JOACHIM RET
Flucht in die Dünen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-60. Tausend Die Tatsachenreihe...
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JOACHIM RET
Flucht in die Dünen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-60. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1967 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Jürgen Mau Lektor: Heinz Bartel Vorauskorrektor: Hans Braitinger Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
1 Kolja schiebt den Kopf aus dem flachen Bunker, hält ihn schräg gegen den Nordost und starrt in die von flächigen Bränden erhellte Nacht. Seine Augen folgen den geisterhaft schwebenden „Christbäumen", die kaum wahrnehmbar sinken und die Kurpromenade in unwirkliches Licht tauchen. Zwischen Kurpark und Bahnstation, an der Straße nach Ahlbeck, schwelt eine dichte Rauchsäule. Die Royal Air Force bombardiert Swinemünde! Auf Reede ankernde Schiffe versinken in der See, und der bekannte Badeort wird eine öde Trümmerwüste. Wolkenfetzen jagen über meterhohe Wogen, die an der Ostmole zerschellen. Swineaufwärts treiben schillernde Öllachen ins Haff - und Leichen ... Es ist ein Vorfrühlingstag des Jahres 1945. Bevor der kommende Morgen graut, sterben Tausende: Soldaten, Frauen, Kinder und Kriegsgefangene. Sie sind auf engsten Raum zusammengetrieben, haben sich in Erdlöchern verkrochen und liegen im Bombenhagel der pausenlos angreifenden englischen Flugzeuge. Kolja kriecht in den Bunker zurück. In der Ecke sitzt Boris, er hat die Beine angezogen und döst. „Die Öltanks brennen." Koljas Stimme ist heiser, er sagt es vor sich hin und erschrickt, als Boris hochfährt, sich an ihm vorbeischiebt und hinauskriecht. Boris zieht unwillkürlich den Kopf ein: In der Nähe
ballert kleinkalibrige Flak. Kaum hundert Meter vom Bunker entfernt, drüben, am Eingang des Kriegsgefangenenlagers, hebt sich die Wachbaracke wie ein riesiger schwarzer, fensterloser Klotz ab, und die scharfen Dornen des Stacheldrahts, der das Gelände vierfach umspannt, stechen drohend in die Nacht. Boris huscht am Zaun entlang: Kein deutscher Posten ist zu sehen! Und wieder Bomben! Er hört ihren berstenden Aufprall, den pfeifenden Fall schluckt der Sturm. Sind das nicht Schreie? Der Sturm trägt sie durch das Flammenmeer zu ihm herüber, zerhackt und kläglich ... Neben ihm taucht Koljas Kopf auf; gleichzeitig zerreißt eine Detonation die Luft, klirrend und satt. Sekundenlang lauschen sie dem eigenen, rasselnden Atem. Dann erklingt Boris' erregte Stimme: „Es fehlen noch zwei, von dem Kaliber werfen sie immer drei!" Fünf Sekunden, sechs, sieben - nichts! Endlich wagen sie den Kopf anzuheben. Boris nickt zum Lagertor hinüber, aber Kolja hat es bereits bemerkt: Tor und Zaun sind verschwunden, die Baracke ist weggefegt, als wäre sie eingeebnet worden. Kolja springt auf. „Komm!" Er läuft zur Einschlagstelle hinüber. Er weiß: Wenn sie, es wagen wollen, dann jetzt! Nur in dieser Sekunde! „Los!" schreit er, „'raus hier!" Er sieht noch, wie Boris ihm folgt, dann bersten zwei, drei Bomben hinter ihnen in der Nähe des Bunkers, den sie soeben verlassen haben. Boris wirft sich auf die Grasnarbe, Deckung suchend. Kolja kriecht zurück, doch Boris ist schon wieder auf den Beinen, er drängt: „Schnell, bevor sie alles umpflügen!"
Mit fliegendem Atem erreichen sie die Straße und drücken sich rechtzeitig in den Schatten einer Ruine: Ein Wehrmachtsfahrzeug prescht vorüber, der Trümmer nicht achtend. Ohne Aufenthalt erreichen sie die Straßenkrümmung, die nach Nordwesten aus der brennenden Stadt ins Freie führt.
2 Swinemünde brannte vier Tage. Was die Bomben nicht zertrümmerten, fraßen die Flammen. Rauchgeschwärzte Fassaden mit hohlen Fensterlöchern ragten in den dunstigen Himmel, und von Zeit zu Zeit brach eine der Mauern polternd in sich zusammen. Tagsüber schlafen sie, abwechselnd, in den bewaldeten Dünen. Nachts, auf der Flucht, orientiert sie der lohende Brand und die rauschende See. Über Zirchow wollen sie die Südspitze der Insel Usedom erreichen. Doch von dort ziehen versprengte Einheiten heran, nehmen die Breite der Straßen und Feldwege ein, und auch das ausgedehnte Sumpfgelände ist nicht sicher. Die Insel ist zu einem Heerlager geworden. Überall stehen Hinweisschilder mit Tarnbezeichnungen, hier ist eine Kompanie, dort ein Regimentsgefechtsstand einquartiert. Hinter Sträuchern gedeckt, kampieren kleinere Kommandos eines Munitions- oder Treibstofflagers, ein Pionierpark oder eine Werkstattkompanie. Mit den zerschlagenen Resten ihrer Armeen versuchen die Deutschen den Ansturm der 2. Belorussischen Front zu stoppen, denn in Peenemünde, im nordwestlichen Zipfel der Insel, liegen die For-
schungsstätten der V-Waffen, mit denen die englische Insel „ausradiert" werden sollte ... General von Manteuffel, der Oberbefehlshaber der aufgeriebenen 3. Panzerarmee, hoffte, einige seiner Spezialtruppen dem Zugriff der unter Marschall Rokossowski nachdrückenden sowjetischen Verbände entziehen zu können: In Swinemünde wollte er sie auf Kriegsschiffe verladen und nach Dänemark verschiffen, auf jene Schiffe, die nun seit einigen Tagen auf dem Grund der Ostsee liegen ... Kolja und Boris einigen sich, nach Norden auszuweichen. Es scheint ihnen geraten, nicht gegen die Truppenbewegungen zu marschieren. Die belebte Straße, an der sich zu beiden Seiten Hügelketten entlangstrecken und die in östlicher Richtung zurück, nach Swinemünde, führt, verlassen sie im rechten Winkel. Wenn sie die Richtung beibehalten, Sümpfe und Torfstiche umgehen, müssen sie wieder die Küste erreichen. Am Ufer eines kleinen Sees rasten sie; im Schilf flattern aufgescheuchte Bleßhühner. Kolja zieht den letzten Kanten Brot unter seiner Bluse hervor und bricht ihn mitten auseinander. Er zeigt ins Schilf, zu den schnatternden Hühnern, die sich nicht beruhigen wollen. Wenn sie ein paar fangen könnten ... Auch Boris denkt: Wenn wir nicht bald was zu essen auf treiben! Irgendwo muß doch ein Unterschlupf zu finden sein, etwas Eßbares, Strandgut vielleicht, oder ein Boot...
3 Zwei Nächte darauf nähern sie sich der Küste, und sie sind so ausgehungert, dag Boris ins nächste Dorf gehen will, um Brot zu beschaffen. Er liegt neben Kolja, im dichten Blaubeergestrüpp, und nagt an einer Rinde. Der Sturm ist abgeflaut, und die Märzsonne erwärmt den Sand. Kolja träumt durch blattlose Baumkronen steinalter Buchen den weißen Wölkchen nach, die sich um die Sonne herumschieben. Einmal wieder frei sein: hingehen können, wohin man will, sinnvoll arbeiten und essen . .. „Ich halte es nicht mehr aus." Boris spricht, ohne die Zähne zu heben. Kolja sieht ihn nur kurz an, schweigend wendet er den Kopf wieder der Sonne zu. Natürlich wird's Zeit, grollt er, verdammt noch mal! Und wenn's ein paar Körner wären! „Ruh dich aus!" rät er und kramt in seiner Tasche nach Tabakkrumen. Nichts! Mehr als einen Rat hat er auch nicht. Boris' kraftlose Hand fällt auf den Boden. „Ich kann nicht mehr!" „Sollen wir ins Lager zurückgehen und sagen: Da sind wir wieder!?" Kolja legt die Arme unter den Kopf. Vier Tage Anstrengung, vier Nächte Hunger und Angst umsonst? Boris liegt lang ausgestreckt, mit geschlossenen Augen. Ich kann ihm doch nicht wie einem Kind zureden, denkt Kolja. Morgen hat er seine Schwäche überwunden. Vielleicht brauche ich morgen seine Hilfe? - Bald sind wir bei den Unsrigen! Der Gedanke verdrängt den Hunger, und wie eine Vision sieht er Gruschin vor sich,
Anton Gruschin, in jenen Tagen, als sie von den angreifenden Faschisten überrollt worden waren, einundvierzig, an der Westgrenze. Kein Stück Brot hatten sie mehr, der Hunger saß ihnen in den Gedärmen, kraftlos schleppten sie sich nach Osten, der Front entgegen. Wassili und ein paar andere drehten durch, Mutlosigkeit machte sich breit. Da redete Gruschin. Es war wenig, was er sagte: „Gegen die Interventen haben wir gesiegt; gegen Denikin und Koltschak, ihr wißt es. Ich führte damals eine Kompanie. Täglich gab es ein Stück Brot." Er bückte sich nach einem Stein, nicht größer als eine Kinderfaust, er warf ihn dem ihm Nächststehenden zu. „Nicht größer als der da!" Zur Straße gewandt, ging er ein paar Schritte davon, drehte sich um, streckte den Arm aus und rief: „Soldaten! Marsch!" Am Abend des folgenden Tages durchbrachen sie die Frontlinie. Boris wirft sich unruhig herum und versucht, einen Hustenreiz zu unterdrücken. Koljas Hände gleiten durch den lockeren Sand, spielend läßt er ihn durch die gespreizten Finger rieseln. Ein Stein bleibt hängen, rundgewaschen und glatt, nicht größer als eine Kinderfaust. Er wirft ihn zu Boris hinüber. „He!" ruft er, „als sie gegen Denikin kämpften und gegen Koltschak, da war ihre Ration nicht größer als der da!" Boris kommt mit einem Ruck hoch, starrt den Stein an, und für einen Moment sieht es aus, als wollte er ihn zurückwerfen. „Und gesiegt'haben sie, Boris, gesiegt!" Boris läßt den Stein fallen und legt sich zurück. Gruschin, ihr Bataillonskommandeur...
