Clark Darlton Finale
ZUKUNFTSROMAN
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN) • PABEL-HAUS
Mitglied des Remagener Kreises ...
24 downloads
926 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Clark Darlton Finale
ZUKUNFTSROMAN
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN) • PABEL-HAUS
Mitglied des Remagener Kreises e. V.
UTOPIA-Zukunftsroman Nr. 100 „Finale“ von Clark Darlton Copyright 1957, Erich Pabel Verlag, Rastatt
Vom gleichen Autor erschienen Ufo am Nachthimmel (UTOPIA-Großband 19) Der Mann, der die Zukunft stahl (UTOPIA-Großband 24) Ring um die Sonne (UTOPIA-Großband 34) Die Zeit ist gegen uns (UTOPIA-Großband 36) Und Satan wird kommen (UTOPIA-Großband 44) Das ewige Gesetz (UTOPIA-Großband 47) Die Schwelle zur Ewigkeit (UTOPIA-Großband 54) Befehl aus der Unendlichkeit (UTOPIA-Kriminal 18) Satellit Uranus III (UTOPIA-Zukunftsroman 65) Der vorliegende Roman wurde von der Literarischen Abteilung des SFCD geprüft und als Space Opera mit dem Clubsiegel ausgezeichnet
UTOPIA-Zukunftsroman erscheint vierzehntäglich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus. (Mitglied des Remagener Kreises e. V.) Einzelpreis 0,50 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 5. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Bad.). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. – Scan by Brrazo 05/2011
„Bei dem zu erwartenden Versuch, eine Wasserstoffbombe mit Kobaltmantel detonieren zu lassen, ergibt sich außer der damit verbundenen Todesstrahlung unweigerlich eine Zersetzung des in der irdischen Atmosphäre vorhandenen Sauerstoffs in Form einer Kettenreaktion. Was das bedeutet, meine Damen und Herren, wissen Sie: das Ende der Welt!“ Professor Harald Lindner schwieg. Sein Atem ging heftiger, als man es von ihm gewohnt war. Mit zitternden Händen griff er nach dem Wasserglas, welches dicht vor ihm auf der schweren Tischplatte stand. Als er getrunken hatte, sah er seine Mitarbeiter einer nach dem anderen an, forschte in ihren Gesichtern nach einem Widerhall seiner Worte – und fand ihn. „Das darf niemals geschehen!“ sagte Dr. Henry Scott, der langjährige Assistent des weltbekannten Atomforschers. „Niemals!“ wiederholte er mit Nachdruck. Die anderen nickten. Der Professor hob die Hand in einer resignierenden Gebärde. „Wir sind machtlos, müssen hilflos der kommenden Vernichtung entgegensehen. Wer würde schon auf uns hören?“ „Die Welt, Professor! Die Welt würde auf Sie hören!“ Das war Dr. Fritz Albert, der deutsche Chemiker. Er arbeitete schon mehr als sieben Jahre in dem geheimen Forschungslabor Harald Lindners in der einsamen Tundra Lapplands. „Die Welt würde vielleicht auf mich hören, nicht aber die Politiker. Sie verfolgen ihre eigenen Ziele …“ „… die mit der Vernichtung der augenblicklichen Zivilisation enden werden, womit eigentlich ein gutes Werk getan würde.“ 5
Diesmal war der Sprecher Wassil Kubanow, der zynische Russe. Ebenfalls ein erfahrener Kernphysiker, hatte er früh genug erkannt, auf welche gefährlichen Bahnen das anfänglich harmlose Experimentieren mit der Atomkraft geraten war. Mit dem untrüglichen Instinkt eines Naturmenschen hatte er Professor Lindner zu finden gewußt. „Um die Zivilisation wäre es kaum schade, wohl aber um den Menschen“, wies Lindner die Worte des Russen zurück. „Der Mensch an sich ist nicht böse, wohl aber …“ „… die Politiker!“ behauptete Dr. Helen West, die blutjunge und hübsche Schweizerin. Ihre Augen leuchteten dabei blitzend auf, als habe sie soeben die größte Entdeckung gemacht. Harald Lindner versuchte ein Lächeln, als er entgegnete: „Ganz so kraß würde ich es nicht ausdrücken. Sie sind nicht schlecht, diese Politiker, wohl aber ungemein ehrgeizig. Eine einmal eingeschlagene Richtung vermögen sie nicht zu korrigieren. Ihr Stolz verbietet ihnen eine Revision der eigenen Anschauung. Sie verlangen immer nur, daß der andere diese Revision vornimmt. Doch lassen wir das, Freunde. Er wäre lächerlich, so kurz vor dem Ende der Welt ausgerechnet über Politik zu diskutieren. Außerdem sind wir uns in dieser Hinsicht ja einig, sonst säßen wir hier nicht beisammen.“ Dr. Jane Granger, die englische Physikerin, hatte bisher noch kein Wort in die Unterhaltung geworfen. Doch jetzt hob sie ihren Kopf, warf dem Professor einen schnellen Blick zu, ehe sie fragte: „Und wann findet der Test der H-Kobaltbombe statt?“ Professor Lindner verkrampfte die Hände, als er sagte: „Genau am 17. Dezember dieses Jahres. Das wären also noch drei Monate. Drei Monate nur noch existiert dieser Planet, den wir ‚Erde’ nennen. Und kein Mensch weiß davon. Selbst die Verantwortlichen nicht.“ Dr. Fritz Albert, der deutsche Chemiker, beugte sich vor. 6
„Eins verstehe ich nicht, Herr Professor: Warum wissen die anderen nicht, was geschehen wird, wenn sie die Bombe zur Explosion bringen? Sie müßten es doch eigentlich wissen.“ „Sie wüßten es auch, wenn sie nicht den fundamentalen Fehler gemacht hätten, ihre vorangegangenen Versuche zu vergessen oder einfach zu ignorieren. Die irdische Atmosphäre ist mit radioaktiven Teilchen übersättigt. Das fördert das Ausbrechen der Kettenreaktion, sobald das langstrahlende Kobaltmetall aktiv wird. Die restlose Zerstörung der irdischen Lufthülle ist unvermeidbar.“ Henry Scott zündete sich ein Zigarette an. „Wir haben alles versucht“, erklärte er und unterstützte damit die Argumente seines Freundes Lindner, „um die verantwortlichen Leute von unserer Ansicht zu überzeugen. Es war vergebens. Man warf uns falschen Pazifismus und feigen Defätismus vor. Man bezichtigte uns sogar der Spionage für die Gegenseite, obwohl es doch Unsinn ist, von einer Gegenseite zu reden, solange kein Krieg ausgebrochen ist. Man wollte uns durch Formeln zu beweisen versuchen, daß wir uns irrten. Nein, Freunde, macht euch keine Hoffnungen: Der Versuch am 17. Dezember findet unweigerlich statt. Es wurde so beschlossen, und kein Mensch der Welt kann es verhindern.“ „Auch nicht mit Gewalt?“ erkundigte sich Wassil Kubanow. „Nein, auch nicht mit Gewalt!“ schüttelte Scott den Kopf. „Selbst wenn wir dadurch verhindern könnten, so wäre das nur ein Aufschub. Sie glauben uns nicht eher, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Und dieser erwünschte Beweis wird der Erde den Verlust der Lufthülle eintragen. Wenigstens für eine gewisse Zeit Doch diese Zeitspanne genügt, alles Leben zu vernichten.“ Schweigen hing für einige Augenblicke in dem großen Konferenzsaal. Da saßen sie, die engen Freunde und Mitarbeiter des ehemals so gefeierten Atomforschers Lindner, der sich plötzlich und 7
scheinbar ohne jede Begründung ins Privatleben zurückgezogen und alle ehrenhaften Angebote im Stich gelassen hatte. Da war sein Freund und Assistent Dr. Henry Scott, ein robuster aber ehrlicher Amerikaner. Er verstand mindestens genausoviel von Kernspaltungen wie die namhaftesten Vertreter dieser so zwiespältigen Berufsgruppe. Sein Gewissen hatte ihn aus den Versuchszentren vertrieben, um die Welt gehetzt, bis er Ruhe und Friede bei Lindner fand. Hier entdeckte er endlich das, was er bisher so schmerzlich vermißt hatte: Verantwortungsbewußtsein der gesamten Menschheit gegenüber. In sich zusammengesunken saß da Dr. Fritz Albert, der spurlos verschwundene deutsche Chemiker von Weltruf. Damals hatte er sich mit Begeisterung nach dem Atomforschungszentrum in Karlsruhe begeben, um dort die Stelle als Chefchemiker anzunehmen. Aber wie sehr wurden seine Hoffnungen zerstört, als er feststellen mußte, daß alle Versuche und Bestrebungen dieses Institutes nur einem einzigen Zwecke dienten: Nukleare Waffen herzustellen! Sogar der Krieg mit Bakterien sollte in Erwägung gezogen werden. Er hatte eine abfällige Bemerkung über die Ziele des Institutes laut werden lassen – und landete zwei Wochen später in Lappland, wo er von Professor Lindner in aller Herzlichkeit begrüßt wurde. Seine Bekannte, Dr. Helen West, eine Schweizer Biologin, folgte ihm bald in die freiwillige Verbannung. Das Nachrichtennetz Lindners funktionierte tadellos. Dr. Jane Granger aus den Forschungszentren in England brachte eine reichhaltige Erfahrung auf dem Gebiet der Kernspaltung mit und wurde bald die „dritte Hand“ des Professors. Sie war mit Scott, der „zweiten Hand“, verlobt. Wassil Kubanow beschloß die schweigende Runde. Bei seiner Flucht aus Rußland war er rein zufällig auf das norwegischfinnische Grenzörtchen gestoßen, hatte sich dort von seinen Strapazen erholt und von dem in der Nähe wohnenden Profes8
sor gehört. Seine Neugier war geweckt, und verbunden mit seinem Willen zur Selbsterhaltung gelang es ihm auch, zu der abgeschlossenen und unbekannten Versuchsanstalt vorzudringen. Sechs Menschen waren es, die hier in der Einsamkeit daran arbeiteten, die Kräfte des Atoms für friedliche Zwecke zu erproben. „Und heute haben wir den 20. September“, murmelte Henry Scott erbittert vor sich hin. „Noch knapp drei Monate.“ „Ich werde gehen und den verantwortlichen Mann erschießen“, erbot sich Wassil hitzig und machte eine drohende Gebärde. „Vielleicht kommen sie dann zur Vernunft!“ Der Professor wiegte bedenklich den Kopf, schüttelte ihn dann. „Nein! Das wäre sinnlos! Die Bombe ist bereits fertig! Außerdem wäre es Mord, und den lehne ich ab. Wir wollen es noch einmal mit Argumenten versuchen – und uns hier gleichzeitig einen Zufluchtsort bauen, der uns die Katastrophe vielleicht überleben läßt.“ „Mord?“ empörte sich Wassil Kubanow. „Mord?“ wiederholte er. „Es wäre eine Wohltat, aber kein Mord! Er mordet eine Welt!“ „Nicht der Wissenschaftler trägt die Schuld an dieser Entwicklung, sondern die Verantwortlichen der Politik. Und vielleicht auch einige Leute der Wirtschaft. Nicht aber der Wissenschaftler, der den Geheimnissen der Natur zu Leibe rückte – und dann vom Menschen mißbraucht wurde.“ „Warum machen sie es dann nicht so wie wir?“ fragte Helen West. „So haben sie doch eine Möglichkeit, sich von dem Verbrechen an, der Menschheit zu distanzieren?“ „Sie haben nicht alle das Geld, welches uns zur Verfügung steht“, gab Lindner die Antwort. „Sie sind zu abhängig, um sich gegen die Geldgeber auflehnen zu können. Und wenn sie von Verantwortung und Verantwortungsbewußtsein reden, dann 9
macht man ihnen klar, daß Politik das Geschäft anderer Leute sei, die mehr davon verstünden. Nein, sie können gar nicht anders, wenn sie leben wollen.“ „Nun, sie werden sich Gott sei Dank in drei Monaten keine weiteren Sorgen mehr zu machen brauchen“, stellte der Russe befriedigt fest. „Es fragt sich nur, ob nicht doch noch genug am Leben bleiben, um dann auch noch den schäbigen Rest zu zertrümmern.“ „Kaum!“ sagte Professor Lindner und erhob sich. „Ich hatte Sie zusammengerufen, um Ihnen den Termin mitzuteilen, den ich soeben erst selbst erfahren habe. Falls noch irgend jemand etwas Persönliches zu regeln hat, so kann er mich um Urlaub fragen. Aber ich nehme an, wir haben alle hier genug zu tun.“ Keiner der zwei Frauen oder drei Männern hatte Angehörige. Keiner wollte den Urlaub. Lindner dankte und verließ mit müden Schritten den Raum. * Das feuchte Moos gab unter den Schritten der beiden Menschen nach, die durch den lauen Abend schritten. Die Sonne stand noch rot dicht über dem Horizont. Bald würde sie für lange Zeit versinken, wenn die Polarnacht anbrach. Oder würde sie für immer versinken …? Henry Scott betrachtete seine Verlobte heimlich von der Seite, während sie ihrem kleinen Bungalow zugingen, der ein wenig abseits der unterirdischen Anlage stand. Er war ihnen Heimat und Zufluchtsort, hier verbrachten sie die wenigen Stunden absoluter Freizeit. Hier versuchten sie, sich von ihrer anstrengenden Arbeit zu erholen. „Nun, Kleines? Hat es dich arg erschüttert?“ Sie sah auf. „Eigentlich nicht Wir haben es ja immer gewußt, nur das ge10
naue Datum nicht. Sie hätten wenigstens bis nach Weihnachten warten sollen.“ Daran hatte er nicht gedacht. „Weihnachten – ach ja! Das ist das Gemeinste: Die Welt wird eine Woche vor Weihnachten untergehen. Mein Gott, welch ein tragischer Witz. Und wir können die Menschheit noch nicht mal warnen, weil es keine Rettung gibt. Das entstehende Chaos würde die Qual nur verlängern und vergrößern. So aber kommt das Ende schnell.“ Sie sah zu ihm hoch. „Sag’ mal, Henry: Glaubst du fest daran, daß es tatsächlich auch kommen wird?“ Er blieb erstaunt stehen. Seine Augenbrauen zogen sich hoch. „Wie meinst du denn das?“ „Vielleicht irrt ihr euch alle. Vielleicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Es gibt diesmal keine Fehlkalkulation: Am 17. Dezember ist der letzte Tag der uns bekannten Zivilisation gekommen.“ Schweigend schritten sie weiter. * Wassil Kubanow stand neben Professor Harald Lindner und schaute mit ihm zusammen auf die Bildfläche des TeleskopProjektors, der eine gewaltige und klare Vergrößerung des nahen Mars wiedergab. Deutlich erkannten die beiden Männer sogar die zarte Andeutung der umstrittenen Kanäle. Das leise Surren des Apparates störte kaum. „Ein wunderbares Bild“, sagte der Russe. „Es ist eine Schande, daß die Weltraumforschung so hinter den Rüstungsanstrengungen zurückbleiben mußte. Sonst hätten wir es 11
