Heiner Link Frl. Ursula Roman Mit einem Nachwort von Norbert Niemann
Rowohlt Umschlaggestaltung: any.way, Cathrin Günth...
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Heiner Link Frl. Ursula Roman Mit einem Nachwort von Norbert Niemann
Rowohlt Umschlaggestaltung: any.way, Cathrin Günther
© Copyright 2003 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg ISBN 3 498039164
Heiner Link
Frl. Ursula Roman Mit einem Nachwort von Norbert Niemann
Rowohlt
2
Mit «Frl. Ursula» hat Heiner Link sicherlich
seinen
vergnüglichsten Roman geschrieben. Er könnte als das
große
Freunde Erfolge
Bekenntnis
über und
eines
Amouren, tra gische
Mannes und seiner
L iebesversuche,
sexuelle
Zurückweisungen
gelesen
werden, wäre die Tonlage des Romans nicht von einem so trockenen Witz getragen. Illusionslos präzise erzählt Link, der im Mai 2002 im Alter von 42 Jahren bei einem
Unfall starb, von
Helden
ihren
und
Versagern
und
zahllosen
Unternehmungen, um den zwischengeschlechtlichen Standardsituationen erfolgreiche Höhepunkte hinzu zufügen. Ein ähnlich intimes Bild der Liebe heutigen
Zeit
und
einen
Einblick in die verletzliche
vergleichbar
in der
freizügigen
Psyche des Mannes hat
lange kein Autor zu zeichnen gewagt. Heiner Link gelingen in seinem Roman zahlreiche Kabinettstücke leidenschaft lichen Feuers, verzwei felter Komik und nüchterner Akrobatik. Zugleich fügt er der vor allem in Bayern gepflegten Tradition, in der Maske des Biedermanns als gewiefter aufzutreten, ein lustvolles Kapitel hinzu.
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Provokateur
heiner link wurde I960 geboren. Er starb 2002 bei einem Motorradunfall in München. Link veröffentlichte zahlreiche Erzählungen und Texte, u. a. «Hungerleider», Roman (1997), «Affen zeichnen nicht», Humoresken (1999), und das InternetTagebuch «Mein Jahrtausend» (2002). In zwei Anthologien «Trash-Piloten» und «Eine Laus im Uhr gehäuse» versammelte er ‹Texte für die 90er‹) und ‹Komische Gedichte‹).
Foto des Autors: privat
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1. Auflage März 2003 © Copyright 2003 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten Satz aus der Stempel Garamond PostScript PageMaker bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 498039164 Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. 5
Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von schweren Träumen aufdämmere... J.W. VON GOETHE
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1,2,3
7
1
Scherers erster Verkehr Der erste Versuch sei misslungen, sagte
Scherer. Er habe sich im Alter von sechzehn Jahren dazu ein Mädchen namens Gabi Oberpollinger ausgesucht, gleichaltrig und in ihn verliebt. Er habe diese Liebe natürlich nicht erwidert, denn Gabi Oberpollinger sei nicht besonders hübsch gewesen. Genauer gesagt habe sie kein hübsches Gesicht gehabt. Der Körper sei allerdings perfekt gewesen. Es habe, so Scherer, zunächst mehrere heimliche Intimitäten auf einer hölzernen Pritsche im Schrebergartenhäuschen ihres Vaters gegeben, bevor er sie schließlich zu sich nach Hause gebeten habe, wo er sein Bett mit schweren Frotteehandtüchern ausgelegt habe, starke Blutungen einkalkulierend. Gabi Oberpollinger sei damals pünktlich eingetroffen und habe sich von ihm, der nur einen Bademantel trug, vollständig entkleiden lassen. Man habe sich aufs Bett gelegt und sofort in eindeutiger Art und Weise berührt, sei schließlich ohne nennenswerte Verzögerung in Stellung gegangen und habe die Vereinigung vollziehen wollen, was aber nicht gelungen sei. Gabi Oberpollinger habe schließlich Hand angelegt, um ihm den Weg zu weisen, worauf er auf ihren Unterbauch ejakuliert habe. Dies sei insgesamt zweimal passiert. Er habe den Versuch schließlich mit der Vermutung abgebrochen, Gabi Oberpollinger sei nicht richtig gebaut. Aber das sei natürlich Unsinn gewesen, sagte er, sie habe sich drei Monate danach von einem dreißigjährigen Gerüstbauer entjungfern lassen, sei auch sofort schwanger geworden und lebe heute als allein erziehende Mutter von drei Kindern in der Nähe von Murnau. Verschwinde! Im Supermarkt der Gefühle kann so ein Wort leicht untergehen. Man nimmt es nicht wahr, wie man zum 8
Beispiel Schimmelkäse nicht wahrnimmt, wenn man ihn nicht mag. Oder meinetwegen Innereien, weil man sich aus unbestimmten Gründen davor ekelt. Verschwinde! Wo habe ich dieses Wort zuletzt gehört? Richtig: in Nachbars Garten. Ein Hund, genauer gesagt ein Hündchen, stand in Nachbars Garten und machte Anstalten, am Rhododendron zu urinieren. Vielleicht, um sich zu erleichtern. Vielleicht auch, um ein neues Revier zu markieren. Jedenfalls nicht zur Freude meiner Nachbarin. Das eigentlich erste Mal sei in einem Schwabinger Lokal passiert, so Scherer. Mit einer Kellnerin namens Jutta, einige Jahre älter und einen Kopf größer als er. Scherers Beschreibung nach musste es sich um eine außergewöhnlich hübsche Person gehandelt haben; er verwendete einschlägige Adjektive. Des Weiteren ließen Scherers Ausführungen darauf schließen, dass die halbe Stadt das letzte Hemd dafür gegeben hätte, mit dieser Frau zu kopulieren, Nämliche sich allerdings stets sehr kühl, kontrolliert und distanziert zu verhalten wusste. Selbstverständlich hätte ich das Hündchen in unserem Garten gewähren lassen. Niemals wäre mir das Wort Verschwinde! über die Lippen gekommen. Ich habe ja noch nicht mal etwas gegen die Ameisen unternommen, die sich in unserer Küche breit machten. Bis hinein in eine schlampig verschlossene Ketchupflasche, in der ihnen eine perfide Mischung aus Branntweinessig, Glukosesirup, Zucker und Lycopin den Garaus machte, fanden sie den Weg. An dem von meiner Frau ausgelegten Gift gingen sie nicht ein. Unternimm endlich etwas, hieß es schließlich von allen Seiten. Selbstverständlich auch vonseiten der Schwiegermutter. Seinen Angaben zufolge musste es eine Märznacht im Jahre 1979 gewesen sein. Wenn er sich recht erinnere, sei das Europäische Währungssystem gerade in Kraft getreten. In dieser Nacht also musste er in dieser Schwabinger Kneipe 9
gestanden haben, und zwar am Ende des Tresens, von wo aus er Juttas Beine anhimmelte, mit einer gewaltigen Erektion in der Hose und einem Glas Bourbon Cola mit Eis in der Hand. Er war 16 Jahre und neun Monate alt und ein, wie er es ausdrückte, «milchgesichtiges Bürschchen». Auf ihn, ausgerechnet auf ihn, soll das Objekt der Begierde ein Auge geworfen haben. Ihn und nur ihn habe sie den ganzen Abend angelächelt und einmal im Vorbeigehen sogar ms Gesäß gekniffen. Scherer räumte ein, dass er es selbst kaum glauben konnte, die Angebetete ihn aber schließlich tatsächlich gebeten habe, mit nach hinten in einen Lagerraum zu gehen, um beim Transport von Coca-Cola-Kisten behilflich zu sein. Im Raum befindlich, habe sie allerdings keinerlei Anstalten gemacht, sich den amerikanischen Brausegetränken zuzuwenden, sie habe sich stattdessen weit über einen Tisch nach vorne gebeugt und «irgendwie herumgekramt». Durch diese Verrenkung habe der äußerst knapp bemessene Minirock nicht mehr verdecken können, dass sie kein Höschen trug. Er könne nicht mehr genau sagen, wie lange er unschlüssig gewesen sei und woher er schließlich den Mut genommen habe, hinter die Dame zu treten und diese sachte am Oberschenkel zu berühren. Die Menschen, Leute muss man ja eigentlich sagen, scheinen nichts anderes zu tun zu haben, als Anordnungen und Aufforderungen zu erlassen. Wenn ich darüber nachdenke, nimmt es merkwürdige, ja groteske Züge an. Das Bild eines Menschen kommt mir in den Sinn. Das Bild eines Menschen, der auf rätselhafte, aber zweifellos gewaltsame Art und Weise umgebracht wird. Langsam, quälend langsam nimmt das Bewusstsein dieses Menschen ab. Ein Mord geschieht. Ein Serienmord. Komplexe Motive wären zu klären, wäre die Anzahl der Mörder in diesem Fall nicht größer als die Anzahl der Kriminalkommissare. Die Leute sterben eben, heißt es. Widerspruch zwecklos, heißt es. Ameisen sind gegen Ameisengift resistent, heißt es. Letzteres wusste ich. Dass sie in Ketchup verenden, hätte ich nicht gedacht. 10
Besagte Jutta habe die zarte Berührung ihres Oberschenkels akzeptiert und auch weitere Erkundungen hingenommen. Es habe ein wenig gedauert, bis er sich zu ihrem Geschlechtsorgan vorgetastet habe, er sei aber dann sogleich mit zwei Fingern in sie eingedrungen und habe Erregung festgestellt. Zu seiner vollkommenen Überraschung sei er von ihr schließlich mit den Worten «Mach schon, mach schnell» aufgefordert worden, sie zu penetrieren. Zum erfolgreichen Vollzug des Geschlechtsverkehrs habe es allerdings der Mithilfe eines leeren Bierträgers bedurft, da seine Partnerin, wie bereits geschildert, erheblich größer war als er und außerdem hohes Schuhwerk trug. Die Dauer des dann folgenden Aktes schätzte Scherer auf maximal 20 Sekunden. Was wäre ein Leben ohne Überraschungen, heißt es. Aber das Volk hat eben immer eine Antwort parat. Das Volk hat schon immer Antworten entwickelt, mehr Antworten, als es Fragen gibt. Mehr Antworten, als es je Fragen geben wird, genauer gesagt. Wem gehört dieser Hund?, schrie die Nachbarin und jagte das Tier mit einem Besen. Wem gehört dieser Scheißköter? Die Leute benehmen sich eben nicht anständig gegenüber den Tieren. Vielleicht wären dem Rhododendron ein paar Blätter abgefault. Wäre das wirklich so schlimm gewesen? Ist es nicht sehr gewöhnlich, einen fremden Hund nicht im eigenen Garten zu dulden? Scherer meinte, in 20 Sekunden könne sie unmöglich zum Höhepunkt gekommen sein. Sie habe den Raum auch sofort und kommentarlos verlassen. Er habe sich nach einer kurzen Reinigung mit einem Papiertaschentuch eine Kiste Cola geschnappt, um nicht mit leeren Händen wieder im Lokal aufzutauchen. Jutta habe das seiner Einschätzung nach zwar nicht als Geste registriert, sei aber den Rest des Abends freundlich zu ihm gewesen. Ganz so, als ob nichts geschehen wäre. Und ganz so habe sie sich auch an allen folgenden 11
Abenden verhalten. Sie habe ihm allerdings nicht mehr ins Gesäß gekniffen, von einem weiteren Verkehr ganz zu schweigen. Sie werden es nicht glauben, meine Nachbarin hat sich verchromte Steckdosen einbauen lassen. Im ganzen Haus, sogar im Keller. Einen kaum neun Monate alten Parkettboden ließ sie erneuern, weil er ihr nicht mehr gefiel. Und ihr Mann, mein Nachbar, besaß ein Fahrrad für sechstausend Euro. Ich kriege das alles mit, weil das Haus das Nachbarhaus ist. Anonymität kann man sich schon wünschen, das Landratsamt allerdings spricht von drei Meter Abstand zur Grundstücksgrenze, das wären dann sechs Meter von Hauswand zu Hauswand, von Terrasse zu Terrasse. Dass man derart zusammenrücken muss, hat doch tatsächlich mit den Grundstückspreisen zu tun. Allerdings gilt der 3-Meter-Abstand nicht für Doppelhäuser. Natürlich habe er, Scherer, in den folgenden Wochen versucht, Jutta anzusprechen. Aber es sei nicht einmal mehr zu einem Gespräch gekommen. Dies habe zu einer ungeheuren Depression seinerseits geführt. Er habe geradezu das Gefühl gehabt, sie eventuell vergewaltigt zu haben. Scherer griff sich an die Stirn, welche er auch runzelte. Ausgerechnet zu diesem interessanten Zeitpunkt erschienen unsere Frauen auf der Terrasse, und Scherer musste unterbrechen. Meine Tochter trug unser Hauskaninchen mit meinen Arbeitshandschuhen an der Brust und zeigte es Scherer. Ein äußerst aggressives Tier, das zu versorgen ich mich immer weigerte. Nicht nur wegen der Beißwütigkeit, sondern auch, weil ich den Sinn eines Kuscheltieres grundsätzlich anzweifle. Er streichelte es nicht. Ich weiß nicht, ob es Intuition war, ich denke, er war zu abwesend für eine zärtliche Geste. Er war jedenfalls noch nicht am Ende und wartete ruhig ab, bis wir wieder allein waren. Wer diese Frau, meine Nachbarin, Margit Scherer, einmal dabei beobachtet, wie sie zum Beispiel einen Sack Torf aus dem 12
Kofferraum ihres BMW Z 3 in ihr Grundstück hineinträgt, weiß, dass mit ihr irgendetwas nicht in Ordnung ist. Sie hat aber gute Beine, das darf nicht verschwiegen werden. Wir Männer, mein Nachbar und ich, meine ich, hatten kaum etwas miteinander zu tun, denn Scherer war schließlich Geschäftsmann und viel unterwegs, und man weiß ja, dass es Geschäftsleute nicht einfach haben, dass sie keine Zeit haben und so weiter. Wenn ich einmal fünf Minuten Zeit habe, pflegte er des Öfteren über den Gartenzaun zu brüllen, widme ich sie sofort meiner Familie, das sollte heißen seiner Frau und diesem 7-jährigen Rotzlöffel mit französisch klingendem Vornamen, der angeblich sein Sohn ist. Er habe sie geliebt. Natürlich nicht anfangs. Anfangs habe er nur diverse Körperteile geliebt, anfangs sei sein Interesse an Jutta rein sexueller Natur gewesen. Aber dann sei völlig überraschend das Gewünschte eingetreten, und das habe sogleich das Ende der Beziehung bedeutet. Er habe sie sogar sehr geliebt. Ihre abweisende Haltung habe ihm geradezu körperliche Schmerzen verursacht. Ein ganzes Jahr, und das sei damals eine lange Zeit gewesen, habe er sich um kein anderes Mädchen gekümmert. Seine Freunde hätten schon begonnen... Lieber Scherer, unterbrach ich ihn, ich bin nicht dein Beichtvater. Darum geht es nicht, sagte er. Er habe sie letzte Woche zufällig getroffen. Auf dem Golfplatz. Sie habe ihn gar nicht erkannt, er dagegen sei sich sofort sicher gewesen und habe sie direkt angesprochen und auf einen Kaffee eingeladen. Man habe sich bestens verstanden und einige Stunden im Clubhaus verbracht. Finanziell, so Scherer, gehe es ihr allem Anschein nach gut. Scherer meinte, er habe sich natürlich sofort ausgemalt, mit ihr zu schlafen. Der 13
Gedanke, mit ihr zu schlafen, sei ein unmittelbarer gewesen, er habe von dem Moment des Wiedersehens an nichts anderes gedacht, und obwohl er nicht wirklich an den erfolgreichen Abschluss seiner Bemühungen geglaubt habe, sei es schließlich so weit gekommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Scherer beim Bau unserer Häuser mit seiner grässlichen Golfhose auf der Baustelle stand und Anweisungen gab. Er war, gelinde gesagt, nicht sehr beliebt bei den Arbeitern. Es macht eben keinen guten Eindruck, wenn man, ganz offensichtlich vom Golfclub kommend, mit einem dicken Mercedes vorfährt und mit Bauplänen und Meterstab bestückt eine anständige polnische Maurerkolonne in Aufruhr versetzt. Und Scherer war unerbittlich. Wenn eine Mauer nicht auf den Zentimeter genau da stand, wo sie laut Bauplan hätte stehen müssen, ließ er sie einreißen und neu aufmauern. Die polnischen Arbeiter mussten die Schikanen hinnehmen, urinierten dafür aber schamlos in seine auf der Baustelle deponierten Gummistiefel. Macht hat Grenzen. Es bildeten sich ein paar Kumuluswolken, und meine Frau brachte das marinierte Fleisch aus dem Haus. Scherers Frau, die meiner Frau gefolgt war, stellte sich dicht neben mich, der ich in der Glut stocherte. Sie sagte, sie liebe Männer, die Feuer machen können. Dann verschwanden die Damen wieder, und Scherer konnte fortfahren. Man habe noch ein leichtes Essen zu sich genommen, soweit er sich erinnere, Salat mit Joghurt-Dressing. Im Verlauf der Mahlzeit habe er sie schließlich direkt auf seinen Wunsch angesprochen, woraufhin sie ohne zu zögern geantwortet habe, sie würde nicht allzu weit vom Golfplatz entfernt wohnen. Auf ihren Wunsch habe man ihren Wagen genommen, BMW 3erReihe, neuwertig, gute Ausstattung, Firmenfahrzeug. Allerdings höchstens mittlere Führungsebene, sagte er. In der Wohnung 14
habe er nichts Auffälliges bemerkt, eine relativ schlichte 3Zimmer-Wohnung. Erwähnenswert wäre vielleicht das zu einem Fitnessraum umgebaute Kinderzimmer. Man habe Champagner zu sich genommen, sagte Scherer, zusammen fast eine ganze Flasche. Sie habe einen nervösen Eindruck gemacht. Er habe schließlich im Bad urinieren müssen. Anschließend habe er Jutta völlig nackt auf dem Bett vorgefunden, die Beine weit gespreizt. Es sei schon ein wenig direkt gewesen, aber er habe sich vor ihr in aller Ruhe entkleidet, und dann habe er sich aufs Bett und über sie begeben; und dann sei er in sie eingedrungen. Dominik, Scherers Sohn, bolzte seinen Adidas-WM-Ball vehement in unsere frisch angepflanzte Thujenhecke. Er hatte schon allerlei Schaden angerichtet, ohne dass Scherer auch nur ein Wort gesagt hätte. Seine Frau hatte ein- oder zweimal aus unserem Wohnzi mmer herausgekeift, kurz und lustlos. Und natürlich ohne jede Wirkung. Sie hatte aber gute Beine. Überhaupt war sie eine recht ansehnliche Person. Anschließend, so Scherer, habe sie geweint. Er habe natürlich versucht, sie zu beruhigen. Das nenne ich eine Grillparty!
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Erster Versuch an Frl. Ursula Wann war es, ich glaube im Winter
1984. Als erster Mensch schwebte der Amerikaner Bruce McCandless ohne jede Sicherheitsleine frei im All, 24 Steuerdüsen an seinem Anzug sorgten für eine Beschleunigung von bis zu 2 km/h im freien All. In eben jenem Jahr strich ich mit etwa derselben Geschwindigkeit durch einen Supermarkt und suchte nach Ölsardinen. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass mich meine Niederlagen beschäftigten. Ich fiel einer Verkäuferin auf. Ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Sie sprach mich an. Ob sie mir helfen könne, fragte sie mich. Der gestärkte grellweiße (Ariel) Arbeitskittel lag straff auf ihrem Busen. Auf dem Namensschild, das über der linken Brust angeheftet war, stand «Frl. Ursula». Sie lotste mich zum Ölsardinenregal, das heißt, ich hatte die Ehre, hinter ihr herzugehen. Bitte schön, sagte sie und lächelte mich an. Was hatte ich damals für ein Fahrzeug, richtig, einen Käfer. Es war kalt und das Auto war alt, ich erinnere mich. Ich musste auch an jenem Tag etwas vom Starthilfespray Caramba in den Vergaser sprühen, konnte den Wagen schließlich mit einer Aufsehen erregenden Stichflamme starten und in Gang setzen. Und an der nächsten Kreuzung schon rutschte mir ein Steuerberater von hinten in den Wagen, und das brachte von der Versicherung dreimal so viel, wie der Käfer überhaupt gekostet hatte, 900 Mark. Sie merken, ich spreche von einem Glückstag. Ich frequentierte also von nun an regelmäßig diesen Supermarkt, aber ich hatte keine Strategie. Alles, was mir einfiel, war, Ölsardinen zu kaufen. Ich weiß nicht mehr, worauf ich wartete, auf ein Wunder oder ein Unglück, oder auf beides zusammen, jedenfalls schien nichts davon einzutreten, und irgendwann sah ich ein, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich glaube jedenfalls, mich daran zu erinnern, dass ich mich in die Gemüseabteilung zurückzog und mir, in Speisepilzen kraulend, 16
einen selbstbewussten Satz zurechtlegte. Ich glaube allerdings auch, mich daran zu erinnern, dass mir eine entsprechende Umsetzung nicht vergönnt war, darf aber melden, dass sich Frl. Ursula trotzdem von mir zum Essen einladen ließ. Die Art meines Vertrages muss doch derart gewesen sein, dass ihr Entschluss an wärmster Stelle ratifiziert wurde. Nun gut, um Frl. Ursula abzuholen, lieh ich mir von Joe, der eigentlich Johann hieß, dessen 2,8 l Ford Capri in MartiniFormel-1-Lackierung aus. Weniger, um damit anzugeben, einfach deshalb, weil mein Käfer nicht mehr lief. Beim Schalten Zwischengas bitte schön, sagte Joe, ich lass mir von dir nicht das Cosworth-Getriebe ruinieren. Die jungen Menschen waren eben schon in den 8oern sehr markenbewusst. Das Fahrzeug hatte übrigens auch einen bekannten Markenrennauspuff, der Markenname ist mir allerdings heute nicht mehr erinnerlich. Sehr wohl aber das Zwischengasgeräusch. Der Vollständigkeit halber muss ich erwähnen, dass das Fahrzeug mit einem Überrollbügel ausgestattet war, mit Schalensitzen (Recaro, glaube ich), Sechspunktgurten und sonstigem Rennsportzubehör. Frl. Ursula fühlte sich sichtlich unwohl. Meine Erklärungsversuche scheiterten jedenfalls am Zwischengaslärm. Aber wir hatten ja ein nettes und ruhiges italienisches Lokal gewählt, wo ich vom zuständigen Kellner mit einem unterwürfigen «Prego, Signore» einen sehr intimen Zweiertisch direkt neben den Toiletten zugewiesen bekam. Der Kellner hatte mich sehr kurz gemustert, dann der Signora den Mantel abgenommen und schließlich mir, der ich gar nicht erst gefragt wurde und der ich die Lederjacke deshalb unkomplizierterweise einfach anbehielt, diesen Tisch zugewiesen. Frl. Ursula setzte sich und sah mich fragend an. Ich fing sofort an zu schwitzen. Mein Budget lag bei unvorstellbaren 50 Mark, und der Kellner setzte noch einen drauf. Er ging mit der Signora die Karte rauf und runter, und so bestellte die Signora eine Vorspeise, ein 17
Nudelzwischengericht, ein Fleischhauptgericht, sehr teuren Wein und dazu Mineralwasser in merkwürdig aussehenden Flaschen, und da sie dann zögerte, musste ich natürlich auch noch für eine Nachspeise plädieren und gleichzeitig eine Magenverstimmung vortäuschen. Ich bestellte Pizzabrot für mich. Und eine kleine Cola. Cola bietet sich ja bei Magenproblemen an. Der Kellner würdigte mich keines Blickes. Sie liebe es, gut zu essen und zu trinken, sagte Frl. Ursula, und sie schickte eine fragende Bemerkung hinterher, die sich auf mein sinnliches Leistungsvermögen bezog. Ich benetzte in heller Aufregung meine Lippen, mit der Coca-Cola. So sparsam es ging, versteht sich. Der Kellner schien nun seine Aufgaben vollständig zu vernachlässigen. Mehrere Pärchen betraten das Lokal bei völlig freier Platzwahl. Genauer gesagt, es konnte völlig willkürlich in den Weiten des Lokals Platz genommen werden, ohne dass dieser Gnom auch nur ansatzweise eingeschritten wäre. Vielmehr kümmerte er sich um die Signora an meinem Tisch. Noch einen Cappuccino? Einen Grappa vielleicht, Signora? Die Kommunikation mit Frl. Ursula verlief übrigens schleppend. Was machst du denn so? Student. Aha. Ach, ich esse so gerne, sagte sie. Und dieser Wem ist einfach vorzüglich. Ich war unkonzentriert, und wann immer ich mich nach vorne beugte, um etwas zu sagen, stand der Kellner am Tisch: Signora, haben Sie einen Wunsch? Beim Stand von 72 Mark 20 begab ich mich stark gekrümmt auf die Toilette, suchte dort fieberhaft alle Taschen nach Bargeld ab, fand nichts, das heißt 20 ungarische Forint. Ich versuchte 18
mich durch das Toilettenfenster ins Freie zu zwängen, um den Ford Capri nach Bargeld abzusuchen, wobei ich mir meine Lederjacke ruinierte. So war das, in Zeiten des Bargeldes. Frl. Ursula half großzügig aus, hinterließ Emile, dem Kellner, ihre Telefonnummer, und ich gab auf der Fahrt nach Hause kräftig Zwischengas.
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Scherers Anwalt Irgendetwas hatte dieser Grillabend mit Scherer
in mir ausgelöst. Ich dachte zunächst an eine besondere Depression und erhöhte die Johanniskrautdosierung um das Vierfache. Dann natürlich um das Zehnfache. Ohne jede Wirkung. Stellen Sie sich bitte einen dieser dunkelbraun gebeizten hölzernen Baumarktgartenstühle vor, die man hie und da zum Schnäppchenpreis von 69,90 erstehen kann. In einem solchen saß ich also auf unserer Terrasse, ein Glas Whisky Sour in der Hand, Schweißperlen auf der Stirn. Es war ein relativ windstiller Sommerabend. Nichts regte sich. Scherer sprach direkt und ohne jede Vorwarnung durch die noch nicht ganz zusammengewachsene Thujenhecke. Und ich verschüttete mindestens die Hälfte meines Whisky Sour. Na! Gönnt man sich noch ein Gläschen? Das Ärgerliche des Verschüttens. Das Gefühl, irgendwie ertappt zu sein. Ertappt worden zu sein. Also, das wäre ja ein ganz fabelhafter Abend gewesen, wirklich ganz fabelhaft, er wolle sich nochmals bedanken und bei dieser Gelegenheit fragen, ob ich Golf spielen würde. Wie gesagt: Es deutete alles auf eine Katastrophe hin. Nun, das wäre ausgesprochen schade, denn er sei Vorsitzender eines Golfclubs, und da gebe es eine kleine Männerrunde, zu der ich bestimmt gut passen würde. Er habe mindestens drei neuwertige Schlägersätze im Keller, sozusagen zur freien Verfügung. Er würde mir gerne einen überlassen. Des Weiteren sprach er von Schnupperkursen, geselligen Abenden, wies außerdem darauf hin, dass mir - ich zitiere wörtlich - ein wenig mehr Kontakt mit der Außenwelt 20
nicht schaden könne. Schließlich meinte er, ich könne es mir ja mal überlegen. Er wartete einen Moment, ließ aber schließlich die von seinen haarigen Händen auseinander gehaltenen Pflanzen einfach wieder zusammenfallen. Überleg es dir, sagte er, und dann hörte ich seine Terrassentür einschnappen. Meine Frau schlief in unserem Wohnzimmer mit offenem Mund vor dem Fernseher. Ich konnte sie durch das Wohnzimmerfenster sehen. Kein schöner Anblick. Sie schien sich zu entspannen. Sie machte natürlich auch Geräusche, die bis ins Freie zu hören waren. Ich ging sofort ins Haus und überlegte einen Moment, schloss die Tür zur Außenwelt, verdunkelte unser Wohnzimmer, schließlich zog ich die Flasche Wodka so vorsichtig wie möglich aus dem Barfach, schlich in mein verkabeltes Arbeitszimmer und gab mich einem Godzilla-Film hin. Wenn mich eines entspannt, ist es ein Godzilla-Film. Zwei Tage später saß ich in Scherers Auto. Scherer sagte: Du wirst es nicht bereuen. Den Schnupperkurs hatte ich mit einiger Mühe verweigert. Meine Zusage war auch insgesamt sehr zögerlich und unverbindlich gewesen. Scherer hatte sich auf der Fahrt zum Golfclub tatsächlich bemüht, die Runde interessant zu reden. Es werde nicht ständig über Golf gesprochen, da gäbe es ja auch noch andere Themen, sagte er. Und das war keineswegs untertrieben. Sie sind alle frigide, sagte Scherer. Er überlegte eine Weile. Im Grunde genommen sind sie zur Frigidität verdammt. Die einzig wirkliche Macht der Frauen ist die der sexuellen Verweigerung, sagte er. Ich schwieg, Scherer lächelte. Wahrscheinlich purer und andauernder Frust, sagte Dr. Ulf Seybold, der mit am Tisch saß. Seybold war Scherers Anwalt und ihm zudem freundschaftlich verbunden. Er war ein großer, hagerer Enddreißiger mit starkem Haarausfall und einer Warze auf dem linken Mittelfinger. Überhaupt, so Seybold, wäre es völlig lächerlich, sich heutzutage noch auf dem freien Markt umzusehen. Kranke 21
Hirne allenthalben, er wisse genau, wovon er spreche. Er habe in seiner bisherigen Karriere mit exakt 52 Mandantinnen verkehrt. Von der 19-jährigen Abiturientin bis hin zur 53jährigen Chefsekretärin wäre da alles dabei gewesen, was man sich nur vorstellen könne. Alle krank, sagte er. Alle wollen sie heiraten. Die Jüngeren wollen ein Haus und Kinder, die Älteren teure Kleider und Luxusurlaube. Es gebe natürlich auch die Ehrgeizigen, fügte er hinzu, diejenigen, die 16 Stunden am Tag in einer Werbeagentur schuften. Die, so Seybold, wollen einen adäquaten Partner, der auch keine Zeit fürs Leben hat. Scherer lachte. Und dann erzählte Seybold die Geschichte von Mary. Jene Mary, eine ausgesprochen attraktive Studentin der Kunstgeschichte, sei eines Tages mit einem kleinen Problem in seiner Kanzlei aufgetaucht. Sie habe ihm ohne Umwege oder gar falsche Scham erklärt, als Gelegenheitsprostituierte tätig zu sein. Im Zuge dieser Beschaffungsmaßnahme habe sie sich gegen Zahlung von DM 500 in bar von einem Steuerberater zu einem Schäferstündchen überreden lassen. Man habe im Vorfeld alles geklärt, französisch beidseitig, Verkehr in diversen Stellungen, Dauer drei Stunden vom Schließen der Wohnungstür an gerechnet. Das Treffen sei auch normal angelaufen. Für das erste Finale habe man sich schließlich in die so genannte Missionarsstellung begeben. Es sei alles ziemlich normal verlaufen, erwartungsgemäß sei der Steuerberater schließlich schneller und hektischer in seinen Bewegungen geworden, und da habe sie, Mary, rein routinemäßig den Sitz des Kondoms überprüft. Dies sei nach Aussage der Studentin in aller Regel eigentlich eine zusätzliche Stimulanz, habe aber in jenem Fall dazu geführt, dass der Finanzfachmann die Kontrolle über sich verlor. Sie könne es sich nicht erklären, er habe sie jedenfalls mehrfach ins Gesicht geschlagen. Er habe fortgefahren, sie zu penetrieren, habe sie aber gleichzeitig heftig geschlagen und 22
beschimpft. Es sei ihr schließlich gelungen, ihn wegzustoßen und einen im Nachttisch deponierten Gasrevolver zu ergreifen. Damit habe sie ihn aus der Wohnung vertreiben können. Der Hausarzt habe eine angebrochene Nase attestiert. Hinzu komme, dass sie der Steuerberater nun telefonisch bedrohen und die Herausgabe der 500 Mark einfordern würde. Man stelle sich diesen Idioten vor, sagte Scherer. Allerdings, ergänzte Seybold. Zum Glück strotzt diese Welt nur so vor Idioten. Das mache es für den Rest der Menschheit spannend. Selbstverständlich sei das Schmerzensgeld pünktlich eingetroffen, so Seybold, und die Studentin habe nicht schlecht gestaunt. Und selbstverständlich habe er, Seybold, sich seine Leistung nicht mit Geld aufwiegen lassen, sondern die Dienste dieser Mary in Anspruch genommen. Er habe sich das ein paar Mal angeschaut und wäre angenehm überrascht gewesen. Sie habe sich stets viel Zeit für ihn genommen, sogar der Austausch von Zärtlichkeiten sei erlaubt gewesen. Mit Ausnahme des ZungenKusses, so Dr. Seybold. Schließlich habe er den Entschluss gefasst, Nägel mit Köpfen zu machen, und habe Mary in ein teures italienisches Restaurant eingeladen. Man habe sehr gut gespeist und Champagner dazu getrunken. In gelöster Stimmung sei schließlich ausgehandelt worden, dass besagte Mary gegen ein Entgelt von DM 2000 pro Monat eine Nacht die Woche zur Verfügung zu stehen habe, ZungenKuss und handelsunübliche Zärtlichkeiten inklusive, das habe er sich bei diesem Preis sehr wohl auserbeten, schließlich sei eine gewisse Grundsympathie durchaus vorhanden gewesen. Er wisse sowieso nicht, wohin mit all dem Schwarzgeld, er hätte ihr auch DM 5000 geben können, kaufe ihr aber lieber zwischendrin ein Kleid. Das halte die Stimmung oben.
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Die Liebe, so Seybold, ist eine Illusion, und die habe er sich eben einfach gekauft. Nur ausgesprochene Idioten würden glauben, das ginge nicht. Das wäre doch auch was für dich, sagte Scherer. Ich habe kein Schwarzgeld, sagte ich. Das ist bedauerlich, sehr bedauerlich, raunte Dr. Ulf Seybold.
