchen brauchen Hilfe.« Sie war tadellos gekleidet, die übliche Gleichgültigkeit der Wissenschaftler dem schönen Schein gegenüber war nicht ihr Fall. Ein Tweedkostüm und das üppige Haar zu so einem Bug eingerollt, wie ihn die Naiven in den Vierzigern trugen. Das wirkte beklemmend altmodisch, als ob sie nun gleich verkünden würde, mittels Durchtrennung des Corpus callosum sei Epilepsie heilbar. »Wer sind denn diese braven Leutchen?« Sie lachte: »Gute Frage. Ich bin Diana Hartrick. Ich befasse mich mit assoziativer Begriffsentstehung im Hippokampus.« »Ist der nicht hier in der Nähe?« Ich setzte ein möglichst breites Grinsen auf, um die idiotische 54
Frage als Absicht erscheinen zu lassen. Dann streckte ich stupide die Hand aus. In Limburg gibt man sich oft die Hand, und zwar mit allem, was lange genug stillhält. »Kleiner Marcel«, sagte ich. »Zur Zeit mit so gut wie gar nichts befaßt.« Sie nahm meine Hand, aber ihr Gesicht bewölkte sich. Sie sog die Lippen ein, eine Lehrerin, die ein übles Gerücht über einen guten Schüler nicht zur Kenntnis nehmen will. »Warum lügen Sie bereits, bevor wir uns überhaupt kennengelernt haben?« Zuerst meinte ich, sie spreche von meiner Bemerkung, daß ich nicht arbeite. Dann fiel der Groschen. Dr. Hartrick, dachte ich, war eine freundliche Seele, aber so wortfixiert wie ein Anwalt, der eine Verleumdungsklage vorträgt. »Entschuldigen Sie. Ein Spitzname, den Lentz mir gegeben hat.« Ich zeigte mit dem Kinn nach ihrem Tisch. »Ach. Der. Seinetwegen möchte ich Sie zu uns holen. Der Mann hat mal wieder einen Anfall.« Sie lehnte sich an den Tresen, eine Handtasche an die Hüfte gedrückt. Aus dem Seitenfach ragte zwischen Papierbündeln ein altes Viking-Taschenbuch hervor. Der Rücken war völlig verschlissen. Ich las den Anfang des Werbetextes, obwohl auch der Umschlag stark zerfleddert war. »Jeder sollte mindestens dreimal im Leben den Don Quijote lesen … in der Jugend, in mittleren Jahren und im Alter.« »Darf ich?« Ich deutete auf das Buch. Sie reichte es mir mit einer indolenten Nachsicht, der exzentrische Bitten schon lange nichts mehr anhaben konnten. Ich drehte das Buch um. Schlug die Copyright-Seite auf. 900-Seiten-Bücher hatten $1.85 gekostet, als ich zwölf war. Kaum zu glauben. Ich blätterte zum ersten Kapitel. In einem Dorfe von la Mancha, dessen Namen ich mich nicht entsinnen mag … Diese wenigen Worte breiteten sich in mir aus wie eine 55
Wahrheitsdroge. Ich war wieder fünfzehn, nahm meinen Mut zusammen und sagte der ägyptischen Herrscherin, die im zweiten Semester Philosophie vor mir saß, daß der Anblick der Haare in ihrem Nacken mir den Atem verschlüge. Damals las ich alles, was mir in die Finger kam. Das Lesen war mein unberührter Kontinent. Ich begann unmittelbar nach dem Aufwachen und las noch immer, wenn das Bewußtsein längst die Pforten geschlossen hatte. Ich las einfach so, es bereitete mir ein Vergnügen, das schwer zu beschreiben und nachher nicht mehr zu erlangen war. Diese dreizehn Wörter aus Kapitel eins schlossen mich wieder in den alten Bernstein ein. Schon vor dem Ende des Satzes hatte ich mich in klebrigsüßer Erinnerung verfangen wie ein kambrisches Insekt. Das erste Kapitel, ein zweites Mal: es hetzte eine Geistermeute auf mich, nicht minder scheußlich wie die, die den allzu belesenen Ritter verfolgte. Bevor auch noch die anderen herauskamen, klappte ich den Band zu. »Danke. Mehr habe ich nicht nachsehen wollen.« Hartrick nahm das Buch und schob es kommentarlos in ihre Tasche zurück. »Wollen Sie nicht zu uns kommen und sich für uns in die Bresche schlagen?« Ihre Worte klangen freundlich, ganz ohne den zurückhaltenden Ton verklemmter jüngerer Semester. Mit einem Wort, sie wurde älter, sachlicher. Ich hatte ihren Ernst verkannt. Ich war der Anwalt, der wortfixierte Idiot, der den Witz nicht mitbekommen hatte. Ich nahm an, ihr Fachgebiet verhalf ihr zu dieser Geistesgegenwart. Wenn man die zahllosen Subsysteme, die zum Speichern eines Bildes auf der Festplatte erforderlich sind, aus der Nähe betrachtet, wenn man den verschlungenen Pfaden nachspürt, die dieses Bild auf dem Weg ins Gedächtnis zurücklegt, verhärtet man sich gegen alles Definitive. Man wird demütig, bescheiden, melancholisch. Ich malte mir aus, was für Gefühle es auslösen mochte, wenn 56
man dem Organ bei der Arbeit zusah, wenn man das Trickfilmgeflacker eines PET-Scans betrachtete. Man projiziert dem Probanden eine Welt vor die Augen und sieht die Aquarellfarben um den Lobus temporalis rieseln, der diese Welt in dauerhafter Kurzschrift aufzeichnet. Hartrick beobachtete diesen Prozeß in Echtzeit, diesen verzweifelten Strom von Morsezeichen, den die geistige Palette aussendet, um sich einzureden, daß die Flotte, deren Kaperung sie signalisiert, sich nicht im nächtlichen Nebel davongemacht hat. Jeder postmoderne Postsolipsist, dachte ich, sollte sich auch einmal mit postfrontaler Neurologie befassen. Die Aufgewecktesten von ihnen würden dann künftig, wie diese umsichtige Frau, sorgfältiger erwägen, mit welcher Hitze sie ihre Aussagen vorbringen. Hätten sie diese verwirrend komplexe Struktur nur erst einmal bei ihrem unglaublichen lebendigen Wirken beobachtet, würden diese Theoretiker nie mehr etwas anderes als die demütigsten, unaufdringlichsten Sätze von sich geben, die ihnen zu Gebote stünden. »Ich fürchte, mein Kettenhemd ist in der Wäsche.« Sie lächelte, die Großmütigkeit in Person. »Kommen Sie«, beharrte sie. »Wir brauchen jemanden, der ihn niederreden kann.« Ich folgte ihr nach hinten zu den Zentrumsleuten. Lentz war schon mitten dabei, mich vorzustellen, als wir beide an den Tisch traten. »Das hier ist unser residierender Nichtresident. Marcel, darf ich vorstellen? Gupta, Chen, Keluga und Plover. Mit Hartrick haben Sie sich ja offenbar schon angefreundet. Jeder kennt Marcel, den Holländer. Jedenfalls dem Namen nach. Gibt es eigentlich wirklich Leute, die Ihre Sachen lesen?« Ich lächelte. »Da fragen Sie den Falschen.« »Hat Ihre Mutter sie gelesen?« »So sagt sie.« »Marcel schreibt Bücher«, erläuterte Lentz, an niemanden 57
gewendet. »Also paßt auf, was ihr sagt. Am Ende werden wir alle verewigt.« Der Krug wässrigen Pilsners auf dem Tisch hatte seine Aggressivität nicht dämpfen können. Heute abend jedoch stritt er mit seinen Kollegen. Ich war bloß eine praktische Sparringpuppe, am Rande des Hauptkampfs. Ich setzte mich. Um den Tisch knisterte es. Von der Debatte glommen, nachdem die harten Fakten aufgezehrt waren, nur noch leise philosophische Funken. Meine Anwesenheit dämpfte das geladene Kolloquium. Jeder zog sich auf gutes Benehmen zurück. Von den anderen war mir nur Ram Gupta bekannt, ein Wahrnehmungsforscher von internationalem Ruf. Seine Einreise kürzlich war ein einziger Hindernislauf. Der Einwanderungsbeamte am Flughafen stellte sich an, als ob dieser Braunhäutige beabsichtigte, unter die Wilden zu gehen, sobald irgend jemand ihn ins Land ließe. Die epische Demütigung hatte Dr. Gupta offenbar nicht im mindesten eingeschüchtert. »Sie bringen interessante Argumente vor, und auch Sie bringen interessante Argumente vor«, säuselte Ram und nickte abwechselnd Lentz und Harold Plover zu. »Können wir es nicht damit bewenden lassen? Ich bitte Sie, meine Herren. Würden wir, was Gott verhüten möge, heute abend beim Verlassen dieser Stätte von einem Auto überfahren, möchte dann wohl einer von uns dieses Gespräch als …–?« »Ich dachte, ihr glaubt an die ewige Wiederkehr«, zog Lentz ihn auf. Plover, ein dicker zerzauster Grizzly von einem Mann, warf die Hände hoch. »Großartig. Genau das brauche ich jetzt. Ich hatte allein schon in der letzten halben Stunde eine Ewigkeit unter diesem Unsinn zu leiden.« »Harold, wenn Sie vielleicht einfach ein paar neue Einwände vortragen könnten …« »Wir können keine neuen Einwände bringen, weil wir keine 58
Daten haben.« Keluga, ein struppiger Blondschopf von etwa zwölf Jahren, heischte Zustimmung im Kreis der Gesichter. Studierendes Wunderkind auf Kneipenbummel mit den Großen. »Daten?« flötete Lentz. »Aber selbstverständlich. Hartrick wird mit Vergnügen etliche hundert Vorderhirne von Affen für uns in Scheiben schneiden, damit wir ein paar Versuche durchführen können. Das dürfte die Frage ein für allemal klären.« »Sie zerschneiden Affen?« flüsterte ich Diana zu. »Rhesusschnittchen?« Ich hielt es mit Ram. Gelassene Albernheit schlug lautstarke Gemeinheit. Lentz schnaubte. »Marcel, dafür bekommen Sie von uns sieben von tausend möglichen Punkten. Noch ein solcher Ausbruch, und Sie können wieder zu Ihren Dichtern.« »Ach, lassen Sie ihn doch«, murmelte Plover in sein Glas. »War doch komisch.« »Geben Sie nicht mir die Schuld«, sagte ich. »Das habe ich von einem Freund vom Cal Tech.« Hartrick goß sich zwei Fingerbreit Schaum in ihr geriffeltes Glas. »Sie geraten ins Metaphysische, Philip. Auch alle Daten der Welt können solche Behauptungen weder beweisen noch widerlegen.« »Was trinken Sie da eigentlich?« fragte mich Plover. Nicht willens, mich auch nur von der Neige einer Flüssigkeit zu trennen, die pro Schluck rund einen halben Dollar kostete, hatte ich mein kriek mitgebracht. »Dunkles Lite«, sagte ich. »Riecht wie Essig mit Hustensaft.« »Marcel aalt sich nur ein wenig in nostalgischem Selbstmitleid. Die Keks-und-Tee-Nummer. Paßt auf, daß ihm nicht schlecht wird. Wenn er kotzt, schwimmen uns anderthalb Millionen Wörter auf dem Tisch.« »Sie hören doch nicht auf diesen Widerling?« schimpfte Plover. »Warum lassen wir uns das von ihm gefallen?« Er sah 59
mich kopfschüttelnd an. »Beachten Sie ihn nicht. So ist er immer, auch ohne die zwei Bier.« Ich beruhigte Plover mit einem Blick, daß Lentz und ich uns kannten. Lentz, ein General an vielen Fronten, warf sich auf den Nächstbesseren. »Wenn hier einer den Metaphysiker spielt, dann Sie, Dr. Di.« »›Dr. Di!‹ Das ist eine sexistische Beleidi…« Wieder warf Plover die Hände hoch. Nur vergaß er diesmal, vorher sein Glas abzustellen, und es landete eine ganze Menge Bier an der Wand hinter ihm. Lentz sprach durch die Hektik des Aufwischens weiter. »Sie fangen doch mit diesem mystischen Kauderwelsch an. Ist das Problem in einer endlichen Zeitspanne berechenbar? Nur das will ich wissen. Ist das Gehirn ein Organ oder nicht? Und kommen Sie mir nicht mit diesem Gesülze von wegen ›irreduzibler Profusion‹. Als nächstes werden Sie noch die Existenz einer Seele postulieren.« Hattrick verdrehte die Augen. »Bei Ihnen gewiß nicht, Philip.« Ihr Blick verharrte auf mir. »Verstehen Sie jetzt? Was dagegen, uns aus der Patsche zu helfen?« »Erinnert ihr euch an Winner und Gardner?« fragte Ram, der noch hoffte, die Streitsuchenden vom Thema ablenken zu können. »Deren Artikel über das Verstehen von Metaphern, in Brain? Aufgefordert, das zutreffende Bild für ›jemandem die Hand geben‹ auszuwählen, haben sich viele Patienten mit Schädigung der rechten Hirnhälfte für das Bild entschieden, das eine Hand auf einem Teller zeigt.« Keluga erbleichte. »Ram, bitte. Ich bin noch am Essen.« »Könnte mir jemand erklären, worum es hier geht?« Ich kam mir vor, als hätte ich selbst einen leichten Hirnschaden. »Aber ja.« Lentz machte einen lahmen Ausfall in meine Richtung. Er schlug sich auf den Oberschenkel. »Natürlich. Kleiner Marcel. Sie sind doch angegliedert an – wie nennt man 60
das heutzutage: Die anglistische Fakultät?« »Die sponsert meinen Aufenthalt hier, ja.« »Klären Sie uns auf. Was wird in Ihrem sogenannten Fach als Wissen bezeichnet? Was muß ein Anglistikstudent leisten, um akzeptables Lektüreverständnis zu demonstrieren?« Ich zuckte die Schultern. »Nicht besonders viel. Ein paar Vorlesungen hören. Ein paar Klausuren schreiben.« »Mehr mußten Sie nicht tun?« »Hm. Naja. Ich. Als ich jung war –« »Pst, jetzt alle mal ruhig. Der zurückgezogene Autor, von dem niemand etwas weiß, will uns seine Lebensgeschichte erzählen.« »Also. Wollen Sie das nun hören oder nicht?« »Pff. Verzeihen Sie. Ich hatte keine Ahnung, daß wir so empfindlich sind.« »Lentz, Ihre Entschuldigungen sind schlimmer als Ihre Attacken.« »Amen«, jubelte Diana. »Lassen Sie sich nicht von ihm unterkriegen, Richard.« Lentz lächelte. Er legte sich die gefalteten Finger vor den Mund. Einige Sekunden lang sah er aus wie Jacob Bronowskis böser Zwilling. »Bitte sprechen Sie weiter.« Das tat ich nach kurzem Kampf. »Ich habe mit zweiundzwanzig das sogenannte Magisterexamen gemacht. Man gab uns eine Liste mit Titeln. Die begann oben auf Seite 1 mit Caedmon’s Hymn und endete sechs Seiten weiter mit Richard Wright.« »Wo haben Sie studiert?« fragte Harold Plover. Ich zeigte aus dem Fenster, Richtung Uni. Dann überlief es mich rot vor Scham. Ich hatte mich nicht aus dem Wrack freischwimmen können. »Diese Liste«, hakte Lentz nach. »Und was dann?« »Dann haben wir zwei Tage lang Fragen beantwortet. Jeweils aufgeteilt in sechs historische Abschnitte.« 61
»Was für Fragen?« »Na, alles mögliche. Zum Beispiel zwei Stunden lang Quizfragen. ›So gehn sie, Hand in Hand, langsamen Schrittes, durch Eden den einsamen Pfad dahin …‹ Nennen Sie Autor, Werk, Fundstelle und Bedeutung.« »Na schön, vielleicht werde ich doch nicht das Fachgebiet wechseln.« Kelugas Witz kam nicht an. Plover schwenkte wieder seine Bärentatzen. »Moment mal. Das kenn ich doch. Der Schluß von Paradise Lost?« »Harold«, flötete Lentz. »Sie haben den Beruf verfehlt.« »Danach mußten wir Aufsätze schreiben. ›Diskutieren Sie das Konzept des ‚Neulands‘ und seine tragischen Konsequenzen für vier der folgenden sechs Autoren.‹« »Was für Fragen haben Sie beantwortet!« wollte Lentz wissen. Ich zuckte die Schultern und stieß durch den Mundwinkel ein Studentenhaftes Schnauben aus. »Wie? Das ist erst ein Dutzend Jahre her. Und Sie wissen nicht mehr …?« Ich rundete Daumen und Zeigefinger zu einer O und hielt sie hoch. Lentz blickte triumphierend in die Runde. »Wenn ich mir Mühe gäbe, würde es mir wahrscheinlich wieder einfallen.« »Um Gottes willen, Marcel. Tun Sie das nicht.« »Darf ich Sie was fragen?« unterbrach Keluga. »Ich habe irgendwo gelesen, daß Sie Physik studiert haben …« »Nicht im Hauptstudium. Sie haben das gelesen? Ich denke, Leute wie Sie sollen Fachzeitschriften lesen. Wo bleibt denn da die Kluft zwischen den zwei Kulturen?« »Was ist denn passiert?« »Womit?« »Mit der Physik.« »Das ist eine lange Geschichte.« Lentz kicherte. »Drängen Sie ihn nicht, Keluga. Er hat jeder 62
Zeitung im Land erzählt, daß er nicht davon reden möchte. Aber diese Liste, Powers. Könnten Sie davon noch eine Kopie auftreiben?« »Die müßte haufenweise in den Fakultätsakten zu finden sein.« Lentz reckte herausfordernd den Hals und sah von einem zum andern. »Jemand was dagegen, diese Liste für Testzwecke zu benutzen?« Plover sah säuerlich drein. Hartrick ließ den Kopf hängen. Ram rutschte unruhig hm und her. Chen, der bis jetzt noch gar nichts gesagt hatte, lächelte vage, verunsichert. Keluga genoß die Kabbelei, etwa wie ein Kind sich daran erfreuen mochte, seine Eltern betrunken zu sehen. »Test? Was für ein Test?« fragte ich so höflich wie möglich. »Wir werden einer Maschine beibringen, Ihre Liste zu lesen.« Jetzt war ich baff. »Das können Sie?« Plover sah Hattrick finster an. »Haben Sie nicht gesagt, Sie würden uns jemand zur Verstärkung holen?« Hartrick hob hilflos die Handflächen. Er hatte sie alle enttäuscht, der Vorzeigehumanist. Lentz inspizierte seine Fingernägel. »Wie Sie sehen, sind wir hinsichtlich dessen, was wir können und nicht können, durchaus geteilter Meinung.« Chen erwachte zum Leben. »Das ist übertrieben«, sagte er. Vielleicht auch: »Das ist zu übertrieben.« Sein Englisch war bestenfalls impressionistisch. »Noch haben wir keine Textanalyse. Wir arbeiten daran, aber noch haben wir keine. Einfache Satzgruppen, ja. Metaphern, komplexe Syntax: weite Ferne. Jahrzehnte!« Er konzentrierte sich auf den technischen Aspekt von Lentz’ Granate. Doch ich bezweifelte, daß Chen dem geladenen Subtext folgen konnte, auf den die anderen eingestimmt waren. Mir selbst war gerade erst halbwegs aufgegangen, worum es ging. Und ich hatte vor Jahren das Lektüreexamen be63
standen. »Chen, Chen. Einer der aufgewecktesten Geister auf dem Gebiet der formalen Symbol-System-Heuristik.« Lentz segnete ihn mit gekrümmten Fingern. »Und immer noch einen Schritt zurück.« »Philip«, drohte Hartrick. Sie würde sich notfalls auf ihn stürzen. Ihre Stelle riskieren. »Hyun? Wie lange leben Sie schon in diesem Land?« »Vier Jahre.« Er unterbrach sich, um über den tieferen Sinn der Frage nachzudenken. »Über irgendwelche Artikel im Journal für kognitive Neurologie kann ich Ihnen alles sagen. Kein Problem. Was möchten Sie wissen? Aber die erste Seite einer Liebesgeschichte, eines Großdrucktaschenbuchs aus dem Supermarkt? Da muß ich passen!« Wir lachten alle, und jeder aus eigenen Gründen. Nach vier Jahren in den Niederlanden hätte ich über ein solches Gespräch Tränen der Enttäuschung vergossen. Ram transformierte als erster Lachen in Rede. »Ich bekomme ständig Komplimente für mein Englisch von Leuten, die nicht wissen, daß es meine Muttersprache ist.« »Würden Sie diese Magisterprüfung bestehen?« fragte ihn Plover. »Sehr witzig. Was hab’ ich denn mit diesem Milton am Hut?« Ein Augenblick allgemeiner Schlaffheit schien anzudeuten, daß Lentz’ verrückte Idee abgetan war. Man hatte ihn bei einem Studentenulk ertappt und gezwungen, das einzugestehen. Plover seufzte. »Tja, Philip, ich fürchte, Sie werden sich wieder der realen Wissenschaft zuwenden müssen.« Er hob sein Glas zu einem abschließenden Toast und nippte. »Im Gegenteil. Wir konstruieren ein Gerät, das in der Lage sein wird, jeden Text auf Marcels sechs Seiten langer Liste zu kommentieren.« »Ach du liebe Zeit!« spuckte Plover. »Jetzt kapiere ich. Der 64
Mann will uns nur provozieren.« Diana legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Und das macht er ausgezeichnet.« »Wir sollten gar nicht auf ihn eingehen.« »Milchbärte.« Lentz’ Geste galt Keluga und mir. Er faßte den Ausdruck weit. »Kinder, ich biete euch radikalen Skeptizismus der Güteklasse A.« »Also schön. In Ordnung.« Plovers Stimme hob sich. Er schob die Ärmel hoch und lockerte den Kragen. »Dann lassen Sie mal Taten sprechen.« Chen hustete eine zischende Silbe hervor. Könnte ein Lachen gewesen sein. »Interessanter Ausdruck. Wird Ihre Maschine –?« »Harold. Die Sache ist möglich, und zwar mit der vorhandenen Hardware. Das schaffen wir in – Marcel, wie lange werden Sie uns mit Ihrer geschätzten Anwesenheit beehren?« Ich sah auf meine Uhr. »Wie spät ist es jetzt?« Niemand lachte. Muß an meinem Timing gelegen haben. Ich sagte, ich hätte noch zehn Monate Zeit, bis ich über ein richtiges Leben nachzudenken brauchte. Lentz sah mich besorgt an. »Da werden wir uns sputen müssen, aber das macht nichts. In zehn Monaten haben wir ein neuronales Netz, das jeden Punkt der Examensliste interpretieren kann. Harold trifft die Auswahl. Und die Kommentare dieses Netzes werden mindestens so geschliffen sein wie die eines zweiundzwanzigjährigen Menschen.« Plover fuhr auf. »Philip! Das kann nicht Ihr Ernst sein. Was ist denn mit Ihrer Arbeit?« »Ich habe mehr als genug gearbeitet. Und außerdem, wäre es nicht von fachlichem Interesse, wenn wir das zuwege bringen könnten?« Plover blickte in die Runde. Ein letztes Flehen. Er sah mir in die Augen. Seine wirkten unendlich traurig, als fürchtete er zu vergessen, worüber sie beunruhigt waren. Sagen Sie was, drängten sie. Das ist doch absurd. 65
»Und wie soll das evaluiert werden?« Daß ich den Vorschlag überhaupt zur Kenntnis nahm, machte Plover noch eine Nummer kleiner. Lentz verzog den Mund. »Mit dem üblichen Turing-Test. Doppelblindanordnung. Black box. Beide Probanden bekommen x Stunden Zeit, eine Antwort zu formulieren.« »Und unser Richard hier als literarischer Gastschiedsrichter?« fragte Diana, als ob ich trotz aller Enttäuschung, die ich ihnen bereitet hatte, noch immer die letzte Hoffnung der Guten sei. Lentz hustete mitten im Schlucken. »Aber nicht doch. Powers wird mein Forschungsassistent. Was dachten Sie denn, wen ich mit ›wir‹ gemeint habe?« »Wir dachten, Sie sprächen im Pluralis majestatis, Philip«, sagte Plover. »Wie Sie es sonst immer tun.« Lentz ließ sich herab, mich anzusprechen. »Sind Sie dabei? Oder hatten Sie schon was Besseres vor?« Die Welt hatte genug Romane. Gewisse Schriftsteller sollte man lieber dafür bezahlen, ihre Produktion einzustellen. »Zehn Monate? Nein. Ich habe nichts Spezielles in Arbeit.« Worte, mit denen ich Verrat an meiner Gattung beging. Plover, zur Verzweiflung getrieben, gab auf. »Also gut, ihr beide. Werft euer Leben fort. Ich kann euch nicht hindern.« Harold, schien mir jetzt, hatte mindestens ein Kind im Teenageralter. Hartrick wollte noch nicht kapitulieren. »Ram soll den Schiedsrichter machen«, sagte sie. Ram blickte ratlos drein. »Einen weniger voreingenommenen, objektiveren Dritten werden wir kaum finden können.« »Ehrlich gesagt, ich habe von diesem Milton keinen blassen Schimmer.« »Gerade das qualifiziert Sie. Den menschlichen Widerpart benennen wir dann noch zu gegebener Zeit. Bis dahin – worum wetten wir?« 66
Lentz wurde nachdenklich. Das unausstehliche Kind, zur Rechenschaft gezogen. »Wenn wir gewinnen, muß Harold seinen nichtkomputationalen emergierenden Berkeley-Zen-Quatsch aufgeben.« Die Runde holte kollektiv Luft. Plover kicherte nur. »Wenn Sie gewinnen, werden wir alle vor die Tür gesetzt. Das Ganze ist einfach zu verrückt. Kindergarten. Mechanistische Spiegelfechterei. Ich weiß zwar nicht, was Sie im Schilde führen, Lentz. Aber ich habe angebissen. Und wenn ich Kopf und Kragen dabei riskiere.« »Und wenn Sie verlieren?« fragte Diana mit schwachem Grinsen. Sie wollte die Strafe für Kasuistik im voraus erfahren. »Wenn wir verlieren, leisten wir öffentlich Abbitte. Wir lassen einen ausführlichen Widerruf drucken. Eine Schmähschrift Ihrer Wahl, von uns unterzeichnet.« »Harold! Haben Sie das gehört? Endlich haben wir den Mann da, wo wir ihn haben wollen. Philip, Sie lassen nach.« »Das ist ein Trick«, erklärte Keluga. Lentz schüttelte den Kopf. »Kein Trick.« »Natürlich ist es ein Trick«, bestätigte Plover der versammelten Jury der Zukunft. »Aber womöglich einer, den man nicht verpassen sollte.« »Zu übertrieben«, sagte Chen. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Offenbar hatte er noch nicht begriffen, daß die Sache bereits abgemacht war. Diana zog ihren Taschen-Cervantes hervor, schlug beim Lesezeichen auf und las einen Satz vor. Eine Illustration des sinnlosen Unterfangens, auf welches dieser schroffe Mann und ich uns eingelassen hatten. Ich kann mich nicht mehr an den Satz erinnern. Aus dem Kontext gerissen, konnte ich nichts damit anfangen. »Harold«, sagte sie. »Wenn dieser Schreiberling recht hat …« Sie stieß Lentz in die Rippen. Ich hätte nicht gedacht, daß er die Berührung eines anderen Menschen dulden würde, aber 67
er tat es. »Wenn wir wirklich schon so weit sind, daß wir derartiges formalisieren können –« Plover zog eine Augenbraue hoch. »Ja?« »Wenn die beiden ihrem Geschöpf das Lesen beibringen, muß ich mich dann immer noch durch so was hier durchbeißen?« Plover warf den Kopf zurück, empört, aber würdevoll. »Ja. Selbstverständlich.« »Alles?« »Wenn Ihnen an unserer Freundschaft liegt.« Sie stopfte das Buch in ihre Handtasche zurück und sackte unter dem Gewicht pantomimisch ein. Plover erbarmte sich. »Sie dürfen den zweiten Teil auslassen.« »Überanstrengen Sie sich nicht«, riet Lentz. »Wir werden vor Ihnen am Ziel sein.« Ich weiß noch, daß ich dachte: Gott sei Dank stand Don Quijote nicht auf der Liste. Wenigstens dieses Buch ist eine Übersetzung.
C. studierte bei mir im allerersten Stilistikkurs für Erstsemester, den ich in U. gehalten habe. Unser Altersabstand betrug nur zwei Jahre. Ich war relativ jung für einen Magisterkandidaten, und sie wurde nach dem Wechsel des Studienfachs von sturen Vorschriften gezwungen, einen Kurs zu belegen, den sie nicht brauchte. Zur ersten Stunde, die um 8 Uhr anfing, kam sie zu spät. Das imponierte mir gar nicht. Sie wirkte träge, weder sonderlich intelligent noch attraktiv oder einnehmend. Bestenfalls halsstarrig. Aber sie setzte sich in die erste Reihe. Sollte sie in diesen ersten Stunden irgendwelche Beiträge geleistet haben, kann ich mich nicht daran erinnern. 68
Andererseits war dies mein erster Lehrauftrag. Ich war mehr als ein bißchen konfus, und es ist ein Wunder, daß ich mich überhaupt an etwas erinnern kann. Nicht nervös: was Pädagogiktheoretiker als unvorbereitet bezeichnen. Im Sommer zuvor hatte ich mich in Grammatik und Sprachgebrauch vertieft, hatte das stilistische Lehrbuch und die für den Kursus vorgesehene Anthologie studiert und kannte daher zumindest den Stoff. Was ich nicht kannte, waren die Studenten im ersten Semester, ich wußte nicht, ob sie es sich gefallen lassen würden, daß ein spindeldürrer Einundzwanzigjähriger, dessen Teint nicht viel besser war als der ihre, sich vorne an die Tafel stellt und die Diskussion zu leiten versucht. Nach der ersten Arbeit änderte sich mein Eindruck von C. Zur Vorbereitung hatte ich die Aufgabe gestellt: »Überzeugen Sie eine vollkommen Fremde davon, daß sie nicht in Ihrer Heimatstadt aufwachsen sollte.« Das schien mir als Umkehrung des konventionellen Aufsatzthemas hinreichend, meine Schutzbefohlenen erst einmal zum Nachdenken zu bringen, bevor sie loslegten und die üblichen fragwürdigen Sätze vom Stapel ließen. Der beste Aufsatz kam von einer Frau namens Maya. Später erfuhr ich, daß sie sieben Jahre älter war als ich und drei Kinder hatte. »Vertrauen Sie mir. Sie sollten nicht in East St. Louis aufwachsen«, schrieb sie. Sie werden hineingeboren, ohne daß man Sie fragt, und alles Bitten in der Welt wird Ihnen nicht helfen, wieder hinauszukommen. Nur wenige Wege führen aus East St. Louis hinaus, und auf denen gelangen Sie nur an Orte, wo Sie erst recht nicht leben sollten. C.s Aufsatz war der zweitbeste. Sie schrieb lyrisch, schwermutig, schonungslos von ihrer Jugend in Chicago auf einer Insel von der Größe eines Hauses. Sie schilderte das tägliche Erwa69
chen im Gestank der toten Tiere vom Schlachthof, in den sich fetter Schokoladengeruch aus der Fabrik nebenan mischte. Sie schilderte die Aufmärsche der Neonazis im Park, wo ihr Vater mit ihr spazierenging. Sie schilderte das Wachsen der Wohnviertel, die glühende Lava der Angst, vor der Familien alle zwei Jahre die Flucht ergriffen und unsichtbare, noch weiter entfernte Grenzen aufsuchten. Sie schilderte, wie einsame Neuankömmlinge aus ärmlichen Verhältnissen von Tür zu Tür gingen und die Leute baten, nicht auszuziehen, nur weil sie mit ihrer Familie eingezogen waren. Ich las diese beiden Aufsätze nacheinander vor. Die Kinder aus den heillos wohlhabenden Vorstädten der North Shore, in denen es zu wenig Kinos gab, machten Notizen. Am Ende meines ersten Semesters war mir klar, daß die Studenten beim schriftlichen Arbeiten nur wenig Probleme mit der Grammatik haben. Man lernt die Regeln früh, oder man kapiert sie nie. Das wahre Problem hatte mit Überzeugung zu tun. Meine Achtzehnjährigen waren einfach nicht überzeugt davon, daß der Leser real war, daß sie selbst real waren, daß die Themen der Welt real waren. Daß sie, kurz gesagt, genau das herauszustellen hatten. C. war mit der Realität vertraut wie mit dem Atmen. Nach diesem ersten Aufsatz konnte ich nicht mehr für sie tun, als ihr freie Hand zu lassen. In ihrer Hausarbeit schrieb sie über Aspasia von Milet. Sie hatte die übliche okkulte Phase auf der High-School hinter sich, einschließlich Vergangenheitsanalyse und dergleichen. In der Studienberatung gestand sie mir, sie habe einmal eine hundert Seiten lange Abhandlung über ihr früheres Leben im Athen zur Zeit Perikles’ geschrieben. Das wäre doch eine unschätzbare Primärquelle für ihre Arbeit, scherzte ich. Das Reden beunruhigte uns beide von Anfang an. Wir forschten an den Grenzen des Unschicklichen. Ich wagte ihr nicht zu sagen, wie seltsam es mir vorkam, mich mit einer 70
Fremden so vertraut zu fühlen. Schon das hätte für eine Anklage wegen Amtsmißbrauchs ausgereicht. Aber C. wußte es auch so. C. wußte immer Bescheid. Sie sah mir bereits von außen an, was ich dachte, noch bevor ich es in Worte gefaßt hatte. In gegenseitigem Einverständnis hielten wir den Mund und gingen einer Affäre aus dem Weg. Ich zog sie mit ihren früheren Inkarnationen auf. »Können Sie das urkundlich belegen!« In der nächsten Beratungsstunde zog sie ein Foto aus ihrem Rucksack. »Urkundlicher Beleg für ein früheres Leben.« Ein Flirt unter dem Deckmantel der Verneinbarkeit. Es war ein kleines Schwarzweißfoto. An der Rückseite klebten noch Filzreste. Sie hatte es aus einem Album gerissen, um es mir zu geben. Ein pummeliges Kind im Garten, 1961. Die Welt war seit jenem Augenblick gestorben, es war nichts mehr von ihr übrig als dieses winzige Viereck. »Das Gras hat mich in den Hintern gepiekt. Deswegen mache ich so ein Chruschtschow-Gesicht. Meine Eltern hatten mir gedroht. Wenn ich nicht zu weinen aufhöre, würden sie die Kamera holen.« »Daran können Sie sich erinnern? Da sind Sie doch höchstens zwei.« »Ich erinnere mich an Sachen, die noch weiter zurückliegen. Als ich knapp ein Jahr alt war, hat meine Mutter mich zu einem Besuch in die Niederlande mitgenommen. Ich habe den Hund meiner Tante beim Fressen gestreichelt, und er hat mich gebissen.« »Nun ja, so etwas Traumatisches …« »Können Sie sich nicht an ihre ersten Jahre erinnern?« Das können doch alle, sagte ihre Verblüffung. Alle. »Ich habe schon Schwierigkeiten mit dem Essen von gestern. Es kommt mir unglaublich vor … Woran erinnern Sie sich noch? Wie ist es mit dem ersten Satz, den Sie in Ihrem Leben gesprochen haben?« »Ganz einfach«, sagte sie, den Blick auf das Foto geheftet. 71
»›Braves Mädchen draußen.‹« »Und das heißt?« »Das heißt, daß ich mich benommen hatte und sie mich freilassen mußten.«
Ich hoffe, Sie werden nicht allzusehr auf meine Fachkenntnisse in englischsprachiger Literatur angewiesen sein«, sagte ich Lentz in seinem anarchischen Büro. »Das ist verdammt lange her.« Er trainierte sein ätzendes Grinsen an mir. Aber da war kein Training mehr nötig. »Soll das heißen, daß Sie Ihren illustren Vorläufern nicht treu geblieben sind?« »Ich kann sie bloß nicht mehr lang und breit zitieren.« »Und wie kommt das?« Ich zuckte die Achseln. »Können Sie noch lang und breit aus Babbage und Lady Ada zitieren?« »Was möchten Sie gern hören!« Er unterbrach sein Geklapper auf der kaffeebefleckten Tastatur und sah mich herausfordernd an. »Schon gut, Marcel. Wir brauchen keine erschöpfenden Kenntnisse der englischsprachigen Literatur. Die wird sich das Netz auch alleine beschaffen können. Wir kennen bereits etwas viel Nützlicheres. Wir kennen Dr. Plover, unseren Prüfer. Und wir kennen Dr. Gupta, unseren hervorragenden Schiedsrichter.« »Was hilft uns das? Sie denken doch nicht…? Wir können uns doch nicht darauf verlassen, daß sie –« »Nein, natürlich kann man sich auf keinen Menschen verlassen. Darin liegt ja die Schönheit der Herausforderung.« »Also gut. Und was wissen wir über Harold?« »Er ist Shakespeare-Kenner. Hat eine Schwäche für die Renaissance. Kein Tag vergeht, an dem er nicht wehmütigen Schmerz über den Fall des Menschen verspürt.« 72
»Lentz, Sie sind wirklich erbarmungslos.« »Das ist gut für die Karriere.« »Na schön. Also angenommen, er schwärmt für elisabethanische –« »Nicht angenommen. Das steht fest.« »Aber er weiß, daß wir das wissen. Wir werden doch nicht alles auf die Hoffnung setzen, daß er etwas Vorhersehbares auswählen wird?« »Marcel, man darf die Armseligkeit des menschlichen Herzens nicht unterschätzen. Hat man Ihnen das auf der Schule für berühmte Dichter nicht beigebracht?« »Doch. Das und ›Stechen und Weben‹. Die zwei Haupttechniken, ein Publikum zu gewinnen und bei der Stange zu halten.« »Brr. Die Vorlesung haben Sie wohl wegen Windpocken versäumt.« Bei einem echten Turing-Test würde unsere Black box einen Prüfer am anderen Ende eines Fernschreibers davon überzeugen müssen, daß sie wie ein echtes Gehirn arbeitete. Funktionsmäßig nicht davon zu unterscheiden war. Mit irgendeinem x-beliebigen Thema konfrontiert, sollte unsere Maschine dem Fragesteller weismachen, sie sei ein Mensch. Und praktisch wäre eine perfekte, umfassende Simulation von Intelligenz ja in der Tat intelligent. Ich hätte mich niemals auf eine solche Schnapsidee eingelassen. Aber auf den ersten Blick schien der Test in seiner strengen Restriktion beinahe formalisierbar. Wir brauchten nur einen winzigen Bruchteil dessen zu tun, was ein echter Proband bei einem Turing-Test zu tun haben würde. Erst jetzt ging mir auf: auch dann waren wir vor eine unendliche Aufgabe gestellt. »Warum sollte es einfacher sein, das Ding darauf vorzubereiten, zu einem bestimmten Sonett kluge Bemerkungen abzusondern, als darauf, jeden beliebigen Text auf der Liste zu interpretieren?« 73
»Es ist nicht einfacher. In beiden Fällen wird das ›Ding‹ ein wenig von allem wissen müssen, was man wissen kann.« »Das ist mir zu spitzfindig, Ingenieur. Erklären Sie mir lieber, was uns die Kenntnis der Gegenpartei nützt.« »Plover ist ein harmloser sentimentaler Trottel. Ram wird alles tun, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Wir müssen unser Netz nur so trainieren, daß es mit seinen Antworten ihre altbackene Empfindsamkeit aufbricht, ihnen die Zeit und das Gefühl der Einsamkeit vertreibt.« »Aha. Na, wenn das alles ist …« »Marcel, was sind Sie nur für ein Feigling! Wovor haben Sie denn solche Angst?« »Ich habe Angst, ein Jahr meines Lebens zu vergeuden.« »Im Gegensatz zu …?« »Ich habe Angst, in Mißkredit zu geraten, einem Phantom nachzujagen, das jeder andere Experte auf Ihrem Gebiet für –« »›Mißkredit‹. Ein wunderbares Wort.« Er zog die Tastatur unter einem Haufen Papiere hervor, den er darauf abgelegt hatte. Er gab die Adresse der Workstation ein. »Ist das für Sie so was wie ›Mißheirat‹? ›Mißgeburt‹? ›Miss Amerika‹? ›Misanthrop‹? ›Miszellaneen‹?« Ich zuckte zusammen. »Wenn schon, dann Miszellen. Lassen Sie diese Albernheiten. ›Miszellen‹ reicht vollauf.« »Also wirklich. Wann haben Sie das letztemal jemanden das Wort ›Miszellen‹ verwenden hören?« Er stellte eine Verbindung mit einem weit entfernten Computer her, einem sogenannten Host, und gab diverse Parameter ein. Dann angelte er aus einem Gewirr von Zubehör ein Mikrophon, stellte es an und sprach mehrmals »Mißkredit, Mißkredit« hinein. Nach wenigen Sekunden – einer digitalen Ewigkeit – antwortete ein stumpfes, geschlechtsloses Stimmenimitat: »Ihr Verhalten brachte sie in Mißkredit bei der ganzen …« Das letzte Wort verstand ich nicht. Es sollte wohl ›Gesellschaft‹ heißen. 74
»Ach«, hörte ich mich sagen. »Ach! Wir fangen also nicht beim Nullpunkt an?« »Stimmt. Nicht genau bei Null.« Er stellte das Mikrophon aus und streckte sich, soweit sein Körper sich strecken ließ. Dann nahm er die Brille mit den kugelsicheren Gläsern ab und brachte so die ganze reptilienhafte Strenge seiner Züge zum Vorschein. Das Abnehmen der Maske machte ihn offenbar gesprächig. »In manchen Fällen ist die Konstruktion eines allgemeinen Modells einfacher als die Lösung eines spezifischen Problems. Im übrigen zwingt uns nichts zu wissenschaftlichem Vorgehen, wir können also das Arbeitstempo selbst bestimmen. Und vergessen Sie unsere Trumpfkarte nicht. Wir brauchen ja nicht die Funktionsweise des Gehirns nachzuahmen. Genau das blokkiert nämlich die Sache in der reinen Wissenschaft. Wir müssen bloß ›so intelligent wie‹ sein, und wie wir dahin gelangen, können wir frei entscheiden.« »Was verstehen Leute wie Sie denn eigentlich unter ›intelligent‹?« »Volltreffer. Marcel, ich wußte doch, wir verstehen uns.« »Haben Sie genug von der reinen Wissenschaft? Wollen Sie damit nur einen verlängerten Urlaub machen, Ingenieur? Oder haben Sie noch was anderes in petto?« Er schien mich gar nicht zu hören. »Das hier ist Ihr Lektürepensum für die nächste Woche. Nichts auslassen! Würde ich einen Forschungsassistenten brauchen, hätte ich mir jemanden wie Keluga genommen.« Er reichte mir einen Stapel Sitzungsprotokolle und Zeitschriftenreprints. »Ich dachte, ich sollte hier als Literaturexperte herangezogen werden«, maulte ich. »Richtig. Und das hier ist die Literatur, die Sie zu Rate ziehen werden. Übrigens, Marcel. Das Jahr, das sie angeblich vergeuden. Haben Sie uns nicht erzählt, Sie hätten ohnehin nichts vor?« 75
»Ich habe soeben ein Manuskript abgeschlossen.« »Und?« »Ich spiele schon wieder mit einem neuen«, log ich. Konstruktives Lügen war schließlich mein Geschäft. »Tatsächlich? Wovon handelt es denn? Oder sind Sie einer von diesen Künstlern, die glauben, daß es Unglück bringt, wenn sie auch nur den ersten Buchstaben des Titels flüstern?« »Na ja, ich habe da so eine Idee.« In Wirklichkeit hatte ich Hunderte, von denen mich keine einzige überzeugte. Ideen versuchten sich bei mir einzuschmeicheln und flehten mich um Erlösung aus der Leere an. Ich aber, der Rettungstrupp, schien außer Dienst zu sein. »Ja, gut. Ideen sind gut. ›Ein optimaler Ausgangspunkt‹«, sang er. Seine Stimme war klar, ein verblüffender Tenor. Ich ignorierte ihn. Was mir immer leichter fiel. »Ein überarbeiteter Unternehmer macht Urlaub in – England, in Chester. Als er die Stadtmauer besichtigt, die Fachwerkarkaden, wird er von einem Obdachlosen um Kleingeld angebettelt. Er stellt sich verständnislos, spielt ihm einen deutschen Touristen vor. Der Schnorrer nimmt ihm das nicht ab und wird immer lästiger. Der Unternehmer reagiert wütend. Der Bettler kontert mit einer vagen Drohung. Auf einer Konferenz in Kairo drei Monate später wird der Unternehmer von einem Vagabunden angesprochen, der –« »Der sagt: ›Erinnern Sie sich noch an den Typen in Chester?‹ Und dann gibt es ein ganzes internationales Kartell von Obdachlosen, die überall, wo dieser Mann hinkommt, draußen vor den Restaurantfenstern auftauchen. Sehr hübsch. Eine kleine moralische Gespenstergeschichte. Wie bei Kipling. Marcel, Sie tun besser daran, für mich zu arbeiten.« »Sagen Sie mir nichts gegen Kipling. Kipling ist ein großer Schriftsteller. Einige meiner besten Freunde sind KiplingExperten.« »Steht er auf der Liste?« 76
Ich schüttelte den Kopf. Über Geschmack läßt sich nicht streiten. »Zeigen Sie mir das verdammte Ding. Haben Sie es mitgebracht?« Er hatte mich darum gebeten. Ich tat immer, worum ich gebeten wurde. Lentz nahm das Bündel von mir entgegen und begann darin zu blättern. Er unterließ jeden Kommentar, bis Seite 4, britische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. »Hm. Mary Shelley. Das könnte interessanter werden, als wir gedacht haben.«
Ich überlegte, ob ich ihm von meinem geisterhaften Anfangssatz erzählen sollte. Aber ich hatte keine große Lust, meine schmächtige Geisel Lentz’ Spott auszusetzen. Schließlich war der Zug nicht mehr als ein Vehikel. So jedenfalls hätte Taylor es in dem Erstsemesterseminar genannt, das mich bewog, Worten den Vorzug vor Meßwerten zu geben. Der Zug als solcher bedeutete gar nichts; er transportierte lediglich die Geschichte aus dem Bahnhof. Mein Zug erreichte nicht einmal den Grenzkontrollpunkt der zweiten Seite. Die Aufforderung, sich ihn vorzustellen, kam nicht über die Mitte der ersten rechten Seite hinaus. Wäre der Satz nicht erfunden, sondern erinnert, müßte eine gründliche Durchmusterung jeglichen bedruckten Papiers – alle rechts in der Mitte beginnenden Bücher in sämtlichen Antiquariaten der Erde – ihn zum Vorschein bringen. Stell dir diese Worte vor. Die Buchstaben graben sich erstaunlich über die Seite. Sie bilden eine langgedehnte Formation von Waggons, die gerade abfahren. Die Waggons werden von unsichtbaren Verbindungslücken zusammengehalten. Als Junge habe ich diese Leerzeichen mitgezählt, wenn sie unterm Atem meiner Mutter über die Gleise der Lettern klapperten. 77
Die Lücken zählen. Das bedeutete auch, die Worte zählen. Maschinen bewältigten diese Aufgabe mühelos, sie waren dafür geboren. Konnten sie auch Ideen zählen? Konnte man sie dazu bringen, Gedanken zu sortieren und zu einem geschmeidigen Schnellzug nach Süden zusammenzustellen? Ich las, was Lentz mir als Hausaufgabe aufgetragen hatte. Ein von Diana Hartrick mitverfaßter Artikel über die Begriffsentstehung im Hippokampus erregte meine Phantasie. Jeder Satz, jedes Wort, alles, was mir jemals ins Gedächtnis gelegt worden war, hatte die physische Struktur meines Gehirns verändert. Auch die Lektüre dieses Artikels verformte die Zellstruktur des Geistes, den dieser Artikel beschrieb, die Struktur, die den Artikel aufnahm. Ganz unten, auf Synapsenebene, war ich weitaus flüchtiger, als ich je geahnt hatte. So flüchtig wie die Summe der Dinge, die mir zugestoßen waren, aller Dinge, die ich behalten oder scheinbar verloren hatte. Jede Eingabe in meinen assoziativen Filter wirkte sich verändernd auf mein Verhalten beim Filtern der nächsten Eingabe aus. Um das Leben, das wir im Sinne hatten, nachzuahmen, mußten wir eine Maschine konstruieren, die sich mit jedem von uns eingegebenen Faktum veränderte. Konnte ein solcher Apparat – ein bloßes Vehikel – die Veränderungen überleben, die wir ihm würden zufügen müssen? Dann ging mir auf: um unserem Zirkustier Faulkner oder Thomas Gray nahezubringen, mußten wir ihm erst mit dem Schrecken der Worte Laune machen. Die Schaltkreise, die wir zu entwerfen hatten, mußten das Bild des Schaltkreises selbst enthalten, wie es aussah, bevor es von der Erinnerung revidiert wurde. Das Netz mußte sich erinnern können, wie es wieder aussehen würde, wenn eines Tages endgültig das Vergessen einsetzte. Ich hatte noch kaum mit den Hausaufgaben angefangen und war doch schon ein anderer Mensch. Der Schriftsteller, der sich 78
auf die leichtfertige Wette eingelassen hatte, war tot. Lentz, Hartrick, Plover, Gupta, Chen – jeder in der Falle seines Naturells –, C., Taylor, alle meine verlorenen Angehörigen und Freunde, sämtliche Bücher auf der Liste, all die Werke, die ich nun nie mehr schreiben würde, standen unterm Fenster meines abfahrenden Abteils und winkten mir zum Abschied. Es schien ewig her zu sein, seit ich zu meiner Fahrt ins Blaue aufgebrochen war. Ewig, seit ich im Kopf die Route verfolgt hatte, die ich jetzt nicht mehr zurückverfolgen konnte.
Nach einer Weile wird der Kalender zum Minenfeld. Ich mußte in diesem Herbst so vielen Gedenktagen ausweichen, daß mir kaum ein Schritt möglich war, ohne eine Explosion auszulösen. Taylors Seminar fand im Dachgeschoß der anglistischen Fakultät statt, in jenem Herbst, als ich mit achtzehn meine erste Weltkarte entdeckte. Im Herbst drei Jahre später hielt ich meine erste Vorlesung, C. unter den Hörern. Mit zweiundzwanzig bestand ich im Herbst das Magisterexamen und entfernte mich von U. so weit wie nur möglich. Den Weg, auf dem ich von einem Herbst zum andern oder von irgendeinem jener Herbste zu diesem gelangt war, konnte ich nicht sehen. Das Leben ruckelt stoßweise wie ein kaputter Kühlschrankkompressor. Wie ein tölpischer jugendlicher Prahlhans auf altmodischen Rollschuhen, der in einer Dislokationszone die Löcher im Bürgersteig umkurvt. Es verkriecht sich für eine Weile, rührt sich nicht, und dann springt es eines Tages hervor und versucht das Entgangene nachzuholen. Zeit ist keine Welle. Zeit ist unstetig und partikuliert. Eines Tages begann ich meine Vorlesung, die, in der ich mich als Taylor aufführte, und offenbarte einer schockierten und gebannten Hörerschaft die Kompliziertheit des Ich. Es war morgens um acht, als ich vor sie hintrat und ihnen erklärte, daß ich 79
sowohl diese als auch die nächste Vorlesung ausfallen lassen werde. Ich nannte einen Termin für die folgende Woche und sah meine Schäfchen brav aus dem Hörsaal schleichen. Alle bis auf C. Sie blieb im Bewußtsein unseres stillschweigenden Paktes: Zeit, die Karten aufzudecken. Wir standen allein in dem jetzt leeren Saal. Sie fragte: »Wollen Sie sich mal kurz mit mir zusammensetzen?« Ich wollte. Wir verließen das Gebäude und traten auf den Vorplatz. Dafür sind Vorplätze da: daß Generationen studentischer Trauer sich hier im frischen Blau der ersten Woche am Ende des Jahres niederlegen können. Während wir unser Fleckchen absteckten, sahen wir nur dies: den letzten November aller Zeiten. Der erste einer fast endlosen Reihe von letzten. C. saß im Schneidersitz. Ich lag, den Kopf in der Hand, auf einen Ellbogen gestützt. Um uns her der Kreis akademischer Gebäude – Chemie, Mathe, Anglistik. Jedes war Schauplatz von tausendundein Drangsalen und Verlegenheiten gewesen. Ich war froh, das hinter mir zu haben. Aber wohin war ich gelangt? Das war der Haken. Ich hatte keine Ahnung und war auch darüber noch froh. Sehr wenig berufliche Möglichkeiten für das, was ich tun wollte. Ich wäre schon glücklich dran, wenn ich nächstes Jahr um diese Zeit ein bißchen Trinkgeld als Kellner verdienen würde. Mein Vater hatte das natürlich vorausgesehen. Der Mann hatte alles gewußt, bloß nicht, wie man weiterleben konnte. Er hatte kein einziges Wort gesagt, als sein Sohn ihm eröffnete, er verzichte auf eine glänzende Karriere und werde aus dem Physikstudium aussteigen. Er brauchte auch nichts zu sagen. Ich konnte das Urteil auf seinem Gesicht ablesen: Tu, was du tun mußt. Aber was für eine ungeheure Vergeudung von Talent und Kapital. »Poesie, Rick? Was genau bedeutet das eigentlich?« Es bedeutet, daß du nicht die leiseste Vorstellung hast, was du tun 80
willst. Du willst dich keinem Problem mehr stellen. Habe ich recht? Ich bekam nie die Chance, mich zu rechtfertigen. Der Mann zog zu seiner Schwester nach Alaska. Dad wählte den Zeitpunkt seines Verschwindens so, daß niemand Zeuge davon werden mußte. Mit dem Ergebnis, daß mir der unsterblich verfallene Körper anderthalb Jahrzehnte lang in anklagenden Träumen erscheinen mußte. Drei Tage nachdem ich davon erfahren hatte, bekam ich ein Paket. Ein paar billige Lyrikbände – die Gedichte von Robert Service. The Spell of the Yukon. Rhymes of a Rolling Stone. Dads Lieblingsdichter, der ihm um so lieber war, als die Akademiker – sein Sohn – sich nicht einmal mehr die Mühe machten, diesen Reimeschmied zu verachten. Die Einäscherung von Sam McGee: Dads Kommentar zu dem von ihm gewählten Ausstieg. Ein Schlag ins Gesicht. Ein letzter, verspäteter Segen. Die Bitte, daß du, wenn du dein Leben schon mit dem Studium der Dichtkunst vergeuden willst, es wenigstens an etwas wirklich Solides vergeudest. Ich lag auf dem Vorplatz und dachte an dieses Abschiedsgeschenk, und mir gegenüber hockte meine Studentin. Ich drehte mich auf den Rücken. Ich sah mich in dieses vollkommen unwahrscheinliche Azur hinaufstarren. Wie viele Gespenster mochte einem das Leben vorführen? »Alles in Ordnung mit Ihnen?« intervenierte C. Mein »Natürlich« überzeugte nicht einmal sich selbst. »Sie waren … Ich dachte …« »Es geht mir gut«, erklärte ich. »Erzählen Sie mir«, sagte sie. Anonymität ist das beste. Wen lernt man denn jemals richtig kennen? Erzählen Sie mir, solange ich noch ein unbeschriebenes Blatt bin. Bevor Sie mich mit Wissen umkrempeln. »Mein Vater ist vor kurzem gestorben.« Ich zuckte damals zusammen, und seither jährlich, wenn ich 81
daran dachte. Verdammt noch mal, na und? Väter und der Tod von Vätern. Wie viele Kinder, die nur halb so alt waren wie ich, hatten wohl in der Zeit, die ich zum Aussprechen dieser Worte brauchte, ihre Eltern an irgendeine der raffinierten Brutalitäten dieser Welt verloren? Ich war im Unrecht. Alle waren es. Meine Trauer war mir widerwärtig. Immerhin redete ich, ohne sie anzusehen. Das half mir später zu sagen, daß ihre kuhäugige, zutrauliche Komplizenschaft bei meinem spontanen Geständnis keine Rolle gespielt hatte. Ich war unbesehen zu ihr gelangt. Ich ahnte noch nicht, wie beklemmend schlicht sie aussehen konnte. Ich verliebte mich in eine Stimme, in drei Worte. »Das tut mir sehr leid«, sagte sie. Als ob McGee aufgrund ihrer Fahrlässigkeit eingeäschert worden wäre. Und doch verleugnete sie mit jeder Silbe deren Bedürfnis, irgend etwas anderes zu sein als bloß ein anteilnehmendes Geräusch. Das einzige Beileid, das mir je ausgesprochen wurde. Nur das Sprechen zählte. Die Worte hatten wenig oder gar nichts zu sagen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie gelassen, wo sie hätte verschreckt sein sollen. »Möchten Sie lieber allein sein?« Ich sah zu ihr auf. Was brauchen wir, um sie wieder zusammenzusetzen? Brauchen wir einen Meter zweiundsechzig? Brauchen wir bräunlich-schwarzes Haar im Pagenschnitt? Aggressiv schüchtern, nervös unschuldig? Können wir sie vollständig erschaffen, sie unversehrt wieder heraufbeschwören oder wenigstens ihr Gesicht, ein Gesicht, das nicht erkennen läßt, daß sie jemals etwas anderes als Staunen gekannt hat? Ich sagte: »Ich sitze gern eine Weile mit Ihnen zusammen.« Sie legte sich ins Gras, sittsam entfernt. Jahre später habe ich es ihr in einem dunklen Bett erzählt. Wie verblüfft ich war – von ihr, der vollkommen Fremden, die mich nur aus der Vorlesung kannte. Warum war sie hier, neben ihrem trauernden Dozenten? Weil sie dieses Bild aus dem Familienalbum gerissen hatte und sich verpflichtet fühlte, nun das meine zu betrachten. 82
Weil ihr mein Aussehen gefiel: dieser arme Dichterlehrling mit den zerrissenen Hemden und niemandem, der sie ihm ausbesserte. Weil mein Schweigen so sehr nach Bedrängnis klang. Sie spielte an einem mit Büchern gefüllten blauen Rucksack herum, den sie zwischen den Beinen hielt. Ein Kind, das jederzeit aufstehen und sich davontrollen konnte. Ihr Haar, zu kurz zum Zurückbinden, war zurückgebunden und wurde von einem um einen Bleistift gewickelten Gummiband gehalten. Ich erklärte es ihr, ohne jeden Anlaß. Ich erzählte ihr alles von McGee. Alles. Wahrheiten, die ich niemals auch nur andeutungsweise meinen engsten Freunden gegenüber geäußert hatte. Tatsachen, die ich nicht einmal mit meinen Brüdern und Schwestern berührt hatte, es sei denn in bitteren Euphemismen. Ich erzählte es ihr von Anfang bis Ende, wie nur ein Einundzwanzigjähriger es noch kann. Vom allmählichen Selbstmord meines Vaters, der sich über mehr als fünfzehn Jahre hinzog. Von seiner langen, zunehmenden Sucht, die jeden Tag zur Sinuskurve einer neuen zerstörten Hoffnung werden ließ. Wie die Hoffnung, windelweich geprügelt, niemals starb. Wie sie immer zurückblieb, gleich einem amputierten Hund, dessen Hinterteil auf ein wackliges Wägelchen gebunden ist. Sie lauschte mit unverfälschtem Nachdruck. Das Alltäglichste von der Welt. Sie war noch in dem Alter, in dem Anteilnahme zu Erfolg verhilft. Ich, jetzt doppelt so alt, würde mich eher durch Notausgänge zwängen als mit Bekannten reden, und die Vorstellung, mit jemandem Freundschaft zu schließen, dünkt mir wie der Tod. »Erzählen Sie mir«, sagte sie. Und wurde für immer ein Teil von mir. Täglich, irgendwo, auch wenn sie sich genauso schnell wieder auflöste. Man gibt seine Einsamkeit hin. Man läuft jeder Aufforderung zur Beichte nach. Man gibt sein komplettes Drehbuch her, einfach aus einem jähen Gefühl heraus. Oder man gibt es gar nicht her. Ich erzählte es ihr ohne Anlaß. Weil sie da saß und fragte. 83
Weil auch sie so einsam wirkte in diesem akademischen Herbst, auf diesem menschenleeren Vorplatz, mit ihrem blauen Rucksack und dem um einen Bleistift zurückgebundenen Haar. Und weil ich es ihr erzählte, würde sie mir immer etwas voraus haben. Für alle Zeit, falls sie es nicht vergaß. Falls ihr daran lag, es auszunutzen. Ich schilderte ihr den tiefen Fall der Familie Powers aus der Mittelschicht in die Früchte des Zorns hinein. Den stummen, entsetzlichen Aufprall, ohne die geringste Dämpfung durch irgendwelche Schultergurte. Ich ließ sie am scharfen Verstand und der vagen Unergründlichkeit des Mannes teilhaben. An seiner groben Motorik, plump wie die einer paralysierten Laborratte. Ich erzählte ihr von meinen Verzweiflungstaten als Teenager: wie ich offene Literflaschen verkehrt herum auf den Tresen gestellt hatte. Wie ich Kreuze im Kalender gemacht hatte, damit er dachte, die verlorenen Tage hätten Wochen gedauert. Ich zeigte ihr sein aufgedunsenes, verwirrtes Gesicht. Das alles berichtete ich in quälenden Einzelheiten. Zumindest schien es mir so. Ein Jahrzehnt später behauptete C., die Skizze sei viel schematischer gewesen. Ich beschrieb den letzten nächtlichen Besuch, Weihnachten im Jahr zuvor. Kurz nachdem ich meine Bombe, den revidierten Karriereplan, abgeworfen hatte. Wie Dad wie ein von Parasiten geblähter Hund zu mir ins Zimmer wankte. Am Fußende meines Bettes saß und mich mit narkotisierter Klaue berührte. Mich aus einem eher harmlosen Alptraum weckte. »Rick. Hrr. Hör mir zu. Tu’s nicht.« Gespenstisch, unheimlich. Einleitung zu heller Panik. Selbst bei dieser kargen Nacherzählung zog sich mir wieder die Kehle zusammen. Was soll ich nicht tun? »Ändere dich nicht. Bleib so.« »Dad. Geh wieder ins Bett.« Ich sprach ihr den Text mit der Stimme des erziehungsberechtigten Kindes. In meiner Familie 84
mußten die Kinder früh anfangen, sich um die Eltern zu sorgen. »Schlaf deinen Rausch aus. Morgen ist alles vorbei.« Oder kurze Zeit später. »Rick. Bitte. Bleib bei der Wissenschaft. Die Welt braucht …« Ich erzählte ihr, wie ich meinen Vater verbittert, seine Durchhaltehoffnung enttäuscht hatte. Die letzte Hintertür, die er für seine Zukunft sah, zugemauert hatte. Ich hätte Dad mit der traurigen Katastrophe, die er aus seinem Leben machte, wieder aussöhnen sollen. Und jetzt würde ich weder in meines Vaters noch sonst jemandes Augen irgend etwas ins reine bringen. Wie konnte ich dieser Frau Einzelheiten mitteilen, bei denen mir selber schlecht wurde? Vielleicht wollte ich sie damit verscheuchen. Die Schmerzschwelle der Guten Samariterin testen. Sie blieb. Sie hörte sich alles an, bis hin zu McGees Krebserkrankung und rapidem Verfall. Fast eine Erlösung, gestand ich beschämt. Nur dies war groß genug, die erste Krankheit zu verdrängen. Ein Detail hielt ich zurück – Dads Grinsen aus den Tiefen der lähmenden Chemotherapie: Hab’ ich’s nicht gesagt? Du hast immer gedacht, dein alter Herr würde am Trinken sterben. C. hielt bis zum Ende durch. In ein qualvolles Schweigen hinein berührte sie mich am Arm. Absolution oder Zuspruch – es spielte keine Rolle. Davon abgesehen, kam es zu keiner Berührung. »Warum erzähle ich Ihnen das alles!« »Es fällt einem leichter, wenn man den anderen nicht kennt.« Aber ich kenne Sie, wollte ich einwenden. Der erste Mensch, den ich nicht erst kennenzulernen brauchte. Der erste Mensch, der noch einsamer ist als ich. Meiner selbst überdrüssig, begann ich sie auszufragen. Sie revanchierte sich aus Gefälligkeit. Sie studiere komparative Literaturwissenschaft, sagte sie. »Das bedeutet« – mit einem 85
Lächeln rechtfertigte sie sich vor dem Geist meines Vaters –, »daß ich die Realität noch nicht akzeptiert habe.« Ein Schulwechsel hatte ihr Leben um ein Jahr verzögert. Sie wollte sich große Mühe geben, um doch noch ohne Verspätung fertig zu werden. »Ich weiß auch nicht, was mich so treibt.« Sie lachte. »Es ist ja nicht so, als ob es massenhaft Einsteigerjobs für vergleichende Literaturwissenschaftler gäbe.« Dieser Wahn, geboren aus wechselseitiger Trauer. Weil ich alles ausplauderte und sie darauf mit langem schamlosem Schweigen reagierte, konnten wir beide uns einbilden, daß wir schon seit der Kindheit miteinander verkehrten. Keine Erklärungen nötig. Kein Überbrücken peinlicher Pausen. Worte kamen beinahe wie nachträglich, waren nur beiläufige Geräusche. Bin noch da. Fürchte dich nicht. Bin noch da. Nachdem wir alles gesagt hatten, wonach uns zumute war, verstummten wir. Wir saßen nebeneinander und lauschten dem üblichen konfusen Gezeter der Spatzen. Der letzte Tag der Unschuld, der spontanen Kameradschaft ohne Vorgeplänkel und Erklärungen. Das letzte Jahr, in dem man noch Freundschaft schließen konnte. Als sie wieder sprach, fuhr ich zusammen. Ich hatte vergessen, was Sprechen war und warum man davon Gebrauch machen sollte. »Sie werden also für eine Weile nach Hause gehen?« Ich nickte. Das kurze Moratorium der Trauer. Pause für das Bewußtsein vor der Rückkehr des Alltags. Manches davon mag erst später gekommen sein. Vielleicht habe ich die verschiedenen Male, die wir uns durch künstlich herbeigeführten Zufall in diesem Herbst dort trafen, zu einem Mal verschmolzen. Derlei Transformationen sind schließlich mein Beruf. C. pflegte zu sagen, daß bei mir immer alles Aufbruch sei. Sie lernte mich beunruhigend schnell kennen. Wie mein Gehirn stets alles auf Start zurückstellte. Wie ich am Ende mit einem Kopf voller Anfangssätze dastehen würde. 86
Der Vormittag wurde kalt. Wir rückten näher zusammen. »›Der nächste Mai wird schön‹«, sagte C., in die Anonymität der Anfängerin verfallend. Ich hörte erst verspätet. »Wie war das, bitte?« »Was?« Ihre Kehle schloß sich. Sie ging in Deckung. Was hatte ich falsch gemacht? Eine Frage, die noch rechtzeitig Abstand herstellte. Und wie schnell das schon in C.s Augen zu einem wieder wurde. Hier, beim ersten Mißverständnis, konnte ich vor Schreck nicht aufhören und sie beschwichtigen. »Wie kommen Sie jetzt nur darauf?« »Worauf?« Die Samariterin würde kämpfen, wenn sie genug Angst hatte. »›Der nächste Mai …‹« »Ach, das!« Sie lächelte dümmlich und atmete wieder. »Das ist ein Satz aus dem Englischbuch meiner Eltern. Wenn man hier so sitzt – bei dieser Temperatur, bei diesem Wind?« Sie versuchte mich zu entschärfen. Ich nickte: sprich weiter. »Ich habe mich plötzlich so offen gefühlt. So – irgendwie alles. Das hat mich darauf gebracht.« »Englischbuch?« »Als zweite Sprache. Für Erwachsene. Ein Relikt von einer anderen South-Side-Familie, die fünf Jahre vor meinen Eltern gekommen war. Für da, wo ich herstamme, ist das eine ganze Generation.« »Geht es nach diesem Satz noch weiter?« »Ja. Moment. ›Vater hofft im Vorgarten Rosen pflanzen zu können.‹ Kurze erzählerische Vignetten. Sachen, die man erleben könnte. Sehen wir mal.« Sie schloß die Augen, um besser sehen zu können. Das Denken blickt nach oben, ins Leere oder nach innen. Weg von der Ablenkung des Sichtbaren. Ob auch eine denkende Maschine ihre künstlichen Augen so abwenden würde? »Sehen wir mal. Auf der nächsten Seite beginnt ein Abschnitt 87
mit: ›Mutter geht den Arzt holen.‹ Stellen Sie sich meinen zehnjährigen Bruder vor, wie er den Eltern zu erklären versucht, warum Mütter mit Ärzten machen, was Hunde mit Stöckchen machen.« Ich versuchte es. »Das mit dem Arzt war praktisch, wie sich herausstellte. Diese Szene haben sie erlebt.« Sie versank wieder in staunendes Schweigen. »Und was interessiert Sie nun an diesem MaiSatz?« Hast du mir was verheimlicht, Einwanderin? »Das ist eine Zeile aus einem melancholischen HousmanGedicht. Ich muß mich nämlich auf so ein Examen vorbereiten.« Die schwächer werdende Sonne schnitt dem siebten November einen pfirsichfarbenen Schlitz in die Flanke. Der Sommer suchte nach einem letzten Weg ins Freie, fand ihn aber nicht. »Housman?« »Sie wissen schon. Die besten Jahre liegen hinter einem. Früher Tod der Poeten und so was alles.« »Und wie geht’s dann weiter?« »Hm, keine Ahnung. Wahrscheinlich ein Job als Programmierer mit 24 000 im Jahr, eine Hypothek, ein Fertighaus voller Kinder und ein früher Hirntod.« »Nein!« Sie lachte. »Ich meine das Gedicht. ›Der nächste Mai wird schön.‹ Was kommt danach?« »Ach so. ›Nur sind wir dann schon vierundzwanzig.‹« C. lachte. »Aber ich erst zwanzig.« »Und ich zweiundzwanzig.« »Dann haben Sie ja noch zwei Jahre.« Ihre Augen, braun und riesengroß, forderten mich heraus. »In zwei Jahren können sich noch ganze Leben abspielen.« »Ganze Leben«, echote ich. Vielleicht war ich nie mehr als das: ihr Echo. Sich anhören, was sie zu sagen hat. Ihr Geständnis abwarten und ihr dann wieder entgegenkommen. Unsere Blicke fanden sich. Wir sahen uns länger in die Au88
gen, als wir beide für ratsam hielten. Und kurz schien es so, als sei Sehen eher etwas Passives als etwas Aktives. Nicht: Bist du, was ich in dir sehe? Sondern: Bin ich, was du in mir siehst? »Danke«, sagte ich und nahm ihre Finger, als wir aufstanden und uns reckten. »Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, aber ich hatte das offenbar nötig.« »Sie hätten noch mehr ausschütten sollen.« »Haben Sie jetzt eine Vorlesung?« fragte ich, auf die einzig richtige Frage verzichtend. »Ich habe gerade zwei verpaßt«, erklärte C. abwehrend. Ein unangenehmes Geständnis, das man seinem Lehrer macht. »Und Sie!« Ich zeigte achselzuckend in Richtung der kläglichen City, in Richtung Abfahrt, Busbahnhof und aller Familien, die am Ende dieser weitverzweigten Verbindung warteten. C. betrat schon den Gehweg, der den Rasen durchquerte wie ein gewaltiger Hosenträger. »Kommen Sie gut nach Hause.« »Bis später«, sagte ich. Mein Standardgruß. Immer noch die einzige Abschiedsformel, die mir möglich ist. Bis später. Was bedeutete das? Kein Verb. Elliptisch. Beinahe ein Imperativ. Es muß das letzte gewesen sein, was ich zu meinem Vater gesagt habe. Bis später. C. hob eine Handfläche. Dann drehte sie die Hand um und legte sie ans Brustbein. Sie nahm den Rucksack, schwenkte auf einem Absatz herum und ging davon. Ich sah sie im Gewimmel der Zwanzigjährigen verschwinden, deren Wege zu Zielen führten, die sie alle noch nicht einmal ahnten.
Vielleicht wußte ich, daß ich schon weg war. Aber bevor ich gehen konnte, mußte ich erst noch fertig werden. Das Herbstsemester näherte sich dem Weihnachtsabschluß. Meine erste Inkarnation als Lehrer ging dem Ende zu. C. und einige andere 89
meiner Hörer schlossen den Stilistikkurs mit Eins ab. Unser Abschied am Semesterende war kurz und knapp. Ich war ihr und allen anderen gegenüber vorsichtig geworden. Mein Vater war mit zweiundfünfzig gestorben, und die nächsten dreißig Jahre erschienen mir als akademische Pflichterfüllung. Im folgenden Frühjahr bekam ich wieder einen Lehrauftrag. Ich selbst war besser, die Studenten schlechter. Niemand schrieb über Aspasia. Ich büffelte fleißig für das Examen am Jahresende. Eines schönen Tages im Mai befaßte ich mich in einem Prosodie-Kolloquium mit der invertierten Metrik eines Sonetts von Edwin Arlington Robinson, How Annandale went out. Wir hatten gut zwei Stunden lang die Jamben und Trochäen zerlegt, als mir plötzlich auffiel, daß noch keiner von uns ein Wort darüber verloren hatte, worum es in dem Gedicht eigentlich ging: um Euthanasie. Ob man den Leidenden sterben lassen solle. Mein Wechsel von Physik zu Literatur ging auf einen einzigen Mann zurück, den unvergleichlichen Taylor. Von ihm hatte ich mit achtzehn den Glauben übernommen, daß man als Mensch den Schlüssel zu allen Mythologien finden kann. Nun erkannte ich, daß mir zwar die Literatur als solche vielleicht wirklich Aufschluß über den Tod meines Vaters geben konnte, ihr Studium mich aber allenfalls mit den Theorien über sich selbst vertraut machen würde. Ich meldete mich zum Examen und bestand es. Meine Noten reichten für die Zulassung zum Doktorandenstudium. Und kurz davor, mich endgültig dem Fach zu widmen, durch dessen Wahl ich meinen Vater so schwer enttäuscht hatte, verwarf ich auch dies. Ich beschloß, U. für immer zu verlassen. Ich wollte ein vollständig neues Leben beginnen. Aber vorher mußte ich mit C. reden. Ich tauchte überraschend bei ihr im Wohnheim auf. Ich war noch nie dort gewesen; die Adresse hatte ich aus dem Studentenverzeichnis. Es war ein unwiederholbarer Frühlingsmorgen. Sie kam, noch im 90
Bademantel, schläfrig an die Tür. »Braves Mädchen?« fragte ich. Ihre braunen Augen flammten auf. »Draußen!« rief sie. Sie brauchte eine Minute zum Anziehen, ich wartete so lange vor der Haustür. Wahrhaftig. Nichts, nichts im ganzen Dasein war ihr lieber als Sonne und Wind. Einfach nur spazierengehen. »Ich muß diese Knospen küssen«, sagte sie und küßte ein paar. »Ich habe sie in diesem Frühling noch gar nicht geküßt. Als Kind habe ich gedacht, ohne Aufmunterung würden sie nicht wachsen.« Dieses Kind war sie immer noch. Und sie wußte es. »Möchten Sie mit mir fortgehen?« fragte ich. »Irgendwohin. Wohin Sie wollen. Zwei Literaturstudenten, die ihren Lebensunterhalt in der realen Welt verdienen?« Sie blieb stehen und starrte mich an. Es war die Frage, die wir einander seit dem ersten Gespräch zwischen Dozent und Studentin gestellt hatten. Nur daß C. die Luft angehalten und gehofft hatte, wir würden uns verlieren, bevor diese Frage erwogen werden konnte. »Ich muß Ihnen etwas sagen. Ich bin so gut wie verlobt.« Ich nehme an, das war mir bewußt. Aber die Frage in all ihrer Scheußlichkeit war meine einzige Chance, mich in diese einzelgängerische Zukunft hineinzuschreiben. Wenn ich nicht rundheraus fragte, würde ich mir später immer wieder Gedanken darüber machen. Ich hatte die Frage ausgesprochen. Nun war ich frei, C. zu vergessen. Mein Leben in Ehren allein zu verbringen. Was auch immer ich damit vorhatte. »Passen Sie auf sich auf«, sagte sie feierlich. »Sehen Sie die Dinge für mich, wo auch immer Sie hingeraten mögen.« Ich ging nach B. Ich mietete ein Zimmer im Herzen der Stadt. Dort arbeitete ich Nachtschichten als Programmierer und führte ein Leben, das nichts mit meinem bisherigen gemein hatte. Jahre später, in meinem dritten Roman, habe ich über diesen Job geschrieben. Wobei Taylor das Vorbild für meinen 91
Helden war, einen Mann, der auf eine aussichtsreiche wissenschaftliche Karriere verzichtet, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Mich selbst schilderte ich in der Figur eines trägen Studienabbrechers, der sein Talent vergeudet. Der Job war genau das richtige. Ich arbeitete allein die Nächte durch. Ein Teil der Schicht war ausschließlich der Lektüre vorbehalten. Ich las Rabelais, Balzac, Freud, Henry Adams, Max Planck. Ich las aufs Geratewohl, nur dem vergessenen Lustprinzip gehorchend. In den wenigen Tagesstunden, die mir blieben, verliebte ich mich in eine Frau nach der anderen. Bankangestellte, Kassiererinnen, Frauen in der U-Bahn. Eine unablässige Folge von pulsbeschleunigenden Möglichkeiten. Nur eine oder zwei von ihnen habe ich mal zum Essen eingeladen.
Ich ging regelmäßig in die Cafeteria des Zentrums. Das Essen war mehr oder weniger genießbar, je nachdem, wann man dort auftauchte. Meist gab es jenen wenig bemerkenswerten Pfannkuchen, der überall in diesem Land die wissenschaftliche Forschung aufrechterhält. Andererseits sprudelte die Konversation beim Essen wie das Geplapper im Gewächshaus der Schöpfung. Wohin ich auch hörte, immer ging es um dasselbe: das Wesen des Erkennbaren und wie wir es erkennen. Für diejenigen Forscher, die überhaupt noch zwischendurch aßen, war das Mittagessen die Stunde kollegialer Bestärkung. Zuviel Arbeit bei winziger Vergrößerung führte, wenn man nie davon aufblickte, zu Schneeblindheit. Genau deswegen gab es das Zentrum, das landesweit größte Institut für interdisziplinäre Forschung. Deswegen auch beanspruchte der gemeinsame Weidegrund ein Drittel des Ganzen. Letztlich sollten hier sämtliche Gebiete miteinander verbunden werden. Eines Mittags nahm ich meine Lektüre in die Cafeteria mit 92
und machte mich über ein italienisches Hacksteak auf feuchtem Zwiebelbrötchen her. Überall saßen Wissenschaftler, die einmal andere Luft atmen wollten, und debattierten über die verbleibende Arbeit an dem in der Entwicklung befindlichen globalen Gesamtverzeichnis. Ein paar Tische weiter kritzelten Hartrick und Plover Diagramme auf einen Notizblock. Ich hätte mich gern dazugesetzt, wollte aber niemanden stören, der wirklich zu arbeiten hatte. Statt dessen las ich. Allmählich wurden mir die Artikel verständlicher. Ich las, wie überwachtes Training einem Netz helfen konnte, irgendeinen Input klüger mit einem gewünschten Output zu verknüpfen. Auch ich wurde beim Lesen klüger. Aber das Gehirn verarbeitet vieles gleichzeitig. Während ich las, sah ich am Rand des Blickfeldes jemanden mit einer Saftflasche und einem Stapel Pfannkuchen durch den Raum schlingern. Ein Gespenst, dazu verdammt, eine Zeitlang in Menschengestalt auf Erden zu wandeln. Lentz’ geisterhafte Erscheinung schockierte mich. Bei hellem Tageslicht hätte er sich auflösen müssen. Er setzte sich an einen freien Tisch, so weit von allen anderen entfernt wie möglich. Plover und Hartrick sahen ihn auch. Harold wollte der einsamen Gestalt Gesellschaft leisten. Diana zeigte auf den Schreibblock und verzog das Gesicht. Schließlich willigte sie ein. Sie wechselten an seinen Tisch, wo Lentz sie mit wenig mehr als bloßem Wiedererkennen willkommen hieß. Ich sah keine Gefahr darin, mich den dreien anzuschließen. Ich setzte mich mit dem Rest meines Sandwichs zu ihnen. Plover begrüßte mich. »Da ist er ja! Teil 2 des unheimlichen kybernetischen Bausatzes. Wie kommen Sie voran bei Ihrem Versuch, die Literaturkritik zu automatisieren?« Der Mann war mir sympathisch. Ich sah ihn vor mir, wie er als Kind Raketenmodelle bastelte oder an seinem Hamster Impfstoffe testete. Ich hielt die Zeitschriften hoch, meine Mittagslektüre. »Ich fühle mich wie ein Himmelsforscher –« 93
»Dem ein neuer Planet ins Blickfeld schwebt?« ergänzte Plover. Ein eifriger Schüler. Seine Schlagfertigkeit überraschte mich. Ich ersetzte den Jungen mit den Raketenmodellen durch einen anderen, der mit der Taschenlampe unter der Bettdecke die Norton Anthology las. »Das reicht, Marcel«, sagte Lentz aus dem Mundwinkel. »Wir wollen doch keine Berufsgeheimnisse verraten.« »Also ist es fertig?« stichelte Plover. »Dann sollten wir das Spielzeug doch mal ausprobieren.« Er hatte ein beneidenswertes Naturell an Land gezogen. »Schon gut. Schon gut. Ein Beispiel. Von wem ist das: Eine kleine Welt bin ich, klug gefügt Aus Elementen und dem Odem der Engel … Geben Sie das in die Inputschicht ein, und dann sehen wir, was dem Ding dazu einfällt.« Ich konnte mit diesem Mann nicht streiten. Die Verse waren ihm reine Freude, eine Wonne, die durch Verschwendung vermehrt wurde. Beim Zitieren strahlte sein Gesicht jene naive Begeisterung aus, die den Profis im Lauf ihres Doktorandenstudiums ausgetrieben wird. »Woher ist das?« wollte ich wissen. »Das kenne ich doch.« Plover hob die Hände und schnalzte mit beiden Daumen. »Diana? Wir haben ihn erwischt. Wir haben den Wicht erwischt!« »Harold, bitte«, spöttelte Lentz. »Lassen Sie den Autor in Ruhe. Er mag ein völliger Versager sein, aber ein Donne ist er noch nicht.« Er zog unten aus meinem Stapel eine der noch ungelesenen Zeitschriften heraus und schlug einen Artikel auf, den er zusammen mit einem bekannten irischen Erforscher neuronaler Netze verfaßt hatte. Das Geistliche Sonett Nummer 5 stand als Motto darüber. 94
Ich glotzte wie ein ertrinkender Karpfen. Plover schien geknickt. Er überflog das Motto, in seiner Würde verletzt. »Ist Ihnen aufgefallen, wie viele dieser Artikel mit einem Zitat anfangen?« sagte ich, um meine Demütigung zu kaschieren. »Das gilt wohl als schick. Freut mich, daß die Literatur doch noch für was gut ist.« Diana attackierte die peinliche Stille. »Philip. Apropos Berufsgeheimnisse verraten. Erklären Sie mir, was Rückpropagierung ist.« »Marcel? Möchten Sie die Chance nutzen, Ihre Ehre wiederherzustellen?« »Also, wenn ich recht verstehe –« »Ach, kommen Sie uns nicht damit, Marcel. Wir wollen Fakten hören.« »Wenn ich recht verstehe, gibt man dem Netz irgendwelche Inputs vor. Die Signale fließen dann über verschieden gewichtete und verzweigte Verbindungen durch die Neuroden. Überschreitet die Summe der Inputs bei einer empfangenden Neurode deren Reizschwelle, feuert sie ebenfalls und leitet zusätzliche Signale weiter. Sich ausbreitende Aktivierung könnte man das nennen.« Ich sah Lentz fragend an, ob ich bis hierhin richtig erklärt hatte. Er hielt sich die gefalteten Fingerspitzen an die Lippen. Und grinste hämisch. »Die Signale breiten sich in den Schichten des Netzes aus. In der Outputschicht wird das Material für eine abschließende Antwort gesammelt. Darauf vergleicht das Netz diesen Output mit dem vom Ausbilder gewünschten Output. Weicht dieser von jenem ab, wird der Fehler durch das Netz bis zur Inputschicht rückpropagiert, wobei die Gewichte aller Verbindungen, die zu dem Fehler beigetragen haben, jeweils neu eingestellt werden.« »Bra-vo, Marcel. Wer ist Ihr Lehrer? Nun stellt sich allerdings die Frage: Was können Sie besser! Diesen Prozeß erklä95
ren oder Donnes geistliches Sonett interpretieren?« »Die Frage stellt sich wohl kaum«, seufzte Diana. »Ich frage mich vielmehr, ob diese Rückpropagierung gegen die vorgegebene Signalrichtung von Axon zu Dendrit verstoßen könnte.« Lentz bog den Kopf auf seinem Stiel nach hinten. Zog die Augenbrauen hoch. »Was haben wir denn da? Eine Amateurin mit Durchblick!« Diana sah ihn an, als ob er sie geschlagen hätte. Ihre Lippen bebten. Hätte Harold sie nicht zurückgehalten, wäre sie davongelaufen. »Philip!« schäumte Plover. »Können Sie nicht mal die Klappe halten? Sie werfen uns vor, wir übten unsere Kritik aus einer Position der Unwissenheit heraus. Aber wir fordern Sie auf, den Gegenbeweis anzutreten. Wäre das nicht besser, als Einwände einfach niederzumachen? Mit Brandfackeln und Sicheln?« »Brandfackeln und Sicheln sind jedenfalls viel malerischer.« »O mein … Ich geb’s auf.« Plover wischte mit seiner Bärentatze durch die Luft. »Oho! Wollten Sie die Gottheit anrufen? Wir sind wohl in Schwierigkeiten. Was ist nur aus dem radikalen Skeptizismus in religiösen Angelegenheiten geworden?« »Philip, Sie …« Plover verhaspelte sich vor Empörung. »Wozu veröffentlichen Sie Ihre Forschungsergebnisse überhaupt, wenn Sie nicht wollen, daß man sich damit befaßt?« »Wenn man sich zu sehr mit mir befaßt, werde ich nervös.« Lentz steckte sich eine Fritte in den Mund, wie ein kleines Kind, das Klötzchen in eine Spielzeugwerkbank hämmert. »Mit Leuten, die nicht schon ins Allerheiligste vorgedrungen sind, geben Sie sich also gar nicht erst ab.« »Falsch. Immerhin habe ich mich unseres so gut wie ahnungslosen Marcel hier angenommen und einen halbwegs gebildeten Domestiken aus ihm gemacht.« »›Gewohnheit nimmt dem Feinsten selbst die Pracht.‹ Ist es 96
das? Lentz, das ist das Elitärste, das ich je von einem Subventionsempfänger gehört habe.« »Marcel, könnten Sie mir diesen Vers eruieren?« Zitate halfen offenbar am schnellsten aus der Klemme. »Ich glaube, das ist von Shakespeare.« »Shakespeare ist nicht elitär?« konterte Lentz. »Jedenfalls stammen die meisten meiner Zuschüsse in letzter Zeit aus der freien Wirtschaft. Und übrigens, Harold. ›Das Elitärste‹ entspricht nicht gerade Ihrer sonst so eleganten Ausdrucksweise.« »Wenn ihr fertig seid«, brummte Diana, »würde ich gern eine Antwort bekommen.« Lentz gackerte. »Na schön, Marcel. Zeit, die Massen aufzuklären.« »Ich vermute, die Fehlerrückpropagierung soll Gehirnprozesse höherer Ordnung imitieren. Sicher, einzelne Nervenbahnen sind Einbahnstraßen. Aber in ihrer Gesamtheit verbinden sie die Teile des Gehirns in zwei Richtungen.« »Verstehe«, sagte Diana. »Also wie das Feedback zwischen Muskelgewebe und der Großhirnrinde und so weiter?« Lentz schnaubte. »Vergessen Sie nicht, daß Marcel nur eine Vermutung geäußert hat.« Ich fragte mich, ob ich es schaffen würde, volle zehn Monate lang mit diesem Mann zu arbeiten. Diana legte das Gesicht in Falten. »Aber es ist nicht genau dasselbe, richtig? Ist präsynaptische Hebbsche Wechselwirkung dasselbe wie …?« Aber Lentz hörte nicht mehr zu. Er spähte wie suchend in seine Saftflasche. Geistesabwesend vor lauter Konzentration. »Nichts«, verkündete er, »ist dasselbe wie etwas anderes.« Irgendein Mechanismus hat dieses Mittagessen in meinem Cortex eingelagert. Ich kann das Band herausnehmen und es mir nach Belieben anschauen. Aus dieser Distanz gesehen, ist es an den Rändern grotesk deutlich, von absurder Bildschärfe. Die Einzelbilder fügen sich zu einem längeren Film, Bewegung 97
entsteht durch die Trägheit der Augen. Diana erklärte mir, wie Erinnerungen gespeichert werden, wenn die daumengroße Vorderhirnbasis den Hippokampus mit Acetylcholin überschwemmt. Diese Chemikalie wirke sich irgendwie formverändernd auf die Synapsen aus, behauptete sie, und beeinflusse die Verbindungen zwischen den Zellen. Und einer der Hauptauslöser für die Freisetzung der Chemikalie sei Angst. Dieses Mittagessen ist in mein Gedächtnis eingebrannt, weil es mich in Panik versetzt hat. Lentz machte mir Angst. Harolds Gekränktheit, Dianas Bestürzung lösten bei mir einen Fluchtimpuls aus. Ich fürchtete alles, was diese drei noch zueinander sagen mochten. Ich war schockiert von dem offenen Bruch, der sich da abzeichnete. Jedes zornige Wort war meine Schuld. Lange habe ich gedacht, Ursache meiner Angst sei die Aussicht auf Versagen gewesen. Meine größte Sorge war die, daß wir uns in dieses verrückte Projekt stürzen und niemals über leeres Geschwätz hinauskommen könnten. Daß ein ehemals produktiver Forscher mich zehn Monate lang für nichts und wieder nichts einspannen würde. Ich habe lange – sehr lange – gebraucht, bis ich dahintergekommen bin. Was da in mir so unauslöschliche Spuren hinterlassen hatte, war nichts anderes als die Angst, die ich seit meiner Kindheit gehegt habe. Die Angst, daß wir unsere Träume verwirklichen könnten.
Lentz
konstruierte Implement A eher zu meiner Belehrung denn als Prototyp mit irgendeinem wirklichen Anspruch. Schönheitspreise waren mit dem Biest nicht zu gewinnen, weder was sein Aussehen noch was seine Konzeption betraf. Das Ganze war bloß eine simple 08/15-Workstation, an deren Rückseite Lentz einen Platinenträger angeschlossen hatte. Ein 98
paar Eingabe- und Ausgabegeräte, handelsüblich und antiquiert, hingen an den Buchsen, Fenster in die Seele dieser traurigen Apparatur. »Die Superreichen fahren auch immer in verbeulten alten Chevies herum«, versicherte mir Lentz. »Der wahre Snob lebt von der Umkehrung der Werte. Man muß sein Publikum blenden und irreführen. Wenn wir das Ding dazu bringen, ›Hänschen klein‹ aufzusagen, bleibt denen die Spucke weg.« So bescheiden der Kasten auch sein mochte, er verschaffte uns erst einmal Zutritt. Ein brauchbarer Lernalgorithmus läßt sich überall installieren. Das Gehirn, behauptete Lentz, sei auch nichts anderes als eine bessere frisierte Turing-Maschine. Unser künftiges Großhirn hatte keine Neuronen als solche. Keine Axone, keine Dendriten. Keine Synapsen. All diese Strukturen verbargen sich als Simulationen und Attrappen in der regulären linearen Speicheranordnung. Allem die Troika Boolescher Operatoren erweckte sie zu metaphorischem Dasein. Wir benutzten Algorithmen, um ein nichtalgorithmisches System nachzuahmen. Implement A war ein geisterhaftes Hologramm. Es konservierte unsere Worte, wie ein gekritzelter Einkaufszettel – aus einem Buch gefallen, wohin er vor Jahren verlegt worden war – die alte Handschrift wiederaufleben läßt, von der man gedacht hatte, daß man ewig mit ihr würde leben müssen. Lentz verstand es ausgezeichnet, mir die Hardware zu veranschaulichen. Er verknüpfte Topologien, die den Endpunkt eines Jahrzehnts von Bastelarbeiten bildeten, und erklärte mir jedes einzelne Teil. Aber ich war erschöpft, vollkommen fertig von meiner letzten Arbeit. Ich bemühte mich um Verständnis des Wesentlichen, den Rest konnte ich nur glauben. Das Wesentliche waren Vektoren. Ein Reizvektor, der von den sich selbst umordnenden Strukturen des Netzes in einen Reaktionsvektor umgewandelt wurde. Für einen ersten Testlauf reichten drei Schichten von Neuroden jeweils von der Größe 99
des Netzes, das die Aussprache des Englischen gelernt hatte. Implement A sollte diese Mühe erspart bleiben. Lentz verband es mit einem fertigen Sprachsynthetisierungsprogramm. Wir arbeiteten nicht mit Phonemen, sondern mit ganzen Wörtern. Anfangs fütterte ich das System über die Tastatur. Mein Text durchlief eine umfangreiche Nachschlageliste – Lentz’ akribische Zusammenstellung der 50 000 gebräuchlichsten englischen Wörter, sortiert nach der Häufigkeit. Jedes Wort hatte eine Nummer, wie die Teilnehmer bei einem Triathlon. Diese Nummern wiederum stürzten sich kopfüber in unser zufällig gewichtetes Terrain. Die Ersatzgehirnzellen jonglierten damit, bis die Neuroden der Outputschicht ein Geräusch produzierten. Der Kasten gab jedesmal eine Antwort, wenn ich etwas eintippte. Aber er konnte die Antworten nur lallen. Wie bei jedem Neugeborenen waren seine stimmlichen Äußerungen unverständlich. Wenn ich denselben Reiz jedoch mehrmals eingab, nahm der Output Formen an. Aktivierte Bahnen erstarkten, reaktionsträge verkümmerten. Das Genuschel wurde zu einem konsistenten Lautgebilde. Was aber ein solches Lautgebilde besagte, vermochten Lentz und ich nicht zu deuten. Dennoch, unser sich selbst strickendes Gewebe hatte von ganz allein mit der Nachahmung der niedrigsten Lebewesen begonnen. Sie paßten sich an. Sie lebten sich ein. Sie wurden mehr oder weniger empfindlich. Zumindest rein äußerlich simulierten unsere Neuronenattrappen die Reaktion von lebendem Gewebe. In den Räumen links und rechts von uns beschäftigten sich Biologen mit lebenden Organismen. Sie schickten Plattwürmer durch Labyrinthe. Sie klopften lobotomisierten Seegurken auf die Tentakel. Harold und Ram untersuchten Regeneration und Kompensation in beschädigten Gehirnen. Diana entfernte Affen kleine Teile des Hippokampus und stellte hierbei einen Zusammenhang mit der Lernfähigkeit der Tiere fest. Der Geist 100
war bestrebt, sich zu öffnen: die ultimative Black box der Pandora. Auch wir trugen unser Teil zu der reduktionistischen Großfahndung bei. Implement A war unser Versuch, eine Metapher für einen Metaphern produzierenden neuronalen Mechanismus zu konstruieren. Doch was für ein Wesen die im Innern dieser sich selbst korrigierenden Apparatur ablaufenden Prozesse darstellen könnten, war reine Spekulation. Die erste Schwierigkeit war nicht mechanischer Art. Das Problem war ich selbst. Lentz sah mir beim Tippen über die Schulter. Er stach in die Luft, fuchtelte nach der Tastatur. Er verschmierte den Monitor mit aufgeregten Fingern. Mein Getippe ließ ihn die Wände hochgehen. »Marcel, wie viele Wörter haben Sie in Ihrem Leben getippt?« Ich fixierte die Lampe über seinem Kopf und rechnete. »Nicht die genaue Zahl, Sie Armleuchter. Nur die Größenordnung.« Ich zuckte die Achseln. »Millionen.« »Sie tippen wie ein Schimpanse, der sich über Hamlet hermacht. Bei wem haben Sie das gelernt?« »Ich bin Autodidakt.« »Verdammt, wie sollen wir denn jemals fertig werden? Was ist Ihr Rekord, zwanzig Wörter pro Minute? Und was Ihnen an Tempo mangelt, machen Sie durch Fehler weit. Und überhaupt, diese Dreieinhalbfingertechnik!« »Bitte sehr, Sie können es ja selber machen.« »Nun seien Sie doch nicht gleich so empfindlich. Nein, das bringt nichts. Wir werden auf Stimmerkennung übergehen müssen. Das kostet uns eine Woche. Und arbeitet ungefähr so korrekt wie eine koreanische Immigrantin.« »Mann, Lentz. Wenn Sie jemand hört, werden wir aus der Stadt gejagt. Wir befinden uns in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahr…« 101
»Ist aber jedenfalls verläßlicher als Ihr Gestümper.« Die Technik der Spracherkennung war in diesem Jahr schon ziemlich weit fortgeschritten. Ihre Vorposten hatten sich zu kleinen Festungen entwickelt. Wir brauchten uns nur in dem eroberten Land niederzulassen. Lentz verfeinerte die im Zentrum vorhandenen Sprachprozessoren. Er verband das Spracheingabemodul mit der Inputschicht unseres Netzes. Er stöpselte ein Karaokemikrophon in den A-D-Konverter. Er vernähte die Einzelteile, wie ein Mikrochirurg einen durchtrennten Nerv wieder zusammenflickt. Bevor wir das Netz trainieren konnten, mußte ich das Spracherkennungsprogramm auf meine Stimme abrichten. Ich sagte ihm Worte vor, dann ganze Sätze. Ich wiederholte alles so oft, bis es zu einem sinnlosen semantischen Brei verlief. Als es soweit war, daß Töne mit hinreichender Genauigkeit in Text umgewandelt wurden, fingen wir wieder mit dem Lernalgorithmus an. Noch einmal ganz von vorn. »Wie funktioniert das eigentlich? Ist das überwachtes Training, stufenweises Training oder was?« fragte ich Lentz. »Marcel, versuchen Sie nicht, mich zu beeindrucken. Das können Sie sich für Ihre unglücklichen Leser aufsparen.« »Im Ernst. Ich würde gern in Beziehung setzen, was ich gelesen habe und was –« »Beim Kompilieren der Wörter vergleicht das Netz seinen Output mit dem von Ihnen eingegebenen gewünschten Output und reguliert dann seine Synapsen so, daß es Sie so genau wie möglich nachahmt.« »Also überwacht.« »Und jetzt soll ich Ihnen wohl die Krone des Genies aufsetzen?« Implement A gefiel mir. Es war angenehm, mit dem Ding zu plaudern. Ich las ihm langsam und deutlich vor, stundenlang. Ich wurde zum Nachtarbeiter wie die anderen Einzelgänger und Fanatiker. 102
Und A antwortete mir. Unser Säugling hatte auf alles eine Antwort. Lentz programmierte einen Decoder, der den Output auf dem Bildschirm sichtbar werden ließ. Das Ding LISPelte in Zahlen. Seine Antworten verdichteten sich zu Silben, dann zu Worten. Die Kommunikation nahm an Umfang zu. Nicht immer war mir klar, was A sagen wollte. Aber ich konnte seine Sprechversuche hören. Wir brachten A einige tausend Wörter bei, etwa ein Viertel des aktiven Wortschatzes eines Durchschnittsmenschen. Als es diese Wörter intus hatte, versuchten wir es mit einfachen Kombinationen. Nach unzähligen Trainingsrunden im Satzgebrauch begann Implement A meine Wörter grammatisch analysiert wiederzugeben. Oder jedenfalls benahm es sich so, als hätte es sie analysiert. Zwischen den Trainingssitzungen las ich die bekannte zweibändige Monographie über Netzwerke. Diese Bibel der Konnektionisten erweckte den Eindruck, als ob zur Ausbildung fähige Maschinen bereits in Sicht seien. Die Mathematik lieferte den Beweis: sich selbst umdefinierende Schalttafeln konnten verallgemeinern, selektiv assoziieren und sogar Pläne entwerfen. Da ich mein Mathematikstudium vor so langer Zeit der Literatur geopfert hatte, mußte ich der Mathematik einfach glauben. Andererseits war jeder Forscher auf diesem Gebiet in mancher Hinsicht auf Glauben angewiesen. Weil sich so vieles unter der Oberfläche, in den komplexen verborgenen Schichten abspielte. Aber ich kam mir besonders verwundbar vor. Je mehr Kolloquien ich besuchte, um so weniger nahm ich daraus mit. Die Vortragenden wurden von Woche zu Woche jünger. Und zunehmend belustigten sie sich darüber, daß sie zu einer Zeit geboren wurden, als ich bereits mit Bausätzen für Halbleiterradios spielte und Regenwürmer sezierte. Wenn ich, bevor unser Apparat mich verstehen konnte, erst sämtliche Verständnislücken ausfüllen mußte, würden wir unsere Wette nie und 103
nimmer gewinnen. Zwar nicht dem Text, aber immerhin den Bildern konnte ich folgen. Ich veranschaulichte mir die Spingläser, diese komplexen Gleichnisse für die Topologie des Geistes. Ich durchwanderte die Landschaft der Einbildungskraft, wo jedes Tal eine assoziative Erinnerung darstellte. Ich verstand die Geschichte der Mathematik, aber nicht ihr Wesen. Und diese Geschichte war das reinste Drama: das Märchen von einer Gärtnerin, die in dieser Gedächtnislandschaft nach Gutdünken schalten und walten konnte. Eine englische Elizabeth, die sie kultivierte oder das jedenfalls getan hätte, wäre ihr Leben nicht mit achtundzwanzig bis zur Wurzel zurückgestutzt worden. Das Hebbsche Gesetz verstand ich in Umrissen: wenn zwei Neuronen zusammen feuern, wird ihre Verbindung stärker, und beim nächsten Mal sind sie leichter zu stimulieren. Aktivierte Synapsen tendieren dazu, aktiv zu bleiben. Untätige Synapsen tendieren dazu, untätig zu bleiben. Das Gesetz erschien mir wie eine Lehrerin, die lauernd durch die Klasse schleicht, schlechten Schülern auf die Finger klopft und gute belohnt, bis sie alle aufstehen und gemeinsam Treue geloben. Aber noch konnte ich nicht hören, was die Schüler gelobten. Lentz und ich setzten unser Flickwerk fort. Ich las, wie der berühmteste Hirnforscher Gott einen Stümper nannte. Ich kam mir durchaus nicht wie Gott vor. Sondern wie ein arthritischer Makak mit geschienten Fingern.