schon erleben können, daß ein erstes Raumschiff dort gelandet wäre.“ „Eine noch viel größere Schande ist es, wenn die ungeheueren Energien, die für nukleare Waffen verschwendet werden, nicht diesem Zweig der Forschung zugewendet werden. Der Mensch hätte schon längst den Mond erreicht, ja, vielleicht sogar bereits den Mars betreten.“ Sie starrten wieder auf die farbige Scheibe. Grün-braune Flächen bedeckten den roten Planeten, die weißen Polkappen waren deutlich sichtbar. Hier und da waren die hauchdünnen Kanäle grün verbreitert. Einzelne weiße Fleckchen deuteten Wolken an. Der Professor seufzte auf. „Ich hätte es immer so gern erlebt, diese erste Landung eines irdischen Raumschiffes auf einem anderen Planeten. Nun aber dürfen wir uns glücklich schätzen, wenn wir wieder neu anfangen können. Nach dem Untergang der Welt.“ Wassil nahm den Bück von der gewölbten Scheibe. „Verdammt! Gibt es denn keine Möglichkeit?“ „Keine! Ich habe alles Menschenmögliche getan. Ich habe sogar einzelne Artikel in die Presse lanciert, in denen ich auf die zunehmenden Gefahren der Atomexplosionen hinwies. Zuerst hörte die Öffentlichkeit aufmerksam zu, aber allmählich wurde man sorgloser. Zu oft las man derartiges meist von Laien verfaßt, deren Fehler mit fast politischem Eifer aufgedeckt und entlarvt wurden. Dadurch gerieten die wirklich ernsthaften Bedenken immer mehr in den Hintergrund, bis man sie schließlich genauso harmlos und Sensationslüstern fand, wie die wichtigtuerischen Laienartikel geldhungriger Reporter.“ „Aber Ihr Name bedeutet doch etwas in der Welt, Lindner!“ „Er bedeutet so lange etwas, wie ich nach der Pfeife gewisser Leute zu tanzen bereit war. Heute nicht mehr! Die Geldgeber der Rüstungsindustrie haben auch Geld für Zeitungen.“ 12
Wassil betrachtete erneut den Mars. Plötzlich sah er hoch. „Und wenn wir ein Raumschiff bauten, um damit der Katastrophe zu entgehen? Wäre das möglich?“ Lindner schüttelte den Kopf. „Dazu wäre es zu spät. Außerdem besitzen wir nicht die technischen Mittel, ein solches herzustellen. Wir wissen noch nicht mal, ob eine Raumfahrt jemals möglich gewesen wäre. Alles ist ja nur Theorie. Nein, unsere einzige Chance, den Untergang zu überleben, besteht darin, unsere unterirdische Anlage hermetisch von der Außenwelt abzuschließen, Vorräte einzulagern und für Atemluft und Schutz vor Radioaktivität zu sorgen. Mehr können wir nicht tun – aber das können wir tun!“ Die beiden Männer schwiegen erneut. Der Mars auf dem Bildschirm flammte rot und drohend. * Hoch in der Stratosphäre jagte ein schlankes, schnittiges Flugzeug gen Westen. Es hatte die Schallgeschwindigkeit weit überschritten und eilte in ewiger Stille und Geräuschlosigkeit dahin. Der einzige Passagier saß müde und zusammengesunken in seinem Polstersitz. Eine Glasscheibe trennte ihn vom Piloten. Professor Harald Lindner hatte sich entschlossen, einen letzten Versuch zur Verhinderung des Testes zu unternehmen. Seine gelbe Aktentasche enthielt alle nötigen Unterlagen, auch größte Skeptiker zu überzeugen – falls diese sich überhaupt überzeugen lassen wollten. Daheim in Lappland waren alle Vorbereitungen getroffen worden, sofort mit dem Bau bzw. der Erweiterung des unterirdischen Zufluchtsortes zu beginnen, sobald der Professor das verabredete Zeichen gab. Lindner wollte mit General Murnau, dem Chef der Atom13
streitkräfte, sprechen, einem alten Freund von ihm. Er erhoffte sich zumindest, daß man sich seine Argumente gegen den Versuch anhören würde. Die Maschine senkte sich, als die Küste in Sicht kam. General Murnau sah überrascht auf, als ihm der Besuch eines Professor Lindner gemeldet wurde. Doch dann überzog ein Schatten des Unmuts sein hartes, scharfgeschnittenes Gesicht. „Was will er?“ fragte er den Adjutanten. „Ich weiß es nicht. Er sagte, Sie wären ein alter Freund von ihm und würden schon wissen, worum es ginge.“ „Und ob ich das weiß!“ murmelte Murnau bitter. „Der alte Weltverbesserer will wieder mal den Friedensengel spielen. Verdammt, was soll ich nur tun?“ „Soll ich ihn hereinlassen, oder soll ich ihm sagen …?“ „Lassen Sie ihn in Gottes Namen herein, aber sagen Sie ihm gleich, daß ich zu beschäftigt bin, ihn für lange zu empfangen.“ Er blickte dem Adjutanten nachdenklich nach. Murnau und Lindner hatten schon vor Jahrzehnten Gespräche über die Möglichkeiten von Kernwaffen abgehalten, ihre stets entgegengesetzte Meinung hatte zu manchem Wortgefecht geführt. Murnau wollte die totale Atomaufrüstung, Lindner die Energieversorgung der gesamten Welt durch Atomkraft. Ihre Standpunkte hatten sich niemals genähert. Und nun war Lindner auf einmal wieder da, kurz bevor er, Murnau, den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht hatte, kurz bevor er erleben durfte, wie die gewaltigste Waffe der Menschheitsgeschichte auf seinen Befehl hin erprobt wurde. Er schnaubte verächtlich. Was wollte dieser verschrobene Wissenschaftler von ihm? Als Lindner das Zimmer betrat, lächelte Murnau ihm entgegen. Nicht umsonst hatte der General den Ruf eines gewiegten Diplomaten. 14
„Hallo, alter Freund, Lindner! Wie geht es Ihnen?“ Lindner hielt die gelbe Aktentasche eng an sich gepreßt. Seine Augen leuchteten kaum auf, als er die dargebotene Hand drückte. Er haßte diese falsche Freundlichkeit halbamtlicher Politiker. „Danke, gut“, entgegnete er auf die Frage. „Und Ihnen?“ „Auch, natürlich. Wem geht es schon schlecht heute?“ Lindner sah dem anderen fest in die Augen. „Es wird bald allen sehr schlecht gehen, Murnau! Sie wissen das genausogut wie ich.“ Murnau lehnte sich zurück, das Lächeln verschwand. „Fangen Sie schon wieder an? Sind Sie deshalb nach hier gekommen? Was machen Sie im Augenblick? Wo halten Sie sich auf?“ Lindner konnte das flüchtige Lächeln nicht verbergen. „Alles Fragen, die Sie selbst beantworten können, wenn Sie es nur wollten. Wo meine Versuchsstätte ist, dürfte Ihnen durch den Geheimdienst bekannt sein. Augenblicklich haben meine Forschungen einen Stillstand erreicht, da weitere Versuche sinnlos geworden sind. Und warum ich zu Ihnen komme? Weil ich Sie bitten möchte, den Versuch am 17. Dezember aufzugeben. Er darf nicht stattfinden!“ Murnau wurde bleich. Er konnte das leichte Zittern seiner Hände nicht verhindern. „Woher wissen Sie, daß der Versuch am 17. Dezember stattfindet?“ „Informationen!“ lächelte Lindner, obwohl ihm nicht danach zumute war. Ganz im Gegenteil. „Das ist ja die reine Spionage! Wenn Sie nicht mein Freund wären, würde ich Sie verhaften lassen, Lindner! Wer weiß noch davon?“ „Meine Assistenten, sonst niemand.“ „Wer gab Ihnen die Informationen?“ 15
„Sie werden doch wohl nicht erwarten, daß ich Ihnen das verrate? Also: besteht die Möglichkeit, den Test zu verhindern?“ „Nein!“ „Sie sind sich der Folgen bewußt?“ „Absolut! Vorherrschaft unserer atomaren Kriegsführung!“ „Unsinn! Ich meine der rein physikalischen Folgen der Explosion.“ „Erhöhte Radioaktivität in gewissen Gebieten, die jedoch zum größten Teil unbewohnt sind. Bis auf einige Eingeboreneninseln …“ „Nun, die zählen Sie ja nicht zu den Menschen“, sagte Lindner kalt. „Weiter?“ „Nun, weiter nichts. Das vergeht, wie alle derartigen Nebenerscheinungen bisher auch vergingen, trotz Ihrer Skepsis.“ „Sie irren!“ Die Worte fielen kurz und hart. Sie klangen wie ein Pistolenschuß. Murnau sah Lindner an. „Wie meinen Sie das? Ihre alte Theorie?“ Lindner gab keine Antwort. Er legte die Aktentasche auf den Tisch des Generals und begann, einige Schriftstücke herauszuziehen. Dann ordnete er dieselben sorgfältig und schob sie Murnau hin. „Nehmen Sie sich die Zeit, sie zu studieren. Sie sollten wissen, worum es sich handelt. Um auf Ihre Bemerkung zurückzukommen: Es ist tatsächlich meine ‚alte Theorie’, wie Sie sich auszudrücken belieben. Aber sie ist mehrmals überprüft worden, und zwar von Leuten, die über Kernspaltung mindestens ebensoviel Erfahrung sammeln konnten, wie Ihre Experten, deren reines Beurteilungsvermögen durch die einseitige Beeinflussung verloren ging. Ich bedaure das sehr.“ Murnau warf einen Blick auf die Papiere. 16
„Lassen Sie den Kram hier. Ich werde ihn überprüfen lassen.“ Lindner nickte. „Sie erreichen mich jederzeit im Esplanada-Hotel. Verhaften werden Sie mich ja nicht lassen, es würde Ihnen auch nichts nützen. Genausowenig, wie es mir nützen würde, wenn ich Sie erschossen hätte. Der Lauf der Dinge ließe sich durch solche Maßnahmen nicht aufhalten, da wir beide unsere Nachfolger schon bestimmt haben.“ Er erhob sich, nickte Murnau noch einmal zu und schritt auf die Tür zu. Dort wandte er sich noch einmal um. „Murnau! Die Entscheidung über Tod und Leben der gesamten Menschheit liegt in Ihrer Hand. Bedenken Sie das!“ Hart schlug die Tür in das metallene Schloß. * Zwei Tage wartete Lindner im Hotel. Schon hatte er alle Hoffnung aufgegeben, als der Zimmerapparat schrillte. Es war Murnau. „Hallo, Lindner? Wir haben Ihre Schriftstücke durchgelesen und die Gutachten verschiedener Leute eingeholt. Sie meinen alle einstimmig, daß Ihre Befürchtungen übertrieben seien. Die augenblickliche Radioaktivität reicht bei weitem nicht aus, eine Kettenreaktion zu entfesseln. Man bezeichnet diese Annahme sogar als völlig irrig, denn eine solche Reaktion benötigt mehr Energie, als durch die Explosion frei wird.“ „Das ist es doch nicht! Es liegt an dem Kobaltmantel der Bombe …“ „Wissen wir. Trotzdem sind Ihre Befürchtungen grundlos. Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß der Versuch stattfinden wird, und zwar …“ Lindner hörte nicht mehr, was Murnau weiter sagte. 17
Er hatte den Hörer aufgelegt. Langsam und schwerfällig strich er sich die ergrauten Haare aus der Stirn und begann, seinen Koffer zu packen. Eine halbe Stunde später schoß das Stratosphärenflugzeug in den dämmerigen Abendhimmel hinein. Diesmal jagte es gen Osten. * Geheimagent X 2 von der Nachrichtenabteilung Professor Lindners lag mitten zwischen dem Dickicht der Ufer. Der schmale Fluß ergoß sich keine zwei Kilometer entfernt ins Meer. Irgendwo dort war sein Schwebegleiter sorgfältig versteckt. X 2 lag vollkommen regungslos und wartete. Seit zwei Tagen bereits weilte er auf dieser Insel inmitten des Pazifischen Ozeans. Welche Ironie des Schicksals: Ausgerechnet in einem Meer solchen Namens sollte die höllischste Vernichtungswaffe aller Zeiten zur Explosion gebracht werden. Und die Vorbereitungen dazu waren im vollsten Gange. In der Ferne war ein Geräusch. Ein Flugzeug. Es brachte Material oder Verpflegung. X 2 hatte sie landen sehen, auf der neuangelegten Rollbahn jenseits des Palmenwaldes. Was mochte dieses bringen? Der Agent wartete, bis es dunkelte. Dann erst begann er, vorsichtig und behutsam in den Wald einzudringen. Er schritt geduckt, jeden Augenblick darauf gefaßt, einem der vielen patrouillierenden Posten zu begegnen, die den Holzzaun bewachten, der das Versuchsgelände von dem unberührten Teil der Insel trennte. In seiner Rechten lag eine kleine aber äußerst gefährliche Schnellfeuerwaffe. Obwohl sein Auftraggeber jede Gewaltanwendung haßte, hatte X 2 es vorgezogen, sich nicht unbewaffnet in die Höhle des Löwen zu begeben. 18
Durch den Blätterwald schimmerte ein Licht. Das war die Grenzbeleuchtung am Zaun. Sie war in regelmäßigen Abständen dicht neben der Starkstromleitung angebracht. Die Bewegungen des Agenten wurden vorsichtiger. Er unterschied sich bereits nicht mehr von seiner Umgebung, denn es war inzwischen sehr schnell dunkel geworden. Das Brummen des Flugzeugmotors war verstummt, dafür tönte klingendes, helles und metallisches Aufschlagen zu ihm herüber. Man entlud die Maschine. Sicher Teile des Gerüstes, auf dem man die Bombe anbringen wollte. Mitten in seinen Bewegungen erstarrte X 2. Er hatte ein anderes Geräusch gehört. Schritte! Reglos blieb er stehen, sackte langsam in sich zusammen und wurde eins mit dem Erdboden. Sekunden später war er spurlos verschwunden, als hätte die Nacht ihn verschluckt. Der Soldat näherte sich jener Stelle, an der er seinen Kameraden treffen wollte. Die Länge der Nachtwache ließ sich wunderbar verkürzen, wenn man mit dem Nachbarposten alle Viertelstunde plaudern konnte. Und das war genau die Zeit, die man benötigte, sein eigenes Gebiet gerade einmal abzugehen. Achthundert Meter in der einen, achthundert Meter in der anderen Richtung. Vielleicht wartete Johnny schon. Sam sah das Aufleuchten der verbotenen Zigarette. Erleichtert atmete er auf. Wenn auch auf dieser einsamen Insel kaum etwas passieren würde, was nicht in die Regel hineinpaßte, so war ihm der finstere Urwald doch unheimlich. „Hallo, Johnny, alles in Ordnung?“ „Klar, Sam. Wie immer und ewig. Hier ist nichts los.“ „Ich glaube, du hast unrecht. Eben kam die Maschine mit den restlichen Teilen. Es wird bald losgehen. Morgen beginnen sie mit dem Bau des Turmes. Ich möchte nur wissen, warum sie diesmal so ein Theater machen. Sonst war doch nie soviel Tamtam, wenn sie ein Ei in die Luft gehen ließen.“ 19
„Vielleicht ist es ein besonderes Ei.“ „Wie meinst du das?“ „Na, Mann! Wie soll ich das schon meinen? Damals, als sie die erste Wasserstoffbombe zündeten, war es genauso. Eine Wasserstoffbombe ist eben etwas anderes als eine gewöhnliche Atombombe. Und dann erfolgten regelmäßig solche Detonationen. Sie wurden zur Routine. Und da diesmal so ein Umstand gemacht wird, nehme ich an …“ „… daß wieder eine besondere, neue Bombe losgehen wird. Ja, da könntest du recht haben. Manchmal wird mir direkt unheimlich. Ich habe mal gelesen, diese ewigen Versuche würden das Wetter beeinflussen. Und ich kann mich entsinnen, daß früher viel öfter die Sonne schien als heute.“ „Ist ja heller Blödsinn, was du da erzählst. Was sollen denn die Bömbchen schon mit dem Wetter zu tun haben? Es sind noch etliche Tausend Kilometer bis daheim.“ „Trotzdem! Ganz so dumm sind doch die Meteorologen nicht. Oder?“ „Nein, das stimmt. Aber sie übertreiben.“ Sie schwiegen eine Weile. Irgendwo im Wald raschelte ein Tier. Die Zigaretten verglommen. In der Ferne erloschen die Scheinwerfer, die das Entladen der Maschine erleichtert hatten. Sam betrachtete Johnny nachdenklich. Dann fragte er: „Sag’ mal, warum – meinst du – ist General Murnau nach hier gekommen? Was will der Oberhäuptling hier auf der Insel?“ „Nichts besonderes, nehme ich an. Inspektion vielleicht.“ Nachdenkliches Schweigen. Dann: „Außerdem brachte er eine Neuigkeit mit: Diese komische Bombe die ursprünglich am 17. Dezember gezündet werden sollte, wird schon …“ Er schwieg plötzlich. Ganz nahe hatte er deutlich ein Ra20