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Frl. Ursulas Freundin Frl. Ursula sah mich von nun an in einem
ganz anderen Licht. Der italienische Abend hatte zweifellos einen Respektverlust zur Folge, der mir viel Kummer bereitete. Allerdings hatte er mir auch ein Vergnügen der besonderen Art beschert, von dem nun berichtet werden muss. Wie man sich vorstellen kann, kostete es mich einige Supermarktbesuche, um die Angebetete wieder positiv zu stimmen. Einfach war es nicht. Stellen Sie sich vor, einen Supermarkt zu betreten und sich nicht wirklich als Kunde zu fühlen. Es hieß, sich etwas Originelles einfallen zu lassen. Ärgerlich. Ich war ein junger Mensch, und prompt hatte ich jemanden zu beeindrucken. Ich suchte nach einem lässigen Einfall. Dies geschah häufig. Der Prozess zog sich über Wochen hin. Essengehen kam ja nicht mehr in Frage. Es gab eine recht angenehme Eisdiele in der Nähe, in der man bei einem Ananasbecher relativ unspektakulär hätte verhandeln können; allerdings unter italienischer Führung, was mir zu riskant war. Disco natürlich, darauf hatte es hinauszulaufen. Disco bedeutete aber auch Konkurrenz. Und tanzen. Und dann kam der Tag der Entscheidung. An jenem Tag saß sie an der Kasse. Damals musste ja auch noch alles eingetippt werden, einzeln. Sie hatte sich die Haare hochgesteckt, was mich von Haus aus verrückt macht. Und dann dieser Spiegel, der an der Decke angebracht war, genauer gesagt, ihr Blick in den Spiegel. Es kam mir alles sehr souverän vor. Hinter mir hatte sich eine Rentnerin angestellt, den Wagen voll Katzenfutter. Sie wusste natürlich in keinster Weise, worum es eigentlich ging, häufte eine um die andere Weißblechdose aufs Band und schob mir, der ich versuchte, mich zu konzentrieren, ihren Einkaufswagen in den Hintern. Vor mir stand ebenfalls eine Rentnerin, die, tief über ihre Geldbörse gebeugt, versuchte, Münzen zu unterscheiden. Sie versuchte es eine 25
Weile, sagte dann «Entschuldigen S', Fräulein». Das Fräulein reagierte sehr höflich und stressabbauend. Kein Problem. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Sie warf einen Blick auf meine Ölsardinendose. Von hinten schob das Katzenfutter. Gnädige Frau, sagte ich, ich kann mich nicht in Luft auflösen. Was? Wie? Sie schien mich nicht zu verstehen. Vorne wurden dem Fräulein schließlich Münzen zur Identifikation gereicht. Irgendwie schien aber auch das nicht wirklich zu funktionieren. Wenn Sie so nett sind, sagte die Dame schließlich zu meinem Fräulein und reichte ihr die Geldbörse. Selbstverständlich. Bin ich schon dran, rief die Dame hinter mir und schob mich auf die vordere Dame. Junger Mann?, entrüstete sich diese. Ehrlich gesagt war es mir dann irgendwie nicht vergönnt, das, was ich mir lang und breit ausgedacht hatte, entsprechend lässig zu formulieren. Ich darf aber melden, dass die Dame meines Herzens mein Anliegen nicht einfach so ablehnte, zwar ignorierte, aber eben doch nicht einfach so ablehnte. Ich denke, ich habe das den Rentnerinnen zu verdanken. Sie schlug einen Badeausflug vor. Einen Badeausflug! Es war nicht zu glauben. Was macht das?, rief die Dame hinter mir. Frl. Ursula überraschte mich mit einem ausgesprochen einsamen Ufer. Vorher aber überraschte sie mich mit ihrer Freundin Sarah, die uns ohne jede Rücksprache begleitete. Keinerlei Rücksprache, das wurde von Frl. Ursula einfach so durchgesetzt. Und als wäre das gar nichts, garnierte sie das Ganze an Ort und Stelle mit der Bemerkung, sie wolle «richtig» baden. Also musste ich die Badehose ausziehen. Frl. Ursula hätte mich ansonsten für sehr humorlos gehalten. Sarah war natürlich nicht das einzige Problem. Schließlich war nun zunächst darauf zu achten, dass keine unkontrollierten Blutverlagerungen stattfanden. Am einfachsten erschien es mir, mich kurz entschlossen in die Fluten zu werfen und kraftvoll durch das kalte Wasser zu schaufeln. Es schäumte und 26
brodelte um mich herum. Butterfly nannte man den kräftezehrenden Schwimmstil damals, wenn ich mich recht erinnere. Ich kam nicht ganz bis zur Mitte des Gewässers, musste mich ziemlich ausgepumpt auf den Rücken drehen und toter Mann spielen. Ich versuchte zu überlegen. Es zogen ein paar Kumuluswolken vorbei, behäbig und völlig unbeteiligt. Jedenfalls musste ich irgendwann zurückschwimmen. Ich betrat das Ufer natürlich nicht, ohne vorher mittels manueller Stimulation unter der Wasseroberfläche eine Blutverlagerung mittleren Ausmaßes herbeizuführen. Das Wasser war kühl, und wer will schon einen schlechten Eindruck machen. Ist das Wasser kalt, fragte Frl. Ursula. Angenehm erfrischend, sagte ich und hüllte mich rasch in ein großes Badetuch. Diese Sarah war ein pralles Mädchen mit auffällig starker Körperbehaarung. Lange schwarz gelockte Haare bis zu den Lenden hinunter hatte sie auch. Und schwere Geschütze. Die beiden Mädchen redeten ohne Unterlass und ignorierten meine Anwesenheit. Allenfalls Sarah warf mir ab und an einen viel sagenden Blick zu. Leider hatte ich meine verspiegelte Sonnenbrille nicht dabei, sie wäre mir wirklich eine große Hilfe gewesen. So musste ich vermeiden, Frl. Ursula zu sehr anzuvisieren. Ich rauchte und schwieg, und dann versuchte ich erneut, nachzudenken. Willst du nicht mal langsam den Sekt aufmachen, fragte Frl. Ursula schließlich, wobei sie sich auch noch aufrichtete. Ja, ich hatte die romantische Idee gehabt, eine Flasche Sekt mitzunehmen. Eingewickelt in zwei Wochen Gesamtproduktion der Bild-Zeitung, um sie kühl zu halten. Papier isoliert ja ungemein. Diese Flasche wollte nun geholt werden. Ich 27
erledigte das flott und ohne Umwege, bedeckte mich wieder, ließ den Korken knallen, schenkte den beiden Damen ein und zog nach kurzem Anstoßen kräftig an der Flasche. Ich hatte ja nur zwei Gläser dabei. Die Mädchen sprangen schließlich auch ins Wasser. Sarah brodelte weit mehr als ich, wirklich ein kräftiges Mädchen. Was ist denn? Komm rein!, rief sie mir zu. Ein Ansinnen, das ich zurückwies, da wir uns nicht in der gleichen Gewichtsklasse befanden und ich keine Lust hatte, dies demonstriert zu bekommen. Noch dazu vor Frl. Ursula. Der weitere Verlauf des Badeausfluges ist nicht von Bedeutung. Interessant wurde es, als Frl. Ursula Anstalten machte, sich anzuziehen. Ich muss euch jetzt leider allein lassen, sagte sie. Sie habe noch etwas anderes vor. Nein, ich könne nicht mitkommen. Ich könne doch Sarah noch etwas Gesellschaft leisten. Ich wolle ihr doch nicht etwa hinterherlaufen. Ich würde mich doch nicht etwa vor Sarah fürchten. Da hatte sie den springenden Punkt angesprochen. Sie schwang sich entschlossen auf ihr Rad, und ich legte mich auf den Bauch und schloss die Augen. Es folgte ein belangloses Gespräch, das ich enorm wortkarg zu ersticken versuchte. Ich war erleichtert, als Sarah schließlich ins Wasser ging. Ihren Wunsch, sie zu begleiten, beschied ich 28
natürlich erneut abschlägig. Sie schwamm weit hinaus, und ich dachte einen Moment darüber nach, mich einfach schnell anzuziehen und zu verschwinden. Aber das wäre nichts als ein feiger Abgang gewesen und hätte auf Frl. Ursula sicher keinen guten Eindruck gemacht. Also blieb ich liegen und stellte mich schlafend. Rückwirkend betrachtet eine absolute Fehlentscheidung. Denn Sarah kam wieder und fackelte nicht lange, setzte sich einfach verkehrt herum auf meinen Rücken und zwickte mich kräftig in den Allerwertesten. Ich versuchte natürlich sofort, mich zu befreien. Wie sich schnell herausstellen sollte, ebenfalls ein Fehler. In diesem Fall sogar ein fataler. Ich stemmte mich von unten in alle Richtungen, was ich nicht hätte machen sollen, denn Sarah lockerte genau im richtigen Augenblick für einen kurzen Moment den schraubstockartigen Druck ihrer Schenkel, um jene sofort darauf wieder fest zusammenzupressen. Ergebnis meiner kleinen Turnübung: Ich lag nun auf dem Rücken. Die Situation eskalierte. Sarah wollte mich - wie das unter badenden Heranwachsenden immer schon üblich gewesen ist nass machen. Das bedeutete nichts anderes, als dass sie sich nun auf mich sinken ließ und sich dabei weit nach hinten schob, damit sich beide Körper möglichst vollständig bedecken konnten. Es offenbarte sich mir ein haariges Bild, das ich - Sie erlauben mir, dies zu bemerken - bis zum allerletzten Atemzug in mir tragen werde. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss erwähnt werden, dass Sarah nun Anstalten machte, von mir abzusteigen, ich sie jedoch mit einem schnellen und harten Griff noch näher zu meinem Gesicht zog. Ich kann das nicht erklären. Genauer gesagt, ist es mir ein wenig peinlich. Ich hatte blitzschnell an zwei Fronten zu tun. Im Norden hieß es Luft zu schnappen, im 29
Süden den Säften Einhalt zu gebieten. Um es kurz zu machen: An der Südfront wurden schon bald alle meine Befehle verweigert. Ich bebte. Und sofort danach war mir klar, dass es mit Frl. Ursula schwierig werden würde. Sehr schwierig.
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Spielfreude
Irgendwie gelang es Scherer natürlich, mich zum Golfsport zu überreden. Wer in einer solchen Männerrunde bestehen möchte, kommt nicht an der Platzreife vorbei. Also nahm ich ein paar Trainerstunden. Und wie vorherzusehen, attestierte mir der Trainer großes Talent, und nach wochenlangem Üben und Studium von Regelfragen und Etikette durfte ich zusammen mit einem erfahrenen Spieler eine erste Runde auf dem Platz absolvieren, um die Platzreife zu erreichen. Scherer, seines Zeichens Vorstand, hatte sich angeboten, mit mir diese Runde zu spielen.
Es lief ganz gut, ich spielte durchschnittlich, aber mit unbekümmerter Spielfreude. Am Loch 6 zum Beispiel, Par 4, 365 Meter, hatte ich für mein Gefühl sogar eine echte BirdieChance. Lag nach dem ersten Schlag gut auf dem Fairway, 120 Meter zum Loch, rechts vorgelagert ein läppischer Bunker, Fahne mittig platziert, ein Fall fürs Eisen 8. Nimm ihn ruhig ein bisschen fett, dachte ich mir. Musste dann eine Viertelstunde im Unterholz suchen, kam mit einem brachialen Eisen 5 ganz gut raus, lag aber im Rough vor Loch 9, erneut 120 Meter von Loch 6 entfernt. Ich musste schmunzeln. Scherer schüttelte den Kopf. Ich nahm das Eisen 8 und schlug präzise zur Fahne. Na also, dachte ich, Glück braucht man natürlich auch. Schließlich war ich Anfänger. Ich wusste zwar, dass man 200 Meter zum Loch, tief im Rough liegend, nicht unbedingt zu einem Eisen 2 greifen sollte, doch ich sagte mir: «Könnte gehen», und griff vehement zu meinem Schläger. Dann schaufelte ich ein Loch von der Größe einer Pizza aus dem Rasen, der Ball lag wie unbeteiligt fünf Meter zwanzig vor mir. Dem ersten Gefühl nach hatte ich mir hüftaufwärts alles geprellt, was es zu prellen gibt. An meinem Schläger hing ein Klumpen Erde von der Größe einer Männerfaust, den ich Scherer stolz zeigte. Er fand das gar nicht lustig. Das war am siebten Loch. Am achten stand ich schon wieder vor einer brenzligen Entscheidung. Ein schönes kleines Wasserhindernis 31
verlangte nach einem vorsichtigen Annäherungsschlag mit dem Eisen 7. Was machst du denn da, fragte mich Scherer, als ich das Holz 3 zog. Ich spiele Golf, sagte ich und hämmerte den Ball in hohem Bogen über den Teich. Ich war eigentlich ganz zufrieden, aber Scherer gefiel meine Spielweise ganz und gar nicht. Er forderte mich mehrmals auf, diszipliniert und mit mehr Überlegung zu spielen. Beim zwölften Loch zum Beispiel war er einem Herzinfarkt nahe, als ich etwa 250 Meter vom Green entfernt in durchschnittlicher Lage den Driver auspackte. Du willst doch nicht etwa das Green angreifen, fragte er mich entsetzt. Warum nicht, sagte ich. Am vierzehnten Loch wollte er mich handgreiflich daran hindern, aus dem Sandbunker heraus mit einem Eisen 2 zu schlagen (völliger Wahnsinn), und am fünfzehnten Loch attackierte ich die am äußersten rechten Rand des Green platzierte und von zwei Sandbunkern bestens bewachte Fahne direkt. Du wolltest es ja nicht anders, sagte Scherer, als ich das Sand-Wedge zog. Dann das vorletzte Loch, Loch 17, Par 5,468 Meter. Das kam mir gerade recht, schließlich bin ich in Ausnahmefällen jederzeit für 280 Meter gut, mit meinem Driver. So etwas nennt man Longhitter, übrigens. Scherer flehte mich an, sicher mit dem Eisen 1 abzuschlagen und nichts mehr zu riskieren. Langsam ging er mir auf die Nerven. Und wenn einen dann auch noch das Glück verlässt, kann das durchaus zu einem Stimmungsumschwung führen. Mein Drive war zwar vom Feinsten, aber nur von der Länge her. Das heißt konkret, der Annäherungsschlag ließ sich nicht unbedingt auf dem kürzesten Weg zwischen A und B erledigen. Schätzungsweise 200 Meter zum Green, das Fairway machte einen Linksknick. Da fiel mir mein Hook ein, ein Schlag, bei dem der Ball zunächst gerade abfliegt, dann aber mehr oder weniger stark nach links abdriftet. Ein typischer Anfängerfehler. Manche haben auch einen Slice, das ist die Variante in die rechte Richtung, ich aber hatte einen Hook. Bei neun von zehn Schlägen. Jetzt pass mal gut auf, sagte ich und nahm das Holz 5. Scherer griff sich an die Stirn. 32
Der Hook kam nicht. Jetzt kannst du's endgültig vergessen, sagte Scherer. Sanft fächelte der Wind die zahlreichen Laubbäume, aber auch Sträucher, Hecken und Brombeerbüsche auseinander. Ganz fern am Horizont zog ein Lastkraftwagen vorüber, und aus dem kleinen Mischwald, in den ich eingedrungen war, suchten ein paar aufgescheuchte Krähen das Weite. Als ich nach einigen Umwegen das Green erreicht hatte, saß Scherer, der - ohne auf mich gewartet zu haben - bereits bis an die Fahne gespielt hatte, auf der Bank beim Abschlag Loch 18, eine Spende der Allianz Versicherungs AG, und wedelte mir grinsend mit der Scorekarte zu. Ich schaffte es schließlich aufs Green, versiebte drei Putts, warf den Putter nach dem letzten Fehlversuch fünfundzwanzig Meter Richtung Loch 9 und verfehlte damit Dr. Anton Reismeier nur um einen guten Meter. Dr. Anton Reismeier, angeblich Zahnarzt, der mir schon des Öfteren als problematische Persönlichkeit aufgefallen war, brachte mir den Schläger persönlich herüber. Unsere kleine Unterhaltung will ich hier nicht wiederholen, es war jedenfalls eine willkommene Gelegenheit, ihn einen gottverdammten Klempner zu nennen. Wir kamen zum letzten Loch, Loch 18. Scherer schlug wieder mal sehr taktisch ab. Ich verzog fürchterlich. Mein Hook war wieder da, und zwar fürchterlicher als je zuvor. Am Abschlag von Loch 14 traf ich dann Anselm Unterberger, der etwas überrascht war. Kann es sein, dass Sie verkehrt herum spielen, fragte er, das hier ist ein Abschlag und kein Green. Wenn Sie bitte beiseite treten, sagte ich etwas unhöflich und überlegte mir eine Strategie. Ein Strommast, eine breite Kolonie diverser Laubbäume, allesamt sicherlich zweihundert Jahre alt. Und schon wieder mal ein Goldfischteich. Meine Strategie war an und für sich nicht schlecht, führte mich aber leider nochmal rüber auf das 9er Fairway, wo ich mit Dr. Reismeier nach unterwürfigsten Entschuldigungen versöhnlich einen Behandlungstermin vereinbarte. Im Eifer des Gefechts, sagte er, schießen 33
wir alle mal ein bisschen übers Ziel hinaus. So ist es, sagte ich. Dann gab es noch einen ganz kleinen Abstecher ins Unterholz, wo ich eine alte, aber funktionierende Fahrradpumpe fand, außerdem sorgte ich für Wirbel im Sandbunker vor Loch 3, aber es war ja Gott sei Dank niemand zugegen, so konnte ich locker drei Schläge sozusagen unterschlagen, und irgendwann kam ich schließlich beim 18er Green an. Scherer saß auf einer Bank (Münchener Rückversicherung) und lächelte milde. Müßig zu erwähnen, dass ich vier Putts brauchte. Das Clubhaus lag da wie hingeschmettert. Ich sah Scherers karierte Hose darin verschwinden und warmes Licht im Haus flackern. Ich packte mein Zeug zusammen und ging hinüber. Susan brachte mir einen Cognac an den Tisch und Scherer wartete geduldig, bis sie sich wieder entfernt hatte, um mir ein paar Dinge zu erklären, und zwar bis hin zur Kleiderordnung. Platzreife kannst du vergessen, sagte er, du hast dieses Spiel nicht im Ansatz begriffen. Übrigens, sagte er, was willst du denn mit dieser dreckigen Fahrradpumpe? Das also war meine erste Runde Golf, und ich dachte, warum sollte ich aufgeben, wo es mir offenbar lediglich an taktischem Verständnis mangelt. Zumindest behauptete ich das, in Wirklichkeit aber war es Susan, die mich im Golfclub hielt. Nur wegen ihr trieb ich mich dort auch weiterhin herum. Wie im richtigen Leben war es also die Liebe, die das tragische Ende einer Geschichte einläutete. Alles begann damit, dass ich eines Tages einen Filzstift mit auf die Toilette nahm. Tau und Glühwürmchen. Ich wollte harmlos beginnen, steigerte mich aber schnell. Entferne dich wieder von den Glocken. Das war etwas zum Nachdenken. Man reagierte prompt. Schon der 34
dritte Eintrag führte zu einem Skandal. Obwohl die Toilette täglich gereinigt wurde. Wir haben einen Schmierfinken im Club, sagte Scherer eines Abends in geselliger Runde, eher beiläufig amüsiert. Wir haben jetzt Graffiti im Herrenklo. Das gibt's doch nicht, fiel Anselm Unterberger ein. Jedenfalls wurden die Gesichter ernst. Das können wir in unserem Club nicht dulden, keinesfalls! Dr. Reismeier wirkte fast, als hätte man ihn persönlich verletzt. Kein Schatten des Göttlichen dringt mehr in unsere Höhle; diese ist verkachelt, zitierte Scherer den dritten Spruch nachdenklich, aber irgendwie um Abwiegelung bemüht: Immerhin schreibt er mit harmlosem Filzstift, die Putzfrau hat keine Probleme, das wieder zu entfernen. Hannes Hinterer jedoch, ein Versicherungsvertreter, sah Licht am Ende des Tunnels. Zu lange schon versuchte er, Mitglied des Vorstands zu werden. Unmöglich, sagte er, die Sache muss geklärt werden. Und zwar umgehend. Unterberger versuchte, seine Position prophylaktisch vorzubereiten, er sicherte seine volle Unterstützung bei der Aufklärung des Falles zu: Auf mich können Sie zählen! Meine Herren, sagte ich schließlich, es wird doch nichts beschädigt. Das wäre ja gelacht, hieß es, den werden wir schon kriegen. Man könnte doch anhand der Abschlagslisten feststellen, wer an welchem Tag im Club war, das würde die Zahl der in Frage kommenden Personen einschränken. Scherer beauftragte schließlich Hannes Hinterer, die beiden Clubsekretärinnen entsprechend zu instruieren, auch den Pros Bescheid zu geben und ihn auf dem Laufenden zu halten. Darauf gab Hinterer eine Runde edelsten Grappa aus. Dr. Reismeier, der den Eindruck machte, als sähe er seine Felle davonschwimmen, warnte eindringlich: Wir sollten alle die Augen offen halten! 35
Ich ließ ein paar Tage verstreichen, um die Spannung zu erhöhen. Hinterer, Unterberger und Dr. Reismeier gaben sich in diesen Tagen die Kloklinke in die Hand. Die Schwarzhaarige beknabberte an Bushaltestelle einen blonden Maiskolben.
der
nächtlichen
Dr. Reismeier entdeckte den Schriftzug als Erster. Prostataprobleme können eben manchmal auch zu Erfolgserlebnissen führen. Stolz verkündete er seine Entdeckung. Man inspizierte sofort und geschlossen den Tatort. Man war ratlos. Eine Weile lang. Der Text ist brisant, stellte Unterberger schließlich fest. Er gähnte in sein Ärmelloch (Passagier im Zugkorridor). Dies wurde eindeutig als sexuelle Phantasie interpretiert. Ungeduld, Zumutung ans Herz. Verwirrung. Gut liegend hatte ich das Gefühl der Wahrhaftigkeit. Rückfall ins Sexuelle natürlich. Mein einstiges Holzhacken ist zum Bleistiftspitzen geworden. Das führte natürlich zu kontroversen DisKussionen. Hinterer und Unterberger waren unerbittlich fürs Sexuelle, Dr. Reismeier verstieg sich ins Technische. Der Kerl muss doch zu kriegen sein, hieß es schließlich. Wieso Kerl, sagte Unterberger, der einen Gebrauchtwagenhandel betrieb, es könnte doch auch eine Frau sein. Man müsste das Klo einfach observieren lassen, schlug Hinterer vor. Wie stellt ihr euch das vor, sagte Scherer, wir können doch hier nicht unsere Toilette bewachen lassen, was sollen denn die Leute denken. Wenn ich einmal weit sehe, dann gleich bis Indianapolis.
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Nun gab es eine Krisensitzung. Also, so kann es nicht weitergehen, sagte Scherer, der bis zuletzt glaubte, die Geschichte würde sich einfach erledigen. Es erledigt sich ja vieles durch stoische Missachtung, durch geradezu penetrantes Aussitzen. Aber das hier erledigte sich nicht. Scherer informierte den zweiten Vorstand, Herrn Dipl.Ing. Lutz von der Hohlen, einen Architekten im Ruhestand, und es wurde eine außerordentliche Vorstandssitzung einberufen. Wie mir Scherer erzählte, hatte von der Hohlen während der Sitzung mehrere schwere Blackouts. Auf die konkrete Frage hin, was denn nun zu tun sei, wurde er giftig: «Sie haben sich vermessen, nicht ich.» «Sie scheinen ein schlechtes Gedächtnis zu haben, das ist bautechnisch gar nicht möglich.» «Ich werde die Angelegenheit nunmehr meinem Anwalt übergeben.» Es kam zu Tumulten und durchaus heftigen Debatten, und es war ein Stück Schwerstarbeit für Scherer, die DisKussion überhaupt zu einem Ergebnis zu bringen, welches allerdings entsprechend lau ausfiel. Am schwarzen Brett wurde schließlich Folgendes ausgehängt: Mitteilung der Vorstandsschaft Seit einiger Zeit treten regelmäßig Verunreinigungen der clubeigenen Herrentoilette auf. Es handelt sich um mit schwarzem Filzstift direkt auf die Fliesen aufgetragene Schmierereien. Trotz erhöhter Aufmerksamkeit ist es bisher nicht gelungen, den Schmierfinken ausfindig zu machen. Der 37
Vorstand bittet nun alle Mitglieder dieses Golfclubs um Mithilfe bei der Lösung des Problems. Bitte bedenken Sie, dass viele Gastspieler, auch aus dem Ausland, bei uns spielen und durch die Schmierereien auf der Toilette ein negativer Eindruck mit nach Hause genommen wird. Wir bemühen uns, unseren Club in bestem Lichte darzustellen, und können nicht hinnehmen, dass die bisher so erfolgreiche Arbeit des Vorstandes durch einen Toilettenschmierer gefährdet wird. Wer etwas Verdächtiges bemerkt oder konkrete Hinweise geben kann, wendet sich bitte direkt an Herrn Dipl.-Ing. Lutz von der Hohlen. Lutz von der Hohlen 2. Vorstand Von nun an war der Toilettenschmierer Thema Nummer eins. Jeden Abend wurde heftig diskutiert, und als die Schmierereien ein paar Tage ausblieben, war man regelrecht enttäuscht. Es wird doch wohl nicht schon vorbei sein, sagte Hinterer. Ich hatte übrigens keine Schwierigkeiten, meine Sprüche ungefährdet anzubringen, denn ich traf mich nachts mit Susan im Clubgebäude. Sie hatte einen Schlüssel. Ich liebte Susan auf dem Schreibtisch des Sekretariats, auf dem Vorstandstisch, im Proshop zwischen allerlei Utensilien, ja sogar auf dem Stammtisch im Clublokal. Susan war es, die mir Einlass gewährte. Unterberger war es, der den Verdacht erhob, man habe einen gemeingefährlichen Lustmörder in den eigenen Reihen. Dieser Schmierfink kann nur ein Perversling sein, sagte er. Ein gemeingefährlicher Triebtäter, fügte Hannes Hinterer hinzu. Seine Backen blähten sich auf, und seine Augenbrauen zitterten leicht. Meine Herren, sagte Scherer ganz gegen die eigene Überzeugung, Sie sollten sich beruhigen. Meines Erachtens ist dieser Schmierfink ein Witzbold. Vielleicht sollten 38
wir der Angelegenheit gar keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Vielleicht schläft die Sache dann einfach ein. Das glaube ich nicht, das glaube ich ganz und gar nicht, fiel Dr. Reismeier ein, aus medizinisch-psychologischer Sicht muss ich Herrn Unterberger Recht geben. Das ist doch lächerlich, sagte Rechtsanwalt Dr. Seybold, der an jenem Abend auch an unserem Tisch saß. Hinterer verbat sich diese Einmischung energisch. Wir verfolgen diese Angelegenheit jetzt schon längere Zeit, sehr verehrter Herr Rechtsanwalt, vielleicht halten Sie sich da besser zurück. Doch Dr. Seybold blieb gelassen. Ich frage mich, was uns dieser Dichter sagen will, sagte er. Sie sind Jurist, kein Literat, zeterte Reismeier. Aber Herr Doktor, sagte Dr. Seybold, beruhigen Sie sich, wir sitzen doch alle im selben Boot. Etwas mulmig wurde mir, als von der Hohlen plötzlich ins Lokal gestürzt kam und wie von der Tarantel gestochen auf mich zusteuerte: Sie... Sie... es schienen ihm die Worte zu fehlen... Sie sollten daran denken, dass der Richter das Finanzamt über Ihre Wünsche hinsichtlich der Rechnungsstellung informieren wird. Ich würde mir das an Ihrer Stelle sehr genau überlegen! Er spuckte, denn er war sehr erregt. Scherer griff sofort ein. Entschuldige, sagte er, als er den Herrn hinausgeführt hatte, aber du weißt ja... Kein Problem, sagte ich. Sie können sagen, was Sie wollen, wandte sich Dr. Reismeier an die ganze Runde, lange ist dieser Mann im Vorstand nicht mehr zu halten. Es war ein herrlicher Samstagmorgen, lauer Sommerwind lag über den Fairways, auf der Driving Range bereitete sich eine Schar bunt gekleideter Sportskanonen auf das Turnier vor, das an diesem Wochenende stattfinden sollte. Der erste Abschlag war für 9 Uhr geplant. Scherer stürmte aus der Toilette, riss die 39
Tür des Sekretariats auf, dass der Sekretärin einige Zettel vom Schreibtisch flatterten. Was ist denn los?, hörte ich die Sekretärin fragen. Wir haben schon wieder eine Schmiererei Herrentoilette. Ich bitte Sie, das sofort zu entfernen.
auf
der
Aber ich kann doch nicht einfach auf die Herrentoilette gehen. Wenn ich sage, entfernen Sie das, dann bitte ich Sie, das zu entfernen, sagte Scherer unwirsch. Ich warte vorne auf Sie. Schon kam er wieder aus dem Sekretariat herausgeschossen, zog mich, der ich die Abschlagsliste studierend auf dem Flur stand, am Ärmel in Richtung Toilette. Komm mal mit. Aufundabgehen im Freien verjüngt! Das ist ja gleich weggewischt, sagte ich. Langsam platzt mir der Kragen, sagte Scherer, ich habe weiß Gott anderes zu tun, als mich um diesen Unsinn zu kümmern. Die Sekretärin klopfte an die Toilettentür. Was klopfen Sie denn da, sagte Scherer, die Tür öffnend. Rein mit Ihnen! Zögerlich betrat sie das Klo. Sie hatte eine Papiertuchrolle und ein Glasreinigungsmittel aufgetrieben und machte sich sofort an die Arbeit.
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Ausgerechnet heute, sagte Scherer und beobachtete den Reinigungsvorgang. Was ist jetzt?, fragte Scherer ungeduldig. Es geht nicht, antwortete die Sekretärin. Was heißt hier, es geht nicht? Muss ich jetzt auch noch die Putzfrau spielen? Er nahm ihr Papier und Reinigungsmittel ab, sprühte und rieb. Ohne Erfolg. Unterberger kam herein. Sehr adrett gekleidet, schottische Strümpfe. Aha!, sagte er. Schon wieder! Unterberger, sagte Scherer, bitte organisieren Sie etwas Benzin. An einem der folgenden Tage fing Scherer mich auf dem Parkplatz ab und schlug vor, in einem Wirtshaus gemeinsam ein paar Humpen zu nehmen. Er wolle mir auf neutralem Boden etwas auseinander setzen, außerdem sei er sowieso durstig. Wenn es mir recht wäre, sollten wir gleich aufbrechen, er hätte Zeit. Scherer hielt mir bereits seine Autotür auf. Das Wirtshaus war nicht weit vom Golfplatz entfernt, es war gepflegter, als ich erwartet hatte, obwohl am Stammtisch ausschließlich halsstarrige Pferdemetzger mit langen, blutbeschmierten Plastikschürzen saßen, eine Pranke am Bierkrug, die andere breit und schwer auf der Tischplatte. Wir ließen uns an einem abgelegenen Tisch nieder, und Scherer legte die Stirn in Falten. Bald schon standen zwei Krüge Bier zwischen uns auf dem Tisch, und wir würdigten diesen Anblick mit einer Schweigeminute.
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Ich sage dir, sagte Scherer schließlich mit theatralischer Geste, der Anblick einer solchen Maß rührt an meinem Innersten. Da bin ich mir nicht so sicher, antwortete ich. Das Salz war also gestreut. Nun tranken wir beide großzügig aus den schweren Krügen, Scherer leerte den seinen mit dem ersten Zug um mindestens die Hälfte und gab anschließend ein lang gezogenes, dumpf grummelndes Geräusch von sich, das ganz danach klang, als ließe er etwas Luft aus seinem Innersten entweichen. Mein Gott, sagte er, man könnte meinen, man wäre in der Wüste, und nahm wieder einen tiefen Schluck. Schließlich beugte sich Scherer verschwörerisch nach vorne und raunte mir zu, es falle ihm sehr schwer, das Folgende vor mir auszubreiten, aber er habe sich schließlich einen Ruck gegeben, um seinem Herzen Luft zu machen. Ich war gerade dabei, mich ebenfalls verschwörerisch nach vorne zu neigen, da sprach mich von schräg links ein Marokkaner an. Lederwaren aller Art. Ich lehnte dankend ab, aber der Marokkaner war stur. Er sei fünf Jahre bei der Fremdenlegion gewesen, mehrmals verwundet, ausgezeichnet mit dem Pour de La Meritt oder so ähnlich. Er erzählte von einer Grube, in der er viele Tage ohne einen Tropfen Wasser gelegen hätte. Scherer und ich tauschten einen Blick aus. Achtzehn Kinder, fügte der Marokkaner hinzu und stand fest und unbeirrt. Er rührte sich einfach nicht, also kaufte ich ein kleines Portemonnaie aus Elefantenleder. Da Scherer seine Arme demonstrativ über der Brust verschränkte, beließ es der Marokkaner dabei, noch etwas mit den Gürteln, die ihm über den linken Unterarm hingen, zu klimpern. Dann verschwand er. Wie soll ich dir das nur erklären, sagte Scherer etwas umständlich. Es ist so, dass man einen Wolkenkratzer mit bloßem Auge kaum wahrnehmen kann. Der Horizont erscheint 42
doch immer so mickrig, und wenn man hingeht, erscheint er gigantisch. Könnte man meinen, relativierte er, aber so ist es eben doch nicht. Wenn du dem Horizont entgegengehst, wirst du in dem Maße kleiner, wie die Natur, die du zurücklässt, kleiner wird, deshalb merkst du auch nicht, dass du die kleinste Größe in diesem Spielchen bist. Nach diesem Statement bestellte sich Scherer eine Schlachtplatte. Mit allem, sagte er. Richtig schön Blutwurst und Presssack in allen Farben. Sagen Sie dem Koch, er kann sich ruhig mal verausgaben, rief er der Bedienung hinterher und flüsterte mir ergänzend zu: Die schlachten hier im Hause. Mir war nicht recht nach Essen zumute, ich trank stumm vor mich hin und beobachtete den malmenden Scherer. Würdest du mir jetzt bitte erklären, sagte ich, und ich wählte dabei einen sehr förmlichen Tonfall, was das alles soll? Er winkte ab, nahm einen langen Zug aus seinem Maßkrug. Ich weiß alles, sagte er und legte eine provozierende Pause ein. Was weißt du?, fragte ich. Ich weiß, dass du der unbekannte Herrenklodichter bist. Und ich weiß sogar, dass du plagiierst. Peter Handke, sagte er kopfschüttelnd, ist dir denn selber nichts eingefallen? Woher willst du das wissen?, fragte ich ihn. Ich habe eine Videokamera installieren lassen.
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Und das mit Handke weiß ich von meiner Frau. Sie liest sehr viel. Ich bestellte zwei doppelte Kirsch. Scherer nickte zustimmend, lehnte sich weit zurück, sog tief Luft ein und setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. Alle Kinder werden rein und unschuldig geboren, sagte er. Sie wachsen heran und sind den Umweltgiften ausgesetzt. Das ist die Fortpflanzungsgeschichte des Bösen.
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Sommer oder Winter Wann war es, ich glaube im März 85, Chagall
war gerade verstorben, und ich hatte Frl. Ursula noch immer nicht in Besitz nehmen können. Wir verhandelten andauernd. Natürlich betete ich sie an, ich weiß nicht, ob das gut war, aber ich betete sie an. Ich habe die Angewohnheit, Frauen anzubeten. Es hatte zwanzig Grad unter null an jenem Märzabend, und mir wäre ein lauer Sommerabend natürlich lieber gewesen. Es war aber März, und ich dachte an den kommenden Sommer, den Sommer, in dem der Papst die Schweiz besuchen würde, den Sommer der Entscheidung sozusagen. Ich dachte an weite Wiesen, auf denen wir einfach so herumtollen würden. Und dann schlingt sie vielleicht sogar die Arme um mich, dachte ich mir, das muss ja gar nicht böse gemeint sein, einfach so, weil die Sonne scheint, Frauen sind ja manchmal so, dachte ich mir, ich meine, bei Frauen kann das schon ein ausreichender Grund sein. Ja, vielleicht legt sie sich sogar auf mich drauf, einfach so, weil Samstag ist. Aber es war kalt. Sehr kalt, und ansonsten waren mir nur Küsse aufs Ohr erlaubt. Muss man akzeptieren, dachte ich. Na ja, es war jedenfalls Winter, und ich saß mit ihr in einem italienischen Lokal. Ich suchte nicht nur die Herausforderung, ich dachte tatsächlich, es wäre alles nur ein Irrtum gewesen, den zu korrigieren man eigentlich imstande sein müsste. Ich hatte ziemlich genau 500 Mark dabei, daran erinnere ich mich sehr genau. Und ich hatte mir fest vorgenommen, an jenem Abend eine gewisse Verbindlichkeit zu erreichen. Mindestens ein Kuss, dachte ich mir. Ein Kuss müsste doch langsam im Bereich des Möglichen sein. Den uns angebotenen Tisch lehnte ich ab, obwohl es ein sehr guter Tisch war. Wir möchten ein wenig abseits sitzen, sagte ich dem Kellner. Wie heißen Sie? Enrico. Gut, also, lieber Enrico, ist es möglich, in diesem Lokal einen Tisch zu bekommen, dem man so etwas wie eine romantische Abgeschiedenheit attestieren könnte? Attestiere?, fragte er. Dahinten 45
vielleicht, sagte ich, weil er überfordert zu sein schien und eine philologische Diskussion kaum angebracht war. Ich zeigte auf einen Tisch, der reserviert war. In meiner rechten Hosentasche befand sich ein zusammengeknüllter 2o-Mark-Schein, den ich ihm in die Hand drückte. Ich hatte eigentlich vor, ihm den Schein vorne in die Sakko-Brusttasche zu stecken, entschied mich aber kurzfristig um. Es wäre eine übertriebene und somit keine wirkliche Demütigung gewesen. Enrico also schritt in Richtung des Tisches voran. Er schien mir dann aber doch etwas zu sehr von den 20 Mark befeuert zu sein, und dann schälte er mir Frl. Ursula auch etwas zu elegant aus ihrem Mantel. Also musste ich Frl. Ursula, die im Begriff war, sich einfach hinzusetzen, am Ärmel zurückzupfen. Sie sah mich verstört an, aber ich fixierte Enrico, der sofort reagierte, sich hinter Frl. Ursulas Stuhl stellte und ihr diesen unter den Hintern schob, während sie sich mit beiden Händen den Rock unter der Sitzfläche glatt strich. Prego, Signora, sagte er und wollte schon gehen. Aber ich blieb stehen. Wenn Sie so nett sind, Enrico, sagte ich, und meine Jacke mitnehmen. Es war meine Kawasaki-Lederjacke, giftgrün und im Bereich der linken Schulter abgewetzt. Ich hatte mich einmal damit hingelegt. Ich streckte beide Arme nach schräg hinten. Enrico zog sie gekonnt herunter. Danke, Enrico, sagte ich. Und dann setzte ich mich Frl. Ursula nicht gegenüber, ich setzte mich neben sie, und ich setzte mich sehr langsam. Wie ein Faultier. Was ist denn los?, fragte Frl. Ursula. Lass uns einen Aperitif nehmen, sagte ich. Wir speisten überaus opulent. Ich bestellte dazwischen Espressos und Grappas zuhauf. Was bitte schön möchtest du noch, sagte ich, als es um die Nachspeise ging. Ich ließ Enrico antreten und die Speisekarte vorlesen. Sie wollte keine Nachspeise. Keine Nachspeise? Ohne Nachspeise, sagte ich, verlasse ich das Lokal nicht. Enrico, sagte ich, Sie können nicht 46
ernsthaft wollen, dass diese schöne Frau ohne Nachspeise in die Nacht entlassen wird. Enrico sang nun den Nachspeisenteil laut vor, und Frl. Ursula nahm gezwungenermaßen Tiramisu. Ich bestellte den Eisbecher Jumbo Tutti Frutti. Aber ich bekam keinen Kuss. Wir saßen wunderbar abseits und ungestört, und ich versuchte alles und staunte nicht schlecht. Ich glaube, diese Frau konnte ihren Kopf um mindestens 180 Grad drehen. Und als wäre das nicht schon merkwürdig genug, versuchte sie schließlich, den Reißverschluss meiner Hose zu öffnen. Bitte schön, versetzen Sie sich in meine Lage: Ich liebte diese Frau und sie versuchte, den Reißverschluss meiner Hose zu öffnen. Das muss man sich mal vorstellen. Was machst du denn da, fragte ich sie, während ihr Kopf zwischen meinen Beinen verschwand. Es ist so, dass man versucht, das Leben zu begreifen. Ich will hier nur die Schwierigkeiten andeuten.
