Gert Hafner
Flirt mit dem Wahnsinn Inhaltsangabe LSD-Rausch – so lautet die ärztliche Diagnose! Die Polizisten erfaßt ...
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Gert Hafner
Flirt mit dem Wahnsinn Inhaltsangabe LSD-Rausch – so lautet die ärztliche Diagnose! Die Polizisten erfaßt ein Grauen: Der verhaftete Fahrer liegt am Boden der Ernüchterungszelle und blickt verzückt lächelnd, mit beiden Händen nach etwas Unsichtbarem greifend, zur Decke! Augenzeugen berichten, daß die junge Frau wie in Trance vor seinen Wagen gelaufen sei. Auch hier ein ›phantastischer Rausch durch die Droge des Vergessens‹? Dr. Thomas Bruckner, der bekannte Assistenzarzt der Bergmannklinik, führt einen stillen, aber erbitterten Kampf gegen den immer mehr um sich greifenden Flirt mit dem Wahnsinn …
Bastei-Arztroman Nr. 30 Copyright 1966 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe Bergisch Gladbach, Scheidtbachstraße Printed in Germany Ausstattung: M. Peters, Köln Gesamtherstellung: Presse-Druck-und Verlags-GmbH, Augsburg Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
I
N
och zwölf Stunden!« Der Famulus Johann Heidmann saß neben Dr. Thomas Bruckner und sie fuhren durch die Aachener Straße in Köln in Richtung Stadtmitte. Der Arzt trat auf die Bremse, denn die Verkehrsampel war auf Rot übergesprungen. Fragend sah er den Studenten an. »Zwölf Stunden? Was meinen Sie damit?« Johann Heidmann lehnte sich zurück. Behaglich reckte er sich und meinte: »Noch zwölf Stunden bis zum Beginn meines Urlaubs! Es war gerade acht Uhr …« Er hob seine Armbanduhr hoch und hielt sie Dr. Bruckner hin. »In zwölf Stunden – das heißt morgen früh um acht Uhr – fahre ich in Urlaub.« Dr. Bruckner schaltete den ersten Gang ein. Die Ampel hatte auf Grün gewechselt. Sein Sportwagen schoß allen anderen voraus über die Kreuzung. »Das hätte ich ja bald vergessen!« sagte der Arzt. »Wohin wollen Sie denn fahren?« Johann Heidmann zuckte mit den Schultern. »Es mag komisch klingen, wenn ich Ihnen sage, daß ich es noch nicht weiß.« Erstaunt betrachtete Dr. Bruckner seinen Begleiter. »Sie wollen morgen Ihren Urlaub antreten und wissen nicht, wohin Sie fahren?« Der Student nickte lächelnd. »So ist es! Ich habe mir vorgenommen, diesmal einfach dem Schicksal die Wahl meines Urlaubsziels zu überlassen.« Dr. Bruckner fuhr in eine Seitenstraße und mußte warten, weil Fußgänger die Straße überquerten. Er fragte: »Und wie wollen Sie das praktisch anstellen?« »Auch das möchte ich dem Schicksal überlassen! Irgendwie werde 1
ich einen Hinweis bekommen, wohin ich fahren soll. Vielleicht ist es eine Zeitungsanzeige – vielleicht ist es die Erwähnung eines Städtenamens im Rundfunk … Ich werde jedenfalls abwarten! Sobald ich glaube, daß das Schicksal gesprochen hat, nehme ich einen Zug oder ein Flugzeug oder was immer zu dem Ziele führt und brause ab …« Dr. Bruckner war weitergefahren. An der nächsten Ecke mußte er so stark auf die Bremse treten, daß sein Begleiter mit dem Kopf fast gegen die Windschutzscheibe geprallt wäre. Aus der Nebenstraße kam ein grüner Sportwagen gebraust. Er kümmerte sich nicht um Vorfahrt, sondern raste mit einer polizeiwidrigen Geschwindigkeit um die Ecke. Die Räder des fremden Wagens schrien auf. Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte der Wagen ins Schleudern geraten. Aber es ging noch gut, und er brauste nach einem kurzen Zickzackkurs davon. Famulus Heidmann war blaß geworden. Erschrocken blickte er Dr. Bruckner an. Dieser schüttelte den Kopf und meinte: »Da scheint einer betrunken gewesen zu sein.« Er setzte seinen Wagen wieder in Gang. »Ich habe es Ihnen immer gesagt, Herr Heidmann, daß Sie auch in der Stadt den Sicherheitsgurt anlegen sollen. Sie sehen, was passieren kann! Hätte ich noch stärker gebremst, wären Sie mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe gefallen. Und das wäre beiden nicht gut bekommen! Dann hätte das Schicksal aber sehr schnell gesprochen und einen Ort für Sie ausgesucht, an dem man nicht allzu gern den Urlaub verbringen möchte …« Johann Heidmann seufzte. »Es wäre tatsächlich bald schiefgegangen.« Er suchte nach den beiden Enden des Sicherheitsgurtes und ließ das Schloß einrasten. »Ich würde mich nicht wundern, wenn wir gleich wirkliche Opfer dieses verrückten Fahrers auf der Straße auflesen müßten!« Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, als er erschrocken den Arm Dr. Bruckners erfaßte. »Meine Prophezeiung scheint tatsächlich schon eingetroffen zu sein!« In der Ferne ertönte ein dumpfer Knall, als ob ein schwerer Koffer von einem Lastwagen gefallen wäre. 2
Unwillkürlich verringerte Dr. Bruckner einen Augenblick das Tempo. Aber der Schreck währte nur eine Sekunde. Dann drückte der Arzt auf das Gaspedal und der Wagen schoß mit erhöhter Geschwindigkeit die Straße hinunter der Stelle zu, woher das dumpfe Geräusch gekommen war.
Die junge Frau, die neben dem nicht viel älteren Fahrer in jenem grünen Sportwagen saß, schrie erschrocken auf, als ihr Auto knapp dem Zusammenstoß mit dem roten Sportkabriolett entgangen war. Erschrocken griff sie nach dem Arm ihres Begleiters. Aber der schüttelte sie ab. »Laß den Unsinn«, herrschte er sie an, »ich muß konzentriert fahren! Wenn du mich anfaßt, passiert wirklich noch ein Unglück.« »Aber wir hätten doch eben beinahe …« Die junge Frau sah sich ängstlich um, ob der Wagen, den sie gerade in Bedrängnis gebracht hatten, ihnen vielleicht nachkäme. Erleichtert atmete sie auf. »Der fährt uns wenigstens nicht nach«, sagte sie. »Wenn schon …« Der junge Mann am Steuer gab noch mehr Gas. »Was kann der mir schon wollen …«
Trotzdem warf er einen ängstlichen Blick in den Rückspiegel. »Soviel schneller als erlaubt fahre ich ja nun auch nicht! Und außerdem …«, er warf das Steuer herum und bog in die Dürener Straße ein, »… fahre ich diese Strecke jeden Tag. Ich kenne sie im Schlaf. Wenn man einen Weg so gut kennt, kann einem nichts passieren.« Die Begleiterin des so selbstsicheren Fahrers wollte gerade widersprechen – aber da schrie sie schon wieder auf. Sie starrte entsetzt auf die Straße und schlug die Hände vor das Gesicht, um nicht zu sehen, was sich jetzt ereignete: Eine junge Frau stand auf dem Bürgersteig dicht an der Bordschwel3
le. Sie hatte die ganze Zeit die Straße hinuntergeschaut. Man meinte, sie warte vielleicht auf einen Autobus. In dem Augenblick aber, als der grüne Sportwagen die Straße entlanggebraust kam, war sie mitten in den rasenden Wagen gelaufen, der noch das Grün der Ampel an der Kreuzung zum Stadtwaldgürtel erreichen wollte. Es gab einen dumpfen, lauten Knall. Der grüne Sportwagen schleuderte; einen Augenblick lang sah es aus, als wollte er mit unverminderter Geschwindigkeit den Weg fortsetzen, um sich den Folgen zu entziehen, die dieser Unfall mit sich bringen würde. Passanten riefen empört. Sie waren dem flüchtenden Auto nachgelaufen … Aber es hielt schon, denn die Verkehrsampel hatte auf Rot umgeschaltet. Eine Reihe von Wagen stand davor und blockierte die Straße. »Das war doch Lydia Heusmann?« Die junge Frau, die neben dem Fahrer saß, hatte die Hände vom Gesicht genommen und blickte zurück. Ihr Begleiter antwortete nicht. Er saß mit zusammengekniffenem Mund am Steuer und starrte vor sich hin. Überlegte er wirklich, ob er weiterfahren oder sich um sein Opfer kümmern sollte? Die Ampel zeigte Grün. Die wartenden Autos fuhren an und wollten so schnell wie möglich der Unfallstätte entkommen. Der junge Mann schaltete gleichfalls und fuhr erschrocken zusammen, als er einige Passanten mit entschlossenen Gesichtern auf sich zukommen sah. »Der Kerl ist ja besoffen«, hörte man rufen. Ein älterer Mann war an den Wagen getreten. Andere Passanten folgten und im Nu war der grüne Sportwagen umringt. Verstört sah der Fahrer auf die drohenden Gesichter und murmelte: »Ich wollte eben zurückfahren. Lassen Sie mich …« Er gab Gas und fuhr los. Die Menge wollte hinter ihm herlaufen, aber er machte eine Kurve und fuhr auf der anderen Seite zurück. Er hielt gegenüber der Stelle des Unfalls, den er verursacht hatte. »Da ist ja auch der rote Sportwagen«, flüsterte die Begleiterin dem 4
Fahrer zu, als sie Dr. Bruckners Wagen die Straße entlangkommen und vor der angefahrenen Frau halten sah.
»Haben wir kein Bett mehr frei?« Professor Bergmann betrachtete den Belegungszettel, der von den einzelnen Stationen am Ende eines Tages ausgefüllt werden mußte. Oberarzt Wagner nickte: »Wir sind wieder einmal bis unters Dach besetzt! Das ist aber ganz angenehm.« Professor Bergmann schaute erstaunt hoch und reichte den Zettel zurück. »Das verstehe ich nicht.« Oberarzt Wagner faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in seine Kitteltasche. »Der Urlaubsbetrieb hat eingesetzt, und ein Drittel aller Kollegen ist ab morgen nicht mehr im Haus. Wir arbeiten sozusagen nur mit halber Belegschaft. Da können wir keine schwierigen Zugänge gebrauchen.« Das Gesicht des Professors verzog sich unwillig. »Sie wissen, daß ich darauf keine Rücksicht nehme. Dringende Fälle werden aufgenommen; und wenn wir Notbetten geben.« Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie, um anzudeuten, daß die Unterredung mit dem Oberarzt beendet sei. »Ich werde heute ausnahmsweise nach Hause fahren. Ich will einmal wieder mit meiner Frau ins Theater gehen. Wir haben schon einige Male unser Abonnement verfallen lassen. Wenn irgend etwas Dringendes ist, können Sie mich anrufen. Aber bitte nur, wenn es wirklich dringend ist. Ich möchte auch einmal entspannen – obwohl ich selbst im Theater nicht die richtige Ruhe finden werde …« »Warum nicht?« Dr. Wagner schob die randlose Brille, die auf die Nasenspitze gerutscht war, mit einer für ihn charakteristischen Geste zurück. »Weil ich immer das Gefühl habe, es könnte ein Anruf kommen! Da sitzt man wie auf heißen Kohlen – sobald im Zuschauerraum ein Geräusch zu hören ist, glaubt man, daß man geholt würde.« 5
Oberarzt Wagner sagte im Hinausgehen: »Sie können sich darauf verlassen, Herr Professor, daß ich Sie nur in den allerdringlichsten Fällen holen lasse. Schließlich bin ich ja lange genug in der Klinik, um selbst entscheiden zu können, was notwendig ist. Sie wissen, daß Sie sich auf mich verlassen können!« Professor Bergmann nickte. Er trat auch auf den Flur und schloß die Tür hinter sich ab. »Ich komme gleich mit Ihnen«, sagte er, »denn wenn ich mich noch lange in der Klinik aufhalte, dann besteht die Gefahr, daß ich überhaupt nicht mehr loskomme. Im Augenblick scheint eine kleine Pause zu sein. Da ist es gut, wenn man verschwindet.« Er wartete, bis der Oberarzt die Tür des Fahrstuhls geöffnet hatte. Dann betrat er den Lift und nickte Dr. Wagner noch einmal zu. »Bis morgen also«, sagte er lächelnd, »hoffen wir jedenfalls, daß wir uns erst morgen wiedersehen!«
Dr. Bruckner hatte seinen Wagen an den Straßenrand gefahren. Er und sein Begleiter sprangen hinaus und eilten zu dem angefahrenen Opfer des Unfalls. Aber die Menge der Neugierigen stand wie eine Mauer um die Liegende herum. Unwillig schauten die Menschen ihn an, als Dr. Bruckner durch die Mauer gehen wollte. »Nun drängeln Sie mal nicht so …«, stellte sich ein Halbwüchsiger Dr. Bruckner bewußt in den Weg. »Ich bin Arzt!« Er schob den jungen Mann unwillig zur Seite. Der wollte am liebsten eine Rauferei anfangen. Aber da griff die Menge ein. »Lassen Sie den Arzt durch!« Allmählich wichen die Menschen zurück und gaben eine Gasse frei. Dr. Bruckner und Johann Heidmann standen neben der am Boden liegenden Frau. Eine große Lache Blut war am Boden zu sehen. »Sie ist tot«, hörte Dr. Bruckner jemanden hinter sich sagen. Der Arzt beugte sich herab und wollte nach dem Puls der Verletzten greifen. Aber da erschrak er. Als er den Arm anheben wollte, mußte er feststellen, daß die Hand daneben lag. Ein scharfes Wagenteil hatte sie 6
vom Unterarm abgetrennt. Nur eine kleine Hautbrücke, die geblieben war, erinnerte daran, daß die Hand an den Arm gehörte. Die durchgetrennte Pulsader pumpte das Blut in rhythmischen Intervallen aus dem Körper. Wie eine feine Fontäne spritzte es in die Luft, als Dr. Bruckner den Armstumpf in die Höhe hob. Das Blut traf das Gesicht des Arztes und übersäte seinen Anzug mit unzähligen, kleinen, roten Perlen. Erschrocken wich die Menge zurück, als sie die Verletzung gewahr wurde. Eine Frau schrie hysterisch auf. Sie hielt zwar die Hand vors Gesicht, spreizte aber die Finger auseinander, um zwischen ihnen hindurchsehen zu können. Der junge Mann, der den Unfall verursacht hatte, wurde fast gewaltsam von zwei Passanten herangeführt. Ihm standen Schweißtropfen auf der Stirn. Als er das junge Mädchen sah, das am Boden lag, taumelte er. »O Gott!« murmelte er halblaut. Er wandte sich wie hilfesuchend nach seiner Begleiterin um. Aber die war verschwunden. Aus der Ferne ertönten nun die Sirenen eines Polizeiautos. Es kam rasch näher – die Beamten parkten den Wagen direkt vor Dr. Bruckners rotem Sportkabriolett. Sie sprangen heraus. Die Menge wich noch weiter zurück. »Sind Sie Arzt?« fragte einer der beiden Beamten Dr. Bruckner. Dr. Bruckner riß gerade seinen Gürtel von der Hose. Er schlang ihn um den Oberarm der Verletzten. Johann Heidmann hatte sich daneben gekniet, und gemeinsam drehten sie den Gürtel um den Oberarm der Blutenden fest. »Ja«, beantwortete Dr. Bruckner kurz die Frage des Polizeibeamten. Er wandte seine Aufmerksamkeit keinen Augenblick von dem Arm, und mit aller Kraft drehte er den Gürtel zusammen. Sorgsam beobachtete er dabei die Blutfontäne. Je mehr Dr. Bruckner den Gürtel anzog, desto schwächer wurde die Kraft des Strahls, bis er schließlich ganz versiegte. »Die Verletzte muß sofort ins Krankenhaus geschafft werden!« ordnete Dr. Bruckner an, als er sich erhob. 7
»Mein Kollege hat die Feuerwehr bereits benachrichtigt.« Der Polizist sagte es und deutete mit dem Kopf zum Polizeiwagen hin, in dem der Beamte Platz genommen hatte und telefonierte. »Sind Sie der Fahrer des Unglückswagens?« fragte dann der Polizist den jungen Mann. Er mußte seine Frage wiederholen, ehe der andere völlig verstört nickte. »Ihre Papiere bitte!« Der Polizist streckte die Hand aus. Wieder mußte er die Aufforderung wiederholen, ehe ihm der Fahrer den Ausweis reichte. »Peter Patrick«, las der Beamte. »Das sind Sie?« Der Angesprochene nickte. Er wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte ihm. »Haben Sie getrunken?« fragte der Polizist. Er ging nahe an den Fahrer heran und versuchte, in seiner Ausatmungsluft Alkoholgeruch festzustellen. »Nein.« Die Stimme des jungen Mannes klang nicht sehr überzeugend. »Da war noch jemand im Wagen«, mischte sich einer der Umstehenden ein, »es war eine blondgefärbte, junge Dame!« »Wen hatten Sie noch im Wagen?« Der Polizist gab Peter Patrick seine Papiere zurück. Aber dieser antwortete nicht. Der Polizist meinte darauf achselzuckend: »Wenn Sie es mir nicht sagen wollen, werden Sie es dem Richter sagen müssen!« Er winkte seinem Kameraden, der aus dem Auto gekommen war, und fragte: »Kommt der Rettungswagen bald?« Der andere Polizist nickte. »Er ist unterwegs!« Jetzt mischte sich ein Passant ein. »Der junge Mann hat keine Schuld«, sagte er, »ich habe gesehen, daß sich die junge Frau vor das Auto gestürzt hat.« Der Polizist runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?« fragte er. Dann wandte er sich an die Umstehenden: »Hat das sonst noch jemand gesehen?« Vier Leute meldeten sich. »Wir standen hier an der Autobushaltestelle. Da konnten wir alles genau beobachten.« 8
Einer sagte aus: »Es war, als ob die Dame gerade auf dieses Auto gewartet hätte! Sie stand schon eine Weile da.« Ein Mann, dessen Kittel darauf schließen ließ, daß er Friseur war, war herangetreten und sagte: »Ich habe dort meinen Friseurladen.« Er zeigte auf einen Laden, der unmittelbar an der Bushaltestelle lag. »Ich hatte gerade nichts zu tun und schaute durch die Fensterscheibe. Da habe ich mich gewundert, warum die junge Frau einen Bus nach dem anderen vorbeifahren ließ! Es sah wirklich aus, als habe sie gerade auf dieses grüne Auto gewartet. Denn als es herankam, warf sie sich davor. Sie hätte sich schon unter so viele andere Autos stürzen können, die vorher vorbeikamen …« »Vielleicht hat sie erst Mut sammeln müssen?« meinte ein anderer. »Was heißt hier Mut«, ereiferte sich der Friseur, »wenn ich Selbstmord begehen will, dann habe ich den Mut, oder ich habe ihn nicht. Und wenn ich ihn habe, dann mache ich auch schnell Schluß.« Kein Mensch beachtete mehr die Verletzte. Hätte sich Dr. Bruckner nicht um sie gekümmert, so wäre sie liegengeblieben. Sie schien kaum noch zu diesem Verkehrsunfall zu gehören, dessen aktenmäßiges Festhalten wichtiger schien als die Bergung der Verunglückten. In der Ferne hörte man nun das Tuten des Rettungswagens. Der zweite Polizist hatte gerade damit begonnen, die Spuren auszumessen. Er ließ von dieser Tätigkeit ab und drängte zunächst die Leute zurück, damit das Feuerwehrauto eine Gasse bekam, durch die es fahren konnte. Peter Patrick, der Schuldige, hatte die ganze Zeit teilnahmslos dagestanden. Mit gesenktem Kopf starrte er vor sich hin. Erst als er das Horn des Feuerwehrautos vernahm, kam einen Augenblick Bewegung in ihn. Es sah aus, als ob er am liebsten davongelaufen wäre. Der Polizist, der seine Reaktion beobachtet hatte, griff ihn sofort am Arm. Er packte so fest zu, daß Peter Patrick leise aufschrie. Der kräftige Druck schien ihn aus seinem Trancezustand zu erlösen. »Kann ich meinen Führerschein wiederhaben?« fragte er. Der Polizist schüttelte den Kopf. »Nein! Ich muß Sie vielmehr bitten, 9
mit zur Polizeistation zu kommen! Wir müssen eine Blutprobe auf Alkohol bei Ihnen machen.« »Ich habe nichts getrunken!« fuhr Patrick auf. Aber der Polizist hörte nicht auf seine Beteuerungen. Er öffnete den Schlag des Polizeiwagens und lud mit einer ironischen, einladenden Handbewegung Peter Patrick ein, im Wagen Platz zu nehmen. Unter den Zuschauern war ein Streit ausgebrochen. Die einen nahmen für den Fahrer Partei, die anderen gegen ihn. Fast sah es so aus, als würde es noch zu Tätlichkeiten kommen. Aber das Erscheinen des Rettungswagens, der jetzt dicht an die Verletzte heranfuhr, machte allen Diskussionen ein Ende. Die Zuschauer schwiegen. Sie schauten zu, wie die Feuerwehrleute die Bahre neben die Verletzte stellten und diese aufluden. »Vorsichtig mit der Hand!« Dr. Bruckner hatte den Arm der Verletzten ergriffen. Er hielt ihn fest und sorgte dafür, daß die Hautbrücke, die die Hand noch mit dem Arm verband, nicht abriß. Die Feuerwehrleute wollten zunächst Dr. Bruckner den Zugang zu dem Krankenwagen verwehren. Aber da erkannte einer von ihnen den Arzt. »Entschuldigen Sie«, sagte der Feuerwehrmann, »ich wußte nicht gleich, wer Sie sind. Dann werden wir die Verletzte auch in die Bergmannklinik bringen?« Dr. Bruckner nickte. »Ja. Ich bitte darum.« Dann winkte er Johann Heidmann. »Fahren Sie bitte meinen Wagen zurück, hier sind die Schlüssel. Ich will bei der Verletzten bleiben.«
»Bringen Sie die Patientin gleich in den Operationssaal!« Dr. Bruckner war ausgestiegen und mußte den Arm der Verletzten sehr vorsichtig halten. Als der alte Pförtner sah, daß Feuerwehrleute eine Unfallverletzte in die chirurgische Klinik bringen wollten, kam er aus seiner Loge gehumpelt. »Nichts da!« rief er laut über den Gang. »Sind Sie angemel10
det? Nein! Die chirurgische Klinik ist voll. Es kann niemand aufgenommen werden!« Da mischte sich Dr. Bruckner ein: »Die Patientin kommt in den Operationssaal!« Erst jetzt erkannte der Pförtner den Arzt. Er wurde verlegen und stotterte: »Es tut mir leid, aber es ist eine Anordnung vom Herrn Oberarzt, daß niemand aufgenommen werden darf.« »Ist der Chef nicht im Hause?« Der Pförtner schüttelte den Kopf. »Nein, der ist vor zehn Minuten weggefahren.« Dr. Bruckner winkte den beiden Trägern zu. »Kommen Sie«, drängte er, »wir müssen uns beeilen!« Er warf einen Blick auf die Verletzte. Sie lag noch immer bewußtlos auf der Bahre. Auf ihrem Gesicht war jetzt ein seltsames Lächeln zu sehen. Hatte sie einen schönen Traum, oder freute sie sich darüber, diese Tat vollbracht zu haben? Der alte Pförtner humpelte dienstbeflissen dem kleinen Zug voran. Er riß die Fahrstuhltür auf. »Soll ich den OP benachrichtigen?« fragte er. Dr. Bruckner nickte: »Schwester Euphrosine möchte alles richten. Und vergessen Sie nicht, den Oberarzt zu benachrichtigen.« Der alte Mann lief so schnell er konnte. Dr. Bruckner fuhr mit den Trägern und der Patientin nach oben. Als sie später den Operationssaal betraten, sah er, daß Schwester Euphrosine schon dabei war, den Tisch zu richten. Als sie Dr. Bruckner erkannte, schimpfte sie vor sich hin: »Sie bringen doch immer was!« Einen Augenblick lang blieb sie mit der Pinzette in der Hand fast drohend vor Dr. Bruckner stehen. »Wo wollen Sie denn die Patientin hinlegen?« Der Arzt kannte die alte Schwester zu genau, um zu wissen, daß sie ihre Worte nicht böse meinte. Sie gehörte zu jenen alten, etwas verbitterten Schwestern, die immer schimpfen müssen. Wenn es aber darauf ankam, dann stand sie ihren Mann. »Das wird eine spätere Sorge sein!« Dr. Bruckner zeigte ins Vorberei11
tungszimmer. »Zunächst einmal wollen wir die Patientin dorthin legen und sie für die Operation fertigmachen.« Er winkte dem alten Pfleger Chiron, der in den Vorbereitungsraum gekommen war. Stumm zeigte der Arzt auf die Hand, die er immer noch festhielt. Der Pfleger kratzte bedenklich seinen kahlen Schädel. »Was wollen Sie denn da noch viel machen?« fragte er. Dr. Bruckner antwortete nicht gleich. Er winkte erst Johann Heidmann, der inzwischen auch angekommen war, zu. »Die Blutgruppe muß bestimmt werden. Die Patientin braucht sofort eine Bluttransfusion. Wir müssen sie aus dem Schock herausholen.« Dann wandte er sich Chiron zu: »Ich will versuchen, die abgerissene Hand wieder anzunähen.« Auf dem Gesicht des alten Mannes erschien ein ungläubiges Staunen. Auch Schwester Euphrosine trat kopfschüttelnd näher. »Sie wollen die Hand wieder annähen?« Dr. Bruckner nickte. »Es ist schon ein paarmal gemacht worden. Warum sollten wir es nicht versuchen?« Der alte Chiron nickte. »Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Da hat man sogar mal einen ganzen Arm angenäht! Soviel ich weiß, soll der wieder angewachsen sein.« »Er ist wieder angewachsen!« bestätigte Dr. Bruckner. »Und ich finde, wenn man eine Methode kennt, die Erfolg verspricht – sei es auch nur den geringsten Prozentsatz – so wäre es fast eine Sünde, wenn man sie nicht anzuwenden versuchte!« Er nickte Schwester Euphrosine zu. »Richten Sie alles für eine längere Operation. Ich muß eine Gefäßnaht machen. Ich muß die Nerven zusammennähen, und ich werde den gebrochenen Knochen nageln müssen.« »Sie werden nichts dergleichen tun!« Hinter Dr. Bruckner war eine Stimme lautgeworden. Erschrocken fuhren alle Anwesenden herum. Oberarzt Dr. Wagner war unbemerkt eingetreten. »Sie werden einfach die Hautbrücke«, sein Zeigefinger wies auf die 12
Hand, die Dr. Bruckner immer noch festhielt, »durchtrennen! Dann machen Sie eine Amputation etwa hier«, er zeigte nun auf das untere Drittel des Unterarmes, »das gibt Ihnen genügend Haut, um den Defekt zu decken. Wie heißt übrigens die Patientin?« fragte der Oberarzt ziemlich gereizt. Johann Heidmann zuckte mit den Schultern. »Die Polizei hat keine Papiere bei ihr gefunden.« »Auch das noch!« stöhnte Dr. Wagner. »Wer übernimmt dann die Kosten? Sie wissen doch, daß vor stationären Aufnahmen zunächst einmal die Kostenfrage geklärt werden muß. Nein, nein …« Er schüttelte den Kopf so stark, daß die randlosen Gläser seiner Brille zu zittern anfingen. »So nimmt die Frau keine andere Klinik auf! Allenfalls die Universitätsklinik. Die muß. Aber gern tut sie es auch nicht. Es wird Ihnen wohl wirklich nichts weiter übrigbleiben, Herr Kollege Bruckner, als die Patientin in eine andere Klinik zu verlegen.« Er ging hinaus, die Tür hinter ihm fiel lauter ins Schloß, als es notwendig gewesen wäre. Schwester Euphrosine blickte Dr. Bruckner bedauernd an. »Da haben Sie es mal wieder!« Sie ging zu ihrem kleinen Instrumententisch und begann, die Instrumente, die sie bereits herausgelegt hatte, wieder zusammenzuräumen. Dr. Bruckner stand mit zwei Schritten bei ihr. »Lassen Sie das, Schwester!« sagte er laut und entschlossen. Die Bemerkung, die Schwester Euphrosine machen wollte, erstarb auf ihren Lippen. Sie hatte Dr. Bruckner noch niemals in dieser Verfassung gesehen. Er, der sonst immer die Freundlichkeit und Güte in Person war, schien sich mit einemmal in einen herrschsüchtigen Tyrannen verwandelt zu haben. »Wir führen die Operation so durch, wie ich es für richtig halte. Das heißt – wir werden versuchen, die Hand anzunähen! Es ist schließlich für ein junges Mädchen nicht gleichgültig, ob sie diese Hand behält oder sich eine Holzhand anschnallen muß.« »Und wo soll die Patientin dann hingelegt werden?« fragte Schwester Euphrosine eingeschüchtert. »Das werden wir später sehen. Im Augenblick kommt es nur darauf 13
an, das Leben – und womöglich auch die Hand der Patientin zu retten.« Dr. Bruckner war in den Operationssaal getreten. Er blickte zurück und fragte: »Herr Heidmann, assistieren Sie mir?« Der überlegte. Er dachte an seinen Urlaub, den er morgen in aller Frühe antreten wollte. Da stöhnte die Verletzte auf. Der alte Chiron sprang hinzu, um sie festzuhalten. »Ich werde mitmachen!« sagte Johann Heidmann bestimmt. »Die volle Verantwortung übernehme ich!« sagte Dr. Bruckner. Er warf seinen weißen Kittel ab, nahm die lange Gummischürze vom Haken und hängte sie sich um. »Ist Dr. Phisto im Haus?« Schwester Euphrosine nickte. »Er hat Bereitschaftsdienst!« »Dann soll er kommen und die Narkose machen.« Dr. Bruckner ging in den Waschraum, zog sich den Schemel heran und setzte sich vor die Wasserleitung. Als er sich umwandte und Heidmann suchte, war dieser verschwunden. Erstaunt fragte er Schwester Euphrosine: »Wo ist der Famulus?« »Er mußte nur einen Augenblick verschwinden.« Schwester Euphrosine hatte ihren Gleichmut wiedergefunden. Sie grinste und meinte: »Er wird gleich wieder zur Stelle sein.« Die technische Assistentin hatte inzwischen die Blutgruppe bestimmt. »Blutgruppe null, RH – positiv –« verkündete sie. »Kreuzen Sie mindestens zwei Blutkonserven – und bringen Sie sie so rasch wie möglich her! Wenn wir die Verletzte nicht rasch aus dem Schock bekommen, stirbt sie uns noch im Vorbereitungszimmer.«
14
II
D
r. Phisto hatte die Narkose begonnen. Er überprüfte noch einmal die Zeiger seiner Apparatur. Der Pfleger Chiron rückte an der großen Operationslampe und stellte sie so ein, daß das Licht genau auf das Operationsfeld fiel. Aus einem Berg grüner Tücher ragte ein Arm hervor, an dem eine halbabgerissene Hand hing. Es war ein Anblick, der selbst starke Naturen mit Schrecken erfüllen konnte. Es sah wie eine Szene aus dem Wachskabinett in Londons Baker Street aus … Ärgerlich blickte Dr. Bruckner auf die elektrische Uhr. »Wo bleibt Herr Heidmann?« Chiron zuckte mit den Schultern. »Er wollte nur einen Augenblick verschwinden. Er sagte, er wäre gleich wieder da!« Dr. Phistos roter Haarschopf tauchte hinter seiner Abdeckung auf. »Vielleicht ist er schon in Urlaub gefahren. Verstehen könnte ich es. Wenn man sich in einem Krankenhaus nicht rechtzeitig aus dem Staube macht, ist man geliefert! Dann kann es einem passieren, daß man auf seinen Urlaub verzichten muß.« Schwester Euphrosine ordnete immer noch ihre Instrumente. »Auf die jungen Leute ist heute kein Verlaß mehr. Zu meiner Zeit hätte man so etwas nie getan. Heute …« Sie ließ einen verächtlichen Laut hören und machte eine entsprechende Handbewegung. »Wenn er nicht kommt, müssen wir ohne ihn anfangen!« Thomas Bruckner streckte die Hand aus. »Vielleicht rufen Sie Dr. Rademacher, falls er im Hause ist?« Der alte Chiron nickte. Er ging ans Telefon und wollte wählen. Schwester Euphrosine gab Dr. Bruckner das Skalpell in die Hand. »Ich muß zunächst einmal das zerstörte Gewebe wegschneiden.« 15
Dr. Bruckner packte die am Wundrand zerfetzte Haut mit einer Pinzette. Gerade wollte er ansetzen, um einen dünnen Streifen davon abzuschneiden, als die Tür aufgerissen wurde. Johann Heidmann stand mit hochrotem Gesicht da und stotterte: »Entschuldigen Sie …« Dr. Bruckner legte das Skalpell aus der Hand. »Sie haben uns ziemlich lange warten lassen«, grollte er, »wo waren Sie denn?« Der Famulus drehte die Hähne der Wasserleitung auf. Er stand mit dem Rücken zu Dr. Bruckner. Seine Stimme klang nicht sehr ehrlich als er sagte: »Ich mußte noch einmal schnell auf mein Zimmer gehen. Ich hatte etwas vergessen!« Dr. Bruckner tat so, als bemerkte er den Unterton nicht. »Dann waschen Sie sich – aber pfuschen Sie nicht beim Waschen! Wir werden schon langsam anfangen. Zunächst kann ich noch ohne Sie auskommen. Schwester Euphrosine wird mir behilflich sein.« Chiron schaute von seinem Telefon auf. Er hatte den Finger in eines der Löcher der Drehscheibe gesteckt und sah Dr. Bruckner fragend an: »Soll ich Dr. Rademacher nun noch benachrichtigen?« Der Operateur nickte. »Zwar wäre es besser, zwei Assistenten zu haben, – aber lassen Sie es bleiben! Wir wollen ihn nicht mehr stören.« Er nahm das Skalpell wieder, das er einen Augenblick aus der Hand gelegt hatte. Sorgfältig trennte er etwa einen Millimeter vom zerfetzten Wundrand entfernt die Haut ab. Es blieb ein glatter, sauberer Schnitt zurück. Heidmann war vom Waschraum in den Operationssaal gekommen. Er stand hinter Dr. Bruckner und schaute ihm zu. Unentwegt bearbeitete er seine Hände mit der Bürste und versuchte, keine Hautstelle unberührt zu lassen. »Warum schneide ich dieses zerfetzte Gewebe ab?« fragte Dr. Bruckner, als er den abgetrennten, dünnen Hautstreifen in der Pinzette hochhielt. »Damit wir eine primäre Heilung erzielen!« kam, wie aus der Pistole geschossen, die Antwort Johann Heidmanns. »Und warum können wir die nicht erzielen, wenn wir die Hauträn16
der einfach aneinandernähen? Wir verlieren doch Haut! Und wir brauchen dringend jeden Millimeter.« Heidmann ging zum Waschbecken zurück. Er spülte seine Hände ab, warf die Bürste fort und tauchte Hände und Unterarme in die Desinfektionslösung, die in einer großen Chromschale war. Mit einem Lappen berieselte er sorgfältig beide Unterarme und Hände. Er sagte: »Weil in den zerfetzten Wundrändern Bakterien sitzen. Das abgestorbene Gewebe, das durch den Unfall gequetscht ist, bietet diesen Bakterien reichlich Gelegenheit, sich zu vermehren. Es ist der ideale Nährboden.« Heidmann legte den Lappen in die Desinfektionsschale, trat wieder an den Operationstisch und stand hinter Dr. Bruckner. »Experimenten zufolge braucht es acht Stunden, bis die Bakterien anfangen, sich zu vermehren. Wenn man innerhalb dieser Zeit die Gefahrenzone herausschneidet, entfernt man die Bakterien und damit die Gefahr der Eiterung. Es erfolgt das, was man in der Medizin als eine primäre Heilung bezeichnet – die Wunde heilt sofort.« »Gut!« lobte Dr. Bruckner und drehte sich um. »Sind Sie fertig?« fragte er den Studenten, »jetzt kommt der schwierigere Teil der Operation an die Reihe.« Johann Heidmann blickte auf die große elektrische Uhr über dem Eingang. Es waren genau fünfzehn Minuten seit dem Augenblick vergangen, da er mit dem Waschen begonnen hatte. Er nickte. »Ich bin fertig!« Eine Schwester reichte ihm den sterilen Kittel. Er schlüpfte hinein. Die Schwester knöpfte ihm den Mantel am Rücken zu und band den Gürtel fest. Schwester Euphrosine reichte ihm den zusammengefalteten Mundschutz. Johann Heidmann öffnete ihn, legte ihn vor Mund und Nase und reichte die beiden Bänder, mit denen er am Hinterkopf festgebunden wurde, der Schwester. Die Schwester nahm ihm die Enden ab, ohne Heidmanns Finger zu berühren. Sie band ihm den Mundschutz am Hinterkopf fest und zog ihm die Mütze zurecht. 17
»Kommen Sie hierher«, forderte ihn Dr. Bruckner auf, als Johann Heidmann Anstalten machte, sich auf die andere Seite des Operationstisches zu stellen, wie er es gewohnt war, wenn er Assistenz machen durfte. »Chiron wird Ihnen einen Schemel geben. Sie setzen sich hier neben mich. Wir müssen jetzt sehr sorgfältig arbeiten. Noch kann ich nicht absehen, ob ich die Hand erhalten kann. Wenn die Gefäße zu sehr verletzt sind, so daß wir sie nicht mehr nähen können, kommt für die Hand jede Hilfe zu spät. Denn wenn einmal die Blutversorgung nicht mehr funktioniert, dann muß die Hand absterben.« Der Doktor wartete, bis Heidmann sich auf den Schemel gesetzt hatte, den ihm Chiron hinschob. Dr. Bruckners Blick glitt zum Transfusionsständer. Langsam und gleichmäßig tropfte das Blut aus der Konserve in die Adern der Patientin. Er blickte zu Dr. Phisto und fragte: »Was sagt der Anästhesist? Können wir beginnen?« Dr. Phisto nickte. »Die Verletzte hat sich gut von ihrem Schock erholt. Die halbe Konserve, die eingelaufen ist«, sein Blick ging zu der Flasche mit dem roten Blut, die hoch oben am Ständer hing, »hat den Schock besiegt.« »Um diese Operation durchzuführen, muß man sich in der Anatomie genau auskennen.« Dr. Bruckner hob den Armstumpf so in die Höhe, daß er die einzelnen Gebilde genau erkennen konnte. Seine Pinzette wies auf die beiden Knochen, deren gebrochene Enden ein wenig vorragten. »Hier ist die Speiche und hier«, die Spitze der Pinzette fuhr zum anderen Knochen hin, ›die Elle‹. Der Arzt suchte mit der Pinzette in der Tiefe. Ihre Spitze schob Gewebe auseinander und drang in Buchten ein. Johann Heidmann schaute zu. Er bewunderte die Zartheit, mit der Dr. Bruckner zu Werke ging. Er wußte, wie schwierig es war, sich schon an einem Präparat im Anatomiesaal zurechtzufinden. Hier aber wäre es ihm unmöglich gewesen. Die Verhältnisse waren durch die grauenhafte Verletzung völlig verschoben. Er jedenfalls hätte kein einziges Gebilde ausmachen können. »Hier habe ich den Nervus radialis …« 18
Die Spitze der feinen Pinzette holte aus der Tiefe ein Gebilde heraus, das nicht dicker war als eine Hornstricknadel. »Ich werde ihn anschlingen.« Dr. Bruckner streckte seine Hand aus. Die erfahrene Schwester Euphrosine wußte genau, was er wollte. Sie reichte ihm eine Nadel, in die ein Seidenfaden gefädelt war. Dr. Bruckner nickte dankend. »Das ist genau das, was ich brauche.« Er stach die Nadel durch die Wand der Arterie und führte den Faden hindurch. An beide Enden des Fadens, die nach dem Herausziehen der Nadel aus der Wunde ragten, legte er eine Klemme. »Jetzt kann uns nichts mehr passieren«, sagte er, »ich habe die Arterie, jetzt brauche ich nur noch die Vene zu suchen. Das Blut muß ja auch wieder abfließen können!« Er schaute auf die Uhr. »Seit dem Unfall sind jetzt einundeinhalb Stunden vergangen. Solange liegt die Blutleere. Wir müssen sie einen Augenblick aufmachen, sonst kriegen wir Lähmungserscheinungen am Arm. Länger als zwei Stunden darf eine Blutleere nicht liegen«, wandte er sich belehrend an den Famulus Heidmann. Chiron griff unter die grünen Abdecktücher. Er suchte eine Weile, hatte schließlich den Gürtel gefunden, der immer noch um den Oberarm gewickelt war. »Soll ich den Gürtel aufmachen, Herr Doktor?« Dr. Bruckner nickte. »Nehmen Sie sich einen richtigen Abbindeschlauch, und ersetzen Sie meinen Gürtel durch unseren Schlauch. Ich brauche den Gürtel ja schließlich selbst«, fügte er scherzhaft hinzu. »Sehr wohl!« Der alte Chiron ließ noch einmal von dem Gürtel ab und holte einen dicken Gummischlauch, der für solche Zwecke bereitlag. Er kam zurück und löste den Gürtel. »Gleich ist die Blutleere abgemacht!« wandte er sich an Dr. Bruckner. »Ich bin darauf vorbereitet!« Dr. Bruckner hob den Zeigefinger. »Sie müssen jetzt den Arm eisern festhalten, Herr Heidmann, – komme, was da wolle!« Er nickte dem alten Chiron zu, der wartend dastand. »Sie können jetzt die Blutleere aufmachen.« 19
Gespannt schauten alle auf den Armstumpf, den Johann Heidmann mit aller Kraft festhielt. Der Pfleger löste die letzten Touren des Gürtels und ließ ihn zu Boden fallen. Fast im gleichen Augenblick hatte er schon den dicken Gummischlauch herumgelegt. »Es blutet ja gar nicht?« Erstaunt blickte Johann Heidmann auf den Stumpf. »Ist da etwa schon alles abgestorben?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Das Blut braucht eine Weile, ehe es vom Oberarm nach unten kommt. Außerdem war die Ader durch meinen Gürtel ja ein wenig abgequetscht. Auch hier muß das Blut erst die Wände auseinanderdrücken. Der Blutdruck der Patientin ist im Augenblick durch den Schock auch nicht sehr hoch. Deswegen dauert es.« Er unterbrach seinen Satz, denn in diesem Augenblick sprang aus der Arterie, die er mit einem Faden angestochen hatte, rhythmisch ein dicker roter Blutstrahl. Er spritzte hoch in die Luft. Der junge Heidmann hatte einen Schreck bekommen. Instinktmäßig wandte er den Strahl von sich ab und richtete ihn in den Operationssaal. Ein ärgerlicher Ausruf ließ alle zusammenschrecken. »Mann – sind Sie des Teufels?« Oberarzt Wagner stand im Operationssaal. »Entschuldigen Sie …«, stotterte Johann Heidmann, »… ich hatte nicht gemerkt, daß Sie hereinkamen.« »Es ist manchmal sehr gut, unverhofft zu kommen!« Die stechenden Augen des Oberarztes funkelten böse hinter der Brille hervor. Der weiße Mundschutz, den er sich beim Eintritt in den Operationssaal vors Gesicht gebunden hatte, war über und über mit roten Blutstropfen besprenkelt. Auch war sein schütteres Haar rot gefärbt, und seine helle Krawatte hatte rote Kleckse bekommen. Langsam kam Dr. Wagner an den Operationstisch heran. Er blickte auf den Arm und fragte: »Was machen Sie denn da? Sie haben meine Anordnungen übertreten. Ich habe doch gesagt, daß amputiert werden soll. Ich nehme an, daß Sie das jetzt machen wollen, nicht wahr?« 20
»Ist Ihnen die Dame, die Sie angefahren haben, bekannt?« Der Polizeikommissar schaute Peter Patrick fragend an. Sein Blick prüfte das Gesicht des jungen Mannes, der ihm gegenüber am Schreibtisch saß. Nervös drehte er seinen Kugelschreiber in der Hand. Man konnte meinen, Peter Patrick höre gar nicht zu. Sein Blick ging am Polizeikommissar vorbei und schien sich im Nichts zu verlieren. Der Polizeikommissar fühlte sich in seiner Beamtenehre gekränkt. »Ich habe Sie etwas gefragt!« Seine Stimme klang jetzt scharf wie die eines Unteroffiziers, der sich seinen Leuten verständlich machen will. »Ich verlange, daß Sie mir antworten.« Er beugte sich so weit nach vorn, daß sich sein Mund fast am Ohr Peter Patricks befand. Mit äußerster Lautstärke schrie er: »Es wurde behauptet, daß die Dame sich gerade vor ihr Auto geworfen habe. Sie habe nur darauf gewartet, daß Sie herankämen. Ist Ihnen die Dame bekannt?« Peter Patrick fuhr wie aus einem Trancezustand auf. Seine Augen bemühten sich, den Kommissar zu fixieren. Er dachte nach. Schließlich sagte er zögernd: »Nein.« Der Polizeikommissar schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie brauchen mir nicht die Wahrheit zu sagen«, er schrieb etwas in sein Protokoll, »wenn Sie mich jetzt belügen, dann wird sich das nachher strafverschärfend auswirken!« Er winkte dem Polizisten, der an der Tür stand. »Bringen Sie den Mann in die Ernüchterungszelle. Volltrunken!« Der Polizist kam und faßte Peter Patrick am Arm. Erschrocken fuhr der junge Mann zusammen. Mit entsetztem Gesicht starrte er den Polizisten an und schien nicht zu begreifen, was vorgefallen war. Der Polizist sah noch eine Chance. »Ich frage Sie zum letztenmal, ob Sie die junge Dame kennen?« Da nickte Peter Patrick: »Ja«, seine Stimme klang müde und gelangweilt, »ich kenne sie!« Der Polizist lehnte sich seufzend in seinen Sessel zurück. »Dann geben Sie uns bitte die Personalien bekannt. Wir wissen nicht, wen wir benachrichtigen sollen. Sie haben ihr eine Hand abgefahren. Ihr Zustand ist äußerst bedenklich!« 21
Der Beamte beobachtete sein Gegenüber scharf. Aber Peter Patrick zeigte keinerlei Gemütsbewegungen. Mit monotoner Stimme, die ihm nicht zu gehören schien, sprach er beinahe tonlos den Namen seines Opfers aus: »Lydia Heusmann.« »Na endlich!« Der Polizeikommissar notierte den Namen. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt. Und die Adresse?« Wieder starrte Peter Patrick einen Augenblick lang teilnahmslos vor sich hin, dann fuhr er aus seinem Brüten auf. »Die Adresse – ach ja, die Adresse …« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er dort etwas wegjagen. Seine Lippen bewegten sich, aber er sprach nicht. Über sein Gesicht lief mit einem Male ein Zucken, ein Lächeln trat auf seine Lippen. Dann richtete er sich auf und lachte plötzlich laut heraus: »Sie hat eine Hand verloren?« Die schreckliche Tatsache schien ihm so komisch zu erscheinen, daß er mit dem Lachen überhaupt nicht mehr aufhören konnte. Der Polizist wurde wütend. Er schlug wieder mit der Faust auf den Tisch. »Haben Sie denn überhaupt kein Herz?« Dann ordnete er an: »Führen Sie den Mann ab! Wir werden die Adresse auch ohne Ihre Hilfe herausbekommen …« rief er ihm nach, als ein anderer Polizist den immer noch Lachenden abführte, »jetzt, wo wir den Namen einmal haben, dürfte es keine Schwierigkeit mehr machen.« Des Beamten Hand ging zur Drehscheibe des Telefons. Doch wählte er nicht sofort. Er horchte nach draußen und hörte immer noch das seltsame, unmotivierte Lachen vom Flur her schallen. »Der Kerl ist sternhagelvoll!« brummte er vor sich hin. Dann wählte er die Nummer der zentralen Auskunftei.