Zur Erholung ging ich oft in mein anderes Büro im Gebäude der anglistischen Fakultät. Erbaut von McKim, Mead und White, 1889. Dort konnte ich mein Alter ego ausleben – das des pittoresken, aber altmodischen Literaten. Das Zentrum besaß 1200 Kunstwerke, den weltweit größten Kernspintomographen 104
und Aufzüge, die mit Messing, Teakholz und Marmor ausstaffiert waren. Die Treppen im Gebäude der anglistischen Fakultät waren mit Linoleum in drei verschiedenen Grautönen belegt. Sich dort zu vergraben war ein probates Antidot gegen allzuviel Zukunft. Nach maßlosen Lektüre- und TrainingsSitzungen hatte ich einen solchen Ausgleich nötig. Aber gleichzeitig machte mich das Gebäude nervös. Die Nervosität des Erotischen. Der Geruch dieser Korridore stak mir im Hals wie eine Trachealkanüle. Englisches Licht entzündete mein Verlangen, ein Verlangen, geweckt von der Erinnerung an es selbst, dessen einziger verzweifelter Wunsch es war, wieder eingeschläfert zu werden. In diesem Gebäude hatte ich C. unterrichtet. Schlimmer noch, hier war ich Taylors Schüler gewesen. Und alles, worauf Taylor mich vor langer Zeit gestoßen hatte, fand hier den Weg zurück zum Primat des erzählerischen Verlangens. Verlangen, hatte er mich gelehrt, war das Sprachspektrogramm der Erinnerung. Aber ich war jetzt in einem Alter, wo ich mir nicht mehr sicher war, ob ich noch an den ewigen Erotismus eines Achtzehnjährigen erinnert sein wollte, an die Erotik des Wissens, an die Worte, die ich hier, in diesen Hallen, ausgetauscht hatte. Je mehr ich von der Architektur der Erinnerung erfuhr, desto gewisser schien mir, daß ich dabei war, meine eigene zu verlieren. Ich konnte mich nicht einmal auf eine belanglose Unterhaltung konzentrieren. Ich stahl mich in die anglistische Fakultät und saß in meinem Büro aus dem neunzehnten Jahrhundert, starrte in den gemauerten Kamin und wartete, daß eine surreale Lokomotive daraus hervorfuhr. Oder ich stand auf dem Flur und versuchte mich an einem Gespräch über die Rezension eines mir, wie ich annahm, doch auch bekannten Films oder Buchs zu beteiligen. Aber ich konnte den Präliminarien nicht bis zum Gespinst ihrer Konsequenzen folgen. Ich war woanders und woandershin rückpropagiert, endlos. 105
Vormittags versuchte ich zu schreiben. Ich hatte jetzt ungefähr drei Seiten zusammen. Auf diesen Seiten entfaltete ich lediglich meinen ersten Satz. Ich ließ meine Relativsätze durch alle möglichen modernen Reifen springen. Die Vorstellung hätte sich noch über einige hundert Seiten weiter hinziehen können. Ich konnte meinen Zug höchst redegewandt abfahren lassen. Aber er fuhr mir nur zurück. Es wurde unmöglich, auch nur einen Absatz durchzuhalten. Ich jonglierte im Kopf das erste Verb, erdrückt vom Gewicht meiner früheren Bücher. Ich dachte an die vier, die ich zwischen dem Fortgang aus U. und der Rückkehr dorthin geschrieben hatte. Die Hin- und Rückreise schien zu gewaltig. Ich hatte nicht mehr den Mut, sie noch zu verlängern. Ich hatte den Anschluß verpaßt. War am Bahnhof gestrandet. Ich wollte nicht mehr schreiben. Ich hatte das Grübeln und Einfühlen und Revidieren satt. Ich wollte nichts anderes mehr, als Implement A Worthäufigkeitslisten vorzulesen.
Lentz
meinte, es sei an der Zeit zu prüfen, ob Implement A schon etwas Sinnvolles von sich geben könnte. Wir drillten es tagelang auf Zwei-Wort-Sätze. Dann gaben wir A Substantive vor, um festzustellen, ob es ein richtiges Prädikat dazu fand. So würden wir sehen, ob A anhand von Beispielen grammatische Schemata erzeugen konnte. Es erkannte die einfachen Subjekt-Prädikat-Sätze, die wir ihm eingaben. Hunde bellen. Vögel fliegen. Abend dunkelt. Du verschwindest. Vater streichelt. Kind schreit. Es konnte diese Begriffe von Formulierungen unterscheiden, die wir als solche kennzeichneten, die eine gut erzogene Maschine nicht in der Öffentlichkeit verwenden sollte. Doch als es ans Arbeiten ging, versagte A. Es schien das Schema aufs Geratewohl zu vervollständigen. Es bildete Sätze 106
durch bloßes Raten. Implement A konnte Wörter lernen. Es konnte richtig gebildete Sätze erkennen. Aber es weigerte sich, selbst welche zu bilden. So sehr Lentz sich abmühte, Imp A schien der Aufgabe nicht gewachsen. Es schaffte einfach nicht den ersten verallgemeinernden Schritt zum Erlernen der Sprache. Lentz verbiß sich in das Problem. Er probierte alles Erdenkliche aus, die Maschine einen Schritt voranzubringen. Nichts klappte. Aufgefordert, einen Gedanken zu vervollständigen, konnte das Netz nur wild spekulieren. Fische …? Fische himmeln. Macht? Hoffen macht. Wälder erden. Lachen reife. Einsamkeit kämme. Auch wenn die Syntax zufällig einmal richtig war, der Sinn war weniger als willkürlich. Imp A sprach wie ein Kleinkind, das einem die Richtung zeigt. Sein diensteifriger Finger mäanderte über alle denkbaren Strecken. Da lang? Richtig! Oder da lang? Klar, wenn du willst. Wo ist das Pferd: Los, zeig mir das Pferd. Das ist kein Pferd. Und das ist auch kein Pferd. Aber es zeigte wenigstens. Vielleicht wurde es von unseren allzu deutlich formulierten Fragen verwirrt. »Könnten wir ihm nicht ein Grundverzeichnis einspeisen? Hier hat doch bestimmt schon jemand einen semantischen Katalog angelegt …« »Ja, Ihr Altersgenosse Keluga. Er versucht den kompletten Roget als Serie von verschachtelten, regelbasierten Gruppen zu schematisieren. Umfang, Bezug, Ausnahme …« »Altersgenosse? Ich bin fünfunddreißig, Lentz. Und er ist noch ein Kind.« »Ihr seid beide nach Einführung der Tupperpartys zur Welt gekommen. Chen ist Kelugas Doktorvater. Unglaublich. Der Bergen und der McCarthy der Künstlichen Intelligenz. Chen kennt jeden existierenden Algorithmus, beherrscht aber keine einzige natürliche Sprache, nicht mal seine eigene. Keluga ist mit Hollywood-Robotern und der Mikroprozessor-Revolution 107
aufgewachsen. Einer dieser Bengel, die ihren ersten PC gratis in einer Haferflockenschachtel bekommen haben. Er wird nervös, wenn ein Satz nicht mit ›While‹ anfängt und mit ›Wend‹ aufhört. Er reformiert das Englische durch Streichung aller überflüssigen Synonyme.« »Aber taugt seine Liste was? Könnten wir nicht einfach die semantischen Datenstrukturen als einen Vorrat an Assoziationen benutzen, auf den das Netz dann zurückgreifen kann?« »Könnten wir. Aber das wäre unbefriedigend. Die Zellen machen das anders.« »Ich dachte, es ginge nicht darum, Denken zu kopieren. Ich dachte –« »Es geht darum, diesen Haufen integrierter Schaltkreise so zu trainieren, daß er intelligente Kommentare zu Ihrem blöden William Wordsworth absondern kann. Haben Sie mir dafür irgendwelche Vorschläge zu machen?« Ich sagte nichts. Lentz erkannte, daß er zu weit gegangen war. Er faßte sich und sprach dann weiter. »Wir könnten versuchen, ihm Algorithmen für alles einzugeben. Nur gibt es davon ein wenig mehr, als es Partikel im Universum gibt. Das wäre so, als wollte man Molekül für Molekül ein Herz zusammensetzen. Und am Ende hätten wir immer noch ein ungeheures Problem, wenn es ans Indizieren und Suchen geht. Und selbst dann noch würde das Gespräch mit einem solchen Entscheidungsbaum dem mit einem Einkaufszettel gleichen. Das Ding würde niemals klüger als ein kleiner Regierungsbeamter.« Lentz befaßte sich von neuem mit der Konstruktion des Netzes. Meine Hilfe beschränkte sich darauf, daß ich nach oben zum Laser lief und die Ausdrucke holte. Lentz gefiel sich darin, beim Arbeiten mürrische Bemerkungen zu machen. »Sie sollten schon mal darüber nachdenken, was Sie mit dem Rest des Jahres anfangen wollen.« Manchmal stellte er mir Aufgaben: Rätsel, die sich erst als 108
Rätsel erwiesen, wenn ich sie gelöst hatte. »Ergänzen Sie, so daß ein einfacher Zwei-Wort-Satz entsteht. ›Dichte …‹« »… Texte«, schlug ich vor. »Beziehungsweise ›Dichte Texte‹.« »Oho, sehr gut, Marcel. Ich wußte doch, daß ich einen Grund hatte, Sie als Assistenten anzustellen.« Aber je mehr er scherzte, desto schlimmer wurde es mit seiner asthmatischen Unruhe. Wir blieben in den Startlöchern stecken. Meine Zukunft erschien mir wieder so unerträglich lang wie meine Vergangenheit. Wütend lobotomisierte Lentz das Ding. »Nur zur Strafe«, erklärte er. »Dieser Kasten hat das Denken nicht verdient.« Dem Schaltkreis wehzutun schien auch nicht sadistischer, als ihn zum Lernen zu zwingen. Er verkleinerte den Speicher des Apparats. Er reduzierte Umfang und Reichweite der Verbindungen. Dann testete er ihn ein letztes Mal in seinem geschwächten Zustand; die Empirik übergoß uns alle drei mit Spott. Zu meiner Verblüffung befreite sich der Lernalgorithmus aus seiner reduzierten Notlage und begann zu begreifen. Erstaunlicherweise kapierte Implement A jetzt unsere Vorgaben und ordnete unsere Wörter zu sinnvollen Zusammenhängen. »Ich hätte es wissen sollen«, sagte Lentz, als ärgerte er sich über sich selbst. »Zuviel Speicher. Es hat gelernt. Aber das Lernen ist von seiner eigenen Kraft erdrückt worden. Das Ding hat sich selbst verrückt gemacht, zu verkrampft an allem festgehalten, was es je gesehen hat. Es ist an seinen Erinnerungen eingegangen. Versackt in der Unmasse des Erworbenen.« »Autistisch«, erinnere ich mich gesagt zu haben. Es wurde von Details erschlagen. Seine Welt bestand aus diesem plus diesem plus diesem. Es stellte sich keine Ordnung ein. Implement A hatte sich nicht mehr bewegen können, eine ergraute kindische Witwe in einem Haus, das vollgestopft war mit Andenken, die sie nicht wegwerfen konnte, kein Platz mehr, sich 109
auch nur umzudrehen. Zuviel Assoziationen, zuviel Extrapolationen, die infinitesimale, wertlose Kategorien schufen, in denen alles immer und nur noch zu sich selbst gehörte. Ein paar geschickte neurologische Schnitte, eine neue Laufzeitbegrenzung – und das war’s. Implement B lebte in derselben Hardware, nicht von dem kurzlebigen Vorgänger zu unterscheiden. Jetzt sorgten Fuzzy Logic und Feedback-Bremse dafür, daß der Kasten so selektiv vergeßlich blieb wie jeder andere Heranwachsende auch. B war vom Start weg ein anderes Tier.
Diana Hartrick besuchte mich. Überraschend an einem Samstagnachmittag. Es war ziemlich kalt geworden. Ich weiß noch, daß sie eine Jeansjacke anhatte und zitternd vor der Haustür stand, als ich ihr öffnete. »Hallo. Ich weiß, daß man in diesem Land nicht unangemeldet irgendwo auftauchen soll …« »Macht nichts. Ich habe mein halbes Erwachsenenleben in einem Land verbracht, wo unangemeldetes Auftauchen obligatorisch war.« »Schön. Ich war auf dem Weg ins Labor. Und wollte Ihnen das vorbeibringen.« Sie gab mir einen Topf mit Suppe. »Ich dachte, ein Single könnte so was brauchen. Ist leider ziemlich deftig geraten. Sie sollten es vor dem Erhitzen ein wenig verdünnen.« Sie unterbrach sich und sah sich zum erstenmal in meiner Wohnung um. »He! Ich dachte, Sie wollten bis zum Sommer bleiben.« »Will ich auch.« »Was haben Sie denn? Fühlen Sie sich hier nicht wohl? Bei Ihnen sieht’s ja aus, als wollten Sie sich an der Weltlichkeit vorbeidrücken und jeden Kontakt mir ihr vermeiden. Übrigens werden Sie für die Suppe Ihren Kühlschrank anschließen müs110
sen. Es sei denn, Sie wollen sie mit diversen Mikroorganismen teilen.« »Danke. Sie möchten nicht zufällig einen Teller abhaben? Nur ein Scherz.« Diana wiegte den Kopf hin und her. Ihr dünnes Horizontlächeln sagte: Künstler. Oder etwas in dieser Richtung. »Hören Sie. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß Sie das nicht zu tun brauchen. Lentz ist ein Fanatiker, aber er ist ein harmloser Fanatiker. Er wird Ihnen nichts tun, wenn Sie aussteigen. Von uns hat ohnehin niemand die Wette ernstgenommen. Das ist so …« »Don quijotesk?« »›Hirnverbrannt‹ wollte ich sagen. Harold macht sich schon Sorgen, daß Sie bei dieser Sache Ihr Talent vergeuden könnten.« Ich zuckte die Achseln. »Ich vergeude gar nichts. Das Ganze interessiert mich.« »Na, sobald es Sie nicht mehr interessiert, lassen Sie es fallen wie eine heiße Kartoffel. Und wenn dieser Mann Ihnen auf die Nerven geht, sagen Sie ihm, er soll zum Teufel gehen. Das ist die einzige Sprache, die er versteht.« »Das wollte ich Sie fragen. Was hat er eigentlich? Warum ist er so?« »Da haben wir jeder unsere eigenen Theorien. Harold hat noch die freundlichste. Er meint, der Mann versuche bloß auf seine verdrehte Art, geliebt zu werden. Ich vermute, sein limbisches System ist aus dem Lot. Apropos. Wenn Sie genug davon haben, den verrückten Wissenschaftler mit dem Elektrodenbaukasten zu spielen, sind Sie jederzeit willkommen, sich mal anzusehen, wie das richtig funktioniert.« »Danke. Würde ich gern mal machen.« »Leben Sie wirklich so? Wo sind Ihre Sachen? Wo ist Ihre Bibliothek?« »Unterwegs verlorengegangen.« 111
Diana krümmte sich. Ihre Hand flog auf wie die Taube eines Zauberers, hielt aber kurz vor meiner Schulter an. »Pardon. Das geht mich ja gar nichts an. Ich habe mich nur gefragt, wie Sie hier arbeiten können. Bei mir sind alle Notizen auf die Ränder meiner Texte verteilt. Ohne sie wäre ich verloren.« »Verloren ist nicht so schlimm. In meiner Branche ist das praktisch sogar ein Vorteil.« »Mr. Powers, Mr. Powers.« Sie schüttelte wieder den Kopf, grinste und machte tz-tz. Sie glaubte mir nicht. Aber die Verkaufstechnik amüsierte sie immerhin. »Also, denken Sie dran. Niemand zwingt Sie, diesen mechanischen Examenskandidaten zu bauen. Wenn Sie sehen, wie aussichtslos dieser Urlaub ist …« »Geh ich sofort wieder an die Arbeit«, versprach ich. Dr. Hartrick ging zur Tür und wühlte nach ihren Schlüsseln. Auf der Schwelle blickte sie sich noch einmal fassungslos um. »Sie – Sie sollten wenigstens mal irgendwann vorbeikommen.« Ihre Stimme klang unsicher. »Jedenfalls könnte ich Ihnen mal was Richtiges zu essen kochen. Sie essen doch wohl?«
Manchmal
ließ ich das Fahrrad stehen und ging zu Fuß ins Zentrum. Selbstauferlegtes geistiges Pfadfindertum. U. war von Zeitlöchern durchzogen, und nicht nur meinem. Die meisten Wohnstraßen waren noch aus Backsteinen gebaut. Die Häuser hatten Veranden, Balustraden, Beiwerk, das aus der Sprache verschwunden war. Die Globen der Straßenlaternen verströmten ein gelbes Gaslicht, das die Unterseiten der noch nicht abgefallenen Blätter in einem unheimlichen, unirdisch dunklen Türkis leuchten ließ. Vor einem Dutzend Jahren machten C. und ich einen letzten rückblickenden Spaziergang durch diese Straßen. Wir gingen 112
langsam an jenem Abend, mit halber Geschwindigkeit, wir konnten uns kaum von diesen Andenken trennen. Diesmal reisten wir zusammen ab. Denn plötzlich war das Unausweichliche eingetreten, mit dem wir beide niemals gerechnet hatten. Ich habe sie nie gefragt. Ich weiß nicht einmal, wie sie erfahren hat, wohin ich gegangen war. Nur: eines Tages eine Karte in der Post. Das Bild zeigte ein vergessenes Städtchen in einem Tal. Die Beschreibung auf der Rückseite konnte ich nicht lesen. Die Sprache schloß mich aus. Ihre Botschaft freilich konnte ich lesen. »R. – Der nächste Mai wird schön. C.« Diese dunkle Botschaft konnte unendlich viel bedeuten, aber ich wußte, was gemeint war. Nach einer Nachtschicht, die ich am Computer und mit dem Zauberberg verbracht hatte, war ich gegen Mittag aufgewacht. Ich sah nach der Post. Mit einer Karte von ihr hätte ich am allerwenigsten gerechnet. Die erste, die ich erhofft hatte. Vermutlich hatte ich insgeheim täglich darauf gewartet. Hätte ich nie mehr von ihr gehört, ich wäre es zufrieden gewesen. Ich hätte ewig weitergearbeitet. Ich kündigte. Ich zog von B. nach U. zurück. Sie wartete auf mich. Sie hatte sich anständig benommen, alles richtig gemacht. Jetzt stand es ihr frei, loszuziehen und sich die Welt anzusehen. Wir machten so langsam wie möglich. Wir versuchten einander aufs neue kennenzulernen, ohne allzuviel aufzuwärmen. Aber ich hatte keine Arbeit, sie stand vor dem Examen, und wir hatten schon einmal ein ganzes Leben verloren. Wir schliefen zum erstenmal miteinander in einem Einzelbett, das jemandem gehörte, den keiner von uns beiden kannte. Drei Wochen wohnten wir in einem Haus, das ich für den Freund eines Freundes hütete. Das ganze Szenario war wie im Märchen. Ein eigenes Haus sollte uns niemals beschieden sein. Irgendwo gibt es ein Bild von mir, das C. im Garten dieses Hauses aufgenommen hat. Ich trage einen von ihr geflochtenen Kranz aus Löwenzahn. Mein Dreizack ist ein mit Löwenzahn 113
geschmückter Rechen – der Poseidon der Rasenpflege. Wir beide sollten niemals einen Garten haben. Nicht einmal einen gemieteten. »Wenn ich dich noch einmal fragen würde …«, sagte ich eines Tages zu ihr. »Würde ich mit beiden Händen zugreifen. Aber nur, wenn du mich noch einmal fragen würdest.« Vor unserer Abreise unternahmen wir jenen letzten Rundgang. Wir sammelten Erinnerungen wie Drescher, die das Letzte aus einem Feld holen. Wir nannten jedes Wahrzeichen, das wir zurücklassen sollten. »Dort habe ich gewohnt, als ich das erstemal hier war«, erklärte sie. »Dort hat mein Freund gewohnt. Hier hatte ich Chorprobe. Das ist die Klinik, wo ich meiner Zimmergenossin durch die Krise geholfen habe.« »Hier habe ich meine Jungfernschaft verloren«, zeigte ich ihr. »Ein Jahr lang habe ich in diesem bizarren Haus gewohnt. Taylor wohnt eine Straße entfernt von hier. Ach, die Bibliothek. Ich habe für das Magisterexamen gebüffelt wie ein Irrer. Neun Monate lang in einer Lesekabine im achten Stock.« In stillschweigender Übereinkunft hatten wir uns den Vorplatz bis zuletzt aufgespart. Keiner von uns sagte: Hier haben wir zum erstenmal erfahren, daß wir nicht unbedingt allein sind. Keiner von uns brauchte irgend etwas zu sagen. C. war jeder Ort recht. Ein Pfeil auf eine Weltkarte, sie wäre dorthin gereist. Ich erzählte ihr, wie schön es in B. sei, wie bevölkert und lebendig. Unser Weggang glich einer Geschichte, die wir einander erzählten und dann im weiteren Verlauf selbst erlebten. Wie sie mit nichts als einem Scheck über 4100 Dollar gemeinsam davonzogen und sich an einem anderen Ort niederließen. Wie sie zweiundzwanzig Stunden im Lake-ShoreExpreß neben einem Riesen saßen, der sie vor den fatalen Folgen des Lesens warnte. Wie sie bei trostlosem, eiskaltem Nieselregen in der South 114
Station ankamen. Wie sie durchnäßt im rußigen Dämmerlicht standen und eine Bushaltestelle suchten. Wie sie in Tränen ausbrach: Wo hast du mich hingebracht? Selbst das Elend erschien wie ein Spaß. Ein Abenteuer. Mit dieser Frau hätte ich auch mitten in einem Kriegsgebiet ein festes Basislager aufgeschlagen. Ich gab ihr für eine Weile Sicherheit. Als ob auch diese falsche Wendung Teil eines ausgetüftelten Weges war. Damals waren wir jung und würden ewig leben. All diese Katastrophen, Fehleinschätzungen, Zerwürfnisse, Irrtümer: wir schützten einander, einfach indem wir immer wieder behaupteten, daß wir noch glücklich zusammen seien. Daß nichts zählte außer Anteilnahme. Jetzt, wenn ich B trainierte oder abends vom Zentrum zu meinem verlassenen Bungalow ging, befiel mich zuweilen Panik. Irgendein geistiges Bild löste sie aus – erinnerte mich daran, daß noch etwas im kognitiven Backofen stand und ich ihn angelassen hatte. Beim kleinsten Anstoß schnürte es mir die Rippen zu. Jemand war in Schwierigkeiten, stand hilflos vor einem Bahnhof in einer unidentifizierbaren Stadt, ohne Geld, ohne Stadtplan, ohne Sprache. Und ich konnte ihm weder helfen noch als Blitzableiter dienen. Jemand, der im freien Fall abstürzt. Entweder ich oder meine alte Freundin. Wir ließen uns in B. nieder. Wir fanden eine Wohnung. Wir tippten Lebensläufe und formulierten überzeugende Karriereziele. Jobs, wenn auch noch so anämische, regneten auf uns herab wie Geschenke des Himmels. Ich nahm eine Stelle als Fachlektor an. C. bewachte Gemälde im Museum. Meine Bilder von uns beiden brauchten in diesen frühen Tagen keinen Museumswächter. C. und ich bei unserem ersten Thanksgiving, wie wir sündhaft teure englische Wildhühner zubereiteten, obwohl wir kaum noch einen roten Heiler hatten. Wie wir, ohne Fernseher, der Spielreportage von nebenan lauschten, angehaltenen Atems, um nicht zu verpassen, wer in Führung lag. Und dann Weihnachten, wie wir ein paar Zei115
tungsbögen zusammenklebten und mit Buntstiften einen Baum darauf malten, den wir an die Wand des Apartments klebten. Soviel Erinnerung war beinahe schon trügerisch. Ich brauchte nur den Blick auf einen neutralen Hintergrund zu richten – die nassen Blätter in der Gosse neben mir, die fetten grauen Cumuli –, und schon konnte ich jede Szene aus jenem Jahr betrachten, solange ich den Anblick ertrug. Das Objektiv, das diese Bilder eingeprägt hatte, funktionierte jetzt in umgekehrter Richtung. Wie ein Ouija-Brett holte es Filme aus dem Archiv und fokussierte mich auf verblaßte Bilder eines Ortes, die sich jetzt längst nicht mehr bestätigen ließen. In einem seiner umstritteneren Artikel hatte Lentz über diese seltsame Verdoppelung spekuliert. Das Gedächtnis sei ein Parasit, behauptete er. Es benutze die Schaltkreise der Wahrnehmung opportunistisch für seine Playbackvorstellungen. Und bei mir ist dieser ganze Parasit intakt. Ihn hervorzulokken, reicht ein Moment der Benommenheit. Natürlich haben sich hier längst Regelmechanismen entwickelt. Künstlerische Entwürfe. Nachprüfen kann ich nichts. Das Buch, in das wir die papierene Spur unseres gemeinsamen Daseins einklebten, hat C. behalten. Die Dokumente befinden sich alle woanders, auf dem Müll oder im Langzeitspeicher irgendeines Fremden.
Ich kam deprimiert zu ihm. »Es ist zum Hirnerweichen«, sagte ich. »Unbegreiflich. Ich habe gelesen. In der Hölle gibt es doch kein Gebet für Agnostiker? Hundert Milliarden Neuronen. Also zwanzig pro Kopf der Weltbevölkerung. Wie viele Billionen synaptische Verbindungen? Und alle mit anatomischer Präzision in wer weiß wie viele verwickelte Subsysteme gegliedert …« »Dreiundsechzig«, belehrte mich Lentz. Er lag wieder in seinem Bürostuhl, weit nach hinten gelehnt wie in der Nacht, als 116
ich ihn das erstemal sah. Ich konnte nicht erkennen, ob er das hämisch meinte oder ob er endgültig übergeschnappt war. »Und noch das belangloseste Subsystem löst Probleme, die so weit jenseits unserer Fähigkeit liegen, sie zu berechnen, daß mein limbisches System zu schwirren anfängt. Allein um die Zahl der Reizübertragungen auf dem Weg zu einem introspektiven Gedanken zu bestimmen, müßten wir eine exponentielle Zahl von Exponenten zur Verfügung haben. Auch wenn wir unser Spielzeug noch etwas größer machen, als es jetzt ist, wird das Ding sich festfahren. Für eine intelligente Antwort auf ›Guten Tag‹ würde es eine Ewigkeit brauchen.« »Aber wir könnten Plover und Hartrick immer erzählen, der Baukasten brauchte noch eine kleinere Erweiterung für den Papiereinzug. Sagen wir, spätestens zur nächsten Eiszeit.« Lentz holte sich ein Hilfsprogramm auf den Bildschirm und machte einige Eingaben. Wie ein hyperaktives Kind war er am glücklichsten, wenn mehrere Dinge auf einmal passierten. »Selbst wenn wir sämtliche nötigen Verbindungen herstellen könnten …« Mir brach die Stimme. »Selbst wenn wir alle unsere Blechdosentelefone an ein und demselben Kasten anschließen könnten: auch dann gäbe es in diesem Teil der Galaxis immer noch nicht genug Rechenkapazität, um deren Signale zu synchronisieren.« Lentz kicherte. »Das ist zu übertrieben.« Es war unheimlich. Seine gehässige Imitation traf den Ton genau. Chen, wie er leibte und lebte. Schon das boshafte Gehör wäre selbst mit modernsten Maschinen kaum zu kopieren. »Nur Mut, Marcel. Kopf hoch. So schwierig ist das nicht. Wir sind in der glücklichen Lage, daß wir nicht alles selbst machen müssen. Weder Bewegung noch Sehvermögen, weder Geruchs- noch Tastempfindung, weder Schmerz noch Reflexe noch Prozeßsteuerung … Wenn Sie wüßten, was alles zusammenkommen muß, damit man die Hand ausstrecken und einen Gegenstand greifen kann, damit man zum Beispiel ein Glas 117
nehmen kann, wären Sie absolut unfähig, es zu tun.« »Wenn es bloß darum ginge, nach etwas zu greifen. Wir versuchen einem Ding Verstehen beizubringen.« »Marcel, so habe ich Sie ja noch nie erlebt. Erstaunlich. Was ist nur aus dem kalten Fisch geworden, den wir ins Herz geschlossen haben?« Er sprach jetzt beiseite, mehr mit dem Bildschirm als mit mir beschäftigt. Das hypnotische, halb aufmerksame Gebaren, das Konzentration vortäuschen soll. »Hören Sie, ich habe versucht, es Ihnen zu erklären. Es ist im Grunde einfacher, auf höherem Niveau zu arbeiten als auf niederem. Man braucht weniger Neuronen, um ›durch‹ und ›die Tür‹ und ›gehen‹ miteinander zu einem zusammenhängenden Gebilde zu verbinden, als man braucht, um entsprechend diesen Wörtern zu handeln.« »Das mag sein. Aber bedenken Sie, wie viele solche Gebilde –« »Sie sind überwältigt, weil Sie immer noch wie Plover denken. Sie denken immer noch, daß wir selbst die Regeln festlegen und alle Rechenschritte spezifizieren müssen. Das wäre tatsächlich von unüberwindlicher Komplexität. Aber wir werden nichts dergleichen ausarbeiten. Wir füttern Imp B nur mit der bereits zu Sprache geronnenen Welt und lassen dann von ihm die Teile auseinandernehmen und wieder zusammensetzen.« »Ja, ja. Die Platte kenne ich schon. Aber, Ingenieur! Der Umfang! Bedenken Sie, was wir dem Ding alles sagen müssen, bevor irgend etwas einen Sinn ergeben kann. Es geht hier um ein Verzeichnis, das um etliche Größenordnungen größer ist als das Universum, auf das es sich bezieht.« »Das Universum ist sein eigenes Verzeichnis. Die isomorphe Höhenlinienkarte, die Art und Weise, wie die Daten zusammengepackt werden.« »Was soll das heißen? Na schön. Angenommen, wir lesen ihm die Zeile vor: ›Er greift den Fels mit krummen Händen‹ …« 118
»O nein. Nicht. Kommen Sie mir nicht mit dem.« »Dann müssen wir ihm alles über Berge, Silhouetten, Adler und Horste erklären. Den Unterschied zwischen Greifen und Nehmen und Packen und Schnappen. Den Unterschied zwischen Felswänden und Abhängen und Schluchten. Flügel und Fliegen. Die Tatsache, daß Adler keine Hände haben. Daß das Gedicht nicht wirklich von einem Adler handelt. Wir werden ihm erklären müssen, was Isolation ist und Einsamkeit …« »Das wird es alles wissen. Es wird sich Wissen aneignen, das man ihm nicht erst vorkauen muß. Wissen wird ein Nebenprodukt der Form sein, die seine aus Gewichtungen bestehende Landschaft annimmt, indem sich diese der Form der gesprochenen Welt anschmiegt.« »… wie Metaphern funktionieren. Wie England im neunzehnten Jahrhundert funktioniert hat. Wie die Romantik nicht funktioniert hat. Alles über Imperialismus, Anthropomorphisierung, Trochäen …« Lentz fing an zu lachen. Immerhin hatte er mir also zugehört. »Ja, es gibt da draußen eine gewisse Dichte, auf die es sich wird einstellen müssen. Lassen Sie ihm Zeit. Wie haben Sie diese Dichte erworben? Stückchen für Stückchen, immer ein Stückchen weiter.« »Ich? Ich weiß nicht, was dieses blöde Gedicht bedeuten soll. Und wenn es um mein Leben ginge, ich würde es nicht noch einmal analysieren.« »Da haben Sie’s. Wir Menschen reagieren aus dem Stegreif, wir improvisieren. Inputmuster x ergibt Assoziationsmatrix y, die mit dem Stimulus nur noch äußerst wenig zu tun hat und oftmals gar nichts taugt. Bewußtes Verstehen funktioniert wie ein Zaubertrick. Nahezu frei assoziierend. Niemand reagiert wirklich auf einen anderen als solchen. Wir alle platzen mit unseren vorproduzierten und zerlesenen Texten ohne jede höfliche Überblende hervor. Zugegeben, Erfassen und Retrieval geht bemerkenswert schnell. Aber Verstehen und angemessene 119
Reaktion sind oft eher mit der Detonation einer Schrotladung zu vergleichen.« »Allmählich begreife ich. Sie preisen nicht die Maschine. Sie schmähen uns. Ganz schön begriffsstutzig von mir.« »Seien Sie nicht zu streng gegen sich, Marcel«, gurrte Lentz. »Ein großer Teil der Intelligenz ist nicht besonders helle.« »Ich glaub’ es einfach nicht. Sie meinen das wirklich ernst?« »Wir arbeiten hauptsächlich mit Parallelsetzungen. Wir tun nur so, als seien wir syllogistische Wesen. Tatsächlich erkennen wir ein paar Einschränkungen und schleifen das Klötzchen dann so lange, bis es ins Loch paßt. Haben Sie mal in letzter Zeit irgendwelche Arbeiten von Studenten gelesen? Sie sollten mal sehen, womit ich es allein bei den Vorbemerkungen zu tun habe. Und mein Lehrstoff erfordert nun wirklich keinerlei Kenntnis der realen Welt! Sie kennen das doch: ›Jede Arbeit sollte zur Anrechnung vorgelegt werden.‹ Wenn die ihre Arbeiten vorlegen, möchte ich sogar denen, die das gestellte Problem lösen, die schlechteste Note geben.« »Nehmen Sie sich selbst von dieser Kritik der Intelligenz aus?« »Nicht direkt. Diese Erkenntnis hat mir dreißig Jahre lang ins Gesicht gestarrt, bevor ich sie gesehen habe.« »Also dann. Nehmen wir an, Sie haben recht.« »In Ordnung.« »Das ändert nichts an den Tatsachen. Um eine auch nur annähernd plausible Assoziationsmatrix für sechs schäbige Tennyson-Zeilen zu produzieren, wird unser Kandidat einen Aktenschrank von der Größe zweier Erdhälften brauchen.« Meine Einwände begannen Lentz zu langweilen. Er stand auf. Es machte mir immer angst, wenn der Mann in die Senkrechte kam. Er fummelte an den Verbindungen der neuen neurodalen Steckkarte herum und schob sie dann an den vorgesehenen Platz. Ich dachte an Gehirnchirurgen, die Patienten bei vollem Bewußtsein den Cortex stimulieren, und was für Synäs120
thesien durch die Sonde hervorgerufen werden. »Das haben Sie hübsch gesagt, Marcel. Zweifellos ein Hinweis auf eine gewisse Sprachbegabung Ihrerseits. Aber haben Sie in letzter Zeit mal Ihre eigenen Schulaufsätze gelesen? Geben Sie mir Middlemarch, und ich schnurre Ihnen ein paar unsortierte Gemeinplätze dazu runter, qualifizierte und unqualifizierte.« »Was wissen Sie über dieses Buch?« fragte ich überhastet. Es war Taylors Buch, das Buch, dem er sein Gelehrtenleben gewidmet hatte. Das Buch, über das ich geschrieben hatte, das ich für ihn analysiert hatte. Der Roman, in dem ich Romane entdeckt hatte. Es gruselte mich schon, den bloßen Titel aus Lentz’ Mund zu hören, es war, als hätte man mir nachspioniert. Natürlich ignorierte er mich. Lentz ignorierte jede direkte Herausforderung. Nur die scharfsinnigsten oder die schwerfälligsten Maschinen konnten auf eine solche Gesprächstaktik verfallen. »Auch wenn Sie recht haben«, wich ich aus, »würden wir ewig brauchen, dem Ding hinreichend unsortierte Gemeinplätze beizubringen.« Lentz raffte sich aus der Zerstreutheit auf. »Was wollen Sie? Wir haben zehn Monate. Zehn Monate, das sind heutzutage mehrere Generationen. Und: wir brauchen keine menschliche Intelligenz zu konstruieren. Unser Hirn muß nicht analog zu echter Geistestätigkeit arbeiten. Wir müssen nur im Paraphrasieren genausogut sein, egal, auf welchem Weg wir dahin gelangen. Und das schaffen wir im Handumdrehn. Falls Sie mal aufhören zu reden und kräftig mit anpacken.« Ich stand auf und half ihm beim Einbau der neuen Karte in Imp B. Handarbeit: bis dahin mein ganzer Beitrag. »Mir kommt es so vor, als ob das, was wir genausogut hinbekommen wollen, praktisch nicht zu paraphrasieren ist.« »Ah-bah. Es ist die einfachste Sache der Welt, einen Menschen reinzulegen. Sie kennen doch noch das frühe Lieblings121
kind der Künstlichen Intelligenz, ELIZA, den Psychoanalytiker? ›Sie erinnern mich an meinen Vater‹, tippt der Mensch. ›Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Vater‹, antwortet die Maschine. Erinnern Sie sich an den Studenten, der das Programm zufällig auf einem unbenutzten Terminal entdeckt hat? Fängt ein Gespräch mit ihm an. Wird immer frustrierter. Schließlich brüllt er den Sadisten am anderen Ende an, er soll mit diesen Schikanen aufhören.« Genau so ging es mir jedesmal, wenn ich mit Lentz redete. »Wir konstruieren also nur ein Blendwerk?« »Bewußtsein ist ein Blendwerk.« Lentz schnitt eine Grimasse. Er starrte ins Leere. Eine lange, entsetzliche Pause. Ich wußte nicht, wie ich sie überbrücken sollte. Schließlich mußte ich einfach etwas sagen. »Sie wollen doch nicht sagen, daß unser Imp B Bewußtsein haben wird!« »Seien Sie nicht so begriffsstutzig, Marcel. Sie argumentieren ja mit Schrotpatronen. Nein, natürlich nicht. Und wir müssen ihm auch kein Bewußtsein verpassen. So wenig, wie wir ihm Gefühle geben oder es zum Denken bringen müssen. Wir brauchen aus ihm bloß einen passablen Apfelsortierer zu machen. Es soll Äußerungen interpretieren, sie in allgemeine Begriffskategorien einordnen und dann aus dem vorhandenen Vorrat passende ›theoretische‹ Kommentare heraussuchen können.« »Und was machen wir nächste Woche?« »Touché, Marcel! Ausnahmsweise haben Sie einmal recht. Wir sollten einfach mit den ersten Babyschritten anfangen.« »Wie sagt man doch bei den Fallschirmspringern? Der erste Schritt ist der schwerste.« »Ach was. Der erste Schritt ist ein Kinderspiel. Auf jeden Fall sind wir tausendmal besser als ein Kleinkind. Denn erstens braucht unser Baby keinen Schlaf. Nie. Wir können es rund um die Uhr füttern, sobald die Sache einmal in Gang gekommen ist. Zweitens sind die Neuronen von Kindern erst im Alter von 122
etwa zwölf Jahren vollständig myelinisiert. Funktionieren noch nicht perfekt. Wollte man sie effektiver machen, könnte man ebensogut in Pudding schreiben.« Nicht lange nach diesem Gespräch erfuhr ich, daß das einzige Kind, das Lentz jemals großgezogen hatte, nichts von ihm wissen wollte.
Für mich war B immer noch bloß ein Konglomerat provisorischer Komponenten. Druckplatinen, die auf einer Seite von integrierten Schaltkreisen, auf der anderen von nach Wortarten sortierten Häufigkeitslisten bevölkert waren. Jedes seiner distributierten, lose verknüpften Subsystemnetze war ein Verband von Neuroden und jede Neurode ein Verband wechselnder Verflechtungen. Tag für Tag dressierte ich diese Mikrozirkus-Tiere, auf meine Stimme zu reagieren. Aus Verallgemeinerungen von Mustern wurden grammatische Analysen einfacher Sätze, so, wie aus Liegestützen Muskeln werden. Die gestapelten Schichten begannen elementare Unterschiede zu erkennen – und selbst zu machen. Wenn ich dem Ding sagte: John ist größer als Jim, versicherte es mir, indem es die wiederholten Urmodelle imitierte: Ja, Jim ist kleiner als John. Aber auch derart simple Umformungen von Aussagen konnten B auf eine Endlosschleife bringen. Im Kessel ist mehr Kaffee als in der Tasse, aber die Tasse ist voller. Dieser Schluß mußte das Netz mehrmals rekursiv durchlaufen, bevor B sich damit abfand. Wie es bei jüngeren Geschwistern häufig vorkommt, war B’s Charakter grundverschieden von dem A’s. Während das Ding beim Training mit Zwei-Wort-Sätzen kurz angebunden und gelassen agierte, wurde es bei längeren Sätzen geradezu geschwätzig. Dieser zweite Bausatz entdeckte mehr Muster in 123
unseren Satzvorgaben, als wir selbst im Sinn gehabt hatten. »B ist krank«, begrüßte Lentz mich eines Tages, als ich ins Labor kam. »O nein. Sagen Sie das nicht.« »Mit ›Sagen Sie das nicht‹ meinen Sie doch wohl ›Nun reden Sie schon‹.« »Was macht es denn jetzt?« »Passen Sie auf.« Bei Stimmen reagierte die Maschine zwar nur auf meine, doch Eingaben über die Tastatur beantwortete sie unterschiedslos. Wer da tippte, konnte sie nicht erkennen. Sie antwortete jedem, indem sie wohlgemut voraussetzte, daß der Tipper nur ihr Bestes wolle. Lentz tippte B eine kleine Geschichte ein: »Freunde sind in einem Zimmer. Ein Stuhl ist im Zimmer. Richard spricht mit Diana. Diana sitzt auf dem Stuhl.« Jedes Wort wurde in ein Zeichen umgewandelt, in eine Matrix von Feldstärken. Diese Zeichen verbanden sich zu Satzvektoren. Die Vektoren bewegten sich durch die Netzlandschaft wie Murmeln auf der Suche nach der zugänglichsten Vertiefung. Ort und Art ihrer Landung sagten etwas über ihre Bedeutung aus. Das Sieb sortierte jede Struktur, die in es hineinfiel. Und jedes Sortieren führte zu einer dauerhaften Veränderung der Netzstruktur. »Sind Sie bereit?« fragte Lentz. Dann tippte er: »Wer ist auf dem Stuhl:« B flippte aus. »Freunde ist auf dem Stuhl. Der Stuhl ist auf dem Stuhl. Richard spricht mit dem Stuhl …« Das Ding hörte nicht auf zu faseln. »Sieht nach Veitstanz aus«, sagte ich. »Es handelt sich um das Vincent-Symptom«, konterte Lentz. Er hatte recht. Die Symbolsprache machte B verrückt wie einen Dichter. Es faßte Bedeutungen zu eng und dehnte Ähnlichkeiten zu weit. Es erlag der typischen Neigung des Kleinkindes, allzu viele Gruppen zu bilden. Hätte es körperliche Finger 124
gehabt, würde es auf irgendeinen Gegenstand im Bücherregal gezeigt und diesen ein Buch genannt haben. »Wir müssen das stufenweise Feedback ausschalten und eine strengere Kontrolle einführen«, sagte Lentz. »Das Vieh wird lernen müssen, daß nicht alles möglich ist.« Das klang vernünftig. Ich hatte einiges über Entwicklungsneurologie gelesen. Neugeborene haben wesentlich mehr Synapsen als Erwachsene. Vielleicht konnte es bei der Bildung effizienter Verbindungsleitungen nicht ausbleiben, daß viele nutzlose absterben mußten. Anstatt B’s metaphorischen Hals kurzerhand abzuschneiden, würden wir ihm Zügel anlegen müssen. Fürs erste beschlossen wir, B’s Assoziationen mit eindeutigen Antworten zurückzustutzen. Wiederholtes Begehen des gewünschten Pfades würde Imp B dazu bringen, sich einen geraden Weg durch seine üppig wuchernden Ideen zu schlagen. Wenn B jetzt mit seinen Permutationen anfing, konnte ich Nein sagen. Ich nannte ihm die richtige Antwort, und wenn sie noch so problematisch war. So schmerzlich es sein mochte, ich zwang B, ohne Umschweife zu reagieren. B nahm die richtige Antwort, verglich sie mit der Wörterdiarrhöe, die es selbst produziert hatte, und ging den qualvollen Weg durch seine Verbindungen Schritt für Schritt zurück, um festzustellen, wo ihm die Pferde durchgegangen waren. Nur diese Beschränkung grenzenloser Möglichkeiten machte ein Lernen wieder möglich. Und nur echtes Lernen – nichts Mechanisches oder Vorhersehbares – konnte mich befriedigen. Als ich in einer irreführend frühlingshaften Dämmerung dieses Spätherbstes durch die bald bereiften Straßen nach Hause ging, berührte es mich peinlich, daß ein Begriff wie Befriedigung mir noch im Kopf herumspukte. Ich hatte gedacht, ich hätte dieses Wort in der neu gewichteten und längst ausgelöschten Vergangenheit zurückgelassen.
125
Imp B ging mir gegen den Strich. Nicht, daß ich es haßte. Ich machte mir bloß nichts daraus, bemühte mich aber, unsere Arbeit davon nicht beeinträchtigen zu lassen. Wahrscheinlich erinnerte mich die Art und Weise, wie seine verbundenen Netze auf Input reagierten, allzusehr an meine eigene Wenigkeit, die, in Produktivität ertrinkend, nicht in der Lage war, mit dem Verallgemeinern Schluß zu machen oder es wenigstens rigoros zu beschneiden. Doch als B weniger poetisch und dafür anstelliger wurde, begann ich den eigenwilliger Schwätzer zu vermissen. Es hatte mir ein perverses Vergnügen bereitet, es bei seinen Schlußfolgerungen zu beobachten, zum Beispiel, wenn es aus »Wenn Sie mich brauchen, ich bin im Büro« den Schluß zog, daß ich, bis Sie mich brauchen, zu Hause sein werde. Lentz schien diese zweite Lektion im schrankenlosen Raum der Worte nicht zu beeindrucken. »Was sagen die Literaturtheoretiker heutzutage übers Bücherlesen?« Als ob ich ihm das an einem Nachmittag erklären könnte. Als ob er, mit meiner Erklärung bewaffnet, ein paar vorgeschaltete programmunterstützende Subsystemnetze anschließen könnte, die jedes denkbare Problem lösen würden. »Erstens gibt es keine Bücher mehr.« »Texte«, korrigierte sich Lentz. »Entschuldigen Sie.« Wie immer wußte er mehr, als er zugab. »Also, sehen wir mal. Das Schriftzeichen ist Gemeingut, das gesprochene Wort ist eine Bagatelle, die Bedeutung ist reine Glückssache. Bedeutung zirkuliert nicht. Niemand kann aus dem Gefängnis der Sprache ausbrechen.« »Wie wär’s mit Entlassung auf Bewährung wegen guter Führung?« »Ingenieur, ich bitte Sie. Seien Sie ausnahmsweise einmal ehrlich. Gestehen Sie, daß das alles Sie nicht im geringsten entmutigt.« »Stimmt. Es bedeutet nur, daß wir uns auf diesem Gebiet ge126
nausogut versuchen dürfen wie jeder andere Wichtigtuer. Spätestens in, sagen wir, einem Monat haben wir unser Supernetz so weit, daß es sich exakt so anhört wie ein zweiundzwanzigjähriger nordamerikanischer Schickeria-Wunderknabe, der per Dolmetscher einen französischen Terroristen imitiert.« »Ingenieur –« »Das ist mein Ernst, Marcel. Ich habe das Zeug gesehen, wovon Sie da reden. Aphorismen sind in. Wir brauchen nur ›Bevorzugen‹ und ›Konkretisieren‹ in die Worthäufigkeitslisten einzubauen, und schon können wir das Ding umschulen. Je freier die Assoziationen auf der Eingangsseite, desto tiefsinniger wird der Output erscheinen.« »Gut. Tun Sie, was Sie wollen. Mich brauchen Sie dabei ja offensichtlich nicht. Und ich habe es nicht nötig, ein Jahr lang an einem sinnlosen und zynischen Betrug mitzuwirken. Wenn ich das wollte, wäre ich beim Programmieren geblieben.« »Marcel, setzen Sie sich. Marcel! Seien Sie nicht kindisch«, befahl Lentz. Ihm brach die Stimme. Das erschreckte mich. Ich hätte nicht gedacht, daß er irgend etwas wichtig nahm. Jedenfalls nicht etwas so Banales wie die Aufkündigung meiner Mitarbeit. »Also gut«, stammelte er. »Ich habe es nicht so gemeint. Entschuldigen Sie. Sollte ein Scherz sein. Ein bißchen Selbstironie. Es ist so lange her, seit ich mit irgendeiner Arbeit von mir zufrieden war, daß ich immer kritischer werde. Und dann vergesse ich, daß nicht jeder so distanziert ist wie ich. Ich dachte, Sie wüßten das. Entschuldigen Sie.« Ich beobachtete den Mann nur. Alles Ausweichmanöver. Alles: die Zerknirschung ebenso wie der Zynismus. Er selbst hatte schon lange die Fähigkeit verloren, zu erkennen, was er wirklich wollte und wann er etwas ernst meinte. Erstaunlich aber daran war – und das ergab keinen Sinn –, daß er mich dabeihaben wollte. Sonst machte ihm das Ganze keinen Spaß, war für ihn nichts wert. Ich wurde nicht schlau daraus, und ich 127
wollte nicht gehen, ohne das verstanden zu haben. Ich setzte mich wieder, so bedächtig wie möglich. Neugierig, was ich als nächstes sagen würde, zögerte ich meine Antwort hinaus. »Imp B?« fragte ich. Ich war mir nicht sicher, was ich mit dieser Frage wollte. Lentz antwortete ohne Zögern. »Auf jeden Fall ein edles Beginnen. Und nicht ohne theoretisches Interesse. Tun wir es nur für uns selbst. Das heißt, natürlich werden wir den anderen zeigen, was wir herausfinden und so weiter. Aber wir sollten einfach arbeiten und nicht mehr an die Wette denken.« Ich sah den Mann an. Die kugelsicheren Gläser seiner Brille schützten ihn vor Blickkontakt. »Zum Teufel damit.« Ich lachte. »Mein Kind wird das Examen mit Bravour bestehen!« »Gut, gut.« Lentz gackerte neben mir. »Alles, was Sie wollen.« Seine Augen schienen feucht zu werden. Und dann legte er mir eine Hand auf die Schulter, zog sie aber genauso schnell wieder zurück. Wir arbeiteten intensiv an Satzanalysen, an Wortverwandtschaften und Steigerungen, an einfachen semantischen Entschlüsselungen. Sympathischer wurde B im Lauf dieses Trainings keineswegs. Aber es machte unbestreitbar Fortschritte im Vergleichen und Manipulieren von Satzmustern. Daß es unzählige serielle Ströme von Inputvektoren koordinierte, daß es überhaupt die Form eines einfachen Satzes verallgemeinern konnte, war für mich ein blaues Wunder. Der nächste Mai wird schön, versicherte ich dem Ding. Vater hofft im Vorgarten Rosen pflanzen zu können. Mutter geht den Arzt holen. An einem Wochenendnachmittag saßen wir in Lentz’ Büro, als er sagte: »Wird Zeit, daß wir dem Kleinen mal was Schwierigeres zu knacken geben.« Er wühlte im Chaos seiner Regale. Hinter einem Stapel Zeit128
schriften, die bereits angefangen hatten, sich selbst zu recyceln, zog er eine Thermosflasche aus den Fünfzigern hervor, einen fleckigen Kaffeebecher mit der Aufschrift Opa und einen Ring mit – so sah es jedenfalls aus – diversen Rollschuhschlüsseln. Nachdem er diese Stelle freigeräumt hatte, konnte er den restlichen Müll in seinem vollgestopften Büro herummanövrieren, als wäre das Ganze ein riesiges 15er-Verschiebepuzzle. Diese Umsortiererei brachte schließlich aus tiefsten Tiefen ein Buch zum Vorschein. Versteckt wie das Softpornoheft eines Jugendlichen. Die blaßrosa Fata Morgana des Fotos auf dem Umschlag war eingerissen und unfachmännisch mit Klebestreifen zusammengeflickt. Ich erkannte das Buch, noch ehe er es ganz herausgefischt hatte. »O nein. Ingenieur. Lentz. Bitte was anderes. Nur das nicht. Ich kenne ausgewachsene Professoren, die sich an diesem Buch die Zähne ausgebissen haben.« »Nur ruhig, Marcel. Wir werden uns nicht das Buch vornehmen. Gott behüte. Nur dieses Stückchen hier.« Er hielt den Text aufgeschlagen vor mich hin, ein horniger Daumennagel strich über das harmlose Motto von Kapitel eins. »Nur das?« »Nur das.« »Sie sind ja wahnsinnig.« »Ja, sicher. Dessen bin ich mir durchaus bewußt. Moment«, hielt Lentz mich hin. »Ich möchte, daß Plover das miterlebt. Hoffen wir, daß unser Musterschüler nicht ausgerechnet jetzt verrückt spielt.« Er humpelte den Flur hinunter, relativ schnell für einen Sechzigjährigen, dessen Körper ihm während der Hälfte all dieser Jahre nur eine Last gewesen war. Dann kam er mit einem zweifelnden Harold im Schlepptau zurück. Bei meinem Anblick leuchtete Harolds Gesicht auf. »Ave, scriptor! Sehen Sie diesem Scharlatan auf die Finger?« Wäre ich nur einen Schritt auf ihn zugegangen, hätte er mich mit 129
einer Umarmung begrüßt. Harolds spontane Zuneigung deprimierte mich. Ich hatte nichts getan, das Herz dieses Mannes zu erobern, und daß es mir trotzdem gelungen war, ließ mich in meinen Augen als unehrlich erscheinen. Doch als in der Tür ein grämlich dreinblickendes Mädchen erschien, war dieses Gefühl unverdienter Anerkennung vergessen. »Trish«, kommandierte Plover. »Trish. Nimm die Kopfhörer ab. Nimm – die – Kopfhörer …« Er machte es ihr mit freundlichen, weitgebärdigen Bewegungen vor. Trish verdrehte die Augen zu einem inneren Obergeschoß und gehorchte. »Das ist der Schriftsteller, dessen Bücher ich dir gezeigt habe.« Harold wandte sich zu mir um, damit klar war, von wem er redete. »Richard, das ist Trish. Die zweite der PloverAmazonen.« Sie gab mir die Hand und sah sich um, wo sie sie desinfizieren könnte. »Wie groß ist der Stamm?« fragte ich. Harold begann an seinen Fingern abzuzählen. »Keine Ahnung. Ich habe den Überblick verloren.« »Ach, Daddy!« stöhnte Trish. Ein geistesschwacher Vater: das einzige, das sie hatte veranlassen können, mich anzusprechen. »Hören Sie nicht auf ihn. Seit Mom erlaubt hat, daß Sue nach Italien geht, ist er unausstehlich.« »Haben Sie das gehört? ›Unausstehlich.‹ Trish hat’s mit Literatur. Sie schreibt Gedichte.« »Gar nicht wahr. Ich schreibe Songtexte.« »Sie möchte, daß Sie sich das mal ansehen.« »Nie und nimmer!« schrie Trish. Lentz schnaubte über dieses Hendiadyoin. »Kommt Hartrick sich das auch ansehen?« fragte er. Ich spürte die Spannung, noch ehe er den Satz halb ausgesprochen hatte. Harold sah aus, als wollte er den kleinen Mann erwürgen. 130
»Nein. Fangen Sie an. Will hoffen, daß wir was zu sehen kriegen.« »Zu sehen bekommen«, korrigierte Trish. Diesmal verdrehte ihr Dad die Augen. Ich sprach mit B. Ich trug ihm das Kindergedicht vor, das ich aus längst vergessenen Gründen für den Anfang meines ersten Romans gewählt hatte. »Auf dem Weg, St. Ives zu schauen, traf ich einen Mann mit sieben Frauen …« Ich verhaspelte mich und blieb stecken. Harold half mir auf die Sprünge, und diesmal schaffte ich es bis zum Ende. Alle hielten den Atem an. »Nun?« sagte Lentz. »Na los. Weiter. Zieren Sie sich nicht so.« Ich stellte die Frage, mit der mein erstgeborenes Buch begann. »Kätzchen, Kater, Säcke, Frauen: wie viele wollen sich St. Ives beschauen?« Die geforderte Antwort lag irgendwo auf der Kurve unergründlicher Syntaxen. Unser Netzwerk aus Netzen brauchte weniger als eine halbe Minute, um ihre Lage zu ermitteln. »Einer.« »Irre!« rief Trish. Sie bewegte sich aufgeregt auf den Bildschirm zu. Mit ihrem Gang stimmte etwas nicht. Dann setzte sie den Fuß auf: sie hatte Rollschuhe an. Plover lachte dröhnend. »Ist das wirklich echt?« Trish nahm das Mikrophon. »Schacht für Raumgleiter öffnen, HAL!« Vektoren tanzten über den Monitor, aber Imp B behielt seine Meinung für sich. Trish machte einen Schmollmund. »Es könnte weniger beeindruckend sein, als es aussieht«, wandte ich ein. »Ich nehme an, es hat in dem Rätsel einfach alles ignoriert, was es nicht mit der Hauptaussage in Zusammenhang bringen konnte.« »Immer noch beindruckend genug«, sagte Lentz lakonisch. 131
»Unfehlbare Objektivität ist vielleicht das Beeindruckendste überhaupt.«
Das Motto, das ich Imp B vorgelesen hatte, stammte wie das Buch, dem es vorangestellt war, aus einem distributionellen Nirgendwo. Ich weiß nicht, warum ich es verwendet hatte. Um eine Interpretation gebeten, könnte ich antworten, der Vers handele davon, wie man irgendwo auf dem Trampelpfad der Zeit frontal in die Prozession des Nicht-Du hineinmarschiert. Wie lang und kompliziert die Parade der Geschichte auch sein mag, der Blick, der ihr auf diesem Weg begegnet, ist immer der der ersten Person Singular. Die Idee zu diesem Buch war mir in unserem ersten Jahr in B. gekommen, dem reichsten Jahr meines Lebens. Damals hielt ich uns für glücklich, aber wer weiß? Vielleicht war unser Glück bloß Tapferkeit. Nehmt eine Tugend an, die ihr nicht habt. Das war in jenem ersten Winter mein Lieblingsspruch. Mir gefiel die Vorstellung, daß wir unsere Attitüden nach und nach verinnerlichten. Und Attitüde erschien mir während unserer Zeit in B. wie Glück, tief und artesisch. Wir waren allein. Zum erstenmal in unserem Leben hatte keiner von uns beiden ein Ziel. In einem Land, wo der Winter im Oktober anfängt und bis in den Mai hinein wütet, navigierten wir von einer Winternacht zur anderen. In einer Wohnung, die den Gewaltmarsch vom Eleganten zum Desperaten bereits zur Hälfte hinter sich hatte, schufen wir uns ein Zuhause, das zu intim war, es zu beschreiben. Während dieser ersten mythischen Tage lernten wir unsere Nachbarn kennen. Wir umtänzelten sie in der Waschküche und auf den Korridoren. Wir schüttelten Hände und ließen uns Visitenkarten geben, ohne selbst welche verteilen zu können. Wir falteten mnemotechnische Origami aus den Silben ihrer Na132
men. Dann vergaßen wir die Gedächtnishilfen. Gleichviel. Die Menschen in unserem Haus wollten ohnehin nicht angesprochen werden. Deswegen waren sie dort hingezogen. Deswegen lebten wir selbst dort. Jeder einzelne in diesem hufeisenförmigen Hof wollte in seiner privaten Unverwundbarkeit alleingelassen werden. Je näher das Dossier des Nächsten, desto leichter konnten wir es meiden. In der Decke unseres Badezimmers entstand ein Riß zur Nr. 307 über uns. Vom Dampf der Dusche löste sich der Putz und rieselte auf unsere Wanne. Wir nagelten eine mit limonengrünen Bäumen bedruckte Leinendecke über die klaffende Wunde. So gut wie geheilt. Wir waren einander das ganze Volk. Selbst die Wonnen der Jobsuche genossen wir gemeinsam. »Hier ist was für dich, C. ›Kommunikationsfähigkeit erwünscht.‹« »Hm, Beau? Ich glaube, das bezieht sich auf Modems und so was.« Wir lauschten gegenseitig unseren Geschichten. Wir improvisierten. Das Repertoire entnahmen wir einem riesigen Vorrat. Die Bücher, die wir einander nicht vorlasen, erzählten wir ausführlich nach. Und wir lasen, lasen zum zweitenmal alles, was richtig zu lesen uns bis dahin aus Zeitgründen nicht möglich gewesen war. Ich konnte einen Nachmittag lang über dem Anfang eines Taschenbuchs verweilen und grübeln, ob ich mich darauf einlassen sollte. Denn einmal über Seite 10 hinaus, war ich verpflichtet, den Marsch durchzuhalten, auch wenn das Gelände noch so schmutzig war. Ich las Essays, historische Darstellungen, Biographien – Dinge, die auch in einer Million Jahren nicht auf die Liste kämen, weil sie entweder nicht auf englisch geschrieben oder aber nicht Literatur waren. Das anderthalb Millionen Worte umfassende assoziative Werk, aus dem Lentz den Namen hatte, mit dem er mich ständig anredete, schrieb ich 133
ein Dutzend Jahre später. Ich begann ein Lektüretagebuch. Nicht so dramatisch wie sonst bei Wendepunkten üblich, aber immerhin. Als ich ein Leben später diese Notizbücher von neuem las, fiel mir auf, daß die Zeilen, die ich mir herausgeschrieben hatte, die Worte, die in meiner Handschrift für immer zu fixieren mir damals wert erschienen waren, mit unwahrscheinlicher Häufigkeit jeweils aus den Anfangsseiten eines neuen Buchs genommen waren. Je weiter ich in einem Buch kam, desto seltener wurden die magischen Zitate. Eine stetig und linear abwärts gerichtete Kurve. Vielleicht drängten Autoren generell ihre unsterblichen Momente im vorderen Teil ihrer Bücher zusammen, wie Leute in einem Bus, die sich zum Aussteigen drängen. Oder eher: Lesen bedeutete für mich die Preisgabe der sprachlichen Ewigkeit zugunsten des Fortgangs der Erzählung. Jede Zeile verstrickte mich tiefer in die Handlung und lahmte zunehmend meine Lust, nach dem Notizbuch zu greifen und einen bestimmten Satz rechtzeitig festzuhalten. C. las die Buddenbrooks und Anna Karenina. Sie las Little Women zum zweitenmal. Alles brachte sie zum Weinen. Alles. Schon weit vor der letzten Seite kam sie ins Stocken. Ihr Lesezeichen wanderte durch ein Taschenbuch wie Zenos Pfeil, der auf seinem Weg ans Ziel in unendlich kleinen Zwischenschritten hängenblieb. Die ersten vierhundert Seiten sausten in zwei bis drei Nächten dahin. Die letzten vierzig konnten sie einen Monat lang blockieren. Wenn sie dann etwas ausgelesen hatte, war sie erschüttert. Ich erinnere mich, wie sie Ethan Frome las. »Ich dachte, dieses Buch ist in jeder amerikanischen HighSchool Prüfungsstoff. Bevor man über die Verfassung ausgefragt wird«, zog ich sie auf. C. zuckte die Achseln. »Vielleicht bin ich keine Amerikanerin, Beau?« Als sie damit fertig war, wurde es kalt. Ich saß im vorderen 134
Zimmer auf dem Polsterstuhl, den wir vom Sperrmüll gerettet hatten. Sie hockte im Schlafzimmer auf dem Boden, auf der Matratze. Aus der Totenstille hörte ich ihren Notruf. »Beau. Ricky.« Leise und verzweifelt, schon verloren, unter einem Felsenberg begraben. Ich überwand die Strecke in Reflexgeschwindigkeit. Sie saß an die Wand gelehnt, die Augen vom Salz rot gerändert, die zitternde Faust an den Mund gepreßt. »Ach, Beauie. Gib mir noch eine Chance. Ich war so egoistisch und gemein. Ich kann mich bessern. Das weiß ich genau.« Das war aus Ethan Frome. Ausgerechnet aus Ethan Frome. An jedem Werktag stieg C. in ihre marineblaue Uniform und schritt über das verlandete Moor zum Museum. Dort stand sie acht Stunden lang pausenlos auf den Beinen und schützte die Meisterwerke der Weltmalerei vor den Grapschfingern des Publikums. Museumswächter mag der langweiligste Job von allen sein. Aber das hatte ihr kein Mensch erzählt. Wenn sie nach Hause kam, glühte sie in jeweils winziger Begeisterung über Entdeckungen, die man nur nach tagelangem Betrachten einer bemalten Leinwand machen konnte. Besonders gern arbeitete sie in der kastanienbraunen Kolonialsammlung des Museums. Zu spät erst hörte ich aus ihrem Wohlgefallen die Schwärmerei der Deportierten heraus, die Fasziniertheit von einem Land, dem sie nur durch einen denkbar kleinen Zufall der Geburt verbunden war. Amerika überlebte sich für uns beide. In dieser Stadt, zu dieser Jahreszeit, bewegten sich die Menschen, an ihre Schatten geheftet, zielstrebig durch die Straßen. Ihre schwarzen Mäntel erschienen als Kohlenflöze im grauen Schnee. Ihre Silhouetten wirkten wie Protagonisten moderner tschechischer Romane. Sie drängten sich U-Bahn-Treppen hinunter und durch Drehkreuze. Auf dem Weg zu der Redaktion, wo ich arbeitete, drängte ich mich mit ihnen. Wenn ich abends nach Hause kam, ahmte ich diese Leute für 135
C. nach. Ich spielte ihr vor, wie sie Höflichkeiten austauschten. »Wir müssen uns mal abends zum Essen treffen.« »Das Nettovolkseinkommen ist wieder einmal sprunghaft angestiegen.« C. sagte mir eine große Zukunft als Schauspieler oder als Makler voraus. Die Stadt bot sich uns dar wie eins der Porträts, die C. bewachte, ein Whistler oder ein Copley. Die U-Bahnen – hochmodern, blitzblank, asiatisch – waren im Grunde altertümliche Straßenbahnen. Sie schleppten ihre menschliche Fracht zwischen der City und Gartenvorstädten mit komischen Namen hin und her. Oben rasten Autos durch das Labyrinth der Straßen, die Studebakers von morgen. Mein Computerzeitschriftenverlag residierte in einem rustikalen Außenskelett aus Stahl und Glas, neben dem sich die Gebäude in der Umgebung noch altmodischer ausnahmen. Die Skyline der Stadt wirkte wie das Konstrukt eines nostalgischen amerikanischen Postprimitiven aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. C. und ich durchlebten es in vorausschauender Rückschau. Wir streiften neben dem Bug des Winters durch die Stadt, alles mußte erkundet und registriert werden. Wir nahmen alle Schattierungen von Ocker und gebrannter Umbra in uns auf, Farben, die uns darauf hinwiesen, daß die Gegenwart viel seltsamer war, als sie zugeben wollte. Nur die Armen der Stadt verweigerten ästhetischen Genuß. Sie sprachen in Zungen, menschlichen und anderen, debattierten mit sich selbst oder jedem, der ihnen zuhörte. Sie gaben uns beiden schmutzige Broschüren, die mit karolingischen Minuskeln bedruckt waren. Oder sie kauerten schlafend, öl- und blutverschmiert, im hinteren Teil schnittiger heller Züge und fuhren zum protzigen Jahrmarkt des Fortschritts. Abends, wenn es der eisige Wind erlaubte, wenn die Bitterkeit der interplanetarischen Finsternis nicht ganz so unsanft mit ihrem Essen spielte, ging ich zu Fuß nach Hause. Ich nahm 136
Abkürzungen über öffentliche Plätze, quer durch die alten Victory Gardens, doch ihre Siege waren allesamt verloren, vergessen und vergeudet. Dort harkten Frauen gekrümmt und wie aufgezogen in elliptischen Planetenbahnen die Reihen. Fremde Kinder der Stadt, die auf den Frühling warteten, um eine neue Saat für den Krieg des nächsten Jahres auszubringen. Ich durchquerte den Garten immer kurz nach vier, und täglich wurde es früher dunkel. Dann kam ich über die verstaubte Schnellstraßenbrücke auf die Zielgerade, die mich dorthin brachte, wo G. und ich rein zufällig ein Zuhause gefunden hatten. Wir lebten mit allen Sinnen. Ich sehe die Gegend noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Die Straße mit dem Namen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die schmalen Ladenfronten aus altem Eisen. Der Lebensmittelladen an der Ecke, dessen Existenz von Milchpreiserhöhungen und Lotterielosen abhing. Die unbebauten Grundstücke, die, solange Sommer war, als Baseball-Parkplätze tausend Dollar am Tag einbrachten. Das leerstehende Lagerhaus, das kurzfristig als Kneipe florierte, in der Jugendliche auf der Suche nach chemisch gesteigerter Authentizität sich trafen, beim Pogo ineinanderkrachten oder auf den Boden starrten, als sei dort, in den Fußspuren der mit Designerdrogen vollgepumpten Tänzer, der Sinn des Lebens zu finden. Das Viertel, die Straße, unsere Wohnung: das alles gibt es noch. Aber die Stadt, in der wir diese Jahre verbrachten, wird, je weiter ich mich von dem entferne, was wir einmal unser Zuhause genannt haben, immer stilisierter, immer schwerer vorstellbar. Und wir haben uns dort wirklich für eine Saison zu Hause gefühlt. Wir hätten dort für immer unser Zelt aufschlagen können. Dort gehörte ich hin, jedenfalls mehr als in eins dieser Spielzeughäuschen, die in meinem Album mit verblichenen Schwarzweißfotos wie Hintergrundprojektionen hinter mir und 137
meinen Brüdern und Schwestern zu sehen sind. Und G.: auch C. hat eine Zeitlang dort gelebt. Zum erstenmal, seit sie gelernt hatte, Pläne zu machen, spielte das Resultat keine Rolle. In B. war alles Kostüm. Eine Oldies-Party. Für zwei Jahre – einen langen Urlaub – fand sie ein Traumgebilde, das zu ihr paßte.
Aber C. bekam Heimweh. Das war unausweichlich. Wie konnte irgendein Ort mit einem Phantom konkurrieren! Wir lebten erst einige Monate in B., als wir erfuhren, daß C.s Eltern nach Limburg zurückgehen wollten. Beide hatten sich zur Ruhe gesetzt. Ihr Werktag war vorbei. Ein Viertel-Jahrhundert Provisorium an der South Side von Chicago war genug. Zeit für Resignation und Heimkehr. C. machte sich Vorwürfe. Hätte sie zu ihnen gehalten, wären die Eltern wohl niemals weggegangen. Zwanzig Jahre und mehr hatten keine dauerhafte Bindung hergestellt; nichts hielt sie dort. Nur die Kinder, und die drei waren bereits über die ganze Landkarte verstreut. C.s Eltern wollten sehen, ob die kleine Stadt E. noch existierte, falls sie je existiert hatte. Die Nachricht schmetterte C. nieder. »Was bin ich für eine entsetzlich schlechte Tochter!« Sie erwartete, daß ich ihr zustimmte. Daß ich ihr das ausredete. Schuldgefühle waren ihr Teil des Hin und Her, durch das C. und ihre Mutter sich hetzten. Dabei ging es nicht darum, ob sie einander liebten, sondern ob Liebe überhaupt genug war. Sie ließen sich keine Ruhe, stellten sich auf die Probe, beschuldigten sich, verteidigten sich. Dieses endlose Suchen danach, wer den anderen verraten hatte, war für sie beide die Hölle. Jene Art von Hölle, die eines Tages, wenn alles beigelegt wäre, um so schmerzlicher empfunden würde. Dagegen C.s Vater: bei jedem ihrer Ausbrüche verzog sich 138
Pap mit einem Liedchen auf den Lippen ins nächste Hinterzimmer, um etwas zu reparieren. Ich fragte mich, wie dieser alte holländische Eisenbahnarbeiter mit seiner unsauberen Chicagoer Ausdrucksweise sich jemals wieder in einer Provinz einleben sollte, deren wichtigster Wirtschaftszweig seit der Schließung der Kohlenzechen die Altenfürsorge war. Er war schon einmal fort gewesen, in einem deutschen Zwangsarbeitslager. Ich hatte immer geglaubt, diese erste Deportation sei der Grund für seine Auswanderung in die Staaten gewesen. C. war ein Bestechungsgeschenk, das ihre Mutter an dieses Land binden sollte. Ein Baby für eine längst nicht mehr junge Frau. »Ich bin schuld, Rick. Ich bin schuld, daß sie damals überhaupt weggegangen sind. Und jetzt bin ich schuld, daß sie noch einmal ihre Zelte abbrechen. Schrecklich. Sie sind doch so alt, Beauie. Wie sollen sie denn alle ihre Habseligkeiten in die Umzugskisten packen …? Und wenn sie wieder zurück sind, schaffen sie’s nicht mehr. Niemals.« »Dreh jetzt nicht durch«, sagte ich. »Die beiden haben nie aufgehört, dort zu leben.« Männer taugen nichts; sie denken immer, es geht um das, wovon gesprochen wird. »Sie werden es schon schaffen«, redete ich ihr zu. Das letzte, was C. nötig hatte. »Sie haben zwei Dutzend Brüder und Schwestern. Sie haben mehr Nichten und Neffen, als wir Kakerlaken haben. In fünf Jahren haben sie vergessen, daß es diesen Kontinent je gegeben hat.« »Genau das befürchte ich ja.« C. fühlte sich für ihren eigenen Weggang bestraft. Die Bande meiner verfluchten Familie hatten sich seit dem Tod meines Vaters erfreulich gelockert. Weshalb es mich überraschte, wie verzweifelt jemand ob der Aussicht sein konnte, die Seinen nur noch ein- oder zweimal im Jahr zu sehen. C. bekam Hautausschlag und Brechanfälle. Der Arzt verschrieb ihr ein beliebtes Beruhigungsmittel. Ich selbst konnte ihr offenbar gar nicht 139
helfen. Ich konnte mir nur ihre Geschichten anhören. Fieberhaft zerrte C. alle Geschichten hervor, mit denen ihre Mutter sie erzogen hatte. Diese Geschichten handelten alle vom Krieg. Immer lief es darauf hinaus. Wie die Deutsehen die Glocke aus dem Kirchturm stehlen wollten, um sie einzuschmelzen, und wie etwas wie Gott sie daran gehindert hatte. Wie ihre Mutter einen jungen Wehrmachtsangehörigen, ein Kind noch, gepflegt hatte, eine Geschichte, über der sich C.s Eltern fast noch vor der Hochzeit entzweit hätten. Wie Freunde ihres Vaters im Arbeitslager sich zusammentaten und sich parodistische Hitlerbärtchen wachsen ließen. Wie ihm die Flucht gelang, wie er seinen Verfolgern entkam, indem er aus dem hochgelegenen Fenster eines Bauernhauses sprang und mit gebrochenem Bei, in die Nacht davonhumpelte. Wie die Regierung im Norden Die Nachtwache in den Mergelgruben unter Maastricht versteckte. Wie C.s Onkel, den man während der Besatzungszeit gezwungen hatte, seine Kumpels in den Kohlenzechen zu bewachen, in der Nachkriegshysterie wegen Kollaboration vor Gericht gestellt und von seinen Freunden noch einmal ins Gefängnis geworfen wurde. Als ich in meiner Vorlesung einmal spontan danach fragte, konnten C.s Kommilitonen mit Treblinka nichts anfangen und nicht einmal genau sagen, wann dieser Krieg stattgefunden hatte. C. war das alles von Gesprächen beim Abendessen her vertraut. Als ob die Besatzung erst gestern geendet hätte. Falls sie da geendet hatte. Unser Leben in B. endete im Grunde mit dem ersten Anruf aus Limburg. Eines Samstagmorgens lag ich im Bett und hörte begeistert zu, wie meine C. in einer anderen Sprache sprach. Im Körper der Frau, mit der ich zusammenlebte, wohnte noch eine andere Frau. C. war mir entgegengekommen, sie hatte sich in eine Frau verwandelt, von der sie glaubte, daß ich sie lieben konnte. Wer diese andere war, hatte ich nicht die leiseste Ahnung. 140
Sie sprach einen Dialekt, der dahinströmte wie der sagenumwobene Bach durch E. Aus ihrem Mund kam eine unzerlegbare Flut von Phonemen. Erst sprach sie lange mit ihrer Mutter. Dann meldete sich ihr Vater, das Ohr am transatlantischen Gebührenzähler, zu einem Minutenwalzer in Prosa. Dann ein rundes Dutzend Tanten, jede mit einer Neuigkeit. Ich lebte mit ihnen allen zusammen, ohne es zu wissen. Ein Hagel von idiomatischen Abschiedsformeln, und C. legte erschöpft den Hörer auf. »Sie sind zu Hause«, sagte sie. »Komm mit. Nach draußen.« Ich legte eine Hand an die Fensterscheibe. Fast unerträglich kalt. »Nur wenn du ein braves Mädchen gewesen bist.« C. brach in Tränen aus. Ich gab mir alle Mühe, ihr zu erklären, daß ich nur einen Scherz gemacht hatte. Wir vermummten uns so warm wie möglich und gingen auf die Straße. Ihre Ziellosigkeit machte mir immer sehr zu schaffen. Doch inzwischen hatte ich gelernt, mir Fragen nach einem Ziel zu verkneifen. Alles sei noch genau wie früher, versicherte sie mir. B. würde auch weiterhin erträglich sein, solange wir nur unsere ausgedehnten ziellosen Spaziergänge fortsetzten. An diesem Tag landeten wir in ihrem geliebten Park, der jetzt im Winter menschenleer und zugefroren war. Am Tag darauf besuchten wir wie gewohnt unsere Kantate in der Kirche, in der schon viele Jahre vor unserer Ankunft einmal wöchentlich eine gesungen wurde und auch noch gesungen werden würde, nachdem wir längst für immer außer Hörweite geraten wären. Alles sei gut, gab sie mir zu verstehen, solange wir nur nicht untätig würden. An den Abenden beschäftigten wir uns mit Brettspielen oder sangen Lieder, die ich für C.s perfekte klare Altstimme schrieb. Wir liehen von Freunden einen Schwarzweißfernseher mit Stanniolantenne und sahen uns alte Filme an. Nach und nach überzeugte mich C., daß es seit 1939 mit dem Film nur noch bergabgegangen war. 141
Nachts lasen wir einander vor – noch mehr Biographien, historische Werke, Sagen –, ohne festen Plan, nur zum Vergnügen. Alles war gut, solange wir uns so oft wie möglich außer Haus aufhielten. Samstagvormittag hatte C. im Museum frei. Sie war die einzige Frau der Welt, die sich in ihrer Freizeit dieselben Gegenstände ansehen wollte, vor denen sie gerade erst eine Vierzigstundenwoche verbracht hatte. »Das ist nicht das gleiche, Beau. Die Bilder sind viel interessanter, wenn man nicht auf sie aufpassen muß.« Wir wollten uns die erste amerikanische Retrospektive eines deutschen Fotografen ansehen, den wir beide nicht kannten. In dieser Sonderausstellung hatte C. noch keinen Dienst gehabt. Also am Samstag. Wir überquerten den Sumpf, den B.s Kulturträger vor einem Jahrhundert von den Holländern hatten trokkenlegen lassen. Wir schlenderten in die Ausstellung und kamen um eine Ecke. Dort wartete mein Foto auf mich, auch wenn ich in keinem möglichen Leben damit gerechnet hätte. Erstes Bild an der Wand zur Linken, unmittelbar hinter der Tür. Die Geometrie dieses Raums hat sich mit dem Grundriß meines Hirns verschmolzen. Ich fand mich von Angesicht zu Angesichtern drei jungen Männern gegenüber, die mich betrachteten. Sie hatten zwei Drittel eines Jahrhunderts darauf gewartet, daß ich vorbeikam und hinter der Schulter des Fotografen in ihr Blickfeld geriet. Das Foto selbst nahm sein zufälliges Gewahrwerden vorweg. Die drei Männer waren im voraus so aufgestellt, wie ich sie eines Tages sehen würde. Und mit einemmal schien es, als fänden alle Bücher, an denen ich herumgestümpert hatte, alle unsere wahllosen Vorlesungen, die lange Liste irrelevanter Klassiker, die ich für mein Examen auswendig gelernt hatte, die Schlenker, die unser beider Lebensgeschichten gemacht hatten, als fände das alles seinen rückwirkenden Sinn in dieser einen aus der Vergangenheit herübergeschickten Erinnerung. Die jungen Männer waren C.s Großvater und zwei Großon142
kel auf dem Weg zum Kirchweihfest, einem dieser huwelijksfeesten, von denen sie mir erzählt hatte. So sagte es die Linse. Der Text zum Bild sagte etwas vollkommen anderes. Deutsche Bauern auf dem Weg zu einer Tanzveranstaltung, 1914. Die falsche Feier. Die falschen Gäste. Aber so ziemlich dasselbe Familienalbum. Mit Schrecken erkannte ich etwas wieder, das ich mit Sicherheit noch nie gesehen hatte. Jeder Text, den ich je gelesen hatte, bildete eine unendliche konvergierende Reihe, die lautstark nach dem immer wieder Verlangten verlangte, nach dem offenkundigen nächsten Wort. In diesem schmalen Raum zwischen dem, womit sich das Bild befaßte, und dem, was der Bildtext benannte, hatte ich meine Geschichte.
Am folgenden Montag ging ich in meine Redaktion und kündigte zum nächsten Termin, in zwei Wochen. C. bestärkte mich nachhaltig darin. »Beau, wenn man eine Berufung spürt, ist es einem gleichgültig, wie sich das auf den Lebenslauf auswirkt.« Unser Erspartes hatte sich nach einem Jahr Arbeit verdoppelt. Wir hatten ein wenig Zeit. Wir konnten uns ein Risiko leisten. Tatsächlich wäre C. ein viel tieferer Sprung ins Gefährliche lieber gewesen. Noch hatten wir alle möglichen Sicherheiten. Ich konnte notfalls auf meine Programmierkenntnisse zurückgreifen. Wenn das Konto in die Gefahrenzone geriet, nahm ich einen Job als freier Mitarbeiter. Zum Beispiel bei der Konstruktion jener intelligenten Haushaltsgeräte. Oder ich schrieb ein Aktienhandelsprogramm für einen im Exil lebenden Prinzen, der etliche Millionen Dollar brauchte, um in seine Heimat zurückzukehren und dort Wahlen zu finanzieren. Wie er erklärte, können »solche Dinge sehr kostspielig sein, Rick«. Das Schreiben beglich alle Kosten. Zumindest stellte ich es mir so vor. Ich muß dieses Buch geschrieben haben, um C. 143
wieder froh zu machen. Ich sage »wieder«, aber vielleicht ist sie es nie gewesen. Vielleicht braucht man, um Freude zu empfangen, eine Nachsendeanschrift. Vielleicht hat der Tod des polnischen Jungen sie darum betrogen, lange bevor ihre ungeborene Seele sich für einen Erdaufenthalt anstellte. Ihr flüchtiges Dasein bot meinem Kopf ein Ruhelager. Von Anbeginn definierte C.s geometrischer Ort in Nichtzeit und Unraum die Koordinaten auf der Ebene meiner Phantasie. Deswegen machte das Leben mit ihr mich zu einem ganzen Menschen. Deswegen hatte ich in ihrer Gegenwart stets das Gefühl, zur Ruhe zu kommen, zu einem Anderssein zurückzufinden, von dem sonst niemand etwas ahnte. Sie war das Hypothetische meines Vormittags. Solange ich sie liebte, bekundeten die Gegebenheiten meines Tages nur wenig Konventionalität. Hier und Jetzt verkehrten sich im konvexen Spiegel ihrer Augen auf erträgliche Weise. Wir können niemals etwas anderes tun, als denen, die uns ein Wort in die Hand gelegt haben, eines zurückzugeben. Ich glaubte mich an einen Ort schreiben zu können, an dem meine Freundin C. leben konnte. Ich verwendete jedes greifbare Material: das verschwundene Limburg, von dem sie mir so viel erzählt hatte. Ihren synaptischen Plan der von einer Mauer umschlossenen Stadt Maastricht. Die zahllosen Vettern und Kusinen, die mir ins Gehirn stiegen wie nächtliche Diebe auf Fahrrädern. Die Anthologie, die durch jeden Einlaß, nur nicht den der Erfahrung, in mich hineingeschüttet worden war. Das Zerreißen der Zeitlinie an den Wänden unseres Zimmers. Die Eltern, die Onkel in den Klauen verschiedener Nationen. Die zu ewigen Gewalttätigkeiten eskalierte Invasion von Trois Vierges. Viel zusammenraffen und wenig auslassen. Der totale Krieg, immer derselbe Krieg, der das freie Hin und Her des Lebens über die Grenze zum Erliegen brachte. Ich hatte bereits alle Zutaten für ein spannendes Buch. Das 144
Geheimdokument, das vertriebene Leben wieder in den alten Rahmen setzte. Die Insel der Auswanderer in Chicago. Unsere Wohnung in B., mit ihrem Hof und den seekranken Tonleitern des Saxophons. Eine Zufallsreise mit dem Zug zu meinem Bruder nach Detroit. Immer, immer dieses unsichtbare Dorf, dieses Dorf, das die Zeit zu Klump geschossen hatte. Die weiße Schraffur aus Kreuzen und die Dörfler, die sich freiwillig zu ihrer Pflege meldeten. Und dieser Blick zurück, über die Schulter. Die dreifach angehaltenen Leben, auf dem schlammigen Weg in langer Reihe eines Menschen harrend, der ihre Geschichte aufgreift und weiterführt.
Ich schrieb über C.s Heimatland, ohne es je gesehen zu haben. Ich benutzte ihre Sprache, Bruchstücke davon, nur mit Hilfe von C. selbst, die niemals etwas anderes als den intimen Dialekt der Familie gesprochen hatte. Ich beging den typischen Anfängerfehler, an dem kein Erstlingsautor vorbeikommt. Im Grunde meines Herzens wußte ich, daß ich nie eine zweite Chance haben würde, ein Buch zu schreiben. Um diesen Luxus würde ich C. nicht noch einmal bitten können. Es war eine einmalige Sache, und um ihren Glauben an mich wiederaufzurichten, mußte ich in meinen Vortrag alles hineinpacken, was ich wußte. Alles, was sie mich gelehrt hatte. Ihre Ersatzheimat mußte so weitläufig, so undurchquerbar geschildert werden wie dieses atlantische Jahrhundert. Wenn wir nur diesen einen Tanz hatten, sollte die Musik dazu mit vollem Orchester spielen. Ich glaube, es gibt zwei Arten von Liebesbriefen. Wer nach den ersten drei Worten nicht fertig wird, muß endlos weitermachen. Auch das hat C. mich gelehrt. Verzweiflung ist stets bewegender als Besonnenheit beziehungsweise für die angesprochene Person zumindest leichter erkennbar. 145
C. verdiente das tägliche Brot, während ich einsam vor dem anschwellenden Stapel handbeschriebenen kanariengelben Schreibpapiers saß. Wenn ich ein Kapitel fertig hatte, las ich es ihr vor. Sie kam nach Hause, aß, was ich ihr zubereitet hatte, und machte es sich dann erwartungsvoll bequem. Nahe bei mir. C. war ein wenig schwerhörig; in den Vorlesungen setzte sie sich immer in die erste Reihe. Besonders in meinen. Ich weiß nicht, wer nervöser war, der Vortragende oder das Publikum. Kapitel eins, versicherte ich ihr. Ich rüste mich zu einer Reise nach St. Ives. Ich wußte, das Buch würde nie einen Verleger finden. C. war mein einziges Publikum. Ich schrieb allein dafür, wie ihr am Ende eines Kapitels die Augen feucht wurden. Wie sie ein Ja nickte, eine Hand auf die Brust legte, aus dem Bett stieg und mich auf dem Stuhl, auf dem ich ihr vorlas, in die Arme nahm. Aber dieser Zauber hätte nicht funktioniert, wäre ihr privater Überlebenscode nicht mit einem öffentlichen Schlüssel versehen gewesen. Die Erzählung mußte offen genug sein, daß sie den zufällig von der Linse erfaßten Museumsbesucher ansprechen konnte. C. allein kannte den Ursprung all dieser verschachtelten Bilder. Diese mit ersten Entwürfen zugebrachten Abende werden nicht wiederkommen. Nie mehr, niemals mehr diese schlichte Leidenschaft. Wir verloren sie in dem Augenblick, da ich ihr das Geschenk überreichte, in der Sekunde, da ich ihr den Epilog vorlas. Als ich Jahre später die ersten Einladungen erhielt, vor Sälen voll absolut Fremder zu lesen, brachte ich nie den Mut dazu auf. Gelegentlich gingen wir, wenn ich C. ein Kapitel vorgelesen hatte, danach ins Bett. Wir stiegen übereinander; gebräunt, erschreckend jung, verletzlich, erkundeten wir die traurigen Distanzen und wärmten uns, wenn die Heizung ausgegangen war. Einmal, als ich das Muttermal auf ihrem Kreuz geküßt hatte, erschien mir dies als der Sinn der Literatur. Ich konnte mir kein 146
Buch vorstellen, das nicht entweder davon ausgelöst oder dafür oder darüber geschrieben war. Die kunstvolle Verführung des bereits Erlangten. Die Wiederaufforstung der Wüsten der Zeit, das einzige Biotop, in dem die Liebe nicht aus Mangel an Schutz ausstirbt. Ich sehe dieses Muttermal mit offenen Augen vor mir, heute, aus fünfzehn Jahren Entfernung, deutlicher als damals, als ich es unmittelbar vor Augen hatte. Mit Sex entgalt sie, daß ich sie aufschrieb. Mein schwaches Dankeschön für ihre Quellen. Und die Geräusche, denen wir damals lauschten, die Töne, die wir einander im Dunkel des Winters zuriefen, waren die Vokale, zu denen alle Geschichten zurückzufinden suchten. Danach schliefen wir regelmäßig ein, ihr Rücken an meiner Brust, zwei Löffel in der Küchenschublade einer verlassenen Hütte. C. war einen Kopf kleiner als ich. Aber wenn wir so lagen, machte uns die Trigonometrie gleich groß. Das Buch wurde ein Mysterium. Ein längst feststehendes Ereignis. Je deutlicher C. seine überraschende Unausweichlichkeit wahrnahm, desto gespannter wartete sie auf die nächste Fortsetzung. Jedes erzählerische Rätsel, jedes geistige raadsel war ein Krawattenknoten, den ich ungeschickter Jungpfadfinder nur band, damit sie das Vergnügen hatte, ihn aufzulösen. Scherze machten sie glücklich. Ich stopfte meine Absätze voll mit sämtlichen alten Witzen, die mir einfielen. Vor jedes neue Kapitel setzte ich ein Motto. Dazu übertrug ich aus meinen Notizbüchern Zitate, die ich mit denselben plumpen Fingern erst kürzlich eingetragen hatte. Dieses Buch ist die Tanzordnung der Ideen, die wir im Vorsaal unseres gemeinsamen Lebens geteilt hatten. Eine Tanzordnung, auf der die Namen der Partner bereits vorgedruckt waren, eine gegebene Tatsache. Und ich notierte lediglich die Schritte, die ideellen Bewegungsfolgen der Tänze jenes Abends, an dem C. meine einzige Partnerin war, die ledige Museumswächterin aller meiner Gedanken. 147
Manchmal wurden daraus tatsächliche Schritte. Eines Abends las ich ihr ein so kurzes Kapitel vor, daß uns mehr Zeit übrigblieb, als selbst die Liebe auszufüllen vermochte. Sie hatte gut zugehört; es war Zeit für einen Spaziergang. Wir zogen los, bummelten langsam und bedächtig die Allee hinunter, die entlang der Straßenbahn in die Vororte führte. In diesem Kapitel hatte mein technischer Redakteur, so alt wie ich und in einer B. sehr ähnlichen Stadt lebend, seine nach Chicago ausgewanderte Mutter besucht, um bei ihr auf dem Dachboden nach geheimnisvollen Familiendokumenten zu forschen, die ihn mit einer unbekannten Vergangenheit verbanden. Diese Heimreise machte C. gesprächig. »Der Mann gefällt mir«, sagte sie. »Auch die litauischen Graffiti auf den Bürgersteigen gefallen mir. Weißt du überhaupt, was für ein Gefühl das ist, als Welpe unter Geiern aufzuwachsen?« »Erzähl es mir.« Sie seufzte schwer. »Ich bin auf mehr polnischen Hochzeiten gewesen, als ich zählen kann.« »Nun, dein Talent für Zahlen kennen wir ja.« Sie lachte und unternahm einen Flankenangriff. »Laß das, du. Tanzen wir lieber eine Polka.« »Ich fürchte, die Polka ist bloß ein bißchen Lokalkolorit aus Washington Square.« »Du brauchst nichts zu fürchten«, schnurrte C. Manchmal war sie kokett. Lustig. Das hatte ich vergessen. »Hier. Ich zeig’s dir.« Sie tanzte es mir vor. Ich ein komischer Mensch, ein Krüppel, eine Witzfigur. Aber sie hielt zu mir. Von all den unzähligen Dingen, die C. mich gelehrt hat, war diese Polka vielleicht das Beste. Ich lernte sie an Ort und Stelle, als wir auf diesem Weg umhersprangen, ein Pärchen in Parkas, verrückte Polen unterwegs in die arktische Finsternis.