Kolja weiß: Sie werden durchhalten! Der Waldstreifen, den sie vergangene Nacht erreicht haben, liegt nordwestlich von Swinemünde, zwischen Ahlbeck und Ückeritz. Er ist kaum tausend Meter breit; dicke Buchen und Kiefern, in denen sich der Wind verfängt. Ihren Durst haben sie in einem Tümpel gestillt; eiskalt war das Wasser, und sie tranken es aus einer zerbeulten Milchkanne, die sie am Wegrand gefunden hatten. Nach Sonnenuntergang wenden sie sich nach Norden, und bald hören sie das Rauschen der See, Der Wald lichtet sich, und wenig später verharren sie auf dem Hochufer. Kolja beugt sich über den Rand, aber Boris reißt ihn zurück. „Hörst du nichts?" Jetzt vernimmt auch Kolja die mahlenden Raupen eines Kettenfahrzeugs, sieht hinter dem Küsteneinschnitt ein schmales Lichtbündel. Er geht hinter den Rand des Abhanges in Deckung. Eine Zugmaschine knarrt heran, deutsche Kommandorufe schallen herauf. Mit einem Fluch läuft Kolja hinter Boris her, landeinwärts. Sie durchqueren den schmalen Wald, meterweise quälen sie sich voran, schieben lange Pausen ein eine lange Nacht für einen Kilometer, Der Nachthimmel lichtet sich, und bevor es taghell wird, erreichen sie einen schmalen Wasserlauf. Sie erfrischen sich und laufen, dem Bach folgend, noch ein Stück weiter. In einer Kuhle, in einiger Entfernung von einer Waldstraße, die auf der gegenüberliegenden Seite mit villenartigen Häusern bestanden ist, richten sie sich für den Tag ein.
Boris streckt sich auf dem weichen Boden sofort aus, er ist matt und schließt die Augen. Kolja lehnt an einem Baum und blickt nach der schmalen Straße hinüber. „Wölfe", sagt er unvermittelt, „Wölfe halten es ohne Nahrung sechs Wochen aus." „Sind wir Wölfe?" „Und Menschen sollen es auf zwölf Tage bringen", fährt Kolja unbeirrt fort. „Wenn sie nicht unterernährt sind wie wir! Oder hast du dich im Lager bei den Deutschen satt essen können?" gibt Boris zurück. „Schlafe jetzt", sagt Kolja, „ich beobachte die Straße, und in einer Stunde bist du dran!" Kurz darauf hört er die tiefen Atemzüge des Freundes, sieht seine harten Züge, die hohlen Wangen und die dunklen Ränder unter den Augen. Die Häuser drüben, welche Anziehungskraft strahlen sie aus! Vielleicht wohnen dort hilfsbereite Menschen? In einen Keller könnte er einsteigen, Kartoffeln auftreiben... Die Augen von Boris, wenn er aufwacht und die gerösteten Kartoffeln vorfindet! - Die Häuser wird er beobachten, sich mit den Gewohnheiten der Bewohner vertraut machen und dann, am Abend ... Es kostet ihn Mühe, die Augen offenzuhalten. Er geht ein paar Schritte, doch es strengt ihn zu sehr an, und er setzt sich wieder. Sein Blick irrt über die Landschaft, verschwimmt allmählich. Er zuckt zusammen. War da nicht eine Stimme? Die Stimme einer Frau? Phantasierte er schon? Da hört er sie wieder. Schräg gegenüber wird das Gartentor eines Hauses aufgestoßen. Eine junge Frau tritt heraus und müht sich, einen Handwagen durch den
losen Sand zu ziehen. Darin sitzt ein kleines Kind, vielleicht vier Jahre alt. Mehr kann Kolja nicht erkennen. Er ist wieder hellwach, und nichts entgeht ihm. Was soll er tun? Ob sie helfen würde? Er wirft einen Blick auf Boris, dessen Atemzüge unregelmäßig sind. Kolja vergißt alle Vorsicht. Kurzentschlossen springt er auf und geht ihr entgegen. Wenige Schritte noch, dann steht er vor der Frau und streckt ihr seine verbeulte Milchkanne entgegen. „Kartoffeln?" Sie hatte ihn kommen sehen. Sicher gehörte er zu den ungezählten Flüchtlingen, die die Insel überschwamm, mit ihren Familien, hungernd, frierend, mutlos ... Ihr prüfender Blick wird milder, mischt sich mit einem Glücksgefühl, dem Gedanken an ihr warmes Haus, das sie eben verlassen hat, um im Ort einkaufen zu gehen. „Kartoffeln", wiederholt Kolja ermunternd, als er sieht, daß die Frau furchtlos ist. Sie sieht jetzt seine französische Militärbluse und die weiten, taubenblauen Fliegerhosen, die an der linken Seite einen langen Riß haben, der mit einem hellen Faden unsachgemäß zusammengezogen ist. „Wo kommen Sie her?" fragt sie, rauher als beabsichtigt. Er zuckt die Schultern, und nach einer Pause sagt er: „Hun-ger." „Sie sind Ausländer?" Er schüttelt verständnislos mit dem Kopf. „Pole?" Pole? Er begreift. „Plennik", er sagt es leise und nimmt die Kanne keinen Zentimeter zurück. Das Gesicht der Frau wird eine Spur ernster, jedoch
nicht unfreundlich. Ein Gefangener also, offenbar ein Russe! Nervös sieht sie sich um. Es ist nicht ratsam, mit ihm lange herumzustehen! Und mit den paar kümmerlichen Vokabeln, die sie aus seiner Sprache kennt, ist wenig anzufangen. Ein aggressiver Wortschatz, aus einer Sprachfibel für deutsche Soldaten. Kolja wird unruhig, läßt die Frau nicht aus den Augen, doch ihre fühlbare Verständigungsbereitschaft löst seine anfängliche Beklemmung, und er begreift, als sie ihm klarzumachen beginnt, daß sie ihm zu essen geben will, wenn sie aus dem Ort zurückkommt. Der Kleine im Wagen hat den Fremden beobachtet, blickt seine Mutter an und sieht, daß sie freundlich zu ihm ist. Ob Boris herübersieht, denkt Kolja, ob er munter ist? Dann nickt er. Sie atmet auf. „Gehen Sie in den Wald, in einer Stunde bin ich zurück!" Sie ergreift die Wagendeichsel und zieht eilig davon. Der Junge schwenkt seinen Teddy, als wolle er ihn noch einmal grüßen.
4 Die Begegnung mit dem Russen beschäftigt sie sehr. Helga geht an strohgedeckten Häusern vorüber und sieht, daß deren Anstrich grau ist. Grau wie die Uniform der Soldaten, wie ihre Fahrzeuge, grau wie ihre Kanonen. Noch nie ist ihr diese Eintönigkeit so sehr zu Bewußtsein gekommen wie heute. Und wie oft ist sie hier schon vorbeigegangen! Hoffnungsvoll denkt sie:
Bald werden die Fassaden wieder ihren hellen Sommeranstrich haben, wie früher, jedes Jahr vor Beginn der Saison, als die gescheuerten Strandkörbe auf Sommergäste warteten. Aus Berlin, Dresden, München ... Sie sieht zu der komfortablen Pension hinüber. Auf dem Dachfirst weht eine Rote-Kreuz-Fahne. Flaksoldaten stapfen auf dem Sandweg heran, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, als fürchteten sie irgend etwas. Sie muß den Weg freigeben. Grußlos gehen die Männer vorüber. Unter ihnen ein paar Halbwüchsige, Kinder noch, und einer von ihnen blutet durch einen Kopfverband. Vielleicht ist er aus Berlin, Dresden, München. München - „Hauptstadt der Bewegung". Sie liebt die Stadt an der Isar. Muster von Bauten in vollendetem Barock und römischem Renaissancestil. Das Fresko von Cornelius in der Ludwigskirche ... Und das gesellige München: Fasching und Oktoberfest, Widerhall dröhnender Biergeselligkeit. .Und die Nazis ... Mit klirrenden Marschstiefeln und protzigen Ehrenwachen vor der Feldherrnhalle. Zauber und Brutalität: Das alles ist München. Dreiunddreißig verließ Helgas Mann, der Facharzt Dr. Hagen, die Münchener Universität. Er machte das nicht mit. Am Güterbahnhof wird geschrien: Schwarzuniformierte schlagen mit Knüppeln auf magere Kriegsgefangene ein, die ihre letzten Kräfte aufbieten, um einen Munitionszug zu entladen. Ob er hier geflohen ist? denkt Helga, der Mann, der ihr im Wald begegnete. Unbewußt legt sie einen Schritt zu. Am wolkenlosen Himmel kreist ein Aufklärer. Ein Engländer vielleicht oder ein Russe? Ein Gefangener sieht hinauf wie ein Gläubiger zum Altar: Helft uns doch!
Helga geht schneller: Euch kann ich nicht helfen, aber dem anderen, eurem Kameraden, im Wald ... Schnell besorgt sie ihre Einkäufe; Bratlingspulver, eine graubraune Substanz, ein Kriegsprodukt als Fleischersatz, einen Laib Brot und ein paar Kilo gekeimte Kartoffeln. Auf dem Rückweg hört sie wieder den anhaltenden brummenden Ton, sieht am Himmel einen weißen Kondenzstreifen. Immer noch kreist das Flugzeug. Sie kennt das, hat Erfahrungen, traurige, gräßliche. Sie denkt an die Bombennächte in Berlin und an die Tage, als sie später im Haus der Schwiegereltern wohnten. Sie kann das nicht vergessen. Ein Wunder, daß die Sonne überhaupt wieder scheint. Was die Jahre für Kraft kosteten, körperlich und seelisch. Welche Anstrengungen, aufgewendet um nichts als das eigene, das nackte Leben zu erhalten. Und die Angst! Stand denn keiner auf und machte endlich Schluß? Der Heimweg, am Bahnhof vorüber, wird quälend. Noch brüllen die Posten, schlagen, noch stöhnen die Gefangenen. Halt! Keinen Schlag mehr, möchte sie hinüberschreien. Der Kleine im Wagen weint, und schnell wendet sie sich ab. Die Gedanken treiben zur Eile an: Wird er warten, der Mann, drüben im Wald? Sie zählt ihre Schritte. Nicht zu - spät - kommen ... Der gleichmäßige Takt überträgt sich auf den Körper, hallt in den Ohren, tönt wie das rhythmische Klopfen, dem sie Abend für Abend lauscht: „Hier ist London!" Eindringlich mahnt das Eröffnungsmotiv der c-Moll-Sinfonie von Ludwig van Beethoven, vier Töne, das Pausenzeichen eines Senders, auf dessen Abhören die Todesstrafe steht.
Schneller werden ihre Schritte. Er muß warten, der Russe! He! Lauf nicht davon! Im Gartenhaus kannst du bleiben, diese Nacht wenigstens ... Bevor sie am Ortsende um eine Straßenecke biegt, begegnet sie einem jungen Offizier. Er trägt die Uniform der Luftwaffe. Er lächelt verbindlich. Helga sieht in sein Gesicht und weiß, daß er auf sie wartet...