Schwester Angelika durchsuchte das Kleid, das die Patientin getragen hatte. Sie bemerkte zum alten Chiron, der dabeistand: »Alle Taschen sind leer.« Der Pfleger kratzte sich am Kopf. »Es ist nur gut, daß man die22
se Durchsuchung immer in Gegenwart eines Zeugen vornehmen muß!« »Wieso?« Erstaunt schaute Schwester Angelika hoch. »Wie leicht könnte man in einem solchen Fall in den Verdacht geraten, man hätte sich irgend etwas angeeignet!« Er hob das blutverschmierte Jackett vom Boden auf. »Hier im Futter scheint noch eine Tasche zu sein. Die haben Sie übersehen!« Er griff hinein. Mit einem triumphierenden Lächeln zog er seine Hand wieder heraus. »Sehen Sie …« Er hielt ein Kuvert in der Hand. »Sie scheinen sich in den Taschen von Frauen ganz gut auszukennen!« bemerkte Schwester Angelika. Sie wollte ihm das Kuvert abnehmen. Aber der Alte hob die Hand und meinte: »Lassen Sie mich es erst einmal ansehen.« Er holte umständlich eine Brille aus der Tasche, setzte sie auf die Nase und studierte die Anschrift: »Mademoiselle Lydia Heusmann«, las er vor. »Kommt aus Frankreich!« Er betrachtete die Briefmarken und schaute dann Schwester Angelika an. »Ob ich die wohl haben kann?« »Sammeln Sie Briefmarken?« »Nicht ich, aber ein Enkel! Er hat schon eine ganz schöne Sammlung!« Er drehte den Briefumschlag herum und las auf der Rückseite den Absender: »325, Rue de la Huchette – Paris.« Er las es so, wie ein Deutscher es liest, der des Französischen nicht mächtig ist. Schwester Angelika nahm ihm das Kuvert aus der Hand und wollte es öffnen. Aber es war zugeklebt. Darauf hielt sie es gegen das Licht. »Es scheint nichts drin zu sein«, meinte sie. Chiron wollte ihr den Umschlag aus der Hand nehmen. Er zog etwas zu kräftig, bevor Schwester Angelika noch losgelassen hatte. Das Kuvert riß ein. »Seien Sie doch nicht immer so hastig!« tadelte Schwester Angelika. »Jetzt können wir wenigstens sehen, ob etwas drin ist!« Der alte Pfleger hielt das Kuvert neugierig hoch. 23
»Dreck ist drin«, sagte er, denn aus dem Riß rieselte weißer Puder zu Boden. Er wirkte wie feiner Staub, der sich jetzt auf Chirons schwarze Schuhe legte. Der Pfleger wollte zur Wasserleitung gehen, um den Inhalt des Kuverts auszuleeren. Aber Schwester Angelika hielt ihn fest: »Tun Sie das nicht!« »Warum denn nicht?« Die Stimme des Alten wurde böse. Er liebte es gar nicht, wenn ihm eine Schwester Anordnungen erteilte. »Denken Sie doch einmal nach!« Schwester Angelika nahm dem völlig verdutzten Pfleger das Kuvert aus der Hand. »Das Kuvert war verschlossen. Es befand sich nichts als etwas weißer Puder darin. Das heißt also: Dieser Dreck, wie Sie sagen, kann nicht durch Zufall hineingekonunen sein. Die Frau hat Selbstmord begehen wollen. Nun …« Schwester Angelika sah den alten Chiron wie eine Lehrerin an, die mit dem Schüler ein Examen veranstaltet. Verlegen kratzte sich der alte Mann am Kopf. »Ich verstehe nicht recht …« Er betrachtete wieder den Umschlag. Plötzlich kam eine Erleuchtung über ihn. »Sie meinen, daß man das weiße Pulver aus Frankreich schickte? Daß sich in dem Brief nie etwas anderes befunden hat?« Schwester Angelika nickte überlegen. »Genau das meine ich! Haben Sie nicht neulich in der Zeitung gelesen …« Chiron schüttelte den Kopf. »Ich lese keine Zeitungen. Ich habe einfach keine Zeit dazu.« »Manchmal ist es aber doch gut, wenn man Zeitungen liest – wie in diesem Falle vielleicht!« »Und was stand in der Zeitung?« Neugierig schaute der Pfleger die Schwester an. »In Frankreich hatte eine Stempelmaschine der Post nicht funktioniert. Sie riß ein paar Briefe versehentlich ein wenig auf. Dabei stäubte weißer Puder aus den Briefen. Die Postbeamten wurden hellhörig. Sie schickten den Puder an die Kriminalpolizei und ließen ihn untersuchen. Und es war …« Schwester Angelika machte eine wirkungsvolle Pause. Es schien ihr 24
Freude zu machen, den alten Chiron in seiner Neugierde zappeln zu lassen. »Und was war mit dem Puder?« drängte der alte Mann. Schwester Angelika zeigte auf das Kuvert, das der alte Chiron immer noch in der Hand hielt: »Es war Rauschgift!« Erschrocken ließ Chiron das Kuvert los. Hätte Schwester Angelika nicht im letzten Augenblick zugefaßt, so wäre es auf den Boden gefallen. »Rauschgift!« wiederholte der Alte die Worte der Schwester. »Ja!« bestätigte die alte Schwester, »es war Rauschgift, das eine Bande von Marseille nach Paris auf diesem einfachen Wege schmuggelte. Weiß Gott, wie lange sie das schon gemacht hatte. Wenn nicht die defekte Postmaschine die Löcher in die Umschläge gerissen hätte, die Polizei wäre niemals dahintergekommen. Jedenfalls gelang es so, die Bande auszuheben.« Chirons Augen ruhten ängstlich auf dem unscheinbaren weißen Kuvert, das Schwester Angelika noch in der Hand hielt. »Sie meinen wirklich, daß das auch so etwas ist?« Schwester Angelika zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es natürlich nicht.« Sie nahm aus dem Schubkasten ihres Schreibtisches einen größeren braunen Umschlag. Sorgfältig schob sie den zerrissenen kleineren Umschlag hinein. »Auf alle Fälle muß das sichergestellt werden.« Sie setzte sich an den Schreibtisch und wollte die Adresse notieren, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. »Hier Schwester Angelika – Kriminalkommissar Weber? Ja, Herr Kommissar, die Operation ist im vollen Gange. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie weit Dr. Bruckner gerade ist.« Sie lauschte, dann nickte sie ein paarmal, so daß der alte Chiron erstaunt neben sie trat und sie fragend ansah. »Das ist erstaunlich«, Schwester Angelika wechselte den Hörer von einem zum anderen Ohr. »Ja«, sagte sie schließlich, »wir haben inzwischen auch ein Kuvert mit demselben Namen bei der Verletzten gefunden. Da ist auch die Adresse drauf. Darf ich Sie Ihnen durchgeben?« Sie sprach die Adresse in den Hörer und schloß das Gespräch: »Sie ge25
ben uns bitte Nachricht, wenn Sie erfahren haben, ob dies wirklich die gesuchte Anschrift ist. Wir müssen ja die Angehörigen benachrichtigen!« Schwester Angelika hatte den Hörer auf die Gabel zurückgelegt. Enttäuscht fragte Chiron: »Warum haben Sie der Polizei nichts von dem Puder gesagt?« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Nun sind Sie schon so lange Pfleger!« Ihre Stimme klang etwas vorwurfsvoll. »Sie sollten doch wissen, daß wir nicht befugt sind, über Patienten irgendwelche Auskünfte zu erteilen. Es liegt ja kein Verbrechen vor, das einer Aufklärung bedarf. Wir haben da oben nur einen hilflosen Menschen, der jetzt operiert wird und dessen Leid wir nicht noch größer machen dürfen, wenn wir die Polizei auf ihn hetzen.« »Aber warum haben Sie das Kuvert aufgehoben?« »Weil wir alles verwahren müssen, was unseren Patienten gehört. Vielleicht hat sich die Patientin gerade diesen Umschlag aufgehoben, um sich an die Adresse zu erinnern, die auf der Rückseite des Kuverts angegeben ist.« »Dann ist es also nichts mit dem Rauschgift?« fragte Chiron mit ein wenig enttäuschter Stimme. Schwester Angelika legte ihm lächelnd die Hand auf die Schulter: »Ich glaube nicht, Chiron. Aber es ist besser so! Kriminalromane soll man lesen, aber möglichst nicht erleben!«
III
D
r. Bruckner war blaß geworden, als der Oberarzt plötzlich im Operationssaal stand. Auch die sonst so schlagfertige Schwester Euphrosine fand keine Worte. »Beeilen Sie sich!« klang kalt die Stimme des Oberarztes. »Beginnen Sie endlich mit der Amputation die ich angeordnet habe.« 26
Alle Augen waren auf Dr. Bruckner gerichtet. Jeder wartete darauf, was er wohl antworten würde. Dr. Bruckner überlegte. Er wußte, daß es ihn seine Stellung kosten könnte, wenn er sich den Anordnungen des Oberarztes widersetzte. In Abwesenheit des Chefs war der Oberarzt absoluter Herrscher. Thomas Bruckner sah zu Dr. Phisto hinüber, als könnte er von dort eine Hilfestellung bekommen. Aber dieser hatte den Blick gesenkt. Dann schaute er auf Schwester Euphrosine, aber auch sie blickte geflissentlich zur Seite. Dr. Bruckner merkte wieder einmal, daß er im Kampf um seine medizinische Überzeugung allein dastehen würde. Die Tür des Operationssaales öffnete sich, und Chiron trat ein. Erschrocken blickte er auf die Menschen, die schweigend und verbissen im Operationssaal standen. Es verschlug ihm die Sprache. Erst als Oberarzt Wagner herumfuhr und donnerte: »Was wollen Sie hier?« antwortete Chiron: »Wir haben den Namen und die Anschrift der Patientin!« »Das tut im Augenblick nichts zur Sache«, wies ihn der Oberarzt zurecht. Er wandte sich wieder an Dr. Bruckner: »Fangen Sie schon an!« Es sah aus, als wollte er dem Operateur das Messer aus der Hand reißen und selbst den Eingriff ausführen. In diesem Augenblick aber mischte sich der Famulus Heidmann ein: »Die Operation, die Dr. Bruckner ausführen will, ist aber vom Chef genehmigt worden!« Alle Köpfe gingen ruckartig zu ihm. Es sah aus, als wäre ein jeder empört darüber, daß er als kleiner Student ungefragt etwas gesagt hatte. Der Oberarzt lachte laut auf. »Sie wollen mich wohl zum besten halten? Der Chef ist nicht im Hause.« »Entschuldigen Sie, Herr Oberarzt«, Johann Heidmann bemühte sich, besonders höflich zu sein. Es sah aus, als habe er mit dieser Taktik auch Erfolg, denn das Gesicht Dr. Wagners lief rot an, als Heidmann nun fortfuhr: »Ich bin Professor Bergmann begegnet, als ich noch vor dem Krankenwagen in die Klinik fuhr! Der Chef fragte mich, ob etwas 27
passiert wäre. Ich erzählte ihm von dem Unfall, und da sagte er mir, daß er im Theater sei.« Dr. Phistos roter Haarschopf tauchte hinter der Abdeckung auf. »Ich würde darum bitten, bald mit dem Eingriff zu beginnen.« Seine Stimme klang energisch. Er hielt die Kurve hoch, die er über das Befinden der Patientin während der Narkose anlegen mußte. Er deutete auf die rote Linie, die in Zacken nach unten ging. »Der Kreislauf sackt ab! Wenn Sie noch lange reden, muß ich die Verantwortung ablehnen!« »Hören Sie!« Oberarzt Wagner hatte seine Selbstsicherheit wiedergefunden. »Wenn etwas schiefgeht, tragen Sie von jetzt ab die Verantwortung, Dr. Bruckner. Sie sabotieren die Amputation, die notwendig ist.« Wie ein Kampfhahn stand er da. Seine nach vorn gereckte Hand verlieh ihm das Aussehen eines Feldherrn, wie er auf alten, kolossalen Schlachtgemälden dargestellt wurde.
»Lassen Sie mich 'raus!« Peter Patrick schlug mit den Fäusten gegen die Tür der kleinen Zelle. »Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten. Ich will 'raus – 'raus – 'raus …« Er trat mit den Füßen gegen die Tür. Aber die war fest verankert. Er tat sich nur weh. Da gab er auf. Er setzte sich auf den Boden des kleinen viereckigen Raumes, der kein Fenster nach außen hatte. Nur eine gut abgesicherte, trübe Glühbirne brannte. Kaum saß er, so verfiel er in dumpfes Brüten. Er versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bekommen. Aber es gelang ihm nicht, er konnte sich nicht konzentrieren. Es dauerte nicht lange, und er hatte völlig vergessen, weshalb man ihn eingesperrt hatte. Traumbilder umgaben ihn. Der Raum füllte sich mit Farben, mit Tönen … Er hörte, wie die Klappe, die das Guckloch seiner Tür von außen verdeckte, gehoben wurde. 28
Ein heller Lichtstrahl fiel durch das Guckloch in die düstere Zelle. Er malte einen kleinen, gelblichen Fleck auf den Boden. Wie eine kleine Sonne sah dieser goldene Kreis aus! Die Sonne begann plötzlich zu rotieren, zu wirbeln. Sie erhob sich, stand an der Wand und leuchtete ihn hell und grell an. Das Seltsame war, daß er das Licht plötzlich schmeckte. Es hatte einen seltsamen Geschmack, der ihn an irgend etwas erinnerte, das er noch nicht kannte, von dem er aber wußte, daß er es bald kennenlernen würde … Das schabende Geräusch des Guckloches wurde zu einer Musik. Die Töne erfüllten die Zelle. Sie umgaben und umschmeichelten ihn. Und plötzlich sah er diese Töne! Sie wurden zu leuchtenden Farben, violetten Tönen, die um ihn herumtanzten, ihn nicht ausließen, Wirbel um ihn aufführten … Der Beamte, der in die Zelle schaute, schüttelte den Kopf. So etwas hatte er noch nicht gesehen! Der Ausdruck auf dem Gesicht des Eingesperrten war so glücklich, ja fast überirdisch froh, daß der Polizist einen Augenblick geneigt war, die Zellentür zu öffnen, um sich zu vergewissern, was mit dem Eingelieferten eigentlich los war. Aber dann ließ er die Klappe doch wieder vor das Guckloch fallen. Der Kerl war einfach besoffen, sagte er sich, und die meisten Besoffenen schliefen. Wahrscheinlich war der da auch eingeschlafen und hatte nun einen verrückten Traum. Der Aufseher schlurfte den traurigen Gefängnisgang entlang. Er grinste vor sich hin. Morgen, wenn die Ernüchterung eintrat, würde der Gefangene nicht mehr lächeln. Er kannte die Betrunkenen, die in der Zelle landeten. Sie randalierten, tobten, grölten und sangen Lieder, wenn sie eingeliefert wurden. Am nächsten Tag aber packte sie der Katzenjammer. Wenn sie erfuhren, daß ihnen der Führerschein entzogen worden war, daß ihnen Strafanzeige drohte, weil sie betrunken am Steuer gesessen und vielleicht sogar einen Unfall gebaut hatten – dann verging ihnen das Lachen! Der Aufseher schlurfte zur nächsten Zelle, wollte die Klappe von dem Guckloch in die Höhe heben, als er zusammenfuhr. Aus der Zel29
le, die er eben beobachtet hatte, war ein schriller Schrei gekommen! Es war der Schrei eines Menschen in Todesangst … Erschrocken ließ er die Klappe wieder fallen und eilte zurück. Er riß die Klappe der Ernüchterungszelle hoch und schaute durch das Guckloch …
»Der Herr Professor ist am Apparat!« Schwester Angelika stand in der Tür des Operationssaales. Sie hatte keinen Mundschutz an und blieb deshalb auf der Schwelle stehen. »Der Herr Professor!« In das Gesicht des Oberarztes trat ein überlegenes Lächeln. Er ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und meinte: »Jetzt werden wir ja sehen, was Sie uns für Märchen erzählt haben!« Er wandte sich an Schwester Angelika, die wartend stehengeblieben war. »Auf welchem Apparat liegt das Gespräch?« Schwester Angelika deutete auf den Vorbereitungsraum: »Dort!« Dr. Wagner verschwand. Thomas Bruckner schaute Johann Heidmann vorwurfsvoll an. »Ich bin Ihnen ja sehr dankbar, daß Sie die Operation retten wollten. Aber Sie hätten nicht zu einer Lüge greifen sollen. Sehen Sie, jetzt kommt es 'raus!« Der Angesprochene aber schüttelte den Kopf. »Ich habe tatsächlich mit dem Professor gesprochen. Ich bin doch vorhin etwas später gekommen. Nun, ich fuhr rasch ins Theater! Diese Komplikationen waren doch vorauszusehen. Ich kenne den Oberarzt doch nun lange genug und weiß, daß er allem Neuen feindlich gegenübersteht. Besonders, wenn das Neue von Ihnen kommt! Deswegen raste ich ins Theater. Das Stück hatte noch nicht angefangen, und ich erwischte Professor Bergmann noch im Foyer. Da habe ich ihm von Ihrer Idee erzählt und gewissermaßen für Sie die Erlaubnis zur Operation eingeholt.« Dr. Bruckner schüttelte ungläubig den Kopf Fassungslos schaute er den Famulus an. »Sie sind ein Tausendsassa, Heidmann! Aber warum ruft der Chef dann jetzt an?« 30
Johann Heidmann wurde einer Antwort enthoben, denn der Oberarzt kam in den Saal zurück. Man sah es ihm an, daß er eine große Enttäuschung hinter sich hatte. »Herr Professor hat sich nach der schwierigen Operation erkundigt.« Er warf einen fast haßerfüllten Blick auf Johann Heidmann. »Dann kann also Dr. Bruckner den Versuch machen, die Hand zu erhalten?« fragte Heidmann, als niemand sonst im Operationssaal sprach. Man sah es dem Oberarzt an, daß er mit sich kämpfen mußte, um keine unbesonnene Antwort zu geben. Er nickte nur: »Bitte!« Dann wandte er sich um. Wie ein alter, müder Mann ging er aus dem Operationssaal, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Schwester Euphrosine lachte laut auf: »Er sah aus wie ein Huhn, das in den Regen geraten ist«, kommentierte sie. Dr. Bruckner hob die Hand. »Wir wollen operieren und keine Zeit mit Witzen verlieren!« Er wandte sich an Dr. Phisto: »Wie geht es der Patientin?« Dr. Phisto hob seine Kurve hoch. »Die Ruhe scheint ihr gutgetan zu haben. Sie hat sich wieder erholt.«
»Ist dort Frau Heusmann?« Der Kriminalkommissar lauschte gespannt in den Hörer. Eine müde Stimme antwortete: »Ja – was wollen Sie?« »Hier spricht Polizeirevier siebenundzwanzig – Kriminalkommissar Müller!« Die Stimme am anderen Ende wurde etwas freundlicher: »Die Polizei? Ist etwas passiert?« »Haben Sie eine Tochter, die Lydia heißt?« Die Stimme des Kriminalkommissars klang sachlich. Er bemühte sich, den Ärger zu unterdrücken, den ihm die erste, unwirsche Antwort bereitet hatte. »Ja – Lydia ist meine einzige Tochter!« Die Stimme wurde wieder aggressiv: »Hat sie wieder was angestellt?« 31
»Sie ist überfahren worden!« Der Kommissar bemühte sich nicht, es der Mutter schonend beizubringen. Er gebrauchte eine Art Holzhammermethode. Er hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, daß er bei dieser Art von Leuten mit seiner Methode gut zurechtkam. »Überfahren …« Die fremde Stimme klang nicht einmal sonderlich überrascht. »Ist ihr etwas passiert?« »Ja – sie liegt im Krankenhaus. Sie muß operiert werden.« »Na ja …« Es hörte sich an, als ob es der Mutter zuviel sei, daß ihre Tochter ins Krankenhaus eingeliefert worden war. »Wenn sie operiert werden soll, bitte schön – ich kann nichts daran ändern. Sie ist volljährig.« »Wir dachten, es würde Sie als Mutter wenigstens interessieren!« Der Kommissar verlor jetzt die Geduld. Er wurde persönlich. Er wußte, das durfte er nicht, als Beamter hatte er rein sachlich zu bleiben. Aber diese Antwort einer Mutter auf die Nachricht, daß ihre Tochter überfahren worden sei und im Krankenhaus liege, brachte ihn in Harnisch. Es war, als habe die Mutter nur auf dies Stichwort gewartet. »Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich eine Rabenmutter sei …« sprudelte die Stimme plötzlich los. »Aber wenn eine Tochter sich so benimmt wie unsere, wenn sie tagelang wegbleibt, sich herumtreibt – dann verliert man jedes Interesse! Dann wird man gleichgültig. Das Mädchen ist seit drei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen. Sie treibt sich mit Kerlen herum. Das ist alles, was ich von ihr weiß!« Dem Kommissar verschlug es tatsächlich die Sprache. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Er nahm seinen Bleistift, trommelte nervös auf der Tischplatte herum und sagte schließlich: »Ich werde Ihnen wenigstens die Adresse des Krankenhauses geben, in dem Ihre Tochter liegt!« Bevor Frau Heusmann noch irgend etwas antworten konnte, gab er schon die Adresse durch: »Sie ist in die Bergmann-Klinik gebracht worden. Auf welchem Zimmer sie dort liegt, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen. Da müssen Sie sich bei der Aufnahme erkundigen.« Er hielt den Hörer noch einen Augenblick in der Hand, weil er das Bedürfnis hatte, der Frau vielleicht doch noch etwas Verbindliches zu 32
sagen, wie er es sonst in solchen Fällen zu tun pflegte. Aber ihm fiel nichts ein. »Guten Tag!« sagte er deshalb nur und hängte den Hörer ein. Es klopfte. Der Wachtmeister des Polizeigefängnisses trat ein und meldete: »Der besoffene Fahrer ist verrückt geworden.« »Wieso?« Erstaunt schaute der Kommissar hoch. »Er hat eben furchtbar geschrien. Ich dachte, ihm sei etwas passiert. Als ich dann durch das Guckloch guckte, lag er auf dem Boden und wälzte sich vor Lachen. Und dann schrie er fortwährend: ›Ihr ist die Hand abgefahren worden – nein, wie komisch – ihr ist die Hand abgefahren worden – wie komisch …‹« Der Wachtmeister stand hilflos in der Tür und sah den Kommissar fragend an: »Wollen Sie nicht mal herüberkommen und nach ihm schauen?« »Ich kann mich nicht um jeden Besoffenen kümmern!« gab der Kommissar barsch zur Antwort. Seine Stimmung war durch das Gespräch auf den Nullpunkt gesunken. »Sorgen Sie dafür, daß der Kerl nüchtern wird. Und dann werden wir weitersehen!« »Der hat mindestens zehn Promille im Blut«, ruckte der Wachtmeister, »ich habe da meine Erfahrungen! Wenn die Kerle ein Solches Theater aufführen, dann besteht ihr Blut nur noch aus Alkohol.« Er ging hinaus, knallte die Tür hinter sich zu und lief zum Polizeigefängnis zurück. Er blickte noch einmal durch das kleine Guckloch in die Zelle, in der sich Peter Patrick befand. Der Gefangene lag jetzt ganz still auf dem Boden. Mit großen, offenen Augen starrte er auf die Zimmerdecke. Der Wärter öffnete die Tür ein wenig. »He!« rief er in die Zelle, bereit, jeden Augenblick die Tür wieder zuzuschlagen, falls er angegriffen würde. Aber Patrick rührte sich nicht. Er schien es nicht einmal wahrgenommen zu haben, daß jemand die Tür geöffnet hatte. Der Wärter trat näher und berührte ihn mit der Stiefelspitze. »Aufstehen!« sagte er im Befehlston. »Sie können hier nicht auf dem Boden liegenbleiben! Stehen Sie gefälligst auf!« Als Peter Patrick keine Anstalten machte, sich zu erheben, trat er 33
leicht mit dem Fuß gegen das Bein des Schlafenden. »Aufstehen, du fauler Sack!« Aber Peter Patrick rührte sich nicht. Der Wärter kehrte noch einmal zum Polizeikommissar zurück. »Der Fahrer«, er zeigte in die Richtung der Ernüchterungszelle, »schläft jetzt seinen Rausch aus. Er …« Er wollte noch weitersprechen, weil er es liebte, bei dem Vorgesetzten im Zimmer zu sein, um diesen von seiner Wichtigkeit zu überzeugen. Aber da klingelte das Telefon. Der Kommissar hob die Hand und winkte dem Wärter zu, stille zu sein. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Während des Gespräches schaute er wieder auf den Wärter. Dieser merkte sofort, daß die telefonische Mitteilung in irgendeiner Beziehung zu ihm stand. Er trat dicht an den Schreibtisch heran, um vielleicht etwas mitzubekommen. »Ich danke Ihnen!« Der Kommissar legte den Hörer auf. Kopfschüttelnd schaute er den Wärter an und fragte: »Wie hoch, meinten Sie, war der Blutalkoholgehalt des Eingesperrten?« Der Wärter kratzte sich am Kopf. »Na – er hat mindestens die oberste Grenze erreicht.« Er verstand mit Zahlen nicht gut umzugehen und zog sich so mit dieser Antwort aus der Klemme. »Nichts hat er!« Der Kommissar betonte jedes Wort einzeln. »Sein Blutalkoholspiegel liegt sogar unter der Norm.« Der Wärter starrte den Kommissar entgeistert an. »Und da hätte ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß der Kerl total besoffen ist! Vielleicht stimmen die Untersuchungen nicht …«, versuchte er einzuschränken. Aber der Kommissar schüttelte den Kopf. »Die Untersuchungen in unserem Gerichtsmedizinischen Institut sind einwandfrei. Auf die kann man sich verlassen. Aber mit unserem Gefangenen stimmt etwas nicht. Es sieht fast so aus, als ob er unter dem Einfluß irgendeiner Droge stünde.« Der Wärter begriff nicht ganz, was der Kommissar meinte. »Soll ich gehen und ihn 'rauslassen?« fragte er. 34
Der Kommissar überlegte einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, entschied er, »er ist ja noch nicht fähig, allein zu gehen. Benachrichtigen Sie aber auf jeden Fall den Polizeiarzt. Er muß ihn sich ansehen. Am Ende steckt irgend etwas anderes dahinter, und dann haben wir nur Ärger.«
»Jetzt müßte man eine Adernnähmaschine haben!« Dr. Bruckner betrachtete die abgerissene Ader, die er mit einem Faden markiert hatte. Er suchte in dem anderen Teil des abgerissenen Unterarmes. Mit nachtwandlerischer Sicherheit fand er hier das andere Ende, das in die Hand hineinführte. »Es wird nicht einfach sein, diese feinen Öffnungen so miteinander zu vernähen, daß sie auch nachher durchgängig bleiben.« Fragend schaute er auf Schwester Euphrosine. »Haben Sie eine Gefäßnaht vorbereitet?« Die Schwester nickte. »Wenn ich etwas vorbereite, dann tue ich es gründlich! Als ich erfuhr, daß Sie die Hand wieder annähen wollten, habe ich natürlich alles bereitgelegt.« Sie wies mit der Pinzette eine feine Nadel vor. Diese hatte aber kein Öhr. Der außerordentlich dünne Faden war hinten an die Nadel angeschweißt, bildete also gewissermaßen die fugenlose Fortsetzung der Nadel. »Ich wollte ja auch nicht Ihre Tüchtigkeit anzweifeln!« Dr. Bruckner nahm lächelnd die feine Nadel mit der Pinzette zur Hand. »Ich hatte nur eine rhetorische Frage gestellt, um mich zu vergewissern, daß ich mit der Naht beginnen kann.« »Aber ich habe nicht einen so feinen Nadelhalter«, brummte Schwester Euphrosine. »Wenn ich Ihnen die Nadel in den gewöhnlichen Nadelhalter tue, zerbricht sie.« »Das macht nichts!« Dr. Bruckner griff auf den Instrumententisch und nahm eine zierliche Klemme herunter, wie man sie zum Abklemmen von feinsten Adern benutzt. In das Maul dieser feinen Klemme 35
steckte er die Nadel. Als er den Verschluß zusammendrückte, hielt sie. »Sehen Sie«, lächelnd zeigte er Schwester Euphrosine sein Werk, »so geht es auch und gar nicht mal schlecht …« Er stach die Nadel von außen nach innen durch einen Teil der abgerissenen Ader, suchte sich dann die entsprechende Stelle auf dem anderen Stück und stach hier von innen nach außen. Er zog die beiden Fäden zusammen, knüpfte sie mehrere Male und legte an das Ende eine Klemme. »Bei einer Adernnaht muß man immer darauf achten, daß die Innenwände aneinanderliegen. Ich krempele die ganze Ader gewissermaßen um.« Schwester Euphrosine reichte ihm eine zweite öhrlose Nadel. Dr. Bruckner klemmte sie wieder in seinen improvisierten Nadelhalter. Genau auf der gegenüberliegenden Seite wiederholte er das gleiche Manöver. »Würden Sie jetzt bitte beide Fäden auseinanderhalten«, sagte der Operateur und reichte die Klemmen Johann Heidmann. Dieser zog daran. »Mit Hilfe dieser beiden Fäden habe ich mir jetzt einen Halt geschaffen. Jetzt brauche ich praktisch nur noch rundherum die Adernwände ineinanderzunähen.« »Ich habe aber nicht mehr soviel Gefäßnadeln!« Schwester Euphrosine hatte mit wachsender Besorgnis gesehen, daß Dr. Bruckner jede Nadel nur ein einziges Mal benutzte. Doch er tröstete sie: »Jetzt nähe ich fortlaufend. Ich glaube, ich komme für den Rest der Adern mit einer einzigen Naht aus!« Er begann seine Naht in der Nähe des einen Haltefadens. Sorgfältig nähte er zwischen den beiden Haltefäden die eine Hälfte der Arterienwand zusammen. Stich folgte auf Stich. Der Abstand war gleichmäßig. Sorgfältig achtete Dr. Bruckner darauf, daß sich bei jedem Stich die Innenwand der Arterie umkrempelte. Als die eine Hälfte der Arterienwand genäht war, ging ein bewunderndes Aufatmen durch die Anwesenden. Der Abstand zwischen den einzelnen Fäden war so gleichmäßig, daß es aussah, als sei die Naht 36
mit einer Maschine gelegt. Kein Maßschneider hätte sie besser machen können. »Jetzt drehen wir die ganze Geschichte einfach um!« Dr. Bruckner nahm die beiden Klemmen mit den Fäden dem Famulus aus der Hand. Jetzt hielt er sie so, daß die ungenähte Hälfte der Arterie nach oben zu liegen kam. Wieder nähte Dr. Bruckner die beiden zerrissenen Anteile zusammen. Wieder lag Faden an Faden mit derselben Regelmäßigkeit wie auf der gegenüberliegenden Hälfte. »Das wäre geschafft.« Dr. Bruckner betrachtete sein Werk. Er richtete seinen schmerzenden Rücken auf. »Wie lange haben wir für die Arteriennaht gebraucht?« Dr. Phisto antwortete: »Ich habe meine Stoppuhr beim ersten Stich eingestellt: Sie haben genau fünfundvierzig Minuten gebraucht!« »Das ist nicht lang, wenn man bedenkt, daß ich in Arteriennähten relativ unerfahren bin.« Der alte Chiron trat an den Operationstisch. Fragend schaute er Dr. Bruckner an. »Soll ich die Blutleere öffnen?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Wir haben noch über eine Stunde Zeit. Die wollen wir nicht verschenken. Wenn wir jetzt die Blutleere öffnen, besteht nur die Gefahr, daß es aus der Vene blutet. Ich muß jetzt versuchen, die Hauptvene ebenfalls so zu nähen. Sonst kann das Blut zwar in die Hand hinein, aber nicht mehr zurückfließen. Damit wäre auch nicht viel gewonnen.« Mit einer feinen, spitzen Pinzette suchte er wieder in der blutigen Tiefe. Er mußte eine ganze Weile fischen, ehe er die Vene fand. Durch ihre dünnere Wand war sie weniger auffällig als die Arterie. Wieder legte Dr. Bruckner an jedes der beiden Enden einen Haltefaden. Die Naht erfolgte in der gleichen Weise, wie er sie eben bei der Arterie durchgeführt hatte. Diesmal ging es wesentlich schneller. »Zwanzig Minuten!« verkündete Dr. Phisto, der die Zeit wieder gestoppt hatte. »Sie sollten noch viel mehr solcher Gefäßnähte machen …« Sein roter Schopf, der mühsam durch eine weiße Mütze gebändigt wurde, tauchte aus der Versen37
kung auf. »Ich möchte wetten, daß Sie dann den Rekord in der Gefäßnaht auf fünf Minuten bringen würden.« »Sie wissen doch, Herr Kollege Phisto, daß ich nicht auf Zeit arbeite. Das war einmal, als man schnell operieren mußte, weil die Narkose gefährlicher war als der ganze Eingriff. Heute kann man sich Gott sei Dank beim Operieren Zeit lassen. Und das ist in einem solchen Falle auch nötig. Deshalb war es früher auch nicht möglich, derartig lange Operationen auszuführen.« Dr. Bruckner sah auf die Uhr. »Wieviel Zeit ist jetzt insgesamt vergangen?« »Seit dem Anlegen der letzten Blutleere etwas über eine Stunde.« Dr. Phisto hatte seine Eintragungen angeschaut. Er mußte genau Protokoll über die verschiedenen Gegebenheiten führen, die bei der Operation auftraten. »Dann können wir noch fast eine Stunde in Ruhe weiterarbeiten!« Thomas Bruckner seufzte und streckte seinen ermüdeten Rücken. Eine Schwester wischte ihm den Schweiß von der Stirn. »Jetzt kommt eine schwierige und zeitraubende Arbeit.« Dr. Bruckner hatte es wie zu sich selbst gesagt und trat an die Schüssel mit der desinfizierenden Flüssigkeit. Er spülte seine Hände darin ab. Die himmelblaue Flüssigkeit verfärbte sich dunkel. Eine Schwester reichte ihm ein steriles Handtuch an einer langen Pinzette. Er nahm es dankend entgegen und trocknete sich die Hände ab. »Jetzt müssen wir nämlich sehen, daß wir die einzelnen Sehnen zusammennähen. Es wird nicht leicht sein, bei diesem Durcheinander«, er betrachtete den Handstumpf, den ihm Heidmann entgegenhielt, »die einzelnen Sehnenenden zu finden und sie richtig miteinander zu vernähen.« »Was geschieht, wenn Sie aus Versehen eine Beugesehne an eine Strecksehne nähen?« fragte Johann Heidmann. »Dann öffnet die Patientin vielleicht die Hand, wenn sie sie eigentlich schließen will …« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein! Es ist erstaunlich, wie rasch der Mensch sich daran gewöhnt, sich auf eine neue Funktion umzustellen. Es kommt schon manchmal vor, daß man eine Sehne verpflan38
zen muß, weil die ausgefallene Funktion wichtiger ist als die Funktion des Muskels, von dem man die Sehne nimmt. Da dauert es gar nicht lange, bis der Mensch es gelernt hat, die entsprechende Funktion richtig anzuwenden.« »Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier!« ließ sich Schwester Euphrosine vernehmen. Die Tür öffnete sich und Oberarzt Wagner schaute herein. Sein finsterer Gesichtsausdruck verriet, daß er recht unzufrieden war. »Wie lange dauert es noch?« fragte er. Dr. Bruckner schaute auf. »Es kann noch einige Stunden dauern!« war die lakonische Antwort. Stumm stand Dr. Wagner noch einen Augenblick in der Tür wie ein böser Geist, der durch einen Zauber an einen Ort gebannt ist. Erst als Johann Heidmann ihn anlächelte – mit einem spöttischen, ironischen Lächeln –, wurde der Zauber gebrochen. Oberarzt Wagner drehte sich rasch um, knallte die Tür hinter sich zu und verschwand. »Gott sei Dank!« murmelte Heidmann hinter ihm her. »Seine Gegenwart wirkt immer so lähmend …« »Vergessen Sie nicht, daß er Oberarzt ist«, wies ihn Dr. Bruckner zurecht. »Persönliche Gefühle sind auszuschalten. Wir müssen ihn als unseren Vorgesetzten respektieren.« Mit der Pinzette packte er einen Sehnenstumpf und zog daran. Die Finger schlossen sich. »Hier habe ich die Sehne der Fingerbeuger.« Der Arzt suchte im Oberarm nach dem dazugehörigen Teil und fand ihn auch. Mit einem Faden markierte er die beiden Stücke. Sehnenstumpf um Sehnenstumpf suchte er sich zusammen. Es war eine mühsame, langwierige Arbeit. Den Anwesenden im Operationssaal verging die Zeit so rasch, daß sie es kaum merkten, als die Zweistundengrenze erreicht war. Aber Dr. Phisto hatte darüber gewacht. Er führte seine Kurve mit unerbittlicher Genauigkeit. »Wir müssen eine kleine Pause machen.« Mahnend erklang jetzt seine Stimme. »Die Binde am Oberarm muß gelockert werden.« 39
»Eine kleine Pause tut mir auch ganz gut!« Dr. Bruckner schaute auf die schwarzen Fäden, die die einzelnen Sehnenstümpfe zusammenhielten. »Ich glaube, ich habe jetzt alle durchtrennten Sehnen gefunden!« Er deckte ein steriles Tuch über die Operationswunde. »Bitte, Chiron«, winkte er dem alten Pfleger, der hinter ihm stand und gespannt auf die Operation geschaut hatte, »lösen Sie die Blutleere! Ich bin gespannt, ob meine Arteriennaht hält!« Der alte Chiron griff unter das grüne Tuch, das den ganzen Oberarm zudeckte. Vorsichtig öffnete er den Schlauch. Dann lüftete Dr. Bruckner das weiße Tuch, das er über die Wunde gedeckt hatte. Genau wie beim erstenmal dauerte es eine Weile, ehe das Blut seinen Weg in die nunmehr genähte Pulsschlagader fand. Sie blähte sich auf wie ein Gartenschlauch, der mit Wasser gefüllt wird. Im gleichen Augenblick aber spritzten rote Blutfontänen in die Luft. Es schienen unzählige zu sein, von allen Seiten kamen sie. Es sah aus, als seien Wasserspiele in einem Schloßgarten angestellt worden. Nur daß die einzelnen Fontänen hier blutrot waren … Erschrocken starrten alle Anwesenden auf dieses Bild, das ihnen Schrecken und Angst einjagte. Dr. Bruckner preßte sofort wieder das Tuch über die Wunde und drückte fest darauf …
Loretta Grothen war nach dem Unfall davongelaufen. Sie hatte gesehen, daß es Lydia Heusmann war, die sich vor das Auto warf. Sie ahnte, daß sie es ihretwegen getan hatte. Lydia war die Freundin Peter Patricks gewesen, bis sie, Loretta, mit Peter bekannt wurde. Sie hatte ihn ihr ausgespannt. Patrick machte es ihr leicht. Sie war die ältere, die erfahrenere, und sie verstand es eben, mit Männern umzugehen. Aber daß das dumme Ding so etwas machen würde … Loretta war ziel- und planlos durch die Stadt gelaufen. Sie wußte 40
nicht, wo sie war. Sie war einfach davongerannt – vor sich selbst, vor dem Unfall, vor ihrem Gewissen. Sie hatte Angst, daß ihr Name in die Angelegenheit verwickelt würde. Ihre Eltern würden ihr das sehr übelnehmen. Sie wußten von der Bekanntschaft mit Peter nichts, wußten auch nicht, daß sie … Erschrocken sprang sie zur Seite. Beinahe wäre sie selbst von einem Auto überfahren worden, das mit polizeiwidriger Geschwindigkeit um die Ecke brauste. Sie wußte nicht, wie lange sie umherirrte. Es wurde schon dunkel, und sie fand sich am Aachener Weiher wieder. Es war ihr ein wenig unheimlich, in der hereinbrechenden Dämmerung durch die Grünanlagen zu gehen. Überall glaubte sie Gesindel zu sehen, das ihr nachstarrte. Da ergriff sie Angst. Sie lief davon. Sie hatte jetzt nur noch ein Ziel – so rasch wie möglich nach Hause zu kommen! Sie fand ein Taxi und winkte es heran. Sie gab dem Chauffeur die Adresse und stieg ein. Immer wieder überlegte sie. Vielleicht hätte sie nicht davonlaufen sollen? Sie glaubte fest daran, daß Patrick sie nicht verraten würde. »Wir sind da – Fräulein!« Der Taxifahrer berührte sie am Arm. Sie fuhr zusammen und starrte den Chauffeur erstaunt an. Sie mußte sich erst besinnen, was vorgefallen war. »Ach so – danke!« Sie stieg aus. Der Chauffeur rief hinter ihr her: »Sie müssen aber auch bezahlen, Fräulein!« »Entschuldigen Sie …« Sie suchte nach ihrem Portemonnaie, fand es aber nicht. Der Taxichauffeur wurde unwillig. Er war gleichfalls ausgestiegen und trat drohend zu ihr: »Umsonst fahren, das gibt es bei mir nicht!« »Sie bekommen ja Ihr Geld. Ich werde schnell meinen Eltern klingeln.« Sie lief zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf. Mißtrauisch blieb der Taxichauffeur neben ihr stehen. Es dauerte lange, ehe sich jemand in der Rufanlage meldete. 41