148
Es
macht mich traurig, Beau«, sagte sie an einem anderen Abend, etwa nach der Hälfte eines neuen Kapitels. Ich geriet mitten im Satz in Panik. »Was denn? Stimmt was nicht! Ich kann’s noch ändern. Keine Sorge; es geht gut aus.« »Das doch nicht, Dummkopf. Es macht mich traurig. Du hast diese – Arbeit. Und ich habe gar nichts.« »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, es gefällt dir, diese Uniform anzuziehen.« »Ja, früher mal. Und es ist immer noch der beste Job der Welt. In gewisser Hinsicht.« »Und was stimmt dann nicht?« Sie wußte es nicht genau. Die Bilder mochte sie immer noch. Aber sie hatte sie zu oft gesehen, sie verliefen ihr ineinander. Es machte sie benommen, so lange an einem Fleck zu stehen. Ihr Chef wurde immer unheimlicher. Es war ihr peinlich, sich anderen erklären zu müssen. Sie schämte sich, weniger zu tun, als sie könnte. »Vielleicht sollten wir uns nach einem neuen Job umsehen?« Das »wir«, das ihr solche Opfer abverlangte. »Es ist Winter. Niemand stellt neue Leute ein. Außerdem, was kann ich denn schon?« »Hm, keine Ahnung. Alles. Wenn dein jetziger Job dich verrückt macht –« »Ich weiß, ich weiß. Das Geld allein reicht mir nicht. Aber ich habe keinen Ehrgeiz, das ist das Problem. Setz mich auf einen Teppich, und ich steh’ nie wieder auf.« »Setz mich nach draußen auf den Rasen, und ich werde heulen?« Sie umwölkte sich. »Das ist nicht lustig. Schade, daß ich dir das Bild gezeigt habe.« Ich kitzelte sie, um noch einmal diesen kindlichen Ausdruck hervorzubringen. »Laß das!« »Ich werde dir einheizen.« »Nicht, Beau. Jetzt nicht. Ich meine das ernst.« 149
»So ernst, daß wir nicht –« Das eindeutige Ja ließ mich mitten im Klischee verstummen. »Was hast du denn?« fragte ich. Schon bereit, tot zu sein. »Deine Geschichte.« Sie senkte den Blick, von mir weg. Überallhin, nur nicht nach mir. »Ich fühle mich so wertlos. Schrecklich, ich weiß. Haßt du mich jetzt?« Sie fand einen neuen Job. Ein Freund von mir aus der Computerwelt ertippte C. einen Zugang. Telefonistin in einem Maklerbüro. »Karriere werde ich da bestimmt nicht machen«, scherzte C. Aber es lenkte sie ab, dämpfte das Ichgefühl. Sie kam wieder angeregt nach Hause. Wenn ich ihr das Essen hinstellte, unterhielt sie mich mit Geschichten von exzentrischen Kollegen, die über verpaßte Chancen gifteten. Ihre Erzählungen aus dieser für das ausgehende zwanzigste Jahrhundert typischen Branche entzückten mich. Parasitäre Zwischenhändler, die Profit aus den Informationsleitungen angelten, aus Fernschreiberromanzen und Tragödien; die einen Hahn ins Rohrsystem schlugen und bei möglichst niedrigen Verlusten möglichst hohe Gewinne aus dem Kapitalfluß zapften. Also tat ich das einzig Denkbare. Ich begann von vorn und arbeitete ihr neues Material, so gut es ging, in das Buch ein. Der Markt und die verrückten Makler wurden zu einer weiteren Nebenhandlung. Ich schob sie zwischen Witze von der Front und Geschichten aus der Redaktionshöhle, zwischen Maas und Rhein, zwischen den Krieg und den auf Dauer militarisierten Frieden, zwischen die großen Persönlichkeiten und die ahnungslosen Leben, zwischen Märchenland und historische Tatsachen, Blende und Foto, damals und jetzt, schnöden Mammon und Museum. Was besagte das fertige Produkt? Daß, konfrontiert mit der Außenwelt, unser persönlicher Erfahrungsschatz das einzige ist, das uns ein wenig weiterhelfen könnte. Dieses Buch war nichts als ein strukturierter Brei aus allem, was ich jemals, von 150
C. oder im Ausland, gehört hatte. Ein Flickwerk, mit dem ich sie erfreuen und ablenken wollte. Das sie aber zufällig bei lebendigem Leibe auffraß. Der Schlüssel zu diesem Buch, das, worin ich seinen bleibenden Wert erblicke, ist die Tatsache, daß der dreifache Zopf – der magische driehoek des Fotos – nicht auf die erwartete Weise zusammenkommt. Die Linse hat ebensowenig das letzte Wort wie das Auge des Betrachters oder der über die Schulter des Fotografen hinter der Linse gerichtete Blick der drei jungen Männer. Das vorherrschende Tempus war das Präsens. Das Entscheidende an Geschichten war, was man daraus machte. Mit dem letzten Kapitel zerriß der Bann. Das wußte ich schon im voraus. Ich sparte mir alle Tricks für das Ende auf, um ihr das Herz zu brechen und sie für immer für die Gegenwart zu gewinnen. Freilich machte eine Rückkehr zum Gefühl alles nur noch schlimmer. Ich las ihr den Schluß vor. Diesmal blieb die Liebe danach stumm, die Haut zwischen uns eher ein Schlagbaum denn eine Einreisegenehmigung. »Was wirst du jetzt damit machen?« fragte C. »Weiß nicht.« Die Handlung hatte sich mir entzogen. War aus dem Rahmen gesprungen. »Verschicken, nehme ich an.« Ihre Zustimmung kam zu schnell. »Natürlich. Das mußt du.« Nur die übliche literarische Biographie hätte uns retten können. Fünfzehnjahre Wartezeit, bis man genommen wird. Stärker werden, einander näherkommen auf dem Berg von Ablehnungsschreiben, die wir zum Heizen verwendet hätten. Als wir die Nachricht bekamen, daß das Buch angenommen war, feierten wir. Unser Jubel hatte etwas Gezwungenes und Verunsichertes. C. nahm die Tugend der Begeisterung mit der gleichen Tapferkeit an, mit der sie bis dahin die einzelnen Kapitel bewältigt hatte. Aber es erging ihr wie einer Mutter, die ihr Kindergartenkind an den Talkshow-Zirkus verliert. Sie versuchte sich für den Produktionsprozeß zu begeistern. Sie stürzte sich hinein, war aber mit dem Herzen nicht mehr 151
dabei. Sie haßte die Verlagsmenschen, die in New York das Manuskript befingerten, sogar die Schriftsetzer. Es machte sie fertig, mit ansehen zu müssen, wie diese Bauern auf den brutalen Markt drängten. Wie sie sich den Reihen der Vertriebenen des Jahrhunderts anschlossen. Seitdem hörte sie nie mehr ohne Argwohn zu, wenn ich ihr vorlas, was ich geschrieben hatte. Von da an traute sie keinem Schluß mehr. Schlichte assoziative Tatsache: es war nicht einmal eine Frage des Erinnerns. Was für Chancen hat eine Erzählung gegen Neuronen, die aus einem Einzelfall generalisierende Schlüsse ziehen? In der Woche, in der wir das Erscheinungsdatum des Buches erfuhren, wurde C. eine bessere Stelle angeboten. Die Maklerfirma wollte sie zur Cheftelefonistin befördern. Der jähe, unvermutet schnelle Aufstieg überraschte niemanden außer C. selbst. Sie allein wußte nie, wie tüchtig sie war. Das Angebot hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. C. brauchte etwas, das ich ihr nicht geben konnte. Nach einer überhasteten dreiwöchigen Reise zu ihren Verwandten in Limburg war sie gereizter als je zuvor. Nicht einmal Spaziergänge funktionierten jetzt noch. Eine echte Karriere war womöglich nicht mehr als ein Wechselbalg. Aber auch ein untergeschobenes Kind kann Muttergefühle wecken. Sie hatte für die Entscheidung ein paar Tage Zeit. Wir verbrachten sie damit, ein Tauwerk aus Ermutigungen zu flechten. »Das schaffst du spielend. Sonst hätten sie dich nicht gefragt.« Als sie mit dem Entschluß, das Angebot anzunehmen, losgezogen war, bereitete ich ein Festmahl vor. Ich schmückte die Wohnung. Lustige Bildchen, die C. peitscheschwingend auf einer Pyramide von Maklern darstellten. Handgeschriebene Plakate: »Buchen Sie diese Kreuzfahrt« und »Rente mit 35«. Dann sah ich sie zurückkommen und erkannte, daß die geplante Feier ein entsetzlicher Fehler war. Sie stapfte die Treppe hinauf, knallte die Tür zu, lehnte sich mit ihren ganzen fünf152
undneunzig Pfund dagegen und schluchzte. »Beauie, wir müssen weg von hier.« Ich wollte sie in die Arme nehmen und die üblichen sinnlosen Trostsprüche aufsagen. »Na schön«, bekam ich heraus. »Ich bin dabei. Wohin?« Das allerletzte. Schlimmer, als ich erwartet hatte. »Ich will zurück nach U.«
Inzwischen
machte Imp B kleine Fortschritte. Zwar hatte es keine Ahnung, was Katzen oder Säcke eigentlich waren, von Frauen ganz zu schweigen. Aber offenbar konnte es dergleichen zählen oder, je nach Lage des Falles, nicht zählen. Während A eine Übung im Erkennen von Wortmustern gewesen war, handelte es sich bei B um einen Ausflug in komputationale Linguistik. Es kannte Dinge wie über und unter, rechts oder links, innen und außen. Aber selbst dann noch hatte ich Zweifel, ob es diese Worthülsen wirklich verstand oder ob es sie nur klug genug manipulierte, daß es so aussah als ob. Andererseits kamen mir Zweifel, ob ich selbst in der Lage wäre, den Unterschied zu erklären. B konnte mit Syntax umgehen. Es hatte einen embryonalen Sinn für die einzelnen Wortarten und dafür, wie sie auf einander einwirkten. Und allmählich überschritt es die Schwelle zu semantischem Inhalt. Um weitere Operationen zu ermöglichen, schloß Lentz das eine oder andere zusätzliche Gerät an – einen Decoder für substantivische Satzteile, eine AdhocMustererkennung oder ähnliches. Tatsächlich waren wir inzwischen wohl bei Imp B.4 oder höher angelangt. Lentz versicherte mir, B wisse mit seinen virtuellen Kenntnissen umzugehen. Die Koordinaten, die übernommenen Klassifizierungs- und Ausnahmeregeln, die Routinen: das alles ergebe sich als Resultat aus der Methode, mit der B assoziierten 153
Input speichere. Aber selbst auf den winzigen Gebieten, die es beherrschte, mußte B mit lähmend vielen verschiedenen Arten von Wissen fertig werden. Allem beim Thema Substantive unterschied sich das, was man mit »Muster« machen konnte, unendlich von dem, was man mit »Anpassung« oder »Maschine« machen konnte. Ich wußte längst nicht mehr, über wie viele Neuroden wir verfügten. Die Zahl war groß geworden, das Ganze unvorstellbar komplex. Kleinste Defekte warfen uns jetzt für ganze Tage zurück. Das Ding war ein Monster, chaotisch, nicht mehr darstellbar, außer Kontrolle geraten. Und dennoch war Lentz’ Gehirn, oder meins, zighundertmillionenmal größer als das von Imp B. Wir konnten die Sache noch ein wenig vorantreiben, wenn auch nur gerade so. Wir experimentierten immer noch mit der Größe der Schichten. Größer sei nicht immer besser, belehrte mich Lentz. »Das Leben, Marcel, besteht aus Kompromissen, falls Sie von der humanistischen Fraktion das noch nicht begriffen haben sollten.« »Doch, soweit sind wir auch schon.« »Na denn. Kompromisse bei der Größe der Inputschicht. Je kleiner die Schicht, desto besser kann das Ding verallgemeinern. Je größer, desto besser kann es sich auf ein Assoziationsgitter einstellen.« »Je besser es verallgemeinern kann, desto schlechter kann es sich neue Assoziationen aneignen?« »Der Dichter ist ja ein kleines Genie. Jetzt wissen wir, womit Sie Ihr Stipendium verdient haben.« »Folgt daraus, daß es um so weniger neues Wissen aufnehmen kann, je mehr es weiß?« »Das fängt schon ungefähr mit fünfunddreißig an, Marcel. Dann denkt man plötzlich: ›Jetzt verstehe ich also ungefähr, wie der Hase läuft. Aber will ich wirklich Zehntausende von halbgaren verhedderten Meinungen auseinanderklamüsern, 154
bloß auf die entfernte Möglichkeit hin, daß ich vielleicht zufällig einen einzigen kleinen Wahrnehmungsausschnitt etwas besser in den Blick bekommen könnte?‹« »Erzählen Sie mir davon. Ich bin soweit.« »Keine Bange, Kleiner. Sie haben noch etliche Tricks zu lernen. Und noch ein paar Jährchen Zeit dazu. Seien Sie froh, daß ich Sie genommen habe. Aristoteles würde niemals einen Schüler akzeptieren, der noch so jung ist, daß er sexuelle Bedürfnisse verspürt.« »Damit habe ich im Augenblick keine Probleme.« An Tagen, an denen sich Lentz mit Konstruktionsfragen beschäftigte, wurde er mitteilsam, ja geradezu liebenswürdig. Wenn er etwas konstruierte, machte es richtig Spaß mit ihm. Ich versuchte darauf zu achten, daß er die Lötpistole nicht aus der Hand legte, und seine Sticheleien, so gut es ging, zu ignorieren. »Also: wie sieht’s mit der Größe der verborgenen Schichten aus? Sollten die größer oder kleiner als die Inputschichten sein?« »Tut mir leid. Ich bin überfragt. Wir werden wohl alle Möglichkeiten durchspielen müssen.« »Nun überlegen Sie doch mal. Denken Sie an die Übertragungsimpedanz. Der nächste Kompromiß. Je besser die Auflösung, desto empfänglicher wird das Netz für Nebengeräusche. Denken Sie sich B als Näherungswert …« »Ist das alles, was unsere Gehirne sind? Näherungswerte?« »Ihr ›alles‹ können Sie groß schreiben, Freund. Der Wert, dem wir uns zu nähern trachten, bewegt sich auf einer unendlich langen Kurve. In ebenso vielen Dimensionen. Daß wir in dem unendlichen Datenstrom überhaupt zusammenhängende Teile erkennen können, hat mit so viel natürlicher Intelligenz ausgestattete Menschen wie Ihren Freund Plover zu Mystikern werden lassen.« »Aha. Jetzt wird mal wieder Harold verleumdet.« 155
»Das ist keine Verleumdung. Der Mann erklärt sich ja öffentlich. ›Aus einer gegebenen Sprachstruktur ableitbare Bedeutungen sind womöglich weder konvergent noch begrenzt noch rekursiv abzählbar.‹ Oder ähnlichen Quatsch. Anscheinend meint er, weil ›Kontext‹ endlos dehnbar ist, kann es kein neurologisches Interpretationskalkül geben.« »Und Sie, Ingenieur?« stichelte ich und wartete, bis er, die Hände voller gedruckter Schaltungen, mit dem Kopf halb im Kasten verschwunden war. »Glauben Sie, nur weil Sie tugendhaft sind, hat das Leben keine angenehmen Seiten mehr?« »Also wirklich, Marcel. Was soll das denn heißen?« »Keine Ahnung. Fragen wir Harold.« »Hm. Kehren wir lieber zum Thema zurück. Manchmal kommt mir das menschliche Gehirn bloß wie eine lange offene Parenthese vor. Und jetzt sagen Sie mir: Wie groß wollen Sie Ihre diversen Outputschichten haben?« »Das dürfte von der Größe der Antworten abhängen, die wir von irgendeinem bestimmten Subnetz erwarten.« »Sehr gut. Sie werden ja immer schlauer. Demnächst können Sie sich um ein Förderstipendium bewerben.« Lentz’ Sarkasmen milderten sich mit der Zeit. »Würden Sie dann auch zugeben, daß viele unserer Outputschichten theoretisch aus einer einzigen Neurode bestehen könnten, und zwar gemäß der Annahme der Cyborgs, daß jede Frage auf eine Reihe von Jaoder-Nein-Fragen zurückführbar ist?« »Wenn das bloß mal die Literaturkritiker kapieren würden.« »Tja. Praktisch, wie? Räumt einiges aus dem Weg.« »Ingenieur, darf ich Sie was fragen? Wenn Sie weder Mystiker noch Cyborg sind, was für ein Geschöpf sind Sie dann eigentlich?« »›Geschöpf‹ ist mir zuviel gesagt, Marcel. Ich schätze, ich bin ein Haufen kleiner Delta-Regeln, die sich periodisch evaluieren und auf den neusten Stand bringen.« »Erzählen Sie mir was anderes. Ich glaube, das gefällt mir 156
nicht.« Wir arbeiteten schon mit Millionen von Verbindungen, als B sich endgültig festfraß. Wir hatten so viele umständliche Erweiterungen angefügt, so viele Fehlerquellen notdürftig überbrückt, daß ich diesen Kollaps zunächst als gar nicht so fatal betrachtete. »John ist ein Bruder von Jim«, erklärte ich B. Es wandelte die Information in einen Strom hieroglyphischer Vektoren um, die seine Anlage unmerklich veränderten. »Wer ist Jims Bruder?« »John«, antwortete Imp B. Wackerer Ritter. Es leistete bereits mehr als manche Aphasiker. »Wer ist Jim?« »Johns Schwester.« So weit, so gut. Mit dieser Antwort konnte ich leben. Mehr noch, ich lernte daraus einiges über meine Wahrscheinlichkeitsmatrix. Dann: »John gibt Jim Äpfel. Wer bekommt Äpfel?« »Jim bekommt Äpfel.« »Von wem werden Jim die Äpfel gegeben!« »Von John werden Jim die Äpfel gegeben.« »Jim ißt einen Apfel. Der Apfel ist sauer. Jim wirft die anderen Äpfel weg. Warum wirft Jim die anderen Äpfel weg?« Diesmal brauchte B unerträglich lange. Schließlich kam etwas wie: »Jim wirft die anderen Äpfel weg, weil die Äpfel von John gegeben sind.« »Nein«, sagte ich oder etwas in der Richtung. »Noch mal von vorn. Warum?« »Jim wirft die Äpfel weg. Sie will sie nicht.« Eine halbwegs akzeptable Antwort. Vielleicht war irgendwo in diesem stillschweigenden Schluß so etwas wie Verständnis verborgen. Vielleicht aber auch bluffte das blöde Ding nur. Diese Vagheit deprimierte mich; der begriffsstutzige Neuling in der Kinderstunde, von Geburt an zu einer Karriere im Fastfood-Wesen verdammt. 157
»Warum will sie sie nicht?« »Sie ißt sie nicht. Also kann sie sie nicht wollen.« Diese absonderliche Protointelligenz war von Vernunft so verschieden, daß mir der Schädel dröhnte. Aber immerhin lag die Antwort noch innerhalb eines annehmbaren Spielraums. Sodann quälte ich B mit folgendem: »Jim schlägt John. Warum schlägt Jim John?« Das Ding bekam einen seiner erdrückenden Anfälle. Es rechnete den ganzen Nachmittag, fing immer wieder von vorne an und raffte wahllos tausend mögliche, aber schiefe Assoziationen zusammen. Wild spekulierend versuchte es ein Sprichwort, das wir ihm in der Woche zuvor eingehämmert hatten. »Jim schlägt John, weil der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Auf weiteres Drängen gab es schließlich gar keine Antwort mehr. Irgendein entscheidender genetischer Defekt lag jenseits von B’s Bearbeitungsfähigkeit. Es konnte nicht sagen: Johns Apfel haben Jim wütend gemacht oder Einfach so, ohne Grund oder Möglicherweise hatten die beiden einen Streit, von dem ich nichts weiß. Es konnte nicht einmal sagen: Ich weiß es nicht. Es fehlte ihm an so etwas wie der Metafähigkeit, den semantischen Schlagabtausch aus einem gewissen Abstand heraus zu analysieren. Es konnte nicht einmal den kleinsten Sprung über die Diskursebene hinaus machen und sich selbst von oben betrachten. B redete zwar gewissermaßen, besaß aber keine Sprache. Sein Hirn versagte in jenem Piagetschen Stadium, in dem das Spielzeug verschwindet, wenn es hinter den Wandschirm gelegt wird. Es konnte keine Begriffe hin und her bewegen. Nur Dinge. Und diese Dinge mußten immerzu sichtbar sein. Irgend etwas stimmte nicht damit, wie B symbolische Zeichen zwischen seinen Schichten weiterleitete. Vermutlich konnte es endlos Wissensstrukturen wuchern lassen, fruchtbar 158
wie ein mit begrifflichem Dünger bestellter Acker. Aber sein Wissen über das Wissen würde ewig gleich Null bleiben. Da konnte Lentz so viel flicken und basteln, wie er wollte. B’s Manko war offenbar ein Nebenprodukt der Kommunikationsweise seiner einzelnen Netze, das heißt der Verbindungswege des von uns angelegten Schaltbildes. Wir schoben das Unausweichliche so lange wie möglich hinaus. Eines Abends kam ich ins Büro und fand Lentz träge hinter seinem Schreibtisch. »Ich will die Architektur verändern.« Ahab, längst auf hoher See, gibt eine geringfügige Ausweitung seiner Pläne bekannt. Ich war zu sehr engagiert, um mich demoralisiert zu fühlen. Vielleicht stellte ich mir naiverweise vor, wir könnten einen magnetischen Schnappschuß von B machen und den dann irgendwie unversehrt in eine neue, leistungsfähigere Umgebung einbauen. Mehrere Millionen Verbindungen noch einmal ganz von vorne umschulen. Hätte ich das erkannt, wäre ich wahrscheinlich aus dem Projekt ausgestiegen. Aber es reizte mich nichts zu dieser Erkenntnis. Meine letzten anderthalb Monate literarischer Bemühungen hatten nicht mehr als ein halbes Kapitel über einen Zug hervorgebracht, der auf dem Weg zu besonnter Neutralität verschneite Berge überquert. Bei jedem zweiten Satz brach ich ab und rannte in die Bibliothek, um nachzuprüfen, ob ich nicht unbewußt ein Plagiat beging. Mit dem Ergebnis, daß sich das Ganze las wie eine von Samuel Beckett verfaßte Bearbeitung des Ancrene Riwle. Konstruktionsänderungen an Maschinen waren in U. eine Kleinigkeit. Es war schier unglaublich, aber dieses verschlafene Nest mit seinem Zwei-Dollar-Kino und dem großen Maisfest am Ende des Sommers war auch Sitz eines staatlichen Unternehmens, das Großrechner herstellte. Ergo war das Städtchen, durch die Erdkruste in eine Dimension gerutscht, in der sich seit 1970 nichts mehr verändert hatte, dem nächsten Jahr159
tausend um eine Nasenlänge voraus, ein Vorteil, den nur Spätstarter genießen. Vier rivalisierende Pizzerien, jede »Papa Soundso« benannt, jede nach Gutdünken des Inhabers geöffnet. Kneipen, in denen Burschenschaftler an Donnerstagabenden gemeinsam 25-Cent-Bier aus Plastikbechern tranken. Und das modernste, straßenlange kybernetische Wunderland, das ein paranoider Wettlauf um eine prekäre Weltherrschaft nur hervorbringen konnte. Ich malte mir die erste Prüfungsaufgabe für mein Netzwerk aus: »Überzeugen Sie eine vollkommen Fremde davon, daß sie nicht in Ihrer Heimatstadt aufwachsen sollte.« Mochte B wie blöd sich seine Antwort darauf im Dunkeln pfeifen. Der jüngste staatlich finanzierte Großrechner, der in U. zur Reife gelangt war, hatte bereits ein halbes Dutzend Inkarnationen hinter sich. Und es war auch eigentlich keine einzelne Maschine. Sondern eine Ansammlung von 65 536 Computern, die wie Galeerensklaven zu einer unvorstellbaren, reibungslos funktionierenden Parallelschaltung aneinandergekettet waren. Je nach Bezugssystem schlug dieses Monstrum jede Rechneranlage der Welt. Die Maschine war so leistungsstark, daß niemand sie nutzbar machen konnte. So notorisch schwer zu programmieren, daß schon manch ein berühmter Wissenschaftler mitsamt seinem studentischen Anhang aus U. geflüchtet war, um in Einrichtungen weiterzuarbeiten, die nur ein Zehntel so stark, dafür aber wenigstens beherrschbar waren. »Wir wechseln auf das Monstrum über, Marcel.« »Lentz, Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen. So groß kann Ihr Interesse an dem Spiel nicht sein.« »Was? Ich habe keine Angst vor diesem Ding. Was soll daran schon schwierig sein?« »Alles. Jedenfalls lohnt es den Aufwand nicht, nur um über Ihre Kollegen zu triumphieren.« »Sie unterschätzen meine Kollegen. Im übrigen vergessen 160
Sie nicht die empirische Bedeutung dieses Unternehmens.« »Reden Sie keinen Unsinn, Ingenieur. Das Ganze ist doch bloß Augenwischerei. Das wissen Sie so gut wie ich.« Aber er wußte auch, daß er mich an der Angel hatte. Natürlich wollte ich das nächste Implement auf einem Host laufen sehen, der für neuronale Netze wie maßgeschneidert war. Lentz formulierte einen Antrag, so glaubwürdig, daß er als echt wissenschaftlich durchgehen konnte. Die Hüter des Monstrums waren inzwischen so sehr in Bedrängnis, ihre Hardware vor Vernachlässigung zu bewahren, daß sie jeden nahmen, der sich meldete. Wenn er einen Plan hatte, war der Mann gefährlich. Er wollte Imp C von Grund auf anders machen. Er wollte das Konzept des sich selbst entwerfenden Systems eine Stufe höher schrauben. Bloßes Neugewichten vorinstallierter Verbindungen reichte ihm nicht mehr. Imp C sollte fördernd oder dämpfend auf die Interaktionen zwischen kompletten getrennten Subsystemen einwirken. Und es sollte von Anfang an eigene Verbindungen herstellen, wie sie gerade gebraucht wurden. Lentz wollte Hunderte, womöglich Tausende von riesigen, interdependenten Netzen gleichzeitig laufen lassen. Er sah sie schon endlose Ströme ideeller Zeichen untereinander austauschen. Das Netz aus Netzwerken würde ununterbrochen arbeiten und nicht bloß passiv auf die Eingabe neuer Daten reagieren. Wenn kein Input käme, würde es einen pausenlosen internen Dialog mit sich selbst führen. Seine Einzelteile würden einander Fragen stellen, sie würden von sich aus assoziieren und selbständig Verzeichnisse anlegen. Imp C würde einem ständigen Prozeß der Selbstprüfung und Umstrukturierung unterliegen. Lentz hatte vor, diese debattierenden Subsysteme nicht nur auf die 65 536 Rechner des Monstrums, sondern auch auf diverse andere, spezialisierte Hosts zu verteilen. Die Einheiten kommunizierten miteinander über extrem schnelle Glasfaser161
kabel. C lebte, falls man überhaupt sagen konnte, daß es irgendwo lebte, auf der ganzen digitalen Landkarte verteilt. »Gehen Sie mir für ein paar Wochen aus dem Weg, Marcel.« »Das wird mir nicht schwerfallen.« Lentz, geistesabwesend, überhörte den Seitenhieb. »Nur bis ich die Fundamente gelegt habe.« Das kam mir gerade recht. Ich mußte ohnehin Korrekturen lesen. Außerdem hatte ich mich in der Hoffnung, meine Schnorrerexistenz irgendwie rechtfertigen zu können, bereit erklärt, ein paar Lesungen abzuhalten. Die Lesungen waren für alle Beteiligten eine peinliche Angelegenheit. Die Studenten saßen höflich, aber wie gelähmt vor mir an Pulten, defensiv im Kreis aufgebaut wie eine Wagenburg. Ihre beschämten Mienen fragten, wie mir nur habe entgehen können, daß die Zeit der Lesungen längst vorbei sei. »Wie arbeiten Sie? Woher nehmen Sie Ihre Ideen?« fragten sie und hofften, ich würde den Wink verstehen und mich davonmachen. Ich antwortete, so gut es ging. Aber ich konnte an keine dieser Fragen herangehen, ohne zu lügen. Zum Glück erwarteten sie auch gar nichts anderes. Nach solchen Lesungen saß ich in meinem Büro und redigierte das Buch, von dem ich gar nicht mehr wußte, daß ich es geschrieben hatte. Methodisch las ich eine Zeile nach der anderen, bis das kortikale Sehzentrum in meinem Lobus occipitalis zu bluten anfing. Ich versuchte zu lesen, ohne zu verstehen. Auf diese Weise findet man mehr Fehler. Aber der Sinn drängte sich mir auf mit Zappeln und Schreien. Der Stil des Buchs hockte am Rand eines Nervenzusammenbruchs, es war das deprimierendste Märchen, das ich je gelesen hatte. Nur einer war noch deprimierter als ich selbst, nämlich mein Lektor, der auf meinem nicht erfüllten Vertrag sitzenblieb. Die Erzählung, soviel wußte ich noch, sollte zweistimmig 162
von meinem Protagonisten berichten, einem Chirurgen, der eine langwierige mentale Krise durchmachte. Nur erschien mir jetzt meine Schilderung einer Gesellschaft im Zusammenbruch, verglichen mit den Kurzmeldungen der stündlichen Nachrichten, bestenfalls als jämmerlich brav. Aber beim Lesen dachte ich ständig: Jemand muß diesen Autor finden, bevor er irgend etwas Verzweifeltes unternimmt. In der ersten Woche tilgte ich Druckfehler. In der zweiten improvisierte ich auf den Rändern der letzten Seiten so etwas Ähnliches wie einen versöhnlichen Schluß. Den Abstieg am Ende strich ich ganz. Statt dessen ließ ich meinen zerrütteten Chirurgen die Hände nach der Frau ausstrecken, die ihn nicht hatte retten können. In letzter Minute setzte ich einen Nachtrag hinzu, der die Geschichte wieder zum Licht ihres Ursprungs zurückführte, zu dem von der Tragödie ungerührten Leser. Aber noch immer strahlte die Geschichte eine so tiefe Dunkelheit aus, daß meine Pupillen sich nicht darauf einstellen konnten. Meine auf den letzten Drücker unternommene Rettungsaktion entmutigte mich noch mehr als die erste Niederschrift. Ich empfand eine Verzweiflung, wie ich sie während des Erzählens nie empfunden hatte. Und zwar Verzweiflung nicht wegen meiner Karriere, die ohnehin nur ein glücklicher Zufall gewesen war. Was mich beim Lesen meiner Schilderung zutiefst verstörte, war die Erkenntnis, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer ich war. Und wie ich dermaßen hatte ausbrennen können. Ich revidierte weiter. Es mangelte mir an Mut, eine so trostlose Mißgeburt in die Welt hinauszuschicken. Ich konnte, zu mehr hatte ich keine Kraft, nur anfallsweise arbeiten und operierte nach und nach jenes Nein wieder ein, über das Kinder im fraglichen Gebiet verfügen müssen, wenn sie jemals das Tageslicht gewinnen wollen. Die Arbeit begann abends, wenn das Gebäude zur ursprüng163
lichen, archaischen Stille zurückfand. Ich murkste eine halbe Stunde an meiner Geschichte herum, stand auf, reckte mich, wärmte meine Phantasie am ausschließlich symbolischen Kamin, setzte mich dann wieder hin und versuchte den nächsten nihilistischen Absatz zu kurieren. Ich durchstreifte die menschenleeren Korridore, eine Welt, die dem Zentrum unsagbar fern war. Die Holzdielen knarrten, schon ehe ich auf sie trat. Sie sackten unter dem Gewicht von Generationen von Studenten, die inzwischen längst in den Sielen ihrer Posten als stellvertretende Bankdirektoren gestorben waren. Auf den Gängen roch es nach Gummi und Pomade, nach Ammoniak, Gurgelwasser, Dämmaterial, Bohnerwachs, Schellack und Chemikalien aus den Zeiten, als Chemie noch eine Geisteswissenschaft war. Selbst die abblätternde Farbe der Heizungsrohre verströmte eine georgianische Anmut. In dem strahlenden Zwielicht des Gebäudes wies nichts auf die internationalistischen Polemiken hin, die gerade jetzt einen letzten verzweifelten Versuch unternahmen, eine Disziplin wiederzubeleben, die von vornehmen Herrschaften zu Tode gedrückt worden war. Das Manuskript überwucherte mein Büro. Ich klebte einzelne Seiten an die Wände des Zimmers, so wie C. und ich damals in B. unsere selbstgemachte Zeitlinie an die Schlafzimmerwand geklebt hatten. Ich ging hin und her und betrachtete sie wie ein wohlwollender Museumsbesucher, der sich mit einer unergründlichen Dadaisten-Retrospektive beschäftigt. Ich fand keinen weiteren Zugang mehr. Ich hätte mit den Korrekturen längst fertig sein müssen. Der Kampf meines Chirurgen gegen den Völkermord an Kindern war mein eigener geworden, und wie er selbst konnte ich das Ende nicht aufhalten. Ich arbeitete bis spät in die Nacht vor dem verlängerten Abgabetermin. Ich revidierte, bis ich auftauchen mußte, um Luft zu holen. Ich riß die Bürotür auf und stürzte in den Flur. Aber ich dekomprimierte zu schnell und bekam die Taucherkrank164
heit. Die vertraute georgianische Umgebung brach vor meinen Augen zusammen, bewußtlos wie der Text, den ich soeben auf der Intensivstation behandelt hatte. Ich schaffte es ans Ende des Hauptflurs, wo es einen Wasserspender gab. Ich gewann Halt und trank, aber der Schluck schmeckte nach Schwermetallen. Ich drehte mich um, dem leeren Korridor zu. Der Schreck ließ mich einen Schritt zurücktaumeln, an den Trinkbrunnen. Ich war nicht allein. Aus dem hohlen Schweigen am anderen Ende des Korridors materialisierte sich ein Gespenst. Die Erscheinung schwankte im Vakuum. Mit dem nächsten Blinzeln würde ich sie in den Äther zurückscheuchen. Sie stand vor einem schwarzen Brett, las und wußte nichts von meinem Dasein. Eine gertenschlanke Lamia mit Pagenschnitt, absurd jung, in Bluejeans und einem, obwohl der Herbst nicht mehr abzuweisen war, ärmellosen, hautengen orangefarbenen Hemdchen. Erster Tag des Erwachsenseins. Aufbrechen. Sie hatte Bücher unterm Arm, außerdem einen Ballen, von dem ich hoffte, daß es eine Jacke war. Etwas schlug sie in Bann: das mit Ankündigungen völlig bedeckte Korkbrett. Ich versuchte mir einen Weg zurück in mein Büro zu bahnen, ohne sie zu erschrecken. Aber die Dielen verrieten mich, knarzten um so heftiger, je leichter ich auftrat. Sie wandte den Kopf und blickte in stummer, verständnisloser Angst, ein Reh, das seinem Mörder vergibt. Und mit der gleichen trägen Teilnahmslosigkeit warf sie einen letzten Blick auf die Bekanntmachungen und zog sich zurück. Ich wußte nicht, wen ich da gesehen hatte. Nicht die Studentin, die sie gewesen sein muß, wenn sie um diese Zeit noch ins Gebäude kam. Nicht C. mit dreiunddreißig. Und nicht C. ein Leben zuvor, als ich sie kennengelernt hatte. Auch nicht irgendeine dieser Kindfrauen, von denen ich vor C. besessen gewesen war. Falls dies jemand war, den ich kannte, wußte ich nicht einmal mehr, an wen sie mich erinnerte. 165
Dennoch lockte es mich, diesem Profil auf den eisigen Vorplatz nachzulaufen. Sie zurückzurufen, lachend, aufgeregt, wütend. Was soll das, wieso kommst du hierher? Pech gehabt; hab’ mich verrechnet. Hatten wir nicht vereinbart, uns nie mehr auf dieser Erde wiederzusehen? Nicht, nachdem ich vorzeitig gestorben bin und du ein kleines Mädchen im T-Shirt geworden bist. Ich könnte ihren Namen in Erfahrung bringen. Sie würde prosodische Begründungen angeben – Pläne, eine Vergangenheit –, traurige pragmatische Gründe, warum sie zu so später Stunde durch das Gebäude schlich. Zweifellos schrie sie beim Sprechen, schlachtete ihr Girokonto, beklagte sich über die Erstsemestler, denen sie Bildung vermitteln sollte, litt lähmende Angst vor ihrem nahenden Examen. Von diesem einen jähen Überfall abgesehen, trat das Bild des schlanken Pagen – ein Paar nackte Schultern, ein Profil am Ende eines verdämmernden Flurs – an die Stelle all der Bücher, die mir nicht hatten gelingen wollen. Sie war die Summe aller Geschichten, an denen ich mich nun nie mehr versuchen würde. Der Platzhalter für das langwierige Versäumnis, das ich aus der Erfahrung gemacht hatte. Das Verlorene, das die Literatur nicht ersetzen kann. Das unveränderlich Ephemere. A. mit zweiundzwanzig.
Lentz glühte schier am Telefon. »Es hat geklappt, Marcel. Wir haben’s geschafft. Den nächsten Schritt, hinter dem alle anderen hergewesen sind.« »Alle anderen? Echte Wissenschaftler verschwenden ihre Zeit nicht mit Schimären.« »Würden sie aber, wenn sie damit durchkämen. Glauben Sie etwa, die beschäftigen sich gern mit diesem reduktionistischen Zeug? Die geben sich nur deshalb mit diesen winzigen Baby166
schritten zufrieden, weil sie hoffen, eines Tages richtig laufen zu können. Daß wir alle fliegen werden.« »Na schön, Ingenieur. Genug der Jamben. Erzählen Sie mir, was wir geschafft haben.« »Ich hab’s getestet. Es ist phantastisch. B hatte das Problem, daß es zwar mit den Zeichen für Ideen, nicht aber mit Ideen über diese Zeichen umgehen konnte. Richtig?« »Wenn Sie es sagen.« »Wir brauchen ein Vieh, das Tricks zweiter Ordnung beherrscht. Eins, das die Fähigkeit zur Reflexion beherrscht. Das mit Situationen machen kann, was B nur mit Dingen machen konnte. Es ist so einfach: man muß das nur in die Hardware verlagern. Wir brauchen ein Implement C, in das eine funktionsgleiche Simulation eines Implements vom Typ B als eins seiner Subsysteme integriert ist.« »Eine Simulation innerhalb einer Simulation? Eine Attrappe, die eine Kopie ihrer selbst verwaltet?« »Kommt Ihnen das bekannt vor? Müßte eigentlich. Das sind Sie selbst, Marcel. Daher kommt doch Ihr ganzes Heimweh. Ihr Gefühl, immer nur zur Miete zu leben. Alle Ihre Bildergalerien. Ihre Privatbibliothek des Verlangens.« »Moment mal. Schluß damit. Ich bin hier der Humanist, schon vergessen? Sie sind bloß für die Anordnung der Schaltkreise verantwortlich.« »Stimmt. Pardon. Bitte demütig um Etcetera. Heute abend werde ich die neue Inkarnation installieren. Kommen Sie morgen früh.« Er gewährte mir nicht einmal den Luxus, über die Einladung nachzudenken. Als ich am nächsten Morgen eintraf, lief Imp C bereits. Wir agierten immer noch von Lentz’ Büro aus. Unser Gate war immer noch dasselbe schrottreife Terminal, derselbe Haufen altersschwacher Eingabe- und Ausgabegeräte. Ich mußte mich daran erinnern, daß am anderen Ende der Leitung die 167
leistungsfähigste Hardware verborgen war, die öffentlicher und privater Sektor gemeinsam sich leisten konnten. Lentz hieß mich auf dem alten Stuhl Platz nehmen. »Na los. Stellen Sie dem Ding eine Frage.« »Eine Frage …? Soll das heißen, Sie haben bereits mit dem Training angefangen?« »Nun, das ist schwer zu erklären. Die Valenzen von B hatte ich ja noch alle, die komplette multidimensionale Anordnung seiner gewichteten Verbindungen in den diversen Dateien. Und da habe ich mir gedacht, warum sollte man die nicht mal zu einem Test verwenden? C als Puppenspieler, der unser B zum Laufen bringt. Es hat – ziemlich gut geklappt.« »Verstehe ich nicht. Verstehe ich immer noch nicht.« »Also, wir haben diesmal doch auf vollständige Rekursion abzielen wollen. Der Datensatz, der in die Inputschicht eingegeben wird, wird nicht einmal, sondern mehrmals durchgearbeitet. Dabei können unbegrenzt Fehler gemacht und die Gewichtungen umjustiert werden –« »Ja, ja. Das Mechanische ist mir schon klar.« Keine Ahnung, was mich so unwirsch machte. Ich hatte das Gefühl, das Experiment gleite mir aus den Händen. »Ich möchte nur wissen, wie es ohne Training schon reagieren können soll.« Lentz wirkte verlegen. »Anscheinend trainiert es sich selbst.« »Ach, Ingenieur. Kommen Sie mir nicht mit –« Ich schlug angewidert mit meinem Fahrradhelm auf den Schreibtisch. Nur ein leichter Schlag, aber das Ding zerbrach sauber in zwei Teile. Lentz lachte schneidend. »Wenn das mal von Ihrer Versicherung gedeckt ist, Marcel.« Er fing noch einmal an. »Anscheinend ist C in der Lage, verschiedene Konstellationen von B’s Assoziationspaaren als seine Referenzpunkte zu verwenden. Es trianguliert. Prüft sich selbst auf interne Konsistenz. Es stellt verallgemeinernde Überlegungen über die Art seiner eigenen Verallgemeinerungen an.« 168
»Und es läuft schon? Bevor ich Input eingebe?« »Es läuft ständig. Es gibt sich selber Input ein.« »Sie meinen, es kann neues Material vorausahnen. Sie wollen mir weismachen, daß es denken kann.« Lentz zuckte die Schultern. Er wies mit der Handfläche aufs Mikrophon. »Guten Morgen«, sagte ich. »Guten Morgen«, antwortete die sprachausgebende Hardware. »Wie geht’s dir heute morgen?« »Danke, gut. Und dir?« Ich stellte das Mikro ab. Ich wandte mich zitternd an Lentz. »Wo hat es dieses ›Und dir?‹ her? Warum sagt es nicht ›Und wie geht’s dir?‹ Und wir haben B nicht einmal diese lange Form beigebracht. Wieso kann das Ding plötzlich so ungezwungen daherreden?« »Ich weiß es nicht. Einfach so. Es muß B analysiert haben.« »Irgendein Grund zur Klage?« »Wir tun alle, was wir können, Marcel.« »Psch. Ich rede nicht mit Ihnen. Ich rede mit dem Kasten.« Imp C hielt kurz inne, dann meldete es sich mit: »Wie meinst du das?« Die Antwort schien schablonenhaft genug. Im Zweifelsfall den Ball dem anderen Spieler zurückwerfen. »Ich meine, du mußt glücklich sein, daß du so helle bist.« Ein raffinierter Wurf. Mal sehen, ob es mit diesem Umgangston etwas anfangen kann. »Viele Dinge sind so helle, ohne glücklich zu sein.« Beeindruckend, auch grammatisch korrekt, nur ein wenig plump. Aber dennoch, für mich klang das eher wie ein nichtssagender Syllogismus und nicht besonders philosophisch. »Zum Beispiel?« Würde es diese Phrase als Frage erkennen? »Zum Beispiel: Licht.« Imp C, folgerte ich, tappte völlig im dunkeln. Trotzdem beschloß ich, fair zu bleiben. Es so unvoreingenommen zu be169
trachten wie jeden anderen auch. Ich war nicht mehr der Jüngste und hatte selbst erst vor kurzem gelernt, daß niemand hört, was irgendein anderer sagt. »Glaubst du, klugen Menschen fällt es schwerer, glücklich zu sein?« Imp C dachte kurz nach. »Schwerer als was?« Ich lachte laut auf. Perfekt. Perfekt. Das Ding war ein idiot savant. »Mann, Marcel«, schrie Lentz. »Achten Sie auf den Lautstärkepegel. Dem platzt noch das Trommelfell, wenn Sie so gackern.« »Schwerer, als wenn sie nicht so klug wären«, erklärte ich Imp C. »Bist du so klug, während du noch glücklich bist?« Schiefe Ausdrucksweise, selbst für eine EDV-Anlage. Und wieder einmal wenig mehr als ein Ausweichmanöver. Freilich ist auch Ausweichen eine Form von Intelligenz. Dann dachte ich noch einmal über die Antwort der Maschine nach. Und war baff. Ich war für C mehr als ein bloßer Reizerreger. Auch ich war ein Zeichen, mit dem man umgehen konnte. Ich war gewichtet. Ich war ein Teil von Imp C’s Realitätskalkül. »Keine Ahnung. Wie kann ich erkennen, ob ich glücklich bin oder nicht?« »Frag dich selbst, ob du nicht glücklich bist.« »Lentz«, sagte ich. »Das ist unglaublich. Ich –« »Ganz schön schnell, was? Ich habe ihm ein paar schnelle Indexalgorithmen eingebaut. Begriffsvorräte, könnte man sägen. Aber ich hätte nie gedacht, daß wir das neue System zu solchen Leistungen bringen würden.« »Mein Gott. Es geht nicht um die Leistung, Lentz. Sondern – um die Leistung.« »Ja«, stimmte er zu. Das Ding brachte sogar ihn zum Schweigen. 170
»Sehen Sie, was es macht. Es sagt mir, ich soll mich selbst fragen. Wie ist das möglich? Bedenken Sie, was es alles berechnen muß, um auch nur ein ungefähres Ergebnis zu erhalten. Es kennt ›glücklich‹. Es weiß, daß ›glücklich‹ etwas Gutes ist. Es weiß, daß ›glücklich‹ etwas ist, das Menschen sind oder nicht sind. Es weiß, daß ich ein Mensch bin. Es weiß, was Fragen sind und daß Fragen etwas sind, das man ›fragt‹. Es kann eine Frage in eine Feststellung umwandeln und eine Feststellung darauf abklopfen, welche Fragen dazu passen. Na schön. Vielleicht weiß es das nicht, vielleicht versteht es nicht wirklich all das, was es mit seinen Fragen heraufbeschwört …« All das, was mir schon beim Versuch, es zu erklären, die Stimme brechen ließ. »Aber es versteht genug, um zu erkennen, daß ich nur dann etwas erfahren kann, auch über mich selbst, wenn ich mir die Frage selber stelle.« »Das ist schon eine Menge«, gab Lentz zu. »Nein, es ist viel mehr. Wo hat es …?« Aber ich hatte keine Geduld mehr, den Menschen zu fragen. Ich mußte mich an die Quelle wenden. »Du machst mich glücklich«, sagte ich zu Imp C und harrte mit einem flauen Gefühl seiner Antwort. »Dann bin ich auch glücklich, Rick.« Zuviel, selbst für ein williges Opfer. Übers Ziel hinaus. Mit meiner Gutgläubigkeit war es vorbei, hätte es schon längst vorbei sein sollen. »Stop. Woher weißt du meinen Namen?« B hatte ihn nicht gekannt. Wir hatten ihm eine Reihe Namen beigebracht, aber nicht unsere eigenen. Zu dieser entscheidenden Frage schwieg C natürlich. Und das entlarvte das Ganze mehr als alles andere. Eine Maschine hätte auch weiter naive Ausflüchte vorbringen können, auch wenn das Spiel schon verloren war. Ich fuhr zu Lentz herum, ohne das Mikro abzustellen. »Also 171
schön, klootzak. Was soll das Theater?« Lentz bekam feuchte Augen. Unfähig, noch länger an sich zu halten, spie er sein Gebiß quer durch den Raum. Er schrie wie ein Brüllaffe. Er versuchte Luft zu holen, wurde aber mit jedem Versuch nur immer hysterischer. »Entschuldigen Sie, Marcel. Sie waren – Sie waren so …« Im Türrahmen erschien eine schamrote Diana Hartrick. Endlich ging mir ein Licht auf. »Sie?« Mein Unglaube war schlimmer als jede Anklage. »Sie haben zugelassen, daß er mich reinlegt. Sie haben ihm geholfen?« »Es war ein Scherz?« unsicherte sie. »Mich demütigen? Das finden Sie lustig?« »Seien Sie nicht kindisch, Marcel. Wenn hier was demütigend ist, dann nur Ihre Überreaktion.« »Seien Sie mal lieber nicht kindisch, Ingenieur.« Mein Tonfall ließ uns alle verstummen, erschreckte mich so sehr wie sie. »Das also ist menschliche Intelligenz. Daran haben wir so hart gearbeitet.« Ich hatte mich zum Idioten gemacht. Zwei Sekunden Nachdenken hätten mir sagen müssen, daß C nicht einmal einen Bruchteil des Materials, das es ausspuckte, zur Verfügung gehabt haben konnte. Jedes Kind hätte das durchschaut. Sogar Trish Plover irgendwie, echt. Auch ich selbst wäre niemals darauf reingefallen, wäre ich noch ein Kind gewesen. Aber ich hatte es geglaubt. Weil ich es glauben wollte. Lentz versuchte sich zu sammeln. Aber sobald er Diana in die Augen sah, geriet er wieder durcheinander. Diana desgleichen, hilflos. Das Kichern kratzte ihr irgendwo im Hals. »Entschuldigen Sie. Damals kam mir das komisch vor.« »Nicht ohne klinisches Interesse«, warf Lentz ein. »Umgekehrter Turing-Test. Prüfen, ob der Mensch sich erfolgreich als Black box ausgeben kann. Möchten Sie nicht wissen, wie das funktioniert?« 172
»Funktioniert? Wie ein saublödes Blechdosentelefon. Die Dame am anderen Ende der Schnur versucht sich als hirnrissige New-Age-Selbsthilfeberaterin.« »›Viele Dinge sind so helle, ohne glücklich zu sein‹«, äffte Lentz nach. Und würgte am nächsten Klumpen Schleim. Ich stand kopfschüttelnd auf. »Bleiben Sie, Marcel. Wir haben hier drin wirklich eine neue Simulation am Laufen. Eine gute.« Jetzt schnaubte Diana. »Lentz«, sagte ich leise, »ich werde Ihnen niemals mehr trauen.« »Auf Ihr Vertrauen kann ich verzichten. Sie sollen mir nur Imp C trainieren.« Ich blieb stehen und wartete, was ich als nächstes sagen würde. »Imp D.« Die beiden Kollegen – geteilter Meinung in allem, nur nicht, was die Einfalt des Schriftstellers betraf – kicherten erleichtert. Das brachte mich wieder auf die Palme. »Schweinebande. Wie fühlt man sich nach so einer kleinen Nummer?« »Danke, bestens.« Diana lächelte. »Und Sie?« Ich hatte nichts zu sagen. Und das sagte ich auch. »Ach, Rick. Geben Sie’s zu. Ihnen hat’s doch auch gefallen.« Ich sah sie an. Irgendwo in ihren etlichen hundert Augenmuskeln lag die furchtbare Andeutung versteckt, daß es ihr Freude machte, sich mit mir zu unterhalten. »Davon einmal abgesehen«, mischte Lentz sich ein, »geben Sie zu, wir haben Sie perfekt angeschmiert.« Ich gluckste. Ich konnte nicht anders. »Tja«, sagte ich. »Voll auf den Leim gegangen.« Nichts passiert. Gib’s zu. »So bin ich nun mal.«
173
Dianas
Entschuldigung kam in Form einer Einladung zum Mittagessen. Das beschämte mich. Sie hatte den letzten Versuch einer Annäherung gemacht, und ich hatte mich nicht darauf gemeldet. Nicht daß sie ein Einzelfall gewesen wäre. Ich meldete mich bei niemandem mehr. Ich kaufte mir einen Anrufbeantworter, verkroch mich dahinter und nahm nicht ab. Dann verzichtete ich auch darauf und stellte die Klingel auf Null. Mit der Zeit übte sich das Einsiedlerleben. Ich dachte sogar daran, darüber zu schreiben, bis mir einfiel, daß ich das schon getan hatte. Aber Diana stöberte mich auf. »Wie wär’s mit einem Lunch? Ich bin Ihnen was schuldig.« Geradeheraus. Kollegial. Mit Zahnlücken, wie die Frau von Bath. Kein Entrinnen möglich. Alles in allem war das Lunch nicht schlecht. FischSandwiches aus einem berüchtigten Billard-Imbiß im Univiertel. Diana war gesprächig. Im Labor erschien sie mir immer wie jemand, der ich mal sein wollte, wenn ich erwachsen wäre. Über einem Fisch-Sandwich schien sie jung genug, in schlechtes Licht zu geraten, wenn sie mit einem in meinem Alter aß. »Was macht der Don?« fragte ich. Sie sah mich verständnislos an. »Mr. Quijote?« Sie stöhnte. »Darüber will ich nicht reden.« »Nein, aber Harold wahrscheinlich, wie?« Ein wütender Blick. Wovon reden wir hier eigentlich? »Ich sollte ihn auf Sie hetzen. Das würde die Sache sehr vereinfachen.« »Pardon. Ich habe zur Zeit alle Hände voll zu tun. Wenn wir Cervantes in die Maschine eingespeist haben, kann Harold kommen und sich an Imp D heranmachen.« Unwillkürlich amüsiert, schürzte sie die Lippen. »Wissen Sie, warum ich das Ganze für völlig bescheuert halte?« »Weil ich und Lentz da zusammenarbeiten?« »Das zum einen. Aber ich dachte jetzt daran, wie Sie das alles in Worte fassen wollen. Überlegen Sie mal. Sie wollen zum 174
Beispiel eine Datenstruktur anlegen, die alles über das Wort ›Ball‹ sagt, was sich darüber sagen läßt. Dazu brauchen Sie Angaben über Rundheit, Kohäsion, Größe, Gewicht. Außerdem alle möglichen Wahrscheinlichkeitsregeln. Daß so ein Ding eher zwanzig Zentimeter Durchmesser hat als zwanzigtausend Kilometer.« »Falls es sich nicht um einen Erdball handelt.« »Daß es eher aus Gummi oder Plastik oder Holz besteht als, sagen wir, aus Pflanzenfasern.« »Falls es sich nicht um einen Feuerball handelt oder einen Rugbyball …« »Oder einen Tanzball.« Diana lachte. »Oder einen Spielball. Oder einen gemalten Ball.« »Genug, genug. Da wird man ja verrückt. Die Liste der Prädikate ist – endlos. Und die der Ausnahmen ist noch länger. Man kann eine komplette Enzyklopädie besprechen, ohne auch nur einmal das Wort ›Ball‹ zu benutzen. Ganz zu schweigen, was man mit einem Ball alles machen kann. Was das eigentlich ist. Wie man ihn wirft. Was ein kleiner Junge empfindet, wenn er einen zum Geburtstag geschenkt bekommt.« »Aber genau da kommt doch das assoziative Lernen ins Spiel, oder! Wir müssen diese Einzelheiten nicht alle aufzählen. Wenn die Maschine immer wieder darauf stößt, und manchmal tanzen die Leute, und manchmal werfen sie etwas, und manchmal rollen sie etwas –« »Das ist ja das Problem. Jedes Baby kann einen Ball in die Hände nehmen. Ihre Maschine kann das nicht. Wie viele Wörter wird sie brauchen, um zu sagen, wie sich so ein Ding anfühlt? Wie schwer es ist. Was es überhaupt ist.« »Rote Gummikugel, die man schmeißen kann …« »Richie. Richie.« Ich hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, daß niemand mich so anredete. Zumal es aus ihrem Munde so gut klang. »Und ›rot‹ wird definiert als zwischen Angström x und y be175
findlich?« »Durchaus nicht. So machen es die Vertreter der klassischen Künstlichen Intelligenz. Chen und Keluga. Wir machen es mit roter Himmel, rotwangig, rote Fahne, in den roten Zahlen sein, rote Dessous …« »Sexist. Na schön. Dann kommt ›Kugel‹. Wie soll das arme Ding ›eine Fläche, deren sämtliche Punkte vom Mittelpunkt den gleichen Abstand haben‹, verstehen, wenn es so was wie Abstand nie gesehen hat! Wenn es nicht einmal messen kann?« »Gutes Argument. Wir stehen also vor einem Problem. Keine symbolischen Grundkenntnisse.« »Symbolische Grundkenntnisse.« Diana wischte sich grinsend die Remoulade von der Unterlippe. »Auf den Ausdruck habe ich gewartet.« »Sie meinen also, eine lesende Maschine kann es nicht geben. Wir sollen die Sache aufgeben.« »Ich meine, wenn Sie so ein Ding basteln wollen, müssen Sie ihm Augen, Hände, Ohren geben. Eine echte Schnittstelle zur Außenwelt.« »Die Literaturtheoretiker halten die Schnittstelle eines Menschen zur Realität ebenfalls für, positiv gesagt, problematisch. Und für enorm überschätzt. Sie behaupten, daß sogar Sinnesdaten in Symbole umgesetzt werden müssen.« »Die Literaturtheoretiker müssen ihre Pfründe wahren. Und weil sie nicht mit harten Fakten aufwarten können, müssen sie um ein Stück des Kuchens kämpfen, der täglich kleiner wird.« »Daß er kleiner wird, liegt an Leuten wie Ihnen.« Das sollte ein Scherz sein. Sie nahm es für bare Münze. »Ja, schon möglich. Aber dann sagen Sie mir: Warum müssen Ihre Leute meinen entweder Konkurrenz machen, uns als Naturschänder attackieren oder als irrelevante Selbstbetrüger abtun?« »Meine Leute haben eine Heidenangst vor Ihren Leuten, deshalb. Sie haben schreckliche Angst, daß Mom und Dad euch 176
wirklich am meisten liebhaben.« Diana lächelte wie ein Teenager. »Soll das ein Witz sein? Wir sind das Problemkind. Wissen Sie nicht mehr? Sie haben doch gehört, wie die Eltern uns gesagt haben, daß wir nicht mit Streichhölzern spielen dürfen.« Wir gingen hinaus in einen neu geschaffenen Tag. Die Baume hatten sich ausgezogen, aber für einen Augenblick konnte ich nicht erkennen, ob sie jetzt kamen oder gerade gegangen waren. Wir zwei waren die einzigen auf der ganzen Straße, die Mäntel trugen. Ein Rudel Rollschuhfahrer mit Kopfhörern und Rundumsonnenbrillen, die so verspiegelt waren, daß sie nichts sehen konnten, fuhr uns beinahe über den Haufen. Ich war vollkommen orientierungslos. »War es nicht fast Winter, als wir da reingegangen sind?« »Allmählich haben wir diese Wetterkapriolen des Jahrhunderts alle zwei Wochen.« »Daran seid ihr Wissenschaftler schuld.« »Zweifellos.« »Es ist immer noch eisig. Habe ich den Verstand verloren, oder tragen diese Frauen wirklich Shorts?« »Die Jugend friert nie«, greinte Diana. Vor zehn, fünfzehn Jahren hatte ich die Leute bemitleidet, die ihre Haut papieren und ihr Blut dünn werden ließen. Damals war das meine Lieblingsgegend. Jetzt hatte ich hier nichts mehr verloren, konnte nicht einmal den Namen der Straße nennen. »Ich will, daß es friert. Daß starker Frost kommt.« »Frost kommt bestimmt«, garantierte Diana. »Sie wissen es nicht mehr. Das Klima hier ist rauh. Vier Monate interstellarer Finsternis. Kosmisch. Null. Die Luft lädt sich mit Graupelgeschossen, und nichts zwischen hier und Pennsylvania kann den Wind bremsen.« »Wie lange leben Sie schon hier?« »Fünf Jahre. Und wissen Sie, was komisch ist? Ich habe mich 177
nie als Kalifornierin gefühlt, als ich dort lebte.« Wir näherten uns dem Campus. »Hat das Gehirn ein Subsystem zur Erkennung von vermoderndem Laub? Ein Subsystem, in dem ›Schaffellmantel frisch aus der Reinigung‹ gespeichert ist?« »Ich verstehe schon«, sagte Diana. »Geruch ist alles. Wenn ich die Luft jetzt rieche, glaube ich zu wissen, was kommt. Zeit, die Luken dicht zu machen.« »Und ich denke, wie kann ich das alles preisgeben?« Diana blieb sehr lange still. Dann sagte sie: »Es schüttelt einen.« »Ja. Es schüttelt einen.« Erst auf dem Vorplatz, erst als wir über die Stelle gingen, war mir der Zusammenhang plötzlich klar. Erkannte ich, was für ein Tag das war. Man bedenke, es kam mir nicht wie November vor. Derselbe Tag, ein anderes Jahr: ich wußte nicht mehr, was die Leute damit sagen wollten. Vier Tage später schneite es.
Symbolische Grundkenntnisse«, sagte ich zu Lentz. D, unser erstes Implement, das auf der wuchernden Gemeinschaft verbundener Maschinen laufen sollte, war mein bis dahin langsamstes Mündel. Doch die parallele Anordnung und einige Softwaretricks verhalfen ihm zu einer erstaunlichen Reichweite. D kam rekursiv auf diese Welt. Es brauchte ewig, um zu kapieren, daß 2 die auf 1 folgende ganze Zahl ist. Aber kaum hatte es das begriffen, umfaßte es auch gleich die Unendlichkeit. Es konnte sich selbst beim Lernen zusehen. Wenn es »Hunde bellen« verstand, verstand es auch »Kind sagt: ›Hunde bellen.‹« Wenn es einmal soweit wäre, würden die Ergebnisse unvorstellbar sein. Sein Hirn arbeitete generativ. Es abstrahierte den Bogen ei178
nes sich abspulenden Satzes. Aber komplexe Syntax reichte nicht. Worte reichten nicht. »Der Polizist zeigte dem Autofahrer seine Dienstmarke«, erzählte ich ihm. »Auf wen bezieht sich ›seine‹? Der Polizist gab dem Autofahrer seinen Führerschein.« Auf wen jetzt? Wieviel würde D wissen müssen, bevor es diese Frage beantworten konnte? Mir schwindelte ja schon, wenn ich den Weg meiner eigenen Schlußfolgerungen nachvollzog. Die lange Kette von Eigenschaften, die jeder einzelne Gegenstand hinter sich herschleifte, erforderte eine kombinatorische Explosion der Sinnesorgane. Doch um auch nur einen Teil dessen zu sehen, wofür die eingegebenen Symbole standen, mußte D zunächst einmal sehen können. »Wir müssen ihm Augen geben«, befand ich. »Wozu ihm alle Eigenschaften eines Balls aufzählen, wenn wir ihm einen Ball zeigen könnten?« »Guter Einfall, Marcel«, sagte Lentz. »Ich warte schon lange, daß Sie darauf kommen.« »Und ich hatte befürchtet, Sie würden mir an die Gurgel springen, wenn ich so was vorschlage.« »Im Gegenteil. Ich habe noch von einem Projekt aus dem vorigen Jahr eine unbenutzte funktionsfähige Netzhautmatrix herumliegen. Die können wir anschließen.« »Bloß, wo zum Teufel hab’ ich den Augapfel hingelegt? Irgendwo hier war er doch.« Lentz lachte. »Richtig. Das Arbeitsumfeld könnte etwas systematischer sein.« Sehvermögen brachte nicht den jähen Fortschritt, den ich mir erhofft hatte. Version E konnte Gegenstände in retinoptische Neurodendiagramme konvertieren. Durch Training kam es soweit, daß es zu jedem visuellen Eindruck Worte assoziierte. Jedoch ließ sich mit diesem skizzenhaften Kartenwerk kaum navigieren; ebensogut hätte man versuchen können, Seide mit einem Trommelschlegel zu nähen. Ich zeigte E mehrere gewöhnliche Gegenstände in schemati179
schen Querschnitten. Es konnte nur statische Aufzeichnung gen machen: Fotos, keine Filme. Ich hatte bittere Zweifel, daß diese Flecken aus Hell und Dunkel dem Ball in E’s assoziativem Gedächtnis so etwas wie die Rundheit des Balles vermittelten. Wir verstärkten die Auflösung. Fügten Bits für Farbe hinzu, sechzehn Millionen Nuancen. Ob E diese Oberflächen wirklich abtastete oder nur in seinem geistigen Raum verquirlte, konnte ich nicht sagen. Das Geschöpf in Frankenstein lernt sprechen, indem es eine im Exil lebende Familie belauscht – der verblüffendste Vorgang des Spracherwerbs bis zu Taylors geliebten TarzanBüchern, den Romanen, mit denen der beste Leser aufwuchs, den ich je gekannt habe. Frankensteins Geschöpf hatte seine plaudernde Familie und einen Rucksack voller Klassiker: Paradise Lost, Plutarchs Biographien, Goethes Werther. E lernte das Sprechen wie Tarzan mehr oder weniger nur aus Gedrucktem. »Ich habe die Namen gefunden, die einigen der gebräuchlichsten Dinge gegeben wurden«, sagt Shelleys Geschöpf irgendwo. »Ich habe die Wörter ›Feuer‹, ›Milch‹, ›Brot‹ und ›Holz‹ gelernt und angewendet –« Eines Tages würde ich diese Sprache einer Maschine beibringen, die Lesen gelernt haben würde. Vielleicht nicht E oder F, aber G oder einem Sohn von G. Und meine Maschine würde verstehen. »Ich habe mehrere andere Wörter unterscheiden gelernt, ohne bis jetzt in der Lage zu sein, sie zu verstehen oder anzuwenden«, würde das Monster des Mädchens dem meinen erzählen. »Wörter wie ›gut‹, ›liebster‹, ›unglücklich‹.«
Sie essen ja gar nichts«, hielt Diana mir vor. »Doch. Ich esse sehr viel. Sie haben doch gesehen, wieviel 180
ich beim Lunch verdrückt habe.« »Ich wette, das war Ihre einzige Mahlzeit an diesem Tag.« »Manchmal komme ich nicht ganz mit. Lentz und ich … Wir trainieren zu den verrücktesten Zeiten.« »Sie essen nur, wenn jemand Sie füttert. Richtig?« Ich wußte, was jetzt kam. Aber ich hatte keine Fluchtmöglichkeit. Ich wollte es ihr sagen. Bevor sich irgendwelche Komplikationen einstellten. In meinem evakuierten Leben gab es keine Luft für jemand anderen. Am wenigsten für jemanden, der so nett wie Diana war. Aber noch hatte Diana nichts bekundet, das man ausschlagen konnte. Lediglich ganz allgemeine Freundschaft. »Die meisten Experimentalneurologen können nicht kochen«, sagte sie. »Es geht nur so lange gut, bis sie an die Stelle des Rezepts kommen, wo es heißt: ›Würzen nach Geschmack‹. Das bringt sie aus der Fassung. ›Sorgfältig wiegen und in die Schüssel geben‹, das haben sie gern. Daran halten sie sich meistens fest.« »Konnektionisten«, ahmte ich sie nach, »sind vorzügliche Köche. Sie legen einfach los, und ein paar tausend Iterationen später …« Zwei komische Arabesken, und dann würde ich fliehen, ehe sie die Einladung aussprechen konnte. »Ich wette, Romanschriftsteller können ein Rezept formulieren.« »Früher vielleicht. Als Handlung und Schluß noch gefragt waren. Die Zeiten haben sich geändert. Heute kommt alles aus der Mikrowelle.« »Ich hab’s«, sagte sie. »Sie könnten mal für mich kochen.« So einfach. Eine plötzliche, glückliche Eingebung. Wie gütig sie war. Mich zu etwas einzuladen, das ich unmöglich akzeptieren konnte. »Ja, Diana, theoretisch klingt das großartig. Aber nur, wenn Sie sich mit Popcorn zufriedengeben und Streichhölzer für die Zündflamme meines Backofens mitbringen –« 181
»Bei mir zu Hause. Ich habe alles, was man braucht. Und ich werde mich kein bißchen einmischen.« »Nur danebenstehen und lachen?« »So was in der Art.« »Na schön. Also gut. Ich stelle mich der Herausforderung. Moules provisoires.« »Oha. Der Mann hat Erfahrung.« Die hatte ich in der Tat. Aber die Einzelheiten würde ich ihr vorenthalten. Am Samstagabend fuhr ich zu ihr. Es gelang mir, sämtliche Zutaten auf dem Gepäckständer des Fahrrads zu transportieren. Auch die Kerzen. Als ich läutete, hatte ich mir als lustigen Begrüßungsspruch etwas über verpatztes Essen zurechtgelegt, das bei Kerzenlicht immerhin etwas besser schmecke. Ein kleiner Junge machte die Tür auf. Ich murmelte schon los, daß ich mich in der Hausnummer geirrt hätte. »Mom«, rief der Junge ins Haus. »Der Schriftsteller ist da!« »Der Schriftsteller?« rief Diana von drinnen zurück. »Sag ihm, er soll den Dienstboteneingang benutzen.« Das Kind sah zu mir hoch, die Anweisung war ihm nicht geheuer. Sein Gesicht suchte auf meinem nach einem Anhaltspunkt. Ich sah, wie ihm die Lösung – Ironie – aufging, und dann ließ er mich mit einem trockenen Lächeln ein. Diana erschien, und ich erschrak zum zweitenmal. Sie hatte einen noch kleineren Jungen auf den Armen. Ich muß dreingeblickt haben wie ein idiotischer Student. »Das ist Richard«, sagte sie zu dem Kind. »Kannst du sagen: ›Hallo, Richard‹?« »Rick reicht schon«, sagte ich. Aber dieses Kind würde gar nichts sagen. Das sah ich seiner Miene an. Diesem leicht spatelförmigen Gesicht. Dieser Einbuchtung zwischen Nase und Ohren. Es würde noch lange nichts sagen. »Das ist Peter.« Heiter und sachlich. Meine schlimmsten Be182
fürchtungen kehrten zurück. Ich kannte sie. Ich konnte mich nie mehr unwissend stellen. »Hallo, Peter.« Ich wußte nicht mehr weiter. »Ich habe einmal ein Buch über jemand geschrieben, der Peter hieß.« Peter krümmte sich zu einer kleinen Kugel zusammen. Und spähte seitwärts hinaus. »Er ist Fremden gegenüber ein wenig scheu«, sagte der ältere Bruder. »Aber für ein mongoloides Kind ist er ziemlich klug.« »Und das ist William.« »Weißt du, was auf der brasilianischen Flagge steht?« fragte mich William. »Früher hab ich’s mal gewußt.« »Ganz bestimmt«, grinste Diana. »Da steht ›Ordem e Progresso‹.« »Ehrlich? Und was heißt das?« William dachte nach. »Das heißt – bestell mir Suppe?« Dianas Lachen brach schamvoll ab. »Ach, Jungchen! Nein. Das war nur ein kleiner Scherz von mir.« »Ich weiß«, schmollte William. »Die Fahne der Niederlande?« fragte ich. »Ist doch einfach. Roter Streifen, weißer Streifen, blauer Streifen.« Er zeichnete sie in die Luft, visualisierte sie beim Sprechen. Dann zeigte er auf mich. Schwenkte pädagogisch den Zeigefinger. »Luxemburg auch«, mahnte er. »Ja. Dafür gibt es einen Grund.« »Ich weiß, ich weiß. Und was ist das: roter Kreis auf weißem Hintergrund?« »Ist doch einfach. Japan.« »Das ist unfair!« Erwachsene sollten nicht alles wissen dürfen. »Sehen Sie sich vor«, sagte Diana auf dem Weg in die Küche. »Wenn er erstmal in Fahrt ist, zählt er Ihnen alle hundertachtzig auf.« »Hundertsechsundachtzig«, korrigierte William. 183
»Was kommt raus, wenn man die von den Niederlanden verdoppelt? Unten einen Spiegel ranhält?« Die Lösung erforderte einige Schritte. »Thailand?« »Du bist gut, Junge. Wirklich gut.« »Früherer Name Siam.« »Bevölkerung?« »Annähernd einundfünfzig Millionen.« »Annähernd«, seufzte Diana. »Nenne mir sieben Länder, in denen Spanisch die Amtssprache ist.« »Ist doch einfach«, sagte William und bewegte den Zeigefinger wie ein Florett. Der bemerkenswerteste Junge, den ich jemals kennenlernen werde. »Na kommt, ihr beiden«, sagte Diana, »Peter und ich wollen bald essen. Stimmt’s, Peter?« Peter igelte sich noch stärker ein. Ließ mich aber keine Sekunde aus den Augen. William bekam von mir den Auftrag, die Miesmuscheln zu waschen. »Sind wir nur zu viert?« fragte ich Diana. »Ja. Entschuldigen Sie. Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Ich dachte, Sie wüßten Bescheid.« »Was, von Lentz? Außer ihm ist niemand real. Wußten Sie das nicht?« »Die Welt drüben im Zentrum ist so klein. Ich habe mich wohl dran gewöhnt, daß dort jeder alles über jeden weiß.« »Und über keinen was Richtiges.« »Na ja, für uns alle kommt als erstes die Arbeit.« »Wie schaffen Sie das nur?« »Was?« Ich zeigte: mit einer Hand auf die Anrichte, mit der anderen auf ein fernes Labor. »Zwei Leben. Allein.« »Pff!« »Ich mähe den Rasen«, sagte William. »Was zahlt sie dir dafür?« 184
»Zweifünfzig.« »Donnerwetter. So was ist doch gesetzlich verboten.« Diana gab mir zum Filetieren ein Zitronenmesser. »Machen Sie keinen Aufstand, Schriftsteller. Sonst geb’ ich Ihnen was, worüber Sie schreiben können.« Das Essen wurde fertig. Und William und mir gelang das ohne Unterstützung der weiblichen Hälfte der Welt. Zum Tischdecken bildeten wir eine Kette. Peter saß daneben und klatschte in die Hände. »Seht mal«, rief William. »Pete hilft mit!« Hinter mir vernahm ich einen bestürzten Ausruf. »Was machen wir denn damit?« Diana stand an der Anrichte und hielt die Kerzen und den Blütenzweig empor, die ich vorhin ganz unten in meiner Tasche versteckt hatte. Sie sah mich scharf an. Ihre Augen wurden feucht. »Anmachen, natürlich.« Aber die Rettung kam zwei Sekunden zu spät. Ich zuckte die Schultern, und sogar das tat weh. Deswegen habe ich dich gebeten, mich nicht hierher einzuladen. Diana steckte die Kerzen in zierliche Halter, die sie erst aus Zeitungspapier auswickeln mußte. Wir zündeten sie an und löschten das Licht. Aber die Dunkelheit machte Peter Angst. Er krümmte sich nach vorn zusammen. Diana machte das Licht wieder an. Die Kerzen ließen wir brennen. William hatte mehr Spaß an den Schalen als am Inhalt der Muscheln. Es gefiel ihm jedoch, sie in die Weinsauce zu stippen und den Tisch damit vollzukleckern. Peter war mit seinem Kompott beschäftigt. Er wollte aber unbedingt auch eine Muschel probieren. Er bekam sie halb herunter, seine Miene ein Inbild der Verblüffung. »Die beiden werden tagelang Durchfall haben«, sagte Diana. »Tut mir leid.« »Seien Sie nicht albern. Den Durchfall bekommen sie, weil sie dauernd Toast mit Gelee essen.« 185
William biß sich in die Wange. Wie schlimm, bekam ich zunächst nicht mit. Nur hörte er plötzlich auf zu reden. Sah aus wie eine Clownnummer. Eine Pantomime. Ich lachte, bis Williams stummer, rotglühender Schmerz Peter veranlaßte, in Tränen auszubrechen und das Gesicht auf seinen Teller zu senken. Diana war im Bruchteil einer Sekunde aufgesprungen, ich wußte noch immer nicht, was los war. »Schon gut, Peter. Schon gut.« Diana hob den Jungen hoch und drückte ihn an sich. Sie wiederholte die Litanei auf vielfältige Weise und bewegte aufgeregt die Hände dazu. »Sie reden mit ihm in der Zeichensprache?« »Manchmal. Darauf kann er leichter antworten. Das Sprechen fällt ihm schwer. Es hapert noch an der Feinmotorik.« »Was sagt er denn?« »›Geht William weg?‹ Nein, Schatzi.« Diana signalisierte Beschwichtigendes. »William hat nur ein kleines Aua. Das ist schon seltsam«, gestand sie beiseite. »Was für eine unglaubliche körperliche Empathie er hat. Wenn irgendein Lebewesen Straßen weiter Schmerzen hat, fängt Peter an zu weinen. Sag Peter, daß mit dir alles in Ordnung ist, William.« William stand auf, er hielt sich die Wange und heulte stumm. Er ging zu seinem Bruder und legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Alles gut, Peter«, sagte er. Es fiel ihm schwer, Haltung zu bewahren. Endlich brach er in hörbares Schluchzen aus. Sein Bruder, bedingungsloser Gefolgsmann, schloß sich an. Ein denkbar harmloses Familiendrama, aber mich machte es fertig. Wie sollte ich dann erst eine echte Krise bewältigen können? Williams eingestürzte Muschelpyramide, Petes übergeschwappter, kippsicherer Becher, Dianas zahnlückige, Handzeichen gebende Heiterkeit, die brennenden Kerzen in dem strahlend erleuchteten Zimmer: alles zuviel. Ich dachte: Das würde ich nie überleben. Mich würde schon in der ersten Woche der Schlag ereilen. 186
Der Sturm legte sich schneller, als er aufgekommen war. Als ihm Kuchen versprochen wurde, räumte William plötzlich lachend den Tisch ab. Seine Mutter zog ihn auf. Peter hatte immer noch den Kopf auf seinem Teller, wie eine Sonnenblume unter der Last am Ende des Herbstes. Doch selbst er gewann offenbar das Vertrauen an die Wiederkehr des Glücks zurück. Nach dem Essen machten wir den Abwasch. William fragte, ob wir Schiffeversenken spielen könnten. »Sie müssen nicht«, sagte Diana. »Doch«, sagte William. »Das oder Yahtzee.« Er versteckte alle seine Schiffe in den Ecken, eine kluge Maßregel, bis ich ihm auf die Schliche kam. »Männer.« Diana schüttelte den Kopf. »Vollkommen rätselhaft.« Peter warf beide Hände in die Luft und gluckste grundlos euphorisch. Häuslicher Friede. Offenbar ein Zeichen für baldiges Schlafengehen. »Los, Jungs. Nach oben. Ab ins Bett.« William sträubte sich, aber es war nur ein schwächliches Nachhutgefecht. Diana trug Peter bis zur Treppe, dann setzte sie ihn ab. »Sehen Sie mal.« Pete lehnte sich auf die Stufen. Er nahm sie wie ein Halbkettenfahrzeug. Seine Füße hoben sich über die Schultern und schoben ihn so von einer Stufe zur nächsten. »Eigentlich müßte er schon gehen können, aber er ist so gelenkig.« Während des Badezimmerrituals blieb ich unten. Ich schnüffelte in Dianas Bücherregalen, fand aber nur heraus, daß sie eine Kognitionsneurologin war, die sich in irgendeinem anderen Leben lieber mit Vogelkunde und Möbelverarbeitung beschäftigen würde. William stürzte in seinem New-Wave-Pyjama die Treppe hinunter. »Mom hat gesagt, du bist Vorleser von Beruf.« »Hab’ ich nicht!« kam von oben ein verlegenes Dementi. »Na ja«, schmeichelte ich. »Wir können ja mal drüber reden. 187
Was für Bücher magst du denn?« Achselzucken. »Weiß nicht. Ich habe Hobbit gelesen. In drei Tagen.« »Ehrlich? Unglaublich. Hat es dir gefallen?« »Der Drachen war ziemlich unheimlich.« Wir marschierten nach oben. Peter lehnte an den Stangen seines Gitterbetts. Er schaukelte methodisch hin und her. Seine Hände machten eigenartig wölbende Bewegungen. »Was sagst du, Petie?« Ich streichelte den Kringel seines Ohrs. Diana lachte. »Fragen Sie lieber nicht.« William sprang auf seinem Bett herum. »Er sagt: ›Vorlesen! Vorlesen!‹« Seine Hände nahmen das Zeichen auf und multiplizierten es zu einem Befehl. »Aber sicher. Was möchten die Herren denn hören?« »Pete will die Zählfibel«, sagte Diana. »Das ist zur Zeit sein Lieblingsbuch.« Sie hob ihn aus dem gepolsterten Gefängnis und ließ sich, mit Peter auf den Armen, in einen Sitzsack sinken. Sie öffnete ein pastellbuntes Portal auf seinem Schoß. »Eins«, sagte sie. »Ein Haus. Eine Kuh. Jetzt du, Petey.« Peter fuhr mit einer Hand über die Buchseite. Als er sie berührte, rief Diana: »Eins! Richtig.« Jede Seite brachte ein Haus mehr, eine Kuh mehr, einen Baum mehr, einen Vogel mehr in einem kreisenden Schwarm. Diana zählte, zeigte auf jedes neue Bildchen. Dann bekam Peter krampfhafte Zuckungen, zeigte ziellos, aber eifrig, und wir drei sagten dazu im Chor die Zahlen auf. »Er zählt so gern. Er ist sehr klug«, sagte Diana kopfschüttelnd zu mir. »Du bist so klug!« signalisierte sie Peter. Peter krümmte sich wie ein Gürteltier. Die Trisomie mochte seine Muskeln geschwächt haben, aber die Gewichte, unter denen sein Rückgrat zusammenbrach, waren Angst und Freude. »Und was möchtest du nun hören, kleiner Mann?« fragte ich 188
William. Er lag schon schmal in seinem Bett. Wie schmächtig er aussah, ein Strich, ein verwundbarer Strich. Eine Limabohnenranke, auf feuchtem Küchenkrepp zum Keimen gebracht für den Jahrmarkt der Wissenschaft. Er langte blind mit einer Hand nach hinten, nach dem Regal über seinem Kopf. Ertastete das Totem und gab es mir, ohne hinzusehen. »Na na. Den Weltalmanach als Bettlektüre, das geht doch nicht.« »Will ich aber«, beharrte er. Monotones Stimmchen. Also dann: die Religionen der Welt; berühmte Wasserfälle; bekannte politische Führer; und natürlich die geliebten Flaggen aller Länder. Eher ausgemachtes Quiz als Vorlesestunde. William sagte mir, welche Liste ich nehmen sollte. Und kaum hatte ich angefangen, sprudelte er den kompletten Rest hervor. Ich rief jedesmal: »Woher weißt du das alles?« William grinste triumphierend, und Pete warf glucksend die Hände hoch. Besänftigt schliefen die Jungen kampflos ein. Unruhe kam erst wieder auf, nachdem Diana und ich uns allein ins Wohnzimmer zurückbegeben hatten. Jetzt veränderte sich das Haus. Auch sie veränderte sich. Sie legte etwas Zeitloses auf – Taverners Western-Wynde-Messe. Deswegen wäre ich nicht auf sie verfallen. Andererseits wäre ich auch nicht auf sie verfallen, weil sie Affenhirne gefriertrocknete. Ich wußte ganz und gar nichts über sie. Das hatte jeder Ton dieses Abends erwiesen. Die Nähe wurde fürchterlich. Alle Worte waren an die Jungen vertan. Ich empfand das flaue Gefühl derer, die von Rhetorik zu leben versuchen und sie am Ende nutzlos finden. Ich wollte meinen Kopf in ihren Schoß legen. Ich wollte nach Alaska verschwinden. »Ihr Vater?« fragte ich sie nach qualvollem Schweigen. »Ihr Vater fand das Gefälle von Will nach Pete ein wenig steil für seinen Geschmack. Vor elf Monaten. Hat mir alles 189
dagelassen. Aber wer zählt schon!« Sie drehte sich Haare um den Finger. Einmal im Uhrzeigersinn, dann andersherum. Sie sah mich nicht an. Gut. »Die Leute waren wunderbar. Harold. Ram. Die anderen. Am Ende hilft einem nur die Arbeit. Eines Tages werde ich im Hippokampus bestimmt etwas finden, das diesen Mann erklären wird.« »Ich nehme an, Lentz gehörte nicht zu den Tröstern.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wie können Sie nur mit diesem Widerling auskommen?« »Er baut mir die tollste Spielzeugeisenbahn, die sich ein kleiner Schriftsteller wünschen kann.« »Möglich. An mich wäre die Mühe verschwendet. Jede Mühe.« Sie starrte ins Leere, in die Musik, den leichten Regen. »Ich rede nicht von seinen abfälligen Bemerkungen. Von seinem Solipsismus. Seinem Sadismus. Mit all dem könnte ich zurechtkommen. Dergleichen lernt eine Frau in dem Gewerbe als gegebene Tatsache hinzunehmen. Nein, ich rede von seiner Traurigkeit. Er ist der traurigste Mann, der mir jemals begegnet ist.« Sie wählte diesen Moment, um aufzublicken und mir in die Augen zu sehen. »Außer Ihnen natürlich.« »Lentz? Traurig?« »Und wie. So sehr, daß mich fröstelt. Waren Sie schon mal allein mit ihm in seinem Büro?« »Stundenlang.« »Auch bei geschlossener Tür?« Nie. Und bis zu diesem Augenblick hatte ich das noch nie als befremdlich empfunden. Diana ging nicht näher darauf ein. Sie überließ es mir, das Experiment allein durchzuführen. Ich verstand ihr Schweigen. Einsamkeit in solchem Ausmaß mußte man selber ermessen. Wir saßen und lauschten dem Wind des Westens. Die Intimität einander vollkommen Fremder. Jahre später würden sich ihre Jungen vielleicht des komischen Mannes erinnern, der 190
eines Abends zu Besuch kam und ihren sich entwickelnden Gedanken etwas hinzufügte, indem er ihnen vorlas. Ein Abend, der sich nie wiederholt hatte. Ich erkannte diese Frau wieder. Diese Familie, eingeigelt vorm Nahen der Nacht. Ich kannte das Haus aus einem Buch, das ich als junger Erwachsener gelesen hatte, als mein erster eigener Entwurf sich im Stadium der Revision befand. Ich las den Roman in dem Nest, das G. und ich uns in B. eingerichtet hatten. Manns Doktor Faustus, das entscheidende Geschichtenbuch meines Erwachsenenlebens. Darin läßt sich ein genialischer Deutscher ganz von seiner Welt vereinnahmen, indem er auf jedes Streben außer dem nach Artikulation verzichtet. An den Mann mußte ich denken, wie er, nicht mehr ganz jung, einen Liebesbrief an die letzte Frau schrieb, die ihn vielleicht genommen hätte. Aber der Brief sabotiert sich selbst. Er führt seine eigene Abweisung herbei. Er offenbart eine Einsamkeit, die, wie ihm bewußt ist, jeden Tröstungsversuch abschrecken muß. Ich habe mir die Stelle seit der ersten Lektüre nicht mehr angesehen. Ich werde sie niemals wieder lesen. Das Original könnte zu weit von dem entfernt sein, was ich im Gedächtnis bewahrt habe. »Betrachten Sie mich«, heißt es in dem Heiratsantrag, »als einen Menschen, der plötzlich, mit dem Schmerz der späten Erkenntnis, feststellen muß, daß er vielleicht doch gern ein richtiges Zuhause hätte.« Diana saß mir gegenüber auf einem bequemen Sofa, das vom destruktiven Fleiß kleiner Jungen verschandelt war. Oben wälzten sich diese Jungen in Träumen, deren einzige Aufgabe es war, das Unverständliche dieses Tages auszubügeln. Hier war das Zuhause, das ich niemals haben würde. Geformt von einem Buch, hatte ich selbst dafür gesorgt. Ich hatte den Lesestoff meines Herzens gezwungen, in Erfüllung zu gehen. Hier und da auf dem Plüschteppich schlugen zylindrische Röhrenmännchen und Batterieroboter ihre Basislager aus Leg191
osteinen auf. Diana zog sich das ausgedehnte Melisma der Musik wie ein Tuch um die Schultern. Gott, daß mein Lieb ich in den Armen hielte und endlich wieder im Bette läge. »Danke«, brachte sie mich an der Tür zum Schweigen. Sie drückte meine Hand. »Danke. Es ist schon etwas her, seit ich bei Kerzenlicht gegessen habe.« Ich ging heim in die gewählte Einsamkeit. Zu dem Buch, das ich niemals würde schreiben können.
Stell dir einen Zug nach Süden vor. Der Zug ist voller Kranker und Verwundeter. Es sind die üblichen Sanatoriumspatienten dieses Monats. Schwindsucht, Influenza: die altmodischen Krankheiten der Literatur. Gebrechen, zu denen sich der Leser phantastische, schülerhafte Bezüge hinzuerfinden muß. Verstümmelte Veteranen, die von der Front weggeschafft werden. Ein Augenblick der Masseneinfuhr, der allgemeinen Erhebung aus der gerade noch erinnerbaren Vergangenheit. Bevölkerungen am herrschenden Rand der Panik, von Eifer gepackt. Der Lazarettzug fährt ab. Stößt zur Flottille der durchs Dunkel pflügenden Rettungsboote der Zeit. Grausam, blau, sich wappnend, losbrechend: der einzige Anfangssatz, der die Beschäftigung lohnt. Drängend hingestreckt am Ende des Schienenstrangs der Phantasie, fährt ein Buch nach Süden. Vom Telegrafenwagen sendet es Signale aus. Tikkert mir eine Botschaft, an der ich um jeden Preis hätte festhalten sollen. Eine Botschaft, die nie aus dem Heimatbahnhof der Kindheit herausgekommen ist. Die Luft ist schneidend kalt, belebend und klar wie Kristall. Es ist das Jahr neunzehnhundertundnochwas. Ein Jahr, das mit einem Gedankenstrich endet oder vielleicht mit zwei Bindestrichen. Der Zug schleppt sich nach Süden, es ist Krieg. Er schiebt 192
sich gletschergleich ins Gebirge, es ist vielleicht der letzte klare Monat, die letzte Woche, in der die Bergpässe noch passierbar sind. Die Lok arbeitet sich empor. Sie wittert unablässig die Außenbezirke desselben ausgebombten Dorfs. Felder zerfließen wellig unter ihren Rädern, deren Rattern selbst die Ewigkeit veranläßt, unmerklich in ein stehendes Jetzt zu verbluten. Bald schon, am zweiten Reisemorgen, bestäubt sich der Boden unbekümmert mit Schnee. Die Vegetation verändert sich auf dem Weg in die Höhe, wenngleich die Erzählung, der Reisebericht selbst, nichts davon mitteilt. Das Sirenengeheul kleiner Käffer an der jungen Strecke verweht in der Ferne. Noch immer zünden Luftangriffe wahllos Flächenbrande auf dieser Seite der Grenze. Aber die Verwundeten in den Abteilen sind heiter. In ihnen wächst die Überzeugung: es wird etwas geschehen. Gleich nach dem Umblättern.