scheln gehört. War es ein Tier gewesen? Oder vielleicht der Wind? Man konnte es nie wissen. Doch Sam hatte keine Ohren für nächtliche Geräusche. „Was? Die Explosion wurde verschoben? Warum?“ „Keine Ahnung. Aber – hast du nichts gehört?“ „Nein! Auf welches Datum wurde sie verschoben?“ „Mensch, als ob das nicht gleich wäre. Der Versuch findet bereits in einer Woche statt. Am 3. Dezember!“ * Die beiden Monate waren vergangen, ohne daß die Bemühungen des Professors Lindner oder seiner Leute einen Erfolg gezeigt hätten. Selbst die Regierungen der neutralen Staaten hatten sich geweigert, seiner Aktion ihre Unterstützung zu leihen. Das sei dann nicht mehr neutral, hatten sie erklärt. Sollten sich die Großmächte nur gegenseitig in die Luft jagen, wenn sie das wollten, Ihnen wäre das gleich. Sie kämen dann notfalls auch ohne den Fremdenverkehr aus. Lindner hatte an die Zeitungen der Welt appelliert. Aber nur wenige waren bereit gewesen, seine Artikel zu nehmen. Sie fürchteten die mächtige Konkurrenz, die von gewissen Geldleuten gesund gehalten wurde, ganz gleich, welchen Unsinn sie druckten. Aber dieser Unsinn des Professor Lindner wäre wirklich eine Sensation geworden. Man stelle sich vor, welche Schlagzeilen: „Erde durch Atombombenexplosionen gefährdet!“ Oder etwa: „Weltuntergang steht bevor!“ „Kobaltbombe bedeutet Kettenreaktion!“ Herrgott, solche Artikel waren schon oft genug erschienen, man hatte sie gelesen, die Schultern resigniert hochgezogen und gesagt: „Was wollen wir daran ändern? Die machen ja doch, was sie wollen.“ 21
Aber dieser Artikel hätte wenigstens einen berühmten Namen als Verfasser aufweisen können. Schade, zu schade. Aber wer wollte es schon mit der Regierung verderben. Selbst in einem demokratischen Land wäre das ein unerfreulicher Zustand für die eigenen Finanzen gewesen. Und nicht nur für die Finanzen. Nur in der Sowjetunion nahm man Linders Artikel und veröffentlichte ihn. Leider verstand man es, eine gehörige Portion politischer Tendenz mit hineinzumischen, so daß die ernste Mahnung fast völlig verwischt wurde. Die Meldung Linders erhielt einen politischen Anstrich, der alle seine weiteren Bemühungen zunichte machte. Da gab er es auf. Mit verstärkter Energie setzte die Gruppe in Lappland ihre Bemühungen fort, die unterirdische Anlage zu erweitern und auszubauen. Regelrechte Luftschleusen wurden eingerichtet, Luftverbesserungsanlagen installiert und gewaltige Riesenflaschen mit flüssigem Sauerstoff gelagert. Mehr als zwanzig Meter unter der inzwischen schneebedeckten Tundralandschaft entstand eine Welt für sich, eine Welt, die Sicherheit vor der sprunghaft zunehmenden Radioaktivität bieten würde. Lebensmittelvorräte wurden angelegt und Wassertanks gefüllt und hermetisch abgeschlossen. Selbst an Bücher und Filme dachte man, versuchte somit, die Vergangenheit und Gegenwart der Menschheit in diesen Dingen zu konservieren. Lindner rechnete mit allem. Auch damit, daß sie die einzigen Überlebenden sein konnten, was er aber nicht hoffte. Die Welt jedoch nahm ihren Lauf, ohne sich Gedanken über jenen 17. Dezember zu machen, an dem eine neue Waffe erprobt werden sollte. Wozu auch? Hatte man nicht schon seit Jahren immer wieder vor den Atombombenversuchen gewarnt – und nichts war geschehen? Was waren das für Leute, die da versuchten, den Fortschritt aufzuhalten? 22
Lindner stand neben Henry Scott und Jane Granger. Vor ihnen zischte die Luft in die Druckkammer, glich das Vakuum aus. „Ich glaube“, sagte der Professor, „daß die wenigsten daran denken, sich auch einen Sauerstoffvorrat anzulegen. In den USA haben sich viele Privatleute einen eigenen Atomkeller zugelegt. Jedoch benutzen sie lediglich ein Lufterneuerungssystem. Sie filtern die irdische Atmosphäre von Radioaktivität.“ „Und? Was ist daran falsch?“ „Sehr viel: Eine wichtige Kleinigkeit! Nämlich die Kleinigkeit von gut 20 Prozent Sauerstoff! Der ist nämlich nach der Explosion einfach nicht mehr vorhanden. Sie werden alle ersticken.“ „Du hast recht, Harald!“ sagte Scott erschrocken. „Daran werden sie nicht denken. Mit einer gewissen Radioaktivität rechnen sie wohl alle, aber nicht mit einer Kettenreaktion. Man müßte sie warnen.“ „Damit dann nur die Millionäre übrigbleiben?“ fragte Jane Granger hitzig. Sie hatte einen unerklärlichen Haß auf Leute mit viel Geld. „Nicht nur Millionäre bauten Atombunker, Jane“, wies Scott sie zurecht. „Es gibt auch öffentliche Atombunker. Aber wer sollte schon in einen solchen Bunker gehen, wenn keine Notwendigkeit dafür vorhanden zu sein scheint. Wenn die Katastrophe eintritt, ist es zu spät.“ Helen West kam durch eine andere Tür. „Herr Professor, eben erhielten wir ein chiffriertes Telegramm. Es muß ein Funkspruch sein, den X 1 aufgefangen hat. Vielleicht von dem Agenten, den Sie zur Insel schickten?“ Lindner nickte. „Geben Sie her!“ Helen reichte ihm den kleinen Zettel, dessen Sinn nur der Professor verstehen würde. 23
Scott wandte sich ab und begann, einige Worte mit Jane zu wechseln. Er wollte vielleicht das unruhige Gefühl vertreiben, daß von ihm Besitz ergriffen hatte. Dieses Telegramm … Der Professor stieß plötzlich einen erstickten Ruf aus. Fast wäre er getaumelt. Doch dann wurde er wieder ganz ruhig und gelassen. Er schob das zerknitterte Telegramm in die Rocktasche, sah auf seine Armbanduhr und dann auf die drei Menschen, die ihn verwundert betrachteten. Ein rätselhaftes Lächeln glitt über seine Züge. „Je schneller unangenehme Dinge vorüber sind, je besser für uns. Besonders dann, wenn sie unvermeidlich scheinen. Die Bombe, Freunde, wird nicht erst in vierzehn Tagen explodieren, sondern bereits in drei Tagen. Die Erde hat nur noch drei Tage zu leben …“ * Eine Insel in der Südsee … Die lange Rollbahn ist verlassen. Die ganze Insel ist menschenleer. Tödliches Schweigen lastet über den Wäldern, keine menschliche Stimme ist hörbar. Selbst die Tiere lassen sich nicht sehen, als ahnten sie die kommende Katastrophe. Sie sind verloren, auch wenn die Erde nicht verloren wäre. Die ganze Insel ist dem Untergang geweiht, zum Wohle des technischen Fortschrittes. Schon tickt irgendwo der Zeitzünder, bringt die Sekunde der Explosion näher und näher. Das Stahlgerüst steht am Rande der Rollbahn, mitten auf der Insel. Schweigend steht es da, trägt in seiner Spitze den kleinen, schimmernden Metallkörper, in dessen Inneren der Tod noch schläft. Er sieht aus wie eine Bombe, dieser Metallkörper. Und er ist auch eine. Die erste Kobaltbombe der Welt. 24
Und auch die letzte, wenn Lindner recht haben sollte! Das Metall hat einen anderen Schimmer als jenes Metall der anderen Bomben, die bisher explodierten. Dieser Schimmer scheint tödlich, drohend und gefährlich zu sein. Schon sein Anblick hätte warnen sollen. Die Stille war furchtbar. Sie war grauenhaft. Auf der Insel schien es, als habe sich diese Stille um die ganze Welt verbreitet. Denn die ganze Welt würde doch auf den großen Augenblick warten, in dem die tobenden Energien frei werden würden, die von einem neuen, grandiosen Erfolg der Wissenschaft verkünden sollten. Von einem Erfolg, der nur ein erster Schritt sein sollte. Ein Schritt – wohin? Das Gerüst konnte es nicht verraten. Die Bombe verriet es nicht. Senkrecht stand die Sonne über der Insel. Und der Zünder tickte. Er würde noch ganze 3 600 Sekunden ticken … * * Noch 60 Minuten bis zur Stunde und Sekunde Null! Professor Lindner hatte sich in letzter Sekunde seiner Nichte Dora entsonnen, einer entfernten Verwandten, die irgendwo in Schweden In einem Waisenhaus lebte. Leicht hatte er sie finden können und sie zu sich geholt. Sie war die Tochter eines Stiefbruders, eines mißratenen Menschen der sein Leben im Zuchthaus beschlossen hatte. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben, Nie hatte sich Lindner um das Mädchen gekümmert, nie hatte er jemals von ihr gesprochen. Doch als die Stunde Null näher rückte und er einsah, daß alle seine Versuche, die Explosion zu verhindern, fehlschlagen mußten, fiel sie ihm plötzlich ein. Er hätte vielleicht selbst nicht 25
zu sagen vermocht, was den Anlaß dazu gab, aber das war ihm auch egal. Tatsache war jedenfalls, daß er sofort seinen Agenten X 1 verständigte, der Dora Lindner innerhalb eines halben Tages im unterirdischen Laboratorium ablieferte. Dora war ein scheues, menschenfremdes Mädchen, das praktisch die ganzen 18 Jahre ihres Lebens hinter den Mauern eines finsteren Waisenhauses verbracht hatte. Die unterirdische Wohnstätte ihres fremden Onkels schien ihr noch nicht mal so ungewöhnlich vorzukommen, denn sie verlor kein Wort darüber. Sie begrüßte Lindner zurückhaltend, bedankte sich dafür, daß er sie „herausgeholt“ hatte und zog sich dann in den ihr zugewiesenen Raum zurück. Es schien, als sei damit für sie die Rückkehr in die zivilisierte Welt erledigt. Die Tundra lag im Dunkel der ewigen Nacht. Eine dichte Schneedecke bedeckte das verkümmerte Moos und die verkrüppelten Kiefern und Birken.. Irgendwo im Norden schimmerten die bunten Farbenspiele eines ringförmigen Nordlichtes. Wie ein künstlicher Theatervorhang wallte es auf und ab, schien zu knistern. Nichts unterbrach die Einöde. Das Lappendorf, die Grenzstation, lag einige Kilometer entfernt am Tanaelf. Man schlief dort, obwohl es bereits sieben Uhr in der Frühe war. Das Datum zeigte den 4. Dezember. Da die Erde sich jedoch drehte, gab es Orte auf ihr, an denen der 4. Dezember noch nicht angebrochen war. Orte, an denen der Kalender noch den 3. Dezember anzeigte. Lindner sah auf die Uhr. „Freunde, wir haben noch 55 Minuten bis zur Explosion. Ich schlage vor, daß wir noch einmal alles ganz genau überprüfen. Die Zugänge müssen hermetisch abgeschlossen, die Sauerstoffzufuhren klar sein. Ist der Fernsehempfänger in Ordnung, mit dem wir die nähere Umgehung unseres Bunkers beobachten können? Stromquellen? Nun, die Atombatterien reichen für ei26
nige Jahrhunderte. Damit hätte sich die Menschheit beschäftigen sollen, nicht mit Bomben! Scott, du machst eine letzte Inspektionsrunde! Albert, Sie überprüfen die Sauerstoffanlage und die Lufterneuerung! Jane, kümmern Sie sich um meine Nichte. Miß West, würden Sie so freundlich sein, und noch einmal nach dem künstlichen Garten sehen. Auch dahin darf keine Radioaktivität gelangen. Die Luft im Garten darf sich nicht verändern, wollen wir nicht eines Tages ganz ohne Gemüse dastehen. – Kubanow, Sie kommen mit mir! Wir werden uns um den Sender kümmern. Ich habe mich entschlossen, der Welt eine letzte Warnung zu geben. Sollen sich wenigstens die in Sicherheit bringen, die dazu in der Lage sind. Leider sind es meist die, die es nicht verdienen. Aber möglich, daß es so eine Art von Kollektivgewissen gibt. – Alles fertig?“ Wassil Kubanow schob sich vor. „Eine Frage Professor: Glauben Sie nicht, daß die Erde eine kleine Chance hat?“ Lindner sah ihn überrascht an. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Wassil! Sie hat keine!“ * H.G. Renford kam aus der Revue, die schon seit Monaten am Broadway mit unvermindertem Erfolg lief. Er hatte sich köstlich amüsiert und entsann sich erst gegen halb zwölf, daß in einer halben Stunde der 3. Dezember zu Ende ging. Und gleichzeitig würde auch irgendwo in der Südsee eine neue Atombombe explodieren. Ach, da gingen ja laufend solche Dinger in die Luft. Aber trotz allem – schließlich liebte man ja sein Leben – begab sich Renford jedes Mal nach einer solchen Explosion für eine Woche in seinen extra angelegten Atomkeller, der ihn einige Millionen gekostet hatte. 27
Man sollte ihn nur für verrückt halten, ihm war das gleich. Als einer der gewaltigsten Rüstungsmagnaten hatte er seine Leute. Und er wußte besser als jeder andere, daß ein dritter Krieg nur unterirdische Überlebende kannte. Also bereitete er sich auf das unterirdische Leben vor. Sein Bunker befand sich 50 Meter unter der Sohle des Wolkenkratzers. Er hatte sich nicht von der Stadt trennen können, die ihm Reichtum und Genuß verschafft hatte. Er liebte New York. Diese Bombe heute war etwas anderes, das wußte er. Aber er hielt nichts von den Varianten des Todes. Wer so eine auf den Kopf bekam, war in jedem Falle tot, egal, ob es eine Wasserstoff- oder eine Kobaltbombe war. Und wozu hatte er schließlich seinen Keller? In seinem Keller befanden sich Lebensmittel für mehr als drei Jahre. Die eintretende Luft wurde automatisch von jeder Radioaktivität gereinigt Für den Notfall lagen auch einige Flaschen flüssiger Luft bereit. Eine Fernsprechverbindung war auch vorhanden. Ebenso ein Kurzwellensender und ein entsprechender Empfänger. O ja, H. G. Renford hatte vorgesorgt. Aber er hatte eines vergessen: den Menschen! Ab Lindner begann, in das Mikrofon seines starken Senders zu sprechen, horchten die Menschen in aller Welt auf. Seine Stimme übertönte die Radioprogramme Europas, war mal hier und mal da zu hören, geisterte auf allen Wellenlängen herum und wurde vielleicht zum ersten Mal ernst genommen. Auf Kurzwelle gelangte Lindners Warnung nach Amerika. Und somit auch nach New York. Als Renford seine Wohnung erreichte, wunderte er sich über die Menschenmassen vor seinem Block. Nanu, mitten in der Nacht? Unwillig ließ er das Taxi anhalten, versuchte, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu drängen. Es war unmöglich, 28
diese aufgeregt schreiende Kerle hatten sich ausgerechnet seinen Wolkenkratzerblock als Ziel ihrer vielleicht sogar politischen Demonstration ausgesucht. Mit Ellenbogen drängte sich Renford vor, blieb schließlich eingekeilt in der Mitte hängen. Er konnte sich nicht mehr rühren. Es war dreiviertel Zwölf. In einer Viertel Stunde … Da gelang es ihm zum ersten Mal, einige Gesprächsfetzen aufzufangen. Es geschah völlig unbewußt und unbeabsichtigt. „Wann wird das Schwein kommen?“ „Sein Diener sagte, er sei in einer Show!“ „Was anderes hat er wohl nicht zu tun! Wie spät ist es?“ „Gleich zwölf. Er muß jeden Augenblick eintreffen. Wenn es nur nicht zu spät ist. Wie groß ist eigentlich dieser verdammte Bunker?“ „Weiß nicht! Mehr als hundert Menschen gehen sowieso nicht rein!“ „Wir schlagen den Hund tot, wenn er uns den Schlüssel nicht gibt.“ Renford hatte das unsichere Gefühl, daß man von ihm sprach. Aber er konnte sich nicht erklären, wie man plötzlich auf die Idee gekommen war, sich ausgerechnet seinen atombombensichereren Bunker als Schutz vor einer Bombe auszusuchen, deren Explosionen schon fast zur Tagesordnung gehörten. Er wußte ja auch nichts von Lindners letztem Appell. Sich zusammenreißend wandte er sich an seinen Nachbarn: „Verzeihung, ist etwas passiert? Warum dieser Auflauf?“ Der Mann wandte ihm sein Gesicht zu, verbarg nicht seinen gehetzten Ausdruck. Es war ein brutales, grausames Gesicht. „Mensch, wohl gepennt, was? In zehn Minuten geht die Welt unter, falls dieser verrückte Schwede recht hat. Und da fragen Sie, was los ist. Sie haben vielleicht Nerven!“ „Welcher Schwede? Und warum stehen Sie hier herum?“ 29