»Ich bin es – Loretta –« Der Taxichauffeur war ganz nahe herangetreten, um sich kein Wort entgehen zu lassen. »Du?« hörte man eine erstaunte Frauenstimme durch den Lautsprecher, »du bist schon zurück? Ich dachte, du wolltest erst spät zurückkommen? Ist das Theater schon aus?« »Ich bin nicht hingegangen.« Loretta sprach in abgehackten Sätzen. »Ich fühle mich nicht wohl. Ich bin mit einem Taxi zurückgekommen. Nun muß ich feststellen, daß ich kein Geld habe. Kannst du herunterkommen und den Chauffeur bezahlen?« »Aber Loretta«, die Stimme der Mutter klang besorgt, »ich komme sofort!« Loretta atmete erleichtert auf. Der Taxichauffeur trat einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie nur«, sagte er, »aber Sie müssen verstehen, es gibt so viele Betrüger!« Er bemühte sich, mit Loretta eine Konversation anzufangen. Aber sie wollte nicht mit ihm sprechen; eine Unruhe hatte sie erfaßt, und sie zitterte am ganzen Körper. Der Taxichauffeur sah es. »Es tut mir leid …« sagte er und trat einen Schritt zurück, als fürchtete er, angesteckt zu werden. Da öffnete sich die Haustür und eine rundliche Frau im Morgenmantel erschien. Sie hielt eine Geldbörse in der Hand und fragte den Chauffeur: »Wieviel macht es?« »Zwei Mark fünfundsiebzig –« »Da haben Sie drei Mark, – der Rest ist für Sie!« Hoheitsvoll raffte Frau Grothen ihren Morgenmantel und schob den Arm unter den ihrer Tochter. »Du armes Kind!« Mitleidig betrachtete sie die blasse Loretta: »Wie siehst du nur aus!« Sie stieß die Haustür auf und führte die Tochter die Treppe hinauf. »Du legst dich am besten gleich ins Bett!« In der Diele brannte helles Licht. Die Mutter schaute die Tochter noch einmal genau an: »Du bist seit einigen Tagen schon so merkwürdig«, sagte sie schließlich, »die Krankheit muß schon eine ganze Weile in dir stecken! Leg dich bitte sofort ins Bett!« Ihre Stimme klang jetzt 42
sehr bestimmt. »Ich werde dir Tee kochen. Du mußt schwitzen, dann wird alles ganz rasch vorbeigehen!« Frau Grothen lief um ihre Tochter herum wie eine Glucke um ein verängstigtes, wiedergefundenes Kücken. »Ich gehe am besten gleich auf mein Zimmer.« Bevor die Mutter noch irgend etwas antworten konnte, war Loretta schon verschwunden. Hart knallte eine Tür ins Schloß. Die Mutter schaute ihr verblüfft nach. »Kann ich dir etwas helfen?« rief sie durch die geschlossene Tür. »Du weißt, deine Mutter ist immer für dich da! Du solltest dankbar sein, daß du noch eine Mutter hast!« Frau Grothen hörte, wie ihre Tochter im Zimmer herumwirtschaftete. Schubladen wurden herausgezogen, und eine Schranktür knallte ins Schloß. »Suchst du etwas, Liebling?« Die Mutter wollte die Tür öffnen, aber sie war abgeschlossen. »Warum schließt du dich ein?« Jetzt war Frau Grothen empört. »Du wirst dich doch nicht vor deiner eigenen Mutter verschließen, – einschließen? Kind!« Ihre Stimme ging in ein Lamentieren über. Sie lauschte, ob die Tochter antworten würde. Aber immer weiter hörte man das Suchen, das Klappen von Schubladen und Türen … Plötzlich wurde der Schlüssel herumgedreht. Loretta stieß die Tür so rasch auf, daß sie um ein Haar Frau Grothen getroffen hatte. »Hast du aus meinem Zimmer etwas weggenommen?« Die Stimme Lorettas klang hart. Sie zitterte vor Aufregung. Auch die Hände zitterten. »Ich werde doch aus deinem Zimmer nichts fortnehmen, Kind!« Die Mutter trat rasch in das Zimmer, um der Tochter die Möglichkeit zu nehmen, sich wieder einzuschließen. Suchend sah sie sich um. »Was du bloß angerichtet hast!« Sie bückte sich, um die Gegenstände aufzuheben, die Loretta auf den Boden geworfen hatte. »Wo sind die Tabletten, die hier auf dem Nachttisch lagen?« Loretta zeigte mit zitternder Hand auf die leere Nachtischplatte. 43
Die Mutter überlegte, dann fragte sie: »Du meinst die zerdrückten Kopfschmerztabletten, die da lagen?« Sie schüttelte den Kopf. »Die habe ich fortgeworfen! Die waren doch völlig zerdrückt.« Eifrig fuhr sie fort: »Erst gestern habe ich im Rundfunk einen Vortrag gehört, daß man Tabletten nicht liegenlassen soll. Alles, was nicht gebraucht wird, soll gleich vernichtet werden. Man kann sich so leicht vergiften! Entweder werden die Dinger schlecht, oder man verwechselt sie mit anderen Medikamenten und kann sich den Tod holen. Nein, nein, die sind weg!« Loretta stampfte mit dem Fuß auf. Sie war äußerst erregt. »Wo hast du die Tabletten hingeworfen?« fragte sie. »Ich muß sie sofort wiederhaben!« Das Zittern ihrer Hände übertrug sich auf den ganzen Körper. Selbst ihre Lippen, die leichenblaß waren, zitterten jetzt. »Aber Kind, wenn dir so schlecht ist, dann gebe ich dir von mir Tabletten! Ich habe gerade welche gegen Migräne verschrieben bekommen. Sie helfen ausgezeichnet! Der Arzt hat gesagt, es seien die besten, die es gäbe. Soll ich sie dir holen?« Frau Grothen drehte sich um und wollte zur Tür hinaus, als Loretta sie festhielt. »Wo hast du meine Tabletten hingeworfen? Ich will die haben und keine anderen! Andere Tabletten helfen mir nicht.« Beinahe hysterisch hatte es Loretta hinausgeschrien. Frau Grothen sah ihre Tochter aus großen Augen an. »Ich habe sie in den Ausguß geschüttet und hinuntergespült. Im Radio hat man gesagt, das sei die einzig richtige Art, Tabletten unschädlich zu machen!« Loretta tobte. Sie stampfte mit dem Fuß auf, und es sah aus, als wollte sie ihrer Mutter an die Gurgel gehen. Ängstlich wich Frau Grothen zurück. Sie bekam plötzlich Angst vor ihrer Tochter, die sie noch niemals in dieser Verfassung gesehen hatte. »Soll ich einen Arzt holen, Kind?« fragte sie schließlich verzweifelt. »Einen Arzt? Du bist verrückt!« Loretta ließ den Arm ihrer Mutter los. Sie drehte sich auf dem Absatz herum und lief hinaus. Sie knallte die Korridortür zu. Frau Grothen hörte fassungslos, wie ihre kranke Tochter aus dem Haus stürmte. 44
IV
U
m Gottes willen!« Heidmanns Augen starrten entsetzt auf das Tuch, das Dr. Bruckner über das durchtrennte Handgelenk gelegt hatte. Es färbte sich zusehends rot. »Anscheinend hält die Arteriennaht nicht?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Die Naht hält schon, aber die Blutung, die Sie da sehen, kommt von den kleineren Arterien. Es gibt ja nicht nur die Pulsschlagader, die die Hand mit Blut versorgt; der ganze Unterarm ist ja mit kleinen Adern durchsetzt. Aus jeder dieser Adern strömt natürlich Blut. Die müssen sich erst verschließen.« »Verschließen sich die denn von selbst?« Der wißbegierige Student konnte immer noch nicht den Blick von dem blutig getränkten Tuch wenden. »Normalerweise ja!« Dr. Bruckner nahm jetzt die linke Hand, um den Druck fortzusetzen. Die rechte Hand, die er dazu benutzt hatte, war erlahmt. »Sie dürfen auch nicht vergessen, daß nach dem Lösen einer Blutleere zunächst vermehrt Blut einströmt. Wenn Sie in der Kälte gewesen sind und Ihre Hand fast weiß geworden ist, und Sie kommen dann in ein warmes Zimmer, dann wird die Hand krebsrot! Eben weil der Körper sich bemüht, den Sauerstoffmangel, der durch die mangelnde Durchblutung aufgetreten war, durch vermehrte Blutzufuhr wieder wettzumachen.« Dr. Bruckner lüftete vorsichtig das Tuch. Die Blutung hatte tatsächlich etwas nachgelassen. Er winkte dem alten Chiron. »Richten Sie doch bitte einmal den Operationsscheinwerfer auf die Finger.« Chiron rückte die Operationslampe so zurecht, daß der Lichtschein voll auf die Hand fiel. Dr. Bruckner betrachtete aufmerksam die Handfläche. »Die Arteriennaht scheint erfolgreich gewesen zu sein. Die Hand sieht durchblutet aus!« 45
Dr. Phisto sah über die Abdeckung und betrachtete interessiert die jetzt freiliegende Hand. Er nickte: »Man sieht die bessere Durchblutung sogar trotz des Jodanstriches, der ja die Eigenfarbe völlig verdeckt. Vorhin, als Sie mit der Operation begannen, sah die Hand wie eine Totenhand aus – sie war weiß. Aber jetzt scheint sie doch Farbe zu bekommen. Der Jodanstrich sieht wie rotes Gold aus, während er vorhin mehr weißem Golde glich.« Der alte Pfleger fragte: »Soll ich die Blutleere wieder anlegen?« Dr. Bruckner nickte. »Wir haben der Hand genügend Zeit für die Durchblutung gegeben. Ich denke, wir können es wagen.« »Wir müssen es wagen!« drängte auch Dr. Phisto, der eben den Blutdruck gemessen hatte. »Der Blutdruck sackt allmählich wieder ab.« »Wollen wir nicht noch eine Blutkonserve durchlaufen lassen?« Fragend hatte Dr. Bruckner die fast leere Blutkonserve angesehen, die an dem Irrigatorständer hing. Dr. Phisto nickte. »Ich habe bereits veranlaßt, daß die nächste Konserve geholt wird.« Er schaute auf die Tür, die in den Vorbereitungsraum führte. In diesem Moment öffnete sie sich, und eine Schwester trat ein. »Sie sehen, Herr Dr. Bruckner«, Dr. Phisto nahm der Schwester die Blutkonserve aus der Hand und vertauschte sie gegen die leere am Ständer, »bei uns klappt alles wie am Schnürchen!« »Ich werde jetzt die Sehnennähte legen – dann muß ich die Nerven heraussuchen. Die Hauptnerven müssen auch noch zusammengenäht werden.« »Ich habe einmal gehört, daß Nerven nicht zusammenwachsen?« fragte Heidmann den schon wieder beschäftigten Dr. Bruckner. Er nähte mit rascher Hand die einzelnen durchtrennten Sehnen, die er vorhin markiert hatte, mit einem dicken Nylonfaden zusammen. Dabei antwortete er: »Das glaubte man früher einmal! Heute weiß man, daß eine gewisse Regeneration von Nervengeweben eintritt, wenn man die Nerven entsprechend aneinandernäht.« Er warf den Nadelhalter auf Schwester Euphrosines Tisch. »Jetzt 46
operieren wir schon fast drei Stunden …« Er schaute den alten Chiron an. »Können Sie nicht irgendwo eine Tasse Kaffee für mich schnorren? Ich brauche eine kleine Erfrischung. Die Geschichte ist doch anstrengender, als man es sich vorstellt.« Chiron verständigte Schwester Angelika, die sofort eine Tasse Kaffee bereitete. Es duftete aromatisch, als sie lächelnd die Tasse servierte. »Das habe ich mir gleich gedacht, Herr Doktor!« Sie trat an den Operationstisch und schaute auf das Operationsfeld. Anerkennend nickte sie. »Das sieht ja schon blendend aus!« »Wir haben es auch gleich geschafft.« Dr. Bruckner ließ sich von Schwester Euphrosine ein paar Gummihandschuhe geben und zog sie über. Eine Schwester half ihm, den Mundschutz von seinem Gesicht zu entfernen. Der Operateur zog sich in die äußerste Ecke des Saales zurück, nahm die Tasse mit der behandschuhten Hand und führte sie an den Mund. Mit genießerischen Schlückchen trank er die Tasse leer. »Das tat wirklich gut«, meinte er, »man sollte es einführen, daß zwischen den Operationen Kaffee serviert wird!« »Dann kriegen Sie aber bestimmt Krach mit der Verwaltung!« Schwester Angelika stemmte ihre Arme in die Hüften. »Sie wissen doch, daß es verboten ist, den Ärzten Klinikverpflegung zu geben.« Dr. Bruckner stellte die geleerte Tasse auf den Tisch zurück. Er zog sich die Überhandschuhe ab, warf sie in das Waschbecken, und trat wieder an den Operationstisch. »Wir könnten uns da von den Engländern eine Scheibe abschneiden. Als ich in England arbeitete, bekam man nach jeder Operation so viel Tee serviert, wie man nur haben wollte! Die einzige Sorge, die dort die Verwaltung hatte, war, daß der Tee auch gut genug sei! In den meisten Krankenhäusern gab es sogar einen Teeraum für Chirurgen!« Mit der Pinzette griff Dr. Bruckner nun wieder in die Tiefe der Wunde. Die Spitze der Pinzette brachte ein dickes Gebilde heraus, das wie ein durchtrenntes elektrisches Kabel aussah. »Das ist der Nervus ulnaris«, erklärte Dr. Bruckner, »jedenfalls der obere Teil davon. Ich muß jetzt noch den unteren suchen. Dann brau47
chen wir nur noch die beiden anderen Hauptnerven des Unterarms zu finden und aneinanderzunähen.« »Was werden Sie mit dem Knochen machen?« fragte Johann Heidmann. »Ich werde jeden der beiden Knochenenden mit Hilfe eines Drahtes zusammenbringen. Einen richtigen Nagel kann ich hier nicht einschlagen. Er würde unweigerlich in das Gelenk gehen. Und da die Nägel ziemlich dick sind, würde ich das Gelenk zerstören. Aber ich habe eine andere Idee …« Während er sprach, hatte er die beiden Nervenstümpfe herausgefischt. Er begann, die Nerven mit feinsten Seidenfäden aneinanderzunähen. »Jetzt ist wirklich alles präpariert.« Staunend schaute Heidmann auf das Operationsgebiet. Auch Schwester Euphrosine konnte sich des Lobes nicht enthalten: »So etwas habe ich noch nie gesehen«, bekannte sie, »und ich habe in meinem langen Schwesternleben doch schon allerhand erlebt!« Dr. Bruckner errötete, als er das Lob der alten Schwester vernahm. Es war das erstemal, daß Schwester Euphrosine, die sonst eigentlich immer nur nörgelte, solche Worte aussprach. Es berührte ihn stärker als jedes Lob eines Vorgesetzten. »Geben Sie mir bitte zwei Kirschner-Drähte«, forderte er. Schwester Euphrosine reichte sie ihm. »Brauchen Sie auch den Bohrapparat dazu?« fragte sie. Dr. Bruckner nickte: »Sicher!« Schwester Euphrosine gab dem Pfleger einen Wink. Chiron nahm aus einem Schrank einen elektrischen Drillbohrer. Er hielt ihn der Schwester so hin, daß sie über seinen Griff ein steriles Tuch spannen konnte. »Genügt Ihnen das so?« fragte sie. Dr. Bruckner nickte. »Ausgezeichnet, Schwester!« Er steckte den langen dünnen Draht auf das Maul des Bohrers und befestigte ihn dort. Dann drückte er auf den Knopf, jedoch der elektrische Motor rührte sich nicht. »Haben Sie Strom drin?« Dr. Bruckner verfolgte mit seinem Blick die Schnur, die aus einer Steckdose kam. 48
Der alte Chiron nickte. »Natürlich!« Seine Stimme klang beleidigt. »Ich gebe Ihnen doch kein Gerät, das nicht arbeitet, Herr Doktor!« »Aber es springt nicht an!« Dr. Bruckner drückte mehrmals auf den Knopf. Der Motor rührte sich nicht. »Man kommt sich furchtbar dämlich vor, wenn man auf einen Knopf drückt und wartet, daß etwas geschieht!« meinte der immer zu einem Scherz aufgelegte Dr. Phisto. »So ist es wahrscheinlich auch in der Hölle! Dort gibt es allerhand Knöpfe, die irgendwelchen Komfort versprechen. Man darf sie zwar bedienen, aber es passiert nichts! Alles bleibt stumm. Man drückt und drückt in ohnmächtiger Wut …« »Ich glaube, es ist besser, wir lassen diese müßige Unterhaltung!« Dr. Bruckner war nervös geworden. Alles lief bisher wie am Schnürchen, nun sollte die letzte Phase der Operation nicht klappen, weil die elektrische Bohrmaschine defekt war! »Das Ding wird so wenig gebraucht«, entschuldigte sich Chiron, »da kann es schon mal vorkommen, daß es kaputt geht.« Dr. Phisto hob mahnend den Zeigefinger. »Jetzt müssen Sie sich aber wirklich beeilen! Sonst kommt die Patientin wieder in den Schock. Und ob ich sie aus dem wieder herausbekomme, das weiß ich nicht!« Er drehte an der Schraube, die die Blutzufuhr aus der Konserve regelte. Er stellte sie etwas stärker ein, so daß das Blut nicht mehr tropfte, sondern regelrecht in die Adern der Verletzten floß. Dann pumpte Dr. Phisto die Manschette des Blutdruckapparates auf. Dabei wurde sein Gesicht bedenklich. »Wir müssen uns wirklich beeilen.« Zischend ließ er die Luft aus der Gummimanschette des Oberarmes ab. »Wenn der elektrische Apparat nicht funktioniert, dann machen Sie das Handgelenk einfach zu. Die Patientin muß jetzt ins Bett. Sonst kann ich für nichts mehr garantieren.« Ein lähmendes Schweigen legte sich auf alle. Verzweifelt schaute Dr. Bruckner auf die Kurve, die Dr. Phisto hochhielt. Der rote Strich, der den Blutdruck zeigte, war erheblich abgesunken. »Vielleicht hilft noch ein Kreislaufmittel«, Dr. Phisto griff nach einer Spritze, die auf dem 49
Narkosetisch lag, »aber das wäre nur ein Aufpeitschen für kurze Zeit. Es würde ausreichen, um die Operation zu beenden.« Dr. Bruckner überlegte. Die Gedanken rasten durch sein Gehirn. Die Aussicht, einfach zumachen zu müssen, ohne den letzten Schritt getan zu haben, ärgerte ihn. Da waren von draußen harte Schritte zu hören. An dem asymmetrischen Takt erkannte man, daß es Professor Bergmann war!
Loretta Grothen lief wieder durch die Straßen. Sie wußte nicht, wohin sie lief. Sie befand sich in einem Trancezustand. Plötzlich schrak sie zusammen. Sie war an der Stelle, an der sich Lydia vor das Auto geworfen hatte. Sie schauderte zusammen. Auf der Straße war noch die Blutlache … Doch als sie näher herankam, sah sie, daß es gar kein Blut war. Es war nur ein abgerissenes Plakat! Ihre Phantasie hatte sie genarrt. Plötzlich wurde sie angesprochen. Ein alter Mann stand neben ihr. »Es war ein schrecklicher Unfall«, sagte er. »Die junge Frau ist übel zugerichtet worden. Aber das können Sie ja nicht wissen. Heute abend, vor kurzem ist es erst passiert! Da hat sich hier eine junge Frau vor ein Auto geworfen!« Er schaute Loretta an, um die Reaktion seiner Worte festzustellen. »Denken Sie nur, eine Hand wurde ihr abgefahren. Ich habe es ganz deutlich gesehen. Es war die rechte. Furchtbar so etwas! Ich kenne es aus dem Krieg, daß jungen Menschen die Gliedmaßen abgeschossen wurden. Sie sind hinterher nicht mehr dieselben. Irgend etwas verändert sich …« Er sprach wie zu sich selbst. Trotzdem ließ er aber Loretta keinen Augenblick aus den Augen. Diese fürchtete sich etwas vor dem Mann. Sie hatte das Gefühl, er wisse etwas. Sie wollte fortgehen, aber konnte es nicht. Würde sie sich noch verdächtiger machen? »Wo ist denn die Frau hingekommen? Ist sie tot?« 50
Loretta kannte ihre eigene Stimme nicht wieder. Sie war heiser. Ihr war, als spräche jemand anderes neben ihr … Der alte Mann schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich glaube nicht. Sonst hätte man den Leichenwagen gebracht. Aber sie ist in einem richtigen Krankenwagen abtransportiert worden. Soviel ich hörte, hat man sie in die Bergmann-Klinik gebracht.« »Und der junge Mann?« fragte sie wie unter einem Zwang. »Welcher junge Mann?« gab der Alte zurück. »Der am Steuer saß«, meinte Loretta. »Woher wissen Sie, daß das ein junger Mann war?« Die Blicke des Alten streiften sie mißtrauisch. Aber er war viel zu redselig, um sein Mißtrauen nicht gleich wieder zu vergessen. »Er ist von der Polizei mitgenommen worden. Ja, der war betrunken! Das war klar, und jeder hat es gemerkt! Der kann sich auf was gefaßt machen. So etwas wird heute schwer bestraft. Mit Recht …« Der alte Mann hob den Zeigefinger wie ein Universitätsdozent, der seinen Studenten etwas erklärt. »Wenn die Polizei da nicht ganz streng einschreitet, würden wir alten Leute schon lange nicht mehr leben. Die jungen Burschen nehmen doch auf niemand mehr Rücksicht. Am wenigsten auf uns …« Loretta drehte sich um und lief voller Verzweiflung davon, ohne den Alten noch eines Blickes zu würdigen. Sie atmete erst auf, als sie um eine Ecke gekommen war. Vorsichtig schaute sie sich um – der Alte war ihr nicht gefolgt! Jetzt begannen sich ihre Gedanken zu ordnen. Sie ging langsamer und stellte während des Gehens einen Plan auf. Irgend etwas mußte geschehen. Die Tabletten, die die Mutter fortgeworfen hatte, fielen ihr ein. Sie verabscheute diese ewigen Bevormundungen und haßte ihre Mutter, die immer so tat, als sei sie noch ein kleines Mädchen! Dabei war sie schon neunundzwanzig Jahre … Die Tabletten – die mußte sie haben. Sie hatte sie dummerweise auf dem Nachttisch liegenlassen, von dem ihre Mutter sonst nie etwas nahm. Ausgerechnet heute, wo sie die Tabletten nötiger brauchte denn je, mußte das passieren! 51
Sie wußte, wo sie eventuell neue bekam. Im ›Club‹ würde wohl noch Vorrat sein … Sie hatte nicht weit zu gehen. Der Club befand sich in der Nähe der Unfallstelle. Sie war mit Patrick auf dem Wege dorthin gewesen, als sich Lydia vor den Wagen warf. Sie hatte eine kleine Querstraße erreicht und stand vor dem unscheinbaren Haus, an dem sich kein Schild befand. Sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür. Sie mußte den Hof überqueren. Ganz hinten befanden sich Kellertreppen. Sie ging hinab und klopfte an eine Eisentür. Sie mußte eine Weile warten, ehe eine Stimme von drinnen fragte: »Wer ist da?« »Ich – Loretta.« »Jetzt kommst du erst?« Ein Schlüssel drehte sich in einem rostigen Schloß, und die Tür öffnete sich. Ein junger Mann mit blondem Haar schaute sie fragend an, während seine Augen an ihr vorbeigingen, als suchten sie etwas anderes. »Wo ist Patrick?« murmelte er. Loretta sah sich scheu um, als fürchtete sie einen Lauscher. »Laß mich erst eintreten«, sagte sie, »dann erzähle ich dir alles.« Der blonde junge Mann trat bereitwillig zurück. Als sie hereingekommen war, schloß er die Tür hinter ihr. Schweigend ging er Loretta voraus einen langen, dämmrigen Kellergang entlang. Ganz hinten war eine zweite Eisentür. Sie war nur angelehnt. Der Begleiter öffnete sie. »Bitte!« Loretta sah ihn erstaunt an. »Seit wann bist du so ironisch?« Der Blonde ließ ein merkwürdiges Lachen hören. »Ironisch? Wie kommst du darauf?« »Oder bist du wirklich einmal höflich? Ich bin überzeugt, daß diese Höflichkeit irgend etwas zu bedeuten hat.« Der Blonde kicherte. »Meinst du?« sagte er mit singender Stimme. »Es bedeutet aber wirklich nichts! Ich übe nur eine andere Pose. Man kann doch nicht immer gleich bleiben. Im Augenblick habe ich meine höfliche Tour!« Er trat hinter eine Theke und fragte: »Was darf es sein, Liebling?« 52
Loretta kletterte auf den Barhocker. »Einen Kognak – aber einen großen!« Der blonde junge Mann nahm ein Glas und stellte es auf die Theke. Er griff nach einer Flasche, hielt sie einen Augenblick in der Hand, warf sie in die Luft und fing sie geschickt wieder auf. Fast im gleichen Augenblick hatte er sie so geneigt, daß der Kognak aus der Flasche in das Glas floß. Man bemerkte bei der schnellen Bewegung nicht einmal, daß er die Flasche gekippt hatte. Es sah aus, als sei sie ihm von selbst schräg in die Hand gefallen. Es war ein toller Trick. Loretta nahm das Glas und kippte es hinunter. »Hast du was von dem Zeug da?« fragte sie, als sie das Glas wieder zurückstellte. Der Blonde hob die Flasche. Fragend schaute er Loretta an: »Noch einen?« Loretta schüttelte den Kopf. »Aber wenn du einen auf meine Rechnung trinken willst – bediene dich nur.« »Du bist ja heute so spendabel!« Er füllte sich ein Glas, nippte daran und stellte die Flasche wieder in das Regal zurück. »So«, er setzte sich auf einen Barhocker gegenüber Loretta, »und jetzt erzähle mal der Reihe nach, was passiert ist. Du wolltest mir doch schon vorhin sagen, wo Patrick ist?«
»Hier ist er!« Der Wärter war vor Patricks Zellentür stehengeblieben. Der Gerichtsarzt trat an seine Seite. Der Wärter hob die Klappe des Gucklochs hoch und schaute hindurch. »Es sieht aus, als schlafe er.« Er wendete den Kopf zur Seite, damit der Polizeiarzt hindurchsehen konnte. Patrick lag noch auf dem Boden. Seine Augen waren geschlossen; wie leblos lag er da. Nur an dem regelmäßigen Heben und Senken der Brust sah man, daß er atmete. Der Gefängnisarzt trat zurück, »Öffnen Sie die Tür«, forderte er den 53
Wärter auf. Er öffnete die kleine Handtasche, die er bei sich trug, und nahm ein Hörrohr heraus. Der Wärter rasselte mit seinem großen Schlüsselbund. Er schloß die Tür mit einem altmodischen, langen Schlüssel auf. Der Wärter zog die Tür auf. Er trat als erster ein, blieb neben dem Eingang stehen und wartete, bis der Polizeiarzt die kleine Zelle betreten hatte. Der Doktor beugte sich über den am Boden Liegenden. Er schüttelte ihn, aber Patrick reagierte nicht. Der Arzt rüttelte wieder, schließlich kniff er Patrick in den Arm. Da schlug dieser die Augen auf. Verständnislos schaute er um sich. Offensichtlich wußte er nicht, wo er sich befand. »Wissen Sie, wo Sie sind?« Die Stimme des Gefängnisarztes klang laut. Er glaubte wohl, er müßte Patrick anbrüllen, damit der ihn verstünde. Der Gefangene richtete sich auf. Er schaute um sich. Lange dachte er nach. Schließlich nickte er: »Im Gefängnis!« »Ich würde nicht Gefängnis sagen«, korrigierte ihn der Doktor. Er hatte sich auf den Boden gekniet, um in gleicher Höhe mit Patrick zu sein. Er war ein alter Mann, und das Bücken strengte ihn sehr an. Er nahm aus der Tasche eine Taschenlampe und ließ ihren Strahl in Patricks Augen fallen. Zufrieden nickte er. Dann hielt er das Stethoskop an Patricks Brust. »Nicht atmen …« forderte er ihn auf. Gehorsam hielt Patrick die Luft an. Es dauerte lange, bis der Arzt die Untersuchung abgeschlossen hatte. Dann stand er auf und lehnte sich gegen die Wand, während er das Stethoskop zusammenlegte. »Alkohol haben Sie nicht getrunken«, begann er die Unterhaltung, »das ist einwandfrei durch die Blutuntersuchung erwiesen worden. Aber welches Medikament haben Sie genommen, das Sie in diesen Zustand versetzt hat?« Die Augen des Polizeiarztes wichen nicht einen Augenblick von Patricks Gesicht. »Ich habe doch keine Arznei genommen«, sagte der schließlich verschlossen, »ich bin doch nicht krank.« 54
Es war, als ob die Konversation ihn aus seinem Trancezustand löste. Er richtete sich auf, saß einen Augenblick auf dem Boden der Zelle und konnte schließlich aufstehen. Ihm wurde etwas schwindelig, und er mußte sich an der Zellenwand festhalten. Aber der Schwächezustand dauerte nicht lange, und er hatte sich wieder in der Gewalt. »Bitte«, sagte er, »lassen Sie mich gehen.« Es sah aus, als wollte er hinaus. Aber der Wärter schob sich zwischen ihn und den Ausgang. »So einfach geht das nicht«, herrschte er ihn an. Er mußte sich bezähmen, Patrick nicht derb anzufassen. »Warum halten Sie mich fest, wenn Sie selbst feststellen mußten, daß ich keinen Alkohol getrunken habe?« »Immerhin haben Sie einen Menschen fast totgefahren«, antwortete der Wärter. »Sie haben ja meine Papiere! Ich bitte Sie, mich sofort zu entlassen.« Der Wärter zuckte mit den Schultern. Er winkte den Arzt heraus und sagte zu seinem Häftling: »Sie werden noch dem Schnellrichter vorgeführt! Der wird entscheiden, ob Sie bleiben müssen, oder ob wir Sie entlassen können.« Damit ging er schnell hinaus und schlug die Zellentür hinter sich ins Schloß. »Der Mann gefällt mir nicht«, sagte der Polizeiarzt, während er den Wärter über die Flure begleitete. »Ich bin überzeugt, daß er unter dem Einfluß irgendeiner betäubenden Droge stand oder noch steht. Was es ist, kann ich aber nicht sagen. Wir haben keine Möglichkeit, es genau festzustellen. Ich bin lediglich auf die Angaben des Mannes angewiesen. Und er hat den größten Teil seines Rauschzustandes bereits überwunden, so daß er nicht mehr gefährlich ist.« Sie betraten das Büro des Kommissars. »Nun«, begrüßte dieser den Arzt, »haben Sie irgend etwas Verdächtiges gefunden?« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er, »jedenfalls läßt sich nichts durch eine Untersuchung feststellen.« »Dann liegt kein Grund vor, daß wir ihn hierbehalten. Wir haben seine Adresse; es besteht keine Gefahr, daß er flüchtet. Was meinen Sie dazu?« 55
Der Polizeiarzt antwortete: »Das zu entscheiden ist nicht meine Aufgabe. Ich kann Ihnen lediglich sagen, daß ich bei dem Mann nichts habe feststellen können, was seine Festnahme irgendwie rechtfertigt.« »Gut.« Der Kommissar winkte dem Wärter. »Dann lassen Sie den Mann laufen!« »Was ist denn hier los?« Professor Bergmann trat an den Operationstisch. Fragend schaute er Dr. Bruckner an. »Ihr macht solche betrübten Gesichter, als ob die Patientin schon tot sei.« Er blickte über die Brille. »Aber das sieht doch alles phantastisch aus!« Oberarzt Wagner war mit dem Professor eingetreten. Er wollte etwas sagen, aber Dr. Bruckner ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Die Bohrmaschine funktioniert nicht!« Verzweifelt drückte er wieder auf den Knopf, der das Instrument in Betrieb setzten sollte. Es rührte sich nicht. »Soweit habe ich alles fertig – die Sehnennähte sind gelegt, die Nerven miteinander vereinigt – die Gefäßnähte halten. Aber nun kann ich die Knochen nicht zusammenbringen, weil der Apparat entzweigegangen ist.« »Wir müssen uns zudem sehr beeilen!« Dr. Phisto hatte die Kurve mit dem roten Strich dem Chef gezeigt. »Der Blutdruck ist noch mehr abgesunken. Viel länger kann ich die Narkose nicht aufrechterhalten, ohne der Patientin zu schaden.« Professor Bergmann zog die Augenbrauen zusammen und dozierte: »Einmal könnte man den Arm einfach in Gips legen. Mit größter Wahrscheinlichkeit heilen die Knochen auch ohne Nagelung zusammen. Natürlich wäre es besser, wenn wir eine Drahtverbindung schafften. Aber …« Er packte seinen Krückstock und ging auf den Glasschrank zu, der in der Ecke des Operationssaales stand. Er öffnete ihn und betrachtete die Fächer, in denen Instrumente ausgelegt waren. Ein Gerät nahm er heraus. »Wir haben ja noch diesen altmodischen Bohrer. Ihr jungen Leute meint immer, daß man nur mit Elektrizität arbeiten kann. Wir haben früher keine elektrischen Bohrmaschinen gekannt. Wir haben unsere Eingriffe mit diesem altehrwürdigen Gerät«, er humpelte auf den Operationstisch zu und drehte an der Kurbel des 56
Bohrers, »… vorgenommen und genau die gleichen Ergebnisse erzielt, wie Sie heute mit elektrischen, verfeinerten Bohrmaschinen!« vollendete er den Satz. »Daran habe ich nicht gedacht«, bekannte Dr. Bruckner. »Natürlich nicht!« Der Professor lachte. »Heute weiß kein Mensch mehr, daß man zur Fortbewegung auch noch Beine hat. Wenn das Auto streikt, kann der Brief nicht in den Kasten geworfen werden!« Schwester Euphrosine hob abwehrend die Hand. »Das Instrument ist nicht steril!« »Das macht nichts!« Professor Bergmann mußte lachen, als er das entsetzte Gesicht der alten Operationsschwester sah. »Die Bohrer selbst«, er zeigte auf den Instrumententisch, auf dem die Einsätze für den elektrischen Bohrer lagen, »sind ja steril. Wir brauchen nichts weiter zu tun, als um den Bohrer ein steriles Tuch zu wickeln. Wenn sich dann Dr. Bruckner bemüht, mit seinen Händen nicht die unsterilen Teile zu berühren, ist alles gut.« Dr. Phisto warf besorgt ein: »Dauert es noch lange?« »Nein!« Dr. Bruckner griff nach den Tüchern, die Schwester Euphrosine hielt. Das eine schlang er um den Handgriff des Bohrers und packte ihn damit fest an. Das zweite Tuch legte er um den Handgriff, mit dem das Rad betrieben wurde. Er hielt das Instrument dem Famulus hin und meinte: »Schieben Sie bitte einen sterilen Bohrer in die Öffnung.« Heidmann tat, was ihm Dr. Bruckner aufgetragen hatte. Er schob den Stahlstift in die Öffnung des Handdrillbohrers. Als er die Schraube anziehen wollte, die den Bohrer feststellte, schlug ihm Dr. Bruckner leicht auf die Finger. »Nein!« In der Erregung sprach er lauter, als er es sonst zu tun pflegte. »Sie dürfen doch die Mutter nicht berühren. Das muß wiederum mit einem Tuch geschehen. Bitte, Schwester, geben Sie Herrn Heidmann auch ein Tuch.« Der Student errötete. »Entschuldigen Sie«, stammelte er. Aber Dr. Bruckner hatte sich schon gefaßt. »Sie konnten es nicht wissen. Sie sind noch nicht so lange in der Chirurgie, daß Ihnen die Keimfreiheit in Fleisch und Blut übergegangen wäre.« 57
Er sah zu, wie Johann Heidmann das Tuch zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und unter seinem Schutz die Schraube anzog. »Jetzt kann es losgehen!« Dr. Bruckner setzte den Bohrer auf den Knochen an. Er drehte das Rad, und wirbelnd fraß sich der Stahlbohrer in den Knochen. »Spritzen Sie bitte Wasser«, forderte er Heidmann auf. Dieser nahm die große Spritze, die ihm Schwester Euphrosine reichte. Auf die Bohrstelle ließ er einen Strahl kalten Wassers fließen. Trotzdem erwärmte sich der Knochen so stark, daß er anfing zu dampfen. »So!« Der Bohrer war auf der anderen Seite herausgekommen, und Dr. Bruckner zog ihn zurück. Er wiederholte die Bohrung an dem handwärts liegenden Knochenteil. »Jetzt brauchen wir das gleiche Manöver nur noch an der Speiche zu wiederholen!« Dr. Bruckner begann, und bald traten ihm Schweißtropfen auf die Stirn. Professor Bergmann beobachtete ihn lächelnd. »Es ist natürlich etwas mühsamer, alle diese Dinge mit der Hand auszuführen. Aber wir haben es früher auch gemacht, und es hat uns nichts geschadet.« Dr. Bruckner stieß den Bohrer mit einem Ruck durch den Knochen. »Ich meine fast, daß es mit diesem Handbohrer besser geht als mit dem elektrischen. Man hat mehr Gefühl!« Professor Bergmann nickte. »Genau! Man kann mit einem Handbohrer viel besser dosieren. Man kann vor allem die Geschwindigkeit besser regulieren. Trotzdem …«, er nahm Dr. Bruckner das Instrument ab, das dieser nach hinten hielt, »… möchte ich nicht mehr auf die Hilfe des elektrischen Stromes bei unseren Operationen verzichten.« Dr. Bruckner nahm einen großen Draht vom Tisch der Schwester und prüfte ihn vorsichtig auf Haltbarkeit. »Es ist erstaunlich, wieviel ein solcher rostfreier Stahldraht aushält.« Der geschickte Chirurg führte den Draht durch die Bohrlöcher des oberen und unteren Knochenteils. Schwester Euphrosine reichte ihm eine sterile Flachzange. Mit ihrer Hilfe zog Dr. Bruckner die Drahtenden fest zusammen, schlang und drehte sie immer fester herum. Die beiden Knochen saßen schließlich fest aufeinander. 58
»Kneifzange, bitte!« Schwester Euphrosine reichte ihm die sterile kleine Zange, und Dr. Bruckner knipste die hervorstehenden Enden ab. Mit der Flachzange drehte er sie nach innen, so daß die Spitzen in den Knochen hineinzeigten. »Das müssen wir jedesmal machen«, wandte er sich an Johann Heidmann, »denn wenn wir die Spitzen nach außen stehenlassen würden, dann konnte es vorkommen, daß sie sich durch die Haut bohren. Dann würde es eine Infektion geben.« »Bitte beeilen Sie sich«, ermahnte Dr. Phisto wieder. Sein Gesicht sah besorgt aus. »Ich werde noch rasch eine Spritze geben, die den Blutdruck in die Höhe treibt. Aber Sie müssen in den nächsten zehn Minuten fertig werden!« »Ich denke, ich werde es schaffen.« Dr. Bruckner streckte seine Hand aus – Schwester Euphrosine reichte ihm, ohne daß er etwas forderte, den Draht. Geschickt fädelte er ihn durch die verschiedenen Bohrlöcher und zog das Ganze mit der Flachzange an. Doch kaum wollte er die Flachzange absetzen, da riß der Draht … Erschrocken schaute Thomas Bruckner Dr. Phisto an. »Jetzt brauche ich doch etwas länger«, sagte er. Schwester Euphrosine hatte ihm bereits einen neuen Draht gereicht. Wieder führte Dr. Bruckner den Draht durch die Bohrlöcher und besorgt ging zwischendurch sein Blick zu Dr. Phisto, der ununterbrochen den Blutdruck maß. Diesmal zog Dr. Bruckner den Draht etwas vorsichtiger an. Er hielt. Mit einer Kneifzange schnitt er wieder die Enden ab und drehte die Spitzen nach innen. »Jetzt brauche ich nur noch die Hautnaht zu legen!« Er warf die Flachzange auf den Tisch zurück, streckte die Hand aus, um die Hautnaht in Empfang zu nehmen. In diesem Augenblick ertönte ein seltsames, schnarchendes Geräusch. Es hörte sich an, als ob jemand gegen einen Widerstand atme. Im selben Augenblick wurde das Gesicht der Patientin dunkelblau – fast violett. Die Adern am Hals traten dick hervor. Die Hals59
muskeln, die zu den Schlüsselbeinen zogen, standen wie dicke Stränge hervor. »Um Gottes willen!« schrie Schwester Euphrosine auf. »Die Frau erstickt …«
Peter Patrick hielt sich krampfhaft aufrecht, als er das Zimmer des Kommissars verließ. Am liebsten hätte er sich wieder hingelegt. Er fühlte sich schwach und hatte das Gefühl, als ob er jeden Augenblick ohnmächtig werden würde. Es gelang ihm aber, sich zusammenzunehmen. Hocherhobenen Hauptes – vielleicht ein wenig zu steif – verließ er das Zimmer und ging auf die Straße. Es war ihm noch ein guter Abgang gelungen. Die frische Luft tat ihm gut. Ein Taxi fuhr vorbei. Er winkte ihm, und es kam hart an den Bordstein gefahren. Er öffnete den Schlag und ließ sich in die Polster fallen. Der Chauffeur schaute ihn mißtrauisch an. Irgend etwas gefiel ihm an diesem jungen Mann nicht. »Wohin wollen Sie?« fragte er ihn ziemlich barsch. Die mißtrauische Stimme holte Peter wieder in die Gegenwart zurück. »Fahren Sie mich …«, er zögerte. Soviel er auch nachdachte, er konnte nicht auf den Namen der Straße kommen. Der Taxichauffeur machte Anstalten auszusteigen. Patrick fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sagte entschuldigend: »Ich habe eben einen kleinen Schwächeanfall gehabt. Aber ich werde Ihnen sagen, wie Sie fahren müssen.« Der Taxichauffeur warf noch einen mißtrauischen Blick auf seinen blassen Gast, dann schaltete er den ersten Gang ein. »Wohin nun?« fragte er. »Fahren Sie zunächst geradeaus«, forderte ihn Patrick auf, »ich werde Ihnen dann sagen, wo Sie einbiegen müssen.« Immer wieder warf der Chauffeur mißtrauische Seitenblicke auf seinen Gast. Aber der hatte sich inzwischen beruhigt. Mit angelehntem Kopf saß er da und gab seine Anweisungen. 60