5 Boris wehrt heftig ab: „Die Frau wird uns verraten!" Kolja antwortet nicht, und Boris fährt ruhiger fort: „Denkst du, daß sie sich wegen uns aufhängen läßt?" Kolja schweigt, er erweckt den Anschein, als höre er nicht zu. Mit vorwurfsvoller Stimme fragt Boris: „Wie konntest du nur zu ihr hinlaufen?" „Willst du verhungern?" „Vor allem möchte ich nicht an der nächstbesten Astgabel hängen", entgegnet Boris. „Wir müssen die Chance nutzen!" „Kartoffeln will sie bringen?" lenkt Boris ein. „Ja." Im selben Augenblick zeigt Kolja zur Straße hinüber. Dort gehen die Flaksoldaten, und der Junge mit dem Kopfverband setzt sich ermattet an den Wegrand. Einer seiner Kameraden bleibt bei ihm zurück und redet begütigend auf ihn ein. Er hockt sich neben ihn und rückt den Verband zurecht. Kolja und Boris atmen leise, drücken sich an den Boden, daß sie gerade noch hinübersehen können. Endlich erheben sich die beiden und trotten ihren Kameraden nach.
„Im Wald wimmelt's von Faschisten", gibt Kolja zu bedenken. Boris erhebt sich und geht ein paar Schritte, um sich die Beine zu vertreten, kratzt verfaultes Laub auseinander, versucht mit einer knorrigen Wurzel im Erdreich zu graben und setzt sich dann wieder neben Kolja. „Wir sollten uns einen Bunker bauen." Kolja schweigt. Dann rückt er näher an den Freund heran. Er friert. In der Nacht war es empfindlich kalt, die Strapazen des Nachtmarsches haben sie die Kälte nicht empfinden lassen. Die Sonne strahlt auf einen Tümpel, und der Wasserspiegel ist mit einer hauchdünnen Eisschicht überzogen. „Erfrieren werden wir noch", stößt Kolja hervor, „erfrieren wie hilflose Tiere, wenn wir noch nächtelang hier herumliegen." Mit der Fingerspitze drückt er auf das Eis. Es springt wie eine dünne Glasscheibe. „Bauen wir einen Bunker!" Boris beschäftigt sich mit handgreiflichen Dingen, und er scheint schon vollkommen in die Verwirklichung seines Planes vertieft zu sein. „Lange kann es nicht dauern, dann sind unsere Genossen hier." Boris blickt zur Straße hinüber. Hart packt er Kolja am Arm. Dieser will sich losmachen, aber Boris zieht ihn unnachsichtig heran und deutet mit energischem Nicken zum Ort hinüber. An den letzten Häusern steht sie. Mit einem Mann, einem Mann in Uniform, einem Offizier! Was reden sie miteinander? Kolja scheint, als suche sie mit den Augen den Waldrand ab. Jetzt geht sie weiter, wenige Meter, und sie bleibt wieder stehen. Sie wendet sich dem Offizier zu, lacht, aber zugleich wehrt sie mit beiden Händen ab, zeigt auf die Straße, die zurückführt
in den Ort, als wolle sie ihm bedeuten, daß er auf dem falschen Weg ist. Da hebt der Uniformierte den Arm, lässig, elegant. „Sie schickt ihn fort, Boris", stöfjt Kolja erregt hervor, „sieh nur, wie sie ihn sich vom Halse hält!" „Weißt du, was sie miteinander besprochen haben?" Kolja ist gereizt. „Soll sie uns schriftlich einladen? Teufel noch mal, wir müssen es riskieren. Sie hat uns so oder so in der Hand." Inzwischen setzt die Frau ihren Weg fort. Dem Zurückbleibenden nickt sie zu, nimmt aber dann keine Notiz mehr von ihm. Erst als der Offizier zwischen den Häusern verschwindet, legt sie einen Schritt zu. Bald ist sie auf Rufweite heran. Die beiden Gefangenen haben jede ihrer Bewegungen genau verfolgt. Die Frau sucht unruhig den Waldrand ab. Wartet. Noch einmal schaut sie prüfend zurück und atmet erleichtert auf. Helga ist froh, den Luftwaffenoberleutnant abgehängt zu haben. Wie er sie am Ortsausgang begrüßt hatte! Als kenne er sie wer weiß wie gut und als ob es ihm nur darum gegangen sei, ihr den Wagen ziehen zu helfen. Sie beugt sich über den Wagen, zupft an dem Stofftier des Jungen herum und beobachtet dabei sorgfältig die Häuser des Ortes. Endlich entschließt sie sich, ihren Weg fortzusetzen. „Klug macht sie das", triumphiert Kolja, „wenn sie auf zehn Meter heran ist, gehe ich 'raus!" Boris nickt hilflos. Er weiß, er kann den Lauf der Ereignisse nicht mehr aufhalten. „Kolja", mahnt er, „wenn ich pfeife, springst du in den Wald zurück!" „Ist gut!" Kolja ist auf den Sprung konzentriert.
Boris schiebt die Unterlippe nach vorn. Hat Kolja alle Vorsicht vergessen? Wenn nun der Offizier, hinter einem Haus verborgen, die Frau beobachtete? Er würde sofort den ganzen Ort alarmieren! Doch er kann Kolja nicht mehr zurückhalten. „Wenn ich pfeife, kommst du!" sagt er deshalb noch mal eindringlich. „Bin ich taub?" „Kurzsichtig vielleicht!" gibt Boris gereizt zurück. Doch er kann sich jetzt nicht in lange Debatten einlassen. „Wir arbeiten uns in die Richtung vor, aus der Gefahr droht", rät er noch, „daß wir ihnen entgegenlaufen, werden sie am wenigsten vermuten."
6 Hier hinter dem Stapel Holz ist er im Wald verschwunden! Helga erinnert sich. Warum ist es so still? Kein Vogelruf, nicht mal das Knacken eines Zweiges. Wie die Ruhe nervös macht! Hatte er Angst? Ist er davongelaufen . .. Schritte. Sie fährt zusammen. Kolja steht vor ihr, wie vom Himmel gefallen. Mit stummer Geste hält er ihr seine Kanne entgegen. Während sie das Gefäß mit Kartoffeln füllt, schaut er auf ihre Hände, als zähle er die Knollen, die sie hineinlegt. Sein struppiges, dichtes Haar hängt ihm in die Stirn. Als die Kanne voll ist, wischt er sich mit dem Handrücken über die Augen, als müßte er den Schweiß trocknen; dann wirft er ihr einen dankbaren Blick zu, setzt das Gefäß ab und legt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zusammen, als ob er ein Streichholz dazwischen hält. Damit reibt er über seinen linken Handteller. „Feuer?"
Kochen will er, denkt sie. Und wenn das Feuer entdeckt wird? Sie setzt ihm ihre Befürchtungen auseinander, aber er lächelt. Sind sie es nicht gewöhnt, im Freien zu kochen, im Graben, unmittelbar am Feind, ohne daß es raucht! Sein überlegenes Lächeln wird freundlich. An was sie alles denkt! Der Junge klettert aus dem Wagen und betrachtet sich den Onkel in kindlicher Neugier von allen Seiten. „Kommen Sie", drängt Helga, „kommen Sie heute abend!" Sie zeigt zu den villenartigcn Häusern hinüber, „drüben, mein Haus, ich werde Sie verstecken!" Er blickt ihrem gestreckten Arm nach, sieht das dunkelbraune, würfelartig gebaute Haus, dann wieder die Frau ... „Mein Quartier", sagt sie ungeduldig, tippt sich mit dem Finger auf die Brust, wendet den Blick nach dem Wald hinüber, „und dort - gibt es viel Soldaten!" Soldaten! Faschisten! Das versteht er genau. Unsicher mustert er sie, die Frau wird immer unruhiger. Wie er jetzt hinüber starrt! Viel zu lange stehen sie hier herum, denkt sie besorgt, wann, um Himmels willen, begreift der Mann endlich! „Sie werden uns finden - uns töten." Mit der Hand beschreibt er einen Kreis, deutet an, daß er alle meint: sie und das Kind. „Reden Sie nicht", widerspricht sie energisch, „wenn es dunkel ist, warte ich!" Ihr Ton ist abschließend, sie unterstreicht ihren Entschluß mit einer energischen Handbewegung und wendet sich zum Gehen. Er bleibt neben ihr, zeigt mit dem Daumen nach hinten und sagt leise: „Mein Kamerad ..." Jäh verhält sie im Schritt. Er ist nicht allein? Sie sucht
ihrer Überraschung Herr zu werden, kramt in der Tasche herum, als sei ihr wieder eingefallen, daß er um Zündhölzer gebeten hatte. Wortlos drückt sie ihm die Schachtel in die Hand. Dann sieht sie ihm voll ins Gesicht. „Wieviel seid ihr?" „Wie-viel...?" „Da, da!" Sie merkt nicht, daß sie russisch antwortet. „Boris und ich — Kolja." Es klingt, als ob er sich vorstellt. „Bringen Sie ihn mit!" Er sieht ihr noch lange nach, als sie sich raschen Schrittes entfernt. Mit ein paar Sätzen springt er in den Wald zurück.
7 Kolja setzt über den schmalen Graben und steht vor seinem Freund. Sie buddeln ein Loch aus, schweigend, als müßten sie die Ereignisse der letzten Minuten erst überdenken. Eifrig legt Kolja dürre Zweige in die Grube, streift seine Bluse ab und hängt sie über die zu einem Gerüst aufgestellten Äste. Wenig später schlägt auf der Feuerstelle eine kleine helle Lohe. Auf einer rohen Kartoffel kauend, hocken sie an der Flamme. Kolja kann nicht mehr warten, er will wissen, was der Freund denkt. „Na", fragt er mit einem ungeduldigen Ton in der Stimme. „Vielleicht sollten wir nicht..." „Unsinn!" unterbricht Kolja ihn schroff, „wir werden ihr Angebot annehmen." „Du solltest die Deutschen kennen."
Kolja zieht ein feststehendes Messer hervor, das er unter der Bluse verborgen hält. „Wenn wir verraten werden ..." Seine Augen glänzen hart. „Ich werde nicht in ihr Haus gehen!" sagt Boris abrupt und wendet sich ab, als sei jedes weitere Wort überflüssig. Kolja verschluckt eine Entgegnung. Welche Wahl hatten sie denn schon? Verhungern oder dieses Risiko. Doch wenn es diese Deutsche doch noch mit der Angst zu tun bekam! Kolja wird mit einemmal unsicher. Ein, zwei Tage würde es schon gehen. Wenn sie nun länger bleiben müßten? Wochen vielleicht. Ein unbedachtes Wort von ihr, bei einem Gespräch mit Nachbarn oder sonstwo, sie würden aufmerksam, mißtrauisch ... Oder sie riefe, wenn es ernst würde, in letzter Minute die Polizei? Ihre Haut zu retten. Oder das Kind! War ihr Angebot auch gut gemeint, so könnte sie es doch bereuen! Das Kind - ja, wenn es redete? Von dem fremden Onkel erzählte, den die Mutter ins Haus nahm ... Immer schwankender wird Kolja, unruhig, je mehr er sich in die Eventualitäten hineinversetzt. Boris bemüht sich, das Feuer bei heller Flamme zu halten, damit es nicht raucht. Sie kommt ihm recht, diese Beschäftigung, er gewinnt Zeit, alles gründlich zu überlegen. Das Verhalten der Frau ist ihm nebelhaft. Hatte er von den Deutschen bisher nicht nur Demütigungen erfahren? Und bei den wenigen, die nicht mittaten, stand die Gleichgültigkeit im Gesicht. Sie sahen unbeteiligt zu, wenn sie mißhandelt wurden, manche vielleicht mit einem Anflug von Mitleid in den Augen.