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Scherers Frau und ich Da war dieses Schulfest. Ich stand mit
Scherers Frau in der Aula, nippte an meinem Biorotwein und ließ sie reden. Sie regte sich sehr über die verschmutzten Dachziegel ihrer Doppelhaushälfte auf. Sie überlegte ernsthaft, dem gegenüberliegenden Nachbarn, auf dessen Grundstück das Übel, eine Birke, wurzelte, auf Schadensersatz zu verklagen. Ich fand das entzückend. Ich muss wirklich sagen, dass ich mittlerweile ein völlig verändertes Bild meiner Nachbarn hatte. Margit Scherer also, die im Übrigen einen sensationellen Minirock trug, redete auf mich ein, während ich ihren Vater, Albrecht Aue, 71, schlohweißes Haar, eine insgesamt recht ausgemergelte Erscheinung, beobachtete. Er schritt mit dem Sony Camcorder im Anschlag durch den Saal und suchte die besondere Einstellung. Auf seinem Baumwollhemd, das er unter der marineblauen Windjacke trug, befanden sich wahrscheinlich Kuchenkrümel. Schwarzwälder Kirsch, dachte ich, wenn überhaupt. Albrecht Aue filmte die Eltern, die lose beieinander standen. Er filmte den Blick durch die Fenster aus dem Saal hinaus. Er filmte die Bühne, auf der das Bühnenbild für das Theaterstück «Zachäus» vorbereitet wurde. Er filmte die Notausgangshinweise. Und er experimentierte mit Schwenks. Es sah fast aus, als führte er einen orientalischen Tanz auf. War er eben noch in kräftezehrender, leicht gebückter Haltung auf ein achtlos abgestelltes Bierglas fixiert, so wirbelte er plötzlich um 180 Grad herum und versenkte die Sony steil aufragend im Kronleuchter der Aula. Damit war er als Großvater ungleich dramatischer unterwegs als die Väter, die unmittelbar hinter der bestuhlten Zone in Reih und Glied ihre Stative aufgebaut hatten und in überraschend ähnlich gemusterten, kurzärmligen Sommerhemden um jeden Zentimeter Perspektive rangelten. Scherer war nicht dabei. Er war auf Geschäftsreise. Margit Scherer trug einen wirklich umwerfenden weißen Minirock, eine 48
senffarbene Bluse und redete sich irgendwie in Rage. Ich nickte ab und zu. Sie sprach von neuartigen Dachziegeln, die aufgrund einer besonderen Oberfläche nicht mehr verschmutzen könnten. Man habe das Verfahren von der Natur kopiert. Es gebe da eine Pflanze, an deren Blättern offenbar alles abperlen würde, und das hätte man jetzt in die Dachziegeltechnik einfließen lassen. Ich glaube, das war der Moment, wo ich sie wirklich verstand. Jesus: Komm herunter, Zachäus, denn ich möchte dich gern in deinem Hause besuchen. Leute: Das hat dieser Zöllner nicht verdient! Jesus, der Herr, besucht einen Sünder! Jesus: Ich möchte mit dir reden, Zachäus. Du hast viel gesündigt und warst schlecht zu den Leuten. Du musst dich bessern. Oder willst du, dass dich keiner mag? Zachäus: Nein, ich will mich bessern. Jesus: Das ist gut! Du wirst merken, es ist, wie wenn man ein neues Leben anfängt. Zachäus: Danke, Jesus! Du hast mir sehr geholfen! Jesus: Gott hat mich zu euch geschickt, damit ich euch erlöse. Gottes Hand bleibt über euch. Vertraut mir, dann werdet ihr in Frieden leben. Ihr bleibt in Gottes Schutz. Er liebt euchalle! Ja, wenn man Werte hätte. De facto aber schubste mich ein Rentner, und etwas vom Biorotwein benetzte den Minirock Margit Scherers. Der Rentner tauchte sofort in der Menge unter. Margit Scherer reagierte entsetzt. Ich reagierte auch entsetzt. Was waren wir entsetzt. Sie müsse natürlich sofort nach Hause. Sie sagte, sie könne nicht mehr fahren, denn jede Bewegung würde dazu führen, dass der Rotwein tiefer ins Gewebe 49
eindringe. Selbstverständlich fahre ich dich, sagte ich. Ich gab kurz meiner Frau Bescheid, die mit der Klassenleiterin unserer Tochter in ein längeres pädagogisches Gespräch verwickelt war, und fuhr dann Margit Scherer nach Hause. Es roch alles nach Frühling. Sie räkelte sich auf dem Beifahrersitz; soll ich sagen merkwürdig? Na gut, es ging ihr höchstwahrscheinlich schon um den Rock. Sie presste ein saugstarkes Papiertaschentuch nach dem anderen auf den Rotweinfleck, und sie fluchte extrem sexy. Und dann die Schritte bis zur Haustür. Als wäre ihr die Fruchtblase geplatzt. Sie verschwand gleich im Bad. Frauen verschwinden immer gleich im Bad. Hat man es schon mal gesehen, dass Männer gleich im Bad verschwinden? Männer verschwinden niemals gleich im Bad. Ich glaube, Männer vernachlässigen Rotweinflecken, und ich glaube, das ist wahr. Aber gut, sie verschwand gleich im Bad, und dann hörte ich Türen schlagen. Sie wechselte offenbar irgendwelche Zimmer. Ich sah mich um. Der Parkettboden hatte nicht wirklich Klasse, aber die grausige Wohnzimmerschrankwand hatte den Vorteil, dass man das Barfach leicht fand. Ich schenkte mir einen schönen Whisky ein. Und dann steckte ich mir eine Zigarette an. Das dauert, dachte ich mir und schnippte die Asche durch ein gekipptes Fenster hinaus. Und dann kam sie immer noch nicht, und ich öffnete die Terrassentür, schnippte den Stummel der dritten Zigarette ins andere Nachbargrundstück, nahm einen kleinen Teppichvorleger vom Boden auf und wedelte Frischluft ins Wohnzimmer. Und dann kam sie. Sie hatte ein Kleid angezogen, das sehr lose an ihr hing, so viel konnte ich gleich sehen. Du hast geraucht, sagte sie. Es war nicht ein Hauch von Vorwurf enthalten, das spürte ich. Du rauchst in meinem Wohnzimmer, sagte sie und trat ganz nah an mich heran. Und dann drehte sie sich um. 50
Hilfst du mir mit dem Kleid? Das Höschen zu sehen und den Flaum auf dem Steiß und das alles. Und natürlich habe ich den Flaum berührt, und natürlich hat sie sich umgedreht und mich gefragt, ob ich verrückt geworden sei.
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Mütter und Fahrzeuge Das Problem bestand darin, dass mein
Volkswagen wegen umfangreicher Schweißarbeiten am Auspuff in der Werkstatt stand, die Angelegenheit jedoch keinerlei Aufschub duldete. Frl. Ursula jedenfalls wollte das Geplante sofort in die Tat umsetzen. Ich allein war skeptisch. Für Frl. Ursula bestand nicht der geringste Zweifel, dass es mir ohne Schwierigkeiten gelingen würde, ein Ersatzfahrzeug aufzutreiben. Dass durch die eigene Mutter überhaupt keine Beschädigung der Seele stattfinden kann, halte ich für vollkommen ausgeschlossen. Mütter wollen schließlich immer nur das Beste für ihre Kinder. Vor allem für die Söhne wollen Mütter stets das Beste. Sie sollen Rechtsanwälte werden. Es gibt Statistiken, die besagen, dass sich 88 Prozent aller Mütter sehnlichst den Rechtsanwaltsberuf für den Sohn wünschen. Wenn man nun davon ausgeht, und man kann davon ausgehen, dass auf jeden Anwalt mindestens ein Mandant kommen muss, bedeutet dies nicht mehr oder weniger, als dass 38 Prozent aller Mütter ihre Söhne in die berufliche Aussichtslosigkeit treiben. Noch am selben Abend musste es sein, so viel war klar. Der Film lief spät, soweit ich mich erinnere ab 23.00 Uhr. Solche Filme liefen auch damals schon ziemlich spät. Das Autokino befand sich weit außerhalb im düsteren Osten unserer Stadt, den ich stets nur unter Protest oder eben in Fällen, in denen es nicht zu vermeiden war, aufsuchte. Ein solcher Fall lag vor. Das Leben ist kurz und der Mensch neigt dazu, die wenigen gesunden, schönen, erstrebenswerten und elementaren Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Mann und Frau bewusst oder unbewusst ms Kontraproduktive zu überführen. Ich bin übrigens nicht sicher, ob das gentechnisch zu lösen ist, schließlich ginge die wunderbare Leichtigkeit des Seins verloren, die mir widerfuhr, als sich Frl. Ursula damals zu mir in den Opel Ascona setzte, meine Hand nahm und sie zwischen ihre Beine legte. 52
Ein Betrag X war lange Jahre angespart worden, endlich wollte man ein vernünftiges Fahrzeug besitzen. Einen Jahreswagen. Mein Vater hatte in den heißen Monaten der Entscheidung nach dem langen Ansparprozess auf ein Fabrikat der Bayerischen Motorenwerke gedrängt, denn er konnte zeit seines Lebens nie eine emotionale Bindung zu den eher soliden Fahrzeugen, beispielsweise denen aus Rüsselsheim, entwickeln, denn meine Mutter definierte den Begriff Vernunft anders. Meiner Mutter war die so genannte Dynamik der Bayerischen Motorenwerke gleichgültig. Daher wurden lange Debatten geführt, in denen mein Vater immer wieder wütend seine Zigaretten in den Aschenbecher rammte. Er hat den Opel Ascona, den meine Mutter schließlich erwarb, zeit seines Lebens weder gewaschen noch gelenkt. Er suchte seine Würde in der totalen Verweigerung. Meine Mutter dagegen fuhr einfach regelmäßig in die Waschanlage. Es dürfte doch wohl kein Problem sein, für diesen Abend einen Wagen zu organisieren, sagte Frl. Ursula. Sie machte die herrlichsten Andeutungen. Es hörte sich an, als habe sie schon eine Menge erlebt. Ich blätterte aufgeregt in meinem Telefonbuch, und Frl. Ursula wurde in ihren Ausführungen immer präziser. Ihre Phantasie schien grenzenlos zu sein. Dann drehte sie sich um, nicht ohne vor dem Hinausgehen ihren Rock zu heben, um mir etwas zu zeigen. Die Angelegenheit duldete einfach keinen Aufschub. Ich versuchte alles, obwohl ich von Anfang an wusste, dass es auf das Fahrzeug meiner Mutter hinauslaufen würde. Alles, was mir dann auch tatsächlich angeboten wurde, war eine 750er Kawasaki, welche nicht geeignet war. Übrigens wollte auch meine Mutter, dass ich Rechtsanwalt werde. Aber als junger Mensch weigerte man sich seinerzeit natürlich kategorisch. Ich war in dieser Hinsicht allerdings schon damals ein moderner Verweigerer: Ich entschied mich für Volkswirtschaftslehre. Und meine Mutter war nach anfänglicher Skepsis durchaus stolz. Ihr Sohn sollte einmal ein Volkswirt werden. 53
Nachdem ich mich gründlich vorbereitet hatte, bat ich meine Mutter um einen Besprechungstermin am frühen Abend, der schließlich für 18 Uhr anberaumt wurde. Ich erklärte ihr, dass ich mich am Folgetag einer akademischen Prüfung zum Thema «Mikroökonomische Theorie der Unternehmung» zu unterziehen hätte und zu befürchten wäre, dass ich den Anforderungen nicht genügen würde. Ich legte offen, dass mir beim Stabilitätsproblem zwar klar sei, dass steigende und sinkende Grenzkosten zu Problemen bei der Partialanalyse führen, welche die Unabhängigkeit von Angebots- und Nachfragefunktion voraussetzt, relevante Fälle aber, beispielsweise die sinkenden Grenzkosten, wären für mich nicht nachvollziehbar, da Sraffa, Robinson und Chamberlin hier höchst unterschiedliche Theorien anbieten würden. Und das zöge unweigerlich die Konsequenz nach sich, dass mir der komplette Gewinnmaximierungsprozess schleierhaft bliebe. Hinzugefügt werden muss, dass es damals nicht nur um Fachwissen ging. Stand und Verfügbarkeit von Allgemeinwissen hatten bereits zu jener Zeit eine geradezu disparate Komplexität und einen eigentlich nicht mehr zu bewältigenden Umfang angenommen. Selbst ein gebildeter Mensch musste zum Beispiel früher nicht unbedingt über detaillierte Kenntnisse der Landwirtschaft verfügen. Hätte ich zum Beispiel damals gewusst, wann Weizen geerntet wird, wäre das alles nicht passiert. Aber wie hätte ich als Enkel eines angesehenen Mineralwasserproduzenten je mit der Landwirtschaft in Berührung kommen können? Fleisch kam bei mir immer schon vom Metzger, da lag doch auch die Vermutung nicht weit, dass das Brot vom Bäcker kommt. Heutzutage, ja heutzutage würde jeder ernst zu nehmende Hirnforscher eine notwendige Wissensreduktion des modernen Homo sapiens einräumen. Spezialisten sind schließlich Leute, die so lange in der Glut stochern, bis sie endlich von gar nichts alles wissen. Man kann und soll sich nicht alles merken. Darauf läuft es hinaus.
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So weit, so gut. Ich kam nun entschlossen auf den Punkt und beteuerte, es gebe nur eine Lösung, nämlich das Problem noch am selben Abend mit einem erfahrenen und kompetenten Kommilitonen durchzuarbeiten, der allerdings weit außerhalb der Stadt wohnen würde, genauer gesagt an einem Ort, der nicht einmal auf den Schienen der Deutschen Bundesbahn zu erreichen sei, sondern lediglich per Automobil oder Helikopter. Wenn nun davon ausgegangen werden kann, und es konnte davon ausgegangen werden, dass meiner Mutter einerseits kein Helikopter zur Verfügung stand, sie aber andererseits nur das Beste für mich und meine Berufsausbildung wollte, war die Wahrscheinlichkeit, das geliebte Fahrzeug leihweise überlassen zu bekommen, relativ hoch, was nicht heißt, dass wir ohne ein retardierendes Moment ausgekommen wären. Meine Mutter, die den Ascona abgöttisch liebte, bäumte sich geradezu erwartungsgemäß auf und schlug vor, ich solle mich krank melden und die Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Ich aber war auf diesen Fall vorbereitet und behauptete, dies wäre schon wiederholt geschehen und nun nicht mehr möglich. Es gäbe schließlich universitäre Regeln. Ich bekam den Wagen angesichts meiner mangelnden Fahrpraxis mit einigen Auflagen. So wurde zum Beispiel ein absolutes Rauchverbot sowie ein Tempolimit von maximal 100 km/h verhängt, und ich musste zusagen, die Strecke auf dem kürzesten Weg zwischen A und B zurückzulegen. Ich erinnere mich auch noch vage an eine Drehzahlbegrenzung. Meine Mutter ließ sich außerdem bestätigen, dass der Zielort auf geteerten Wegen erreichbar sei, und wies schließlich eindringlich darauf hin, dass sie eine innere und äußere Verschmutzung des Fahrzeugs nicht dulden würde. Ich schmutze nicht, sagte ich und dachte daran, einige Handtücher mitzunehmen, starke Blutungen einkalkulierend, warum auch immer. Und dann konnte es auch schon losgehen. Frl. Ursula trug ein Sommerkleidchen, das nicht mehr als zwanzig Gramm wiegen konnte, und - wie bereits angedeutet - nichts darunter. Sie zeigte mir ihren kleinen Pelz, und ich jubilierte innerlich. Der 55
zarte, blonde Flaum auf ihren Oberschenkeln trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich hätte am liebsten vor Freude geschrien. Aber sie küsste mich. Frl. Ursula war nicht ganz unschuldig am nun folgenden Desaster, denn sie gab sich sehr kundig und war auch sonst sehr selbstbewusst. Man hätte also davon ausgehen können, dass sie das Revier kannte. Je weiter wir dann aber in den Osten kamen, desto unsicherer wurden ihre Kommandos. Hinzu kam, dass sie mich während der Fahrt massierte. Es wird niemanden wundern, dass ich mich infolge meiner mangelnden Ortskenntnis sowie eines gewissen Aufmerksamkeitskonfliktes bald schon nicht mehr auf dem kürzesten Weg zwischen A und B befand und ich Frl. Ursula unter nahezu unmenschlichen Anstrengungen auffordern musste, ihre Bemühungen vorerst einzustellen, um mir den Weg zu weisen. Schwer atmend nahm ich Frl. Ursulas Erklärung zur Kenntnis: Wir würden uns wohl etwas zu weit nördlich befinden, ich solle bei der nächsten Möglichkeit rechts abbiegen, das sei alles kein Problem. Sie kenne sich aus. Rechts abbiegen, wiederholte ich, um die Anweisung zu bestätigen. Man könnte freilich einwenden, ich hätte damals an einen Stadtplan denken können. Dazu fehlte mir allerdings erstens die Lebenserfahrung, und zweitens gehöre ich zu den vier Prozent Männern, die sich auch in puncto Orientierung gerne auf die Frau verlassen. Umwege erhöhen die Ortskenntnis, sagte ich mir. Und immerhin musste ich mir keine Ausreden anhören. Frisurprobleme, Fehlstellung der Gestirne, Unterzucker, Fall- und Seitenwinde, Kopfschmerzen, Angst vor tierischem Ungeziefer et cetera. Man täuscht sich eben manchmal in diesen Dingen. Frl. Ursula dirigierte mich nun, ich hatte also Zeit, über Visionen nachzudenken. Über die Vorstellung beispielsweise, ein Geschäfts56
mann könnte eines Tages eine wichtige Position in seiner Firma anbieten und aus einer Laune heraus Frl. Ursula fragen, ob sie sich diese Position zutrauen würde. Die Angesprochene könnte, so meine Vorstellung, vor Aufregung zweimal kurz die Beine übereinander schlagen. Der Rock könnte zurückrutschen und die Auserwählte könnte meinen, der Tag ihres Lebens wäre nun endlich gekommen. Sie würde sich beeilen, die Frage zu bejahen. Natürlich würde sie einen wichtigen Volkshochschulabschluss ins Feld führen. Zusammen mit den freigelegten Oberschenkeln wären dies doch respektable Argumente. Der Geschäftsmann könnte infolgedessen kalten Herzens die Champagnergläser etwas zu sehr füllen. Etwas von dem Champagner könnte beim Anstoßen zweifellos aus den Gläsern schwappen und die freigelegten Oberschenkel Frl. Ursulas benetzen. Selbstverständlich würde der Geschäftsmann sich beeilen, die der Schwerkraft gehorchende Flüssigkeit mit saugstarkem dreilagigem Haushaltspapier abzutupfen. Das wäre schließlich das Mindeste an auszutragender Höflichkeit, auch im untergehenden Abendland. Vorstellbar wäre auch, dass sich Frl. Ursula in einer solchen Situation affirmativ verhalten würde. Der Geschäftsmann, plangemäß aufs Angenehmste beflügelt, würde sich natürlich nach oben arbeiten. Natürlich würde er sich in diesem Fall relativ schnell vom eigentlichen Reinigungsvorgang verabschieden. Es wäre denkbar, dass er, an Frl. Ursulas Ohr saugend, dabei ungeheure Zahlen und Wünsche schmatzend, manuell feststellen würde, dass Frl. Ursula wohl vorbereitet, ja in gewisser Weise vorausschauend in dieses geschäftliche Treffen gegangen wäre. Frl. Ursula könnte schließlich kein Höschen getragen haben. In diesem Fall wäre beider Verhalten aus der Sicht der Strategie des Bedürfnisses, Diogenes' skandalöseste Geste übrigens, zu interpretieren. Ob Zahlen und Wünsche des Geschäftsmannes nun Vater oder Mutter welchen Gedankens auch immer wären, sei dahingestellt. Angesichts der emotionalen Anspannung und der Gesamtsituation. Vorstellbar 57
wäre auf alle Fälle, dass nun insgesamt die Dramaturgie entgleisen würde. Vorstellbar wäre eine Vermengung von Zuständen, Benennungen und Zuversichtlichkeiten: Erregung, Sehnsucht, Erfolg, Macht, Besinnungslosigkeit, Liebe, Wahnsinn, Gier und Romantik. Und in all der Aufregung könnte Frl. Ursula zum Beispiel mit nervöser Hand eine derart flotte Massage leisten, dass sogar der Geschäftsmann außer Kontrolle geraten würde. Es könnte doch passieren, dass er schon nach sehr kurzer Zeit Flüssigkeit verlieren würde, die beispielsweise wiederum auf den Oberschenkeln Frl. Ursulas Halt finden und - wie sich nach einer kurzen Verschnaufpause sicherlich zeigen würde - ebenfalls der Schwerkraft gehorchen müsse. Allerdings wesentlich langsamer als der Champagner. In diesem Fall hätte Frl. Ursula den Aufwand aufs Minimalste beschränkt, und der Geschäftsmann müsste feststellen, dass man manchmal auch mit der besten Strategie merkwürdigerweise strategisch bedingt schnell an seine Grenzen stoße. Jedenfalls schaffte es Frl. Ursula, mich im Umfeld unserer Millionenstadt auf eine völlig unbeleuchtete Straße zu führen, die - rechts und links gesäumt von Stoppelfeldern - ins Nichts zu führen schien. Kilometerlang nichts als Stoppelfelder rechts und links der Straße, nicht ein einziger Zigarettenautomat, keine Supermärkte, von Detekteien oder anderen Auskunftsbüros ganz zu schweigen. Natürlich war auch der ADAC nicht präsent. Ich fuhr und fuhr, und Frl. Ursula wurde immer entspannter. Nach weit über zwanzig Minuten wurde ich nachdenklich, und dann dauerte es nur noch wenige Minuten, bis ich korrekt und profan vermutete, dass wir von jeglicher Zivilisation völlig abgeschnitten waren. Es war auch schon sehr dunkel. Eine brisante Situation deutete sich an. Man vergesse nicht den stets begrenzten Kraftstoff. Als Frl. Ursula schließlich zugab, nicht die geringste Ahnung von unserer Position zu haben, war mir als Kind des Films auch schon klar, dass ich handeln musste. Und ich ordnete Auftauchen an. Es herrschte völlige Windstille. 58
Wenn nicht Windstille geherrscht hätte, wäre das alles nicht passiert. Wenn an jenem Abend nicht totale Windstille geherrscht hätte, wäre alles einfacher gewesen. Aber es herrschte eben Windstille. Und so begab es sich, dass sich der Weizen nicht bewegte. Erschwerend kam hinzu, dass der Weizen etwa eineinhalb Meter tiefer als der Opel Ascona auf dieser Straße stand. Der Weizen stand derart dicht und zusätzlich exakt eineinhalb Meter hoch im Feld, dass ich der optischen Täuschung einfach unterlag. Wann immer nämlich die Scheinwerfer die Felder illuminierten, musste man angesichts der dicht stehenden Halme als Nichtfachmann annehmen, man habe es mit einem Stoppelfeld auf Höhe der Straße zu tun. Jedenfalls nicht mit so tief wurzelndem Weizen, den man - so sehe ich es heute - längst hätte mähen können, anstatt die Zeit damit zu verbringen, das Landwirtschaftsministerium mit Anträgen zu überhäufen und damit auch die Europäische Union, damals immerhin noch jungfräulich, zart und zerbrechlich, zu schädigen. Ich wollte eigentlich nur wenden, von Rangieren war nie die Rede. Ich rangiere doch nicht, wenn es nicht nötig ist. Also fuhr ich in das Stoppelfeld, welches aber nun einmal nicht zur Verfügung stand. Es krachte. Obwohl ich fabelhaft reagierte, hingen unsere Vorderräder bald über dem Weizenfeld, der hintere Teil des Fahrzeugs befand sich allerdings dankenswerterweise weiterhin auf der Straße. Und nichts ging mehr. Ich schaute hinüber zu Frl. Ursula. Sie schien kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich stieg aus. Da hing das Fahrzeug meiner Mutter also über der Böschung. Darin dieses wunderbare Geschöpf, das sich die Lippen nachzog. Wie sollte ich jetzt noch in den Genuss dieser Lippen kommen, dachte ich, ich dachte aber auch an den Auspuff und an all die langweiligen Taxi fahrenden Jurastudenten, mit denen ich in Konkurrenz treten müsste, um den Schaden begleichen zu können. Und sie hatte kein Höschen an. Dreimal wollte sie mich verwöhnen, ich sollte mich ganz dem Film widmen. Ich ging in die Knie. Sanftmut. 59
Aber dann bäumte ich mich noch einmal auf, sprang in das Weizenfeld und gab Frl. Ursula Anweisung, auf den Fahrersitz zu rutschen, den Rückwärtsgang einzulegen und die Kupplung langsam kommen zu lassen. Ich stemmte mich von unten gegen die vordere Stoßstange, und sie legte den ersten Gang ein. Das Fahrzeug machte einen Ruck nach vorne. Man darf sich in solchen Situationen nicht aufregen. Man muss jederzeit Herr der Lage sein. Sanftmut muss auch in solchen Situationen die Mutter eines jeden einzelnen Gedankens sein. Ich war etwas zur Seite gefallen, nicht der Rede wert. Frl. Ursula machte ihrem Unwohlsein durch lautes Rufen Luft, da das Fahrzeug drohte, der Schwerkraft nachzugeben. Es wankte. Ohne Hollywood würde man in einer solchen Situation wahrscheinlich auch vergessen, dass nie etwas wirklich passiert. Schließlich rief ich zurück, an den genauen Text kann ich mich nicht mehr erinnern, wenn ich mich aber ansonsten erinnere, muss ich zugeben, die Sanftmut wahrscheinlich für einen Moment vernachlässigt zu haben. Ich gab aber schließlich einigermaßen gefasst Kommando, den Motor abzustellen. Dies geschah, und ich nahm wieder meinen Platz unter der Stoßstange ein. Wenn du so nett bist, rief ich, aussteigst und dich auf den Kofferraumdeckel setzt. Dies geschah, und ich kletterte auf die Straße und zündete mir eine Zigarette an. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wenig Stoff nun diesen Hintern von banalem Kofferraumblech trennte. Was machen wir jetzt, sagte sie. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, damit ihre Waden besser zur Geltung kamen. Ja, was machen wir jetzt, sagte ich, nahm sie bei der Hand und zog sie vom Kofferraumdeckel. Das Fahrzeug wankte, aber es fiel nicht. Ich setzte einen Fuß auf die hintere Stoßstange und drückte leicht. Das Fahrzeug meiner Mutter krachte ins Weizenfeld. Jetzt musste ich Frl. Ursula nur noch ins Weizenfeld hinunterhelfen. Wir nahmen im Fahrzeug Platz. Ich entblödete mich nicht, ihr den Unterschied zwischen dem Rückwärts- und 60
den alternativen Vorwärtsgängen kurz zu demonstrieren. Sie nahm es hin. Sie hatte ja keine Wahl. Was hätte sie auch sagen können? Es war vielleicht ein wenig unfair, das gebe ich zu. Dann startete ich den Motor, und dann geschah das nicht Absehbare: Ich vernahm überraschenderweise völlig normale Auspuffgeräusche. Völlig normale Auspuffgeräusche! Meine Güte! Bei dieser Belastung. Gute Arbeit machen die da in Rüsselsheim, sagte ich zunächst zu mir. Gute Arbeit! Gute Leute muss man eben haben, sagte ich zu Frl. Ursula, das ist das ganze Geheimnis. Gute Leute muss man eben haben. Ich legte den ersten Gang ein, und dann pflügten wir durch das Weizenfeld. Immer an der Straße entlang. Man kann sich den Flurschaden vorstellen. Da trennte sich die Spreu vom Weizen, bei Gott, so platt das auch klingen mag. Ich musste das Fenster herunterkurbeln und mich außerhalb des Wagens an der Böschung orientieren, die Weizenkörner prasselten gegen die Windschutzscheibe. Paris-Dakar kam mir in den Sinn, ich konnte allerdings noch nicht mal die zulässige Höchstgeschwindigkeit der deutschen Straßenverkehrsordnung ausreizen. Die Pflanzen bremsten zu sehr. Wir waren lange im Weizenfeld unterwegs. Frl. Ursula war äußerst gelassen. Sie hatte ein Maß an Sanftmut angenommen, das mir für immer fremd bleiben wird. Wir schaufelten uns durch dieses Weizenfeld, und sie suchte im Radio nach den Gipsy Kings. Einige lange Kilometer lang. Aber dann kamen wir endlich an eine Kreuzung. Und da schrägte sich das Feld gegen die Straße ab, und ich muss-te nur noch vorher alles platt walzen und dann ein wenig Anlauf nehmen und mit Karacho auf die Straße rauf. Und so wurde es dann auch gemacht. Und ich stieg aus und zündete mir eine Zigarette an. Und das Fahrzeug meiner Mutter sah nicht mehr aus wie das Fahrzeug meiner Mutter. Mein Gott, sagte Frl. Ursula, obwohl nur der Mond schwach herunterleuchtete. Immerhin stand an der Kreuzung ein rettendes Hinweisschild. «Trabrennbahn Daglfing - 3 km». Es half. Wir fanden 61
schließlich zurück in die Stadt und zu ihrem Elternhaus. Es war nicht zu vermeiden, obwohl ich es wirklich liebend gerne vermieden hätte. Normalerweise nämlich setzte ich Frl. Ursula in züchtigem Abstand zu diesem Haus ab, dieses Mal aber musste das Fahrzeug meiner Mutter gewaschen werden. Frl. Ursula sagte, ihr Vater sei geradezu perfekt dafür ausgerüstet. Sie sagte, es werde schon gut gehen. Allerdings stellte sie sich am Hoftor sehr ungeschickt an. Ich will das gar nicht kommentieren. Normalerweise steckt man einfach den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn gegen den Uhrzeigersinn und öffnet. Sie aber fummelte, bis die Vorhänge des elterlichen Anwesens zuckten. Und im hell erleuchteten Hof wartete dann auch schon ihr Vater mit durchgeladener Waffe auf mich. Es wunderte mich nicht, denn ich wusste, dass er mich hasst. Ich war der Inbegriff seiner Phantasie. Sie entschuldigte den Vorfall später einfach damit, dass ihr Vater in einem Tobsuchtsanfall, meine Person betreffend, Ideen und Wahnvorstellungen in der Wahrscheinlichkeitsform von sich gegeben hatte, die sie inspiriert hätten. Sie sagte, sie hätte das alles sehr interessant gefunden. Sie sagte, sie hätte das ganz einfach ausprobieren wollen. Eine relativ konservative Familie eben. Mein Gott, sagte ihr Vater, als er das Fahrzeug meiner Mutter sah. Er ließ die Flinte sinken und ging fassungslos um den Wagen herum. Er war so entsetzt, dass ich schließlich den Mut fasste, vor ihn zu treten und lückenlos zu rapportieren. Der Mann erkundigte sich ziemlich genau nach den Hintergründen, und auch nach meiner Mutter. Er musterte mich von oben bis unten, dann sah er hinüber zu seiner Tochter, die an ihrem Sommerkleid herumzupfte. Für einen Augenblick war die Situation alles andere als eindeutig. Aber dann öffnete er ruckartig seine Doppelgarage, in der ein blitzender Opel Commodore stand. Und es waren in der Tat alle benötigten Utensilien vorhanden. Vom Industriestaubsauger bis zum Industriedampfstrahler, diverse Cockpitsprays, antistatische 62
Putztücher, Poliermittel aller Art, auch Chromschutzmittel. Sogar Sagrotan stand im Regal. Der Mann war tatsächlich sagenhaft ausgerüstet. Ich musste nochmal kurz in die Knie gehen, nachdem wir die Motorhaube geöffnet hatten. Kein Wunder, die Funktion eines Kühlergrills besteht ja in erster Linie darin, Einlass zu gewähren. Keine Bange, mein Junge, sagte Frl. Ursulas Vater beinahe kameradschaftlich. Um den Motor kümmere ich mich. Elvira, schrie er ins Haus, setz mal Wasser auf, nicht zu knapp. Und Elvira setzte Wasser auf, und zwar nicht zu knapp. Und Frl. Ursula reckte ihren Hintern industriestaubsaugend durch die Fahrgastzelle, und ihr Vater sagte immer nur: Das wäre ja gelacht, ich habe noch jedes Auto sauber gekriegt. Ein einziges Mal noch konnte ich kurz sehen, dass sie nichts drunter anhatte. Meiner Mutter ist übrigens nichts aufgefallen. Erst im Herbst, als sie das erste Mal das Gebläse für die Windschutzscheibe brauchte, wunderte sie sich. Weizenkörner im Haar meiner Mutter. Ich sehe es noch heute.
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Diogenes' skandalöse Geste Das mit mir und der Platzreife hat
Scherer irgendwann hingekriegt. Rebelliere nicht gegen das System, sagte er unermüdlich. Das macht heutzutage keinen Sinn mehr. Und hier auf dem Golfplatz sowieso nicht. Jedenfalls saßen wir wieder einmal im Clubhaus, um uns nach einer kleinen Runde noch das eine oder andere Gläschen zu gönnen. Neben Scherer und meiner Wenigkeit waren Dr. Ulf Seybold und ein gewisser Martin Hummelt anwesend. Hummelt war Mitinhaber einer Werbeagentur und redete unerbittlich auf Scherer ein. Offenbar standen sie in einer Geschäftsbeziehung, und offenbar wollte Hummelt Scherer dazu überreden, das Budget zu erhöhen. Scherer war ungewöhnlich genervt. Schon auf dem Platz machte er mich an diesem Tag stutzig. Er spielte lustlos-unkonzentriert und tadelte mich nicht einmal, als ich auf der dem 14. Loch angrenzenden Straße mit einem etwas zu forschen Annäherungsschlag die Heckscheibe eines Personenkraftwagens durchschlug. Bitte, Martin, sagte er, lass mich einmal damit zufrieden. Ich habe heute wirklich keine Nerven dafür. Was ist denn los, fragte Seybold besorgt. Scherer begann seine Erklärung mit dem beängstigenden Terminus «Katastrophe». Die Katastrophe sei eingetreten. Sein «Tschapperl» habe ihn verlassen. Sofort trat Stille ein. Wir alle warteten auf Details. Der Tennislehrer, sagte Scherer. Sie habe vor kurzem den Wunsch geäußert, das Tennisspiel zu erlernen. Er habe das im Interesse ihrer Ausgeglichenheit natürlich unterstützt und sie sportiv eingekleidet und ausgerüstet. Er habe auch zwanzig Stunden bei diesem Tennislehrer im Voraus bezahlt, die es gar nicht gebraucht hätte, da sie schon nach fünf Stunden entschlossen gewesen sei. Sie habe ihn vor vollendete 64
Tatsachen gestellt, sei sogar bereit gewesen, sofort aus der von ihm finanzierten Wohnung auszuziehen, was er natürlich in der Hoffnung abgelehnt habe, die Lage würde sich irgendwann wieder stabilisieren. Es seien allerdings nunmehr acht Wochen vergangen, in denen sie sich von besagtem Tennislehrer unablässig in der von ihm finanzierten Wohnung begatten ließe. Sie habe mittlerweile auch mitgeteilt, dass sie nichts, aber auch gar nichts je in ihrem Leben so geliebt habe wie diesen Mann, mit dem sie alt werden wolle. Sie wünsche sich nichts sehnlicher als ein Kind von ihm, habe diesbezüglich auch schon einen Arzt aufgesucht, der ihr Bindegewebe gelobt und den hippokratischen Eid auf medizinische Unbedenklichkeit abgelegt habe. Sie habe auch keine Bedenken wegen des Altersunterschiedes von zwanzig Jahren, schließlich sehe sie nicht aus wie 38 und sei im Kopf immer jung geblieben. Man plane die Eröffnung einer kleinen Tennisschule, sie habe ja in den letzten Jahren einiges zurücklegen können. Wie viel hast du ihr gegeben, fragte Seybold. Na ja, alles in allem vielleicht hundertfünfzigtausend. Tja, sagte Seybold, die setzt sie jetzt in den Sand. Er rechne mit zwei Jahren, so Scherer, spätestens dann werde von dem Geld nichts mehr übrig sein. Zwei Jahre, sagte Scherer, müsse er nun zusehen, wie dieser pubertäre Tennislehrer mit seinem Kapital verkehre, was schlimm genug sei, aber zwei Jahre Unfreiheit, das wäre wirklich die Härte. Er gehe realistischerweise nicht davon aus, so schnell Ersatz zu finden, das wäre wohl Zufall, und auf den habe er sich noch nie verlassen. Seybold nickte zustimmend. Hummelt kratzte sich am Kinn.