„Dieser Lindner in Lappland. Er behauptete, die neue Bombe würde die Atmosphäre zersetzen. In einer Stunde schon könnte die Kettenreaktion die USA erreichen. Keine Ahnung, was das ist, jedenfalls aber nichts Erfreuliches.“ „Und was wollen Sie hier, ausgerechnet hier?“ wiederholte Renford. „Dieser Kerl hat doch einen Atombunker, dieser Renford. Hat vorgesorgt, das Schwein. Stellt Atomwaffen her, macht ein Saugeld damit und baut sich davon einen Bunker. Wenn die Welt untergeht, bleibt er am Leben. Und mit ihm die Puppen, die er mit in den Keller nimmt. Aber er hat sich verrechnet. Diesmal gehen wir mit. Wenn er doch bloß schon käme. Kennen Sie ihn?“ setzte er mit einem forschenden Ton hinzu. Renford schüttelte schnell den Kopf. Er fühlte die eisige Faust nach seinem Herzen greifen. So mußte es sein, wenn das Henkerbeil herabzufallen begann. Ganz genau so. Seine Haare sträubten sich. Er stand vor seinem Bunker und konnte nicht hinein. In seiner Tasche steckte der Schlüssel, ohne den jeder Eintritt durch die meterdicken Eisenbetonmauern mit Bleiwandung unmöglich war. Und genau in dieser Sekunde zerriß eine hysterisch Stimme die Nacht. Sie gehörte einem mickrigen Männchen, das mit beiden Händen auf H. G. Renford zeigte: „Das ist er! Ich habe sein Bild in der Zeitung gesehen. Das ist H. G. Renford!“ „Wo?“ brüllten einige und sahen sich wild um. Keiner dachte an den Mann, der in ihrer Mitte stand. Renford selbst duckte sich, versuchte, sich hinter den Rücken der vor ihm Stehenden zu verbergen. Aber gerade das war sein Fehler. Der Brutale bemerkte das seltsame Verhalten seines Gesprächspartners. Er griff zu, packte Renford am Kragen und hob ihn hoch. 30
„Meinst du diesen hier?“ rief er und hielt seinen Gefangenen empor, als sei dieser ein alter Rock, den er verkaufen wollte. In das entstehende Schweigen hinein fiel die schrille Stimme: „Ja, das ist Renford! Ich kann es beschwören!“ Ein unbeschreiblicher Tumult erhob sich. Man drängte auf Renford und den Brutalen zu, versuchte, zu den beiden zu gelangen. „Gib den Schlüssel raus, du verfluchter Hund, ehe wir dich umbringen!“ „Lasse uns in den Bunker!“ „Passen wir alle rein?“ „Schlagt ihn doch gleich tot, er ist mitschuldig!“ Renford fühlte, wie man ihm die Kleider vom Leibe riß. Nur mit letzter Anstrengung griff er zu, behielt einen Fetzen Stoff in der Hand. In dem Fetzen ist etwas Hartes. Der Schlüssel zum Bunker. Seine Stimme flüsterte dem Brutalen heiser ins Ohr: „Los! Bringen Sie mich vor zum Eingang. Ich schließe auf. Keiner kann den Bunker aufschließen außer mir. Denken Sie an damals, als ich eine ganze Woche eingesperrt war, nur weil ich den Schlüssel verlegt hatte. Die Geschichte ging durch alle Zeitungen.“ „Ich entsinne mich. Los, beeilen Sie sich!“ Und lauter fuhr er fort, seinen Genossen zuschreiend: „Er schließt auf! Nur die Ruhe bewahren, der Bunker faßt uns alle. Er faßt mehr als tausend Menschen, und wir sind ja kaum zweihundert.“ „Wenn’s so ist, darf er sogar mit rein!“ schrie jemand zurück und das erste Lachen klang auf. Die Stimme des Brutalen war wieder ganz leise, als er fragte: „Wieviel gehen tatsächlich in den Bunker, Renford? Rede, oder ich überlege es mir anders.“ „Nicht mehr als zwanzig Mann. Höchstens fünfundzwanzig.“ Der andere gab keine Antwort. 31
Er griff unter seinen Rock und hielt wenige Sekunden später in seiner Hand eine leichte Maschinenpistole. Er drängte Renford voran, ihn gewissermaßen als Rammbock benutzend. „Sind Damen hier?“ rief er laut. „Die Damen zuerst, wie sich das so gehört. He, zurück da! Ein bißchen dalli, sonst lasse ich dich tanzen!“ Die letzte Aufforderung galt einem übereifrigen Bewerber um den sicheren Platz unter der Erde. Als dieser jedoch die drohende Mündung der Waffe plötzlich auf sich gerichtet sah, wurde er blaß und ließ andere vor. Darunter auch einige „Damen“. Der Brutale hatte zusammen mit Renford die Eingangstür zum Wolkenkratzer erreicht, durchschritt sie, gefolgt von einem aufgeregten Schwarm nachdrängender Menschen. Unten im Keller befand sich die meterdicke Betontür. Renford brauchte drei Minuten, ehe er das komplizierte Schloß geöffnet hatte. Als er das heimtückische Aufleuchten in den Augen des Brutalen sah, besann er sich blitzschnell. „Das Zuschließen ist fast noch komplizierter“, warf er wie nebenbei hin. „Aber das schaffen wir auch noch.“ Der Brutale machte eine abwehrende Handbewegung. „Wieviel?“ flüsterte er Renford zu. Der trat in den Vorraum des Bunkers. „Nicht mehr als zehn, sonst reichen die Vorräte keinen Monat!“ Einige Frauen und recht zweifelhaft aussehende Mädchen drängten sich nach, denen verschiedene Männer folgten. Dann jagte eine Garbe aus der Maschinenpistole die anderen zurück. Mit einem dumpfen Knall schloß sich die schwere Tür. Wie abgeschnitten verstummte das enttäuschte Wutgeheul der Betrogenen. 32
* General Murnau war noch auf. Er saß in seinem Dienstbüro im 37. Stockwerk. Der Blick über die nächtliche Stadt war grandios wie immer. Das Lichtermeer strahlte hinauf in den matt schimmernden Himmel, verlor sich in nicht abzuschätzender Höhe und erstreckte sich bis zum fernen Horizont. Er sah auf die Uhr. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. In wenigen Minuten würde irgendwo in der Südsee die gewaltigste Energieentladung aller Zeiten beginnen. Murnau lächelte vor sich hin. Morgen schon wäre dieser Lindner ein Mann, der von der Lächerlichkeit getötet wurde. Und nichts war tödlicher als Lächerlichkeit, Sicher, es war festgestellt worden, daß die Strahlung in der irdischen Atmosphäre von Jahr zu Jahr zugenommen hatte, aber genauso hatte man auch festgestellt, daß der menschliche Organismus sich an diese Strahlung zu gewöhnen begann. Es kam nur auf die Dosierung an. Die Wetterbeeinflussung war auch nicht abzustreiten, aber was bedeutete denn das schon im Hinblick auf die Tatsache, daß der Besitz der furchtbaren Atomwaffen jeden Gedanken an einen Krieg schon im Keime ersticken würde? Man mußte das eben in Kauf nehmen. Lächerlich schon der Gedanke, der Gegner im Osten würde auf die gleichen Versuche verzichten, wenn er sie durchführen könnte. Er würde genau das gleiche tun, um seine Rüstung zu stabilisieren. Murnau streckte den Arm aus und stellte das Radio an. Leise Musik ertönte, ein wenig verzerrt durch eine überlagerte Stimme, Murnau versuchte, den fremden Sender auszustimmen, aber der wurde nur noch deutlicher. Und dann stutzte er. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Er beugte sich vor. 33
Natürlich! Das war Lindner! Lindner? Was hatte Lindner jetzt zu sagen? Oder ob es sich um eine Aufnahme handelte? Gespannt lauschte Murnau, versuchte den Zusammenhang zu erfassen. Nach einer winzigen Pause begann der Sprecher wieder. Und nun wurde es klar, daß ein Band ablief, in ständiger Wiederholung … „Ich wiederhole meine Meldung! Hier spricht Professor Harald Lindner. Um 16.00 Uhr Ortszeit wird im Pazifik die erste Kobaltbombe der Geschichte gezündet, obwohl namhafte Wissenschaftler aus aller Welt vor diesem leichtsinnigen Versuch gewarnt haben. Trotz vieler Berechnungen meines Stabes und von mir selbst gibt es nur ein einziges Resultat dieses Versuches: eine Kettenreaktion, die die Atmosphäre der Erde zersetzen wird. Ich habe alles versucht, um die verantwortlichen Stellen auf diese Gefahr aufmerksam zu machen, aber man schenkte meinen gut fundierten Unterlagen und Berichten keine Aufmerksamkeit. Ich habe mich somit in letzter Sekunde entschlossen, die Öffentlichkeit der Welt auf die Tatsache zu lenken, daß es kein Morgen mehr geben wird. In dieser Nacht, in einer knappen Stunde, geht die Welt unter. Nur für wenige Menschen wird es ein Entkommen geben. Atombunker bieten einigermaßen Schutz, wenn Atemgeräte vorhanden sind und strahlsichere Kammern. Die Radioaktivität in der Lufthülle wird einige Wochen anhalten, dann auf ein erträgliches Maß herabsinken, da infolge der augenblicklichen Umwandlung des Sauerstoffs die ionisierten Luftschichten aufhören zu existieren und die Strahlung ungehindert in den Raum entweichen kann. Der Mangel an Sauerstoff wird ebenfalls nach Erlöschen der Reaktion enden. Zwar erfolgt der Aufbau einer neuen Atmosphäre nur sehr langsam, aber in den Niederungen wird das Leben wieder möglich sein. Mit Hilfe von Strahlenschutzkleidung und Atemgeräten dürfte ein Überleben gesichert werden. 34
Es fällt mir nicht leicht, diese Ergebnisse meiner Untersuchungen bekanntzugeben, aber es bleibt mir keine andere Wahl. Zwar kann ich nur den wenigsten damit helfen, aber der Fortbestand der menschlichen Rasse ist wichtiger als unnötige Sentimentalitäten. Und sollte ich mich geirrt haben, so mag dieser 3. Dezember wenigstens als Warnung dienen. Ich selbst werde in einem solchen Falle auf meinen bisherigen Titel als Professor verzichten.“ Murnau lauschte, aber die Stimme schwieg. Die beiden Zeiger der Uhr standen genau auf der Zahl zwölf. Der General schüttelte die unbehagliche Stimmung von sich ab, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Er schaltete den Apparat aus. Dann griff er zum Telefon. „Sicherheitsdienst!“ verlangte er, als sich die Vermittlung meldete. „Geben Sie mir die Zentrale. Den diensttuenden Beamten.“ Und als sich dieser meldete, sagte er: „Senden Sie morgen in aller Frühe ein Kommando nach Tanaelf in Lappland. Professor Lindner und sein Stab sind zu verhaften. Nein, Sie brauchen sich um keine diplomatischen Verwicklungen zu kümmern. Das erledigen wir schon. Nein, die Sendung war natürlich ein übler Scherz des Professors. Es soll sein letzter gewesen sein!“ Murnau hängte ein. Es war schon fünf Minuten nach Zwölf, und noch immer bestand die Welt Sie war nicht untergegangen. * Die Atombunker der europäischen Hauptstädte waren zum Bersten gefüllt, eine halbe Stunde nach den ersten Sendungen 35
Lindners war kein Platz mehr vorhanden. Die hermetischen Türen waren geschlossen worden. Die Unglücklichen, die kein Einlaß mehr gefunden hatten, wandten sich zum Gehen. Sie wollten es in einem anderen Stadtviertel versuchen. Und wenn es auch da nicht gelang, sicheren Unterschlupf zu finden, so wollte man sich eben auf Behauptungen der Radiosprecher verlassen, daß die Befürchtungen des Privatgelehrten Lindner unbegründet seien. Aber es wäre trotzdem beruhigender gewesen, säße man im Bunker. Na ja … Hermann Drexler zog seine Braut mit sich. „Komm’, Helga. Es hat keinen Sinn. Es wäre zwar eine gute Gelegenheit gewesen, die ganze Nacht zu verbummeln, aber wir können ja morgen immer noch deinen Eltern erzählen, wir hätten in einem Atombunker geschlafen. Wohin gehen wir? Es ist kalt, aber unsere Liebe hält uns warm.“ Er grinste noch nicht mal über den alten Witz. „In den Stadtpark oder in ein Nachtlokal?“ „Wo es wärmer ist, Liebling“, sagte Helga. Schon bogen sie in die mäßig belebte Straße ein, als ein Mann auf sie zutrat. In seiner Hand blitzte eine Waffe. „Bleiben Sie stehen, kein Aufsehen. Haben Sie Geld bei sich?“ „Geld …?“ stotterte Hermann. „Warum?“ „Her damit! Los! Heute geht die Welt unter und wir benötigen Anfangskapital, sie wieder aufzubauen! Beeilen Sie sich, dann dürfen Sie den Untergang noch miterleben. Das Geld nützt Ihnen so und so nichts mehr.“ „Was nützt es Ihnen denn?“ fragte die sonst so unlogische Helga. „Das geht Sie einen Dreck an!“ kam die barsche Antwort „Nicht jeder ist so dämlich gewesen, sein ganzes Hab und Gut zu verkaufen. Ich habe mir eben einen atombombensicheren Keller gebaut. Nun, wird es bald – oder soll ich nachhelfen?“ Hermann reichte dem anderen resigniert seine Brieftasche. 36
„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir wenigstens einen kleinen Schein ließen, damit wir nicht zu frieren brauchen.“ Der Räuber betrachtete Hermann, als habe er eine Wahnsinnigen vor sich. Dann zog er einen Zehnmarkschein aus der Brieftasche des Überfallenen. „Reicht das?“ erkundigte er sich freundlich. Der Morgen begann zu grauen … * Tief unter der Erde saßen Lindner und seine Freunde zusammen. Der Bildschirm zeigte die naturgetreue Umgebung auf der Oberfläche, die noch in tiefer Nacht lag. Sicher, wäre es nicht gerade Dezember, würde schon lange der Morgen grauen. Wenigstens in etwa südlicheren Breiten. Aber es gab eine Insel im Pazifik, auf der es jetzt erst 16.00 Uhr war. Ganz genau vier Uhr nachmittags! Lindner hatte den Sender abgestellt und das Bandgerät wieder in den Schrank getan. Ein dazu bestimmter Funker würde schon dafür sorgen, daß er die letzten Sendungen der irdischen Sender aufnahm. Für spätere Geschlechter. Außer Professor Lindner, seiner Nichte und seinen fünf Mitarbeitern befanden sich noch etwas mehr als zwanzig Angestellte der Versuchsabteilung in Sicherheit. Lindner hatte sie aufgeklärt über das, was in Kürze geschehen würde. Und somit erhöhte sich die Zahl der wahrscheinlich Überlebenden um ein Beträchtliches. Lindner hatte auch darauf geachtet, daß diese Leute zur Hälfte aus weiblichem Personal bestanden. Fritz Albert konnte seine Nervosität nicht verbergen. „Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, daß die vergangene die letzte Nacht gewesen sein soll. Dann wäre ja dieser Tag – der sogenannte ‚Jüngste Tag’.“ 37