»Ich bin sonst immer selbst gefahren«, sagte er als Erklärung, »aber ich hatte heute einen Autounfall. Da ist mir etwas komisch zumute geworden …« Der Fahrer atmete erleichtert auf. »Daher sind Sie auch aus dem Polizeigebäude gekommen«, nickte er verständnisvoll. »Ich dachte schon …« Er sprach seinen Verdacht nicht aus. »Da vorn ist es!« Patrick deutete mit dem Zeigefinger auf ein unscheinbares Gebäude in der kleinen Nebenstraße. »Halten Sie dort bitte – oder nein –«, verbesserte er sich, »fahren Sie ein paar Häuser weiter! Ich möchte nicht, daß Sie gerade vor dem Eingang halten.« Der Chauffeur tat, was ihm sein seltsamer Fahrgast aufgetragen hatte. Er fuhr ein paar Häuser weiter und hielt an. »Macht drei Mark fünfundzwanzig.« Er brachte den Taxameter in Haltestellung. Patrick nahm seine Geldbörse aus der Tasche und reichte dem Chauffeur den verlangten Fahrpreis, legte ein gutes Trinkgeld dazu und wollte aus dem Wagen springen. Aber wieder überfiel ihn der Schwindel. Er mußte sich einen Augenblick am Schlag festhalten. Langsam, mit gesenktem Kopf, ging er an den Häusern vorbei zurück und verschwand im Innern eines Gebäudes. Er ging die Kellertreppe hinunter, wie sie Loretta hinuntergegangen war. Er brauchte aber nicht zu klopfen. Er hatte einen Schlüssel für die Eisentür. Er öffnete sie, wollte eintreten – stutzte – lauschte … Er hörte deutlich Lorettas Stimme. Seine Augenbrauen zogen sich unmutig zusammen. Sie hätte er am wenigsten hier erwartet! Schon wollte er wieder umkehren und die Tür leise schließen, da kam der blonde Barmann um die Ecke. Er hatte das Geräusch der aufgehenden Tür gehört. Peter Patrick wollte abwehren, aber der Blonde bemerkte seine Geste zu spät. »Mensch – Patrick!« rief er aus, »wir haben gerade von dir gesprochen …« 61
Dr. Bruckner starrte fasziniert auf das Gesicht der Patientin, die sich aufbäumte und mit dem Kopf zuckende Bewegungen ausführte. Was dann geschah, ereignete sich so rasch, daß man kaum folgen konnte. Thomas Bruckner stand mit einem Satz neben Dr. Phisto. Von irgendwoher hatte er plötzlich ein Bronchoskop in der Hand. Er trat hinter die Patientin und schob das Instrument in den Rachen. Er vollführte ein paar hebelnde Bewegungen mit dem Kopf, und das Instrument glitt in den Hals der Patientin. Dr. Bruckner bewegte es hin und her. Suchend spähte er in das Innere. »Eine Faßzange!« Seine Stimme klang aufgeregt. Er streckte seine Hand aus. Dr. Phisto begriff. Er reichte ihm die lange schmale Zange, die für das Bronchoskop geschaffen war. Dr. Bruckner führte sie ein. Er bewegte die Handgriffe ein paarmal hin und her und zog dann langsam die Zange aus dem Instrument heraus. Fast im gleichen Augenblick begann die Patientin tief einzuatmen. Der erste Atemstoß hörte sich an wie ein Seufzer der Erleichterung. Auch die Umstehenden seufzten erleichtert auf. Das Gesicht der Patientin verlor die blaue Färbung. Es wurde heller, rosiger … Die zuckenden Bewegungen des Kopfes hörten auf, und die Patientin lag ruhig atmend, entspannt da. Professor Bergmann war der erste, der sprach. »Was ist passiert?« Er trat neben Dr. Bruckner. Der alte Chiron war auch hinzugekommen. Er hielt eine Glasschale in der Hand. Dr. Bruckner hielt die Zange über die Schale. Er öffnete die Branchen. Mit einem leisen Klick fiel etwas auf den Boden der Glasschale … Oberarzt Wagner war an die andere Seite Dr. Bruckners getreten. Er nahm das Gebilde, das auf dem Boden der Schale lag, zur Hand. Kopfschüttelnd zeigte er es Professor Bergmann: »Ein Stück Zahn!« Dr. Bruckner nickte. »Es ist tatsächlich ein Stück abgebrochener Zahn!« »Wie kamen Sie auf den Gedanken, daß es sich um so etwas handeln 62
könnte?« Professor Bergmann schaute seinen jungen Assistenten bewundernd an. Dr. Bruckner wurde unter dem Lob des Chefs unsicher. Er sagte: »Um ehrlich zu sein: Ich habe nicht an einen Zahn gedacht! Ich vermutete nur, daß irgendein Fremdkörper in die Luftröhre gelangt war. Manchmal ist es einfach ein Schleimpfropf. An so etwas habe ich auch gedacht. Daß ich den Zahn entdeckt habe, war reines Glück.« »Natürlich war es reines Glück«, mischte sich Oberarzt Wagner ein. Er ließ den Zahn wieder in die Schale zurückfallen. »Oder Nachlässigkeit?« »Wieso Nachlässigkeit?« Dr. Bruckner kniff die Augen zusammen und maß seinen Gegner. »Nachlässigkeit, weil sich der Operateur nicht vorher vom Zustand der Zähne überzeugt hat! Es ist seine Pflicht, sich vor jedem Eingriff davon zu überzeugen, daß solche Pannen nicht passieren können.« Die Stimme des Oberarztes klang schneidend. Er hatte endlich seine Selbstsicherheit wiedergefunden. »Die Untersuchung, ob während einer Operation irgendeine Komplikation seitens der Atemwege auftreten kann, ist nach heutiger Ansicht Aufgabe des Anästhesisten und nicht des Operateurs«, wies Professor Bergmann seinen Oberarzt zurecht. »Zum anderen könnte ich mir vorstellen, daß in diesem Falle nicht viel Zeit zu verlieren war. Die Operation drängte. Da muß man von den allgemeinen Regeln schon einmal absehen.« Der Chefarzt wandte sich an Dr. Bruckner. »Sie sagten, Sie hätten Glück gehabt«, er legte die Hand auf die Schulter seines Assistenten, »aber es gibt ein altes Sprichwort: ›Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige!‹« Er nickte dem Oberarzt zu, dann wandte er sich um. »Kommen Sie«, forderte er Dr. Wagner auf, ihm zu folgen. »Die Operation ist beendet. Wir sind hier überflüssig.« An der Tür des Operationssaales blieb er noch einmal stehen. »Wenn sich irgend etwas Unvorhergesehenes ereignet, benachrichtigen Sie mich! Ich werde heute nacht in der Klinik bleiben.« 63
V
L
oretta faßte Patrick am Arm. »Haben sie dich wieder freigelassen?« Sie starrte ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Er wollte sich freimachen, aber sie ließ ihn nicht los. Sie schlang beide Arme um seinen Hals und rief: »Ich bin froh, daß du wieder hier bist! Ich hatte solche Angst um dich.« Sie legte ihren Kopf an seine Brust, und ein hysterisches Schluchzen erschütterte ihren Körper. Aber Patrick machte sich brutal frei. Er drückte Loretta in einen Sessel. »Mach mich nicht ganz verrückt!« schrie er und konnte sich kaum beherrschen. »Das hat die Polizei schon versucht! Aber es ist ihr nicht gelungen.« Er lachte unmotiviert auf. »Was ist mit Lydia?« Loretta schien sich gefangen zu haben. Ihre Stimme klang fast normal. »Es war schrecklich, wie sie in den Wagen hineinlief …« Bei dem Gedanken an den Unfall schlug Loretta die Hände vors Gesicht. »Es war schrecklich!« flüsterte sie noch einmal. Der Barkeeper war hinter die Theke getreten. Er stützte die Ellenbogen auf und fragte: »Was wollt ihr trinken?« Seine Stimme klang geschäftsmäßig. Man merkte es ihm an, daß ihn das Schicksal Lydias in keiner Weise interessierte. Sein Hauptgedanke war, seine Ware zu verkaufen. »Ich will nichts trinken«, fuhr Loretta den Blonden wütend an. Wieder hatte sie fast augenblicklich das vergessen, was sie eben noch so sehr zu bewegen schien. »Ich möchte etwas von dem Zeug haben!« Ihre Stimme klang fordernd. Der Barkeeper veränderte seine Stellung nicht. Ein breites Grinsen 64
zog über sein Gesicht. »Von dem Zeug?« wiederholte er. »Wenn ich nun nichts habe …« Da fuhr Patrick auf. Seine Gestalt, die sehr groß und schlank war, straffte sich. Er ging drohend auf die Theke zu. »Du kannst uns doch nicht sagen, daß du nichts mehr hast! Es ist doch erst vor einigen Tagen eine Sendung aus Paris gekommen.« Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Sie war an Lydia adressiert. Sie sollte sie heute bringen. Ich weiß nicht, wo sie sie gelassen hat.« Patrick kniff die Augen zusammen. »Sie war an Lydia adressiert«, wiederholte er. Er überlegte. »Hoffentlich hat die Polente das Zeug nicht bei ihr entdeckt!« Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe es nicht, – für Lydia!« Seine Blicke gingen zu Loretta, die in einem Sessel zusammengesunken war. »Es könnte sonst Ärger geben. Mir kann man ja nichts nachweisen.« »Du bist ein Schwein!« fuhr ihn Patrick an. Es sah aus, als wollte er ihn anspucken. Aber er beherrschte sich im letzten Augenblick. »Wenn Lydia reinfällt, bist du genauso dran!« Der blonde Barkeeper schüttelte lächelnd den Kopf. »Da irrst du dich aber gewaltig. Ich habe alle Vorkehrungen getroffen, daß mir so etwas nicht passiert …« Als er sah, daß Patrick wütend auffahren wollte, lenkte er begütigend ein. »Ich habe ja noch ein paar von den Tabletten.« Er öffnete eine Schublade an der Theke und nahm eine Schachtel heraus, die die Aufschrift ›Schmerztabletten‹ trug. Loretta war aufgesprungen. Ihre Augen weiteten sich gierig. Sie wollte nach der Schachtel greifen. Aber der Blonde zog sie rasch zurück. »So rasch geht das nicht. Erst müßt ihr zahlen! Das Zeugs ist teuer. Ich habe es mühsam besorgt, und es ist das letzte, was ich habe.« Aber Patrick war schneller als er. Er packte zu und hatte schon die Schachtel in der Hand. Der Barmann wollte sie ihm wieder abnehmen. Er kam hinter der Theke vor. Aber die große, schlaksige Gestalt Patricks flößte ihm Furcht ein. »Wir rechnen später ab!« Patrick hielt die Schachtel hinter seinen 65
Rücken. »In jeder Hinsicht …« fügte er hinzu, als er das enttäuschte Gesicht des Barkeepers sah. Loretta war dicht herzugetreten. Ihre Blicke suchten nur die Schachtel. Sie streckte begehrend die Hand aus. »Bitte !« bat sie, »gib mir eine Tablette!« Patrick hatte plötzlich das Bedürfnis, diese Frau zu quälen. »Doch nicht gleich hier und sofort …« sagte er ausweichend. Da warf sich Loretta vor ihm auf die Knie. Sie umfaßte seine Unterschenkel. »Bitte – bitte –« Peter Patrick empfand plötzlich Ekel vor dieser Frau, die sich so erniedrigte. Er öffnete die Schachtel, nahm eine von den weißen Tabletten heraus und reichte sie ihr. Loretta riß sie ihm förmlich aus der Hand und steckte sie in den Mund. Der Barmann brachte ihr eine Tasse mit starkem Kaffee, die sie hastig leerte. Während sie trank, nahm sich Patrick gleichfalls eine Tablette aus der Schachtel. Auch er ließ sich Kaffee geben, der die Wirkung der Droge erheblich steigert. Darm reichte er dem Barmann die Schachtel zurück. »Es scheinen noch einige Tabletten drin zu sein …« sagte er gönnerhaft. Der Blonde riß ihm die Schachtel aus der Hand und öffnete sie. Mit zitternden Fingern zählte er den Rest. »Ja«, sagte er, »es sind genau noch zwei Stück drin. Das ist aber wirklich der Rest. Mehr habe ich nicht. Wenn nicht bald Nachschub aus Paris kommt, bin ich aufgeschmissen. Dann kann ich unseren Club nicht mehr mit Stoff versorgen. Aber einige haben ja noch Vorrat, den sie mitbringen.« Loretta ging langsam zur Wand, an der eine Couch stand. Mit einem Seufzer ließ sie sich darauf fallen. Patrick setzte sich neben sie. Er schlang seinen Arm um ihren Nacken. Beide hatten nun die Augen geschlossen und warteten friedlich auf die Wirkung, die die LSD-Tabletten ausüben würden …
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»Darf ich den Operationsbericht schreiben?« Der Famulus Heidmann fragte es, nachdem er Dr. Bruckner auf Station begleitet hatte. Dieser schaute ihn erstaunt an. »Glauben Sie, daß Sie das können?« Johann Heidmann nickte eifrig. »Ich möchte es wenigstens versuchen! Ich kann ihn ja zunächst auf Konzeptpapier schreiben. Wenn Sie dann später korrigieren würden?« Dr. Bruckner klopfte Johann Heidmann anerkennend auf die Schulter. »Das ist sehr gut! Auf diese Weise lernen Sie am besten. Schreiben Sie nur, und lassen Sie den Zettel in der Krankengeschichte liegen. Ich werde ihn mir morgen ansehen. Dann sind Sie ja wohl schon über alle Berge?« Heidmann nickte. »Morgen früh um acht Uhr fahre ich los.« »Hat Ihnen das Schicksal nun schon verraten, wohin Sie fahren sollen?« Lächelnd sah Dr. Bruckner den Famulus an, doch dieser schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« »Und wenn nun gar kein Wink kommt?« Dr. Bruckner öffnete die Tür zu der Station, auf der Lydia Heusmann untergebracht worden war. Der Professor hatte selbst dafür gesorgt, daß durch Zusammenlegen ein Einzelzimmer frei gemacht wurde. »Was machen Sie dann?« Johann Heidmann folgte Dr. Bruckner in das Dienstzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. »Dann bleibe ich eben hier!« Dr. Bruckner verneinte. »Ich werde mich aber weigern, Sie auf Station zu beschäftigen. Sie haben Ihren Urlaub redlich verdient.« Schwester Angelika trat ins Zimmer. »Darf ich den Herren Kaffee kochen?« fragte sie. Dr. Bruckner lächelte. »Nicht mehr um diese Zeit«, sagte er, »sonst kann ich nicht schlafen. Und ich glaube, ich brauche meinen Schlaf in dieser Nacht.« Auch Johann Heidmann lehnte ab. »Nein, danke. Geben Sie mir lieber bitte die Krankengeschichte der neuen Patientin. Ich möchte die Eintragungen machen.« Schwester Angelika griff auf den Schreibtisch und reichte ihm das Gewünschte. »Die Personalien sind bereits ausgefüllt. Sonst aber …«, sie hob das Blatt in die Höhe und öffnete es, »… ist noch alles leer.« 67
Johann Heidmann nahm die Krankengeschichte zur Hand. Ein Briefumschlag fiel heraus. Fragend hielt er ihn in der Hand. »Was ist das?« »Ach so«, meinte die Schwester und reichte den Briefumschlag Dr. Bruckner. »Wir haben bei der Patientin diesen Umschlag gefunden. Ich habe ihn nur in einen größeren Umschlag gesteckt, weil ihn Chiron aus Versehen aufgerissen hatte. Da kam weißes Pulver heraus. Wir wissen nicht, was es ist.« Dr. Bruckner entnahm vorsichtig dem braunen Umschlag das weiße Kuvert. Der größte Teil des Pulvers war in den braunen Umschlag verschüttet. Er betrachtete den Absender. »Kommt aus Paris …« Schwester Angelika schaute ihn fragend an. »Ich habe der Polizei keine Mitteilung davon gemacht. Ich glaube, es ist besser. Wir haben ja ein Berufsgeheimnis zu wahren.« Dr. Bruckner nickte. »Wir wollen alles gut aufheben. Sollte die Polizei aus irgendeinem Grunde danach verlangen, können wir es herausgeben. Aber von uns aus sind wir nicht verpflichtet, irgendwelche Angaben zu machen.« Er wollte den weißen Umschlag wieder in den braunen zurückstecken, als er stutzte. Ihm war ein Gedanke gekommen. »Es sieht fast so aus, als ob das Schicksal Ihnen tatsächlich den Urlaubsort genannt hat«, sagte er zu Heidmann. Dieser nickte. »Daran habe ich eben auch schon gedacht. Darf ich den Absender noch einmal sehen?« Dr. Bruckner nahm den Umschlag wieder heraus und reichte ihn Heidmann. Der notierte sich: »Paris, 325, Rue de la Huchette.« »Vielleicht ist es tatsächlich ein Wink des Schicksals, daß ich dorthin fahren soll. Paris ist allerdings keine Erholung; nicht das Richtige, um einen stillen Urlaub zu verbringen!« Thomas Bruckner reichte Johann Heidmann die Hand. »Ich wünsche Ihnen jedenfalls gute Reise und vergessen Sie nicht, mir einmal eine Karte zu schreiben. Ich würde gern erfahren, wo Sie schließlich gelandet sind!« Dr. Bruckner verließ das Dienstzimmer. Johann Heidmann wartete, 68
bis auch Schwester Angelika gegangen war. Dann nahm er noch einmal den großen braunen Umschlag, in dem sich der kleinere Brief befand, zur Hand. Er überlegte, dann faltete er den Brief kurzerhand zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche.
Der blonde Barkeeper betrachtete zufrieden die beiden jungen Menschen. Allmählich stellte sich die Wirkung der Droge ein. Sie lachten, Loretta stand sogar auf. Sie drehte sich selbstvergessen um sich; es war, als tanzte sie einen seltsamen Tanz … Peter erhob sich ebenfalls. Mit großen, weit geöffneten Augen ging er auf Loretta zu. Er lachte laut. Er zeigte auf Figuren, die niemand anders als nur er selbst sah. Sie schienen sich in bunten, kreisenden Wirbeln um ihn herum zu drehen … Plötzlich lauschte er. Ein verzückter Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er summte eine Melodie vor sich hin – es war, als begleitete er eine Musik, die niemand hören konnte … Der Barkeeper beobachtete die beiden gelassen. Ihm war dieser Anblick vertraut. Im ›Club‹, wie er seinen Kellerraum nannte, trafen sich jeden Abend eine Reihe junger Leute. Sie sahen ihre ganze Seligkeit darin, sich mit Hilfe des LSD eine Scheinwelt zu schaffen. Ihr Vorbild waren etwa eine Million Amerikaner, vor allem Studenten, die der Wirkung dieser bewußtseinserweiternden Droge verfallen waren. Dem LSD, einer sogenannten ›psychodelischen‹ Droge, zu huldigen war ein Kult, der sich von Amerika aus wie eine Seuche über die westliche Welt ausbreitete. Zu dumm, daß der Barkeeper heute keinen Nachschub erhalten hatte! Er schaute auf die Uhr. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die nächsten kämen. Junge Menschen, die begierig waren, mit ihren eigenen ›Ichs‹ zu sprechen, die eine Welt kennenlernen wollten, die ihnen normalerweise verschlossen blieb: Die Welt der Phantastereien, der Halluzinationen, kurz – eine Welt der Sinnestäuschungen … 69
VI
J
ohann Heidmann saß im TEE, der ihn nach Paris brachte. Er hatte den Brief als einen Wink des Schicksals aufgefaßt, das ihm sein Reiseziel angab. Er griff nach der Brusttasche. Darin war eine Fotokopie des Briefumschlages, den Schwester Angelika bei der verunglückten Frau gefunden hatte. Das Krankenhaus besaß einen eigenen Fotokopierapparat. Heidmann war gestern abend noch mit dem Brief ins Labor gegangen, hatte ihn schnell abgezogen und dann wieder in die Krankengeschichte gelegt. Er wußte nicht recht, warum er es tat. Irgendwie meldete sich sein Instinkt als Amateurdetektiv. Vielleicht konnte er mit der Fotokopie des Umschlages bei dem angegebenen Absender etwas anfangen … Johann Heidmann war sicher, daß er dort eine ganze Menge erfahren würde, was vielleicht etwas mehr Licht auf diesen seltsamen Fall warf. Der Zug verlangsamte sein Tempo. Die ersten Häuser der Pariser Vorstadt tauchten auf. Der Student schaute auf die Uhr; mit der Pünktlichkeit französischer Eisenbahnen würde der Zug im Gare du Nord einlaufen. Heidmann hatte kein Hotelzimmer bestellt. Auch hier wollte er sich auf sein Glück verlassen. Dr. Bruckner hatte ihm ein Hotel beschrieben und gesagt, daß man es dort sicherlich möglich machen würde, ihn unterzubringen. Der Zug fuhr in die Bahnhofshalle ein. Der Student klappte das Buch zu, das er für die Reise mitgenommen hatte. Er steckte es in seine Reisetasche, die nur das Notwendigste enthielt: zwei bügelfreie Hemden, etwas Ersatzunterwäsche und einen Kulturbeutel. Er liebte es nicht, auf Reisen viel mitzunehmen. 70
Der Zug hielt, und Johann Heidmann stieg aus. Es gab keine Zollkontrolle. Ein Schild wies lediglich darauf hin, daß sich Reisende, die verzollbare Sachen hätten, links in das Bahnhofsgebäude begeben möchten. Ein Zöllner stand da und beobachtete, ob irgend jemand Verdächtiges zu sehen war. Heidmann suchte nach der Metro. Er fand rechts in der Vorhalle ein Schild, das auf sie hinwies. Rasch stieg er die Treppen hinunter und nahm die Linie nach Port d'Orleans. Er war kaum auf dem Bahnsteig, als der Zug auch schon einfuhr und sich die großen roten Türen, die ein weiteres Betreten des Bahnsteiges verhinderten, schlossen. Der Zug war leer. Es war eine direkte Linie bis Odeon, wo er aussteigen mußte. Er hatte sich vorher auf dem Plan von Paris genau informiert. Das Hotel, das ihm Dr. Bruckner empfohlen hatte, lag glücklicherweise nicht allzu weit von der Rue de la Huchette entfernt. Nachdem er den Boulevard St. Germain überquert hatte, fand er den kleinen Eingang zum Cour de Commerce, einen schmalen Durchgang zur Straße St. André-des-Arts. Der schmale Durchgang führte Heidmann plötzlich in eine fast verzauberte Welt. Die mit Kopfsteinen gepflasterte Straße und die kleinen Läden zu beiden Seiten erweckten den Eindruck, als ob er zweihundert Jahre zurückversetzt worden wäre. Er hatte in seinem Führer gelesen, daß hier, auf diesem Hof, sein berühmter Kollege Guillotin die ersten Versuche der Enthauptung mit der nach ihm benannten Guillotine an Hammeln ausgeführt habe! Dort an der Ecke war die kleine Druckerei, in der Marat seine Revolutionszeitung druckte. Die Druckerei existierte noch. Johann Heidmann ging suchend den schmalen Gang weiter. Auf der rechten Seite, zurückgebaut, entdeckte er das Hotel, das ihm Dr. Bruckner empfohlen hatte. Es war ein kleines, dreistöckiges Häuschen, das gar nicht recht in das heutige Paris hineinpaßte. Aber diese Passage war ja auch nicht das heutige Paris. »Hotel de Rouen«, las er. 71
Über der Tür war ein Marmorschild befestigt. ›Ici vécut Saint-Beuve‹ stand darauf. Er klingelte und mußte lange warten, bis die Tür geöffnet wurde. Eine alte Frau erschien und musterte ihn prüfend. »Ich hatte gern ein Zimmer«, sagte Heidmann. Die alte Frau – augenscheinlich die Besitzerin des Hotels – schüttelte den Kopf. »Wir nehmen keine durchreisenden Gäste mehr auf«, sagte sie. Und als sie das enttäuschte Gesicht Johann Heidmanns sah, fügte sie als Entschuldigung hinzu: »Wir sind zu alt, mein Mann und ich. Wir haben nur noch Dauermieter – Studenten!« Sie wollte die Tür wieder schließen. Aber Johann Heidmann war entschlossen, auf jeden Fall in diesem Hotel zu wohnen. Er hob rasch die Hand. »Entschuldigen Sie – Madame!« In seiner Haltung lag wohl etwas, das die Inhaberin stutzen ließ. »Bitte?« fragte sie. »Herr Dr. Bruckner aus Köln schickt mich. Er läßt Sie herzlich grüßen.« Über das Gesicht Madames lief ein freudiger Schimmer. »Dr. Bruckner schickt Sie!« Sie öffnete weit die Tür. »Das ist etwas anderes! Treten Sie bitte ein.« Froh folgte ihr Johann Heidmann in das Innere. Sie öffnete die Glastür zu der Loge, wo ihr Mann saß und sich ein Fernsehspiel anschaute. »Der Herr kommt von Dr. Bruckner«, sagte sie. Mit einer Handbewegung deutete sie auf ihren Mann. »Das ist mein Mann, Monsieur Tissier!« »Sie kommen von Dr. Bruckner?« Der alte Herr erhob sich mühsam aus seinem Lehnstuhl und reichte dem Famulus die Hand. »Sie sind uns willkommen. Wir haben doch noch ein Zimmer frei?« Fragend schaute er seine Frau an. Sie nickte. »Er kann Zimmer drei haben.« Sie sah Johann Heidmann an. »Schauen Sie es sich aber erst einmal an, ob Sie es auch mögen!« Heidmann lächelte. »Es wird mir sicherlich gefallen. Dr. Bruckner hat mir von Ihrem Hotel soviel Gutes erzählt, daß ich überzeugt bin, es wird mir auch gefallen.« 72
»Trotzdem«, die Alte hob die Hand, »man soll nie die Katze im Sack kaufen. Jeder hat einen anderen Geschmack. Herr Dr. Bruckner liebte unser romantisches Hotel – weil es alt ist. Es gibt aber viele Kunden, die mögen es nicht, weil es zu alt ist!« Sie ging vor Johann Heidmann die Treppe hinauf, eine alte, winklige, quietschende Holztreppe. Heidmann folgte ihr. Die Wände waren schief, das ganze Haus sah aus, als ob es sich im Alter zusammengezogen hätte. Madame Tissier öffnete im ersten Stock die Tür zu Nummer drei. »Bitte!« Sie ließ den Gast eintreten und blieb an der Schwelle stehen. Forschend schaute sie ihn an. Johann Heidmann sah sich um. Er nickte. »Es ist ein wundervolles Zimmer – genauso, wie ich es mir im alten Paris vorgestellt habe.« Er trat ans Fenster und schaute hinaus. Der Blick ging auf den Cour de Commerce. Draußen zog eine Schar Studenten vorüber. Anscheinend war eine Vorlesung zu Ende, und sie strömten zu einer anderen. Die Besitzerin war ihm gefolgt und stand neben ihm. »Nachts ist es hier ganz ruhig. Das will für Paris etwas heißen. Sie können bis in den späten Morgen hinein ruhig schlafen – es wird Sie nichts stören, als das Getrappel der Studenten, die morgens um acht hier durch den Hof gehen.« »Ich nehme das Zimmer.« Heidmann streckte der Besitzerin die Hand entgegen. »Mein Name ist Johann Heidmann«, stellte er sich vor. »Und ich bin Madame Tissier.« Die Besitzerin ging wieder zur Tür. »Sie kommen bitte nachher gleich herunter und füllen den Anmeldezettel für die Polizei aus. Das ist hier in Frankreich wichtig. Sonst bekomme ich Ärger.« Johann Heidmann nickte. »Ich werde mich nur etwas frisch machen, dann komme ich sofort. Die Rue de la Huchette ist doch nicht weit von hier?« Johann Heidmann glaubte, auf dem Gesicht der Besitzerin ein fragendes Erstaunen zu sehen. »Rue de la Huchette?« wiederholte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein – die ist nicht weit von hier! Sie brauchen nur die Rue St. André-des-Arts ganz herunterzugehen, bis 73
zum Boul'Mich. Den überqueren Sie. Dann sind Sie schon in der Rue de la Huchette.« Sie hob warnend die Hand. »Aber das ist keine sehr gute Gegend«, fügte sie hinzu. »Es ist ein Araberviertel. Die Polizei macht dort oft Razzien.« Sie blieb noch eine Weile stehen, als erwartete sie von Johann Heidmann eine Erklärung, warum er ausgerechnet dorthin gehen wollte. Aber er nickte ihr nur freundlich zu und meinte: »Bis gleich!« Da schloß die Besitzerin die Tür. Heidmann hörte, wie sie mit ihren langsamen, schlurfenden Schritten den langen Korridor hinunterging und die quietschende Treppe hinabstieg. Dann holte er aus seiner Brieftasche die Fotokopie des Briefes hervor. Noch einmal überflog er den Absender. Er schaute auf die Uhr, es war Mittag. Das beste würde sein, wenn er zunächst einmal zu Mittag äße! Dr. Bruckner hatte ihm ein billiges Lokal angegeben. Das war nicht weit von der Rue de la Huchette entfernt. Es hatte wahrscheinlich keinen Zweck, jetzt schon dorthin zu gehen. Das Leben in diesen verrufenen Gegenden beginnt überall auf der Welt erst mit Einbruch der Dunkelheit … Der Famulus wusch sich, steckte seine Fotokopie wieder ein und ging hinunter. Er klopfte an die Glastür der Loge, aber sie war verschlossen. Anscheinend waren Herr und Frau Tissier einen Augenblick fortgegangen. So verließ er das Hotel und ging zum Boulevard St. Michel. Das Restaurant, das ihm Dr. Bruckner empfohlen hatte, hieß wie der Boulevard: ›St. Michel‹. Dr. Bruckner hatte ihm erklärt, daß es auf der rechten Seite sei, wenn er von der Fontaine St. Michel die Straße hinaufging. Er fand es sofort. Das Lokal hatte einen kleinen Vorgarten, in dem leider alle Plätze besetzt waren. Also ging er hinein. Der Kellner brachte ihm die Karte. Er hatte es Dr. Bruckner nicht glauben wollen, daß es hier ein komplettes Menü mit Vorspeise, Hauptgericht, Nachspeise, Getränk und Brot für fünf Francs – also knapp vier Mark – gab. »Vous desirez, Monsieur?« Der Kellner stand neben ihm. Johann 74
Heidmann zeigte auf die Karte. »Bringen Sie mir einen Tomatensalat als Vorspeise, dann ein Boeuf Bourgignon.« »Et comme boisson?« »De la bierre«, bestellte Johann Heidmann. Wortlos verschwand der Kellner.
»Wie geht es der Hand?« Dr. Bruckner betrat das Dienstzimmer. Schwester Angelika erhob sich und nahm die Kurve, an der sie gerade zeichnete, zur Hand. Sie reichte sie Dr. Bruckner. »Es geht ihr einigermaßen gut. Sie ist erst heute morgen aus der Narkose aufgewacht«, fügte sie hinzu. Dr. Bruckner nickte. »Hat sich Dr. Phisto schon um sie gekümmert?« Schwester Angelika bejahte. »Er war heute morgen schon um sechs Uhr da. Ich dachte, ich dürfte meinen Augen nicht trauen!« »Dann hat sie sich also von dem Schock völlig erholt?« »Ich denke schon – nur …« »Nur?« fragte Dr. Bruckner, als Schwester Angelika nicht weitersprach. »Die Hand selbst macht mir Kummer.« »Die Hand?« Dr. Bruckner kniff die Augen zusammen. »Wie meinen Sie das?« »Die Finger sehen so blau aus.« »Blau?« wiederholte Dr. Bruckner. Er faßte Schwester Angelika am Arm. »Kommen Sie – schauen wir gleich nach! Warum haben Sie mir das nicht eher gesagt?« Seine Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll. Schwester Angelika konnte ihm kaum folgen, so schnell lief er über den Korridor. Sie trippelte hinter ihm her. »Weil es eben erst aufgetreten ist«, verteidigte sie sich. Sie standen vor der betreffenden Tür, als der Oberarzt die Station betrat. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er Dr. Bruckner mit Schwester Angelika vor der Tür des Krankenzimmers stehen sah. »Wie geht es ihr?« fragte Dr. Wagner. 75
Dr. Bruckner zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Ich wollte mir gerade die Patientin anschauen …« »Ich komme mit«, entschied der Oberarzt, »Deswegen kam ich nämlich auch!« Er wartete, bis ihm Schwester Angelika die Tür öffnete. Dann trat er ein. Neben dem Bett blieb er stehen. Er runzelte die Stirn, als er die Hand sah, die auf einer Gipsschiene ruhte. »Das sieht ja entsetzlich aus!« Mit ängstlichem Gesicht schaute Lydia Heusmann den Oberarzt an. Es war zu spüren, daß sie Angst vor diesem finsteren Mann hatte, dessen Brille nach vorn gerutscht war. Dr. Bruckner reichte ihr sehr herzlich die Hand. »Guten Tag«, sagte er, »ich bin Dr. Bruckner – ich habe Sie gestern operiert!« Über das Gesicht Lydias lief ein freudiger Schimmer. »Ich danke Ihnen«, sagte sie. Ihr Blick glitt zur Hand. »Und was wird mit meiner Hand?« fragte sie dann ängstlich. Oberarzt Wagner berührte die Finger, die so blau aussahen, als hätte sie damit Waldbeeren gepflückt. »Merken Sie das?« fragte er schroff. Lydia schloß die Augen, weil sie feststellen wollte, ob sie die Berührung empfände. Dann nickte sie. »Ich merke, wenn Sie meine Finger berühren. Aber es ist ganz anders als sonst.« »Was heißt anders?« herrschte der Oberarzt sie an. »Sie müssen sich schon genauer ausdrücken. So verstehe ich Sie nicht …« Lydias verängstigter Blick ging zu Dr. Bruckner. Sie wollte sprechen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Es zuckte verräterisch um ihren Mund. Dr. Bruckner hielt ihre gesunde Hand fest. »Erklären Sie doch bitte einmal, was Sie damit meinen. Wieso ist es anders?« Seine Stimme klang beruhigend. »Haben Sie das Gefühl, daß die Finger eingeschlafen sind?« »Ja!« Lydias Gesicht leuchtete auf. Sie schenkte Dr. Bruckner einen dankbaren Blick. »Ganz genau so ist es – es ist das Gefühl, als ob die Finger eingeschlafen seien und dann jemand darüber hinwegstreicht. Werde ich meine Hand behalten?« fragte Lydia ängstlich. 76
Oberarzt Wagner machte ein mißbilligendes Gesicht. »Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Zuerst wollen Sie sich das Leben nehmen. Und nun haben Sie Angst, daß Sie ein winziges Stückchen dieses Lebens – eine Hand – verlieren könnten!« Er ging zur Tür und raunte Dr. Bruckner zu: »Ich habe es gleich gesagt, daß man sie abnehmen solle. Wir hätten uns Ärger und Zeit erspart.« Die Tür knallte hart ins Schloß. Dr. Wagners militärische Schritte hallten auf dem Korridor wider. Lydia Heusmann starrte ihm nach. Als die Schritte verklungen waren, sank sie zurück. Sie brach in ein Schluchzen aus. »Ich habe Angst«, sagte sie, »ich möchte hier 'raus!« Dr. Bruckner legte seine Hand auf ihre Schulter und bat: »Beruhigen Sie sich!« Er setzte sich auf die Bettkante. »Der Oberarzt meint es nicht so. Er ist ein rauher Mann. Chirurgen sind meistens rauhe Gesellen«, fügte er hinzu. Lydia schaute ihn aus großen Augen an. »Dann sind Sie aber kein Chirurg!« Unter anderen Umständen hätte diese Bemerkung ein Lächeln bei Dr. Bruckner hervorgerufen. Aber in diesem Augenblick erschien es ihm fast makaber. »Es gibt halt auch Ausnahmen«, antwortete für ihn Schwester Angelika. Die Patientin betrachtete wieder die Hand. »Nun werde ich sie doch verlieren«, schluchzte sie vor sich hin. Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Soweit ist es noch nicht.« Er wandte sich an Schwester Angelika. »Machen Sie bitte eine Eispackung – oder besser noch: Legen Sie die Hand in eine Schüssel mit Eis!« »Warum das?« fragte Schwester Angelika erstaunt. »Eis setzt die Lebensvorgänge herab«, erklärte Dr. Bruckner bereitwillig. »Wenn unter normalen Umständen eine Hand absterben würde, weil die Sauerstoffzufuhr nicht ausreicht – wie vielleicht in diesem Falle –, dann braucht das Gewebe weniger Sauerstoff, wenn es unter77
kühlt ist. Dann reicht die Sauerstoffversorgung vielleicht gerade aus! Wir müssen Zeit gewinnen, bis sich neue Blutgefäße gebildet haben. Dann können wir auch das Eis wieder fortlassen.« Er nickte Schwester Angelika zu. »Gehen Sie, holen Sie das Eis! Ich werde solange hier warten.« Die erfahrene Schwester verstand, daß er mit Lydia allein sprechen wollte. Sie verließ sofort das Krankenzimmer. Dr. Bruckner wandte sich Lydia zu. Leise und sehr behutsam fragte er: »Warum haben Sie das getan?« Lydia starrte ihn an und kämpfte mit sich. Immer wieder setzte sie zum Reden an. Schließlich brach es aus ihr heraus: »Ich weiß es nicht! Es ist wohl dieses Zeug, das ich genommen habe. Ich habe schon ein paarmal Depressionen danach bekommen. Gestern waren sie besonders stark. Vielleicht habe ich zuviel Tabletten geschluckt. Aber man muß ja immer mehr nehmen, damit sie wirken. Und dann …« Sie lauschte zum Korridor, auf dem Schritte ertönten. Aber das Geräusch verklang wieder. »… Patrick betrügt mich«, flüsterte sie leise. »Das war vielleicht das letzte, entscheidende Motiv, das …« Sie brach wieder im Satz ab. Die Tür hatte sich geöffnet. Schwester Angelika stand dort mit einer langen, schmalen Armwanne. In der Wanne waren kleine Eisstückchen. Dr. Bruckner nahm das Plastiktuch, das Schwester Angelika ihm reichte. Aber er legte es nicht unter die Wanne, wie Schwester Angelika es eigentlich haben wollte, damit das Bett geschont würde. Er legte es in die Wanne auf das Eis. Und auf das Plastiktuch legte er die Hand mitsamt der Schiene. Er deckte das Plastiktuch herum und legte auch Eisstückchen obendrauf. »So«, sagte er, »ich hoffe, daß wir damit die Hand über die nächsten gefährlichen Stunden retten können.« Auf dem Flur erklangen wieder energische Schritte. Schwester Angelika öffnete die Tür um nachzusehen. Eine ältere Dame ging suchend den Korridor entlang. Die Schwester ging hinaus, schloß die Tür und trat auf die Besucherin zu. »Sie wünschen?« 78
»Ich suche meine Tochter«, Schwester Angelika erschauerte über die Kälte, die dem Stimmklang innewohnte, »sie ist gestern nach einem Verkehrsunfall hier eingeliefert worden.« »Verkehrsunfall?« fragte die Schwester. »Ach so …« »Ich hätte auch Selbstmord sagen können!« Die Stimme der Frau klang jetzt noch härter. »Wer sind Sie bitte?« fragte Schwester Angelika. »Ich bin die Mutter.« Schwester Angelika geleitete sie ins Dienstzimmer. »Würden Sie bitte hier Platz nehmen«, sagte sie, »im Augenblick ist gerade der Arzt bei Ihrer Tochter. Ich werde Sie rufen, sobald sie allein ist.« Sie schloß die Tür des Dienstzimmers und ging zu dem Krankenzimmer zurück, in dem Lydia lag. »Ihre Mutter ist soeben gekommen«, erklärte sie. Das Gesicht Lydias nahm einen harten Ausdruck an. »Ein Wunder, daß sie sich überhaupt herbemüht hat!« Sie biß die Lippen zusammen. »Soll ich ihr sagen, daß Sie im Augenblick nicht fähig sind, Besuch zu empfangen?« mischte sich Dr. Bruckner ein, der die Veränderung auf dem Gesicht der Kranken richtig gedeutet hatte. Lydia überlegte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Lassen Sie sie ruhig hereinkommen«, entschied sie schließlich, »mich stört sie nicht.« Dr. Bruckner begleitete Schwester Angelika in das Dienstzimmer. Er trat auf Lydias Mutter zu. »Dr. Bruckner!« stellte er sich vor. Frau Heusmann erhob sich. Mißtrauisch sah sie ihn an. »Was macht meine Tochter für Dummheiten?« Ihre Stimme klang, als machte sie Dr. Bruckner für den Selbstmordversuch ihrer Tochter verantwortlich … Dr. Bruckner wollte auffahren, doch als er einen Blick in das verhärmte und enttäuschte Gesicht der Frau warf, änderte er seine Stimme. »Ob es sich wirklich um einen Selbstmordversuch handelt, steht noch nicht einmal fest. Es ist durchaus möglich, daß Ihre Tochter zufällig gegen das Auto gelaufen ist.« Er geleitete sie zur Tür. »Sie hat eine schwere Verletzung. Die Hand ist abgerissen worden. Ich habe sie wieder angenäht. Ich hoffe, daß sie anheilen wird!« 79
Die Frau stutzte und ihr Gesicht zeigte eine Spur Mitleid. Aber der flüchtige Sonnenstrahl verschwand schnell wieder. »In einem solchen Falle wäre es wirklich besser, sie wäre gestorben!« Schwester Angelika schaute erschrocken auf. Sie konnte die Frau nicht begreifen. »Ein Mensch, dem eine Hand fehlt, ist doch sowieso im Leben nichts mehr wert.« Dr. Bruckner öffnete die Tür und zeigte auf das Zimmer, das am Ende des Korridors lag. »Da drüben liegt Ihre Tochter«, schnitt er jede weitere Diskussion über das Thema ab. Er schaute zu, wie die Frau mit langsamen, müden Schritten über den Korridor ging. Sie zögerte vor der Tür des Krankenzimmers, und es dauerte lange, bis sie anklopfte. Erst als sie im Zimmer verschwunden war, kam Dr. Bruckner zu Schwester Angelika zurück. »Es ist auf jeden Fall noch ein Psychiater hinzuzuziehen. Da stimmt so allerhand nicht. Ich möchte fast annehmen, daß ein Nervenarzt im Augenblick wichtiger ist als wir Chirurgen.« »Kann der Psychiater nicht gleich die Mutter mit untersuchen?« Schwester Angelika warf die Kurve, die sie in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. »Die Alte scheint mir verrückter zu sein als die Tochter!« Dr. Bruckner ging ans Telefon.