Er steht auf und sammelt in der Nähe liegende trockene Zweige zusammen, kriecht lautlos zwischen eine Baumgruppe. Als er zurückkommt, essen sie, wortlos und hastig. Boris' Gedanken kommen wie von weit her ... Nimm einen Aal beim Schwanz und eine Frau beim Wort. Ein Argument ist das nicht, denkt er belustigt. Alles Halbwahrheiten, diese Redensarten. Sicher läßt sich eine finden, die genau das Gegenteil behauptet. Immer wieder kreisen seine Gedanken um die Frage, was die Frau wohl, wenn er Verrat ausschloß, bewogen haben könnte, Kolja ein für sie so waghalsiges Angebot zu machen? „Bist du sicher", wendet er sich überraschend an ihn, „bist du sicher, daß sie uns beide aufnehmen will?" „Ja, natürlich!" „Hm." Und nach einer kleinen Pause: „Vielleicht will sie nur dich?" Kolja ist mißgestimmt. Er glaubt einen Anflug von Vieldeutigkeit herausgehört zu haben. Wie konnte Boris nur auf solche Gedanken kommen? Er beißt sich auf die Lippe. Und wenn Boris recht hätte? Wenn sie nur einen Mann suchte? Er fixiert das Haus, ein Landhaus, in dem zu geregelten Zeiten sein Besitzer nur die Sommermonate verbringt. Gehört es ihr? Zwingt sie diese Wohlhabenheit nicht auf die Seite ihrer Soldaten? Vielleicht will sie sich auch nur rückversichern? Sie weiß, daß das Ende bevorsteht, und bemüht sich um ein gutes Zeugnis? Sie will unter Umständen sagen können: Habe ich nicht sogar eure Gefangenen beschützt? Gerettet! „Sie hat Telefon", sagt Boris, während er bedachtsam
den letzten Bissen zerkaut. Er mußte etwas gegen sie finden, gegen ihre ihm unerklärliche Hilfsbereitschaft : Soll ich meinen Haß gegen die Deutschen einfach zudecken? Diesem unerklärlichen Verhalten wegen, das eine Laune sein kann, ein kurz aufflackerndes Mitleid vielleicht... Kolja starrt wie gebannt auf die Drähte, die sich von einem Mast zu ihrem Haus hinüberspannen. Und wenn sie doch in der Falle sitzen, wie Boris meint...? Telefon! Ein Anruf, einfacher ging es wirklich nicht! Ohne den Blick von den Drähten zu nehmen, sagt er unsicher: „Ist eine Lichtleitung." „Es ist keine Lichtleitung", entgegnet Boris lakonisch, „machen wir uns doch nichts vor!" Nach Minuten nimmt Kolja das Gespräch wieder auf: „Hin wie her", sagt er. „Wenn sie es wollte, hätten sie uns schon. So wichtig sind wir nicht." „Wenn sie telefoniert hat, sind in wenigen Minuten die Feldgendarmen hier" erwidert Boris. „Ich habe ihre Augen gesehen", sagt Kolja, „sie lügen nicht!" „In die Augen habe ich ihr nicht sehen können", antwortet Boris abweisend. „Wir werden sehen; wenn du recht hast, dann haben wir die erste Nacht wieder ein Dach über dem Kopf." Die Stunden dehnen sich. Einer wacht, der andere soll schlafen. Gegen Mittag zieht auf der Straße eine Granatwerferabteilung vorüber. Später treckt ein Flüchtlingszug in entgegengesetzter Richtung. Die Menschen schleppen ihre Habe auf dem Rücken. Nur wenige lenken ein kleines Pferdegespann. Die Sonne sinkt. Eine rotglänzende Scheibe. Der dunkel
aufkommende Nachthimmel sieht drohend aus. Kolja ist unruhig. Seine Erregung nimmt immer mehr zu, und als sich eine Wolke vor den ansteigenden Mond schiebt, springt er auf. „Gehen wir!"
8 Das Gartentor gibt einem leichten Druck nach. Ein paar Schritte, und sie stehen vor dem Haus, das sie lange aus der Entfernung beobachtet haben. Kein Lichtschimmer weist darauf hin, daß es bewohnt ist. Aus dem Dunkel fordert eine flüsternde Frauenstimme: „Kommen Sie!" Kein Zittern in der Bewegung nach Hast, obwohl Helgas Nerven angespannt sind. Sie löst sich aus dem Hausschatten und geht den beiden voran, schräg durch den dicht mit Obstbäumen bestandenen Garten. Die Umrisse eines kleinen Hauses heben sich ab. Sie wartet auf die zögernd folgenden Männer. Wie ein matter Strom überträgt sich auf sie die wachsame Vorsicht der beiden. „Hier sind Sie ganz sicher", flüstert sie, fühlt aber zugleich, wie läppisch ihre Worte in dieser Situation sind. Geräuschlos öffnet sie die Tür. Zuerst tritt die Frau ein, dann Kolja, und Boris zieht die Tür ins Schloß. Vorher sieht er noch einmal hinaus. Kein Knarren dringt in die lauttragende Nacht. Während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen, stehen sie dicht nebeneinander, lauschen der fast körperlich fühlbaren Stille nach. Da raschelt es in der Ecke, als ob sich jemand ruckartig im Stroh bewegt. Kolja stößt Boris in die Seite.
„Meine Ziege", erklärt sie, der die Unruhe der Männer nicht entgangen ist. Dann reißt sie ein Zündholz an. Die winzige Flamme huscht über ihr ruhiges Gesicht. Sie hält das Flämmchen an einen Kerzenstumpf, und Kolja sieht, wie ihre Hände zittern. Der Lichtschein spiegelt sich in ihrem glatten Haar, das die Stirn freiläßt, und in ihren Augen leuchten feine Lichtpünktchen. Mit schützender Hand vor der Flamme geht sie resolut zu der Ziege hinüber. „Sie müssen mit ihr den Platz teilen", sagt sie. Die Ziege meckert, wittert mit trockener Schnauze ins Halbdunkel. Ein Ziegenstall, denkt Kolja. Das ist kein schlechter Gedanke. Hier wird kaum ein Unberufener herkommen, es sei denn, er weiß, wer hier ist. Sorgen bereitet ihm jetzt vor allem das Kind, das die Frau im Wagen zog. Er versucht es, ihr verständlich zu machen. Die Frage kommt auch für Boris unerwartet. Die Frau hat sofort verstanden. Sie hört die Besorgnis, die in der Frage schwingt. Natürlich hat sie auch daran gedacht. Doch wie soll sie ihm das plausibel machen. Eine senkrechte Falte gräbt sich in ihre Stirn. Kolja wartet auf Antwort. Ein einziges Wort aus dem Munde des Kindes, arglos dahingesagt, beim Spiel, wie Kinder nun mal sind, und es ist vorbei... Zum Teufel! Versteht sie denn nicht, daß unser Leben an einem dünnen Faden hängt? Boris betrachtet beide. Koljas Frage hat ihn aufgerüttelt. In ihm klingt es wie eine Rechtfertigung: Ich glaube dir ja, daß du uns helfen willst, ich glaube dir, aber dein Kind! Er sieht die Gendarmerie vor das Haus aufziehen, und er weiß, sie hat es nicht verhindern können.
Sie wird eine mitleidige Miene aufsetzen oder auch mit stummen Bedauern auf das Kind, ihr Kind sehen: Verzeiht ihm, es wußte doch nicht. .. Die Frau steht immer noch stumm da. Dann sagt sie: „Im Haus sind noch zwei Kinder." Sie hebt wie zur Bekräftigung ihrer Worte zwei Finger in die Höhe. Kolja und Boris glauben an einen Hörfehler. „Ja, ja", beeilt sie sich fortzufahren, „zwei Kinder und meine Schwiegermutter. „Sie sind nicht meine eigenen. Sie wohnen nur mit im Haus. Sie verstehen: der Krieg. Wir mußten zusammenrücken." Sie läßt keine Pause aufkommen und spricht gleich weiter: „Tagsüber dürfen Sie das Haus auf keinen Fall verlassen. Für Essen und Trinken sorge ich. Es kann ja nicht mehr lange dauern, bis Ihre Kameraden kommen." Sie weiß nicht, ob die beiden alles verstanden haben. Die Gefangenen lassen sich jedenfalls nichts anmerken. „Haben Sie eine Karte?" fragt Boris, mühsam die fremden Worte suchend. „Wenn es nicht gleich eine Generalstabskarte sein muß. Überhaupt, wenn Sie einen Wunsch haben, dann stellen Sie diesen Krug als Zeichen ins Fenster." „An was sie nicht alles denkt", sagt Kolja zu Boris auf russisch. „Bitte?" Ohne eine Erklärung abzuwarten, gibt sie Kolja einen gefüllten Milchkrug. „Die Milch ist von ihr. Sicherlich können Sie auch melken? Die Arbeit könnten sie mir abnehmen!" Mit einem freundlichen Kopfnicken verläßt sie die Flüchtlinge.
9 Sie stehen noch, wie auf einem Foto, als die Tür ins Schloß klickt. Kein Laut dringt herein, kein sich entfernender Schritt. Boris überprüft die Fenster, sie sind durch solide Holzläden von innen verriegelt. Er zieht einen Schemel heran und setzt sich mit ausgestreckten Beinen hinter die Tür, die erste Wache wird er übernehmen. Kolja wirft sich auf das vorbereitete Lager. „Sogar Kissen hat sie uns hergelegt." „Und eine Schüssel mit Pellkartoffeln!" Ein Windstoß rüttelt an den Läden, helles Flakfeuer knallt, und das gedämpfte Brummen schwerer Flugmotoren schwingt herein. „Die Front", sagt Boris, „sie rückt näher." Dann schiebt er den Hocker beiseite. „Wir müssen noch mal 'raus." Zwischen den Fingern zerdrückt er die Kerzenflamme und öffnet die Tür spaltbreit. „Wir müssen wissen, wie's hier aussieht. Er huscht wie ein Schatten hinaus. Kolja folgt ihm. Der Mond steht höher und gießt fahles Licht über den Garten. Die Bäume werfen bizarre Schatten. Neben der Unterkunft dehnt sich eine Wiese aus, hundert Meter weiter wird sie von Bahngleisen begrenzt. Und weiter drüben, auf der Straße, rollen verdunkelte Fahrzeuge wie gespenstische Punkte. Kilometerweit kein Lichtschimmer, das weite Land liegt dunkel: seit Jahren! Sie sind zufrieden. Nach allen Seiten gibt es Rückzugsmöglichkeiten. Erleichtert betreten sie das Haus. Irgendwo schreit eine Katze. Kolja erschrickt, zeigt
dann mit dem Daumen über die Schulter. „Im Frühling, wenn sie Hochzeit machen . . ." Während Boris das Licht anbrennt, zieht Kolja sein Messer unter der Bluse hervor. Er gießt Milch in die bereitgestellten Töpfe und beginnt die Schalen von den Kartoffeln abzuziehen. „Eine Zigarette müßten wir haben", stöhnt Boris. Mit der Geborgenheit steigen die Ansprüche, denkt Kolja beschwingt und streckt sich auf dem Lager aus. Er freut sich auf die Nacht, ohne das Gebrüll der Wachposten, ohne Fußtritte, ohne nagenden Hunger und in warme Decken gehüllt. Wenige Minuten später schläft er. Seine Züge sind entspannt, und einmal lächelt er im Schlaf. Boris hockt mit aufgestützten Armen auf dem Stuhl, und sein Gesicht ruht in seinen Handtellern. Bald werden wir zu Hause sein, Kolja. Nach einer Stunde will er ihn zur Wache wecken, er bringt es nicht übers Herz. Erst gegen Mitternacht kann er die Augen nicht mehr offen halten, doch die Verantwortung für ihre Sicherheit fordert die Ablösung. Kolja macht ihm Vorwürfe: „Warum hast du mich nicht früher geweckt?" Boris schläft schon fast. Als er auf das Lager fällt, hört er nichts mehr.