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Es war lange still, bis schließlich Hummelt das Wort ergriff. Was meinst du denn mit Unfreiheit, fragte er Scherer, der allerdings nur abwinkte. Seybold zündete sich eine Cohiba an. Ja, sagte der Anwalt, ich bin natürlich auch gefährdet. So was kann schnell gehen. Vielleicht sollte man weniger zahlen. Hummelt war es, der Diogenes ins Gespräch brachte. Habt ihr schon mal was von der Strategie des Bedürfnisses gehört?, fragte er. Diogenes habe sich beispielsweise, wenn er das Bedürfnis hatte, «auf öffentlichem Platz» selbst befriedigt. Sehr witzig, sagte Scherer. Tja, sagte Seybold. Da ist wohl nichts mehr zu machen. Wenn sie verliebt sind, sind sie verliebt. Die Griechen, so Hummelt, hätten versucht, ihre Begierden und Lüste zu beherrschen, um sich als Moralsubjekte zu definieren und frei zu bleiben. Quatsch, sagte Seybold. Wir leben in einer frigiden Gesellschaft. Es kann nicht darum gehen, sich zu beherrschen, wenn das Angebot gleich null ist. Diese Frau, sagte Scherer, habe wirklich noch Lust am Geschlechtsverkehr gehabt Die Herren am Tisch nickten zustimmend und Solidarisch. Eine Frau, so Scherer weitem könne gar kein normales Sexualleben führen.
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Frauen, so Scherer, merkten früh genug, was Sex für sie unter dem Strich bedeute, nämlich dass in sie eingedrungen werde. Und es wäre nur logisch, dass frau sich irgendwann überlege, wer oder was wann, wie, warum und wie oft da eigentlich eindringe. Diese Überlegung sei für ihn ganz klar nachvollziehbar, ja sogar legitim. Aber ungünstig wäre sie natürlich schon. Ich muss schon sagen, beim Golfen dachte er komplizierter.
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Sex im Fahrzeug Frl. Ursula war schon eine beeindruckende
Persönlichkeit. So erinnere ich mich beispielsweise prächtig an einen Discobesuch, in dessen Verlauf sich ein Mensch namens Hans Wollner zu uns gesellte. Ein Studienkollege von mir. Beschreibung: 120 Kilo bei eins fünfundsiebzig, kurzes schwarzes und fettiges Haar und ständig geweitete Pupillen. Sein Problem war offensichtlich im Verhältnis von Angebot und Nachfrage begründet, und zwar insofern, als es für ihn kein Angebot gab. Nun bin ich ein Mensch, der nichts mehr verabscheut als Ungerechtigkeit, muss aber in diesem Fall eingestehen, dass das Fehlen jeglichen Angebotes nachvollziehbar war. Die Natur ist nun einmal auch grausam, Tiger fressen Antilopen, Karnickel rammeln sich zu Tode etc., das weiß man ja heutzutage alles. Jedenfalls, dieser Mensch sah Frl. Ursula und begann sofort, stark zu transpirieren. Heute weiß ich genau, was in ihm vorgegangen ist. Ein Gefühl der absoluten Ohnmacht. Der Wunsch zu morden. Hans Wollner unternahm gar nicht erst einen Versuch, auch das nachvollziehbar. Im Gegensatz zur Kommunikationsgestörtheit heutiger Tage aber verwickelte er Frl. Ursula in ein längeres Gespräch, dessen Inhalt ich allerdings nicht mitbekam, da mich diverse Wesen auf der Tanzfläche doch mehr interessierten. Ich saß vollständig entspannt am Tresen, trank Whisky Sour, rauchte und wippte mit dem linken Bein im Rhythmus zur Musik. Ein schönes Gefühl, sich diese Verrenkungen einzuprägen, und zwar mit der Gewissheit, mit Frl. Ursula auf der sicheren Seite zu sein. Man konnte sich das alles völlig entspannt zu Gemüte führen, man wusste, man würde irgendwann einfach nach Hause fahren und zur Sache kommen. Zur Sache kommen, und zwar ohne jede Diskussion. Das wusste man damals einfach. Sehr angenehm.
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Als schließlich anstand, sich nach Hause zu begeben, eröffnete mir Frl. Ursula, Hans Wollner hätte sich bereit erklärt, uns mit seinem Auto mitzunehmen. Sie würde das Angebot gerne annehmen, es spreche ja auch nichts dagegen. Natürlich sprach nichts dagegen, Frl. Ursula stieg hinten ein, ich selbstverständlich auch. Es handelte sich um einen beigen Mercedes 220/8 Diesel, ein recht geräumiges Fahrzeug, und wir begannen sofort mit dem Austausch von Zärtlichkeiten. Ich dachte zwar kurz über die Verfassung des Fahrers nach, ließ den Gedanken aber fallen, als ich sah, dass er sich den Rückspiegel einstellte. Schon weit vor dem Siegestor zog sich Frl. Ursula Rock und Höschen aus, schließlich auch die Bluse und den BH. Sie machte sich auch umgehend an meiner Kleidung zu schaffen. Fragen waren nicht gestattet, Frl. Ursula legte mir einen Finger auf den Mund. Nun begab sich Frl. Ursula in eine kniende Position und stellte mir ihr Gesäß zur Verfügung. Was macht man in einer solchen Situation? Man dringt ein. Es hätte zwar nach meinem Geschmack nicht unbedingt einer derartigen Dramaturgie bedurft, aber die Situation war, wie sie war, und entsprechend zu nehmen. Ich arbeitete also ruhig und konzentriert, versuchte das Tempo zu kontrollieren. Allerdings war dies nicht so ganz einfach, da Hans Wollner das Fahrzeug mit nur einer Hand am Steuer offenbar nicht richtig lenken konnte. Wir wurden immer wieder von einem Eck des Fonds ins andere geschleudert, begleitet von wildem Hupen und Reifenquietschen. Wollner nahm wahllos irgendwelche Seitenstraßen im Einbahngewirr Schwabings, beanspruchte schließlich die ganze Breite der Ludwigstraße, hatte enorme Schwierigkeiten mit der Rechtskurve vor der Feldherrnhalle, und das alles im dritten Gang, denn schalten wollte er nicht. Am Oskar-von-Miller-Ring kam es mir nicht nur, sondern wir wurden auch von der Polizei aufgehalten. So etwas ist ja immer unangenehm. Fahrzeugpapiere, Personalien, Alkoholtest etc. Ich hatte 1,59 Promille, die 69
Beamten nickten zufrieden, aber ich war ja nicht der Fahrer. Bei Wollner sprach das Gerät nicht an, er war eben ein Coca-ColaMensch. Na ja, für die Beamten war das natürlich schon irgendwie enttäuschend. Er hat mir eben Leid getan, sagte Frl. Ursula. Er wollte wenigstens einmal zusehen.
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Hummelts Frau und ich Der Zufall wollte es, dass ich an einem
Donnerstag beschloss, eine Runde Golf zu spielen, um eine kleine Depression möglicherweise durch eine andere zu verscheuchen. Beim Aufwärmen auf der Driving Range traf ich, durch denselben Zufall initiiert, Martin Hummelts Ehefrau, die, wie sie sagte, keine Lust zum Bügeln hatte. So spielte ich rein zufällig zusammen mit ihr eine Runde Golf. So dürfte das gewesen sein. Hummelts Frau dürfte Anfang dreißig gewesen sein. Sehr attraktive Person, kleinere Mängel - Nase zu groß, Brust zu klein - machten sie unglaublich sexy. Sie war sehr gut geschminkt und trug kurze weiße Söckchen mit Rüschen. Ich versiebte eine Menge Pütts auf dieser Runde. Es darf angenommen werden, dass dies an den Rüschen lag oder an den bronzefarbenen Beinen, die sich daraus formten. Ein gesunder Mann im besten Alter fragt sich unter diesen Umständen, woher ein Mann wie Martin Hummelt die Frechheit nimmt, Diogenes zu zitieren und das Onanieren auf öffentlichem Platze zu empfehlen. Ein gesunder Mann im besten Alter fragt sich unter diesen Umständen, warum das Schicksal einem Menschen wie Martin Hummelt eine solche Frau überhaupt zugesteht. Kurz: Ein gesunder Mann im besten Alter denkt unter diesen Umständen über Mord und Totschlag nach, bevor er unmittelbar dazu übergeht, sich den Geschlechtsverkehr mit der Witwe vorzustellen. Das sind die Tatsachen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang bemerken, dass es sicher keine überragende Leistung der griechischen Philosophen war, die Askese zu predigen und dabei unablässig Knabenhintern zu penetrieren. Aber gut, kommen wir zum Charakter dieser Frau. Es ist ebenso unstrittig, dass der Charakter einer Frau bei einem gesunden Mann im besten Alter meistens eine sekundäre Rolle spielt. Zumindest zunächst. Bei einigen Männern stellt sich 71
später so etwas wie Interesse dafür ein. Es sind ja auch Probleme des Alltags zu bewältigen, man versucht, halbwegs miteinander auszukommen und dergleichen mehr. Im vorliegenden Fall muss ich zugeben, dass ich nicht gleich ans Heiraten dachte und somit eventuelle charakterliche Defizite sicherlich kaum höher bewertet hätte als gar nicht. Es stellte sich aber heraus, dass so viel Toleranz durchaus nicht nötig gewesen wäre, da es sich um eine Frau mit Charakter handelte. Wir hatten viel Spaß am Spiel, allerdings nahm der Spaß kurzfristig ein Ende, als ich am achten Loch unabsichtlicherweise einen Vogel abschoss. Das Tier flog einfach zu niedrig. Glücklicherweise war es nur ein Streifschuss, der Absturz wahrscheinlich eine Folge des Schocks. Der Vogel, eine Taube war es nicht, torkelte schon wieder, als wir am Unglücksort eintrafen. Ich kümmerte mich natürlich rührend, das heißt, ich zückte mein Handy, rief bei der Auskunft an und ließ mich mit der Tierklinik München verbinden. Am anderen Ende der Leitung war schließlich ein ausgesprochen unhöflicher und unkultivierter Mensch, der mir erklärte, man könne jetzt nicht sofort jemanden vorbeischicken, ich müsse das Tier schon anliefern. Sind Sie denn geistig vollkommen derangiert, sagte ich, Doris Hummelt im Auge behaltend. Ich habe hier eine halb tote Kreatur vor mir liegen, das Tier wird verenden, wenn nicht binnen 15 Minuten ein Rettungswagen aufkreuzt. Hummelts Frau lächelte. Dieser dumme Mensch fragte mich, ob ich den Verstand verloren habe, und legte auf. Sagen Sie mal, haben Sie den Verstand verloren, schrie ich ins Handy. Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen, sagte ich entschlossen; wenigstens irgendjemanden in Ihrem Hause, der sich für Lebewesen interessiert... 72
Hummelts Frau boxte mich in die Nieren, als der Vogel Anstalten machte, sich wieder zu erheben. Vielleicht eine Krähe, ich bin in dieser Hinsicht einfach nicht bewandert genug. Jedenfalls: Hummelt selbst hatte späte Termine an diesem Tag, und so war mir ein freundschaftliches Abendessen mit Dons Hummelt vergönnt, in dessen Verlauf ich dieser Frau einfach auch ein paar Komplimente machen musste. Es war nicht wenig zu loben, und ich machte auch nicht den Fehler, ihr zu sagen, dass ich ihre etwas zu lange Nase besonders sexy finde. Darüber hinaus lobte ich den Wein, das Essen, den Tag und den lieben Gott, sagen wir mal alles, was vom Urknall bis zu diesem Tag dazu beitrug, dass ein solches Wesen entstehen konnte. Ich achtete sogar darauf, nicht zu viel zu trinken. Jedenfalls, nachdem es so gut lief und mich Hummelts Empfehlung, auf öffentlichem Platze zu onanieren, mehr und mehr ärgerte, war ich wild entschlossen. Ich wollte auf dem Parkplatz einen Zungenkuss, eine wilde Umarmung und ihre Telefonnummer. Das schien mir mittlerweile ein erreichbares und vernünftiges Ziel zu sein. Ich schaffte es fast. Sie hatte ein bisschen getrunken, sonst wäre es vielleicht gar nicht dazu gekommen, aber ich bekam einen sehr zarten und zurückhaltenden Kuss mit etwas Zunge, eine warme Umarmung und ihre Telefonnummer mit genauen Angaben über geeignete Anrufzeiten. Ich ließ selbstverständlich ein paar Tage verstreichen, obwohl ich sie schon am folgenden Tag hatte anrufen wollen. Man muss aufpassen mit dem Tempo. Schließlich hatte ich sie endlich am Apparat. Wir telefonierten ca. dreieinhalb Stunden und konnten uns erfreulicherweise darauf einigen, dass ich sie am darauf folgenden Wochenende besuchen würde. Hummelt musste geschäftlich nach Rumänien fliegen, ein frei stehendes Haus ohne Kinder stand uns also zur Verfügung. Aber die eine oder andere Hürde musste noch genommen werden, 73
beispielsweise der 65. Geburtstag meiner Schwiegermutter. Ich sagte, ich hätte einen wichtigen Geschäftstermin in Rumänien. Dieser prompte Einfall brachte mich allerdings nicht nur in Erklärungsnotstand, sondern hatte auch noch zur Folge, dass ich mich von Freitagabend bis Montag früh irgendwo einquartieren musste. Sonntagmittag war vereinbart. Sie wollte etwas kochen. Ich traf also am Freitag gegen 16.00 Uhr in der Pension Erika ein. Ein schlichtes Haus ohne Pay-TV. Interessante Tapeten. Jagdmotive. Hirschgeweihe. Wildschweine. Rehe, Und ich hatte Nietzsche dabei: «Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu ge-rathen, als in die Träume eines brünstigen Weibes?» Nein. Eindeutig nein. «Und seht mir doch diese Männer an: ihr Auge sagt es -sie wissen nichts Besseres auf Erden, als bei einem Weibe zu liegen.» Wie wahr. «Rathe ich euch zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei Einigen eine Tugend, aber bei Vielen beinahe ein Laster.» So sehe ich das auch.
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«Wem die Keuschheit schwer fällt, dem ist sie zu widerrathen: dass sie nicht der Weg zur Hölle werde - das ist zu Schlamm und Brunst der Seele.» «Rede ich von schmutzigen Dingen? Das ist mir nicht das Schlimmste.» Genau. «Ist Keuschheit nicht Thorheit? Aber diese Thorheit kam zu uns und nicht wir zu ihr.» Ich bin unschuldig. Es ist die Torheit, die zu mir kam, und ich schwöre Stein und Bein, dass mir die Keuschheit schwer fällt, dass sie mir zu widerraten ist und dass ich, sollte dieser Zarathustra noch leben, in seinen Orden eintreten werde, und zwar so sicher wie das Amen in der Kirche. Am Samstag machte ich nach dem Frühstück einen 36 km langen Spaziergang. Der Langeweile halber zählte ich die nackten Brüste auf den Werbeplakaten. Beeindruckend. Zurück in der Pension, fokussierte ich meine Eindrücke, rief sie an und teilte ihr mit, wie sehr ich mich freuen würde. Es wurde wieder ein sehr langes Telefonat. Anschließend überlegte ich, ob es nicht doch drin wäre, etwas Kraft zu verschwenden. Aber ich blieb hart und machte Liegestütze. Dann endlich Sonntag. Ich wachte um 4.38 Uhr auf, duschte mich eine Stunde lang, selbstverständlich war ich der Erste im Frühstückszimmer, genehmigte mir Müsli und ein Käsebrot. Ich aß sogar einen Apfel. Dann kaufte ich mir die Bild am Sonntag, legte mich mit ihr ins Bett und las sie von vorne bis hinten, und zwar vollständig. Um elf Uhr duschte ich nochmal, und um fünf vor zwölf klingelte ich bei ihr. Sie trug eine Hose. Ich muss aber gleich entwarnen, denn es gibt Hosen und es gab eben diese Hose, ebenso wie es Millionen von Gesäß75
muskeln gibt, die mit den Gesäßmuskeln jener Doris Hummelt nicht annähernd vergleichbar sind. Die Versöhnung trat also bereits ein, als sie sich umdrehte, um ins Wohnzimmer vorauszugehen. Es war eine dünne, eng anliegende Stoffhose, genauso gut hätte sie keine anhaben können. So viel nur zu dieser Hose. Ich ging natürlich gleich mit in die Küche, drehte sie um, nahm sie in den Arm und küsste sie. Schon erheblich mehr Zunge. Sie drückte sich an mich, und jetzt kommt, was ich beschwören kann: In diesem Moment habe ich diese Frau geliebt. Der Blitz soll ein Häufchen Asche aus mir machen, wenn es nicht stimmt. Nun wollte Doris Hummelt auf die Einnahme der von ihr zubereiteten Mahlzeit nicht verzichten. Wir setzten uns also zu Salat mit Putenbruststreifen, Tortellini in Minzsoße und einem Nusseis mit Mandelsplittern. Die Minzsoße war übrigens fürchterlich, fast schon eine Kunst, eine Soße so zu verhunzen. Man mag von der ganzen Angelegenheit halten, was man will, aber diese Soße essen zu müssen war ein echtes Opfer. Nun gut, ich aß artig und hurtig, selbstverständlich half ich beim Abräumen des Geschirrs, das selbstverständlich gleich in die Spülmaschine musste. Immerhin hatte ich dabei Gelegenheit, das Gesäß der Angebeteten noch einmal genau in Augenschein nehmen zu können, was dazu führte, dass in meinem Innersten chemische Reaktionen eintraten, die einen Schließmuskel dazu animierten, sich zu entschließen, worauf eine Blutverlagerung von gewaltigem Ausmaß eintrat. Ich hab's gleich, sagte Doris Hummelt und verstaute noch ein Döschen hier und ein Löffelchen dort. Ich meinte seltsamerweise ein Pochen in meinen Schläfen zu vernehmen, aber das war unmöglich. Da oben konnte sich kein Spritzer Blut mehr befinden. Endlich nahm sie mich bei der Hand und führte mich in ein Zimmer, zugestopft mit Fitnessgeräten. Es muss das Gästezimmer gewesen sein, es im Detail zu beschreiben ist mir leider nicht möglich. Glücklicherweise befand sich darin auch eine Art 76
Pritsche zum Sonnenbaden. Doris Hummelt zog sich aus, und ich tat es ihr nach. Wir lagen nun beide völlig unbekleidet auf dieser Pritsche. Doris Hummelt begann sich warm zu machen. Ich lag steif auf dem Rücken und versuchte unvorsichtige Bewegungen zu vermeiden. Ich dachte daran, dass es vielleicht doch nicht so schlecht gewesen wäre, am Vortag etwas Kraft zu verschwenden, und schloss die Augen, allerdings nur kurz, denn plötzlich setzte sich Doris Hummelt auf mich. Sie stützte sich mit beiden Händen auf meiner Brust ab und begann abwechselnd beide Gesäßmuskeln an- bzw. zu entspannen. Wahnsinn.
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Telefonieren und ab und zu essen gehen Wann war es, ich glaube
1991, die Gebeine König Friedrichs des Zweiten wurden von Hechingen (Baden-Württemberg) nach Potsdam überführt, und Frl. Ursula, eigentlich längst von mir in Besitz genommen, verliebte sich in einen Feinmechaniker. Der junge Mann befand sich noch in Ausbildung und erfreute sich einer angenehmen äußeren Erscheinung. Abgesehen von den langen Haaren vielleicht. Sie behauptete natürlich steif und fest, es läge nicht an den langen Haaren, ich solle nicht in Klischees flüchten. Ich flüchte irgendwohin, sagte ich. Was hat er, was ich nicht habe? Er meint es ernst, sagte sie. Dann hielt sie mir meine Affären inklusive einer etwa sechs Jahre dauernden Freundschaft zu einer Maschinenbaustudentin, mit der ich fünf Jahre lang die Wohnung teilte, vor. Hab ich je auf dich verzichtet, sagte ich. Nein. Eben, sagte sie. Das Problem bestand dann, dass sie von nun an nicht mehr mit mir verkehren wollte. Man könne ja weiterhin freundschaftlich verbunden bleiben. Sie könne meine Aufregung nicht im Mindesten verstehen. Sie glaube nicht, dass ich irgendwelche Ansprüche hätte. Doch, es habe ihr immer gut mit mir gefallen. Aber das würde in diesem Zusammenhang jetzt keine Rolle spielen, das werde ich wohl einsehen. Ja, die Entscheidung sei unumstößlich. Ich stützte mich mit beiden Ellenbogen am Tisch auf. Wie stellst du dir das vor, fragte ich, freundschaftlich verbunden bleiben? Man könne telefonieren und ab und zu essen gehen. Telefonieren und ab und zu essen gehen, wiederholte ich. Soweit ich mich erinnere, verzichtete ich aufs Essengehen. Aber ich rief sie regelmäßig an. Hallo! 78
Hallo. Wie geht? Gut. Alles in Ordnung? Ja. Auch privat? Ja. Hast du nicht mal wieder... Nein. Gut. Ich melde mich dann wieder. Okay. Ciao. Ciao. Es war aussichtslos. Es vergingen Monate. Schließlich sagte ich mir: Du bist ein Mann mit Prädikatsexamen, unternimm endlich etwas! Dann schrieb ich einen Brief, der folgendermaßen begann: Liebe Ursula, ich bedaure nach wie vor die Entwicklung unserer Beziehung. An diesem ersten Satz saß ich etwa vier Stunden. Der Brief wurde nicht besser, bestand im Wesentlichen aus Erinnerungen an schöne und hitzige Stunden und endete mit «In tiefster Zuneigung». Ich zeigte ihn Frank Westenrieder, einem Freund aus alten Zeiten. Nämlicher schmunzelte beim Durchlesen verräterisch und sagte: «Nicht übel.» Das machte mich stutzig.
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Es war irgendwie nichts zu machen. Auch das mantraartige Dahinmurmeln von Telefonieren und ab und zu essen gehen half nicht. Ich befand mich unstrittig in einer Phase der Verzweiflung. Diese Phase sollte etwa eineinhalb Jahre dauern. Schließlich ereignete sich Folgendes: Ich fuhr mit einem geliehenen Kraftfahrzeug an Frl. Ursulas Supermarkt vorbei und bemerkte, dass sie und der in Ausbildung befindliche Feinmechaniker vor den Fahrradständern standen. Gott schenkte mir eine Parklücke, die ich sicherheitshalber gleich vorwärts nahm. Innerhalb weniger Sekunden gelang es mir, das Fahrzeug zu verlassen und Deckung hinter einem LKW zu finden. Aus Gründen der Entfernung konnte ich nicht verstehen, worum es ging. Es wurde aber in einer Art und Weise gestikuliert, dass eine heftige Auseinandersetzung kaum von der Hand zu weisen war. Der Feinmechaniker trug sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Hätte er sie auch nur irgendwie berührt, und ich bitte dies ausdrücklich ins Protokoll aufzunehmen, hätte ich ihn damit auf offener Straße zu Tode stranguliert. Und zur Sicherheit zusätzlich erschlagen. Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich hätte ihm mit meinem Wagenheber den Schädel eingeschlagen. Es wäre in einigermaßen elegantem Schwung geschehen. Aber er berührte sie nicht. Stattdessen trat er einen Schritt zurück, machte eine äußerst abfällige Handbewegung und zitierte augenscheinlich Goethe. Auch wenn ihm sicherlich nicht bewusst war, in welcher Gefahr er sich befand, stieg er hastig in ein Fahrzeug mit Aluminiumfelgen und entfernte sich. Ich prägte mir natürlich das Kennzeichen ein.
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Da es mir nicht passend erschien, Frl. Ursula jetzt unmittelbar im Supermarkt zu kontaktieren, hieß es, auf den Feierabend zu warten. Der Vorfall ereignete sich um ca. 14 Uhr, der Supermarkt schloss um 18.30 Uhr. Frl. Ursula brauchte dreißig Minuten bis in ihre Wohnung. 19 Uhr also. Fünf Stunden, das sind insgesamt dreihundert Minuten oder achtzehntausend Sekunden. In meiner Wohnung angekommen, rief ich sie rein prophylaktisch in zehnminütigem Abstand an. Es hätte ja sein können, dass sie früher geht. Um 18.56 Uhr erreichte ich sie. Hallo! Hallo. Wie geht's? Gut. Alles in Ordnung? Ja. Auch privat? Ja. Hast du nicht mal wieder... Nein. Gut. Ich melde mich dann wieder. Okay. . Ciao. Ciao.
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Gregs Sieg Tennislehrer. Golflehrer. Das macht ja alles keinen
Unterschied. Einer unserer Golflehrer hieß jedenfalls Greg, und er war ein Angeber. Ich habe ihn sofort gemocht. Wie er auf der Driving Range stand, mit seinen eins neunzig, gut gebräunt und stets breit grinsend seinen Kaugummi zermalmte. Wie er den Damen die Arme führte, immer wieder liebevoll ihre Körperhaltung korrigierte und Komplimente mit schottischem Akzent verteilte. Selbstverständlich war berechtigterweise anzunehmen, dass dieser Greg mit den attraktiveren dieser Damen auch den Geschlechtsverkehr trainierte. Ich nahm das nicht nur an, sondern auch hin. Selbstverständlich. Die jungen Platzhirsche, die der einen oder anderen Dame auf dem Platz ebenfalls wohlgesinnt waren, ließ er mit dem Driver abschlagen, bis ihnen die Knie weich wurden. Gelegentlich nahm er das 5er Eisen, um schon mal von der Länge her zu demonstrieren, dass von nichts nichts kommt. Mit mir konnte er das nicht so ohne weiteres machen, da ich in Ausnahmefällen für alles Mögliche gut war. Das wusste er; er wusste, mit viel Glück war ich imstande, ihn in der Länge zu gefährden. Er wusste genau, dass ich nur ein bisschen Glück brauchte. Nun handelte es sich um einen von den Sonntagen, an denen ich immer gerne Golf gespielt habe. Nieselregen, das Wasser schien in langen, hauchdünnen Fäden vom Himmel zu hängen. Fast wie Schleim. Ordentlich Wind aus wechselnden Richtungen. Temperatur 12 Grad Celsius, Tendenz fallend. Kurz: Ein Scheißwetter, und dieser Greg hatte zusätzlich seit einiger Zeit ein Auge auf Susan geworfen, und es war unschwer zu erkennen, dass Susan das Auge zurückwarf. Wenn ich mich recht erinnere, wurden da die Augen geradezu hin- und hergeworfen, es war also klar, dass ich handeln musste. Hätte ich taktische Überlegungen walten lassen, wäre etwas mehr Zeitaufwand für das hübsche Kind sicherlich schon 82
mal ein vernünftiger Ansatz gewesen, auch hie und da ein Strauß Rosen hätte nicht geschadet. Meinetwegen auch ein romantischer Ausflug beispielsweise, und zwar ohne zwingend damit verbundene geschlechtliche Vereinigung. Stattdessen anschließendes Candle-Light-Dinner etc. pp., aber nein, ich dachte komplizierter. Ich habe also diesem Greg zunächst in sportlich fairer, aufs Heftigste herzlicher Manier zu verstehen gegeben, dass meine Sympathien zwar auf seiner Seite sind, diese aber nichts an einer gewissen Konkurrenzsituation ändern würden. Konkret: Ich nannte ihn einen gottverdammten Klempner. Er verstand mich umgehend, was ich der schottischen Mentalität zurechne. Wir hatten also umgehend den diplomatischen Konsens, der nötig ist, um sich zwanglos einem Diskurs rein männlicher Prägung hinzugeben. Ich ging nüchtern und sachlich vor und analysierte sein Spiel. Das Putten wäre in Ordnung, das kurze Spiel ebenfalls, wenngleich er damit nie in höhere Gefilde aufsteigen würde. Sein Schwung aber entspräche auffällig dem Bewegungsablauf meiner dreiundachtzigjährigen Großmutter beim Auswischen ihres 22 qm großen Altenheimapartments. Ich behauptete dies, obwohl meine Großmutter zum damaligen Zeitpunkt bereits verstorben war. Leicht über Durchschnitt innerhalb der Herde von leidenschaftslosen Golflehrern wären allenfalls die mittleren Eisen, die könnte man sich meistens ohne gröbere Verletzung eines ästhetischen Minimalanspruchs anschauen. Erbärmlich, wirklich erbärmlich aber wären seine Abschläge. Für einen Mann seiner Größe und Statur habe er das mieseste lange Spiel, das ich je... Er unterbrach mich, bezeichnete meinen Vortrag, den Susan mit verstörtem Blick verfolgte, als relativ kühn, vor allem erinnerte er mich an mein Handicap von 32. Ich entgegnete kühl, dass es hier nur um die Fakten gehe, er möge also nicht 83
unfair und emotional werden. Ich sagte, dass ich mich als Pro, der sich im Abschlag nicht im Mindesten mit einem Handicap-} 2-Spieler messen könne, an seiner Stelle im Sandbunker vor Loch 16 verscharren ließe. Selbstverständlich bei lebendigem Leibe und traditionell schottisch gekleidet. Greg, der bekannt dafür war, jederzeit auf eine Wette im Zusammenhang mit seinen sportlichen Fähigkeiten einzusteigen, wettete meistens um eine Flasche Champagner und gab jeweils vorher bekannt, mit welcher Dame er die zu leeren gedenke. Was soll denn das?, zischte mir Susan ins Ohr. Ich nahm die Frage zur Kenntnis. Was soll denn das? Ich zog die Augen chinesisch zusammen und senkte den Kopf. Es war ein letzter Versuch, ihr etwas zu verstehen zu geben. Also gut, meinte Greg. Auf dem Weg zur Driving Range - es folgte uns trotz des lausigen Wetters fast das ganze Clublokal machte er mir einige für alle gut hörbare Angebote, zunächst seine Wahl des Schlägers betreffend. Dann bot er mir an, ihn bei insgesamt zehn Versuchen nur ein einziges Mal schlagen zu müssen, um die Wette an seiner Statt zu gewinnen. Susan redete mir zu, doch Letzteres anzunehmen, wenigstens Letzteres, wie sie sich ausdrückte. Wenigstens sollte ich eine Minimalchance haben, meinte sie. Ich fühlte zweifelhafte Kräfte aufkeimen. Drei Schläge für jeden, sagte ich, der längere gewinnt. Die Menge johlte. Ich teete den ersten Ball auf. Während ich ein paar sehr professionell aussehende Probeschwünge unternahm, schickte Greg einen Lakaien ins Feld, der sich hinsichtlich der Weitenmessung bei 150 Metern positionieren sollte. Ich nahm das zur Kenntnis, sammelte mich und sprach den Ball an. Und ich zielte komischerweise exakt auf das Gehirn dieses Balljungen. Ich atmete tief, und ich hatte ein gutes Gefühl, ihn zwar etwas zu tief, dafür aber direkt zwischen den Augen aufs obere Nasenbein zu treffen. Ich dachte, das 84
würde ihn nicht nur erschlagen, das würde ihn gewissermaßen auch entwürdigen. Und nie mehr würde Greg bei 150 Metern einen Balljungen platzieren. Die Regenschirme der Zuschauer raschelten, sie verhakten sich ineinander, denn jeder wollte die bestmögliche Sicht auf das Geschehen haben. Bitte schön, sagte ich, Damen und Herren, ich muss schon um Ruhe bitten. Ich kann nicht spielen, wenn hier eine solche Unruhe herrscht. Schließlich schlug ich ab. Zwei Wochen später waren Susan und Greg verlobt; wenn ich mich recht erinnere, war sie auch gleich schwanger.
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Versuch einer Versöhnung mit Frl. Ursula Ich bin heute jederzeit bereit,
zuzugeben, dass das Telefon nicht mein Medium ist. Ich habe es wirklich versucht, schlussendlich sogar mein Telefonverhalten verändert. In letzter Verzweiflung bot ich sogar einen Ausflug zum Schloss Linderhof an. Zart, wie es meine Art ist. Sie musste sehr lachen. Wieso Linderhof? Wieso Linderhof! Sie sprach wieder mit mir! Nach all der Zeit war wieder Kommunikation möglich. Mir stockte der Atem. Warum willst du denn mit mir ins Schloss Linderhof? Ein kompletter Satz. Nur für mich, dachte ich. Aber was sollte ich sagen? Es gab keinen besonderen Grund. Neuschwanstein war mir einfach zu überlaufen. Willst du mir heute noch antworten? Schwierige Situation. Man versucht sich an einer zärtlichen Geste, man deutet Romantik an und steht sofort unter Druck. Es gibt da diesen Tisch sagte ich. Ja? Mir fiel wirklich einfach nichts Besseres ein. 86
Diesen Tisch, der mit einer revolutionär komplizierten Mechanik von unten durch den Fußboden direkt in den Speisesaal des Königs geschoben wird. Ja? Den wollte ich dir zeigen. Aha. Tischleindeckdich. Sie legte auf. Daraufhin ging es mir nicht gut. Es folgten lange Wochen, in denen ich toxischen Getränken zusprach, und zwar in einer Intensität, die ein gestandener Schulmediziner nicht für möglich hielte. Mein alter Freund Westenrieder unterstützte mich maximal. Westenrieder, sagte ich, und soweit ich mich entsinne, hing ich ihm dabei um den Hals, um das zu Sagende möglichst nahe am Ohr zu platzieren, Westenrieder, sagte ich, sei einmal ehrlich zu mir, Westenrieder, war das nicht ein unerhört zärtlicher Versu... Westenrieder, sagte ich und schüttelte ihn kräftig durch, da er mir nicht ausreichend aufmerksam zu sein schien. Westenrieder wachte schließlich auf und bat darum, ihn nicht mehr zu schütteln, da sonst die Gefahr bestünde, dass er etwas von sich geben würde.
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Abfuhr, die zweite Die Zeit rinnt, und man macht sich so seine
Gedanken. Ich machte mir Gedanken über diese Doris Hummelt. Ich ließ also ein paar Tage verstreichen und rief sie dann an. Sie war ziemlich reserviert, was mich schon etwas überraschte. Bitte, sagte ich schließlich, lass uns essen gehen, ich muss etwas mit dir besprechen. Na gut, sagte sie. Ich hatte also bei Alfonso angerufen und den besten Tisch im Lokal reservieren lassen. Direkt neben einem Aquarium mit exotischen Zierfischen. Jedenfalls zündete Alfonso die Kerze an unserem Tisch an, nahm die Getränkebestellungen entgegen und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Und nach einigen belanglosen Sätzen erklärte ich Doris Hummelt uneingeschränkt, wie sehr ich diesen Nachmittag mit ihr genossen hätte. Ich erklärte frei heraus, dass ich sie umwerfend fände und davon ausginge, dass dieses Treffen der Anfang einer großen Affäre werde. Allerdings schienen meine Äußerungen nicht gerade auf Gegenliebe zu stoßen. Doris Hummelt fand deutliche Worte. Sie begann damit, doch bitte schön zu bedenken, dass sie eine verheiratete Frau sei. Und sie gedenke natürlich keinesfalls, ihre Ehe zu gefährden. Der Nachmittag mit mir sei ein kleiner Ausrutscher gewesen, den ich auf keinen Fall überbewerten dürfe. Eine dauerhafte außereheliche Beziehung, gleich welcher Art, läge definitiv nicht in ihrem Interesse. Nein, auch vereinzelte Kontakte lehne sie kategorisch ab, dies ließe sich gar nicht mit ihrem Lebensrhythmus vereinbaren. Nein, ihr geschlechtliches Verlangen sei bei weitem nicht so ausgeprägt, wie ich mir das vorstellen würde. Sie sei sogar froh, mit ihrem Mann seit zwei Jahren nicht mehr zu verkehren, das habe die Ehe aus ihrer Sicht doch sehr stabilisiert. Sie habe das Geschlechtliche immer als einen Störfaktor empfunden und empfinde ungeheure Befreiung, seit ihr Mann sie nicht mehr bedränge. Ich müsse verstehen, dass sie sich angesichts dessen nicht von außen bedrängen ließe, sie habe mir ja auch nichts versprochen. Ja, sie gebe zu, dass 88
ich ihr gefalle und sie sich zu etwas habe hinreißen lassen. So etwas sei ihr noch nie passiert und so etwas würde ihr auch nicht mehr passieren. Sie sehe ein, dass ich den Nachmittag falsch deuten könne. Sie entschuldige sich dafür bei mir. Sie habe in dieses Treffen überhaupt nur eingewilligt, um sich zu entschuldigen und mir das klar und deutlich auseinander zu setzen. Ich dürfe ihr nicht böse sein, aber sie halte es für absolut unabdingbar, den Kontakt sofort abzubrechen. Nein, es gebe keine andere Möglichkeit, nicht einmal eine telefonische. Im Übrigen bestehe sie auch darauf, im Golfclub nicht mehr angesprochen zu werden. Sie müsse leider auch sofort gehen, da sie sich von zu Hause nur für eine Stunde verabschiedet habe, sie bitte nochmals um Verständnis. Doch, das sei ihr voller Ernst, und ich solle mir nichts anderes einbilden und auf keinen Fall einen weiteren Versuch wagen. Sie habe sich hiermit entschuldigt und wohl auch deutlich ausgedrückt, und sie erwarte, dass ich das akzeptiere. Im Übrigen finde sie es schon sehr merkwürdig, dass ich da tatsächlich guter Hoffnung gewesen sei, ich solle bei Gelegenheit einmal darüber nachdenken. Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie und ihren Schlüsseln. Sie legte ein Fünfmarkstück für ihr kleines Mineralwasser auf den Tisch, stand auf und verabschiedete sich mit den Worten: «Lebe wohl.» Ich muss schon sagen, wohl fühlte ich mich nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, kleiner zu werden. Geringer. Und dann musste ich zusehen, wie sie diesen Hintern aus dem Lokal trug.