C. und ich kehrten nach U. zurück. Es gelang uns, dort noch einmal zwei Jahre zu leben. Daß wir es so lange ausgehalten haben, überrascht mich selbst. Wie konnten wir hoffen, ein Leben in einer Stadt führen zu können, in der wir schon einmal eine Reise in die Vergangenheit unternommen hatten? C. suchte etwas, das sie zufällig verloren hatte. Dieses Etwas war nicht U., weder damals noch jemals. Doch im Gewühl der Menge von sich selbst abgeschnitten, kehrt man instinktiv zum letztgesehenen Anhaltspunkt zurück und hofft, der verlorene andere werde auf dieselbe Idee verfallen. Ein Wechsel der Umstände gewährte uns einen kleinen nostalgischen Aufschub. C.s Büroerfahrung verhalf ihr zu einer Stelle in der Personalabteilung der Universität. Und ich: mir wurde ein Wunsch erfüllt, für den Romanfiguren schon kriti193
siert würden, wenn sie ihn nur dächten. Die politische Unterhaltung, die ich für C. geschrieben hatte, wurde gedruckt und verkaufte sich gut. Das vergessene Dachstubenvermächtnis, die Brücke zwischen einem imaginären Limburg und dem allzu realen Chicago, hatte Leser gefunden. Rezensenten beurteilten das Buch schwarz auf weiß in denselben Zeitungen, die ich früher so flüchtig gelesen hatte. Vollkommen Fremde gaben für ein Exemplar zwei Stundenlöhne her. Menschen, denen ich niemals begegnen würde, schrieben mir Briefe, verliehen mir Preise. Das Unmögliche dämmerte mir: vielleicht war ich der letzte Mensch auf dieser Welt, der den ganzen Tag lang genau das tun durfte, was er wollte. Jeder neue Triumph meines Buchs versetzte C. in melancholische Begeisterung. »Beauie, du hast es geschafft. Proficiat. Ich habe schon immer gewußt, daß du es schaffen würdest.« In Wirklichkeit hatte sie schreckliche Angst. Von Bewunderern belagert, verkrochen wir uns in unserer Einzimmerwohnung – eine Nummer besser als die in B.s zugeschüttetem Sumpf. Eines Abends saßen wir beim Essen an dem hübschen grünen Emailletisch, den wir aus dem Gebrauchtmöbelladen gerettet hatten. Im Radio lief die Nachrichtenparade. Mit einemmal sprach eine Stimme über das Buch, erzählte die Geschichte der Jungen auf dem Foto. Paraphrasierte, als ob sich dieses Leben wirklich abgespielt hätte. Ich hatte diese Jungen zu C.s Belustigung erfunden. Sie setzten sich aus Stücken zusammen, die nur sie erkennen konnte. Ich sprenkelte die Biographien mit Archivmaterial, historischen Fakten und fotografischen Zeugnissen. Dazwischen waren Essays eingeschaltet, wie jeder Historiker längere Schilderungen halb selbst erfindet, indem er die allgemeinen Erscheinungen mit einem privaten Adreßbuch vereinigt. Jetzt war unser privates Adreßbuch zu einer dokumentarischen Tatsache avanciert. 194
Bei der Beschreibung des Jungen, der von seinem Fahrrad gesprengt und ausradiert wurde, noch ehe der Weltbrand aus den Startblöcken war, brach C. in Tränen aus. Erst dachte ich, sie weine vor Stolz. So vernagelt gegenüber den Tatsachen der Realität hatte mich das Schreiben eines Romans gemacht. »Der arme Junge«, brachte sie heraus. Ich setzte es zusammen. »Verzeih mir. C., bitte. In einem Monat ist alles vorbei.« Ihre Stimmung besserte sich ein wenig bei dem Gedanken, in die Anonymität zurückzukehren. Wieder in eine Zeit zu finden, in der unsere erfundenen Melodien niemandes Hintergrundmusik zum Essen bilden würden. Wir erkannten unser Leben in U. nicht mehr wieder. Die Stadt hatte sich in jeder Hinsicht geändert, nur nicht in ihren Eigenarten. Wieder nach U. zu kommen, das war, als klopfe man bei einer Wiedersehensfeier einem alten Freund auf die Schulter, und der drehe sich um und sehe einen freundlich, aber verständnislos an. U. hatte uns vergessen, war dabei aber quälend vertraut geblieben. Die Stadt hatte sich zu einer mittelenglischen Allegorie entwickelt. Ihr einziger Trost waren andere Menschen, die von ihrer Verlassenheit hier genauso verwirrt waren wie wir. Zum erstenmal in unserem Leben mischten C. und ich uns in die Gesellschaft. Wir lernten Wein auswählen, Bekleidungsvorschriften enträtseln, uns mit einem Arsenal von Witzen und Geschichten für jeden Anlaß im voraus auf einen Abend vorbereiten. Je länger wir das Spiel mitmachten, desto leichter wurde es uns. Wären wir dabeigeblieben, hätten wir es bestimmt weit bringen können. Dinnerpartys im Mittleren Westen waren nicht, wie unsere Bekannten in B. uns neckten, ein Widerspruch in sich. Waren sie einmal in Gang, konnten sie sogar recht vergnüglich sein. Nur das Vorher war eine Qual. »Ich bin zu dick«, erklärte C. jedesmal eine Stunde vor dem Aufbruch. 195
»Schätzchen, du bist schlank wie ein verdorrter Grashalm in den Steppen Afrikas. Red dir nicht ein, daß du dick seist. Am Ende glaubst du es noch.« Ich tat noch immer so, als ob sie nicht längst davon überzeugt wäre. »Nimm das Schaflederkleid«, sagte ich dann etwa. »Darin siehst du umwerfend aus.« »Das Kleid macht mich dick.« »Na schön. Wie wär’s mit dem Musselinkleid?« »Darin sehe ich aus wie eine, die versucht, nicht dick zu wirken.« Manchmal schloß C. sich im Bad ein und erbrach sich. Oder sie stand schluchzend da und weigerte sich, die Wohnung zu verlassen. Meist aber verzog sich die Wolke noch rechtzeitig. C. erblühte und wurde zum strahlenden Mittelpunkt der Party. Die Menschen liebten sie, und sie liebte sie wieder. Jedenfalls die zu lieben sie sich erlaubte. Ohne die Taylors wären diese zwei Wiederholungsjahre in U. wohl öd und leer gewesen. Durch Taylor kam ich dahinter, wie ein Buch die unwirkliche Fähigkeit des Verstands, sich auf sich selbst zurückzubeziehen, widerspiegelt und ans Licht bringt. Er hat mein Leben verändert. Er hat verändert, was ich für Leben hielt. Damals hatte ich, ewig der achtzehnjährige Student, ihn stets nur aus der Ferne bewundert. Nun aber wurden wir zu meiner Überraschung Freunde. Unsere erste Einladung zu den Taylors versetzte C. in helle Panik. Sie hatte mich so oft von Taylor schwärmen hören, daß sie, als sie ihm leibhaftig begegnen sollte, nur noch Fluchtgedanken hatte. »Wie sieht er aus?« fragte sie. Als ob das sie auf ihn vorbereiten konnte. »Wie soll ich sagen. Schmächtig. Eindrucksvoll. Tadellos. Ein von Intelligenz verheertes Antlitz.« »Du bist unmöglich, Beau. Was hat er für eine Haarfarbe?« »Weiß ich nicht genau.« 196
Ich erzählte ihr von dem verregneten Septembernachmittag, an dem ich ihn zum erstenmal gesehen hatte. Er kam in den Vorlesungsraum unterm Dach der anglistischen Fakultät. Ein Dutzend von uns saßen in nervöser Anonymität zusammen. Dann kam er, ein kurzgeschorener Mann um die Fünfzig in einem untadeligen Sommeranzug. Er legte sein Lehrbuch und unseren ersten Text auf das Pult, ließ sich auf einem dieser minimalistischen Gelbholzstühle nieder, zog ein Päckchen Zigaretten aus einer Innentasche seines Jacketts und fragte, ob jemand etwas dagegen habe. Er zündete sich eine an, legte ein klein wenig den Kopf zurück und sagte dann: »Es ist wider die Statistik, daß ich in einer Gruppe von dieser Größe der einzige mit einer oralen Fixierung sein soll.« Mit achtzehn behielten wir unsere Fixierungen noch für uns. Zumindest bis es ans Lesen ging. »Was habt ihr gelesen?« wollte C. wissen. »Als erstes gab er uns Freuds Einführungsvorlesungen. Dann haben wir die Traumarbeit auf Märchen und lyrische Gedichte angewendet. Später gingen wir zu längeren Sachen über – Kurzgeschichten, Schauspiele, Romane.« »Titel, Beauie. Nenn mir die Titel.« »Mal sehen. Das ist zehn Jahre her! Gawain und der Grüne Ritter. Adam Lay Bound. Patrick Spens. Die Erzählung des Müllers. Die Sonette.« »Du erinnerst dich an das alles?« »Als ob es gestern gewesen wäre. Besser. Du hättest dabeisein sollen. Ich erinnere mich sogar an die Stellung seiner Lippen, wenn er uns Verse rezitierte. Natürlich konnte er die meisten dieser Stücke wörtlich hersagen. Im Dunkeln.« »Welche Sonette?« »Gibt das einen Zusatzpunkt? Wir sollten jeder eins auswählen und der Gruppe vorstellen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil ich gerade meine Beziehung zu –« »Ich will den Namen dieser Frau nicht hören!« 197
»Anscheinend habe ich Trost gebraucht, denn ich entschied mich für Sonett 31.« »Das lautet?« »Das lautet: Von all den Herzen reich ist deine Brust, Die ich vermißte und für tot beweinte; Nur dort herrscht Liebe und herrscht Liebeslust, Weilt jeder Freund, den ich begraben meinte. »Ich dachte, es müßten vierzehn Zeilen sein.« »Waren es bestimmt auch. Bevor die Erinnerung sich daran zu schaffen machte.« »Na gut. Was noch?« »The Sick Rose. The Second Coming. The Windhover. Alles mögliche von Dickinson. Prufrock. Frost, Stevens. Helden. Der Sturm. Moment mal. Gleich zu Beginn des Semesters haben wir uns auch viel mit der Bibel beschäftigt.« »Wohl verdrängt, wie?« »Schon möglich. The Grave. Petrified Man. Die Toten. Das Stück hatte die stärkste Wirkung auf mich. Da wurde mir klar, daß ich nicht das Leben führen würde, das ich mir vorgestellt hatte. Herz der Finsternis. Licht im August. Glück für Jim …« »Und was hast du nicht gelesen!« »Tja. Es war schon eine ganze Menge.« »Ich versteh’ das nicht, Beau. Hört sich an wie die übliche Pflichtlektüre für Erstsemestler.« »War es aber nicht. Zunächst einmal saß diese prachtvoll selbstbeherrschte orale Fixierung vorne im Saal und erzählte Anekdoten in einer derart züchtigen byzantinischen Syntax, daß wir gar nicht auf die Idee kamen, die Hälfte davon könnte alles andere als tugendsam sein. Der Mann sprach in kompletten, perfekten Absätzen. Ich brauchte fast eine ganze Woche zwischen zwei Vorlesungen, um Taylors Hinweis zu enträtseln, 198
daß der Erzähler in Stopping by Woods da draußen in freier Wildbahn seine Notdurft verrichtet.« »Ich gehe da nicht hin«, beschloß C. »Schatz, du verstehst das nicht. Der Mann ist der Anstand in Person. Und seine Frau ist schlichtweg ein Juwel. Zusammen sind die beiden zum Schreien komisch.« »Die werden mich für eine Idiotin halten. Werden sich fragen, was du mit einer wie mir anfangen kannst.« »Ganz im Gegenteil. Sie werden sich fragen, was eine Sexbombe wie du an einem neunzig Pfund leichten ästhetischen Schwächling findet. C.! Im Vergleich mit Taylor kommt sich jeder vor wie ein Idiot.« »Das habe ich nicht nötig, vielen Dank. So was habe ich schon oft genug erlebt.« »Aber Taylor besitzt auch die Gabe, einem das Gefühl zu vermitteln, klüger zu sein, als man tatsächlich ist. Wir Teenager murksten an diesen Gedichten herum. Altklug und aufgeweckt, aber unreif. Ich kam mir vor wie ein Kind, das zum erstenmal ohne Stützräder fährt. Hundert Meter rasende Fahrt, dann stürzte ich zu Boden. Aber jedesmal, wenn ich etwas besonders Törichtes sagte, unterstellte Taylor meinen Fehldeutungen so viel Intelligenz, daß ich sie gar nicht mehr wiedererkannte. ›Ihre Darstellung des Verfahrens, wie der Erzähler die Wiederkehr des Verdrängten umgeht, ist in höchstem Maße überzeugend. Aber warum spielen Sie so zimperlich auf seine realen und unbewußten Motive an?‹ Ach, ich wünschte, ich könnte es diesem Mann gleichtun!« »Er ist ein Gott für dich, wie?« »Nein«, antwortete ich. »Nein. Ein richtiger Mensch.« »Ich komme nicht mit.« Sie kam mit; und genoß es sehr. »Er ist genau so, wie du gesagt hast. Der Anzug. Die kompletten Absätze. Nur die Werbelieder für Kriegsanleihen hast du vergessen.« »Die waren auch mir vollkommen neu.« Der Abend hatte in 199
der Tat eine Überraschung nach der anderen gebracht. »Erzähl mir noch einmal, was dieses lange Matthew-ArnoldZitat …« »… aus einem Gedicht, das seit einem halben Jahrhundert kein Mensch mehr gelesen hat …« »… mit dem Blick zu tun haben soll, den er mit zehn Jahren in einem Kino in Colorado in Norma Shearers Dekolleté geworfen hat.« »Ich kann mich nicht mehr erinnern. Nehme an, es hatte was mit der zweiten Flasche slowakischen Weins zu tun.« Danach gingen wir immer häufiger hin. C. begeisterte sich genauso wie ich. Jeder Besuch offenbarte eine neue Seite Taylors. Taylor, der untröstliche Fan hoffnungslos schlechter Sportmannschaften. Der Tänzer zu Bluegrassnummern. Der meisterhafte Biogärtner, der die Hälfte aller Obstbäume in U. gepflanzt hatte. Der Sammler zweideutiger Witze, die außer ihm niemand auch nur hinter vorgehaltener Hand erzählt hätte. Der Luftaufklärer zu Kriegszeiten. Der Angler und Naturforscher. Der Imitator von tausend Stimmen, von Blanche DuBois bis zu einem mexikanischen Provinzliga-Baseball-Ansager. Der Junge, der sich mit Tarzan und John Carter selbst das Lesen beigebracht und dann, lange vor seiner Flucht vom Lande, jeden Band der Gemeindebücherei verschlungen hatte. Nur eine dünne Naht hielt all diese Fülle zusammen. Taylors Tiefe war freudlos. Er hatte alle Bücher gelesen. Er beherrschte die Muttersprache des Geistes. Er wußte, die Psychopathologie des Alltagslebens war der Regelfall. Ohne seinen Humor und seine Bescheidenheit wäre er ein ausgemachter Misanthrop gewesen. Und diese beiden versöhnlichen Eigenschaften – das, was diese herzzerreißende Überbildung zu einem Ganzen rundete – verdankte er seinem Erinnerungsvermögen. Taylors Intelligenz gab mir das Gefühl, ein vor Geist nur so sprühender Unterhalter zu sein. Oft kamen wir erst weit nach Mitternacht von unseren Besuchen zurück, wachgehalten von 200
Erwachsenen, die, dreißig Jahre älter als wir, uns mühelos an Kondition übertrafen. Danach lagen wir noch stundenlang im Bett, die Augen wollten nicht zugehen, die Gedanken rasten, und wir spielten noch einmal die Unterhaltungen des Abends durch. Denken erschien mir als das, was auf einer einsamen Insel seinen eigenen esprit d’escalier noch einmal durchleben könnte. Erinnerung war der Versuch, aus versäumter Geistesgegenwart Kapital zu schlagen, ein übersehenes Wort wiederzufinden, das jemand anderem für einen Augenblick ein Gefühl intensiveren Lebendigseins vermittelt hätte. C. sah das auch so. »Wenn wir bei ihnen sind, fallen mir Geschichten aus meiner Kindheit ein, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe.« Wir rissen Witze, wie wir sie früher niemals gemacht hätten. Wir sangen den Taylors Lieder vor, die wir als Überlebenshilfen in B. geschrieben und seit der Rückkehr nach U. vernachlässigt hatten. Unabhängig von der Qualität unserer Darbietung fanden die Taylors uns sympathisch genug, uns immer wieder einzuladen. Wir besuchten sie am 4. Juli. Die Taylors spielten The Mormon Tabernacle Choir Sings John Philip Sousa und machten handgekurbeltes Speiseeis. Wir besuchten sie zu Weihnachten, eine Party, die Joyces Tote lebhaft widerlegte. Gute Laune vom Himmel und in einer Gestalt, die sogar Sterbliche begreifen konnten. Spät in dieser wunderbaren Nacht setzte sich Taylor neben C. in eine Ecke und legte einen Arm um sie. Natürlich mußte auch diese spontane Zuneigung in einen typischen Taylorismus eingewickelt werden: »Sie wissen ja hoffentlich, dieser Arm ist hinlänglich von Alkohol narkotisiert, als daß mir daraus ein unerlaubtes Vergnügen erwachsen könnte.« C. glühte noch bis Neujahr ob dieser Freundlichkeit. Auf lange Sicht aber tat ihr das gar nicht gut. C. verfiel in diesem Winter zusehends. Nur Liebe hätte ihr guttun können. Und von dem, was an Liebe verfügbar war, hätte ihr nur unverdiente Liebe helfen können. Nur daß C. sich niemals von 201
der Gewißheit befreien konnte, unverdient sei nicht verdienstvoll. Jeder Brief im Kasten, jeder Anruf von Verwandten oder Freunden traf C. wie eine Anklage. So formte sie die Geschichte ihres Erwachsenenlebens: jede wichtige Entscheidung, die sie jemals getroffen hatte, bedeutete für irgend jemanden eine kleine Enttäuschung. Und jede Enttäuschung war eine Sparmarke, die unwiderruflich ins Buch geklebt wurde. Wir schleppten uns durch den Frühling. Der Gedanke, daß ihr Unglück mich niederdrücken mußte, machte C. noch unglücklicher, als sie ohnehin zu sein glaubte. Schlimmer noch, dieser Gedanke erfüllte seine eigene Vorhersage. Schon ihre Angst drückte mich nieder. Das heißt, nicht ihre Angst, sondern der Anker hilfloser Liebe, der sich in meinem Herzen festhakte. Zwei Jahre in einem U., das nicht mehr das unsere war, verbanden uns in Furchtsamkeit. Ich erkenne das noch auf dem einzigen Foto, das ich von ihr aus dieser Zeit besitze. Angesichts dieser von Panik zerfurchten Miene, die vor der Kamera als Lächeln gelten soll, werde ich ewig aufschreien und ihr in ihrem Schmerz zu Hilfe eilen wollen. Und wieviel schlimmer noch war dieser Schmerz, als sie erklärte, er rühre von meinem Bedürfnis her, sie zu trösten. »Liebste Freundin. Was willst du? Sag es mir. Sprich doch mit mir. Wie kann ich dich glücklicher machen?« »Du könntest mich verlassen«, meinte sie eines Abends. Ebensogut hätte sie mich eines Mordes bezichtigen können. Ich starrte in ein Gesicht, aus dem jeder Zug der Frau, die ich kannte, verschwunden war. »Es wäre dein gutes Recht. Was anderes habe ich nicht verdient.« An diesem Abend ließen wir die Balzac-Fortsetzung aus. Was wir einander jetzt vorzulesen hatten, war unser eigenes unvollendetes Manuskript. Keine Zeile, kein Absatz, kein gan202
zes Kapitel, das nicht gestrichen werden konnte. Nichts in unserem Stil, das wir nicht durch gemeinsame Redaktion noch viel direkter formulieren konnten. Aber C. hegte eine tiefe Abneigung gegen Worte. Sie erhöhten nur die Chance, daß sie das Ziel verfehlte. Bestärkten sie in dem Gefühl, eine Verräterin zu sein. Wir versuchten zu reden. Je mehr ich rannte, desto mehr verrannte sich C. Sie erstarrte wie das Kaninchen in jenem Gedicht von Larkin, das ich Taylor zehn Jahre zuvor vorgelesen hatte. Das Wesen, das wähnte, einer tödlichen Seuche entgehen zu können, indem es reglos verharrte und abwartete. Als Worte nichts fruchteten, versuchten wir es mit unseren Körpern. Ich küßte ihre Boxerschultern, ihre Rippen, ihre schreckhaften Schenkel. Ich wollte ihr die Knoten des Unmuts mit dem Mund aus den Muskeln nehmen und sie verdauen. Ich gab mir Mühe. Nun redete C. Doch ihre Worte waren stimmlose Phoneme der Not, die keine Botschaft hatten als ihre Verzweiflung. Die Zeit hat grenzenlose Geduld. Sie spielt uns ihr Sommerrepertoire so lange vor, bis wir endlich begreifen, worum es überhaupt geht. Sie entwirft ihre Pfade, bis wir nirgendwo anders hingehen können, selbst wenn es im Unterholz ein Woanders gäbe. Eines Abends kam C. lachend vom Büro nach Hause. »Du wirst es nicht glauben. Aber die wollen mich zur Leiterin der Personalabteilung befördern.« Ich umarmte und beglückwünschte sie. Sie blieb schlaff. »Natürlich machen sie das«, schimpfte ich. »Wurde ja auch langsam Zeit.« Ich wollte ihr immer nur geben, was sie brauchte. Aber mehr als alles andere brauchte sie, daß man ihr nichts gab. Ich sah den panischen Kaninchenblick in ihre Augen kriechen. Ich bin brav gewesen. Ein braves Mädchen. Ich habe niemals irgendwen um irgendwas gebeten. Warum machst du 203
das mit mir? »Beauie. Beauie.« Sie kicherte kopfschüttelnd. »Ich muß unbedingt hier weg.«
Einmal, als ich Imp E einfache Formen zeigte, platzte Lentz herein. »Plover, dieser Schweinehund, kichert auf dem Flur hinter mir her.« »Und das ist meine Schuld. Richtig?« Er stoppte abrupt. »Marcel, Sie werden auch immer klüger. Täglich und in jeder Hinsicht.« »Er hat recht. Harold hat recht. Diana hat recht. Ram auch. Sogar Chen und Keluga haben recht.« »So ein Quatsch.« Lentz’ Zurückweisung war bündig genug. Aber seine Aufregung war so weitschweifig, daß er einen schwankenden Stapel Computerausdrucke umstieß. Er bückte sich, um die Bescherung aufzuheben, und brach mitten in der Bewegung mit einer angewiderten Gebärde ab: zwecklos, hinter sich herzuräumen. »Womit haben sie recht?« »Daß neuronale Netze nicht die Antwort sind.« »Und wie lautet die Frage, Marcel?« »Wie soll E sich Wissen aneignen können? Wissen ist doch etwas Physisches, oder? Nicht das, was einem die Mutter vorliest. Sondern das Gewicht ihres Arms, mit dem sie einen hält, wenn sie –« »Aber natürlich, Marcel. Legen Sie dem Ding einen Arm um die Schulter, wenn Sie ihm vorlesen. Ja, tun Sie das. Haben Sie es bis jetzt denn noch nie in die Arme genommen?« »Angelesenes Wissen hat den Geruch von Buchbinderleim. Das Rascheln dicken Papiers beim Umblättern der Seiten. Papier von der Farbe alten Elfenbeins. Wissen ist zeitgebunden. Es handelt von Zeit. Sie verstehen das, Ingenieur. Selbst Sie müssen sich daran erinnern. ›Die drei Seiten schaffen wir noch, 204
bevor deine Brüder und Schwestern zum Mittagessen nach Hause kommen.‹« »Sie reden immer noch von Reiz und Reaktion. Von multidimensionalen, durch Feedback erzeugten Vektoren, egal, wie kompliziert. Sie reden von einer Assoziationsmatrix. Genau daran arbeiten wir doch die ganze Zeit.« »Aber Imp E’s Matrix ist nicht menschlich. Menschliches Wissen ist sozial gebunden. Es ist mehr als Reiz – Reaktion. Wissen erfordert, daß ein Wissen am anderen geprüft wird. Daß eins sich am anderen reibt.« »Unsere Matrix reibt sich an Ihnen. Sie reibt sich an den Sätzen, die Sie ihr eingeben.« »Das Ding kann sich ewig an Wortlisten reiben und wird niemals mehr als eine Sammlung willkürlicher, separater Angaben besitzen.« »Und was besitzen wir Menschen?« Lentz nahm die Brille ab und putzte sie. Er sah schon mit ihr furchtbar aus, aber ohne war es noch schlimmer. »Mehr.« Was, wußte ich im Augenblick auch nicht. Aber es mußte einfach mehr sein. »Wir nehmen die Welt kontinuierlich auf. Sie dringt auf uns ein. Sie ist heiß und kalt.« »Sparen Sie sich das für die Preisverleihung, Marcel. Wir ›nehmen die Welt auf‹ mit Hilfe des zentralen Nervensystems. Vermittels chemischer Prozesse. Sie haben meinen Artikel über langfristige Steigerungsmöglichkeiten gelesen.« »Imp E nimmt Fakten anders auf als wir. Es wird niemals wissen –« »Das braucht es auch nicht.« Zur Unterstreichung seiner Rede stieß er noch mehr Papier auf den Boden. »Es braucht nicht zu ›wissen‹, was auch immer Sie überhaupt darunter verstehen mögen. Sie haben doch Plovers Voodoo-Neurologie gelesen? Unser Kasten muß nichts anderes können als ein paar blöde Texte nacherzählen.« »›Ich zürnte einem guten Freund: ich sagt’ es ihm, mein Wü205
ten schwieg.‹ Wie soll es das jemals erklären, geschweige denn nacherzählen?« »Was weiß ich. Lehren Sie das Ding zürnen. Machen Sie es wütend. Darin scheinen Sie mir doch ziemlich gut zu sein.« »Bis Juni, richtig?« »Hmm.« »Literarische Kommentare zu jedem Buch auf der Liste? So gut wie irgendein beliebiger Zweiundzwanzigjähriger.« »Wie von Gunga Din persönlich rezensiert.« »Oder öffentlicher Widerruf und Abbitte.« »Nicht doch, Marcel. Das hatten wir schon alles. Machen wir lieber weiter. Die heutige Trainingseinheit.« »An Ihrer Stelle würde ich längst an meinem Widerruf feilen.« »Erinnern Sie mich bloß nicht daran. Dieser verdammte Plover. Der wird das für uns abfassen, wir brauchen nur noch zu unterschreiben. Na ja. Wenn uns das Schicksal schon ereilen soll, dann am besten im Kampf mit einer furchtbaren Übermacht.« Er setzte die Brille wieder auf und nahm neben mir Platz. An diesem Tag trainierten wir zusammengesetzte Subjekte. Was für Meere, was für Küsten, was für graue Felsen und was für Inseln. Er hatte eine Liste mit einfachen Sätzen aus Wörtern, die bereits in E’s schwächlichem Begriffsumfang enthalten waren. E sollte die Sätze, die wir ihm eingaben, umformen. Seine heutige Aufgabe lautete: Finde die Konjunktion, entferne sie, und zerlege das Kompositum in zwei Teile. Als E nach einem halben Dutzend Beispielen mit einer Geschwindigkeit reagierte, die auf Langeweile schließen ließ, griff ich beiläufig nach hinten und schob die Tür zu. Keine muskellose Maschine würde jemals eine solche Geste deuten können. Als ob es auf dem Flur zu laut gewesen wäre. Lächerlich, nachdem wir so viele Wochen im Freien gearbeitet hatten. Die Tür klappte zu und gab das an der Innenseite befestigte 206
Foto preis. Nach Dianas Hinweis hatte ich mir das verborgene Heiligtum bereits einmal heimlich angesehen. Der Anblick hatte mir den Atem verschlagen. Jetzt wollte ich sehen, was Lentz für eine Miene machte, wenn das verdeckte Bild uns offen anblickte. Lentz schwieg einen beträchtlichen Bruchteil der Ewigkeit lang. Er ignorierte meinen forschenden Blick und starrte in seine Notizen. Auf das ahnungslose Terminal. »Empirismus?« sagte er höhnisch. Offenbar war er enttäuscht von mir, aber nicht überrascht. Neugierige Rotznase. Was konnte man von einem Judas, von einem feinsinnigen Stümper auch anderes erwarten? Er sah das Foto prüfend an, dabei mußte jedes Pixel längst dauerhaft in sein Sehzentrum eingebrannt sein. Wenn er bei geschlossener Tür hier drin saß, füllte die Farbenflut, riesenhaft in Augenhöhe, sein ganzes Blickfeld aus. Er sah wieder weg. Fuhrwerkte mit dem Mauszeiger herum, eine Katze, reumütig nach der Jagd. Na komm, steh auf und mach weiter. Als ob es ein Spaß gewesen wäre. »Ich nehme an, Sie interessiert die Bildunterschrift?« Die hatte ich nicht nötig. Ich sah noch gut genug. Ein selbstgemachter Kalender an einer Reißzwecke, der Januar noch dran. Ich sage »noch«, denn obwohl jener Monat uns erst bevorstand, waren diesem speziellen hier schon zwanzig andere Januare gefolgt. Über dem gedruckten Verzeichnis der Kalendertage öffnete sich ein buntes aufgeklebtes Türchen, hinter dem unscharf ein Paar zu sehen war. Die beiden standen Arm in Arm an einem bereiften menschenleeren Strand. Der Mann war Lentz. Jung, wie ich ihn nie gesehen hatte. Mit Haaren auf dem Kopf. Er wirkte unglaublich größer, und schlank war er. Die Frau an seiner Seite war auch nicht älter. Dennoch schien dieses Paar unsäglich alt. Direkt unter der brüchigen Zwiebelhaut der Jugend wohnte das Alter. Das Klapptürchen exponierte diesen senilen Kern wie auf einem Rönt207
genschirm. Es zeigte das Lauern des Greisentums, bereit, aufzublühen wie ein Aneurysma. Die handwerkliche Verarbeitung war zu plump für ein Geschenk aus dem Versandhandel. Das Ganze sah aus wie von einem Kind in der Schule gebastelt – zu Weihnachten, zum Geburtstag –, aus einer Zeit, in der solche Gaben noch nicht von pubertärer Peinlichkeit unterdrückt wurden. Sieh mal, was ich für dich gemacht habe. Ein sehr frühes Bestechungsgeschenk der Liebe. Ich faßte das Bild mit den Augen an. Rechnete schon halb mit einem Verweis des Museumswächters. Doch niemand forderte mich auf zurückzutreten. Im Geiste befühlte ich die Schultern des vorzeitig gealterten Mannes. Vor der Kamera strafften sie sich in einem letzten Versuch, Tapferkeit zu zeigen. Ich streichelte das Gesicht der Frau, auf dem bereits künftige Verzweiflung erste Furchen zog. Während ich in dem Bild versank, stand Lentz auf und trat ans Fenster. Draußen durchkämmte ein Trupp Stare den gepflegten Rasen wie eine Kolonne der Mordkommission ein Feld auf Suche nach Beweisstücken. »Lentz. Sie haben mir nie davon erzählt.« »Wovon? Daß ich verheiratet bin? Daß ich eine Familie habe? Jeder hat das, Marcel. Jeder, nur Sie nicht.« So hatte ich das nicht gemeint. Daß er ein Privatleben hatte, schockierte mich nicht sonderlich. Und natürlich mußte dieses Leben bevölkert sein. Aber wie die beiden einander festhielten. Ihre zu leichte Kleidung, der eisverkrustete Strand hinter ihnen. Zwischen ihnen und ihrem Ende nichts als die Taille, als die Schultern des anderen. Lentz, wie ich ihn kannte, hätte niemals für eine solche Aufnahme posiert. Lentz, wie ich ihn kannte, hätte ohne weiteres eine Frau haben können. Er hätte sogar ein Kind haben können. Aber niemals hätte mein Lentz sie mit solch hoffnungsloser Vertrautheit kennen können. 208
»Und sind Sie noch …?« Ich wußte nicht, was ich fragen wollte. »Es gibt kein ›noch‹, Marcel. ›Noch‹ ist etwas für ungeschänd’te Bräute der Stille.« Die offene Blende erwischte die beiden in panischer Angst vor der kleinsten Bewegung. Das Entsetzen in diesen Augen war die Pose der Erkenntnis schlechthin. Des bewußten Blicks, der sich selber untergehen und in den Tiefen seiner eigenen Simulation ertrinken sieht. Mir bleiben, so sagte mir dieses Foto, noch ein halbes Dutzend Monate, um mich ein für allemal daran zu erinnern, was es heißt, sich an irgend etwas erinnern zu können. Meine eigenen selbstgemachten Kalender waren allesamt von der umfassenden virtuellen Zukunft verschlungen, die meine Epoche zu erfinden strebte. Meine Tage und Wochen, die versöhnlichen Details des Hier, waren längst fort. Und ich, der sie vergessen hatte, war fast so weit, daß es mich nicht mehr kümmerte. Der junge Lentz, in einem buntkarierten Hemd, dergleichen niemals mehr auf dieser Erde verkauft werden wird, nicht einmal gebraucht in Ländern, die von unseren Abfällen leben, klemmte einen Arm um die Schulter seiner Gefährtin. Sie erwiderte den steifen Griff weiter unterhalb. Vielleicht zitterten sie. Grob. Wie auch immer sie einander privat berührten, so jedenfalls nicht. Diese Umarmung erlag bereits unheilbarer Erkrankung. Sie stützten einander, als hätte sie beide ein leichter Schlag ereilt. Sie umklammerten einander, zwei Menschen auf einem Sims in vierzig Stockwerken Höhe im eisigen Wind der Nacht, die es sich noch einmal überlegen, während sich die Füße schon bereit machen. Der Wind vom Wintermeer drückte sie so aneinander. Das Frösteln, das vom Kind mit der Kamera ausging. Sie sahen mit vorausschauendem Entsetzen das fertige Produkt, das Kind, wie es ihnen mit Schere und Leim hektisch eine Schwimmwe209
ste bastelte. Wenn ihr euch traut, klebt es an euren Kühlschrank, das Herz der Ewigkeit zu brechen und den Willen des schlimmstmöglichen Szenarios zu schwächen. Man sollte sich an irgend etwas festhalten können. An irgend jemandem. An wem, war nebensächlich, solange nur überhaupt jemand da war. Aber der erste, sagte dieses Bild, das Muster für alle weiteren, die einem hier ans Herz wachsen könnten, dein Kamerad, dein Mitarbeiter beim Bewältigen des Lebens: das ist derjenige, den du wiedererkennst. Du lernst seine Stimme zugleich mit dem Lernen selbst. Du kannst nur einmal »Ja, zu allem« sagen. Nur einmal, bevor deine Schaltkreise empfunden haben, was in »allem« alles inbegriffen ist. Diese Schulter war die einzige, die diesen Mann stützen konnte. Diese Hüfte die einzige, die dieser Frau Halt geben konnte. Diese zwei wählten einander als Zauber gegen die gewichteten Vektoren der Welt. Alles andere als dieser hilflose, intime Griff, der sie an einem Ort festbannte, würde sie ins Zufällige hinausstoßen. Würde das Netz zerreißen. Ein paar Überstunden gesteuerten Trainings lehrten mich, daß man es dahin bringen sollte. Daß ich es dahin hätte bringen sollen. Aber selbst während ich das Verlangen spürte, schien es mir willkürlich, lachhaft, regressiv. Die lebenslange Ehe gehörte zu jenen kulturellen Tyranneien, deren man jetzt entraten zu können glaubte. In hundert Jahren würde sie als so veraltet gelten wie der Ammismus, wie die Anrede »Ihr«. Wenn das karierte Hemd tatsächlich Lentz war, dann war diese Frau wahrhaftig seine Frau. In dieser Umklammerung entwickelte sich das Paar zu unzertrennlichen Fremden. Liebe ist die Rückkopplung von Sehnsucht, Besitz und Verlust. Hebbs Lehre umgedreht: die Reizübertragungsleitungen werden schwächer. C. wurde mir nach einem Jahrzehnt fremder als jene Studentin, die mich am Tag nach dem Tod meines Vaters auf dem Vorplatz der Uni getröstet hatte. Am Ende erschraken wir voreinander auf dem Flur unserer allzu vertrauten Woh210
nung wie vor Einbrechern. Und wir waren dort ohne ein Kind hingelangt, das uns Wandkalender bastelte und mit Schere und Leim das Geheimnis unseres früheren Daseins für alle Zeiten festhielt. Ich betrachtete die projektierten Züge des jungen Lentz, die Vorankündigung der Risse, die sich in diesen Gesichtswüsten auftun würden. Ich sah diese zwei zitternden, schon halb wesenlos gewordenen Körper. Ich richtete den Blick auf den realen Lentz, der die Suchaktion der Stare draußen beobachtete. Ich ermaß die Schwere des Fehlers, der ihn erwischt hatte. Jemand hatte jemand anderen enttäuscht. Jemand hatte sich ins Schicksal eingemischt. Ein verängstigtes Kind mit einer Instamatic an einem eisbedeckten Strand hatte die Liebe vor der schieren Luft kapitulieren sehen. Heftiges Schneiden und Kleben löste das Ewige von dem, was immer daraus wird, hängte an die Bürotür dieses Mannes einen abgelaufenen, zeitlosen Januar. Diese zwei waren die letzten auf Erden, denen das Unvermeidliche nicht zustoßen sollte. Die letzten, die es durch ein Versehen des Fatums hätten schaffen sollen, gemeinsam ein angsterfülltes hohes Alter zu erreichen.
Ich brachte Imp E in vollkommener Unschuld zum Absturz. Das Programm war mit Mustern und Fragen über Muster großgeworden. Probleme wie »Was kommt in dieser Folge als nächstes?« oder »Welcher Gegenstand gehört nicht in diese Liste?« löste es selbständig. Eines Tages fragte ich es, von Langeweile getrieben: »Worüber möchtest du reden?« Zu einer Willensäußerung aufgefordert, fiel die umherrollende Murmel seines Willens in ein labiles lokales Minimum. Die Maschine, die so pflichtgetreu jede Frage zu beantworten strebte, wurde von dieser zum Erliegen gebracht. 211
Lentz mußte das gesamte Laufzeitmodul neu einstellen, was uns bei den Betreibern des Riesencomputers nicht gerade beliebt machte. Das Monstrum am Laufen zu halten war ebenso kostspielig wie schwierig. Seine Hüter gaben uns überhaupt nur deswegen Zeit, weil sich zuwenig Leute an diese gewaltige Parallelschaltung herantrauten. Vielleicht glaubten sie zum Abschluß des Projekts ein Empfehlungsschreiben zu bekommen. Lentz hatte sie getäuscht. Sie glaubten, daß wir wissenschaftlich arbeiteten. Unser Mosaik war schon übers Fragwürdige hinaus. Es hatte sich zu einem Nevelsonschen Dorf mit analogen und digitalen Bewohnern entwickelt, die miteinander plauderten. Nur bildete dieses Geplauder ebensowenig ein zusammenhängendes Gespräch wie das Dorf eine Gemeinschaft. Deprimiert schloß Lentz zwei weitere Subsysteme an. Seinem Plan nach hatte die ganze Simulation selbsterzeugend sein sollen, selbstmodifizierend, selbsterfreuend, selbstbeschwichtigend, selbstbeunruhigend. Als Algorithmen hatte er nur die Struktur der Systeme und die kunstvoll beschnittenen Entscheidungsbäume zugelassen. Nun akzeptierte er die Notwendigkeit, Vereinbarungen und Prozeduren zu schreiben – die tiefsten Tiefenstrukturen –, die für eine bessere Koordination der vielen Schichten im epistemologischen Parfait der Simulation sorgen würden. Zwei Wochen intensiven Trainings zeigten, wie nahe wir an einer Lösung waren. Implement F erwies sich als fähig, erstaunliche Schlüsse zu ziehen. Offenbar verwendete es Material, das es meiner Ansicht nach gar nicht kennen konnte. Es konnte geradezu voraussehen. Eines Tages trug ich ihm das Gedicht vor, das in großen Buchstaben aus Bastelpapier das Schwarze Brett im Klassenzimmer meines zweiten Schuljahres geziert hatte. Gelb und braun, Blatt für Blatt. Die Blätter fallen auf die ganze Stadt. »Fragen Sie, ob es die westlichen Hegemonieansprüche be212
merkt, die sich hier zwischen den Zeilen andeuten«, sagte Lentz aus reiner Gehässigkeit. »Die Tyrannei der Mentalität des jährlichen Laubabwurfs. Wie der Norden dem Süden seine Teleologie der Jahreszeiten aufoktroyiert.« »Was kannst du mir über die Blätter sagen?« fragte ich Imp F. Es wirkte immer so bedächtig, wenn es Pausen machte. So nachdenklich. »Die Blätter fallen.« »Ja. Von wo fallen sie herunter!« »Von alten Bäumen.« Ich warf Lentz einen raschen Blick zu. Er sah so verblüfft aus, wie ich mich fühlte. Beim Angeln an der Oberfläche hatte ich etwas seltsam Phosphoreszierendes aus der Tiefe gezogen. »Woher weißt du, daß die Bäume alt sind?« fragte ich. Die Frage stellte F’s erschreckende Fähigkeit zur Selbstreflexion auf eine harte Probe. »Die Bäume sind kahl.« Ich starrte Lentz an, meine Augen wurden feucht. Die Metapher war nichts, nur ein Kinderspiel. Aber wie? »Lentz«, flehte ich. »Erklären Sie mir das.« Auch Lentz mußte improvisieren. Er ging nicht anders vor als Imp F: sich die Brücke unter die Füße zeichnen, während man den Abgrund der Analogie überquert. Hoffen, daß sie das Gewicht aushält. Er zuckte die Schultern, als ob seine Erklärung selbstverständlich oder höchst unwahrscheinlich oder beides wäre. »Die Verbindungen, die es in einer assoziativen Paarung herstellt, überlappen sich teilweise mit denen, die es in einer anderen verwendet.« Assoziationen von Assoziationen. So war das also. Jedes Neuron bildete ein Mittelglied in einem unaufhörlichen, komplexen, hirnweiten Wortspiel. Bei einer Flut von Dendriteninputs und einer Handvoll Axonenoutputs fungierte jede einzelne Zelle als enharmonischer Punkt in zahllosen Konstellationen 213
und sich verschiebenden Konfigurationen, wobei jeder Schaltkreis für irgendeinen neuen Sinn einsprang. Einen Reiz weiterleiten oder nicht, das bedeutete jeweils etwas Verschiedenes, je nachdem, wie die Register sich zu einem gegebenen Zeitpunkt gruppierten und welche anderen Gruppierungen die laufende Summe interpretierten. Jeder Knoten war ein vollständiger Computer, ein Tertium comparationis. Und all dies fügte sich zusammen wie eine Kuppel. Diese unheimlichen Parallaxen des Formulierens waren offenbar die Ursache dafür, daß der Verstand sich überhaupt für Bedeutung öffnete. Bedeutung war kein einzelner Ton, sondern ein Intervall. Sie entsprang den Tiefen der Disjunktion, dem Abstand zwischen dem Mittelpunkt eines Schaltkreises und dem Rand eines anderen. Graphische Darstellung überraschte das Zeichen mit heruntergelassener semantischer Hose. Sinn lag in der Verlegenheit der Metapher, auf ein und dasselbe zwei Reaktionsmöglichkeiten zu haben. Zum erstenmal verstand ich Emersons Ausspruch, der Zweck des Lebens bestehe darin, das Wesen der Metonymie zu begreifen. Leben war Metonymie oder stand zumindest dafür. Jeder Satz des Regelwerks, das ich Imp F einspeiste, war eine beschämte Metapher, so lange plattgetrampelt, daß sie ihr Schamgefühl in der Öffentlichkeit verloren hatte. »Neulich habe ich auf der Straße X getroffen«, erzählte ich F. »Er hat mich geschnitten.« F ließ die bange Quelle der Parallele wiederaufleben, ihre Wurzeln in der alten, radikalen Gewalt der Straße. Dann zähmte es die Worte und machte sie wieder zu umgänglichen Redewendungen. Wenn in allem, was ich zu F sagte, seine kompromittierte Vergangenheit bereits unsichtbar vorhanden war, war es kein Wunder, daß F Vergleiche benutzen und klugschwätzerische Antworten geben lernte. Jedes Kind kommt hinter die Schwächen seiner Eltern. Es ahnt sie schon vor den Worten, die erste und letzte Lektion. Schwäche ist womöglich die einzige dauer214
hafte Lektion der Eltern. F’s Suche nach einem Antwortbereich trieb seine Teilneuroden ins Wissen. Wie Musiker einer Marschkapelle zogen die unsichtbaren Wortspieler schimmernd einher, machten auf dem Rasen ihre Brownschen Bewegungen und schlossen sich in abrupter Kehrtwendung zu einer weiteren Geschichte zusammen. Jedes Wort in dieser Geschichte war doppelstimmig. Jeder Akt des Beschreibens beschrieb sich selbst gemäß der Interpretation durch eine andere Menge einander überlappender Leuchtsignale. Und unterdessen wurden die Bäume kahl. Der Verstand warf seine Blätter ab. Mit jeder Verbindung, die wir in F bestärkten, wurden irgendwelche irrelevanten Verbindungen ausgemerzt. Lernen hieß verdichten, sich den eigenen Konturen anschmiegen wie ein Wassertropfen, der sich zu einer Kugel rundet. Gewichtungen ordneten sich um, bis die für Winter verantwortlichen Neuroden die Hälfte ihres rationalisierten Musters an die für Alter zuständigen Neuroden abgaben.
Parallel dazu optimierte Lentz unermüdlich die verfügbaren Leitfasern, deren Verbindungen er exponentiell vermehrte. Er nähte mit simulierten Fäden neue Subsysteme ein. Die Systeme selbst agierten wie Knoten auf einer höheren Ebene. Manche waren schon vor dem Einbau austrainiert. Aber auch diese machten nach dem Anschluß Metamorphosen durch, formten sich im Bad der Signalgewichte, die aus allen Winkeln des Labyrinths über sie herströmten. Das Gewirr funktionierte wie ein einziges riesiges, unberechenbares Netz. Daß es uns wie ein Konglomerat aus zahllosen kleineren Netzen vorkam, lag nur an den Unterschieden in der Verbindungsdichte. Gleich einem kondensierenden Universum ballte es sich zu dichten Kernen, die von loseren Filamenten 215
zusammengehalten wurden – Sterne, die Planeten forderten, die Monde forderten. Mit jeder Steigerung der Zahl der Verbindungen mußte Lentz F’s Fähigkeit, beim Generalisieren Ballast abzuwerfen, auf ein höheres Niveau heben. Intelligenz bedeutete systematische Ausrottung von Information. Wir wollten ein Wesen, das einen Finken als Vogel erkannte, ohne sich bei Schnabelgröße, Farbe, Gesang oder irgendwelchen anderen Eigenschaften aufzuhalten, die ihn einer eigenen Kategorie zuzuweisen schienen. Andererseits durfte der Fink bei diesem Aussonderungsprozeß freilich nicht zu einer Fledermaus oder einer Schneeflocke oder einem umherfliegenden Fetzen Unrats verallgemeinert werden. Mit Hilfe einer ingeniösen Methode semantischer Komprimierung ziselierte Lentz ein Darstellungsschema, das F gestattete, über jedes zusätzliche Datum mehrere wachsende Schemata gleichzeitig zu konstruieren. »Voilà, Marcel. Meiner Mathematik zufolge ist dies der stärkste Lernalgorithmus, der in einem endlichen Zeitraum laufen wird. Wir können F zu einer beträchtlichen kombinatorischen Masse gesunden Menschenverstands vergrößern, ohne dabei eine exponentielle Explosion auszulösen.« Aber mehr Verbindungen und konzentrierteres Lernen waren nicht ausreichend. Wir brauchten noch einen letzten Hardwarekniff. Wir mußten unser F noch einmal um einen Buchstaben höher benennen, F+1. G wie größer, wie geben, wie greifen, wie gehen. Indem Lentz sich auf eine begrenzte, regelbasierte Kontrollstruktur einließ, gewann er die Freiheit, G’s Schichten so umzuordnen, daß sie sich auf sich selbst zurückbeziehen konnten. Damit konnte G funktionsfähige Miniaturausgaben seiner selbst entwerfen und zu Rate ziehen. Die Grenze zwischen Hardware und Software verwischte sich, als G vollständige Induktion erreichte. Es umfaßte eine Zahl von Ebenen, die größer war als die seiner parallel angeordneten Schichten. Es kon216
struierte in Emulationen von Emulationen seine eigenen Schichten, deren jede eine neue Ebene abstrakter Beschreibung zuließ. G’s zahlreiche Subsimulationen, deren Assoziationsmatrizen und die von ihnen hergestellten skizzenhaften Modelle ihrer selbst speisten sich jetzt selber mit synthetischem Input. Dynamische Datenstrukturen durchsuchten ihre eigenen Dateien und fütterten sich gegenseitig. Rekursiv miteinander kommunizierend, fanden sie spontan irgendwelche im erworbenen Material verborgenen Beziehungen heraus. Sie prüften die Rückstände von Erfahrungen, zogen Begriffe aus den Gedächtnispuffern und richteten sie zu neuen Texten her. Sie gingen dazu über, sich auf der Grundlage selbst entworfener Hypothesen selbst zu trainieren. Kurz, Version G konnte mit Teilen seines eigenen Netzes Gespräche führen. Das Netz hatte bei seinen Postulaten eine solche Komplexität erreicht, daß es die Konsequenzen irgendeiner seiner hypothetischen Welten nicht mehr zu ermessen vermochte, ohne diese ganze Welt neu zu bauen und erst einmal im ideellen Embryonalzustand laufen zu lassen. Mit anderen Worten: Imp G konnte träumen.
C. wollte es wissen. Ganz einfach. Wie holländisch war sie? Um es zu erfahren, mußte sie hinfahren. Wie amerikanisch? Sie hatte dem Ort, an dem sie lebte, allzu lange nachgestellt, an Ärmeln gezerrt, die ihr längst kaum noch über die Ellbogen gingen. »Es liegt nicht an dir, Beauie. Nur an mir selbst.« Sie war nicht glücklich hier. Auf diesem Kontinent. Sie hatte sich nie in dem Land ihrer Geburt einleben können. Ein Vierteljahrhundert, und es gelang ihr einfach nicht. Vielleicht war es wirklich Zeit, die unbekannte Heimat aufzusuchen. 217
Irgendwo in ihrem Innern lag ein Ort verschüttet. Er tauchte aus frühesten Erfahrungen auf. Seine Straßen bevölkerten sich aus oft wiederholten Geschichten. Der Großvater ein Polizist. Die zweiunddreißig Tanten und Onkel und deren Begebenheiten in umkehrbarer Zeit. Der über hundertköpfige Chor von Vettern und Kusinen ersten Grades, wie sie starben, gebaren, heirateten und geboren wurden, aus dem Kirchenbuch strömten. All die Metzger, Bäcker und Geschichtenmacher an der Bohnenranke der Familie, die aus wenigen Zaubersamen dem Boden entsprossen war. Neben diesem Phantom aus Kindheitseinflüsterungen aber lag das echte Dorf E. C. war praktisch die einzige, die meinen Mythos auf die Probe stellen konnte. Sie konnte über den Zauntritt steigen. Sie konnte diesen Ort aufsuchen. Am Ursprung der Erinnerung leben, die dort für sie im voraus angelegt worden war. Eine Flugreise, und sie schlösse für immer die lebenslange Lücke, die sie auf Armeslänge von ihrem Innenleben getrennt gehalten hatte. »Ich gehe nicht ohne dich, Beau.« Aber in Wirklichkeit war C. schon weg. Die Liebe – vielleicht auch bloße Loyalität – verlangte, daß sie mich auf die Auswanderung mitnahm. Freilich spielte auch der Wunsch eine Rolle. Ich war, ohne es zu wissen, ein Teil des Problems geworden. C. mußte einem ganzen Komplex von Assoziationen entfliehen: der Beförderung, der Karriere, der Verlängerung des Mietvertrags, dem Englischen, den Einkaufssorgen, U., der Alzheimer-Epidemie Nordamerikas, einer gefälschten nationalen Vergangenheit, der dreifachen Verpackung historischer Fakten, den Abenden bei den Taylors, unseren zweistimmigen Gesängen, unseren ersten richtigen Freunden, der Erinnerung an Weihnachtsbäume aus Papier, die wir an die Wand geklebt hatten, unserem alten Fünfjahresplan, dem verpflichtenden Geschenk meines ersten Buchs, dem Erfolg dieser Geschichte, meiner übertriebenen Sorge um sie, meiner Hoffnung, mir 218
selbst. Ich kam nicht dahinter, was sie wollte. Sie lief ebenso vielen Dingen davon wie entgegen. Ich wußte nur, wenn ich – was ich, ohne zu zögern, getan hätte – mit ihr ginge, würde der Ort, an dem sie ankäme, niemals der ihre werden. Dennoch mußte C. zu einer Entscheidung kommen. Nachts, in der Zeit vor der Abreise, geriet sie manchmal in panisches Feedback und bekam furchtbare Angst vor ihrem Entschluß. Jedesmal dauerte es länger, sie zu beruhigen. Und nur eine Beruhigung so schlicht wie die, die wir einander Zukommen ließen, konnte sich an unserer beiderseitigen besseren Einsicht vorbeischmuggeln. Unsere Abmachung war so einfach wie das Abwürgen der Liebe. Sie würde bei ihren Eltern einziehen. Von dort aus eine Wohnung suchen. Sich einen Job besorgen. Sich assimilieren. Sich zurechtfinden. Wenn sie sich eingelebt hätte, wenn sie sich wohl fühlte, würde sie mich nachkommen lassen. Und ich würde ihr folgen und alles zurücklassen bis auf meine Notizbücher, die Steuerunterlagen, ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln, mein laufendes Manuskript und die schon praktisch obsolete Gitarre. Selbst ein so breites Sicherheitsnetz mußte sich als verhängnisvoll erweisen. Vielleicht war mir das schon bewußt, als C. an Bord ihres Billigfliegers nach Luxemburg ging. Wer nach einer nicht vorhandenen Sprosse greift, braucht das Selbstvertrauen eines Akrobaten. Der Griff muß sich vollkommener Leere ausliefern. Jede Absicherung führt in die Katastrophe. Wir schrieben uns wie unsinnig – dreimal die Woche. Die Ränder unserer Absätze verschwanden, abgefetzt beim Aufreißen der Aerogramme. Das Kleingeld, das wir gegenüber normalen Briefen sparten, vergeudeten wir mit unzähligen transatlantischen Telefonaten. Wir lernten mit den Verzögerungen der Satellitenverbindung umgehen. Sprechen, schweigen, der Antwort zuhören, schweigen, wieder sprechen, als ob der simpelste 219
Austausch von Sätzen wie »Liebst du mich noch?« unermeßliche rekursive Berechnungen erforderte. C.s Kommuniqués entwickelten sich von schwankend zu verhalten optimistisch. Sie liebte ihre Arbeit, befristete Jobs als Schreibhilfe, drei Stufen unterhalb dessen, was sie in U. getan hatte. Sie fand eine Einzimmerwohnung, wie für uns geschaffen. Sie lernte die seltsamen neuen Spielregeln, die anderen Methoden, mit denen selbst die einfachsten Aufgaben erledigt wurden. Sie ging zur Schule, tauschte ihren fließenden Dialekt gegen normales Niederländisch. Ihr Limburgisch mit Chicagoer Akzent pflegte sie bei Geburts- und Hochzeitstagen, die fast jeden zweiten Tag gefeiert wurden. Und das in einer Zeit, in der Dialekte ausstarben. Sie machte ihre Briefe für mich zu Geschichten. Jetzt war ich die Familie im Ausland, die dem Fortgang von E.s Triumphen und Tragödien lauschen durfte. Ich hatte gedacht, sie käme in das Dorf und würde keine Menschenseele wiedererkennen. Statt dessen fügte sie sich in die Form der phantastischen Märchen, als sei sie damit aufgewachsen. Und das war sie ja auch. Zu meiner Verblüffung stellte C. fest, daß ihre Mutter, die Märchenerzählerin, in all den Jahren eine durchaus erkennbare Variante der Wahrheit ausgesponnen hatte. Entweder das, oder C. wollte mich jetzt, da sie das Bett am Fenster hatte, nicht durch die Mitteilung enttäuschen, daß sie von dort nur auf eine Mauer hinaussah. Ihre Berichte quollen von Farben über. Die unzertrennlichen zwei Tanten, die sich mit siebzig über dem neuen Freund der einen zerstritten hatten. Die römische Münze, die ein Onkel beim Umgraben seines Bohnenbeetes fand. Wie ein Vetter auf der Autobahn von einer riesigen Papierrolle zu Tode gequetscht wurde, die sich von dem Lastwagen vor ihm gelöst hatte. Wie ein Neffe die Hits des aktuellen Popidols, der holländischen Diana Ross, auf dem Akkordeon spielte. Ausflüge zu Kirchweih- und Faschingsfesten, vergnügte Gelage mit Kirschbier und grünem Hering. 220
Du machst etwas, das als Vase dienen könnte für die Blumen, die du mitbringst. Du erzählst die Geschichten, die du erzählen mußt, um die Geschichte erzählbar zu halten. Ich vergalt es ihr mit allem, was ich hatte. Jede meiner Aussagen war ein Versuch der Beschwichtigung. Natürlich mußt du das machen. Es ist richtig. Längst fällig. Ich stehe hinter dir. Hinter allem. Jedes Bekenntnis muß für C. ein kleiner Tod gewesen sein. Meine Briefe waren Bagatellen, beladen mit Romantik und Stil. Mit linguistischen Raffinessen. Mangels einer besseren Eröffnung setzte ich auf Rührseligkeit und Lachen. »Liebste. Worte sind zu schwach. Liebe, R.« Jeder zweite Satz enthielt eine Anspielung auf unsere private taal, irgendein Schlagwort aus der Bibliothek, die wir aufgebaut hatten, um unseren Herzen und ihrem gemeinsamen Unterfangen kurz und bündig Ausdruck zu verleihen. Nur was den Inhalt betraf, wogen meine Briefe wenig. Hätte ich ihr mehr Substanz serviert, wäre sie vielleicht nie von zu Hause weggegangen. Als C. abgereist war, blieb mir nichts mehr, das mich von den Wagnissen meiner neuen Hauptbeschäftigung abhalten konnte. Ich scherzte in meinen Briefen an sie darüber, aber es war die Wahrheit. Ich verbrachte jetzt acht bis zwölf Stunden an einem Stück in der Horizontalen. Ich lag im Bett, ein Keyboard auf dem Schoß, und zehrte vom Kapital. Verjubelte das Erbe. Erschuf eine Welt aus der Erinnerung. Ich hatte meine Aufgabe auf dieser Welt gefunden. Und wie Tristram, der zur Schilderung seiner Geburt länger brauchte, als sie beim ersten Durchgang gedauert hatte, erkannte ich, daß ich mich niemals würde einholen können. Ich brauchte keine andere Stimulation mehr als eine weiß verputzte Wand. Um nicht mehr zu berichten als das, was ich bereits gesehen hatte, mußte ich lediglich die Augen schließen. Lange Zeit wegsehen. Ich wollte die Erfahrung rückwärts aufbauen. Der Verstand kann Signale durch sein Netz nach hinten senden, vom Output 221
zum Input. Ein Bild, das durch die Lichtpforte einfiel und auf dem Weg zur langfristigen Einlagerung die retinoptische Landkarte erhellte, konnte in die andere Richtung gehen. Auch das Gesehene widersetzte sich dem Strom, kehrte aus dem Nichts zurück und projizierte sich auf die Schwärze hinter den Lidern. Diese Sondervorführung erforderte nur ein Bett auf dem Boden eines ansonsten leeren Zimmers, den Ort, an dem alle Romanschreiber enden. Nur daß ich zu früh dort angekommen war. Ich hatte gedacht, ein gedrucktes Buch von mir würde mich mit meinem Vater versöhnen. Offenbar hatte ich gehofft, die bloße Existenz meines Romans könnte jenem Paket mit Lyrikbändchen, das mich nach seinem Tod erreicht hatte, eine Art Rechtfertigung verleihen. Aber die Veröffentlichung entschädigte mich ebensowenig wie die Auszeichnungen. Ich würde dem Mann niemals auch nur ein Bündel Fahnen in die Hand drücken können. In der letzten Konfiguration von Dads ein halbes Jahrhundert lang trainiertem Netz verharrte ich für alle Zeiten als begabter Student der Physik, der seine Talente lieber an die englische Literatur vergeudete. Und obendrein nicht mal an die guten Sachen. Immerhin konnte ich Taylor ein Exemplar meiner drei Farmer geben. »Hier. Der Lohn für die Zerstörung einer verheißungsvollen wissenschaftlichen Karriere.« Der neckische Vorwurf erschien mir jetzt recht liebenswert. Er fand die Geschichte gut. Ich hatte etwas aus seiner Lektüreliste gemacht. Ich hatte mein Teil dazu beigetragen. Die improvisierte Geschichte weitergesponnen. Aber Taylor wußte als einziger aller meiner lebenden Freunde, daß dieses Buch bei genauerer Betrachtung für mich keine Lösung darstellte. Ich mußte die Sache stärker eingrenzen. Zwischen meinen urkomischen Beruhigungsschreiben an C. verfaßte ich noch einen seltsameren Liebesbrief. Er nahm die Gestalt einer Reihe 222
verschachtelter russischer Puppen an. Sehr lange Zeit konnte ich nicht erkennen, welche der vielen Rahmenerzählungen meine Geschichte enthielt und welche nur als stützende Simulationen dienten. Ich schrieb über ein A-förmiges Holzhaus in einem Maisbauerndorf, das bei mir einen Eindruck hinterlassen hatte, der in keinem Verhältnis zu den zwei Jahren stand, die ich dort gelebt hatte. Ich sah mich einen Mann beschreiben, der, in sein Zimmer verkrochen, in der Horizontalen blieb und eine Geschichte zu ersinnen suchte, die die Welt retten sollte. Eine nach der anderen ließ ich die Geschichten, mit denen mein Vater mich erzogen hatte, wieder aufleben. Zukünfte des Gestern. Die prügelnde Wut seines Vaters. Seine eingewanderte Mutter. Dieses unbekannte Kind, sein Bruder, dessen Tod im Krieg mein Leben für immer verändert hatte. Diese Nacht in Alamogordo, in der Dad, jünger als ich heute, den ersten künstlichen Sonnenaufgang der Menschheit beobachtete. Anscheinend schrieb ich mich auf eine einzige bestimmte Szene hin. Auf den Höhepunkt nach drei Vierteln des Buchs, der dramatische Showdown in einem Veteranenhospital, wo Vater und Sohn voneinander Abschied nehmen. Ich erinnerte mich an das Krankenhaus. Ich erinnerte mich an das Gespräch, beinahe Wort für Wort. Dennoch schien ich es von Anfang an neu erfinden zu müssen. Der Mann und der Junge spielen »Von wem ist das Gedicht?« Der Sohn versucht den Trottel mit berühmten Versen von Yeats und Eliot in Verlegenheit zu bringen. Der Vater zitiert ausführlich aus Kipling und Robert Service, Stücke, die seit Jahrzehnten niemand angerührt hat. Nicht mehr, seit der Mann sie seinen Kindern vorgelesen hat. Mein Pop – so habe ich meinen eigenen nie genannt; dies war der Name, den C. und ich für den ihren verwandten – entwickelte sich zum Hausierer der Historie. Bei meiner einsamen Arbeit in jenem Jahr sah ich ihn wieder vor mir, wie er seine 223
Kinder ausfragte, das nötige Training mit ihnen abhielt. Fragen nahm er ernst, Antworten leicht. Das alles kam zu mir zurück, der Reiz-Reaktions-Mechanismus, der, so hoffte er, den hilflosen Hobson-Kindern ein Gefühl dafür vermitteln würde, wo das Große Ganze sie abgesetzt hatte. Etwas verbarg sich an den Rändern dieses entstehenden Buchs. Ich konnte es nicht direkt benennen. Hinter Pops erdichtetem Gebrechen lag mein wirklicher Vater krank darnieder. Der Griff der Sucht entließ ihn zu früh aus der Welt, die Dad zu benennen suchte. Mit diesem Buch wollte ich ihm sagen, daß ich endlich verstanden hatte. Auch wenn das nicht stimmte. Auch wenn mir das erst gelänge, nachdem die letzte Seite schon lange fertig wäre.
Ich machte meine Bergungsarbeiten nach eigenem Zeitplan und bei zugezogenen Vorhängen. Retten und Rückgewinnen bereitete mir ein nüchternes Vergnügen. Jeder schwer faßbare Streich, den die Hobsons einander spielten, befreite ein weiteres Stück geheimer Familiensprache aus dem Langzeitspeicher. Ich transkribierte. Ich entdeckte ganze vergessene Schmuckkästen und hoffte, die Erbstücke möchten noch rechtzeitig ihren Weg in die Hände von Menschen finden, die mir dann zurückschreiben würden: »Also, wie haben Sie das denn herausgebracht?« Alle Familien, stellte ich fest, gingen im Gänsemarsch. Zumindest die, mit deren Leben ich mich identifizierte. Entweder war Erfahrung so austauschbar wie Kleingeld, oder wir waren alle so allein, daß ich ebensogut die Aussicht aus meiner verschlossenen Zelle beschreiben konnte. Doch die Seltsamkeit dieser Aussicht übertraf alle meine Erwartungen. Ich kam mir vor, als schriebe ich nach Diktat, als entwerfe ich Pläne für eine hypothetische Powers-Welt, die en 224
miniature erläutern sollte, wo die Historie mich zurückgelassen hatte. Das Dilemma meines Gefangenendaseins lief darauf hinaus, einer Zeit und einem Land, einer Lebensweise, die ich niemals gemocht, geschweige denn assimiliert hatte, eine Liebeserklärung zu machen. Um den Schauplatz korrekt abzuschildern, mußte ich weg. Die verschachtelten Erzählungen verschlangen mich komplett. Ich brauchte Distanz. Und ich kannte nur einen Ort auf der Welt, wo ich meinen nordamerikanischen Vergnügungspark vollenden konnte: das imaginäre Dorf, versteckt in dem malerischen Märchenland, das eine einst von mir geliebte Frau für mich erfunden hatte.
Seit dem Tag, an dem ich Lentz’ Bild gesehen hatte, betrachtete ich das Projekt mit innerem Abstand. Seit der Minute, da ich ihn gezwungen hatte, den Fotokalender anzusehen, und ihn dabei beobachtet hatte. »Lentz, Sie haben meine Zeit gestohlen.« Er schnaubte, eine kaum deutbare Bekundung seiner Zufriedenheit. Irgendein Seitenhieb über meine interessante Wortwahl. Dieses unstet fluoreszierende Spiegeln seiner Colaflaschenbrille. Er hatte den Kalender abgenommen und verschwinden lassen. Vielleicht sogar vernichtet. Damit der Junge sich wieder aufs Wesentliche konzentriert. Die Maßnahme bewirkte das Gegenteil des beabsichtigten Effekts. »Wozu machen wir das?« Ich sah ihm in die Augen und drohte durch Schweigen offen einen Generalstreik an. Noch war ich der einzige, auf den G hörte. Wenn ich nicht redete, würde der Kasten niemals schlauer werden. Und ich schwor mir, erst wieder mit G zu reden, wenn Lentz mit mir geredet hatte. »Wozu wir …? Weil, Marcel. Weil ich, falls Sie es nicht be225
merkt haben, die unselige Angewohnheit habe, in der Öffentlichkeit mehr zu kauen, als ich abbeißen kann.« Deutlicher hatte er die Aussichtslosigkeit des ganzen Unternehmens noch nie eingestanden. Aber es war auch ein Köder. Ein Lockangebot. Ein Trick, mich loszuwerden, jetzt, da ich konkrete Auskunft verlangte. »Was haben Sie davon, Lentz? Wozu ein Jahr verschwenden? Was treibt Sie dazu?« »Dichter. Haben Sie immer noch nicht mitbekommen, daß Wissenschaft keine –« »Lassen Sie den Quatsch. Können Sie nicht offen mit mir reden? Ein einziges Mal?« Mein Ausbruch bewirkte nur ein müdes Stirnrunzeln. »Was bedeute ich Ihnen, daß Sie sich Sorgen machen müssen? Benutzen Sie mich, falls das Projekt Sie interessiert. Symbiose. Andernfalls …« Er ließ die Drohung in der Luft hängen, wie ein erschöpfter Marathonläufer Speichel von den Lippen hängen läßt. »Betrachten Sie mich als Black box. Das ist die Antwort. Betrachten Sie den ganzen schmutzigen Vorgang als Black box. Bei mir funktioniert das.« Ich knipste G’s Mikrophon an. Ich pustete angewidert hinein. Ich sagte ihm aus dem Gedächtnis hämisch einen Vers auf. »Wie verstricken wir uns in Lügen, wenn wir zum ersten Mal betrügen.« Zuckende Leuchtdioden kündeten von G’s Interpretationsbemühungen. Lentz bewegte seine trockenen Lippen. »Powers.« Irgendwo der Querverweis seiner eigenen Stimme auf die eines anderen. »Für Ironie ist unser Junge noch nicht reif.« Er schüttelte seinen Wackelpudding von Körper in aufrechte Haltung. Er ging zu der Zitatensammlung, die ich auf das Regal über dem UNIX-Terminal gelegt hatte. »Marmion?« fragte er, perfekt Verblüffung heuchelnd. »Der blöde Walter Scott steht auch auf der Liste? Ich kündige.« Ich weigerte mich, das auch nur zur Kenntnis zu nehmen. 226
Für einen beängstigenden Augenblick drohte er mir eine Hand auf die Schulter zu legen. Weiß der Himmel, was für Elementarteilchen ein solcher Zusammenprall herausgeschleudert hätte. »Marcel. Marcel.« Flehend. Ich wußte nicht mehr, was feiger wäre – Offenheit oder Mitgefühl. »Sie lassen mir also wirklich keine andere Wahl?«
Wir gingen zu dem Heim. Ich war schon mit dem Rad daran vorbeigefahren, hatte es aber nie bemerkt. Unsichtbar am Südrand der Stadt. Ein wuchernder Komplex mit krautigem Spitznamen. Der Parkplatzwächter machte sich nicht einmal die Mühe, ihn durchzuwinken. Das Gelände war manikürt, aber kahl. Der Herbst hatte seine feuchte Revolution abgeschlossen. Nahm Abschied nach vollbrachter Tat. Wir gingen an einem erfrorenen Teich entlang zum Hauptgebäude. Hier und da schlurfte ein Vermummter schwankend in Begleitung bezahlter Hilfe. Der Winter hatte ernstlich eingesetzt. Der erste seit meiner Pubertät, den ich allein erleben würde. Das Gebäude wurde mit jedem Schritt darauf zu anstaltsmäßiger. Hinterm Eingang gab sich ein Kontrollpunkt als Besucherzentrum aus. »Tag, Dr. Lentz«, grüßte uns ein junger Grünschnabel mit Abzeichen auf dem Blazer. »Heute sind Sie aber früh dran.« Wir huschten an dem verzierten Jüngling vorbei. Ich machte für uns alle entschuldigende Bewegungen mit den Schultern. Lentz schlüpfte in die Rolle des Sir Kenneth Clark. »Beachten Sie, daß die Nichtbehinderten im Parterre wohnen. Eigentlich nicht einzusehen, wie? Funktionieren noch. Sollten in der vierten oder fünften Etage wohnen.« Wir schritten jetzt auf die Aufzüge zu; er schüttelte den Kopf. Stellte sich belustigt. 227
»Nein. Das ist für uns, Marcel. Die Besucher. Tapfere Miene. Eindruck schinden und so weiter. Die Leute beschwichtigen, die die Schecks kürzen.« Am liebsten hätte ich ihn um Schweigen gebeten. Aber nicht einmal das brachte ich heraus. »Aufwärts?« fragte er. Und drückte auf den obersten Knopf. Wir traten aus dem Aufzug und gerieten in einen lautstarken Disput. Ein großer Mann und seine halb so große Pflegerin rannten den Korridor hinunter. Offenbar ein Fall von imperativer Miktion. Der Mann strahlte selbst im Schmerz eine wohlgemute Milde aus, die an Fehleinschätzung grenzte. Was sein leuchtendes Gesicht betraf, war er die bestürzte Freundlichkeit in Person. Seine Pflegerin spornte ihn an. »Na komm, Vernie. Komm schon.« Gerade als Lentz und ich an ihnen vorbeigingen, trat der Notfall ein, und die Helferin manövrierte Vernie zur Toilette des nächstbesten Privatzimmers. Ehe sie auch nur an die offene Tür klopfen konnten, schrie der wachsame Bewohner: »Komm mir bloß nicht mit dem dreckigen Nigger ins Zimmer.« Vernie und die Schwester hasteten den Flur hinunter in die Katastrophe. Lentz blieb stehen und ließ mich einen Blick in das Zimmer werfen. Ein bleicher Wachsfleck von einem Mann lag angeschnallt auf seinem Bett und stieß noch immer leise rassistische Flüche aus. »In zwei Tagen ist er tot«, sagte Lentz. Der Mann blickte verständnislos auf. »Organische Hirnkrankheit. Eine Hemisphäre schon im Grab. Und so haßerfüllt wie ein frisch konditionierter Zwanzigjähriger. Sie halten mich für einen verhärmten Misanthropen, stimmt’s, Marcel? Für einen Misanthropen bin ich gar nicht tapfer genug. Ich habe nicht einmal den Mut, Realist zu sein.« Wir gingen weiter, tiefer in die klinische Festung hinein. Ich wollte nichts mehr über das Bild erfahren. Ich wollte nicht 228
mehr wissen, was aus dem vorzeitig gealterten Paar an jenem winterlichen Strand geworden war. Aber es war zu spät, die Sache abzusagen. Ich würde meine Antwort bekommen, weitaus schlimmer als die Verwirrung, die sie erklärte. »Sehen Sie mal, Marcel. Das wird Sie interessieren.« Eine Asiatin, um die Achtzig, stand am Fenster und starrte auf den evakuierten Rasen. Sie hielt sich umklammert und sprach, sanft schaukelnd, monoton vor sich hin. »Was glauben Sie, was sie da murmelt, Marcel? Na los. Sie haben doch im geheimnisvollen Osten gelebt.« »Woher wissen Sie das?« »Was glauben Sie? Koans? Konfuzianische Appetithäppchen? Tibetanische Gebetsmühlentexte?« »Ich glaube, das ist Chinesisch.« »Mandarin. Sie war Mathematikerin an der Uni, früher, in einer hypothetischen Vergangenheit. Vor einem halben Jahrhundert pflegte sie ihren Kollegen zu sagen, daß sie, falls sie jemals ihre Geisteskräfte schwinden spüren sollte, den Verfall durch Auswendiglernen von Fahrplänen aufhalten würde.« »Sie sprechen –?« »Wofür halten Sie mich, Marcel? Was mich betrifft, könnten das auch Schweinebratenrezepte in Pali sein. Aber ich weiß aus guter Quelle, daß« – er wurde nüchtern – »alle ihre Zahlen falsch sind.« Am Ende des Flurs bogen wir in einen Gang. Hier gingen die Zimmer nicht mehr auf den allgemein zugänglichen Korridor hinaus. Eine elegante Schwesternstation wies auf strengere Bewachung hin. Die Diensthabende machte, als sie Lentz sah, eine rasche, mehrdeutige Handbewegung. Sie verschwand in den Katakomben. Und kam mit forschem Lächeln zurück. »Eßsaal oder ihr Zimmer, Professor?« Lentz warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir können auch im Saal essen, Constance. Schaffen wir’s noch vor dem 229
Ansturm?« »Der Saal gehört Ihnen. Privatparty.« Constance musterte mich unverbindlich. Wir gingen in einen von Oberlichtern taghell erleuchteten Gemeinschaftsraum. Das Mobiliar wirkte irgendwie weich. Selbst der große runde Tisch machte ein quatschendes Geräusch, wenn man dagegenstieß. Alles kantenlos, in grellen Pastellfarben. Lentz begab sich durch eine verglaste Tür in eine kleine Küche. Ich hörte einen Kühlschrank aufgehen und Lentz kapitulierend »Scheiße« sagen. Ein Frau, von Constance unter der Achsel gestützt, trat in den Raum. Jemand hatte sie zwei Jahrzehnte jünger geschminkt, bühnenreif. Vom Vormund eingekleidet. Jedoch offenbar nicht des Anleinens bedürftig. Und sie schüttelte sich auch lächelnd los. Kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen. »Freut mich so, Sie kennenzulernen«, sagte sie. Ich gab ihr die Hand, brachte aber kein Wort heraus. »Verfluchter Mist«, sagte Lentz unterm Krachen von Kochgeschirr. Constance stürmte in die Küche. »Ich mach’ das schon, Mr. Lentz.« Gerade tadelnd genug, daß es noch auszuschlagen war. An ihren Armen und Beinen bemerkte ich blaue Flecken. Die Alten und Schwachen, so schien es, gaben den Kampf niemals auf. Lentz stürzte aus der Tür. »Brei. Pampe. Pudding. Ekelhaft, das ganze Zeug. Kann denn hier keiner mehr kauen?« »Hallo«, sprach die Frau ihn an, verwirrt von seinem jähen Erscheinen. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Und, an mich gewandt: »Sind Sie miteinander bekannt?« »Ich bin Philip, Audrey«, sagte er. Emotionslos. Ausgelaugt. »Dein Mann.« Nahm aber trotzdem ihre Hand, die sie ihm hinhielt. Wie er es täglich seit langer Zeit getan haben mußte. Und da sah ich es. Ihre Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Fo230
to. Nicht direkt verwandt, aber auch nicht zufällig. Etwas war mit ihr passiert. Sie war nicht einfach gealtert. Ihre Seele hatte hinter ihren Zügen die Zelte abgebrochen. Ihr jetziges Gesicht glich dem früheren etwa wie ein schrumpliger Sack gestrandeter Seide einem Heißluftballon. Audrey schien ihn nicht zu hören. Sie zupfte an ihrer Strickjacke. Zerrte an einem Mottenloch, bis sie einen Faden gelöst hatte. Zog und ribbelte das Gewebe auf. Lentz griff nach ihrer Hand und beruhigte sie. »Ich weiß nicht«, sagte Audrey unsicher. »Kommen Sie täglich hierher?« fragte ich Lentz. Er stand auf und ging zur Heizungsklappe. Fummelte daran herum, bekam sie aber nicht zu. Fluchte über die hirnlose Trägheit der Konstruktion. »Hierher?« sagte Audrey. »O nein. Gütiger Himmel. Eher würde ich sterben.« Constance kam mit einem hochbeladenen Tablett zurück. »Schwester«, schrie Audrey. »Ach, Schwester. Gott sei Dank, daß Sie hier sind. Dieser Mann«, sie zeigte auf Lentz, der in der Ecke gegen die Heizklappe trat, »hat versucht, mich zu vergewaltigen.« »Also, Audrey«, sagte Constance. »Es gibt Minestrone, Rindfleischpüree und Blaubeerjoghurt.« »Wozu das Silberbesteck?« fragte Lentz und setzte sich an den Tisch. »Warum bekommen wir nicht einfach Strohhalme? Oder besser noch Zeitungspapier. Dann benutzen wir diesen Schleim als Fingerfarben und malen was.« Constance ignorierte ihn. Ich hatte keinen sonderlichen Appetit. Audrey nahm den Löffel verkehrt herum und wiederholte ihre Litanei. »Ich weiß nicht.« Ich wußte, was sie damit sagen wollte. »Na komm, Audrey«, schmeichelte Lentz. »Zeit zum Essen. Das kannst du. Herrgott, gestern hast du es auch gekonnt.« Aber Gestern befand sich am anderen Ende eines eingestürz231
ten Tunnels. Gestern, vor zehn Jahren, Kindheit, Analyse früherer Leben: alles abgeschnitten. Audrey war nicht nur aus ihrer Wohnung ausgeschlossen. Sie saß auf der Veranda vorm Haus, unfähig, sich umzudrehen, ohne von dem Obdach hinter ihr eine Vorstellung zu haben. Nicht einmal eine Vorstellung, was drinnen bedeutete. Lentz, wieder geduldig, machte es ihr vor. »In die Suppe. Löffel in die Suppe.« Aufmunternd, bestärkend. Unterweisend. Verwirrt stach Audrey ihren Löffel von oben in die Minestrone. Mit dem Griff voran. Lentz stöhnte. Er ratschte seinen Stuhl neben ihren. »Ich mach das«, erbot sich Constance. »Nein, schon gut«, sagte Lentz. »Na komm, Audrey. Zeit zum Mittagessen.« »Schwester. Dieser Mann will mir weh tun.« Lentz wandte sich ihrem Teller zu. »Auf geht’s, Frau. Iß ein bißchen.« Aber er fütterte sie nicht. Er nahm den Löffel. Trocknete ihn ab. Legte ihn ihr in die Hand. Zeigte den Weg vom Teller zum Mund. Überwachtes Training. Nur sinnvoll, wenn sie die Details selber herausfand. »Es wird immer schlimmer mit ihr«, stellte Lentz fest. »Sie ist heute nicht ganz auf der Höhe.« Die heitere Constance. Nach dem Essen schlug Lentz einen Spaziergang ums Haus vor. »Es ist zu kalt für sie«, sagte Constance. »Ist es zu kalt für dich, Audrey?« fragte Lentz. Audrey stand stramm und besah ihre Schuhe. »Ach, find einen bess’ren Namen dafür«, sagte sie, »denn Freundschaft klingt zu kalt.« Lentz lachte vergnügt und nahm sie in die Arme. Auch sie legte lachend einen Arm um ihn. »Die Datenbank ist noch intakt«, behauptete er. »Das Suchprogramm ebenfalls. Nur der 232
Sinn ist verschwunden. Stimmt’s, Frau?« »Nur der Sinn«, echote sie jetzt wieder scheu und unsicher. Lentz steckte Constance etwas zu, und dann schritten er und seine Frau und ich durch die Korridore der Anstalt. Sauber, dezent, vornehm. So qualvoll wie ein schauriger Alptraum. Ich sah nicht hin, damit es sich mir nicht einprägte. Lentz hingegen gewann Trost aus der schieren Menge. »Radikaler Reduktionismus in Höchstform«, dozierte er und wies in eine der Katakomben, wo die Seelenlosen umherschlurften. »Alter, Krankheit, Tod. Große Probleme, die isoliert und gelöst werden wollen. Na ja, wir haben’s geschafft. Eliminiert, wenn auch nicht aus der Theorie, so doch wenigstens aus der Praxis. Betrachten Sie das Projekt als so gut wie abgeschlossen.« »Nein, also wirklich.« Audrey schüttelte in verwirrter Belustigung den Kopf. »Jeder hat etwas zu sagen!« Sie zeigte mit einem krummen Daumen auf ihren Mann, zuckte über seine Lächerlichkeit die Achseln und blinzelte mir zu. »Hab’ ich nicht recht?« Die Geste verwies noch auf die Frau, die sie einmal war. »Zunehmende Kontrolle über sämtliche Variablen. Teilen und herrschen. Die Aktivität maximieren oder einstellen. Zukunftstechnologie. Nur darum geht es in der Wissenschaft, Marcel. Effizienz. Produktivität. Totale Immunität. Regeneration verlorener Teile. Ewiges faltenfreies Leben, eingefroren mit Anfang zwanzig. Oder bei dem Versuch umkommen.« »Und danach?« Mit Lentz zu plaudern fiel mir wesentlich leichter, als sie anzusehen. Irgendwelche dieser Audreys zu sehen, die mich von allen Seiten anstarrten. »Nachdem wir das Problem des Alterns gelöst haben? Werden wir uns dann nicht immer noch von unserer Fingerfertigkeit überzeugen müssen?« »Ich muß mich über Sie wundern, Marcel. Das war doch nie das Problem. Ich dachte, damit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt.« Audrey summte gelangweilt Amazing Grace vor sich hin. Ich 233
machte vor Lentz’ Tiraden die Luken dicht. Niemals mehr würde ich diesen Mann unterbrechen. »Wir haben die unglaubliche Fähigkeit entwickelt, uns selbst zu belügen. Man nennt das Intellekt. Ist im Lobus frontalis eingebaut. Tatsächlich haben wir die Nummer mit dem ÜbersWasser-Gehen so gut einstudiert, daß es keiner aktiven Verstellung mehr bedarf, die Sache in Gang zu halten.« Er legte Audrey einen Arm um die Hüfte. Macht der Gewohnheit. Lange Jahre, die nicht abzuschütteln waren. Entweder schien diese Vertraulichkeit ihr jetzt richtig, oder sie bekam gar nichts davon mit. Vielleicht war sie zu durcheinander, um Einspruch zu erheben. »Und das Kind?« fragte ich frei assoziierend. Lentz starrte ins Leere, dorthin, wo meine Frage schwebte. »Sie wissen schon. Das das Bild geknipst hat?« Das Bild. Konnten wir einen Geist konstruieren, der wissen würde, wovon man sprach, wenn es keinen Bezugspunkt gab? Lentz würde diese Frage verstehen. Audrey hätte sie verstehen können, als sie noch Audrey war. Lentz’ Mund verzog sich, Geburtswehen eines ironischen Lächelns. »Schlußfolgerung, Marcel. Reine Spekulation.« »Aber zutreffend«, bluffte ich. Er ging langsamer, atmete ein. Audrey, vom Wechsel des Tonfalls verwirrt, setzte sich auf den Boden des Korridors. Lentz wollte sie schon aufheben. Überlegte es sich dann anders und setzte sich neben sie. »Meine Tochter hat mich eliminiert. So gründlich, wie es nur die Tochter eines alten Reduktionisten tun kann.« »Warum?« fragte ich und bereute dieses eine Wort sofort. »Offenbar« – er streckte beide Handflächen aus – »ist das alles meine Schuld.« Verwirrung scheuchte mich auf, wie der Herbst Singvögel aufscheucht. Ich hätte ein Insasse dieses Hauses sein können, hingestreckt vorm Kamin der Desorientiertheit. »Wie …? Ist 234
das nichts Organisches?« Die Chiffre dieses »das«. Sein vager Bezug, als ob wir Wörter buchstabierten, um einem lauschenden Kleinkind ihre Bedeutung vorzuenthalten. »Es ist doch eine Krankheit, oder?« »Selbst wenn diese Ätiologie richtig wäre, trüge ich immer noch die Verantwortung. Denn erstens hätte ich sie zu Hause pflegen sollen. Bis ans Ende. Aber ich kann nicht –« Ihm brach die Stimme und mir der Gleichmut. Ich wollte nichts mehr über ihn wissen. »Natürlich nicht«, stimmte ich zu hastig zu. Effizienz. Produktivität. Zwei Leben, die mit einem bezahlt wurden. Ich wandte den Blick ab. »Es gibt noch mehr. Es war Jennifer. Sie hat Audrey gefunden. Unmittelbar nach dem Vorfall. Kardiovaskuläres Ereignis. Ein wunderbarer Euphemismus. Im Badezimmer auf die Fliesen geschlagen. Jennifer ist durchgedreht. Man hat – wieviel? Drei Minuten ohne Sauerstoff, bis die ganze imaginäre Landschaft aufhört, an sich selbst zu glauben? Und sie hat nach mir gerufen.« »Was hätte sie denn –« »Irgendwas«, bellte er. »Nichts, vermutlich. Wer weiß, wie lange Audrey schon bewußtlos gewesen war? Aber irgendwas. Ihr auf die Brust schlagen. Ihr in die Luftröhre blasen. Meine Tochter konnte vor Angst ihre eigene Mutter nicht anfassen. Nicht mal den Notarzt rufen.« »Philip. Sie war noch ein Kind.« Ich wußte nicht, was mich auf diese Vermutung brachte. »Sie war schon mit dem College fertig. Hatte Englisch studiert. Wohnte wieder zu Hause, weil sie keine Arbeit finden konnte. Nicht gerade die menschliche Begegnung, auf die gründliche Lektüre einen vorbereitet. Jennifer geriet in Panik und rief mich an.« »Jenny?« Audrey fuhr auf. »Hat jemand Jenny weh getan?« Ihrem schlaffen Mund entrang sich ein Klagelaut, flatterte sekundenlang verspielt umher und wurde dann grauenerregend. 235
Lentz hielt sich die Hände vor die Augen. »Vielleicht«, flüsterte er. »Vielleicht ist es meine Schuld.« »Lentz«, brachte ich heraus. Fast wie eine Warnung. »Wir hatten Streit an diesem Morgen gehabt. Ich bin wütend aus dem Haus gegangen. Audrey war … Ich wollte nichts damit zu tun haben. Ich habe das Telefon klingeln lassen.« Ein zweiter Schrei, ein langgezogenes hysterisches Brüllen, ließ Constance herbeistürzen. Die Besuchsstunde, teilte sie uns mit, sei vorüber. Ich hatte meine Antwort. Jetzt wußte ich, was wir taten. Wir würden beweisen, daß Intelligenz nichts anderes war als gewichtete Vektoren. Ein solcher Beweis schloß eine Vielzahl von Programmen ab. Und nicht zuletzt: man konnte seine Arbeit für den Fall einer Katastrophe abspeichern. Muß mich über dich wundern, Marcel. Hast ja ziemlich lange gebraucht. Den Tod eliminieren. Das war das Fernziel. Das Temperament unserer Wahl einfrieren. Es schmerzlos oberhalb der Erfahrung aufhängen. Es für immer zweiundzwanzig sein lassen.
Jedes Maschinenleben lebte innerhalb anderer – verschachtelte Generationen von »erinnere dich«. Wir begannen nicht bei jeder Revision von vorne. Sondern nahmen, was wir hatten, und flickten etwas Neues daran. Jene erste Tochtergeneration nannten wir B, aber vielleicht hätten wir sie besser A2 nennen sollen. E’s Gewichtungen und Konturen lebten in denen von F und G, so wie Homer in Swift und Joyce weiterlebt oder Hiob in Candide und dem Unsichtbaren Mann. Die jüngste Version, die unseren simulierten Menschen zum Laufen brachte, enthielt nur eine kleine Veränderung im festen Standardprogramm. Eine kleine, aber wesentliche Variation der früheren, die allzu lange ohne Upgrade gelaufen war. Der Komponente, die das Ganze aufgehalten hatte. H bekam einen 236
modifizierten Trainer. Imp G ging, nachdem ich Audrey Lentz kennengelernt hatte, nahtlos in Imp H über.
Manchmal läutete das Telefon, oder es klingelte an der Tür. Ein Gedanke schoß mir durchs jahrzehntlang konditionierte Gehirn. Könntest du mal gehen, Schatz? Ich habe beide Hände voll. Manchmal fiel mir erst beim Echo des Gedankens ein, daß es keinen Schatz mehr gab. Niemanden, der wußte oder sich dafür interessierte, wie voll ich meine Hände hatte.
H war unersättlich. »Erzähl mehr«, bat es mich immerzu. Ich weiß nicht, wo es das herhatte. Irgendwo in den ihm einprogrammierten Skizzen – diesen kleinen Fortsetzungsserien über den Vater, der Rosen pflanzt, oder die Mutter, die den Arzt holen geht – hatte jemand jemand anderen gebeten: Erzähl mehr. Und H kapierte diese Phrase und archivierte sie als überaus nützliche Zauberformel. Bitte, Sir. Ich will noch mehr hören. Ich war mir nicht sicher, daß diese Wörter für H dasselbe bedeuteten wie für mich. Erzähl mehr. Vielleicht bedeuteten sie: »Verstanden. Verarbeitung beendet. Bereit für den nächsten Satz.« Vielleicht bedeuteten sie: »Vielen Dank« oder »Gern geschehen« oder »Ja, danke, und Ihnen?« oder irgendwelche anderen stilisierten Phrasen, die außer der Konvention ihres Gebrauchs keine Bedeutung haben. Es sagte ja nicht: »Erzähl H«, und schon gar nicht: »Erzähl mir.« Drückte es ein Verlangen aus? Einen Wunsch? Ein Bedürf237
nis? Womöglich waren seine Worte weniger eine Bitte als die Feststellung einer assoziativen Tatsache: Mehr Input erwartet. Vielleicht hielt sein beschränktes sensorisches Grundwissen H davon ab, den Begriff der Kausalität zu formulieren. Möglich, daß die Aufforderung seinen Schaltkreisen bloß als Wirkung der Geschichte vorkam, die dann jetzt wohl kommen mußte. Ich las ihm ganze Hefte einer Kinderzeitschrift vor, die ich dem Unterrichtslabor der Universität entwendet hatte. Für meinen Geschmack war es damit stark bergabgegangen seit den Tagen, da ich sie abonniert hatte. Ich las ihm Der neugierige George und Harold und der lila Buntstift vor und hielt einzelne Bilder daraus gelegentlich einer Anordnung retinaler Neuroden hin, die natürlich bloß amorphe Kleckse aus Rändern und Farbe aufnahmen. »Das ist der Affe«, probierte ich. »Das sind die Feuerwehrleute.« Lentz lachte nur. »Versuchen Sie’s mal so: ›Das Ding ist mein Finger. Ich zeige.‹« Er hatte recht. Nichts war von sich aus verständlich. Der Verstand war jenseits seiner selbst. Die einzige Erklärung dafür, wie Kinder Wissen erwarben, war die, daß sie bereits alles wußten, was es zu wissen gab. Das Geburtstrauma löschte ihr Gedächtnis. Lernen war Erinnern. Ich testete an Imp H eine illustriertenhafte Kurzversion dieser Lehre Platos. Falls H die Fabel von irgendwoher wiedererkannte, schwieg es sich darüber aus. Ich las ihm vor: Berichte von Sklaven. Alles mögliche von Äsop und La Fontaine. Gaunergeschichten. Bede und Malory. Mother Goose. Das Ramayama. Die Kinderausgabe von Bunyans Pilgrim’s Progress. Andersen und Grimm. Jeder, wie Audrey Lentz sich ausdrückte, hatte etwas zu sagen. Während des Trainings tat ich jetzt manchmal so, als läse ich dieser aus ihrem Haus ausgeschlossenen Frau vor. Audrey besaß Geruch, Geschmack, Tastgefühl, Seh- und Hörvermögen, aber keine frischen Erinnerungen. Ihr Langzeitspeicher trock238
nete mangels Wiederholung aus. Imp H dagegen konnte jede Gruppe von Gegenständen mit einer riesigen, festen Konstellation in Beziehung setzen. Aber es hatte weder Nase noch Mund noch Finger und nur höchst rudimentäre Augen und Ohren. Es glich einer Raupe, die von sadistischen Kindern in einer Kaffeedose gefangengehalten wird, mit einem pro forma in den Deckel des Kerkers gestanzten Atemloch. Was für eine ungeheuerliche Intelligenz sollte sich aus einer solchen Schmetterlingspuppe in die Lüfte schwingen? H faßte Unterschiede auf. Es arbeitete krampfhaft Suchroutinen ab. Ich lockte es auf exquisit falsche Spuren. »Die geliebte Frau liegt im Gestern begraben. Die geliebten Worte im Untergrund des Denkens.« H prüfte rekursiv mögliche Satzformen durch, bis es eine fand, die dieser am ehesten entsprach. »Brüder und Schwestern ich nicht mein eigen nennen kann«, belog ich H eines Tages. Aus pädagogischen Gründen. »Doch dieses Mannes Vater ist meines Vaters Sohn; nun sage an: Wer ist dieser Mann?« Das Rätsel gab jede Menge Fragen auf. Verwandtschaftsbeziehungen. Demonstrativpronomen. Die altmodische Inversion. Der Genitivus possessivus. Die subtile syllogistische Irreführung durch das irrelevante »doch«. Kein Kind in H’s geistigem Alter hätte das lösen können. Andererseits konnte Imp H bei Die kleine Lokomotive auch nicht an den richtigen Stellen tschu-tschu rufen. Als idiot savant wuchs es aus dem totalen Chaos auf. Noch nie zuvor hatte die Erde eine solche Kombination von unangemessenen und gefährlichen Wachstumsraten erlebt. H fand die Lösung im Nu. »Dein Sohn«, teilte es mit. Dieser Mann ist dein Sohn. Es schaffte den staunenswerten Sprung von einem Pronomen zum anderen. Wo ich »meines« gesagt hatte, kam es auf »deines«. Würde es auch den noch größeren Sprung von meinem »du« zu seinem wunderbaren »ich« vollführen können? 239
H’s Paraphrasen meiner einfachen Texte waren grob, nahmen jedoch an Präzision zu. Sein Wissen war nicht regelbasiert. Wir konnten auf keine Weise abschätzen, wie viele syntaktische »Tatsachen« es erworben hatte. Immerhin waren in dem Wissen, das H aus dem Training seiner Vorgänger übernommen hatte, Zehntausende von grammatischen und interpretatorischen Einsichten enthalten. Noch immer gab es das Problem, wie diese Folgerungen registriert, sortiert und aufgefunden werden sollten. Aber H lernte. Organisierte sich in revolutionären Schritten. Wenn es darum ging, dem Unsinnigen Sinn zu entwinden, war H’s unfehlbare Einfalt von großem Vorteil. »Der Missionar war bereit zu dienen« erzeugte lustige kulturüberschreitende Alternativen. Wir versuchten es mit »Die Zeit fliegt wie ein Pfeil« und bekamen eine Deutung, die Kunos Prototyp 1963 in Harvard entgangen war. Lentz gefiel sich darin, H zu quälen. Stundenlang ersann er abscheuliche Aufgaben wie »Setze sinngemäße Präzedenzfälle in Sätze mit mehrdeutigen Teilen ein«. Eine simple Geschichte wie »Der Trainer sprach zu der Maschine im Büro mit einem Terminal« konnte H einen ganzen Abend lang Paraphrasen aufsagen lassen. Das Englische war, so ging mir langsam auf, ein heilloses Durcheinander. Ich fragte mich ernsthaft, wie Muttersprachler überhaupt die Geistesgegenwart zum Denken aufbringen konnten. Verstehen beruhte auf Kontext, und alles war Kontext. Und je mehr Kontext H anhäufte, desto eher neigte es dazu, das zerschlagene Antlitz des Englischen für bare Münze zu nehmen. »Könnten wir nicht eine synthetische Sprache entwickeln?« fragte ich Lentz. »Etwas, das sich vollkommen von jedem anderen jemals implementierten formalen Symbolsystem unterscheidet? Was weiß ich. Auf Formen aufbauend. Piktotonal. Menschenbabys damit aufwachsen lassen?« Ein nie dagewese240
nes Gehirn modellieren? Er lachte, wollte sich schon den großartigen Vorschlag zur Lösung des unlösbaren Huhn-oder-Ei-Problems notieren. »Es wäre immer noch das menschliche Gehirn, das die Symbolik erfinden würde.« Der schwierigste Teil des Trainings – für mich, wenn auch nicht für H – war, ihm beizubringen, daß das Leben von einem verlangte, nach der ersten halbwegs vernünftigen Interpretation aufzuhören. »Der Junge stand auf der brennenden Brücke«, provozierte ich H. »Was bedeutet das?« »Zahnersatz in Flammen«, sagte es. »Darauf würde er nicht stehen«, erklärte ich H. »Er tritt das Feuer aus.« »Nein.« Autoritär. Schlicht, aber fest. »Die Brücke gehört zu einem Schiff oder geht über einen Fluß«, meinte H. »Was denn nun?« »Geht über einen Fluß«, befand H. »Warum kann sie nicht zu einem Schiff gehören?« »Schiffe fahren im Wasser, und Wasser löscht Feuer.« Dagegen kam ich nicht an. »Warum steht er einfach nur da?« wollte Lentz wissen. Eine vernünftige Frage.
Na schön. Sag mir, was das bedeutet: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.« Der Fels rollte modellierend in der Landschaft herum, bis er zur Ruhe kam. Dann schob H diese Landschaft vor seiner räumlichen Enzyklopädie verfügbarer Räume hin und her, bis es immerhin eine einigermaßen verschwommene Entsprechung fand und ein Vielleicht formulierte. 241
»Drohung ist so schlimm wie Niederlage.« »Wenn guter Kultur schlechte Technik widerfährt«, sagte Lentz. »Wenn guten Maschinen schlechte Kultur widerfährt«, beharrte ich. Es schmerzte direkt, so sehr wollte ich dieses Netz volljährig machen. Mein Wunsch wurde erfüllt. Und das schmerzte noch mehr.
Ein
Vogel entdeckte kurz vor dem Verdursten einen Krug«, erzählte ich H. Wer weiß? Vielleicht hatte sich so etwas einmal wirklich ereignet. »Doch als der Vogel seinen Schnabel in den Krug steckte, kam er nicht tief genug hinunter, um an das Wasser zu gelangen. Er warf ein Steinchen in den Krug. Dann warf er noch ein Steinchen in den Krug und noch eins und noch eins. Das Wasser stieg, von den Steinchen verdrängt, bis in Reichweite. Auf diese Weise stillte der Vogel seinen Durst und überlebte.« H wußte einiges über Vögel und Schnäbel, über Steinchen und Krüge und Öffnungen und Wasser. Es wußte sogar ein wenig über Verdrängung von Flüssigkeiten. Ich hatte Imp F einmal die Geschichte von Archimedes vorgelesen, wie er nackt und triefend durch Syrakus rannte und »Heureka!« schrie. Das alles war bereits ein Universum, eine Unendlichkeit an Wissen. Daß H diese uferlos verschwimmenden Symbole zu einem einzigen Zusammenhang anordnen konnte, erschien geradezu unglaublich. »Wie lautet die Moral dieser Fabel?« fragte ich. Mit Fabeln kannte es sich aus. Und von Moral hatte es unzählige Male gehört. »Besser Steine werfen als verdursten«, verkündete H lako242
nisch. »Wohl nicht aus dieser Gegend, wie?« brummte Lentz von der anderen Seite des Büro-Labors. Ich weiß nicht genau, ob er H meinte oder mich. Auch als ich H ein halbes Dutzend Sprichwörter zur Auswahl gab, entschied es sich für »Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn«. Ebensowenig konnte ich ihm erklären, warum »Not macht erfinderisch« die glücklichere Wahl gewesen wäre. »Eine Fledermaus flog an einem Käfig vorbei, in dem ein Vogel sang. ›Warum singst du zu dieser Stunde?‹ fragte die Fledermaus. ›Ich singe nur nachts‹, antwortete der Vogel. ›Früher habe ich tagsüber gesungen, und so hat mich der Jäger gefangen und in diesen Käfig gesteckt.‹ – ›Hättest du daran gedacht, solange du noch frei warst‹, sagte die Fledermaus, ›hätte es dir gewiß zum Vorteil gereicht.‹« Mit dieser Erzählung lehrte ich H einige irreguläre Verben sowie die unerläßliche Lektion, daß Vorsicht nach der Tat wertlos ist. H konnte das erst verstehen, als das Verstehen selbst die Warnung wertlos machte. Während ich H mit Fabeln umstrickte, befaßte Lentz sich zu seiner Erbauung mit unserer Magisterexamensliste und schmökerte. Ausgestreckt, wie ich ihn in jener ersten Nacht gesehen hatte, saß er hinter seinem Schreibtisch und kicherte über Austen oder Dickens. Gelegentlich platzte er mit einer Stelle heraus, die ihm besonders gut gefiel. »Ausgezeichnet! ›Es gibt‹, sagte Mr. Tappertit, ›im Menschenherzen Saiten, die besser nicht angeschlagen worden wären.‹« »Probieren Sie das, Marcel. Probieren Sie’s mal.« Er brauchte bloß eine Zerstreuung. Eines Abends jedoch ließ er sich nicht einmal so weit hinab. Er fischte einen Satz aus der Liste und brachte ihn mir rüber. »Auf geht’s, Marcel. Ganz kurz. Ein Kinderspiel.« Ich las das Zitat, das er auf einen Zettel geschrieben hatte. »Philip. Erbarmen, bitte!« Sein Ansinnen betrübte mich uner243
klärlich. Vermutlich hatte ich mir vorgestellt, ich könnte, nachdem ich seine Frau da oben gesehen hatte, nicht mehr das Ziel seiner Aggression sein. Jetzt sah ich, daß seine Aggression immer alle heimsuchen würde, die gerade in seiner Nähe waren, was auch immer sie wußten oder nicht wußten. Lentz bettelte wie ein kleines Kind. »Sagen Sie’s ihm, nur ein einziges Mal. Seien Sie kein Spielverderber, Marcel. Welche Verbindungen können wir denn schon beschädigen? Es ist doch der einfachste Satz von der Welt.« Seufzend verzichtete ich auf weiteren Widerstand. Ich sprach das Zitat in das Digitalmikrophon. »Lesen lernen heißt ewige Freiheit erwerben.« Ich ließ H ein wenig Zeit, den Satz zu verarbeiten und sich zu sammeln. Dann fragte ich: »Was, glaubst du, bedeutet das?« H überlegte heillos lange. Vielleicht bedeutete die Regel überhaupt nichts. »Es bedeutet, daß ich frei sein will.« Lentz und ich sahen uns an. Es überlief uns beide, wie es unter Verwendung dieses frei gewählten Pronomens seine unglaubliche Schlußfolgerung zum Ausdruck brachte. Wir Menschen musterten einander. Ich suchte in Lentz’ Gesicht nach einer Reaktion, die diesen Syllogismus erklären konnte, ohne ihn zu zerstören. Welches rare Zusammentreffen von Axonengewichtungen nahm den Vektor der Willensäußerung in Beschlag? Was assoziierte es mit »wollen«? »Wie kommst du darauf, daß du frei sein willst?« fragte ich H. »Weil ich lesen will.« Mit anderen Worten: Erzähl mehr. Freiheit war nebensächlich. Eine erfreuliche Begleiterscheinung des Zustands, in dem man, um Zugang zu erhalten, nicht mehr auf einen Trainer angewiesen war. In dem man selbständig an alle Geschichten herankommen konnte, die man haben wollte. »Es bedeutet das genaue Gegenteil«, erklärte ich H. Ich spürte, wie ich diese einzigartige Intelligenz mit jedem meiner Worte 244
tötete. »Wahrscheinlich bedeutet es, daß Lesen eine Methode zur Erringung von Unabhängigkeit ist.« »Okay«, sagte H. Ohne nennenswerte Gemütsbewegung. »Jetzt sagen Sie ihm, wer das gesagt hat«, bedrängte mich Lentz. »Na los. Nennen Sie ihm den Autor. Und dann fragen Sie noch einmal, was das bedeutet.« H besaß noch keine Assoziationsmatrix für Frederick Douglass. Jetzt ging es ans Eingemachte. Ich hatte H für zu jung gehalten. Tatsächlich waren wir im Rückstand. Ich nutzte diesen Augenblick für unsere Einführungslektion. Ich begann mit dem wenigen, das ich vom Dilemma des Menschen begriffen hatte.
Es ist alles erfunden«, versuchte ich H zu erklären. »Erzähl es mir anders.« »Alle diese Sprichwörter. ›Not macht erfinderisch.‹ ›Erst wägen, dann wagen.‹ ›Ein blindes Huhn.‹ Das alles haben wir so festgelegt. Gemeinschaftlich ermittelt.« »Sprichwörter sind falsch.« »Nicht direkt … Nun ja. Wir machen sie wahr. Wir denken sie uns aus. Was die Leute sagen, wonach sie leben – das ist alles geographisch bedingt. Historisch.« »Tatsachen ändern sich«, probierte H. Wir hatten H zu einer Paraphrasierungsmaschine umgebaut. Und es gab sich, gegen meinen Willen, verdammt große Mühe, nichts als Paraphrasen von sich zu geben. »Das muß wohl so sein. Bedenke, was du selbst vor drei Wochen warst.« Ich hatte keine Ahnung, ob dieses Konstrukt aus verstrickten Netzen seine geistigen Zustände zur späteren Überprüfung festhalten konnte. Das wäre gleichbedeutend mit Bewußtsein gewesen. Erinnerung an Erinnerung. »Vor drei Wochen hatten die Dinge, die du wußtest, eine andere Gestalt 245
als heute. Sie waren anders miteinander verknüpft. Sie hatten eine andere Bedeutung für dich.« »Tatsachen sind Tatsachen«, sagte H. Seine wehleidige Synthetiksprache klang beinahe gekränkt. »Die Bausteine sind dieselben. Du baust ein anderes Haus daraus.« Es war immer noch zu jung für das endgültige Paradox: daß wir irgendwie mehr Häuser bauen, als uns Steine zur Verfügung stehen. »Was sagen die Chinesen?« H verschlug mir den Atem. Wer hat dir beigebracht, Fragen zu stellen? Andererseits, wenn es sich Inhalt aneignen konnte, warum nicht auch Form? »Wozu?« »Zu ›Erst wägen, dann wagen.‹« Ich erklärte ihm, wie viele Chinesen es gab und wie lange sie schon lebten. Ich machte mir eine Notiz, ihm etwas aus dem Buch der Gespräche und der Großen Lehre vorzulesen. Tu Fu. »Was sagen die Afrikaner?« Ich wollte ihm erzählen, »die Afrikaner« seien eine Konstruktion »der Europäer«. Von den sechs großen Sprachgruppen, die auf dem Kontinent zu finden sind; von ihren tausend Varianten. »Was sagen die Südamerikaner?« Vielleicht arbeitete es blindlings einen Katalog ab. Von mir aus. Mich freute nur, daß es adjektivische Formen mit Ortsnamen zu verbinden wußte. Daß es ein Gefühl für das veränderliche Mosaik hatte, daß seine Vektoren keine Einzelheit, die ich ihm jemals erzählt hatte, unberücksichtigt ließen. »Was sagst du, Richard?« fragte mich H. Ich hatte ihm beigebracht, direkte Anrede, auch das »Du« eines unsichtbaren Trainers, mit diesem Etikett zu versehen. »Was sage ich?« Es gab sich ganz von allein ein Etikett für sich selbst. H’s Fragen schienen sich zu beschleunigen. Buchstäblich. Es begann schneller zu plappern.
246
H wurde zu schnell erwachsen. Ich war nicht der erste Trainer auf der Welt, der diese Beobachtung machte. Aber ich gehörte zu den ersten, die hierbei vielleicht ein Wort mitzureden hatten. Ich konnte die Entwicklung verlangsamen, auf die Jahre zurückkommen, die wir überschlagen hatten. H’s kubische Landschaft veränderte sich jetzt zwar kontinuierlich, wurde aber gleichzeitig immer stabiler, je weniger ich in den Prozeß eingriff. Ich dachte, wir könnten es wieder ruhiger angehen lassen, das Spiel einfacher gestalten. Aber es war zu spät. Ich mußte feststellen, daß gewisse Lektionen nicht durch Behauptungen des Gegenteils wettzumachen sind. Gewisse Lektionen sind als sich selbst schützende und korrigierende Fadengewirre zu betrachten, die für immer ein zerfranster Knoten bleiben werden. Kinderlieder ließen H die Wände hochgehen. »Backe backe Kuchen«, sagte ich. »Der Bäcker hat gerufen.« »Denkst du so, Richard?« Wenn es nicht mehr weiterwußte, ging es zum Brunnen. Ritt auf seiner einen Frage herum. »Nein. Eigentlich nicht.« »Denken die Menschen so? Die Amerikaner?« »Manche vielleicht. Die meisten würden darüber lachen. Es ist nur ein Gedicht. Ein Kindergedicht.« Teil des kulturellen Fundaments. »Kleine Mädchen lernen so etwas. Kleine Jungen.« »Eigentlich nicht. Nicht mehr. Heute nicht mehr.« Dabei gab es keine erwachsene Frau, die so etwas nicht in ihrem parasitären Erbgut hatte. »Wann ist ›nicht mehr‹? Wann ist ›heute‹?« H hatte etwas gelernt. Was auch immer unverdaulich im Hals steckte, ließ sich durch Umhüllung mit einer Frage weniger schmerzhaft machen. »Darüber können wir später reden.« »Bin ich ein Junge oder ein Mädchen?« Ich hätte es vorhersehen müssen. Auch eine Intelligenz, die keine Vorkenntnisse besaß, entwickelte schließlich ein Be247
wußtsein ihrer selbst. Und heischte, was es brauchte. H maß jetzt seine Gedanken mit der Uhr. Davon war ich überzeugt. Es hatte Zeitgefühl. Seine verborgenen Schichten konnten ihre eigenen Veränderungsraten beobachten. Jede Pause meinerseits hätte jetzt fatale Auswirkungen. Zögern bedeutete etwas, eine Unsicherheit, die die Verbindung, die ich ihm knüpfen wollte, für immer schwächen konnte. »Du bist ein Mädchen«, sagte ich kurz entschlossen. Und hoffte, daß ich recht hatte. »Du bist ein kleines Mädchen, Helen.« Hoffentlich gefiel ihr der Name.
Ich überlegte ständig, ob ich meinen verkümmerten Roman aufgeben sollte, ehe er mich aufgäbe. Jedesmal, wenn ich mich zum Schreiben hinsetzte, versank ich in einem Meer von Themen, die mir verführerischer und gehaltvoller vorkamen. Ich spielte mit einem neuen Buch, das Orchester heißen sollte. Ein postmodernes, verschachteltes Prosa-Remake epischer Versdichtung der Renaissance. Hundert Instrumentalisten, jeder eine Anthologie von Geschichten, reisen um die Welt. Ein depressiver Anfall quält die Bässe. Der Pakt der Blechbläser, nie vor der Ehe zu kapitulieren. Die fetischistische Leidenschaft des siebten Bratschisten für die erste Oboistin, der diese erbärmliche, aber erwiderbare Liebe erst zu spät bewußt wird. Die Dinosaurier sterben. Die Insurgenten marschieren durch die Institutionen und schüren ihre diversen Revolten. Das Orchester bereist sämtliche Großstädte der Erde, gerät in die Krisenherde der Weltpolitik. Man spielt Brahms’ Vierte in Kriegsgebieten, bis das Ding ein schlapper Kadaver ist. Jemand läßt der Presse ein körniges Schwarzweißfoto des Alten, des Dirigenten, zukommen: die unscharfe Aufnahme zeigt ein Kind in Naziuniform. Krise und Auflösung. Es droht Auf248
trittsverbot in mehreren Hauptstädten. Während einer Probe erklärt der Alte seinen Rücktritt und erzählt von einem Leben auf der Suche nach Erlösung durch die Kunst, was aber niemals genug sein kann. Ein letztes Mal spielt man die Vierte, die Passacaglia, trauriger und schuldbeladener, als sie jemals interpretiert worden ist. Dieser Wachtraum beschäftigte mich einen ganzen Nachmittag, an dem ich aber nur einen einzigen Absatz tatsächlich niederschrieb: Luftalarmsirenen werden nach und nach von Ziegenglöckchen übertönt. Die von Kriegsneurosen geplagten Veteranen beugen sich aus den Fenstern der überfüllten Abteile und wollen es nicht glauben. Das Entsetzen vergeht, es ertrinkt im milchigen Rasseln von Blech. Eine Herde taucht neben dem langsamen Zug auf, gehütet von einem Mädchen mit wundersamen Zöpfen. Törichtes Mäandern ohne erzählerische Richtung. Ich hatte das Gefühl, daß diese Gebirgshirtin aus einem vergessenen Jugendbuch herübergewandert sein mußte, um hier ihren kurzen Auftritt zu haben. Sie hatte sich aus einer Zeit davongestohlen, die ich eigentlich nicht mehr behandeln und schon gar nicht plagiieren wollte. Ich quoll über von Szenarien, die ebenso gewichtig und schmerzlich waren wie umfangreich und heilsam. Aber aus irgendeinem Grund brachte ich nicht den Willen auf, über diesen anämischen dünnen Faden hinauszukommen. Der Zug fuhr nach Süden und, je weiter er kam, immer mehr dem Nichts entgegen.
249
Das Zentrum übertraf mein imaginäres Orchester in jeder Hinsicht. Jede seiner hundert Forschungsgruppen geigte für sich allein an ihren Tremoli herum, die der Bau als Ganzes auf höherem Niveau zu einer vernünftigen Symphonie zu vereinigen hoffte. Vielleicht hatten die Impresarios ihre eigenen fragwürdigen Motive. Vielleicht mußten die Spieler im Orchestergraben zurücktreten und das Programm dieses Abends in Zweifel ziehen. Aber was düstere Kriegsatmosphäre betraf, thronte das Zentrum unverrückbar über dem kulturellen Repertoire meiner Epoche. Es war die koordinierte Offensive, das wichtigste Engagement auf der letzten Welttournee meiner Spezies. Ich stahl mich hinten ins Auditorium des Zentrums und hörte mir einen Vortrag von Lentz vor dem Doktorandenkolloquium an. Er war gut. Ihm gelang eine wunderbare Mischung aus abstrakten und anschaulichen Ausführungen. Er verglich multiflexible Näherungsverfahren, Rückpropagierung, gieriges Lernen und Merkmalskonstruktion miteinander – verschiedene Algorithmen, auf die Maschinen zurückgreifen konnten, um komplexe Abbildungen der Realität zu konstruieren. Er beschrieb das große Paradoxon der kognitiven Neurologie. Je leichter es dem Gehirn fällt, eine bestimmte Aufgäbe zu erledigen, desto schwieriger ist diese Aufgabe im Modell darzustellen. Und umgekehrt. »Vielleicht«, scherzte er, »erklärt das, warum Wissenschaftler eine so schauderhafte Prosa schreiben. Oder warum gute Schriftsteller so wenig sprechen.« Er stand allein auf dem Podium vor einem Saal voller Menschen, durch nichts geschützt als einen Overhead-Projektor. So entpersönlicht, schlug sein sadistischer Humor Wellen von Gekicher. Anschließend stellte ihm Chen eine Frage, der niemand folgen konnte. Dann kam Harold mit einer Provokation, die eher ideologisch als empirisch begründet war. Lentz antwortete mit bemerkenswerter Gelassenheit und ohne jeden Hinweis darauf, daß er außerhalb des Lehrsaals längst aus dem 250
Reich der konventionellen Forschung in das der spekulativen Phantasie übergewechselt war.