»Die Patientin steht unter dem Einfluß irgendeiner Droge!« Der junge Psychiater hatte sich auf den Schreibtisch im Dienstzimmer der Frauenstation gesetzt. Er stellte die Füße auf einen Stuhl. Schwester Angelika hob drohend den Finger. »Sie machen uns alles schmutzig«, stöhnte sie, »wenn sich nachher jemand auf den Stuhl setzt, bekommt er einen schmutzigen Hintern.« Der Psychiater sprang gehorsam vom Schreibtisch herunter und setzte sich auf den Stuhl. »Sie sehen, ich mache ihn auch sofort wieder sauber!« 80
Und als er immer noch die Unmutsfalte auf Schwester Angelikas Stirn sah, fügte er lächelnd hinzu: »Wir Psychiater sind nun mal nicht so sauber wie die Chirurgen. Vor einer Operation fünfzehn Minuten lang die Hände mit Wasser und Seife bearbeiten! Puh!« Er schüttelte sich. »Das würde meine zarte Haut niemals aushalten! Da lobe ich mir unsere Gehirnwäsche!« Dr. Bruckner zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich neben den Kollegen. Fragend schaute er ihn an. »Was für ein Mittel kann es sein? Morphium?« Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Es sieht nicht so aus. Morphium hat andere Symptome. Meiner Erfahrung nach handelt es sich um ein Mittel, das in letzter Zeit sehr häufig gerade von Jugendlichen genommen wird.« Er griff in die Tasche, nahm ein Päckchen mit Zigaretten heraus und reichte es Dr. Bruckner. »Rauchen Sie?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Ich rauche zwar – aber keine Zigaretten.« »Sie gestatten, daß ich mir eine zwischen die Lippen stecke!« Der Psychiater nahm eine Zigarette, zündete sie umständlich an und blies den Rauch genießerisch von sich. »Es ist ein Laster, das aus den Vereinigten Staaten zu uns gekommen ist. Nachweislich sind 1965 schon 17 Menschen seinetwegen ins Irrenhaus gekommen. Haben Sie schon einmal etwas von LSD gehört?« Dr. Bruckner nickte. »Ich kenne es aus den Informationen der Tageszeitungen. Sie brachten spaltenlange Abhandlungen darüber. Unsere medizinische Presse hinkt – wieder mal – hinterher!« »Mir scheint, daß Ihre Patientin dieses LSD 25 nimmt.« »Was bedeutet eigentlich LSD?« unterbrach Schwester Angelika. »Es ist eine Abkürzung für Lysergsäure-Diäthylamid. Es fällt unter die sogenannten Phantastika. Das sind Medikamente, die Halluzinationen hervorrufen. Wir gebrauchen sie in der Nervenheilkunde, um bestimmte Psychosen künstlich hervorzurufen oder um Alkoholiker zu behandeln. Die Wirkung des Mittels ist noch längst nicht voll erforscht. Das Mittel ist relativ einfach zu beschaffen. Es wird von ei81
ner Schweizer Firma hergestellt. Die Abgabe erfolgt aber nur an Kliniken.« »Soviel ich weiß, hat die Firma die Produktion des Mittels aber inzwischen eingestellt?« fragte Dr. Bruckner. Der Psychiater nickte. »Die Produktion ist nicht eingestellt worden, aber die Abgabe des Mittels ist gesperrt.« »Und was soll nun mit der Patientin geschehen?« Oberarzt Wagner war in das Zimmer getreten. Er hatte die letzten Worte mit angehört. Der junge Psychiater stand auf, als der Oberarzt auf ihn zukam. »Ich würde vorschlagen, wir geben die Frau in die psychiatrische Klinik!« Er wandte sich an den Psychiater. »Sie gehört in Ihr Gebiet und nicht in unseres …« Der Psychiater nickte. »Ich halte es auch für das Richtige. Ich werde mit meinem Chef sprechen, daß ein Zimmer frei gemacht wird. Drüben bekommen wir dann schon heraus, um welches Mittel es sich genau handelt.« »Und wie wollen Sie das herausbekommen?« fragte Dr. Bruckner. »Ach«, der Psychiater lächelte. »Wir haben unsere eigenen Methoden. Ich sprach anfangs von Gehirnwäsche. Die kann man drüben ohne weiteres vornehmen. Wir haben Mittel genug, die auch die schwerste Zunge lösen …« »Gut!« Oberarzt Wagner hob gebieterisch die Hand. »Veranlassen Sie bitte, daß die Patientin sofort nach drüben verlegt wird. Ich weiß gar nicht, was sie hier überhaupt noch zu suchen hat.« Schwester Angelika hüstelte im Hintergrund. Dr. Bruckner schaute zu ihr. Sie schüttelte leicht den Kopf und machte ein entsetztes Gesicht. Dr. Bruckner verstand. Aber es hätte dieses geheimen Zeichens gar nicht bedurft – er hätte auch sonst gesprochen. »Die Patientin ist noch nicht verlegungsfähig!« »Was heißt das?« Oberarzt Wagners Stimme nahm wieder jenen Ton an, der verriet, daß er sich über die Bemerkung Dr. Bruckners ärgerte. »Es besteht die Gefahr, daß die Hand abstirbt. Sie muß unter dauernder Beobachtung bleiben. Drüben in der psychiatrischen Klinik mag 82
man wohl etwas von der Behandlung des Geistes verstehen, aber …« Dr. Bruckner machte eine angedeutete Verbeugung zu seinem psychiatrischen. Kollegen hin, »… vom Körperlichen verstehen wir etwas mehr. Stimmt das?« Der Psychiater drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Das wird wohl stimmen!« Er schaute Oberarzt Wagner an. »Wenn ich etwas an der Hand hätte, würde ich mich auch nicht von einem Psychiater behandeln lassen.« »Und umgekehrt, wenn ich etwas an meinem Geist hätte, würde ich nicht zu einem Chirurgen gehen!« ergänzte Dr. Bruckner den Satz. »Hier scheint mir aber doch der Defekt des Geistes das Vordringliche zu sein!« schnarrte die Stimme des Oberarztes. »Ich jedenfalls sehe nicht ein, weshalb Sie nicht täglich ein- bis zweimal hinübergehen und sich die Hand ansehen können. Schließlich ist es ja ganz egal, ob Sie sie hier weiterbehandeln oder drüben.« Man merkte es Oberarzt Wagner an, wie er sich beherrschen mußte, um nicht ausfallend zu werden. Die Gegenwart des Kollegen von der anderen Klinik hinderte ihn daran. »Es können jeden Augenblick Komplikationen auftreten, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen. Deshalb halte ich es für richtig, die Patientin hier zu lassen!« Dr. Bruckner erschrak über seine eigene Kühnheit. Er pflegte sich sonst nicht den Entscheidungen seiner Vorgesetzten entgegenzustellen. Aber in diesem Falle wehrte sich etwas in ihm dagegen, die Frau in die Psychiatrie zu verlegen. Er glaubte, daß er hier mit etwas Liebe und Einfühlungsvermögen weiterkommen würde, als die Psychiater mit allen modernen Behandlungsmethoden. »Wer ordnet hier an?« Die Ader auf der Stirn des Oberarztes schwoll bedenklich an. Sein Gesicht verfärbte sich rot. »Sie oder ich?« »In Verwaltungsangelegenheiten auf jeden Fall Sie«, Dr. Bruckner bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Aber in diesem Falle weigere ich mich, die Patientin zu verlegen. Es würde bedeuten, daß die Hand mit Sicherheit verloren ist. Schließlich ist es zunächst völlig gleichgültig, ob wir wissen, unter welcher Sucht diese Frau leidet.« 83
»Ganz so gleichgültig ist es doch nicht!« Der Psychiater widersprach. »Dieses LSD zum Beispiel, von dem ich annehme, daß sie es genommen hat, kann zu Depressionen führen. Ich weiß aus der Literatur, daß mehrere Selbstmordversuche unternommen worden sind, weil die Patienten seltsame Angstzustände bekommen. Drei Menschen sind nachweisbar zum Fenster hinausgegangen, weil sie glaubten, fliegen zu können! Sie müssen dafür sorgen, daß die Möglichkeit eines neuen Suizid Versuches ausgeschaltet wird.« Oberarzt Wagner sah hier eine Gelegenheit gekommen, erneut eingreifen zu können. »Wollen Sie die Verantwortung übernehmen, daß diese Frau nicht wieder einen neuen Selbstmordversuch begeht?« fragte er Dr. Bruckner. »Unsere Klinik kommt in ein schlechtes Licht, wenn hier so etwas geschieht. Man wird uns mit Recht vorwerfen, daß wir die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen außer acht gelassen haben. Nein!« Er streckte sich, um seine kleine Gestalt größer erscheinen zu lassen. Mit einer gebieterischen Geste sagte er zu Schwester Angelika, die sich im Hintergrund zu schaffen machte: »Sorgen Sie dafür, daß die Frau sofort abtransportiert wird. Sie können doch drüben ein Zimmer frei machen?« wandte er sich an den Psychiater. Der junge Arzt blickte unschlüssig vom Oberarzt auf Dr. Bruckner. Sein Blick blieb schließlich auf Schwester Angelika hängen, die zu den Ärzten getreten war. Auf ihrem Gesicht las er die stumme Bitte, die Verlegung nicht vornehmen zu lassen. »Ich muß diese Angelegenheit erst mit meinem Chef besprechen«, sagte er. »Aber ich bin überzeugt davon, daß wir ein Bett auf der geschlossenen Abteilung frei machen können.« Er ging zur Tür. Man sah es ihm an, daß er froh war, diesem Streit zwischen den beiden Ärzten entgehen zu können. »Sie werden von mir hören! Ich spreche sofort mit dem Herrn Professor. Sobald er die Genehmigung gegeben hat, rufe ich Sie an.« Er sah dabei Dr. Bruckner an. Oberarzt Wagner bemerkte es. Er trat vor und sagte scharf: »Sie ru84
fen mich bitte selbst an, wenn es soweit ist! Ich werde dafür sorgen, daß die Verlegung dann so rasch wie möglich vor sich geht.« Er warf einen triumphierenden Blick auf Dr. Bruckner.
Thomas Bruckner beschloß, direkt auf das Ziel zuzusteuern. Er wußte, daß es in solchen Fällen oft gut war, die Schockwirkung auszunutzen, in der sich die Patientin befand. »Seit wann nehmen Sie LSD?« fragte er Lydia Heusmann und machte es sich an ihrem Bett bequem. Es war, als hätte das Wort einen Kontakt ausgelöst, der ihr Weinen unterbrach. Lydia fuhr hoch. Mit großen brennenden Augen schaute sie Dr. Bruckner an. »Was wissen Sie davon?« »Sie brauchen sich nicht aufzuregen, Kind«, Dr. Bruckner sprach beruhigend. Seine Stimme hatte die Sanftheit eines Hypnotiseurs angenommen, der seinem Medium etwas suggerieren will. »Wir wissen genau Bescheid! Es hat keinen Zweck, daß Sie sich hinter einer Mauer verstecken. Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir schon alles sagen. Weshalb nehmen Sie LSD?« Lydia antwortete nicht. Ihre Blicke verließen Dr. Bruckners Gesicht und wanderten an ihm vorbei. Sie starrte die Decke an. Lange lag sie so. Dr. Bruckner rührte sich nicht. Er hoffte, daß in diesem Augenblick niemand das Zimmer betreten würde, der diesen Reifungsprozeß des Geständnisses stören würde. Einmal ging draußen jemand vorbei, verhielt einen Augenblick vor der Tür, ging dann aber weiter. Lydia lag immer noch mit großen offenen Augen da und starrte weiter vor sich hin. »Ihre Mutter war doch hier«, sagte Dr. Bruckner schließlich, um die Verbindung zwischen ihm und der Patientin wiederherzustellen, »hat sie Ihnen nicht irgendwie helfen können?« Lydia lachte laut auf: »Meine Mutter?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat sich nie um mich gekümmert. Sie hat ihre eigenen Probleme. Als kleines Mädchen glaubte ich einmal, daß ich mit meinen Sorgen zu ihr 85
gehen konnte. Sie verstand mich nicht. Sie hat mich niemals verstanden!« »Haben Sie vielleicht deswegen die Droge genommen?« Dr. Bruckner glaubte zu verstehen. Er kannte ähnliche Fälle, in denen ein kaltes, unfreundliches Elternhaus der Grund war, daß die Kinder versuchten, sich in das Nirwana des Rausches zu stürzen. »Ich habe mich schon als kleines Kind nach etwas Zärtlichkeit gesehnt. Ich habe andere Kinder beneidet, die ihre Mutter umarmen konnten, die mit ihren kleinen Schmerzen zu ihr gehen konnten. Bei uns zu Hause gab es das nicht.« Sie starrte wieder eine Weile vor sich hin, dann fuhr sie mit einer Stimme fort, die so leise war, daß Dr. Bruckner sie kaum verstehen konnte. »Meine Eltern haben sich nie verstanden. Sie hatten immer Streit. Mein Vater starb dann eines Tages plötzlich, als ich knapp zehn Jahre alt war. Zunächst glaubte ich, es würde besser werden, wenn ich mit der Mutter allein bin. Aber es wurde nicht besser. Meine Mutter wurde noch verbitterter. Sie zog sich mehr und mehr von mir zurück. Und ich war immer allein!« Sie sprach zusammenhanglos, brachte einzelne Sätze hervor, wie sie ihr gerade einfielen. »Dann lernte ich Patrick kennen. Er gab mir zum erstenmal das Zeugs. Wenn ich es nahm, fühlte ich mich wohler. Dann wurde ich in eine andere Welt versetzt. Farben sahen ganz anders aus, waren leuchtender! Musik ertönte, die so schön war, daß ich sie dauernd hören wollte. Aber wenn die Wirkung des Mittels vorbei war, hörte auch die Musik auf, verblaßten die Farben. Dann mußte ich neue Tabletten nehmen. Gestern habe ich zuviel genommen. Ich hatte mich geärgert, daß Patrick sich mit Loretta eingelassen hatte – ich wollte vergessen – da nahm ich eine Überdosis …« »Was heißt das, eine Überdosis?« fragte Dr. Bruckner. »Ich habe drei Dinger genommen. Normalerweise immer nur eins. Aber es war alles so schlimm! Ich hatte solche Angst. Aber die Angst wurde noch größer …« 86
Sie starrte vor sich hin. Ein Schauder durchlief ihren Körper. Der Gedanke an das, was sie durchgemacht hatte, war zu schrecklich. »Ich hatte das Gefühl, daß mein Körper sich in Luft auflöse – ganz allmählich – eine Zelle nach der anderen …« Ihr Blick glitt von der Unendlichkeit, in die sie zu schauen schien, auf Dr. Thomas Bruckner. Ernst blickte sie ihn an. Ihr Gesicht sah mit einemmal ganz alt aus. »Ich hatte das Gefühl, ich erlebte ein wenig meinen eigenen Tod!« »Sie erlebten Ihren Tod?« wiederholte Dr. Bruckner. Das Paradoxon irritierte ihn. Lydia nickte. »Ja«, sagte sie, »man kann seinen Tod erleben. Ich weiß jetzt, was das ist. Früher hätte ich es nie für möglich gehalten. Aber jetzt glaube ich daran. Ich habe meinen Tod schon ein wenig erlebt!« Dr. Bruckner fühlte, daß er das Vertrauen der Patientin gewonnen hatte. Er hoffte, ihr helfen zu können. Noch wußte er nicht wie. Aber die erste Brücke war geschlagen, die Brücke von Mensch zu Mensch. Er mußte sich jetzt hüten, diese Brücke einzureißen. Die geringste unbedachte Bemerkung konnte dazu führen. Vor allen Dingen mußte er verhindern, daß die Patientin in die Nervenklinik verlegt würde. Koste es, was es wolle! Es klopfte an die Tür. Schwester Angelika stand auf der Schwelle. »Sie werden am Telefon verlangt, Herr Doktor«, sagte sie. Dr. Bruckner schaute unwillig auf. »Wer ist es?« fragte er ärgerlich. »Die Nervenklinik! Es handelt sich um die Verlegung.« Dr. Bruckner wollte zur Tür gehen. Ein Schrei hielt ihn zurück. Lydia hatte sich im Bett aufgesetzt. »Ich will nicht in die Nervenklinik verlegt werden«, rief sie aus, »bitte nicht!« Sie zitterte am ganzen Körper. Ratlos schaute Dr. Bruckner erst auf sie, dann auf Schwester Angelika. »Ich werde alles daransetzen, es zu verhindern«, sagte er schließlich und nickte ihr zu. Lydia ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung zurückfallen: »Bitte«, flüsterte sie erschöpft, »ich will nicht woanders hin, ich möchte bei Ihnen bleiben … hier!« 87
»Es ist kein Stoff mehr in Deutschland zu bekommen.« Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Alle unsere Quellen scheinen versiegt. Ich würde vorschlagen, daß einer von euch beiden nach Paris fährt. Es ist für das Geschäft notwendig.« »Meinst du wirklich?« Patrick schaute Loretta fragend an. »Hast du Lust, hinzufahren?« Loretta nickte. »Ein wundervoller Gedanke«, sagte sie, »kommst du mit?« Patrick schüttelte den Kopf. »Ich kann jetzt nicht. Wenn ich fortfahren würde, sähe es aus, als wollte ich mich der Verantwortung entziehen.« Loretta überlegte, dann nickte sie. »Ich nehme den Nachmittagszug. Dann bin ich abends in Paris. Dann komme ich gerade zur rechten Zeit.« »Und das Fahrgeld ist allemal drin«, unterbrach sie der Barkeeper, »wenn du genug Zeugs mitbringst, können wir uns für eine Weile gesundstoßen.« Loretta zögerte. »Kannst du mir das Geld vorstrecken?« fragte sie, »ich habe keinen Pfennig mehr.« »Selbstverständlich!« Der blonde Jüngling trat hinter seine Theke, öffnete die Kasse und entnahm ihr zwei Hundertmarkscheine. »Das wird reichen.« Loretta kniff die Augen zusammen. »Dann habe ich gerade fünfzig Mark mehr als die Fahrt kostet. Ist das nicht ein bißchen wenig?« Der Barkeeper ließ ein blechernes Lachen hören. »Einmal brauchst du nicht länger als höchstens einen Tag zu bleiben. Die Adressen sind klar? Du hast sie ja und kannst morgen wieder zurückkommen. Da wirst du mit fünfzig Mark blendend reichen. Und zum anderen – wenn du länger bleiben willst …« Er schenkte ihr einen bezeichnenden Blick. »In Paris gibt es für eine schöne Frau immer Möglichkeiten, sich etwas Geld zu verdienen!« Loretta wurde rot. Aber sie schluckte die Antwort hinunter, die sie dem Barkeeper geben wollte. Die Reise nach Paris kam ihr sehr gelegen. 88
»Gut«, sie gab den beiden jungen Männern die Hand. »Ich werde mich sofort auf die Beine machen. Ob ich allerdings morgen schon zurück sein werde …« »… das hangt davon ab, wieviel Geld du drüben verdienen kannst!« beendete der Barkeeper den Satz. Wieder wurde Loretta über und über rot. Sie biß die Zähne zusammen, steckte die zweihundert Mark ein und ging hinaus. Hart knallte die Tür ins Schloß.
»Hier Psychiatrische Klinik.« »Sie wollen mir jetzt sicherlich sagen, daß Sie ein Bett frei haben!« Dr. Bruckners Stimme klang enttäuscht. Der Kollege am anderen Ende merkte es. »Nein«, beruhigte er den Kollegen, »ich habe es wohl gemerkt, daß Sie die Verlegung nicht gern sehen. Dafür bin ich als Psychiater ja schließlich auch ein wenig Psychologe! Ich habe mit meinem Chef die Sache durchgesprochen. Ich habe ihm die Verletzung der Hand in so grauenhaften Farben geschildert, daß er Angst bekam!« Er unterbrach sich durch ein Kichern. »Es ist nicht schwer, einem Nervenarzt vor chirurgischen Eingriffen Angst einzujagen!« Dr. Bruckner atmete erleichtert auf. »Genauso leicht ist es für einen Psychiater, einem Chirurgen vor Geisteskrankheiten Angst zu machen. Die schlimmste Prüfung, die ich in meinem Leben je durchmachen mußte, war ein Examen an der Nervenklinik. Ich wurde in einen Saal gesteckt, in dem lauter Irre waren. Niemand war da, der mir hätte helfen können. Ich fühlte mich einfach verlassen.« Der Psychiater lachte laut auf. »Genauso würde es mir ergehen, wenn Sie mich in einen Operationssaal stecken würden! Doch Scherz beiseite. Ich bin mit meinem Chef übereingekommen, daß wir vorläufig kein Bett frei haben. Die psychiatrische Betreuung werden wir von unserer Klinik aus vornehmen. Sind Sie zufrieden?« 89
»Das sollten Sie an meiner Stimme erkennen!« Dr. Bruckner lachte befreit auf. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!« »Wenn Sie einen von uns mal unters Messer bekommen sollten, dann behandeln Sie uns gut! Auf Wiedersehen, Herr Kollege Bruckner. Ich werde mich mindestens einmal am Tag bei Ihnen einfinden, um die Patientin psychiatrisch zu betreuen. Ich bitte auch um eine Empfehlung an Ihren Herrn Oberarzt! Und es täte uns so leid …«
VII
D
ie Abenddämmerung war über Paris herabgesunken. Johann Heidmann schaute auf die Uhr – sie zeigte auf zehn. Fast fürchtete er sich ein wenig, diese kleine, enge Rue de la Huchette zu betreten. Sie ging zwar vom belebten Boulevard St. Michel ab. Aber an ihrem Eingang lungerten bereits Typen herum, vor denen er sich schon gefürchtet hätte, wenn er ihnen im Hellen begegnet wäre. Suchend ging er die Straße entlang. Überall befanden sich Lokale, die von Orientalen geleitet wurden. Mit beredten Gesten versuchten sie, ihn in das Innere der zweideutigen Etablissements zu locken. Der Student ging rascher. Dann und wann warf er einen Blick auf die Hausnummern, um nicht sein Ziel zu verfehlen. 325 … Ganz am Ende der Straße, in der Nähe von St. Severin, fand er die gesuchte Zahl. Er blieb stehen. Das Haus wies äußerlich keine Besonderheiten auf. Im Gegensatz zu den anderen Häusern dieser Straße machte es einen durchaus vertrauenswürdigen Eindruck. Schritte kamen die Straße herunter. Heidmann sah eine hübsche, junge Frau. Als sie ihn vor dem Haus stehen sah, stutzte sie. Ein mißtrauischer Blick traf ihn, aber dann kam sie auf ihn zu. »Suchen Sie etwas?« fragte sie auf deutsch. 90
Heidmann nickte: »Mir wurde die Adresse empfohlen …« Er wollte die Kopie des Briefumschlags aus der Tasche ziehen, aber das Fräulein winkte ab. »So, so!« sagte sie. »Da will ich auch hin. Wer hat Sie denn empfohlen?« Johann Heidmann machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Darüber möchte ich nicht gern sprechen«, sagte er schließlich verhalten, »jedenfalls nicht hier draußen!« Die junge Frau lächelte. »Das verstehe ich. Kommen Sie!« Ihre Hand fuhr an der Hauswand entlang. Erst jetzt bemerkte Heidmann, daß sich hier eine Klingel befand. Aber der Klingelknopf war so versteckt angebracht, daß man ihn nur entdecken konnte, wenn man gut Bescheid wußte. »Wie ich höre, sind Sie auch Deutscher!« meinte das Fräulein. Im Innern des Hauses ertönten Schritte. Die Klappe des Guckloches wurde beiseite geschoben, und ein Auge musterte die beiden eindringlich. Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete. Ein junger Mann stand im Eingang. Er streckte Loretta die Hand entgegen. »Guten Abend«, begrüßte er sie in einwandfreiem Deutsch, »es ist lange her, daß du in Paris warst, Loretta. Was verschafft uns die Ehre?« »Ich wollte etwas holen«, sagte sie. »Aber wir haben doch eben erst an Lydia geschickt!« Die Augen des jungen Mannes ruhten jetzt mißtrauisch auf Johann Heidmann. Dieser fühlte, wie er gemustert und abgeschätzt wurde. »Das ist durch einen dummen Zufall verlorengegangen.« »Wer sind Sie?« fragte der junge Mann den zweiten Besucher. Bevor sich dieser noch irgendeine Ausrede einfallen lassen konnte, sagte schon Loretta: »Er hat eine Empfehlung für den Club.« Der Ausdruck des Mißtrauens wich von dem Gesicht des jungen Mannes. Er reichte Johann Heidmann die Hand. »Mein Name ist JeanClaude«, stellte er sich vor. »Johann«, sagte Heidmann prompt. Der andere hatte auch nur seinen Vornamen genannt. Anscheinend war das hier so üblich … Jean-Claude wandte sich um, und sie gingen einen langen, halb91
dunklen Korridor entlang. Am Ende des Korridors öffnete er eine Tür. Er ließ Loretta und Heidmann eintreten. Dieser blieb einen Augenblick an der Tür stehen. Der Anblick verschlug ihm die Sprache. Der große Raum, den er betrat, war halbdunkel. Überall standen Sessel und Sofas herum, die zum größten Teil bereits von jungen Frauen und Männern besetzt waren. Sie lagen halb in den Polstern. Irgendwoher ertönte leise Lautsprechermusik. Der zarte Duft von Räucherkerzen lag über dem Saal. »Wirst du lange hierbleiben?« Jean-Claude hatte sich an Loretta gewandt. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es kommt darauf an …« Ihr nächster Blick galt Johann Heidmann. Dieser erwiderte ihn. Er sah in ihren Augen ein Feuer, das ihm unheimlich erschien. Fürchtete er sich mit einemmal vor dieser Frau? Am liebsten wäre er wieder umgekehrt … Aber Loretta nahm seinen Arm. Sie führte ihn zu einer Couch, die im Hintergrund des Raumes stand. »Setzen wir uns …« In dem Dämmerlicht, das im Raum herrschte, sah Loretta schön und begehrenswert aus. Schließlich hatte er Urlaub – sagte sich der Student. Und warum sollte er nicht einmal ein Abenteuer erleben? Zu Hause in Köln hatte er viel zu wenig Gelegenheit dazu! Das Schicksal hatte ihn nach Paris geführt, und dem Schicksal wollte er nun auch die weiteren Erlebnisse überlassen. Loretta lächelte zufrieden, als sie merkte, daß er nachgab. Sie zog ihn neben sich auf die Couch. Sie hatte ihren Arm um ihn gelegt und flüsterte ihm zu: »Der Rausch läßt sich viel intensiver genießen, wenn man zu zweit ist!« Johann Heidmann fuhr ein Schreck durch die Glieder. Hatte sie gesagt, daß sie einen Rausch genießen wollten? Er wollte aufspringen, davonlaufen – aber sie bemerkte es. Sie hielt ihn mit einer Kraft zurück, die stärker war als er. »Du hast doch keine Angst davor?« Ihre Stimme klang jetzt ganz dicht an sei92
nem Ohr. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. »Du hast doch nichts dagegen, wenn wir uns duzen? Das ist bei uns hier so üblich …« Jean-Claude brachte auf einem Tablett eine kleine Schachtel. Loretta nahm sie und sagte: »Ich zahle später!« »Und dein Begleiter?« Heidmann sah wieder das Mißtrauen im Gesicht des anderen. Es mußte sich ja um eine kostbare Angelegenheit handeln. »Das übernehme ich auch.« Der Student wollte protestieren. Aber Loretta schüttelte den Kopf. Sie hielt die Schachtel in der Hand und wartete, bis Jean-Claude verschwunden war. »Bitte!« Mit der Gebärde einer Priesterin, die ein Sakrament vorbereitet, öffnete sie die Schachtel. Kleine weiße Tabletten lagen darin. »Bitte, bediene dich!« Sie schaute ihn belustigt an, als er zurückzuckte. »Hast du noch niemals unser geliebtes LSD genommen?« fragte sie. Heidmann dachte nach, welche Ausrede er gebrauchen konnte. Es würde auffallen, wenn er zugab, es noch niemals genommen zu haben. »Nur gelegentlich«, sagte er deshalb. Ihm blieb nichts weiter übrig, als eine Tablette zu nehmen. Er hielt sie in der Hand. Loretta nahm ebenfalls eine Tablette, steckte sie in den Mund und schluckte. »Nun«, forderte sie ihn auf, »nimm auch die Tablette! Dann verspüren wir die Wirkung zur gleichen Zeit. Das ist der Sinn eines solchen Clubs …« Heidmann zögerte. Aber ihm blieb schließlich nichts weiter übrig. Und warum sollte er nicht auch einmal versuchen, wie ein solcher Rausch wirkte?! Gelesen hatte er viel darüber. Als angehender Arzt mußte er schließlich entsprechende Erfahrungen sammeln. Er steckte also die Tablette in den Mund. Sie schmeckte sauer. JeanClaude kam zurück und hielt ihnen ein Tablett mit Gläsern hin. »Einen Whisky zum Nachtrinken?« fragte er. Loretta griff nach einem Glas und reichte es Heidmann. Sie selbst nahm das zweite. »Danke, Jean-Claude!« 93
Sie sah, wie ihr Begleiter die Tablette, die er noch im Munde hielt, mit einem Schluck herunterspülte. Zufrieden lächelte sie vor sich hin, als sie nun auch ihr Glas leerte.