10 Kurz vor sechs steht Helga wieder in der Küche. Sie bereitet aus Haferschrot eine schmackhafte Suppe. Sie wird dünner werden in den kommenden Tagen!
Sie hat es eilig, die Kinder müssen versorgt werden, bevor sie in die Schule gehen, aber vorher will sie die Gefangenen sehen. Wie sie wohl die Nacht verbracht haben? In einem Futtereimer verbirgt sie die Suppenschüssel. Die Tür öffnet sich, wie von unsichtbarer Hand bewegt. Schlafen Sie denn nicht? Oh! Gut hätten sie geschlafen, flüstert ihr Kolja zu. Boris . schnarcht noch, seinen Kopf sieht sie nicht, er ist in die Decke eingehüllt. Wenig später sitzt sie mit den Kindern am Frühstückstisch, und bald ist wieder Ruhe im Haus. Der Schulhof gleicht heute einem Kasernenhof. Hinter dem Haus dampft eine Gulaschkanone, und eine Reihe ungeduldiger Soldaten klappert mit den Kochgeschirren. Die Kinder stehen im Geviert um einen Fahnenmast, an dem schlaff die Hakenkreuzfahne hängt. „Zum Appell stillgestanden!" krächzt eine brüchige Stimme. Der alte Oberlehrer, pensioniert und seit zwei Jahren wieder im Dienst, bemüht sich, seinem Organ einen militärischen Klang zu geben. Die Schüler sind unaufmerksam. Die Erregung, die von den Soldaten ausgeht, greift auch auf sie über. Ein paar Artilleristen schleppen Strohballen ins Schulhaus, reißen den alten Lehrer bald um, der in Grundstellung steht und sich kaum auf den Füßen halten kann. Die Kinder unterdrücken mit Mühe das Lachen, und der Alte ahnt nicht, daß er zur Karikatur wird. „Der Unterricht", sagt er jetzt, „der Unterricht wird ab sofort vorübergehend eingestellt. Die Front wird begradigt", setzt er beflissen hinzu, „aber die Einbruchstelle ist bereits abgeriegelt!" Dann spricht er von der Zukunft, seiner leuchtenden, erhabenen, und vom
Führer, der es nicht zulassen wird, daß die Russen deutschen Boden erobern, von Wunderwaffen, die jetzt der Stunde ihrer Bewährung entgegensehen. Er wird kurzatmig, aber sein Organ schwillt noch mal an, als er einen Blick auf den neben ihm stehenden Ortsgruppenleiter wirft, der von Zeit zu Zeit sorgenvoll nach seinem Kraftwagen schielt. „Es lebe der Führer! Heil, Heil, Heil!" Der Ortsgruppenleiter, eigentlich gekommen, um den Kindern ein paar ermunternde Worte mit auf den Weg zu geben, braucht sich nicht zu bemühen. Der Alte hat es gut gemacht. Eilig verabschiedet er sich. „Noch eine Mitteilung!" Der Oberlehrer ist noch nicht am Ende. „In der Gegend treiben sich Russen herum, ausgebrochene Kriegsgefangene. Leicht zu erkennen an ihren verwahrlosten Kleidern." Dem Oberlehrer gelingt es, seine Stimme noch anzuheben: „Bei eurer Jungvolkehre! Stöbert sie auf! Doch gebt acht! Sie schrecken vor nichts zurück!" Er räuspert sich und spuckt aus, als habe er einen üblen Geschmack im Mund. „Weitersagen! Wegtreten!"
11 Die Uhr tickt wie an jedem beliebigen Tag und kündet an, daß alles vergänglich ist. Die Kinder werden pünktlich wie immer, fünf Minuten nach zwölf Uhr, hier sein. Eine merkwürdige Unruhe quält sie. Koljas Frage nach den Kindern geht ihr nicht aus dem Kopf. Dabei war für sie alles selbstverständlich gewesen: Vormittags sind die Kinder in der Schule, und
in den Nachmittagsstunden würde sie schon für sie eine Beschäftigung finden. Ihre Anordnungen wurden befolgt, waren fast Gesetz. Das Gartenhaus liegt abseits, und es würde nicht schwer sein, davor einen unsichtbaren Zaun zu errichten. Sie merkt gar nicht mehr, daß sie nur Kolja und auch ihn nur eine Nacht unterbringen wollte - jetzt liegen zwei Russen im Gartenhaus, und sie weiß nicht, für wie lange ... Kann sie die beiden denn jetzt hinausjagen? Was hätte das Risiko dann für einen Sinn gehabt? Unruhe trocknet ihr die Kehle. Ich werde euch um jeden Preis helfen, denkt sie, und sie kennt den Preis: Tod durch Erhängen! Sie hört die Tür gehen. Die Schwiegermutter tritt ein. Sie setzt sich, ohne an Helga ein Wort zu richten, in den ihr gegenüberstehenden Ohrensessel. Helga hört, wie sie etwas sagt, und blickt sie an. „Ich habe gesagt, ich bin froh, daß du die Männer ins Haus genommen hast. Vater hätte es auch ge-' tan..." Helga nickt. Ja, ja; du hast es mir doch schon gesagt. „Nur", die folgende Pause genügt, um Helga aufmerksamer zu machen, „nur wegen der Kinder sorge ich mich." Helga greift nach einer Zigarette und zündet sie umständlich an. Das Holz läßt sie bis zur Mitte herunterbrennen, nimmt das verkohlte Ende zwischen die Fingerspitzen der anderen Hand und wartet, bis es am anderen Ende verglüht. „Sie werden nichts merken", sagt sie mit fester Stimme. Die grauhaarige Frau blickt auf die Uhr, ohne zu antworten.
Sag doch was! denkt Helga. Das regelmäßige Ticken der Wanduhr hört sie wie ihren Herzschlag. Die Zeit springt zurück, Wochen, Jahre .. . Berlin! Die geräumige Wohnung der Schwiegereltern. Der Schwiegervater kommt nach Hause. Er hat seine Professur niedergelegt. „Ich kann nicht mehr zusehen, wie sie die Wissenschaft zur Apologie machen!" sagt er resignierend. Dann geht er aus dem Zimmer. Kurz darauf läutet das Telefon. Mechanisch greift Helga zum Hörer. „Einen Augenblick, bitte." Als Professor Hagen den Hörer ergreift, zittern seine Hände. „Ja?" Seine Augen sehen in die Ferne, als suchten sie dort Rat. „Ja", sagt er noch einmal tonlos und legt auf. „Wir müssen das Gastbett herrichten", sagt er zu Helga. Gegen Abend kommt Hagens Studienfreund, abgemagert, aschgrau im Gesicht und mit zerknitterten Kleidern, mit Säcken unter den Augen, die wochenlang keinen Schlaf gefunden haben. Seit einer Woche wird er gehetzt, weil er der Aufforderung, sich bei der Gestapo zu melden, nicht nachkam. Er bleibt zwei Nächte, dann kann er ins Ausland flüchten. Helga schienen es Wochen gewesen zu sein. Jedes Klingelzeichen an der Tür brachte neue Erregung. Kein lautes Wort wurde gesprochen .. . Aus dem Garten dringt helles Stimmengewirr. Sollten das schon die Kinder sein? Da kommen sie bereits ins Zimmer gestürmt, werfen ihre Schultaschen in die Ecke wie Ballast, der nun überflüssig geworden ist, und schreien: „Wir haben Ferien!" Das muß wohl ein Irrtum sein, denkt Helga, aber ihre Gedanken eilen bereits weiter: Da werden sie den
ganzen Tag über zu Hause sein! „Ein paar Russen sind ausgerissen", berichtet Martin, der Zehnjährige, eifrig, und die Schwester überschreit ihn: „Ja, ja, ganz Gefährliche sind das!" Die alte Frau wechselt mit Helga einen schnellen Blick. „Und sogar Kinder haben sie umgebracht", ruft die strohblonde Heike mit großen Augen, „aber der Führer .. ." „Ja, ja", dämpft Helga den Redestrom, „nicht alle auf einmal..." „Und suchen sollen wir sie", berichtet Martin weiter. Die Kinder sind erregt und vergessen ganz, den eigentlichen Grund der unfreiwilligen Ferien zu nennen. Helga hat auf einmal das Gefühl, als lege sich ein eiserner Ring um ihre Brust. Mit trockenem Mund sagt sie: „Spielt jetzt." Sie wundert sich, wie beherrscht die Worte über ihre Lippen kommen. „Ihr dürft auf den Boden gehen, wo die alten Spielsachen liegen." Die Kinder schauen sie ungläubig an. Auf den Boden? Der Kaufladen, das Schaukelpferd und die Puppen ohne Arme und Beine ... „Du hast es doch verboten", triumphiert Heike wie ein Kind, das den Erwachsenen bei einem Fehler ertappt hat. „Heute dürft ihr ..." Ein Jubelschrei füllt das Zimmer, und schneller als sonst wirbeln sie hinaus. Helga springt auf. Mit großen Schritten durchmißt sie das Zimmer, bleibt am Fenster stehen, schiebt die Gardine beiseite und starrt hinaus. Sie fühlt die Blicke ihrer Schwiegermutter, ratlose, besorgte. Kaum hundert Meter sind es hinüber bis zum Gartenhaus. Einen
unsichtbaren Zaun errichten? Unsinn! Was ihr vor kurzem noch leicht erschien, wird undurchführbar. Sie wendet sich der wartenden Frau zu, die nun, von Unruhe getrieben, aufsteht. „Mir ist ein guter Gedanke gekommen", sagt Helga, „ein nützlicher Gedanke!"