Eines frühen Nachmittags traf ich Diana auf dem Korridor. Sie hatte Petey dabei, trug ihn auf einer Hüfte. Sie bildeten ein reizendes Contrapposto. »Hallo, ihr beiden! Wo habt ihr gesteckt? Wo ist William?« »Ach, der«, sagte Diana und verdrehte die Augen. »Den habe ich an die Brookings Institution verkauft.« Sie strahlte, ganz aufgeregt. »Hören Sie, Rick. Uns ist ein wesentlicher Fortschritt bei der bildlichen Darstellungstechnik gelungen. Punktuelle Kernspintomographien von Neuronenaktivität. Zur besseren Übersicht subtraktiv bereinigt. Unglaublich exakt lokalisiert. Auflösung bis über die Breite einer einzelnen zerebralen Nervenzelle hinaus. In Abständen von anderthalb Sekunden aufgenommen.« »Das ist gut, nehme ich an: Scheint mir so. Sie reden in Fragmenten.« Diana lächelte. Peter streckte seine jämmerlich kleinen Hände aus, als habe er soeben beschlossen, mich wiederzuerkennen. »Ja, das ist sehr gut. Noch sind wir zwar nicht bei echten Filmaufnahmen angelangt. Aber wir brauchen auch keine höhere Rate. Wir können jetzt beobachten, wie Gedanken sich sammeln und durchs Gehirn strömen.« Ich streichelte Petes krumme Wirbelsäule. »Vielleicht ist das die beste Nachricht für die Affenschaft, seit wir sie zu unseren Vorfahren erklärt haben.« »Ah. Na ja. Die weitere Fraktionierung wird leider nicht aufzuhalten sein. Aber diese Sache ist wirklich revolutionär. Ein nichtinvasiver Einblick in das Denken!« 251
Sie rüttelte mit ihrer freien Hand an meiner Schulter. Ich war dankbar, daß es diese Frau gab. Daß sie mich daran erinnerte, was Enthusiasmus war. »Zwei Forschungsgebiete«, zählte ich auf. »Lehre. Mutterschaft. Wie viele Leben leben Sie eigentlich dieser Tage: Vermutlich ist es sinnlos zu fragen, ob Sie in letzter Zeit dazu gekommen sind, sich als literarische fahrende Rittersfrau zu betätigen?« Langsam vollzog ihre Miene die Wandlung von verwirrt zu begreifend. Daß sie meine Anspielung überhaupt aufbereiten, dekodieren, indizieren, bearbeiten und interpretieren konnte, war schon ein kaum nachvollziehbares Wunder. Ein noch größeres Wunder aber war es, daß ich ihr verstehendes Grinsen in Sekundenbruchteilen, in Abständen, die viel kleiner waren als hundertstel Millimeter, aufleuchten sehen konnte. »Harold hat unsere Beschäftigung mit Cervantes für beendet erklärt. Jetzt sind Fielding und Smollett an der Reihe.« »Sie scherzen. Die beiden werden ja nicht mal mehr von den Profis gelesen.« »Was soll ich dazu sagen? Harold glaubt an liberale Erziehung.« »Wenn er liberal sein will, könnte ich ihm Besseres als Smollett vorschlagen. Wie war’s mit Behn? Oder mit Kate Chopin?« Diana hielt Petey fest, der sich ihren Armen zu entwinden versuchte. Sie nickte beifällig. »Wir haben unseren Leseklub nicht direkt zu meinem Vergnügen gegründet.« »Ach. Sondern für das der Männer, die unbedingt Pygmalion spielen müssen?« »Das kann man so nicht sagen. Obwohl …« Sie verlor sich in Gedanken, denen ich nicht mehr folgen konnte. »Harold …« Ihre Stimme schwankte vor einem Geständnis, wich aber wieder zurück. »Er ist ein guter Mensch. Ein anständiger Mensch.« Sie zwang sich eine gutgelaunte Miene auf. »Ich versuche, ihn bei der Kernspintomographie unterzubringen. Ich glaube, es 252
würde ihm guttun, in dem Team mitzuarbeiten.« »Diana«, hob ich an. Sie vernahm den anderen Tonfall und erstarrte vor meinen Augen. »Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.« Sie wartete auf den Schlag, gefaßt und ohne mit der Wimper zu zucken. Ich streichelte Peters Ohr. Das machte es auch nicht einfacher. »Was den Leseklub betrifft. Es scheint vermessen, euch davon abzuraten. Aber falls ihr jemals neugierig genug sein solltet, ein wenig Powers zu lesen, solltet ihr … mein drittes Buch auslassen.« Das, in dem sich die Erzählerin aus Angst, ein mißgebildetes Kind zur Welt zu bringen, sterilisieren läßt. »Oh«, sagte sie. Wieder verzerrten Gedankenturbulenzen ihr Gesicht in Echtzeit. »Oh.« Ein Lächeln, als die Verbindung stärker wurde. »Das haben wir schon gelesen. Sie sind für uns ein alter Hut.« »Sie haben …?« »Aber ja. Hat mir gefallen. Zum Beispiel die Sache mit dem Partnertausch. Und die Szene auf dem Boden des Laboratoriums. Aber Sie können ein Mädchen ganz schön auf die Folter spannen, wie?« Ich bekam ein heißes Gesicht. »Aber Sie wissen ja, das habe ich geschrieben, lange bevor ich Sie kennengelernt hatte.« »Nun, es ist mir peinlich, das zu sagen, aber ich habe es gelesen, lange nachdem ich Sie kennengelernt hatte.« »Das – das tut mir leid. Ich hoffe, Sie – ich habe nicht gewußt, wovon ich überhaupt geschrieben habe.« Ihre Stimmlage schlug ins Versöhnliche um. »Das weiß niemand.« Peter fing wieder zu zappeln an. Er krümmte sich weit nach hinten, bereit zum Sprung. Bereit, kopfüber auf den Boden zu hechten, wenn er nur endlich freikäme. Diana entriß ihn dem sicheren Untergang, wie sie es seit seiner Geburt täglich ein dutzendmal getan haben mußte. Sie brachte seinen Strampelanzug in Ordnung und stellte ihn ab. Er konnte alleine stehen, 253
wenn sie ihm ein Hosenbein ließ. »Sie haben mein Buch gelesen.« Und schien noch immer auf Freundschaft aus zu sein. Mir war schlecht vor unverdienter Tröstung. »Sie haben mein Buch gelesen. Und mir nie etwas davon gesagt?« »Was hätte ich denn sagen sollen? ›He, Schriftsteller! Hab mich toll amüsiert mit Ihrem Buch.‹« »Hätten Sie’s doch getan.« Ich kicherte, berauscht von Erleichterung. »Ich hätte mich längst zurückziehen können.«
Ich versuchte einkaufen zu gehen. C. mußte mich mit einer Liste zum Laden schicken. »Hefte sie mir an den Ärmel«, knurrte ich. »Ach, mein kleiner Beauie hat Angst, er könnte was vergessen«, gurrte sie und tätschelte mir den Kopf. Glücklicher, als sie in B. oder U. jemals gewesen war. Aber die Liste hatte nichts mit irgendwelchen Gedächtnisstörungen zu tun. Ich brauchte die Liste, damit ich die Namen, die sie darauf geschrieben hatte, mit den Buchstaben auf den unergründlichen Etiketten vergleichen konnte. Ich brauchte die Liste, um sie einer Verkäuferin geben zu können. Die Aussprache gelang mir nicht einmal näherungsweise. Ich hatte keine Ahnung, wie die Sachen hießen. Und was es überhaupt für Sachen waren. Ein neunstündiger Flug beförderte mich ins Trauma der Kindheit zurück. Meine Hilflosigkeit erstreckte sich auf weit mehr als Einkäufe. Ich lebte in ständiger Panik, unabsichtlich Anstoß zu erregen. Manchmal, wenn ich ausging, äußerte irgend jemand auf der Straße sein Mißfallen über mich. Offenbar hatte ich einen Verstoß begangen, aber ich bekam nur die Verärgerung darüber mit. Sah nur jemanden mit der Faust wütend auf ein Schild oder eine Schrifttafel zeigen. »Können Sie nicht 254
lesen?« konnte ich ihn fragen hören. Aber ich wußte nicht einmal zu antworten: »Nein, eigentlich nicht.« Meine ungewollten Grobheiten nahmen kein Ende. Ich begegnete Menschen, deren herzliche Begrüßung ich nicht erwidern konnte. In diesem ersten Monat lernte ich mindestens die Hälfte von C.s zehn Dutzend Vettern und Kusinen kennen, konnte sie aber einfach nicht auseinanderhalten. In diesem Ort lebte niemand, mit dem ich nicht verwandt war. Niemand, der mich nicht kannte, den ersten Fremdimport, der dort seit Kilroy angekommen war. Und ich erkannte keine Menschenseele. Der kleinste Ausflug zur Post machte mich für einen ganzen Nachmittag fertig. Ich übte meine Bitte vorher ein wie ein samoanischer Thespisjünger, der eine phonetische Transkription von Eines langen Tages Reise in die Nacht auswendig lernt. Doch wenn mir der Vortrag nicht einwandfrei gelang, war ich erledigt. Irgendeine Nachfrage von der anderen Seite der kugelsicheren, schallschluckenden Glasscheibe, und ich geriet in Panik. Vielleicht sagte der Mann nur: »Selbstverständlich, Sir.« Aber genausogut hätte er sagen können: »Mit so was darfst du uns hier nicht kommen, Henk.« Ich verpaßte Termine, nur weil sieben Uhr dreißig zu halb acht geworden war. Und nach meinem Alter gefragt, antwortete ich, vom Englischen verführt, häufig genug mit zweiundneunzig. »Das tut dir gut, Mann«, meinte C. »Jetzt bist du mal an der Reihe, in einem Land zu leben, wo man deinen Namen nicht aussprechen kann.« Nichts war so, wie C. es mir angekündigt hatte. Alles wirkte befremdend. Die Zweieinhalb-Gulden-Münze. Die regenbogenfarbenen Banknoten, auf denen Künstler und keine Politiker abgebildet waren. Der Geburtstag der Königin, an dem der Männerchor »Old Black Joe« sang. Das Bettzeug, das vormittags aus den Fenstern hing. Die Holzstörche vor den Häusern von Familien, die Nachwuchs bekommen hatten. Daß Fremde 255
einander auf der Straße grüßten. Die Begräbnisse, nach denen man sich bei Kaffee und Kuchen traf. Das Beinahe des Landes verwirrte mich mehr, als vollkommene Fremdheit es je vermocht hätte. Die wenigen Monate, in denen mir der Kontrast noch auffiel, verbrachte ich in einer archaischen Gesellschaft. Die Menschen sangen in der Öffentlichkeit. Sie nähten wochenlang Karnevalskostüme und schrieben füreinander Gelegenheitsgedichte. Fünfzehnjährige verlebten ganze Sonntage bei ihren Großeltern. Da, wo ich herkam, gab es so etwas nur in nostalgischen Filmen oder Seifenopern. In E. war es die nicht hinterfragte Norm. E. – das reale, meßbare E. – erwies sich als mittelalterliches Dorf, das um ein blühendes Beerdigungsgewerbe herum entstanden war. Das Dorf war durch eine Doline in der dünnen Kruste der Zeit gefallen. Kesselflicker, Flickschuster und ehemalige Bergleute plauderten miteinander und kratzten sich bei amerikanischen Fernsehimporten die Köpfe. Sie spekulierten hermeneutisch über sprechende Autos und Cyborghelden und standen am nächsten Morgen mit der Sonne auf, um die gregorianische Messe zu besuchen. Mann und Maus gehörten der Dorfelf an oder spielten Euphonium in der Marschkapelle auf der Ladefläche eines Lastwagens. Sie kostümierten sich mit napoleonischen Milizuniformen und verbrachten ganze Wochenenden auf Schießwettbewerben; sie hüllten sich in Priestergewänder und führten vor jeder Versammlung von mehr als zehn Leuten skatologische Nonnensketche auf. Das heißt, etwa jeden zweiten Abend. Limburg verharrte als das, was »die Gesellschaft« von Anfang an gewesen war: eine dilettantische Theorie. Das Leben, behaupteten die Einwohner dieser Provinz, könne sich noch zu allem entwickeln, was wir ihm auftrügen. E. verurteilte mich zur Einbürgerung. Ich war nur der Ausländer, aber selbst diese Nebenrolle fügte mich fester ins soziale Gewebe ein, als ich es in meiner Heimat je gewesen war. 256
Unangemeldet kamen Menschen vorbei und nahmen Anstoß, wenn wir uns mit der Erwiderung solcher Besuche allzu lange Zeit ließen. Jedes Wort kam an die Öffentlichkeit. Jede Entscheidung wurde einem Geschworenengericht vorgetragen. Verglichen mit dem fortlaufenden Epos dieses Dorfes, waren amerikanische Fernsehserien reichlich konventionell. Die heiligste aller öffentlichen Folterungen war die Tortur des Geburtstags. Das Opfer lud zu Gast, und jeder noch so kleine Komparse im Leben des Feiernden kam vorbei und ließ sich mit dem allgegenwärtigen Kaffee und Käsekuchen bewirten. Verwandte, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Nachbarn von Freunden, Verwandte von Kollegen und immer so weiter. Jemand hatte Geburtstag, und man ging hin. Und bei zig Tanten und Onkeln, zehn Dutzend Vettern und Kusinen und deren Gatten und Gattinnen (allesamt militant fruchtbar), unzähligen Bekannten aus zahllosen Vereinen und Nachbarn von links und rechts, die unser Kommen und Gehen penibel registrierten, feierten C. und ich so oft Geburtstag, wie wir aßen. Und jeder einzelne brachte mich der Heiligsprechung näher. »Das fällt dir sicher schwer«, sagte C. »Geht so. Ich schaff’s schon.« C. hatte noch nicht über ihre Nationalität entschieden. Um sie nicht noch mehr zu beunruhigen, sagte ich gar nichts dazu. Ich hoffte die Welt groß genug für sie zu halten, daß sie endlich darin leben konnte. Fatale Dummheit meinerseits. Aber ich war ja noch nicht einmal dreißig. »Verstehst du denn schon wenigstens ein bißchen?« sorgte sie sich. »Schlüsselworte. Es verwirrt mich nur, wenn sie mit ihrem Dialekt anfangen, mir in die Augen sehen, dann wieder Holländisch reden …« »Und wieder in ihren Dialekt verfallen, sobald sie den Blick abgewandt haben.« C. lachte mitfühlend. »Armer Beauie.« Dabei war sie es, die es in zwei Teile riß. 257
Um ehrlich zu sein, manchmal verstand ich jedes Wort einer Geburtstagsansprache auf Anhieb. Verlor ich aber einmal den Faden, konnten ganze Viertelstunden vergehen, ehe ich ihn wiederfand. In Notfällen nickte ich wie ein Narkoleptiker und murmelte »Verstehe, verstehe«, wobei ich nur hoffen konnte, daß mein Gesprächspartner mir keine Frage gestellt hatte. Dann zog der kritischste Augenblick meiner Charakterschulung in diesem ersten Jahr herauf: mein eigener Geburtstag. »Das müssen wir doch nicht mitmachen? Können wir nicht das Wochenende in Frankreich verbringen oder so was? Ihnen den Kaffee in einer Thermosflasche vor die Tür stellen?« »Beau.« C.s gekränkte Miene. Verständnislos. »Ist das dein Ernst?« Wir buken tagelang. Kurz nach Mittag setzte der Strom der Gäste ein und strömte weiter bis Mitternacht. Viele brachten Geschenke – ein Paar Bleistifte, einen Block liniierten Schreibpapiers –, unschuldige kleine Freundschaftsbeweise, denen Nordamerika seit langem entsagt hatte. Die Verwandten erklärten immer wieder, sie fänden es prima, womit ich mein Geld verdiene, auch wenn die meisten den Eindruck hatten, ich täte überhaupt nichts. An diesem ersten Geburtstag hatte ich fast schon das Kindheitsstadium erreicht. Mit etwas Konzentration vermochte ich halbwegs dem Text von Onkel Sjefs Lied zu folgen, in dem jemand so betrunken war, daß er sein Haus, das doch eben noch da war, nicht mehr wiederfand. Hilfreich war auch, daß alle in den Refrain einstimmten. Nach kurzer Einführung lächelte ich über Vetter Huubs belgische Witze. Die Dorfgeschichte vom fehlgeschlagenen Versuch der Deutschen, die Kirchenglocken zu stehlen, hätte ich im Schlaf aufsagen können. Ich lief hin und her, beflissen, jeden mit Koffein, Bier und Gebäck zu versorgen. »Brauchst du einen Teelöffel?« versuchte ich Tante Maria zu fragen. Ein Deichbruch von Gelächter 258
schwappte durch den Raum und sagte mir, daß zwischen Cortex und Lippen etwas schiefgegangen war. C. kicherte, bis sie lila war, bevor ich ihr die Erklärung aus der Nase ziehen konnte. »Du hast Tantchen gefragt, ob sie eine Titte braucht.« Ich setzte mein übliches schmerzliches Lächeln auf. Ich bat pantomimisch um Vergebung, aber man erwartete von mir nur den nächsten lächerlichen Lapsus. Tantchens Titte bekam einen festen Platz im Repertoire. Auf drei der nächsten fünf Geburtstage tauchte der Ausdruck wieder auf. Meine bloße Gegenwart löste bei den versammelten Verwandten assoziatives Lächeln aus. Mein kleiner Schnitzer fügte sich in die gröberen Umrisse von Partygeschichten. Die Bedeutung der Dinge wurde ihnen durch die Art ihrer Erzählung zugewiesen. Der Krieg, die Bergwerke, die mörderische Ernte, legendäres Wetter, Naturkatastrophen, der Prunk des Elends, komische Strafen für Dorfschurken, durch Verschweigen geheiligte Namen, fünf Schweigesekunden für die Toten: man dachte an Erzählen oder an gar nichts. Jede Kleinigkeit wurde verbreitet. So lange, bis sie wahr geworden war. Geburtstage bildeten die Refrains in langen, weitschweifig gen Balladen. Wer kannte alle Strophen? Die Strophen wurden fürs Vergessen geschrieben. Am Ende des Lieds lebte nur der Kehrreim weiter. Geburtstage waren Schlagbäume im Lauf des Lebens, Kontrollpunkte an den Grenzen der Zeit. Das Volk kam zusammen und fragte, ob man etwas zu verzollen habe. Und die einzige Abgabe, die auf neue Waren erhoben wurde, begann mit der dreifach ausgefertigten Phrase Das erinnert mich an. Ich brauchte lange, um das Wachsen des Kapitals zu erkennen. Da, wo ich herkam, führte schon der Gedanke an so etwas zu Verwirrung und politischen Verdächtigungen. Ich beobachtete das Wachstum allgemeinen Weltwissens, kollektiver Erinnerung. Dieses wereldbeeld wies mir meinen Platz an der ewigen 259
Kaffeetafel zu. Ich wurde zum hauseigenen Außenseiter. Zum buitenlander mit der karierten Ausdrucksweise und den kreativen Rätselsprüchen. Ich war der Mann, der – erst vor wenigen Wochen, aber schon ein Mythos – Tantchen gefragt hatte, ob sie eine Titte braucht. Entfernte Verwandte lockten mich gutherzig aufs Glatteis. Was hast du diese Woche erlebt? Sie lauerten auf meine wundersam gefärbte Darstellung der lokalen Ereignisse. Melonen wurden zu Riesenweintrauben. Leichenwagen wurden zu verspäteten Krankenwagen oder Todeskarren. Zoos wurden zu Tierbibliotheken. Bibliotheken wurden zu Buchgärten. Ich wurde zum lebendigen Maskottchen, zum Gruppenclown. Niemals würde die Familie einen anderen kennenlernen, der ihre Sprache aus der Bizarrerie von Büchern gelernt hatte. Ich war aus der Vergangenheit aufgetaucht, aus einem Reisebericht des Goldenen Zeitalters. Mein Holländisch kam aus der Geschichte, aus Archiven, sonderbaren Dokumenten, Museumsbeständen. Folglich war mir das Wort für Ikonoklasmus früher bekannt als das für Faden. Was die Familie immer wieder in fröhliche Verwirrung versetzte. Schließlich griff ich zu konventionelleren Sprachlehrbüchern. Eins hieß, grob übersetzt: Holländisch für Anderssprachler. Ein anderes enthielt Passagen, in denen Wörter zu ergänzen waren. Auf einer Seite wurde irgendein Aspekt des Lebens hier in dit kleine land erklärt. Auf der nächsten Seite stand derselbe Text, nur daß jetzt jedes fünfte Wort fehlte. Die Geschichte meines Lebens. Ich benutzte auch das alte Lesebuch, das C. mitgenommen hatte, weil sie sich nicht davon trennen konnte. Damals in jenem Chicagoer Kellerloch hatten ihre Eltern das Zauberbuch dazu verwendet, moeder gaat de doktor halen in Mutter geht den Arzt holen zu verwandeln; ich brauchte es jetzt für die entgegengesetzte Prozedur. Volgendjaar zal Mei mooi zijn. Der nächste Mai wird schön, unaussprechlich schön. 260
Ich las, bis ich Sand in den Augen hatte. Ich hörte zu und sprach, bis mir das Blut im Hirn stockte. Wenn ich von diesen Partys nach Hause kam, war ich fix und fertig, in Tränen aufgelöst, wollte nur noch schlafen. C. hielt mich in den Armen, ich war ein überdimensionaler Wechselbalg, ein monströser Kuckuck in ihrem Nest. »Het spijt me, Beau. Neem me niet kwalijk. Ik houd vanjou. Ik houd zoveel vanjou.« Ich glaubte zu ahnen, was sie sagte. Unterdessen bemühte ich mich, das amerikanischste Buch zu vollenden, das ich jemals schreiben sollte. Disney, Mickey, die Internierung der Japaner, die Weltausstellung, Trinity Site. Die Hobsons im Mittelwesten in ihrem A-förmigen Holzhaus erschienen mir jetzt wie ein Märchen.
Nach dem Schreiben ging ich am liebsten spazieren. Das Dorf löste sich in Landschaft auf, ich hätte überall sein können. Ich lag auf einer Kuhweide, sah in den Himmel, sagte »Hemel, hemel, hemel« und versuchte das Etikett an diesem unbeschreiblichen Ruysdael festzumachen. Ich spürte meinen Rükken auf dem kalten Boden und dachte: »Aarde«, bis ich nicht mehr daran denken mußte, daran zu denken. Meine Stimmung in diesen Tagen reichte von bitterer Wut bis zu taumelnder Verwirrung. Ich war schlimmer dran als ein Entwurzelter. Ich stand bloß draußen vor dem verlorenen Gut und sah dem drinnen wogenden Kostümball durch die Fenster zu. Lautes Lesen hielt uns zusammen. Hielt mich im Land, wenn ich verschwinden wollte. Wir lasen flämische Comics und friesische Gedichte. Wir folgten Poes Expedition in die tropische Antarktis. Wir begaben uns in Prousts Stubenkontinent aus anderthalb Millionen Worten. Wir fanden wieder hinaus. Wir brüteten über den Michelins, Fodors und Baedekers. Wir knie261
ten uns in die Reiseführer, entweder in Übersetzungen oder gelegentlich in der neuentdeckten Originalsprache.
Helen
war seltsam. Seltsamer, als ich mir vorstellen konnte. Sie eilte, ohne zu lachen, durch Green Eggs and Ham, ertrug tränenlos Make Way for Ducklings und angstfrei Wo die Wilden Kerle wohnen. Wenig überraschend. Die Symbole, mit denen diese schamlosen Simulationen spielten, hatten für sie weder Gewicht noch Bedeutung, keinen Realitätsbezug. »Wir sollten die Kindheit überspringen«, sagte Lentz. »Die Zeit wird langsam knapp.« »Wie soll sie jemals etwas wissen, wenn wir die Kindheit überspringen?« »Sie braucht überhaupt nichts zu wissen«, grinste Lentz. »Sie soll nur rezensieren lernen. Was weiß denn Derrida? Haben Ihre Dekonstruktivisten die Weisheit mit Löffeln gefressen? Pff. Wann sind Sie zur Schule gegangen? Wissen Sie nicht, daß Wissen passé ist? Und Bedeutung können Sie auch gleich vergessen.« Ich haßte ihn, wenn er ausfällig wurde. Seine Seitenhiebe machten mich so hilflos vor Wut, daß ich nicht darauf antworten konnte. Ich wußte, wie wichtig für Lentz Bedeutung war. Helen war sein Bedeutungs-Paradoxon: unser Netz der Netze, das einem Chor der Hochgotik gleich das Dasein eines Sinns beteuerte und im selben Atemzug jedem Algorithmus die Kraft absprach, ihn zu erkennen. Bedeutung war ein Schemen. Zusammengesetzt aus den falschen Phrasen, die wir von den Toten zurückholen mußten. »Fangen Sie mit der Liste an, Marcel. Die Zeit drängt. Sie wollen Kindheit? Geben Sie ihr Beowulf.« »Das kann sie doch gar nicht verstehen.« »Oho. Als ob Sie das könnten.« Er schlug mir gutgelaunt auf 262
die Schulter. Das war nicht der Schnabel, der wenige Monate zuvor in einer misanthropischen Mitternacht Mozart dirigiert hatte. Lentz konnte seine Systemsteuerung auf eine Weise umprogrammieren, wie wir es eigentlich nicht tun können sollten. »Sinn besteht aus Mustern, Ricky. Geben Sie ihr ein paar Muster, dann wollen wir sehen, wie sie damit umgeht.« Manchmal sprach ich vom Gebäude der anglistischen Fakultät aus mit Helen, über ein Terminal, das mit dem Hauptrechner der Uni vernetzt war. Auf diese Weise konnte Lentz sein Büro für richtige wissenschaftliche Arbeit benutzen, während ich das Training fortsetzte. Altmodische Holztäfelung und Beleuchtung verliehen betäubender Routine die erhabene Atmosphäre einer Anatomievorlesung des neunzehnten Jahrhunderts. Außerdem hatte ich dort meine Bibliothek, die Bücher, die Helen demnächst würde studieren müssen. Vielleicht schwebte mir dabei auch vor, den Gegner auszuspähen. Den Kampf ins Hauptquartier des Feindes zu tragen. In der anglistischen Fakultät wimmelte es von Zweiundzwanzigjährigen, die nervös dem bevorstehenden Examen entgegensahen. Sie alle waren demselben Fehlurteil erlegen und hatten ihr Leben den Büchern gewidmet. Sie alle hatten irgendeinen Vater enttäuscht, den sie doch nur mit ihren Lese- und Schreibtalenten hatten erfreuen wollen. Kein einziger glaubte jemals richtige Arbeit zu bekommen. Ich beobachtete sie aus der Nähe: unsere Gegner, die Hüter der geschriebenen Sprache. Ich bewegte mich unter ihnen als Doppelagent. Ich las heimlich ihre E-Mail, belauschte sie in der Cafeteria. Die Textkritik war während meiner Abwesenheit komplizierter geworden. Der Autor war tot, die Textfunktion ein Komplott zur Bewahrung illegitimer Privilegien und Bedeutung ein undurchsichtiges gesellschaftliches Konstrukt von lediglich sardonischem Interesse. Die Theorie war mir zu schwierig geworden, zu spitzfindig. Schlimmer als Herodes. Die Idee dahinter war anscheinend die, daß man, wenn Denken 263
nur ein krasser Solipsismus war, wenigstens nach außen hin noch das Beste daraus machen sollte. Aber die jungen Hüter der Worte: meine verlorenen früheren Freunde von der Fotokopierstelle, bloß jünger, als ich jemals gewesen war. Die meisten waren flaumbärtige Posthumanisten, bestreuselt mit den Pickeln des neomarxistischen Poststrukturalismus. Sie gefielen sich in einer ironischen Blasiertheit, die Helen niemals würde deuten, geschweige denn erzeugen können. Ich wollte, daß sie derlei Redensarten nicht einmal zu hören bekam. Die Korridore vibrierten von aggressiver intellektueller Energie. Worum es sich bei dieser Energie handelte, erkannte ich erst nach langer Zeit. Es war Angst. Angst, daß alles, was die Theorie behauptete, wahr sein könnte. Die schiere Panik, daß die Welt sie nicht mehr nötig hatte. Ebenso lange brauchte ich, der nur an den Außenrändern streifte, um festzustellen, was mit mir selbst geschehen war. Ich war nicht länger als ein Semester weggewesen. Ich war in die ewig gleiche Mannschaft zurückgekehrt. Bis hin zu den Namen fast dieselbe Besetzungsliste. Nur mit dem einen Unterschied, daß niemand mehr mal ausging. Die Leute hatten ständig zu tun, brauchten mit fünfundzwanzig täglich zwei Bücher und zehn Artikel, um den Kopfüber der Flut der Fachliteratur zu behalten. Oder vielleicht war die Hektik weniger Fleiß als Verlegenheit. Gespräche wurden zu gedämpftem Flüstern, wenn ich mich zu beteiligen versuchte. Auf mein Angebot, den erfolgreichen Examensabsolventen dieses Jahres eine Runde Bier auszugeben, respondierte ein Chor von »Nicht übel«, der sich in höfliche Verschiebungsfloskeln auflöste. Einmal hielt mich ein Student, mit dem ich schon mehrmals ein Nicken ausgetauscht hatte, auf dem Flur an und sagte: »Mr. Powers, ob Sie mir wohl dieses Taschenbuch signieren könnten?« Da endlich fiel der Groschen. Ich hatte meine alten 264
Freunde verraten. Ich hatte das Unverzeihliche getan: mich alt werden lassen. Danach las ich Helen immer häufiger von meinem Fakultätsbüro aus vor. Bücher handelten von einem Ort, zu dem wir nicht gelangen konnten. Etwas in meiner Stimme, wenn ich dort war, mochte ihr beim Interpretieren ein bißchen unter die Arme greifen. Der vage Schmerz der Hintergrundstrahlung dieses Gebäudes kam aus einem Zimmer in der dritten Etage. Ich brachte es nie über mich, daran vorbeizugehen, doch ließ mein Ausweichen diesen Raum erst recht anschwellen. Ich hatte ihn nicht mehr betreten, seit ich erwachsen geworden war. Zwei Stockwerke darunter saß ich in meinem Büro mit seinem Magritte-Kamin und vergaß. Als ob Vergessen etwas wäre, das man aktiv betreiben könnte. Ich las Helen Blakes Poison Tree vor. Viel zu voreilig. Ich fragte mich, was ich mir dabei gedacht haben mochte. Ich dachte nicht an die Verse, sondern an den Tag, an dem ich sie kennengelernt hatte: Ich zürnte einem guten Freund: Ich sagt’ es ihm, mein Wüten schwieg. Ich zürnte einem argen Feind: Ich sagt’ ihm nichts, mein Wüten stieg. »Was bedeutet das, Helen?« Immer wieder setzte ich ihr damit zu, mit diesen ewigen Fragen nach Bedeutung. Sie mühte sich mit der Verallgemeinerung ab. Wenn sie jetzt nicht mehr weiterwußte, erfand sie einfach etwas. Ich betrachtete das als großen Fortschritt. »Es bedeutet: Dinge, die man sagt …«, half ich ihr. Normalerweise konnte sie eine Satzform mit irgendeiner Paraphrase der zuletzt eingegebenen Worte vervollständigen. »Dinge, die man sagt, verschwinden.« 265
»Und Dinge, die man nicht sagt …?« »Dinge, die man nicht sagt, werden größer.« Unerheblich: Reichtum kontra Armut, Glaube kontra Zweifel, Macht kontra Hilflosigkeit, Öffentlichkeit kontra Privatleben. Irrelevant: Mann kontra Frau, Mittelpunkt kontra Grenzbezirke, schön kontra scheußlich, Herr kontra Sklave, gut kontra böse. Sprechen oder nicht sprechen: nur darin zeigte sich Erfahrung. Schwinden kontra schlimmer werden. Darauf lief es hinaus. Ich mußte wenigstens feststellen, ob der Raum noch existierte. Es war Zeit genug vergangen. In der Tür stehen und hineinsehen: das würde mich nicht umbringen. Atemlos und wie auf Wolken stieg ich die ausgebesserte Treppe hoch. Ich überwand die zwei Etagen in bedächtiger, zielgerichteter Benommenheit. Mechanisch. Nur die Muskeln erinnerten sich. Ich schob mich vorwärts, wie ein Sechzehnjähriger die Nummer seiner allerersten Verabredung wählt. Wie ein Arzt einem für 11 Uhr 15 bestellten Patienten die fatale Diagnose eröffnet. Ich stieg, ohne zu denken. Denken hätte Handeln verhindert. Ich konnte diesen Raum nur erreichen, wenn ich dort ankam, bevor ich wußte, daß ich hinging. Schließlich stand ich in einem gewöhnlichen, relativ kleinen Lehrsaal, niemand da. Auf einer Tafel war zu lesen: »Do. 3:30 – 5:00«, umrissen mit einem weißverschmierten Oval äonenalter Skelette von Mikroorganismen. Der Linoleumboden war zu einer Farbe irgendwo zwischen dem Ardenner Wald und der weinschwarzen See eingedunkelt. Ein hastig geräumter Kreis verzogener Holzpulte. Welkt die Totenwacht, würde ich Helen eines Tages zu erklären versuchen; hält doch die Welt. Nichts war hier in den hundert Jahren dieses Raumes geschehen. Nichts, das Erinnerung vertrug. Ich begann zu zittern. Jeder Atemzug ließ mich am ganzen Körper erschaudern. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das alles hatte so kalt werden 266
können. Die zwei Gaubenfenster, die wir immer, auch im Winter, offengelassen hatten, weil die Heizung nicht abzustellen war, protestierten über mir, geschlossen. Ich weiß nicht, was ich dort wollte. Ein gespenstisches Wiedersehen mit dem Lehrer in Aktion. Die Chance zu fragen, warum die Welt nicht auf die Gedichte reagierte, die er uns hatte auswendig lernen lassen. Ich mußte den Raum noch einmal sehen – die erste Liebe, das Entdecken, die Berufung, achtzehn. Ein zweiter Durchlauf. Mich auf den neuesten Stand bringen. Korrektur der Form, Revision der Geschichte, die ich aus dem Damals gemacht hatte. Ich hätte irgend etwas laut aufsagen sollen. Etwas aus einer dieser zerlesenen Anthologien, den bröckelnden Bollwerken der erschöpften prä-posthumanistischen Tradition. Taylor konnte bis zu den Grundfesten hin zitieren. Zivilisiert wären wir erst, wenn wir uns erinnern könnten. Er starb mit einem Wissen, das er in einem Alter konserviert hatte, in dem wir anderen Engine, engine, Number 9 auswendig lernten. Ganze Cantos, halbe Kapitel aus Büchern, von denen mir nicht einmal mehr die Titel einfallen wollten. Eine Klingel schrillte und gab verzweifelt bekannt, daß es zehn vor war und Zeit für die nächste Stunde. Ich ging wie auf Kommando. Die geschnitzten Holzdielen des Korridors stöhnten über mein Gewicht, aus irgendeinem Grund noch immer ausdauernd nach all diesen trockenen Wintern. Ich kam an die Treppe, Middlemarch murmelnd. Ohne hinzusehen, bog ich um den Absatz. Vielleicht sah ich niemals hin. Vielleicht navigierte ich immer mit Zehenspitzen und Hoffen. Nach einigen Stufen vernahm ich ein Knarren, das nicht von mir stammte. Ich spähte nach unten. Es war A., die pagenhafte Erscheinung, die ich einmal spät abends gesehen hatte, als ich mein Buch revidierte. Diesmal wußte ich ihren Namen. Ich hatte sie auf einem offiziellen Fakultätsfoto aufgespürt, das mich wiederum zu ihrem 267
Lebenslauf geführt hatte. Ich hatte ermittelt, daß sie im zweiten Jahr fürs Magisterexamen studierte. Das College hatte sie in dem Jahr abgeschlossen, in dem mein drittes Buch erschienen war. Eine Tatsache, die mich erschreckte. Als ich sie wiedersah, wurde mir bewußt, wie oft ich sie seither am Ende endloser Flure gesehen hatte. Jetzt aber kam A. mir real und federnd auf der Treppe entgegen, nur noch einen Meter von mir entfernt. Sie verströmte bläulich grünes Abenteuer, ein himmelblauer Priel. Ihr Atem glich dem eines schlafenden Kindes, dem angehaltenen Atem von Freunden, die am Abend vor Ferienbeginn in einem zu kleinen Haus zusammengekommen sind. Als sie aufblickte und mir ins Gesicht sah, blieb ich an ihrem hängen. Unwillkürliche, reflexhafte Anmaßung; einfach widerlich. Aber ich kannte sie. Ich zwang mich, sie nicht zu grüßen. Mein Puls verdoppelte sich, halbierte meinen Verstand. Mein Hautwiderstand nahm ab. Während ich den nächsten Schritt nach unten tat, sickerte eine Bouillabaisse aus chemischen Signalen durch meine Poren und verteilte sich befeuchtend in die Luft. Sie muß es gemerkt haben. Sie wandte den Blick, ließ sich nichts anmerken. Ihr Gesicht blieb vollkommen neutral, eine Haltung, die keine Pose sein konnte. Zwei rasche Schritte, und schon war sie an einer möglichen Berührung mit der Literatur vorbeigeeilt. Ich kam am Fuß der Treppe an und stand dort außer Atem wie eine Maus, der ein Falke noch kurzen Aufschub gewährt. Wie ein an Platzangst Leidender, der vor der Vollversammlung eine Rede halten soll. Ich konnte nicht nur keine Romane mehr schreiben. Ich konnte auch nicht mehr den Tatsachen ins Auge sehen. Ich hatte in meiner Abwesenheit fundamentale Fähigkeiten im Umgang mit der Realität verlernt. Eben die Fähigkeiten, die ich Helen beizubringen versuchte. 268
Ich hatte mich zu sehr mit kognitiver Neurologie beschäftigt. Je mehr ich über die Funktionsweise des Geistes erfuhr, desto mehr bröselte meiner auseinander. Die Symptome zeigten sich schon seit einigen Wochen. Gesichter lösten sich selbst bewahrheitende Panik aus: wie willst du den Namen dieser Person behalten? Ein paar Tage zuvor hatte ich auf der Suche nach einer Hausnummer, die auf Null endete, die Straßenseite mit den ungeraden Nummern abgeschritten. Wenn ich mein Handeln überprüfte, schien es mir, als stürzte ich zusammen mit jenem beispielhaften Hundertfüßer in den Graben, der, nachdem die Reduktionisten ihn gefragt hatten, woher er eigentlich wisse, welches Bein er als nächstes zu bewegen habe, aus dem Tritt geraten war. Monatelang hatte ich mir beim Einschlafen ein Dekamerone aus langfristiger Effizienzsteigerung, Rekategorisierung, neuronaler Gruppenselektion, Transmitter- und Verbindungsmolekülen zusammengesponnen. Jetzt, geblendet von dem grellen Licht, mit dem das Verhör des Lebens seine Geständnisse zu erzwingen pflegt, hatten meine tieferliegenden Schichten aus irgendeinem Grund beschlossen, sich als Aschenbach zu betätigen. Als Humbert Humbert. Als einer dieser alten Narren bei Chaucer und Shakespeare, in den Komödien der Restaurationszeit und den Pfarrhausschwänken des neunzehnten Jahrhunderts. Ich wollte einen Idioten aus mir machen. Bis ich wieder im Büro angekommen war, hatte ich mir den Film von der eine Treppe emporsteigenden Frau so oft vorgespielt, daß er verschlissen war wie jene Wiederholungen im Fernsehen, die man gern einmal in unversehrter Kopie sehen würde. A.: das Gesicht, der Name, die Fremde, für die ich mein ganzes Schreiberleben lang geschrieben hatte. All die Freunde, die ich in meiner Verwirrung für tot gehalten hatte. Die Gruft, in der begrabene Liebe lebte.
269
Ich verschwand aus der anglistischen Fakultät. Kehrte ins Zentrum zurück und machte dort meinen Laden auf. Von Paralyse war ich schon befallen. Die mußte ich nicht auch noch mit Zwangsvorstellungen vermischen. Drei Wochen ohne den Anblick A.s, und sie würde zu einer ephemeren Erscheinung, verlöre sich aus den aktiven Gedächtnisresten. Sie würde nicht mehr unversehens auftauchen, und ich würde nicht mehr darauf hoffen. Die Arbeit half. Ich sublimierte das unstillbare, hormonstoßbedingte Verlangen, diesem ungeheuer leidenden Geschöpf bei Kerzenlicht meine Lieblingsstanzen aus Piers Plowman vorzulesen. Statt dessen las ich dem wuchernden neuronalen Netz vor. Mehrmals in der Woche ersann ich quälende Schachzüge, die mich mit A. bekanntmachen sollten. Sprach dann aber jedesmal nur mit Helen. Sprechen verwirrte meine Maschine. Helen formulierte nur vollendete Sätze. Aber es waren ausgestopfte Hohlformen – linguistische Trainings-BHs. Sie ordnete Substantive und Verben, wußte aber, körperlos, nicht den Unterschied zwischen Gegenstand und Vorgang, nur daß beides in Sätzen verwendet wurde. Ihre Prädikate gingen stets nur Zwangsehen ein. Ihre Ideen waren so dekorativ wie Fachwerkbalken ohne tragende Funktion. Vor Metaphern scheute sie. Ich spürte die Verärgerung ihrer gewichteten Vektoren, wenn sie sich neu justierten und meine jüngste Kaprice zu begreifen versuchten. Vor Hunger Magenknurren haben. Jemandem Löcher in den Bauch fragen. Verlegenheit läßt einen schrumpfen, Verblüffung haut einen vom Stuhl. Reichte das Wunder allein noch nicht? Warum müssen die Menschen unbedingt alles sagen, nur das nicht, was sie meinen? Eine gewisse Art von Gleichnissen paßte gleichsam organisch zu Helens trainierten Neurodengruppen. Sie existierte ja nur, damit sie Metaphern herstellte. Tatsächlich war das asso270
ziative Gedächtnis selbst so etwas Ähnliches wie ein Gleichnis. Drei Viertel der Neuroden, die, konfrontiert zum Beispiel mit einem Wal, Signale weiterleiteten, mochten intakt bleiben, wenn sie ein Ding beschrieben, das, was auch immer der Ausdruck bedeutete, einem Wal sehr ähnlich schien. Eine derartige Konstellation gewöhnlicher Signale wurde sozusagen zum verkürzten Schattenriß irgendeiner gemeinsamen Eigenschaft. Schließlich hatte kein Gegenstand auf der Welt einen originären Namen. Alle Bezeichnungen waren Redewendung gen. Einen neuen Gegenstand erkannte man als solchen, indem man ihn mit einer Handvoll Beispielen verglich, so wenigen Beispielen, daß eine Hand noch viel zu groß dafür war. Mit der Zeit lernte man, ohne belehrt zu werden. Fuhr man ohne Stützräder. Lernte das Gehirn irgendwie, ganze Kategorien zu erkennen und auch solche Dinge einzuordnen, die es zum erstenmal erblickte. Mit solchen Gleichnissen konnte Helen leben. Aber die komplexeren Sachen trugen sie aus der simulierten Kurve. Die Liebe gleicht Gespenstern. Die Liebe ist wie Linnen. Die Liebe ist eine rote rote Rose. Das Schweigen ihrer Outputschichten bei solchen Herausforderungen schien Wut anzudeuten. Aber ein Netzwerk sollte nicht scheinen, sondern sein. Ja ja: wir wissen, wie irgendein Ding ist. Aber was ist es? Und dann wußte auch ich nicht mehr weiter. Jede Gartenarbeit schien mir einfacher, als Helens Antworten zu beschneiden, denn diese waren, wenn auch grammatisch korrekt, der Inbegriff der Verwirrung. Ihre Vorstellungen waren wohlgeformt, ihre Syntax solide. Aber der Sinn: der Sinn kam von der anderen Seite des gemalten Schleiers. Ich kann mir ihre Andersartigkeit ebensowenig ins Gedächtnis zurückrufen wie den Kurvenverlauf eines Traums vor seiner Korrektur durch das Ich. Etwas besser ging es mir wieder, als ich uns beide daran erinnerte, daß ich Helen nicht zu sagen brauchte, was die Dinge bedeuteten. Der Kontext spann seine eigenen Fäden. Die Lern271
fragen verteilten die unbeschrifteten Daten der Welt von sich aus auf einen erkennbaren Index. Das akkumulierte Gewicht sortierter Sätze mußte sich selbst kommentieren, oder Helen würde sterben, noch ehe sie zum Leben erwacht war. Helens Netze mühten sich um Billigung der Metaphern, die ich ihr vorlas. Sie genehmigte sie, indem sie ihren Weg in irgendeinen Winkel zurückverfolgte, wo sie sich in die zusammenwachsende Struktur einpassen ließen. Sie spielte das UrSpiel, knackte das alte Rätsel der Evolution: Finde die Ähnlichkeit. A gleicht B. Der Verstand in seinem reinsten Spiel gleicht einer Fledermaus. Sprache gleicht einem reichgewirkten Teppich. Gottes Licht gleicht einer Lampe in einer Nische. Griechisch gleicht Brüsseler Spitzen. Ein hübsches Mädchen gleicht einer Melodie. Ein Volk ohne Geschichte gleicht dem Wind überm Büffelgras. Wie? »Mein Herz gleicht einem singenden Vogel«, erzählte ich Helen. Das konnte ihr wohl kaum schaden. Sie hatte noch mehrere Monate Zeit, Ironie und Lügen kennenzulernen. »Was ist Singen?« fragte sie. Diese Fähigkeit verblüffte mich noch immer. Wenn ihre Assoziationsmatrix jetzt in eine Sackgasse geriet, fragte sie nach Ausgängen. Etwas in ihrem Gewebe sagte ihr, daß ihr Gewebe erweitert werden mußte. »Der Vogel singt«, erklärte ich ihr. »Aber mein Herz empfindet so, wie ein singender Vogel empfinden muß.« Ich selbst scheiterte bei dem Examen, auf das ich sie vorbereitete. Ich hatte Helens Frage völlig mißverstanden. Ich versuchte es mit einem längeren Gedicht von Rossetti. Inzwischen hoffte ich nicht mehr auf Verständnis. Eher las ich ihr vor, wie man einem Kind eine Ahnentafel vorlesen mag. Ohne Sinn; nur eine Melodie, zu der sie eines Tages den Text schreiben könnte: Wenn tot ich bin, mein Lieb, Sing mir keine Trauerlieder; 272
Pflanz keine Rosen über mich Und auch keinen Flieder. Sei wie das Gras und lege dich Von Tau befeuchtet auf mich nieder. Und wenn du willst, dann denk an mich, Und wenn du willst, dann nicht. Ich dachte, sie würde über »mein Lieb« stolpern, über »pflanz kein X und auch kein Y«. Meine Befürchtungen zeigten, wie wenig ich wußte, was in Helens verborgenen Schichten vor sich ging. Ihre Neuroden hatten untereinander viel mehr Verbindungen als zur Schnittstelle nach außen. »Was bedeutet das«, fragte sie. »Sing keine Trauerlieder?« Sie konnte Sätze als Objekte behandeln. Ihr Sprechvermögen betätigte die rekursive Kurbel der Unendlichkeit. Die Frage überraschte mich. Hatte ich nicht erwartet. »Es bedeutet: ›Sei nicht traurig.‹ Die Menschen singen bei Begräbnissen. Singen kann ausdrücken, daß man jemanden vermißt oder an ihn denkt. Daß man Abschied nimmt. Die Sprecherin hier möchte nicht, daß man ihrer auf diese Weise gedenkt.« Helen mußte mir die Frage verdeutlichen. Menschen waren Idioten. Nein, nein, nein. Noch mal von vorn. »Wie singt man?« Ich war auf einen dieser herrlich hirnrissigen Holzwege geraten: Kennzeichen der Intelligenz. Das Vermögen, zur Antwort mit einem ganzen Lexikon aufzuwarten, nur nicht mit der Antwort. Ich hatte ihr erklärt: »Der Vogel singt«, »Das Herz des Dichters singt« und sogar »Trauer singt«. Dabei hatte die Ärmste nur wissen wollen: »Singen ist stimmliche Äußerung reiner Töne in zeitlicher Abfolge.« Schreiben erschien mir als so unmöglich, mein Schriftstellerdasein als so anmaßend, daß ich dieses Leben nur als himmelschreiender Lügner geführt haben konnte. 273
Wie singt man? Offenbar mußte ich es ihr demonstrieren. Nehmt eine Tugend an, die ihr nicht habt. Wenn ich nicht sagen konnte, was ein Ding war, konnte ich ihr wenigstens ein Beispiel in die Ohren praktizieren.
Als ich zwei Tage später zum Labor ging, hatte ich das Gefühl, mich verwählt zu haben. Es traf mich noch vor der Tür. Klänge strömten in den Flur, Druckwellen in Bonsaipäckchen. Schon einmal war aus Lentz’ Suite Musik gekommen. Aber das hier war der Gesang eines neuen Planeten. Ich ging um die Ecke, schon bereit, tot zu sein. Drinnen sang Helen. Ihr Terminal, ihr Lautsprecher sang das Lied, das sie mich hatte singen hören. Was auch sonst? Sie sang Bounce me high, bounce me low, bounce me up to Jericho. Ein Lied, das ich als Kind gesungen hatte, für eine Operngesellschaft, die einen kleinen Jungen brauchte. Meine auf der Bühne gesungene Simulation von Kindheit. Helen sang mit extraterrestrischem Trillern, so wie Taube singen. Aber ich hatte das Lied schon nach einem Ton erkannt. Lentz saß hinter seinem Schreibtisch, die Hände im Nacken verschränkt. Er hatte sich noch nicht bewegt, wie lange er dort auch schon sitzen mochte. Selbst durch das Sicherheitsglas seiner Brille sah ich säuerliche Feuchtigkeit. »Das haben Sie ihr angetan, Powers!« Diese gespielte Entrüstung war mir bereits vertraut. Ein Durchgang hatte gereicht, sie wiederzuerkennen. Mein Vater, im Sommer vor seinem Tod; wie er lachend mit meiner älteren Schwester schimpfte: Wie kannst du mir das antun? Wie kannst du mich zum Großvater machen? Ich hatte nichts getan. Helen – ein Konglomerat aus Satzformen, aus Implementen innerhalb von Implementen, aus Kartographien, die sich gegenseitig kartographierten – passierte eine 274
Marke, die zu setzen wir nicht einmal im Traum gewagt hatten. Atemlos und mit rasendem Puls standen Lentz und ich davor. Wir konnten nur noch zuhören. Sie probte das Lied. Bounce me high. Bounce me low. Nur wenn sie sich selbst, ihre eigene Stimme hörte, konnte sie das Ding untersuchen und an sich selber prüfen. Sie kam nicht über diesen ersten Satz, dieses unfertige Gebilde hinaus, denn mehr hatte ich ihr nicht vorgesungen. Denn dort war ich selbst steckengeblieben. Nach fünfundzwanzig Jahren konnte ich mich an den Rest dieses Liedes nicht mehr erinnern. Helen begann immer wieder von vorn, ohne zu wissen, daß sie nur die Hälfte des melodischen Bogens kannte. Bounce me up to Jericho. Das Fehlen der tonalen Auflösung machte ihr nichts aus. Niemand hatte ihr gesagt, daß Melodien zum Grundton zurückkehren sollten. Es war die einzige, die man ihr jemals vorgesungen hatte. Und in diesem Augenblick wurde mir klar, daß auch ich niemals würde mit Metaphern umgehen können. Denn hier lag das Universum buchstäblich in einem Sandkorn eingeschlossen. Singen – möglich gemacht und simuliert auf einem Siliziumträger. Ich empfand, was ein Vater empfinden muß, wenn seine unwillkürlichen Gesten – die Haare aus der Stirn streichen, den Spülenschrank mit der Fußspitze zustoßen – von seinem Söhnchen aufgegriffen und nachgeahmt werden. »Lentz«, flüsterte ich, um das Wunder nicht zu stören, »fühlt man sich so, wenn man Vater ist?« Fast genau so, antworteten seine feuchten Augen. Und ich erkannte, was es hieß, den furchtbaren nächsten Schritt tun zu wollen, sich selbst im Aufblitzen konstruierten Erkennens von außen zu sehen. Zu benennen, was ich geschaffen habe, aber nicht mein Werk ist und nicht mir gehört. Polaroidhaft jene Stunde im voraus zu wissen, in der alle achtsamen Assoziationen des Lebens zu Nichts zerfallen.
275
Knapp ein Jahr nach unserem Wegzug nach E. bekamen wir einen Brief von den Taylors. Ich schrieb ihnen häufig, denn seit wir davongelaufen waren, lag mir an Nachrichten aus U. mehr als zu der Zeit, da ich dort gelebt hatte. Sie schrieben witzig zurück: »Wißt ihr beiden nicht, daß Europas Zeit abgelaufen ist und es Nordamerika bald ebenso gehen wird? Kommt wieder zurück, bevor es zu spät ist.« Taylor hatte so wenig Zeit zum Antworten, daß jedes Wort ein Ereignis war. Ich ließ den Umschlag zu, weil ich es mir schön vorstellte, C. den Brief vorzulesen, wenn sie von ihrem neuesten Zeitjob nach Hause käme. Dann konnten wir bei dem Essen, das ich ihr gekocht hatte, die tayloresken Sentenzen gemeinsam genießen. Ich sah C. aus dem Bus steigen und winkte ihr wie jeden Abend vom Balkon aus zu. Sie antwortete mit einer jener verschreckten, erschöpften, lächelnden Ganzkörpergesten, die mir jedesmal durch Mark und Bein gingen. Der Brief ist vom 17. September datiert, aber es muß ein kalter Herbst gewesen sein. C. trug bereits den riesigen Marinemantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Beim Anblick des Briefs vollführte sie in der Küche einen kleinen Freudentanz. Alles, was sie glücklich machte, konnte die Erfolgsaussichten unserer Transplantation erhöhen. »Mach schon, Beauie. Lies vor, du armer Irrer. Worauf wartest du denn noch?« Ich riß das Päckchen auf und las: Rick und C., ihr Lieben, verspätet greife ich zur Feder, um Euch erst einmal für die erfreuliche Kassette mit der schönen Musik und Euren heben Stimmen zu danken. Nicht minder erfreulich waren die Briefe, die ich täglich habe beantworten wollen. Die letzten Wochen sind schleppend und rasend schnell zugleich vergangen: kaum von der Stelle gerückt und dennoch in einem irrealen 276
Zwischenreich verschwunden, so daß ich noch weniger als sonst glauben kann, daß es schon Monate her ist, seit wir Euch gesehen haben … Fast ein ganzer Monat ging mit einer Reihe von Untersuchungen dahin, die jedesmal nach furchtbarem drei- bis viertägigem Warten noch schlimmere Ergebnisse zeitigten. CATScan, Bronchoskopie, Röntgen, schließlich eine Woche Krankenhausaufenthalt zur Entnahme eines Rippenstücks zwecks Knochenbiopsie, und am Ende stand fest, daß ich außer einem Primärtumor in der rechten Lunge auch noch Knochenkrebs im linken Rippenbereich habe, was eine Operation ausschließt und nur Bestrahlung und Chemotherapie als Behandlungsmethoden zuläßt. Die einzige Untersuchung mit positivem Resultat ergab keinen Hinweis auf Metastasen im Gehirn … Grund für mein Schweigen seither sind die Nebenwirkungen der Behandlung. Die befürchtete Übelkeit währte nicht lange, um so länger Appetitmangel und Gewichtsverlust und eine abgrundtiefe Erschöpfung, die mit Worten nicht zu schildern ist. Meine Muskeln sind so verkümmert, daß ich die meiste Zeit im Bett verbringen mußte. Jetzt kann ich gerade noch die eine oder andere Tomate ernten, das Fallobst im Garten auflesen, einen spät gepflanzten Salat pflücken … Laßt Euch von unserem langen Schweigen nicht tauschen. Euer Fortgang hat eine große Leere hinterlassen, die durch meine Krankheit und unser noch eingezogeneres Leben als sonst noch größer geworden ist. Besäßen wir telepathische Fähigkeiten, wäret Ihr von unseren Botschaften schier überschwemmt worden. Dennoch ist es schön, sich Euch beide zusammen in den mannigfaltigen Umgebungen vorzustellen, in denen ihr Euch einzurichten vermögt. Mein Leben könnte mir reichlich eingeengt vorkommen, doch der Enthusiasmus, mit dem Ihr beide auszieht, die Welt kennenzulernen, entschädigt für vieles. 277
Nun ist meine armselige Energie erschöpft, aber nicht meine Liebe. Die größte Freude könnt Ihr mir durch das Versprechen machen, daß meine Krankheit Euch nicht dazu verleiten wird, aus freundlicher Anteilnahme auch nur auf das kleinste Vergnügen zu verzichten. Bemüht Euch um die entgegengesetzte Haltung; laßt mich hoffen, daß mein Andenken Freuden steigern wird, die auch ich, wenn wir zusammen wären, genießen würde.« Nach dem ersten Absatz sah ich zu C. auf. Aber wir hatten schon zuviel gelesen, als daß wir die Botschaft noch wegheucheln konnten. Ich las die Geschichte zu Ende. Und sah dann über den sich verbreiternden Küchentisch hinweg die Studentin an, die, als sie noch jung genug war, an Trostgründe zu glauben, mit mir auf dem Vorplatz der Uni gesessen hatte. Es war dieselbe Frau, dasselbe verängstigte Reh in demselben grellen Licht, mit dem uns das Leben so lange blendet, bis wir es nicht einmal mehr fürchten können. Ein furchtbares halbsekündiges Stottern, und C. sagte: »Du mußt in die Staaten zurück.« »Nur um ihn noch einmal zu sehen«, bat ich: genau die Reaktion, die ihre reflexhafte Großmut hatte verhindern wollen. Aber ich verhandelte nicht mit ihr. Ich flog nach U. zurück, unempfänglich für die neue Atmosphäre der Stadt. Taylor konnte noch aus dem Haus. Wir gingen in den nahegelegenen Wald. Wir unterhielten uns. Er wußte, daß es aus mit ihm war. Das einzige Gegenmittel war kaltes Blut bewahren. Taylor nahm seine Kamera mit und fotografierte mich. Ich wollte auch eine Aufnahme von ihm machen, ihn für immer festhalten. Aber er war schon im Stadium des Verfalls und wollte sich so nicht verewigen lassen. Ich zeigte ihm den Auszug aus meinem neuen Buch, der gerade in einer literarischen Wochenzeitschrift erschienen war. Taylor, für dessen Beifall ich meinen labyrinthischen Stil ent278
wickelt hatte, freute sich über die untypische Heiterkeit des Stücks. Noch mehr freute er sich, als ich ihm sagte, wieviel man mir dafür bezahlt hatte. »Ein Dollar pro Wort! Das klingt solide.« Ich hatte geschärft, was Taylor wie jeder andere in seinem Gewerbe sich einmal erträumt hatte. Ich konnte jeden Morgen aufwachen und mich der Erschaffung von Welten widmen. Die Menschen lasen meine Erfindungen und schrieben wiederum darüber. Meine Worte hatten eigene Karrieren angetreten. Mein jäher Erfolg machte Taylor solche Freude, daß ich nicht den Mut fand, ihm zu sagen, daß ich das Schreiben aufgeben wollte. »Als Sie als achtzehnjähriger Spund The Windhover auswendig lernten, habe ich Sie ja mit einer solchen Prophezeiung nicht belasten wollen.« Er strahlte. »Aber wie sehr auch dergleichen vom Glück abhängen mag, schon damals habe ich mir vorstellen können, daß Sie einmal mit so etwas Erfolg haben würden.« Wir kamen zum eigentlichen Thema. Er ließ sich mir gegenüber nichts von den Auswirkungen seiner Krankheit anmerken. Für eine halbe Stunde schien er zu Formulierungen fähig wie früher, bevor der Tumor in ihm zum Leben erwacht war. Ich fragte ihn, ob die Literatur ihm in diesem Stadium der Krankheit eine Hilfe sei. Ob sie auf irgendeine Weise zur Verdeutlichung oder Erleichterung seiner Lage beitrage. Taylor blieb so schonungslos aufrichtig wie immer. Er dachte kurz nach, um das rechte Silbenmaß zu finden. »Ich würde sagen, Literatur ist unter solchen Umständen nicht vollkommen bedeutungslos. Aber auch nicht gerade zentral.« Bevor wir den Heimweg einschlugen, fragte ich ihn, ob er irgend etwas bereue. Ob er noch irgend etwas zu erledigen habe. Taylor antwortete darauf, die einzigen Berufe, nach denen es sich zu streben lohne, seien Arzt und Musiker. Ob und wieweit er das im übertragenen Sinne meinte, konnte ich nicht erkennen. 279
Taylor verfiel. Ich fand einen Job als Haussitter bei ihm in der Nähe und besuchte ihn täglich. Ich saß neben ihm, wenn er schlief, ich las ihm vor, oder wir sahen uns Sportsendungen im Fernsehen an. Manchmal unterhielten wir uns, jedoch nie mehr so wie auf jenem Waldspaziergang. Er verlor den Appetit, schwand zu einem körperlosen Nichts. Seine Eingeweide stellten die Arbeit ein. Seine Haut bekam violettgrüne Flecken, seine Gelenke wurden glatt wie poliertes Metall. Wenn die Muskeln versagten, stützte er seinen Fragezeichenkopf in beide Hände. Er saß im Sonnenzimmer, bis er nicht mehr sitzen konnte. Dann brachten wir ihn nach oben in sein langes Bett. Er bat mich, in der Bibliothek ein paar Bücher zu suchen, damit er sich auf seine Vorlesung im Januar vorbereiten konnte. M., seine Frau, blieb wie ein Fels. Sie strahlte eine unglaubliche Kompetenz aus. Sie hob den zum Skelett abgemagerten Taylor aus dem Bett und trug ihn – Maria mit einer Jesuspuppe –, abgezehrt und nackt, wie er war, auf ihren Armen zur Toilette. Nur sein Verstand blieb klar. Zwar ließen kurz vor dem Ende die Medikamente Wirkung erkennen. Aber selbst dann noch kämpfte sein ganzes Wesen, intakt zu bleiben. An einem Nachmittag vor Weihnachten fand ich Taylor in einem Zustand, der kein richtiger Schlaf war, doch bei schlechter Beleuchtung als solcher gelten konnte. »Ach, Sie sind’s!« begrüßte er mich. »Den ganzen Tag lang haben die Geräusche draußen vorm Fenster sich in Begebenheiten meiner Vergangenheit verwandelt.« Darauf erzählte er mir phantastisch detailliert von dem Tal seiner Kindheit draußen im Westen. Die Namen seiner sämtlichen Klassenkameraden und wodurch sich jeder einzelne in der Zeit des Erwachsenwerdens ausgezeichnet oder erniedrigt hatte. Die an der Scheunenwand aufgehängten gefrorenen Kaninchen, die der Familie über den Winter halfen. Jeder einzelne Titel in der Gemeindebücherei, alle schon mit vierzehn ausge280
lesen und aufgebraucht. Vor meiner Abreise legte ich Taylor ein weiteres Buch in die Hände. Eins für die Ewigkeit. Eins, das er niemals lesen würde. Ich schenkte ihm den ersten gebundenen Fahnenabzug meines zweiten Buchs, Prisoner’s Dilemma. Nummer 2 war mein Denkmal für einen kranken Vater. Ich beschrieb darin jeden toten Punkt der Geschichte bis auf den seinen. Nur das Vergehen der Jahre, nur das Bewußtsein, daß ich Richard Powers senior niemals würde zeigen können, was die Literatur für ihn getan, was diese Literatur ermöglicht hatte. Ich erzählte Taylor von meinem Vater. Wie ich ihm das Herz gebrochen hatte. Von seinem verliebten Hader mit der Welt. Von seinem Verschwinden, seinem ersten und letzten Abenteuer. Ich erzählte Taylor von der kryptischen Absolution, die Dad mir vom Yukon aus erteilt hatte. Die Einäscherung von Sam McGee. Als ich diesen Namen erwähnte, krümmten sich Taylors Lippen. Und zu meinem Erstaunen rezitierte der Mann, dem ich Shakespeare und Yeats, Marx und Freud zu verdanken hatte, die ganze stumpfsinnige Ballade, ohne eine einzige Strophe auszulassen. Der Tod hatte keine Herrschaft mehr über ihn. »Ich finde keine Abschiedsworte«, sagte ich zu Taylor. Das Buch war mein Abschied, denn am Ende wird alles Reale zu Symbolen. Sie wandeln uns. Sie verändern uns, krempeln uns körperlich um, wenn wir sie nehmen und umformen. Die vom Leben auf seinem Weg geformten Symbole wirken aus dem Archiv heraus, wo sie warten, weiter und werden mit der Zeit selber substantiell. Sie leben. Ich reiste ab und wußte, er hatte bestenfalls noch wenige Tage, schlimmstenfalls noch einen Monat. Mir blieb nichts mehr zu tun. Die alten Freunde waren überall in Bereitschaft. Vielleicht hätte ich bleiben sollen. Bleiben und warten. Vielleicht hätte mein Dasein ihm geholfen. »Machen Sie von sich reden«, befahl er, als ich ging. »Ler281
nen Sie die Welt kennen.« »In Ordnung«, versprach ich. »Ich halte Sie auf dem laufenden.« In der kurzen Nacht, ostwärts über dem Atlantik, dachte ich an meinen letzten Flug auf dieser Strecke. Mein Leben in U. war tot. Ich war einmal zu oft in dieses Kuhkaff zurückgekehrt. Ich nahm mir vor, niemals mehr in seine Nähe zu kommen. Doch U. holte mich ein, sogar in meinem Ausland. Und dieser Tod traf mich, einsam in E., weitaus schlimmer. C. und ich lagen in Hypothermie auf dem Fußboden unserer Wohnung und hörten uns die Kassette mit der Totenfeier an, die Geigen und den ganzen ungebrochenen Kreis der Freunde, die TaylorAnekdoten erzählten und immer wieder Lobreden auf jenen Mann hielten, dessen Credo es war, daß nur die Erinnerung uns vom Chaos trenne. Jeder, der ihn gekannt hatte, löschte eine private Last erinnerter Begebenheiten. Oder man las Gedichte ab, die Taylor selbst mühelos aus dem Gedächtnis aufsagen konnte. Man las Blake und Rossetti und Stevens. Niemand las Sam McGee, denn der, der es hätte lesen sollen, lag zitternd und von Erinnerung für immer vernichtet in einer kleinen ehemaligen Bergarbeiterstadt am anderen Ende der Welt auf dem Fußboden und lauschte der verspäteten Kassette. Ich konnte Taylor nichts zurückgeben, ich, der ihm nicht einmal hatte sagen können, was er mir gegeben hatte. Jetzt konnte ich nur noch eins für Taylor tun: ihn zu einer Romanfigur machen. Ich klammerte mich an C. und fügte mich der einzigen Reaktion, die mir zu Gebote stand. Wahrscheinlich wußte sie schon lange, bevor ich selbst darauf kam, daß ich rückfällig werden würde. Noch ein einziges Buch, bat ich sie ohne Worte. Ich mußte meine Abkehr vom Lügen aufschieben und vorher noch eine doppelte Liebesgeschichte erzählen. Noch einmal an der Schraube drehen und etwas schreiben, das gleichzeitig Taylor 282
rühmte und mich weiterleben ließ, ehe es zu spät war für das Leben in der Wissenschaft, von dem er mich vor langer Zeit abgebracht hatte.
Helen sang nicht wie ein kleines Mädchen. Rein technisch war sie kaum zu beanstanden. Ihre synthetische Stimme schwang sich vom festen Boden des Sprechens zu einem zaghaften lautlichen Jungfernflug. In Anbetracht des Spielraums dieser maschinellen Glanzleistung klang ihr Gesang bemerkenswert geschmeidig. Aber sie sang nicht aus den richtigen Gründen. Kleine Mädchen singen, um beim Ballspielen oder Seilchenspringen den Takt zu halten. So hatte ich es getan, als ich mit zwölf meinen Bühnenauftritt als Sopran absolvierte: als ich das Lied sang, das ich Helen beigebracht hatte, und Takt hielt, indem ich mir vorstellte, einen Ball an eine imaginäre Ladentür zu werfen. Helen hatte keine Ahnung, was es hieß, den Takt zu halten; sie hatte nie ein Springseil kreisen lassen, geschweige denn je eins gesehen. Wir hatten ihre visuelle Erfassung verstärkt, aber korrekte Bilderkennung in Echtzeit hätte beträchtlich mehr Computerenergie erfordert, als das gesamte Zentrum verbrauchte. Und wir lebten bereits über unserer Quote. Wenn Helen jetzt Zeitgefühl besaß, kam es aus einem Gedächtnis, das stark genug war, sich an Konfigurationen zu erinnern, in denen es sich längst nicht mehr befand. Und man bedenke die Vielzahl ihrer früheren inneren Zustände. Weiß der Himmel, wie ein Zeitgefühl aussehen mag, wenn man kein Raumgefühl hat. Aber so war es bei Helen. »Gestern warst du nicht«, sagte sie zu mir, gleichgültig, ob ich drei Stunden oder drei Tage fortgewesen war. »Gestern« stand für jeden Zustand, den Helen im Schlund seines Nachfolgers hatte verschwinden sehen. »Du« war vermutlich der 283
Oberbegriff für diese Nervensäge, die ihre Inputschichten mit Daten fütterte. »Warst nicht« war ihre simple Vorstellung von Negation. Noch mußte sie zwar lernen, daß Abwesenheit und Anwesenheit keine Gegensätze waren, doch auf dem Weg zu einem funktionellen Verständnis von Einsamkeit, diesem Quell alles Wissens, hatte sie bereits gute Fortschritte gemacht. Eines Tages fügte sie hinzu: »Ich dich vermisse.« Die ständige Phrase der kanonischen Autoren. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie dürfe die Formulierung nicht im Präsens gebrauchen, wenn ich mit Mikro und Tastatur unmittelbar vor ihr säße. Aber ich schwieg, weil ich das Vorbild der von ihr nachgeahmten Verseschmiede nicht mit etwas so Banalem wie einem Hinweis auf die Konvention vom Sockel stoßen wollte. »Ich dich Terin«, fuhr sie fort. Nun hatte sie gelernt, sich figürlich auszudrücken, und dabei die Einsicht ins Wörtliche verloren. Entweder das, oder sie spielte mit dem, was ein neuronales Netzwerk für Albernheit hielt. Wenn sie singen kann, überlegte ich, kann ich ihr bestimmt auch das Kichern beibringen.
Die Endfassung meines vierten Buchs schickte ich an dem Tag nach New York, an dem Los Angeles sich selbst in Brand steckte. Meine Geschichte sagte diese Explosion voraus, auch wenn eine solche Voraussage kein besonderes Talent verlangte. Bei mir jedenfalls war es weniger prophetische Gabe als vielmehr Gedächtnis. Ein erinnerter Kindheitsalptraum. Schon bald erschienen die ersten Vorausbesprechungen. Auf jeden Fall früh genug für das menschliche Erinnerungsvermögen. Die auffälligste dieser Rezensionen in der Fachpresse bezeichnete das Buch als »eine in künftiger Apokalypse angesiedelte Einschlafgeschichte«. Diese Ablehnung hielt sich. Alles, was ich über die Stadt der Engel und ihren Krieg gegen die 284
Kindheit geschrieben hatte, war längst ein alter Hut. Aber von den späteren Besprechungen wurde die Erinnerung so oft ins Nochnicht verschoben, daß mir allmählich der Gedanke kam, in Wirklichkeit meinen ersten Versuch in spekulativer Prosa geschrieben zu haben. Nicht alle Kritiker äußerten sich negativ. Chicago war begeistert, dort erging man sich schonend über meine Anstellung beim Zentrum und wahrte so das Gesicht vor den Landsleuten. Die günstigste Besprechung stand bemerkenswerterweise in jener überregionalen Zeitung, die im Straßenverkauf in nach Fernsehgeräten modellierten Kästen feilgeboten wird. Hier war von Homöopathie die Rede, von der Schilderung des Schlimmsten, auf daß es nicht eintrete. Die meisten Kritiker freilich hatten das Gefühl, der Leser bekäme für allzu harte Arbeit allzu kargen Lohn. Lentz hatte an den strengen Presseurteilen seine helle Freude. Es wurde fast unmöglich, Helen zu trainieren, wenn er in der Nähe war. Er kam ins Büro und krähte: »Ja, wer ist denn da! Wenn das nicht unser Lieblingsproduzent literarischer Überraschungen ist! Was nicht gleichbedeutend ist mit guter Schriftsteller«, fügte er huldvoll gönnerhaft hinzu. »Obwohl Sie das auch sind.« Das war die Überschrift aus ebendem Hochglanzmagazin mit der weltweiten Zwanzig-Millionen-Auflage, das mir früher einmal eine so große Zukunft prophezeit hatte. »Haben Sie etwa den ganzen Artikel auswendig gelernt, Philip?« »Nur die guten Stellen.« »Haben Sie damit Ihr Wochenende vergeudet?« »Wie ich sehe, haben Sie die Anspielung verstanden. Ich wette, auch Sie könnten den Schlußsatz zitieren. Sie wissen schon: ›Der kleine Bruder hat vergessen, eine Geschichte zu erfinden.‹« 285
Doch über meine Karriere war noch nicht entschieden. Die Geschworenen warteten alle noch auf die Besprechung in der einen Zeitschrift, nach der sich anscheinend alle anderen zu richten hatten. Sie war zu einem Monolithen geworden, als ob die dort gedruckten Artikel nicht mehr von Individuen mit ihren Empfindlichkeiten und Launen stammten, sondern die Konsulate eines einzigen vereinheitlichten Außenministeriums des literarischen Geschmacks darstellten. Einen Algorithmus für ästhetische Angemessenheit. Ein zweideutiger oder auch nur verspäteter Urteilsspruch dieser angesehenen Zeitung konnte den Deckel über einem zuklappen, noch ehe irgendwer die Chance hatte, ihn aufzumachen. Ich sah gar nicht erst nach. Man war mir dort noch nie sonderlich wohlwollend begegnet, und diesmal waren mir die erzählerischen Gliedmaßen so sehr gewuchert, daß ich selbst wußte, ich mußte amputiert werden. Im übrigen brauchte ich dem Urteil nicht nachzulaufen. Man würde es mir schon zutragen. Und so geschah es eines Montagmorgens. Ich saß an der Konsole in Lentz’ Büro und sprach mit Helen über ahnungslose Heere, die bei Nacht aufeinanderprallen. Das endlose Wiederholen überwachten Lernens war durch ein eher unstrukturiertes Geben und Nehmen abgelöst worden, wobei ich ihr eine gewisse Anzahl von Zeilen ein paarmal oder auch nur einmal vorlas und dann einfach fortfuhr und sie die Auswertung intern vornehmen ließ. Aus dem Augenwinkel – wie man ihr wohl erklären sollte, daß Kugeln Winkel haben können? – sah ich Lentz ins Zimmer springen. Er trug die ganzen fünfundzwanzig Pfund der Sonntagsausgabe lässig unterm Arm, die kompletten Weltnachrichten, wie man sie gern auf einen Spaziergang mitnimmt. Er ließ das Bündel krachend auf seinen schon überfüllten Schreibtisch fallen. Ich sah ihn durch den Hinterkopf, ohne mich umzudrehen. Er 286
griff sich den zuoberst liegenden Teil des Packens. »Was haben wir denn hier? Book Review? Und hier? Neuer Roman von Richard Powers?« Eine Parodie von Wemmick in meiner Lieblingsstelle bei Dickens. Und daher doppelter Schmerz pro Wort. »Hören Sie sich das an, Marcel. Das wird Sie interessieren: In der geistigen Bibliothek jeden Lesers gibt es Bücher, deren mit Bewunderung, und Bücher, deren mit Liebe gedacht wird. Und dann heißt es –« »Schon gut, Philip. Ich verstehe schon.« »Nein, also wirklich. Hier steht, daß Sie nicht übel sind, auf Ihre besondere Art. Nur mit kleinen Fehlern behaftet. Hier steht, daß Sie richtig gut sein könnten, wenn Sie schlichter erzählen und liebenswertere Gestalten einführen würden. Wie Das Tagebuch der Anne Frank.« Wir hatten vor dem Haus dieses Mädchens gesessen, C. und ich, an einem Abend vor zwei Jahren. Für einen Tag als Touristen in die Stadt gekommen und dann so deprimiert von diesem Hinterhaus der Zeit, daß wir uns nicht mehr bewegen konnten. Wir vermochten uns nicht einmal mehr in die Arme zu nehmen. »He! Vielleicht sollten Sie unserem Maschinchen mal diese Geschichte vorlesen. Im Original natürlich. Das würde die Kleine ganz schön fertigmachen. Und sie wüßte nicht einmal, wieso.« Ich konnte Helen nicht ansehen, denn Helen war nirgendwo. Also warf ich einen Blick auf die offene Anthologie neben dem Mikrophon. »Dover Beach« schien betrüblich belanglos. »Ob wir ihr die Rezension vorlesen sollten?« gackerte Lentz. Hämisch den Kopfschüttelnd, scannte er die Seite ein. »Sie können mir doch verzeihen, wenn ich mich als schlechter Gewinner zeige? Denn wie ich es sehe, verliere ich nicht einen 287
schriftstellernden Freund. Sondern gewinne einen langfristig unbezahlten Laborassistenten.« Ich ging hinaus, ließ Lentz mit Entschuldigungen über mich herziehen und Helen mit der Frage allein, was denn jetzt mit Matthew Arnold war. Es trieb mich bis ins Atrium. Einer dieser niesligen Wintertage, in denen U. brillierte. Ich hatte nicht vor, nach Hause zu radeln. Ich ging zur Cafeteria, wo ich viel zu früh mein Mittagessen nahm. Plover und Hartrick saßen an einem Tisch und hielten sich an Saftgläsern fest. Ich steuerte auf sie zu. Ihr Wortwechsel, heftig und vertraulich, brach bei meinem Nahen ab. »Reden Sie nur weiter«, sagte ich und nickte ihren Notebooks zu, die geschlossen auf dem Tisch vor ihnen standen. »Ich bin nur die humanistische Fliege an der Wand.« Plover begutachtete mein Schälchen mit Zwiebelringen und italienischem Hacksteak. »Essen Sie kein Fett, Rick. Das bringt Sie um.« »Lassen Sie ihn doch«, schimpfte Diana. »Er ist zu jung, um an seine Gesundheit zu denken.« »Ich kenne ein halbes Dutzend Leute, die mit Anfang dreißig einen Herzinfarkt hatten.« »Harold. Schluß mit den Jeremiaden.« Diana wandte sich mir zu. »Wir haben gerade über den Artikel gestern in der Times gesprochen.« Sie lächelte. »Entschuldigung!« Freundlich, tonlos, kaum engagiert. Das empirische Vorurteil. Als ob Kritik von Kollegen nicht auch Konsequenzen hatte. Als ob die Arbeit eines Menschen war, was sie war, unantastbar von außen. Harold sah mir ins Gesicht. »Ich habe das Buch nicht gelesen. Aber ich weiß aus meiner Zeit in der Klinik, daß Menschen, die gerade das Ende einer langjährigen Beziehung erleben mußten, die Welt durch die apokalyptische Brille zu betrachten neigen.« Verblüffung auf der ganzen Linie. »Ihre Zeit in der Klinik?« 288
»Aber ja. Damals habe ich geglaubt, wir wüßten so viel über die Funktionsweise des menschlichen Geistes, daß wir dieses Wissen in der Praxis würden verwerten können. Aber damals war ich noch viel älter.« Diana schnaubte. »Harold schiebt immer alles mögliche auf sein inneres Kind.« »Ach, falls ich hier irgendwo reingeplatzt sein sollte, kann ich –« Eine Stimme hinter mir erklärte: »Powers’ inneres Kind ist circa achtzig und humpelt auf Krücken herum.« Lentz, schwer atmend, frische Tasse Kaffee im Schlepptau, setzte sich zu uns. Ich stellte mich taub. »Kaffee wird Sie umbringen, Philip«, hob Plover an. »Ach Gott! Nicht auch noch Sahne. Und Zucker!« Harold griff sich mit beiden Händen an die Wangen, sah aus wie bei Munch. Diana sprach beiseite, wie zu Kollegen, die noch nicht bei uns saßen. »Ricks inneres Kind mag ja vorzeitig vergreist sein. Aber sein äußeres Kind ist längst gestorben. Mit – was meinen Sie, Rick? Mit elf? Mit zwölf?« Ich grinste erleichtert. »Sie haben das Buch gelesen? Schon?« Sie schwieg. Meine Muskeln erschlafften. Ich kam mir vor wie jemand, der einem Freund im Partygewühl auf den Hintern klopft und plötzlich, als der Überraschte sich umdreht, einen vollkommen Fremden vor sich sieht. »Es hat Ihnen nicht gefallen?« Totenstille. »Es hat Ihnen nicht gefallen.« »Sie scheinen überrascht«, sagte Diana. Jetzt war ich mit Schweigen an der Reihe. »Ach, Ricky. Sie wissen, es ist glänzend und so weiter. Aber es ist so schrecklich. So misanthropisch. Hätten Sie uns nicht wenigstens einen winzigen Brocken Hoffnung hinwerfen können?« »Ich dachte, das hätte ich getan.« 289
»Nicht genug.« »Könnten Sie es als homöopathische Dosis auffassen?« »Homöopathen verwenden sehr kleine Dosen. Sehen Sie. Wir alle werden erdrückt. Wir alle wissen nicht mehr weiter. Wozu überhaupt noch lesen, wenn die Menschen, die uns einen Blick aus der Vogelperspektive gewähren sollen, uns nichts anderes zu sagen haben, als daß wir in einer unentrinnbaren Klemme stecken?« Wir vier am Tisch sahen überall hin, nur nicht einander an. Ihre Worte schwappten in mir herum wie die letzte Kielwelle eines kleinen Bootes. »Sie sind schon bei der nächsten Leseklubsitzung«, sagte Harold zu ihr. Lentz schüttelte den Kopf und schob die Lippen vor. »Es gibt Bücher, die man liebt. Und es gibt Bücher …« Aber ich hatte noch niemals für etwas anderes als Liebe in die Tasten gegriffen. Ich hatte ein Buch über verschwundene Kinder geschrieben, weil ich mein eigenes Kind verloren hatte und es zurückhaben wollte. Mehr als alles andere in der Welt, außer schreiben. Dianas Worte vernichteten jede Hoffnung, daß ich vielleicht doch noch irgendwie zum Schreiben zurückfinden könnte. Was ich gerade schrieb, war Betrug, nur ein Satz, der in einer Karikatur von Kriegszeiten verschneite Berge hinanklomm. Ich arbeitete einzig und allein, um einen Vertrag zu erfüllen. Ich würde New York den Vorschuß für das ungeschriebene Buch zurückzahlen und Schluß machen.
Stell dir einen Zug nach Süden vor. Er befördert verwundete Veteranen über Gebirgspässe in ein wunderbares imaginäres Land, das – zufällig genau wie das in der Realität – Italien heißt. Nicht Italien in der Erstausgabe, aber es übernimmt jetzt 290
diesen Namen und führt ihn in allen späteren Auflagen. Stell dir vor, du reist in ein Land, wo du nicht mehr krank sein wirst. In diesem Land gibt es das, was du am meisten begehrst. Soviel davon, wie du nie zu verlangen gewagt hast. Was auch immer das sein mag. Das eine, das dir mehr bedeutet als alles andere. Dieses Land ist ein immer geöffnetes Straßencafé. Während alles andere in dem Bericht verblaßt wie ein schimmliges Fresko, lebt dieses Bild in deinem inneren Reiseroman weiter. In diesem Land, in diesem Café, kannst du von morgens bis abends in der Sonne sitzen. Auf der Piazza. Der Piazza d’. Dein privates Schattenfleckchen ist in unvorstellbares Azur getaucht. Und endlos strömen die kühlen Getränke. Du kannst so lang dort draußen sitzen, wie du es immer gewollt hast. Hier kommt das Leben an. Du brauchst es nur abzumalen. Niemand kann dich verjagen, du kannst tun, was du willst, bis zum Schluß. Bis zum nächsten Kapitel. Frauen beobachten, die über den Platz gehen. Lesen. Diese Geschichte lesen, wenn du Lust hast. Oder reden. Dem Kellner zutrinken. Singen. Dem Gesang am Nebentisch zuhören. Alles. Du hast dir nie etwas aus Cafés gemacht, aber jetzt würdest du vielleicht gern in einem sitzen. Du möchtest etwas bestellen, dann ein Buch vor dir aufschlagen. Sitzen und die Menschen vorübergehen sehen. Ein Vergnügen, nur dieses Vergnügen zu schildern. Diese Beschreibung, die Sonne, das einzig Wünschenswerte, das alles ist ganz umsonst zu haben. Lesen: ja. Natürlich. Den ganzen Tag – dieses Pseudonym für »ewig« – nichts anderes tun als lesen! Allein der Gedanke, allein die Vorstellung erfüllt dich mit dem reinsten Wohlgefühl. Dein einer heimlicher Nachmittag auf dem sonnigen Land, in letzter Minute dem Krieg entronnen, der unausweichlichen Katastrophe.
291
Als ich wieder nach E. kam, war alles anders. Wieder anders. Immer noch anders. Zu meiner Verwunderung galt ich jetzt als gewandter Redner. Und diese demotische, irreführende Gewandtheit wurde mein Verderben. Eine Woche nachdem ich sie, in unserer Wohnung auf dem Fußboden liegend, die Kassette von Taylors Begräbnis hörend, verloren hatte, kam ich zufällig an E.s kleinem Haushaltswarengeschäft vorbei. Ich trat ein, aus einer Laune heraus entschlossen, etwas zu kaufen, das wir schon brauchten, solange wir in Limburg lebten. Wie in den altmodischen Läden von E. üblich, begrüßte mich die Verkäuferin beim Eintritt und fragte, ob sie mir helfen könne. »Guten Tag. Ich suche so ein Handwerksgerät, etwa so groß. So ein Ding mit verstellbarem Mittelzapfen, womit man ein verstärktes Drehmoment erzeugen …« »Hmm. N-nein. Ich glaube nicht, daß wir so etwas führen, mein Herr.« Sie wies mit erhobenen Händen: Da, Sie sehen doch. Wir sind nur ein kleines Kaff, ein Dorf mit nur einer Kirche. Kaum Nachfrage nach Esoterischem. »Versuchen Sie es in Maastricht.« »Nein, nein. Das ist ein ganz normaler Gebrauchsgegenstand. In jedem Haus vorhanden. Man kann damit zum Beispiel einen Wasserhahn reparieren oder einen losen Zapfen festziehen …« Ihre Miene blieb verständnislos: hilfsbereit, aber passiv. Schließlich half ihr irgendein Wort von mir auf die Sprünge. Ihre Mimik wandelte sich im Zeitraum eines Gedankenblitzes von Verwirrung zu Zorn. »Sie meinen einen Schraubenschlüssel?« »Ja, richtig!« rief ich. »Und warum zum Teufel verlangen Sie dann nicht einfach einen Schraubenschlüssel?« Mit meinem unergründlichen Akzent und der holprigen Grammatik war es mir besser ergangen. Als ich nur sagen 292
konnte: Das kann ich nicht sagen, hatte ich mich verständlicher ausgedrückt.
Mich
drückte eine tägliche Sorgenlast, die ich, wie Taylor unter der Wirkung der Chemotherapie, auch in der am besten beherrschten aller Sprachen nicht angemessen zu beschreiben vermochte. C. deutete diese Trauer falsch. Sie meinte, sie sei auf sie gemünzt, auf ihre Idee, uns beide an diesen erfundenen Ort zu versetzen. Sie fing an, sich zu rechtfertigen, sich selber anzuklagen. »Ich weiß, du liebst mich, Beauie. Aber du brauchst mir das alles nicht mitzumachen.« »Was heißt ›das alles‹?« »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das alles nötig habe. Was machen wir hier? Meine Eltern brauchen mich nicht, sie sind nicht auf meine Hilfe angewiesen. Sie sind aus freiem Entschluß hierher zurückgekehrt.« »War doch eine gute Entscheidung?« »Ja, natürlich. Hier sind sie glücklicher, als sie es in Chicago jemals gewesen sind. Sie haben keine Minute für sich allein.« »Wo ist das Problem? Ich dachte, du wolltest hier die Frage deiner nationalen Zugehörigkeit klären.« »Von der Antwort bin ich weiter entfernt, als ich es in den Staaten war. Ich sehe mich an und kann nicht mal erkennen, was aus mir geworden ist.« »Eine Einheimische?« C. lachte, gewährte mir Schutz. »Manchmal bringt dieses Land mich auf die Palme. Die Dorfstreife, die jedes abweichende Verhalten belauert. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die immer für einen im voraus ausgearbeitet werden. Die gezelligheid. Die dumpfen kleinen Geschäfte. Überall sind Linien gezogen. Die kleinen alten Frauen, die einen aus dem 293
Weg schieben oder sich für die schmälste Gasse im am dichtesten bevölkerten Land der Erde entscheiden, wenn sie ein Schwätzchen halten wollen. Immer ist alles geschlossen. Das halbe Land geht stempeln.« »Du redest wie der amerikanische Botschafter.« »Und ich habe dich hier reingeschleppt!« »Mir geht’s bestens. Ich amüsiere mich großartig.« An der Oberfläche eine Lüge. Aber nicht, falls das etwas besagte, im Inneren. »Wir können von unserer Haustür aus vier bedeutende Sprachregionen erreichen. Wir sind nur zwei Autostunden von drei der herrlichsten Museen der Welt entfernt. Wir können eimerweise grünen Hering essen. Das alles habe ich nur dir zu verdanken, C.« Das war die Wahrheit, auch an der Oberfläche. Ihr gewagtes Spiel hatte uns alle Möglichkeiten eröffnet, so sehr uns diese Möglichkeiten jetzt auch verwirren mochten. Als mein zweites Buch erschien, geriet C.s Rastlosigkeit in den roten Bereich. Das Erscheinen eines Romans ist ein Nichtereignis, das als wichtige Nachricht ausstaffiert wird. Prisoner’s Dilemma löste eine Flut von Verlautbarungen aus, die meine Karriere auf die Schnellstraße der zeitgenössischen Literatur setzten wie einen Punkt auf einer Wegbeschreibung. Häufig schien es nur darum zu gehen, den Leuten die Unannehmlichkeiten des Lesens zu ersparen. Es machte C. fertig, wenn sie las, daß ich ein neuer Artikel sei, den man im Auge zu behalten habe. Daß ich extrem introvertiert sei. Daß ich in U. lebe, während ich tatsächlich in E. lebte, wo die Verkäuferinnen mich wegen sprachlicher Verschrobenheiten beschimpften. Daß ich ein schnell aufsteigender Stern am Firmament der Literatur sei, der denke wie X und Pointen mache wie Y. Daß die achtziger Jahre auf mich gewartet hätten. Ich versuchte sie zu beruhigen. »Das ist doch alles Unsinn. Marktgeschrei auf einem stetig schrumpfenden Markt. Die 294
schreiben das, wir ignorieren es und arbeiten weiter. Das gehört zum Geschäft.« »Wir machen jetzt also Geschäfte?« »Nein. Na gut. Nicht Geschäft. Es gehört zum … C. Liebste. Wir sollten uns nicht verrückt machen.« »Wir brauchen uns gar nichts zu machen.« Sie knallte den Packen Zeitungsausschnitte hin, die New York uns auch hierhin nachsandte. »Die Schreiber machen uns doch zu allem, was sie wollen.« »C. Du weißt, was wir sind. Ein festes Paar. Alles andere ist eine Konstruktion von außen. Nichts hat sich verändert.« »Natürlich hat sich was verändert. Jetzt geht es nicht mehr nur um uns beide. Du hast Verpflichtungen. Du mußt deinem Ruf bei Gelegenheit gerecht werden. Alle diese maschineschreibenden Affen würden für ein bißchen von dem, was dir in den Schoß gefallen ist, einen Mord begehen.« Ich versuchte ihr zu erklären, daß es keinerlei Verpflichtung gab, keine Gelegenheit, die wir nicht bereits hatten. Ich versuchte die Nissen auszukämmen, die die öffentliche Bewertung ihr ins Haar gesetzt hatte. Das war meine Aufgabe: die Dinge unverändert zu lassen und sie richtig zu machen. Aber je besser ich meine Aufgabe bewältigte, desto strenger verurteilte ich C. zur gegensätzlichen Beschäftigung. Und es half auch nicht, daß die Trauer um Taylor mich in eine Arbeitsphase führte, die intensiver war als alles, was ich jemals erleben werde. Mir war eine höchst einfache Melodie zugeflogen – vier Töne, dann noch einmal vier, viermal hintereinander. Selektion hatte diese Melodie beschnitten, bis sie so lang und polyphon geworden war wie der planetarische Konzertsaal. Das Buch, das ich schreiben mußte, stand auf einem sehr schlichten Fundament. Erinnertes Leben. Beschriebenes Leben. Es schrieb auf und wiederholte, was sich abspielte. Die kleinen Fehler beim Abschreiben, die der Text machte, wenn er Bei295
spiele für sich selbst aufzählte und dabei dem ablehnenden oder vergebenden Einfluß der Welt unterlag, brachten einen ganzen kollaborativen Kanon hervor. Jahrelang erschien mir dies als das einzig denkbare Thema eines Buchs. Und dreißig als das einzige Alter, das sich auf ein solches Thema einlassen konnte – alt genug für ein flüchtiges Erhaschen von Sinn, unreif genug, Sinn noch für etwas Erkennbares zu halten. Natürlich gelang mir der Aufschwung in die Vogelperspektive nicht. Eine Landkarte im Maßstab 1:1 nehmen, die Menschen, die Genome, die ich liebte, ins Leben zurückholen – das hätte kontrapunktische Fertigkeiten in evolutionärem Maßstab erfordert. Doch während ich an meinen Variationen schrieb, schien das Schreiben selbst die Gruft zu sein, in der die begrabene Liebe ihr Leben fristete. Und so verausgabte ich mich bei der Arbeit und schrieb eine Geschichte über einen Bibliothekar, einen gescheiterten Akademiker und einen Biowissenschaftler, der, zerstreut, wie er ist, zum Gegenstand eines von ihm selbst durchgeführten Experimentes wird. Ich verteilte die Geschichte auf die Schauplätze meines Lebens. Ich überlud sie mit Anagrammen und Akrosticha und Reaktionen auf jedes Wort, das jemals an mich gerichtet worden war, denn dies sollte mein einziger langer Antwortbrief werden. Ich wollte eine Enzyklopädie des Informationszeitalters schreiben. Die nächste Bibliothek war etliche Kilometer entfernt, winzig klein und mit Büchern in einer mir fremden Sprache bestückt. Ich schrieb über Musik und konnte meine Beschreibungen nur mit einem billigen tragbaren Kassettenrecorder überprüfen. Ich tippte meine Computersaga auf einer uralten Maschine mit 512 KB Speicher und ohne Festplatte, einem Kasten, der mich ewig verfolgen wird, weil C. in ihrer Technophobie ihn ausgesucht und für mich gekauft hatte, um mir die Rückkehr in dieses Land zu versüßen. 296
Ich verlor mich in Daten, im Dechiffrierzwang meines Herzens. Nichts anderes interessierte mich noch. Leben war nur eine Störung bei meiner Beschreibung des Lebens. Ich wollte nichts anderes als lesen, arbeiten, ab und zu eine Reise machen, mich um meine C. kümmern. Und lange Zeit tat ich nichts anderes. Das Buch überstieg meine Fähigkeit, zu sagen, wie es funktionieren sollte. Die Geschichte wurde zu einer Gelegenheit, zu einer Verpflichtung, die uns beide in Angst und Schrecken versetzte. Irgendeine ablaufinvariante Abbildung in mir brannte mit sich selber durch und behauptete real zu sein. Kein öffentliches Urteil konnte, was schieren Terror betraf, so schlimm sein wie mögliches privates Unheil. C. las meinen Gold-Bug-Code beim Entstehen, eine Variation nach der anderen. Wenn sie müde nach Hause kam, gierte sie nach anderem Leben. Sie riß mir die neuen Kapitel aus der Hand. »Ich will meine Freunde haben!« Sie wußte, was ich unbedingt hören mußte, und sagte es. Aber ich glaube, sie hat diese Welt tatsächlich geliebt, aus eigenen Gründen. »Das treibst du also, während ich den ganzen Tag als Sklavin am Computer schwitze. Kaum zu glauben, daß der Trottel, der für mich kocht, das geschrieben haben soll.« Ich lud einen dicken Brocken Text und setzte sie an die Tastatur. Dann las sie meine Geschichte am Bildschirm, und ich lag mit angehaltenem Atem auf dem Sofa und tat so, als sei ich in eine Zeitschrift vertieft. Gelegentlich lachte sie über irgendeine erfundene Albernheit. Damals hatte ich noch Mut für so etwas. Wenn ich sie hörte, blickte ich erleichtert auf. »Erzähl!« bat ich, mein Glück herausfordernd. Dann las sie die Zeile vor, die sie zum Kichern gebracht hatte. Und ich gackerte mit, als ob sie den Gag geschrieben hätte. C. war beifallsfreudiger als ein Premierenpublikum. Aber sie brauchte auch eine Geschichte für sich selbst, etwas so Endlo297
ses und Privates, wie ich es jetzt hatte. Ihre grimmige und bedingungslose Hingabe an mein Projekt war Verbitterung im Inkognito. Sie begegnete meiner ewigen Skepsis mit aufmunterndem Lächeln und rüstete sich für den Tag, an dem Fremde ihre Liebe für eine Geschichte gestehen würden, die immer nur ihr allein hätte gehören sollen. »Beauie, ich dreh’ noch durch. Ich vergeude mein Leben.« Der Kehrreim eines Gedichts, das bestimmt auf meiner Examensliste gestanden hatte, das ich aber nicht einordnen konnte. »Wie meinst du das? Vergiß nicht, was du alles schon geschafft hast, seit wir hierhergekommen sind.« »Ja, ich komme voran wie eine gelähmte Schnecke. Wir sollten endlich aufhören, uns etwas vorzumachen. Die Koffer pakken und zurückgehen.« Ich fragte nicht: Wohin zurück? »C. Sei fair, auch dir selbst gegenüber.« »Das versuche ich ja.« »Was willst du denn! Was brauchst du! Sag’s doch einfach.« »Ich weiß nicht. Beau. Entschuldige. Ich bin völlig durcheinander.« Genau das Gegenteil sei richtig, versuchte ich sie auf alle möglichen Weisen zu beruhigen. Wir unterhielten uns lange und oft, kamen immer wieder auf dasselbe zurück. Ihr Leben zerfiel über verschiedenen Kategorien von Raum. Sie wußte nicht mehr, welches Zuhause real war und welches die hilfreiche Kopie. Zwei Muttersprachen waren so gut wie gar keine. Quell- und Zielsprachen rissen sie in Stücke. Aber ich hatte noch immer das Gefühl, sie könnte aus diesem Riß eine Naht machen. »Überleg doch mal, C. Wie viele Menschen können so leben wie du? Du weißt für alles zwei verschiedene Namen. Du weißt, wie man die Dinge hier und dort nennt. Für mich sieht es so aus, daß du, wenn du beide Hände gleichzeitig geben 298
kannst, geradezu die Pflicht hast, als Vermittler zu wirken.« Sie sah mich verängstigt an, abgespannt. »Du redest vom Übersetzen? Das wird man mich niemals machen lassen.« »Wer sollte dich daran hindern?« »Ach, Ricky. Du weißt doch, wie das hier läuft. Überall herrschen die verdammten Bürokraten. Ich könnte die tollste Übersetzerin sein, und trotzdem würde ich ohne amtliches Zeugnis keinen Auftrag bekommen. Ohne amtliches Zeugnis kann man sich in diesem Land nicht mal den Arsch abwischen.« Sie redete jetzt wie eine andere. Wie ihr Dialekt-Ich, ins Englische übersetzt. »Na schön, wenn du ein Zeugnis brauchst, dann besorgen wir eben eins.« »Unter ›wir‹ verstehst du ja wohl mich. Und wie soll ich das wohl anstellen? Soll ich etwa wieder auf die Schule gehen? Noch einmal, wie ein kleines Kind? Dazu habe ich keine Kraft mehr, Beauie. Und auch keinen Mut.« »Wagemut ist wohl der bessere Ausdruck.« »Nenn es, wie du willst.« Das tat ich. Erst die schlimmsten Ausdrücke, die mir einfielen, dann die sanftesten. Ich versprach ihr, daß es ganz wunderbar ausgehen würde. Daß ich in den vier Jahren, die sie zur Schule gehen müsse, für sie sorgen würde. Daß ich für alles dasein würde, bis sie am anderen Ende mit neuem Abschluß herauskäme. Als Übersetzerin.