„Er ist es!“ bestätigte Lindner ernst. „Nur wird es sich wieder einmal zeigen, wie ungerecht auch dieses Jüngste Gericht sein kann. Es wird nämlich meist die verschonen, die es nicht verdient hätten. Oder glaubt ihr denn, gerade die einfachen, unschuldigen Menschen hätten jetzt Atombunker und Schutzkleidung zur Verfügung?“ „Darum hätte ich die Menschheit auch nicht gewarnt!“ sagte Kubanow hart. „Sollen sie verreck…“ „Ruhe!“ durchschnitt die scharfe Stimme Scotts die Worte des Russen. „Sie sollten sich schämen, so etwas zu sagen! Unter den Schuldigen befinden sich auch viele, die es verdient haben, gerettet zu werden. Ich kann mir sehr gut denken, daß in einigen Teilen der Welt die Besitzer solcher Bunker nicht mehr in Sicherheit gelangten, weil sie feststellen mußten, daß ihre Keller bereits belegt waren. Eben dank unserer Warnung.“ „Stimmt auch wieder“, grunzte Kubanow mißmutig. „Aber trotzdem ist alles nicht gerecht. Ich denke an die Eingeborenen der Südsee. Dort wird es keinen einzigen Überlebenden geben!“ Helen West schüttelte den Kopf. „Sagen Sie das nicht. Unbemerkt haben sich die Leute dort an die erhöhte Radioaktivität gewöhnt, das stimmt zweifellos. Viel mehr als wir, die immer nur gewissermaßen gestreift wurden von den Wolken, die schon Jahrelang den Erdball umkreisen. Nur was den Sauerstoff anbelangt, so mache ich mir Sorgen. Er wird mit einem Schlage aus der Luft verschwinden, und daran gewöhnt sich kein Mensch!“ „Wenigstens nicht so schnell“, bemerkte Kubanow. „Eine Frage bei der Gelegenheit: Was glauben Sie, wie lange es dauern wird, bis sich erneuter Sauerstoff bildet?“ Helen zuckte die Achseln. „Das kommt darauf an. Der Chef rechnet mit einigen Wochen, ich halte die kritische Frist für wesentlich kürzer. Wenigstens eine dünne Schicht atembarer Luft wird unmittelbar nach 38
der Zersetzung neu entstehen, so daß bereits am nächsten Tage, also übermorgen, schon wieder Leben ohne Atemgerät möglich sein wird. Pflanzen und Wasser werden dafür sorgen, daß Sauerstoff frei wird.“ „Können die Pflanzen denn ohne Sauerstoff existieren? Gehen sie nicht ein?“ „Einige schon, aber nicht alle. Außerdem …“ Der Professor erhob sich. „Die Bombe ist in dieser Sekunde explodiert. Achtet auf den Bildschirm. Ich rechne etwa zehn Minuten, bis die Welle der Kettenreaktion den halben Erdball umrundet hat. Ich fürchte, daß dort, wo die beiden Wellen nach ihrer Reise um die Erde zusammentreffen, eine totale Vernichtung einsetzt.“ Sie schwiegen. Die Minuten tropften dahin, wurden zu Ewigkeiten. Das gräßliche Gefühl unsagbarer Angst schnürte ihnen den Hals zu, der Gedanke, daß in dieser Sekunde die Vernichtung der bestehenden Zivilisation begann, daß in diesem Augenblick die Welt aufhören sollte zu existieren, war derart überwältigend, daß es ihnen jetzt erst so recht zu Bewußtsein kam. Sie fühlten den Tod, der keine zwanzig Meter über ihnen lauerte. Der Mensch hatte den Jüngsten Tag schon so lange gefürchtet, wie er lebte. Noch als primitiver Steinzeit- und Höhlenbewohner geisterte die instinktive Angst vor dem Ende der Welt durch sein beengtes Gehirn. Wie hatten jene Geschöpfe wissen können, daß ihre Befürchtungen eines Tages bestätigt werden würden? War es eine dumpfe Vorahnung gewesen? Oder gar – eine Erinnerung an Vergangenes …? Und nun war dieser Jüngste Tag gekommen, herbeigeführt von denen, die ihn fürchteten. Der Mensch selbst – hatte sich gerichtet. 39
* Die Insel in der Südsee wartete noch immer. Nicht weit von ihr entfernt, einige hundert Kilometer vielleicht, lag ein anderes Korallenriff. Die einst frohen und unbeschwerten Eingeborenen hatten schwer unter der fortschreitenden Zivilisation gelitten. Alle Laster des weißen Mannes hatten in ihre einst so einfache und unkomplizierte Seele Einlaß gefunden und diese verdorben. Und doch noch entsannen sie sich oft genug ihrer eigenen Vergangenheit und verfluchten heimlich jene bleiche Rasse der leider noch so überlegenen „Glücksbringer.“ Am schlimmsten waren die künstlichen Sonnen, die sie oft an den blauen Tageshimmel zauberten. Sie wurden immer öfter sichtbar und verdarben das Wetter. Unwetter, Stürme und furchtbare Krankheiten folgten ihrem Erscheinen. Bis eines Tages Häuptling Hakauo den rettenden Einfall hatte. Ihre Koralleninsel war hohl. Die Perlentaucher hatten das schon vor langer Zeit entdeckt. Es gab einen bequemen Eingang in diesen gewaltigen Hohlraum, der z. T. unter der Meeresoberfläche lag. Aber nur eine Stunde am Tage konnte man trockenen Fußes hineingelangen, die übrige Zeit lag der Eingang unter Wasser, und man mußte tauchen. Wer aber konnte das nicht? Und somit flüchtete der gesamte Stamm, sobald irgendwo am fernen Horizont eine neue Sonne aufflammte, in diesen „Meersaal“. Sie blieben hier einige Tage, ließen Stürme und Krankheit über die Insel ziehen. Sie ernährten sich von den Fischen, die sie in der „unterirdischen“ Lagune fanden, und von stets hier lagernden Vorräten. So war es auch diesmal. Nur stand diesmal zufällig ein etwas intelligenterer Wachposten auf der Spitze des einzigen Berges. Aufgeregt eilte er zu den Hütten hinab. 40
„Makauo! Makauo! Großer Häuptling! Bald wird wieder eine Sonne am Himmel stehen. Ich habe die metallenen Vögel gesehen, die alle in einer Richtung geflogen sind. Es sind die gleichen, wie sie sonst immer fliegen, wenn eine neue Sonne kommt. Im Norden wird die Sonne entstehen. Sehr bald!“ Makauo zögerte nicht lange. Sein wabbeliger Körper rollte zurück in seine Hütte, und als er wieder zum Vorschein kam, hatte er seine beiden Lieblingsmädchen an den Haaren und zerrte sie vorwärts. „Gib Alarm!“ befahl er dem Posten. „Alle in den Meersaal! Sofort! Wenn die metallenen Vögel fliegen, dann ist es bald soweit.“ Der kleine Stamm, er zählte nicht mehr als dreißig, vierzig Seelen, eilte hinter dem Häuptling her. Das Wasser begann gerade, wieder den Boden des Eingangs zu bedecken. Die Luft würde sich erneuert haben. Und sie hielt mindestens zwei bis drei Tage, auch ohne Erneuerung. Und das geschah dann, wenn ein Sturm aufkam. Dann wurde der Eingang nie frei von Wasser. Makauo hatte schon in Erwägung gezogen, von oben herab einen Gang bohren zu lassen. Aber bisher war man noch nicht dazu gekommen. Zu seinem Glück! Denn was wußte Makauo schon von den physikalischen Gesetzen? Das Wasser wäre ein wenig höher gestiegen bei Flut. Und die Luft hätte sich von oben her erneuern können. Sie hätte aber auch entweichen können. * Der Zünder wußte ganz genau, daß er nun noch sechzig mal zu ticken hatte. Die Bombe selbst schimmerte immer noch in der gleichen 41
drohenden Farbe wie vorher. Sie hatte sich nicht verändert. Das hatte noch eine Minute Zeit. Dann aber würde sich das Metall in einem einzigen Energieblitz in strahlende Materie verwandeln, in eine langlebig strahlende Materie. Und die frei werdende Hitze, die dadurch entstand, daß sich Wasserstoff in Helium umwandelte, würde in einer Druckwelle nach allen Seiten hinwegeilen. Sie würde alles vernichten und zerstören, was sich ihr in den Weg stellte. Die Insel im Glast der Nachmittagssonne. Nichts rührte sich auf ihr, sie schien wie ausgestorben. Es war so, als habe die Kreatur geahnt, wozu man sie ausersehen habe. Hier und da strebte noch ein letzter Vogel aufs Meer hinaus, als warne ihn ein unbekannter Instinkt. Die Wipfel der Palmen bewegten sich nicht. Kein Lüftchen regte sich. Die Insel war jetzt schon tot. Der Zünder tickte … 37 – 36 – 35 – 34 – 33! Auch das Meer war wie ausgestorben. Nicht das kleinste Segel zeigte sich. Die Behörden hatten natürlich eine Warnung ergehen lassen und in einer Umgebung von dreihundert Kilometern befand sich kein Schiff. Einige kleinere Inseln innerhalb dieses Bereiches waren zur Vorsicht geräumt worden. Wenigstens in östlicher Richtung. Wegen des ständig in diese Richtung wehenden Windes. 22 – 21 – 20 – 19 – 18! Genau 150 km südlich stand ein Betonbunker auf einer anderen Insel. In diesem Bunker saßen die Wissenschaftler und Militärs, um die Wirkung der Detonation beobachten und messen zu können. „Noch 15 Sekunden bis Null!“ sagte eine Stimme heiser. Die Blicke wichen nicht von dem Bildschirm, auf dem in Verkleinerung das verhängnisvolle Gerüst zu sehen war. Fast 42
unkenntlich winzig die Bombe. Die Relaisstation befand sich auf einem kleinen Atoll weiter nördlich, die automatische Kamera keine 30 Kilometer von der Todesinsel entfernt. „Die Russen werden platzen!“ sagte ein Hauptmann voller Genugtuung. „Bin gespannt, wie lange sie brauchen, um uns diese Explosion nachzumachen.“ „Hoffentlich keine zwei Millionen Jahre“, knurrte der Wissenschaftler. „Solange dauert es nämlich, bis aus einem Höhlenmenschen wieder ein zivilisierter homo sapiens wird.“ „Noch fünf Sekunden!“ sagte die Stimme des Funkers ungerührt. Die Augen hingen auf dem Bildschirm. „Noch drei Sekunden! Noch zwei! Noch eine! Null!“ Plötzlich war keine Insel mehr da. Der Schirm war einfach weiß geworden, grellweiß und flammend. Die Männer schlossen die Augen, öffneten sie nur vorsichtig wieder. Der Schirm war schwarz. Die Fernsehkamera mußte Innerhalb einer Sekunde vernichtet worden sein. Und sie befand sich 30 Kilometer von der Explosion entfernt! * Die Erde hing wie ein großer Ball im Weltraum. Deutlich zeichneten sich die Kontinente ab, unterschieden sich von den blau-grau-grünschimmernden Meeren. Wie eine gewaltige Perle schien der Planet in der tödlichen Einöde des Alls zu schweben, wie ein paradiesischer Zufluchtsort nach der jahrelangen Reise durch das Nichts. Das Raumschiff hatte die Form einer langen Zigarre und mochte nach irdischen Begriffen fast einen Kilometer lang sein. 43
In regelmäßigen Abständen leuchteten matt die kreisrunden Sichtluken, hinter denen sich undeutliche Schatten zu bewegen schienen. Das Schiff hatte nach einer Umkreisung des Mondes Kurs auf die Erde genommen. Im Kontrollraum stand Xalap, der Kommandant des Patrouillendienstes. Sein Auftrag hatte ihn in die äußeren Regionen des Milchstraßensystems geschickt. Regelmäßig ließ der „Galaktische Rat“ jene Welten erforschen, deren Bewohner noch zu primitiv waren, sich von der Schwere ihrer Planeten zu lösen. Seit vier Tagen (irdische Zeit wird stets angenommen. Der Verf.) befand man sich im System der mittleren Sonne Sol. Dies war der siebte Planet, den man anflog. Er schien Leben tragen zu können. Alle anderen Welten dieses Systems waren tote Welten. Einige von ihnen jedoch hatten Leben besessen. Er war jedoch vor Erreichung des Höchststandes wieder erloschen. Die Erde wurde größer. Im Register des Patrouillenschiffes wurde dieser Planet als SOL III bezeichnet. Atmosphäre: Hauptsächlich Sauerstoff und Wasserstoff, darunter nur schwach erkennbar, eine ionisierte Luftschicht. Was kurz über der Oberfläche vorherrschte, konnte erst bei einer eventuellen Landung festgestellt werden. Der zweite Kommandant, Trakos, stand neben Xalap. „Sie sieht gut aus“, sagte er tonlos, denn nur die primitiven Rassen verständigen sich noch durch eine akustische Sprache. Telepathie war eine Fähigkeit, die jedes Lebewesen besaß – nur nicht auszuwerten imstande war. Ihre Beherrschung war das Zeichen größter Vollkommenheit. „Es könnte sein, daß wir wenigstens hier primitives Leben vorfinden.“ Xalap nickte leicht. Seine Fühler spielten leicht hin und her. „Du hast recht. Ich bin überzeugt, dieser Planet trägt Leben. Wir wollen uns ihm vorsichtig nähern. Man kann ja nie wissen.“ 44
„Wir haben schon manche Überraschung erlebt“, bestätigte Trakos die trüben Erfahrungen. Mehr als einmal waren sie bei einer Landung unverhofft von den jeweiligen Bewohnern der Welt angegriffen worden und hatten sich nur durch eilige Flucht retten können. Der Erdball war größer und größer geworden. Er füllte nun schon fast das ganze Gesichtsfeld aus und war doch immer noch so weit entfernt. Noch nicht mal die äußerste Grenze der Atmosphäre war erreicht. „Er hat verschiedene Kontinente“, bemerkte Trakos, während er die Kamera in Bewegung setzte. Die Mikrofilme würden später unter der Bezeichnung „SOL III“ dem Rat vorgeführt werden können, falls es sich in irgendeiner Hinsicht lohnen sollte. Die ersten Zeichen der beginnenden Atmosphäre machten sich bemerkbar. Xalap verringerte die Geschwindigkeit. Er schaltete den Fernbildschirm ein, richtete den Sucher auf den großen Doppelkontinent. „Er ist bewohnt!“ „Von intelligenten Lebewesen!“ Sie waren beide erstaunt, obwohl sie es doch fast erwartet hatten. Es galt nun nur noch festzustellen, welchen Grad der Entwicklung die herrschende Rasse dieses Planeten erreicht hatte. Den Städten nach zu urteilen einen beachtlichen. „Ob sie den Raum erobert haben?“ Xalap gab keine Antwort. Im Bildschirm hatte er eine Menge blitzender Objekte erfaßt, die regungslos in einer vor Hitze flimmernden Sandwüste standen. „Ich glaube, sie sind dabei!“ sagte er schließlich. „Aber sie versuchen es mit chemischer Energie. Vielleicht sogar mit Atomkraft. Auf die Idee, die Felder zwischen den Planeten auszunutzen, sind sie noch nicht gekommen. Geschweige denn, die Kraftfelder zwischen den Sonnen. Immerhin, die haben den Anfang gemacht. Wir werden landen müssen.“ 45