12 Ein Platzregen verwandelt den Sandweg in wenigen Minuten in eine Wasserlache. Der körnige Sand klebt an den Schuhen, aber Helga achtet nicht darauf. Gedankenvoll stapft sie durch den nassen Wald. Bei diesem Wetter können die Kinder nicht in den Garten, stellt sie befriedigt fest. Eine Galgenfrist? Die Idee, die sie hat, wird nützlich, wenn sie diese schnell verwirklicht ... Sie bemerkt gar nicht, wie der Regen, schnell wie er gekommen ist, versiegt. Durchnäßt erreicht sie endlich den Bauernhof. Leider nur eine Gewitterwolke, denkt sie nun mit Unbehagen, ein Frühjahrsgewitter. Der Bauer empfängt sie kühl. „Frau Hagen", sagt er, während sie zur Scheune hinübergehen, „in Zukunft müssen Sie Ihre Ziege kürzer halten!" Umständlich öffnet er den kleinen Durchlaß im Scheunentor. „Da, sehen Sie selbst, mein ganzer Vorrat!" Helga betrachtet den für ihre Vorstellung riesigen Strohschober. „Das wird Ihnen meine Ziege aber sehr krummnehmen", entgegnet sie lächelnd. Doch der Ton will nicht recht gelingen. „Und außerdem", sagt er, „außerdem wollte ich Ihnen schon lange raten ... So ein Vieh ist in diesen Zeiten
unwirtschaftlich." Er zieht den Zeigefinger unter dem Hals entlang. „Wenn Sie es nicht selbst können, Frau Hagen, ich mache das schon. Sie könnten das gute Tier einpökeln." „Und die Milch?" fragt sie. „Wer hat heute schon Milch!" hält er ihr mit leidendem Gesicht entgegen. Aus dem Stall ertönt das tiefe Brummen eines Rindes. „Mein Bulle", sagt der Bauer schnell, „ein wertvolles Tier, Herdbuch, eingetragen. Ich hoffe, daß die Zucht bald wie früher ..." Er bricht ab, als er Helgas ironisches Lächeln sieht. „Na ja", sagt er unbestimmt, „ewig kann der Krieg doch nicht dauern!" „Natürlich", unterstützt sie ihn, „natürlich, der Führer wird bald Schluß machen." Wie sie das wohl meint? Heutzutage weiß keiner, was der andere denkt. Diese hirnverbrannte Zeit geht langsam an die Nerven! „Mein Sohn hat geschrieben", lenkt er ab, während er Stroh in Helgas Zeltbahn stopft, „das müßten Sie mal lesen!" „Ist er gesund?" „Gott hab Dank", antwortet er in salbungsvollem Ton und kommt aus seiner gebückten Haltung hoch, „gottlob, wenn er auch in dem verdammten Kessel da oben steckt, in Kurland." Er nickt selbstgefällig. „Aber Meier will ich heißen, wenn die nicht eines schönen Tages nach Süden durchbrechen. Bis zur Tschechei 'runter, wo Schörner die Front hält!" „Meier wollte schon mal einer heißen." Der Bauer bückt sich wieder, um einer Antwort auszuweichen. Sicher meint sie den Göring, denkt er,
der hatte doch gesagt, wenn ein einziges feindliches Bombenflugzeug die Hauptstadt erreichen sollte, wolle er Meier heißen. Auf solche Gespräche soll man sich möglichst nicht einlassen - schon gar nicht jetzt, wo ihnen das Wasser bis zum Hals steht, da sind sie schnell dabei mit dem Einsperren ... Der Bauer reicht ihr das Strohbündel. Sie nimmt es auf den Rücken. „Also, in drei Tagen, bis dahin komme ich aus." „Die Flüchtlinge fressen einem noch die Haare vom Kopf", lamentiert der Bauer, „was die an Stroh brauchen! Als ob sie es auffressen!" Listig blinzelt er sie an. „Sagen Sie mal", beginnt er dann langsam, „Sie haben doch so ein schönes Gartenhaus, Frau Hagen . . . Könnten Sie dort nicht ein paar von meinen Leuten unterbringen?" Helga bleibt stehen. Sie spürt auf einmal, wie ihr Herz pocht. Doch sie kennt den Bauern, weiß, wie hartnäckig er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. „Das Gartenhaus?" fragt sie gedehnt, um Zeit zu gewinnen, „ja wissen Sie, daran gedacht habe ich auch schon .. . Sehr gern würde ich, schon um Sie zu entlasten . . ." „Ich soll noch ein paar Kriegsgefangene kriegen, wissen Sie, für die Feldarbeit, und da könnte man sie gut unterbringen." Helga starrt in den Himmel, hebt den Kopf schief, als könne sie so das brummende Geräusch der anfliegenden Maschinen besser wahrnehmen, und zeigt hinauf: „Da werden wir bald wieder mit einem Angriff rechnen müssen", sagt sie, um ihn von seinem Vorhaben abzulenken. Der Bauer hat die Flugzeuge entdeckt und winkt mit der
Hand ab. „Unsere schöne Insel", sagt er, „aber wir werden es ihnen schon zeigen!" Ein paar Soldaten betreten den Hof und rufen den Bauern heran. Helga geht mit ihrem Bündel davon, aber der Bauer hält sie zurück. „Warten Sie einen Moment, ich bin gleich zurück!" Sie sieht zu, wie die Soldaten mit dem Bauern verhandeln; und sie weiß plötzlich, daß sie nicht einfach davongehen darf. Sie muß ihm plausibel machen, warum er das Gartenhaus nicht benutzen kann. Wenn er zurückkommt, muß sie eine passende Antwort gefunden haben. Eine innere Unruhe erfaßt sie bei dem Gedanken an die Kinder. Wenn sie wüßte, was sie ahnt: Allen voran stürmt Martin gerade in den Garten, zum Gartenhaus hinüber. „Kommt! Wir holen das alte Kasperletheater!" Martin entreißt Heike den Schlüsselbund und versucht aufzuschließen. Gespannt verfolgt Heike seine Handgriffe. Martin drückt fachmännisch das linke Auge zu und blinzelt in das Schlüsselloch. „Da steckt doch was drin!" ruft er und hängt ein handfestes Schimpfwort an. „Du spinnst ja!" Heike versucht ihn wegzustoßen. Sie möchte auch einmal hindurchgucken. „Laß mich mal. . .", schreit sie ungeduldig, „immer nur du . .." Kolja starrt auf die Türklinke, die heftig auf und niedergedrückt wird. Er prüft den Türrahmen und .die Scharniere. Da kann sich ein ausgewachsener Mann dagegenwerfen! Vorläufig müßte sie noch halten. Boris ist blaß. „Wir müssen hier "raus!" sagt er leise. „Das geht nicht." „Willst du warten, bis irgend jemand aufmerksam
geworden ist?" „Hör zu!" unterbricht ihn Kolja, „die Frau kann nicht weit sein. Wenn wir jetzt flüchten, haben wir die Kinder auf den Fersen. Und draußen ist heller Tag . . ." Helga steht noch immer gedankenversunken und erschrickt, als der Bauer wieder neben ihr steht. „Die wollten auch noch ein paar Mann einquartieren", brummt er, „aber ich konnte sie noch mal abwimmeln!" Helga sieht den davonziehenden Soldaten nach, und plötzlich kommt ihr eine Idee. „Ich will Sie ins Vertrauen ziehen", beginnt sie umständlich und sieht sich dabei auf dem Hof um, als hätte sie Angst vor verborgenen Zuhörern. Wieder hat sie ein paar Sekunden gewonnen, um die Lüge abzurunden, die ihr rechtzeitig eingefallen ist. „Doch Sie versprechen mir, darüber zu schweigen?" „Na, Sie kennen mich doch, schießen Sie schon los!" Seine kleinen Augen zwinkern vertraulich. „Mir können Sie sich getrost anvertrauen, Frau Doktor." „Der Kleine ist krank." „Ah!" „Ich möchte nicht, daß die anderen sich infizieren." Er denkt nach. Infizieren? „Daß sie sich nicht anstecken", erklärt sie ihm, weil sie sein nachdenkliches Gesicht sieht. „Na ja - und das Gartenhaus?" fragt er beharrlich. Mein Gott, ist der schwer von Begriff! denkt Helga. „Da habe ich meine Krankenstube eingerichtet, darum brauche ich auch unbedingt das Stroh!" sagt sie mit Ungeduld in der Stimme. Ob er ihr glaubt? Mit einer großzügigen Handbewegung wischt er durch die Luft. „Wegen so einer Grippe machen Sie sich
solche Umstände?" Sie ist unsicher: Hatte sie was von Grippe gesagt? „Typhus hat er!" Er erschrickt, tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. „Typhus, sagen Sie? Mein Gott noch mal, das müssen Sie doch melden!" Helga sieht dem Bauern treuherzig ins Gesicht. „Sie hatten mir doch versprochen zu schweigen." „Ja, ja, Frau Doktor, was ich versprech', das halt' ich schon." Er rückt noch einen Schritt von ihr ab. Jetzt werde ich ihm die Sache noch etwas glaubwürdiger machen, denkt sie froh und erleichtert, daß ihre Lüge so gut angekommen ist. „Die Ärzte haben mit den Verwundeten zu tun, eine Offensive soll in der Luft liegen", sagt sie bedeutungsvoll. - „Wir sind ja auch eine alte Arztfamilie", fährt sie fort, „ich bekomme das schon hin!" In respektvoller Distanz wendet sich der Bauer zum Hoftor. „Kommen Sie mal in drei Tagen vorbei." Er ist leutselig. „Aber 'reinkommen brauchen Sie nicht extra, ich lege Ihnen ein Bündel vors Tor." Mit einer großzügigen Geste schließt er: „Und wegen der Bezahlerei machen Sie sich mal keine Gedanken, das regeln wir später ..."
13 Die Unruhe treibt sie zur Eile an. Als sie das Stroh holen ging, hatte sie ihren Plan noch mal gründlich durchdacht: Die Kinder im Wohnhaus zusammennehmen und ihnen sagen, klipp und klar, daß die Männer im Gartenhaus sind!
Und der Regen vorhin war wie bestellt gekommen, da konnten sie das Haus nicht verlassen, waren ins Spiel vertieft mit ihren alten, wiedergewonnenen Spielsachen, und der Garten lockte nicht... Aber der Zufall hat seine Regelmäßigkeiten, grübelte sie. Umkehren hätte sie sollen, als der Regen nachließ, das Stroh wäre nicht davongelaufen .. . Schon von weitem hört Helga das Geschrei der Kinder. Und dann sieht sie sie, aufgeregt laufen sie vor dem Gartenhaus herum, als sie Helga erblicken, stürmen sie heran. „Das Gartenhaus ist verschlossen!" ruft Heike. „Aber von innen", sagt Martin, in einem Ton, der das Außergewöhnliche hervorhebt. „Wir brauchen doch unser altes Puppentheater", schmollt Heike. Darum hatten sie es so eilig, ins Gartenhaus zu kommen, denkt Helga erleichtert, und sicher haben sie nichts von den Männern bemerkt. „Ja, ihr bekommt es", sagt sie erleichtert. „Hört mal zu, Kinder", fährt sie ruhiger fort, „das Gartenhaus, wißt ihr, das Gartenhaus habe ich nämlich vermietet." „Oooch!" Heike ist enttäuscht. „Da haben wir doch immer so schön gespielt." „Da ist aber doch unsre Ziege drin!" Martin sieht die Angelegenheit von der sachlichen Seite. „Ja, ja, die Ziege." Helga spürt, wie ihr der Faden aus der Hand gleitet, „natürlich, aber in der anderen Ecke ist ja auch noch Platz." „Hast wohl doch Müllers Ziegen 'reingenommen?" sagt Martin altklug, „das wolltest du doch nicht." Jetzt darf ich nicht ausweichen, denkt Helga.