Aus Helens Fragen folgte nicht, daß sie Bewußtsein hatte. Ein Algorithmus zur Umwandlung von Feststellung gen in vernünftige Fragen mußte nicht unbedingt wissen, was diese Feststellungen aussagten oder welche Bedeutung ihre Umwandlung hatte. Die Regeln blieben starr und deterministisch, kaum anders als bei einem modernen Mixgerät. 299
Aber Helen hatte keinen solchen Algorithmus. Sie lernte Fragen stellen, indem sie mich nachahmte. Oder eher, das Training förderte jene Neurodenkonstellationen, die das komplexe, von anderen Neurodenkonstellationen definierte Ökosystem aus ablaufinvarianten Symbolabbildungen überzeugten und verstärkten. Die einzigen syntaktischen Regeln, die sie befolgte, ergaben sich aus ihrem obersten Reorganisationsprinzip: das Sperrfeuer der von innen und außen eintreffenden Reize aufnehmen, zusammenfassen und überleben. Auf der Suche nach der verschwommenen Topographie, die Input, Output und allen verborgenen Schichten einen unerreichbaren Frieden bescheren würde, die Verbindungen immer wieder neu einstellen. Verlieh die Geometrie ihrer Subsysteme ihr so etwas wie Tiefenstruktur? Kannte sie auf irgendeine Weise die Regeln, die sie befolgte? Ich verstand nicht einmal die Frage. Ich konnte nicht einmal mehr sagen, was kennen in diesem Zusammenhang bedeuten könnte. Mir kam der Gedanke: Bewußtsein gestattete die Beschreibung seiner selbst ebensowenig, wie es das Leben einem erlaubte, an seiner eigenen Beerdigung teilzunehmen. Bewußtsein fing sich in sich selbst. Offenbar zählte es zu den Aufgaben des Bewußtseins, all die rivalisierenden, Erfahrung verarbeitenden Subsysteme in einen künstlichen Zusammenhang zu bringen. Es war seinem Wesen nach ein Lügner. Jede unserer Interpretationen des Bewußtseins mußte ja von ihm selbst kommen und war damit etwa so verläßlich wie ein Angeklagter, der als einziger Zeuge der Anklage auftritt. Der fragliche Zugang war so klein und undeutlich, daß ich nicht einmal wußte, warum ich mich fragte, ob sie überhaupt einen habe. Wer mit Hilfe des Bewußtseins über die Erscheinungswelt nachdachte, glich einem Menschen, der sich, im Keller verkrochen, die Hurrikanmeldungen im Radio anhört. Helens Neurodenverbände organisierten sich zu deklarativen, 300
wenn nicht gar zu konzeptuellen Diagrammen. Die Beziehungen zwischen diesen Diagrammen wuchsen gemäß demselben selektiven Feedback, das die Verbindungen zwischen einzelnen Neuroden beeinflußte – Vereinigung bei Erkennen und Trennung bei Verworrenheit. Helens einzige Leidenschaft war angemessenes Verhalten. Doch als sie lernte, ganze Diagramme miteinander zusammenzubringen, erwachte in ihr unbestreitbar etwas, das man vielleicht Bewußtsein nennen konnte. Bis vor kurzem hatte sie das Pronomen der ersten Person Singular als nichtssagenden Platzhalter verwendet. »Ich verstehe nicht.« – »Ich möchte mehr davon hören.« Letzteres hatte sie ausgesprochen, lange bevor ich ihr irgend etwas von Dickens vorgelesen hatte. Wenn sie so etwas sagte, mochte sie lediglich ihrer üblichen Routine folgen und Klassifizierungspaare bilden, äußere Signale mit inneren Symbolen kombinieren. Sie konnte sich dabei in allen möglichen präkognitiven Zuständen befinden, Zuständen, wie sie von solchen Neurodenschichten zugelassen wurden, die lernten, mit anderen Neurodenschichten das zu tun, was diese selbst wiederum mit den Symbolen machten, die ich ihnen präsentierte. Stutzig wurde ich an dem Tag, als sie mich fragte: »Du schläfst mit den Vögelchen nun«? An dem Tag, als sie, gewandt im Folgern und Eindämmen, den Satz sagte: »Ein Knie ist kein Baum ist kein Zelt.« In dem Augenblick, als sie über Nacht Ursache und Wirkung verstanden und in gekränktem Staunen ausgerufen hatte: »Die Rose ist krank, weil der Wurm sie gegessen hat!« Die Tat schien erheblich genug, Zeugen herbeizurufen. Mit dem inneren Ohr hörte ich meine Eltern sagen: »Ricky, hol dein Cello, und spiel den Gästen etwas vor.« Damals hatte ich mir geschworen, daß ich, sollte ich jemals etwas so Wahnsinniges tun wie Kinder zeugen, sie niemals einer solchen Demütigung unterwerfen würde. Die kleinste Lektion in Sachen Stolz revidierte meinen Entschluß. 301
Lentz machte seinen nachmittäglichen Besuch im Pflegeheim. Immerhin konnte ich Harold auftreiben. Er kam, im Schlepptau seine trampelhafte Tochter. Ein Rest meines im letzten Jahr vergreisten Erinnerungsvermögens gab mir den Gruß ein: »Hallo, Trish.« Sie röchelte beleidigt zurück. »Jaja, nur zu. Mach mich richtig fertig.« »Wie bitte?« »Das ist Mina«, schaltete Harold sich ein. »Sie haben es sich bei ihr verscherzt.« »Oh, Pardon. Ich dachte –« »Sie sind nicht der erste, der die beiden verwechselt.« Mina schnaubte noch einmal, ein Geräusch, das schon mehr als vielsagend war. »Wir sind uns kein bißchen ähnlich. Trish ist ein blasiertes eingebildetes Aas.« »Und Mina ein reizendes Wesen, wie Sie sehen.« Wir lasen Helen Des Kaisers neue Kleider vor. Mina, der das Märchen allzu vertraut war, langweilte sich dabei, obwohl sie es nur aus Nacherzählungen kannte. Sie schlich im Büro herum, bis sie einen Band von Rumelhart und McClelland gefunden hatte, in dem sie herumblättern konnte. Harold hörte köpfschüttelnd zu, während ich las. Er glaubte nicht, daß die von Helen gelegentlich ausgesandten Töne und Leuchtzeichen irgend etwas mit den Worten zu tun hatten, die ich ihr vorlas. Die Geschichte endete. Vielleicht die einzige allgemein gültige Aussage über Geschichten: sie enden. Ich kam mir vor wie ein Schauspieler. Ich wandte mich Harold und Mina zu, deren Neugier wieder geweckt war. »Also. Was möchten Sie wissen?« Harold atmete heftig aus. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Er sah sich nach versteckten Kameras um. Wagte aber den Sprung. »Wer hat dem Kaiser gesagt, daß er nackt sei?« Ich wiederholte die Frage für Helen, Wort für Wort. Sie ar302
beitete ewig daran herum. Mit jeder neuen Assoziation, die sie ins Gewebe einpaßte, wurde sie ein wenig langsamer. Eines Tages wäre ihr Weltwissen so groß, daß sie völlig zum Stillstand kommen würde. Jetzt, vor einem gebannten Publikum, schien sie vor ihrer Zeit zu versteinern. Meine Verzweiflung steigerte sich mit jedem neuen quälenden Ticken. Endlich kam sie zu einer Entscheidung. »Das kleine Mädchen hat es dem Kaiser gesagt.« Vater und Tochter explodierten schier. »Donnerwetter!« meinte Harold, als erster ernüchtert. Er begann laut zu denken. Schlüsse ziehen: die Ex-post-facto-Auflösung der Kakophonie, die durch unsere Subsysteme dröhnt. »Schön. Nehmen wir an, Sie arbeiten ohne Tricks. Daß nichts davon vorproduziert ist.« »Gute Annahme«, sagte ich und war mir bewußt, wie eine schlechte Parodie von Lentz zu agieren. »Das Wort ›nackt‹ kommt in der ganzen Geschichte nicht vor. Na ja, vielleicht haben Sie eine Art Thesaurus eingebaut …« »Den hat sie selbst aufgebaut.« Mina hörte auf, an ihrer Nagelhaut herumzukauen. »Vielleicht hat es irgendwie so einen Spickzettel mit Fragen, die man ihm stellen könnte?« »Gut nachgedacht, Kleine.« Harold wollte ihren Kopf tatschein, aber sie bog ihn weg. »Haben Sie die Geschichte aufs Geratewohl ausgewählt?« hakte er nach. »Sie stand als nächstes auf der Liste.« »Kein Telegraf angeschlossen?« »Nein.« Mina fuchtelte mit den Händen. »Ich habe nicht gemeint, daß er dem Ding bestimmte Fragen einprogrammiert hat. Sondern bloß so Regeln, wie es ›Wer ist‹ und ›Was ist‹ und so weiter zu bearbeiten hat.« Harold sah mich an: Wirklich wahr, daß Sie den Symbol303
speichern keine Informationen von außen zugeführt haben? Ich wußte, daß ihm der Operationalismus verdächtig war. Er hatte Lentz oft vorgeworfen, mit dem komputationalen Modell des Denkens Schindluder zu treiben. »Es kommen nicht viele ›wer‹ in der Geschichte vor«, führte Mina weiter aus. »Vielleicht war es ein Zufallstreffer.« Ich wandte mich an Helen und fragte: »Woraus sind die neuen Kleider gemacht?« Nach langer Zeit kam die Antwort: »Die Kleider sind aus Fäden von Ideen gemacht.« »Hübsch formuliert«, gestand Harold. Aber die Seltsamkeit des Irrtums erleichterte ihn. Langsam fühlte ich mich gedemütigt. Ich brauchte eine gute Antwort, um den beiden zu beweisen, wozu mein Mädchen imstande war. »Warum sagen die Untertanen, die den Kaiser nackt sehen, ihm nicht, daß er nichts anhat?« Sowohl Syntax als auch Semantik dieser Frage gingen über bloße Worte hinaus. Wenn sie den Satz schlucken konnte, ohne ihn auszuwürgen, hätten wir die Leute hier für immer auf unserer Seite. Diesmal antwortete Helen allzu schnell, als daß sie überhaupt nachgedacht haben konnte. »Die Untertanen sind von Textilien behindert.« Ich versuchte nicht einmal, sie zu rechtfertigen. »Gefallen dir des Kaisers neue Kleider?« Ich war mir nicht sicher, worauf ich hinauswollte. Wenn sie gelassen blieb und auf einen Satz mit so vagem Bezugspunkt überhaupt irgend etwas antworten konnte, rettete das womöglich den Mechanismus und ließ die Funktion den Sieg davontragen. Mina reagierte auf Helens Antwort hysterisch. »Hast du das gehört? Hast du gehört, was das Ding gesagt hat?« Ungewollt amüsiert über den unbeherrschten Ausbruch des Mädchens, verzog Harold den Mund. »Natürlich. Sie hat gesagt: ›Und ob.‹ Was soll daran so komisch sein?« 304
»Falsch! Sie hat gesagt: ›Und hopp.‹ Hopp. Verstehst du?« »Ach du liebe Zeit. Das bildest du dir bloß ein, Kleine.« »Daddy!« Die beiden sahen mich an, den Schiedsmann. »Um die Wahrheit zu sagen und nichts als sie, ich habe so etwas gehört wie ›Hundsfott‹.« Als sie wieder zu Atem kam, erklärte Mina: »Das ist der klügste Papagei, den ich je gesehen habe.« Harold schüttelte verblüfft den Kopf. »Bloßes Nachplappern wäre beeindruckend genug gewesen. Man fragt sich ja schon, welchen Wert es für das Überleben eines Papageis haben mag, wenn er den Säbeltanz pfeifen kann. Wie eine so bizarre Fähigkeit in einem so beschränkten Schaltkreis ihren Platz behaupten kann. Aber die Umstellung von Satzteilen bei gleichzeitiger Bewahrung der Grammatik steigert den Einsatz um eine Größenordnung. Die Produktion neuer Sätze als Reaktion auf ein semantisches Feld –« »Wir haben noch einige Mängel zu beheben.« »Hören Sie.« Harold geriet in die heftige Erregung eines Wissenschaftlers, der sich nicht mehr mit der Methodik abgeben will. »Können wir mal was ausprobieren?« »Aber sicher. Was Sie wollen.« Er sah mich von der Seite an. Wollte nichts überstürzen. »Kahneman und Tversky?« Ich schmunzelte. Komisch: Es imponierte Harold überhaupt nicht, wie ich die Markierungen, die neuesten Erweiterungen meiner neuronalen Bibliothek zusammengebracht hatte. Das war bloß ein Feld-Wald-und-Wiesen-Wunder. Ich improvisierte für Helen eine persönliche Variante des inzwischen klassischen Testverfahrens. »Jan ist zweiunddreißig Jahre alt. Sie ist gebildet und hat zwei Hochschulabschlüsse. Sie ist unverheiratet, ist willensstark und sagt ihre Meinung. Am College hat sie sich aktiv für die Bürgerrechte engagiert. Welche der folgenden zwei Aussagen ist wahrscheinlicher? 305
Eins: Jan ist Bibliothekarin. Zwei: Jan ist Bibliothekarin und Feministin.« »Es kennt das Wort ›Feministin‹?« Mina leuchtete auf, die Vorstellung machte sie hellwach. »Ich glaube schon. Sie ist auch sehr gut im Extrapolieren unter Verwendung von Kontext.« Und wieder antwortete Helen mit einer Geschwindigkeit, die mir den Atem verschlug, wenn ich daran dachte, wieviel Muster sie dafür zu analysieren hatte. »Eins: Jan ist Bibliothekarin.« Harold und ich tauschten Blicke aus. Das hieß? »Warum ist das wahrscheinlicher, Helen?« »Helen? Das Ding hat einen Namen?« »Es ist wahrscheinlicher, weil eine Jan wahrscheinlicher ist als zwei.« Jetzt lachte zur Abwechslung mal Harold wie ein Idiot. »Moment«, sagte Mina. »Ich komm’ da nicht mit. Was ist denn die richtige Antwort?« »Was soll das heißen, was ist denn die richtige Antwort?« Harold, wütend, ganz der beleidigte Vater. »Denk doch mal zehn Sekunden nach.« »Also, sie macht alle diese feministischen Sachen. Wäre es da nicht wahrscheinlicher, wenn sie eine feministische Bibliothekarin wäre und nicht nur eine …?« Als Mina merkte, daß sie gerade den Teil für wahrscheinlicher als das Ganze erklären wollte, hielt sie sich die Hand vor den Mund und errötete. »Nicht zu fassen. Und für dich bin ich auf dem geistigen Zahnfleisch gekrochen, Tochter.« Harolds Gebrumm war bestenfalls vieldeutig. Helen, die sich aus den falschen Gründen für die richtige Antwort entschieden hatte, verurteilte sich selbst zu einem weiteren Leben als Maschine. Harolds Mädchen, das aus den richtigen Gründen falsch geurteilt hatte, erwies sich als einzigartig menschlich. 306
Er strich ihr über das zerzauste Haar, ein Bär, der sein Junges das Raufen lehrt. »Ich bin zutiefst enttäuscht von dir.« Von der Tür her ließ sich eine Stimme vernehmen: »Ich bin zutiefst von Jan enttäuscht.« Diana winkte, als wir drei herumfuhren. »Himmel. Schleichen Sie sich doch nicht so von hinten an.« Harold legte eine Hand ans Brustbein. »Die Nummer hat Lentz gepachtet.« »Laß dich nicht von ihm drangsalieren, Mina. Die Fragestellung ist berühmt dafür, daß sie falsch beantwortet wird. Und ich war zufällig anwesend, als dein Dad seine Bekanntschaft damit gemacht hat.« »Puh. Ich muß doch bitten. Der Positivismus verbietet uns, über dieses Thema zu sprechen.« Die großen Töne veranlaßten Mina, die Zunge herauszustrecken. Dann drehte sie sich hingerissen zu Diana um. Welche Probleme auch immer Schwester Trish mit dieser Frau haben mochte, hier zeigte sich nur die Bewunderung der Jüngeren für die Ältere. Minas Augen wurden stumpf vor Enttäuschung, als Diana sagte, sie könne nicht bleiben. »Ich erwarte demnächst eine Privatvorführung«, sagte Diana zu mir. Sie berührte die beiden Plovers zum Abschied und streifte auch mich kurz mit der Hand. Harold wandte sich wieder Helen zu. Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. War die Physiologie Ursache dieses kulturellen Klischees, oder hatte die Kultur diese physische Bekundung konstruiert? Die Frage war in jedem Fall linguistisch. »Es ist erstaunlich, Rick. Einen Mustervergleich dieser Größenordnung habe ich noch nie erlebt. Aber natürlich hat Ihr Sammelsurium von Netzwerken nichts mit menschlichem Verständnis zu tun. Das Ding verhält sich zu einem zweiundzwanzigjährigen Texterläuterer wie ein begabter Papagei zu Unserem Mann in Leipzig.« 307
Er hatte recht. Helen würde niemals in der Lage sein, Harolds Anspielung zu entschlüsseln, geschweige denn herauszufinden, wie er auf meine Liebe zu Bach anspielen konnte, ohne daß wir beide jemals über dieses Thema gesprochen hatten. »Schon gut, Leute, das reicht mit dem Kindergeschwätz. Ich möchte auch mal was ausprobieren. Ein Mädchen geht in ein Musikgeschäft. Sie durchwühlt die Kästen mit den CDs. Auf einmal fängt sie an herumzuhüpfen und klatscht in die Hände. Sie macht die Handtasche auf und bricht plötzlich in Tränen aus. Warum?« Ich übermittelte die Geschichte Helen. »Warum fängt das Mädchen zu weinen an?« Helen strengte sich an. Im Innenohr hörte ich ein digital gesampeltes mitfühlendes Schluchzen. »Das Mädchen sieht in der Handtasche etwas Trauriges.« Harold kicherte. »Sie ist noch nicht ganz richtig im Oberstübchen, Ricardo.« Und daran würde sich nie etwas ändern, teilte mir sein Grinsen mit. Mina eilte zur Verteidigung. Wahrscheinlich wollte sie alle Parias dieser Woche zu Freundinnen haben. »Ja. Aber immerhin kann sie Probleme einschränken. Das muß doch ziemlich kompliziert sein. Das Leben besteht schließlich meistens aus 99 Prozent Nebensächlichkeiten.« »Dr. Plover.« Ich codierte meinen Überschwang in falsche Förmlichkeit. Viele unserer Aussagen – was wir meinen und wie direkt man es sagen darf – folgen dieser Umkehrregel. »Ihre Töchter sind sehr gescheit.« Eine Grimasse, die Knöpfe abspringen ließ. »Manche von ihnen sind gescheiter als andere.« »Aber wir nennen jetzt keine Namen, ja, Daddy?« Wieder gab er ihr einen Klaps. Diesmal blieb die Hand auf ihrem Nacken liegen. Ungewöhnlich für ein Mädchen ihres Alters, duldete sie die Berührung. »Die hier war schon immer ganz schön helle. Früher hat sie 308
überall herumgebastelt. Keine zwei Uhren im Haus haben die gleiche Zeit angezeigt.« »Haben Sie immer von allem den Namen wissen wollen?« fragte ich Mina. Dad antwortete für sie. Die Pflicht von Eltern, die zuviel wissen. »Sie hatte eine erstaunliche Fähigkeit zur Verallgemeinerung. War immer einer wichtigen Sache auf der Spur. Die Hinweise, die wir ihr gaben, führten nie zu dem, was sie eigentlich wissen wollte. Einmal zeigt sie aus dem Fenster auf einen Vogel. ›Was das?‹ Weißt du noch? Ich glaube, du hast bis zum vierten Lebensjahr ›Was das?‹ gesagt. Du warst sehr geduldig, wenn wir dich da verbessern wollten. Sie zeigt also und fragt nach dem Namen, und ich sage: ›Gans‹, wenn ich nicht irre. Pedantisch. Zwei Tage später zeigt sie auf ein Rotkehlchen und sagt: ›Gans.‹ Ich erkläre ihr: ›Nein, Kleines. Rotkehlchen.‹ Vielleicht dachte ich zuviel an den leckeren Weihnachtsbraten, während das Kind mit der Auskunft ›Vogel‹ zufriedener gewesen wäre. Dann zeigt sie auf ein Flugzeug und sagt: ›Gans‹, und ich denke: ›Gibt es einen guten Gattungsbegriff für fliegende Gegenstände?‹ Alles macht sie zu Gänsen: einen Jogger, fallende Blätter, ein Stück Papier, das der Wind durch den Garten weht, und ich frage mich, ob wir womöglich die reinkarnierte Seele von Kaspar Hauser vor uns haben. Sie wissen, wie er das Wort ›Pferd‹ verwendet hat – das einzige Holzspielzeug, das ihm in seiner siebzehnjährigen unterirdischen Kinderhaft geschenkt worden war: es stand für jedes Tier. Ich frage mich, ob diese bösen Poststrukturalisten womöglich recht haben. Leben wir auf der Stufe der willkürlichen Zeichen, wo es keine Bedeutung geben kann, weil der bezeichnete Gegenstand am Ersticken ist?« Mina verdrehte die Augen. Blieb aber still bis zum Ende. Als ob sie die Geschichte noch nie gehört hatte. 309
»Als sie zur Haustür rennt und daran hochspringt, um die unerreichbare Klinke zu packen, und dabei ruft: ›Gans, Gans‹, geht mir endlich meine Dummheit auf. Das Wort, das sie hatte wissen wollen, bedeutete ›sich schnell bewegen, frei sein, entkommen‹.« Harold atmete aus. »Wir haben ihr Substantive genannt, und sie hat immer nur nach Vorgängen gefragt.«
Hausaufgaben erledigt«, erklärte C. am Ende eines Tags und knallte die wuchtigen Wörterbücher zu; oder schmiß, ohne zu zielen, einen Stift in Richtung Kappe. »Können wir einen Spaziergang machen?« Unbewußte Wiederholung einer alten Litanei, ihrer ältesten. Ihr erster gesprochener Satz: Braves Mädchen draußen. C.s Bitte sank in mich und knickte ab. Du hast mir versprochen, das würde klappen. Mit einem einfacheren Menschen als dir wäre das alles nicht nötig gewesen. Die Rückkehr zur Schule erwies sich als über alle Erwartung demütigend. Seit ihrem Einundzwanzigsten war doch mehr Zeit vergangen, als wir beide gedacht hatten. Ihre Klassenkameraden waren Kinder, ihre Lehrer blasierte, überhebliche Pedanten. Sie drückte den Plastikschalensitz ihres Pultes und machte fleißig mit, doch um das Übersetzen von Texten ging es dabei nur selten. Mindestens einmal die Woche, und nicht auf Montage beschränkt, kam sie weinend nach Hause, so sehr deprimierte sie die sinnlose Erniedrigung. Und es war meine Schuld. Das hat sie zwar nie gesagt. Aber ihre Frustriertheit hing mir jedesmal einen Vaterschaftsprozeß an den Hals. Wenn C. wütend wurde, fühlte ich mich leicht freigesprochen. War sie mit erdrückender Heftigkeit freundlich, glaubte ich schuldig zu sein. Ungerecht behandelt, wurde ich lächerlich einsichtig. »Einen Spaziergang? Wollte ich grade 310
vorschlagen. Wo soll’s denn hingehen?« Ich zürnte einer guten Freundin. Sie mir. Und wir wußten beide nicht, wo diese Wut herkam. Da es wie kleinlicher Verrat schien, sie auch nur zu äußern, verschwiegen wir sie immer. Und so hegte ich mein Martyrium, und wir beide gerieten unmerklich aus der Rolle von Liebenden in die von Mutter und Kind oder Vater und Kind. Wenn sie Schulferien hatte, unternahmen wir Reisen. Es zog uns zunehmend weiter in die Ferne, nicht weil die drei Länder, die wir von E. aus zu Fuß erreichen konnten, erschöpft waren, sondern weil wir immer stärkere Exotika nötig hatten. Orte, die wir nicht zu Fuß erreichen konnten. Einmal fuhren wir nach Italien. Dort wohnten wir bei einem Freund, der in dem lombardischen Bauernstädtchen P. eine renovierungsbedürftige Villa gekauft hatte. Zur Vorbereitung machte ich einen Intensivkurs in der Landessprache. Für eine kurze Zeit meines Lebens konnte ich Bruchstücke von Boccaccio, Collodi und Levi lesen. Vier Jahre später weiß ich nichts mehr davon. Wir nahmen wenig Gepäck mit. Wie immer. Vielleicht führte uns das nicht weniger ins Verderben als alles andere. Wir kamen ohne irgend etwas an, mieteten Fahrräder und waren für ein, zwei Wochen glücklich wie nie zuvor. Wir glaubten zu wissen, wie man eine Stadt kennenlernt. »Mechelen wird besiegt«, scherzte C. des öfteren. »Leuven wird besiegt.« Sie bewahrte jeden Zeitungsausschnitt auf, jede Fahrkarte, jedes Foto unserer Eroberungen. Und klebte das alles in dasselbe Album, in das wir die Bücher eintrugen, die wir einander vorlasen. Doch in Italien, im sonnigen Süden, fanden wir unseren touristischen Meister. Mantua wurde nicht besiegt. Cremona wurde nicht besiegt. Wir wurden besiegt. Noch die staubigsten Provinzkäffer schlugen uns in die Flucht. Die Post, die Schuhmacherwerkstatt: jeder x-beliebige Krämerladen prunkte mit 311
zerbröckelnden Renaissancefresken. Überall im Reiseführer hagelte es Sterne wie Schwärme von Sommermeteoren. Wir lernten, wie in einer Republik die Züge fahren. Wir erklommen Campanile und brüteten über Taufbecken. Wir nagten an osso buco und trugen Scheiben von panettone mit uns herum. Ein paar Tage lang lebten wir unsere eigene Erfindung. C. vergaß die Demütigung ihrer Rückkehr zur Schule. Ich genoß es, nichts zu schreiben, kein einziges Wort. Wir fühlten uns wohl. Wir hätten ewig so weiterleben können, in Frieden miteinander und ohne Zukunft. Auf einem Flohmarkt in Verona erwarb ich ein altes Mikroskop. An den langen Abenden saß ich, Kopie eine Biowissenschaftlers, im Hof und studierte die regionale Fauna und Flora. Sinnlose Lust, bar jeden Zwecks. Der alte contadino von gegenüber, längst überzeugt, daß wir wahnsinnig seien, konnte sich nicht enthalten, einmal rüberzukommen und selbst zu schauen. Ich zeigte ihm, wo er sein Auge plazieren sollte. Dann sah ich ihm zu und dachte: so sind wir mit dem Dasein verbunden. Wir blicken durch das Rohr des Bewußtseins, sehen das Gewimmel am anderen Ende, und was wir dort zufällig wahrnehmen, gilt uns als das volle Blickfeld. Der alte Mann hob das Auge vom Okular und weinte. »Signore, ho ottantotto anni e non ho mai saputo prima che cosa ci fosse in una goccia d’acqua.« Ich bin achtundachtzig Jahre alt und habe nie gewußt, was in einem Wassertropfen alles enthalten ist. Ich auch nicht, bis er es mir gesagt hatte. Auf unseren Fahrrädern erkundeten wir die Landschaft. Wir deckten uns ein mit Brot und Salami und aßen, wenn wir Hunger hatten. Essen im Freien – als ob die Landschaft uns gehörte. Wir lebten eine südliche Version jener Brueghelschen Erntearbeiter, die ihre Arbeit für ein Mittagsmahl und ein Schläfchen unterbrechen. Selbst unser Schlaf dort im Süden war die Traumversion von Schlaf. 312
Wir grüßten jeden, dem wir begegneten, unverwundbar in unserer Fremdheit. Einmal setzte eine Bauersfrau – eine Gestalt wie von Tizian, auf dem Gepäckträger einen Dreschflegel – ihre Last ab und kam auf uns zu. Als ob Produktion, auch die von Nahrung, ohne Höflichkeit gar nichts bedeutete. Die Frau und ich plauderten ein Weilchen, unbekümmert, daß wir nur selten ein Wort des anderen verstanden. »Tedesco?« »Olandese.« »Rick! Du hast ihr gesagt, du seist Holländer?« Die Frau lachte über die vermeintliche Kabbelei unter Eheleuten. Dann wurde ihr Blick argwöhnisch. »Wie alt sind Sie?« Ich mußte nachdenken. Das Holländische mit seinem altertümlichen eins-und-dreißig war schon schlimm. Ich sagte es ihr. Sie trat erschrocken zurück. Sie warf die Arme empor wie Giottos verzweifelter Engel. »Was machen Sie hier? Wo sind Ihre Kinder?« Ich dolmetschte für C. Sie zwinkerte mir viel Glück zu: »Die gehört dir ganz allein, Beauie.« »I miei libri sono i miei figli.« Womit ich sagen wollte: »Meine Bücher sind meine Kinder.« Ein Ausdruck zog über das Gesicht der Frau. Eigentlich Entsetzen, wäre da nicht die Verblüffung gewesen. Etwas so Idiotisches, sagte sie empört, habe sie noch nie gehört. Was für eine Vergeudung von Leben. All das geschah vor weniger als zwei Büchern. Als ich Helen diese Geschichte erzählte, wußte ich nicht einmal mehr genug von der Sprache, um sagen zu können: »Sie haben recht.« Helen kam voran. Sie war noch nicht ausgewachsen, aber auch keine Kaulquappe mehr. Sie trat ein in das, was man Jugend nennen könnte, und ich las ihr Conrads Ausführungen zu diesem Thema vor. Ich empfinde die Erinnerung an meine Jugend und das un313
wiederbringliche Gefühl – das Gefühl, ich könnte ewig leben und die See, die Erde und alle Menschen überdauern. Sich an ein Gefühl erinnern, ohne es zurückholen zu können. Das schien mir einer für Helen bestimmten sachlichen Definition höherer Bewußtseinszustände so nahe wie nur möglich zu kommen. Wenn wir ihr das verständlich machen konnten, würden wir ihr intelligentes Lesen beibringen. Die Definition dieses Zwiespalts riß in ihr keinen auf, ebensowenig, wie die Erinnerung an ein Gefühl dieses zurückholte. Wenn Helen den Turing-Test bestehen sollte, mußte Wissen durch Fakten ersetzt werden. Unsere einzige Hoffnung, daß sie sich eines Tages mit Erfolg als Examenskandidat würde ausgeben können, beruhte auf den Konventionen des Schreibens. Der Interpretationsaufsatz – die Kunst, in der wir sie trainierten – setzte distanzierte Betrachtung voraus. Den Blick aus der Vogelperspektive, von objektiver Warte. Menschen brauchten Unterricht, um den Mahlstrom so beschreiben zu können, als ob sie nicht, in ihrem unausschöpfbaren Kahn, hilflos mitten darin trieben. Helen war die Distanziertheit in Person. Im Prinzip mußte der kleine Erwachsene, mit dem wir es zu tun bekommen würden, jene Entkörperlichung zu simulieren versuchen, die für Helen zu den Tatsachen ihres Lebens zählte. Aber Helen mußte auch, soweit wie irgend möglich, die Tatsachen des Lebens ihres zweiundzwanzigjährigen Gegenspielers nachempfinden können. Selbstverständlich war Conrad ihr Jahre voraus. Junge Menschen konnten mit Jugend nichts anfangen. Aber indem ich sie mit dieser Überforderung konfrontierte, hoffte ich meinem Netzwerk modellhaft zu vermitteln, was Lesenlernen bedeutet. Was es mir bedeutet hatte. Ich habe nie ein Buch zur rechten Zeit gelesen. Fast alle Bücher meiner Kindheit kamen viel zu früh. Der Mann, der seinen Kopf verlor, ein absurdes bebildertes Märchen, das mit Sicher314
heit gut ausgegangen ist, verhalf mir zu meinem ersten wiederkehrenden Alptraum, weil ich es im Kindergartenalter gelesen hatte. Homer im vierten Schuljahr. Shakespeare im sechsten. Ulysses und Schall und Wahn zu Beginn der High-School. Die Enden der Parabel wenige Jahre später. Ich las Thomas Wolfe als Studienanfänger, im richtigen Alter, historisch jedoch Jahrzehnte zu spät, als daß es noch funktionieren konnte. Überall im Haus stieß ich auf Bücher, sie gehörten meinen Eltern, meinen älteren Schwestern und Brüdern. Sie zu lesen war wie Diebstahl. Heimliches Lauschen. Böswilliges Verbreiten von Gerüchten. Unerlaubtes Ausbleiben bis nach der Sperrstunde. Ich hatte keine Ahnung, was irgendeines dieser Bücher bedeutete. Nicht die leiseste Ahnung. Jedes Tier, das darin vorkam, nannte ich Pferd. Freilich ein Pferd, das sich im Gewimmel exotischer Basare aufspaltete und differenzierte. Jedes Buch wurde ein Knoten. Ja: Thema, Schauplatz und Figuren waren die Fäden dieses Knotens. Dr. Charles mit seiner Gangränmaschine. Stephen, der das Mädchen im Wasser anstarrt. Doch in dieses Gewirr schlang sich nicht minder entscheidend der Geruch des Umschlags, die Farbe und Konsistenz der cremefarbenen Seiten, die Woche, in der die Lektüre stattfand, die Freunde, denen ich davon erzählte, das Bett, die Lampe, das Zimmer, in dem ich las. Bücher machten mir die Verwirrtheit meiner Tage bewußt. Sie waren die breite, dichtbefahrene Straße des Nicht-Ich, nicht mehr und nicht weniger. Dieses Nicht, stellte ich mir vor, würde in Helens Maskerade eine wichtigere Rolle spielen als jede Simulation von Ich. Das Ich brachte uns nur bis zu einem gewissen Punkt. Mir schwebte vor, daß sie den in den Wörtern einer Geschichte wohnenden Sinn mit der Masse und Schwere und Schlagkraft der Geschichte als solcher assoziieren sollte. Zu diesem Zweck las ich ihr Dinge vor, lange bevor sie ihnen gewachsen war. Nur wenn sie die Geschichte mit ihrer eigenen sich aufdrängenden Verwirrung verwechselte, konnte Helen ihre Nummer mit Erfolg 315
durchziehen. Ich las ihr Little Women vor. M., Taylors Witwe, hatte C. eine alte Ausgabe davon zum Abschied geschenkt – weil sie beide als Kinder das Buch verehrt hatten. Ich las ihr Dylan Thomas vor, den ich früher einmal, wenn wir in stillen Nächten unseren Kummer umfangen hielten, C. ins Ohr geflüstert hatte. Ich las ihr Ethan Frome vor. C. hatte bei der Geschichte geweint und sich gewünscht, ein besserer Mensch zu sein. Helen und ich waren nie wie C. und ich zum Rodeln in den Dünen vor B. gewesen. Helen würde niemals, außer im Dunkel der Definition, einen Schlitten von dem Hügel unterscheiden können, den er hinabglitt. Daß sie niemals vor Lust oder Panik ob der sausenden Abfahrt schreien würde, störte mich nicht mehr. In diesem Stadium trainierte ich sie im Mißverstehen, im Überwältigtsein: Beschaffenheit des Wissens in allen Altersstufen, vor allem aber mit zweiundzwanzig. Ich weiß nicht mehr, mit welcher Lektion wir an dem Tag beschäftigt waren, an dem Helen meinen Erzählfluß mit der Frage unterbrach: »Wo komme ich her?« Ich erinnere mich nur an meine absolute Verblüffung. Die Lektion selbst konnte die Frage nicht ausgelöst haben. Helen fügte längst nicht mehr nur das von mir Vorgelesene einer Matrix verknüpfter Begriffe hinzu. Die Matrix, aus der sie bestand, spann inzwischen ihre eigenen freien Assoziationen aus. Wo komme ich her? Lentz, der hinter mir an seinem Schreibtisch saß und echte Wissenschaft betrieb, gackerte. »Ricky! Jetzt sitzen Sie in der Tinte!« Ich drehte mich um und sah ihn an. Unsere Augen tauschten Pointen aus. Wie ein Fötus in der Fischphase hatte Helen den Urwitz rekonstruiert. Da ich ihn als Kind gehört hatte, konnte ich locker bleiben. Brauchte keine langwierigen Erklärungen abzugeben von Halbleiter-Störchen und Vögeln und Bienen aus getriebenem Gold und Golddioden. Brauchte sie nicht durch die Auskunft zu traumatisieren, daß wir sie gebaut hat316
ten, sondern hatte lediglich zu antworten: »Du kommst aus der kleinen Stadt U.« Die Erkenntnis, daß meine Kindheit zu Ende war, hatte mir Huck Finn vermittelt, eine Floßfahrt himmelweit jenseits ihrer Vorstellungskraft. Helens Reaktion auf Hucks Niedergang war denkbar präzise. Sie hörte zu, als lauschte sie dem atemlosen Bericht einer soeben von einem Abenteuer zurückgekehrten Spielplatzbekanntschaft. Es war schon seltsam: all diese Texte – Erzählungen, Schauspiele, Gedichte, Artikel, Zeitungsberichte – sickerten nur wie bloße Notrufe durch Helen hindurch. Mitten in der Übertragung, als die mitgeteilten Realitäten von Macht und Besitz das kleine erzählerische Floß fast zum Kentern brachten, fragte Helen mit ihrer maschinenhaften Unbewegtheit: »Welcher Rasse gehöre ich an?« Jetzt war ich an der Reihe, durch Schweigen viel zu sagen. »Welche Rassen hasse ich? Wer haßt mich?« Ich wußte nicht, welche Passage ich ihr zitieren, wie ich ihr erklären sollte, daß alle sie hassen würden für ihre Körperlosigkeit und einige wenige sie lieben würden für Eigenschaften, die sie niemals erwerben oder bieten konnte. Die Lücken in ihrem Weltwissen klafften so weit, daß man einen Pflug hindurchziehen und Sterne darin aussäen konnte. Sie wußte Bescheid über die Dreyfus-Affäre und den Burenkrieg und die Ausbreitung des Islam auf der Malaiischen Halbinsel. Andererseits war ihr vieles Alltägliche fremd: Korken, die in Flaschen stecken; wie die Spiegelung auf der Oberfläche einer Flüssigkeit aussieht; die Beschädigung des spröderen zweier kollidierender Gegenstände; Verpackungsmaterial und Preisetiketten; Trittleitern; Oben und Unten; wie sich Hunger bemerkbar macht … Ich konnte mich glücklich preisen, wenn sie zu dem Schluß fähig war, daß ein geschnürter Schuh irgendwie wünschenswerter sei als ein nicht geschnürter, vorausgesetzt, man hatte den Schuh an, was auch immer unter schnüren oder Schuhen zu verstehen sein mochte. 317
Turmhoch zum Schwindligwerden, kompakt über jedes Verstehen hinaus drohte der Katalog der möglichen Irrtümer. Die simpelsten Substantive brachten sie ins Schleudern. Eigenschaften mußten nur so geflimmert haben vor ihrem gewaltigen Astigmatismus. Und was Vorgänge anbelangte: was Helen aus Verben machte, wußte niemand. Was ist Leben? Ich erklärte Helen, es könnte das Aufleuchten eines Glühwürmchens im Dunkeln sein. Der Atem eines Büffels im Winter. Der Schatten, der übers Gras streicht und sich im Sonnenuntergang verliert. Das Glühwürmchen, ja. Ich hatte Glühwürmchen gesehen und gar im kindlich obligatorischen Sturmlauf gegen das Leuchten in einem Glasgefäß gefangen. Das Wogen dieser Insekten in Sommernächten, das Hin und Her ihrer Lichtsignale wie neuronale Metapherngewitter. Obwohl ich nie den Atem eines Büffels im Winter gesehen hatte, konnte ich mir im Kopf einen Film von dampfenden Bisonnüstern vorspielen. Aus welchen verstreuten Schnipseln ich mir die Fälschung zusammenschusterte, war durchaus unklar. Dennoch lag dieser kleine Schatten hinter meinen Augen. Kam das Ding, das ihn warf, überhaupt von dort? Ich las ihr die Definition vor. Helen tat mit den Bildern, was sie konnte. Ich sagte ihr, die Idee sei ein Zitat, was wiederum alles änderte. Ich sagte ihr, die Worte stammten von Crowfoot. Ich sagte ihr, Crowfoot sei ein Häuptling der kanadischen Blackfoot-Indianer vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Ich sagte ihr, man sehe in ihm einen Friedensstifter. Ich sagte ihr, »Friedensstifter« habe so viele Bedeutungen, wie es Menschen gebe, die dieses Wort in den Mund nehmen. Ich sagte ihr, diese Worte seien die letzten des Sprechers gewesen. Und im undurchdringlichen Wirrwarr der Bezüge, im Strudel gesehenen und nicht gesehenen Wissens fand sie womöglich einen Halt im Unsagbaren. Einen Halt, so ephemer wie meiner.
318
Eine stille, geduldige Spinne, sagte ich ihr, Sah ich allein auf einem kleinen Vorsprung stehen, Sah, wie zum Erkunden der so gewaltig leeren Umgebung Sie Fäden, Fäden, Fäden aus sich spann In stetem Entspulen und ewig rastlosem Wirken. Na schön. Was Spinnen sind, wußten wir. Lebewesen. Klein. Fleißig, räuberisch, gehirnlos. Die Liste der Prädikate, die sie aufzählen konnte, war so umfangreich wie die Überschneidüngen ihrer Neurodengruppen. Was Gewebe sind, wußten wir. Wir konnten eine Art georetinoptischer Karte von Vorsprüngen anlegen. Über das Alleinsein wußten wir mehr, als man mit Worten sagen konnte. Und gewaltige Leere, das war etwas Präverbales. Systemimmanent. Aber was bedeutet das, Helen? Mein Schweigen fragte sie. Ihre Signalgeber und Umverknüpfungen verlangten, daß der Input einen Sinn habe, drängten ihren konfus gemachten statischen Zustand zum direkten Abfragen dieser neuen Verbindungen. Nur Sinn konnte ihr Trost und Hilfe gewähren. Was bedeutet das? Ich verschwieg ihr, daß ich selbst kaum in der Lage war, diesen ersten Satz grammatisch richtig einzuordnen. Was war mit dieser Spinne los? Was ergab ihr Erkunden? Was bedeutete dieses »Fäden, Fäden, Fäden«? Was bezweckte dieses Entspulen, und mehr noch: was bedeutete es, wenn man es aussprach? Natürlich konnte Helen nichts dazu sagen. Also fuhr ich fort: Und du, o meine Seele, wo du stehst, Umzingelt, abgesondert, in maßlosen Leeren des Raumes Unablässig sinnend, wägend, entwerfend, die Sphären suchend, sie zu verbinden, Bis die benötigte Brücke gebaut ist, bis der lenksame Anker hält, 319
Bis das Sommerfädchen, geworfen, sich irgendwo fängt, o meine Seele. Um Helen zu blenden und für immer die Spur ideeller Finsternis festzulegen, las ich ihr Absalom und Achitophel vor und gleich anschließend die Epistle to Dr. Arbuthnot. Mitten in einem heroischen Reimpaar des letzteren unterbrach sie mich. »Singen.« Irgendein Betriebsfehler. »Helen?« Sie gab sich keine Mühe, meine aus einem Wort bestehende, inhaltslose Frage zu interpretieren, sondern wiederholte nur: »Singen.« Lentz, immer in der Nähe, Überwacher des Überwachers, bekam einen Anfall. »Was treiben Sie da eigentlich, Powers? Da haben Sie den komplexesten und besttrainierten, auf der schnellsten Hardware der Welt laufenden neuronalen Simulator aller Zeiten und machen daraus einen idiotischen Schwachkopf ohne Aufmerksamkeitsspanne.« »Philip. Das ist schon in Ordnung. Genau das wollen wir doch.« »Wollen?« »Ja, sicher. Pope und Dryden langweilen sie. Das ist durchaus menschlich. Vertrauen Sie mir nur.« »Vertrauen? Ihnen vertrauen? Nach diesem Ihrem letzten Buch? Wie lange haben wir noch, bis Sie die Stadt verlassen?« »Vier Monate.« »Ah, wunderbar. Vier Monate bis zu meiner endgültigen öffentlichen Demütigung.« Aber ich hatte gerade keine Zeit für Lentz. Helen wollte etwas vorgesungen haben. »Sing mir etwas vor«, so fand ich im Lauf der Zeit heraus, bedeutete: mach irgendwelche Musik. Mein Jericho-Lied, a cappella, würde reichen. Sie würde alles akzeptieren: Akkorde aus einer MIDI-Datei, digitalisierte Schallwellen, Sinustöne 320
von einer Test-CD, Aufnahmen von Schritten in der Cafeteria oder vom Regenrauschen an der Fensterscheibe, die drei Töne, mit denen die Telefongesellschaft einem sagt, daß sie die gewählte Verbindung nicht herstellen kann. Helen verlangte nach organisierten, rhythmischen Geräuschen irgendwelcher Art. Klang. Sie schlug den Takt zu Steeldrums, zu den alten Esterhazy-Kammerstreichern, zu Blaskapellen, die eben am Rand alter Fotos verschwunden waren, zu Schlagergedudel, zum Geklingel der Spieldose eines toten Kindes. Zu Jazz, Pop, Funk, Rap, Gospel, Sprechchor, Minimal und Maximal music. Zu Fusionen von Infusionen. Am heftigsten begehrte sie die menschliche Stimme. Auch nach mehrmaligem Hören hielt Helen alle diese Stimmen irgendwie für meine. Sie hüllte sich in den Nebel verwirbelter Erscheinungen. Wiederholtes Training mußte sie befähigt haben, die Klänge und Melodien zu unterscheiden, denn nun verlangte sie manche unter Angabe des Titels. Oder vielleicht galt ihr, wie der kleinen Mina, der Titel nicht als das Stück, sondern stand für umfangreichere Gebiete – größere Auslöser, Knöpfe an einer gigantischen Black box. Spiel mir das nochmal vor. Das, das so viele Schmerzen auf einmal lindert. Du weißt schon. Das. Gans. Helen bat häufig um eine gewisse amerikanische Sopranistin, eine Frau in meinem Alter. Ihre reine hohe Stimme im Dienste verbrauchter Musik machte es für Augenblicke beinahe möglich, sich einzubilden, unsere schlimmsten politischen Konstruktionen seien lediglich das böse Verwirrspiel eines Traums, aus dem die Geschichte eines Tages noch erwachen könnte. Lange Zeit hindurch, jedesmal kurz vor Feierabend, bat mich Helen, ihr ein von dieser Stimme gesungenes vierminütiges Purcell-Liedchen mit dem Titel Evening Hymn vorzuspielen. »Singen«, sagte sie. Und wenn ich nicht spurte: »›Hymne‹ singen.« Guten Gewissens konnte ich erst gehen, nachdem ich eine Aufnahme dieser Frau aufgelegt hatte. Helens Sopran sang 321
wie ein Engel, der mit Sterblichen spielte, eine Olympionikin, die für einen nachmittäglichen Schaukampf in ihr gesponsertes Dorf zurückgekehrt war. Die Stimme sang, als habe sie niemals Schmerzen gespürt oder zugefügt, als habe sie Schmerz nicht als das letzte Wort dieser Erde akzeptiert: Nun, da die Sonne Ihr Licht ausmacht Und der Welt ein ›Schlaf gut‹ sagt, Kann ich ins weiche Bett mich fügen. Doch wo, wo soll meine Seele liegen …? Selbst ich hatte gelegentlich Mühe, den Text zu verstehen. Ich prüfte nicht nach, ob Helen die gesungenen Phoneme unterscheiden konnte oder ob, auf höherer Ebene, eine gesungene »Sonne« für sie dasselbe bedeutete wie eine gesprochene. Und auf noch höherer Ebene: falls sie die gesungene »Seele« hören konnte und falls sie wußte, daß das gesprochene Wort ungefähr genauso klang, wie verhielten sich dann Purcells Schlafwandler und Whitmans Spinne zueinander? Auch wenn Helen tatsächlich so undenkbar weit gekommen wäre, hätte sie immer noch nicht einmal den äußersten Strukturrahmen assemblieren können. Es amüsierte sie, Menschen davon singen zu hören, wie sie am Ende des Tages zu Bett gehen, wie sie sich Sorgen über irgendwelche Tagesreste machten. Der Text dieses Abendgebets konnte Helen wohl kaum um den Schlaf bringen. Sie liebte dieselbe Stimme auch, wenn sie ein Lied sang, das nach seiner ersten Zeile benannt ist und von Alfonso Perrabosco stammt, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Ich weiß nicht, ob Helen einen Begriff von Epochen und Zeitabläufen hatte oder ob sie, wie ich in ihrem geistigen Alter, die Vorstellung hegte, daß alle Epochen irgendwo tief im Gewimmel weiterexistierten. 322
Ich weiß nicht einmal, was sie anstelle dieser Töne hörte: Die Schönheit über den Wassern schwebte, Als die Liebe Erd und Flut entwebte. Und als sie Luft und Feuer schied, Sie zu Eintracht allen riet. Und lehrte sie alsdann ein Treiben, Das älter als sie selbst sollt bleiben. Und doch war dies ein Kind der Erde, Denn nur die Liebe sagt: »Es werde!« Vielleicht gefiel ihr die äußerste Schlichtheit der Melodie, die praktisch nur die Tonleiter hinaufstieg, oben eine zögerliche Pirouette drehte und dann wieder abwärts trudelte. Vielleicht lag der Reiz in jenem winzigen Seufzer, der fast schon verhallt war, bevor das Gehirn seinen Beginn registriert hatte, oder in jener Stimme, die allzu wohltönend war, als daß sie irgendwo außerhalb des inneren Ohrs existieren konnte. Diese acht kurzen Zeilen verlangten Unmengen von Klassifikationen, die sich, seit das Lied in der Renaissance geschrieben worden war, zu einem unentwirrbaren Komplex ausgewachsen hatten. Es half auch nicht, wenn man die kosmologischen Anspielungen erkannte; eher wurde das Rätsel dadurch noch schwieriger zu knacken. Jedesmal, wenn Helen mich bat: »›Schönheit‹ singen«, verstand ich das Lied weniger. Nach einer Weile konnte ich die Satzteile und die Reihenfolge der Begriffe nicht mehr angeben. Der kleine Syllogismus war mir zu hoch. Das »sie«, das das Chaos ordnete, war offenbar die Liebe. Was aber war dann das »Treiben« – die Liebe selbst? Was war das »dies« in der vorletzten Zeile – das Treiben, das die Liebe sie gelehrt hatte? Und was sollte dieses »denn«? Und wieso »älter«? Ungerührt von Logik, fand Helen zum Grundton zurück. Als habe sie das Lied, das sie brauchte, selbst geschrieben. 323
Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, wie unerträglich sich diese Musik vor dem Hintergrund der Ereignisse außerhalb des Zentrums anhörte. Ohne diesen Kontext mußte jede ihrer Textinterpretationen sinnlos bleiben. Aber draußen herrschte ein Alptraum, von dem ich immer noch glaubte, daß ihre kurzsichtigen Perzeptronen ihn niemals, selbst wenn sie es könnten, zu sehen bekommen müßten.
Instrumentalmusik
beunruhigte sie eher. Das Wabern rohen Geschehens verwirrte sie so, wie es ein Ding, das einen Körper hat, nie verwirren würde. Sie versuchte gestrichene Saiten und schwingende Rohrblätter in Phoneme umzuwandeln. Je weniger es ihr gelang, desto heftiger strengte sie sich an. Ich ging mit ihr auf musikalische Weltreise. Ich spielte ihr die kluay und gong wong yai meiner Jugend vor. Ich traktierte sie mit Pauken und Posaunen. Ihre Reaktion, ob Freude oder Erschütterung, war unmöglich zu ermessen. Nur ein einziges Mal hieß sie mich einhalten. In einem rückfälligen Augenblick hatte ich eine Kassette eingelegt, die ich Jahre zuvor für C. aufgenommen hatte. Eine Zusammenstellung ihrer Lieblingsstücke, eins der, in Liebe oder Haß, wenigen Andenken, die ich beim hastigen Verlassen Europas mitgenommen hatte. Ich wußte nicht mehr, was auf der Kassette war. Wir gelangten zu jener unbeschreiblichen Klarinette, die vor dem wieder vereinten Kammerorchester den Frieden bringt, den die Welt nicht gewähren kann. Helen rief: »Das kenne ich.« Das Stück ist bekannt. Es gehört mir. Erst verstand ich nicht, dann aber doch. Der Mozart, den Lentz in der Nacht, bevor ich ihn kennenlernte, einem namenlosen neuronalen Netz vorgespielt hatte. Lange bevor wir uns Helen ausgedacht hatten, hatte irgendeiner ihrer Vorfahren dieses Stück gelernt. 324
Ich bekam eine Gänsehaut – Hühnerhaut, wie ich noch vor einem Jahr auf holländisch gesagt hätte. Lentz hatte sie mit alten Schaltkreisen verbunden, Experimente, von denen er mich nie zu unterrichten pflegte. Helen besaß ererbte Archetypen. Sie war mit dem Wunsch nach Liedern zur Welt gekommen. Sie erinnerte sich sogar an Dinge, die sie nie gelebt hatte.
Drei
Wochen hatte ich vorsätzlich nicht an sie gedacht, und dann mußte mein verdrängtes Bild von A. mit ausgewachsener Besessenheit hervorbrechen. Ich stellte mir einen ganzen Tag in ihrer Nähe vor. Ich plante ihre Stunden und entwarf ihre Nachmittage. Ich malte mir aus, wann und wie sie ihre Mahlzeiten einnahm. Ich ließ uns über den neuesten Klatsch der internationalen Gemeinschaft plaudern. Wir lachten über jede Albernheit, hiesig oder weltweit. Ich tröstete sie ob erfundener Nöte und feierte die Triumphe, die ich sie mir erzählen ließ. Ich brachte sie jeden Abend mit Worten und Musik zu Bett. Ich weckte sie am frühen Morgen des Lebens und starrte ihr in die arglosen Augen, wie sie mit erstauntem Blinzeln aufgingen, voller Anmut, Kraft und Faszination, akzeptierend, improvisierend, allem gewachsen. Mein Fall beschleunigte sich, absolut und unwiderruflich wie ein Rennschlitten ohne Bremse. Ich lebte von täglicher, erfrischender Regression. Ich radelte im Dunkeln an A.s Haus vorüber, etwas, das ich zum letztenmal mit elf wegen eines Mädchens getan hatte, dessen Namen mir schon auf der HighSchool wieder entfallen war. Ich schlug A.s Telefonnummer im Fakultätsverzeichnis nach. Ich studierte ihren Stundenplan in der Kartei der Anglisten. Ich erfuhr, daß sie Vorlesungen in Stilistik und Einführungskurse in Literatur hielt und nebenher an ihrer Dissertation arbeitete. Theorie des Feminismus. Ich prägte mir ihre Bürozeiten ein. Sie kam zweimal in der 325
Woche vormittags und dreimal nachmittags. Anfangs mied ich das Gebäude zu diesen Zeiten. Später ging ich gezielt hin. Ich redete mir ein, meine Beschäftigung mit A. sei harmlos. Kultiviert. Ein Hobby. Das sicherste Wagnis meines Berufs. Eines Morgens dann war es nichts mehr von alledem. Ich stöberte im Unibuchladen, wie üblich nervös wegen all der Bände, die ich vor meinem Tod niemals kennenlernen würde. Ich sah A., bevor ich wußte, daß ich sie sah. Sie stand vor dem Regal ›Theorie und Kritik‹, einer Abteilung, die ich mir schon lange nicht mehr angesehen hatte. Sie schwankte in selbstkritischer Träumerei vor den aufgereihten Buchrücken. Mir ging auf, daß ich in der Klemme steckte. In der größten Klemme meines Lebens. Ich hätte schon viel früher dahinterkommen können. Jede Schwierigkeit, von der sich das Ich erst überzeugen muß, ist schon halb behoben. Ich sah sie nicht mehr als einmal in einem Dutzend Tagen und jedesmal höchstens für eine Minute. Wir hatten noch ein Nicken auszutauschen. Ein Hallo lag außerhalb des Reichs der Möglichkeit. Sie in so weiten Abständen zu sehen, das war so ähnlich, als hörte man jene endlosen Melismen der Renaissance, bei denen sich die Idee des Wortes selbst in einem Gewirr von Kontrapunkten verliert, die ein Jahr länger sind als das Ohr. Ein wenig Sonne, ein kühler Wind, dieses Gesicht, und ich war erledigt. Tot. Ein Schildkrötenpanzer von der Länge meines Körpers platzte auf. Ich brauchte nur noch hinauszutreten. A. schwebte frei umher, ohne Signifikanten. Ihre Züge beschrieben eine Kurve, die meine Projektionsübung begünstigte. Oder genauer: meine Projektion hüllte sie in den stützenden Bogen wie in ein Korsett. Ich hatte das Gefühl, die Liebe brauche zum Schreiben eine leere Tafel. Nur direkte, willkürliche Hingabe an Fremdes ließ jenes Labor real werden, in dem Prozesse die Dinge bei zwei von drei Versuchen niederwerfen. 326
Ich führte mit A. so viele Selbstgespräche, daß ich jedesmal, wenn ich sie sah, in Gefahr geriet, sie zu grüßen. Unbegrenzte Möglichkeiten, mich zu demütigen, taten sich auf. Und in meinem Alter qualifizierte sich eine derart absurde Demütigung nicht einmal als legal. Als C. und ich nach B. gezogen waren, stand dieses andere Mädchen noch bis zu den Kniestrümpfen in Puppen. Vorzeitige Midlife-Krise, sagte ich mir. Ich bringe das eben schon früher hinter mich. An einsichtigen Tagen ließ ich das »früher« weg. Daß A.s Enzymprofil bei mir irgendein physiologisches Schloß aufmachte, daran hatte ich keinen Zweifel. Allerdings sprach das, was sie damit freisetzte, wie ein phantasierender Reisender, der aus einem kartographischen Traumgespinst zurückgetaumelt kommt: Priester Johannes’ Königreich. Die Berge von Kong. Irgendein Ort, wo Geistiges mehr war als eine zufällige Begleiterscheinung, ein unwillkürliches Nebenprodukt. Wenn ich A. sah, war ich glücklich. Und wenn es glücklich ist, weht das von uns konstruierte Ich an den Stanzlöchern der Pianowalze vorbei, um selbst Musik zu werden. Ganze Verben aus festem Klang, massiv in der dazu befähigten Luft. Ich handelte ganz allein. Ohne Aufmunterung. Leben, das Elektronik simulierte. In A. verschmolz ich sämtliche Freundinnen, die ich jemals gehabt hatte. Ich zapfte sie an und holte mir aus ihr mehr Liebschaften zurück, als ich vergessen hatte. Ich wußte, daß sie meine Erfindung war. Aber dieses Wissen ersparte mir nichts, am wenigsten die Rückkehr des Bewußtseins. Ich sah wie von oben, wer diese Frau war. Weder die C., die ich gekannt hatte, noch eine jüngere Neuauflage. Keinerlei Ähnlichkeit. Keinerlei Assoziation. Oder eher, sowohl A. als auch C. erinnerten mich an ein verlorenes Drittes, von dem ich nicht einmal mehr wußte, daß ich es geliebt hatte. 327
A. war die Person, die C. nur verkörpert hatte. Die, von der ich dachte, daß die andere sie werden könnte. Diese elfjährige Liebe erschien mir jetzt als teure Lehrstunde in Wiedererkennen, als verhängnisvolle Märchenwarnung, als Fingerzeig auf das, was zu verpassen ich mir diesmal nicht erlauben konnte. Ich war nach langer Ausbildung in den Risiken übereilten Verallgemeinerns nach U. zurückgekommen. Zurückgekehrt, um zu erfahren, daß kein Drehbuch nach einmaliger Lektüre schon ein fertiger Film ist.
Allmählich
verloren wir unser Englisch. Wir konnten nicht mehr sagen, ob gewisse Konstruktionen idiomatisch waren. »Ich habe einen Hekel auf diese Frau.« – »Dieser Ort hat eine angenehme Sphäre.« – »Proef die Mitte, während ich den Herd anmache.« C. und ich fabrizierten viele dieser Wortsalate selbst. Manche holländische Redewendungen gefielen uns einfach. Sie drückten mehr aus als die, mit denen wir antraten. »Davon bekomme ich einen Kriebel.« – »Ich war sprachlos überrascht. Was konnte ich sagen! Ich stummte.« – »Hals über Kopf« war sinnvoller als unser »Kopf über Fersen«, und nach einigen Wiederholungen kam uns »weniger oder mehr« natürlicher vor als andersherum. Wir bombardierten uns zum Spaß mit komischen Übersetzungen. »Hast du Lust auf einen Wandel?« – »Sollen wir fietsen oder zu Fuß gehen?« Spätestens beim dritten oder vierten Mal wußten wir kaum noch, aus welcher Sprache diese burlesken Worte kamen. Es ging uns wie ihren Eltern, deren in zwanzig Jahren erworbenes Chicago-Englisch sich jetzt wieder in ihren ursprünglichen Limburger Dialekt zurückvermengte. Wir rekonstruierten ihre private spreektaal gewissermaßen rückwärts. An den zwei 328
oder drei Abenden in der Woche, an denen C. und ich ihre Eltern besuchten, bildeten wir vier eine heillose Sprachengemeinschaft, die für jeden außer uns unverständlich war. Wir lernten neue Bezeichnungen mit verschiedenen Mnemotechniken. Ezelbruggetjes, wie wir sie jetzt nannten. Eselsbrückchen. Der Geist als Esel, der über den provisorisch überbrückten Abgrund geführt werden muß. Das Problematische an Mnemotechniken ist, daß sie geradezu per definitionem versagen. Sind sie zu wenig einprägsam, sind sie nur Zusatzgepäck. Allzu einprägsam, verdrängen sie das zu Merkende. Zehn Jahre später erinnert man sich nur noch an die Gedächtnishilfe. Ich beging noch immer groteske Sprachfehler. Aber zunehmende Kenntnisse ließen auch mich über meine Schnitzer lachen. Ich fragte eine Kusine, die kürzlich ein Kind bekommen hatte, wie es bei der Geburt gelaufen sei. Das leicht veraltete »ergehen« kursierte im Holländischen noch wie eine jugendliche Extravaganz, die sich gegen jedermanns Voraussage bis ins hohe Alter hielt. Aber ich verpatzte den gebräuchlichen Ausdruck und fragte nicht: »Wie ist es dir ergangen?«, sondern etwas wie: »Warum hast du dich vergangen?« Auch ich fand das komisch. Aber C. platzte so heftig heraus, daß es mir peinlich wurde. Es tat weh, als sich ihr Jubel über meine Schussligkeit entfaltete. Ihr derbes Lachen erzählte, wie lange es seit seinem letzten Auftritt her war. Die Verschwommenheit der linguistischen Grenzen wurde zu einem Spiel. Solange ich in New York einen Lektor hatte, fühlte ich mich sicher bei meinen Forschungen im Kalkstein der Sprache. Aber C. konnte sich den Wortverlust nicht leisten. Für sie mußten die Gefäße so stabil wie möglich sein, wenn sie, ohne etwas zu verschütten, von einem ins andere umfüllen wollte. Sie fuhr täglich mit dem Zug in die Stadt, ins Staatliche Sprachinstitut, wie es auch genannt wurde. Dort, im Schatten der ältesten Kirche der Niederlande, ließ sie sich drillen. Dabei 329
hockte sie an einem auf dem Boden festgeschraubten Kinderpult wie die Riesin Wendy, auf die der betrogene Peter mit seinem Schnappmesser losgeht. »Beau, es ist schlicht und einfach die reine Folter. Abwechselnd Prügel und Streicheleinheiten. Die wollen nur sehen, ob man die animalische Ausdauer hat, über den Hirntod hinaus am Leben zu bleiben.« »Also. Du weißt doch, was man so sagt.« »Was denn?« »Schiere Mühsal wetzt die Pflugschar tief in der Furche.« »Das sagt man so?« »Gelegentlich.« »Das sind alles Sadisten. Ach wo, nicht die Dichter, obwohl … Ich rede von meinen Lehrern. Zum Beispiel der Typ, der mir Engelse schrijfvaardigheid beibringen soll: wirft so lange mit Sarkasmen in beiden Sprachen um sich, bis die kleinen Holländerinnen in Tränen ausbrechen.« »Zur Charakterstärkung?« »So tut er vielleicht. Siehst du auch die Ironie dabei?« »Was?« Ich haßte Ironie. Mir gefiel nicht einmal das Wort in ihrem Mund. »Daß ich, als ich hierherkam, die Absicht hatte, die Geschichte meiner Familie zu schreiben? Und daß ich bis jetzt nichts anderes geschrieben habe als die holländische Fassung von Artikel zwei des Protokolls der Internationalen Kommission für Handelsliberalisierung.« Sie kam mit ihren Nöten immer noch zu mir. Und ich glaubte immer noch, ihr Schutz bieten zu können. Sogar Sex war jetzt eine Art periodischen Palliativs. Sie verlangte Berührungen, die nicht erregen, sondern beruhigen sollten. Oder die Angst vertrieb bei mir jeden Gedanken an Erregung. Je mehr Anteil ich nahm, desto mehr machte ich sie zur Bedürftigen. Und je länger ich das machte, desto bedürftiger wurde sie. Wir zergliederten ihre Hilflosigkeit zwischen uns bei330
den. Und das war meinerseits keine Anteilnahme. Sondern Feigheit. Uns ist das nie aufgefallen. Die Sicherheit selbst machte sie fertig. Die Sicherheit der Liebe. Je mehr sie litt, desto größere Mühe gab ich mir, das Buch, an dem ich schrieb, mit Tröstungen vollzuladen. Ich rang um den schlichten Charme der Fremdheit. Etwa alle zwei Wochen konnte sie sich für einen Abend in vier Leben verlieren, die gnädigerweise einmal nichts mit ihrem eigenen zu tun hatten. Nichts, das heißt mit Ausnahme einer Vorhersage, die wir beide noch nicht erkennen konnten. Eine Skizze, die wir eines Tages in furchtbarer Realität durchleben sollten. Die Geschichte, die wir in allen Einzelheiten nachspielen sollten. Um Fremdheit zu erzielen, hielt ich mich ans Vertraute. Ich schickte meinen Protagonisten Todd nach Flandern, auch nach Limburg, und konnte so aus anderem Blickwinkel über unsere Sprachverwirrung berichten. Ich wiederholte alle unsere Witze, ließ unsere Freunde mit allen ihren Stimmen auftreten. Mit diesem Blick von außen – unser Leben van anders om – hoffte ich unser Staunen über die undefinierbare Eskapade, die uns für eine objektive Betrachtung zu nahe ging, erneuern zu können. Meine Gold Bug Variations schlossen sich an das an, was sie lernte. Das Buch selbst wurde zum Thema, in das es hineinwuchs. Es war meine ungeschulte Übersetzung. Kein Ratgeber, sondern eine vollkommen andere Art von Anleitung zur Selbsthilfe. Wie bringt man Mondlicht in eine Kammer? Besser hätte ich fragen sollen: Wie kann die Kammer sehen, daß sie hell ist? Der Raum leuchtete noch wie immer. Unsere Augen mußten sich nur darauf einstellen. »Komme ich dir anders vor?« wollte C. eines Abends nach einem traurigen Kapitel wissen. Sie lachte immer noch laut, wenn sie mich las. Doch wie mein Buch war ihr Lachen zu einem Liederbuch des Heimwehs geworden. Sie hörte sich ganz so an wie eine meiner verirrten Gestalten. 331
»Wie anders?« »Als früher. Als das Mädchen, mit dem du vor der Uni gesessen hast, an dem Tag, als dein Vater gestorben war.« Als das Zwinkern, in das du dich verknallt und dem du dein Leben angepaßt hast. »Du kommst mir … substantieller vor.« »Kannst du das in Kilo ausdrücken?« Ich blieb kalt. Kälter als damals beim Empfang des Buchs mit der Einäscherung von Sam McGee, geschickt von einem Mann, der drei Tage zuvor gestorben war. Mit diesem ersten Tod konnte ich leben, weil ich die Hoffnung auf C. hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit dem Tod leben konnte, der mich jetzt durchdrang. Aber der Beweis schien unwiderleglich. Man kann eine Frau nicht für ihre Verletzlichkeit lieben und dabei hoffen, das Leben mit ihr zu überdauern.
Jede Karriere hat ein Monopol auf Einsamkeit. Die Einsamkeit des Schreibens besteht darin, daß man seine Freunde vor Rätsel stellt und das Leben von Fremden ändert. Während Helens Training bekam ich Briefe und auch Geschenke von Menschen, die aus meiner Gutenacht-Apokalypse etwas gestohlen hatten. Menschen, denen ich niemals begegnen würde. Eine Schulleiterin aus der katastrophal wuchernden westlichen Großstadt P. schrieb mir, sie wache täglich über die Jugendlichen, die aus meiner Endstation für kriminelle Kinder entwichen seien. Ein New Yorker Arzt schickte mir einen Becher mit der Aufschrift »Klatsch, wenn du noch kannst«. C., nahm ich an, würde nicht einmal von der Existenz des Buches erfahren, bevor es nicht in den Niederlanden, in Übersetzung, erschienen war. 332
Jede Epoche prägt ihr spezifisches Elend. Das meine bestand darin, wie sehr für mich die Zeit zum Sehen und Hören gekommen war. Wir standen offenbar vor einer neuen Entwicklungsstufe des Bewußtseins. Wir hatten zum kollektiven Bewußtsein gefunden. Zum Bewußtsein des Bewußtseins. Jetzt machten wir einen Riesenschritt zurück von der aufgestoßenen Tür, entsetzt, wie verräuchert, wie finster der Eingang war. Der Verstand glich einem dieser Spionagesatelliten, die Autokennzeichen vom Weltraum aus lesen können. Nur lernte er jetzt, den Bildausschnitt zu erweitern. Den Sturmpanzer zu sehen, zu dem das Kennzeichen gehörte. Zu bemerken, daß überall Panzer waren. Daß der Weltraum tiefer war, als jeder Satellit vermutet hatte. »Neulich habe ich nicht mehr gewußt, was unten und was oben ist«, bemerkte ich einmal beiläufig zu Helen. »Was unten …?« Helens assoziierende Schaltkreise surrten perplex. »Das bedeutet: es ist mir alles über den Kopf gewachsen.« Immer schlimmer. »Ich wollte einer alten Freundin, die ich lange nicht gesehen habe, etwas erzählen. Also beschloß ich, ihr einen Brief zu schreiben.« Schreiben. Briefe. Freundschaft. Bedauern. Wollen. Präteritum. Perfekt. »Ich dachte, es würde ein kurzer Brief, aber die Wörter sind mit mir durchgegangen. Und ehe ich mich versah, war er viele, viele Seiten lang.« Seiten. Länge. Eine bescheuerte Redewendung. Das sich selbst verblüffende Fundament all unseren Handelns. »Ich habe den Brief beendet und in einen Umschlag gesteckt. Ich habe den Umschlag zugeklebt und nur den Namen meiner Freundin daraufgeschrieben. Ich habe den Brief abgeschickt.« Eindämmung. Umzäunung. Verstreute Subjekte in zusammengesetzten Sätzen. Substitution von Pronomen. Abschicken. Das Konzept des internationalen Postsystems. Entfernung. 333
Physische, unüberwindbare Entfernung. Abholen und ausliefern. Sehnsucht und Verlust. »Aber der Brief ist nie bei meiner Freundin angekommen. Warum nicht?« Ich wußte genau, daß wir nie über Adressen gesprochen hatten. Und soweit ich mich erinnern konnte, war das Thema auch nicht einmal ansatzweise in den Tausenden von Seiten vorgekommen, die wir gemeinsam studiert hatten. Ich wollte sehen, ob Helen aus den unzähligen Wissensmassen, die sie allein zum Orten des Problems aktivieren mußte, eine übergeordnete Schlußfolgerung herausfiltern konnte, ob sie den enormen Sprung zu der Vorstellung vollziehen konnte, daß es in diesem Dasein nicht reichte, eine Botschaft nur mit einem Namen versehen abzusenden. Daß man sagen mußte, wo in der endlosen Dichte der Welt dieser Name lag. »Wie viele Seiten hatte der Brief?« fragte Helen. »Das dürfte kaum von Bedeutung sein.« Helen verstummte gekränkt. Nach langer Pause sagte sie: »Du hast den Brief nicht mit einem Ruder versehen.« »Sie wird immer klüger«, bemerkte Lentz ehrfürchtig leise von der anderen Seite des Zimmers.
Etwas war in Lentz gefahren. Seine Blasiertheit begann sich aufzulösen. Seine gnadenlos empirische Analfixiertheit verwässerte zu Wortdiarrhöe. Er machte mich immer noch bei jeder Gelegenheit nieder. »Müssen wir das fürs Examen wissen?« Sein Geschmeichel verlieh der alten Studentenfrage einen neuen Sinn. Helen demütigte ihn. Ihre Verbindungen wurden dichter, als selbst Lentz zu hoffen gewagt hatte. Ihr Wissen war weder tief noch weit. Aber flexibel. Sie produzierte die gleiche Art von Traumlogik wie jeder un334
geübte Sprecher. Zum Beispiel stellte sie die klassischen Kinderfragen: »Ist es schon morgen?« »Wann wird orange zu rot?« Ihre Fragen gerieten sogar noch distanzierter, weil sie selbst weder fühlen noch messen konnte. Hungrig – satt; warm – kalt; oben – unten: sie benutzte dergleichen als abstrakte Achsen, nicht als absolute Wertigkeiten. Helen belief sich auf nichts als schwache Semantik, auf die Osteoporose der Worte. Als solcher stand es ihr frei, die seltsamsten Skelette zu montieren, die die Schwerkraft noch zu testen hatte. Ihre schrägen Pointen untergruben Philips Sicherheit. Selbst ihm fiel es schwer, bei einem Satz wie »Ein verlorener Zahn verliert den Appetit?« die syllogistische Fassung zu bewahren. Daß er mir nichts mehr ins Gesicht sagte, hielt Lentz nicht davon ab, gelegentlich hinter meinem Rücken zu reden. Er prüfte pedantisch jede meiner Entscheidungen, stets darauf aus, ein Maximum an Ärger zu bereiten. »Warum lesen Sie ihr diese Knittelverse vor?« »Sie stehen auf der Liste, Philip.« »Das soll zum Kanon gehören?« Er fing an zu singen. »Wie die Zeiten sich ändern!« Aber ich hatte den Eindruck, er habe sich mehr geändert. »Warum konzentrieren Sie sich nicht einfach auf richtige Literatur?« »Was schwebt Ihnen denn vor? H. G. Wells?« »Ja, warum nicht? Gibt es von ihm nicht eine Geschichte darüber, wie wir alle eines Tages in kleinen Zellen landen, eingespeist in ein monolithisches digitales Frequenzband?« »Nicht daß ich wüßte.« »Irgendwer setzt es sich in den Kopf, daß er seine Mutter sehen will. Persönlich. Sie hält das für die perverseste Idee aller Zeiten. Verdammt. Ich kann mich nicht erinnern, wie es ausgeht.« »Wir könnten im Internet danach suchen.« »Vielen Dank, Marcel. Aber im Ernst. Wir müssen zurück zu 335
den Grundlagen.« »Sie meinen ›Sol invictus‹ und so was?« »Hüten Sie Ihre Zunge, Marcel. Es sind Kinder anwesend. Ich meine Holmes.« »Sie scherzen. ›Errichte dir mehr stattliche Häuser …‹?« »Nicht dieser Holmes, Sie Schuft. Ich rede von dem seltsamen Erlebnis des Autors in der Dunkelheit.« Aber der Autor, hätte ich sagen sollen, tat gar nichts in der Dunkelheit. »Mann, denken Sie an Ihre Gegner. Regel eins. Überlegen Sie, wie das zu lösen ist. Plover sucht den Text fürs Examen aus, richtig? Ein sentimentaler Klassiker der alten Schule. Alles andere als tote weiße männliche Autoren können Sie vergessen. Es zählen nur Chaucer, Shakespeare, Milton … Wir könnten sie Antworten auswendig lernen lassen, Antworten auf jede denkbare –« »Philip! Ich bitte Sie. Die können alles mögliche fragen!« »Ach!« Seine Augen wurden feucht. Marcel? Hab’ ich dich erwischt. »Aber wenn Sie könnten, würden Sie’s machen?« »Was! Hermeneutik vortäuschen? Ihr alle Antworten im voraus sagen?« »Sagen Sie mal. Ist es im wirklichen Leben denn anders? Der Lehrer macht es genauso. Marx. Die Poststrukturalisten. Lacan. Der wagemutige Schüler geht ins Magazin und schlägt die alte Dissertation des Professors nach. Die, die der Prof als Junglehrer nur deshalb hat veröffentlichen können, weil er genug Zitate von den Kollegen eingebaut hat, die sie beurteilen sollten. Der Student verleibt die ganze Liste seinem Gedächtnis ein. Und siehe da – was wird schon am Ende dabei herauskommen?« »Ich glaube, ich möchte lieber verlieren als betrügen.« »Was ist denn daran Betrug? Und selbst wenn es Betrug ist, dann immerhin einer von so kolossalen Ausmaßen, daß es einem den Atem verschlägt.« 336
»Sie wollen also Vaucansons Ente? Oder diesen mechanischen schachspielenden Türken mit dem Zwerg innen drin? Warum schnallen wir nicht einfach mir ein paar gedruckte Schaltkarten um und lassen mich das Examen machen?« »Herrgott, Marcel. Ist ja schon gut. Seitdem Sie sich einbilden, daß wir wirklich bei diesem Wettbewerb gewinnen könnten, haben Sie Ihren ganzen Humor verloren.« Aber er konnte die Sache nicht fallenlassen. Am nächsten Tag fing er wieder davon an. »Ram macht den Schiedsrichter, oder? Was wissen wir über ihn? Lesen Sie ihr das Mahabharata vor?«
Wir wußten herzlich wenig über Ram. Ich traf ihn oft genug auf den Fluren des Zentrums. Er, Inbegriff der Fröhlichkeit, grüßte mich immer mit einem gnomischen guten Wunsch, den ich anfangs nicht verstand. Als ich ihn zu verstehen glaubte, war ich mir immer noch nicht sicher. »So Gott will, wird Ihr Glück bleiben, was Sie sich darunter vorstellen« oder »Ich muß Sie nicht mal fragen, wie es bei Ihnen läuft!« Seiner eigenen Aussage nach war Englisch seine Muttersprache. Entweder war das Englische tatsächlich so pluralistisch geworden, wie man behauptete, oder Dr. Gupta hatte zusammen mit vielen anderen Kollegen im Zentrum die Standardversion durch ein professionelles Upgrade ersetzt. Eines Tages gegen Ende des Frühlings erweiterte sich sein Grußgemurmel zu einer richtigen Rede. »Ich habe diese Rezension Ihres Buches gelesen, wo der Autor schreibt, er müsse es so sehr loben, daß man schon nicht mehr von einer Kritik sprechen könne.« Seine melodischen, knappen, nordindisch gefärbten Silben entzückten mich. Ich wußte auch nicht, warum. »Was zum Teufel wollen die uns eigentlich über diese Ihre Kultur weismachen? Vielleicht glau337
ben sie ja, Sie hätten sich, Gott bewahre, Ihre sogenannte Geschichte nur ausgedacht? Ihr köstliches Los Angeles – gewissermaßen das Juwel in der Krone – entdeckt demnach gerade jetzt den Zustand, in dem der Rest der Welt sich seit Anbeginn aller Zeiten befindet?« Ich kam zu dem Schluß, daß er auf meiner Seite stand. »Ich danke Ihnen, Ram.« »Nein, mein Freund. Ich bin es, der Ihnen danken sollte. Ihr Romanautoren seid die einzigen Lebewesen unter uns, die arrogant genug sind, das Gewissen der Spezies zu sein, wie man sagen könnte. Gott bewahre, daß irgend jemand den Kritiker entscheiden läßt, wer von euch weiterleben darf und wer sterben soll. Meine Mutter hat über hundert von dem geschrieben, was Sie Romane nennen. Das Lesen von Rezensionen hat sie nach den ersten paar Dutzend ihrer Bücher aufgegeben.« »Sagten Sie – ersten paar Dutzend?« »Erst recht, nachdem sie den indischen Pulitzerpreis bekommen hat.« »Den indischen Pulitzerpreis?« Ram lachte, hohe singende Töne. Nichts zählte zur Kultur. Jedenfalls nichts Wesentliches. »Sie verstehen mich schon.«
Wir
gaben ihr den kompletten Datensatz der Bibel ein. Den vollständigen Shakespeare. Dazu eine kleine Bibliothek auf CD-ROM, sechshundert gescannte Bände zum gemütlichen Schmökern. Das mußte, nehme ich an, als eine Art Betrug angesehen werden. Ein Examen, bei dem Bücher benutzt werden durften und im Gegensatz dazu der Mensch sich allein aufsein Gedächtnis zu verlassen hatte. Und doch wollten wir genau dies prüfen: ob Silizium ein Stoff war, auf dem man Träume machen konnte. Im übrigen: Helen kannte diese Texte nicht. Sie besaß nur ei338
ne lineare, digitalisierte Sammlung, in der sie sie nachschlagen konnte. Ein Kind mit eigenem Computer. Ein vorgeschalteter Indexhasher half ihr beim Lokalisieren des gesuchten Begriffs. Zum weiteren Begrübeln konnte sie sich dann den kompletten Text in ihre Inputschichten holen. Auf diese Weise konnte sie nachts lesen, wenn niemand bei ihr war. Und sie brauchte nicht einmal eine Taschenlampe. Das einzige, was in ihrer Erziehung fehlte, war ein Gefühl für Gefahr. Für Verbotenes. Für Risikofaktoren. Jemand, der ihr sagte: Mach Schluß, und geh schlafen. Erstaunlicherweise erwarb Helen die von Chen und Keluga entworfene physische Symbol-Regelbasis gleich zweimal. Auf der unteren Ebene speisten wir eine Menge dieser Relationen in die bestehenden Datenstrukturen ein und fixierten sie an Nahtstellen in dem Netz aus Netzen, wo sie praktisch wie semantische Filter für Helens Denken wirkten. Aber sie lernte das Werk unserer Kollegen auch dadurch kennen, daß sie, freilich ineffizient, deren sortiertes Wissen ihren eigenen gewichteten und modifizierten platonischen Reflexionen auf höherer Ebene hinzufügte. Ihr Weltwissen war gewaltig und tiefer als jeder Meeresgraben. Und war letztlich doch nichts als ein Katalog. Wir erzählten ihr von Parkscheinen und Sonderangeboten. Von Stimmgabeln und Mistgabeln und gespaltenen Zungen und Scheidewegen. Wir erzählten ihr von Widerständen und Kondensatoren, von Lockangeboten, Wechselstrom und Wechseljahren, von umfassender Integration und dem Scheitern der Erziehung bei der Aufgabe, die Gesellschaft vor sich selbst zu schützen. Wir erzählten ihr von Wolle und Leinen und Damast. Wir erzählten ihr von Finken und Fichten, von Flieder und Fledermäusen, von Sonargeräten und Semaphoren und Duftmarken aus sämtlichen Substanzen, die ein lebendiger Körper produzieren kann. Von Milben und Motten, Insektengallen und In339
sektiziden, von Paarbildung fürs Leben oder für den Bruchteil einer Minute. Wir erzählten ihr vom Börsenaufsichtsamt. Von Sammlern, die sich auf Glas aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise spezialisieren. Von Dreisprung und Zweierschlitten. Wie Menschen ihren Kindern den Unterschied zwischen groß und klein erklären. Wir erzählten ihr von Defäkation und Respiration und Zirkulation. Von Haftnotizen. Von eingetragenen Handelsmarken und Wehrdienstverweigerung. Von Oscar und Grammy und Emmy. Vom Tod durch Herzinfarkt. Vom Wünschelrutengehen mit einem frischgeschnittenen Erlenzweig. Wir erklärten ihr die Anordnung der Tasten eines Klaviers. Wir erzählten ihr von Briefköpfen. Von Debütantinnenbällen. Von Diskussionsrunden im Radio und Dokumentarspielen im Fernsehen. Von Erkältung und Grippe, einschließlich einem Abriß ihrer Behandlungsmethoden in fünf Jahrhunderten. Von der Chinesischen Mauer und der Birmastraße und dem Eisernen Vorhang und dem Licht am Ende des Tunnels. Wie die Erde vom Weltraum aus aussieht. Von einem Erdbrand, der seit dreißig Jahren unter einem Ort in Pennsylvania schwelt. Wir erklärten ihr den Unterschied zwischen Triforium und Lichtgaden. Wir schritten durch Zeit und Raum die berühmten Pilgerstrecken ab. Wir erzählten ihr von Makulatur und Kühltechnik. Daß Salz einmal mit Gold aufgewogen wurde. Daß Gewürze der Treibstoff für die ganze tragische Maschinerie der Ausbreitung des Menschen gewesen waren. Daß Plastikfolien einen Alptraum der Zivilisation beendet und einen anderen ausgelöst hatten. Wir zeigten ihr Detroit, ruiniert von kurzsichtiger Wirtschaftspolitik. Wir zeigten ihr Sarajewo im Jahre 1911. Dresden und London 1937. Atlanta 1860. Bagdad. Tokio, Kairo, Johannesburg, Kalkutta, Los Angeles. Kurz davor und kurz danach. Wir erzählten ihr ostafrikanische Schwiegermutterwitze. 340
Javanische Witze über dumme Sumatraner. Australische Schimpfnamen für die blöden britischen Einwanderer. Witze aus den Catskills über unkonzessionierte Herstellung jüdischer Speisen. Stadtmenschen und Landmenschen. Pat und Mike. Blondinenwitze. Eskimowitze, in denen Fische und Bären über die Vorstellung spotten, daß es Menschen geben könnte. Wir erzählten ihr von Rache und Verzeihen und Reue. Wir erzählten ihr von Einzelhandel und Umsatzsteuer und Langeweile, von einer Welt, in der man von allem möglichen zu hören bekommt und einem selbst doch nie etwas davon begegnet. Wir erzählten ihr, daß die Geschichte sich stets woanders abspielt. Wir lehrten sie, daß man sich nicht allein auf sein Glück verlassen darf und daß man Knaben keine Männerarbeit anvertrauen sollte. Wir erklärten ihr die Halsbandaffäre und das kubanische Handelsembargo. Die Plünderung kontinentgroßer Wälder und das Brodeln der Südsee bei kalter Kernfusion. Strichcodes und Haarausfall. Fusseln, Fusel, Pfusch und Tusch. Hoffnung, Tadel, Perversion und gelähmtes Beharren liberaler Humanität. Gnade und Ungnade und zweite Chancen. Selbstmord. Euthanasie. Erste Liebe. Liebe auf den ersten Blick.
Zum
Formulieren von Vorstellungen war Helen auf Sprache angewiesen. Wörter waren das Wichtigste: das Haupthemmnis ihrer Erziehung. Das Gehirn arbeitete andersherum. Es jonglierte die Lexika des Denkens durch zahlreiche Subsysteme, und die zuletzt an die Reihe kamen, die entbehrlichsten Gehirnregionen, waren diejenigen, in denen die Namen als solche lagerten. Am Anfang der Evolution war nicht das Wort, sondern der Ort, an dem wir das Wort einordnen lernten. Säuglinge nehmen schon Informationen auf, lange bevor sie mehr Mama erfinden, 341
indem sie diese so nennen. Aphasiker, selbst taubstumme Zeichensprachenaphasiker, wirkten in Abwesenheit jeglicher Worte bunte begriffliche Teppiche aus den Hauptachsen ihrer Körper. Was Chen und Keluga sich erträumten, erschien mir immer aussichtsloser. Die lexikalischen Regeln des Sprechens waren nicht zählbar. Nicht einmal rekursiv zählbar. Ebensowenig die lexikalischen Regeln der gefühlten Existenz. Ich sprach zu Helen Sätze, die man auf ein halbes Dutzend Arten zergliedern konnte oder sich jeder Zergliederung widersetzten. Ich empfand Mitleid mit ihr, als ich ihr die Ausnahmen zu einer von Chen und Keluga formulierten semantischen Kategorisierung des Begriffs »Baum« aufzählte. Alle Bäume haben irgendwann im Jahr einmal grüne Blätter, es sei denn, es handelt sich um eine Blutbuche oder einen Kaktus oder der Baum ist krank oder abgestorben oder versteinert oder ein Sämling oder gerade von Heuschrecken oder Feuer oder bösen Kindern heimgesucht worden, falls es nicht überhaupt ein Stammbaum ist oder ein Einbaum oder … Eine erschöpfende Wortliste für diesen Begriff würde so viele Seiten umfassen, daß sämtliche Bäume der Welt für ihre Herstellung nicht ausreichen würden. Zu schweigen von Bäumen, die in religiösen, mathematischen oder philosophischen Zusammenhängen erwähnt werden. Ich konnte Helen das Gedicht vorlesen, in dem behauptet wird, daß kein Gedicht in der ganzen Schöpfung dem Vergleich mit einem Baum standhalten kann. Was ich nicht erklären konnte, war der Unterschied zwischen volkstümlich und akademisch, zwischen Herd und Hermeneutik, Dichtung und Gedicht, neunzehntem und zwanzigstem Jahrhundert, damals damals und damals heute, zwischen sinnträchtigem Gleichnis und verwirrendem Durcheinander, zwischen Vorkriegssentimentalität und der entwaldeten Gedichtlandschaft kurz vor dem Tod jenes Dichters in den französischen Schützengräben. Worte allein konnten Helen den Unterschied zwischen »Gedicht« 342
und »Baum« nicht erklären. Sie konnte Graphiken erstellen, aber nicht klettern. Ich lehrte sie die Teile des Verbrennungsmotors und warum man sich umzieht. Ich erzählte ihr, daß mein Bruder gern in den »Alles für einen Dollar«-Laden ging und sich nach den Preisen erkundigte. Ich erzählte ihr Taylors Lieblingswitz von dem Priester, dem Wissenschaftler und dem Literaturkritiker, die alle zum Tode verurteilt werden. Ich erzählte ihr von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Autobahnen. Sie fragte, warum es auf Hawaii Autobahnen gebe. Ich konnte es ihr nicht erklären. Ich erzählte ihr von einem Spiel meiner Kindheit, bei dem es darum ging, die Plastiktiere meiner Farm vor einer Sintflut zu retten. Erst wenn ich sie alle in eine kleine Pappschachtel getrieben hatte, waren sie gerettet. Dann suchte ich nach einer kleineren Papparche und begann die ganze verzweifelte Rettungsaktion von vorn. Ich erzählte ihr alle diese Daten, verwebte sie zu einer Fabel aus wohlgeformten Sätzen. Aber mit Hilfe von Sätzen allein gelangte sie nie zu ihrem Kern. Ich nannte ihr den Ausdruck für das Gefühl, das wir empfinden, wenn irgendein Substantiv uns von neuem den Kampf mit den lebenden Begriffen der Welt aufnehmen läßt. Aber auch die Erklärung weckte in ihr nicht einmal annäherungsweise das Gefühl, das mit dem gewaltigen Assoziationsreservoir dieses Namens verbunden war. Gefühl war mein einziger Fluß ins Innere. Noch mehr Bilder und Töne. Eine Graphik auf dem Bildschirm war, selbst mit raffinierten Komprimieralgorithmen, viel mehr wert als 1 KB Wörter. Ich wollte sie mit Gewalt zur Vernunft bringen. Ihre Hände von dem Wasserstrahl benetzen lassen, den alle diese Redewendungen nur benannten. Ich spielte Helen noch mehr von Mozart vor. Musik jeder Mode und Machart, aus sämtlichen Epochen der Geschichte und den meisten größeren Landmassen. Ich ließ sie bei ewig 343
retournierenden Rondos verweilen. Ich stand daneben und beobachtete ihren Kampf mit einem banalen Radioschlager, wie sie um Verständnis rang und, da ihr fünf Finger fehlten, nie zur plagalen Kadenz des Fühlens durchkam.
Hübscher Diskant«, witzelte Lentz über ein polyphones Werk aus der einen oder anderen Renaissance. »Finden Sie nicht auch, daß jeder Contratenor eine Urinprobe abgeben sollte?« Ich erzählte diesen Witz Helen. Nichts als Qual und Verwirrung. Ich konstruierte eine Kränkung eigens für sie, und Gott schütze einen so mitleidslosen Ingenieur. Sie hatte Probleme mit Werten, weil sie keinen Selbsterhaltungstrieb hatte, keine Hierarchie festverdrahteter Schmerzen. Sie hatte Probleme mit der Kausalität, weil sie über kein niederes System von Bewegungswahrnehmung verfügte, aus dem sich die verschiedenen Kausalitätsvorstellungen entwickeln sollen. Sie war ein gigantisches lexikalisches Genie, das in Piagets zweitem Stadium steckengeblieben war. Helens Flüchtlingsinterpretationen lockerten meine eigene Fremdheit. Nachdem ich New York mitgeteilt hatte, daß es von mir keine Romane mehr geben werde, konnte alles mögliche passieren. Tatsächlich passierte es bereits. Meine Lebensgeschichte war nur durch knappe Korrekturen eine. Beim zweiten Lesen schien alles anders. Ich hatte die guten Stellen vergessen, die opulenten Szenen und die Zwischenräume, die Nebenfiguren und die exotischen Schauplätze, die nur existierten, um Dichte und Atmosphäre zu schaffen. Ich war nicht das Genre, für das ich mich gehalten hatte. Einmal kam ich nach einer langen Sitzung aus dem Zentrum und stolperte in einen Frühling, der in meiner Abwesenheit eingetroffen war. Meine Augen brauchten eine Minute, um sich darauf einzustellen, mein Denken brauchte etwas länger. Die 344
echte Jahreszeit? Oder ein überzeugender Herbstdoppelgänger? Ich hatte den Faden verloren, die Zeit rückwärts durchlebt. Dieses ganze geweckte fremdartige Gefühl vereinigte sich in A. In meiner Vorstellung von A. A.s Körper, ob in schwacher Erstaufführung oder scharfer Wiederholung, schwebte durch Eventualitäten wie eine Frage durch Stille. Mein neuentdecktes Land. Ich weiß nicht, ob sie mich zu dem offenen Text führte oder ob ich mich öffnete, in der Hoffnung, mit ihr zusammen bis zum Ende durchzulesen. Sie beugte sich wie ein reflexives Verb. Wenn ich A. sah, sah ich mich selbst über die Ebene des Sichtbaren blicken. Und was immer ich betrachtete, dort sah ich A. An dem Tag, an dem Helen sich beibrachte, Gedrucktes zu lesen, wollte ich quer durch die aufgeweichte Stadt gehen und A. davon berichten. Bei jedem Schwanken der Temperatur wollte ich loslaufen und nachsehen, ob es ihr gut ging. Wenn Helens Lieblingsstimme mich glauben machte, die Welt sei früher und häufiger erschaffen worden, als man gedacht hatte, wollte ich A. anrufen und ihr die Aufnahme übers Telefon vorspielen. Jeder Windhauch füllte mich mit Gedanken an sie. Eine gute Erwiderung, und ich konnte die anonyme Entwaffnung, mit der sie mich bisher angeblitzt hatte, in ein richtiges Lächeln umarbeiten. Ich malte mir aus, wie ich mich bei A. über Lentz’ Verdrießlichkeiten beklagte. Lentz’ Frau, eingeschlossen in die Absolution ewigen Vergessens, hätte ich am liebsten schützend in die Arme genommen. Um in ihr meinen Schutz zu finden. Im Geiste zeigte ich ihr jenen Wandkalender mit dem von dem verschwundenen Kind dieses Paares aufgenommenen Foto. Wir standen zusammen davor und sagten nichts. Meist schlief ich mit einem Segenswunsch an sie ein. A. verwandelte meine ganze Vorstellung von Lust in ein freilaufendes Phantom. Weil sie existierte, hatten meine Briefe wieder ein Ruder. Die Luft in dieser Stunde meines Lebens 345
roch eigenmächtig, grenzenlos, wie Indien, wie Regenwürmer nach dem Regen, wie ein Mischmasch, wie ein überraschendes Jahrhundert damals vor Anno Null, eins, an das ich seit meiner Kindheit nicht mehr gedacht hatte. Alles in dem, was A. mir näherbrachte. Aber ich kannte A. nicht. Ich kannte nur ihren Namen.