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Dann wurde es Frühling, und ich habe eine große Freude an den Blumen Es war klar, dass ich Frl. Ursula nicht würde
zurückerobern können. Ehrlich gesagt, hatte ich mit dem Leben abgeschlossen. Ich meine, mit dem Leben, das ich für lebenswert gehalten hatte. Muss auch so gehen, dachte ich mir. Ausflüge an den Starnberger See, manchmal sogar bis nach Österreich, wo die Berge bekannterweise ohne jeden mathematischen Ehrgeiz stehen. An das Ah und Oh beim Betrachten von Granit musste man sich eben gewöhnen. Und die Bewölkung ist ja immerhin auch jeden Tag eine andere. Ich kaufte mir sogar ein Fahrrad, selbstverständlich ein Trekking Bike. Ich aß viel Obst und Gemüse, wurde militanter Nichtraucher und benutzte auch mal den Bus. Das Warten auf den Bus machte es möglich, vor den Zeitungskästen eine gebückte Haltung einzunehmen und die Schlagzeilen umsonst zu lesen. Ich joggte auch viel. Wenn die Sonne schien, war ich automatisch guter Laune. Ich fuhr in Urlaub, wie ich nie zuvor in Urlaub gefahren war: fulminant! Ich suchte mir eine Freundin, die das Wandern schätzte. Ich rasierte mich elektrisch, spielte Lotto. Ja, vor allem spielte ich Lotto. Immer dieselben Zahlen natürlich. Geburtsdaten mir bekannter Menschen. Westenrieder beschwerte sich. Er drückte sich etwas kompliziert aus, meinte aber sinngemäß, dass alkoholfreies Bier seiner Ansicht nach zu schlechter Laune führe. Ich musste daraufhin natürlich sofort den Kontakt zu ihm einstellen. Ich habe das damals als großen Verlust empfunden, aber es geht ja nicht ohne Opfer. Kein Fortschritt ohne Opfer. Westenrieder rief mich noch mehrmals an. Man würde mich in Siggis Saunastüberl vermissen. Andauernd würde man nach mir fragen. Man würde mich wirklich vermissen und so weiter. Es wäre immer so lustig mit mir gewesen und so fort. 90
Westenrieder, sagte ich, du bist wirklich ein feiner Kerl, aber es geht nicht. Man könne doch wenigstens noch ab und an im Viereck einen zischen, sagte er, es müsse ja nicht immer bis in die Puppen gehen. Es fiel mir nicht leicht, aber ich blieb hart. Dann wurde es Frühling, und ich hatte eine große Freude an den Blumen. Und dann der Sommer, die Kastanien standen im Saft, dass man sich dachte, das gibt's doch gar nicht. Mächtig und friedlich streckten sie sich in den Himmel. Und dann erst der Herbst. Ich watete im Laub. Und dann kam der Winter. Der blaustichige Schnee, der alles so klar und rein erscheinen lässt. Und dann kam wieder der Frühling.
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Großes,kapitales Gelächter Die Stimmung war gut, im Golfclub.
Scherers Tschapperl zwar immer noch auf Abwegen, und Dr. Seybold, der Mary aus Sicherheitsgründen die monatlichen Zuwendungen gekürzt hatte, berichtete, Mary habe ihre Dienste sofort entsprechend eingeschränkt. Er könne nicht verschweigen, dass ihn das verletzt habe. Gelächter. Hummelt sagte, er halte es für eine ganz falsche Strategie, so viel Geld auszugeben. Man müsse dem Leben eine Chance geben. Gelächter. Doch Hummelt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Wenn die Herren geneigt sind, sagte er sinngemäß, sei er bereit, beispielhaft zu werden. Es sei zwar sicher nicht schlecht, die Dinge zu kalkulieren, allerdings habe diese Art der Vorausplanung doch unglaublich wenig kreatives Potenzial. Gelächter. Und dann erzählte Hummelt die Geschichte von Roswitha, Wirtin eines kleinen Lokals, in dem er seit zwanzig Jahren Stammgast war. Seit zwanzig Jahren trinke er dort sein Bier. Er wisse es noch sehr genau, mit sechzehn habe er das erste Mal einen Fuß in das Lokal gesetzt. Mit den Mopeds sei man irgendwann mal dort hängen geblieben und habe sofort festgestellt, dass das ein guter Ort sei, kleiner Biergarten, lauschig, dazu eine 92
heimelige Kneipe, guter Flipper. Man sei sofort einer Meinung gewesen, vor allem wegen der Wirtin, Roswitha, damals Anfang zwanzig. Jene Roswitha sei der absolute Star gewesen, Beine bis in den Himmel, sie habe natürlich ausschließlich sehr kurze Röcke getragen, und sie habe es gekonnt mit den Gymnasiastenlümmeln, wie man vom Wirt, ihrem Mann, tituliert wurde. Ein Abzocker der übelsten Art, und man habe sich immer gefragt, wie dieses Wesen an eine solche Frau gekommen sei, und natürlich habe man sich diese Frau ständig vorgestellt. Eine Frau sei das gewesen, die man sich vorgestellt und gleichzeitig gemocht habe. Die Rosi sei einfach alles gewesen, damals. Fahren wir zur Rosi, habe es andauernd geheißen. Jeder habe sie haben wollen, die Rosi, und jedem sei klar gewesen, dass man sie nicht hätte haben können. Sie sei eben eine Klasse für sich gewesen. Nicht nur vom Aussehen her, das sowieso, nein, sie habe auch ein Herz für die Gymnasiastenlümmel gehabt, man habe anschreiben können, und zwar bis zum Abwinken, obwohl der Wirt immer gemault habe. Man habe das selbstverständlich nie übermäßig ausgenutzt, immer habe man irgendwann auch bezahlt. Keiner hätte die Rosi im Stich gelassen, das wäre vollkommen ausgeschlossen gewesen. Einmal habe man sogar für jemanden zusammengelegt, nur damit die Rosi nicht in Schwierigkeiten kam. Man habe schon begriffen, wie weit man gehen könne, ohne die Rosi zu gefährden. In die Rosi sei jeder verliebt gewesen; selbst als die ersten Geschichten ihren Gang genommen hätten, sei die Rosi noch immer das Maß aller Dinge gewesen, weil, dann sei man schließlich zu Rosi gefahren, und nach einigen Bieren sei man mit der Sache herausgerückt, und die Rosi sei einem durchs Haar gefahren und habe gesagt, es werde eine andere kommen, man solle sich da gar keine Sorgen machen. Man habe immer einen Ständer gehabt, bei Rosi. Gelächter. ...
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Und er, Hummelt, sei dieser Rosi treu geblieben. Fast alle anderen seien irgendwann ausgeblieben, hätten sich schon während des Studiums nur noch vereinzelt blicken lassen, und später schließlich gar nicht mehr. Er aber, Hummelt, habe dieser Kneipe die Treue gehalten. Es habe für ihn nie zur Disposition gestanden, sein Bier woanders einzunehmen. Er sei ohnehin ein eher bodenständiger Typ. Und im Gegensatz zu seinen Kommilitonen habe er diese Kneipe mehr und mehr schätzen gelernt, auch das Personal, Rudi, den Automechaniker zum Beispiel, oder Rolf, einen Versicherungsvertreter, einfache Leute, die ihre Arbeit machten, dort ihr Bier tranken und noch die hohe Kunst, immer mal wieder alle fünfe gerade sein zu lassen, beherrscht hätten. Dieses Lokal sei seine Rettungsinsel, nie habe er irgend) emand aus seiner eigentlichen Welt dorthin mitgenommen. Und wie gesagt, bis heute gehe er einmal die Woche hin, um sich an Rosi zu erfreuen und mit Rudi und Rolf Flipper zu spielen. Über all die Jahre sei da ein Flipper gestanden, und über all die Jahre habe man an diesem Flipper seinen Spaß gehabt. Wann immer ein neuer Flipper kam, sei geschimpft worden. Der neue Flipper sei immer zunächst Scheiße gewesen, aber schließlich habe man sich an den neuen Flipper gewöhnt, nach einem gewissen Zeitraum sei der neue Flipper der Flipper gewesen und somit unantastbar. Zunächst habe es immer geheißen, der alte Flipper sei viel besser gewesen, und jedes Mal habe man sich gefragt, warum sich immer alles ändern müsse, der alte Flipper sei doch völlig okay gewesen, man würde ja in den neuen Flipper auch nicht mehr Geld reinwerfen als in den alten Flipper. Aber irgendwann sei der neue Flipper einfach der Flipper und somit der alte Flipper geworden, irgendwann habe sich das also geklärt, und die Rosi habe gemerkt, dass man es gepackt hatte. Habe Wodka Feige aufs Haus serviert, mit diesen Beinen, und dann sei es natürlich allen egal gewesen, das habe dann gar keine Bedeutung mehr gehabt. Und das sei es dann schon gewesen, man habe die Zigarette wie gewohnt
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ganz lässig mittig auf die Glasplatte gelegt, die Kugel hinauf gejagt, und dann habe man das Gerät bearbeitet, wie eh und je. So sei das gewesen. So sei das all die Jahre gegangen, all die Jahre, und all die Jahre habe die Rosi kurze Röcke angehabt, und immer einen tiefen Ausschnitt, und immer wäre sie einerseits das Objekt der Begierde gewesen, und natürlich andererseits auch die Mutter der Kompanie. Gelächter. Hummelt fuhr ungerührt fort. So sei das also gewesen, über zwanzig Jahre lang. Zwanzig Jahre lang, das müsse man sich mal vorstellen. Und dann sei der Tag gekommen, an dem er besonders lange sitzen geblieben sei, genauer gesagt, länger als alle anderen, so lange also, dass er und Rosi sich im bereits geschlossenen Lokal noch den einen oder anderen Kognak genehmigt hätten, um das eine oder andere Private zu verhandeln, und da sei es dann auch zu dem Kuss gekommen. Nun sei ein Kuss auf den Mund nicht besonders ungewöhnlich gewesen, das habe schon hier und da stattgefunden. Wenn der Wirt nicht in Reichweite gewesen sei, sei das schon mal passiert, allerdings immer nur kurz und eher verstohlen. An jenem Abend aber habe ihn fast der Schlag getroffen, da er nichts anderes als ein kurzes und herzliches Küsschen erwartet habe. Es sei nämlich sofort Zunge dabei gewesen, richtig Zunge. Nach zwanzig Jahren. Man habe sich also lange und intensiv geküsst, schließlich habe er seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt, was toleriert worden sei, schließlich habe er seine Hand nach oben geschoben, was ebenfalls toleriert worden sei, und schließlich sei er bis ins Intimste vorgedrungen, und auch das sei ohne Gegenwehr möglich gewesen. Und dann sei gar nicht mehr lange geredet worden, er habe sie genommen, und zwar auf dem Flipper. Es sei gar nicht seine Idee gewesen, sondern ihre. Nun wäre natürlich in dem Lokal 95
kein Luxusbett vorhanden gewesen, es hätte aber doch einfachere Möglichkeiten gegeben, wie man sich sicher vorstellen könne. Man werde aber wohl verstehen, dass er in dieser Situation keine große Diskussion angestrebt, sondern einfach einen leeren Bierträger vor den Flipper gestellt habe. Gelächter. Und dann hast du 5 Mark rangeschmissen, unterbrach Rechtsanwalt Dr. Seybold. Gelächter. Er habe dann sein Bestes gegeben, was in Anbetracht seines Alkoholpegels nicht die Welt gewesen sein dürfte, so Hummelt, trotzdem sei sie in wahre Verzückung ausgebrochen: Ah! Aahh! Aaahhh! Mein Gott, tut das gut. Anschließend habe sie ihn gefragt, warum seine Frau einen solchen Mann ziehen lasse. Großes, kapitales Gelächter. Seybold brauchte etwas länger. Um zu verstehen..
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Westenrieder Westenrieder, ich muss ihn beschreiben. Er war
LKW-Fahrer, er hatte schlechte Zähne. Seine Zähne waren aus Verzweiflung schlecht, das wusste ich. Westenneders Zähne wären ohne den Chantré von der DEA-Tankstelle viel schlechter gewesen, das muss man hinzusagen. Westenrieder hat auch immer viel Freude am Chantré von der DEATankstelle gehabt, das weiß ich zuverlässig, außerdem war er allein stehend. Ich kannte ihn ja schon von der Grundschule her. Er sagte immer, er möchte niemandem im Wege stehen, er sagte, er gehe seinen Weg lieber allein, das beinhalte, dass er niemandem wehtue. Überhaupt mache er das alles gerne allein, das Waschen der Kleidungsstücke zum Beispiel, das mache ihm zum Beispiel Freude. Das sagte er gerne und gelegentlich und natürlich verschlüsselt. Ansonsten saß Westenrieder zuverlässig am Tresen, und man wusste nie genau, was das nun für ein Wesen sei oder wäre, denn er trank in Vollkommenheit und in einer solchen Ruhe vor sich hin, dass man neidisch werden musste. Er hatte eine Vorliebe für die klaren Schnäpse, für die Obstbrände, das ließ ihn logisch werden, und er saß immer ganz statisch am Tresen. Ich kann ohne das Viereck nicht leben, sagte Westenrieder. Ja, Westenrieder war es, der in den Supermarkt ging und Frl. Ursula beiseite nahm. Er habe etwa zwanzig Minuten mit ihr gesprochen. Sie sei anfangs etwas verstockt gewesen, aber er habe alles versucht, er habe sie sogar ans Ölsardinenregal geführt. Sie sei trotzdem skeptisch geblieben. Er sei also nochmal raus, habe einen Kurzen zu sich genommen, und dann sei er wieder rein. Und dann habe er alles klar gemacht. Er habe es einfach von ihr verlangt, und er habe sie angeschaut, wie er noch nie im Leben einen Menschen angeschaut habe. Westenrieder, sagte ich, Mensch. 97
Frl. Ursula rief mich also an. Mir fiel fast der Hörer aus der Hand. Hallo. Hallo. Wie geht's dir? Gut. Auch privat? Ja. Lass uns mal essen gehen. Ja. Willst du mit mir essen gehen oder nicht? Ja natürlich! Fällt dir was anderes als «ja natürlich» ein? Wieso? Ich glaube, wir lassen es lieber sein. Westenrieder machte mich zu Recht für das Scheitern der Angelegenheit verantwortlich. Ehrlich gesagt, sagte ich etwas genervt, weiß ich nicht, warum du dich so in mein Leben einmischst. Man macht eben manchmal Fehler und blöde Bemerkungen. Und dann kam ich ins Viereck. Westenrieder hing an seinem Platz am Tresen über seinen Getränken. Ich hatte angesichts dessen sofort einen Kloß im Hals. Ich stürmte auf ihn zu, um unmittelbar darauf festzustellen, dass Frl. Ursula hinter oder neben ihm saß. Beide registrierten kurz und angewidert mein Erscheinen und wandten sich ostentativ von mir ab. Ich setzte mich trotzdem dazu und bestellte drei doppelte Obstbrände. Nicht dass ich dachte, damit etwas aus der Welt schaffen zu können, vielmehr im klaren Bewusstsein dessen, was in einem 98
Stehausschank üblich ist: Man stellt sich an den Tresen und bestellt etwas. Das war schon immer so, und das wird auch immer so bleiben, dachte ich mir. Die beiden griffen stumm zum Glas und tranken, ohne mir zuzuprosten. Dieses wiederholte sich zwei weitere Male, woraufhin ich vom Hocker stieg, um Westenrieder herumging und Frl. Ursula um ein Gespräch unter vier Augen bat. Wir gingen an einen kleinen Tisch, und ich wollte etwas sagen. Ist dir eigentlich klar, was dieser Mann für dich getan hat? Ich bin ja nicht umsonst hierher gekommen. Du bist ein gottverdammtes egoistisches Arschloch! Also, jetzt lass mich mal was sagen... Ist dir eigentlich klar, wie es ihm geht? Schau ihn dir doch nur mal an. Westenrieder hing schwer in den Seilen. Er saß auf seinem Hocker wie ein angeschossener Cowboy auf seinem Pferd und hatte sichtlich Schwierigkeiten, die Zigarette zum Mund zu führen. Joe, der Mann hinterm Tresen, stellte ihm ein weiteres Helles und einen Kurzen vor die Nase. Ist dir klar, was dieser Mann unternommen hat, nur damit ich dich wieder anrufe? Ich sagte doch bereits... Du spielst mit seinen Gefühlen. Also, ich bitte dich... So, wie du mit meinen Gefühlen spielst. Ich? Mit deinen Gefühlen spielen? Also, das ist ja wirklich... Du bist rücksichtslos, du ruinierst Menschen, die dir nahe stehen. 99
Ich blieb sitzen. Es war ein kleiner Tisch neben dem Öl-ofen. Frl. Ursula verabschiedete sich überschwänglich von Westenrieder, welcher das Gleichgewicht verlor und kurz nachdem Frl. Ursula das Lokal verlassen hatte, zu Boden ging. Ich hob ihn wieder auf und schleppte ihn zu mir an den Tisch. Der Barhocker ist heute zu hoch für dich, sagte ich. Kommst du jetzt wieder öfter, fragte er. Sicher, sagte ich.
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Dottore Hummelt Scherer meinte, es sei doch ein gutes Zeichen,
dass Mary auf die Einschränkung der Mittel reagieren würde. Ja, sagte Dr. Seybold, so sehe er das auch. Das sei eindeutig ein Zeichen, dass noch eine Bindung vorhanden wäre. Er werde das auch bald honorieren, genauer gesagt die alten Verhältnisse wiederherstellen, und er werde ihr zur Feier des Tages sogar irgendein teures Kleid kaufen, Dior oder sonst was, und wenn es pressiere, auch noch schöne Schuhe, vielleicht Krokodilleder. Die habe sie dann aber gefälligst im Bett anzubehalten, und das werde dann ein Fest der Versöhnung werden, auf das er sich schon jetzt freue. Na, na, sagte Scherer, man muss es nicht übertreiben. Er schien guter Laune zu sein. Ich habe wieder etwas in Aussicht, sagte er. Dr. Seybold wollte noch etwas länger bei seiner Mary bleiben, aber Hummelt war es, der Details einforderte. In der Firma, so Scherer, gäbe es eine entzückende Person, die ihm aufgefallen wäre. Eine Verkäuferin. Meine Herren, so Scherer zur Bekräftigung ihrer äußerlichen Erscheinungskraft. Er müsse natürlich ein wenig vorsichtig sein, das wäre ja immer speziell, innerhalb der Firma. Aber das Risiko müsse man schon eingehen, das wäre sozusagen unternehmerisches Risiko, und in diesem Punkt pflichtete ihm nun wirklich jeder Anwesende bei. Nur Seybold äugte skeptisch. Es folgte eine genaue Personenbeschreibung nämlicher Person seitens Scherer, die zu allgemeinen Neidbekundungen führte. Wie willst du es anstellen, fragte Hummelt. Ich werde sie befördern, sagte Scherer.
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Man war sich sofort einig: ein absolut probates Mittel. Allerdings nur kurzfristig wirksam, schränkte Dr. Seybold ein. Bald wird sie mehr haben wollen. Schau'n mer mal, sagte Scherer vieldeutig. Was ist mit Tschapperl? Seybold sprach die Frage aus, die im Raum waberte. Schwanger, sagte Scherer. Das hat sich gründlich erledigt, ich habe die Wohnung bereits gekündigt. Na, wenigstens er scheine einen Lauf zu haben, so Hummelt. Man solle sich festhalten, aber er wäre kürzlich mit einer gewissen Margit aus gewesen. Er habe es gar nicht darauf angelegt, so Hummelt nahezu entschuldigend. Man habe sich beim Üben von Annäherungsschlägen versehentlich kennen gelernt, und da sei er halt ein paar Minuten liegen geblieben, habe dann ein gemeinsames Abendessen herausgeschlagen. Es sei schon verblüffend, wie einfach es immer wieder wäre. Er habe also einen Tisch im Firenze bestellt, Paolo entsprechend instruiert, Blumen etc., und dann habe er sie abgeholt. Er habe den Jaguar genommen, der habe sich bisher noch immer bewährt, außerdem sei da im Fußraum bedeutend mehr Platz als im Porsche, wo eine normal gewachsene Frau kaum die Beine übereinander schlagen könne. Viel zu aggressiv, ein Porsche, meinte Dr. Seybold. Es gebe nun wirklich keinen gröberen Anfängerfehler, als mit einem Porsche vorzufahren. Man habe also im Firenze gesessen, er habe Paolo im Vorbeigehen noch einen Fünfziger in die Weste gesteckt. Dieser habe ihn daraufhin den ganzen Abend Dottore genannt. Gelächter.
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Man habe also wirklich nett und unverbindlich geplaudert, ohne jede Anstrengung, schließlich sei das Gespräch sogar etwas privater geworden, aber da habe er schnell bemerken müssen, dass das Projekt in die falsche Richtung laufe. Sie habe darüber geklagt, in der Firma ständig in unzweideutiger Art und Weise angesprochen zu werden. Habe über die Schwierigkeit berichtet, diverse Anzüglichkeiten ertragen zu müssen. Er habe natürlich Entsetzen signalisiert. Schließlich und endlich habe sie sogar exakte Informationen zu seinem Familienstand haben wollen, habe dies zwar so indirekt ins Spiel gebracht, dass er es ohne gröbere Verrenkungen habe ignorieren können, aber damit sei für ihn die Sache klar gewesen. Er sei der komplizierten Sünden überdrüssig. Finger weg, um Himmels willen, sagte Dr. Seybold. Ich halte das auch für problematisch, so Scherer. Hummelt spielte ein wenig mit seinem Feuerzeug. Du wirst doch keinen Unsinn machen, sagte Seybold. Ach was, antwortete Hummelt. Du hast ja die Strategie des Bedürfnisses, meinte Scherer. Rosi nicht zu vergessen, sagte Hummelt. Rosi nicht zu vergessen!
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Scherers Ende oder Unser täglich Brot gib uns heute
Die Sonne war soeben prächtig untergegangen. In den Wohnstuben flackerten bereits die Bildschirme, warfen in schneller Schnittfolge Licht auf die Gardinen. Zwischen den Häusern lagen die Straßen und ertrugen die Lastkraftwagen. Es schien auch ein düsenbetriebenes Flugzeug durch den Himmel zu gleiten und aufgeregt aus den Quellwolken zu blinken, um sich irgendwie bemerkbar zu machen. Als Scherer hinaussah, hatte es gerade aufgehört zu regnen, die Erde dampfte, der Himmel grummelte dumpf und drohend, als ob er sich noch keineswegs entschieden hätte, es für heute gut sein zu lassen. Scherer wandte sich um und warf einen Blick in sein prachtvolles und hell erleuchtetes Büro. Ein riesiges Büro mit einem Besprechungstisch aus mahagonigebeizter Erle, der vollständig besetzt war. Meine Herren, hob Scherer an, Sie werden heute Abend in den Genuss einer kleinen Vorführung kommen, die Sie hoffentlich über die unverhoffte Überstunde hinwegtröstet. Scherer räusperte sich leicht und nahm seinen Platz am Tischende ein. Er goss etwas Mineralwasser in das vor ihm stehende Glas und nahm einen kapriziösen Schluck. Dann betätigte er einen in der Tischplatte versenkten Knopf und sprach ruhig und gelassen: Ursula, wir wären nun so weit! Ursula Bernsteiner, eine äußerst adrett aussehende Frau von vielleicht dreißig Jahren, betrat 104
den Raum und nahm neben Scherer Aufstellung. Anton Berger, Vertriebsleiter Südschwaben, einer der anwesenden Sitzungsteilnehmer, konnte nicht umhin, einen leisen, aber spitzen Laut des Entsetzens von sich zu geben. Frau Bernsteiner, wenn Sie so nett wären! Ursula Bernsteiner trat ein paar Schritte an ein merkwürdig aussehendes Gebilde, das mit einem großen weißen Laken verhüllt war, und zog mit einer an Verachtung grenzenden Bewegung das Laken herunter, das matt auf den Boden fiel. Es offenbarte sich das Bild einer Brotverkaufstheke vor einem Regal mit Brotlaiben, das jedem der anwesenden Sitzungsteilnehmer hinreichend bekannt war. Scherer nickte Ursula zu. Diese nahm einen halben Laib Aue Mond, die Spezialität des Hauses, aus dem Regal, hob ihn demonstrativ in die Luft und wog ihn aus. 684 Gramm. Dasselbe machte sie mit einer zweiten Brothälfte, die ebenfalls exakt 684 Gramm auf die Waage brachte. Wir haben uns erlaubt, die Angelegenheit vorzubereiten, sagte Scherer und bat per Handzeichen darum, die Prozedur fortzuführen. Ursula nahm nun eine Brothälfte, legte sie in eine Brotschneidemaschine, schloss sachte den Deckel und betätigte den Startknopf. Allgemeines Grummeln. Das Schneideblatt fuhr mit einem sehr unangenehmen Geräusch durch das Brot, teilte es in exakt gleich breite Scheiben. Nun wog Ursula das geschnittene Brot. Die Waage zeigte 647 Gramm an. Nun, fragte Scherer, fällt jemand etwas dazu ein? 105
Die Sitzungsteilnehmer blickten sich fragend an. Nichts? Das dachte ich mir, sagte Scherer und erhob sich von seinem Stuhl. Mit ein paar raumgreifenden Schritten bewegte er sich seitlich am Besprechungstisch zu Anton Berger: Dann darf ich vielleicht festhalten, dass das geschnittene Brot um 37 Gramm leichter ist als der Laib am Stück. Was könnte das bedeuten, Herr Berger... Berger setzte sich schräg, um Scherer ohne größere Verrenkungen anblicken zu können. Ich würde sagen, zunächst einmal leuchtet es mir ein. Sehr schön, sagte Scherer. Sind wir schon einen Schritt weiter. Allerdings ist diese Erkenntnis allein noch etwas dürftig. Denn offenbar - er wurde etwas lauter - hat sich noch keiner der Herren Vertriebsleiter die Mühe gemacht, unseren Verkäuferinnen, für die Sie - nebenbei bemerkt - auch verantwortlich sind, bei der Arbeit auf die Finger zu schauen. Schweigen. Ursula drückte das Kreuz durch und vermittelte äußerste Konzentration. Scherer trat vor die Verkaufstheke. Ich will versuchen, Ihnen das Problem zu demonstrieren. Guten Tag, ich hätte gerne ein halbes Aue Mond. Geschnitten bitte. Gerne. Ursula nahm ein halbes Aue Mond aus dem Regal, legte es in die Schneidemaschine, schloss den Deckel und betätigte den Startknopf. , Scherer hob viel sagend die Augenbrauen. Brummein, Brabbeln, Zerren an Krawatten. Kreischen der Schneidemaschine.
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Schließlich verstummte die Maschine. Ursula hob das Brot heraus, legte es auf die Waage (643 Gramm) und tippte auf eine Taste, um das Ergebnis zu fixieren, nahm das Brot von der Waage und wickelte es sorgfältig in Brotseide ein. Nun tippte sie den Kilopreis ein, und man konnte dem Display exakt DM 8,91 entnehmen. Acht Mark einundneunzig, bitte schön, sagte sie etwas nervös, nachdem Scherer mit einem aufmunternden Kopfnicken nachgeholfen hatte. Allgemeines Grummeln. Acht Mark einundneunzig, meine Herren, Sie haben es gehört. Und Sie haben gesehen, wie wir eben 39 Pfennige verschenkt haben. Allgemeines Grummeln und Scharren mit den Füßen. Wie Ihnen nun unschwer klar sein müsste - Scherers Stimme wurde etwas ungehalten - wird das Brot in unseren Läden vor dem Wiegen geschnitten, womit der Gewichtsverlust von etwa 5% auf unsere Kappe gehtl Scharren, Brabbeln. Scherer hob die Hand. Und nun kommen wir zum eigentlichen Problem. Frau Bernsteiner, bitte schön. Ursula durchquerte den Raum festen Schrittes und kehrte mit einer rollenden Flipcharttafel zurück. Scherer trat vor die Tafel, klappte das Deckblatt nach hinten, zog aus der Innentasche seines Jacketts einen Kugelschreiber, den er mit wenigen Handgriffen in einen Zeigestock verwandelte, und begann die mit sieben verschiedenen
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Farbfilzstiften sorgsam aufgemalten Zahlenwerte zu dokumentieren. Wie Sie alle wissen, haben wir derzeit 879 Filialen, die einen Gesamtjahresumsatz von 18 Millionen Mark erwirtschaften. Der Umsatzanteil an geschnitten verkauftem Brot liegt mittlerweile bei 38%, also 6840000 Mark, Tendenz steigend. 5% Differenz aus DM 6840000 ergeben DM 342000 DM, die uns somit jährlich verloren gehen. Tendenz steigend. Brabbeln, Scharren. Und zwar nur, weil das Brot nach dem Schneiden gewogen wird - statt vorher. Was sagen Sie dazu, Herr Berger? Anton Berger war wie vom Blitz getroffen. Ähm, ich meine, das muss natürlich geändert werden... Herr Berger ist also der Meinung, dies müsse geändert werden, wandte sich Scherer zitierend an die versammelte Mannschaft, die zustimmend nickte. Sehr schön, sagte er und begab sich auf die Anton Berger gegenüberliegende Seite des Besprechungstisches. Herr Berger scheint allerdings vergessen zu haben, dass Frau Bernsteiner ihn vor einem halben Jahr bereits darauf hinwies, dass man vielleicht vorher wiegen und dann schneiden könnte. Scharren, Gurgeln. Anton Berger musste sich die Krawatte lockern. Vor seinem geistigen Auge liefen entsetzliche Szenen ab. Er stellte sich vor, Ursula mittels einer Eisenkette und seiner BMWSportlimousine so lange quer durch München zu schleifen, bis sich nichts mehr von ihr an der Kette befand. Er war grade dabei, mit 160 Stundenkilometern in den Brudermühltunnel einzulenken, als ihn die Stimme Scherers aus den Träumen riss.
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Herr Berger hielt es damals jedenfalls nicht für erforderlich, etwas zu ändern. Nicht wahr, Herr Berger? Ähm, ich habe das etwas anders in Erinnerung... Scherer machte auf dem Absatz kehrt. Sie haben diesen Vorschlag nicht zur Kenntnis genommen. Sie haben Frau Bernsteiners äußerst innovativen Gedanken einfach ignoriert und unserem Haus beträchtlichen Schaden zugefügt. Brummeln, Brabbeln. Anton Berger sackte leicht zusammen. Ursula kam ein Lächeln über die Lippen. In ihren Augen funkelte bloße Verachtung. Was wir also zu konstatieren haben, ist ein jährlicher Verlust von 350000 Mark, Tendenz steigend, sowie Vertriebsleiter, die ihre Mitarbeiter nicht ernst nehmen. Scherer nahm wieder Platz und ließ die Runde eine halbe Minute diskutieren. Meine Herren, sagte er schließlich, es wäre mir bedeutend lieber gewesen, Sie hätten diese Diskussionen schon früher geführt. Das hätte uns eine Menge Geld gespart. Schweigen. Berger bekam einen ganz trockenen Gaumen und überlegte fieberhaft. Ich kenne keine einzige Branche, in der man dem Kunden 687 Gramm gibt und nur für 643 Gramm bezahlen lässt, sagte Scherer eine Spur zu theatralisch. Aber der Kunde kriegt doch nur 643 Gramm und muss für das Schneiden außerdem extra bezahlen... Berger wusste schon bei 643, dass diese Bemerkung ein fürchterlicher Fehler war.