»Wir haben wieder ein Zimmer frei.« Oberarzt Wagner stand im Dienstzimmer der Frauenstation und machte Schwester Angelika diese Mitteilung. Diese runzelte erstaunt die Augenbrauen. »Wir haben ein Zimmer frei?« wiederholte sie. »Im Gegenteil, wir sind überbelegt!« »Wieso?« Die Stimme des Oberarztes wurde eine Nuance schärfer. »Wir haben doch diese Selbstmörderin auf die Psy verlegt, oder nicht?« Schwester Angelika schüttelte den Kopf. »Nein, das ist noch nicht erfolgt!« »Was heißt das, noch nicht erfolgt!« Oberarzt Wagner betonte jedes Wort einzeln. »Weil ich noch keine Aufforderung dazu bekommen habe, Herr Oberarzt!« Dr. Wagner stürzte wütend ans Telefon und drehte die Nummer der psychiatrischen Abteilung. In diesem Augenblick betrat Dr. Bruckner das Zimmer. Als der Oberarzt ihn erblickte, knallte er den Hörer wieder auf die Gabel. »Ich hatte angeordnet, daß die Selbstmörderin sofort verlegt wird. Nun geschieht nichts! Was bilden Sie sich eigentlich ein …« Dr. Bruckner hatte sich in der Gewalt und sagte ruhig: »Man hatte drüben kein Bett frei.« »Kein Bett frei?« Dr. Wagner ließ ein höhnisches Lachen ertönen. »Den Trick kenne ich! Das wird immer dann gesagt, wenn man nicht verlegen will. Aber das werden wir gleich haben!« Er drehte wieder die Nummer, die er eben gewählt hatte. Aber wieder kam er nicht zum Sprechen, denn der Psychiater betrat das Dienstzimmer. 94
Als er die Versammlung erblickte, fragte er erstaunt: »Man könnte fast meinen, Sie streiten sich?« »Allerdings!« Oberarzt Wagner trat ganz nahe an ihn heran. Drohend fragte er: »Warum ist die Selbstmord-Patientin nicht verlegt worden?« Der Psychiater trat einen Schritt zurück. »Hat Ihnen das Dr. Bruckner nicht gesagt?« fragte er erstaunt. Mit seinen großen Kinderaugen und der milden Stimme wirkte er wie ein rotes Tuch auf Dr. Wagner, dessen Stimme fast überschnappte, als er erklärte: »Er hat behauptet, Sie hätten kein Bett mehr frei. Aber das …« Der Psychiater hob die Hand. »… stimmt durchaus, Herr Oberarzt!« Der Psychiater wurde noch freundlicher. Man hatte den Eindruck, daß er zu Dr. Wagner wie zu einem Irren sprach, der einer normalen Erklärung nicht zugänglich ist. »Ich sprach mit meinem Chef. Wir haben einmal kein Bett frei – zum anderen lehnt der Herr Professor die Übernahme einer Patientin ab, bei der jeden Augenblick ein neuer chirurgischer Eingriff erforderlich werden kann.« »Was heißt hier ein neuer chirurgischer Eingriff«, tobte Oberarzt Wagner los. Er begann mit kleinen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. »Wir hätten eben gleich amputieren sollen. Dann hätten wir den ganzen Ärger nicht!« Mit einer verächtlichen Kopfbewegung deutete er zur Tür hin. »So pflegen wir die Patientin, sie belegt uns ein Bett, und wir wissen noch nicht einmal, ob das alles überhaupt einen Sinn hat.« »Die Erhaltung eines Lebens hat immer einen Sinn!« mischte sich die zarte Stimme des Psychiaters wieder ein. »Deshalb bemühen wir uns ja auch um unsere Verrückten! Ihren Worten zufolge aber wären sie nutzlose Glieder der Menschheit, und müßten amputiert werden.« »Ich weiß nicht, was eine Geisteskrankheit mit einer amputierten Hand zu tun hat!« »Sehr viel!« Der Psychiater hatte sich auf den Schreibtisch gesetzt. Er hob beruhigend die Hand, als Schwester Angelika ihn zornig anschau95
te. »Ich lege mir ein Stück Zeitung unter! Ich habe sie mir extra mitgebracht!« Er lächelte und holte eine zusammengefaltete Zeitung hervor. Er breitete sie auf dem Stuhlsitz aus und stellte dann seine Füße darauf. »Sind Sie damit einverstanden, Schwester?« fragte er liebenswürdig. Schwester Angelika mußte lachen. Der Oberarzt wurde noch wütender. »Lenken Sie nicht ab!« herrschte er sie an, »wir diskutieren hier über Krankheiten und nicht über schmutzige Stühle.« Die Stimme des Psychiaters klang unverändert freundlich. »Wir waren vorhin bei einer Definition stehengeblieben. Sie wollten wissen, was der Unterschied zwischen einer Handamputation und einem Geisteskranken sei. Sehen Sie …«, er legte seinen Zeigefinger auf den Nasenrücken, »… bei beiden ist etwas amputiert! Bei Ihrer Patientin ein Stück des Körpers – eine Hand. Bei unseren Patienten ein Stück des Geistes – ein Teil des Verstandes. Den Rest haben sie behalten: Ihre Patienten das, was vom Körper, und unsere Patienten das, was vom Geist übriggeblieben ist. Beide können weiterleben …« Oberarzt Wagner schnappte ein paarmal nach Luft. Dann drehte er sich um, ohne ein Wort zu erwidern. Laut knallte die Tür hinter ihm ins Schloß. Kopfschüttelnd schaute ihm der Psychiater nach. »Mancher Oberarzt hätte wirklich auch eine psychiatrische Untersuchung nötig.« Er faßte sich an den Kopf. »Beinahe hätte ich vergessen, Ihnen etwas zu sagen, Kollege Bruckner. Die Patientin Heusmann klagt über unerträgliche Schmerzen in der Hand. Deswegen kam ich herein, um Sie zu holen. Ich habe mich nicht getraut nachzusehen, weil ich nichts davon verstehe. Würden Sie bitte …« Er unterbrach wieder seinen Satz. Erschrocken schaute er hinter Dr. Bruckner her, der ihn beiseite schob und aus dem Zimmer stürmte. »Komisch!« Der junge Psychiater ging nach und sah, wie Dr. Bruckner den Flur hinablief und die Tür zu dem Krankenzimmer aufriß, in dem Lydia lag. »Man sollte meinen, Chirurgen haben es immer eilig! Ich glaube, die 96
können gar nicht langsam gehen. Es ist kein Wunder, daß sie für Herzinfarkte besonders prädestiniert sind …«
Johann Heidmann saß bequem zurückgelehnt auf der Couch. Noch spürte er nichts von der Droge, die er genommen hatte. Aber er wußte als Mediziner, daß die Wirkung eines Mittels nicht sofort einsetzt. Er betrachtete die Umgebung interessiert. Seine Begleiterin, die neben ihm saß, sah sehr hübsch aus. Er schätzte sie auf Ende zwanzig. Aber sie hatte ein Gesicht, das einer Puppe ähnlich war und sie viel jünger erscheinen ließ. Jetzt bemerkte sie, daß er sie anschaute, und lächelte ihm zu. Ihre weißen Zähne blitzten im Dämmerlicht. Johann Heidmann fühlte plötzlich ihre Hand in der seinen. Da wußte er nicht mehr, ob er es war, der die Initiative ergriffen hatte, oder ob sie ihm die Hand gegeben hatte. Er wollte nicht darüber nachdenken. Irgend etwas begann zu wirken. Er wußte nicht, war es der Whisky oder entfaltete bereits das Mittel seine Wirkung? Der Saal begann sich immer mehr zu füllen. Junge Menschen kamen und schienen sich alle zu kennen. Sie verteilten sich auf die Sessel, und Jean-Claude reichte ihnen auf einem Tablett das gleiche Mittel. Ruhig lehnten sie sich zurück und schlossen die Augen. Der Student Heidmann hatte das Gefühl, als ob der Raum plötzlich größer würde. Die Wände schoben sich auseinander … Immer weiter wurde der Raum, immer freier fühlte sich Heidmann … Loretta hatte den Arm um seine Schulter gelegt. Er ließ es sich nur allzu gern gefallen. Er legte seinen Arm um die Taille der Frau, die ihn lächelnd und begehrend ansah. Noch hatte Johann Heidmann das Gefühl, daß er nur ein wissenschaftliches Experiment durchführte. Er hatte soviel über das LSD gelesen, aber er hätte es nicht für möglich gehalten, daß er es einmal selbst nehmen würde. 97
Ein Hund hatte sich in den Saal verirrt. Es war ein schwarzer Pudel. Johann Heidmann mußte an Goethes ›Faust‹ denken. War der Teufel zu Faust nicht auch in Gestalt eines schwarzen Pudels gekommen? War am Ende des Pudels Kern die LSD-Säure? Heidmann wußte nicht mehr, ob der Pudel Wirklichkeit war, oder ob er nur seiner Phantasie entsprang. Denn schon konnte er nicht mehr recht zwischen Wirklichkeit und Traum unterscheiden. Beides floß ineinander über, wurde zu einer Einheit, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Die Welt der LSD-Säure hatte zu wirken begonnen … Er versuchte immer noch, objektiver Beobachter zu bleiben. Hin und wieder gelang es ihm noch, sich dem Bannkreis des Mittels zu entziehen. Er kam sich vor wie ein Ertrinkender, dem es gelingt, gelegentlich seinen Kopf über Wasser zu halten. Aber das Wasser, das ihn umgab, war nicht sein Feind! Es war warm, angenehm, fast wie ein weiches Daunenbett … Jedesmal, wenn er den Kopf über das Wasser reckte, fühlte er, daß die Welt, die ihn dort erwartete, grausam und hart war. Er sehnte sich nach der Weiche des Wassers – nach der Süße des beginnenden Rausches zurück. Was war so weich wie diese Watte, in der er immer mehr versank? Herrliche Farben tauchten vor seinen Augen auf. Er hatte das Gefühl, er steige aus sich selber aus, schwebe über sich, sitze auf seiner eigenen Schulter und schaue an sich herunter … Er sah Loretta neben sich. Es war seltsam – sie veränderte sich auch, ihre Züge nahmen andere Formen an. Eben noch war es das Gesicht eines jungen Mädchens – dann plötzlich war es ein Knabe, der neben ihm saß – ein Neger – ein Hund – Er fühlte etwas Feuchtes an seiner Hand, die herunterhing. Als er hinschaute, sah er, daß es der Pudel war. Der Hund machte seltsame Bewegungen mit dem Kopf. Plötzlich wurde er groß, wuchs, nahm fast den ganzen Raum ein … Johann Heidmann hatte keine Angst. Alles schien ihm natürlich zu sein, auch daß sich die Frau an seiner Seite auflöste und zu nichts wurde. 98
Er nahm beide Hände, griff in das Nichts, holte es zusammen und formte daraus wieder einen Kopf, einen Leib – bis Loretta wieder neben ihm saß. Einmal noch tauchte er aus diesem seltsamen Reich der Geheimnisse auf. Sein Intellekt raffte sich ein letztes Mal zusammen. Er stieg über sich selbst hinaus und sah mit Schrecken auf sich herunter. Aber diese Rückkehr in das Reich der Wirklichkeit dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann sank er wieder in dieses weiche, undefinierbare Fluidum. Und nun ließ er sich treiben. Ihm war alles gleichgültig. Nichts störte ihn mehr. Die Berührung durch die Frau an seiner Seite empfand er wie eine schone Musik, die ihn umgab. Irgend jemand hatte ein Tonband in Betrieb genommen. Musik erklang. Aber er empfand sie nicht als Musik. Es war, als ob aus dem Lautsprecher Rauch quoll, Rauch, der sich zu bunten, farbigen Gestalten verdichtete. Die Gestalten tanzten um ihn herum. Sie wurden zu leuchtenden Lichtern, deren raschen Bewegungen er kaum folgen konnte … Er nahm die Töne, die aus dem Lautsprecher quollen, in die Hand. Er konnte sie festhalten. Sie waren weich wie Knetmasse, die er als Kind zum Formen von Figuren benutzt hatte. Er nahm die Masse und formte sie, stellte Figuren daraus her – und jede dieser Figuren machte sich selbständig. Sie tanzten miteinander, umkreisten ihn, umkreisten Loretta, die sich eng an ihn geschmiegt hatte … Der Tanz der Figuren wurde immer rasender, sie hielten sich bei der Hand; und plötzlich sah er, daß sie aus ihm herauskamen! Sie quollen aus allen seinen Poren. Da wußte er, daß es seine Gedanken waren, die aus ihm herausgetreten waren und ihn umringten – dunkle, helle, leuchtende Gedanken! Sie versammelten sich vor ihm, bildeten einen Haufen und kamen mit drohender Gebärde auf ihn zu. Da packte ihn die Angst. Er riß sich von Loretta los und sprang auf. Ein fremder Rhythmus packte und schüttelte ihn. Er begann zu tanzen. Mit schlenkrigen Bewegungen machten sich seine Glieder selb99
ständig. Sie gehorchten ihm nicht mehr. Er trat aus sich heraus, stand neben sich und schaute zu, wie er vor sich selbst tanzte … Und dann bemerkte er an der Wand etwas, das sich rhythmisch mit ihm bewegte. Es kam ihm in den Sinn, daß es sein Schatten sein könnte. Aber der Schatten wurde riesengroß, nahm bunte Farben an, wollte auf ihn losgehen … Mit wütender Gebärde ging er auf den Schatten zu, schlug auf ihn ein, trommelte mit den Fäusten dagegen. Er hatte das Gefühl, er müßte dieses andere Ich vernichten, müßte es loswerden … Niemand von den Anwesenden störte es. Sie schauten teilnahmslos zu oder schienen es nicht einmal zu bemerken, daß er an der Wand einen Kampf aufführte. Schaum trat vor seinen Mund. Die rechte Hand suchte nach einem Messer, das er immer in der Hosentasche trug. Die tanzenden Bewegungen, die sein Arm machte, ließen ihn das Messer kaum finden. Schließlich hatte er es, öffnete die Klinge und ging auf seinen Schatten los. Er stach auf ihn ein! Als er keinen Erfolg damit erzielte, drehte er sich um. Er sah die anderen Menschen im Saal. Sie wurden alle zu Schatten, die ihn bedrohten, vor denen er sich retten mußte. Er hielt das Messer hoch in der Hand, suchend blickte er nach einem Opfer, auf das er sich stürzen konnte. Niemand hielt ihn zurück, als er nun mit dem bloßen Messer in der hocherhobenen Hand in die Mitte des Saales raste …
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VIII
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r. Bruckner hatte gerade den Verband von der operierten Hand entfernt, als Oberarzt Wagner hinter ihm ins Zimmer trat. Er warf einen Blick auf die Hand und erschrak. Sie war tiefblau-violett gefärbt. Die Worte, die der Oberarzt sagen wollte, erstarben ihm auf den Lippen. In Lydia Heusmanns Augen trat Angst. Erschrocken sah sie erst Dr. Bruckner, dann den Oberarzt an. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Aber Dr. Bruckner drückte sie sanft zurück: »Bleiben Sie bitte liegen.« Seine Stimme klang erregt. Sie war nicht mehr so freundlich und sanft wie sonst. »Bringen Sie sofort einen Verbandswagen!« wandte er sich an Schwester Angelika, die nachgekommen war. Schwester Angelika wußte, daß Dr. Bruckner auf Höflichkeitsfloskeln verzichtete, wenn Gefahr im Anzug war – daß er darauf verzichten mußte, weil er keine Zeit mit unnötigen Redereien verlieren konnte. Sie lief so schnell sie konnte zum Verbandszimmer, und es dauerte keine zwei Minuten, da stand sie mit dem Verbandswagen neben dem Bett. »Was haben Sie denn vor?« Dr. Wagner ahnte nicht, was Dr. Bruckner vorhatte. Er flüsterte: »Sie können nicht länger warten! Sonst gibt es einen Brand. Und dann hilft auch keine Amputation mehr …« Dr. Bruckner antwortete immer noch nicht. Er nahm eine Pinzette und eine Schere vom Verbandswagen. Dann setzte er sich auf das Bett und winkte Schwester Angelika. »Ich werde vorsichtig den Arm aus der Wanne holen. Ich lasse ihn auf der Schiene liegen, damit keine Verschiebung der Knochen eintritt. Seien Sie bitte so gut, und nehmen Sie die Wanne fort.« 101
Dr. Bruckner nahm die Pinzette und faßte damit einen der Fäden, deren Enden aus dem Knoten der Nahtstelle herausragten. Er zog daran. Mit der Schere schnitt er den Faden durch. Er zog ihn mitsamt dem Knoten heraus. In gleicher Weise ging er bei den benachbarten Fäden vor; er durchschnitt sie und zog sie heraus. Oberarzt Wagner fragte nichts mehr. Er schaute nur noch zu. Noch war ihm nicht ganz klar, was Dr. Bruckner beabsichtigte. »Geben Sie mir bitte viel Mull«, bat er Schwester Angelika. Diese öffnete die große Trommel, die auf dem Verbandswagen stand. Mit einer langen Pinzette griff sie hinein. Sie nahm ein zusammengefaltetes Tuch heraus, öffnete es und legte es auf das Bett. Dr. Bruckner zog es sich so zurecht, daß es unter die Hand zu liegen kam. Schwester Angelika nahm aus der Trommel eine Anzahl von Mulltupfern und legte sie auf das weiße Tuch. »Wird das genügen?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf: »Ich brauche mehr – viel mehr!« »Was haben Sie vor?« fragte nun Oberarzt Wagner, der immer noch nicht begriff. »Ich nehme an, daß sich im Innern ein Bluterguß gebildet hat. Der Bluterguß kann nicht abfließen. Nun drückt er auf die Adern. Der Druck kann so stark werden, daß er die Adern völlig zudrückt. Dann kann aber kein Blut mehr durchfließen. Das Ergebnis sehen Sie hier …« Dr. Bruckners Pinzette wies auf die blau-violette Hand. »Noch ist der Druck des Blutergusses nicht so stark, daß er auf die Schlagader drückt. Er hat wahrscheinlich nur die weichere Vene erwischt. Deswegen haben wir hier eine Stauung. Hatte er die Schlagader zugedrückt, würde der Arm weiß aussehen. Dann könnte man kaum noch etwas unternehmen.« Er steckte die Spitze der Pinzette in die Wunde, dort, wo die Fäden sie bisher zusammengehalten hatten. Vorsichtig führte er die Pinzette in die Tiefe. 102
Er wandte dabei keinen Augenblick seinen Blick von der Patientin. Er studierte ihren Gesichtsausdruck. Sobald die Patientin auch nur ein klein wenig die Miene verzog, hielt er einen Augenblick inne und bewegte die Pinzette noch langsamer, noch vorsichtiger. Gespannt schauten der Oberarzt und Schwester Angelika zu. Er hatte schließlich mehrere Zentimeter der blanken Pinzette in die Tiefe versenkt und Öfters die Branchen des Instrumentes gespreizt. Plötzlich quoll aus der Tiefe dickes, rotes Blut heraus! Zum Teil war es flüssig – zum Teil kamen regelrechte Klumpen zum Vorschein. Dr. Bruckner drückte vorsichtig mit zwei Tupfern auf die Hand. Bei jedem Druck entleerten sich weitere Blutklumpen, floß mehr Blut heraus … Schwester Angelika war hinzugetreten. Sie hatte aus ihrer Trommel eine große Lage Zellstoff genommen. Sie hielt den Zellstoff so, daß das herausfließende Blut von ihm aufgesaugt wurde. Oberarzt Wagners Augen waren groß geworden. Er konnte nicht begreifen, daß sich soviel Blut im Innern der Wunde angesammelt hatte. »Ich habe einen Fehler gemacht«, bekannte Dr. Bruckner, »ich hätte einen kleinen Gummischlauch einlegen sollen – dann wäre das Blut abgeflossen, und diese Komplikation wäre nicht aufgetreten.« »Und warum haben Sie es nicht getan?« Oberarzt Wagner glaubte sofort, einen Grund gefunden zu haben, Dr. Bruckner eins auswischen zu können. »Ich hatte es schon überlegt. Aber ich verzichtete darauf, weil ich jede Möglichkeit vermeiden wollte, daß Bakterien in das Innere gelangen könnten.« Er drückte noch einmal vorsichtig auf die Hand. Aber es kam kein Blut mehr. »Wollen Sie jetzt drainieren?« fragte Schwester Angelika. Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Jetzt besteht keine Gefahr mehr, daß eine Blutung auftritt. Die durchtrennten Gefäße haben sich geschlossen. Ich werde die Wunde aber auch nicht nähen; ich werde lediglich einen Verband darüber legen.« 103
Er wartete und schaute gespannt auf die Hand. Auch die Schwester und der Oberarzt ließen keinen Blick von ihr. Ganz allmählich verlor sich die dunkelblaue Farbe. Die Hand wurde zwar nicht rosig, aber sie zeigte nicht mehr das bedrohliche Aussehen, das wie ein Vorbote des Todes gewirkt hatte. »Ich glaube, wir haben es geschafft!« Seufzend legte Dr. Bruckner die Pinzette auf den Verbandswagen zurück. »Glauben Sie, daß ich meine Hand behalte?« fragte die Patientin ängstlich. »Jetzt bin ich davon überzeugt.« Dr. Bruckner strich ihr über die Haare. »Aber vorsichtshalber wollen wir den Arm noch einen Tag in den Eiskasten legen. Ich möchte ganz sichergehen!« Er schaute sich nach dem Oberarzt um. Aber der hatte das Zimmer verlassen. »Er hat sich davongeschlichen«, sagte Schwester Angelika, als sie mit einer Pinzette aus der Metalltrommel einen Verband nahm und ihn auf die Wunde legte. »Er hat es nicht gern, wenn er einmal nicht recht behält.« Dr. Bruckner wickelte die Hand wieder in den Plastikbezug ein und steckte sie in die Eiswanne zurück. »Noch vierundzwanzig Stunden«, lächelte er die Patientin an, »dann haben wir es – glaube ich – geschafft.« Schwester Angelika hatte den Verbandswagen zur Tür geschoben. »Kommen Sie auch, Herr Doktor?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Ich habe noch etwas mit Fräulein Lydia zu besprechen. Gehen Sie nur schon voraus, ich komme gleich nach!« Er setzte sich an das Bett und nahm die gesunde Hand der Patientin. »Sie nehmen doch nichts mehr von dem Zeug?« fragte er. Lydia schaute ihn trotzig an. »Ich bin Arzt und will Ihnen helfen! Ich kann aber nur helfen, wenn Sie mir versprechen, in Zukunft nicht mehr dieses Gift zu nehmen.« Er wartete, daß Lydia etwas antworten würde. Aber sie schwieg. Sie vermied es auch, ihn anzusehen. 104
»Ich werde Sie bei jedem Besuch danach fragen«, Dr. Bruckner erhob sich. Er stand neben dem Bett und versuchte, Lydias Blick zu erhaschen. »Ich möchte gern, daß Sie Ihre Hand behalten. Wenn Sie aber dieses Rauschmittel weiter nehmen, dann besteht die Gefahr, daß Sie sie verlieren werden.« Er wartete vergeblich auf eine Antwort. Lydia hatte die Augen geschlossen. Sie gab zu verstehen, daß sie nicht mehr mit ihm sprechen wollte. Dr. Bruckner wandte sich um und ging hinaus.
Johann Heidmann stand mit dem gezückten Messer mitten im Raum. Aber niemand von den jungen Leuten, die um ihn herumsaßen, schien Angst vor ihm zu haben. Sie schauten ihn sogar lächelnd an! Er war, als seien sie solche Szenen gewöhnt, oder als ob ihnen die Droge jedes Angstgefühl nahm. Nur der Hund, der wieder zu einem schwarzen Pudel geworden war, sprang im Raum auf und ab. Es sah aus, als tanzte er um Johann Heidmann. Es war ein seltsamer Tanz, wie ihn dressierte Hunde manchmal im Zirkus vorführen. Plötzlich schien sich für den Medizinstudenten der ganze Raum aufzulösen – es war, als ob sich ein Dunst langsam vom Boden erhöbe! Johann Heidmann wurde eingenebelt, und alles um ihn begann sich zu drehen, es wurde dunkel und schwarz … Mit beiden Händen griff er in die Luft. Er mußte sich an diesem Nebel festhalten … Das Messer entglitt seiner Hand und fiel klirrend zu Boden. Heidmann blickte sich um und sah durch den Nebel Loretta. Sie kam auf ihn zu. Sie war jedoch so klein geworden, daß sie wie eine jener zierlichen Laufpuppen aussah, die man Kindern zu Weihnachten schenkt … Plötzlich war sie verschwunden. Er fiel zu Boden – er brach zusammen, wie ein Haus, das einstürzt. 105
Selbst sein Fallen sah noch merkwürdig aus, denn er fiel nicht wie ein Mensch, der zu Boden stürzt, nein, seine Glieder gaben langsam nach – eines nach dem anderen – als bögen sie sich, glitten unter ihm weg, falteten sich zusammen … Wieder nahm niemand Notiz von ihm. Jeder Süchtige schien sich in seiner eigenen Welt zu bewegen – in einer Welt, zu der sonst niemand Zutritt hatte. Eine Frau starrte die Deckenlampe an. Sie hielt den Kopf hoch aufgerichtet, ihre Augen verließen keinen Moment den Glühpunkt der Birne. Sie selbst drehte sich langsam wie eine Puppe, die an einem Faden hängt, der zusammengedreht wird. Langsam beginnt er sich nun zu entwirren und nimmt dabei die an ihm hängende Puppe mit … Loretta war auf den am Boden Liegenden zugegangen. Einen Augenblick lang stand sie aufrecht da, dann warf sie sich über ihn. Sie schluchzte, und ein Beben ging durch ihren Körper. Sie umfaßte den willenlosen Studenten mit beiden Armen. Immer wieder drückte sie ihn an sich und küßte ihn auf den Mund, auf die Wangen. Sein Gesicht war durch den Lippenstift verschmiert. Überall – auf der Stirn, auf dem Kinn und den Wangen zeichneten sich herzförmige rote Lippenmale ab. Unter der Flut der Küsse wachte Johann Heidmann kurz auf. Es dauerte lange, bis er einigermaßen begriff, was vor sich ging. Dann streckte er die Arme aus und schlang sie um den Hals der Frau. Fest drückte er sie begehrend an sich. Jetzt waren alle der Wirklichkeit entrückt. Sie schienen durch Welten zu eilen, die dem normalen Sterblichen verborgen waren. Für die meisten von ihnen waren es herrliche, zauberhafte Welten. Man konnte es ihren lachenden, glücklichen Gesichtern ansehen. Für manche aber schien es sich um grauenhafte Welten zu handeln. Um Welten, die so schrecklich waren, daß sie die Erlebenden fast in den Wahnsinn trieben. Einer hielt sich für einen Raubvogel, deutete Flügel an, zeigte seine imaginären Krallen und wollte einen gebogenen Schnabel wetzen … 106
Ein anderer Mann schrie plötzlich laut auf. Er faßte sich mit beiden Händen an den Leib. Er meinte wohl, daß ihm ein Schwert durch den Körper gestoßen würde. Der laute Schrei brachte Heidmann einen Augenblick die Besinnung zurück. Aber die Droge hatte ihn sofort wieder in der Gewalt. Sie hielt ihn fest und ließ ihn nicht los. Sie hielt ihn genauso fest wie Loretta, die immer noch neben ihm lag und ihn an sich preßte.
IX
D
r. Bruckner ging suchend die kleine, vornehme Villenstraße des Vorortes entlang. Ganz am Ende fand er das Haus, das er suchte. An der Tür hing ein Schild: ›Heusmann‹. Es war ein elegantes Messingschild, auf dem weder ein Vorname noch ein Beruf angegeben war. Das Haus machte einen gediegenen Eindruck. Man merkte, daß hier wohlhabender Mittelstand wohnte. Im Vorgarten blühten Blumen aller Farben. Der Rasen war gepflegt. Entweder hatten die Besitzer viel Zeit, alles selbst zu tun, oder sie beschäftigten einen Gärtner. Der Doktor klingelte. Ein melodischer Gongton klang durch den Garten. Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde. Lydias Mutter stand auf der Schwelle. Fragend schaute sie ihn an. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie ihn wohl schon gesehen haben mochte. »Ich bin Dr. Bruckner – der Stationsarzt, der Ihre Tochter betreut«, half Dr. Bruckner ihrem Gedächtnis nach. Ihr Gesicht nahm sofort denselben finsteren Ausdruck an, den Dr. Bruckner an ihr gesehen hatte, als sie ihre Tochter in der Klinik besuchen wollte. »Bitte«, sie trat von der Schwelle zurück, um Dr. Bruckner eintreten zu lassen. 107
Zögernd folgte ihr Dr. Bruckner in das Innere des Hauses. Der Empfang, den ihm Frau Heusmann bereitete, war alles andere als freundlich. Aber er war ja innerlich auf einen solchen Empfang vorbereitet. Er war gekommen, um zu versuchen, Mutter und Tochter wieder zu versöhnen. Er wußte, daß die Tochter von dem Rauschgift nie loskommen würde, solange sich das Verhältnis zu ihrer Mutter nicht gebessert hätte. Frau Heusmann führte Dr. Bruckner in einen großen, freundlichen Raum. In einer Ecke stand ein Flügel. Die Sonne schien durch das Fenster und verlieh dem Zimmer einen goldenen Schimmer. Auf den altdeutschen Möbeln lagen überall Decken, die anscheinend selbst gehäkelt waren. An den Wänden hingen gute Kunstdrucke. Frau Heusmann bat den Arzt Platz zu nehmen. »Bitte«, sagte sie wieder – sonst nichts. Dr. Bruckner setzte sich umständlich. Er wollte Zeit gewinnen. Er versuchte, ein paar Floskeln zu finden, die über den Anfang hinweghelfen würden. Sein Blick suchte nach einem Anknüpfungspunkt, nach irgendeinem Möbelstück oder Bild, mit dessen Hilfe er die Schranke überwinden konnte, die die Dame errichtet hatte. Aber die Einrichtung war so korrekt, die Bilder so nichtssagend, daß Dr. Bruckner keine Möglichkeit sah, ein Gespräch zu beginnen. Frau Heusmann räusperte sich. Es war ein ungeduldiges Räuspern, das den Besucher ermahnte, endlich zur Sache zu kommen. Dr. Bruckner räusperte sich ebenfalls. Da fiel sein Blick auf ein Foto, das auf dem Flügel stand. Es zeigte ein kleines Mädchen mit einer Puppe in der Hand. Mit großen Augen schaute es fragend in die Welt. »Ist das Lydia?« fragte Dr. Bruckner. Frau Heusmanns Blicke hatten gleichfalls das Bild getroffen, und Thomas Bruckner glaubte auf ihrem Gesicht einen kleinen Sonnenschimmer zu entdecken. Aber er verschwand sofort wieder, als sie »Ja« sagte. Ihre Stimme klang hart. Dr. Bruckner wußte, daß die einzige Möglichkeit, das Herz der Frau zu erreichen, über dieses Bild ging. 108
»Ist sie Ihre einzige Tochter?« fragte er. Mißtrauisch forschte Frau Heusmann in Dr. Bruckners Gesicht. Es war, als wollte sie ergründen, welche Hintergedanken der Arzt mit dieser Frage verbinde. »Es ist für die Behandlung außerordentlich wichtig!« Dr. Bruckner hatte sich in seinem Sessel nach vorn gebeugt. »Ich habe das Gefühl …« Dr. Bruckner ging jetzt aufs Ganze. Er hatte keine Lust mehr, lange auf dem Busch herumzuklopfen, um vielleicht am Ende doch nichts zu erfahren, »… daß eine gewisse Spannung zwischen Ihnen, gnädige Frau, und Ihrer Tochter besteht. Wir wissen heute, daß solche seelischen Spannungen die Heilung außerordentlich beeinträchtigen.« Die Dame zuckte zusammen. Der feindselige Ausdruck auf ihrem Gesicht verstärkte sich. »Sie haben durchaus richtig beobachtet.« Sie öffnete eine silberne Dose auf dem Tisch. »Rauchen Sie?« Dr. Bruckner wollte verneinen. Er rauchte keine Zigaretten, er war passionierter Pfeifenraucher. Aber er wußte, daß er sich mit dieser Ablehnung vielleicht den Weg wieder verbauen würde, den er eben mühsam freizuschaufeln begonnen hatte. Er griff also in die Dose, nahm dankend eine Zigarette heraus und hielt sie einen Augenblick in der Hand. Er wußte, die Zigarette würde ihm nicht bekommen. Aber er mußte sie rauchen, damit er den eben gesponnenen Faden nicht wieder durchschnitt. Er griff auf den Tisch, nahm das Feuerzeug, das dort stand, und betätigte den Mechanismus. Frau Heusmann hatte sich auch eine Zigarette genommen, und Dr. Bruckner war aufgestanden und gab ihr Feuer. Dankbar blickte sie ihn an. Dann lehnte sie sich zurück. Sie schaute zu, wie Dr. Bruckner seine eigene Zigarette entzündete. Tief zog sie den Rauch in die Lungen ein. Der Arzt lehnte sich gleichfalls zurück. Er betrachtete aufmerksam das Gesicht der Dame, die die Augen geschlossen hielt. Der Rauch ihrer Zigarette stieg kräuselnd in die Luft. Es dauerte lange, bis sie sprach. Sie öffnete dabei auch nicht die Au109
gen. Es war, als spräche sie zu sich selbst oder zu einem Beichtiger, den sie nicht sehen wollte. »Seit dem Tode meines Mannes ist eine seltsame Veränderung mit meiner Tochter vorgegangen.« Sie führte die Zigarette wieder an die Lippen und zog so intensiv daran, als könnte sie das Gift nicht tief genug in die Lungen bekommen. Einen Augenblick lang schaute sie Dr. Bruckner voll an. »Ich habe manchmal das Gefühl, daß mein Mann die Liebe unserer Tochter ins Grab mitgenommen hat.« Wieder zog sie an ihrer Zigarette und atmete tief den Rauch ein. »Sie ist seit seinem Tode so verändert! Sie wurde bockig und spricht kaum noch mit mir. Ich habe sie oft genug ermahnt. Aber es nützt nichts. Sie wandte sich immer mehr von mir ab. Bis sie dann schließlich in schlechte Gesellschaft geriet.« Frau Heusmann schwieg. Ihre Blicke folgten den Rauchkringeln, die gemächlich zur Decke stiegen. »Haben Sie nichts unternommen, um sie aus dieser schlechten Gesellschaft, wie Sie es nennen, zu befreien?« Dr. Bruckner bemühte sich, seiner Stimme keinen scharfen Ton zu geben. »Natürlich!« Frau Heusmann fuhr hoch. »Ich habe ihr oft genug Vorhaltungen gemacht. Aber je mehr ich redete, desto schlimmer wurde es. Ich hatte oft das Gefühl, daß sie nur mir zum Trotz so handelte.« Dr. Bruckner fühlte, wie sich diese Frau mehr und mehr gegen ihn abschloß. »Ihre Tochter ist vom Schicksal hart bestraft worden«, begann Dr. Bruckner schließlich. »Es ist noch nicht ganz sicher, ob sie die rechte Hand behält. Wenn es gut geht, wird es Jahre dauern, bis sie die Hand wieder richtig bewegen kann.« »Das ist mir egal!« fuhr Frau Heusmann auf. »Sie hat sich so lange nicht um mich gekümmert. Was geht es mich dann an, was mit ihrer Hand geschieht. Sie ist volljährig. Sie hat ihr Schicksal selbst in die Hand genommen …« »In eine gelähmte Hand?« warf Dr. Bruckner ein. »Es wäre besser für uns beide gewesen, wenn der Versuch, sich das Leben zu nehmen, von Erfolg gekrönt gewesen wäre.« Mit zitternden 110
Fingern drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus; aus flackernden Augen sah sie Dr. Bruckner an. »Es war doch ein Selbstmordversuch – ich habe es doch richtig verstanden, nicht wahr?« Als Dr. Bruckner nicht antwortete, fuhr sie fort: »Wahrscheinlich wegen dieses Kerls, mit dem sie sich schon seit einer ganzen Weile herumtreibt. Hätte sie auf mich gehört, wäre das alles nicht passiert. Aber sie hat mich, ihre Mutter, verlassen! Da mußte das Schicksal ja eingreifen. Wenn es noch einen gerechten Gott gibt, dann mußte es geschehen.« Dr. Bruckner wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Er fürchtete fast, daß er durch seinen Besuch die Beziehungen zwischen Mutter und Tochter noch verschlechtert hatte. »Was Ihre Tochter jetzt braucht, ist Liebe …« Der Arzt sprach so leise, daß Frau Heusmann ihn kaum verstand. »Liebe«, fuhr sie auf, »die brauche ich auch! Meinen Sie, ich kann ohne Liebe leben? Meine Tochter wäre der einzige Mensch gewesen, der mir nach dem Tode meines Mannes Liebe hätte entgegenbringen können! Aber sie versagte!« Dr. Bruckner erhob sich und trat hinter seinen Sessel. »Haben Sie nicht auch versagt?« fragte er dann sehr ruhig. Seine Stimme klang mit einemmal so hart, daß Frau Heusmann aufschaute. »Wollen Sie mir Lehren erteilen?« Sie erhob sich ebenfalls. Drohend stand sie vor Dr. Bruckner. »Sie haben wahrscheinlich keine Kinder. Sie können nicht wissen, was es bedeutet, wenn eine Tochter ihre Mutter verläßt.« »Aber ich bin ein Sohn – und ich habe eine Mutter! Und ich kann mir vorstellen, was es für mich bedeutete, wenn meine Mutter sich von mir abwenden würde. Wenn sie mir nicht mehr das entgegenbringt, was ich von meiner Mutter erwarte: Zärtlichkeit.« »Meine Tochter hätte von mir alle Zärtlichkeit der Welt bekommen können. Aber sie hat niemals gezeigt, daß sie sie haben wollte!« Dr. Bruckner schob den Sessel beiseite. Nun stand er der verbitterten Dame direkt gegenüber. »Ich glaube, Ihre Tochter ähnelt Ihnen sehr, gnädige Frau. Charakterlich meine ich. Sie beide erwarten immer vom 111
anderen, daß er den ersten Schritt tue. Keine von Ihnen will die erste sein, jede glaubt, sie vergebe sich etwas. Ich könnte mir denken, daß auf diese Weise die Kluft zwischen Ihnen entstanden ist.« Frau Heusmann wollte etwas erwidern. Aber Dr. Bruckner hob die Hand. »Einen Augenblick noch«, seine Stimme hatte die Härte verloren. Sie klang jetzt fast bittend. »Wollen Sie nicht die erste sein, die eine Hand zur Versöhnung reicht? Ich glaube, Ihre Tochter erwartet nichts weiter, als nur diese, Ihre Hand! Und – daß Sie nicht von der Vergangenheit – sondern von der Gegenwart reden! Begraben Sie die Vergangenheit. Versuchen Sie, durch ein freundliches Wort, durch eine Geste Ihrer Tochter zu beweisen, daß Sie sie noch lieben. Ich bin überzeugt, daß Lydia …« Seine Augen wanderten wieder zu dem Kinderbild auf dem Flügel. Er nahm es in die Hand und betrachtete es. »… nur darauf wartet. Ich möchte Ihnen fast versprechen, daß dann Ihr Verhältnis genauso sein wird, wie es damals war, als Lydia noch …« Er reichte der Mutter das Bild zurück. Sie nahm es zögernd. »… im kurzen Röckchen mit einem Reifen durch die Gegend lief und nach Mutti rief, wenn sie sich weh getan hatte. Ihre Tochter hat sich jetzt sehr weh getan. Sie ruft nach ihrer Mutter. Sie braucht Sie jetzt mehr denn je. Enttäuschen Sie sie nicht!« Dr. Bruckner hatte eindringlich gesprochen. Er hatte versucht, seine ganze Überredungskraft in die Worte zu legen. Frau Heusmann hielt das Bild in der Hand. Unbewegt blickte sie das Foto ihrer Tochter an. Keine Miene in ihrem Gesicht zeigte, was in ihrem Innern vor sich ging. »Bitte!« Dr. Bruckner glaubte, daß das Eis, das ein Frauenherz umlagert hatte, aufgebrochen sei. In diesem Augenblick kam Leben in Frau Heusmann. Mit einer raschen Bewegung legte sie das Bild auf einen Stuhl. Wortlos ging sie an Dr. Thomas Bruckner vorbei, in den Garten hinaus. Es gab keine unmißverständlichere Andeutung, daß sie keine weitere Unterhaltung wünschte. Sie öffnete die Gartentür und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.« 112
Langsam ging der Arzt den Weg hinunter. Plötzlich blieb er stehen. Ein Rosenbusch blühte in überschwenglicher Pracht. Er schien mit roten Rosen übersät zu sein. Dr. Bruckner griff nach der schönsten Rose. »Darf ich diese Rose haben?« fragte er. Auf dem Gesicht der Frau zeigte sich Erstaunen. Sie kam zurück und sagte kurz: »Bitte.« Er griff in die Tasche, holte ein Taschenmesser heraus und schnitt die Blume ab. »Darf ich diese Rose Ihrer Tochter geben und sagen, sie sei ein Gruß von Ihnen?« Frau Heusmann atmete tief ein. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Dr. Bruckner wartete auf eine Antwort. Aber es kam keine. Wortlos hatte sich Frau Heusmann umgedreht und war im Haus verschwunden. Sie hatte nicht ein einziges Mal zurückgeblickt.
Johann Heidmann schrak hoch. Er saß aufrecht im Bett und schaute verstört um sich. Wo war er? Erst ganz allmählich kam die Erinnerung. Es dauerte lange, bis er das Zimmer erkannte – es war das Hotel im Cour de Commerce in Paris, und es hatte an die Tür geklopft. »Herein!« rief er. Von draußen kam eine Stimme: »Das geht leider nicht – Sie haben den Schlüssel stecken!« Heidmann sprang aus dem Bett. Sein Kopf schmerzte. Er öffnete die Tür. Draußen stand Madame Tissier. Kopfschüttelnd schaute sie ihn an. »Sie haben ja einen Schlaf, daß man eine Kanone neben Ihnen abfeuern könnte.« »Haben Sie schon lange geklopft?« Johann Heidmann rieb sich die verschlafenen Augen. »Eine ganze Weile schon«, erwiderte Madame Tissier. 113
Sie warf einen mißtrauischen Blick in das Zimmer. Aber als sie merkte, daß ihr Gast allein war, wurde ihre Stimme wieder freundlicher. »Ich kann es verstehen, daß man in der ersten Nacht in Paris nicht nach Hause findet. Dieses Quartier verführt ja auch zum Bummeln. Bis vier Uhr morgens sind die Lokale auf – teilweise sogar die ganze Nacht.« Sie nahm einen Zettel aus der Tasche. »Eine Frau Grothen hat angerufen – eine Deutsche!« fügte sie erklärend hinzu. »Sie möchten doch anrufen, sobald Sie wach sind, hat sie gesagt. Hier ist ihre Nummer.« Die alte Wirtin reichte Heidmann den Zettel. »Wer ist Frau Grothen?« fragte er. Er konnte sich an den Namen nicht erinnern. Die Wirtin schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich kenne sie auch nicht. Vielleicht haben Sie sie gestern abend kennengelernt und über dem vielen Alkohol wieder vergessen. Ich würde vorschlagen – rufen Sie an, dann werden Sie wissen, wer es ist!« Madame Tissier nickte Johann Heidmann zu, ging hinaus und schloß die Tür von außen. Der Langschläfer ging in die kleine Waschkabine und drehte den Kaltwasserhahn weit auf. Er hielt den Kopf unter das erfrischende Naß. Das kalte Wasser brachte seine Lebensgeister zurück. Er konnte wieder geordnet denken. »Grothen«, wiederholte er. Dann kam ihm die Erleuchtung: Loretta! Natürlich – er hatte sie nur beim Vornamen genannt, aber er entsann sich jetzt, daß ihr Zuname Grothen war. Der Name gab ihm neue Kräfte. Er kleidete sich so rasch wie möglich an und fuhr sich mit der Hand übers Kinn: Rasieren konnte er sich nachher! Auf alle Fälle wollte er zunächst Loretta anrufen. Er blickte zur Uhr und schrak zusammen: Es war fast Zeit zum Mittagessen! Er lief die Treppe hinunter. Er wäre auf der steilen Stiege fast gefallen – so eilig hatte er es. Madame Tissier bereitete gerade in der Küche, die neben der Pförtnerloge lag, das Essen. Ein Geruch von Knoblauch und Zwiebeln erfüllte den Raum. Heidmann klopfte gegen die Glasscheibe. Madame Tissier winkte 114
ihm einzutreten und deutete auf das Telefon, das in einer Ecke des Zimmers stand. »Verstehen Sie damit umzugehen?« »Selbstverständlich.« Johann Heidmann nahm den Hörer ab und stutzte ein wenig, weil er mit den Buchstaben, die auf der Wählscheibe standen, nichts Rechtes anzufangen wußte. Madame Tissier hatte ihn lächelnd beobachtet. Sie trat zu ihm. »Sie müssen die drei ersten Buchstaben des Amtes wählen und dann die Zahl. Zum Beispiel: Danton …« Ihr Finger fuhr in die entsprechenden Löcher, sie drehte zunächst das D, dann A und N. »Und jetzt wählen Sie selbst die Nummer hinterher!« Johann Heidmann folgte der Aufforderung. Das Freizeichen ertönte. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Hotel meldete. Er hatte den Namen nicht verstanden. »Je voudrais parier à Mademoiselle Grothen!« Er hatte sein bestes Französisch zusammengenommen. Es summte ein paarmal in der Leitung, es knackte, dann meldete sich Lorettas Stimme: »Hallo!« »Hier spricht Johann Heidmann …« Bevor er weitersprechen konnte, ertönte ein Freudenruf auf der anderen Seite. »Ich habe mir schon gedacht, daß du irgendwo in Paris untergetaucht bist.« Es war ihm nicht unangenehm, diese schöne Frau zu duzen. Fast glaubte er, er sei ein wenig in sie verliebt. »Wie geht es?« fragte Loretta. »Im Augenblick ganz gut«, Johann Heidmann faßte nach seinem Kopf. »Als ich aufwachte, hatte ich ziemliche Kopfschmerzen. Aber jetzt merke ich kaum noch etwas davon.« »Wo ißt du?« fragte Loretta. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich habe noch nicht einmal gefrühstückt. Ich bin gerade erst aufgestanden.« Es folgte eine kleine Pause, dann erklang Lorettas fröhliche Stimme wieder: »Wollen wir zusammen essen gehen? Ich kenne ein sehr schönes Restaurant. Nimmst du mich mit?« Johann Heidmann fühlte sein Herz schneller schlagen. Er hatte eben 115
gemeint, er sei ein wenig in sie verliebt; jetzt aber merkte er, daß er ganz gewaltig in sie verliebt war! Seine Stimme klang ein wenig heiser, als er antwortete: »Ich gehe mit dir, wohin du willst …« Ein fröhliches Lachen klang wieder aus dem Hörer, dann Lorettas Stimme: »Mein Hotel ist ganz in deiner Nähe. Ich komme vorbei und hole dich ab. Einverstanden?« Johann Heidmann warf einen vorsichtigen Blick zur Wirtin, die neben ihm stand und herumhantierte. Einen Augenblick lang kamen ihm Bedenken. Er wußte nicht, was die Wirtin sagen würde, wenn er Damenbesuch bekäme. »Hallo«, ertönte Lorettas Stimme durch den Draht. »Bist du noch da?« »Ja«, rief Heidmann schnell zurück. Und, wie um sie zu versöhnen, fügte er hinzu: »Komm dann! Ich muß mich nur noch rasieren.« »Ach was – rasieren!« lachte Loretta laut auf. »Das ist doch hier in Paris nicht nötig. Du läßt dir am besten einen schönen Bart stehen – so einen richtigen Existentialistenbart. Dann hält dich jeder für einen französischen Studenten. Dann fällst du überhaupt nicht mehr auf. Und ich liebe Bärte!« »Du liebst Bärte?« Der deutsche Student strich sich über das Kinn. »Ja!« kam Lorettas Stimme zurück, »und nun los, zieh' dich an! Ich will dich gleich sehen – aber mit Bart!« »So rasch wächst der aber nicht! Du mußt mich ein paar Tage mit Stoppeln ertragen. Ich weiß nicht, ob das ein angenehmer Anblick für eine Frau ist.« »Anblick?« kicherte Loretta, »was stört mich der Anblick? Viel wichtiger ist, daß sich ein solcher Bart gut anfühlt. Ich liebe es, wenn die Bartstoppeln mich so richtig pieken.« Johann Heidmann war sprachlos. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Das Tempo, das Loretta anschlug, war ihm neu. Aber schließlich war er auf Urlaub. Dazu noch auf einem Urlaub in Paris! Er hatte soviel über diese Stadt gehört. Daß er nun Paris gleich richtig erleben sollte, wäre ihm nicht in seinen kühnsten Träumen eingefallen. 116
»Gut«, rief er in den Hörer hinein, »ich beeile mich.« »Und ich bin sofort da!« Er hörte das ›Klick‹ ihres aufgehängten Hörers. Einen Augenblick schaute er noch den Hörer an, als käme daraus die Stimme Lorettas. Dann legte er ihn kopfschüttelnd zurück. »Macht fünfzig Centimes!« Madame Tissier war aus der Küche getreten und hielt die Hand auf. »Telefongespräche müssen immer gleich bezahlt werden. Sonst werden sie vergessen.« Johann Heidmann nickte. Er griff in die Tasche und holte ein Francstück heraus. Madame Tissier gab ihm fünfzig Centimes wieder. Er steckte sie ein und sagte leichthin: »Es wird gleich eine junge Dame kommen, die mich abholt …« Er wartete auf die Reaktion, die seine Worte bei Madame Tissier hervorrufen würde. Aber die Wirtin schien von dieser Ankündigung nicht sonderlich berührt zu sein. Sie nickte nur. »Ich werde sie nach oben schicken«, brummelte sie vor sich hin.