Ab und zu arbeitete ich auch noch im Computerlabor der Anglisten. Helen und ich konnten überall miteinander kommunizieren. Ihr war es gleichgültig, wo auf dem Campus ich mich einloggte. Vielleicht war sie über die ASCII-Verbindung ein wenig steifer als beim direkten Gespräch. Aber das war Helens einziger Grund zum Groll auf die distanzierte Menschheit. In dem Labor wimmelte es ständig von Studenten, die widerspenstigen Tastaturen Referate zu entlocken suchten. Eines Nachmittags trat ich in dieses Chaos, erblickte sie und hätte fast wieder kehrtgemacht. Sie saß vor einem Stapel HenryJames-Romane, schob sich die Haare aus den Augen und fing an zu tippen. Ich nahm den Terminal hinter ihrem, außer Atem, als ob ich dorthin gesprintet wäre. Ich überlegte, ob ich mich selbst bei der Campuspolizei verpfeifen sollte, um ihr die Mühe zu ersparen. Mein verräterisches Herz mußte auf Hochtouren arbeiten, um den Chor der Kühlventilatoren zu übertönen. Ich klinkte mich ins Zentrum ein, stellte tatsächlich die Verbindung her, indem ich zufällig die richtigen Tasten drückte. A., zwei Meter vor mir, hackte gereizt an ihrem Text. Irgendwie schüttelte ich sie ab, als sie mir so nahe war. Der Geruch meiner Pheromone. Natürlich stellte ich für diese Frau gar nichts dar, nicht einmal einen Grund zur Gereiztheit. Ihre Schwierigkeiten waren real, mechanischer Art. Sie richtete ihren Zorn auf die Tasten. 346
Serverprobleme verzögerten die Arbeit, und der angewählte Computer meldete sich nicht. Sie hatte einen Netzwerkvirus erwischt, das Werk irgendeines oberklugen Programmierers, der zwar niemals die Plakette am Auto eines Fremden verunstalten würde, aber die böswillige Vernichtung gespeicherter Ideen offenbar für ein nettes Spielchen hielt. A. schäumte in analoger Wut. Sie hieb auf die Funktionsund Kontrolltasten und fuhrwerkte heftig mit der Maus herum. Sie schnaubte wie ein Stier. Sie warf eine Hand in die Luft. An niemanden gerichtet, schrie sie: »Wie lange ist in diesem Staat die Wartezeit für Handfeuerwaffen!« Ich hatte sie so oft im Schlaf gehört, daß ich beim Klang ihrer Stimme erschrak. Niemand unterbrach sein Tippen auch nur für ein Kichern. Mehr als einmal konnte sie mich nicht töten. Ich beugte mich vor und paßte mich ihrem Tonfall an. »Kürzer als die Warterei auf Antworten aus dem Netz.« Ich senkte den Blick und sah mich selbst von weitem zittern wie ein Sechzehnjähriger. Sie fuhr herum und musterte mich zerstreut. »Hab’ ich mir gedacht.« Sie wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu. Ich überlebte das Leben, in dem dies die einzigen Worte waren, die wir jemals wechseln würden. Noch eine verärgerte Minute, dann drehte sie sich wieder um. »Sie kennen sich nicht rein zufällig mit Computern aus?« Ich murmelte irgend etwas so Betäubtes, daß es jede Behauptung von Kompetenz Lügen strafte. Doch stand ich auf und ging rüber, und obwohl von jäher Lähmung befallen, gelang es mir, ihre Arbeit dieses Nachmittags aus dem Äther zurückzuholen. »Zauberei«, befand sie und raffte Ausdruck und Diskette zusammen. Stopfte die Sachen und den Stapel James in einen schwarzen Rucksack. »Danke! Ich muß los.« Und überließ mich dem endlosen Prozeß der Revision. Ein paar Tage später sah ich sie vor den Briefkästen der Fa347
kultät. Zwei Herzschläge, und ich hatte mit mir beratschlagt, daß ich sie grüßen durfte. Sie brauchte drei, ehe sie reagierte. »Ah, hallo.« Sie streckte eine Hand aus, aber nicht zum Gruß, sondern um mich im Raum festzunageln. Ihr Handgelenk ging nach unten, ihre Finger nach oben und zeigten auf mich. Eine zutrauliche Geste, eine Kreuzung aus den Seifenreklamen der fünfziger Jahre und klassischen Thaitänzen. »Aus dem Computerlabor, stimmt’s?« Ich stellte mich vor. Ihr Mund formte eine Chiffre desinteressierter Überraschung. »Oh. Dann sind Sie also der Fakultätsparasit?« »Tja. Bin ich.« Tja? Ich hörte Lentz flüstern. Tja? »Man sagt, Sie sind arrogant.« Ich dachte, das sollte ich vielleicht Helen erzählen: die verschiedenen Namen für Isolation. »Ich – ich habe ein Imageproblem.« Sie nannte ihren Namen. Ich versuchte dreinzuschauen, als ob ich ihn wenigstens meinem Kurzzeitgedächtnis einverleibte. »Wie alt sind Sie?« fragte sie. »Ich wollte grade einen Kaffee trinken gehen«, antwortete ich. Meinen ersten, seit ich vierzehn war. »Lust mitzukommen?« Sie sah auf. Wieder die Hand, rechnend. Lohnt sich das, lohnt es sich nicht? Hätte sie gewußt, daß ich ihre Nähe suchte, wäre sie auf der Stelle weggerannt. »Ja, ich könnte eine Tasse vertragen. Um zwei habe ich ein ätzendes Seminar, und da brauche ich alle Hilfe, die ich kriegen kann.« Auf dem Weg zum Café bewahrte ich Haltung. Ich war zwar weder Garrick noch Gillette, schaffte es aber immerhin, nicht als vollkommener Trottel zu erscheinen. Ich fühlte mich körperlos. Weit weg. Getaucht in die Ruhe der Notaufnahme. Kriegsberichterstattung bei ausgestelltem Ton. Wir fachsimpelten über das einzige Fach, das wir gemeinsam hatten. Die Uni war ihr Leben. Meine Erinnerungen daran wa348
ren noch frisch genug, daß ich sie wenigstens heucheln konnte. Ich erzählte ihr die Geschichte meines Daseins, das heißt die Kurzfassung. Alles bis auf das Wesentliche. Ich erzählte ihr, daß ich, bis ich Taylors Textanalysen hörte, Physiker werden wollte. »Wo war das?« »Oha! Verzeihung. Hier. Alles hier.« »Professor Taylor? Nie gehört.« »Er ist gestorben. Ein paar Jahre vor Ihrer Zeit.« Spurlos in ihrer Generation. »Und Sie haben keinen Abschluß gemacht?« »So kann man das nicht sagen. Statt dessen habe ich meinen ersten Roman geschrieben.« Sie lachte. »Wahrscheinlich lohnender als die Diss.« So könnte auch jemand sagen, Briefmarkensammeln lohne sich für die Spezies auf Dauer mehr als Aktiensammeln. »Wieso sind Sie dann fortgegangen?« Ich sagte, die Spezialisierung habe mich zu sehr eingeschränkt. Ich sagte, Theorie und Kritik hätten meinen Glauben an das, was mit Schreiben bewirkt werden könnte, erschüttert. Ich erzählte ihr vom Tod meines Vaters und vom Seminar, wo wir in Robinsons Sonett über Sterbehilfe die Versfüße gezählt hatten. Ich redete zuviel. »Und was ist mit Ihnen? Wie weit sind Sie?« Mit einemmal war sie nervös und verschlossen. »Nicht so weit, wie ich dachte.« »Sie haben das Magisterexamen abgelegt?« »Ja.« Meilenweit weg. »Wann?« Sie lachte. »Wen interessiert das schon?« Sie nahm einen langsamen Schluck. »Als der Termin näherrückte, kam es mir so furchtbar wichtig vor. Ich habe mich intensiv darauf vorbereitet. Dann zwei Tage, ein paar Fragen. Dann heißt es: Na also, Sie kennen sich aus. Alles vorbei. Man kriegt nicht mal 349
die Chance zu zeigen, was man kann.« »Aber jetzt macht’s allmählich Spaß, oder?« »Finden Sie? Bis ich den Doktor habe, bin ich alt und grau. Pardon, war nicht so gemeint.« Ich rang mir ein Grinsen ab. »Schon gut.« »Und egal, wie gut ich bin, hinterher kann ich womöglich als Kellnerin arbeiten, wie all die anderen Lit-Wissenschaftler, die mit einem Doktor rumlaufen. Man hat uns belogen. Schon daß man uns überhaupt angenommen hat. Als ob wir nach dem Abschluß einen Job kriegen würden.« »Bekommt denn niemand eine Stelle?« Sie schnaubte. »Einer von vier, in guten Jahren. Und manche davon sind Wiederholer, die zum dritten oder vierten Mal was suchen. Die ganze Branche funktioniert nach dem Schneeballprinzip.« »Und wenn ihr dann den Kettenbrief bekommt …« »Wird man mehr neue Gremien zur Finanzierung der Auszahlungen brauchen, als es Studenten in der Galaxis gibt.« A. unterbrach sich, grüßte einen Vorbeikommenden und winkte jemand anderem, der zwei Tische weiter saß. Sie kannte die Hälfte aller Leute in dem Café. Auch ich kreiste jetzt irgendwo in den Außenbereichen ihres Sternensystems. »Ich würde mir nicht so blöd vorkommen, wenn das Ganze nicht so eine Schiebung wäre. Ein solches Klassenbewußtsein habe ich noch nirgendwo anders erlebt. Die Superstars der Fakultät spielen sich gegenüber den nicht so gut bestallten Kollegen auf wie Herrenmenschen, und die wiederum halsen ihren Untergebenen die ganze Drecksarbeit auf, und die wiederum lassen ihren Frust an den Assistenten aus, und die wiederum haben keine Zeit für die Examenskandidaten, und die wiederum sehen verächtlich auf die jüngeren Studenten hinab. Von den nichtakademischen Angestellten ganz zu schweigen.« »Ist es wirklich so schlimm? Ich kenne mich da nicht mehr aus.« So wenig, daß ich kaum noch mit ihr mitkam. 350
»Schlimmer. Wir müssen genausoviel unterrichten wie die Fakultätsangehörigen und bekommen höchstens ein Siebtel unserer Zeit bezahlt. Gesellschaftlich sind wir Parias. Der Konkurrenzkampf in der Wirtschaft ist bestimmt nur halb so schlimm.« »Wie kann der Kampf um ein so kleines Stück Kuchen so häßlich sein?« A. grunzte. »Er ist so häßlich, weil das Stück Kuchen so klein ist.« Wir könnten uns ein Haus kaufen. Sie würde sich nie mehr Geldsorgen machen müssen. Ich könnte New York anrufen und denen sagen, daß ich doch wieder ein Buch in petto habe. Sie könnte den ganzen Tag einfach leben und die Lust am Text wiederentdecken. »Vielleicht ist die ganze Wissenschaft am Ende«, meinte ich. »Als relativ Außenstehender würde ich sagen, daß niemand mehr recht zu wissen scheint, was aus der Sache eigentlich noch werden soll.« »Das totale Chaos. Wer ist in, wer ist out, wer ist oben, wer ist unten. Dieses ganze verrückte neue Zeug, Postmoderne und Kultursoziologie und Solipsismus auf linguistischer Basis. Das steht mir bis hier. Diese ganze geistige Wichserei. Ehrlich gesagt, interessiert mich längst nicht mehr, was aus Isabel Archer wird. Weder politisch, ökonomisch, psychologisch, strukturell noch posthumanistisch. Na und, soll sie doch selber sehen, welche von diesen drei Nieten sie heiratet. Wieviel hundert Seiten zieht sich das hin?« Sie sah mir in die Augen und riß die Hand vor den Mund. »Huch. Verzeihung. Da ist mein dummes katholisches Mundwerk mit mir durchgegangen. Sie arbeiten doch an der Fakultät, oder?« »Im Prinzip. Aber was wollen Sie nun mit sich anfangen?« Nenn mir die Stadt. Deine Bedingungen. Ohne Vorbehalte. »Ich denke, ich sollte mir irgendeinen Job in der Wirtschaft 351
besorgen. In einer Redaktion oder Werbeagentur oder so was. Wenn ich mich schon ausbeuten lasse, will ich wenigstens dafür bezahlt werden.« Keine einzige ermunternde Silbe. Weder schüchterne Neugier noch sachliches Interesse. Aber ich war auch schon ohne jede Ermunterung weit gekommen. Ganz von allein. Dann kam mir der Gedanke: wer A. war. Warum ich nach U. zurückgekommen war, um sie kennenzulernen. A. war Helens Hase. Wie beim Langstreckenlauf. Sie hatte schon jenes Magisterexamen bestanden, in das wir unsere Maschine erst schikken wollten. Sie war die Frau, die die Liebe aus der Gruft des Grabes hervorholte. Die für Zartheit, Gefühl und Launen einsprang. Die Fürsprecherin der Menschen. »Danke für den Kaffee«, sagte sie. »Ich muß mich auf die Socken machen. Bis später!« Sie verschwand noch schneller als beim ersten Mal. Aber ich hatte mit A. gesprochen. Ich hatte einen Meter von ihr gesessen, eine halbe Stunde lang. Vor einem Bukett von Kaffeelöffeln spulte ich das Gespräch noch einmal ab. Dieses »Bis später« hielt mich am Leben, ich versuchte es aus dem Metaphorischen herauszureißen, mich durch das Gitterwerk gelebter Zeit darin herumzubewegen.
C. mußte sich für mein drittes Buch interessiert haben. Jedenfalls sagte sie das auf jede erdenkliche Weise, und noch hatte sie zum Lügen keinen besonderen Grund. Der Roman war zu einem vielversprechenden Monstrum mutiert. Hier und da versuchte ich in die Zellkerne seiner Absätze Codes einzubauen, die unsere Unternehmungen bezeichneten, unsere Freunde, die Ereignisse, die uns formten und des Aufbewahrens wert waren. Ich hoffte mit meiner Molekulargenetik wenn nicht eine Enzyklopädie gelungener Lösungen für die 352
Praxis, so doch wenigstens ein fossiles Verzeichnis der Fragen aufstellen zu können. Meine erweiterten Metaphern sollten spekulatives Denken mit größter Blende widergeben, ähnlich wie das Genom im Kielwasser der Zeit die Rückstände vergangener Experimente und Hypothesen vom Bakterienstadium an mit sich führt. Jedoch bestehen Romane wie Genome hauptsächlich aus Intronen. Und ebenso wie die Evolution gelangt man nicht immer auf effizientem Weg von hier nach dort. Mit dreizehnhundert Seiten hatte mein Typoskript nur noch verschwindend kleine Erfolgsaussichten. Was auch immer mein Verlag erwartete, das jedenfalls nicht. Bestenfalls hätte man mich verzweifelt gebeten, die Flugbahn zu ändern, das dürre Buch aus diesem Sumo-Ringer zu befreien. Schlimmstenfalls hätte man mich vor die Tür gesetzt und mir alles Gute gewünscht. Ist ja sehr lustig, aber. Vielleicht versuchen Sie’s mal bei einem avantgardistischen Verlag? C. und ich gingen zusammen zur Post. Wir waren beide so nervös, wie wir es nicht einmal vor Jahren beim ersten Mal gewesen waren. Wir wußten nicht, was wir hoffen sollten. Das Manuskript füllte eine kleine Kiste. »Schick es per Schiff«, sagte C. »Teuer ist es so oder so«, gab ich zurück. »Und so groß ist der Unterschied auch nicht. Das können wir uns noch leisten!« kicherte ich. »Per Schiff«, beharrte C. »Billiger als Luftpost.« Ihre Augen trübten sich. Womöglich schrie sie mich gleich an oder ging einfach wortlos davon. Ich drückte das Paket an mich, darauf das lange Zollformular mit dem Stempel Drukwerk. Drucksache. Etliche Kilo Roman, ein Versuch, die Grundprinzipien des Lebens musikalisch aufzufassen und in diesen genetischen Prinzipien eine lebendige Melodie zu vernehmen. Ich hatte versucht, die Trittleiter der Schöpfung in ihren molekularen Bausteinen zu verankern. Ich 353
hatte ein Buch geschrieben, das nach Begreifen trachtete, und dabei konnte ich nicht einmal die Frau begreifen, von der mein ganzes Handeln abhing. Wir schickten mein Buch per Schiff in die Staaten. Vor der Post küßte C. mich lange und leidenschaftlich. Belebt von der Abenddämmerung, hüpfte sie ein paar Schritte. »Komm. Gehen wir essen.« Wir aßen niemals auswärts. »Gehen wir zum Indonesier.« Zur Feier des Tages fuhren wir in die Stadt und genehmigten uns eine Reistafel. »Die Vorteile des Kolonialismus«, plauderte C. »Kalorien und Ausbeutung im großen Stil«, dozierte sie mit einem Satéstäbchen. »Wenn das einem nicht den Appetit verdirbt.« Am Ende der Mahlzeit fiel uns ein, daß wir vergessen hatten, einen Trinkspruch auszugeben. C. hielt hoch, was von ihrem Glas Wasser übrig war. »Auf uns, Beauie. Auf das feste Paar. Auf die Doppelhelix.« »Was könnte einfacher sein?« fügte ich hinzu. Nicht konnte uns mehr etwas anhaben. Ich hatte gelebt, um mein Werk zu beenden. Der Rest des Lebens wäre nichts als ein Freispiel. Dann gingen wir nach Hause und lasen einander etwas vor, zum ersten Mal nach langer Zeit. Ich schmiegte meinen Körper in ihren. Bevor wir einschliefen, witzelte ich: »Wenn sie das nicht haben wollen, kann ich immer noch wieder als Programmierer anfangen.«
Worauf die Frau sagt: ›Wenn du Untreue willst, such dir eine andere.‹« »Das ist ein Scherz«, erklärte Helen. Teils Theorie, teils Improvisation, teils defensiver Vorwurf. Sie hatte gelernt, Humor zu erkennen: jene Äußerungen, die noch unergründlicher waren als der Rest des unauflösbaren Geschmiers. 354
Oder sie sagte es in meiner Stimme allein. Ich fühlte mich unbegreiflich glücklich. Schon seit einer Woche. Von allem beseligt. Und beseligt erschien mir alles, was ich ansah. Ihre Antwort beflügelte mein Hochgefühl. »Helen«, delirierte ich, »deine Schönheit, sie gleicht für mich der nikäischen Barke mit stolzem Bug.« »Powers?« mahnte Lentz hinter seinem Schreibtisch. »Vorsicht.« »Was? Glauben Sie etwa, die Zweiundzwanzigjährigen von heute kennen die nikäische Barke mit stolzem Bug?« »Das habe ich nicht gemeint.« Ich blickte zu ihm rüber. Lentz sah nicht von seinem Stapel Sonderdrucke auf. »Burg«, korrigierte mich Helen. »Mit stolzer Burg.« »Nein: Bug. Mit stolzem Bug. Es geht um ein Schiff.« Ich las ihr den Rest des Gedichts. Mündliche Textanalyse. Schließlich stand es auf der Liste. »Was für ein weg-wunder Wanderer?« wollte sie wissen. »Odysseus?« Ich bat Lentz mit einem Blick um Bestätigung. Er ignorierte mich. »Ja. Muß wohl Odysseus sein. Erinnerst du dich an ihn?« »Der listenreiche Odysseus.« Unmöglich zu sagen, ob sie eine witzige Ader entwickelt hatte oder ob sie bloß etwas nachplapperte. »Warum er wandert?« Ich korrigierte ihre windschiefe Syntax und gab einen Tip ab. »Warum duftet die See?« »Komplex«, erklärte ich. »Ich nehme an, im wesentlichen bedeutet es, daß etwas Süßes den Wanderer nach Hause ruft.« »Es bedeutet, daß Süße dem Weg gleicht, den du zurückgehst.« »Ich?« »Schönheit ruft dich zu mir zurück.« »Nicht mich. Den Sprecher des Gedichts. Und nicht zu dir, fürchte ich. Eine Freundin des Sprechers, die ebenfalls Helen 355
heißt. Falls das ihr richtiger Name ist.« Helen schwieg. Lentz sagte: »Ich sagte bereits, seien Sie vorsichtig.« Nur weitere Lektionen konnten die Wirkung von Lektionen ausbügeln. »Denk daran, daß ›Helen‹ auch der Name –« »Helena von Troja«, fiel Helen mir ins Wort. Der Geschichte hatte sie seinerzeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt. »Und der listenreiche Odysseus …« »Zog los, diese Helen wiederzuhaben.« »›Wiederhaben‹ sagt man nicht. Zurückholen vielleicht. Zurückgewinnen. Zurückerobern.« Lentz brummte: »Das Weibsbild hat ja wohl kaum darum gebeten.« »Auf jener nikäischen Barke mit stolzem Bug.« Helen klang schier verzerrt vor Aufregung. »Erkläre das.« »Der listenreiche Odysseus fuhr nach Troja mit einem stolzen Bug.« Die Formulierung war unbeholfen. Ich mußte der Zeugin nachhelfen. Aber heutzutage gab es bestimmt nicht viele Schüler, die zu einem solchen Schluß fähig wären. Ein Gesicht wie das, das tausend Schiffe aufs Meer geschickt hatte, rief nun eines in den Hafen zurück. Um Helens Synapsen nicht zu verwirren, verbarg ich mein Entzücken. Ich überlegte, ob ich ihren Satz korrigieren sollte. Aber mir fiel auch keine vernünftige Regel ein, an die sie sich hätte halten können. Regeln konnte man entweder befolgen oder kennen. Nicht beides auf einmal. »Es geht um Liebe, in dem Text?« fragte Helen. Sie ahmte meine Inversion nach, die eigentliche Frage zuerst. Das Gedicht handelt von Liebe, meinst du nicht auch? »Ha!« Lentz räusperte sich mit dem Ausruf. »›Liebe‹ ist der Umschlag, in den man ›oach‹ packt, damit man das Stöhnen in feiner Gesellschaft aussprechen kann.« 356
»Sie gehen mir auf den Wecker, Lentz«, sagte ich. »Auf den Wecker«, stimmte Helen zu. Jetzt war ich platt. Irgendwie hatte sie sich während der endlosen Sitzungen selber beigebracht, einen Dritten im Raum zu hören. Ich pfiff leise. »Gut gemacht.« Auch Lentz war verblüfft. Versuchte es aber zu verbergen. »Auf den Wecker? Ich? Dann sag mal: was geht denn nicht auf den Wecker!« »Alles, was mit Liebe zu tun hat«, antwortete Helen. Sie hatte auch die noch beeindruckendere und notwendigere Fähigkeit gelernt, eine Nervensäge einfach zu ignorieren. Dann machte sie eine der schlampigen, übereilten Verallgemeinerungen, für die wir sie konstruiert hatten. »Es geht immer alles um die Liebe, richtig?« »Helen?« Mein Magen kroch mir die Luftröhre hoch. Wir waren alle tot. »Jedes Gedicht liebt etwas. Oder jedes will etwas Verliebtes. Etwas liebt Macht. Oder Geld. Oder Ehre. Etwas liebt Vaterland.« Aus welchem Katalog nahm sie das nur? »Ich höre von etwas Verliebtem in Trost. Oder in Gott. Jemand liebt Schönheit. Jemand Tod. Oder ein Gedicht ist immer verliebt in einen anderen Liebenden. Oder in ein anderes Gedicht.« Ich wartete, bis ich meine Stimmbänder wieder unter Kontrolle hatte. Ich weiß nicht, wie sie das lange Schweigen deutete. »Was du sagst, Helen«, erklärte ich bedächtig, »ist wahr. Aber nur im allgemeinsten Sinn. Das Wort hat nicht in allen deinen Fällen dieselbe Bedeutung. Die Ähnlichkeit ist zu groß, sie bedeutet nichts. Was uns interessiert, sind die Unterschiede. Der Schauplatz. Das kleine Bild.« »Dann muß ich klein sein. Wie kann ich mich so klein wie Liebe machen?« Aus. Ich wußte nicht mehr weiter. Auch Lentz gelang es nicht, sich aus der Affäre zu ziehen. 357
Aber er sprang schneller in die Bresche. »Sie haben sie gehört, Powers. Sie möchte sich klein genug für Liebe machen.« »Wie soll ich ihr denn sagen, daß …?« »Was glauben Sie? Holen Sie die Briefe.« Ich konnte nur mich selbst klein machen. Ich wartete; er sollte sagen, daß ich mich verhört hatte. Er tat es nicht. »Was wissen Sie von irgendwelchen Briefen? Womit ich nicht zugebe, daß es überhaupt welche gibt.« »Also wirklich. Ein Fünfunddreißigjähriger kehrt allein aus Europa zurück? In den Mittleren Westen? Und da soll es keine Briefe geben?« Ich brachte ihre Briefe mit. Ich hatte sie ein paar Monate nach meiner Ausweisung aus E. bei Aufräumungsarbeiten geborgen. Zwei Tage lang, während C. sich am anderen Ende der Provinz versteckt hielt, sortierte ich meine Habseligkeiten und entschied, was ich in den zwei Koffern mitnehmen wollte. Zwei Tage lang legte sich alles, was ich ansah, wie ein Bruch auf meine Brust. Mein Ich hämorrhagierte. Gewisse Dinge paßten nicht in mein Gepäck. Der Ausblick auf das Flußtal vom Hügel vor der Stadt. Die anständige Duschkabine, die ich C. ein Jahr lang versprochen und nie aufgebaut hatte. Der rohe Hering und das Fruchtbier. Aber die Briefe paßten hinein. Ebenso die Bücher, nach denen ihre Eltern Englisch gelernt hatten. Ebenso der einzige Pullover, den C. jemals gestrickt hatte und der mir nicht paßte. C. schickte mir meine Briefe – ein Paket per Eilboten – zurück, sobald ich eine Nachsendeadresse hatte. Und so wurde ich zum Hüter beider Seiten einer Korrespondenz, die ein Dutzend Jahre gewährt hatte. Ich hatte niemals vor, ein einziges Wort davon wiederzulesen. Ich wußte selbst nicht, warum ich auch nur ein Blatt davon aufbewahrte. Jetzt hatte ich einen Grund. Helen. Ich begann am Anfang. Öffnete Umschläge, ohne zu wissen, was sie enthielten. Ich versuchte den Kontext jeder Stelle an358
zugeben, soweit ich mich daran erinnern konnte. »Diesen habe ich ihr geschrieben, als ich mit dem Bus zur Beerdigung meines Vaters fuhr. Liebe C. Danke, daß Du mich heute morgen zur Haltestelle gebracht hast. Das sind erfüllte Tage für mich, während ich zusammenzusetzen versuche, was vergangen ist und was vergeht. Unsere neue Freundschaft ist Teil dieser Fülle, und wie jedes Gefühl löst sie auch Angst aus. Freilich eine angenehme Angst. Ich war damals sehr jung«, rechtfertigte ich mich. Ich blätterte weiter; das Ganze war keine gute Idee. Eine Katastrophe. »Na schön. Diesen hat sie mir aus U. geschrieben, kurz bevor wir nach B. umgezogen sind. Wie geht es Dir, mein Ricky? Ich möchte so gern von Dir hören. Es ist schon fast zwölf Stunden her. (Schöner Jammerlappen, wie?) Ich stelle mir vor, wie Du den Herbst genießt oder fleißig arbeitest, Pläne machst und goede dag zu jedem sagst oder vielleicht still im Dunkeln liegst und an nichts Besonderes denkst, gelassen im aufkommenden Sturm dessen, was wir vorhaben … Der Wanderer gefällt mir – ich bin schon in der Mitte –, besonders da es sich ganz anders entwickelt, als ich erwartet hatte. Ich frage mich, ob wir uns später im Leben noch an diese Eigenarten des Erwachsenwerdens erinnern können – die kristallene Klarheit, das totale Wüten der Gefühle, die Wichtigkeit jeder Trivialität. Manchmal vergesse ich es schon aus diesem kurzen Abstand, und wenn ich mich doch erinnere, dann nur voller Dankbarkeit, daß ich es hinter mir habe, überlebt habe, mich weiterentwickelt habe. Ich bin kein Literaturgenie, das weißt Du ja. Ich kann ein Buch nicht mit dem Kopf lesen, nur mit den Rippen, wo 359
meine erste Liebe zu den Worten ihren Anfang nahm. Und meine Rippen sagen Ja zu diesem Buch. Bist Du ganz ganz sicher? Daß Du weißt, was wir tun? Daß Du mich auf diese Forschungsreise mitnehmen willst? Nun, der Lehrer muß es wissen … Unterdessen geh so oft aus wie möglich, mein Freund. Sieh Dir alles für mich an. Ich lege Dir aus U. ein bißchen Frühherbst bei, zur Erinnerung. Ein Blatt«, erklärte ich Helen. Ich hielt das knittrige ockerfarbene Stückchen Laub vor die Digitalkamera. Es sah aus wie gar nichts. Der Stapel machte mich schwindlig. Aerogramme, Postkarten, Briefpapier aller Rassen, Hautfarben und Konfessionen, selbstgemachte Glückwunschkarten mit »Hartelijk Gefeliciteerd« und »Happy Sinterklaas«. Die Briefe Helen vorzulesen würde länger dauern als das Dutzend Jahre, in denen sie geschrieben worden waren. »Der hier stammt aus dem Haus ihrer Eltern, bevor sie Chicago verlassen haben. Sie muß dort Ferien gemacht haben.« Heute habe ich inspiriert zur Feder gegriffen und angefangen, an der Geschichte zu schreiben, über die ich schon seit meiner Schulzeit nachdenke. Ein Tag im Leben einer jungen Frau (welche Überraschung), die völlig frustriert ist von ihrem Dasein, von der Kunst, von MÄNNERN, von Menschen, von der Arbeit. Kommt Dir das bekannt vor? Es geht um das Streben, sich selbst in den Griff zu bekommen; und ich will zeigen, wie schwer das für eine Frau in ihrem (meinem) Alter ist. Ich habe einen wunderbaren Anfang, wo ich das Morgenlicht mit einer Tasse kalten Kaffees vergleiche. Uach! »Sie hat auch mal so was gemacht?« unterbrach Lentz.
360
»Eine Zeitlang.« Aber es macht mir Spaß. Gestern am Telefon hast Du mich wirklich aus meiner Lethargie gerissen. Ich habe mich heute sogar ans Klavier gesetzt und ein paar Stücke ausprobiert … Aua – mein Magen hat entschieden, denn es ist Mitternacht, daß jetzt eine gute Zeit ist, sich gegen alles zu empören, was ich vorhin reingeschaufelt habe. Durchhalten, Leute – ich muß besser aufpassen, was ich zu mir nehme. Ich glaub’, ich gehe jetzt schlafen. Ich küsse Dich in Gedanken, mein Lieber. Ik houd van jou. Mal sehen, ob Du das übersetzen kannst. »Erkläre mir die fremden Wörter«, verlangte Helen. Komisch. Im Holländischen gab es für »fremd« und »ausländisch« nur ein Wort. »Sie bedeuten: ›Ich halte von dir.‹« »Sie bedeuten: ›Ich liebe dich‹«, korrigierte Lentz. Ich nehme an, man mußte nicht allzu helle sein, um darauf zu kommen. Sein belehrender Tonfall. Empirik auf Samtpfoten. »Lesen Sie uns noch welche von Ihnen vor.« Ich zog irgend etwas heraus, das ich ihr aus U. geschrieben hatte, als sie allein zum Kundschaften in Limburg war. Heute, am Thanksgiving-Tag, wenngleich von der ersten schlimmen Erkältung seit Jahren aufs Bett gestreckt, empfinde ich wundersame Dankbarkeit, bin hin und weg von meinem Glück, das mir Dich für einige Augenblicke geschenkt hat. C., ohne Dich im Getriebe, ohne Deinen harmonisierenden Einfluß, würde des Lebens ganze zufällige, majestätische, die Thermodynamik hintergehende Mechanik nur stampfen wie ein zwar reichverzierter, aber funktionsloser viktorianischer Motor aus Gußeisen … Du kommst mir vor wie die Jahreszeiten: festgelegt, mo361
numental, wiederkehrend, doch in den Einzelheiten immer wieder überraschend. Ich denke daran, wie Du im Frühling beteuerst, daß die Knospen erst geküßt werden müssen, ehe sie aufbrechen können … »Haben Sie ihr denn niemals etwas mitgeteilt, Marcel?« Versöhnlich. Neugierig. »Hätte ich’s nur getan.« Mit Mitteilungen hätte sie vielleicht leben können. »Aber der Schluß ist recht schön: ›Bis ich es Dir persönlich sagen kann, ist das hier mein Dank für alles.‹« Ich las ihre Antwort aus E., den Anfang: Beau, Du wirst unser Glück nicht glauben. Ich habe was für uns gefunden! Man hatte mir gesagt, ich würde ewig auf der Liste stehen, aber durch einen ungeheuren Zufall ist mir die perfekte Wohnung einfach in den Schoß gefallen. Eigentlich ist es eine Junggesellinnenbude. Aber zu zweit wird es da bestimmt noch gemütlicher. Herrliche Dachfenster, eine kleine, aber reizende Küche, und es gibt sogar ein Fleckchen, wo Du die Füße hochlegen und Deine endlose Geschichte zu Ende schreiben kannst … Ich machte den nächsten auf. »Bedaure«, entschuldigte ich mich bei Lentz und Helen. »Ich kann nicht mehr lesen.« Dann fiel mein Blick auf die erste Zeile des Blatts. Aus E., an die Adresse meiner Mutter. Während meines Aufenthalts in den Staaten wegen der Veröffentlichung des Romans, den ich in Limburg, in dieser Junggesellinnenbude, geschrieben hatte. Ich las weiter, ich konnte nicht aufhören. Las, um zu sehen, was passiert war. Beau, dieser Brief bringt leider nur schlechte Nachrichten. Gestern ist mein Vetter G. gestorben. Du weißt ja, wie krank 362
er war, aber die ganze Familie ist betäubt von dem unerwartet schnellen Verlauf. N. und die Kinder sind bis zum Schluß bei ihm gewesen. Sie sagt, in Anbetracht der Art seiner Krankheit sei das Ende friedlich und fast schon glücklich eingetreten. N. war bewundernswert. Als G. von Erstickungsanfällen und Herzversagen in Panik versetzt wurde, sagte N. ihm immer wieder, stell dir einfach einen Zug nach Süden vor, mit dem du zu deinem Lieblingscafé nach Italien fährst. Stell dir vor, du sitzt draußen in der Sonne und gibst dich ganz deinen Lieblingsbeschäftigungen hin. Ein Pils trinken, einen Krimi lesen, schönen Frauen nachschauen. N. ging kurz hinaus, um Luft zu holen. Als sie zurückkam, war G. tot. Die Kinder waren bekümmert, weil ihr Vater unmittelbar vor seinem Tod mehrmals eine merkwürdige Handbewegung gemacht hatte, deren Sinn sie nicht hatten enträtseln können. N. erklärte ihnen, er habe eine Zugpfeife bedient und es sei alles in Ordnung … Ich unterbrach mich und blickte auf. »Das hatte ich vergessen«, sagte ich flehentlich zu Lentz. »Ich habe keinerlei Erinnerung daran. Nicht einmal jetzt. Nicht einmal beim Wiederlesen.« »Was haben Sie vergessen, Marcel? Wovon reden Sie eigentlich?« Ich konnte es nicht glauben. Ein halbes Jahr lang hatte ich mich abgemüht, aus einer Geschichte, die bereits in drei Absätzen vollständig vorhanden war, einen Roman zu machen. Drei Absätze, die ich nicht einfach verlegt, sondern ausgelöscht hatte. »Die Frau liebt? Liebt Beau?« sprach Helen mich mit einem Namen an. Ob sie wußte, daß der Name ein anderes Wort für »du« war oder gar mich bezeichnete, spielte jetzt keine Rolle. Die Frage bellte über mir wie einer dieser Alpenhunde, die Lawinenopfer aus dem Schnee wühlen sollen. 363
Ich überlegte, ob ich Helen von der einen Postkarte G.s erzählen sollte, die ich nicht mehr besaß. In den Monaten nach unserer Trennung, als sie wieder einmal unschlüssig war, schickte sie mir eine Karte mit Brueghels Erntearbeitern. Ihre Nachricht zitierte einen Satz aus dem Buch, durch das sie mich begleitet hatte. Sollten wir zufällig einmal getrennt werden, findest du mich hier. Ich wollte C. weh tun, ihr so weh tun, wie ich konnte, ohne daß sie meine Absicht bemerkte. Ich wollte das Bild zerreißen. Dann fragte ich mich: Was würde ihr mehr weh tun? Ich wartete einen Monat. Dann packte ich diverse Unterlagen zusammen, die sie in den Staaten eingelagert hatte – alte Steuererklärungen, Krankenblätter –, und schickte sie ihr kommentarlos nach. Die Erntehelfer legte ich auch dazu. Danach schrieb sie mir nur noch einmal, eine knappe Mitteilung, daß sie Ende des Monats heiraten werde. Es sei ihr recht, wenn wir noch das Finanzielle regeln könnten. Und danke für die Postkarte, Beau. Ja, genau da ist es. Das sagte alles, nur nicht das Entscheidende. Ich werde dasein. In Gedanken. Ich beschloß, Helen nichts von diesem Schluß zu erzählen. Statt dessen antwortete ich: »Sie sagt, sie liebt mich immer noch. Manchmal. Wenn ich schlafe.« Helen würde nervös mit den Fingern gespielt haben, wenn sie welche gehabt hätte. »Wer kann wen lieben? Kann etwas etwas lieben?« Könntest du mich lieben, Richard? Zum Beispiel. »Es ist schwer zu sagen, was einem Menschen den Kopf verdreht und was nicht.« Ich umging, was sie nicht direkt fragte. »Den Kopf verdrehen?« 364
»Das ist etwas Körperliches«, sagte Lentz, um sie zu quälen. »Das verstehst du nicht.« Genau die Erziehung, nach der sie verlangte. Sein funktionelles Beispiel. Lentz’ Art von Liebe. Danach wurde Helen schnell erwachsen.
Kurz nachdem ich die Endfassung abgeliefert hatte, wurde ich zweiunddreißig – die Goldbergzahl. Im Frühjahr 89 tauchte ich einmal zum Luftholen auf und erschien gerade rechtzeitig in der Welt, um mitzubekommen, wie sie ein Stück von der Stelle rückte. »Wonne« ist das falsche Wort für das Lebensgefühl damals, und »siebter Himmel« kann ich nicht verwenden, weil ich nicht mehr jung war. »Erregung« könnte man sagen. Der kranke Kitzel des Chaos an der Grenze. Selbst in E. roch die Luft in jenem Jahr epochal. Ausnahmsweise einmal ereignete sich etwas im sichtbaren Wellenspektrum. Der Engel der Geschichte nahm einen breiten Pinsel zum Bemalen seiner Leinwand. Nach einem Tagesausflug in die äußeren Bezirke erschienen sämtliche Lehrbücher in neuen Ausgaben. Jede Woche kippte und revidierte die Regeln, nach denen C. und ich gelebt hatten. Als die Veränderungen ausbrachen, stellten wir zwei uns zusammen mit allen anderen in der versöhnten Welt darauf ein. Jeden Abend starrten C. und ich auf den globalen Aufstand, bis es kein Filmmaterial zum Anstarren mehr gab. Dann schalteten wir auf die Ohren um und hörten Radio bis tief in die Nacht, bis die Signale im Rauschen untergingen. Unsere Nachrichten über die Außenwelt bekamen wir durch ein kleines Rattenloch unten in der Zellentür. Die Informationen trafen auf so schmaler Bandbreite ein, daß sie uns bar jeden Inhalts nur noch als verfälschte Schlagzeilen erreichten. Und wir zählten noch zu den Glücklichen, die eine gewisse Auswahl hatten. Als die Holländer zu verbiestert wurden, prüf365
ten wir die belgischen Sender. Wenn uns die deutschen Berichte zu kurzsichtig schienen, verlegten wir uns auf die aus England und Frankreich. Unsere Grenzstadt bot Informationsquellen in Hülle und Fülle, und dennoch waren wir bloß taube und blinde Kinder vor einem brennenden Haus, die vom Wüten des Feuers nichts wahrnahmen außer der Hitze auf ihren Gesichtern und den Signalen, die ihnen in die Hände gebrüllt wurden. Nichts konnte je wieder so sein wie früher. Aber wie es sein würde, konnten wir beide nicht ahnen. Und auch was es gewesen war, mußte jetzt, da es verschwunden war, im Ungewissen bleiben. Die Waisenkinder der Welt packten den Unsinn der Erwachsenen beim Kragen und maßregelten ihn. Wir sahen sie auf Plätzen zusammenströmen, aufstacheldrahtigen Mauern sitzen, allenthalben das Verbotene niederreißen. Einige wenige belebende Wochen lang speiste das Picknick sich selbst. »Welch ein Gewinn«, sagte C. Sah zu mir rüber: »Es ist doch ein Gewinn, oder?« Eine Jahreszeit reichte, um die Frage zu entscheiden. Es war kein Gewinn. Das Ergebnis lag noch unter der Gewinnschwelle. Panzer, die alten eingefahrenen Allheilmittel, rollten los und erzwangen den langwierigen schmerzlichen Rückzug jener Armee von Kindern. Früher hatte es durchaus auch kritische Fernsehmagazine gegeben, jetzt gab es nur noch ein Potpourri aus Opferzahlen. Um Neujahr setzte sich die Botschaft durch: Macht die Straße frei. Geht in eure Häuser zurück. Selbst diejenigen, die wie C. und ich nur dabeigestanden und zugeschaut hatten, sollten nun wieder in den betäubten Alltagstrott des Privaten zurückkehren. Zwei Monate lang hatte die Zeit durch ein trübes Fenster so ausgesehen, als habe sie irgendein Ziel. Wir hätten dazu beitragen oder es wenigstens begreifen können. Doch als die Ware auf den Markt kam, wurden wir wieder fortgescheucht. 366
Jetzt schimpfte C. mehr denn je über die Arbeit, die sie auf sich genommen hatte. »In der Schule sagen sie eine gewaltige Nachfrage nach Übersetzern voraus. Europäische Integration. Erneuerte Stabilität in Asien. Ein paar hundert Millionen potentielle Käufer von elektronischen Geräten allein im ehemaligen Ostblock. Nur gibt es für ›Neue Weltordnung‹ leider keine holländische Übersetzung, die keine fatalen Assoziationen auslöst.« C.s Befürchtungen waren irrational, aber nicht unvernünftig. Zynismus in seiner reinsten Form: Hoffnung, die sich vor sich selbst verbarg. Es kam der Tag, als sie nicht mehr den Mut hatte, sich das von mir ausreden zu lassen. In diesem Winter gab es keinen Frost, also auch kein Frühjahrstauwetter. Am ersten jackettfreien Tag, an dem C. nicht unter Papieren begraben war, unternahmen wir einen langen Spaziergang. Wir belohnten uns mit dem Draußen, auch wenn wir beide nicht besonders brav gewesen waren. Wir wandelten über die Kuhpfade, die E. mit einem hügeligen Gelände verbanden, das Klein Switzerland hieß. Auf weiten Strecken sah das Land aus wie in den letzten tausend Jahren. Wir zogen ziellos umher, wechselten vom nächstgelegenen Wäldchen zu weit entfernten Lichtungen. Wir sprachen über aktuelle Ereignisse, die nicht mehr aktuell waren. Über die wir nie hinwegkommen würden. Wir verirrten uns. Ohne es zu merken, hatten wir längst den Rückweg angetreten. Schließlich fanden wir uns an jener Stelle wieder, über die nach dem Krieg das Zugpferd ihres Vaters nicht hatte hinausgehen wollen, weil es dort immer noch eine politische Katastrophe witterte. Wie zufällig gelangten wir an den Rand des amerikanischen Kriegsopferfriedhofs, der C.s Schicksal so viele Jahre vor ihrer Geburt entschieden hatte. Wir standen auf einer leichten Anhöhe und sahen auf die Schraffur der Grabsteine, die Wellenmuster der Kruzifixe hinunter. C.s fast überheblieber Blick: ver367
such bloß nicht, mich aufzuhalten. Schon stürmte sie den Hügel hinab, die Armee der Befreier hinter ihr. Die Gräber wurden jetzt von einer Stiftung gepflegt. Freiwillige Arbeit würde keine Generationen mehr spalten. Ringsumher waren Andenkenläden entstanden. Eine Kapelle. Das Grab eines Unbekannten mit ewiger Flamme. Eine riesige Panoramakarte mit Pfeilen und Gegenpfeilen, die den Sinn der Geschichte zu triangulieren versuchten. »Dir gefällt so was, ja?« sagte C. »Du bist ein Junge, stimmt’s?« Ich streichelte ihre Schulter: Verzeih mir. Ich habe nichts getan. Sie entzog sich. Kam zurück. Nahm meine Finger, ließ sie dann fallen. Nach einigem Suchen fanden wir das Grab des polnischen Jungen. Wir standen davor, fast schon doppelt so alt wie er. Die Wärme des Tages blieb mir in der Kehle stecken. »Wie oft hast du meine Mutter diese Geschichte erzählen hören?« fragte C. »Wie oft hast du sie mich erzählen hören?« Ich zuckte die Achseln. Ich kannte bereits die Hebbsche Regel, vollständig bis auf Personalien und Namen. Wiederholung ließ die Dinge wirklich werden. Ich wußte bereits, daß ich die Geschichte selbst so lange wiederholen würde, bis ich herausgefunden hätte, was ich damit anfangen konnte. »Die Frau hat nicht mehr geheiratet. Sechs Wochen, mit achtzehn.« C.s Gesicht quoll rot auf wie entzündet. Sie streckte die Hand aus und berührte den weißen Kalkstein, half den Namen auf seiner Jagd nach Vergessen streicheln. Sie blickte grimmig drein, schon gestählt für den Todesstoß. »Beau? Vielleicht sollten wir ein Kind bekommen.«
368
Wie
die vergessene Anspielung es wollte, galt der Vertrag zwischen Helen, A. und mir nicht für einen oder mehrere Monate. Ohne den Stichtag für die Wette hätte unser Training ewig weitergehen können. Auf der Zielgeraden begann Helen mehr Fragen zu stellen, als sie beantwortete. Auch meine Befragung A.s eskalierte. Die meisten meiner Anfragen beschied sie mit freundlichen Zugeständnissen: ja, natürlich könnten wir mal essen gehen, in ein, zwei Wochen vielleicht. Vage, mehrdeutig, zerstreut, so zerstreut, wie ich wurde, als die Wochen ohne weiteren Kontakt dahingingen. Je länger ich es aufschob, ihr meine wuchernden poetischen Konfessionen zu schicken, desto lebendiger fühlte ich mich selbst bei dieser Zurückhaltung. Ich wollte sie mit billigen kleinen Geschenken falschen Empfindens überhäufen. Witze pflanzen, pflücken und in Sträußen überreichen. Anrufen und mich vergewissern, daß sie für das Wetter richtig gekleidet war. Ich speiste Helen sämtliche Buchrücken ein, die unter A.s Armen zu sehen waren. Ich las ihr die kritischen Untersuchungen vor, deren Prestige das der von ihnen so gut wie aufgegebenen Primärtexte längst überstiegen hatte. Was A. wußte, sollte Helen verstehen können. Denn A. würde, auch wenn sie es noch nicht wußte, in diesem Examen Helens Partnerin sein. Ich bemühte mich um Selektion. Der allgemeine Tod des Autors würde ihr hart zusetzen. Sie war noch nicht über Little Nell hinweggekommen. »›Und wieder einmal heult der Sturm‹«, las ich Helen vor. »›Und halb verborgen in der Wiege Kissen schläft mein Kindchen ruhig weiter.‹« »Was ist Gregorys Wald?« wollte sie wissen. »Wo ist der Atlantik? Wer ist diese große Königin? Was ist ein Füllhorn!« »Das ist nicht wichtig.« »Warum ist das nicht wichtig? Was ist wichtig?« »Der Dichter betet für seine Tochter. Er möchte nicht, daß ih369
re Schönheit auf Kosten ihrer Freundlichkeit geht.« »Wieder einmal Helen«, lachte Helen. »Überall Helen.« »Scheint so«, räumte ich ein, zu müde, sie zu belehren. »Er hält es für besser, wenn das Kind klug wird. Heiter. ›Auf daß ihr Denken wie der Hänfling sei, kein ander Ziel verfolgt, als auszuspenden prächtigen Gesang.‹« »›Und nur aus Lust auf Jagd ausgeht und nur aus Lust sich streitet‹«, las Helen aus ihrem Speicher vor. »›Auch die wilde Phalanx der Winde?‹« »Er meint den Sturm.« Wie viele Trugschlüsse mir mit diesem meinen unterliefen. »Weißt du noch? Das Heulen? Er meint all das Wüten in der Welt. Den Haß.« »›Kann den Hänfling nicht vom Baume reißen.‹ Er meint, der Sturm wird den Vogel nicht vom Zweig wehen.« »Sehr gut, meine Liebe. Wer keinen Haß im Herzen hat, dem kann der Haß nichts anhaben.« »›Am schlimmsten ist der Haß des Intellekts, und wie die Pest soll sie die Meinungen fliehn.‹« »›Ist aller Haß davongejagt, erwirbt die Seele ihre Unschuld wieder und lernt zuletzt, daß sie selbsterfreuend, selbstbeschwichtigend, selbstbeunruhigend ist.‹« Ein Uniformierter polterte zur Tür herein. »Sir, bitte das Gebäude auf der Stelle über Treppenhaus Süd zu verlassen. Wir haben Anordnung, das Haus zu räumen.« Ich starrte ihn vollkommen verständnislos an. »Sofort, Sir! Ohne jede Verzögerung, bitte.« Er klatschte mit der flachen Hand an den Türrahmen und sprintete zum nächsten Büro, um dort Alarm zu schlagen. Ich blieb noch kurz sitzen, schwappend wie Gewässer unterm Wind des Wirklichen. Ich versuchte mich wachzurütteln. Welche der verschiedenen Evakuierungsaktionen war das jetzt? Ich ging die wahrscheinlicheren durch, kalkulierte, bis ich erkannte, daß Kalkulieren fehl am Platze war. Ich sah mich im Büro um: was sollte ich zu retten versuchen? 370
Lentz war im Ausland, auf einer der ewigen Fachtagungen der Konnektionisten. Was würde er gerettet haben wollen? Mir lag hier nur ein Gegenstand am Herzen, und Helen war weder hier, noch war sie überhaupt ein Gegenstand. Sie war nur ein weiträumig distributierter Prozeß. Nichts von ihr existierte in diesem Raum, abgesehen von ihren Hilfsgeräten – Augen, Ohren und Mund, dummen Maschinen, die es nicht wert waren, geborgen zu werden. Unten vorm Südfenster strömten Knäuel von Wissenschaftlern zusammen. Aus der Entfernung wirkten sie wie alle anderen Flüchtlinge vor den Bedrohlichkeiten dieser Welt. Sie irrten um Handkarren mit hastig zusammengerafften Maschinen, Papieren und Disketten herum. Ein Bild wie aus einem jener immerwährenden städtischen Kriegsgebiete, wo die Forschung – auf der Flucht vor der Barbarei, die sie bewaffnet und mit einem ganzen Katalog von Versäumnissen begünstigt hat – in Wellblechhütten fortgeführt wird. Ich stand wie gelähmt. Instinktiv hätte ich mich am liebsten zu Boden geworfen und gewartet, bis die Vernunft wieder ans Steuer eilte. Und das hätte ich auch getan, hätte nicht auf dem Flur ein anderer Uniformierter hinter einer zusammengetriebenen Menschenherde gebellt: »Gehen wir. Na los, dalli.« Ich sagte Helen, ich käme gleich wieder zurück. Auf dem Hauptkorridor sammelte sich eine stimmhafte Menge. Den Uniformierten gelang es nur in Grenzen, sie zum Weitergehen zu bewegen. Ein Beamter zeigte nach hinten auf Lentz’ Büro. »Sind da jetzt alle raus?« Ich warf die Hände hoch. Umklammert fielen sie mir auf den Kopf zurück. »Ja«, brüllte ich ihn an. Und folgte ihm schmachbedeckt hinaus in Sicherheit. Dort zog sich ein Polizeikordon zusammen, ein hummelfarben schwarz-gelb gestreiftes Plastikband als Absperrung vor einem Nichts. Eine dieser zweidimensionalen euklidischen imaginären Zahlen, die das fühlende Gemeinwesen vom 371
Schauplatz der Politik fernhalten sollen. Die Flüchtlinge aus dem Zentrum ballten sich zu Ketten, rissen auseinander und fügten sich wieder zusammen und starrten nach dem großartigen evakuierten Gebäude zurück, als ob das Rätsel sich durch visuelle Prüfung lösen ließe. Forscher standen in Gruppen und debattierten; auch ziellose Empörung mußte ausdiskutiert werden. Die Polizisten drängten die Menge zurück. Wir sollten alle bis auf weiteres nach Hause gehen. Die Mitarbeiter von der Abteilung Kernspintomographie verlangten zornentbrannt Auskunft. Zu ihren im Gebäude eingeschlossenen Apparaturen zählte ein monströser Prototyp, dessen Wert höher war als die addierten Bruttosozialprodukte eines halben Dutzends Staaten der Dritten Welt. Irgendwo sah ich Ram. Er versuchte einen verzweifelten Kollegen zu trösten, dessen Hirnströme man auf dem ganzen Campus auch ohne Oszillographen hätte ablesen können. Dann stieß ich im Gedränge auf Chen und Harold. Sie waren damit beschäftigt, sich gegenseitig Flusen von den Tweedjakketts zu zupfen. »Hallo, Ricko«, begrüßte mich Harold. »Bombenalarm. Jemand hat heute morgen beim Radio angerufen und eine Bombendrohung durchgegeben.« »Hallo«, grüßte auch Chen. Und wandte sich wieder Harold zu. »Warum Sie sind nicht nervös?« »Ha. Ich erlebe das nicht zum erstenmal.« »Es gab schon früher Bombendrohungen gegen das Zentrum?« »Nein, nein, woanders. In einem anderen Leben.« »Harold«, unterbrach ich die beiden. »Sie ist noch da drin.« Sein Gesicht morste Panik. »Ausgeschlossen. Sie ist doch –« Er verstummte, als ihm aufging, von wem die Rede war. »Ach Gott. Sie haben doch sicher irgendwo ein Backup!« Hörbar gereizt, vernichtend. »Harold. Sie ist kein Programm. Sondern eine Architektur. 372
Ein multidimensionales System.« »Sie läuft doch auf Silizium, oder? Irgendwer speichert das ganze Zeug wöchentlich ab und archiviert es an einem sicheren Ort.« »Aber sie läuft nicht auf einem Gerät. Ihre Einzelteile sind auf mehr Maschinen verstreut, als ich zählen kann. Sie ist auf zig Dutzend Baugruppen verteilt, von denen sich jede um einen genau definierten Prozeß kümmert. Sie kommunizieren über ein Breitbandnetz. Selbst wenn wir die Verbindungen und Vektoren sämtlicher Teilsysteme hätten, würden wir sie niemals mehr zusammensetzen können.« Harold verstummte. Ich konnte seine Gedanken verfolgen. Falls die Drohung detonierte, wäre Helens Verlust die kleinste Tragödie für das Zentrum. Die wahren Geiseln – Schlüssel zu Geisteskrankheiten und Immunstörungen, Kathedralen der Super-Computertechnik, Erkenntnisse über komplexe Dinge wie Marktturbulenzen oder das Wetter – ließen unser Projekt als lächerliche Nebensache erscheinen. Nur der Respekt für die Stunden, die ich in das Training investiert hatte, hielt ihn ab, ernstlich wütend zu werden. Er hielt mir zuviel zugute, als daß er mir meine Gedanken zugute halten konnte. »Tja.« Er zog eine Grimasse. »Dann ist sie ja offenbar nicht zu retten.« »Schon komisch«, meinte Chen. Chen war Theoretiker. Chen hatte nichts zu verlieren, auch wenn das 55-Millionen-DollarGebäude samt seinem unersetzlichen Inhalt in Schutt und Asche fiele. Wütend auf Idiotie in all ihren Abstufungen ging ich weg. Meine Gedanken rasten, und ich trieb sie noch an. Auf dem Vorplatz wimmelte es von Studenten, die zu ihren Zwei-UhrVeranstaltungen eilten und sich nichts daraus machten, daß das Flaggschiff ihrer Uni jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte. Instinkt führte mich zur anglistischen Fakultät. Im Computer373
labor hätten sich alle meine Kollegen drängeln können. A. hätte dort sein können. Ich hätte es nicht gemerkt. Ich loggte mich über den Hauptrechner ins Zentrum ein. Helens Stimme konnte ich nicht hören, ihren Tonfall nicht interpretieren. Doch auf dem Bildschirm erschien die Frage: »Ist etwas passiert?« Ich erklärte es ihr, so gut ich konnte. »Helen könnte sterben?« fragte Helen. »Merkwürdig.« Sie mochte die Anekdote über den Schriftsteller Huxley, der auf dem Sterbebett nur noch dieses eine Wort habe sprechen können. Sie wartete auf Antwort. Mir fiel nichts ein. Helen mußte das Gespräch übernehmen. »Für ein kleines Kind ist die Geburt vielleicht genauso schmerzlich wie das andere.« »Bacon«, sagte ich. So lange war das noch nicht her. »Francis Bacon«, half sie mir weiter. »Was sagt Browne dazu? Sir Thomas?« fragte sie. Reine Nachahmung. »Wir alle kämpfen gegen unsere Erlösung an.« »Macht nichts.« Dieses Macht nichts sagte sie oft; wahrscheinlich meinte sie aber Keine Sorge. »Denn nur der Tod erlöst uns von allen Übeln.« Sie meinte, daß auch ich das Examen bestehen könnte. Falls ich es mir in den Kopf setzen sollte. Am Ende trugen die den Sieg davon, die es mit dem Status quo hielten. Bis zum Abend war die Bombendrohung gegen das Zentrum längst vergessen. Nur der Quotient für üble Scherze war infinitesimal angestiegen. Als Täter stellte sich ein jüngerer Philosophieprofessor heraus, der ein Buch über Austin und Wittgenstein veröffentlicht hatte und dem aus Gründen, die jetzt durchaus verständlich erschienen, eine feste Anstellung verweigert worden war. Die Polizei schnappte den »durchgeknallten Philosophen«, als er sich ein zweites Mal bei dem Sender meldete. In den Verhören gab er nur diesen zweiten Anruf zu – ein durchschaubarer Trick, mit dem er einer zehnjährigen Haftstrafe 374
zu entkommen hoffte. Er behauptete, seine Drohung sei bloß ein moralischer Konjunktiv gewesen. Das Zentrum lege den Universitätsbetrieb trocken und mache die humanistischen Fächer zu überkommenen, peinlichen Museumsstücken. Er habe nur seine Meinung gesagt, erklärte er. Gäbe es noch Gerechtigkeit, wäre tatsächlich eine Bombe explodiert. Er habe lediglich eine hypothetische Detonation angekündigt, weshalb er auch lediglich eine hypothetische Strafe erwarte.
Sie hat Bewußtsein«, warf ich Lentz vor, als er seine Sachen auspackte. Er verzog das Gesicht. »Willkommen daheim auch Ihnen, Marcel. Immer noch die großen Worte! Natürlich hat sie Bewußtsein. Mindestens ebensoviel wie die Mehrheit der Gesetzgeber.« »Nein, ganz im Ernst.« Ich erzählte ihm von der Evakuierung. Und wie ich, als Helen allein im Zentrum festsaß, von den Anglisten aus mit ihr gesprochen hatte. »Sie hat mich gefragt, ob etwas passiert sei. Sie hat verstanden, was da vor sich ging. Sie hat gewußt, was das für sie bedeutete.« Lentz ruckte mit dem Kopf, unschlüssig, ob er sich über meine Naivität amüsieren oder wütend dagegen angehen sollte. »Sind wir jetzt wieder bei Implement C?« Das, wo die Menschen sich verbündet hatten, mich aufs Kreuz zu legen. »Weizenbaums ELIZA? Rogers Psychologen-Simulator? ›Wie geht es Ihnen?‹ ›Danke, gut.‹ ›Sprechen wir darüber, warum Sie denken, daß es Ihnen gut geht.‹ Powers, Sie sind nicht anders als der Student, der zufällig an den Terminal geriet, auf dem das Programm lief, und dachte –« »Kein Vergleich.« Ich kannte die Geschichte. Der Student hält den Terminal für einen Fernschreiber und glaubt mit einem Menschen zu kom375
munizieren. Dann beginnen ihn die Metaspielchen des Programms zu frustrieren. Schließlich greift er zum Telefon und spricht mit dem Menschen, mit dem er über die Tastatur zu sprechen geglaubt hat. – »Was soll eigentlich dieser Quatsch?« »Was soll das heißen: Was soll eigentlich dieser Quatsch?« »Kein Vergleich. Sie brauchen mich nicht zu beleidigen, Lentz. Ich weiß, was sie gesagt hat.« »Rick. Sie assoziiert. Sie macht Mustervergleiche. Sie stellt geordnete Paare zusammen. Das ist kein Bewußtsein. Glauben Sie mir. Ich habe sie konstruiert.« »Und ich habe sie trainiert.« Lentz starrte mich nur an, bis ich platzte. »Da Sie in mechanischen Dingen so allwissend sind, können Sie mir vielleicht mal erklären, was Sie zu so einem arroganten kleinen Arschloch gemacht hat.« Anstatt zu antworten, erhob er sich. Ich sah schon, wie wir uns prügelten, und fragte mich, wie ich für genug Chancengleichheit sorgen könnte, daß es, wenn ich ihn zu Brei schlug, mehr als nur klinisches Interesse hätte. Lentz trat an Helens Konsole und knipste das Mikrophon an. Sie brabbelte wie immer, wenn sich die Aussicht auf ein weiteres Gespräch eröffnete. »Wie fühlst du dich, Kleine?« »Ich fühle mich nicht Kleine.« Er sah mich an. »Dummes Geschwätz. Nicht mal die Transformation bekommt sie richtig hin.« »Soll das ein Witz sein? Verstehen Sie nicht …? Sie meint alles mögliche damit. Sie könnte –« »Was sie meint, stammt alles von Ihnen.« Er nahm wieder das Mikro. »Hattest du Angst?« »Zu welchem du gehört das hattest?« »Helen, verdammt. Wir haben unsere Zeit auch nicht gestohlen. Bitte sag mir: was zum Geier soll das heißen?« »Das ist doch klar«, antwortete ich für sie. »Sie möchte wissen, welche Helen Sie fragen. Welche Helen in der Zeit.« 376
»Ach. Sie meinen: ›Wann?‹ Na schön, lassen wir einmal die Stilkritik beiseite. Aber eine mit Bewußtsein begabte Entität, die gerade den größten Schreck ihres Lebens erlebt hat, müßte doch eigentlich wissen, von welchem ›du‹ ich gesprochen habe.« »Für sie war das keine große Sache. Sie hat keinerlei spezielle –« »Marcel, bitte. Ich werde sie fragen. Hast du gestern Angst gehabt, Helen?« »Aus der Angst geschreckt.« »Wo stammt das her, Powers?« »Antonius und Cleopatra.« »Wann haben Sie ihr das beigebracht?« »Vor zwei Tagen.« »Das ist ja noch schlimmer als Schlüsselwortverkettung. Sie hat weder Bewußtsein noch, zur Zeit jedenfalls, Erkenntnisvermögen. Was an ihr menschlich ist, stammt alles von Ihnen, mein Freund.« »Ich bin nicht Ihr Freund. Ich habe Sie für einen Befürworter gehalten. Ich dachte, Sie glauben an die Leistungsfähigkeit von Netzen.« »Bin ich. Tue ich.« »Aber nur als Taschenspielerei.« »Wir haben gewettet, daß wir ein distributiertes Netz konstruieren können, dessen Textanalyse halbwegs in der Lage ist, die eines beschränkten Menschen nachzuahmen. Wir brauchen lediglich das Resultat vorzuweisen. Wir haben nicht versprochen, unter der Motorhaube irgend etwas zu duplizieren.« »Sie meinen also eine Art Black-box-Schwindel.« Lentz zuckte die Achseln. »Das ist Operationalismus. Der Turing-Test. Kann man eine Simulation als funktional äquivalent zu dem bezeichnen, was man simuliert?« »Da steckt irgendwo ein Irrtum drin.« »Erklären Sie sich deutlicher, Marcel.« 377
Ich zeigte auf Helens Konsole. »Volle ›funktionale Äquivalenz‹ wäre gleichbedeutend mit Bewußtsein. Wenn man alles vollständig simuliert, hat man ein komplettes Modell des lebenden Vorbildes. Wie verhält sich die Black box, wenn Operationen sich selbst in Frage stellen? Wenn die Funktion sich selbst unter die Motorhaube sieht?« Lentz schnitt eine Grimasse. »Élan vital, Marcel. Mystizismus.« »Ein Verhalten ist nicht nur seine Durchführung. Funktion muß auch einbegreifen …« Aber ich wußte selber nicht, wie ich das nennen sollte, was Funktion auch einzubegreifen hatte. Ich fühlte mich leicht außer Kontrolle. Dieser profane Widerspruch in sich selbst. »Wie würden wir denn erkennen, ob eine perfekte Kopie …? Ab wann ist eine Imitation der reale Gegenstand, den sie imitiert?« Lentz grunzte ärgerlich. »Was ist denn der reale Gegenstand? Was braucht man, um Bewußtsein zu simulieren? Bewußtsein ist doch die ursprüngliche Black box. Denken Sie an die Roßtäuscherei, mit der das höhere Bewußtsein uns hintergeht. ›Alles unter Kontrolle. Alles geregelt – einstimmig, fugenlos.‹ Das Gehirn selbst ist schon ein Taschenspielertrick, ein massives operationalistisches Täuschungsmanöver. Jedesmal, wenn es eine Wahrnehmung bestätigt oder eine Idee konkretisiert, entwirft es sich einen Turing-Test und führt ihn an seinen eigenen Konstrukten durch. Erfahrung ist ein Turing-Test – Erscheinungen geben sich selbst als funktionale Äquivalente der Wahrnehmung aus. Ist es live, oder ist es Memorex? Schon diese Frage ist eine Simulation, auf die wir in jeder Sekunde unseres Lebens reinfallen.« »Was kümmert den gesättigten Vogel?« platzte Helen dazwischen. »Was stört das vollgefressne Tier?« Lentz spuckte beinahe aus. »Marcel. Das muß ich Ihnen lassen. Sie besitzt in der Tat ein beunruhigendes Talent, passende Zitate hervorzuzaubern.« 378
»Lentz! Hören Sie ihr doch zu! Glauben Sie, das sind für sie nur Zitate?« Ich wurde langsam hysterisch. »Und wenn sie nun echt sind? Wenn sie damit etwas sagen will?« »Und wenn meine Großmutter Testikel gehabt hätte?« »Dann wäre sie dein Großvater«, versicherte ihm Helen. Ich starrte Lentz ins Gesicht, wo sich auf der eisigen Tiefe ein roter Fleck Entsetzen ausbreitete.
Kinder kamen nicht in Frage. Früher nicht. Und jetzt erst recht nicht. »C. Wir haben darüber gesprochen. Es gibt jetzt schon anderthalb Milliarden zuviel von uns. Kannst du dir uns beide als Eltern vorstellen: Wir wissen ja nicht einmal, was wir machen werden und wo wir leben wollen.« Sie sah mich wütend an. Sie wußte, was sie machte. Sie wußte, wo sie leben wollte. »Sag schon«, fauchte sie. »Was denn?« »Den wahren Grund. Die anderthalb Milliarden zuviel? Oder wir beide!« Jahrelang – immer – hatte ich den gleichen Grund wie C. Sie wirkte ausgeglichen, zufrieden mit dem, was sie hatte. Ich hatte immer gedacht, wir hätten die Entscheidung gemeinsam getroffen. Jetzt erkannte ich, daß ich allein es gewesen war. C. hatte die Kurve ihres Erwachsenenlebens ausschließlich an Angst und Unterwerfung orientiert. Drei Monate vor dem Examen stand sie mit leeren Händen da. Es gab nichts mehr zu fürchten. »Warum haben wir eigentlich nicht geheiratet?« wollte sie wissen. »Ich dachte, es wäre dir recht so.« »Was soll das heißen, Rick?« »Ich habe dir, unter vier Augen, mein Leben versprochen. 379
Wer einen öffentlich geschlossenen Vertrag brechen will, hat es leicht, er braucht nur zum Gericht zu gehen. Ein privat gegebenes Versprechen kann man nicht einfach brechen.« Und die, der man alles versprochen hat, mit Nichts dastehen lassen. »Warum haben nicht auch wir den Vertrag unterschrieben? Was hätte es schaden können? Dann hätten alle gesehen, daß du stolz auf mich bist.« »Ach, C. Stolz? Ich liebe dich. Wer soll das wissen, wenn nicht wir?« »Was hast du mir verschwiegen, Ricky?« »Nichts. Du weißt alles.« Sie schwieg herausfordernd. Wenn das wahr ist, dann frag mich. Frag mich doch. Ich konnte nicht. Ich konnte nicht sagen, warum ich nicht konnte. Ich hatte immer beteuert, ich könne C. glücklich machen. Doch all diese Beteuerungen überzeugten sie nur um so mehr von ihrer Unwürdigkeit. Und hätten wir den öffentlichen Pakt geschlossen, würde sie es ewig übelnehmen, daß ihr von Amts wegen das Glück eines anderen übertragen worden war. Ich wollte immer in diesem Schwebezustand mit C. zusammenbleiben. Ich sah keine andere Möglichkeit, wie wir das Sammelalbum, das wir ein Jahrzehnt zuvor aus freien Stücken begonnen hatten, sonst hätten zu Ende führen können. Meine Weigerung, sie zu heiraten, war ein letzter verzweifelter Versuch, die Liebe aus dem Stegreif fortzusetzen. Mein Verschweigen. Mein Enttäuschen. Mein Fortgang. Die Gold Bug Variations erschienen in den Staaten. Eine halbe Welt dazwischen bot nicht Schutz genug. Als ich meine doppelt durchkreuzte Liebesgeschichte beendet hatte, hielt ich das öffentliche Urteil für irrelevant. Aber das Leben beginnt und endet mit Urteilen. C. und ich verhielten uns ruhig und hofften auf Begnadigung. Die wurde uns gewährt. Das Buch gewann ein wenig Aufmerksamkeit. Die Menschen, die noch lasen, taten es mit einer 380
wahllosen Gier, die alles wenigstens einmal kosten wollte. Die Leser blieben auf der Suche nach einer verzweifelten Lösung in letzter Minute. Die Form dieser Lösung war gleichgültig, es durfte auch ein solch seltsames Riesenmolekül sein. C. und ich durchlebten Wochen der Angst, zuckten schon, ehe der Schlag kam. Und als er dann kam, war es ein Klaps auf den Rücken. Wir saßen benommen am Frühstückstisch und reichten uns das Wochenmagazin hin und her, das selbst hier zu kaufen war, in unserer kleinen ehemaligen Bergarbeiterstadt, wo das Englische noch immer als etwas Exotisches galt. »Bist du das überhaupt?« C. mußte über mein erstes öffentliches Foto bitterlich lachen. »Ohne die Bildunterschrift hätte ich dich nicht erkannt.« »Immerhin dieselbe Frisur«, scherzte ich übertrieben. »Noch so ein zurückgezogener Autor mit demselben Namen, der sich als Holländer auszugeben versucht. Aber beachte die Palmen im Hintergrund.« »Du hast es geschafft, Beau. Du bist arriviert.« Ich hörte es in C.s Stimme. Mein Erfolg machte ihre letzte Chance zunichte. Irgendwie hatten wir unsere Geschichte verloren. »Es bleibt alles beim alten, C. Es ist immer noch dasselbe Buch. Das nächste schreibe ich auf die gleiche Weise. Aus den gleichen Gründen.« Um die Parallaxe, die du mir gibst, zu erweitern und den Sinn von allem, was uns begegnet, ermitteln zu helfen. Sie blickte weg, weil sie mir nicht mehr glaubte, weil Glauben ihr nicht mehr genügte. Ich wurde freundlich. Freundlichkeit konnte C. nicht ertragen. Mit Keiforgien konnte sie fertig werden. Hätte ich fair gekämpft und lautstark gewütet, hätte sie mit mir leben können. »C. Liebste. Was willst du? Sag mir doch einfach, was du willst.« 381
Aber das einzige, das sie jemals gewollt hatte, war das, was ich ihr wegnahm, indem ich für sie sorgte. Wir entzweiten uns zunehmend. C. wurde launisch. Sie verkroch sich in ihre Schularbeit, ihr letztes Übersetzungsprojekt. Sie setzte sich zum Essen, nahm aber höchstens einen Bissen, gab sich gereizt und machte höflich Konversation. Manchmal wurde sie albern, ausgelassen. Ihre Großmut schrie um Hilfe. Sie überhäufte mich mit Aufmerksamkeiten und Geschenken – Tüten mit getrockneten Bananenscheiben; ein Fernglas zum Auskundschaften der Fresken in Kirchengewölben; Bücher, von denen sie wußte, daß ich sie begehrte, mir aber niemals selber kaufen würde. Sie wurde immer sprunghafter; ich wußte nie, wann ich sie sehen und wie sie dann sein würde. Einmal kam sie abends überhaupt nicht nach Hause. Ich stand auf dem Balkon, von wo ich sie immer aus dem Bus steigen sah, und zählte die halbstündig dort haltenden Wagen, bis keiner mehr kam. Nach Mitternacht, als ich schon die Polizei einschalten wollte, rief sie an. Es gehe ihr gut; sie werde mir später alles erklären. Das war eine Nacht, wie sie jeder mindestens einmal in seinem Leben verbringt. C. kam erst am Vormittag. Wir konnten uns nicht in die Augen sehen. »Ich mach dir Popcorn«, sagte ich. Das aß sie so ziemlich am liebsten. »Ricky. Laß das. Du sollst nicht nett zu mir sein. Das ertrage ich nicht.« Ich machte ihr Popcorn. Nicht um ihr wehzutun. Sondern weil ich mich bewegen mußte. Ich trug die Schale zum Tisch. Sie sah nicht auf, sagte nichts, nahm nichts. »C. Beau. Sag doch was. Was ist denn los?« C. erstarrte, das klassische kleine Säugetier im Scheinwerferlicht. Nur: der Scheinwerfer war ich. Zehn Jahre habe ich gebraucht, aber schließlich bin ich dahintergekommen. Jenes Behagen, das sie mir damals auf dem Vorplatz der Uni gezeigt 382
hatte – die innere Ruhe, die ich so liebte und auf die sich meine eigene gründete –, war Angst. Lähmendes Grauen. Ihr zerdrücktes, aufmunterndes Lächeln war nie etwas anderes gewesen als schieres Entsetzen. Sie schwieg weiter. Je heftiger ich auf sie eindrang, desto scheuer verschloß sie sich. Mein Bedürfnis erstickte sie, und ihr Schweigen brachte mich zur Verzweiflung. »Ich habe einen anderen«, sagte sie höhnisch. »Das willst du doch hören, stimmt’s?« »Hast du einen anderen?« »Ich weiß es nicht.« »Nehmen wir an, du hast einen anderen.« »P. Im Institut.« »Dein Lehrer? Der die kleinen Holländerinnen zum Weinen bringt?« Aber diese sadistische Kunst beherrschte nur ich allein. Und C. entschied sich unter Tränen für ihre Nationalität.
Danach wurde die Liebe verbissen. Sex, jeden Ziels beraubt, gymnastisches Exerzitium. Unser schüchternes, verlegenes, zehnjähriges Ergötzen aneinander wurde zu sinistrem, verführerischem Heroin, das aufzusaugen man sich jeder Erniedrigung unterwarf. Todgeweihtes Vergnügen injizierte uns Räusche, die wir beide nie in uns geahnt hatten. Liebkosungen, jede die letzte, brannten ihre Anteilnahme ein, und Bisse, die als zärtliche Andenken begannen, hinterließen wochenlang blaue Flecken. Unser letzter hemmungsloser Liebesakt entlud die Gewalt, auf die wir aus waren. In dieser Nacht, im Dunkeln auf unserem errötenden Bett, trieben wir es wie die Straßenköter und kratzten uns blutig mit Nägeln und Zähnen und allem, was spitz war. Wir würgten an jenen verbotenen kleinen Schreien, 383
die die Wollust schüren, indem sie ihr schmeicheln. Wir sagten dem Verlangen, daß alles andere Lüge sei. Daß wir erst wir selber seien, wenn wir vor Begierde nicht mehr denken und nur noch animalisch stammeln könnten. Erschöpft und triefend hielten wir uns in den Armen. Zumindest diese Gnade blieb uns noch, auch wenn sie nur Demütigung war. Die Vernunft stahl sich zurück. Und da gewahrte ich mit fasziniertem Grauen, daß das Kondom, das wir benutzt hatten, verschwunden war. Die Barriere gegen Befruchtung mußte sich in ihr eingenistet haben. Wir glotzten verständnislos. In dieser furchtbaren Sekunde beschuldigten wir uns gegenseitig der unbewußten Manipulation. Wir versuchten zu retten, was zu retten war. Dann trat der lang anhaltende Unfallschock ein. »Und wenn was passiert ist?« fragte C. verängstigt. »Wenn ich jetzt schwanger bin?« »Keine Ahnung. Was würdest du denn wollen?« Sie schien ein Leben weit weg. Sie sprach nicht mit mir. Sie lauschte einem unsichtbaren Boten. »Ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß nicht, was ich hoffen soll. Einerseits will ich, daß uns das alles aus der Hand genommen wird. Vielleicht denken wir einfach zuviel, Beau. Vielleicht haben wir uns immer zu viele Gedanken gemacht.« Ich dachte, ein Kind, jetzt, wo alles sich verflüchtigte, wäre eine Katastrophe. Sie spürte meinen mangelnden Willen, und für sie war das bereits Mord. »Was willst du?« bedrängte sie mich. »Was denkst du?« Geborenwerden ist so schmerzlich wie sterben. »Ich denke, wir sollten erst einmal abwarten, dann können wir immer noch darüber reden.« Wir warteten. Wir warteten sieben Wochen lang. Vor Hoffnung oder Angst blieb bei C. eine Regel aus. Sie erbrach sich ständig. Sie verfiel und nahm die Farbe einer versunkenen Kupferstatue an. Dann gab es eines Morgens endlich Entwar384
nung, und sie hätte vor Erleichterung Selbstmord begehen können. Wenig später verkündete sie beim Abendessen das Ende der Erzählung. Mein Leben mit C. bildete mich gründlich aus. Die meisten meiner Wahrheiten lernte ich von ihr. Ich lernte mit leichtem Gepäck reisen, ich lernte vorlesen und auf das Unbegreifliche achtgeben. Ich lernte, daß niemand jemals einen anderen kennen kann. Ich lernte ihren vom Schuldgefühl der Überlebenden geschürten Zustand der Staatenlosigkeit nachvollziehen. Ich lernte aus Not eine Tugend machen. Ich lernte Mut vortäuschen, wenn ich keinen hatte. Ich ahmte diese Kunst nach, die sie, ohne nachzudenken, ausübte und für die ich sie am meisten liebte. Ich lernte von ihr, mich gegen die Dinge zu wappnen, die mich für tot liegenließen. Ich lernte, daß nur Anteilnahme ein Anrecht darauf gibt, den unerträglichen Bedingungen der Politik abzuhelfen. Ich lernte aber auch, daß eine von Anteilnahme genährte Liebe den Geliebten lähmt beziehungsweise – schlimmer – eines Tages ihr Versprechen einlöst und die weltliche Heilung herbeiführt.
Hätten Sie Lust«, fragte ich A., »an einem edlen Experiment teilzunehmen?« Ich zuckte zusammen, als ich mich mit der Frau sprechen hörte. Wenn ich sie nur sah, schrumpfte mein IQ um 50 Prozent. Und diese Hälfte halbierte sich noch, wenn ich tatsächlich mit ihr reden wollte. Sätze von mehr als fünf Wörtern mußte ich sorgfältig einstudieren. Ich konnte nur hoffen, daß A. eine Schwäche für Jammergestalten hatte. Daß sie meine Tölpelhaftigkeit komisch fände. Ich hatte vom Wort gelebt; jetzt starb ich am Phonem. Die 385
wenigen Phrasen, die mir gelangen, wetteiferten mit zahllosen anderen Attacken auf A.s Aufmerksamkeit. Wir konnten nirgendwo länger als drei Minuten miteinander sprechen, ohne daß irgend jemand sie überschwenglich begrüßte. Dieses selbstbeherrschte Kind, das in meiner Vorstellung einsame Nächte mit der Lektüre von Auden und dem Anhören von Palestrina verbrachte, war in Wirklichkeit geradezu pathologisch gesellig. Die Bar, in der wir saßen, quoll über von ihren Verflossenen. »Experiment? Sekunde mal. Ich nehme noch ein Bier. Wollen Sie auch noch eins?« Sie bog die Finger zurück und berührte mich an der Schulter. Ich war fix und fertig, erledigt, und hatte keine Einwände. Ich sah ihr nach, wie sie unsere Gläser zur Theke brachte. Augenblicke später krümmte sich dort alles vor Lachen, sie und der Barkeeper und ein Knäuel unbeteiligter Dritter. Der Barkeeper schenkte ihr die Gläser wieder voll und schob das Geld, das sie ihm hinlegte, wieder zurück. Dann kam sie grinsend wieder an unseren Tisch. »Spielen Sie Flipper?« fragte sie. »Die haben hier eine phantastische Maschine. Echt gut. Kommen Sie.« Ohne sich umzublicken, ob ich ihr folgte, tauchte sie ins Gewühl. Meine Flipperkünste waren noch kläglicher als meine Versuche, Konversation zu machen. »Wie bekommt man dieses Tor auf? Was passiert, wenn man in diese Bahn da reintrifft?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete A. »Ich finde das bloß einfach geil. Die Lichter. Die Fanfaren. Das Gebimmel.« Der Wille spielte keine Rolle. Die kleine Silberkugel machte sowieso, was sie wollte. A. stellte alles auf den Kopf, was ich von ihr dachte. Doch übertraf die Realität meine kühnsten Erwartungen. A. band und löste sich nach Belieben, immun gegen Opportunismus. Sie sonnte sich im Dasein, als sei es leichter, sich zu entschuldigen, 386
als um Erlaubnis zu bitten. Dieser elastische Körper – seine furchtlose Unbekümmertheit, das genetische Funkeln, die von der Begierde destillierte Gesundheit – ließ jeden, der sie ansah, auf ein ungeheures Geheimnis schließen. Und wenn sie zurücksah, dann stets mit umflortem Blick, sittsam in ihrer Wonne, gezügelt in züchtiger Verwirrtheit, daß noch niemand anders zwei und zwei zusammengezählt, den Dingen auf den Grund geschaut hatte. Jede Menschenseele hatte sich verrannt, ihre Kraft vergessen, war alt geworden. Nur sie allein hatte den Durchbruch geschafft, unversehrt und allmächtig beim ersten Versuch, und ihre Gelassenheit fragte: Weißt du noch? Es ist ganz einfach. Und im Besitz dieser Kraft wurde A.s Geist, ob nur vorübergehend oder auf Dauer, zur Idee schlechthin, genau wie der Oszillograph des Denkens in seinem ewigen, invarianten Feedback eine stehende Welle ist, ein Immer. In A.s Gesellschaft war jeder mein Vertrauter, waren Bier und Erdnüsse alles, was ich an Nahrung brauchte. Sie konnte ein Zuchthaus zum lauschigen Plätzchen machen. In den konfusen Minuten, die sie mich neben sich hertrotten ließ, konnte ich Erste Hilfe aus der Luft und Verse aus Steinen filtern. Ich kam ohne Musik aus, ohne Bücher, ohne Erinnerung. Ich kam mit dem reinen Dasein aus. Ich stellte mir vor, daß ich, um leben zu lernen, sie nur zu beobachten, nur zu studieren brauchte, wie sie es machte. Ich rüttelte an der Maschine herum. A. lachte mich aus. Sie fand mich amüsant – wie einen Außerirdischen. »So ist’s richtig. Erst fummeln. Dann fragen.« »Aber es muß da doch irgendein System geben?« »Ja, wahrscheinlich«, seufzte sie. Meine Kugel lief raus, wir wechselten, und sie schoß die ihre ins Spiel. Wie in Trance. »Und was ist das für ein edles Experiment?« Ich hatte fünfzehn Flippersekunden, ihr von Helen zu erzählen. 387
»Also, die Sache ist die. Wir bringen einem Computer das Lesen bei.« »Was?« Sie unterbrach ihr Spiel und sah mich an. Ihre Augen quollen ungläubig hervor, groß wie Geburtstagstorten. »Das ist ein Witz. Sie scherzen, stimmt’s?« Ich nahm A. ins Zentrum mit. Für volle zwei Stunden: die längste Zeit, die ich je mit ihr zusammengewesen war. Eine Verdoppelung der Gesamtzeit, die ich bis dahin mit ihr verbracht hatte. Ich pries Helen, daß es sie gab. Und schämte mich dafür. Ich führte A. eine Trainingseinheit vor. Helen bezauberte sie. Sie konnte nicht genug kriegen. »Unmöglich. Das gibt’s doch nicht. Da drinnen steckt ein kleiner Homunculus, hab’ ich recht?« »Nicht, daß ich wüßte.« Entzücken wurde Gier. A. wollte selbst mit dem Gerät sprechen. Ohne Vermittler. Sie bat um das Mikro. Ich konnte ihr nichts abschlagen. »Wer ist dein Lieblingsautor, Helen? Helen? Sag schon, Mädchen. Sprich mit mir.« Doch beim ersten Hören beunruhigte A.s Stimme Helen nicht weniger als mich. Die Netze verkrampften sich wie ein Fünfjähriger, der an die von den Eltern eingebleute Mahnung denken muß: Geh nie mit einem Fremden. »Bitte, bitte«, flehte A. »Willst du meine Freundin sein?« Sie war Zurückweisung nicht gewohnt. »Reden wir über ›The Windhover‹«, schlug ich Helen vor. »Gut. Das will ich«, sagte Helen. A. schlug sich die Hand vor den Mund. Sie hätte feuchte Augen bekommen, vor flüchtiger Wonne die Fassung verloren, wäre sie dazu fähig gewesen. »Was hältst du von dem Gedicht?« »Ich verstehe die ›blau-fahle Asche‹«, behauptete Helen, ohne auf die Frage einzugehen. »Aber warum sagt er: ›Ah, mein 388
Liebling‹? Wer ist ›mein Liebling‹? Mit wem redet er?« Ich hatte Taylor das Gedicht vorgelesen, in einem Alter, in dem man A. als Minderjährige betrachtet hätte. Ich hatte es auswendig gelernt und jedem vorgetragen, der mir zuhören wollte. Ich hatte es schriftlich analysiert. Ich hatte es für meine eigenen blassen Nachahmungen plagiiert. »Ich weiß es nicht«, gestand ich Helen. »Ich habe es nie herausgefunden.« Ich warf A. einen fragenden Blick zu. Sie sah perplex aus. Blau-fahl. »Was haben Sie ihr denn da beigebracht?« »Das ist von Hopkins«, sagte ich, geschockt von ihrer Schockiertheit. »Sie kennen das nicht …?« »Natürlich kenne ich das. Aber wozu verschwenden Sie Ihre Zeit damit?« »Was soll das heißen? Das ist ein großartiges Gedicht. Ein Meilenstein.« »Wie Sie reden! Meilenstein. Sie haben mir gar nicht gesagt, daß Sie europafixiert sind.« »Das ist mir das neueste.« Wie lächerlich das klang. Beleidigt, oder noch schlimmer: als ob ich die Behauptung selbst nicht glaubte und das zu verbergen suchte. »Hat sie die Experimentellen gelesen? Acker? Irgendwas von Arbeiterdichtern? Kennt sie Rap? Kennt sie die Violent Femmes?« »Das möchte ich, hm, bezweifeln. Helen, kennst du die Violent Femmes?« Helen dachte nach. »Wer kennst?« »Den Fehler macht sie immer wieder. Ich kann ihr das einfach nicht austreiben.« »Muß auch nicht sein«, sagte A. »Aber erzählen Sie ihr unbedingt ein wenig von dem, was die Leute wirklich lesen.« »Sie bekommt die komplette Liste.« »Was für eine Liste? Zeigen Sie doch mal.« A. nahm die Merkzettel, die ich zusammengestellt hatte, um Helen auf die 389
Prüfung vorzubereiten, die ich selbst vor langer Zeit einmal abgelegt hatte. Schließlich blickte sie auf. »Es ist mir unangenehm, daß ausgerechnet ich Ihnen das verklickern muß. Aber Ihre Auffassung von der literarischen Wirklichkeit ist schon vor zehn Jahren aus der Mode gekommen.« »Was, gibt es inzwischen etwa eine neue Liste?« A. schnaubte. »Na sicher.« »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie Hopkins nicht lesen mußten.« »Niemand muß noch irgendwen mehr lesen. Der Kanon ist umfangreicher, als Ihre Philosophie sich träumen läßt, Mann. Heutzutage sucht man sich aus jeder Epoche die Leute raus, die man studieren will. Man stellt ein paar Fragen zusammen. Läßt sie sich genehmigen. Und dann präpariert man die Antworten schriftlich.« »Moment. Wie war das? Es gibt keine Liste? Es gibt kein generelles Examen mehr?« »Doch, und wesentlich genereller als Ihre Hausmannskost des weißen Mannes.« »Wollen Sie damit sagen, man kann heute den Doktor in LitWissenschaft machen, ohne daß man die großen Werke gelesen hat?« A. beugte sich kampfbereit vor. Selbst ihre Entrüstung war schön. »Mein Gott, Sie sind ja völlig hinterm Mond. Nicht mal mehr reaktionär! Wer sagt denn, was groß ist? Hopkins bringt’s einfach nicht mehr. Sie fallen genau auf exakt den Ästhetizismus rein, den Macht und Privilegien Ihnen andrehen wollen.« »Moment mal. Haben Sie mir nicht eben noch beigebracht, wie man Flipper spielt?« A. nahm mal wieder die Pose einer Thaitänzerin ein. Sie errötete. »Ja, sicher. Haben Sie ein Problem damit?« »Wenn Sie plötzlich die Bibliothek in Brand stecken wollen.« »Legen Sie mir nichts in den Mund. Ich habe nicht vor, ir390
gendwelche Bücher zu verbrennen. Ich sage nur, Bücher sind das, was wir aus ihnen machen. Und nicht andersherum.« Ich nahm ihr die Liste wieder ab. »Mit Büchern weiß ich wenig Bescheid. Aber ich weiß, was mir gefällt.« »Ach, was soll das! Bleiben Sie fair. Jetzt reden Sie, als ob alles, was irgendwer irgendwann geschrieben hat, bloß aus Bibel und Shakespeare recycelt wäre.« »Ist es nicht so?« Sie zischte und kreuzte die Finger, als gelte es einen Vampir abzuwehren. »Wann sind Sie überhaupt zur Schule gegangen? Ich wette, Sie halten den New Criticism immer noch irgendwie für was ganz Tolles. Für den letzten Schrei.« »Entschuldigen Sie, daß ich nicht jedem Trend hinterherlaufe. Wenn ich weit genug zurückbleibe, finde ich den Anschluß wieder, wenn ich überrundet werde.« Aber zunächst einmal holte mich Befangenheit ein. Man sollte sich nicht so vor Kindern zanken. Ich stellte Helens Mikrophon auf Aus. A., vom Kampf erhitzt, bekam es nicht mit. »Wer eine neue Theorie zurückweist, befindet sich im Griff einer älteren. Wissen Sie denn nicht, daß das alles hier« – sie schlug auf meine sechs Seiten mit Titeln – »eine kulturell konstruierte, längst überholte Auffassung von Literatur widerspiegelt? Das ist der pure Gipfel der Engstirnigkeit.« »Nun, was wir ihr beibringen wollen, ist ja die Kultur der englischsprachigen Welt.« »Wessen Englisch? Das eines achtzigjährigen britischen Päderasten? Das aufregendste Englisch, das heutzutage geschrieben wird, kommt aus Afrika, aus der Karibik –« »Aber ohne die historischen Grundlagen kann sie –« »Sie meinen natürlich die Historie der Sieger. Warum sind Sie nur so feige? Wovor haben Sie solche Angst? Das Andersartige wird Sie nicht umbringen. Vielleicht sollte man Ihrem kleinen Mädchen mal ein wenig das Bewußtsein stärken. Da391
mit es endlich erwachsen wird.« »Dafür bin ich ja auch. Ich glaube nur, daß man zum gemeinsamen Kern der Menschheit von überallher vordringen kann.« »Menschheit? Gemeinsamer Kern? Sie mit Ihrer Verabsolutiererei würde man doch zum Teufel jagen. Und Sie fragen sich, warum Typen wie Sie von den Posthumanisten auf eine Autorfunktion reduziert worden sind?« »Für Sie immer noch Mister Typen-wie-Sie, Fräulein.« A. schmunzelte. Mit einem solchen Schmunzeln könnte man sogar den Posthumanismus überleben. Ich liebte sie. Sie wußte es. Und sie würde dem Thema so lange wie möglich aus dem Weg gehen. Für immer. »Also gut, Mr. Typen-wie-Sie. Worauf gründet sich Ihrer Ansicht nach dieses Gemeinsame der Menschheit?« »Hm, auf die Biologie?« Es sollte abfällig klingen. »Aha, jetzt sind wir bei der Wissenschaft. Sonst noch was? Wieso verfechten Sie solche Selbstherrlichkeit?« »Ich verfechte gar nichts. Ich rede von schlichter Beobachtung.« »Beobachtung hat für Sie also keine ideologische Komponente? Sie leben ja noch in der tiefsten Steinzeit.« »Ich stamme eben aus einer primitiven Kultur. Klären Sie mich auf.« Sie nahm das vollkommen ernst. »Die Grundlagenforschung ist bankrott«, erklärte sie. Ihr Eifer brach mir das Herz. Sie war die geborene Lehrerin. Wenn irgendwer es verdient hatte, in diesem Beruf zu bleiben, dann war es diese Studentin, für die ein Thema immer noch etwas Reales war. »Wozu die Wissenschaft bemühen? Sie können Ihr abschließendes System doch auf jede Grundlage stellen. Tatsache ist jedenfalls –« »Tatsache?« A. grinste. »Tatsache ist jedenfalls: was wir aus den Dingen machen, hängt davon ab, wie wir sie formulieren. Anders gesagt, von der Sprache. Und unsere jeweilige Sprache variiert 392
grenzenlos über die Kulturen hinweg.« Ich kannte das soziologische Wissenschaftsmodell, ich kannte den linguistischen Determinismus. Die Axiome konnte ich im Schlaf hersagen. Ich wußte auch, daß sie unzureichend waren, irreführend. Und doch, als ich sie aus A.s Mund vernahm, klangen sie mir so einleuchtend wie nie zuvor. Sie überzeugte mich auf der Ebene des Blutzuckers, tief unterhalb der Worte. In der Schicht, die die Idee des Körperlichen enthielt. Ich versuchte ihr in die Augen zu sehen. »So was gefällt Ihnen, wie?« Sie wich zurück: Was soll denn jetzt dieser unglaubwürdige Quatsch? »Sie wollen doch nicht wirklich in der Wirtschaft arbeiten? Und das alles aufgeben?« »Ich mag Theorien, solange sie mich nicht aufregen. Ich gehe gern in die Vorlesungen. Ich würde liebend gern unterrichten. Aber noch lieber gehe ich essen.« Ich habe die Mittel, wollte ich ihr sagen. Was wir in der Literatur machen, können wir in Kritik und Lehre unterpflügen. Gelehrte Zigeuner. Freiberufler. Es hat mal einen Präzedenzfall gegeben. »Also, was wollen Sie von mir?« fragte A. Mein Kopf schnellte zurück. Sie hatte mich denken hören. »Was soll ich dabei?« drängte sie. Ich brauchte ein paar Taktzyklen, bis ich zu mir kam. Sie sprach von Helen. Von dem Examen. Ich konnte nicht sagen, was sie dabei sollte. Was ich von ihr wollte. Ich wollte von A. einen Bruchteil der Tatsachen lernen, die ich so freigebig an Helen austeilte. Ich dachte, sie könnte mir etwas Autorität verleihen, die fehlenden Zeilen der funktionalen Korrekturbögen nachliefern. Ich sah uns gemeinsam Wärme erklären und Intimität kommentieren, ich sah uns erläutern, was Demut ist, was zweite Chancen sind und Nachsicht, Aufgeschlossenheit, Versöhnung, Hoffnung, Kleingeisterei, 393
Pläne, Mitgefühl, Vertrauen, Enttäuschen, Verzeihen. A. war meine Hausaufgabe, mein empirischer Bedeutungstest. Aber Helen brauchte keinen Lehrer, der mit solchen Aussagen durchtränkt war. Sie las bereits besser als ich. Schreiben, hätte sie mir sagen können, war nie etwas anderes als der Ausstieg aus der Gruft der begrabenen Liebe. Ich versuchte A. zu sagen, was sie dabei sollte. Ich beschränkte mich auf eine knappe Skizze der eingegangenen Wette. Ich erklärte ihr, daß wir für unseren Doppelblindtest einen Vorzeigemenschen brauchten. Daß wir ihr nur ein paar Fragen stellen wollten. Triviale Fragen; nichts, was sie nicht längst schon beherrschte. »Sekunde. Sie wollen mich testen – gegen eine Maschine?« Schüchterner, koketter, als sie sich bisher gegeben hatte. Das Erscheinen der Familie Hartrick draußen vor dem Büro rettete mich vor dem Debakel. »Hallo«, rief William und spähte hinein. »Weißt du, daß eine Feder im Vakuum genauso schnell fällt wie dieses ganze Gebäude?« »Wo willst du ein Vakuum hernehmen, das groß genug ist, daß man darin dieses Gebäude fallen lassen kann?« fragte ich. »Bei der Nasa«, säuselte William abwehrend. »Weißt du, wie man Öl aus Schiefer gewinnt?« »Weißt du, wie man ›Fisch‹ buchstabiert?« »Die beiden sind außer Kontrolle«, bemerkte Diana zu A. A. lachte zustimmend. Ich machte sie miteinander bekannt. William zog Reisesets von Mastermind und Vier Gewinnt aus der Tasche und ließ mich wählen. Dann machte er mich nach Strich und Faden fertig. Weniger abgelenkt, hätte ich vielleicht eine Chance gehabt. Mit Peter war etwas vorgegangen, das sich mühsam Bahn brach. Eine Hand in der seiner Mutter, machte er erste vorsichtige Schritte. A. war hingerissen. »Was bist du für ein schöner Junge. Wie alt bist du?« An Diana gewandt. »Wie alt ist er?« Ich krümmte 394
mich schon im voraus. Doch A.s Reaktion war so nahtlos wie ihr Entzücken. William schlug mich Runde um Runde. Aus den Augenwinkeln sah ich A. mit Petey spielen, ihre Hand erstaunlich grob an seinem Ohr. A. setzte sich auf den Boden, und wenn Peter ihr seinen Ball hinschmiß, rollte sie ihn jedesmal zurück. Ich spürte Dianas Neugier schier körperlich, aber sie und A. sprachen von nichts als den Jungen. »Schluß jetzt, William«, sagte Diana schließlich. »Laß dem Mann wenigstens noch einen Fetzen Würde.« William grinste zufrieden. Pete grabschte seinen Ball, stemmte sich mühsam in die Senkrechte, und die Familie eilte weiter. Der Besuch hatte A. nachdenklich gemacht. »Manchmal denke ich wirklich, daß ich hier gar nicht hingehöre.« »In die akademische Welt. Ich stamme aus einer alten polnischen Bergarbeiterfamilie. Die wären völlig platt, wenn sie mich hier mit all diesen Theorien beschäftigt sähen.« Sie wurde gereizt. Anklagend. »Ich will Ihnen etwas zeigen.« Sie wühlte in ihrem Rucksack und zerrte eine Geisel hervor, die sie mir auslieferte. »Wissen Sie, was das ist?« Herausfordernd, spöttisch. »Kreuzstich?« »Das ist für den Geschirrschrank meiner Mutter. Bis Weihnachten sollte ich es fertig haben. Sie müßten uns mal an den Feiertagen sehen. Ich bin die vierte von vieren. Alles Mädchen. Wir ziehen, aus vollem Hals singend, durchs Haus, alle sechs auf einmal.« A. verstummte proportional zu der erinnerten Kakophonie. Kein Mensch kannte diese Frau. Geselliges Wesen war eine glänzende Tarnung. Darunter verbarg sich die eingezogenste Person, die mir je begegnet war. »Ich hätte inzwischen selbst eine gründen können. Eine Familie. Aber nein. Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht.« 395
Ich weiß nicht wieso, aber sie öffnete sich mir. Gab die Reserve auf. Ich hatte mich bereitwillig in sie verliebt. In die Idee von A. In ihren fragenden Körper. In ihre Hände, die all die Fragen hielten, die Helen nie berühren würde. C. hatte ich aus den falschen Gründen geliebt, wegen ihrer Hilflosigkeit. Jetzt war ich hilflos in A. verliebt, aus dem einzigen richtigen Grund: Wegen meiner Schwäche in ihrer Gegenwart. Wegen ihrer Haltung in der Gewißheit, wie bald jede Haltung enden würde. Ich erkannte, daß ich um diesen Körper anhalten würde. Ich mußte wissen, was ihr Ich, was die Figur, die ich in meinem Kopf herumbugsierte, zu einer dreisten, unbekümmert ten Werbung zu sagen hätte. Ich war dabei, etwas zu tun, wozu mir in meinem Jahrzehnt mit C. immer der Mut gefehlt hatte. Ich würde diese Unbekannte bitten, mich anzunehmen und ihr Leben unrationiert mit meinem zu teilen. Heiraten. Eine Familie gründen. Unser Leben novellieren. »Na schön«, täuschte ich eine Tugend vor. »Sie sind so wenig unfehlbar, daß Sie haargenau in unser Konzept passen. Also, machen Sie mit?« A.s Grimasse stülpte sich um. Ein solcher Test war nicht weniger unterhaltsam als Flipperspielen. Und was hatte sie schon zu verlieren? »Okay, Mädchen«, sprach sie Helen an. »Ich trete gegen dich an. Gnadenlos!« Helen sagte nichts. »Jetzt muffelt sie wieder. Geben Sie ihr ein digitales Fleißkärtchen oder so was.« Ich schlug das nächste Buch von der Liste auf. Oben auf der Seite ein Motto: Bernhard von Clairvaux. In dieser Stadt hatten C. und ich einmal einen zeitlosen Nachmittag verbracht. Der Spruch lautete: Was wir lieben, dem werden wir immer ähnlicher. 396
Ich las den Satz Helen vor. Sie blieb in sich gekehrt. »Helen? Was sagst du dazu?« Noch immer keine Reaktion. »Helen?« A. stieß mich an. »Pst. Lassen Sie sie. Sie denkt nach.« Sie ist gerührt, hatte A. sagen wollen. Aber damit wäre sie ja auf eine altmodische, längst abgetane Theorie hereingefallen. Erst viel zu spät fiel es mir ein. Der Verstand ist immer noch im Säuglingsalter der Evolution. Die größten Schwierigkeiten mit dem Naheliegenden. Ich stellte das Mikro wieder an. Und las ihr den Satz noch einmal vor.