„Im Gartenhaus wohnen zwei Männer", sagt sie geradezu. Sie sieht in erwartungsvolle Gesichter. „Flüchtlinge?" fragt Martin, an das Nächstliegende denkend. „Kriegsgefangene!" Sie will die Verwirrung nutzen, um weiter zu sprechen, aber Martin kommt ihr zuvor: „Du hast heute früh Kartoffeln 'nübergetragen, sagt Heike." „Ja." Die Frau nickt, als sei sie ihnen Rechenschaft schuldig, „ich habe sie den Gefangenen gebracht." „Warum sind sie nicht im Lager?" wirft Heike ein, aber Martin pufft sie in die Seite. „Hast doch gehört, ausgekniffen sind welche, der Lehrer hat's doch gesagt." „Und sie töten Kinder", ergänzt Heike eifrig, „das sind ganz Böse." Sie sieht die Frau mit großen Augen an. Sie hat diese Frage erwartet. Für Kinder erschöpft sich alles in gut oder böse. Was wissen sie, daß damit im Leben nichts anzufangen ist. Ich muß ihnen alles sagen, damit sie begreifen . . . Leicht geht es ihr auf einmal von den Lippen, und die Kinder nehmen jedes Wort auf. Und dann sagt sie: „Die Männer haben auch Kinder, Kinder wie euch, und sie haben sie lieb, wie ich euch liebhabe. Und jeden Tag fragen sie ihre Mutter: Wann kommt Vater?" Sie blickt in die glänzenden Kinderaugen, und sie weiß jetzt, daß sie verstanden wird. „Redet mit niemandem darüber. Warum werde ich euch später erklären. Dann werden die Männer auch ihre Kinder wiedersehen." „Können wir jetzt ins Gartenhaus?" fragt Heike. Helga bringt diese unerwartete Frage etwas aus der Fassung. Hat sie denn nicht verstanden? Oder hat sie alles mit einer Selbstverständlichkeit aufgenommen, die
nur Kindern eigen ist? Die Frau spürt, daß sie den eingeschlagenen Weg bis zu Ende gehen muß. „Na, dann kommt!" sagt sie entschlossen. „Erzähl weiter", bitten die Kinder, „erzähl doch noch..." „Wollt ihr die Männer nicht wenigstens sehen?"
14 Nach wenigen Tagen hatten sie die Kinderherzen erobert. Sie erinnerten sich der Spiele aus ihrer Kindheit, falteten Papiertauben und zauberten mit Schere und Papier Muster und Schnitte, die sie auf einen dunklen Hintergrund klebten. Aus ein paar Brettchen entstand unter Boris' geschickten Händen eine kleine Schubkarre, und sie fiel so stabil aus, daß Heike von ihrem Bruder sogar darin herumgekarrt werden konnte. Eine Woche war wie im Flug vergangen, aber kein Mensch im Ort ahnte, daß sich in dem abgelegenen Haus in der Waldstraße eine tiefe Freundschaft angebahnt hatte. Helga überwachte das Spiel der Kinder. Jeden ihrer Schritte kontrollierte sie, und als sie Holz suchen gehen wollten, das Kolja für Schnitzereien brauchte, ging sie mit ihnen in den Wald, obwohl dieser vor der Haustür begann. Pünktlich holte sie das Stroh ab. Der Bauer hatte nicht versäumt, ihr die Rechnung auf das Bündel vor das Tor zu legen, die, immer um den nächsten Posten erweitert, aufläuft, bis bessere Zeiten kommen ... Die Schwiegermutter übernahm die Einkäufe im Ort, damit Helga, bis auf den Weg zum Bauern, immer im Haus sein konnte.
Die Fensterscheiben vibrieren. Weit weg feuern schwere Geschütze. Die Frau schaltet den Empfänger ein. „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Unsere heldenmütig ringenden Truppen haben den Feind im Raum Stettin zum Stehen gebracht. Der erfolgreiche Abwehrkampf..." Mit halbem Ohr hört sie zu, der Sprecher redet vom Heldentum einzelner, über die Verleihung von Ritterkreuzen ... Kurzentschlossen schaltet sie um und dreht die Rückkopplung stark zurück. „Hier ist London! Die dritte deutsche Panzerarmee mußte vor dem drohenden Durchbruch der zweiten Belorussischen Front auf Prenzlau ausweichen. Das Hauptquartier des OKW wurde nach Schleswig-Holstein verlegt... Marschall der Sowjetunion Shukow stößt mit starken Verbänden auf Berlin vor ..." Am Abend sitzt sie im Gartenhaus und bringt ihnen, wie täglich, die neuesten Nachrichten. „Auf den Rückzugsstraßen hängen Soldaten an Astgabeln, Fahnenflüchtige, wie die SS sagt, als abschreckendes Beispiel .. ." Angst überfällt sie, quälende Angst: Feldgendarmen klopfen an die Haustür, stoßen mit Gewehrkolben, treten die Tür ein ... In der Nacht wühlt sie sich in die Kissen, will nichts hören, nichts sehen. Sie träumt: Die beiden Russen kommen herein, Kolja streicht über ihr Haar. „Sorgen Sie sich nicht, Helga, unsere Genossen kommen ..."
15 In den Morgenstunden kracht es an der Haustür wie von Kolbenhieben. Helga wirft sich den Morgenrock über und eilt an die Tür. Drei Männer sehen sie an, ein Oberfeldwebel und zwei Obergefreite. „Was wünschen Sie?" „Wünschen ist gut", sagt der Oberfeldwebel, „gehört der Schuppen Ihnen?" Sie wirft rasch einen Blick nach dem Gartenhaus hinüber. Die Furcht lahmt ihr die Zunge. Dem Oberfeldwebel mißfällt ihr Zögern. „Können wohl nicht antworten, wie?" „Also - was wollen Sie?" fragt sie. Sie hat ihre Beherrschung wiedergefunden. „Schußfeld brauchen wir, klar! Zur Straße hinüber, und die paar Bäume hier müssen weg." Der Oberfeldwebel geht zum nächsten Obstbaum. „Viel wert sind sie sowieso nicht, die Krücken." „Wir haben sie selbst gepflanzt", widerspricht sie, um Zeit zu gewinnen. „Befehl ist Befehl. Ich kann da nichts für Sie tun. Mich haben die Amis auch nicht gefragt, als sie meine Bude in Klumpen hauten." Die schweren Geschütze wummern wieder. Sie sind näher gekommen, denkt Helga. Auch die Soldaten werden für einen Moment unruhig. Der Oberfeldwebel schnuppert in der Luft herum. „Hier werden bald die Brocken fliegen", prophezeit er. Er nimmt das Seitengewehr und sticht damit in den Obstbaumstamm. „Der fällt!" Ein paar Schritte weiter zeichnet er die buschige Sauerkirsche. Dann wendet er
sich an seine Soldaten. „Müller!" „Jawohl, Oberfeld!" „Hier das erste Geschütz!" „Erstes Geschütz, jawohl!" „Fröhlich!" „Oberfeld?" „Und dort das zweite!" „Jawoll!" „Wiederholen Sie gefälligst, Sie Schlamper!" „Und dort das zweite, Herr Oberfeld, jawoll!" „Warten Sie mal", sagt er und geht ein paar Schritte auf das Gartenhaus zu, „das geht ja gar nicht, Mensch! Nun denken Sie mal 'n bissei mit. Fröhlich, aber dalli." Fröhlich kommt heran. „Jawohl!" „Der Schuppen dort liegt genau im Schnittpunkt von Geschütz zwei und drei, sehen Sie das nicht?" Er überlegt, seine Entscheidung fällt nach Sekunden: „Nehmen Sie zwei T-Minen und basta!" Das Gartenhaus scheint ihm nicht wichtig genug, nicht der Mühe wert, es aus der Nähe zu betrachten. Für einen Augenblick atmet Helga auf. Boris läßt die Gruppe um Helga keinen Augenblick unbeobachtet, er sieht durch den kleinen Ritz im Fensterladen. „Laß mich doch mal", fordert Kolja, doch Boris winkt ihm zu schweigen. „Der Feldwebel zeigt zu uns herüber", berichtet er flüsternd, „kommt näher - jetzt bleibt er stehen .. ." Kolja zieht sein Messer hervor. „Und die anderen?" „Stehen neben ihm." „Ich habe das Messer, die zwei nehm' ich, versuche, ihre Gewehre zu bekommen. Kümmere dich um den
Feldwebel. Was macht die Frau?" „Jetzt redet sie mit ihnen . . ." „Ich werde es nicht zulassen, daß Sie das Haus sprengen", sagt sie, ihre senkrechte Stirnfalte vertieft sich. Der Oberfeldwebel stützt die Arme in die Fettpolster der Hüften. Er lacht. „So einen Kommandeur hab' ich mir schon lange gewünscht, einen mit langen Haaren ..." Mit gestrecktem Arm zeigt er auf das Wohnhaus. „Müller! Das wird unser Zuggefechtsstand, verstanden !" Ein zischendes Pfeifen enthebt den Untergebenen der Antwort. Helga sieht nur noch, wie sich die Soldaten flach auf den Boden werfen. Eine Detonation wirbelt Erde in die Luft. Als sie den Kopf heben will, pfeift die nächste Granate heran und schlägt kurz vor dem Gartenhaus ein. Der Fensterladen hängt schräg in der Angel, und die Soldaten kriechen auf allen vieren hinter das Wohnhaus. Helga bleibt bei ihnen. „Sehen Sie zu, daß Sie ein Loch finden", rät der Oberfeldwebel, „die Luft wird eisenhaltig." Er winkt seinen Soldaten. „Der Zauber scheint schon loszugehen!" Sprungweise arbeiten sie sich zum Wald hinüber. Die nächste Lage sitzt genau auf der Straße. Die Russen greifen an, denkt sie, sie überrennen die Frontlinie ... Die Kinder! Sie müssen in den Keller, schnell... Die nächste Salve zerbirst, die Einschläge liegen jetzt weiter weg. Knapp über die Baumkronen brausen zwei Tiefflieger. Sie erkennt noch den roten zackigen Stern auf graugrünem Grund ... Boris hält die Hand vor das Gesicht.