„Und wenn sie feindlich sind? Falls sie ihren Planeten bisher noch nie verlassen haben, werden sie auch nicht wissen, wie man sich interstellaren Besuchern gegenüber verhält.“ Xalap gab keine Antwort. Er betrachtete mit forschenden Augen die weite Wasserfläche des Ozeans, die tief unter dem Raumschiff rollte. Die Dünung zog lange, parallele Streifen. Von Horizont zu Horizont erstreckte sich die Wasserwüste, hier und da unterbrochen durch kleine, vegetarische Inseln. „Eine wunderbare Welt“, sann Trakos vor sich hin. „Eine Welt fast einmalig günstiger Lebensbedingungen – wenigstens in diesem System. Gehen wir tiefer.“ Xalap nickte. Das Schiff sank tiefer. Sie sahen beide gleichzeitig das grelle Aufblitzen. Es war, als sei tief unter ihnen plötzlich eine neue Sonne entstanden, eine Sonne, die sich ständig vergrößerte. Wie ein ins Wasser geworfener Stein gleichmäßig größer werdende Kreise verursacht, so breitete sich unter dem Raumschiff mit unglaublicher Geschwindigkeit eine Lichtwelle aus, raste nach allen Richtungen über den Ozean, den fernen Kontinenten entgegen. Die grellweiße Energiewelle kam jedoch auch nach oben. Es war, als flammte die Atmosphäre des Planeten einfach auf, als bestünde sie aus einem brennbaren Gas, das sich durch einen Unglücksfall entzündet habe. Schon griffen die ersten Ausläufer nach dem Raumschiff. Xalap legte seine feingliedrige Hand mit den sieben Fingern leicht auf eine kaum merkliche Erhöhung. Der Planet SOL III fiel unter dem Schiff weg, sackte regelrecht zurück in die Schwärze des Alls. Doch es schien kein Planet mehr, sondern eine glühende Sonne. Sekunden später war das grausige Schauspiel vorbei. Die Energiewelle war hinter der Krümmung des Horizonts verschwunden, hatte sich in der zerfetzten Atmosphäre der Grenz46
bezirke ausgetobt und war in sich zusammengesunken, als sie keine neue Nahrung mehr fand. Stunden später, als SOL nur ein Stern unter Sternen war, setzte Xalap seine letzten Bemerkungen unter die Eintragungen „SOL III“: „Also offensichtlich ein Planet, dessen Intelligenzen bereits die Schwelle zum Raum überschritten haben. Sie scheinen kriegerisch und zerstörerisch veranlagt zu sein, denn sie griffen uns mit einer solaren Torpedobombe an. Ich persönlich sehe in SOL III eine offensichtliche Bedrohung. Würde dem Galaktischen Rat die Therapie C vorschlagen.“ Bis hierher hatte Xalap keinen Fehler begangen, wenn auch der Grund der gewaltigen Explosion auf Terra ein anderer war, als er annahm. Aber die Therapie C der galaktischen Vollstreckungspatrouille würde unnötig sein. Therapie C sah nämlich die Vernichtung der davon betroffenen Welt und ihrer Intelligenzen vor. * Man stelle sich eine Welt vor, deren Atmosphäre aus Leuchtgas besteht. Ein Kind zündet auf dieser Welt, die natürlich auch genügend Sauerstoff besitzt, ein Streichholz an. Auf der Erde war das Zündholz die Kobaltbombe, der Sauerstoff spielte die Rolle des Leuchtgases. Und General Murnau war das Kind gewesen. Die Flamme der Vernichtung raste um die Welt. Dort, wo es Tag war, verblaßte die Sonne für wenige Sekunden vor einem helleren Schein. Dann schien sie wieder. Die angefangenen Sätze verwirrter Menschen wurden noch ausgesprochen – aber schon der nächste Satz wurde niemals mehr gesagt Die Münder blieben auf, die Augen weiteten sich entsetzt – und die Lungen blieben leer. Sie füllten sich zwar mit einem Gas, aber es war 47
nicht die gewohnte Mischung, die die Lebewesen dieser Welt seit ihrer Geburt geatmet hatten. Der Sauerstoff fehlte. In wenigen Sekunden war es vorbei. Und die kalte Flamme raste weiter, fraß den Sauerstoff, verwandelte ihn, spaltete ihn. Und dann erst folgte die zweite Welle der tatsächlichen Hitze. Sie fegte in einer Sekunde die körperlichen Reste der Menschheit hinweg, verhinderte – auch Grausamkeit kann in gewisser Hinsicht gütig sein – die unweigerlich und folgerichtig entstandene Seuche. Die Hitze des gespaltenen Sauerstoffs verkohlte in Sekundenschnelle die Wälder und Felder, die schwächeren Bauten und Anlagen der Zivilisation, Tiere und Pflanzen, Mensch und Werk. Es war nichts, was blieb. Es sei denn, es hatte früh genug Schutz gesucht. Und auch dann war es meist nur ein Aufschub. In weniger als einer halben Stunde trafen sich die beiden Wellen, die die Erde umrundet hatten. Dann hatte sich der elementare Sturm der entfesselten Naturkraft ausgetobt, die spaltungssüchtigen Kobaltkerne fanden nicht mehr die geeigneten Opfer und trafen auch in Richtung von der Oberfläche fort auf keine Hindernisse. Die geheimnisvolle Kraft der Raumstrahlung nahm sie in Empfang, riß sie von der Erde weg. Wie ein Sog wirkte diese Kraft auf die radioaktiven Teilchen, wie ein gewaltiger Fall auf sich stauendes Wasser. Und während noch der gewaltige Rauchpilz der Explosion über der Insel im Pazifik bis in die nicht mehr existierende Stratosphäre emporkletterte, verlor die Erde jegliches Teilchen radioaktiven Kobalts, hinweggerissen von einer dem Menschen unbekannte Macht, nicht mehr gehalten durch eine schützende Heavysideschicht. Im Augenblick der totalen Vernichtung hatte die ewig schöpferische Natur bereits den Grundstein für eine neue Zivilisation gelegt. 48
Dem toten Leib der Erde konnte neues Leben entsprießen, sobald genügend Sauerstoff aus den Ozeanen freigeworden war. Es war keine Strahlung mehr vorhanden, die es töten würden. Eine Natur ohne Hoffnung ist nicht schöpferisch. *
Dort, wo die Insel gewesen war, befand sich jetzt nur noch ein dampfender Wirbel kochenden Wassers. Irgendwelche Reste von Bäumen und Holzgebäuden schwammen in diesem überhitzten Inferno, das jegliches Leben pflanzlicher oder tierischer Art unmöglich machte. Tote Fische trieben zu Tausenden an der Oberfläche. Hier hatte die freiwerdende Energie der Bombe bereits in der ersten Sekunde alles verbrannt, doch das sofortige Verschwinden des Sauerstoffes hatte jede Flamme erstickt, genauso, wie es auf der ganzen übrigen Welt geschah. Eine Insel, mehrere Quadratkilometer groß, war im Meer versunken, war einfach nicht mehr vorhanden. 30 km südlich befand sich eine etwas kleinere Insel. Der dort erbaute Stahlturm mit der Televisionkamera war in der Mitte geknickt worden. Das kahle Eiland hatte die erste Gewalt der Druckwelle ein wenig mildern, aber nicht aufhalten können. Weiter war sie gerast, hinweg über Korallenriffe und Inseln, bis sie endlich wieder ein beachtliches Hindernis fand. Diese Insel war ein wenig größer. Und das bemerkenswerteste an ihr war der große, viereckige Betonklotz direkt an der Küste. Das Militär und der General sahen die glühende Druckwelle kommen. Sie schlugen entsetzt die Hände vor die Augen, schrien beide gequält auf. Eine solche Wirkung der Bombe hatten sie nicht erwartet. 49
Sie erblickten die haushohe Wasserwand, die sich am Horizont auftürmte. Sie würde der Lichtwelle folgen. Der Wissenschaftler achtete nicht auf die beiden Soldaten, die sich zu Boden kauerten, die Augen geschlossen und leise vor sich hin wimmerten. Er starrte mit geblendeten Augen auf das Phänomen der herantobenden Energiewand, wunderte sich, ob ihr Bunker dem Druck und der Hitze wohl standhalten würde, wunderte sich, wo sich die Gewalt dieser entfesselten Energie wohl ausgetobt haben möchte. Die Lichtwelle ging über sie hinweg, der Verlust des Sauerstoffs machte sich nicht gleich bemerkbar. Dann aber stürzten die Wasserfluten über sie her, begruben die Insel mehr als drei Minuten unter sich. Und drei Minuten ohne Luft waren selbst für einen ausgezeichneten Wissenschaftler und zwei pflichtgetreue Soldaten zuviel. Ganz zu schweigen von jenen, die sich im Hintergrund der kleinen Insel befanden. Nur ging alles bei ihnen schneller … * Makauo saß mit seinem Stamm auf dem schmalen Uferband der unterirdischen Lagune und lauschte dem Gesang der Krieger. Er konnte ja nicht wissen, daß sie mit der Luft länger auskommen würden, wenn sie schlafen, anstatt wilde Kriegsgesänge von sich zu geben. Aber wie schon einmal erwähnt: Makauo hatte keine Ahnung von den Naturgesetzen. Als eine schwere Erschütterung die Insel erbeben ließ, verstummte das Singen. Sie lauschten. „Jetzt steht die Sonne am Himmel – die zweite Sonne!“ sagte der junge Mann, der den Posten eines Beobachters eingenommen hatte, bevor der Stamm sich in den Schlupfwinkel zurückgezogen hatte. Nach einer ganzen Welle erst vernahmen sie dumpf und 50
kaum deutlich hörbar das Hereinbrechen der Wassermassen über die Insel. Sie wußten nicht, daß sie für drei Minuten mehr als 50 m tief unter der Meeresoberfläche lebten und atmeten. Sie wußten nicht, daß gerade die Tatsache, daß das Wasser erst nach weiteren vier Tagen von 5 m Flut wieder auf den Normalstand zurückfiel, ihr Leben retten würde. Sie saßen nur da und lauschten. Und als wieder Schweigen eintrat, unheimliches und tödliches Schweigen, da warteten sie auf den schwachen Lichtschimmer, der durch den Eingang schimmern mußte, wenn der Spiegel der Oberfläche sich zu senken begann. Dort aber blieb es finster. Erst nach drei Tagen, als die Luft schon schlecht zu werden begann, leuchtete der erste schwache Schimmer in den riesigen Saal, dessen Domkuppel nichts anderes als die innere Hohlseite der Bergspitze darstellte. Das Meer begann zu sinken. In dieser Sekunde erst begannen die Krieger Makauos wieder zu singen und zu tanzen. Bald würden sie wieder die frische Seeluft der Insel atmen können. * Hermann Drexler in Berlin kam nicht mehr dazu, die 10 DM auszugeben, die ihm der Straßenräuber zurückgegeben hatte. Er hatte Helga untergehakt und lenkte seine Schritte zu einer kleinen Bar, die er von gelegentlichen Besuchen her kannte. Der Mixer war ein alter Freund von ihm. „Etwas Wärmendes!“ rief er dem Mann hinter der Theke zu. „Aber beeile dich, ehe wir erfroren sind!“ Der Barmixer schob ihnen einen scharfen Trunk hin. „Du machst ein Gesicht, als habe dir jemand die Brieftasche geklaut, Hermann“, sagte er dabei. 51
Hermann Drexler starrte ihn fassungslos an. „Woher weißt du das? Es ist nämlich tatsächlich so. Auf dem Weg nach hier wurden wir überfallen.“ Nun war es die Reihe an dem Bekannten, erstaunt zu sein. „Ich – ich sagte es nur so. Ein Sprichwort, oder wie man die Dinger nennt. War es viel?“ „Nein, nur einer“, entgegnete Drexler und trank seiner Braut zu. Während der Barmixer noch überlegte, was sein Freund mit „nur einer“ meinte, geschah etwas Seltsames. Zuerst schien es, als schwanke der Boden unter ihren Füßen, dann übertönte das Klirren umstürzender Gläser und kippender Regale alle anderen Geräusche. Schrille Schreie hysterisch aufspringender Frauen mischte sich hinein, und wenige Sekunden später war die Bar ein einziger Hexenkessel. „Ein Erdbeben!“ versuchte ein beleibter Herr zu beruhigen, erreichte aber damit nur das Gegenteil. „Die Atombombe!“ schrie ein anderer. „Sie muß jetzt explodiert sein! Dieser Lindner hat doch recht gehabt!“ Hermann zog Helga mit sich in eine Nische. Der Lärm ließ nach, als weiter nichts geschah. Es war heiß geworden, unerträglich heiß. Dann plötzlich unheimliche Ruhe. Hermann Drexler spürte plötzlich, wie ihm schlecht wurde, seine Sinne schwanden. Er bekam keine Luft mehr, drohte zu ersticken. Röchelnd griff er sich zum Kragen, riß ihn auf. Er schnappte nach Luft, aber nur ein tobendes Brennen fraß sich in seine Lungen. Noch während er in sich zusammensackte, die Augen weit aufgerissen, sah er seine Verlobte umsinken. Die anderen Besucher der Bar lagen schon am Boden oder in merkwürdigen Verrenkungen über den Tischen. Die Kerzenleuchter waren erloschen, nur noch das elektrische Licht glühte. 52
Die nachfolgende Hitzewelle verwischte alle Spuren. Aber nichts brannte. Der Sauerstoff fehlte. * General Murnau erhob sich und schritt zum Fenster. Immer noch nichts. Er wartete auf sein Ereignis, von dem er selbst nicht glaubte, daß es eintreten würde. Vielleicht im Radio? Die Sender an der Westküste würden ja irgendwelche besonderen Vorkommnisse melden, und Murnau rechnete zum mindesten mit einer kleinen Flutwelle an den dortigen Gestaden. Die Gewalt der Druckwelle wurde ja durch nichts gebrochen, während zwischen dort und hier schließlich 3000 km Festland lag. Die Röhren begannen zu summen. San Franzisko sendete Tanzmusik. Mitten im Stück brach die Musik ab. Murnau wartete gespannt auf den Ansager, der den Grund der Störung bekanntgeben würde. Aber dieser Ansager meldete sich nicht. Nach einer Minute wurde Murnau klar, das Radio San Franziska nicht mehr sendete. Fieberhaft versuchte er andere Stationen. Aber der Lautsprecher schwieg. Selbst die Sender mitten im Festland hatten die Sendungen eingestellt – oder waren unterbrochen worden. General Murnau spürte plötzlich das kalte Grauen, das seinen Rücken hinaufkroch, seine Haare auf dem Kopf in die Höhe trieb. Er hatte Angst, regelrechte Angst, daß Lindner vielleicht doch recht gehabt haben könnte. Mein Gott! Was denn –? Mit einem Satz war er beim Telefon. „Zentrale! Verbinden Sie mich mit Frisko! Schnell! – Was? Keine Verbindung mehr? Danke!“ Er knallte den Hörer auf die Gabel. Dann besann er sich, hob ihn wieder ab. „Ja, den Sicher53
heitsdienst! – Hallo Myers! Schicken Sie einen Wagen, sofort! Und besetzen Sie sofort den Atombunker 7 in Planquadrat 57! Ich komme nach dort! Aber schnell! Und – Was sagen Sie? Der Bunker wurde der Öffentlichkeit übergeben? Warum?“ Als die Antwort kam, legte Murnau den Hebel wortlos auf die Gabel. Diesmal war die Bewegung langsam und irgendwie vorsichtig. Man hatte die Bunker auf Grund seiner eigenen Unbesorgniserklärung freigegeben, um die Bevölkerung zu beruhigen. Diese hatte erst dann, als die Leute des Sicherheitsdienstes auf den Bunkerschutz verzichtete, eingesehen, daß absolut kein Grund zur Beunruhigung vorhanden war. Nur die Vorsichtigen waren dann trotzdem in den Bunker geklettert. Für alle Fälle … General Murnau setzte sich in seinen Sessel hinter dem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Vielleicht waren seine plötzlichen Bedenken grundlos, wer konnte das wissen. Und schließlich, wenn irgend etwas passiert war, hätte man ihm schon Nachricht gegeben. Er saß noch so da, als der Tod New York erreichte. * Die hitze- und erschütterungsfesten Geräte zeigten und registrierten alles genauso an, wie Lindner es erwartet hatte. Die kleine Gruppe saß um den Bildschirm herum und wartete auf die Sekunde, an der die Front der totalen Vernichtung Tanaelf erreichen würde. Der Funker zeichnete auf einer Weltkarte stets die Sender ein, die ausfielen, und somit hatte man ein ungefähres Bild von der Schnelligkeit, mit der sich diese Front ausbreitete. Schweigend und wortlos nahmen sie das Entsetzliche wahr, das sie hatten kommen sehen. Aber jeder von ihnen hatte noch heimlich an ein Wunder geglaubt, hatte es erhofft. 54