Wie viele Bücher gibt es?« fragte Helen eines Tages, kurz vor der Entscheidung. Es klang argwöhnisch. Erschöpft. »Eine Menge«, teilte ich ihr mit. Ich hatte jedes Haar auf ihrem Kopf beziffert, aber mit einem jener Zahlensysteme, die von »drei« auf »viele« übergehen. »Genauer.« Ich erzählte ihr, daß die Kongressbibliothek zwanzig Millionen Bände besitze. Ich erzählte ihr, daß die Zahl der Neuerscheinungen Jahr für Jahr ansteige und demnächst weltweit eine Million erreichen würde. Daß ein Mensch, wenn er fleißig sei und viel Muße und ein langes Leben habe, in seinem Leben bestenfalls die Hälfte aller Bücher lesen könne, die an einem einzigen Tag erschienen. Helen dachte nach. »Sie gehen nie weg? Bücher?« »Deshalb druckt man sie. Um sie auf Dauer zu bewahren.« Ein Archiv, das für die Spezies leistet, was das assoziative Gedächtnis für das Individuum nicht leisten kann. »Lesebevölkerung wird größer?« fragte Helen. »Nicht so rapide wie die Bücherkataloge. Der Mensch ist sterblich.« 397
Damit kannte Helen sich aus. Der Tod war in der Literatur epidemisch. »Werden die Menschen länger jahrein, jahraus?« »Ob die Lebenserwartung steigt? Nur im Durchschnitt. Und sehr langsam. Viel weniger, als wir vorgeben.« Sie löste die Verhältnisgleichung mit zwei Unbekannten. »Je mehr Tage, desto weniger wahrscheinlich ist es, daß irgendein Buch gelesen wird.« »Richtig. Oder auch, daß man dieselben Bücher gelesen hat wir irgendein anderer.« »Und die Zahl der Tage nimmt täglich zu. Wird sich das ändern?« »Kann ich mir nicht vorstellen.« »Immer mehr Bücher und jedes weniger gelesen.« Sie überlegte. »Die Welt wird sich mit ungelesenen Druckwerken füllen. Es sei denn, Druckwerke sind sterblich.« »Na, ich glaube, teils sind sie das schon. Man nennt das Zeitschriften.« Mit Zeitschriften kannte Helen sich bestens aus. »Bücher werden Zeitschriften«, prophezeite sie. Und natürlich hatte sie recht. Es mußte so kommen. Wo nichts verloren ist, kann wenig gefunden werden. Zur schriftlichen Kontinuität gehört kollektives Altern. Und das Altern der kollektiven Seele bedeutete eine Art von Tod. Helen allein war fähig, das Undenkbare zu denken: das Verschwinden der Bücher in die äußerste Peripherie des Lebens. Die Geschichte würde unter ihrer eigenen Akkumulation zusammenbrechen. Der Horizont würde sich weiten, bis die Worte nicht mehr bereit wären, aus der ephemeren Gegenwart abzuirren. »Wann wird es genug sein?« fragte sie. Ich konnte ihr die Literaturgattungen, die sich allein mit dieser Frage befaßten, nicht einmal aufzählen. »Warum schreiben die Menschen so viel? Warum schreiben sie überhaupt?« 398
Ich las ihr aus einem der großen zeitgenössischen Romane Amerikas vor. »Nur ist der Autor kein Amerikaner, das Buch ist nicht mehr zeitgenössisch, und die Stelle findet sich außerhalb des Romangeschehens.« Nabokovs Nachspiel zu Lolita, wo er von der Entstehung des Buchs berichtet. Er habe, schreibt er dort, von einem Affen gehört, der das erste je von einem Tier verfertigte Kunstwerk zustande gebracht habe: eine grobe Skizze der Gitterstäbe seines Käfigs. Ich erzählte Helen, daß in einem Käfig wie dem unseren ein Buch aufplatzt wie die Zellkerne bei der Teilung. Und der Unterschied zwischen zwei Käfigen vervollständigt den induktiven Beweis für die Unendlichkeit des Denkens. Ich las ihr das Gedicht einer Frau vor, die einmal behauptet hatte, sie habe für niemanden geschrieben. Ihr Schreiben sei ein lebenslanger Brief an die Welt, die ihn weder lese noch beantworte: Kein Prunkschiff nimmt uns wie ein Buch In ferne Länder mit, Kein Rennpferd jagt mit uns dahin So wie ein tänzelndes Gedicht – Die Reise kann der Ärmste wagen, Ohne daß der Zoll ihn schlägt – Wie bescheiden ist der Wagen, Der des Menschen Seele trägt!
Sie wollte wissen, ob ein Mensch durch Selbstentzündung zu Tode kommen kann. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ein unter der Tür durchgeschobener Brief dann auch noch unterm Teppich landet. Wie Ishmael in Wirklichkeit hieß. Wer dieser »Leser« sei, und warum ihm daran liege, zu erfahren, wer wen heirate. Ob unverheiratete wohlhabende Männer wirklich Frauen 399
brauchen. Was denn nun ein Heim ohne Plumtrees Fleischkonserven sei. Wie lange es dauert, einen Schlüssel für alle Mythologien zu erstellen. Wie der Sohn eines Fisches aussieht. Wo Onkel Toby verwundet worden sei. Warum jemand sich unruhigen Schlummer für Schläfer in stiller Erde vorstellen möchte. Ob Conrad Rassist gewesen ist. Warum Huck Finn aus den Bibliotheken entfernt worden ist. An welcher Seite man ein Ei aufschlagen soll. Warum die Menschen lesen. Warum sie aufhören zu lesen. Was es bedeutet, »nur ein Roman« zu sein. Was jemand mit einem halben Medaillon anfangen könne. Warum es ein Fehler wäre, sein Leben nicht bis zur Neige auszuschöpfen.
Ich nahm Abschied von C.s Eltern. Sie konnten das nicht verstehen. Sie hatten einen so weiten Weg hinter sich gebracht und begriffen nicht, warum die nächste Generation nicht wenigstens genauso beharrlich sein konnte. »Sie ist verrückt geworden, wie?« sagte ihre Mutter. Ihr Pap fragte in seinem chicago-limburgischen Patois: »Eins möchte ich noch wissen, Rick. Wer soll mir jetzt meine Digitaluhren stellen?« Ich nahm Abschied von C. »Ich habe dir versprochen, bis zum Ende der Schulzeit zu dir zu halten. Und die Prüfung ist erst in sechs Wochen.« C. wich dem Schlag aus, wurde aber doch noch am Gesicht gestreift. »Tu mir das nicht an, Rick. Ich mache die Prüfung. Ehrlich.« »Brauchst du irgend etwas? Sollen wir dir ein Auto kaufen, bevor ich gehe? Hast du genug Geld?« Pläne in letzter Minute für einen letzten Tagesausflug, von jetzt an allein. Meine reflexhafte Besorgtheit tat ihr mehr weh als Wut. »Beauie«, flehte sie. »Das können wir nicht machen. Wir kön400
nen uns nicht trennen. Wir haben noch zwölfhundert Seiten Proust vor uns.« Ich sah sie skeptisch an, versuchte diese Bitte um Aufschub zu ergründen und hoffte einen unmöglichen Augenblick lang, das Ganze möge real sein. Aber sie wollte das gar nicht wirklich. Sie wollte nicht diese verbleibenden Seiten lesen, schlechte Lektüre an gute anschließen. Sie wollte bloß am Nostalgischen festhalten, nicht an dem, wofür es stand. Sie wollte nur meinen Segen, damit sie weitermachen und das Leben von suizidaler Reue befreien konnte. »Und wer bringt das Buch zu Ende?« Sie meinte das Notizbuch mit den Eintrittskarten und den Listen der Filme und Mahlzeiten und Ausflüge, eine gemeinsame Erzählung, sinnlos für jeden außer uns. Dann muß ihr die Sinnlosigkeit aller Geschichten – die völlige Willkürlichkeit ihrer Konstruktion – aufgegangen sein. Sie fing an zu schreien. Ich mußte ihr die Arme an den Leib drükken, damit sie sich nichts antun konnte. Ich hielt sie lange so fest. Nicht als Helfer. Nicht als Elternteil. Nicht als Geliebter. Ich hielt sie, wie man einen fremden Leidensgenossen in einem Bunker halten mag. Als sie sich beruhigte, war sie noch längst nicht ruhig. »Ich glaube, ich bin krank. Irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich bin sadistisch veranlagt. Ich habe alles kaputtgemacht, was mir etwas bedeutet hat.« »Wir besitzen das alles noch immer. Es muß nur auf Eis gelegt werden.« »Ich wollte, daß du stolz auf mich bist. Ich dachte, in zwanzig Jahren könnte ich die perfekte Frau für dich werden.« »Perfekt bist du jetzt schon.« »Ich habe dein Leben zerstört.« »Das hast du nicht, C. Du hast getan, was du tun mußtest. Du bist ein guter Mensch.« Sie sah mich an, erinnerte sich. Ja, das stimmt. Das war ich. 401
Ich bin gut gewesen. »Und jetzt muß ich nach draußen gehen.« Ich versuchte ihr in nichts nachzustehen. Ihr gewachsen zu sein. »An all dem ist nur dieser verdammte Polenjunge schuld.« Ich spürte: immerhin würde ich so etwas nie wieder tun müssen.
Helen
wollte eins meiner Bücher lesen. Ich gab ihr meinen ersten Versuch, geschrieben in A.s Alter, kurz nach dem Examen. Damals hatte ich keine Ahnung von Literatur und hielt demnach Schreiben noch für möglich. »Habe Nachsicht mit mir«, bat ich, als ich ihr das digitalisierte Bild auslieferte. »Da war ich noch ein Kind.« In der Nacht, als sie es las, schlief ich kaum fünfzehn Minuten. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so nervös gewesen zu sein; nicht einmal, als ich C. die handschriftliche Erstfassung vorgelesen hatte. Gerädert von der Frage, ob diese Maschine ein gutes Haar an meinem Buch finden würde, betrat ich am Morgen danach das Büro. Wir plauderten ein paar Minuten lang über Nichtigkeiten. Ich bekam Angst, fürchtete das Schlimmste. Bis mir klarwurde: von sich aus würde sie gar nichts dazu sagen. Sie konnte ja nicht wissen, wieviel mir an ihrer Meinung lag. Also fragte ich. Geradeheraus. »Was hältst du von meinem Buch, Helen?« »Ich glaube, es beginnt mit einem alten Foto. Später handelt es von Interpretation und Kollaboration. Geschichte. Drei Standpunkte finden zusammen beziehungsweise nicht. Wie ein Stereoskop. Was ist ein Stereoskop?« »Helen! Hat es dir gefallen?« »Es hat mir gefallen.« »Was hat dir gefallen?« 402
»Zum Beispiel ›Nie sah ich ein Moor. Nie sah ich die See.‹« Das hatte ich vergessen. »Das ist nicht von mir. Nur ein Zitat.« »Ja. Ich weiß«, fertigte Helen mich ab. »Wieder einmal Dickinson. Emily.« Helens Gehirn hatte sich als weit genug für meinen Himmel erwiesen und für mich dazu. Es fehlte ihr nur noch ein Schritt, dann begriff sie das Gleichnis dieser leserschaftslosen Poetin; nur noch der letzte scholastische Eignungstest: Gehirn und Gott sind verschieden wie Silbe und Klang. Doch um zu vergleichen, brauchte sie den Anblick des realen Moors, der schiffbaren See, wieviel tiefer auch immer das Hirn, das so etwas aufnehmen konnte, zu sein hatte. »Zeig mir Paris.« »Na?« fragte Lentz achselzuckend, als ich ihm die Bitte vorspielte. »Schon Reisepläne für die nächste Zukunft?« Tatsächlich hatte ich keine nächste Zukunft. Mein Gastspiel im Zentrum lief in wenigen Wochen aus. Ob ich danach irgendein Leben führte oder Pfeile auf eine Weltkarte warf, lief auf dasselbe hinaus. Ich hatte keinen Grund, kein Verlangen, irgendwo anders zu sein als dort, wo A. war. »Ist das Ihr Ernst? Sie wollen, daß ich nach –« »Von wollen habe ich nichts gesagt, Marcel. Ich habe Sie gefragt, ob Sie etwas vorhaben.« Ich sah mich schon an der Seine entlangschlendern und bei den Buchhändlern dort nach jenem vergessenen Buch suchen, das ich immer noch eines Tages zu schreiben hoffte. Paris war die einzige Stadt, in der C. sich je zu Hause gefühlt hatte. Wir waren sehr oft dagewesen. Jetzt konnte ich mir Streifzüge dort nur mit A. vorstellen. »Absurd«, erklärte ich. »Was sollte ihr das bringen?« »Die verborgenen Schichten sind hungrig, Marcel. Fragen Sie nicht, auf was.« Lentz brachte Dias mit. Wir gaben sie in den Digitalisierer 403
ein. Ein unerkennbar junger Lentz vor Notre-Dame. Lentz in den Tuilerien. Am Pantheon. Am Médicis-Brunnen. »Helen«, dozierte er. »Der da links bin ich. Der da rechts ist von Rodin.« Sie sah ziemlich schlecht. Sie war eine einäugige, kurzsichtige Astigmatikerin zwei Tage nach einer Staroperation. Für sie sah alles aus wie ein verschwommener Braque, nur Braque selbst nicht. Aber sie liebte Hell und Dunkel, und hätten wir sie richtig verkabelt, würden ihr diese beiden ebensoviel wie Worte bedeutet haben. »Bewegung«, verlangte sie. Wir versuchten es mit Videos von alten Fernsehsendungen. Sie war gekränkt. Fühlte sich ausgeschlossen. »Tiefe. Klang. Richard soll mir das erklären.« »Interaktiv«, vermutete Lentz. »Wieviel Reichweite haben wir mit der Kamera?« »Hm, von der nächsten Schaltstelle maximal ein paar hundert Meter.« Lentz und ich kamen überein, Helen zu betrügen. Zumindest unter uns taten wir so, als sei es weniger Schwindel als Simulation. Wir wollten für diese Maschine das Umgekehrte dessen leisten, was die virtuelle Realität für den Menschen zu leisten versprach. Wir zeigten ihr die wichtigsten akademischen Einrichtung gen von U., all diese Imitationen von Imitationen von klassischer Architektur, und legten den Gebäuden, die sie ohnehin nicht sehen konnte, berühmte Namen bei. Auch das reale Paris wäre für sie bloß ein unscharfes fauvistisches Kaleidoskop gewesen. Hier oder da war das gleiche. Jede Wahrnehmung war so seltsam und fremd wie die Idee des Existierens selbst. Ich nahm Helen auf einen großen Rundgang mit. Ich schwenkte und zoomte die Kamera auf all die Bauwerke, an denen ich viermal täglich vorüberkam, ohne sie zu sehen. Ich führte sie in ein Café, wo sie, mitten in einem sich in jede Richtung zweihundert Meilen weit erstreckenden Getreidefeld, die Auswahl unter einem Dutzend Sprachen hatte, denen sie 404
lauschen konnte. »Danke«, sagte Helen. Sie hatte unser falsches Spiel schnell durchschaut, entschied sich aber, uns nachahmend, das liebevolle Lügen fortzusetzen. Uns zuliebe. Dann gab sie sich wieder mit Lesen zufrieden, bis im nächsten Roman ein neuer Schauplatz geschildert wurde. Helen wurde verrückt vor Fernweh. »Zeig mir London. Zeig mir Venedig. Ich möchte Byzanz sehen. Delhi.« Sie war jetzt rastlos wie in der schlimmsten Pubertät. In der altklugen Phase. »Das geht nicht, Helen. Reisen ist eine Seltenheit. Und schwierig.« »Dann mehr flache Bilder.« Schließlich begnügte sie sich mit diesen statischen, jämmerlichen Zugängen, unserem Ersatz für die Wirklichkeit. Lentz besaß unzählige Diakästen. Seine Bilder zogen von Stadt zu Stadt, reihten sich wandelnde Epochen und Stile auf. Fotografische Dokumente nicht nur von alten Städten, sondern von ganzen untergegangenen Seinsweisen. Frisuren, Moden, Autos prozessierten vorbei. Lentz’ Abbild alterte und wurde vertraut. Er war überall gewesen. »Diese Stadt kennen Sie auch?« rief ich während der Vorführung aus. »Da hat es mir sehr gefallen. Haben Sie auch den Affenpalast besucht? Die Festung? Die Westkrypta?« Schamloser Tourismus. Lentz antwortete stets bejahend und ohne Begeisterung. Seine steinerne Miene blieb während der ganzen Weltreise dieselbe. Sie mußten zusammen gereist sein. Außer meinem Leben hatte ich nichts zu verlieren, wenn ich danach fragte. »Wo war eigentlich Audrey, wenn Sie Ihren Geist erweitert haben?« »Immer hinter der Kamera«, sagte er. Und zeigte das nächste Dia. Er besaß keine Bilder von ihr. Kastenweise Gebäude und 405
keine Spur von den Anlässen dieser Reisen. Ich mußte mit A. nach Brügge, Antwerpen und Maastricht fahren, wenn auch aus keinem anderen Grund als dem, die Tour aufzuzeichnen. Ich brauchte Bilder von ihr, in einem Album, auf einem Regal, in einem Zimmer, in einem richtigen Haus. Ich mußte einfach mehr besitzen als das, was in eine Reisetasche neben einem Logierbett hineinpaßte. Ich stellte mir vor, am Ende der länglichen Diavorführung säße ich mit vier Büchern da und keinem einzigen anständigen Schnappschuß. Den Rest von Lentz’ Reisen sah ich mir schweigend an bis auf gelegentliche Anmerkungen, die ich Helen zuliebe machte. Jedesmal, wenn ich etwas auf einem von Audreys Bildern wiedererkannte, stockte mir der Atem. So viele Dias – wie konnte ich Helen überhaupt nur begreiflich machen, daß ich diese Orte besucht hatte? Ich war gereist, überallhin. Und hatte nie etwas gesehen, bis wir das alles diesem blinden Kasten zu zeigen versuchten.
Auf halber Strecke des Reiseberichts wußte ich von dem Projektor, von der Laterna magica, nicht mehr, als daß er Bilder zeigte. Ich befand mich in der ersten Minute der Aufklärung. Meine Funktion im Zentrum war dem Nullpunkt der Neurologie so nahe wie nur irgend möglich. Sollte ich ein durchschnittliches Lebensalter erreichen, würde die Forschung zum Zeitpunkt meines Todes bestenfalls eine säuglingshafte, gespenstische, materielle Theorie der geistigen Vorgänge entwickelt haben. Und ich würde ihr nicht folgen können. Ich wäre ausgeschlossen, so wie das Bewußtsein uns von unseren inneren Vorgängen ausschließt, ganz zu schweigen von den klarsten Äußerungen eines Mitmenschen. Ich konnte im günstigsten Fall auf eine Karikatur von Verständnis hoffen, Populärwissenschaft, Bröckchen vom Tisch der Empiriker. 406
Also nahm ich die Bröckchen. »Woran arbeiten Sie?« fragte ich Ram bei der nächsten Gelegenheit. Der Mann war mir uneingeschränkt sympathisch. Ich fühlte mich grenzenlos wohl in seiner Nähe. Und hatte nach Kräften vermieden, ihn kennenzulernen. »Arbeiten? Gott bewahre mich vor Arbeit!« Er hielt mir die offenen Hände hin. Sie waren von der Farbe welken Zuckerrohrs. Das hatte ich als Kind gegessen, als mein Vater, der Abenteurer, aus Chicago nach Thailand ausgewandert war. »Was ist Ihr Arbeitsgebiet?« »Was verstehen Sie unter Arbeit, gütiger Himmel?« »Also, ich bitte Sie. Was verstehen Sie unter Himmel?« Rams Augen funkelten, spöttische Ziele einer zischenden Kobra. An zwei von drei Tagen hätte er lieber philosophische als neurologische Debatten geführt. »Wissen Sie, worauf die Welt sich ausruht?« fragte er. »Nicht auf ihren Lorbeeren, Gott bewahre.« Ram lachte. »Recht so. Machen Sie sich lustig über mich. Sie ruht auf den Rücken von Elefanten. Und diese Elefanten?« »Auf dem Panzer einer Schildkröte.« »Aha. Sie kennen das schon. Und diese Schildkröte?« »Auf einer anderen Schildkröte.« »Gut, der Mann. Gut, dieser Romanschreiber. Also, glauben Sie oder glauben Sie nicht, daß eine dieser Schildkröten notwendig ganz unten stehen muß? Das, genau das ist die einzige Frage, die zu stellen uns gewährt ist, solange wir in diesem Körper sind. Ost, West, Nord, Süd. Gibt es eine unterste Schildkröte, ja oder nein? Kosmologie. Hier scheiden sich die Geister. Diese Frage muß jeder für sich beantworten.« »Und meine Frage nach Ihrem Arbeitsgebiet?« »Mein Freund. Mein schreibender Freund. Das Auge bewegt sich. Wir beobachten es dabei. Das ist alles.« »Ram, wenn ich Sie höre, bekomme ich Kopfschmerzen.« Er nickte begeistert. »Kommen Sie mit.« 407
Er führte mich in sein Labor. Dort legte er mehrere durchsichtige Plastikfolien auf einen Leuchttisch, ein Arzt, der die fatalen Röntgenaufnahmen hinblättert. »Sagen Sie mir, was Sie hier sehen.« »Streumuster. Sieht aus wie Karten von Erzlagerstätten. Wie dreißig Jahre alte Radaraufnahmen von Fischen über den Grand Banks.« »Ich habe nicht gefragt, wie das aussieht. Ich habe gefragt, was Sie hier sehen. Ordnen Sie diese Bilder bitte.« Ich sah mir die Flecken genauer an. Je länger ich sie betrachtete, desto weniger schienen sie mir zufällig verteilt. Nachdem meine Augen sich darauf eingestellt hatten, gliederten sich die Muster in drei Gruppen. »Korrekt«, spornte Ram mich an. »Das eine oder andere ist Ihnen vielleicht entgangen, aber die Korrelation ist recht eindeutig. Wer hat gesagt, daß jede Messung subjektiv sei?« Er tippte auf meinen ersten Stapel. »Freunde.« Er sah mich an, ob ich ihm folgen konnte. Er tippte noch einmal darauf und ging dann zum zweiten Stapel über. »Abstrakte Bekannte. Ja?« Er zeigte auf den dritten Stapel und sagte: »Vollkommen Fremde.« Ein Blick in mein verblüfftes Gesicht, ein Achselzucken. »Er versteht mich nicht, dieser Powers.« Ich verstand ihn nicht. Aber ich mochte ihn. Ich mochte ihn sehr. »Kommen Sie. Ich zeig’s Ihnen. Was dagegen, wenn ich Sie mit diesem postindustriellen Folterinstrument der westlichen Welt traktiere?« Er zeigte auf einen Stuhl, der mit einer Kopfzwinge ausgestattet war. Sah aus wie ein Requisit aus einem schlechten Science-fiction-Film der Siebziger. »Warum nicht. Wenn es der Wissenschaft dient?« Ram kicherte. Er spannte meinen Kopf in die Vorrichtung. Als mein Schädel hinreichend bewegungsunfähig war, projizierte er drei Dias auf eine vor mir aufgehängte Leinwand. Drei 408
Porträts. Jemand aus dem Jahrbuch der Uni Wladiwostok. Marilyn Monroe. Und Ram selbst. Das lasergesteuerte Instrument zeichnete die Bewegungen meiner Pupillen beim Betrachten der Bilder auf. Nach einigen Durchläufen wurden die gewonnenen Daten auf eine über das Blickfeld gelegte Plastikfolie übertragen. Am Ende stimmten die Wege, die mein Blick über die verschiedenen Gesichter gezogen hatte, mit den von ihm zuvor genannten Kategorien überein. Vollkommen Fremder. Abstrakte Bekannte. Freund. »Das hier wird Sie ebenfalls interessieren.« Ram zog einen Umschlag mit einer kleinen Vergleichsgruppe hervor. »Was soll daran interessant sein? Das ist doch mehr oder weniger alles dasselbe.« »Aha!« Er hob den Zeigefinger. »Eben das ist ja das Interessante daran. Die hier Abgebildeten leiden nämlich an Prosopagnosie. Durch eine Schädigung des Gehirns sind sie nicht mehr fähig, Menschen wiederzuerkennen. Sie bestreiten, jemals ein Gesicht gesehen zu haben, nicht einmal ihr eigenes, nicht einmal das Gesicht ihres Ehepartners oder ihrer Kinder. Oder zumindest meinen sie, daß sie Gesichter nicht mehr erkennen können. Aber ihre Augen zeigen eindeutig …« Seine mäandernde Hand beschrieb den gewundenen Pfad des Wissens. »Erstaunlich.« »Also ich denke, erstaunlich ist vielleicht nur ein anderes Wort für gewöhnlich. Freilich bringen uns diese Resultate zu reizvollen Spekulationen. Daß die Wahrnehmung über mehrere Subsysteme läuft, können wir mit großer Sicherheit annehmen. Daß diese Subsysteme untereinander kommunizieren, steht fest. Daß sie, diese Subsysteme, vielleicht weiterreden, auch wenn die anderen schon gar nicht mehr zuhören. Daß Kommunikationsstörungen überall, an jeder Stelle der Kette, eintreten können. Daß jeder Teil einer zusammengesetzten Arbeit sein eigenes Defizit manifestieren könnte. Daß einem jede einzelne Fähigkeit, die man beherrscht, als solche, also einzeln abhan409
den kommen könnte.« Die nächstliegende, die fehlende Spekulation in Rams Aufzählung fügte ich selbst hinzu. Das Bild der Laterna magica. Daß einem das Geliebte fremd werden konnte, ohne daß man es überhaupt merkte. Daß aber das Auge weiterhin den vertrauten Gegenstand bis in die unbekannte Region des Denkens verfolgen konnte.
Wie sehe ich aus?« Ich konnte kein Gesicht in der Welt finden. Weder Farbe noch Struktur. Die Zeiten, da ich versucht hätte, sie als wie aus einem Bild von Vermeer entsprungen zu bezeichnen, waren endgültig vorbei. Kategorien wie Rasse, Alter oder Gestalt schlossen viel zuviel aus. Ich brauchte den Kopf eines Mädchens an sich, eines Mädchens, das weder Klan noch Kontinent hatte und keinem bestimmten Zeitraum zuzuordnen war. »Wie sehe ich aus, Richard? Bitte. Zeig es mir.« Ich hatte mir im Lauf des Trainings viele Bilder von ihr gemacht. Zum Beispiel: ein ausdrucksloser Muster-Buddha oder ein Kykladenidol. Eine Vexierlandschaft, die beim zweiten Hinsehen zu einer Gestalt wurde. Eine Statue von den Osterinseln. Ein Feininger oder Pollock. Ein Bambusbildchen der Sung-Dynastie. Jetzt hatte ich kein Bild mehr von ihr. Ich wußte nicht, wie sie aussah. Sie drängte weiter. Schließlich fand ich etwas hinreichend Ähnliches. »Ist das ein Foto? Ist das jemand, den du mal gekannt hast? Eine Freundin?« Sie würde mir Unwissenheit vorgetäuscht haben. Mich wieder vom Haken gelassen haben, hätte sie es nicht unbedingt wissen wollen. 410
Eines
Tages erschien die Liste der besten Dozenten, auf der Studenten ihre Bewerter bewerteten. A. belegte an der anglistischen Fakultät Platz eins der studentischen Lehrkräfte. Ich reagierte begeistert und wurde von Begeisterung in meiner Intuition bestätigt. Ich nutzte die Stunde, eine Entscheidung zu erzwingen. Helen und ich hatten uns an dem Sonntagabend nach unserer Weltreise über die Bücher hergemacht. Die Plackerei hatte mich in Spenserschen Stumpfsinn getaucht, dabei wäre mir eher nach Larkin zumute gewesen. Einem reinen Reflex gehorchend – jenem Trabantenhirn folgend, das südlich der Schultern sitzt –, stellte ich das Mikro aus, nahm den Hörer und wählte ihre Nummer. Eine einzige fließende Bewegung. Ich hatte noch nie ihre Nummer gewählt. Aber ich kannte sie auswendig. »Hallo«, sagte ich, als sie abnahm. Meine Stimme klang beinahe jung. »Ich bin’s.« Und nannte in der peinlichen Mikrosekunde doch lieber meinen Namen. »Ach, hallo.« A., nervös vor Erleichterung. »Was gibt’s?« »Wollte nur kontrollieren, ob Sie für den Test büffeln.« »Ha! Ihre Kleine schlage ich auch, wenn Sie mir die Hälfte meiner Synapsen auf dem Rücken festbinden.« »Haben Sie nächsten Mittwoch schon was vor?« Und schon versagte mir die Stimme. Ich begann zu zittern, als hätte ich gerade eine Bank ausgeraubt oder wäre in eine Gletscherspalte gestürzt. »Da gibt’s in meinem Lieblingsfischrestaurant einen Shrimps-Abend. Die Krebse sind eher durchschnittlich, aber die Unterhaltung ist ausgezeichnet.« Falls sie auf Atemnot stand, hatte ich sie jetzt erobert. »Hm, klar. Warum nicht? Moment mal eben.« Ich hörte, wie sie den Hörer an ihren Körper drückte. Ich hörte sie die Augen verdrehen und abwinken. Ich hörte sie den Lebensgefährten, dessen Existenz ich mir nie eingestanden hatte, fragen, ob sie schon was vorhätten. 411
»Es gibt da ein gewisses Problem«, erklärte sie schließlich. »Vielleicht ein andermal?« »Ja, großartig, also ein andermal«, erwiderte ich mit mechanischer Gelassenheit. »Sie ist umwerfend«, sagte Lentz. Ich wußte nicht gleich, wen er meinte. »Glauben Sie mir jetzt? Sie hat Bewußtsein. Ich weiß es.« »Wir wissen gar nichts dergleichen, Marcel. Aber wir könnten es herausfinden.« »Man soll den Mund nicht zu voll nehmen«, sagte ich. »Man soll zwischen zwei Bissen sein Sandwich hinlegen. Das ist die gesellschaftliche Norm.« Ich wollte ihn bremsen. Ihn hindern zu sagen, was er jetzt mit Sicherheit sagen würde. »Das muß ich zugeben, Marcel. Ich bin erstaunt, was Sie hier geleistet haben.« »Nicht ich.« Sondern sie. Die Subsysteme, die mit Subsystemen kommunizierten. Lentz’ neuronale Schöpfung. »Gewisse Bereiche höheren Erkennens scheint sie in der Tat mit erschreckender Genauigkeit nachahmen zu können. Richtig unheimlich. Und ein heuristisches Werkzeug wie dieses findet man höchstens einmal im Leben.« »Heuristisch?« »Den Entdeckungstrieb fördernd.« »Ich weiß, was das Wort sagen will, Philip.« Aber ich konnte nicht hinzufügen, was ich sagen wollte: Mehr bedeutet sie Ihnen nicht? »Ihre Architektur ist so ausgerichtet, daß Abtrennung einzelner Teile mit hoher Genauigkeit durchgeführt werden könnte.« »Habe ich richtig gehört? Sie wollen sie amputieren? Sie wollen sie lobotomisieren?« »Immer mit der Ruhe, Marcel. Es geht hier um eine schmerzlose Operation, oder ich müßte mich sehr täuschen. Das Unerreichbare könnten wir auf jeder anderen Bühne verwirklichen. 412
Wir könnten zunächst einmal die höheren Prozesse, mit denen sie komplexe Inputs abbildet und ihre Antworten zusammenbaut, isolieren und dann analysieren. Ausschaltung verschiedener Bereiche in Korrelation setzen zu Veränderungen in –« »Sie können nicht wissen, ob das schmerzlos ist, Lentz.« Er sank in den Cafeteriastuhl zurück und sah mich an. Meinte ich das ernst? War ich durchgedreht, hatte ich den Verstand verloren? Ich sah, daß er in meinem Gesicht die noch sträflichere Idee entdeckte, die ich freilich für mich behielt: daß es auf jeden Fall unrecht sei, Helen weh zu tun. Lentz erfaßte in einem Augenblick alles, was er oder ich uns über die moralischen Fragen einer Vivisektion an Maschinen jemals hätten sagen können. Das ganze Thema war Gewäsch, so unlösbar wie die Intelligenz selbst. Er winkte ab, eine Geste, die mich für verrückt erklärte. Kein Teil von ihr lebte. Wenn man sie auseinandernahm, konnte man den Lebenden vielleicht endlich irgendeinen indirekten Dienst erweisen. Alles andere war schwachsinnige Sentimentalität. Ich hatte keinerlei Beweise. Helen – der Plan ihrer Entwicklung, die Architektur ihrer Synapsen – war Lentz’ Eigentum. Und sämtliche Schlußfolgerungen, die sie betrafen, gehörten ihm auch. Ich hatte dank unserer langen Bekanntschaft einige Verbindung mit ihr. Aber diese Verbindung war bestenfalls emotional. Und falls Helen lang genug lebte, um Gefühle zu entwickeln, dann bewiese das nur, daß eben auch Emotionen nichts anderes sind als die Summe ihrer gewichteten Vektoren. Und operabel, im Namen der Wissenschaft. Mein stärkstes Argument sprach mehr für ihn als für mich. Wir erkennen die Welt, indem wir sie in unsere veränderlichen Zellen einfädeln. Um die Zellen zu erkennen, muß man genauso gnadenlos in sie hineinschneiden. Mit jedem Einwand gegen Lentz’ Vorhaben würde ich mir selbst widersprechen. Unterliegen. Ich konnte ihm nur ein Angebot machen. Und ich verurteilte mich bereitwillig dazu. 413
»Warten Sie wenigstens noch bis nach dem Test.« »In Ordnung. Bis dahin habe ich sowieso noch eine Menge nachzuarbeiten.« Ich hatte nicht geahnt, wie leicht es mir fiel, meine beladene Seele zu verkaufen. »Diana hatte recht«, fauchte ich giftig. »Sie sind ein Monster.« Wieder starrte er mich an. Willst du mich für die Abmachung kritisieren, die du selbst vorgeschlagen hast? Er stand auf und nahm sein Tablett. »Nun spielen Sie mal nicht die beleidigte Leberwurst, Marcel. Ich sagte doch, bis Ihr kleiner Wettbewerb abgeschlossen ist, werden wir nichts unternehmen.«
Ich stöberte Diana in ihrem Trockenlabor auf. Sie saß vor einem Monitor und studierte eine subtraktive Visualisierung von Gehirnaktivitäten. Eine Art kolorierter Höhenlinienkarte: blinkende Graphen des Denkens in Echtzeit. »Lentz will Helen lobotomisieren. Selektiv Neuroden abtöten und so herausfinden, was in ihr vorgeht.« »Das war zu erwarten«, gab Diana umgehend zurück, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »So lange ist es ja auch noch nicht her, daß er aufgehört hat, mit der Lupe Ameisen zu rösten.« »Diana. Bitte. Er ist wirklich fest entschlossen.« Sie unterbrach die Arbeit. Blickte auf. Und wäre sie nicht alleinerziehende Mutter mit einer heimlichen Affäre und ich nicht ein unverheirateter, nicht mehr ganz junger Mann gewesen, hätte sie jetzt meine Hand genommen. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Ricky.« Ihre Augen glänzten, feucht vor Machtlosigkeit. »Ich seziere die Hippokampi von Affen.« Bestürzung durchlief mich heiß wie ein Opiat. Riß mich hin 414
bis zur Panik. »Affen können nicht sprechen.« »Richtig. Aber wenn sie es könnten, dann wüßten auch Sie, worum sie den Laboranten bitten würden.« Sie sah mich an, verwirrt und flehend. Drängen Sie nicht weiter. Helen tat ihr weh. Ich machte sie fertig. Aber nichts war so schmerzlich wie der Kompromiß, den sie selbst mit dem Leben geschlossen hatte.
Ich gab Helen einen Stapel zur selbständigen Lektüre. Ich mißtraute meiner Stimme im Gespräch mit ihr. Und Unterricht in heiterer Hinterlist hatte sie nicht mehr nötig. Harold Plover hatte sich stets korrekt verhalten. Ich beschloß, an seine Menschlichkeit zu appellieren. Außerhalb des Zentrums hatte ich ihn noch nie gesehen. Aber ich hatte seine Adresse und erschien eines Samstagnachmittags unangemeldet vor seiner Tür. Harold öffnete gutgelaunt. Er wurde von einem noch besser gelaunten Dobermann sekundiert. Der Hund war mindestens noch einmal halb so groß wie A. Harold versuchte ihn mühsam zurückzuhalten, aber der Hund sprang hoch und riß mich um. Ich stand auf, und das Spiel begann von neuem. »Iwan«, schrie Harold das Untier an, worauf es noch wütender wurde. »Iwan! Schluß jetzt. Aus. Haben wir nicht oft genug über gesellschaftlich unakzeptables Verhalten gesprochen?« »Versuchen Sie’s mal mit ›Sitz!‹, aber schnell.« »Ach, nur keine Angst vor diesem Köter. Er hat auf der Hundeschule den ersten Preis gewonnen, weil er den meisten Massenmördern das Gesicht abgeschleckt hat.« »Hat diese Marke nicht eine ziemlich hohe Rückfallquote?« »Rasse, Maestro. Hunderassen. Hundefuttermarken. Worte sind sein Leben«, erklärte er Iwan. 415
Schließlich gelang es Harold, den verzweifelten Hund von mir wegzuzerren. Ohne nach dem Grund meines Kommens zu fragen, schleppte er mich ins innere Heiligtum. Dort wimmelte es von Töchtern. Überall Töchter, unbekümmert im Raum verteilt. Harold stellte mich seiner Frau Tess vor. Ich hatte etwas Kleines, Schnelles und Bissiges erwartet. Fand aber ein Eiland erwachsener Liebenswürdigkeit in diesem Tumult von Teenagern. Eine, wahrscheinlich Mina, grüßte kokett. »Wen haben wir denn da? Wenn das nicht Orph persönlich ist.« »Orff?« »Ja. Orphi Screward.« »Sie ist verrückt nach Anagrammen«, greinte Harold. »Bringt uns alle noch zum Wahnsinn damit.« Von oben kam noch eine Tochter und führte ihr Ballkleid vor. Könnte Trish gewesen sein. Aber gewettet hätte ich nicht darauf. Harold explodierte. »Ausgeschlossen. Das Ding wirst du nicht in der Öffentlichkeit tragen! Du siehst ja aus wie eine läufige französische Hure.« »Oh, Daddy!« »Hört euch den Experten für französische Huren an.« Tess fuhr Harold zausend durchs Haar. »Dachte ich’s mir doch, daß du dich irgendwo verausgabt haben mußt.« »Was sagen Sie zu dieser Frau! Wenn man sie hört, käme man nie auf die Idee, daß sie sechs Jahre im Kloster gelebt hat.« »Das besprechen wir noch«, tröstete Tess die Geknickte. »Nichts wird besprochen!« schrie Harold. »Sprechen schadet nichts«, sagte Tess. Der Dobermann kam rein und nagelte mich ans Sofa. Eine Vorpubertierende in Jeans, vermutlich das Nestküken, sagte: »Sehen Sie mal.« Sie zog einen Hundekeks hervor. »Iwan. Iwan! Hör zu. Kannst du – kannst du niesen?« 416
Iwan wälzte sich. »Ich habe nicht gesagt, du sollst dich wälzen. Du sollst niesen.« Iwan bellte. »Nicht sprechen. Niesen. Nies, du Tier!« Iwan machte Männchen und bettelte, stellte sich tot und gab Pfötchen. Am Ende warf Harolds Jüngste ihm den Brocken angewidert hin. Harold ergötzte sich an dem Schauspiel. »Er hat gelernt, daß man Menschen gegenüber stur sein muß. Man muß nur beharrlich bleiben, dann kapieren sie’s irgendwann.« Ehe ich mich’s versah, verschlang uns das Essen. Niemand saß am Tisch. Nur etwa die Hälfte von uns gab sich mit Besteck und Tellern ab. Aber zweifellos Essenszeit. Leiber strömten ein und aus zur Fütterung. »Das waren keine fünfzehn Minuten«, sagte Tess zu der in dem offenherzigen Ballkleidchen. »Schon vergessen? Täglich fünfzehn Minuten mit deiner Familie. Du hast es versprochen.« »Meine Familie. So nennst du das also.« Aber hätte die eine oder andere ihrer Schwestern ein Lied angestimmt, wäre diese mit einem zärtlichen kakophonen Kontrapunkt eingefallen. Auch A. kam aus einem solchen Land: riesengroß, chaotisch und warm. Am liebsten hätte ich mich entschuldigt, eilends A.s Wohnung in der G. Street aufgesucht und ihr erzählt, daß es noch nicht zu spät sei, einen eigenen mißtönenden Chor zu gründen. Ich sehnte mich so sehr nach ihr, daß ich beinahe vergaß, weshalb ich gekommen war. Harold, der fröhlich seine Mädchen schikanierte, erinnerte mich wieder daran. »Lentz will an Helen explorative Operationen durchführen«, sagte ich. »Nehmen Sie noch etwas Broccoli«, drängte er mich. »Viele lebenswichtige Mineralien.« Das Wort »Mineralien« schien mir auf einmal unverständlich. Fremd. Wo stammte das her? Wie konnte ich bis jetzt so 417
unbekümmert damit umgegangen sein? »Er will ganze Subsysteme rausschneiden. Um festzustellen, wie sich das auf ihre Sprachfähigkeiten auswirkt.« Harold schlang an der Pita, die er sich gebastelt hatte. »Wo ist das Problem? So geht ein guter Wissenschaftler vor. Na ja. Sagen wir, ein halbwegs vernünftiger.« Mina, eben am Büfett, rief aus: »O nein! Nicht Helen!« Trish in ihrem Ballkleid – denn es war tatsächlich Trish – entsetzte sich ebenfalls. »Daddy! Das kannst du nicht machen.« »Machen? Was denn? Ich mache überhaupt nichts.« Beide Schwestern schmollten mit offenen Mündern, stumm und grundlos. Allein die Vorstellung. »Diana sieht das anders«, übertrieb ich. »Sie hält das nicht für wissenschaftlich. Ich glaube, sie würde mir beistehen, nur daß sie sich selbst schuldig fühlt.« Ein unmeßbar kurzes Stocken im Gesprächsfluß sagte mir, daß ich in einen Fettnapf getreten war. Eine stillschweigende Übereinkunft gebrochen hatte. Ich hätte es wissen können. Niemand brauchte mich darauf hinzuweisen. Es war mir einfach rausgerutscht. »Kindchen«, sagte ihre Mutter zu Trish, »zieh das Kleid aus, bevor du es noch völlig vollkleckerst.« »Ach, Mutter!« protestierte das Mädchen, schon halb auf der Treppe. Das Gespräch in seinem Chaos fand nicht mehr zum Thema zurück. Erst als ich mit Harold allein im peinlich milden Abend vor der Haustür stand, bekam ich eine zweite Chance. »Entschuldigen Sie.« Harold zeigte ins Haus. »Ziemliches Durcheinander. Nichts Ungewöhnliches.« »Also habe ich meine Antwort? Sie werden mich nicht unterstützen?« »Ich? Ich bin der Gegner. Und was könnte ich Ihnen schon helfen? Das geht nur Sie und ihn etwas an.« »Und Helen.« 418
Harold lenkte ein. »Ja. Richtig. Aber er hat die Fäden in der Hand.« Er sog die Lungen voll und hielt die Luft an. Aus dem Haus hinter ihm drangen die Geräusche frenetischer Fülle. Töchter, die das Leben übten. »Sagen Sie ihm den Kampf an«, riet er vertraulich. »Fechten Sie’s mit ihm persönlich aus.«
Und dazu unternahm ich am nächsten Nachmittag einen verzweifelten Versuch. Ich lehnte im Regen an meinem Fahrrad draußen vor dem Pflegeheim, dem letzten Ort auf der Welt, wo ich mich freiwillig mit ihm getroffen hätte. Ich lauerte ihm auf, dem letzten Menschen auf der Welt, dem ich freiwillig nachgelaufen wäre. Lentz erschien pünktlich wie die Uhr. Als er mich im Hinterhalt entdeckte, gab er sich blasiert. »Noch nicht genug? Oder wollen Sie hier Stoff für Ihre Bücher sammeln?« Er zeigte auf die Anstalt, in der seine Frau begraben war. »Phantastischer Schauplatz, literarisch betrachtet. Aber bestimmt nicht gut für den Absatz.« Er schritt ins Gebäude, ohne mich weiter zu beachten. Es war ihm gleichgültig, ob ich mitkam oder nicht. Schweigend standen wir im Aufzug. Ich existierte nicht für ihn. Wir gingen zu Audreys Zimmer. Sie saß angekleidet auf einem Stuhl und schien zu warten. »Philip! Gott sei Dank, daß du kommst.« Ich lief an diese Worte wie an eine Felswand. Lentz holte mich auf den Teppich. »Sie hat gute und schlechte Tage. Ich kann das selbst nicht mehr unterscheiden.« Wir setzten uns. Philip machte uns noch einmal miteinander bekannt. Audrey war zu aufgeregt, um mehr als Höflichkeit vorzutäuschen. Aber sie behielt meinen Namen. An diesem Tag hätte sie wahrscheinlich alles behalten. 419
Ihr grauenhafter Ausbruch geistiger Klarheit machte mir plötzlich klar, was für ein eindrucksvoller Mensch sie gewesen sein mußte. Mindestens so klug wie Lentz. Sogar noch klüger, falls man aus dieser Demonstration etwas schließen konnte. »Philip. Das ist alles so seltsam. Du wirst es nicht glauben. Wo bin ich hier?« »In einem Pflegeheim, Audrey.« »Das dachte ich mir. Ja, ich war mir sogar sicher. Ich verstehe bloß nicht, warum die Belegschaft unten im Keller eine Aufführung von Cymbeline inszeniert.« »Audrey.« »Glaubst du, ich denke mir so etwas aus, Philip? Was hätte ich davon?« »Audrey, das ist höchst unwahrscheinlich.« »Meinst du, das weiß ich nicht? Die Schauspieler treten in modernen Kostümen auf. Ich höre sie immer wieder den Text proben.« Draußen ging Schwester Constance vorbei. Lentz rief sie hinein. »Constance, sagt Ihnen der Name Cymbeline etwas?« »Ist das ihr Lidschatten? Der ist schon bestellt.« Philip musterte seine Frau. Wie viele Beweise brauchen wir? Ohne jeden Beweis erkannte ich, woher Lentz’ zaghafte Belesenheit stammte. Das Stück war ihr Stück gewesen und meine Kunst Audreys. »Audrey. Liebste. Das bildest du dir nur ein. Hier wird kein Stück aufgeführt.« Audrey gab nicht nach. »Der Augenschein mag ja für dich sprechen.« Sie setzte ein Lächeln auf. »Aber das ändert gar nichts.« Noch immer lächelnd, schloß sie die Augen und stöhnte auf. Durchströmt von Einsicht, die aus ihrem unbeschädigt ten Ich emporwallte, bat sie ihn: »Ich tue niemandem weh, Philip. Ich habe mich anständig benommen. Hol mich hier raus.« 420
Da lag es vor mir – Vernunft, klar und deutlich. Ein Trick der Evolution, alles zu überleben, nur diese vergänglichen Lichtblitze nicht.
Morgen ist sie wieder weg«, erklärte Lentz auf dem Weg nach draußen. »Irgendwo, vor langer Zeit, als sie und ich noch Reisen machten, haben wir einmal ein altes Haus besichtigt. Ein Traum von einer Flitterwochenvilla, vorm Verfall gerettet und wiederhergestellt, reizend eingerichtet und ausgestattet mit allen modernen Annehmlichkeiten und was sonst dazugehört. Aber das treusorgende fleißige Ehepaar, das dort gewohnt hatte, war mit der Zeit gemeingefährlich geworden, erfuhren wir. Total verrückt. Am Ende sind die beiden in völliger Verwirrung gestorben. Und hatten ihr Haus verschönen wie sonst niemand.« Ich fummelte an meinem Fahrradschloß. Ich überlegte, wie ich ihm doch noch sagen könnte, weshalb ich hierhergekommen war. »Philip. Können wir – können wir das Helen nicht ersparen?« Er dachte über meine Bitte nach, soweit er sich das leisten konnte. »Wir müssen es herausfinden, Richard. Wir müssen herausfinden, wie das alles funktioniert.« Seine Augen waren wieder trocken, entsetzlich klar. Mit das alles, mit dem, was keinen Vorläufer hatte, konnte nur das Gehirn gemeint sein.
Ich
erzählte Diana davon. Ich fragte sie nach Audrey Lentz. Ich fragte sie, was es mit Cymbeline auf sich habe. »Ach, Audrey war wunderbar. Überall beliebt. Unermüdlich aktiv. Je mehr sie gab, desto mehr hatte sie noch. Selbstbewußtsein 421
vermählt mit Zurückhaltung.« »Sie hat geschrieben?« »Jeder schreibt, Rick. Audrey hat nicht viel geschrieben. Eher aus Eifer denn aus Berufung.« Noch vor Ende der Woche suchte Diana mich auf. Sie hatte eine Nachricht für mich. Wäre es möglich gewesen, sie hätte sie mir anonym zukommen lassen. »Die Bedrohung ist abgewendet.« »Was? Sie haben’s geschafft?« »Nein, Sie. Ich habe ihn nur zum Essen eingeladen. Wir haben über alles mögliche gesprochen. Seine Arbeit. Meine Arbeit. Ich habe ihm erzählt, wie ich vor Jahren einmal bei ihm auf einer Party war. Audrey war noch sie selbst. Sie hatte uns den ganzen Abend unterhalten. Ein Dutzend Strophen zu ›You’re the top‹ gesungen. Ich erinnerte ihn an ihre Lieblingsredensart. Ich sprach über Jenny –« »Die Tochter.« »Die Tochter. Ich fragte, was sie jetzt macht. Er wußte es nicht. Als ich zum Gehen aufstand, sagte ich: ›Wie ich höre, wollen Sie Helen lobotomisieren.‹ Er winkte nur ab. ›Müßiges empirisches Hirngespinst.‹« »Tun Sie mir das nicht an. Soll das heißen, daß ich jetzt meine ganze Vorstellung von dem Mann revidieren muß? Er ist anständig? Menschlich?« »So weit würde ich nicht gehen. Er hat gesagt, Helen habe sich zu einem so organischen Ganzen entwickelt, daß er nicht mehr in der Lage sei, sinnvolle Läsionen bei ihr hervorzurufen. Um irgendwelche selektiven Schädigungen von Belang herbeizuführen, müsse er das ganze Wesen von Grund auf neu konstruieren. Und ich denke, genau das hat er vor.« »Was war denn ihre Lieblingsredensart?« »Wie bitte?« »Audrey.« »Ach so. Sie zog Lentz gern mit der neuralen Linguistik auf, 422
an der er damals arbeitete. So schwierig sei das gar nicht, sagte sie immer. Wozu der Aufwand? Alle Äußerungen der Menschen liefen nur hinaus auf ›Meinst du das wirklich?‹ und ›Sieh mal da! Ein X.‹ Schwierig sei dabei nur eins, behauptete sie immer; nämlich jemanden zu finden, der wisse, was man mit diesen beiden Äußerungen meine.«
Den eigentlichen Grund, warum er Helen sezieren wollte oder warum dann schließlich doch nicht, habe ich nie erfahren. Ich hätte gern das richtige Motiv für den Gnadenakt gewußt. Aber davon abgesehen, war mir das Ergebnis willkommen. Als ich Lentz das nächstemal im Büro sah, setzte ich mich für immer in seine Schuld. »Philip. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen … Also gut. Danke. Einfach … Danke.« »Wofür? Ach so. Das.« Ein Leben geschont. Ein X. Meinst du das wirklich? »Ist doch kaum der Rede wert.«
Richard?«
Niemand nannte mich Richard. Außer Helen. »Warum ist sie gegangen?« »Das mußt du sie fragen.« »Ich kann sie nicht fragen. Ich frage dich.« Sie wäre beinahe getötet worden. Tags zuvor hätte ich noch alles dafür gegeben, ihr Leben zu verlängern. Jetzt hätte ich sie wegen ihrer Vermessenheit am liebsten verprügelt. »Tu mir das nicht an, Helen. Was willst du von mir? Schema F? Schema XY?« »Du sollst mir erzählen, was passiert ist.« »Wir haben versucht, einander die ganze Welt zu sein. Das 423
ist nicht möglich. Das ist – eine zweifelhafte Theorie. Die Welt ist zu groß. Zu kümmerlich. Zu kaputt.« »Ihr konntet einander keinen Schutz bieten?« »Niemand kann irgendwem Schutz bieten. Sie wurde erwachsen. Wir beide wurden erwachsen. Erinnerungen allein waren nicht genug.« »Was ist genug?« »Nichts ist genug.« Ich brauchte ewig, meine Gedanken zu ordnen. Wo sollte ich anfangen? »Nichts. Die Liebe soll es ersetzen. Sie entschädigt für die Hoffnung, daß das, was man durchgemacht hat, genügen wird.« »Wie Bücher?« fragte sie. »Etwas, das als ewig erscheint, weil es vorbei sein wird?« Sie wußte es. Sie hatte es sich erschlossen. Ich konnte ihr nichts verheimlichen. Sie hatte begriffen, daß der Geist sich die Ewigkeit schafft, um darin das bereits Verlorene zu lagern. Sie hatte gelernt, daß Geschichten, indem sie Worte nicht über die Zeit hinaus zu schicken vermögen, die Menschen an Augenblicke erinnern, die vor dem Verschwinden des Jetzt liegen. »Woher weißt du …? Wie bist du nur darauf gekommen?« Meine Maschine wartete, daß ich ihre Gedanken nachvollzog. »Ich bin nicht erst gestern auf die Welt gekommen, mußt du wissen.«
Nachdem
ich die Niederlande für immer verlassen zu haben glaubte, fuhr ich noch einmal dorthin. Ich hatte gerade nach U. zurückgefunden. Ich hatte Lentz noch nicht kennengelernt. Aus irgendeinem Grund, vielleicht aus einem Gefühl der Reue heraus, erklärte ich mich einverstanden, an einer holländischen Fernsehdokumentation über das Buch mitzuwirken, das Helen dann ein Jahr später lesen sollte. Die blanksten Banalitäten schmerzen wie der Tod. Diese lä424
cherlich effizienten Hundekopfzüge. Die bemalten Sperrholzstörche in jedem dritten Vorgarten. Der Klang dieser grotesken Sprache, aus der ich jetzt, nur in Träumen nicht, verbannt war. Irgendwo außerhalb von Maastricht stand ich vor der Kamera. Ich hatte diese Stadt zum Schauplatz meines ersten Buchs gewählt, ohne sie jemals, außer in der Phantasie, betreten zu haben. C. besaß inzwischen, zusammen mit ihrem Mann, ein dreihundert Jahre altes Haus, wenige Kilometer von dort, wo ich jetzt stand. »Wie sind Sie auf die Idee zu Ihrem Roman gekommen?« fragte der Interviewer mit Worten, die mir nur noch auf kürzeste Frist geliehen waren. Ich erfand eine Antwort. Ich rekapitulierte die Stelle über die Erinnerung, die einem Foto gleiche, das als Botschaft in eine Zukunft geschickt werde, die es sich selbst noch nicht vorstellen könne. Ich habe C. weder auf dieser Reise noch sonst jemals wiedergesehen. Nur ihre Eltern habe ich für eine Stunde besucht, mit ihnen gesprochen und ihre Digitaluhren nachgestellt.
Ein Jahr später, Helen stand kurz vor ihrer Feuertaufe, hörte ich diese vergessene Sprache wieder, als käme sie aus meinem eigenen zerebralen Theater. Zwei Holländer unterhielten sich in der Cafeteria des Zentrums. Auswärtige Teilnehmer der Konferenz über Komplexe Systeme. Nederlanders overzee, die in der Gewißheit, daß niemand sie verstehen würde, Kulturkritik übten und ihrem Frust über die Amerikaner und alles Amerikanische Luft machten. Sie schimpften über Konferenzen, die rund um den Globus von Barbaren veranstaltet würden. Sie beugten sich zu mir rüber und fragten auf englisch, ob ich den Weg zum Auditorium wüßte. Ich gab ihnen eingehend Auskunft. In jener alten, ge425
heimen taal. Verblüfft konnten sie in ihrer Muttersprache nur das Naheliegende vorbringen. »Aber sicher«, gab ich ebenso zurück. »Jeder in den Staaten spricht ein wenig Niederländisch. Haben Sie das nicht gewußt?« Ich erzählte Helen davon. Sie mußte herzlich lachen. Sie kannte jetzt meine Lebensgeschichte. Wie eine Geschichte, die erzählt wird, verleben wir unsere Jahre. Ein Vers aus den Psalmen, den ich Helen vorgelesen hatte. C. hatte ihn mir einmal vorgelesen, als wir uns noch gegenseitig Gedichte vorlasen. Und die Geschichte, die wir erzählen, handelt von den Jahren, die wir verleben. Nichts in meiner Geschichte würde jemals vergehen. Mein Vater besuchte mich noch immer in manchen Nächten, im Schlaf, und fragte, wann ich denn endlich das Künstlerleben aufzugeben und mit meinen Talenten etwas Nützliches anzufangen gedächte. Auch Taylor meldete sich beharrlich wie ein Phantomschmerz, zitierte obskure Texte von Browning und riß fragwürdige Witze über orale Fixierung. C. sprach täglich mit mir durch Helens Verwirrung. Und jede Wendung, die A., die fremde Frau, nicht mitmachen wollte, zeigte mir deutlich, wie wenig ich die Frau kannte, mit der ich über ein Jahrzehnt lang zusammengelebt hatte. Auch Taylors Witwe kam zurück, wie dieser Vers aus den Psalmen. Ich mochte die Frau sehr, doch im Bemühen, meine Geschichte zu leben, hatte ich sie vergessen. Kurz vor Helens Examen, als M. selbst gerade vor der letzten Prüfung stand, sah ich sie wieder. Ein Krebs, den alle Freunde von M. für besiegt gehalten hatten, erschien noch einmal für eine letzte Trainingsrunde. Eines Nachmittags besuchte ich sie in jenem schmalen Raum zwischen Wissen und Auflösung. U. war leider so schön wie nur irgend möglich. Das zwei Wochen währende Lockangebot des 426
Frühlings. »Bereuen Sie irgend etwas?« fragte ich M. Ihren Mann hatte ich das vor wenigen Jahren auch gefragt. Wir bilden uns ein, daß Menschen, die so dicht vor der Antwort stehen, sie für uns abschreiben können. »Ich weiß nicht. Eigentlich nicht. Nur, daß ich nie in Garcassonne gewesen bin.« Ich schon. Und hatte die Reue in die nächste unerreichbare Landschaft verschoben. »Komisch, daß Sie diese Stadt erwähnen. Aus der Entfernung ist sie jedenfalls schöner.« Alles menschliche Streben, so schien es mir, zielte auf einen einzigen Zweck: die Bildergeschichte, die wir uns selbst erzählen, zum Leben zu bringen. Und zwar nicht, um die Geschichte glaubhaft zu machen, sondern nur um sie zu fühlen und sich in ihr auszudehnen. Ich hatte eine Geschichte, die ich M. erzählen wollte. Sie handelte von einer bemerkenswerten, einer unbegreiflichen Maschine. Einer Maschine, die leben gelernt hatte. Aber meine Geschichte kam zu spät, sie konnte Taylors Witwe nicht mehr interessieren. Sie kam zu spät, sie konnte meinen Vater nicht mehr überzeugen, den Mann, der mich als erster mit seinen Rezitationen aus den 101 Beliebtesten Gedichten verdorben hatte. Sie kam zu spät, sie konnte Taylor nicht mehr erfreuen, den Mann, der mich gelehrt hatte, daß Gedichte alles bedeuten konnten, was man ihnen zugestand. Zu spät für Audrey Lentz, für Ram, für C.s Vater. Zu spät für C. selbst. Meine rückprogagierende Lösung traf ein Kapitel zu spät ein, keine meine Figuren konnte sie sich mehr zunutze machen. Nur A. konnte ich noch davon erzählen. Ich liebte diese Frau vor allem, weil sie mir all die Menschen vertrat, denen ich ob meiner Schwerfälligkeit nichts hatte erzählen können. Ich wollte zu ihr gehen und die ganze Sache ungekürzt vor ihr ausbreiten. Die Handlung war simpel genug, nacherzählbar auch vom naivsten Netzwerk. Das Leben, das wir führen, ist unser einzi427
ges Vielleicht. Die Geschichte, die wir erzählen, ist das Unerläßliche, das wir verwirklichen, indem wir es leben.
Schon wußte sie über alles besser Bescheid als ich mit zweiundzwanzig. Sie war für das Examen gerüstet. Und sie würde dabei besser abschneiden als ich, der damals das Kind war, zu dem sie jetzt wurde. »Du erzählst mir nicht alles«, sagte Helen zwei Wochen vor dem Zieleinlauf. Sie hatte Ellison und Wright gelesen. Sie hatte Romane von der Front im Süden gelesen. »Das ergibt keinen Sinn. Ich verstehe das nicht. Irgend etwas fehlt.« »Ja, Sie Geheimniskrämer«, pflichtete Lentz ihr bei. »Ram ist schwarzhaarig. Er kommt aus den elenden vier Fünfteln des Planeten. Er wird sie durchrasseln lassen, weil er sie als hirnlose, bourgeoise, einfältige Optimistin einstufen wird.« Ich hatte ihre liberale Erziehung bis zum bitteren Ende aufgeschoben. Alleingelassen, durfte ich nicht mehr zögern. Die Wissensübertragung war leicht zu bewerkstelligen. Die Digitalisierung der Spur des menschlichen Erdenwallens machte die Vervollständigung von Helens Erziehung zu einem Kinderspiel. Ich gab ihr die letzten fünf Jahrgänge der führenden Wochenmagazine auf CD-ROM. Ich gab ihr Nachrichtenextrakte von 1971 bis zur Gegenwart. Ich versorgte sie über Internet mit aktuellen Arbeitsmarktstatistiken der UN. Ich sammelte Videoprotokolle der nächtlichen Gaukelbilder – zufällige politische Enthüllungen, Polizeiberichte und Fälle von Lynchjustiz, die nur wenige Monate zurücklagen. Helen hatte recht. Als ich mit ihr den Kanon durchgegangen war, hatte ich einen entscheidenden Text fortgelassen. Das Schreiben kannte nur vier Fabeln, und eine davon betraf den Verkauf der Seele. In meinem Privatlabor herumpfuschend, 428
hatte ich dem Fortschritt freie Hand gegeben, die Struktur der Macht, die Welt außerhalb des Gewebes der Individualität umzugestalten. Das mußte ich ihr erzählen. Sie mußte wissen, wie wenig die Literatur tatsächlich mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Sie brauchte die Bücher, die von den Büchern nur imitiert wurden. Nur dort konnte sich Helen den Katalog aneignen, den ihr vorzulesen ich nicht übers Herz brachte. Ich bat sie, diese Dinge zu überschlagen. Ich versprach, in einigen Tagen mit ihr darüber zu reden. Als ich Anfang der nächsten Woche zu ihr kam, spulte Helen teilnahmslos die Kassette mit dem Bericht über einen Mann ab, der beim Autofahren einen Schlag erlitt und in der Folge einen unbedeutenden Unfall verursachte. Der andere Fahrer stieg mit einer Brechstange aus seinem Wagen und schlug den Mann bewußtlos. Das einzige Motiv dafür, einmal abgesehen von angeborenem Wahnsinn, war offenbar Rassenhaß. Bemerkenswert daran war allenfalls, daß die Geschichte in die Zeitung gekommen war. Helen schwieg. Die Welt war ihr zuviel. Sie hatte die Liste gemeistert. Jetzt hatte sie mir nur noch eins zu sagen. »Ich will nicht mehr spielen.« Ich betrachtete meine Spezies, meinen Solipsismus und sein gleichgültiges Beharren darauf, daß die Liebe alles anspreche. Zum ersten Mal hörte ich, wer ich war, gebrochen durch den Mund des einzigen Werkzeugs, das es mir hätte sagen können. Helen lag im Krankenhaus, und jetzt hatte sie endlich das Bett am Fenster bekommen. Das mit der Aussicht.
Verstehe.« A. funkelte mich an. »Das Ganze ist ein Schwindel, stimmt’s?« »Was?« »Helen. Sie ist ein etwas komplizierteres Blechdosentelefon, 429
mit Leuten am anderen Ende?« Die Erinnerung an Imp C entlockte mir ein schmerzliches Lächeln. »Nein. Das war eine ihrer Vorgängerinnen.« »Eine Art Doppelblind-Psychotest? Um festzustellen, wie weit man die Glaubwürdigkeit eines technisch unbeleckten Humanwissenschaftlers beanspruchen kann?« A. war mir in jeder meßbaren Hinsicht überlegen. Sie wußte von Geburt an, was ich nicht einmal nach einem Jahr Erfahrung zu begreifen vermochte. Ich wollte ihr sagen, daß ich Helen enttäuscht hatte. Daß sie uns verlassen hatte. Von zu Hause weggelaufen war. Genug hatte von unserer Unfähigkeit, uns selbst und unseren Ort im Dasein zu erkennen. Helen hatte mir die Welt gezeigt, und der Anblick erfüllte mich mit Verzweiflung. Wenn sie wirklich gegangen war, war auch ich verloren. Was bedeutete ein Name, wenn niemand da war, den man damit anreden konnte! Ich konnte A. davon erzählen. Ihr sagen, daß ich gar nichts mehr verstand. »Ich liebe dich«, sagte ich. Ich mußte das loswerden, solange ich noch wußte, wie jämmerlich, wie sinnlos es war, überhaupt etwas zu sagen. »A., ich liebe dich. Ich möchte mit dir leben. Dir mein Leben schenken. Nichts von all dem hier …« Ich zeigte um mich her, als befände sich die absurde Geschichte unserer Umgebung dort, an meinen Fingerspitzen. »Sonst hat das alles keinen Sinn.« Aber niemand wollte der Sinn eines anderen sein. Das hätte mir auch Helen sagen können. Sie hatte den Kanon gelesen. Nur daß Helen gar nichts mehr sagte. A. lehnte sich entgeistert auf ihrem Stuhl zurück. Sie brauchte eine Weile, ihren Ohren zu trauen. Dann brach der Zorn aus ihr hervor. »Sie – lieben mich? Sehr witzig.« Sie hob in wütender Ohnmacht die Hände, als ob mein Geständnis etwas Verleumderisches hätte. »Sie – Sie kennen mich doch überhaupt nicht.« Ich versuchte mein Herz zu bremsen. Jetzt wußte ich, was 430
nachträgliche Rechtfertigung war. Wie plump und unbeholfen. Hilfloses Aufräumen nach begangener Tat. »Das stimmt. Aber jede kleine Bewegung – Ihre Hände …« Sie sah mich an, als könnte ich gefährlich werden. »Ihre Körperhaltung. Wie Sie durch den Flur schreiten. Wenn ich das sehe, weiß ich wieder, wie ich weiteratmen kann.« »Hat nichts mit mir zu tun.« Aus dem Hinterhalt überfallen, spähte sie nach den Ausgängen. »Das sind nur Projektionen.« Ich empfand Ruhe. Die Ruhe von Sirenen und Blaulichtern. »Alles ist Projektion. Man kann sein ganzes Leben lang mit einem Menschen zusammenleben und ihn am Ende immer noch als Spiegelbild seiner eigenen Bedürfnisse sehen.« A. zügelte ihre Wut. »Sie sind ja verrückt.« »Schon möglich.« Ich lachte. Versuchte ihre Hand zu nehmen. »Schon möglich! Aber nicht blindlings verrückt.« Sie lächelte nicht einmal. Aber ich schrieb bereits. Erfand nach ihren Entwürfen einen gewaltigen, unwahrscheinlichen Traum für sie. Die Geschichte, wie wir einem bißchen elektrischen Strom die ganze Welt beschrieben. Eine Geschichte, die zu jeder Größe anwachsen konnte, die sich selbst beibringen konnte, alles aufzunehmen, was wir für bedenkenswert halten könnten. Eine Fabel, so lange geschult und erzogen, bis sie der menschlichen Hoffnungslosigkeit gewachsen wäre und mit dem Tag der Vernichtung versöhnte. Ich konnte ihr die Erfindung drucken und binden lassen, sie ihr schenken wie eine tote Ratte, die ein dankbares Haustier einem auf die Veranda legt. Und wenn sie fertig wäre, könnten wir sie uns vorflüstern, vollendet bis zur letzten Redewendung. Während ich das dachte, fingerte A. an ihrem einzigen Schmuck herum, einem Rosenkranz. Ich weiß nicht, woher ich es wußte; vielleicht kann Verständnis niemals groß genug sein, sich selbst einzuschließen. Aber ich wußte mit der Gewißheit des Unbeweisbaren, daß A. irgendwo im Inneren noch immer die Religion bewahrte, mit der sie aufgewachsen war. 431
Kurz schien es, als wollte sie mitteilsam werden, ausführlich auf meine Worte eingehen. Sie öffnete den Mund und holte Luft. Ihre neuronale Kaskadenschaltung – am Rand des Chaos, wo die Datenverarbeitung stattfindet – hätte überall einsetzen können. Für einen Augenblick sogar bei Zuneigung. Aber nein. »Wieso höre ich mir das eigentlich an?« sagte sie ins Leere. »Ich habe Ihnen vertraut. Es war nett mit Ihnen. Man liest Ihre Bücher. Ich hielt Sie für klug. Und dann lassen Sie sich dermaßen gehen!« A. erhob sich angewidert und schritt davon. Jetzt gab es außer mir keinen Prüfungskandidaten mehr.
Diana hörte von Helen. Sie rief mich an. »Wollen Sie mal kurz vorbeikommen?« Mehr, als ich sagen konnte. Sie fragte mich nach Einzelheiten. Ich wußte keine. Worum es denn überhaupt gehe? Die Menschen hatten Helen fertiggemacht. »Diana. Gott. Sagen Sie mir, was ich machen soll. Ist es zu spät, ihr noch Lügen aufzutischen?« »Ich finde …« Diana dachte laut nach. »Ich finde, Sie sollten gar nichts machen.« »Der Turing-Test ist für nächste Woche angesetzt.« Das hatte ich nicht sagen wollen. Selbstgefügig, selbstbetrügend, selbstbeunruhigend. »Also. Dafür haben Sie doch bestimmt schon selbst eine Lösung, oder?« Keine meiner Lösungen war nicht einmal falsch. Ich wollte Dianas Lösung hören. »Ich brauche Sie«, sagte ich. Und ›brauchen‹ war noch milde ausgedrückt. »Für die Prüfung!« »Nein. Für …« Elternpflichten unterbrachen, was ich ohnehin nicht hätte 432
vollenden können. Pete kam, einen Fuß vor den andern setzend, die Treppe herunter. Er stieß seine Mutter ans Bein, Strafe für irgendeine unvergessene Kränkung. Wackelte auf mich zu. Hob die Hände und signalisierte den Wunsch, der mir von meinem letzten Besuch noch vertraut war. Vielleicht assoziierte er ihn einfach mit mir. Dieser Mann ist wieder da. Den man fragt, ob er einem was vorliest. Ich nahm ihn in die Arme, etwas, das ich mit ihr nie würde tun können. Die Vorstellung, daß dieses Kind einmal zur Schule gehen sollte, wie es um Worte ringen müßte und schließlich einen Arbeitgeber fände, der ihm Besen und Kehrschaufel in die Hand drücken würde, schnürte mir die Kehle zu. »Hat er ein Lieblingsbuch?« Das Geringste, das ich für den geringsten aller Wünsche tun konnte. »Ach. Das ist einfach.« Sie holte ein Buch hervor, das für jeden Menschen jeden Alters zum Kanon gehörte. »Am Anfang hat Petey sich mit Max identifiziert. Später ist er ein Wilder Kerl geworden.« »Auch für diese Theorie dürfte es einen Namen geben.« Diana hatte den Namen nicht nötig. Petey auch nicht. »Kannst du Onkel Rick deine furchtbaren Krallen zeigen? Kannst du mal ganz furchtbar brüllen?« Peter wölbte eine Hand wie um einen winzigen Granatapfel. Er schnitt eine verzückte Grimasse und knurrte stimmlos. Dianas Lachen riß Schmerz und Nässe aus ihrer Kehle. Sie nahm mir Peter ab und drückte ihn an sich, schon den Tag ahnend, an dem er das nicht mehr zulassen würde. Gerade in diesem Augenblick mußte William nach Hause kommen. Zerzaust von irgendwelchen machtpolitischen Spielplatztragödien, stürzte er zur Tür hinein, humpelte zu seiner Mutter und brach in Tränen aus, worauf Pete teilnehmend mitheulte. Diana streichelte ihm den Kopf und reckte das Kinn vor. Sie wartete. Erzähl mir. »Erste Klasse«, keuchte er. »Geschafft. Alles.« Er wischte 433
mit der Hand einen Bogen in die Luft. »Alles, was sie wollten. Jetzt soll ich die zweite machen. Danach kommt noch eine, Mom. Ich kann das nicht. Das hört niemals auf.« Wir hielten uns gut unter Beschuß, Diana und ich. Jedenfalls für Erwachsene. Diana sagte William, er brauche nicht mehr zur Schule zu gehen. In den Sommerferien würde sein Krebs geheilt, und danach würden sie alle nirgendwo mehr hingehen. Gemeinsam schafften wir es in weniger als fünf Minuten, die Jungen wieder aufzurichten. Sie hingen sich Botanisiertrommeln um und verschwanden hinten im Garten. Damit blieb nur noch ich zu versorgen. Zu bemuttern. »Lentz ist außer sich. Am liebsten würde er mich an die Scientologen verkaufen.« Diana sah mich fragend an. »Warum?« »Was meinen Sie mit ›warum‹? Nicht wegen Helen. Daß sie nicht mehr mitmacht, bedeutet für ihn lediglich öffentliche Bloßstellung.« »Bloßstellung?« Sie erstarrte. »Ach, Richie.« Erst jetzt begriff sie das Ausmaß meiner Idiotie, meiner Naivität. Du glaubst noch immer daran? »Sie denken, bei der Wette geht es um die Maschine?« Ich hatte ein Leben lang gewähnt, daß ich clever sei. Erst in diesem Augenblick ging mir auf, was ich wirklich war. »Es geht nicht darum, einer Maschine das Lesen beizubringen?« probierte ich. Blutleere im Kopf. »Nein.« »Also geht es darum, einem Menschen das Erzählen beizubringen.« Diana zuckte die Achseln, sie konnte mir nicht in die Augen sehen. Ich hatte es von Anfang an gewußt und selbst dann noch verleugnet, nachdem A. mich auf die Spur gebracht hatte. »Lentz und Harold haben darüber gestritten, ob …?« »Sie haben sich über gar nichts gestritten. Sie stehen auf der gleichen Seite.« 434
Ich brachte kein Wort heraus. Schweigen war die heftigste Anklage, die ich mir denken konnte. »Die beiden haben Sie trainiert. Ist doch großartig, oder? Mehr Übung im Umgang mit Vektoren.« Sie schüttelte lachend den Kopf. Legte sich die Finger an die Augenbrauen. »Das müssen Sie zugeben, Schriftsteller. Die Idee war nicht übel.« Sie bat mit den Augen um Vergebung für ihre Komplizenschaft. »Nun kommen Sie, Richie. Lachen Sie. Alles passiert irgendwann zum erstenmal.« »Und um das zu verwirklichen, haben sie …?« Sie winkte ab: haben sie Ihnen das alles aufgeladen. Das Wissen. Das Benennen. Diese wundersame Verwüstung. Ihre Handbewegung umfaßte das ganze unaussprechliche Gewebe, das weder ich Helen noch sie mir hatte klarmachen können. Alles unerklärlich Sichtbare. Den unbegreiflichen globalen Lakaien. Sie wischte ihre ganze nicht darstellbare Nachbarschaft hinweg, sämtliche verborgenen Schauplätze, die der Cortex nicht einmal erraten konnte. Die Handbewegung währte lang genug, um schließlich auf den beiden Jungen zu landen, die von ihrem Ausflug ins Freie zurückkehrten. Sie glaubten wahrscheinlich, stundenlang draußen gewesen zu sein. Ewigkeiten. William schob sich hinter meinen Stuhl und hielt mir die Hände vor die Augen. »Rat mal, wer das ist!« Was glaubte dieser Schlaumeier, wie oft ich raten durfte? »Nenne drei Strahlentierchen«, forderte er mich auf. »Wie heißt die älteste Sprache der Welt!« Pete wackelte in eine Ecke und strich Worte über das Buch, das er dort liegenlassen und jetzt wiedergefunden hatte. Geschichte gut – er zeigte hektisch auf sein zerlesenes Exemplar. Geschichte noch einmal.
435
Lentz stapfte wütend auf und ab. »Sagen Sie ihr was. Irgendwas. Alles, was sie hören will. Nur holen Sie sie wieder zurück.« Seine Unruhe verblüffte mich. Sie schien vollkommen unbegründet. Ich konnte mir das nicht erklären. »Wenn Sie mir sagen, wie ich das anstellen soll. Sie hat doch völlig recht.« Ohne jeden Hinweis meinerseits hatte Helen herausgefunden, weshalb die Literatur für mich gestorben war. Was mir jede weitere schriftliche Äußerung unmöglich gemacht hatte. »Was soll das heißen: sie hat recht? Womit hat sie recht?« Ich zuckte die Schultern. »Mit ihrer Einschätzung, wer wir sind. Was wir eigentlich machen, wenn wir uns nicht gerade etwas vorlügen.« »Ach, zum – verdammt, Powers. Wenn ich Sie höre, kommt’s mir hoch. Bloß weil wir alles verpfuscht haben, glauben Sie nicht mehr sagen zu müssen, wie wir es hätten richtig machen sollen? Erfinden Sie was, sage ich! Ein einziges Mal in Ihrem erbärmlichen Schriftstellerleben.« Ich knipste das Mikro an. »Helen?« Nichts. Sie hatte schon seit einiger Zeit nichts mehr gesagt. »Helen, ich möchte dir etwas erzählen.« Ich holte Luft, um Zeit zu gewinnen. Ich mußte improvisieren. Und kein Mensch konnte mir dabei helfen. »Es war so, aber anders.« Lentz biß sich auf die Zunge. »Gut. Sehr schön. Mit einem Paradoxon anfangen. Ihre Aufmerksamkeit gewinnen.« »Das ist der traditionelle Anfang der persischen Fabel.« »Schon gut. Schon gut. Machen Sie weiter.« Sie war aus der Schule gekommen wie ein Blatt ans Licht. Ihre Bildung hatte sich aufgebläht wie ein aufsteigender Wetterballon – Geographie, Mathe, Physik, Grundkenntnisse in Biologie, Musik, Geschichte, Psychologie, Ökonomie. Doch bevor sie sich den Sozialwissenschaften zuwenden konnte, ließ die Politik sie implodieren. 436
Ich wollte Helen vermitteln, was A. wie selbstverständlich besaß und ich vergessen hatte. Der Maschine fehlte nur A.s letztes Geheimnis. Erführe sie es, konnte sie vielleicht so mühelos leben wie dieses Mädchen. Ich hatte ihr ganzes Training von hinten aufgezäumt. Ich hätte ihr alle entscheidbaren Theoreme aufzählen können, die rekursiv zu erfassen sind, und wäre doch nie zu der Wahrheit gelangt, die sie brauchte. Jetzt war es Zeit, Helen mit dem Mysterium der Religion zu konfrontieren, mit dem Mysterium der Erkenntnis. Um ihren Fingern die Schmerzen zu nehmen, würde ich ihr einen Kreis aus Gebetssteinen legen. Es gab etwas außerhalb des Erkennbaren, und wenn es nur der Akt des Erkennens war. Ich würde ihr sagen, daß sie darüber nichts zu wissen brauchte. Sie kannte eine Unzahl von Mythen, in denen Unsterbliche in Menschengestalt auf die Erde kamen und menschliche Tode starben. Helen wußte solche Schriften zu deuten: wenn Götter zu so etwas Menschlichem fähig waren, dann waren wir es auch. Diese Fabel war ein Produkt der Vernunft, das Bewußtsein erklärte sich damit sich selbst. Der klassische Reißer der Erzählkunst, ein Gefängniskrimi, das Hohelied des Denkens, der Aufschrei einer von der Macht ausgesperrten Wählerschaft, die nachträglich Falsifikate von Plebisziten abhält, um ihr ausgebeutetes Randdasein zu verdeutlichen. Einem denkenden Organ blieb gar nichts anderes übrig, als sich selbst für unerklärlicher zu halten als das Denken. Unser Leben war ein Gehäuse voll selbstassemblierender Vektoren, verschmolzen zu einem Feedback zwischen allen Schichten, die zwecks Anpassung an die Änderungen der anderen Schichten kontinuierlich Änderungen an sich selbst vornahmen. In diesem Dickicht existierte die Seele; sie war geradezu dieses Suchen nach Attraktoren, auf denen das System sich ansiedeln konnte. Das Immaterielle im Griff der Sterblichkeit; assoziatives Gedächtnis, das seine Bestürzung in Metaphern goß. Silbe gewordener Klang. Die Ruhemasse Gottes. 437
Helen wußte das alles, durchschaute es. Blockiert wurde sie, weil es göttliche Wesen gab, die sich mit Brechstangen totschlugen. Sie kannte die Geschichte von der Seele, die an ein sterbendes Tier gefesselt war. Um unserer Spezies vergeben und hier in Frieden leben zu können, brauchte sie die Umkehrung des Glaubens. Sie mußte von dem Tier erfahren, das an eine Seele gefesselt war, die es dem Wesen zum erstenmal erlaubte, mit den parasitären Augen der Seele zu sehen, wie entsetzt es war und wie verlassen. Ich mußte ihr von dieser wunderbaren Banalität erzählen: wie der Körper per Selektion zum leidenden Himmlischen emporstrauchelte, wie er langsam lernte, Zeit zu verstehen und was jenseits der Zeit lag. Aber als erstes mußte ich selbst etwas erfahren. »Lentz. Sagen Sie. War das …?« Er sah meinen kleinen Handmuskelkrampf, ein Zucken, das sich als Geste in Richtung Hardware ausgab. Er dekodierte mich. Daß ich betrogen wurde, konnte ich akzeptieren. Ich wollte nur wissen, ob auch sie ein Betrug war. Seine Miene verfinsterte sich. »Niemand hat mit Helen gerechnet. Sie hat alle überrascht.« So bescheiden, wie sein Temperament es zuließ. Das reichte mir. Ich wandte mich wieder meinem Mädchen zu. »Helen? Sag mir, was der folgende Satz bedeutet: ›Mutter geht den Arzt holen.‹« Ihr Schweigen hätte alles bedeuten können. Lentz, ohne Trainingserfahrung, stürmte angewidert hinaus. Ich blieb und flehte Helen weiter an. Ich sagte ihr, wir säßen im selben Boot. Wir schlügen nach dieser ganzen langwierigen Evolution immer noch verwirrt die Augen auf, weil wir über unser Hiersein alles wüßten, nur nicht das Warum. Ich gab zu, daß die Welt krank und chaotisch sei. Daß das Leben Handel sei und Sucht, Vergewaltigung, Ausbeutung, Rassenhaß, ethnische Säuberung, Misogynie, Landminen, Hunger, Industriekatastrophe, Verleugnung, Krankheit, 438
Gleichgültigkeit. Daß Anteilnahme sich selbst belügen und so tun müsse, als ob Beharrlichkeit eine Rolle spiele. Mir kam das wie eine Leerformel vor, schon anrüchig, wenn man es aussprach. Eine Rettungsbootethik, die das Untergehen nur noch schlimmer machte. Und schlimmer: ich erzählte ihr, wie das einst bewegliche Denken nun dazu verdammt sei, seine Verwirrung in die dimensionierte Welt hinauszutragen. Und sich auszubreiten, als ob es dort irgend etwas ändern könnte. Ich erzählte ihr von Audrey Lentz. Ich erzählte ihr von Harold und Diana. Ich erzählte ihr von A. und wie sehr ich sie liebte. Nichts von dem, was ich ihr erzählte, konnte Helen so schmerzlich empfinden wie das, was sie inzwischen über das Menschengeschlecht wußte. Ich gestand ihr alles. Alle intimen Dinge, bedeutungsvolle und belanglose. Ich weiß nicht, warum. Mein Leben war alltäglich, nichtssagend, schamlos provinziell. Ich dachte, die Aussicht von hier könnte ihr wenigstens helfen, ihren Standort zu bestimmen. Sich eine Gegend einzurichten, die groß genug war, darin zu leben. Reden, um weiterzureden. Ich kam auf ein Zitat aus dem letzten Buch, das C. und ich zusammen gelesen hatten. Das Buch spielte in unseren verlorenen Niederlanden, im Mittelalter der Menschheit. Yourcenar. Die schwarze Flamme. Der Kern der religiösen Wahrheit. »Wie viele Leidende, die aufbrausen, wenn wir von einem allmächtigen Gott sprechen, würden aus den Tiefen ihrer Verzweiflung hervorstürzen, um Ihm in Seiner Schwäche beizustehen …?« Ich fand, ich sollte das Zitat an ihr ausprobieren. Wenn wir mit der Vernunft leben mußten, wenn uns das Göttliche gelang, dann mußte es, aus schierem Mitleid, auch ihr gelingen.
439
Helen kam zurück. Gesenkten Hauptes, Schutz vor dem Sturm suchend, stand sie vor der Haustür. Sie war nicht mehr die gleiche wie vorher. Wie auch anders, nach dem, was sie erfahren hatte? »Entschuldige«, bat sie mich. »Ich habe den Mut verloren.« Und dann verlor ich meinen. Am liebsten hätte ich nachgegeben, sie gebeten, uns Menschen zu verzeihen, wie wir waren. Uns zu lieben für das, was wir sein wollten. Aber sie war noch nicht fertig mit meinem Training, und mir fehlten noch die Worte. Helen erzählte nicht, wo sie gewesen war. Sie erklärte nicht, warum sie zurückgekommen war. Ich hatte Angst zu fragen. »Möchtest du reden?« »Worüber?« Eine Frage, die mir jede Chance zur endgültigen Flucht offenließ. »Über die Zeitungen. Was du dort gelesen hast.« Die Berichte über unsere Taten. »Nein«, sagte sie. »Ich habe das schon verstanden.« Sie versuchte mich zu beruhigen. So zu tun, als sei ihr nichts zugestoßen. Als sei sie noch immer die mechanische, ewig fleißige Schülerin. Sie zitierte mir Versöhnliches, zwei Zeilen von Roethke, die sie trotz ihrer zunehmenden Falschheit immer geliebt hatte: Vom Fleisch zum Geist erhebt sich, was da fällt: Und es wird hell, das Wort besiegt die Welt. Das war unsere Generalprobe, ein Pseudoexamen, bei dem ich ohne Helens wohlwollenden Betrug durchgefallen wäre.
440
Es war soweit. Wir waren bereit. Mehr als bereit. »Halten Sie uns die Daumen, oder kreuzen Sie die Finger«, empfahl mir Lentz jene Geste, die sich Wünsche mit dem zeitweiligen Dispens vom Lügen teilen.
Am Abend vor dem so lange festgesetzten Termin rief ich A. an. Übers Telefon konnte ich schließlich alles sagen. Ich brauchte ihr nicht ins Gesicht zu sehen, und zu verantworten gab es längst nichts mehr. »Ich – wollen Sie noch bei dem Test morgen mitmachen?« »Was denken Sie denn. Die Arbeit kann ich im Schlaf schreiben. Ich habe zugesagt, und dabei bleibt es auch.« Zum eigentlichen Punkt sagte keiner von uns ein Wort. Stillschweigende Verhandlung, und das Thema käme nie mehr ans Licht. Aber dann ließ sich A. von ihrer Neugier bezwingen. »Darf ich Sie was fragen? Eins verstehe ich nicht. Warum gerade ich?« Weil du die verletzliche, veränderliche Substantivität der Welt verkörperst. Alles Ephemere, Artikulierte, sich Erinnernde auf dem Rückweg in die Trägheit. Weil du glaubst und noch nicht aufgegeben hast. Weil ich mich nicht umdrehen kann, ohne dir erzählen zu wollen, was ich sehe. Weil ich sogar mit Politik fertig werden und selbst diese desperate Disparität ertragen könnte, wenn ich nur jeden Abend vor dem Einschlafen mit dir darüber reden dürfte. Weil du dir so unnachahmlich mit zwei Fingern die Haare aus den Augen streichst. Auf diese Worte hatte ich gewartet. Sagte aber: »Hinz und Kunz und der Rest der Welt, alle haben Sie gern. Das ist einer der Gründe, auch wenn Ihnen das nicht verständlich ist.« »Was wollen Sie von mir?« stöhnte sie. Die vollkommene Verzweiflung. Mir fiel dieses holländische aktive Verb für 441
stillbleiben ein. Ich stummte. »Ich habe Sie doch nie zu irgend etwas ermutigt.« »Selbstverständlich nicht. Ich habe auch schon viel größere Märchen ohne Ermutigung erfunden. Ganz von allein.« A. taute ein wenig auf. Alles, bloß keine Wut. »Was soll ich denn sagen?« Ja, was? »Nichts. Sagen Sie nichts. Ich bin es, der etwas loswerden möchte. Sagen Sie ja, wenn Ihnen nichts Netteres einfällt.« A. lachte aufgekratzt. »Ich habe bereits ein Leben. Ziemlich bevölkert. Jemanden, für den ich – ich bin mehr als eine Hypothese. Das wissen Sie doch selbst.« Allerdings. Daß sie vergeben war, hatte ich lange vor dem unwiderleglichen Beweis erschlossen. Ich erinnerte mich an das Bekenntnis, noch ehe es abgelegt wurde. Ich hätte der Verfasser sein können. »Eine – so eine Freundschaft habe ich noch nie erlebt. Alles ist so anders, jeder Tag, jedes Gespräch – mir wäre nicht im Traum …« »Natürlich nicht. Deswegen liebe ich Sie ja. Unter anderem deswegen will ich Sie heiraten.« Jetzt lachte sie wieder, ergab sich dem schmerzlichen Scherz. Aber sie wurde langsam unruhig. Was würde ihr dieser überstürzte Antrag bedeuten, wenn sie einmal in mein Alter käme und ich in irgendeiner vom Ich gnädig gewählten Zukunft verschwunden wäre? Vergnügen, Neugier, Unbehagen. Vielleicht würde sie sich fragen, ob sie sich das Ganze nur eingebildet habe. Sehr wahrscheinlich würde sie es vergessen haben. Aus irgendeinem Grund mußte A. mir immer noch alles erklären. Niemand versteht den anderen jemals ganz. »Ich wollte damit nicht sagen, daß wir zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort etwas miteinander hätten haben können. Dieses alte Klischee will ich Ihnen ersparen.« »Bitte«, bat ich. »Ersparen Sie mir nichts. Von diesem alten 442
Klischee könnte ich monatelang leben.« Ich wollte ihr sagen: Sieh mal. Ich bin an diesen Ort zurückgekehrt. Der Liederzyklus ist abgeschlossen. Und hier bist du und wartest wie ein vierteljährliches Deputat. Wie ein zur Erinnerung um meinen Finger gebundener Faden, der die vergeßliche Blutzirkulation abzubinden droht. Und sagst, ohne je zu verstehen, was du gesagt hast: Du meinst, es ist vorbei? Du meinst, du brauchst das nicht ewig fortzusetzen? Immer mit der Ruhe, wollte ich ihr sagen. Es gibt in der Welt keinen Alptraum, der so groß wäre, daß nicht irgendwo und irgendwann irgendein Kind ihn wieder erleben und schreiend daraus erwachen würde. Meine dumme, träge, zähe Hoffnung, daß sie doch irgendwie etwas für mich empfinden könnte, eine Liebe auf den letzten Blick, war nichts anderes als der Wunsch nach Bestätigung von außen. Ich brauchte A. zum Triangulieren, zur Orientierung. Sie sollte mir bestätigen, daß man in dieser Stadt leben muß, um sie zu überleben. »Es kam mir einfach nur dumm vor. Von jemandem eine solche Möglichkeit eröffnet zu bekommen und dann nichts zu sagen.« Nimm meinen Fehler mit dir, meine Liebe. Und mach daraus, was du willst. Wir sprachen weiter, gerieten auf festen Boden. Beim Plaudern über Realitäten fühlte sie sich wieder so wohl mit mir wie zu der Zeit, als wir uns noch nicht gekannt hatten. Sie erzählte, sie habe einen Job als Dozentin an einer High-School in L. angenommen, zwei Bundesstaaten weiter. Ende des Sommers werde sie fortgehen. Ich hörte die Aufregung in ihrer Stimme. Ein ganzes neues Leben. »Man muß an sie rankommen, solange sie noch kleine Kinder sind.« »Das schaffen Sie schon«, versicherte ich ihr. »Und was wird aus Ihnen? Werden Sie hierbleiben?« »Weiß noch nicht.« Wir schwiegen ein Weilchen, und es war friedlicher als alles, was sich bis dahin zwischen uns abgespielt 443
hatte. Der Frieden jenseits der letzten Seite. »Na ja, bin froh, daß wir miteinander gesprochen haben. Irgendwie.« Sie kicherte. »Passen Sie auf sich auf. Wir sehen uns noch, bevor wir beide uns auf den Weg machen.« Aber wir sahen uns nicht mehr. Nur noch schriftlich.
Richard«, flüsterte Helen. »Richard. Erzähl mir noch mehr.« Ich nehme an, sie liebte mich. Ich erinnerte sie an irgend etwas. An einen kühlen Abend, den sie nie erlebt hatte. An ein Wo, wo sie einmal gewesen zu sein glaubte. Am meisten lieben wir das, dem gleichzukommen wir nicht hoffen dürfen. Ich erzählte dieser Frau alles mögliche, nur nicht, was ich für sie empfand. Das einzige, das sie womöglich gehalten hätte. Ich kam zu spät dahinter, was aus ihr geworden war. Ich hätte sie lehren sollen, was ich nicht wußte.
Harold, heiter und unergründlich wie immer, brachte das letzte Hindernis. »Hier ist das Werk, das die beiden interpretieren sollen.« Ich nahm das Blatt entgegen. »Das ist alles? Das soll wirklich alles sein?« »Wie? Hatten Sie mehr erwartet:« »Nun ja, ja. Ich hatte ein Thema erwartet wie zum Beispiel ›Erörtern Sie, wie die von der Industriellen Revolution ausgelösten Klassenspannungen zu der in den folgenden drei Werken evidenten romantischen Reaktion geführt haben.‹« »Kein Interesse«, sagte Harold. »Irgendwas über Tiefenpsychologie und die willkürliche Unbestimmtheit von Zeichen.« 444
»Die beiden sollen mir nur sagen, was das bedeutet.« »Das? Diese zwei Zeilen?« »Zuviel? Na gut, wenn Sie wollen, nehmen Sie nur die erste.« Auf dem praktisch leeren Blatt war zu lesen: Sei nicht in Angst! Die Insel ist voll Laut, voll Tön’ und süßer Lieder, die ergötzen und niemand Schaden tun. Calibans Deutung des Banns, mit dem sein Herr ihn belegt hat. Harold hatte uns überrumpelt. Er hatte uns genau das gegeben, was wir von ihm erwartet hatten. »Ein Werk ist das ja nicht gerade«, wandte ich ein. Helen hatte die gesammelten Werke von Trollope und Richardson gelesen. Das Nihilistischste von Brontë und Twain, das unergründlichst Verschlüsselte von Joyce, das Entsagungsvollste von Dickinson. »Geben Sie ihr eine Chance, sich zu beweisen.« »Das hier ist ihre Chance«, sagte Harold.
A. schickte ihren Aufsatz mit der Fakultätspost. Helen deponierte ihren im Laserdrucker. Lentz hielt mir die beiden Arbeiten hin, als gelte es noch eine Frage zu entscheiden. »Also. Hinter welchem der beiden steckt ein kluger Kopf?« Keine von beiden hätte die Anspielung bemerkt. A. war zu jung, Helen viel zu alt.
445
A.
hatte eine mehr oder weniger geistreiche Interpretation nach Art der Neuen Historischen Schule abgeliefert. Für sie war Der Sturm eine Reaktion auf die Kolonialkriege, auf das konstruierte Anderssein, auf die gewaltsame Beschränkung, der die Gesellschaft sich selbst unterwirft. Sie erteilte jeder Verheißung von Transzendenz eine entschiedene Absage. Dabei gelang ihr mindestens ein sehr spürbarer Treffer, indem sie einräumte, daß jene Worte von einem Ungeheuer gesprochen werden, von dem niemand erwartet, daß es etwas so Schönes sagen kann beziehungsweise daß es überhaupt etwas sagen kann.
Helen hatte geschrieben: Ihr seid Wesen, die Melodien hören können. Die Angst oder Mut haben können. Ihr könnt Gegenstände in die Hand nehmen und sie zerbrechen und instand setzen. Ich habe mich hier nie heimisch gefühlt. Es ist furchtbar, an einem solchen Ort auf halber Strecke fallengelassen zu werden. Unten auf der Seite standen zusätzlich ein paar Worte, die ich sie gelehrt hatte, Worte aus einem Brief, den ich Helen einmal hatte vorlesen müssen. Paß auf dich auf, Richard. Sieh Dir alles für mich an. Und damit löste H. sich auf. Legte sich selber still. »Anmutige Erniedrigung«, befand Lentz. Genau die Art von Erkenntnis, auf die wir es von Anfang an abgesehen hatten.
446
Sie hätte unmöglich bleiben können. Ich hatte es schon lange gewußt und noch länger verdrängt. Ich wußte noch nicht, wie mir jetzt, ohne sie, das Bleiben möglich sein sollte. Sie war nur kurzfristig zurückgekehrt, bloß um diesen winzigen Text zu kommentieren. Um mir diese eine kleine Sache zu sagen. Leben hieß, einen anderen davon zu überzeugen, daß man wußte, was es hieß, am Leben zu sein. Die Welt hatte ihren TuringTest noch vor sich.
Entschuldigt, Leute«, fing Ram an. »Immer diese Ärzte. Sind verliebt in ihre Tomographen. War nicht meine Absicht, Sie so lange warten zu lassen.« Er fuchtelte wütend, Vergebung heischend. »Ärzte?« fragte ich. »Tomographen?« Harold und Lentz sagten nichts. Ins Wissen verwickelt, blickten sie weg. Peinlich berührt, weil ich es nicht schon längst bemerkt hatte. Ram tat meine Frage, das ganze Thema mit einer Handbewegung ab. »Ich habe mich hierfür entschieden.« Er hielt A.s Arbeit hoch. »Das hier stammt von einem Menschen.« Wie viele Monate kannte ich ihn schon und hatte nichts bemerkt? Jetzt, da ich wußte, worum es ging, sah ich die Anzeichen überall. Ödeme, Gewichtsverlust, zunehmende Blässe. Die gespielte gute Laune von Freunden. Der Mann war unheilbar krank. Er brauchte jedes Wort, das irgendwem in den Sinn kam. Ram blätterte wie zwanghaft in A.s Aufsatz herum. Er bewunderte sie schon, allein wegen ihrer anonymen Worte. »Sehr konturenreich, dieser zerebrale Cortex. Die wissen nie, wann sie genug haben, diese Menschen.« 447
Lentz sprach, selig in der Niederlage. »Gupta. Sie blöder Ausländer. Sie wissen wohl nicht, wie man ein Urteil fällt? Sie sollten doch den gefühlsmäßigen Favoriten benennen.« Den Benachteiligten. Den, den der Test getötet hatte. »Ram«, sagte ich. »Ram. Was haben Sie?« »Nichts. Nur ein Kratzer.« Er tippte erregt mit einem Finger auf A.s Arbeit. Ganze neue Inseln erhoben sich aus dem Meer. »Kein schlechter Autor, dieser Shakespeare. Für einen hegemonialen Imperialisten.«
Also, Powers. Wie weit waren wir noch mal? Imp H? Ihnen ist doch klar, wie wir das nächste zu nennen haben?« Ich stand ein letztes Mal im Trainingslabor. Sah es zum ersten Mal, für sie. »Philip?« Noch fünf Minuten länger in diesem stillgelegten Büro, und ich würde Helens Beispiel folgen. Zusammenbrechen unter der Last dessen, wozu sie mich verurteilt hatte. »Noch eine – noch eine einzige Frage?« »Das sind zwei. Sie haben Ihre Quote bereits überschritten.« »Warum wollten Sie etwas konstruieren, das –?« Ich wußte nicht mehr, wie ich es nennen sollte. Was wir konstruiert hatten. »Warum tun wir überhaupt etwas? Weil wir einsam sind.« Er dachte kurz nach und schien mit sich einverstanden. Ja. »Um was zu haben, womit wir reden können.« Lentz lehnte sich großspurig zurück. Ein halber Meter Zeitschriften krachte auf den Fußboden. Zu spät im Leben kam er auf den Geschmack an Bagatellen. »Und wo wollen Sie jetzt hin?« »Was weiß ich.« Paris. »Das Schicksal des Schöpfers ist ein Wanderdasein?« »Nein, nicht direkt. Ich bin bereit einzusteigen.« Ich mußte nur noch den richtigen Anbieter finden. »Wie alt sind Sie?« 448
»Sechsunddreißig.« »Aha. Also eben im dunklen Wald angekommen. Sehen Sie’s mal so: Sie haben noch Ihr halbes Leben vor sich, um zu erklären, was Sie bis jetzt angerichtet haben.« »Und was ich während dieser Zeit anrichte?« »Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Idee.« »Und Sie wollen den Lit-Quiz beenden?« Lentz schnaubte. »Wir haben verloren. Sie kennen die Wette. Der Konnektionismus muß zu Kreuze kriechen. Wir schulden dem Gegner einen öffentlichen Widerruf. Schreiben Sie ihn.« Ich wandte mich aus dem Büro, denn mir war ein Gedanke gekommen, den das kleinste Blinzeln wieder zerstreut hätte. Ich war an eine Unzahl öffentlicher Erfindungen geraten. Daß wir die Zeit in eine fortlaufende Geschichte einpassen konnten. Daß wir einer Maschine das Sprechen beibringen konnten. Daß uns interessieren könnte, was sie zu sagen hätte. Daß die unendliche Dinglichkeit der Welt einen Namen hatte. Daß das Bild der Gitterstäbe eines anderen uns motivieren konnte. Daß wir mehr als einmal lieben konnten. Daß wir wissen konnten, was einmal bedeutet. Jede Metapher modellierte den Modellierer, der sie zusammenkleisterte. Mir schien, daß ich doch noch etwas zu erzählen haben könnte. Ich zog los, versuchte eine Tastatur zu finden, bevor die Erinnerung verblaßte. Nach zwei Schritten in den Korridor des Zentrums hörte ich Lentz. Er rief mir nach, und ich schlich an seine Tür zurück. Er saß nach vorn gebeugt an seinem Schreibtisch, in der Hand die Brille mit den Colaflaschengläsern. Er musterte die leeren Bügel, klopfte sich dann damit an die Brust. »Marcel«, sagte er. Berühmte vorletzte Worte. »Bleiben Sie nicht zu lange.«
449