Dr. Bruckner nahm den Autobus, weil er seinen Wagen zur Inspektion gebracht hatte. Als er mit der Rose in der Hand den überfüllten Bus bestieg, sahen ihn die Leute spöttisch an. Jetzt werden alle denken, ich sei ein Verliebter, der zum Rendezvous mit seiner Liebsten fährt! Als der Autobus vor der Klinik hielt, sprang Dr. Bruckner aufatmend heraus. Er achtete aber sorgfältig darauf, daß die Rose nicht beschädigt wurde. Zuerst wollte er auf sein Zimmer gehen, um sich einen weißen Kittel anzuziehen. Aber er fürchtete, die Rose würde das nicht aushalten. Sie ließ schon die Blätter hängen und brauchte unbedingt Wasser. Also eilte er in die chirurgische Klinik und ging zur Frauenstation. 117
Dort begegnete ihm Schwester Angelika. Auch über ihr Gesicht flog ein Lächeln, als sie Dr. Bruckner mit der Rose erblickte. »Nanu«, sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Für mich?« Aus ihrem alten Gesicht sprach der Schalk. Die lustige Bemerkung Schwester Angelikas machte Dr. Bruckner lachen. »Nein«, sagte er, »diesmal nicht. Ich glaube, es bedarf keiner Rosen, um uns unserer gegenseitigen Zuneigung zu versichern!« »Man kann sich nie genug Zeichen der Zuneigung geben!« Das Gesicht der Schwester war für einen Augenblick ernst geworden. Sie nahm Dr. Bruckner die Rose aus der Hand. »Aber Ihre Blume braucht dringend Wasser.« Dr. Bruckner folgte Schwester Angelika in das Dienstzimmer. Sie nahm eine kleine, schmale Vase heraus, in die die Rose gerade paßte. »Wollen Sie die auf Ihr Zimmer stellen?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein. Ich war gerade bei der Mutter unserer Patientin.« »Bei der Mutter?« Erstaunt schaute Schwester Angelika Dr. Bruckner an. »Hat die Ihnen etwa die Rose geschenkt?« Dr. Bruckner nahm die Vase mit der Rose aus Schwester Angelikas Hand und sagte: »Sie hat sie mir nicht direkt geschenkt. Ich habe sie mir von ihr erbeten. Für ihre Tochter …« Die Schwester verstand. »Sie wollen versuchen, ein gutes Einvernehmen zwischen den beiden herzustellen?« Kopfschüttelnd folgte sie Dr. Bruckner auf den Flur. »Ich glaube, damit werden Sie keinen Erfolg haben. Wenn Sie der Tochter sagen, daß Sie ihre Mutter um eine Rose für sie gebeten haben, dann wird das genaue Gegenteil eintreten.« Dr. Bruckner roch an der Rose. »Ich brauche es ihr ja nicht zu sagen. Man muß ja nicht alles erzählen. Wie geht es übrigens der Hand?« Schwester Angelika strahlte. »Viel besser! Sie hat wieder eine richtige rosige Farbe bekommen. Seitdem Sie den Bluterguß entleert haben, geht es bergauf.« Sie schaute Dr. Bruckner mit schräggehaltenem Kopf an. »Oberarzt Wagner war auch schon da.« »Und?« »Er hat nichts weiter gesagt. Er hat nur irgend etwas vor sich hin118
gebrummelt. Aber Sie kennen ihn ja. Erst ist er gegen alles, weil er es nicht versteht. Wenn der andere dann nachher einen Erfolg gehabt hat, dann bucht er diesen auf sein Konto.« »Das ist mir egal!« Dr. Bruckner war vor der Tür des Krankenzimmers stehengeblieben. »Die Hauptsache ist, daß den Patienten geholfen wird. Alles andere ist völlig gleichgültig. Wer den Ruhm einsteckt – ob ich oder er …« Er klopfte. Erstaunt schaute Lydia Dr. Bruckner an. Eine Frage lag auf ihrem Gesicht, die Dr. Bruckner nicht gleich beantworten konnte. Schwester Angelika fand die Lösung des Rätsels. »Fräulein Heusmann wundert sich sicherlich, warum Sie nicht als Arzt verkleidet in das Krankenzimmer kommen. Ein Zivilist auf einer Frauenstation – besonders, wenn er eine Rose in der Hand trägt – wirkt immer seltsam. Habe ich recht?« Lydia Heusmann nickte. »Das stimmt – ich habe mich wirklich gewundert, was der Herr Doktor hier in Zivil macht.« Dr. Bruckner trat an das Bett. Er stellte die Rose auf den Nachttisch. »Sie schenken mir eine rote Rose?« Für einen Augenblick lief ein rosiger Schimmer über Lydias Gesicht. Es sah aus, als spiegele sich die Farbe der Rose darin wieder … »Die Rose ist nicht von mir.« Dr. Bruckner rückte die Vase so zurecht, daß Lydia sie von ihrem Bett aus gut sehen konnte. »Nicht von Ihnen?« Lydia dachte einen Augenblick nach. Ein flüchtiger Freudenschimmer huschte über ihr Gesicht. »Dann ist sie von ihm …« Dr. Bruckner schaute hilflos auf Schwester Angelika, die neben ihm stand. Die alte Schwester schüttelte den Kopf. Sie trat an das Bett und nahm die gesunde Hand Lydias. »Die Rose kommt von Ihrer Mutter – nicht wahr?« wandte sie sich zur Bestätigung ihrer Worte an Dr. Bruckner. Dieser nickte. »Sie stammt tatsächlich von Ihrer Mutter. Aus Ihrem Garten daheim …« Er wußte nicht, was er noch sagen sollte. »Von meiner Mutter …« Lydia streckte ihre gesunde Hand aus, und Dr. Bruckner verstand. Er nahm die Rose und hielt sie Lydia hin. 119
Lydia schaute fassungslos die schöne Blume an und fragte Dr. Bruckner: »Meine Mutter hat mir diese Rose geschickt?« Es klang immer noch ungläubiges Erstaunen durch ihre Stimme, aber es war ein freudiges Erstaunen. »Meine Mutter hat mir eine Rose …« Diesmal klang Lydias Stimme freudig und glücklich. Es war, als schmelze langsam das Eis, das um ihr Herz aufgetürmt war. Sie führte die Rose an ihr Gesicht und drückte es tief in die duftenden Samtblätter. Da schloß Dr. Bruckner leise die Tür von außen. Schwester Angelika war schon zum Dienstzimmer vorangegangen. Kopfschüttelnd meinte sie: »Da haben Sie was angerichtet, Doktor!« Dr. Bruckner antwortete erstaunt: »Es sieht so aus, als seien Sie nicht damit einverstanden, Schwester Angelika?« »Ob einverstanden oder nicht – ich fürchte nur, die Enttäuschung wird nachher um so größer sein, wenn die Mutter nicht kommt. Stellen Sie sich vor – das arme Kind glaubt, die Mutter habe ihr die Rose geschenkt. Sie glaubt nun wieder an die Liebe ihrer Mutter zu ihr. Und dann kommt die nicht – oder wenn sie kommt, dann wird sie den Traum der Liebe wieder zerstören.« Dr. Bruckner trat ans Fenster. Er schaute lange in den blühenden Garten hinaus. Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien, die Kranken saßen mit geschlossenen Augen in der Sonne und genossen die Wärme. Dr. Bruckner winkte Schwester Angelika und zeigte nach unten. »Sehen Sie die alte Frau dort – rechts auf der Bank, die mit einem glücklichen Gesicht und geschlossenen Augen die Strahlen der Sonne genießt?« Schwester Angelika nickte. »Das ist das Lungenkarzinom!« »Sie kennen die Prognose?« fragte er. Die Schwester nickte. »Sie wird nicht mehr lange leben. Höchstens noch ein bis zwei Monate!« »Würden Sie nun hingehen und ihr sagen, sie brauche sich nicht in die Sonne zu legen, es hätte doch keinen Zweck mehr?« Schwester Angelika war entrüstet. »Im Gegenteil – ich schicke sie 120
immer hinaus! Sie soll noch recht viel von der Sonne haben. Wenn sie wüßte, daß dies vielleicht die letzten Sonnenstrahlen sind, die sie erlebt, dann würde sie keine Freude mehr daran haben.« »Sehen Sie – genauso ist es mit unserer Lydia! Lassen wir sie glauben, daß die Mutter sie liebt. Es wird den Heilungsprozeß beschleunigen. Und außerdem …« Sein Blick glitt wieder über die Frau im Garten, die jetzt die Augen geöffnet hatte und ihn sah. Freundlich winkte sie nach oben, freundlich winkte Dr. Bruckner zurück. »… Wir Menschen wissen ja nie, ob nicht doch irgendein Wunder geschieht. Es gibt auch heute noch Wunder! Patienten, die längst aufgegeben wurden, denen man keinen Monat mehr zubilligte, genasen überraschend. Warum sollte das da unten nicht ebenso …«, er wies in die Richtung, in der das Zimmer Lydias lag, »… wie hier der Fall sein. Als ich die Mutter verließ, hatte ich das bestimmte Gefühl, ich hätte irgend etwas in ihr in Gang gebracht. Ich glaube, sie gehört zu jenen Menschen, die nicht sehr spontan sind. Aber den Keim habe ich gelegt. Wie lange es allerdings dauert, ehe er aufgeht, das kann ich nicht sagen. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß er eines Tages Früchte tragen wird.«
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at es dir geschmeckt?« Loretta winkte dem Ober: »L'addition, s'il vous plait!« Der Ober verneigte sich und verschwand. Er brachte auf einem Teller die diskret zusammengefaltete Rechnung und reichte ihn Johann Heidmann. Dieser entfaltete das Papier und bekam beim Anblick der Zahlen zunächst einen Schrecken. Nach dem gestrigen Essen, bei dem er für 121
rund vier Mark ein vollständiges Menü erhalten hatte, kamen ihm diese Preise hier wie Wucher vor. Das Essen für beide kostete rund gerechnet etwa vierzig Mark! Er lachte bitter auf. »Kein sehr billiges Lokal«, meinte Loretta, »dafür aber gut! Wenn man einmal in Paris ist, soll man auch gut essen. Man lebt ja nur so kurze Zeit und ist so lange tot!« Johann Heidmann legte einen zusammengefalteten Fünfzigfrancschein auf den Teller. Der Ober verschwand und kam gleich darauf mit dem Wechselgeld zurück. »Service compris?« fragte Loretta. Der Kellner nickte: »Mais oui, Madame!« Der Famulus wollte auf dem Teller ein Trinkgeld zurücklassen. Aber Loretta meinte: »Bitte nicht. Die deutschen Touristen verderben die Preise in Frankreich. Sie geben immer noch zusätzlich Trinkgeld. Wenn die Bedienung mit auf der Rechnung steht, braucht man nichts mehr draufzulegen!« Sie erhob sich. »Komm!« »Und wohin gehen wir jetzt?« »In den Club natürlich!« sagte Loretta zweideutig lächelnd. »Um diese Zeit schon?« Loretta war amüsiert. »Aber natürlich!« Sie hakte ihn unter. »Um diese Zeit nimmt man eine Nachmittagsdosis. Komm!« Sie zog ihn mit sich. Johann Heidmanns Gewissen regte sich, er fürchtete, daß er, wenn er noch öfter in den Club ging, auch ein Süchtiger des LSD werden würde, ein ›Säurekopf‹, wie sich diese Leute selbst nannten. Aber die Erinnerung an das gestrige Glücksgefühl war doch sehr stark und ließ ihn seine Bedenken vergessen. Zudem glaubte er, eine moralische Berechtigung zu haben. Wenn er herausbekommen wollte, was es mit diesem LSD auf sich hatte und woher es kam, dann konnte er es nicht bei dem einen Mal bewenden lassen. Er mußte öfters in den Club kommen, man mußte ihn dort gut kennen – gewissermaßen als Vertrauten ansehen. 122
Loretta hatte sein Zögern beobachtet. Sie zog ihn an sich und küßte ihn auf den Mund. »Du kleiner Feigling«, flüsterte sie ihm zu, »es ist doch nichts dabei! Wir verschaffen uns nur Zutritt zu einer Welt, die dem normalen Sterblichen nicht zugänglich ist. Warum sollen wir nicht zu den Auserwählten gehören?« Heidmann errötete. Es war ihm noch niemals passiert, daß ihn eine Frau auf offener Straße umarmt und geküßt hatte. Scheu sah er sich um. Loretta tat seine Bedenken mit einer Handbewegung ab. »In Paris fällt man höchstens auf, wenn man sich nicht küßt!« Sie umarmte ihn, schloß ihre Augen und hielt ihm ihr Gesicht verlangend entgegen. Johann Heidmann seufzte tief, dann umarmte und küßte er sie. Arm in Arm bummelten sie den Boulevard St. Michel entlang. Vor einem Schaufenster blieb Loretta stehen. »Ist das ein schönes Kleid!« sagte sie. Sie zeigte dem Studenten einen Traum aus goldgelbem Tüll. »Das würde mir gut stehen. Das brauchte ich eigentlich, um wirklich an deiner Seite bestehen zu können.« Sie sah ihr etwas dürftiges Kleid an und meinte: »Wenn ich Geburtstag habe, schenkst du mir das?« Johann Heidmann nickte. In Gedanken zählte er zwar sein Urlaubsgeld, das eigentlich für vier Wochen reichen sollte. Wenn er Lorettas Bedürfnisse befriedigen wollte, dann würde er gezwungen sein, seinen Urlaub bereits nach einer Woche abzubrechen! »Ich habe mir etwas überlegt!« Sie hing sich bei ihm noch fester ein. »Warum wohnen wir eigentlich in zwei Hotels? Es ist doch billiger, wir nehmen ein Zimmer. Ich ziehe einfach zu dir!« Johann Heidmann blieb erstaunt stehen. »Ich weiß nicht, was du dagegen haben kannst. Das ist in Frankreich so üblich. Man spart Geld, und ich habe nicht viel«, sagte sie. »Ob nun eine oder zwei Personen in deinem Zimmer wohnen, das ist doch egal. Auf jeden Fall würden wir Geld sparen.« Johann Heidmann überlegte. So unrecht hatte sie eigentlich nicht. Es wäre wirklich schöner, wenn sie ein Zimmer haben könnten … 123
Es war, als hätte Loretta seine Gedanken erraten. »Wir sparen außerdem die Telefongebühren«, lachte sie. Der Famulus machte ein bedenkliches Gesicht. »Glaubst du, daß meine Wirtin damit einverstanden wäre?« Loretta zog verächtlich die Mundwinkel herab und meinte: »Du brauchst es ihr ja nicht zu sagen!« Heidmanns ehrsame, deutsche Erziehung ließ sich nicht ganz verleugnen. Aber dann kämpfte er die Skrupel tapfer nieder. Er war nur einmal in Paris und hatte die Möglichkeit, das Abenteuer zu erleben, von dem er immer schon geträumt hatte. Nun war es da … »Gut.« Er reichte ihr die Hand. »Komm zu mir! Ich bin sicher, daß wir sehr glücklich zusammen sein werden!« Sie blieb stehen, umarmte ihn und drückte ihm einen lauten Kuß auf den Mund. »Du bist wirklich wundervoll, Jean …« Sie überquerten die Straße. »Da drüben ist die Rue de la Huchette!« Sie bogen in die kleine Straße ein, die um diese Tageszeit verlassen aussah. Der ganze Zauber des Orients, der gestern nacht hier webte, war verschwunden. Es war nichts als eine schmutzige, kleine Straße … »Hier ist das Theatre de la Huchette!« Loretta blieb vor einem schmalen Eingang an einem Hausvorsprung stehen. »Hier spielen sie nun schon viele Jahre zwei Stücke von Ionesco: ›Die kahle Sängerin‹ und ›Die Unterrichtsstunde‹. Wir müßten uns das einmal ansehen! Es ist wirklich fabelhaft, man hat das Gefühl, daß sich die Schauspieler selbst nicht ernst nehmen.« Sie kamen vor dem Haus an, in dem sich der Club befand. Loretta öffnete die Tür. Sie hatte jetzt schon einen eigenen Schlüssel. »Du siehst, es sind schon einige Säureköpfe da!« Tatsächlich saßen in den Sesseln schon einige junge Menschen. Sie befanden sich bereits im Rauschstadium. Man konnte es erkennen, denn sie nahmen keine Notiz von den Eintretenden. Einer der jungen Männer sang monoton ein Lied. Er wiederholte immer dieselbe Strophe. »Der ist jeden Tag hier!« Lächelnd zeigte Loretta auf den jungen 124
Mann, der sich selbst zu seinem Lied den Takt schlug: »Er hält sich für Chor und Dirigent in einer Person!« Sie zog Heidmann auf das Sofa, auf dem sie gestern schon gesessen hatten. »Sie verleiht wirklich ungeahnte Kräfte, unsere Wunderdroge! Ich mochte sie in meinem Leben nicht mehr missen. Es ist zwar furchtbar, in sich selbst hinabsteigen zu können, aber es ist doch ein herrliches Gefühl, wenn man unten angekommen ist!« Der Leiter des Clubs kam und schaute die beiden fragend an. »Wie gehabt!« sagte Loretta. Heidmann fiel ein, daß er eine Karte an Dr. Bruckner schicken könnte. Er hatte es ihm versprochen. »Können Sie mir eine Postkarte mitbringen?« fragte er. Der junge Mann nickte. »Selbstverständlich.« Er verschwand. Loretta legte ihren Arm um Heidmanns Schulter. »Bist du glücklich?« fragte sie. Der Student nickte. »Ich glaube schon! Genau sagen kann ich es dir aber erst, wenn ich dieses Zeugs genommen habe …« Sie zog seinen Kopf an sich und küßte ihn fordernd. »Und das Kleid«, fragte sie, »das wir gesehen haben, das kaufst du mir doch, ja?«
Dr. Bruckner hatte sich zu einem kurzen Nachmittagsschlaf niedergelegt. Die Nacht zuvor war schon viel zu tun, dann hatte er den ganzen Vormittag über operiert und wollte nun ein wenig ruhen. »Wo brennt es denn, Schwester Angelika?« fragte er, hochschreckend, als Schwester Angelika anrief und seinen Namen nannte. »Es handelt sich um Fräulein Heusmann.« »Heusmann?« »Das Mädchen mit der angenähten Hand!« Schwester Angelikas Stimme wurde noch aufgeregter. »Kommen Sie!« Die Schwester hatte eingehängt. Dr. Bruckner sprang mit einem Satz von seiner Couch. Er hielt sein Gesicht unter die Wasserleitung, um frisch zu werden. Dann warf er sich den weißen Kittel über und lief, 125
so schnell er konnte, vom Ärztehaus durch den Garten zur chirurgischen Klinik. Alle möglichen Komplikationen, die eintreten könnten, schossen ihm durch den Kopf. Vielleicht war eine Thrombose da, – dann war die Hand verloren! Vielleicht war die Durchblutung durch andere Dinge wieder in Frage gestellt? Atemlos erreichte er die Station. Schwester Angelika saß im Dienstzimmer und malte an einer Kurve. »Wo ist die Patientin?« fragte Dr. Bruckner aufgeregt. »In ihrem Zimmer.« Langsam erhob sich Schwester Angelika und legte die Kurve beiseite. Dr. Bruckner stand noch in der Tür. Aber Schwester Angelika hielt ihn zurück. »Nicht so rasch«, sagte sie, »ich möchte vorher mit Ihnen sprechen!« Dr. Bruckner riß der Geduldsfaden. »Was ist denn passiert?« rief er. »Ist irgendwas mit der Hand los?« Schwester Angelika sah ihn erstaunt an. »Mit der Hand ist nichts los, – aber die Patientin hat Besuch!« »Besuch?« In Dr. Bruckners Stimme war der Ärger nicht zu überhören. »Weshalb wecken Sie mich denn? Sie wissen doch, daß ich mich hingelegt hatte. Der Besuch kann doch wohl warten!« Schwester Angelika machte ein beleidigtes Gesicht. »Es ist aber doch ein ganz bestimmter Besuch! Die Mutter ist gekommen! Und Sie hatten mir doch gesagt, daß ich Sie sofort rufen möchte …« Dr. Bruckner wußte nicht, ob er sich ärgern oder freuen sollte. Aber schließlich klopfte er der alten Schwester auf die Schulter. »Ist schon gut, Schwester Angelika!« Er ging zur Tür. »Schließlich ist es ja wichtig, daß ich mit der Mutter spreche. Vielleicht ist das genauso lebensnotwendig wie die Entfernung des Blutergusses von gestern.« »Ich weiß nicht«, die alte Schwester schüttelte bedenklich den Kopf, »als ich die Mutter sah, hatte ich das Gefühl, sie sei gekommen, um Unheil zu bringen. Man hat ja so was im Gefühl …« Die beiden waren in den Korridor hinausgegangen. Die Schwester konnte nicht weitersprechen, denn die Tür zur Abteilung hatte sich ge126
öffnet, und ein junger Mann schaute sich suchend um. Er hatte einen großen Blumenstrauß in der Hand. Als er Schwester Angelika erblickte, kam er auf sie zu und sagte sehr bescheiden: »Ich möchte gern eine Patientin besuchen.« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Es ist jetzt leider keine Besuchszeit. Geben Sie mir den Blumenstrauß. Ich werde ihn der Patientin geben; kommen Sie morgen wieder.« Der junge Mann übergab der Schwester verschüchtert den Blumenstrauß. Dr. Bruckner mischte sich ein und fragte: »Zu wem möchten Sie denn?« Schwester Angelika wollte ärgerlich werden. Sie kannte die Gutmütigkeit Dr. Bruckners und wußte, daß er es fertigbekommen würde, ihren ganzen Stundenplan durcheinanderzubringen. Der junge Mann schaute abwechselnd die gestrenge Schwester und den viel sympathischeren Doktor an. »Ich wollte zu Fräulein Heusmann«, sagte er, »sie ist hier operiert worden!« »Fräulein Heusmann?« Dr. Bruckner nahm Schwester Angelika den Blumenstrauß wieder ab und reichte ihn dem jungen Mann. »Sie kommen mir gerade recht!« sagte er und war sehr vergnügt. Erstaunt meinte der Besucher: »Ich verstehe nicht …« »Sie werden mich gleich verstehen. Sie sind sicherlich der junge Mann, der Fräulein Heusmann überfahren hat?« Der junge Mann errötete. »Ich heiße Peter Patrick«, stellte er sich vor. Er betrachtete verlegen seine Blumen, die er nun wieder im Arm hielt. »Hat sie …«, er zögerte weiterzusprechen und errötete noch stärker, »… nach mir gefragt?« Er sagte es so leise, daß Dr. Bruckner ihn kaum verstehen konnte. Der Arzt antwortete nicht. Er nahm statt dessen den jungen Mann beim Arm und brachte ihn in das Dienstzimmer. »Bleiben Sie bitte hier sitzen«, sagte er, »ich muß zunächst einmal mit Fräulein Heusmann sprechen. Außerdem ist ihre Mutter gerade bei ihr.« Der junge Mann erschrak. »Dann gehe ich lieber!« Dr. Bruckner aber meinte: »Hiergeblieben! Sie werden doch jetzt nicht kneifen wollen!« 127
Patrick war erschrocken. Doch als er in Dr. Bruckners Gesicht schaute, sah er, daß dieser es nicht böse mit ihm meinte. »Gerade jetzt, glaube ich, wird Fräulein Heusmann Sie sehr nötig brauchen. Versprechen Sie mir, daß Sie warten?« Der junge Mann ließ sich gehorsam von Dr. Bruckner zu der Sitzecke führen und sich dort auf einen Stuhl niederdrücken. Ängstlich schaute er nun auf Schwester Angelika. Aber auch diese sah ihn durchaus nicht mehr böse an. Sie hatte begriffen, daß dieser Peter Patrick einen Mosaikstein in Dr. Bruckners Behandlungsplan darstellte. So lächelte sie ihn freundlich an und meinte: »Sie werden warten?« Patrick seufzte ergeben. »Selbstverständlich!«
Johann Heidmann meinte, diesmal eine schwächere Dosis der Droge bekommen zu haben. Zwar spürte er ein seltsames Glücksgefühl, und wieder sank er in eine Welt, die zu beschreiben ihm einfach nicht möglich war. Es war eine Welt, in der man Töne riechen und Farben hören konnte. Es war die Welt, von der Schopenhauer einmal sagte, sie sei herrlich zu sehen, aber schrecklich zu sein … Schrecklich zu sein – aber dennoch herrlich in diesem Schrecken! Als er aus dem Rauschzustand erwachte, schaute er in das lächelnde Gesicht Lorettas. Hatte sie keine Droge genommen? Er konnte sich nicht daran erinnern … »Es war alles viel schwächer als sonst?« Johann Heidmann fragte es ein wenig enttäuscht. Loretta lächelte. »Die Mittagsdosis ist geringer. Sie ist nur die Andeutung von dem, was man am Abend zu sich nimmt.« Sie schaute auf die Uhr. »Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?« Heidmann nickte. »Gern.« Er sehnte sich nach frischer Luft. Loretta erhob sich und faßte ihn unter. Am Ausgang sprach sie jener 128
junge Mann an, der sie bedient hatte. Loretta winkte ihrem Begleiter, weiterzugehen. Sie flüsterte mit Jean-Claude. Johann Heidmann war noch nicht ganz wach. Er konnte nicht begreifen, was die beiden zu tuscheln hatten. Er hörte zusammenhanglose Bruchstücke von Sätzen, mit denen er nichts anfangen konnte. Dann beendete Loretta die Unterhaltung schnell und hakte Heidmann unter. Als wäre nichts gewesen, ging sie fröhlich lachend mit ihm über die Straße. Es war ein herrlicher Sonnentag. Die frische Luft tat nach dem stickigen Saal wohl. Die Sonne vertrieb nun auch den letzten Rest des Schleiers, der noch das Denkvermögen des Studenten behindert hatte. »Trinken wir einen Kaffee?« »Wenn du meinst!« Sie wanderten den Boulevard St. Michel herauf bis zum Boulevard St. Germain. Langsam bummelten sie an den Geschäften vorbei. Dann und wann blieb Loretta stehen und machte Johann Heidmann auf ein Kleid aufmerksam, das ihr gefiel. Der Student fühlte sich in der Rolle des Begleiters wohl. Es war noch nicht oft vorgekommen, daß er mit einer Frau durch die Straßen ging und vor den Geschäften stehenblieb. Er hatte das Gefühl, zum erstenmal in seinem Leben richtigen Urlaub zu machen. In Köln hatte er nie Zeit zu bummeln. Die Klinik erzog fast zum Zölibat. Loretta schien seine Gedanken erraten zu haben. Sie drückte seinen Arm. »Ist es nicht wunderschön, so zu zweit durch Paris zu gehen?« Johann Heidmann nickte. »Es ist wundervoll!« Sie waren an der Kirche St. Germain angekommen. Loretta blieb vor ›Deux Magots‹, einem Lokal, stehen. »Da hinten in der Ecke sind Plätze frei – genau zwei Stühle!« Bevor Heidmann noch etwas sagen konnte, hatte sie sich nach hinten durchgeschlängelt. Sie strebte auf einen leeren Tisch zu. Der Student folgte ihr, und der Kellner kam an ihren Tisch. »Deux cafés«, bestellte Loretta. Er bewunderte sie. Sie sprach ein fast akzentfreies Französisch. Der 129
Kellner verschwand. Loretta hatte Heidmanns Hand gefaßt und hielt sie fest. »Wie lange bleibst du noch in Paris?« fragte sie dann. Er überlegte. »Ich habe eigentlich keine Pläne! Ich bin einfach so gekommen …« »Wenn wir jetzt zusammenwohnen, kann ich auch länger bleiben.« Ihr Blick ruhte in Heidmanns Augen. »Ursprünglich wollte ich nur zwei Tage bleiben. Ich hatte an sich gar kein Geld. Aber jetzt …« Überrascht schaute Heidmann sie an. »Das ist ja wundervoll! Dann erlebe ich zum erstenmal einen richtigen Urlaub in Paris.« »Nicht nur in Paris«, korrigierte ihn Loretta, »du reist jeden Tag in eine Welt, in die dir niemand folgen kann. In die Welt des Glücks …« Johann Heidmann glaubte, einen Augenblick lang auf ihrem Gesicht einen lauernden Ausdruck zu bemerken. Doch als er sich noch darüber Gedanken machte, war er schon wieder verschwunden. »Du machst doch weiter mit?« fragte sie. Ihr Kopf deutete in die Richtung, in der das Clublokal lag. Der Famulus überlegte. Hatte er den Wunsch, sofort abzufahren? Oder war die Vorstellung, daß er noch tiefer in diese geheimnisvolle Welt des Rausches eindringen könnte, daß er noch mehr sehen und erleben würde, schon so stark in ihm? War es schon … Begierde? »Ich bleibe«, erklärte er. Er sah, wie Loretta aufatmete. Aber er schrieb es ihrem Verlangen nach dem LSD-Rausch zu. Auch ihn überwältigte die Vorfreude auf den Rausch, der auf sie wartete. »Nur ein paar Tage noch«, sagte er bei sich. »Dann werde ich einfach abreisen.« Der Kellner kam an den Tisch und stellte zwei Kannchen Kaffee hin. Loretta füllte die Tassen. »Ich freue mich auf heute abend«, sagte sie verschleiert, »heute abend, wenn wir wieder gemeinsam reisen werden …«
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Lydia Heusmann hielt die Rose in der Hand, die ihr Dr. Bruckner mitgebracht hatte. Wie einen kostbaren Schatz betrachtete sie die Blume. Sie konnte es immer noch nicht begreifen, daß ihre Mutter ihr dieses Zeichen der Zuneigung geschickt haben sollte. Sie waren sich so fremd geworden, daß sie Angst davor hatte, nach Hause zu kommen. Die kalte Atmosphäre ihres Elternhauses tötete allmählich Lydias Gefühl der Zuneigung für die Frau, die sich ihre Mutter nannte. Jetzt zuckte sie zusammen. Die Hand, die in einem großen Gipsverband lag, schmerzte. Immer wieder fuhren zuckende Stiche durch den Arm. Es klopfte. Lydia schaute hoch und rief: »Herein!« Es konnte eigentlich nur Dr. Bruckner sein, denn Schwester Angelika klopfte nicht an. Langsam öffnete sich die Tür. Gebannt schaute Lydia auf den immer größer werdenden Spalt. Ein Gesicht erschien, und sie fuhr zusammen. Fast hätte sie aufgeschrien. Sie konnte es nicht fassen. »Mutter?« fragte sie. Frau Heusmann öffnete die Tür ganz und trat langsam in das Zimmer ein. Einen Schritt vom Bett entfernt blieb sie stehen. Lydia konnte nicht erkennen, was hinter dem steinernen Gesicht vorging. Alle Hoffnung, die sie geschöpft hatte, schwand dahin. Sie hatte das Gefühl, die Mutter sei nur gekommen, um eine Art Pflichtbesuch abzustatten. »Ich wollte nur schauen, wie es dir geht.« Die Stimme der Mutter klang kalt wie immer. Lydia konnte nicht das leiseste Gefühl der Zuneigung erkennen. »Danke«, antwortete sie genauso knapp. »Ich nehme an, die Heilung macht Fortschritte.« Sie nahm die Rose, die sie in der Hand gehalten hatte, und stellte sie wieder in die Vase zurück, die auf dem Nachttisch stand. »Im übrigen danke ich dir für diese Rose …« Sie versuchte, ihren Worten einen beiläufigen Ton zu geben. Es gelang ihr nicht. Die Stimme zitterte verräterisch. Dann, als sie die Rose in die Vase gesteckt hatte und sich wieder zurücklehnte, brachen Trä131
nen aus ihren Augen. Es ging nicht, sie konnte nicht länger an sich halten. Die Mutter trat ans Bett. Mit einer unbeholfenen Geste legte sie die Hand auf die Schulter der Tochter. »Es wird schon gut«, sagte sie. Es gelang ihr aber nicht, ihrer Stimme einen herzlichen Klang zu geben. Sie hatte vergessen, wie Herzlichkeit klingt. Lydia schluchzte noch immer vor sich hin. Sie konnte ihre Gemütsbewegung nicht mehr verbergen. Die Mutter wollte Lydia zart über das Haar streicheln, als es klopfte. Fast im gleichen Augenblick öffnete sich schon die Tür, und Dr. Bruckner stand auf der Schwelle. Er erkannte mit einem Blick, was geschehen war. Langsam trat er auf die beiden Frauen zu. »Ich freue mich sehr, gnädige Frau, daß Sie gekommen sind«, wandte er sich an Frau Heusmann, »genauso wie Ihre Tochter, die Ihren Besuch erwartet hat.« Die Augen der beiden Frauen trafen sich. Es war ein tastendes Fragen, ein Suchen darin … »Ich habe Ihnen noch eine freudige Nachricht zu bringen«, wandte sich Dr. Bruckner an Lydia Heusmann, »Sie bekommen noch mehr Besuch!« Die Augenbrauen der Mutter zogen sich zusammen. »Mehr Besuch?« fragte sie argwöhnisch. Dr. Bruckner ruckte. »Herr Patrick ist gekommen.« Die Mutter sprang auf. »Diesen Namen hörte ich doch schon am Telefon? Wenn einer von deinen Freunden kommt, dann gehe ich – wir haben in einem Raum keinen Platz!« Sie warf einen ärgerlichen Blick auf ihre Tochter. Lydia sah hilfesuchend zu Dr. Bruckner. Dieser hob begütigend die Hand. »Ich glaube, Sie sollten nicht so hart urteilen, gnädige Frau. Ich habe den Eindruck, daß besonders ihm alles sehr leid tut.« Lydia streckte ihre gesunde Hand zur Mutter. »Bitte – Mutter!« Aber Frau Heusmann schüttelte nur den Kopf. Stumm und verbittert wie vorher verließ sie das Krankenzimmer.