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Scherer schwieg demonstrativ und sah mit geschürzten Lippen in die Runde. Das war die Stunde Johann Bletschingers. Ein Rosenheimer Metzgermeisterssohn, dessen Lebensleistung darin bestand, die Übernahme des väterlichen Betriebes verweigert und sich bei Aue Brot vom Ausfahrer zum Vertriebsleiter Oberbayern emporgearbeitet zu haben. Ein schwergewichtiger Mann mit extrem behaarten Fingern und von geplatzten Äderchen durchwobenen rosa Wangen. Lieber Kollege Berger, sagte er, den bayerischen Dialekt vergeblich zu verbergen suchend, die Schneidmaschinen müssen sich doch amorrrtisian. Breite Zustimmung. Genau. Sehr richtig. Freilich. Oder vielleicht ned, setzte er noch drauf, sichtlich erleichtert über die positive Aufnahme dieser seiner Meinung nach vielleicht etwas riskanten Einmischung. Gar keine Frage. Unbestritten. Also wirklich... Bletschinger lehnte sich zufrieden zurück. Ich kenne keine einzige Branche, in der man dem Kunden 687 Gramm gibt und nur für 643 Gramm bezahlen lässt, wiederholte Scherer, und ich finde, das ist zu viel des Guten. Sein Blick lastete schwer auf Berger. Berger fühlte blankes Entsetzen in sich aufkeimen. Aber die Brösel, sagte er - es war ein Akt der Verzweiflung -, ich meine, wir verwerten die Brösel doch schließlich zu Paniermehl. Ich habe die Zahlen jetzt nicht im Kopf... Sie scheinen nicht zu verstehen, worum es hier geht, schnitt ihm Scherer das Wort ab. Es geht um Arbeitsplätze, um die Arbeitsplätze Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Sie gefährden, lieber Herr Berger. Sie sind entlassen, Herr Berger, Ihre Papiere liegen
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bereits im Personalbüro. Sie können sie sofort abholen. Frau Mierhofer wartet schon auf Sie. Totenstille. Berger war blass und ratlos. Unruhe im Raum. Scherer kostete die Situation eine endlose Minute aus, Berger schöpfte schon wieder ein klein wenig Hoffnung. Er dachte an einen Rüffel der besonderen Art, sozusagen an einen heilsamen Schock. Unter der Voraussetzung, dass Sie sich nicht rufschädigend verhalten, zahlen wir Ihr Gehalt noch sechs Monate weiter. Für Ihren weiteren beruflichen Werdegang wünschen wir Ihnen viel Erfolg. Scherer nahm nochmal einen Schluck Wasser und wies mit einer unmissverständlichen Geste zur Tür. Als Berger den Raum verlassen hatte, fuhr Scherer fort: Bevor wir das Ganze hier zu Ende bringen, möchte ich Frau Bernsteiner für ihren innovativen Vorschlag und ihre Mitwirkung an der kleinen Demonstration danken. Scherer sah wieder in die Runde: mit einer Prämie von DM 3000! Er zog einen Scheck aus der Seitentasche seines Jacketts. Applaus. Johann Bletschinger klopfte, vom Erfolg seiner Diskussionsbeteiligung überwältigt, mit den haarigsten Fingern, die man sich vorstellen kann, auf die mahagonigebeizte Tischplatte aus Erle. Das war's für heute, meine Herren, sagte Scherer schließlich und erhob sich. Ich wünsche noch allseits einen schönen Abend. Frau Bernsteiner, Sie bleiben bitte, wir wollen noch kurz über Ihre Zukunft sprechen. Die Sitzungsteilnehmer verließen das Büro, Scherer, der Ursula noch ein kurzes Augenzwinkern schenkte, schob Bletschinger als Letzten aus der Tür, fast freundschaftlich legte er ihm 111
hierbei einen Arm um die Schultern, ging mit ihm durch das Vorzimmer und entließ die ganze Mannschaft schließlich in den Flur. Auf dem Rückweg in sein Büro entledigte er sich seines Sakkos, in seinem Büro schließlich auch seiner Krawatte. Es macht Ihnen doch nichts aus, fragte er, aber nach einem so langen Tag. Bitte schön, nehmen Sie doch Platz. Erst mal wollen wir Ihre Prämie feiern, sagte er und ging nochmal zurück ins Vorzimmer, um eine Flasche Champagner und Gläser zu holen. Ursula nutzte die Gelegenheit, um den obersten Knopf ihrer Bluse zu öffnen, den Rock etwas höher übers Knie zu ziehen und ihre Beine unter dem Tisch herauszuschwenken, damit Scherer das Ergebnis ihrer Bemühungen in Augenschein nehmen konnte, ohne direkt unter den Tisch schauen zu müssen. Scherer seinerseits öffnete die Flasche professionell, nahezu geräuschlos, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Er bemerkte die kleinen Veränderungen an seinem Gegenüber und lächelte. Dann wurden die Gläser gefüllt und angestoßen, und Scherer hob zu einem charmanten und recht privaten Gespräch an, das im rechten Maß mit Komplimenten durchsetzt war, die langsam, aber stetig an Deutlichkeit zunahmen und von Ursula ebenfalls in der richtigen Dosierung gesteigert goutiert wurden. Signalisierte anfangs noch ein dezentes Lächeln Wohlgefallen, war Scherer nach dem Genuss des zweiten Glases Champagner schon die eine oder andere flüchtige Berührung gestattet. Die Angelegenheit verlief also durchaus erfreulich, allerdings trat bei diesem Stand der Dinge auch eine Stagnation ein, die für Scherer eindeutig zwischen ihnen stand. Nach einem Blick auf die reizenden Knie Ursulas fasste Scherer den Entschluss zu investieren und verließ die private Ebene des Gesprächs. Er faltete seine Finger wie zum Gebet, wobei er drei- oder viermal die nach oben stehenden Daumen aneinander stieß, was Konzentration aufs Kommende signalisieren sollte. Scherer bemerkte nun ohne jede größere Einleitung, dass er jetzt ohne Vertriebsleiter Südschwaben 112
dastünde, und kam auch ohne nennenswerte Verzögerung zu der Frage, ob Ursula sich diese Position zutrauen würde. Die Angesprochene kreuzte vor Aufregung zweimal die Beine, was zur Folge hatte, dass ihr Rock bis zu den rüschengeschmückten Enden ihrer halterlosen Strümpfe zurückrutschte. Ursula sah allerdings keine Notwendigkeit, diesen Zustand rückgängig zu machen, vielmehr beeilte sie sich, die Frage zu bejahen, wobei sie darauf achtete, ihrer Antwort eine kurze Begründung hinzuzufügen, die sich im Wesentlichen auf ihre achtjährige Betriebszugehörigkeit und einen erfolgreich abgeschlossenen betriebswirtschaftlichen Fortbildungskurs an einer Volkshochschule beschränkte. Zusammen mit den freigelegten Oberschenkeln waren dies respektable Argumente, Scherer lobte die sachlich gehaltene Antwort und sprach von einer viel versprechenden Option, die er zu erkennen glaubte und über die er ernsthaft nachzudenken sich bereit erklärte. Daraufhin füllte er die Gläser zum dritten Mal und beugte sich über den Tisch. Da Ursulas Glas etwas zu voll war, schwappte etwas von dem Champagner beim Anstoßen über den oberen Rand nämlichen Glases und benetzte die freigelegten Oberschenkel. Die so Befeuchtete stellte ihr Glas ab und stand auf, wobei sie ihren Rock in Höhe der Strumpfenden hielt, damit dieser nicht auch noch mit der Flüssigkeit in Berührung kam. Scherer entschuldigte sich überschwänglich und eilte in sein Vorzimmer, um eine Papiertuchrolle zu holen, wobei der Champagner der Schwerkraft folgend zur Erdmitte strebte. Scherer, der es gewohnt war, in brenzligen Situationen schnelle Entscheidungen zu treffen, machte sich ohne eine vorher eingeholte Legitimation sofort an die Arbeit, wobei er durch übertrieben ausführliche Entschuldigungen das Unverfängliche seines Tuns herauszustellen versuchte. Er fing an, sie abzutrocknen. Er ging in die Hocke und fing bei den Knöcheln an. Da Ursula nicht nur von jedem Protest absah, sondern auch zu kichern begann, arbeitete sich Scherer schnell nach oben und war schon bald gebückt stehend an den Strumpfenden angekommen, ließ schließlich das saugende Papier fallen und 113
umfasste den rechten Oberschenkel Ursulas mit beiden Händen. Nun konnte eindeutig nicht mehr von einem Reinigungsvorgang gesprochen werden, und Scherer verharrte etwas ungelenk in dieser Position, bis er schließlich seine rechte Hand an der Innenseite des Schenkels langsam nach oben schob. Kurz vor dem angestrebten Ziel drückte Ursula die Oberschenkel fest zusammen, sodass Scherers Hand feststeckte. Nachdem keine weitere Reaktion ihrerseits erfolgte, richtete sich Scherer auf, umfasste mit der Linken ihre Taille, vergrub seinen Kopf in der Gegend ihres rechten Ohres in ihrem Haar und schob sie sanft an den Besprechungstisch, wobei er an eine Stabilisierung der Stellung dachte. Er saugte nun am Ohr und setzte sanfte Bisse ein, worauf Ursula den Druck ihrer Schenkel langsam abbaute und sich Scherers Hand schließlich dem angestrebten Ziel entgegenbewegen konnte, dieses rasch erreichte und zumindest einzelne Finger in eindeutiger Art und Weise bewegte. Dass Ursula kein Höschen trug, war strategisch insofern von Bedeutung, als sie damit eindeutig signalisierte, dieses geschäftliche Treffen wohl vorbereitet, in gewisser Weise vorausschauend angegangen zu sein. Nun wurde auch Ursula aktiv, man konnte das Offnen eines Reißverschlusses hören. Der Stand der Dinge war mittlerweile sehr fortgeschritten, und Ursula legte Hand an. Eine kalte Hand. Scherer empfand auch den Druck und die Geschwindigkeit der Massage als sehr reizvoll, worauf ihn schon nach relativ kurzer Zeit etwas Flüssigkeit verließ, die auf den Strümpfen Ursulas Halt fand und, wie sich nach einer kurzen Verschnaufpause zeigte, auch der Schwerkraft gehorchte, jedoch wesentlich langsamer als der Champagner. Ursula säuberte sich nun eigenständig, wobei Scherer ihr Saugpapier in ausreichender Menge reichte. Nachdem man wieder Platz genommen hatte, zog Ursula ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche, und beide rauchten, auch Scherer, der nur selten, und wenn, dann meistens Zigarre rauchte. 114
Das nun folgende Gespräch ist nicht von Bedeutung. Ursula trachtete danach, nichts Falsches zu sagen, Scherer war sich nicht ganz schlüssig, wie nun weiter verfahren werden sollte. Er hatte kurz daran gedacht, es zunächst dabei zu belassen und einen neuen Termin anzuberaumen, fühlte aber neue Kräfte aufkeimen, als er Ursula dabei beobachtete, wie sie sich die von ihm noch gar nicht in Anspruch genommenen Lippen nachzog. Es war klar, dass er erneut investieren musste. Nun rauchte Ursula ihre zweite Zigarette, wie soll man es beschreiben, in einer Weise exaltiert, dass Scherer ein Scheit ins Feuer legen musste. Er könne sich vorstellen, so das Ergebnis seiner Überlegungen, ihr die frei gewordene Position mit einer Probezeit von sechs Monaten anzubieten. Ursula drückte daraufhin entschlossen ihre Zigarette aus und ließ sich vor ihm in die Hocke sinken. Wieder war das Geräusch eines aufgehenden Reißverschlusses zu hören. Nachdem auch dies erledigt war, musste sich Ursula um ihr Make-up kümmern. Scherer wäre es lieb gewesen, schnellstmöglich und alleine in seinen Wagen zu steigen, eine CD einzulegen und sich kraft seiner acht Zylinder seinem Eigenheim und einem schönen Glas Cognac zu nähern, aber Ursula bat ihn zunächst darum, sie nach Hause zu bringen. Sie würde jetzt nicht mehr gern in die Straßenbahn einsteigen, meinte sie, während sie mit ihrem Eyeliner zugange war und Scherer irgendwelche Papiere durcheinander brachte, um nicht sinnlos herumzustehen. Er hatte kurz daran gedacht, etwas vorzuschieben, einen Termin oder eine Nachtschicht, entschloss sich dann aber doch dazu, sie nach Hause zu fahren, da damit die Angelegenheit in einer überschaubaren Zeitspanne sicher erledigt sein würde. Die Lippen mussten natürlich ganz neu gemacht werden, und Ursula nutzte die Zeit für ein paar unangenehme Fragen, ihren Berufserfolg betreffend, denen Scherer schließlich mit der Bemerkung, er müsse darüber erst mal schlafen und werde sie bald anrufen, Einhalt gebot. Ich verspreche, die Sache ernsthaft zu prüfen, fügte er hinzu, worauf Ursula vom Schminken abließ und ihn 115
auf dem Weg zum Aufzug in eindeutiger Weise am Gesäß anfasste. Ursula und Scherer standen nun im Aufzug zur Tiefgarage, wobei Ursula den Spiegel fixierend an ihrer Kleidung zupfte, Scherer hingegen mit der Suche nach dem Autoschlüssel beschäftigt war und wie gebannt die digitale Stockwerkanzeige verfolgte. Noch mit einem Fuß im Auf zug, entriegelte er seinen Wagen. Ein flock hallte durch die Tiefgarage. Als er ihr die Autotür aufhielt, erhielt er ein Lächeln, das ihm entschieden zu selbstbewusst vorkam, und als Ursula nach dem Einsteigen in die großzügig dimensionierte Limousine im Fahrzeug auch gleich die Beine übereinander schlug, musste er das Geräusch sich aneinander reibender Strümpfe zur Kenntnis nehmen, noch bevor er die schwere Autotür ins Schloss werfen konnte. Scherer legte Camille Saint-Sae'ns auf, Symphonie Nr. 3, cMoll, op. 78, und zwar in einer Lautstärke, die man zumindest als kommunikationserschwerend bezeichnen musste. Er kannte die Straße, in der sie wohnte. Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten und verlief schweigend. Dann fuhr Scherer rechts ran, und Ursula überreichte ihm ihre Visitenkarte. Ich möchte, dass Sie mich morgen anrufen, sagte sie. Ich bin mobil erreichbar. Morgen, fragte er. Morgen, antwortete sie und stieg grußlos aus. Ursula konnte nicht wissen, dass es eine Vertriebsleitung Südschwaben keine drei Monate mehr geben würde. Umstrukturierungsmaßnahmen. Und dann die Verhandlungen mit dem französischen Konzern, die so gut wie abgeschlossen waren. Die Straßen glänzten nass, und der Himmel war ungewöhnlich hell für die Uhrzeit, aber Scherer fuhr aggressiv, übersah an einer Rechts-vor-links-Kreuzung die Vorfahrt, genauer gesagt, einen Radfahrer. Er konnte das Steuer herumreißen, und alles, was dem Radfahrer passierte, war, mit dem nassen Teer Bekanntschaft gemacht zu haben. Es waren nur Schürf- und Platzwunden. Scherer bot eine Fahrt ins Krankenhaus an, aber der Radfahrer stimmte ein Klagelied auf sein Fahrrad an, das er erst vor ein paar Tagen neu erworben 116
hatte, ein so genanntes Trecking Bike. Sind Sie wirklich in Ordnung, fragte Scherer, als er auf der Rückseite seiner Visitenkarte sein KFZ-Kennzeichen notierte. Es geht schon, aber das Rad, sagte der Radfahrer, und Scherer gab ihm die Karte mit der Aufforderung, der Radfahrer möge sich schnellstmöglich melden, er käme für den Schaden am Rad selbstverständlich in voller Höhe auf. Wir können auch über ein Schmerzensgeld reden, sagte Scherer, Sie rufen mich einfach morgen an. Und der Radfahrer, dem etwas Blut von der Stirn tropfte, bog an Ort und Stelle den Lenker gerade und versprach mit zitternden Knien, sich zu melden. Und Scherer fuhr nach Hause. Im heimischen Wohnzimmer schlief seine Frau mit offenem Mund vor dem laufenden Fernseher. Sie machte auch Geräusche. Er schenkte sich einen Cognac ein, ging in sein Arbeitszimmer, öffnete das Fenster und überlegte sich, einfach rauszuspringen. Doch dann entschied er sich für den Revolver und schoss sich in den Mund.
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Der Havanna-Club Ich muss weg, sagte sie, ich muss hier
irgendwie raus. Sie machte wirklich keinen guten Eindruck, ließ mich aber über die genauen Umstände ihrer Depression im Unklaren. Ich dachte ja auch daran, ein verlängertes Wochenende im benachbarten Ausland zu verbringen. Einfach und unkompliziert der Sehnsucht freien Lauf zu lassen. Sie aber plädierte im Reisebüro stur für die Dominikanische Republik. Der Katalog lag ausgebreitet vor uns und zeigte tatsächlich einen Strand. Weiß wie Zucker, sagte die Angestellte. Sie hatte kleine Brüste, die völlig unnötig von einem Büstenhalter in Habtachtstellung gehalten wurden. Und sie machte einen sehr sicheren und entspannten Eindruck. Offenbar war die Dominikanische Republik in aller Regel nicht allzu schwer zu verkaufen. Frl. Ursula hing begierig an ihren Lippen und sog Satz für Satz, Information für Information wie eine lebensrettende Medizin ein. Die Finger der Angestellten huschten über die Tastatur. Und der Bildschirm gab alles. 4- oder 5-Sterne-Hotels,was man nach deutschem Standard natürlich leicht her-unterkategorisieren müsse. In einem deutschen Reisebüro wird man eben ehrlich beraten. Das hat nichts mit Moral zu tun, eher mit Beflissenheit, Kompetenztümelei und einem Rubrizierungswahn, dem man allenfalls die Statistikbegeisterung des amerikanischen Sportjournalismus entgegenhalten könnte, wüsste man nicht sicher, dass dieses Amerika ein verdammt deutsches Land ist. Aber das nur nebenbei. 118
Ich spielte mit Prospekten. Was haben Sie denn da, fragte die Angestellte. Ich hatte Südtirol. Ich denke, Sie wollen in die Karibik? Ja natürlich, sagte ich. Aber unsere Mittel sind begrenzt. Sie blickte Frl. Ursula fragend an. Wenn ich eines hasse, dann ist es Solidarität unter Frauen.
Südtirol um diese Jahreszeit, fragte die Angestellte provokant, und Frl. Ursula blickte mich strafend an. Was heißt denn das, bitte schön. Südtirol um diese Jahreszeit?, sagte ich. Es gibt wahrscheinlich nichts Romantischeres als Südtirol um diese Jahreszeit - und glaubte ernstlich daran, ein Argument geliefert zu haben. Wir hätten da auch was Schönes in Tunesien, sagte die Angestellte. Was ist mit Marokko, sagte ich, um diese provokante Andeutung einer fadenscheinigen Kompromissbereitschaft zu entkräften. Südmarokko ist das ganze Jahr über sehr schön, sagte ich. Was haben Sie gegen Südmarokko? Ich habe nichts gegen Südmarokko, sagte sie.
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Es gibt Strände in Südmarokko, sagte ich, die sind herrlich! Da haben Sie Recht, sagte sie. Es gibt Strände in Marokko, die sind wirklich großartig! Allerdings nicht in Südmarokko. Abgesehen davon: Wenn Sie um diese Jahreszeit Wärme haben wollen, ist selbst Südmarokko nicht sicher. Nun ging es um einen geordneten Rückzug. Der feindliche General trug getöntes Haar. Kastanienrot, Poly Color. Von Schwarzkopf. Die Dominikanische Republik kommt nicht infrage, sagte ich fest entschlossen. Auf gar keinen Fall. Frl. Ursula knickte ein wenig ein, was sofort einen Sensibilisierungsprozess der Reisebüro-Angestellten zur Folge hatte. Was gefällt Ihnen denn an der Dominikanischen Republik nicht, fragte sie. Sonne, Strand, Meer, Lobster, sagte ich, das ist mir zu wenig. Ich brauche schon ein wenig Kultur, Geschichte, Tradition, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine Kokosnuss, sagte ich, mag was Schönes sein... Na, aber das ist doch kein Problem, rief sie. Wir scheinen hier aneinander vorbeizureden, wo die Lösung doch so nahe liegt. Kuba! Ja, sie rief es, sie sagte es nicht, sie rief es; und zwar im klaren Bewusstsein, den ratgeberischen Durchbruch geschafft zu haben. Kuba. Da hatte sie mich auf dem linken Fuß erwischt. Natürlich nicht Varadero, schob sie gleich nach, Havanna! Havanna bietet alles, sagte sie. Weltkulturerbe und nur wenige Kilometer entfernt die Playas del Este, die schönsten Strande, die dieser Erdball bieten könne. Sie hielt einen Moment inne und Frl. Ursula schmachtete mich an, und die Entscheidung war gefallen. Havanna. 120
Meine Frau reagierte letztlich unheimlich neutral. Ein verlängertes Wochenende hätte ich ihr natürlich leicht verkaufen können. Ich hatte ja immer mal wieder in Rumänien zu tun. Aber zwei Wochen Kuba lassen sich bei gemeinsamer Buchhaltung natürlich nicht verschweigen. Und wer würde es einer geprügelten Ehefrau verübeln, auch einmal die Sonne sehen zu wollen. Ich musste also etwas riskieren. Die Dominikanische Republik, sagte sie, hätte mich gereizt. Damit war die Sache erledigt, und ich konnte allein fahren. Entsprechend gelöst verkündete ich am Golfclub-Stammtisch meine Reisepläne. Man war interessiert, ja angetan. Selbst Architekt Lutz von der Hohlen, der mit der Organisation des Scherer-Gedächtnis-Turnieres mehr als überfordert war, spitzte die Ohren. Das wäre doch was, sagte Dr. Anton Reismeier im Brustton einer Überzeugung und leitete damit eine Debatte ein. Der Gebrauchtwagenhändler Unterberger war schier begeistert. Kuba, sagte er, und er sagte es so, dass man es sich mit C geschrieben vorstellen musste, Cuba, diese Musik, diese Leidenschaft. Ich musste an seine schottischen Strümpfe denken. Hummelt huldigte den kubanischen Frauen, insbesondere den Mulattinnen und deren Schenkeln, auf denen angeblich die so schmackhaften Zigarren gedreht werden. Das Wetter wurde gepriesen, und die über den Dollar gewährleistete Währungssicherheit, die amerikanischen Oldtimer, die RumMixgetränke, die Farbe des Meeres und vieles mehr. Schlichte, einfache und freundliche Menschen, sagte Dr. Anton Reismeier schließlich bremsend. Dr. Seybold pflichtete unbedingt bei, die Fraktion der prämierten Akademiker schien aber nicht undankbar, als Hummelt noch einmal die Schönheit kubanischer Mulattinnen bekräftigte. Er ging insofern ins Detail, als er den Fettsteiß als den segensreichsten afrikanischen Einfluss auf die weibliche kubanische Bevölkerung bezeichnete. Dr. Seybold grunzte vergnügt, und Zahnarzt Dr. Reismeier ließ 121
sich nicht lumpen und schüttelte interessant klingende medizinische Fachtermini zum Thema aus dem Ärmel. Er war es übrigens auch, der an Ort und Stelle und aus dem Stegreif die karibische Gelenkigkeit über die extrem hohe Vitamm-CZufuhr wissenschaftlich nachwies. Schließlich stand die Vorstandswahl an. Außerdem hieß es, man müsse sich das eigentlich vor dem Zusammenbruch des Castro-Regimes noch einmal genau anschauen. Es wird vorbei sein, sagte Architekt Lutz von der Hohlen, wenn Fidel Castro «das Zeitliche segnet». Ich bin zu alt, sagte er, aber Sie sollten sich das nicht nehmen lassen. Nun setzte eine tumultartige politische Diskussion ein, die hier nicht unbedingt im Detail wiedergegeben werden muss. Interessant allenfalls, dass Hummelt, der offenbar auf eine schnelle Entscheidung hinauswollte, schließlich die Leistungen des sozialistischen Regimes auf dem Gebiet der Medizin ins Feld führte, Dr. Reismeier sofort auf seiner Seite hatte und aus rein akademischen Gründen damit auch Dr. Seybold band. Blieb Unterberger, der etwas abwesend wirkte. Er träumte von einem 58er Chevrolet Impala, stellte aber schließlich die letzte noch ungeklärte Frage nach den Golfplätzen, die ich aus meinem mitgeführtem Polyglott-Kuba-Reiseführer heraus positiv beantworten konnte, und schon war es geschehen: Der Havanna-Club war geboren. Man beschloss die Reise ohne Gegenstimme. Damit hatte ich nicht gerechnet. Nun musste ich damit herausrücken, meine Reise nicht allein bestreiten zu wollen. Genauer gesagt wäre es eine Frau, eine sehr gute Bekannte, mit der zusammen ich ein Zimmer im Inglaterra gebucht hätte, das, so fügte ich hinzu, völlig ausgebucht sei. Es war ein schwacher Versuch, aufzuhalten, was nicht mehr aufzuhalten war.
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Na, das wird ja wohl kaum das einzige Hotel in Havanna sein, sagte Dr. Reismeier und bat Unterberger um die Organisation des Ausfluges. Er brachte die Herren Doktoren noch am selben Tag im Nacional und Hummelt und sich im Ambos Mundos unter. Gut gemacht, sagte Dr. Reismeier ganz im Stil eines Ersten Vorsitzenden. Internet, sagte Unterberger. Wir haben übrigens denselben Flug, sagte er, an mich gerichtet.
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Flugangst oder Angst vorm Fliegen Ich bin wahnsinnig aufgeregt,
sagte Frl. Ursula am Flughafen, die dritte Tasse Kaffee trinkend. Sie blätterte in einem Spanisch-Wörterbuch. Das ist völlig unnötig, sagte ich. Lass mir doch die Vorfreude, sagte sie. Meine Bemerkung aber betraf das Wörterbuch. Der Havanna-Club jedenfalls flog Business Class, während wir in der Holzklasse Platz nahmen, was mir aber nicht ganz unrecht war. Hummelt hatte sich schon am Flughafen enorm um Frl. Ursula bemüht, und sie hatte sich wiederum bereits detailliert nach seinen Berufserfolgen erkundigt. Was zur Folge hatte, dass er die Rechnung für den ganzen Tisch übernahm und mit circa 40 Mark Trinkgeld auf DM 100 erhöhte. Dr. Seybold schürzte die Lippen, er hätte auch gern viel Trinkgeld gegeben. Wie dem auch sei: Hummelt kam während des langen Fluges insgesamt dreimal zu Frl. Ursula nach hinten. Das machte also circa 33,33 Mark pro Besuch. Ich denke, das konnte er sich leisten. Der Flug begann ruhig, die Turbinen rauschten pflichtgemäß, und Frl. Ursula wies immer wieder auf ihre Aufgeregtheit hin. Sie freute sich eben, und das war ja in Ordnung. Schau hinaus, sagte ich, schließlich hast du einen Fensterplatz. Mein Nachbar zur Linken las in der Le Monde. Erst über der Ostküste Nordamerikas gab es Turbulenzen. It's gonna be a little bit bumpy, sagte der Captain, und die Anschnallzeichen leuchteten auf. A little bit war gut. Die Maschine sackte immer wieder durch, dass es eine Freude war. Frl. Ursula krallte sich in meinen rechten Oberschenkel, und ich fing lächerlicherweise an zu transpirieren. Wie wenig man doch seinen Körper im Griff hat, dachte ich. Völlig unstrittig, dass das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel ist, dachte ich. Reg dich nicht auf, sagte ich zu Frl. Ursula hinüber, das Flugzeug ist das sicherste Verkehrsmittel überhaupt. Wir haben nichts zu befürchten, sagte ich. Von hinten kam eine Dose Bier 124
angeflogen, die bei meinem Nachbarn zur Linken in der Le Monde einschlug. Wir verhielten uns zurückhaltend. Es nützt ja niemandem und nichts, wenn man in Panik ausbricht. Das Flugzeug ist das sicherste Verkehrsmittel überhaupt, sagte ich. Als es aber meinem Blut nicht mehr möglich war, in den rechten Fuß hinunter, geschweige denn wieder heraufzuströmen, bat ich Frl. Ursula, ihre Hand in die Armlehne zwischen uns zu krallen. Stattdessen packte sie mich am Hemd. Ich will hier raus, sagte sie. Es hört ja gar nicht mehr auf. Man kann wegen ein paar Turbulenzen doch nicht einfach aussteigen, sagte ich. Beruhige dich. Es sind nur Turbulenzen, sagte ich, so was kommt vor. Und die Triebwerke sind in Ordnung, sagte ich. Solange die Triebwerke in Ordnung sind, können wir nicht abstürzen. Woher willst du wissen, dass die Triebwerke in Ordnung sind? fragte sie. Man hört sie doch, sagte ich und bückte mich, um einem heranfliegenden Tablett auszuweichen. Langsam und prickelnd kehrte das Blut in meinen Fuß zurück, das brachte mich für einen Moment auf andere Gedanken. Der Mann zu meiner Linken las nun völlig ungerührt in der Financial Times. Wieder sackte das Flugzeug durch, ich schätzte 200 Meter, wahrscheinlich waren es nur hundertfünfzig. Ich begann, kalten Schweiß an mir zu riechen. Die Triebwerke sind in Ordnung, sagte ich, wir haben genug Sprit... Woher willst du wissen, dass wir genug Sprit haben?, fragte Frl. Ursula. Das wird alles genau geprüft, sagte ich. Wie geprüft? Na, am Tanklastzug gibt es eine Anzeige und im Cockpit gibt es eine Anzeige, und wenn beide Werte einigermaßen übereinstimmen, kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass soundso viele tausend Liter Kerosin von hier nach da geflossen sind. Mit an 125
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit? Also gut, mit absolut sicherer Wahrscheinlichkeit, sagte ich. Das Handgepäckfach über uns schnappte auf, und ein schwerer Aktenkoffer krachte meinem Nachbarn in die Financial Times. Es war sein eigener. Ich fing nochmal an: Die Triebwerke sind in Ordnung und wir haben genug Sprit. Es kann gar nichts passieren. Du hast zu viele dieser Filme gesehen. Das Flugzeug könnte durchbrechen, sagte sie. Also bitte, sagte ich, das ist ja nun wirklich völlig abwegig. Was ist, wenn wir Tragflächen verlieren? Wir verlieren hier doch keine Tragflächen, sagte ich. Wie stellst du dir denn das vor? Sie brechen einfach weg, sagte sie, sieh nur. Ich riskierte einen Blick durch das Bullauge hinaus. Die Tragfläche wippte bedenklich auf und nieder. Du hast keine Ahnung von Technik, sagte ich. Bäume wiegen sich im Wind, sagte ich, alles von der Natur übernommen. Würden die Bäume nicht nachgeben, würden sie abbrechen. Genauso ist es mit den Tragflächen. Sie geben nach, deswegen brechen sie nicht. Margit Scherers Dachziegel-Technik fiel mir ein. Alles von der Natur übernommen, sagte ich. Das Handgepäckfach über uns entleerte sich nun vollständig.
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Ankunft und Abschied oder Das gelenkige Geschöpf
Die Landung war sanft, und wir waren natürlich erleichtert. Der Havanna-Club dagegen war ziemlich angeheitert. In der Business-Class wird eben doch kräftiger ausgeschenkt. Wir trafen uns alle bei der Gepäckausgabe. Hummelt eifrig wie immer. Er schwirrte um Frl. Ursula herum, kümmerte sich um ihre Koffer, nahm ihr das Handgepäck ab. Wir traten schließlich in beträchtlicher Stimmung aus dem Zollbereich, und Dr. Seybold wies sofort darauf hin, dass so eine Taxifahrt ins Hotel gut und gerne eine halbe Stunde dauern könne. Er orderte noch im Flughafengebäude Cuba Libre für alle. Wegzehrung, sagte er. Die Drinks kamen, und der Gebrauchtwagenhändler Unterberger erzählte einen Witz, von dem mir leider nur noch die Pointe erinnerlich ist: «Ich bin Eisenbieger, und meine Frau geht anschaffen!» Nun gut. Schließlich bestiegen wir beschwingt die Taxis. Wie sieht's denn hier aus, sagte Frl. Ursula während der Fahrt, allerlei Unrat im Straßengraben zur Kenntnis nehmend. Es waren ein paar verrostete und verbeulte Auspufftöpfe zu sehen, nichts wirklich Aufregendes. Hier sieht's ja aus wie im Krieg, sagte sie und deutete auf Gebäude, die zweifellos dem Verfall nahe waren. Im Zentrum ist bereits einiges renoviert, sagte ich. Sonne, Strand, Meer, Lobster, sagte ich. Alles da. Mach dir keine Sorgen. Und dieser Dieselgestank, sagte sie. Wir checkten schließlich im Inglaterra ein. Ein ehrwürdiges Haus. Ich las ein bisschen im Hotelprospekt herum: «... with colonial style furniture that includes the typical rocking chairs...», Frl. Ursula inspizierte das Badezimmer. Soweit ich mich erinnere, störte sie sich an der Patina der gesamten Einrichtung. Doppelzimmer. Die Klimaanlage zum Beispiel schnarrte wie die Klingel unserer Doppelhaushälfte. Dann und wann gurrte sie aber auch. Wie eine Taube auf dem Münchener Marienplatz. Sie schaltete sie ab. Ich versuchte, etwas einzuwenden, und ich verwendete einen wahnsinnig 127
entzückenden Kosenamen. Vorfreudebedingt, das will ich zugeben. Jener aber wurde nicht gewürdigt. Frl. Ursula eilte murrend durchs Doppelzimmer, hie und da eine Bluse aufhängend. Ich verhielt mich zurückhaltend. Die Klimaanlage wurde allerdings nach nicht mehr als zehn Minuten wieder in Kraft gesetzt, und zwar von Frl. Ursula selber, ich musste da gar keinen Druck ausüben. Insofern rief ich hinunter zur Rezeption und bestellte Drinks. Die Drinks kamen, und ich verhielt mich entzückend, das heißt, wir stießen an, und ich versuchte, Frl. Ursula auszuziehen. Ich hatte eine große Sehnsucht nach ihr, und ich gab es einfach und deutlich zu erkennen. Ich ging sogar hinüber und schaltete die Klimaanlage aus. Es sollte nichts gurren. Ich schnarrte auch ein paar Unanständigkeiten in ihr rechtes Ohr, und ich tastete zusätzlich. Aber sie wollte nicht betastet werden. Es schien ihr alles zu viel zu sein. Oder zu wenig. Natürlich. Gut, sagte ich, gehen wir ins El Floridita. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte ich mir, und das El Floridita ist ja nur einen Steinwurf vom Hotel entfernt. Es kommt nicht jeder rein, das ist wie in München, sagte ich zu Frl. Ursula. Wir kamen natürlich rein, weil wir so aussahen, als würden wir direkt aus München kommen. Aaahh, sagte Frl. Ursula, das ist Zivilisation. Wir nahmen sofort an der Bar Platz. Alles sehr luxuriös, wesentlich luxuriöser übrigens als in München. Wir saßen da und sahen uns um. Tatsächlich saß am anderen Ende des Tresens eine Dame, die herüberzwinkerte. Ein überaus gelenkiges Geschöpf mit blütenweißer Unterhose, welche enorm aufblitzte. Nachdem ich ein paar Mal hinübergesehen hatte, lag der Verdacht mehr als nahe, dass die Unterhose für mich aufblitzen sollte. Ich lockerte ein paar Muskelgruppen im Schulterbereich und versuchte gut gelaunt, etwas zu bestellen. Ich versuchte, auf mich aufmerksam zu 128
machen. Zaghaft zwar, aber doch zu aufdringlich. Der Kellner reagierte absolut nicht. Frl. Ursula gab ungeduldig zu verstehen, Durst zu haben. Sie hätte gern ein Glas Champagner. Selbstverständlich, sagte ich und hob den Arm. Dies sah nach einer Weile gar nicht mehr gut aus, weshalb ich ihn schließlich wieder senkte. Nun war ja ein Ergebnis nicht wirklich zu vermelden, ich sah mich also gezwungen, aufzustehen und ans andere Ende des Tresens zu gehen, wo der Kellner mit dem gelenkigen Geschöpf ein intimes Gespräch zu führen schien. Excuse me, sagte ich, sorry, is it possible... Just a moment, sagte dieser und entfernte sich sofort. Where do you come from, sagte das gelenkige Geschöpf. Germany, sagte ich und sah, wie der Kellner hinüberging und den Kanadier bediente. Dieser bestellte ganz offensichtlich Champagner für Frl. Ursula, und zwar mittels hochgezogener Augenbrauen. Dieser Kanadier saß von Anfang an neben uns. Er trug viele Ringe an den Fingern und auch einen teuren Anzug. Er saß da, als gehörte das Lokal ihm. Vielleicht gehörte es ihm auch, denn geringste Bewegungen, beispielsweise ein Heben der Augenbrauen, veranlassten den Kellner zur sofortigen Präsenz. Es war faszinierend. Das gelenkige Geschöpf untersuchte meine Hosentaschen ohne jede kriminelle Absicht. Dann wollte sie etwas zu trinken. Champaign, fragte ich, Champaign, sagte sie, und ich sagte: Well! Gespannt darauf, wie diese Bestellung zustande kommen würde. Es genügte ein kurzes Heben der Augenbrauen ihrerseits. Ich prostete ihr zu. Eine schöne Frau. Der Kanadier drüben hatte die Hand schon an der Hüfte Frl. Ursulas, insofern wäre es ungeschickt gewesen, wieder hinüberzugehen. Ich hielt mich also ein wenig auf, ging aber schließlich doch auf die Toilette, um mich ein wenig frisch zu machen. 129
Eine solche Toilette sollte ich in Kuba nicht wieder finden. Eine Luxustoilette. Das wird ihr gefallen, dachte ich mir, als ich im Spiegel Grimassen zog. Ich überprüfte mein Zahnfleisch, den Dauerpickel links unter meinem Auge. Ich sah, dass ich nicht wirklich gut rasiert war. Man sieht so allerhand in Luxustoiletten. Dann schürzte ich noch ein letztes Mal unglücklich die Lippen und wusch mir die Hände, trat aus der Toilette hinaus, entschlossen am gelenkigen Geschöpf vorbei, hin zur kanadisch-deutschen Freundschaft. Aber sie "waren nicht mehr da.