Kolja reißt ein Stück von seinem Hemd in Streifen. „Zeig her!" Eine unbedeutende Schnittwunde, stellt er beruhigt fest. „Das ist weniger, als es aussieht", tröstet er Boris, „es blutet nur stark." „Raus jetzt!" ruft Boris. Der Fensterladen wippt in dem oberen Haspen. Die Scheibe ist zersplittert, die Gardine weht ins Zimmer herein. Dann werden sie vom Luftdruck fast zu Boden geworfen. Boris späht über das Fensterbrett. „Das Haus", schreit er, „es ist getroffen - die Kinder ..." Kolja will hinausstürmen, aber Boris zieht ihn heftig zurück. „Los! Bluse 'runter." Kolja versteht nicht sofort. „Sollen sie uns gleich erkennen?" Sie werfen die Blusen ab, und nur mit einem Hemd bekleidet, eilen sie zum Haus hinüber. An der Hausecke, zur Straße hin, züngeln Flammen aus dem Wohnhausdach. Helga reißt die Tür auf, sie stürzen ihr nach. „Gehen Sie zu Kindern!" schreit Kolja. „Wo sind Eimer?" Sie stürzen sich auf die Gefäße, füllen sie mit Wasser und hasten die schmale Treppe hinauf zum Boden. Ein Teil des Hauses brennt ab, bevor sie den Brand eindämmen können. Seit einer Stunde fällt kein Schuß mehr. Dafür rollen jetzt Fahrzeuge in ununterbrochener Folge zurück, mitten drin zwei Sturmgeschütze. Eine motorisierte Küche wühlt durch den Sandweg und wird von den Sturmgeschützen in den Graben gedrückt. Der Koch und seine Begleiter verlassen das Fahrzeug. Eine Gruppe Infanteristen trottet vorbei, das Gewehr liegt quer über ihrer Schulter, und sie hängen die
Unterarme um die Enden, als hingen sie an der eigenen Last. Die beiden Russen stapeln Balken an der ausgebrannten Hausecke. Keiner beachtet sie, jeder hat mit sich zu tun. Bis plötzlich ein khakifarbener Kübelwagen den in Auflösung begriffenen Kolonnen entgegenfährt, frontwärts. Da verständigen sie sich mit einem Blick und verschwinden im Haus. Die Streife stellt aus den flüchtenden Soldaten eine Kampfgruppe zusammen, und flankiert von den Feldpolizisten, traben sie der Kampflinie entgegen: Marinesoldaten, Volkssturm, Bautruppen der Organisation Todt... Helga hat die Kinder im Keller des Hauses untergebracht, und sie weiß sie in sicherer Obhut von Boris und Kolja. Wenige Stunden noch, dann wird der Krieg zu Ende sein! Das Haus, denkt sie befriedigt, wird bald wieder aufgebaut sein, weil die beiden verhinderten, daß es bis auf die Fundamente abbrannte. Sie sitzt zwischen den aufgestapelten Balken und starrt auf die Straße. In chaotischer Unordnung schieben sich Menschengruppen hin und her. Zwischen den hastenden Soldaten irren Zivilisten mit gebrechlichen Fahrzeugen, und nach Osten eilende Alarmeinheiten stoßen sie rücksichtslos vom schmalen Weg. Eine Sanitätskolonne bahnt sich meterweise einen Weg nach Bansin, wo ein Verbandplatz eingerichtet ist. Die Verwundeten stöhnen, und gerade zieht eine Gruppe Verwundeter vorüber, die in ihrer Mitte einen Soldaten schleppen, dem, vor wenigen Minuten vielleicht, der Unterschenkel abgerissen wurde. Laut jammert er nach Wasser. Helga reicht ihm einen Topf mit Milch. Als sie sich
wieder abwendet, sieht sie den alten Bauern auf ihr Haus zueilen, und bevor er darin verschwinden kann, verstellt sie ihm den Weg. „Sie müssen mir helfen!" schreit er, und seine Augen glänzen, als sei er seiner Sinne nicht mehr mächtig, „die Hunde haben meinen Hof zusammengeschossen!" . „Sehen Sie nicht", ruft sie ihm zu und zeigt auf ihr Haus, aber er läßt sie nicht weiter zu Wort kommen: „Ich muß mein Vieh retten", brüllt er sie an und weist auf das Gartenhaus, „oder denken Sie, ich lasse die Tiere von den Russen abschlachten?" Er wendet sich zu dem Haus hinüber, aber die Frau reißt ihn am Arm zurück. „Keinen Schritt!" fährt sie ihn an. „Sie wissen doch, meine Kinder." . Drohend erhebt er den Arm. „Nehmen Sie sie ins Haus!" Dann wendet er sich ab. „Sobald ich hier durchkomme, bin ich mit dem Vieh zurück", schreit er und verschwindet im Gewühl der Soldaten. Sie sieht, wie er, Deckung suchend, von Baum zu Baum springend, davonrennt.
16 „Geben Sie uns Spaten, Helga", sagt Boris, nachdem sie ihm von der Absicht des Alten, aus dem Gartenhaus einen Viehstall zu machen, unterrichtet hat, „wir bauen einen Bunker!" Seit Stunden arbeiten sie nun am äußersten Ende des Gartens, gönnen sich kaum eine Minute für einen Schluck warmen Tee, den die Frau ihnen bringt. Die Kinder graben von der anderen Seite, während Helga
Balken herankarrt. Die Schwiegermutter packt die notwendigsten Sachen zusammen. „Nun bauen wir doch den Bunker", sagt Boris zu Kolja und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Als sie die erste Balkenlage über das Loch legen, brausen wieder Jagdflieger über die Waldkante heran, aus ihren Bordwaffen jagen lange Feuerstöße. Sie fliegen eine Schleife, und Boris sieht, wie sie das Ziel erneut angreifen; die Nasen der Maschinen zielen auf die Waldstraße. „Hinlegen!" schreit er, und während Kolja die Kinder in den halbfertigen Unterstand zieht, springt Boris hinaus. In Zickzacksprüngen rennt er zum Haus hinüber. Im Haus warten sie den Anflug ab, keuchen zum Unterstand zurück, und kaum sind alle untergebracht, da trifft eine MG-Garbe die Seitenwand des Wohnhauses. Immer wieder fliegen die Jäger an, um den Rückzug des Gegners abzuschneiden. Eine Feuerpause nutzen die Männer, die Bunkerdecke zu verstärken. Boris und Kolja wagen einen Vorstoß zum Haus, schleppen Balken heran und bauen sie ein. Doch dann schwillt der singende Ton wieder an, Anflug, Detonationen. Als der Angriff vorüber ist, wird es im Garten lebendig. Kommandorufe, schneidend kurz. Kolja, am Ausguck, ruft: „Der Feldwebel kommt, sie bringen Pak in Stellung!"
Die Kinder drücken sich weinend an die Frauen. Neue Kommandorufe, Axthiebe ... „Sie hacken einen Baum um", ruft Kolja. Boris will sich an Kolja vorbeischieben. „Bist du verrückt", schimpft Kolja, „sie sollen dich wohl wie ein Sieb durchlöchern?" Ein MG-Schütze hat ein Dreibein aufgestellt und schießt auf die erneut angreifenden Jagdflieger. Kolja möchte hinausrennen, eingreifen. Blödsinn, denkt er, da kann ich auch mit bloßen Händen einen Panzer angehen ... „Die Deutschen besetzen das Wohnhaus, sie erwarten den Angriff", ruft Kolja. Schüsse peitschen, und dann trommelt eine MPi, ein Querschläger surrt in den Sand. „Das sind unsere", ruft Kolja erregt, doch das Hämmern eines MG-42 läßt ihn verstummen, er weiß, daß sie zwischen den Kämpfenden, direkt im Schußfeld, liegen. Kolja muß seinen Posten aufgeben, er hockt sich neben Boris. Der Kampflärm ebbt plötzlich ab, vergeht so schnell, wie er gekommen ist... Dann hören sie Stimmen, russische Laute! „Gib acht, Alexej, ein Bunker!" hört Kolja jemand rufen. Helga springt auf, stößt mit dem Kopf an die Bunkerdecke und drängt zum Ausgang. Boris hält sie zurück. „Wir gehen zuerst." Vor dem Bunker stehen drei Rotarmisten, die Gewehre im Anschlag. Sie heben die Arme über den Kopf. „Wir sind Russen, Genossen", sagt Kolja.
Hinter dem Bunker taucht ein Sergeant auf, die Maschinenpistole hängt ihm um den Hals. Sein Blick gleitet musternd über die schmutzige französische Militärbluse. Mit der geballten rechten Faust schlägt er hart in seinen linken Handteller. „Tag, Genossen!" sagt er, und Kolja hört einen ironischen Unterton aus seiner Stimme. Kolja will etwas sagen, doch der Sergeant schneidet ihm das Wort ab. „Hier ist nicht der Ort... Nehmt die Gewehre 'runter!" ruft er den noch immer im Anschlag stehenden Soldaten zu. Dann wendet er sich wieder an die beiden: „Wir werden sehen ..." „Sind noch welche drin?" fragt einer der Rotarmisten. „Deutsche", sagt Kolja kurz, aber Boris ergänzt schnell: „Frauen und Kinder ..." Der Sergeant hebt die MPi an, und einer seiner Soldaten sieht hinein. „Stimmt!" Der Sergeant nickt mit dem Kopf, die Rotarmisten eskortieren Boris und Kolja und gehen mit ihnen davon. „Ladno", sagt der Sergeant zu seiner Gruppe, die das Wohnhaus durchsucht hat und nun neue Befehle erwartet. Jahre danach. Helga hält einen dicken Brief mit sowjetischen Briefmarken in der Hand. Noch bevor sie ihn öffnet. weiß sie: Es ist das erste Lebenszeichen ihrer Freunde Kolja und Boris. Sie setzt sich auf einen Baumstumpf. Hier stand die buschige Sauerkirsche, die in letzter Minute von den Soldaten gefällt worden war, und dann sieht sie hinüber zum Gartenhaus, das jetzt einen hellen, freundlichen
Anstrich bekommen hat. Auch die Spuren des Brandes am Wohnhaus sind verschwunden. Es ist ein warmer Sonnentag, und Kinder tummeln sich bei vergnügtem Spiel am nahen Strand. Schon in den ersten Tagen nach dem Krieg hat sie inmitten der Trümmer, die er hinterließ, begonnen, die russische Sprache zu erlernen. Heute spricht sie die Sprache ihrer Freunde perfekt. Dann liest sie: „Es waren Tage voller Angst und Tapferkeit, Tage voller Zuversicht und Hoffnung; Tage, die im Leben unserer beiden Völker in immerwährender Erinnerung bleiben müssen. Nicht nur uns haben Sie das Leben gerettet, indem Sie Ihr eigenes dagegen setzten, sondern es war mehr: Sie haben geholfen, uns den Glauben an Ihr großes Volk wiederzugeben ... Wir haben eine gemeinsame, schöne Heimat... Helga dachte an den Brief, als sie am nächsten Morgen vor ihrer Klasse stand und sie ihren Schülern im Unterricht das Wort Heimat erklärte.