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XI
D
a hat sich sicherlich jemand einen Scherz erlaubt …« Schwester Angelika reichte Dr. Bruckner die Post. »Da ist für Sie eine selbstgemalte Karte.« Sie hatte die Brille aufgesetzt, betrachtete die Karte und fügte hinzu: »Die sieht aus wie von Picasso gemalt.« Dr. Bruckner betrachtete das Bild, das jemand mit einem Vierfarbenstift auf eine gewöhnliche Postkarte gezeichnet hatte. Es sah in der Tat seltsam aus, es erinnerte an Zeichnungen, die er einmal von Geisteskranken gesehen hatte. Es waren wilde Striche, seltsame Figuren, mit denen er nichts anfangen konnte. »Wie Picasso?« Dr. Bruckner schaute Schwester Angelika lächelnd an. Er wollte ihr gerade erklären, daß Picasso nun doch etwas anders male. Da drehte er die Postkarte um und las den Text. Auf seiner Stirn erschien eine steile Falte. Er schaute Schwester Angelika an. »Wissen Sie, von wem diese Karte ist?« Die Schwester schüttelte den Kopf. »Ich werde doch Post, die an Sie gerichtet ist, nicht lesen!« Dr. Bruckner überlas noch einmal das Geschriebene. »Die Karte kommt von unserem Herrn Heidmann aus Paris.« »Dann hat sich Herr Heidmann einen Spaß gemacht!« lachte Schwester Angelika, »ich kenne ihn. Er erlaubt sich oft solche komischen Scherze. Was schreibt er denn?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Nichts Besonderes. Es ist die übliche Karte, wie man sie halt so schickt, wenn man verreist.« Er steckte die Karte in die Tasche seines Kittels und ging zur Tür. »Sie wollten doch verbinden!« rief ihm Schwester Angelika nach. Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Ja, aber mir ist etwas eingefallen. Ich muß unbedingt mal schnell zur Psychiatrie.« 133
Die Schwester dachte nach, dann nickte sie. »Ach – wohl wegen unserer Selbstmörderin?« Dr. Bruckner lächelte vielsagend. »Nicht direkt wegen ihr, aber es hängt mit ihr zusammen!« Er ging in Gedanken durch den Garten und blieb vor dem Neubau der Nervenklinik stehen. Er griff in die Tasche und holte Heidmanns Karte hervor. Noch einmal betrachtete er sie. Ja, er hatte Bilder von Schizophrenen einmal in einem Lehrbuch abgebildet gesehen. War sein Famulus verrückt geworden? Der Inhalt der Karte war auch dazu angetan, die Vermutung zu vertiefen. Thomas Bruckner betrat die Nervenklinik und ging die Treppe zum ersten Stock hinauf. Hier war das Dienstzimmer des Oberarztes. Mit ausgestreckter Hand kam dieser auf seinen Besucher zu. »Sie kommen sicherlich wegen unserer gemeinsamen Patientin?« fragte er. »Hat sich etwas Neues ergeben?« Dr. Bruckner zog sich einen Stuhl heran. »Ich würde Sie bitten, in den nächsten Tagen noch einmal nach ihr zu schauen. Ich möchte wissen, ob Aussicht besteht, daß die Nerven, die ich zusammengeflickt habe, auch zusammenwachsen.« Der Oberarzt reichte Dr. Bruckner Zigaretten. Doch der lehnte dankend ab. »Danke, ich rauche nur meine Pfeife!« Lächelnd steckte sich der Oberarzt eine Zigarette an. »Sie sind ungeduldiger als die Patientin selbst!« Er drohte dem Chirurgen vorwurfsvoll. »So schnell läßt sich da noch nichts entscheiden. Sie wissen doch, daß es Monate, mitunter Jahre dauert, bis Nerven soweit wiederhergestellt sind, daß sie leiten.« »Nun habe ich noch eine Frage.« Dr. Bruckner griff in die Tasche und holte die Karte aus Paris hervor. »Was halten Sie von dieser Zeichnung?« Der Psychiater nahm die Karte und betrachtete lange das Bild. Dann nickte er: »Das ist die Zeichnung eines Schizophrenen! Sehen Sie hier …« Er zeigte auf die verschiedenen Striche, Bilder. »Sie haben hier die Verwirrung der Gedanken! Überall sind Teilgestalten dargestellt, die 134
groteske Bewegungen ausführen. Hier sind ein paar Noten gezeichnet – dort der Kopf eines Tieres, das die Zunge herausstreckt. Hier könnte man einen Gartenzaun entdecken. Dort geht eine Sonne auf. Da ist ein Messer, hier eine Säge …« Er gab Dr. Bruckner die Postkarte zurück. »Es ist doch hoffentlich kein Bild von Ihrer Patientin mit der angenähten Hand?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »es ist eine Postkarte, die ich von meinem Famulus aus Paris erhielt.« Dr. Bruckners Gesicht war ernst geworden. »Den armen Heidmann scheint es erwischt zu haben. Er war ein ziemlich intelligenter Bursche. Und es sind ja – soviel ich mich aus meiner Studienzeit erinnere – immer die intelligentesten Leute, die schizophren werden.« »Moment mal!« Der Psychiater griff wieder nach der Postkarte. Er betrachtete sie noch einmal. »Ware es möglich, daß dieser junge Mann rauschgiftsüchtig ist?« Dr. Bruckner lachte auf. »Das halte ich für ausgeschlossen. Ich kenne Heidmann schon seit längerer Zeit. Er ist einer unserer tüchtigsten Studenten, die wir je auf Station gehabt haben. Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer!« »Man soll nie Hände leichtfertig ins Feuer legen«, lächelte der Psychiater, »es hat sich schon mancher verbrannt, weil er glaubte, es sei kein Feuer in dem Ofen! Doch Spaß beiseite …« Sein Gesicht wurde ernst. »Ich habe neulich einige Fälle von LSD-Sucht untersucht. Die Zeichnungen, die diese Patienten machten, waren wie dieses Bild. Im Grunde genommen ahmt eine Droge ja gewisse Geisteskrankheiten nach. Infolgedessen sind auch die Manifestationen der Süchtigen wie die von Geisteskranken.« Dr. Bruckner betrachtete kopfschüttelnd das Bild. »Es erscheint mir merkwürdig, aber schließlich …«, er überlegte und nickte, »… ist es durchaus möglich, daß sich Heidmann nach Paris begeben hat, weil er irgendeiner Sache auf der Spur ist. Er hat nämlich nebenbei noch eine kriminalistische Ader. Vielleicht wollte er eine Sache verfolgen und wird nun selbst von ihr verfolgt!« »Die Sache sieht jedenfalls ernst aus!« Der Psychiater nahm wieder 135
die Karte zur Hand und betrachtete sie von beiden Seiten. »Gestatten Sie? Diese Zeichnung muß unter dem Einfluß einer ziemlich hohen Dosis des Phantastikums angefertigt worden sein. Auch der konfuse Text läßt darauf schließen.« »Was kann man da machen?« Ratlos schaute Dr. Bruckner den Psychiater an. »Liegt Ihnen sehr viel an dem jungen Mann?« »Eine ganze Menge. Ich sagte Ihnen schon, daß er einer unserer tüchtigsten Studenten ist. Der Gedanke, daß er irgendeinem Rauschgift zum Opfer fallen sollte, beunruhigt mich wirklich.« »Dann gibt es nur ein einziges Mittel.« Der Psychiater erhob sich, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab, und blieb dann schließlich vor Dr. Bruckner stehen. »Und das wäre?« fragte dieser. »Sie müßten selbst nach Paris fahren und versuchen, den jungen Mann zur Räson zu bringen. Wahrscheinlich ist er in irgendeinen dieser sogenannten ›Clubs‹ geraten. Die machen es sich zur Aufgabe, möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Sie gehen richtig darauf aus, ›Bekehrungen‹ vorzunehmen. Die LSD-Süchtigen, müssen Sie wissen, halten ihre Sucht für eine Weltanschauung – für eine Art Religion! Es ist erstaunlich, wie viele sie zu dieser ›Religion‹ bekehren. Wer einmal ein solches Mittel genommen hat, ist ihm eigentlich auch schon verfallen.« Der Psychiater ging zum Fenster. »Ich habe es selbst einmal versucht, und zwar im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments. Wäre mein Chef nicht gewesen, der mich zurückgeholt hat, ich glaube, ich wäre nicht mehr davon losgekommen.« »Man kann also wieder davon loskommen?« fragte Dr. Bruckner. »Ja!« erklärte der Psychiater. »Es ist nicht so gefährlich wie etwa Morphium, von dem man kaum wieder loskommt. Aber man braucht jemand, der einen aufrüttelt, der einen aus den Fängen dieser Clubs herausholt. In diesen Vereinigungen finden richtige Massensuggestionen statt. Einer verführt den anderen. Und das Schlimmste ist …«, der Psychiater begann wieder seine ruhelose Wanderung durchs Zimmer, 136
»… irgendwo stecken ein paar Geschäftsleute dahinter. Die versuchen auf diese Art und Weise ihre Ware an den Mann zu bringen. Sie verdienen sehr gut dabei. Ich weiß nicht, wie hoch im Augenblick das LSD gehandelt wird. Es läßt sich aus einfachen chemischen Grundsubstanzen von jedem Chemiker mühelos zusammenstellen. Die Herstellung ist billig. Aber es wird zu teuren Preisen verkauft. Daher ist die Verdienstspanne besonders hoch, und die Händler haben ein großes Interesse daran, möglichst viele Leute zu Süchtigen zu machen.« Er blieb vor Dr. Bruckner stehen. »Die Gefahr bei dieser billigen Herstellung liegt weiter darin, daß schlechte Grundsubstanzen verwendet werden – sie sollen ja nichts kosten – > und daß diese Grundsubstanzen an sich schon giftig sind. So können durch den Genuß des LSD auch noch Gesundheitsstörungen auftreten.« Dr. Bruckner überlegte. Immer wieder glitt sein Blick nachdenklich über die Karte, die er in der Hand hielt. Sie hatte einen merkwürdigen Einfluß auf ihn. Die bizarren, seltsamen Figuren, die sie zeigte, regten ihn auf. Er glaubte, etwas von dem Gemütszustand Johann Heidmanns erkennen und nachempfinden zu können, wenn er die Postkarte ansah. Der Oberarzt war hinter Dr. Bruckner getreten. Er zeigte wieder auf die Bilder. »Das sind Gestalten, wie die Süchtigen sie sehen. Sie drehen und bewegen sich, sie kreisen um einen! Sie reißen mit …« Der Psychiater schaute ernst vor sich hin. Es war, als glitten seine Gedanken in diese Welt hinüber, die er einmal gekostet hatte, und vor der es ihm nun aber schauderte. »Ich möchte es nicht noch einmal erleben«, sagte er, »es war für mich ein Abstieg in die Hölle. Aber man blieb nicht in der Hölle, man gelangte durch sie – wie durch ein Fegefeuer – in das Paradies! Und um in dieses Paradies zu gelangen, nehmen die Süchtigen alle Qualen der Hölle auf sich. Sie zahlen jeden Preis, um in den Genuß dieses Mittels zu kommen. Es treibt sie zum Selbstmord – zum Mord! Es macht sie bedenkenlos und leichtsinnig.« Der Psychiater sagte abschließend: »Wenn Ihnen etwas daran liegt, 137
diesen Menschen zu retten, dann fahren Sie! Vielleicht hört er auf Sie, vielleicht läßt er sich aus den Fesseln des Giftes befreien. Wenn es Ihnen nicht gelingen sollte …«, der Oberarzt dämpfte seine Stimme und schloß sehr bewegt: »… dann gnade Gott Ihrem Famulus!«
»Ich hätte nicht kommen sollen.« Peter Patrick hatte Lydias gesunde Hand gefaßt und streichelte sie. »Jetzt habe ich das zerstört, was sich vielleicht wieder angebahnt hätte: Ein gutes Verhältnis zu deiner Mutter!« Lydia seufzte. »Es tut mir auch leid. Ich hatte auch gehofft, daß sich alles wieder einrenken würde. Aber nun …« Sie sah mit leeren Augen in die Ferne. »Warum haßt mich deine Mutter eigentlich so?« fragte Peter Patrick. »Sie hat wahrscheinlich instinktmäßig gespürt, daß du mich ihr mehr und mehr entfremdet hast. Aber du warst es ja gar nicht!« Sie betrachtete ihre Gipshand und fuhr fort: »Schuld trägt ja nur dieses teuflische Zeugs, das wir genommen haben!« Peter Patrick starrte vor sich hin. »Diesem Zeugs haben wir auch meinen Unfall zu verdanken«, brachte er schließlich heraus. Dann schüttelte er sich und fragte: »Ob wir jemals davon freikommen?« Lydia nahm seine Hand und hielt sie ganz fest. »Wir müssen es versuchen! Ich glaube, es wird uns gelingen. Du mußt allerdings …« Sie starrte vor sich hin. Es war, als fürchtete sie sich weiterzusprechen. »Was muß ich?« fragte er. Lydia beendete ihren Satz nicht. Sie begann von neuem: »An allem ist Loretta schuld!« Sie hob die Hand, als Peter Patrick etwas erwidern wollte. »Unterbrich mich bitte nicht«, ihre Stimme klang heiser, »und glaube nicht, daß aus mir Eifersucht spricht. Natürlich bin ich eifersüchtig, ich gebe es zu. Wer wäre es in einem solchen Falle nicht? Aber es war nicht Eifersucht – nicht nur Eifersucht, was mich vor deinen Wagen trieb! Ich hatte vorher von der Droge genommen, die dreifache Menge, und da erschien mir alles so einfach, so leicht! 138
Aber nun, wenn ich nachdenke, sehe ich, daß Loretta im Grunde an allem schuld ist.« Sie schaute Peter an. Er hielt die Augen gesenkt und schwieg. »Loretta war diejenige, die uns beide zum Genuß des LSD verführte. Ich habe manchmal das Gefühl, sie selbst nimmt am wenigsten davon. Sie sucht nur nach Opfern, die sie süchtig machen kann. Der Barkeeper, der uns das Mittel gibt, steckt mit ihr unter einer Decke.« Peter Patrick schaute hoch. »Meinst du das wirklich?« fragte er. »Und sie hat mich sogar einmal in seinem Beisein kniefällig um eine Tablette gebeten.« »Ich meine es nicht nur, ich habe sogar ziemlich feste Gründe für meine Annahme. Ich wollte es dir immer schon sagen, aber du hast mich in letzter Zeit ja nicht mehr angehört. Vielleicht hättest du geglaubt, ich wollte nur etwas gegen Loretta sagen, weil ich eifersüchtig bin.« Ihre Stimme war ganz leise geworden. Peter Patrick beugte sich über sie. »Vielleicht hast du recht«, sagte er, »vielleicht hätte das alles …«, sein Blick wanderte zu der Gipshand, »… vermieden werden können, wenn ich auf dich gehört hätte. Aber die Droge und Loretta machten mich trunken. Was weißt du also?« »Eines Abends glaubten die beiden, daß ich mich schon im Rausch befände. Da sprachen sie miteinander. Der Barkeeper gab Loretta den Auftrag, neues Zeug zu besorgen. Sie sprachen so nüchtern und sachlich darüber, – wie über eine Sache, die man rein geschäftlich betrachtet. Ich hatte an dem Tag etwas weniger von dem Mittel genommen. Ich befand mich in einer Art Halbrausch. Deswegen war ich nicht ganz sicher, ob ich das, was ich hörte, geträumt hatte, oder ob es Wirklichkeit war.« »Und nun?« Sein Blick traf die Gipshand, die wie ein Fremdkörper neben Lydia lag. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, ihre Stimme klang gebrochen, »es ist ja auch wegen Mutter!« »Meinst du, es hat Zweck, daß ich zu ihr gehe und versuche, alles zu klären?« 139
Lydia antwortete nicht und lag mit geschlossenen Augen da. Es schien, als sei sie wieder in jenen Rausch versunken, der durch das LSD hervorgerufen wird. Aber diesmal war es reine Verzweiflung, die sie in eine furchtbare Leere hineintrieb … Patrick stand auf. Er trat ans Fenster und schaute in den Garten hinaus. Lange stand er so, die heiße Stirn gegen die kühle Scheibe gepreßt. Dann drehte er sich um und sagte bestimmt: »Es gibt eine einzige Möglichkeit …« Lydia schlug die Augen auf und sah ihn an. Aber in ihren Augen war keine Hoffnung zu lesen. »… Ich muß Loretta finden! Ich muß zu beweisen suchen, daß sie die Schuldige ist. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, daß wir uns aus dieser ganzen Affäre heraushalten.« Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen und sprach vor sich hin: »Das Ganze ist wie ein zäher Brei, in dem man versunken ist. Man bemüht sich, aus ihm herauszukommen, aber es geht nicht. Und weil die Anstrengung so groß ist, läßt man es bleiben!« Er stand neben Lydias Bett. Seine Stimme klang leidenschaftlich. »Ich werde Licht in diese Affäre bringen! Ich habe auch Schuld. Und ich will büßen. Du wirst sehen, daß alles noch gut wird!« Er ging zur Tür, kam aber noch einmal zurück. Mit einer scheuen Gebärde streichelte er Lydias Gipshand. »Ich werde nach Paris fahren. Wir kennen ja die Adresse, von der Loretta LSD bezogen hat.« Lydia lächelte. »Versuche es! Auch ich habe ja versucht, loszukommen. Ich wollte ein Opfer bringen!« »Dein Opfer muß uns beide retten!« Peter Patrick ging zur Tür. Aber noch einmal besann er sich und kam wieder zurück. Bevor sie noch fragen konnte, hatte er sich schon über sie gebeugt und ihr einen Kuß auf den Mund gegeben. Als er sich aufrichtete, blickten seine Augen voller Zärtlichkeit auf die Kranke. Dann lief er zur Tür, öffnete sie und winkte ihr noch einmal zu. Als er das glückselige Lächeln auf ihrem Gesicht sah, war er sehr zufrieden. Schnell schloß er die Tür hinter sich. 140
XII
E
s geht mich ja nichts an, was Sie in Paris wollen«, hatte Professor Bergmann zu Dr. Bruckner gesagt, als dieser darum bat, ihn für zwei Tage zu beurlauben. »Aber …« Er hatte Oberarzt Wagner mit einem Augenzwinkern angesehen, und dieser hatte gelacht. Er hatte so zweideutig gelacht, daß Dr. Bruckner am liebsten beiden Herren den Grund seiner Paris-Reise gesagt hätte. Diese Gedanken gingen Thomas Bruckner durch den Kopf, als er über den Boulevard St. Germain ging, um zu seinem Hotel zu gelangen. Er hatte in der Eile vergessen, sich anzumelden. Aber er wollte einen bestimmten Zug bekommen und seine Mission nicht bis zum nächsten Tag aufschieben. Eine innere Stimme sagte ihm, daß er sich beeilen müßte, wenn er noch rechtzeitig kommen wollte. Er war seit einem Jahr nicht mehr in Paris gewesen. Hier im Cour de Commerce hatte sich nichts verändert: Im Seitenweg standen immer noch die Mülltonnen – halbgeöffnet ließen sie ihre schmutzigen Eingeweide sehen. Das Kopfsteinpflaster war eher schlechter geworden. Die wenigen Autos, die hier fuhren, hatten die Steine aus dem Boden gerissen. Da war sein altes Hotel – die Tür stand auf. Also trat er ein. Er klopfte an die Glasscheibe; Madame Tissier war gerade dabei, das Abendbrot vorzubereiten. Als sie ihn erblickte, zeigte sich kein freudiges Erstaunen auf ihrem Gesicht, wie es Dr. Bruckner erwartet hatte. Im Gegenteil – ihre Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. Der Arzt trat ein. Er reichte der alten Dame die Hand. »Ich muß mich entschuldigen«, begann er, »daß ich so unangemeldet hereinplatze. Haben Sie vielleicht ein Zimmer für mich frei?« 141
Dr. Bruckner konnte sich das seltsame Lachen Madame Tissiers nicht erklären. »Sie haben Glück«, sagte sie, »es ist gerade ein Zimmer frei geworden!« Dr. Bruckner atmete erleichtert auf. »Das ist ja wundervoll«, meinte er, »ich fürchtete schon, daß alles besetzt wäre.« »Ob es allerdings so wundervoll ist, das weiß ich nicht!« Dr. Bruckner kannte Madame Tissier nicht wieder. Sie schien über irgend etwas sehr ärgerlich zu sein. »Ich verstehe Sie nicht.« Dr. Bruckner schaute die alte Dame ratlos an. »Ist irgend etwas passiert?« Da brach das Gewitter los. Dr. Bruckner hatte Madame Tissier noch nie so wütend gesehen. Sie war sonst immer eine ruhige, gleichmäßig freundliche Frau gewesen. Aber heute schnauzte sie ihren Gast förmlich an: »Ich habe Ihren sauberen Freund 'rausgeschmissen!« Sie war puterrot geworden, und es sah aus, als würde sie jeden Augenblick einen Schlaganfall bekommen. »Jawohl!« bekräftigte sie, als sie Dr. Bruckners erstauntes Gesicht sah, »… 'rausgeschmissen habe ich ihn! Vor gut zwei Stunden!« »Das müssen Sie mir schon näher erklären …« Dr. Bruckner zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich. Madame Tissier beruhigte sich etwas. Sie ging an einen Schrank, dem sie eine Flasche und zwei Gläser entnahm. »Trinken wir ein Glas darauf«, sagte sie lakonisch. Bevor Dr. Bruckner noch protestieren konnte, hatte sie bereits beide Gläser bis dicht an den Rand mit rotem Wein gefüllt. »Es spricht sich besser, wenn man ein Glas Wein in sich hat.« Dr. Bruckner tat der Wirtin Bescheid. »Nun erzählen Sie aber endlich, was los ist!« Madame Tissier zog sich auch einen Stuhl heran und setzte sich an den Tisch. Bei dem Gedanken an das, was geschehen war, kam ihr der Ärger wieder hoch. »Der junge Mann, den sie mir da empfohlen haben, hat sich unmöglich benommen! Ohne mein Wissen hat er eine Frauensperson in seinem Zimmer einquartiert! Nicht, daß ich prüde bin«, sie schüttelte den Kopf, »das wissen Sie am 142
besten! Aber es geht nicht, daß er so etwas tut, ohne mich zu fragen. Sie kennen doch die französische Polizei. Wenn einmal eine Kontrolle kommt, und es ist jemand im Zimmer, der nicht angemeldet ist, dann muß ich eine ungeheure Strafe zahlen. Das kann ich mir nicht erlauben. Deswegen habe ich den jungen Mann zusammen mit dem Frauenzimmer rausgeschmissen. Außerdem …« Madame Tissier machte ein bedenkliches Gesicht. »Mit den beiden stimmte etwas nicht! Sie waren so merkwürdig. Ich hatte das Gefühl, sie stünden unter dem Einfluß irgendwelcher Mittel. Das ist ja heute so modern. Erst vor kurzem hat die Polizei einen ganzen Club ausgehoben …« Dr. Bruckner stellte das Glas, das er gerade leeren wollte, mit einem solchen Schwung auf den Tisch zurück, daß der Wein überschwappte. »Sie haben ihn 'rausgeschmissen?« »Ja!« bekräftigte Madame Tissier resolut. »Es ist mir noch nie vorgekommen, daß ich das machen mußte. Und noch dazu einen, den Sie mir empfohlen haben! Aber ich hatte keine andere Wahl. Sie werden es verstehen, Monsieur le docteur!« Dr. Bruckner überlegte. »Wissen Sie, wo die beiden hingezogen sind?« Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Darum habe ich mich nicht gekümmert. Ich bin sie los, das genügt mir. Was sonst geschieht, interessiert mich nicht!« Sie erhob sich. »Also – Zimmer drei ist frei!« sagte sie, um anzudeuten, daß sie keine weitere Unterhaltung über dieses Thema wünschte. »Wollen Sie überhaupt noch bei mir bleiben?« Dr. Bruckner nahm seinen Koffer in die Hand und lächelte. »Unter diesen Umständen bin ich gezwungen, erst recht zu bleiben!« Er winkte ab, als Madame Tissier hinaufgehen wollte, um ihn in sein Zimmer zu geleiten. »Ich kenne mich in Ihrem Hause aus! Sie brauchen mir den Weg nicht zu zeigen.« Madame Tissier nickte. »Der Schlüssel steckt. – Als der junge Mann auszog, habe ich kontrolliert, ob auch alles noch im Zimmer war.« Dr. Bruckner stieg gedankenverloren die Treppe hinauf. Er konnte nicht begreifen, was mit Johann Heidmann passiert war. Er war sehr 143
froh, daß er selbst nach Paris gefahren war. Aber wie sollte er den Famulus finden? Paris ist groß. Und die Möglichkeit unterzutauchen ist noch größer. Zwar kannte er die Stadt ziemlich gut. Aber er hatte sich früher nie mit Rauschgift beschäftigt … Einen Augenblick lang dachte er daran, die Polizei in Anspruch zu nehmen. Aber dann bestand die Gefahr, daß er Johann Heidmann unnötige Schwierigkeiten machte. In dem Augenblick, in dem die Polizei aufmerksam würde, könnte er in ihr Räderwerk geraten. Und wehe dem, der in das Getriebe der Pariser Polizei geriet …
Peter Patrick hatte den gewöhnlichen Zug nach Paris genommen. Die lange Fahrt zermürbte ihn, und er bereute es, die acht Stunden Fahrzeit auf sich genommen zu haben. Als der Zug endlich auf dem Gare du Nord einlief, war Peter wie gerädert. Er trank schnell einen starken Kaffee, um wieder wach zu werden. Es war sein erster Besuch in Paris. Aber er hatte sich auf einem Stadtplan genau orientiert. Es würde ihm nicht schwerfallen, den Club zu finden. Er deponierte seinen Koffer in einem Schließfach am Bahnhof, nahm die Metro und fuhr bis zur Station St. Michel. Während der Fahrt studierte er nochmals den Stadtplan. Die Rue de la Huchette war ganz in der Nähe der Metrostation. Er stieg aus und schaute sich um. Einen Augenblick erschrak er über die Menge von Orientalen, die auf der Straße herumlungerten und ihn mißtrauisch ansahen. Er schlenderte die schmale, dunkle Straße entlang. Er verglich die Hausnummern. Vor dem gesuchten Haus blieb Patrick stehen. Der Eingang sah finster aus, und er fürchtete sich ein wenig. Plötzlich hörte er hinter sich ein Flüstern. Er verhielt sich ganz still und lauschte. 144
Da leise gesprochen wurde, konnte er nicht erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sie sprachen ein schlechtes Englisch, das er aber verstand. »Die Polizei will eine Razzia machen«, hörte er, »ich bin gerade gewarnt worden. Wir müssen verschwinden!« Zwei dunkle Gestalten kamen aus dem Hausflur und eilten die Straße hinunter in Richtung der Kirche St. Severin. Peter Patrick bekam es mit der Angst zu tun. Wenn er hier geschnappt würde, dann würde es zumindestens eine Reihe von Unannehmlichkeiten geben. Deshalb beschloß er, den Besuch des Clubs noch etwas hinauszuschieben. Rasch eilte er gleichfalls die Straße hinunter – den beiden dunklen Gestalten nach. Als er den Kirchplatz von St. Severin erreicht hatte, glaubte er in der Ferne das seltsame Geheul der französischen Polizeiautos zu hören.
Dr. Bruckner ging zum Restaurant St. Michel, was er auch Johann Heidmann empfohlen hatte. Vielleicht fand er ihn dort. Außerdem hatte er selbst Hunger. Er schlenderte durch das Parterre des Lokals, konnte aber den Famulus nicht entdecken. Auch im ersten Stock war er nicht. Auf der Straßenterrasse war noch ein Platz frei. Er setzte sich und bestellte ein Menü. Während er auf sein Essen wartete, beobachtete er die Vorübergehenden. Einen Augenblick lang vergaß er, weshalb er nach Paris gekommen war. Der Zauber der Stadt nahm ihn wieder gefangen. Es war so wunderschön, hier auf der Straße zu sitzen und die Vorübergehenden zu beobachten. In keiner anderen Stadt war so etwas so ungezwungen möglich. Der Kellner brachte die Vorspeise, und Thomas Bruckner begann zu essen. Er wollte gerade den leergegessenen Teller beiseite stellen, als er zu145
sammenfuhr: Vor ihm auf dem Boulevard St. Michel war Heidmann mit einer jungen Frau vorbeigegangen. Es war kein Zweifel, er war es! Und die Frau, die ihn begleitete, mußte das ›Frauenzimmer‹ sein, von dem Madame Tissier so verächtlich gesprochen hatte. Dr. Bruckner sprang auf und wollte ihnen nacheilen. Aber der Kellner hielt ihn fest. »Alors –«, war alles, was er sagte. Empörung war auf seinem Gesicht zu lesen. Dr. Bruckner griff in die Tasche. Er drückte ihm ein Fünffrancstück in die Hand. Der Kellner nahm es, besah es kopfschüttelnd und steckte es ein. Er schaute immer noch erstaunt Dr. Bruckner nach, der sich einen Weg durch die Menschenmassen bahnte, die den Boulevard bevölkerten. Ganz in der Ferne sah er noch die beiden Gesuchten. Sie hatten den Boulevard St. Michel überschritten und strebten der Rue de la Huchette zu. Dr. Bruckner lief. Wie ein Akrobat mußte er sich zwischen den Autos hindurchschlängeln, jemand bremste quietschend vor ihm und sah ihn böse an. Die beiden hatten inzwischen die Rue de la Huchette erreicht. Dr. Bruckner folgte ihnen. Da blieb Heidmann für einen Augenblick stehen. Es war, als spürte er, daß er verfolgt würde. Er drehte sich um, und sein Blick traf sich mit dem Dr. Bruckners. Dieser wußte allerdings nicht, ob der Famulus ihn in dem diffusen Licht der dämmrigen Straße erkannt hatte. Jedenfalls gab er kein Zeichen des Erstaunens oder Erkennens von sich. Er nahm nur seine Begleiterin fester am Arm und zog sie schnell davon. Dr. Bruckner hatte Mühe, ihnen zu folgen. Plötzlich jedoch waren die beiden wie vom Erdboden verschwunden.
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Laut heulten die Polizeisirenen. Die kleine Rue de la Huchette war im Nu durch Polizeifahrzeuge verstopft. Sie riegelten die Straße von beiden Seiten ab. Scheinwerfer richteten sich auf die Häuser … Die Beamten sprangen aus den Wagen. Die Razzia galt einem einzigen Haus – dem Clublokal! Die Polizei besetzte den Eingang. Sie hielt sich nicht lange damit auf zu schellen oder zu klopfen. Ein Fußtritt öffnete die Tür. Am Ende des Korridors wurde eine zweite Tür aufgestoßen. Fast erschrocken blieben die Polizisten am Eingang eines großen Raumes stehen. Keiner der jungen Menschen, die dort saßen oder lagen, schien vom Kommen der Polizei irgendwie beeindruckt zu sein. Es sah beinahe aus, als habe man sie erwartet … Einer der jungen Männer stand auf, verbeugte sich vor den sprachlosen Beamten und führte seltsame Bewegungen vor. Ein anderer griff nach einer Schachtel, die er hinter sich gestellt hatte. Er öffnete sie und bot an: »Möchten Sie auch etwas haben?« Dem Führer der Polizeitruppe kam alles unheimlich vor. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt. Er hatte das Gefühl, jemand habe ihn an der Nase herumgeführt, und er sei gar nicht im richtigen Club gelandet. Doch als er sah, wie im Hintergrund plötzlich einer der jungen Männer anfing zu tanzen, umherzuspringen und sich wie wild zu gebärden – da begriff er. Es war ein Flirt mit dem Wahnsinn … Die scheinbare Gleichgültigkeit war dem Einfluß der Droge zuzuschreiben. LSD-Träume, bunt wie schillerndes Gift … Der Polizeiinspektor wollte gerade den Befehl geben, alle im Raum Befindlichen zu verhaften, als eine junge Frau sich an ihm vorbeidrängte. Sie schien auch unter dem Einfluß der Droge zu stehen – singend strebte sie dem Ausgang zu. Ihr dreistes Auftreten überraschte den Inspektor so, daß er im ersten Augenblick vergaß, sie festzuhalten. Erst als sie nun wie eine Wahnsinnige hinauslaufen wollte, sprang er ihr nach. Er griff zu seiner Trillerpfeife und ließ ein Signal ertönen. Am Eingang erschienen einige Beamte. 147
»Festnehmen!« rief er ihnen zu und zeigte auf die junge Frau. Die Polizisten hielten sie, und sie setzte sich verzweifelt zur Wehr, biß und kratzte. Aber es half ihr nichts. Sie wurde überwältigt und in den Polizeiwagen gebracht. Zwei Polizisten blieben bei ihr, um sie festzuhalten. »Alle abtransportieren!« Der Inspektor machte eine umfassende Geste. »Nehmen Sie auch auf der Straße alles mit, was verdächtig ist!« Die Polizisten ließen es sich nicht zweimal sagen. Sie stürzten sich auf die jungen Leute und behandelten sie vielleicht etwas rauher, als es den Umständen nach nötig gewesen wäre. Denn eigentlich setzte sich keiner der Anwesenden zur Wehr. Gehorsam folgten sie den Polizisten in den Wagen … Der Leiter der Aktion wollte gerade in seinem Pkw Platz nehmen, als er eines Mannes ansichtig wurde, der jetzt aus einem Hausflur heraustrat. Er sprang noch einmal aus seinem Wagen und rief: »Festnehmen!« Dabei zeigte er auf den Mann, der auf der Straße stehengeblieben war und ihn erstaunt gemustert hatte. Ein Polizist sprang vom Lastwagen und ging auf den regungslos dastehenden Mann zu. »Allons …« »Entschuldigen Sie«, der Passant hob die Hand. »Ich bin ein Tourist. Meine Name ist Dr. Bruckner. Ich komme aus Deutschland.« Der Polizist zögerte einen Augenblick. Er schaute zu seinem Vorgesetzten hin, der zugehört hatte. Aber der Inspektor schüttelte den Kopf. »Das kann jeder sagen! Wir haben keine Zeit, uns hier mit dem Feststellen der Personalien aufzuhalten. Das können Sie auf der Polizeiwache klären. Abführen!«
Johann Heidmann hatte erschrocken Lorettas Arm fester gefaßt, als er Dr. Bruckner am Eingang der Straße erkannte. Zuerst hatte er geglaubt, daß ihn eine Sinnestäuschung narrte. Aber als er sah, daß Dr. Bruckner Anstalten machte, ihm nachzukommen, begriff er. »Ich muß verschwinden«, rief er Loretta zu, »geh du schon in den Club. Ich komme später nach.« 148
»Was ist denn los?« Loretta hielt ihn. »Mein Chef aus Köln ist hier! Er darf mich nicht finden! Sonst nimmt er mich mit zurück, und dann ist es aus mit meinem Pariser Abstecher.« Loretta wollte noch etwas fragen. Aber Heidmann war schon mit eiligen Sprüngen davongehetzt. Aufatmend blieb er am Ende der Rue de la Huchette stehen und blickte um eine Ecke. Loretta war im Clubhaus verschwunden. Dr. Bruckner war stehengeblieben. Er schien ihn aus den Augen verloren zu haben … Befriedigt ging der Famulus über den Kirchplatz zur Kirche St. Julien le Pauvre. Er wollte von hier aus über den Seinekai zum Place St. Michel gelangen, dort ein wenig warten, und dann erneut in die Rue de la Huchette zum Club gehen. Er ging an der Seine vorbei und bog auf den Place St. Michel ein. Doch als er kurz vor der Rue de la Huchette war, hörte er Polizeisirenen. Erschrocken sah er, wie Autos in die schmale Straße einfuhren, und die Polizei sie abriegelte. Sein erster Gedanke war, die Polizeikette zu durchbrechen und Loretta zu Hilfe zu eilen. Aber dann überlegte er sich, wie unsinnig ein solches Unterfangen gewesen wäre. Er hätte ihr doch nicht helfen können. Er hatte sich nur selbst in Gefahr gebracht. Also wartete er. Eine große Menge Schaulustiger hatte sich eingefunden und stand am Eingang der Straße. Alle unterhielten sich über die Razzia. Ein weißhaariger Mann schüttelte den Kopf. »Das konnte ja nicht gutgehen«, sagte er zu seinem Nachbarn, »die jungen Leute haben es zu toll getrieben! Mit ihrem neuen Mittel haben sie ganz Paris verrückt gemacht. Wenn sie in ihren Räumen geblieben wären, wäre es ja keinem Menschen aufgefallen. Aber die haben sich ja in ihrem Rauschzustand auf die Straße gewagt. Und was sie da alles angestellt haben.« Der Alte schüttelte seinen weißen Kopf. Johann Heidmann bekam Angst. Seine Gedanken galten nur Loretta. Er mußte versuchen, sie herauszuholen. Aber er fand keinen Weg, um ins Clubhaus zu gelangen. 149
»Sie kommen!« sagte der Weißkopf wieder. Der Polizeikordon löste sich, und die Polizeiwagen fuhren mit lautem Geheul aus der kleinen Straße hinaus auf den Boulevard St. Michel. Johann Heidmann stand in der Menge ganz vorn. Er konnte durch die Scheiben in das Innere der Polizeiwagen sehen. Er bemühte sich, als die Wagen dicht an ihm vorbeifuhren, Loretta zu erkennen. Aber da schrak er zusammen. Er hatte nicht Loretta gesehen – Dr. Thomas Bruckner saß im Wagen und wurde abtransportiert!
»Es tut uns leid«, der Polizeikommissar gab Dr. Bruckner seinen Paß wieder, »aber ich hoffe, Sie als Arzt werden besonderes Verständnis dafür haben, daß wir solche Maßnahmen treffen müssen. Das Rauschgiftunwesen greift in einem Maße um sich, das Besorgnis erregt. Da muß leider mal ein Unschuldiger darunter leiden!« Dr. Bruckner nickte lächelnd. »Es war mir im Gegenteil eine Freude, einmal nähere Bekanntschaft mit der Pariser Polizei gemacht zu haben!« Er fühlte nach seinem Oberarm, der von den brutalen Griffen des Polizisten immer noch schmerzte. Der Kommissar lächelte verlegen. »Bei einer Razzia fassen unsere Jungens kräftig zu …« »Ich nehme es ihnen ja auch nicht übel. Aber vielleicht könnten Sie mir einen Gefallen tun?« Der Kommissar nickte. »Ich stehe in Ihrer Schuld. Was also kann ich für Sie tun?« »Ich darf vertraulich zu Ihnen sprechen?« Der Kommissar nickte. »Selbstverständlich.« »Ein Mitarbeiter von mir namens Heidmann ist nach Paris gekommen. Er wollte …«, Dr. Bruckner zögerte und wußte nicht recht, wie er es formulieren sollte, »… aus wissenschaftlichen Gründen sich mit dem Studium des LSD befassen«, führte er schließlich seinen Satz zu Ende. 150
»Und nun wollen Sie, daß ich ihm dabei behilflich bin, nicht wahr?« lächelte der Polizist. »Nichts leichter als das!« Er wollte sich erheben, aber Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein – es ist etwas anderes, was ich von Ihnen möchte. Dieser Mitarbeiter ist verschwunden. Vielleicht kann die Polizei mir helfen …« »Wie hieß er?« fragte der Polizist. Er nahm einen Notizblock und schaute Dr. Bruckner fragend an. »Johann Heidmann!« »Heidmann?« Der Polizist schrieb den Namen nicht auf. Er schaute überrascht auf Dr. Bruckner. »Wir haben gestern abend am Eingang des Boulevard St. Michel einen Deutschen namens Johann Heidmann verhaftet.« »Sie haben ihn verhaftet?« Erschrocken blickte Dr. Bruckner den Polizisten an. »Was hat er denn ausgefressen?« »Eigentlich gar nichts. Aber als wir mit unseren Autos von der Razzia kamen, da machte er sich sehr verdächtig. Er schien einen der Insassen erkannt zu haben. Jedenfalls versuchte er, ihm durch Winken irgendwelche Zeichen zu geben, ja, er rannte sogar unseren Wagen nach!« Auf einmal ging eine Erleuchtung über das Gesicht des Polizisten. »Er wird Sie erkannt haben!« Dröhnend lachte er. »Er hat versucht, Ihnen ein Zeichen zu geben! Haben Sie ihn nicht gesehen?« Dr. Bruckner schüttelte den Kopf. »Ich war durch meine Verhaftung so konsterniert, daß ich nicht nach draußen blickte.« »Dann brauche ich Sie beide also nur noch zusammenzuführen. Und was das LSD betrifft …« Der Kommissar drückte auf einen Knopf. »Darüber will ich Ihrem Mitarbeiter gern Unterlagen zur Verfügung stellen. Wird das in einer deutschen Zeitung veröffentlicht?« Dr. Bruckner lächelte fein. »Wenn wir etwas veröffentlichen, dann höchstens in einer medizinischen Zeitschrift. Für Tageszeitungen schreiben wir nicht.« Er erhob sich. »Hat denn Ihre Razzia wenigstens einen einigermaßen handfesten Erfolg gebracht?« fragte Dr. Bruckner, als er sich verabschiedete. 151
Der Kommissar hatte sich gleichfalls erhoben. Er nickte zufrieden. »Doch, wir haben einen Fang gemacht, auf den wir schon lange gewartet haben. Das Haupt einer LSD-Organisation ist uns in die Hände gefallen! Es ist übrigens eine Frau, eine Deutsche«, fügte er lächelnd hinzu, »sie hatte in Paris einen Chemiker angestellt. Der verstand es, aus dem Mutterkorn durch eine einfache chemische Reaktion das LSD herzustellen. Das haben sie dann teuer verkauft. Eine Tablette kostete etwa fünfundzwanzig Francs. Die Hersteller brauchten kaum Geld dafür. Bei der Menge, die hier verbraucht wurde, sind die Leute in kürzester Zeit reich geworden.« »Darf man den Namen dieser verhafteten Deutschen erfahren?« »Natürlich!« Der Polizist nahm eine Akte vom Tisch. Er setzte die Brille auf und las: »Sie heißt Loretta Grothen!«
XIII
J
etzt kommt die große Denkmalsenthüllung!« Dr. Bruckner stand in Lydias Krankenzimmer und hatte eine Gipsschere in der Hand. »Ich bin selbst gespannt, was daraus geworden ist.« Ängstlich schaute Lydia den Doktor an. »Sie wissen immer noch nicht, ob die Hand angeheilt ist?« »Sie ist angeheilt!« Er zeigte auf das Fenster, das in den Gips eingeschnitten war. »Hier habe ich sie ja täglich beobachtet. Ich bin nur gespannt, wie die Hand aussieht, wenn wir den Gips heruntergenommen haben.« »Tut es auch nicht weh?« fragte Lydia ängstlich. »Durchaus nicht!« Dr. Bruckner hatte bereits mit dem Schneiden begonnen. Die starke Schere fraß sich knirschend durch den harten Gips. Dr. Bruckner mußte schwer arbeiten. Es erforderte eine große körperliche Anstrengung, den Gips säuberlich aufzuschneiden. »Ich hätte es ja machen können«, mischte sich der alte Chiron ein, 152
der bemerkte, daß Dr. Bruckner Schweißtropfen auf die Stirn traten. »Ich bin diese Arbeit ja gewöhnt.« »In diesem Falle mache ich es aber lieber selbst. Es kommt darauf an, daß sehr sorgfältig geschnitten wird.« »Bin ich etwa nicht sorgfältig?« meldete sich der alte Mann gekränkt. »Natürlich sind Sie sorgfältig!« Dr. Bruckner spreizte seine Finger ein paarmal, die vom Druck der Schere wie gelähmt waren. »Aber Sie wissen nicht Bescheid, wo ich hier die Nähte gelegt habe. Daher muß ich es schon selbst machen.« Er durchbiß mit der Schere die letzte Gipsbrücke. Schwester Angelika, Johann Heidmann und Chiron traten ganz nahe herbei. Vorsichtig drückte Dr. Bruckner den Gips auseinander. Die Hand lag rosig auf der unteren Gipsschale. Es klopfte. Ärgerlich drehte sich Schwester Angelika um. »Wer ist da?« fragte sie. »Peter Patrick!« kam die leise Antwort. Schwester Angelika wollte ihn zurückweisen, doch Dr. Bruckner hob die Hand. »Ich glaube, er darf bei dieser Enthüllung dabeisein.« »Ich bin nicht allein«, sagte Patrick weiter, »Lydias Mutter ist auch gekommen.« »Um so besser!« Schwester Angelika öffnete weit die Tür. Frau Heusmann und Peter Patrick traten ein. Sie blieben neben der Tür stehen. Erst als Dr. Bruckner sie aufforderte, näherzutreten, kamen sie an das Bett. »Ihr kommt gerade zur rechten Zeit«, strahlte Lydia ihre Besucher an. »Es geht alles bestens!« »Bewegen Sie bitte Ihre Finger!« forderte sie Dr. Bruckner auf. Lydia bemühte sich, es zu tun, aber es gelang ihr nicht. Erschrocken sah sie Dr. Bruckner an. »Ich kann sie nicht bewegen …« Der Arzt erklärte: »Wir müssen warten, bis die Nerven zusammengewachsen sind. Ein wenig geht es ja schon – das sind die Muskeln des Unterarms. Dessen Nerven sind nicht durchtrennt worden. Aber ehe Sie die Hand wieder richtig bewegen können, werden noch einige Monate vergehen.« Lydia schaute erschrocken auf Peter Patrick. Der lächelte: »Das macht 153
nichts. Darauf können wir warten!« Er strahlte Lydia an, griff in seine Tasche und legte ein Kästchen auf den Tisch. »Ist das für mich?« Lydia griff mit der gesunden Hand danach. Peter Patrick lächelte. »Ja – mach es auf!« Ungeduldig sah er zu, wie Lydia das Kästchen öffnete. Freudiges Erstaunen malte sich auf ihrem Gesicht. »Ein Verlobungsring?« Ihr Blick suchte ihre Mutter. Die lächelte zurück. Dr. Bruckner winkte Schwester Angelika, Chiron und Johann Heidmann. Sie verstanden und folgten ihm nach draußen. »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, was in Paris alles passiert ist?« Schwester Angelika stemmte ihre Arme in die Hüften und schaute Dr. Bruckner fragend an. Dieser zog sie in das Dienstzimmer. »Wenn Sie uns einen von Ihren berühmten Schnäpsen spendieren, Schwester Angelika, dann wollen wir Ihnen gern das Ende erzählen!« Schwester Angelika ging an den Schrank und holte die Flasche mit der giftgrünen Flüssigkeit heraus. »Das will ich gern tun. Aber Sie hatten ihn auch so bekommen!« Sie füllte die Gläser, setzte sich und schaute Dr. Bruckner fragend an. Der aber blickte zu Johann Heidmann, welcher seinerseits verlegen zu Boden sah. »Kurz gesagt: Herr Heidmann hatte die Anführerin des Rauschgiftringes in Paris kennengelernt. Die Polizei machte eine Razzia in dem Club, in dem sie ihr Unwesen trieb, nahm sie fest und …« Er hob das Glas und nickte Heidmann, der ihn dankbar anlächelte, zu. »… Die Polizei hat damit einen Fang gemacht, wie er schon lange nicht mehr gelang. Loretta Grothen war die Anführerin und geistige Urheberin des Rauschgiftunternehmens. Sie hatte sich so gut getarnt, daß ihre Komplicen, besonders hier in Deutschland, keine Ahnung von ihrer Führungsrolle hatten. Sie trat überall nur als kleine Verbraucherin des LSD in Erscheinung.« »Und sitzt sie jetzt hinter Schloß und Riegel?« »Das tut sie. Sie hat noch andere Geschichten auf dem Kerbholz. Aber die interessieren uns im Augenblick nicht.« 154
Thomas Bruckner hob sein Glas noch einmal. »Die Hauptsache ist, daß Sie weiter keinen Schaden genommen haben, nicht wahr?« Heidmann nickte. »Darüber bin ich sehr froh«, er schaute zur Türe, »und auch darüber, daß die beiden dort im Krankenzimmer sich gefunden haben. Glauben Sie, daß die Hand wieder ganz in Ordnung kommen wird?« wandte er sich an Dr. Bruckner. Dieser verstand, daß der Famulus vom Thema ablenken wollte. Er ging bereitwillig darauf ein. »Das glaube ich schon!« sagte er. »Es wird allerdings Monate dauern. Aber dadurch, daß eine Hautbrücke stehengeblieben war – die Hand also nicht völlig abgetrennt war –, sind die Chancen größer. Lydia Heusmann wird natürlich keine Klaviervirtuosin werden können. Aber als Hausfrau in der Küche wird sie sich bestens bewähren.« Es klopfte an die Tür, und Peter Patrick trat ein. »Dürfen wir Sie alle zu einem Glas Sekt einladen?« fragte er. »Schließlich verdanken wir es ja Ihnen, daß wir diese Verlobung feiern können!« Peter Patrick dachte an seine vergebliche Frankreichreise. War sie wirklich vergeblich gewesen? Wohl doch nicht … Auf der gemeinsamen Rückfahrt hatten ihm Dr. Bruckner und sein kriminalistischer Famulus die Augen geöffnet. »Das dürfen Sie!« lachte Dr. Bruckner. »Aber es muß echter Champagner sein! Damit wir mit der Tradition nicht brechen und auch ein wenig an Paris dabei denken …«
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Der Fachmann schreibt: Die moderne Chirurgie ist so weit entwickelt, daß sogar abgetrennte Gliedmaßen wieder angenäht werden können. Diese Operation wäre noch vor dem Zweiten Weltkrieg als ein Wunder erschienen. Heute nimmt man sie als selbstverständliche Tatsache hin. Ehe Anforderungen, die bei dieser Operation an den Chirurgen gestellt werden, sind sehr groß. Er muß vor allen Dingen dafür sorgen, daß die Durchblutung wiederhergestellt wird. Man kann sich vorstellen, wie schwer es ist, die feinen Gefäße so sorgfältig aneinanderzunähen, daß Blut hindurchfließen kann. Aber die Technik der Gefäßnaht ist heute so weit entwickelt, daß sie einem versierten Chirurgen keine größere Schwierigkeiten bietet. Sehnen müssen zusammengeflickt, Nerven aneinandergenäht und Knochen zum Zusammenheilen gebracht werden. Während Knochen, Sehnen und Blutgefäße relativ schnell anheilen, dauert die Heilung bei den Nerven wesentlich länger. Es können Monate – manchmal sogar Jahre – vergehen, bis neue Nervenfasern durch die durchtrennte Stelle wachsen und die Leitung wiederherstellen. Oft geschieht dies nur unvollkommen, und dann bleibt eine teilweise Lähmung zurück. Aber es ist immer noch besser, die eigenen Gliedmaßen mit dieser Lähmung zu behalten, als sie völlig zu verlieren. Das in diesem Roman erwähnte Rauschgift LSD gehört zu den sogenannten Phantastika. Sein vollständiger Name lautet ›Lysergsäure Diäthylamid‹. Das Mittel wird von einer pharmazeutischen Firma hergestellt und dient in der Irrenheilkunde dazu, schizophrene Fälle zu bessern. Andererseits gab es den Wissenschaftlern die Möglichkeit, das Phänomen der Geisteskrankheit zu studieren, weil die Droge bei ge156
sunden Menschen dieselben Symptome erzeugt wie bestimmte Geisteskrankheiten. Das Eindringen in diese ›Wahnsinnswelt‹ ist mit einem gewissen Glücksgefühl verbunden. Es treten Halluzinationen auf. Menschen, die das Mittel genommen haben, sehen und hören Dinge, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Sie selbst scheinen sich in Welten zu bewegen, die phantastisch und wunderbar sind. Man erlebt auch ein klein wenig seinen eigenen Tod. Die Sucht nach dem Mittel hat enorm zugenommen. Die ›Säureköpfe‹, wie die Süchtigen genannt werden, weil das Mittel chemisch ein Säureabkömmling ist, bilden ganze Klubs, deren Mitglieder gemeinsam LSD zu sich nehmen, um die phantastischen Welten zu erleben. Unter dem Einfluß der Drogen sind Morde und Selbstmorde vorgekommen. Deswegen haben die Behörden Maßnahmen ergriffen, die den Mißbrauch des Mittels weitgehend verhindern sollen. Erschwert wird dieser Kampf durch den Umstand, daß die Droge sehr leicht aus Substanzen herzustellen ist, die jedem Chemiker zur Verfügung stehen. Dr. med. Peter Sebastian
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