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Den Security-Manager oder Die Revolution der Herzen
Manchmal erreichen die Temperaturen auch in Havanna kaum mehr als 25 Grad. Aber selbst das ist man als Deutscher nicht gewöhnt. Den Deutschen erkennt man in Havanna allein schon daran, dass ihm außerhalb von klimatisierten Gebäuden das Hemd praktisch am Leibe klebt. Und vermutlich beklagte sich Alexander von Humboldt seinerzeit nur deshalb über die schlechte Straßenführung Havannas, weil er nicht wusste, dass diese einem ursprünglich tropischem Bedürfnis gehorchte: der Sonne Schatten abzugewinnen nämlich. Vom ursprünglich so raffinierten Konzept der 5-StraßenKreuzungen ist heutzutage nicht mehr viel zu sehen. Man schlendert natürlich trotzdem die Calle Obispo hinunter, eine Straße, die noch zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts eine der wenigen asphaltierten Straßen Havannas war. Dabei stellt man fest, dass sich auch heute noch Frauenschuhabsätze in den aufgeweichten Teer bohren. Seinerzeit soll man sogar gelegentlich mit dem ganzen stecken geblieben sein. Auch Männern mit flachen Absätzen soll das passiert sein. Seinerzeit sei das durchaus an der Tagesordnung gewesen, so ein mir persönlich vorliegender Reisebericht aus dem Jahr 1939. Die Klimaanlage im Hotel Inglaterra ist jedenfalls so reguliert, dass man im Katastrophenfall zumindest für eine gewisse Zeit Leichen in der Lobby lagern könnte. Es empfiehlt sich also aus gesundheitlichen Gründen unbedingt, auch nach kurzen touristischen Ausflügen, etwa in die südliche Altstadt, wo man vielleicht das Münzmuseum Museo Numismätico bestaunt hat, zunächst «on the porch» vor dem Hotel Platz zu nehmen und beim einen oder anderen Ron Collins das Austrocknen der durchgeschwitzten Kleidung abzuwarten, bevor man das Hotel betritt. Gut abgeschottet von den Offiziellen des Hauses, hat man dabei freien Blick auf den Parque Central mit dem JoseMarti-Denkmal und insgesamt exakt 28 Palmen. Wenn man 131
sich dann auch nur ein wenig konzentriert, erkennt man sogar diverse flanierende Damen, die vom Trottoir aus zwischen den Pflanztrögen hindurch in leicht verständlicher Zeichensprache die Bereitschaft zur geschlechtlichen Vereinigung anbieten. Das sind die Mädchen vor den Hotels, und die arbeiten wesentlich effizienter als die Straßenmädchen, die einzeln und doch ein wenig verkrampft auf den Steinbänken des Prado sitzen und sich immer nur den Zeigefinger in den Mund stecken, um damit unablässig ans nahe gelegene Revolutionsmuseum zu erinnern, genauer gesagt, an ein zerschossenes Unterhemd Raoul Castros, das sich dort in einer der zahlreichen Vitrinen befindet. Es ist teilweise bräunlich verfärbt, und wer des Englischen mächtig ist, kann sich bei dem Zusatztext am schönen Terminus «original blood» weiden. Die Mädchen vor den Hotels müssen darauf achten, einerseits nicht die Aufmerksamkeit der die Touristen schützenden Hotelbediensteten auf sich zu ziehen, andererseits auf die von den Hotelbediensteten zu schützenden Touristen einen maximal eindeutigen, entschlossenen, vielseitigen und professionellen Eindruck zu machen. Also nicht nur ihr Dienstleistungsangebot umfassend zu verifizieren, sondern auch die Kosten offen zu legen. Daraus entstehen durchaus interessante Bewegungsabläufe der Mädchen vor den Hotels, die man zu Humboldts Zeiten vielleicht ausführlich beschrieben hätte. Heutzutage sind sie hinreichend bekannt und einfach nur amüsant. Und alles, was man tun muss, um sie zu genießen, ist, Blickkontakt zu halten. Es ist wirklich ganz einfach. Einmal angenommen, eine recht ansprechende Mulattin hinter den Pflanztrögen offeriert schon geraume Zeit und ausgesprochen bemüht ihre Dienste. Automatisch denkt man doch an den Schuhputzer, der noch vor wenigen Stunden ganz in der Nähe des doch recht ansprechend renovierten Ambos Mundos zwischen wirklich beeindruckenden Zahnlücken hindurch über Chamberlain oder Churchill herzog. Automatisch denkt man doch auch an das bereits 1939 von Alejo Carpentier erwähnte, 132
drei Meter breite Hochrelief, das den Obersims eines garagenähnlichen Gebäudes in der Calle Oquendo schmückte: «Zwei kleine Maultiere mit hübschem Geschirr ziehen den Karren... Keinerlei Ungeschicklichkeit beim Entwurf oder der Anordnung der Figuren... angesichts der sicheren Technik des anonymen Künstlers... Ein einziges naives Motiv: Am hinteren Teil des Karrens taucht der eine Fuß des Kutschers auf, um damit die Abwesenheit des Menschen in dem Ganzen anzudeuten.» Und natürlich denkt man ebenso automatisch an das Buch «Der Sekretär der Liebenden», das bis weit über die 4oer Jahre hinaus in Havanna überall erhältlich war. Damals, als es üblich war, dass sich die Mädchen nachmittags stark geschminkt auf Samtkissen gestützt aus den Fenstern lehnten und der oft tagelang patrouillierenden Bewerber harrten, die sich irgendwann ein Herz fassten, um endlich und schüchtern von der anderen Straßenseite einen Liebesbrief zur Geliebten hinüberzuwerfen, dessen Text natürlich aus dem «Sekretär der Liebenden» abgeschrieben war. Man nehme also an, das Mädchen wendet sich auf eine unauffällige Bewegung meines Mittelfingers an den SecurityManager des Hotels, redet heftig auf ihn ein, woraufhin er - ihre Erregung mit einer energischen Handbewegung abrupt unterbindend, sich dabei die Krawatte ordnend - gemessenen Schrittes an meinen Tisch kommt. Das also nehme man an. Folgerichtig stecke ich ihm ebenfalls anzunehmenderweise, dafür aber wortlos und absolut weltmännisch 20 Dollar zu. Merkwürdigerweise streckt der Security-Manager daraufhin seinen Rücken olympisch durch, seine Gesichtszüge scheinen zu entgleisen, er reckt also den Kopf nach hinten, ja, es macht fast den Anschein, als würde er irgendeine Instanz im kubanischen Luftraum anrufen. Schließlich sammelt er sich und teilt mir in erbärmlichem Englisch mit, dass die Dame das Hotel allenfalls für eine Gebühr von 30 Dollar betreten dürfe. Okay, sage ich, während das Mädchen draußen vor den Pflanztrögen, ihre Finger in eine Krokodillederimitathandtasche hineinkrallend, von einem Fuß auf den anderen tritt. Ich drücke dem 133
Security-Manager die fehlenden 10 Dollar in die Hand. Das Mädchen huscht geschwind an meinen Tisch, und ich bestelle zwei Drinks. Praktischerweise beim gerade anwesenden Security-Manager. Und hier sind wir schon beim Hauptproblem: Falls es den geneigten Leser einmal nach Kuba verschlägt, kann ich demselben nur raten, die Drinks nicht beim Security-Manager zu bestellen! Niemals beim Security-Manager!! Der SecurityManager ist Herr des Hauses, und es erniedrigt ihn, wenn man Drinks bei ihm bestellt. Meine Bestellung richtet sich also anzunehmenderweise an den leicht nach vorne gebeugt stehenden Security-Manager an unserem Tisch, der sozusagen augenblicklich erstarrt. Es sieht nicht aus wie ein Hexenschuss, denn er fixiert kontrolliert mein Gesicht. Ich habe schon bald das Gefühl, jemand hätte mir im Trubel der Ereigmsse ein Kruzifix ans Nasenbein geheftet. Schließlich und endlich gibt er aber nahezu unbeweglich ein Zeichen, woraufhin sich drei kräftige Burschen an unseren Tisch gesellen. Mein neues Pressefräulein wird nervös, reagiert aber instinktiv richtig: Sie bewegt sich nicht. Ich zupfe ein wenig an meinem Hemd, das nicht trocken werden will, und umkrampfe meinen deutschen Reisepass in der linken Gesäßtasche meiner Hose. Eine Revolution ist kein Kinderspiel. Hinzu kommt, dass meine heiß geliebte Romeo y Julieta arg leidet, denn ich habe ein kräftiges Gebiss. Nun flüstert der Security-Manager in grausigem Spanisch etwas, das ich nicht verstehe, weil ich des Spanischen überhaupt nicht mächtig bin, worauf sich einer der drei Geheimdienstleute rasch entfernt. Nicht aber der Security-Manager. Der Security-Manager steht noch immer unbeweglich und in leicht gebeugter Manier vor mir. Mir fällt auf, dass seine Krawatte, von einer goldenen Krawattennadel gehalten, der Erdanziehungskraft widersteht, 134
mir fällt auch auf, dass er einen extrem gut geschnittenen Anzug und eine teuer aussehende Sonnenbrille trägt. Sein Haar ist ganz kurz und exakt geschnitten, und er transpiriert nicht im Mindesten. In extremen Situationen hat man als Deutscher ein Auge für diese Dinge. Da nun aber jeden Augenblick mit der Verhaftung gerechnet werden muss, bekomme ich Durst, möchte aber keine hektische Bewegung riskieren. Ich nehme allen Mut zusammen, schaue dem Security-Manager in die Augen, blicke dann langsam und maximal evident hinüber zu meinem Glas, mache mich unterwürfig auf den Rückweg und suche wieder diese espressobraunen Pupillen der Macht. Angekommen hebe ic h kurz und unschuldig fragend meine Augenbrauen. Der SecurityManager steht wie ein Fels in der Badewanne. Völlig diszipliniert. Ich aber wage es. Ich lege die Romeo y Julieta vorsichtig im Aschenbecher ab, schwenke dann meinen Arm langsam in Richtung meines Glases, ergreife es, führe es dem Munde zu und trinke. Es wird - Gott sei Dank - nicht geschossen. Überdies kommt dann auch schon dieser vermeintlich verloren gegangene Geheimdienstmann mit den neu bestellten Drinks und stellt sie auf den Tisch. Ich bin für einen Moment völlig verunsichert, versuche mir die Telefonnummer der Deutschen Botschaft in Erinnerung zu rufen, aber der Security-Manager gibt ein Zeichen, und die drei Burschen ziehen sich zurück. Nicht aber der Security-Manager, der immer noch unbeweglich steht. Nach eisigen und langen Minuten richtet er sich auf, gleichsam wie in Zeitlupe, wünscht mir und meiner mir geneigten Begleiterin einen angenehmen Abend, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet. Die Lokomotiven müssen beschädigt werden, sage ich zu meiner mir geneigten Begleiterin. Selbstverständlich wird eine solche Konterrevolution kein Kinderspiel werden. Ohne Mord 135
und Totschlag wird es kaum gehen. Funkstreifen und Streifenwagen werden erheblich zu tun haben. Wichtig werden natürlich auch Belohnungen sein: BELOHNUNGEN! BELOHNUNGEN! BELOHNUNGEN! Wir müssen Plakate drucken lassen. Vor allem: Wir müssen jede Menge junge und hübsche Pressefräuleins einstellen. What?, fragt sie. Ihr Englisch scheint nicht sehr sicher zu sein. You better practise some more, sage ich, von unerträglichem Dieselgestank umgeben, den die nachträglich eingebauten Toyota-Motoren der so gerühmten wie berühmten 58er Chevrolets, die ja aus dem Straßenbild Havannas gar nicht wegzudenken sind, ausstoßen. Diese Fahrzeuge, sage ich, weil mich das «What» doch leicht irritiert, auch weil ich mich genötigt sehe, etwas Solidität in die DisKussion einströmen zu lassen, werden uns überleben. Chassis, die auf offener Straße geschweißt werden, Motoren, die auf offener Straße ausgetauscht werden, und zwar grenzüberschreitend. You are funny, sagt sie. Eine schwache Brise kommt auf. Es handelt sich um den 9-UhrWind, der durch Havannas Säulenlandschaft hindurchzischt und mich gelegentlich an die Rohrpfeifen der Scherenschleifer erinnert, die man heutzutage kaum noch hört. Die Rohrpfeife, eine Panflöte, also die Vorstufe einer Orgel. Und nichts im Vergleich mit der Klimaanlage des Inglaterra. Auch nicht vom Geruch her. Wie dem auch sei: Durch ihre Strumpfhosen hindurch soll der Wahnsinn der Sehnsucht duften, sage ich; der Geruch von Schweiß und Nylon, sage ich und bemerke, dass es Unsinn ist. Wer trägt auf Kuba schon Strumpfhosen. Gewalt wird aufkeimen, sage ich, keine Frage, aber solange die Sonne so schlank am Himmel steht, ist genug Zeit, um die Trompeten zu zücken. Von Berlin perlt schließlich alles ab. In Berlin 136
sterben die Rentner und vererben Grundstücke, und dies ist wenig hilfreich Going to the room?, fragt sie. Ich werde die Presse aufrufen, sage ich mit Schwitters, der schließlich auch nicht alles verkehrt gemacht haben wird, ich werde die gesamte Presse aufrufen, alle diesbezüglichen Fragen in leitenden Artikeln erschöpfend und formvollendet zu behandeln. Lasst uns das Süppchen zum Sieden bringen. Zu bedenken gebe ich, dass uns diese Revolution eine letzte und gewaltige Kraftanstrengung kosten wird. Es wird erforderlich sein, das Allerletzte aus uns allen herauszuholen. Auch Küchenmesser können Waffen sein, sage ich. Es muss eine Situation geschaffen werden, die den Ums turz unumgänglich macht. Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass wir die Mehrheit sind. Ja, wir selber sind doch letztlich die Mehrheit. Schmuggler, Schergen und Zahnärzte oder Apothekenbesitzer eingeschlossen. Und wenn man davon ausgeht, und es kann davon ausgegangen werden, dass der Mensch die kathedrale Architektur liebt, dass der Mensch die kathedrale Architektur immer geliebt hat, gibt es doch kein Argument gegen eine Revolution der Herzen. Aber ich warne nochmals: Heutzutage kann man nicht mehr zu zivilen Preisen putschen. Ich kann nicht garantieren, dass wir mit weniger als 100 Toten auskommen. Meine mir geneigte Begleiterin kreuzt die Beine mehrfach, um ihre Waden besser zur Geltung zu bringen. Ihren nun folgenden Hinweis darauf, dass an Ort und Stelle dieses Hotels die Tische von zeitgenössischen kubanischen Künstlern gestaltet sind, muss man als verzeihliche Verlegenheitsfloskel werten. Handbemalte Fliesen allenthalben. Everywhere. Ja nun, sage ich. Nicht schlecht. Not bad. 137
Schon berichtet die Gramma über lokale Unruhen. Schließlich haben sich unter meiner Führung auf der Plaza de la Revolucion ca. 2 Millionen Menschen versammelt. Ich verschaffe mir mit der Peitsche Gehör: Freunde, Landsleute, Kinofans! Wir müssen bereit sein! Aber noch läuft nicht alles nach Plan. So genannte Kamelbusse, Sattelschlepper übrigens, die den öffentlichen Nahverkehr aufrechterhalten wollen, schlängeln sich aufdringlich durch die Menge, es werden Stände aufgebaut, an denen man sich für 12 Dollar warmes und zugleich ätherisches Öl über die Stirn laufen lassen kann. Die Polizei meldet via Megaphon: Es darf nicht geschossen werden! Linksdemokraten versuchen, eine Schneise ins Nichts zu schlagen. Nichtraucher nutzen den Publicityeffekt und raufen mit örtlichen Zigarrenhändlern. Die Revolution hat noch nicht ganz das von mir intendierte Niveau erreicht. Jetzt werden aus demokratischen Gründen auch noch Mikrofone verteilt, aber die Sonne steht stur und schlank am Himmel. Die Blumenverkäufer rufen: Floreeero... Floooores, und zwar in Moll statt in Dur, nur weil man meint, als Blumenverkäufer der Melancholie Rechnung tragen zu müssen. Regionale Probleme lassen sich eben nicht vermeiden. Ich spreche ein paar Worte auf Deutsch: keine Reaktion. Ich mache die bittere Erfahrung, dass den deutschen Konterrevolutionären vor Ort ein Mangel an Leidenschaft zu eigen ist. Sie nutzen das Getümmel, um die kubanischen Mädchen in der Menge günstig abzugreifen. Überhaupt, diese kurzen Hosen. Und dann die Schilder: VORSICHT! Es sind Privatherrschaften vorhanden, weshalb während der Revolution nicht gestohlen, geplündert oder gebrandschatzt werden darf. Ein Waffelverkäufer, entfernter Verwandter des Scherenschleifers übrigens, schlägt exemplarisch eine Triangel an. Das ist natürlich spannend und irgendwie heimelig. Es sieht allerdings trotzdem ganz so aus, als ob die Bewegung nicht auf Zuwendung hoffen darf. Ich setze wieder die Peitsche ein, Protest allenthalben. Jetzt treten auch noch die Jungfrauen 138
zusammen, Schüler, Studenten und bildende Künstler, auch Discjockeys. Aerobic-Künstlerinnen tanzen und juxen. Sie werden natürlich ebenso wenig verhaftet wie Waffelverkäuferinnen, die kaum mehr als ihren Wonderbra tragen. Oder der Bewegung irgendwie verhaftete Vorgesetzte. Filmvorführer fühlen sich wohl, Lebenskünstler sowieso, und anwesende Musiker weigern sich, ihre Instrumente zu zerschmettern, es wird alles ein wenig kompliziert. Ich bin nicht sicher, ob ich noch die Kontrolle habe. Rauschender Beifall von rechts. Beleidigtes Zischen und Spucken von links. Wissenschaftler und Philosophen halten Zettel in die Menge, ihre Bände dürfen natürlich in keiner Familienbibliothek fehlen. Wider die Abstinenz!, brülle ich. Erste Pillen werden geworfen, die Situation eskaliert zu Recht oder auch nicht. Der Abstinenzler ist intolerant, heißt es. Dies bringt mich in einen ungeheuerlichen Erklärungsnotstand, ich habe aber kaum Zeit, darüber nachzudenken, da bereits die Fotografen aufdringlich sind und zudem von Praktikanten Fragebogen, die Streiklage betreffend, verteilt werden. Und dann kommt das Beste: Es verlangen Menschen ihre Hinrichtung. Sie möchten gekreuzigt, zumindest gesteinigt werden. Es sind, und das ist eindeutig, Menschen mit dem Gehirn eines Vogels. Sie glauben an irgendetwas, haben aber kein Herz für die Konterrevolution. Im Interesse der Sache ist ihnen der Schädel zu spalten, keine Frage. Ich schlage einige wenige mit großer Genugtuung nieder, kann mich aber im Einzelfall nicht um die totale und erforderliche Exekution kümmern, da die Menge tobt. Es sind übrigens interessanterweise Arbeitsunwilligen, die rebellieren. Das nenne ich streiken! Going to the room. Please. .
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vorwiegend
die
«Der Angelegenheit nicht angemessen» heißt es in bewusst erbärmlichem Englisch gehaltenen Polizeifunksprüchen an die Führung. Ich weiß wirklich nicht, warum die Polizei auch international gesehen ein so langweiliges Pack ist, bar jeder Raffinesse. Und die Sonne ist doch nicht wirklich unschuldig, sie kostet nur kein Geld, das dürfen wir nicht vergessen. Freilich, man kann sich Mulatten protestierend auf Kühlerhauben vorstellen. Die aber können gerne Fahnen schwenken, es wird niemanden interessieren. Es sind sowieso nirgends Mulatten zu sehen, da sie die Affirmation fürchten. Dabei trieft das Kapital geradezu von den Fassaden, die gelegentlich renoviert werden, wie ich höre, mit Geldern der UNESCO. Des Volkes Meinung divergiert, auch wenn sich Kunst und Natur so gegensätzlich verhalten wie das Ernste und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Der Kellner kommt, und ich ernenne ihn zum Verteidigungsminister. Es ist mir nunmehr ernst. Ein einziges Mal werde ich strategisch vorgehen, sage ich. Schon morgen werde ich auf der Plaza de la Revolución mein Schattenkabinett vorstellen. Und du bist mein Pressefräulein, sage ich zu meiner mir geneigten Begleiterin. Ist dir klar, was das bedeutet? What? Merkwürdigerweise scheint es ihr nichts zu bedeuten. Going to the room. Please! Ich werde dir, der du den Anfang dieser Schlacht so tapfer bestanden hast, auch den Vertrieb übereignen, sage ich im Aufzug, der bedenklich rumpelt, was aber natürlich auch nur eine zu vernachlässigende Wahnvorstellung ist, weil einer der beiden Aufzüge im Inglaterra immer rumpelt, der andere jedoch
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tatsächlich defekt ist, gelegentlich bis in den Keller durchsackt, dort aber immerhin solide und lautstark aufschlägt. What's your name?, frage ich sie im Aufzug. Der uns begleitende Security-Manager zuckt mit keiner Wimper. Er steht, die Hände hinter dem Gesäß verschränkt, breitbeinig zwischen uns. Ein leises Lächeln müsste man ihm schon in die Gesichtszüge hineininterpretieren. Grätschen. Grätschen? Yes: Grätschen, a Gerrnan name. Don't you know? Grätschen, a German name? Yes! . Show me your passport. Gretchen. Gretchen! Ich greife mir in die Haare und weine bitterlich. Tausende von Kilometern entfernt von der Heimat. Ein Wink des Schicksals. Und sie ist so schön. Gretchen. Stolz übermannt mich. Das Deutsche ist überall, denke ich, das Deutsche ist omnipräsent. Kann mich das Deutsche nicht einmal verlassen?, denke ich. Nicht einmal in den Stunden der Revolution. Der Schweiß perlt, und der Security-Manager bringt uns sicher und direkt bis vor mein Zimmer. Ich stecke die Plastikkarte in das dafür vorgesehene Kästchen an der Tür, und nichts passiert. It doesn't work, sage ich. Der Security-Manager nimmt mir die Karte aus der Hand, zieht sie mehrmals durch den Schlitz, reinigt sie sogar am Revers seines Anzuges, den er in Havanna so einfach sicher nicht gereinigt kriegt. It doesn't work, sage ich erneut.
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You wait here, sagt er scharf und eindeutig. Don't move! Mein Pressefräulein instruiert er natürlich zusätzlich und nicht weniger eindringlich. Und dann stehen wir da. Gretchen und ich. Und wir warten natürlich. Gretchen Gretchen forderte 50 Dollar, die ich ihr sofort über-
reichte. Ich bin sicher, dass man auch für 30 Dollar ins Geschäft gekommen wäre, fühlte mich aber außerstande zu verhandeln. Während sie ablegte, füllte ich ein Wasserglas randvoll mit schottischem Whisky und zündete mir eine Zigarette an. Gretchen legte sich vollständig entkleidet aufs Bett und sah mich erwartungsvoll an, woraufhin ich die Hand mit der Zigarette kurz anhob, um Aufschub zu erwirken. Unter normalen Umständen wäre mir dies natürlich nicht gelungen. Nun fing Gretchen an, auf dem Bett herumzuturnen. Ich kam in den Genuss einer kleinen Vorführung, deren Choreographie perfekt einstudiert zu sein schien. Die Darbietung endete damit, dass mir ein kubanischer Hintern entgegengestreckt wurde, den zu beschreiben die menschliche Sprache, gleich welche, nicht geschaffen ist. Da ich beim Nachschenken ins Taumeln geriet, entschloss ich mich dazu, mich aufs Bett zu setzen. Ans Kopfende, ganz nah am Nachttischkästchen, auf dem Whisky, Rum, Zigaretten und Aschenbecher griffbereit zurechtgelegt waren. Gretchen zog mir die Beine aufs Bett und zerrte an meiner Hose. Sie forderte mich auf, mich durch Gewichtsverlagerung aktiv am Ausziehen zu beteiligen. Ich erledigte dies, ohne Glas und Zigarette aus der Hand zu geben, und Gretchen konnte schon bald mit der Bearbeitung beginnen. Sie arbeitete intensiv, während ich unter Schmatzgeräuschen mit Hand und Zigarette Backen streichelte, prall und rund, wie die Berge von Pinar del Rio. Nach einiger Zeit stellte Gretchen die Arbeit ein und teilte mir mit, dass es ihr so nicht möglich wäre, das Kondom überzuziehen. Ich musste ihr Recht geben und beäugte skeptisch ihre weiteren Versuche, nun nur mehr manueller Art. Aber mein Blut wollte sich nicht verlagern, woraufhin Gretchen mir den 5O-Dollar-Schein mit der 142
Bemerkung zurückgab, ich solle ihr 20 Dollar geben. Sie fügte hinzu, sie werde dann sofort gehen. Ich hatte ihren Stolz verletzt. Dann fiel ich, den 5O-Dollar-Schein in der einen, den schottischen Whisky in der anderen Hand, über den Schaukelstuhl. Ich wollte zu ihr - sie stand schon an der Tür hinübereilen, um die Sache in Ordnung zu bringen. Die Zimmer im Inglaterra sind ja auch recht eng und Schaukelstühle generell gefährliche Möbelstücke. Gretchen erkundigte sich sofort nach meinem Befinden. Ich hatte keinerlei Schmerzen, nur leichte Probleme mit dem Aufstehen und eine kleine Schnittwunde an der linken Hand. Ich deutete in Richtung Badezimmer, wo ich eine kleine Reiseapotheke aufbewahrte. Als sie mich verpflasterte, fiel mir auf, dass sie es sehr liebevoll tat. Ich steckte ihr den 5O-Dollar-Schein in den Ausschnitt, erklärte ihr, dass es außerordentlich nett von ihr wäre, wenn sie mir noch eine Weile Gesellschaft leisten würde. Sie erklärte sich bereit und ich versuchte, wieder in die Hose zu kommen. Dann lagen wir nebeneinander auf dem Bett, rauchten und sahen fern. Gretchen wunderte sich darüber, dass ich die Programme sehr schnell und sehr häufig wechselte. Natürlich fiel ihr auch die Menge Whisky auf, die ich mir genehmigte. You are a strong man, sagte sie und klopfte mir auf die Schulter. Very strong. Ich wachte auf, weil die Mädchen im Teatro Nacional gegenüber bei offenen Fenstern Steppen übten. Geld fehlte keines. Es war ja auch fast alles Wertvolle im Safe. Es fehlten zwei Badehosen - eine ließ sie mir freundlicherweise - sowie meine blaue Sommerjacke, vier T-Shirts und mein Rasierwasser der Marke Voodoo. Bevor ich mich wieder hinlegte, nahm ich mein Notizbuch. Ich notierte Folgendes: You are a strong man. Very strong. 143
Carlos Ich dachte daran, in der Paris Bar einige Drinks zu mir zu
nehmen, nahm aber doch erst mal vor dem Hotel Platz. Es dürfte so gegen 11 Uhr Ortszeit gewesen sein, kein allzu heißer Tag, vielleicht 26 Grad. Außerdem hatte ich einen aufmerksamen Kellner, was mich etwas aufmunterte. Ich bestellte Ron Collins, ein sehr solides Getränk, mit dem man gut über den Tag kommt. Es ließ sich nicht so schlecht an. Und nach dem dritten Ron Collins fühlte ich mich tatsächlich schon etwas besser. Dann aber entdeckte mich der Security-Manager, trat sofort an meinen Tisch und fragte mich nach meinem Befinden. Er fragte mich auch, ob ich gut geschlafen hätte, eine meines Erachtens völlig unnötige Frage. Er bot mir für die Dauer meines Aufenthaltes seine uneingeschränkten Dienste an, deutete in diesem Zusammenhang an, die allerbesten Verbindungen zu haben, ich möge ihn doch bei einem Wunsch, gleich welcher Art, unbedingt ins Vertrauen ziehen, ich würde es nicht bereuen. Er stand sehr lange da, und ich sagte schließlich: Thank you very much, Sir, I will contact you as soon as possible... Yes, Sir, I´ll do that... Thank you very much, Sir! Sehr freundliche Leute, da in Havanna, das muss man schon sagen. Schon kurz nachdem sich der Security-Manager endlich und elegant von mir verabschiedet hatte, hielt ein weißer Cadillac Fleetwood Convertible vor dem Hotel. Unterberger war kräftig in die Eisen gestiegen, die spitzen Heckflossen wippten schwer auf und ab. Offenbar hatte das Fahrzeug defekte Stoßdämpfer. Der Havanna-Club, den ich ganz vergessen hatte, nahm an meinem Tisch Platz und mit Entsetzen zur Kenntnis, dass sich Frl. Ursula nicht mehr in meiner Begleitung befand. Aber sie hatte sich doch so gefreut, sagte Dr. Reismeier. Hummelt schüttelte minutenlang den Kopf. Dr. Seybold, konfliktgestählt bis hinauf zum Oberlandesgericht, sammelte sich am schnellsten: Meine Herren, sagte er, ich glaube, es ist unnötig, hier in Havanna den Verlust einer Frau zu beklagen. Er wies zu den Pflanztrögen hinüber, und wir wussten alle, was er meinte. Um das schöne Geschlecht wollen wir uns heute Abend 144
kümmern, lasst uns erst mal eine Runde Golf spielen. Nun war mir nicht unbedingt nach Golfspielen zumute, ich muss es also meinem angeschlagenen Zustand zurechnen, in dieses Ungetüm von Automobil eingestiegen zu sein. Unterberger fuhr wie ein Henker. Baujahr 60, brüllte er zu uns nach hinten, ursprünglich 6,4-Liter V-8 Maschine, jetzt Toyota Diesel. Der Golfplatz mit dem merkwürdigen Namen Diplogolf Club lag nicht weit außerhalb Havannas und war schnell erreicht. Dr. Reismeier inspizierte sofort den Platz. Na ja, sagte er, wir sind hier eben nicht in Deutschland. Nachdem man sich über die Höhe des Green Fees (60 Dollar) informiert hatte, entwickelte sich eine Diskussion hinsichtlich des Preis-Leistungs-Verhältnisses, die mich überhaupt nicht interessierte. Ich hörte es mir dennoch eine gewisse Zeit an. Meine Herren, sagte ich schließlich, da es mir heute aus gesundheitlichen Gründen auf keinen Fall möglich sein wird, mein Handicap zu spielen, möchte ich Sie bitten, ohne mich über den Platz zu gehen. Ich werde mich so lange im Clubhaus ausruhen. Es kostete mich viel Kraft, diese beiden Sätze einigermaßen kontrolliert zu artikulieren. Die Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Nur Hummelt drückte mich kurz. Das Clubhaus war recht rustikal eingerichtet und verfügte über eine schöne Bar, an welcher ich sofort Platz nahm und einen Ron Collins bestellte. Ich bat den Barkeeper, etwas mehr Rum und etwas weniger Zucker zu nehmen, woraufhin mich dieser streng anblickte. Es ist nicht so, dass ich die stolzen Kubaner andauernd absichtlich verletzte, aber ich war nun mal ein Ausländer. Der Ron Collins war dann sehr in Ordnung, dafür gingen mir die Zigaretten aus, weshalb ich den Barkeeper in kürzester Zeit zweimal belästigen musste. Als er die Marlboros brachte, fragte ich ihn nach seinem Namen. Ich dachte, das wäre immerhin eine höfliche Geste. Außerdem dachte ich, dass man den Namen seines Barkeepers immer wissen müsse, um ihn damit anzusprechen. Er hieß Carlos. Dann dachte ich, dass es einfacher wäre, gleich eine ganze Flasche Rum zu bestellen. 145
Carlos müsste dann nicht so oft kommen, und schließlich brach ja der frühe Nachmittag an. Una botella de ron?, fragte er ungläubig zurück, und ich antwortete: Havanna-Club, seven years old. Er brachte die Flasche und befüllte damit mein Glas eindeutig zu gering, aber dies ließ sich ja unproblematisch korrigieren. Es ist doch schön, unabhängig zu sein, dachte ich und sah mich um. Außer Carlos und meiner Wenigkeit befanden sich nur einige wenige amerikanische Österreicher, also Kanadier, im Lokal. Sie saßen in kurzen Hosen an den Tischen und versuchten, Zigarre zu rauchen. Ich wandte mich wieder meiner Flasche zu, trank und rauchte rhythmisch und begann gerade, mich darüber zu wundern, dass immer noch kein Mädchen an meiner Seite saß, als ich den obligatorischen Zischlaut vernahm: Ssssst! Ssssst! Na also. Sie nannte sich Monica. Der Name passte zu ihr. Auf mein Nachfragen bestellte sie sich Cola und Papas Fritas. Ein Heben der Augenbrauen genügte. Dann erbat sie sich eine Marlboro, die ich ihr auch noch anzünden müsste. Des Weiteren verlangte sie Auskunft hinsichtlich meiner Herkunft und Unterkunft, sie wollte auch meinen Namen wissen, fragte mich nach meinem Beruf und erkundigte sich zu guter Letzt über die Länge meines Aufenthaltes. Ich beantwortete alles wahrheitsgemäß. Schließlich brachte Carlos die Verpflegung, und sie begann ruhig und konzentriert mit dem Verzehr. Ich versuchte, sie nicht zu stören. Sie war sehr dezent geschminkt, extrem gut angezogen, auch Schmuck hatte sie kaum nötig. Insgesamt eine sehr gepflegte, ja edle Erscheinung, die eindeutig signalisierte, dass hier in einer höheren Liga gespielt wurde. Cola und Papas Fritas passten dazu nicht wirklich, aber ich tröstete mich mit der Vermutung, dass sie wahrscheinlich Alkohol einfach nicht mochte und Papas Fritas eben ein internationales Image 146
haben. Sie aß mit Messer und Gabel und kreuzte dabei mehrfach die Beine, und ich dachte darüber nach, warum ich eine solche Vorliebe für den weiblichen Oberschenkel habe. Ich konnte es mir aber nicht wirklich erklären und schenkte nach. Die Österreicher grinsten herüber. Ich prostete ihnen zu. Carlos räumte ab. Ein stolzer und kühler Kubaner, wie er stolzer und kühler nicht sein konnte. Ich bewunderte ihn grenzenlos. Aus den Lautsprechern «Mami Me Gusto». Monica begann, sich zu der Musik zu bewegen, zart, fast unscheinbar. Sie überprüfte auch kurz den Stand der Dinge. Eine schnelle, flüchtige Berührung, perfekt ausgeführt. Sie lächelte zufrieden, und ich schenkte nach. Carlos brachte einen leeren Aschenbecher, schaute mich kurz und entschlossen an, sagte aber nichts. Monica verlangte wieder eine Zigarette. Ich hätte ihr gerne die Haare hinters Ohr gestrichen, aber sie machte dies selbständig. Sie sagte, ich hätte schöne Augen. Es war mir nicht möglich, dies zu kommentieren, beim besten Willen nicht. Sie stellte außerdem fest, dass sie auch nicht blau wären. Überhaupt, so ihre Überzeugung, würde ich gar nicht deutsch aussehen. Es lag also die Vermutung nahe, dass die kubanischen Touristenbetreuer psychologisch geschult werden. Daraufhin musste ich ein ganzes Glas Rum trinken. Die Schwellung begann langsam nachzulassen. Ich hatte noch nichts gegessen, was unterstützend hinzukam. Allerdings legte Monica nun ungeachtet anwesender Österreicher ihre Hand auf meinen rechten Oberschenkel. Ich prostete kurz zu den Österreichern hinüber, was wenig half. Carlos hantierte schembar unbeeindruckt am Spülbecken. Und schon ging es zur Sache. Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, ein wenig mit ihr zu entspannen. Dies wäre prinzipiell möglich. Ich erkundigte mich rein interessehalber nach den Preisen. 50 Dollar für Carlos. 100 für sie. Im Golfsport ist eben alles etwas exquisiter, dachte ich. Ich sagte - und ich sagte es maximal emotional -, einer Frau von ihrem Format könne man es absolut 147
nicht zumuten, einen betrunkenen Deutschen aufzunehmen, außerdem befände ich mich in einer Krise, Crisis, sagte ich. Monica regte sich natürlich sehr auf. Ich erwischte gerade noch eine Hand von ihr und zischte ihr zu, sie möge doch bitte noch einen Moment sitzen bleiben. Just a moment, sagte ich, just a moment. Let me say something. Ich fing an, langsam und so eindringlich wie möglich auf sie einzureden. Selbstverständlich begann ich damit, ihre Schönheit zu preisen. Dann hob ich mit der Linken die Flasche Rum. Ich sagte, ich hätte natürlich Verständnis dafür, dass ihre Zeit kostbar sei, dass sich möglicherweise Kundschaft im Raum befände, die zu betreuen es gelte. Ich prostete zu den Kanadiern hinüber. Not these assholes, sagte sie. In diesem Moment musste ich aufstehen und sie auf die Schläfe küssen. Ich küsste sie erst auf die Schläfe und dann aufs Ohr. Sehr zart natürlich. Die Kanadier johlten zu Recht. Ich sagte, dass ich einen Zustand anstrebe, in dem mir eine Frau wie sie einfach nicht vergönnt sei. Sie verstand es nicht, blieb aber sitzen. Ich sagte, dass es mir sehr angenehm wäre, wenn sie sich zu einem Glas Champagner einladen ließe. Just a small one, sagte ich. Es würde mich außerordentlich freuen, wenn sie meine Einladung annähme. Ich sagte, es würde mich glücklich machen. Aus den Lautsprechern «Chan Chan». Monica hatte noch kein Wort geantwortet, und ich dachte einen Moment über die Musik nach, da stand Carlos vor uns und stellte ein Glas Champagner auf den Tresen. Das erklärt vielleicht auch, warum ich die Kubaner hebe. Aber vielleicht ist auch das unwichtig. Man weiß es nicht. Aus den Lautsprechern «Pueblo Nuevo», und Monica wollte mit mir tanzen. My constitution, sagte ich, remember my constitution, aber sie beharrte darauf. Sie behauptete, sie sei 148
mir entgegengekommen, nun liege es an mir. Ich hob wieder entschuldigend die Flasche hoch, aber sie beteuerte, mich sicher führen zu wollen. Are you sure, fragte ich. Yes, sagte sie. Slowly, sagte ich und nötigte ihr einen langsamen Foxtrott auf. Sie schmiegte sich an mich. Ich musste mich stark auf die Schrittfolge konzentrieren, aber sie achtete immer darauf, dass sich sicherheitshalber mindestens eines ihrer Beine zwischen meinen Schenkeln befand. Carlos hatte alles unter Kontrolle. Als meine Hand einmal versehentlich auf ihr Gesäß rutschte, dachte ich allen Ernstes daran, dass er mir das mit 2 Dollar in Rechnung stellen würde. Sony, sagte ich so vor mich hin. Monica behauptete, ich würde sehr gut tanzen, und ich sagte, das liege nur an ihr. Sie schien auch die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben zu haben, denn sie drückte meine linke Hand auf einen Teil dessen, was Dr. Reismaier einmal als segensreichsten Einfluss der Afrikaner auf die Kubaner bezeichnete. Die Kanadier jubelten. Irgendwie schaffte ich es zurück an den Tresen. Monica hatte nochmal kurz neben mir Platz genommen und mir einen Rabatt von 10 % eingeräumt, den ich dankend ablehnte. Ich danke heute noch dem Herrn, dass just in time zwei Männer in karierten Hosen das Lokal betraten, um die sich Monica zu kümmern hatte. Das ersparte mir sicher eine Menge Ärger. Der Gesichtsfarbe nach schien es sich um Holländer oder Schweden zu handeln, jedenfalls waren sie sichtlich erfreut über den angenehmen Besuch. Soviel ich sehen konnte, trat man zügig in Verhandlungen ein, die kaum länger als ein paar Minuten dauerten. Schon stand Carlos am Tisch, um zu kassieren. Die Art und Weise, wie er sich mit einigen wenigen Rückwärtsschritten wieder vom Tisch entfernte, erinnerte mich irgendwie an Wiener Kaffeehauskellner. Bleibt zu erwähnen, dass Monica beide Herren entführte und mir beim Hinausgehen einen triumphierenden Blick zuwarf.