Auch dann, wenn ihr ganzer wissenschaftlicher Ruf zum Teufel gegangen wäre. Das Weiterbestehen der Welt wäre wichtiger gewesen. Oder nicht? Wäre es nicht ein Weiterbestehen in ständig neuer Furcht gewesen? Wäre nicht ein neuer Versuch dem anderen gefolgt? Wäre eines Tages nicht doch einmal die endgültige Katastrophe hereingebrochen? Jane Granger hatte eine ihrer kleinen Fäuste gegen den Mund gepreßt, unbewußt biß sie mit ihren Zähnen in das eigene Fleisch, und bemerkte es kaum. „Herrgott! Das ist das Ende! Und es kommt schnell!“ „Die Menschen merken es kaum“, nickte Lindner schwer. „Es ist ihre Schuld mit, denn sie haben nichts getan, diese Entwicklung zu verhindern. Sie haben immer nur geredet, so dürfe das nicht weitergehen – aber mehr haben sie nicht getan.“ „Was auch sollten sie getan haben?“ fragte Fritz Albert. „Man bezichtigte sie sogar verräterischer Absichten, wenn sie gegen weitere Atomversuche propagandierten. Das aber wäre das wenigste und letzte gewesen, woran sie gedacht hätten.“ „Ob die Leute in den Bunkern die Sache überleben?“ fragte Scott. „Das kommt nur darauf an, ob sie genügend Sauerstoffvorräte mithaben. Ich schätze, das Meer kann schon innerhalb von zwei Tagen eine wenige Meter dicke atembare neue Lufthülle erzeugen. Ein Glück, daß die Kettenreaktion nur den in der Luft befindlichen freien Sauerstoff spaltet. Wäre das nicht der Fall, würden auch wir nicht mehr lange leben.“ „Dann passiert also den Fischen gar nichts?“ erkundigte sich Wassil Kubanow erleichtert. „Sie bleiben am Leben?“ „Ja, höchstwahrscheinlich. Ebenso ergeht es allen Lebewesen, die unter Wasser eine Zeitlang existieren können – und sich auch gerade dort befinden.“ 55
„Achtung! Die östliche Welle hat Skandinavien erreicht. Sie muß in einer halben Minute hier eintreffen!“ Der Funker sagte es, als handle es sich um den Wetterbericht. Helen West rückte ein wenig näher an Fritz Albert heran. Sie fühlte die Wärme seines Körpers beruhigend durch die Kleider dringen. Für sie bestand kein Zweifel an der Richtigkeit von Lindners Berechnungen. Ihr Vertrauen zu dem einst so gefeierten und weltberühmten Kernphysiker war praktisch unbegrenzt. Und gerade die Tatsache, daß Lindner auf Grund seiner Weigerung, an der internationalen Atomaufrüstung mitzuarbeiten, an „Ansehen“ verloren hatte, machte ihn ihr besonders sympathisch. Sie wußte, daß Lindners Kenntnisse die der kommerziellen Atomforscher bei weitem übertraf. Der Beweis würde den anderen das Leben kosten. Wassil Kubanow starrte auf den Bildschirm. Er dachte daran, daß die Welle von Osten kam. Sein Vaterland würde bereits alles überstanden haben. Vielleicht lebten noch einige Forscher und Machthaber, die sich in die Bunker geflüchtet hatten. Ganz frei von Schuld waren auch die Russen nicht, wenn diese Bombe auch von den Amerikanern gezündet worden war. Kubanow wußte das genau. Das Wettrüsten zwischen den beiden Machtblöcken hatte das Ende der Welt herbeigeführt. Was hätte alles geschehen können, wäre erst ein Krieg ausgebrochen? Dora Lindner, das weltfremde Mädchen, schlief in ihrem Zimmer. Lindner hatte ihr ein leichtes Mittel gegeben. Sie sollte erst dann aufwachen, wenn alles vorüber war. Oder gar nicht mehr. Verbissen und mit einem zynischen Zug im Gesicht sah Scott zum Bildschirm hin. Er kalkulierte die westliche Welle. Sie mußte jetzt New York erreicht haben. Die beiden Wellen würden sich in der Mitte des Atlantik treffen. Da, wo einst Atlantis gelegen hatte. Welch ein seltsamer Zufall! Er bemerkte 56
das beginnende Glühen am Horizont, jenseits der unendlich scheinenden Schneeoberfläche. Die Vernichtungsfront kam … Fritz Albert dachte an gar nichts. Vielleicht tat er es unbewußt, ohne eigenes Wollen. Er sah nur den begrenzten Ausschnitt der Landschaft, die weit über ihm lag. Viele Meter festen Felsen und Stahlbeton trennten ihn davon. Er spürte Helen neben sich und wartete. Jan Granger dachte daran, daß dort draußen in der Welt kein Mensch mehr lebte, der ihr irgend etwas bedeutete. Nicht ein einziger. Als sie Scott kennenlernte, hatte sie die Vergangenheit vergessen. Und sie hatte es gründlich getan. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie die Menschen haßte, nein, das wäre falsch. Aber sie haßte diejenigen, die den Menschen zu dem gemacht hatten, was er heute war: eine seelenlose Maschine, ein geldverdienender Roboter, ein Automat ohne eigenen Willen. Und sie bewunderte die wenigen Ausnahmen. Und Harald Lindner …? Der Professor hatte sich vorgebeugt. Seine Augen waren weit geöffnet und suchten den Horizont der Tundra ab. Jeden Augenblick mußte dort der erste Schimmer der heranwachsenden Vernichtung auftauchen. Gott war sein Zeuge, daß er diese Vernichtung nicht gewollt hatte. Vielleicht hatte er nicht alle seine Mittel eingesetzt, sie zu verhindern, aber mehr Vorwürfe konnte ihm keiner machen. Jedenfalls hatte er es versucht – und war auf hartnäckigen Widerstand gestoßen. Lindner wußte, daß die „Verbrennung“ des Sauerstoffes praktisch „kalt“ vor sich ging. Er würde einfach aus dem Gasgemisch der Lufthülle herausgebrochen und in für Sekunden höchst radioaktiv strahlende Teilchen verwandelt. Genau wie das Helium, welches ja aus dem Wasserstoff der Bombe aufgebaut worden war, würde er zusammen mit dem strahlenden Kobalt in den Weltraum gerissen werden, wo die bremsende 57
Heavyside fehlte. Dies war ein Punkt, in dem sich Lindner nicht ganz sicher war. Es konnte auch sein, daß sich der Sauerstoff wieder zurückverwandelte. Allerdings war das eine kaum wahrscheinliche Annahme. Die nachfolgende Hitzewelle der Explosion würde alles verbrennen, ohne jeglichen Sauerstoff. Somit konnte man mehr von einem Absorbieren sprechen, denn nicht eine einzige Flamme würde aufflackern. Lindner fühlte die furchtbare Verantwortung für seine Kollegen, die in frevelhafter Begierde, immer neue Geheimnisse der Natur entreißen zu wollen, zu Verbrechern geworden waren. Das ernste Forschen, der ehrliche Wille, der Menschheit dienen zu wollen, hatte ihnen gefehlt. Ihr Ziel war die Befriedigung des eigenen Ehrgeizes gewesen, die Sucht nach bürgerlichem Ansehen und weltlicher Macht. Sie wollten ihre Namen in der Geschichte der Menschheit verewigt sehen und wollten Meilensteine der technischen Entwicklung sein. Und nur das war ihnen zuletzt gelungen. Wenn ihre Meilensteine auch die letzte geworden waren … Die weiße Welle raste heran, ging über die unterirdische Station hinweg und verschwand am entgegengesetzten Horizont. Sonst hatte sich nichts gezeigt oder verändert. Scott bewegte sich unruhig. „Ich kann nichts erkennen“, murmelte er. „Luftprobe?“ „Kommt gleich“, entgegnete Lindner ruhig. Er wußte, das schon alles vorbei war. Der moderne Welttod war schnell und ohne Dramatik. Helen West, die Biologin, entnahm der Sonde das Glasröhrchen. Wortlos verschwand sie damit. Sie kannte ihre Aufgabe. Währenddessen warteten die anderen auf die zweite, vernichtende Welle. Die Hitze dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Aber sie genügte um den Schnee schmelzen zu lassen. Und in dichten 58
Schwaden stieg der Wasserdampf in die Höhe – und mit ihm der erste wieder neu entstandene Sauerstoff. Die Erdatmosphäre begann bereits mit ihrem Aufbau. Lindner schaltete den Bildschirm aus. Seine Stimme war brüchig, als er sagte: „Die Einfachheit dieses Weltunterganges ist erschütternd. Nichts von glühenden Druckwellen und alles vernichtenden Feuermassen, nichts von strahlender Radioaktivität und tödlichem Regen. Gar nichts! Einfach ein harmlos scheinendes Aufblitzen – und schon ist alles vorbei. Dann eine kurze Hitzeperiode – die gleichzeitig reinigt und auch den ersten neuen Sauerstoff freimacht – und der Augenblick der neuen Schöpfung ist gekommen, nachdem das Alte, zu schlecht gewordene, beseitigt worden war. Nichts von überflüssiger Dramatik und unnötiger Sensation, keine Quälerei und kein endloses Dahinsiechen. In einer Sekunde existiert die Welt noch so, wie wir sie kennen – und in der nächsten befinden wir uns auf einem wüsten, unbewohnten Planeten.“ Er schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr: „Die Schnelligkeit, mit der alles vorüber ist, mag fast enttäuschen. Wieviel Arbeit hat uns diese Burg gekostet, und nur eine einzige Sekunde rechtfertigte diese Arbeit und die ungeheuren Kosten. Freunde, wir werden die letzten Menschen auf der Erde sein, denn jetzt haben sich die beiden Wellen vereinigt und der Atlantik wird kochen. Ungeheuere Mengen von Sauerstoff werden frei werden und bald kann wieder Leben dort draußen existieren. Zwar wird die Atmosphäre nur wenige Meter dick sein, aber allmählich baut sie sich auf, wird höher und höher. Und fast möchte ich annehmen, daß es auch genug Pflanzen gibt, die jene zweite Hitzewelle überlebten. Vielleicht waren sie gerade vom Wasser überflutet, oder andere Zufälligkeiten bewahrten sie vor dem Ende. Wir werden noch zwei Tage warten, um kein Risiko einzu59
gehen. Dann werden wir die Welt absuchen, ob es Überlebende gegeben hat.“ Er schwieg. Der Bildschirm war dunkel geworden. Helen West kam zurück. „Fast 99 Prozent Stickstoff, der Rest Edelgase“, sagte sie und hielt das Glasröhrchen hoch. „Keine Spur von Sauerstoff!“ Die Blicke der Menschen trafen sich. Seltsam, wie eine schon bekannte Tatsache trotzdem erschüttern kann. Hatten sie denn immer noch gehofft? „Danke!“ sagte Professor Lindner. „Die Wissenschaft irrt sich nie! Es sei denn, es handelt sich nicht um Wissenschaft, sondern um pseudowissenschaftlichen Wahnsinn in höchster Potenz!“ Er hatte sich erhoben. Das Licht spielte in seinen stark ergrauten Haaren. „Ich darf Sie bitten, sich zur Ruhe zu begeben. Wir benötigen alle unsere Kräfte in den nächsten Tagen. Vergessen Sie nicht, daß uns die Erde ein Vermächtnis hinterlassen hat.“ Gebeugt verließ Professor Lindner den Raum. * Wieder war es der etwas intelligentere Krieger, der nach drei Tagen fast unerträglichen Wartens den ersten Lichtschimmer bemerkte. Er kümmerte sich nicht um den sofort einsetzenden Gesang seiner Stammesgenossen, sondern bereitete sich vor, durch die enge Öffnung zu tauchen, um zur Oberfläche zu gelangen. Der Wasserspiegel lag mindestens noch drei bis vier Meter über dem Eingang, und es konnte noch Stunden dauern, ehe er genügend absank. Makauo nickte großzügig, als der Krieger ihn um Erlaubnis fragte. Natürlich, warum sollte nicht schon jemand vorgehen und feststellen, ob die Luft rein sei? 60
Der Krieger sprang mit einem kühnen Satz in die salzige Flut und tauchte hinab zum Eingang, der immerhin noch einen Meter unter dem Spiegel des unterirdischen Sees lag. Mit geübten Schwimmbewegungen glitt er durch die Passage und eilte schließlich mit ein paar kräftigen Stößen zur Oberfläche empor. Sein Kopf schoß förmlich über die Wasseroberfläche, sein Mund öffnete sich gierig und frische, warme Luft strömte in seine Lungen. Wenige Sekunden später betrat er den Strand der Insel. Er atmete immer noch heftig. Es war ihm, als bekäme er zu wenig Luft, aber das mußte Einbildung sein. Zu lange hatte er die schlecht gewordene Luft der großen Höhle geatmet. Sein Blick ging hinüber zum Palmenwald und zum Dorf. Wenigstens dahin, wo beides sein mußte. Aber er sah weder die Bäume noch die Hütten des Dorfes. Wie weggeschwemmt schien ihm das alles, fortgerissen von den Fluten einer großen Überschwemmung. Sicher, hier und dort stand noch ein zerzauster Baum, ein zerrissener Stamm. Hier und da erblickte er noch die zerfetzten Reste einer ehemaligen Palmenhütte, aber im großen und ganzen erinnerte die ehemals so schöne Insel an ein Land, das soeben erst aus dem Meer aufgetaucht war. Und gerade diese Tatsache hatte dem Stamm das Leben gerettet, denn die nachfolgende Hitzewelle hatte nur wogendes Meer angetroffen. Immer noch stand der Krieger heftig atmend an dem langsam aus dem Wasser hervorkriechenden Strand. Das Wasser fiel schnell. Bald würde der Stamm aus der Höhle kommen können. Der Himmel war ganz dunkelblau, fast violettschwarz. Obwohl die Sonne fast im Zenit stand, schien die Nacht nahe zu sein. Das war eine Erscheinung, für die der sonst nicht dumme Krieger Makauos keine Erklärung fand. Auch nicht für die vielen toten Fische, die überall herumlagen, manchmal direkt zu Bergen aufgetürmt. 61
Ziellos wanderte er über die Insel, suchte nach verlorenen Gegenständen. Er stellte fest, daß auf der Südseite der größte Teil des Waldes fast unbeschädigt geblieben war, als habe der Berg in der Mitte einen furchtbaren Sturm gemildert. Im Wald schien ihm das Atmen leichter. Als ob die Luft hier frischer und besser sei. Keine zwei Stunden später folgten die Frauen und Kinder den vorangeschwommenen Kriegern des Stammes. Als Letzter erschien Makauo. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte, als er die Insel erblickte. Drohend reckte er die Faust gegen den tiefblauen Himmel und sagte in der singenden Sprache seines Volkes: „Die verfluchten Weißen! Sie machen noch so lange, bis die Götter sich für den Frevel rächen! Sie wollen künstliche Sonnen schaffen und werden eines Tages die Hölle haben!“ Makauo wußte nicht, daß seine Insel ein Fleckchen Paradies in der bereits vorhandenen Hölle war. Die Bewohner der anderen Inseln waren bereits von der Flutwelle ergriffen und vom Sauerstoffmangel erstickt worden, die nachfolgende Hitze hatte sie verbrannt. Wohl tauchten alle diese Inseln später wieder aus dem Meer empor, sie besaßen sogar noch fast unbeschädigten Pflanzenwuchs. Aber der Mensch fehlte. Und mit ihm das Tier. „Sie haben eine neue Sonne am Himmel stehen lassen!“ fuhr er fort „Die Götter werden sie strafen! Unsere Insel ist verwüstet, unser Dorf zerstört. Aber wir werden es wieder aufbauen – und dann sollen sie kommen, diese Weißen! Wir werden sie töten!“ „Wir werden sie töten!“ heulten seine Krieger. Ihre Erregung war unnötig. Der Mensch selbst hatte ihnen die Arbeit abgenommen. *