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Dabei gönnte ich ihr das Geschäft von Herzen. Es trat nun eine trügerische Ruhe ein. Exakt zwei Gläser Rum waren es, die ich für mich allein hatte, ich erinnere mich genau, ich hatte gerade das dritte Glas eingeschenkt und mir eine Zigarette angezündet, als Carlos plötzlich vor mir stand und mich bat, ihm zu folgen. Ich habe nichts getan, sagte ich, ich bin unschuldig, aber er fixierte mich so eindringlich, dass ich schließlich aufstand und ihm nachging. Er führte mich in einen Raum, voll gestopft mit Golfutensilien, und ich dachte noch, mein Gott, soll einer sagen, diese Kubaner wären nicht geschäftstüchtig. Während Carlos in einem Haufen Schläger nach einem Eisen 2 kramte, dachte ich fieberhaft darüber nach, wie ich ihm mein Desinteresse hinsichtlich neuer Ausrüstung möglichst schonend beibringen konnte. Aber es sollte anders kommen. Er stand vor mir, den Schläger in der Hand. So wie er vor mir stand, dachte ich mir, aha, gut, den wird er dir jetzt über die Rübe ziehen. Ich dachte, es wäre vielleicht nicht ungünstig, dies zu vermeiden, also sagte ich freimütig, ich hätte so um die 150 Dollar dabei, die auszuhändigen ich auch ohne Gewaltausübung seinerseits bereit wäre. Carlos trat noch einen halben Schritt näher, und ich erhöhte um meine Kreditkarte. Dann fing er an zu sprechen: My friend, sagte er und spielte dabei mit dem Golfschläger, I think I know your problem. Das konnte ich nicht wirklich glauben, was aber in diesem Augenblick nicht relevant war, denn die Situation schien zu eskalieren. Ich bat ihn darum, sich zu beruhigen, und wies darauf hin, dass Monica und auch er mit den beiden Schweden doch ein sehr viel lukrativeres Geschäft als mit mir allein gemacht hätten, dass ich die Kubaner lieben und niemals absichtlich ihren Stolz verletzen würde. Es schien ihn nicht zu beeindrucken. Ich hatte den Schläger schon zwischen meinen Beinen. Direkt am Skrotum. Schließlich zog er mich mit dem Eisen 2 ganz nah zu sich heran, ließ den Schläger fallen und fasste mir in den Schritt. Ich sah hinunter und konnte es gar 150
nicht glauben. Er drückte zwei-, vielleicht dreimal zu und legte seine linke Hand auf meine Schulter. Ich hielt in der rechten die brennende Zigarette und in der linken das Glas Rum, das ich fast vollständig verschüttete, als er versuchte mich zu küssen. Sehr ärgerlich, in welche Situationen ich im Ausland immer wieder gerate. Carlos verabschiedete mich mit den Worten «Fuck off», nicht ohne vorher auf mein 15o-Dollar-Angebot zurückzukommen, natürlich. Selbstverständlich verhandelten wir auch wegen der Kreditkarte, ich hatte mich allerdings bereits gefangen und sagte: This is more than enough.
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Bei den zerfallenen Lagerhallen Am nächsten Morgen hatte ich nicht
die Kraft zu duschen. Ich wusch mich am Waschbecken, rasierte mich gegen meinen Willen. Dann legte ich Kleidung an und begab mich nach unten in den Frühstücksraum. Es war einer der Tage, an denen es Hühnchenschenkel gab. Und Ananas. Aber Ananas gab es eigentlich jeden Tag. Hühnchenschenkel und Ananas, dachte ich, perfekter kann man nicht frühstücken, und plante den Tag. Ich wollte in die Paris Bar. Ich dachte mir, nimm einen Ron Collins und lass dich von der Musik überwältigen. Und so ging ich schließlich die Galle Obispo hinunter. Man zischte mich an wie immer. Unvorstellbar übrigens der Zustand kubanischer Hunde, die wissend in den Straßen liegen. Sie lagen da, als ob sie tot wären, Schmeißfliegen um sie herum. Ansonsten alles recht angenehm. Die Temperatur war geradezu optimal, und es roch nach Regen. Die unvermeidbaren Kumuluswolken. Ich weiß nicht, warum die Romantik der Natur immer mit der Realität konkurrieren muss. Ich spazierte vor mich hin, kam aber dann doch nicht an der Oro Bar vorbei. Magisch zog es mich hinein. Allerdings musste ich mich an einen Tisch mit Rucksacktouristen setzen. Es war der einzige freie Platz. Ein junges Pärchen, verliebt zumal. Ach Gott, dachte ich, denn sie waren reizend. Ich bestellte ein alkoholisches Getränk, und das Rucksackmädchen sah mich gleich verzweifelt an. Ich sagte sorry. Sie sah irgendwie englisch aus, Sommersprossen und sehr spitze Brüste. Er dagegen schien überhaupt keinen Defekt zu haben, ein Typ, den man im Kino nicht gern vor sich hat, Finger wie Spargel. Und dann fing ich auch noch an zu rauchen. Dazu muss man wissen: Alle Rucksacktouristen verachten Raucher. Ich dachte, dass ich nach zwei, drei Drinks vielleicht die Kraft haben würde, es bis zur Paris Bar zu schaffen, wo die Musik so gut ist, dass man sich umbringen möchte. Und gerade als ich mich mit dem Gedanken anfreundete, sprach mich Sandy an. 152
Hi, I'm Sandy. How are you? Sie streckte mir ihre Hand hin. Er hieß übrigens James. Ich sagte, ich wäre Rumäne deutscher Abstammung und hätte Zahnschmerzen. Das fanden sie interessant und wohl auch beruhigend. Zwischen den gedrechselten Holzstäben, die die Bar von der Straße trennten, streckte eine alte Frau ihren Arm nach mir und sagte sinngemäß: Bitte schön. Ich gab ihr einen Dollar, ein Reflex, den ich mir nicht hätte erlauben sollen, da man nun versuchte, mit mir über das Bruttosozialprodukt zu sprechen. Diese jungen Leute sind ja sehr neugierig. Ich finde es richtig, dass sie reisen und sich die Welt anschauen, dass sie verliebt sind und in Zelten schlafen. Es kostete mich Energie, das mit dem Bruttosozialprodukt wieder abzuwenden, allerdings kam nun eine 2-Dollar-Pizza für das Liebespaar, und ich blies fortan den Rauch meiner Marlboro möglichst nach oben. Es wurden dann Pizzastücke sich gegenseitig in den Mund geschoben, mehrfach wurde der Terminus «Darling» verwendet, aktiv, aber auch passiv. Ich ignorierte dies, trachtete danach, das Paar möglichst nicht zu stören. Ich saugte an meiner Zigarette, warf den Kopf in den Nacken und blies den Rauch nach oben. Ich versuchte, irgendwie nicht anwesend zu sein. Ob ich mich auskennen würde, hieß es plötzlich. Ob ich was empfehlen könne. Sandy war es, die die Frage stellte. Im Grunde genommen ein Akt kommunikativer Gewalt. Mir fiel auf, dass sie ziemlich glücklich zu sein schien. Sie hatte die rechte Hand auf James' Unterarm gelegt und kraulte in der Behaarung. Sie war wirklich ein ziemlich hübsches Mädchen. Es waren eben junge und verliebte Leute. Sie empfanden echt und wahrhaftig. James machte einen sehr ausgeglichenen und souveränen Eindruck. Er kitzelte sie sanft hinter dem rechten Ohr. Die Pizza schmeckte ihm nach eigener Aussage enorm. Das Revolutionsmuseum, sagte ich. Das Revolutionsmuseum? Das Revolutionsmuseum kenne man bereits, hieß es. Okay, sagte ich, am schönsten ist es ohnehin unten am Hafen, bei 153
den zerfallenen Lagerhallen. Aha, hieß es, bei den zerfallenen Lagerhallen also. Diese jungen Leute merken sofort, wenn man keine Antwort parat hat. Und dann wollte ich aus dieser Bar raus. Wahrscheinlich, dachte ich mir, James fest im Auge, turtelt man unterm Strich immer nur für sich selber. Und dann wusste ich natürlich, dass bei Verliebten der Nervenbotenstoff Serotonin auf ein krankhaft niedriges Niveau sinkt, also direkt in eine paranoide Verfassung führt. Ein biochemischer Trick der Natur, kann man alles in der Fachliteratur nachlesen. Ich jedenfalls entschuldigte mich bei den Verliebten, die Zahnschmerzen würden wieder zunehmen, ich müsse mich umgehend schonend hinlegen, zahlte, wobei ich dem Kellner ein geradezu monströses Trinkgeld mit auf den Weg gab, ging an Zischlauten vorbei durch das Lokal, trat schließlich auf die Straße hinaus und sah den Havanna-Club herannahen. Sie beanspruchten die ganze Straßenbreite und schienen bester Laune zu sein. Selbstverständlich zog ich mich sofort und maximal unauffällig ins Lokal zurück. Ich setzte mich an die Bar und hoffte im Schutz eines Gummibaumes, dass dieser Kelch an mir vorübergehe. Nicht, dass ich den Havanna-Club nicht gemocht hätte, nein, mir war nur die innere Sicherheit suspekt. Die Zuversicht. Die mögliche Erkenntnis. Und schon setzte sich jemand neben mich. Michelle. Michelle, sagte ich, was möchtest du trinken?
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Der Weg zurück zum Hotel Der weg zurück zum Hotel war der Weg
zurück zum Hotel. Ich versuchte, straff zu gehen. Ich dachte, was hast du im Leben geleistet? Es fielen mir ein paar Kleinigkeiten ein. Nicht der Rede wert. Dabei wäre es doch das Mindeste, diese Welt zu verändern. Erstens, dachte ich, müsste man begreifen, dass das möglich ist, und zweitens müsste man sofort alle Männer mit kurzen Hosen, Tennissocken und Sandalen verhaften. Dieser ästhetischen Indolenz gilt es auf alle Fälle Herr zu werden. Obwohl es nur 26 Grad Celsius hatte, müsste ich mich kurz an einer Hausmauer abstützen. Ein Hund beschnüffelte mich. Man müsste vielleicht damit anfangen, vor jedes Haus einen toten Hund zu legen, dachte ich. Fühlte ich mich dadurch entlastet? Ich glaube nicht. Ich trudelte also im Inglaterra ein und nahm «on the porch» vor dem Hotel Platz. Der Security-Manager blinzelte mir vertraulich zu, ich blinzelte vertraulich zurück und bestellte beim Kellner durch Anheben meiner Augenbrauen einen Ron Collins, dachte unmittelbar danach darüber nach, warum ich immerzu Ron Collins bestellte, allerdings ohne jedes Ergebnis. Ich trank drei an der Zahl, dann fühlte ich mich lässig genug fürs Zimmer. Der Kellner half mir vom Stuhl hoch und begleitete mich zum Fahrstuhl. Jener rumpelte fürchterlich, transportierte uns allerdings zuverlässig in die zweite Etage. It doesn't work, sagte ich, als wir aus dem Lift heraustraten. It doesn't work? Nun, es gibt eben viele begriffsstutzige Menschen. In solchen Momenten denkt man natürlich, dass solche Menschen eben Kellner und Fahrstuhlbegleiter zu sein haben. Ja, man fühlt ein geradezu großartiges und berechtigtes Gefühl der Überlegenheit. Wir traten aus dem Fahrstuhl, und ich gab ihm die Karte. It doesn't work, sagte ich, und er sagte irgendetwas 155
auf Spanisch, das ich nicht verstand. Wenn sie unsicher sind, reden sie spanisch, dachte ich, und er zog die Karte durch den Schlitz, und es ging nicht. Havanna, und man steht vor seinem Zimmer mit einem Menschen, der beruflich nicht kreativ ist. It doesn't work, sagte er. Are you sure, sagte ich. Er versuchte es noch einmal, was mir dann besonders peinlich war. Im Zimmer aber stand eine volle Flasche Whisky, und ich dachte, ich hätte das Zimmer schließlich bezahlt und ein Recht auf Eintritt. This is my room, sagte ich nach reiflicher Überlegung und hob dabei die Augenbrauen. Eigentlich war er gar nicht so unsympathisch. Er versuchte eben, seinen Job zu machen. Unter Umständen hatte er Familie zu Hause, Kinder, eine zwölfjährige Tochter vielleicht? Ein Wahnsinn. Ich harrte der Dinge, ich dachte, es geht jetzt nur darum, ins Zimmer zu kommen. Ich wollte also nichts Böses, aber ich wollte etwas, also musste ich ihn unter Druck setzen. Please, sagte ich und versuchte, die Augenbrauen noch etwas mehr zu heben. Er machte schließlich Anstalten, sich auf den Weg nach unten zu machen. Er wollte sagen: I'll be back as soon as possible, sagte aber nichts Derartiges, und ich dachte mir, gut, wenn er es nicht sagt, heißt es noch immer nicht, dass er es nicht so meint.
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Er kam jedenfalls wieder und fummelte. Die Tür ging auf, und er hatte sofort dieses Trinkgeldlächeln im Gesicht. Das war auch so ein Moment. Aber man kann ja eine Tür auch einfach hinter sich zuwerfen. Ich trat ins Zimmer, und da lag Frl. Ursula. Sie lag in einem blauen Bikini auf dem Bett und blätterte in einer Modezeitschrift. Wir haben dann miteinander geschlafen. Es war unheimlich schön.
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Editorische Notiz Das Manuskript von «Frl. Ursula» wurde von
Heiner Link selbst abgeschlossen. Helmut Krausser und Georg M. Oswald haben es in Abstimmung mit der Witwe, Claudia Link, und dem Verlag für die Veröffentlichung behutsam lektoriert.
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Der letzte Link
Nachwort 1. Eine Woche vor seinem Tod war Heiner Link noch
einmal bei uns am Chiemsee. Er kam mit dem Auto, das Motorrad war ihm tags zuvor auf einer Spritztour in Brand geraten. Er erzählte, wie ihm an einer Ampel stehend aus dem Motor urplötzlich eine Stichflamme entgegengeschlagen sei, die sein Begleiter und er dann ausgeblasen hätten. Danach seien sie einfach weitergefahren. Wir mussten furchtbar lachen. Die Szene war so typisch für ihn. Natürlich hatte er eine Harley Davidson haben müssen, und natürlich hatte er nur Scherereien damit. Wäre sie ihm nur abgefackelt. Wir gingen aufs Traunsteiner Volksfest, sahen uns wieder einmal einen Boxkampf an. Sonntag früh herrscht in den Bierzelten der bayerischen Provinz eine Atmosphäre, die wir liebten. Der Bürgermeister trat in den Ring und hielt eine Ansprache, der Ringarzt feierte sein dreißigjähriges RingarztJubiläum, das Zelt war voll, der Traunsteiner Boxclub unterlegen. Die Schönheit der Bedienungen auf den Bildern französischer Impressionisten aus dem vorletzten Jahrhundert findet man nur noch hier. Heiner Link konnte gut mit den Frauen, und meistens konnten sie gut mit ihm. Mittags über einen Volksfestplatz gehen, wenn die ersten Buden gerade geöffnet werden und alle Maschinen noch stillstehen, gehöre zum Besten, was er kenne, sagte er. Heiner Link hatte ein maßlos sinnliches Verhältnis zur Welt. Natürlich war ihm Schreiben das Existenziellste, und natürlich litt er darunter, dass im Literaturbetrieb, von wenigen 159
Ausnahmen abgesehen, kaum jemand begriff, was in seinen Texten passierte. Kurz nach seinem Romandebüt Hungerleider im Jahr 1997 hatte er eine Anthologie Trash'-Piloten. Texte für die yoer herausgegeben. Das Etikett des Trash-Autors blieb an ihm kleben. Von nun an galt Heiner Link als einer, der die Oberflächen des Lebens zwar lustig, aber eben nur oberflächlich beschrieb. «Es geht mir nicht ums Komische, sondern ums Tragikomische», sagte Heiner an diesem letzten gemeinsamen Tag enttäuscht, aber keineswegs verbittert zu mir. Eine große Zahl von Schriftstellern und Schriftstellerinnen unterschiedlichster Stile schätzte die Arbeiten Heiner Links. Bei keinem anderen Gegenwartsautor klafften die Bewertung der Kritik und die Achtung der Autoren so weit auseinander. Während die Öffentlichkeit fast nur noch kalkulierte Skandale auf primitivstem Niveau produzierte, den wahren Trash und Giftmüll, beschäftigte sich Heiner lieber mit dem Leben der Vorstädte, dem Geist auf Golfplätzen, in Supermärkten, Restaurantketten, Kinopalästen und Stadtteilbüchereien. Ich glaube, unter anderem dafür wurde er von vielen Kollegen geliebt. 2. Ein halbes Jahr nach seinem viel zu frühen Tod fällt es mir noch sehr schwer, das schmale literarische Werk meines Freundes bereits aus einer gewissen sachlichen Distanz zu beurteilen. Doch immer wenn ich es versuche, denke ich an Gilles Deleuze' Plädoyer «für eine kleine Literatur». Ja, Heiner Link stand in der großen Tradition einer kleinen Literatur Jener Geist, der auf den ersten Blick weit auseinander liegende Autoren wie Robert Walser, Kurt Schwitters, Joachim Ringelnatz und einige Poeten aus dem Dunstkreis der Wiener Gruppe miteinander verbindet, ist bei ihm noch einmal aufgeblitzt. Zwei aufs Engste verwobene Wesensmerkmale kennzeichnen diesen Geist: Humor und eine tiefe, nie verleugnete Verbundenheit mit der eigenen Herkunft, den angeblich nicht literaturfähigen Existenzformen des deutschen Mittelmaßes. Sein Thema war die Exotik der schnuckeligen 160
Einfamilienhäuser nebenan. Doch er beschrieb diese Leben nicht von oben herab. Hingebungsvoll bewegte er sich mitten durch sie hindurch, eigentümlich verstrickt und ausgeschlossen zugleich. «Ich wohne in einer Doppelhaushälfte mit meiner Frau und meinen beiden Kindern, an der Garagenmauer hab ich Tomaten angepflanzt, und jede Woche wird der Rasen gemäht», heißt es im Hungerleider. «Unkraut zupfen tu ich nicht, das ist mir zu destruktiv. Ich habe ein gutes Händchen für Bäume, ein jeder wird etwas. Meine Kirsche, Scheißvögel, und meiner Frau fällt nichts anderes ein, als dass wir halt ein Netz drübertun müssten. Ja was sind denn das für Lösungen?» Im Vorwort seiner 2001 erschienenen Anthologie Eine Laus im Uhrgehäuse. Komische Gedichte von Morgenstern bis Gernhardt führt Heiner Link aus, was er unter Humor und Komik verstanden wissen will. Rigoros grenzt er sich von allem ab, was heute geradezu als Comedy-Ideologie vornehmlich die privaten Fernsehsender regiert. Die angestammte Aufgabe des Narren, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, das Geschäft des Entlarvens von Sprachhülsen sei im Laufe der letzten Jahre selbst zu einer Hülse geworden, gipfelnd im blasierten Zynismus eines Stefan Raab. Der Anmaßung, um den Preis der Zerstörung x-beliebiger Existenzen ein Massenpublikum zum Wiehern zu bringen, stellt er seinen Begriff von Humor gegenüber: «Der komische Dichter steht nicht wie ein Fels in der Brandung, und vor allem amüsiert er sich nicht auf Kosten anderer. (...) Wir behaupten ganz einfach, dass die komische Lyrik dem medialen Regentanz hoffnungslos überlegen ist.» Hoffnungslose Überlegenheit - damit ist das kulturelle Dilemma der Gegenwart auf den Punkt gebracht. Heiner Link ist sich stets bewusst gewesen, dass das kommerzielle Scheitern seines ästhetischen Konzepts in Zeiten von TV Total vorprogrammiert war - trotz oder gerade wegen der Grandiosität seines Witzes. Die Würde des Künstlers hat sich schon immer auf dem schmalen Grat zwischen Öffentlichkeit und Prostitution behaupten müssen. Unter den Bedingungen einer totalen, beinahe totalitären Markt- und Mediengesellschaft, dieser Herrschaftsform des seichten Narzissmus, kann dies 161
unter anderem bedeuten, Erfolglosigkeit auf dem Schlachtfeld der Aufmerksamkeitsindustrie in Kauf zu nehmen. Keinesfalls hinzunehmen ist jedoch der von Reihenhaussiedlungen, Rentenversicherungsfragen, Arbeitsplatzängsten, Freizeitproblemen und Investmentfonds begrenzte Horizont der Neuen Mitte, der mit jener im Kern uralten, nur in ihrer drastischen Zuspitzung neuartigen «sehr modernen und ausgefeilten Diktatur» (Hungerleider) korrespondiert. Heiner Link hat diesen Horizont am Beispiel des Großraums München literarisch zu bannen versucht. Darin war er, der ihm weder entfliehen wollte noch konnte (wohin denn?, hätte er vermutlich lachend gefragt), umso erfolgreicher: «Es war wohl der 34. Juli, und diese Stadt war eine Stadt, so wie es sich gehört, ein bisschen nach Vergangenheit stinken, ein bisschen Verwirrung stiften und eine schale Hoffnung verspritzen. Niemand war geeignet, Leck-mich-am-Arsch zu sagen, niemand konnte wirklich diese Stadt aushaken, alle hielten sich am Leben durch hektische Aktivität, für die diese Gemäueransammlung gemacht zu sein schien, nicht einmal Straßenmüll war zu entdecken.» Zugleich hörte der Hungerleider Link nicht auf, nach Schlupflöchern, winzigen Spalten, möglichen Durchbrüchen aus diesem sauberen Albtraum Ausschau zu halten. «Die einzig denkbare Verteidigung ist die totale Entspannung, ein Zustand, den ich wohl nie erreichen werde», lautet die erstaunliche Quintessenz seiner Suche. 3. Ich habe Heiners freche Lässigkeit bewundert, mit der ihm so viele genial treffende Formulierungen und Pointen gelangen. In seinen kleinen Büchern finden sich Perlen, für die ich einen Großteil der groß gefeierten Romane der letzten Jahre gerne vergesse. In der 1999 erschienenen Prosasammlung Affen zeichnen nicht etwa parodierte er die literarischen Klischees im neuen zielgruppenorientierten Buchgeschäft der neunziger Jahre. Er kopierte den Duktus des zeitgenössischen Fräuleinwunders («Im Hotelzimmer warf ich meine Strumpfhose über eine Stehlampe») ebenso wie die Künstlichkeit eines epigonal 162
modernistischen Stils («HALT! sage ich. Retardierendes Moment. Zu früh. Ich weiß. Wir haben die Herrschaft der Monitore.»). Dem Sound der Angelique-Romane in «Männer lösen aber auch Probleme» stellte er einen Günter-GrassSound in «Protestanten» gegenüber. Doch reine Satire wäre ihm zu eitel, oberlehrerhaft, comedymäßig gewesen - weshalb er die Sammlung auch als Humoresken herausgab. Nie verlor er aus den Augen, wie rettungslos auch er als Schriftsteller und Mensch Klischees ausgeliefert war. Radikale Selbstironie verleiht seinen Texten ihre außergewöhnliche Aura. Heiner Link hat das konsumversaute Spaßspießertum und die Hybris unserer hysterischen Pseudokultur zwar durchschaut. Die Menschen hat er trotzdem nie verachtet. Das 2001 mit Arno Geiger verfasste und vom ORF produzierte Hörspiel Alles auf Band oder Die Elfenkinder geht unter anderem der Frage nach den Grenzen einer Verwertungslogik nach, die zunehmend skrupelloser wird: «Man lernt einen ungewöhnlichen Menschen kennen und der erste Gedanke ist, etwas daraus zumachen. (...) Eine ruinöse Praktik, übrigens auch sich selbst gegenüber.» Damit wollte Heiner nichts zu tun haben. Wer ihn gekannt hat, weiß, wie ernst es ihm damit war. Er war ein Kollege von unbedingter Loyalität, gleichwohl ohne je ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er brach Verbindungen nicht ab, ging mit den «alten Spezln» seiner Vorstadtjugend immer noch zum Speedway oder in die Sauna, legte sich eine Golfausrüstung zu. Er versuchte wirklich das unausweichliche Leben der Doppelhaushälften zu leben. Auch wenn er darin auf die ihm seit der Kindheit vertraute Weise einsam blieb. «An Güte war niemand interessiert, an Erkenntnis schon gleich gar nicht», schrieb er schon im Hungerleider, wissend, dass Typen seines Schlags dabei waren, endgültig «aus der Mode, out of fashion» zu kommen. Heiner Link war ein später Vertreter einer bayerischen Tradition des Anarchischen, die im Volksstück und bei Karl Valentin beginnt. Dem frühen Herbert Achternbusch zollte er Respekt, Gerhard Polt verehrte er. Als wir uns zu unserem letzten Volksfestbesuch verabredeten, las ich ihm am Telefon eine 163
Passage aus Bert Brechts Herr Puntila, und sein Knecht Matti vor. Brecht, der bei Valentin gelernt hat, lässt Puntila über seine Anfälle von Zurechnungsfähigkeit sinnieren, die ihn aller Menschlichkeit berauben: «Ich wach auf und bin plötzlich sternhagelnüchtern.... Ich sehe nur die Hälfte von der ganzen Welt.... Ein zurechnungsfähiger Mensch ist ein Mensch, dem man alles zutrauen kann. Er ist zum Beispiel nicht mehr imstande, das Wohl seines Kindes im Auge zu behalten, er hat keinen Sinn für Freundschaft mehr, er ist bereit, über seine eigene Leiche zu gehen.» Heiner, der das Stück nicht kannte, wollte es gleich lesen. «Der denkt ja wie ich», sagte er. Das Jahr, in dem Heiners Album im Internet entstand, flankiert von Dialogen mit Georg M. Oswald und mir, zu denen gelegentlich auch Helmut Krausser stieß (2002 unter dem Titel Mein Jahrtausend erschienen), war die Zeit unserer intensivsten Zusammenarbeit. Seiner bevorzugten Tradition gemäß plagiierte er dort hemmungslos, was ihm eine grobe, völlig humorlose Schelte des Satire-Magazins Titanic eintrug. Er duzte Goethe wie Freddy Quinn wie Sloterdijk («mir slottern schon die Knie») wie Ossi, den Besitzer der gleichnamigen Imbissbude in der Blumenau mit dem «besten Schaschlik von ganz München». Aus mir wollte er die verschüttete komische Ader wieder «herauskitzeln», die er aus meinen frühen satirischen Texten kannte. In der «politischen und gesellschaftskritischen Tendenz» meiner Arbeit sah er andererseits auch eine Art Ergänzung, so wie ich in seinem absurden bayerischen Humor eine Ergänzung sah - die Kehrseite eines Vorsatzes, der aus gemeinsamen Wurzeln stammt. Kurz nach seinem Wochenendbesuch schickte er mir das Manuskript seines zweiten Romans Frl. Ursula: «lieber norbert, hier also ein fetzen fleisch von mir. alter busenkamerad!» Ich habe ihn erst nach Heiners tödlichem Motorradunfall lesen, ihm nichts mehr dazu sagen können. Nachdem wir ihn beerdigt hatten, wagte ich lange Zeit kaum, das Manuskript in die Hand zu nehmen, das auf meinem Schreibtisch lag. Überflog ich doch ein paar Zeilen, schrak ich zurück, so lebendig war sofort seine 164
Stimme in meinem Kopf, so unerträglich im Widerspruch zu der Tatsache, dass ich ihm nie mehr begegnen würde. 4. Frl. Ursula ist das geschlossenste und wahrscheinlich das beste von den nun insgesamt sieben Büchern Heiner Links - für seine kurze öffentliche Präsenz von nur sechs Jahren eine recht stattliche Anzahl. Sicher ist dieser Roman der letzte Link. Ein Blick zurück auf die Wegstrecke, die er als Schriftsteller gegangen ist, liegt nahe. Und wirklich hat sich mir die ganze poetologische Distanz zwischen erstem und letztem Buch erst erschlossen, nachdem ich alles wieder gelesen hatte. Im Hungerleider schafft es der Erzähler («ich glimme noch, ich schon») immer wieder mit letzter Kraft, vom «Idiotenkarussell» der Neue-Mitte-Welt zu springen. «Eine letzte Wildheit möcht ich doch hinüberretten in mein lausiges Dasein» - auch wenn sie in sich zusammenfällt «wie ein Zelt». Immerhin scheint ihm das 1997 noch möglich zu sein, immerhin scheint es noch einen Ort außerhalb des Karussells zu geben, und unerwartet stellt sich heraus, bei diesem Ort handelt es sich vor allem um die Natur. Heiner Link beschreibt sie mit einem poetischen Talent, das in der zeitgenössischen Literatur wohl seinesgleichen sucht: «Draußen liegt ja dumpf und versprechend eine Landschaft, die bei jedem Blick meine Erwartung erheischt. Heute ist sie sauber, geschniegelt, morgen zerrüttet und von Schattenfurchen durchzogen. Frontal die Strommasten, Vögel fallen durchs Bild. Immerfeuchtes Laub, hingebröselt und vom Wind unterhoben. Kahl drückt sich der Himmel vom Horizont ab. Der Geruch von Sonntag. (...) Wunde Bäume, Ranft, Rinde, das Überstrecken der Blätter, kleine, graue Steinbrocken, in Wiesen gebettet, sanfte Linien davon wegspringend. Ich möchte einen Menschen in diesem Bild sehen. Ein Mädchen, das sich setzt. Auf eine hölzerne Bank, die sich friedlich und auffordernd in die Breite dehnt. Ich würde mich dazusetzen. Oder jemanden, dessen Schulter ich freundschaftlich zu mir herdrücken könnte, kurz und kräftig.» Von ähnlich zarten Tönen kann in Frl. Ursula keine Rede mehr sein. Wir schreiben das Jahr 2001. Durch und durch künstlich 165
ist die Welt mittlerweile geworden, durch die der Erzähler und seine Helden sich bewegen. Natur taucht höchstens in Form von Golfplätzen und Vorgärten auf. Allenfalls in Erinnerungen existieren Stoppelfelder und Badeweiher, die jedoch nur noch Erwähnung finden als Schauplätze, auf denen sich auch damals das Idiotenkarussell schon zu drehen begann. Kein Ort, der nicht Teil der munteren Drehscheibe wäre, nirgends. Nicht einmal im Kopf. Und das Fehlen eines weiteren Auswegs oder Fluchtpunkts fällt auf. In Hungerleider scheint es eine vage Hoffnung auf Gleichgesinnte zu geben, mit denen man sich zusammentun und etwas bewegen könnte: «Ein Hungerleider ist und bleibt eine arme Sau. Zu einem Hungerleider hilft niemand. (...) Aber ich bin noch nicht fertig: Noch einmal blitzen die Augen auf, und meine Haare glühen: Ich bin doch ein REBELL! Zu einem Rebellen müssen doch wenigstens andere Rebellen helfen. Dass wir uns zusammenrotten zu einem Rebellenhaufen.» - Etwas in der Art schwebte uns beiden wohl vor, als wir 1999 gemeinsam das Forum der 13 aus der Taufe hoben. Es war als eine Plattform gedacht, auf der sich jüngere Autoren unbeeinflusst von den taktischen Manövern und Machtquerelen des Literaturbetriebs austauschen sollten. Nachdem das Experiment aus unserer Sicht gescheitert war und wir nacheinander das Forum verlassen hatten, war uns endgültig klar geworden, dass für jedes Rebellentum längst ein eigenes Pferdchen auf dem Karussellboden installiert ist, Rebellenhaufen wohl definitiv keine Option für die Zukunft mehr darstellen. In Frl. Ursula jedenfalls erschöpft sich die Revolte des Helden in dem lächerlichen Akt, Sprüche auf die Fliesen einer Golfclubtoilette zu schreiben. Dass es sich dabei um Zitate aus Peter Handkes Tagebuch Am Felsfenster. Morgens handelt, treibt die Ironie natürlich auf die Spitze. Frl. Ursula ist ein schwarzes Idyll, der Horizont der pervertierten Scheinwelt unserer Neue-Mitte-Gesellschaft ist in diesem Roman total, Ausgänge, Ritzen gibt es keine mehr. Ich habe mich bei der Lektüre auf seltsam verschobene Art an einen berühmten alten Roman erinnert gefühlt: an Joseph von Eichendorffs Aus dem 166
Leben eines Taugenichts. Auch hier ist die Realität zu einer heiteren Fassade erstarrt, und die Menschen bewegen sich wie Aufziehpuppen darin. Ihre Gefühle, ihre Sehnsüchte, ihre Sexualität, ihr Glück - alles gehorcht einem faden blutleeren Schema, und man erschrickt als Leser vor diesen fröhlichen Gespenstern. Bei Heiner Links Happyend, als der Held von Fräulein Ursula (es bleibt in der Schwebe, ob in der Phantasie oder in Wirklichkeit) endlich erhört wird, befiel mich das gleiche schale Grausen. Der Schlusssatz Eichendorffs: «- und es war alles, alles gut!» und der von Link: «Es war unheimlich schön.» sind sich nicht zufällig unheimlich ähnlich. «Das Spiel wird zunehmend schwerer», heißt es im Hungerleider, «die Gegner raffinierter, und ich machte meinen Weg über die Wurstsemmel, die profan meinen Hunger stillte und die mir kaum mehr als sechs Bissen wert war. Chiffre, mit Chiffre geht es.» In Frl. Ursula haben die Gegenwelten ausgespielt, in denen Natur, Subversion, Freundschaft, Revolte noch einmal als gleichsam frühromantische Energiequellen beschworen werden - mögen sie auch als Wurstsemmeln getarnt daherkomme n. Eine Wirklichkeit der vollständigen Ohnmacht ist hier literarisch gestaltet. Dem Leerlauf des nebenher rennenden und mitzerrenden Lebens ist nun nicht mehr beizukommen. Und nur die Komik, die einen trotz allem durch die Lektüre begleitet, Heiner Links Selbstironie bleibt einem als Waffe und Heimat, um den unaufhaltsamen Verlust letzter Handlungsmöglichkeiten, das flache Atmen unter dem Glassturz durchzustehen und sich der endgültigen Apathie zu widersetzen. 5. Ich habe keine Ahnung, welche Resonanz diese letzte, posthume Veröffentlichung Heiner Links haben wird. Meine Hoffnung ist, dass seiner Arbeit wenigstens im Nachhinein ein Teil jener kritischen Sorgfalt und Anerkennung widerfährt, die ihr zu Lebzeiten des Autors versagt geblieben ist. Gut möglich, dass mir der Versuch, ein paar Kriterien für das Programm dieses Dichters einer kleinen Literatur aufzustellen, etwas zu ernsthaft, zu unlässig geraten ist. Doch hatte ich ständig 167
Heiners Satz im Ohr: «Ich habe nur ein wenig Angst, dass ich zu lustig wirke.» Dem musste für dieses Mal entgegengewirkt werden. Das tragikomische Handwerk erledigt der Autor im Roman ohnehin selbst. Was danach kommt, wird freilich das völlige Verschwinden Heiner Links von der öffentlichen Bildfläche sein - so wie ja auch die Wirklichkeit, die ihn als Typus hervorgebracht hat, im Begriff steht, für immer zu verschwinden. Ich weiß noch gut, wie wir am Morgen nach einem Sommerfest im ehemaligen Dorf und jetzigen Vorort Eichenau, wo Heiners Doppelhaushälfte steht, einen Biergarten besuchten. Die alte Wirtin kannte ihn noch aus seiner Kinderzeit, als er mit dem Vater Bier und Fruchtsäfte aus dem großväterlichen Betrieb ausgefahren hatte. Die Sonne schien. Wir blieben den ganzen Tag unter den Kastanien. Diesen Sonntag habe ich als den schönsten gemeinsam verbrachten Tag in Erinnerung. Ob das Gelände inzwischen wie angekündigt planiert ist, weiß ich nicht. Vielleicht, dass man sich an sein kleines Werk in zwanzig, fünfzig, hundert Jahren noch einmal erinnern wird, als Beispiel für einen äußerst vitalen, ungemein sympathischen literarischen Umgang mit Lebensumständen, die dann längst unvorstellbar geworden sind und mit einem ungläubigen Kopfschütteln quittiert werden. Vorausgesetzt, dass es dann noch eine Literatur gibt, besser gesagt, Leute, die sie lesen. Was es voraussichtlich jedoch immer geben wird: Leute, die ein gewisses Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit, Courage und Lebenswillen teilen. Tugenden, die Heiner interessanterweise mit dem Amateurboxen, nicht mit dem Profiboxen verband: «Boxen hat nichts Spielerisches. Das ist der entscheidende Unterschied zum Sport. Es ist ein atavistischer, fataler Tanz: kämpfende Männer, die eines der edelsten Charaktermerkmale herausfordern, Mut. In Zusammenhang mit anachronistischen Werten wie Tapferkeit und Aufrichtigkeit, die beim Boxen ebenfalls eine starke Rolle spielen, ergibt sich das vollkommenere deutsche Wort: Edelmut. Das ist zweifelsohne nicht mehr modern, wer ist denn heute schon noch edelmütig.»
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An jenem letzten gemeinsamen Vormittag im Boxzelt war mein elfjähriger Sohn Samuel mit dabei. Irgendwann fragte Heiner ihn, was er einmal werden wolle, doch hoffentlich kein Schriftsteller, er solle sich bitte uns anschauen, dann sehe er, was dabei herauskomme. Ich bin überzeugt, Samuel hat im Fall Heiner Links durchaus bemerkt, was als Mensch dabei herauskommen kann. Fest steht, dass sich für eine Stimme seines Schlags immer Ohren finden werden. Vielleicht nicht überall und zu jeder Zeit, wahrscheinlich nur in kurzen seltenen Momenten einer glücklicheren Zeitgenossenschaft, sehr wahrscheinlich mit langen Durststrecken dazwischen. So lange wird mein Freund wohl jedes Mal überwintern müssen. Oder - um ihm selbst das letzte Wort zu geben: «Meine Körpertemperatur würde sich schleichend dem Gefrierpunkt nähern, und selbst da hätte ich noch Hoffnung, wenigstens ein letztes Mal zu explodieren. Es wird immer ein letztes Zerreißen geben. Man darf dieses Zerreißen nicht dem Tod gleichstellen. Einmal wird's mich immer noch zerreißen.» Norbert Niemann
S & L Zentaur 03·08·09
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