62
In letzter Sekunde hatte H. G. Renford gemerkt, daß der Luftreiniger nicht vorschriftsmäßig funktionierte. Die Luft wurde schlechter und schlechter in dem geräumigen Atombunker. Dieser Bunker bestand aus verschiedenen Räumen. Renford hatte an alles gedacht. Da war zuerst einmal sein Arbeitszimmer mit den modernsten Einrichtungen einer vollendeten Technik und Nachrichtenübermittlung. Dann ein gemütliches Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Bad und eine hygienische Toilette. Eine tiefgekühlte Speisekammer sorgte für Verpflegung und Getränke, ein Keller für Vorräte in großer Menge. Die eigene Aggregatanlage machte Renford von jeder fremden Versorgung unabhängig. Der brutale und rücksichtslose Gangster, der ihn im wahrsten Sinne des Wortes vor dem wütenden Mob gerettet hatte, saß bei ihm im Arbeitszimmer. Die Uhr zeigte wenige Minuten nach Zwölf. Die Mädchen, die ihren ersten Schrecken überwunden hatten, begannen bereits, sich recht heimisch zu fühlen. Einige schminkten sich nach, andere stellten fest, daß es besonders warm hier unten sei und entkleideten sich halb. Der Brutale scheuchte sie mit einer Handbewegung aus dem Raum, schickte sie ins Schlafzimmer, wo sie „hingehörten“. Einige der Männer begaben sich ins benachbarte Wohnzimmer, begannen die Bar zu plündern. Renford sah den Brutalen an. „Wer sind Sie?“ fragte er. Er fühlte sich jetzt wieder sicherer, nachdem die erste Gefahr hinter ihnen lag. Hier konnte kaum etwas passieren. Und ohne ihn würden die anderen nie mehr herauskommen. Das war die beste Lebensversicherung. „Ich bin Morelli“, sagte der Brutale. Die Maschinenpistole lag griffbereit neben ihm auf dem Schreibtisch. Über seine harten Züge huschte so etwas wie ein Lächeln. „Wir sind fast Kollegen“, fügte er hinzu. „Nur sind wir nicht so gewissenlos!“ 63
Renford entsann sich, den Namen schon einmal in Verbindung mit einer Waffenschmuggelaffäre gehört zu haben. Also doch ein Gangster! „Sehr erfreut“, murmelte er zusammenhanglos. „Dann werden wir uns ja wohl vertragen. Im übrigen müssen wir das so und so auch, denn die Tür läßt sich nur durch einen Code wieder öffnen. Und den kenne nur ich.“ „Wenn ich das wollte, wüßte ich ihn in zehn Minuten auch“, sagte Morelli mit einem drohenden Unterton. „Aber wozu die unnötigen Anstrengungen. Vielleicht sind wir morgen schon wieder draußen, haben alles vergessen. Aber vorher werde ich Ihrem Schlafzimmer noch einen Besuch abstatten.“ Renford entsann sich der Blonden, die Morelli so auffordernd angesehen hatte, ehe sie verschwand. „Ich möchte wissen, wie es draußen aussieht. Was macht das Radio und die Television?“ „Von mir aus können Sie einstellen“, erlaubte Morelli gnädig. Renford zögerte nicht. Als die wilde Jazzmusik aus dem Lautsprecher hämmerte, fühlte er so etwas wie leise Enttäuschung. Zumindest hatte er gehofft, einige sensationelle Unwettermeldungen oder wenigstens doch Nachrichten über panikartige Zusammenrottungen zu hören. Er war doch sicher nicht der einzige, den man so hinterrücks überfallen hatte. Und dann schwieg Radio New York plötzlich. Morelli sah auf und betrachtete Renford, als wolle er diesen für das Versagen des Rundfunks verantwortlich machen. Dann aber zuckte er mit den Achseln und meinte: „Versuchen Sie einen anderen Sender!“ Auf dem UKW-Band meldete sich nichts. In der Mittelwelle fanden sie einige weite Sender, die jedoch Sekunden später ebenfalls ihren Betrieb einstellten. Renford stellte mit zitternden Fingern das Kurzwellenband ein. Ein lauter Sender brüllte un64
verständliche Worte, überschlug sich fast dabei und schwieg dann. Die eintretende Stille wirkte beängstigend. So sehr Renford auch den Wellensucher betätigte, aus dem Lautsprecher kam nur ein knackendes Geräusch, das auch bald verstummte. Und dann war nichts mehr. Auch der Fernsehempfänger blieb dunkel. Der gesamte Rundfunkverkehr der Staaten – und anscheinend auch der ganzen übrigen Welt – war zum Erliegen gekommen. „Vielleicht ist ihr Apparat kaputt“, vermutete Morelli optimistisch. „Und wir denken Wunders, was da oben passiert ist.“ „Der Empfänger ist in Ordnung. Aber da oben –“, Renford zeigte mit dem Daumen gegen die Decke –, „scheint allerhand nicht in Ordnung zu sein. Wenn man doch wenigstens nachsehen könnte.“ „Sie können ja rausgehen und sich von den wütenden Kerlen zerreißen lassen, die da auf Sie warten. Ich danke für das Vergnügen.“ Renford blieb steif sitzen. „Ich glaube, da ist keiner mehr, der mich zerreißen könnte. Ich fürchte, Lindner hat recht behalten. Sie sind alle tot. Meinen Sie nicht auch, daß die Luft schon schlechter geworden ist?“ „Warm ist es hier, das stimmt. Aber die Luft schlechter …? Ich merke nichts. Und wenn, wir haben ja Luft genug da. In Flaschen.“ „Sie reicht für höchstens eine Woche bei den vielen Menschen. Wenn die wenigstens schlafen würden und sich ruhig verhielten. So aber nehmen sie uns die Luft weg.“ In seinen Augen lag ein lauernder Ausdruck, als er Morelli ansah. Der Gangster gab den Blick zurück. „Wenn sie nicht das tun, was ich ihnen befehle, werfen wir sie einfach raus!“ sagte er kalt. „Bis auf die Blonde!“ fügte er hinzu. 65
Eine Stunde später regulierte Renford die Atemluftzufuhr. Durch den Luftreiniger drang zwar Luft von außen herein. Dieselbe war auch nicht radioaktiv oder schädlich. Aber – sie besaß keinen Sauerstoff mehr. Diese Tatsache gab ihnen die Gewißheit, daß Professor Lindner kein harmloser Schwärmer, sondern ein fähiger Wissenschaftler war. Wesentlich fähiger als jene, die die Bombe zündeten. Morelli gelang es, mit Hilfe der Waffe die fünf Mädchen und drei Männer zur Ruhe zu bringen. Die Andeutung, er würde sie auf die Straße an die frische Luft setzen und die Tatsache, daß eine solche frische Luft den Tod bedeutete, genügte vollkommen, sie still werden zu lassen. Gehorsam ließen die Männer von der Bar ab, setzten sich ruhig hin. Sie hatten noch gar nicht so recht begriffen, was der Weltuntergang bedeutete. Im Geiste sahen sie sich plündernd und raubend durch die menschenleeren Straßen ziehen, ungehindert von Polizei oder Militär. Nach drei Tagen mehr oder weniger aufregenden Wartens beschlossen Morelli und Renford, die Lage draußen auszukundschaften. „Wer geht?“ fragte Renford. „Sie!“ „Warum denn gerade ich?“ „Weil ich befürchte, sonst nicht mehr herein zu können“, gab Morelli trocken zurück. „Wir haben auch nur einen Schutzanzug.“ „Und mich lassen Sie in jedem Fall wieder herein?“ erkundigte sich Renford mit einem Anflug von Ironie. „Woher soll ich das wissen?“ „Klarer Fall! Ich will doch erfahren, wie es draußen aussieht. Und da nur ein Anzug vorhanden ist, sind Sie für mich die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Sie sind also gesichert.“ Das sah Renford ein. Er kletterte in den luftdichten Asbestanzug, klappte den Helm zu und stellte sich vor das Sicherheitsschloß der Tür und manipulierte geschickt mit den 66
Händen daran herum. Ehe der schnell herankommende Morelli etwas erspähen konnte, schwenkte die Tür nach innen. Renford glitt mit einer schnellen Bewegung in den äußeren Gang. Die Tür schloß sich wieder. Morelli wußte, daß Renford den Schlüssel mitgenommen hatte. Er würde wieder hereinkommen können. Doch eiskalt lief es ihm plötzlich den Rücken hinab. Allein würde er nie hier herauskommen können. War draußen alles normal, könnte Renford die Polizei holen und ihn verhaften lassen. War aber inzwischen die Katastrophe eingetreten und auch Renford würde nun irgendwie verhindert werden, zurückzukehren … Morelli dachte den Gedanken nicht zu Ende. Er wartete. Eine halbe Stunde verging. Dann bewegte sich die schwere Tür wieder und Renford trat ein. Schweigend schloß er die Tür hinter sich, ehe er sich setzte. Morelli bemerkte, daß Renford den Helm aufgeklappt hatte. „Was ist? Wie sieht es aus? Kann man die Luft atmen?“ Renford nickte schwer. Er keuchte erregt, als er sagte: „Atmen kann man sie schon, aber sie muß tatsächlich für zwei Tage nicht atembar gewesen sein. Ich habe keinen lebenden Menschen gefunden. Die anderen, die wir nicht mit in den Bunker ließen, sind tot. Sie liegen draußen im Flur. Man kennt sie kaum wieder, so verbrannt sind sie. Aber nicht richtig verbrannt, irgendwie anders. Als ob sie in einen Bottich mit Säure gefallen wären. Wenn man sie berührt, zerfallen sie zu Staub.“ Er schauderte zusammen. Die Menschen, die aus den übrigen Räumen gekommen waren, starrten ihn schweigend an. Sie versuchten, die Konsequenz seiner Worte zu erfassen, was ihnen nicht so recht gelang. „Und weiter!“ drängte Morelli. „Was sonst?“ Renford zog eine Grimasse. „Was sonst?“ echote er. „Was soll sonst sein? Ich ging auf 67
die Straßen und ein Stück in die Stadt. Sie ist tot, mausetot. Es gibt außer uns keinen lebenden Menschen mehr in New York, vielleicht sogar in den Staaten. Wir gehören zu den letzten Menschen dieser Erde!“ Er schrie die Worte heraus, ehe er in einen Weinkrampf ausbrach. Morelli packte seine Schultern, schüttelte ihn hin und her. „Was ist mit den Häusern? Sind sie zerstört? Wo kommt denn die Luft plötzlich wieder her?“ Renford gab keine Antwort. Er schluchzte vor sich hin wie ein kleines Kind, das geschlagen worden war. Nur allmählich schien er sich zu beruhigen. Er sah hoch, betrachtete Morelli und die Männer vor sich. Dann wanderte sein Blick zu den Frauen, die sich irgendwie in den beiden letzten Tagen verändert hatten, reifer geworden waren. „Die Häuser sind nicht zerstört, nur einige. Die Luft scheint sich vom Meer her erneuert zu haben. Es ist Tag draußen, seht selbst nach. Ich bleibe hier. Die Tür braucht nun nicht mehr geschlossen zu werden.“ Zögernd nur verließen die Männer und Frauen einer nach dem anderen den schützenden Bunker. Sie schritten langsam die Stufen zur Oberwelt empor. Morelli wartete bis zuletzt. „Was werden wir nun machen?“ fragte er. Das erste Mal in seinem Leben fragte er einen anderen um Rat. Er schien hilflos. Renford sah ihn an. Ein Schimmer des Verstehens huschte über sein Gesicht. Es verwischte die Spuren seines Zusammenbruchs. „Was wir tun werden, Morelli? Das wissen Sie nicht? Sind wir nicht fünf Frauen und fünf Männer? Sicher, vielleicht nicht die besten, die je gelebt haben, aber immerhin doch Menschen.“ „Und …?“ „Wir werden dafür sorgen, daß der Mensch nicht ausstirbt. 68
Und vielleicht sind wir nicht die einzigen, die den Untergang überlebten. Es mag noch viele geben, hier in New York, in Amerika, in der ganzen Welt. Nur wird es lange dauern, bis wir sie finden. Es gibt kein Radio mehr und keine Flugzeuge, keine Autos und kein Telefon. Oder doch?“ „Vielleicht doch!“ vermutete Morelli ohne jede Ahnung. „Möglich! Die Hitzewelle war hier schwächer als woanders, nehme ich an. Das Fehlen des Sauerstoffs verhinderte die offene Verbrennung. Es mag sogar noch fahrbereite Autos geben. Sehen wir nach!“ Morelli nickte. Er griff nach seiner Maschinenpistole, hing sie vor seine Brust und ging voran. Die letzten Überlebenden des menschlichen Geschlechts – Gangster, Rüstungsmagnat, Tagediebe und Dirnen – kehrten an das Tageslicht zurück. Vielleicht hatte der Weltuntergang sie zu bessern vermocht … * „Wir werden versuchen, mit dem Flugzeug die Überlebenden ausfindig zu machen“, sagte Lindner zu seinen Freunden am dritten Tag nach dem Untergang der irdischen Zivilisation. „Es muß solche geben, und zwar in allen Teilen der Welt. Die Katastrophe war zwar grauenhaft und vollkommen, die besten Köpfe der Erde hätten es nicht besser machen können, aber trotzdem war uns das Schicksal günstig gesinnt. Es hätte noch schlimmer ausgehen können – für die Überlebenden. Die Radioaktivität ist restlos verschwunden, hat sich in den Weltraum verflüchtigt. Der Sauerstoff reicht bereits wieder bis zu einer Höhe von fast hundert Metern. Keine Hitzewelle vermochte die Erdoberfläche restlos zu zerstören, da der Sauerstoff fehlte. Steinbauten, Metall und ähnliches blieb erhalten. Allein die übriggebliebenen Konserven würden für unser ganzes Leben reichen.“ 69
Henry Scott stand neben Jane Granger. Er hatte den Arm um sie gelegt. Trotz der Furchtbarkeit der nüchternen Worte Lindners konnte er das erleichterte Aufatmen nicht verbergen. Auch Jane sah ein wenig zuversichtlicher in die Zukunft als vorher. Sicher, die Welt, wie sie sie kannten, war zugrunde gegangen. Aber es bestand wenigstens die Hoffnung, eine neue, bessere wieder aufzubauen. Fritz Albert legte die Hand auf das Stellrad des Aufzuges. „Soll ich einstellen?“ erkundigte er sich. Lindner nickte. „Ja. Die Maschine kann zur Oberfläche gebracht werden. Ich werde zusammen mit Scott den ersten Erkundungsflug unternehmen. Atemmasken nehmen wir auf alle Fälle mit. Gegen abend sind wir zurück.“ Leise summend begann sich die Plattform mit dem Flugzeug zu heben. Es war eine einfache Sportmaschine, ein Zweisitzer. Aber sicher würden sie mehr unzerstörte Flugmaschinen finden, als sie je benötigten. Und die unterirdischen Treibstofflager der Welt standen ihnen zur Verfügung. Helen West legte ihren Arm auf den von Fritz Albert. „Und was wird nun geschehen?“ fragte sie ängstlich. „Was wollen wir noch auf einer Welt, auf der keine Menschen mehr leben? Welchen Sinn hätte unser Leben denn noch?“ Albert sah sie voller Vorwurf an. „Unser Leben hatte noch nie einen solchen Sinn wie jetzt!“ sagte er bestimmt. * Wassil Kubanow versuchte inzwischen, sich mit Lindners Nichte anzufreunden. Während der drei vergangenen Tage hatte er kaum Zeit dazu gefunden, aber als er hörte, daß ihre Aussichten doch nicht so ungünstig seien, wie vorher ange70
nommen, regte sich wieder sein Lebenswille, und sein Mut wurde größer. „Miß Lindner“, sagte er schmeichelnd und wurde dabei tatsächlich rot wie ein Schuljunge, „ich habe noch niemals eine so hübsche Frau gesehen wie Sie!“ Das mehr als plumpe Kompliment verwirrte das junge Mädchen. Sie errötete ebenfalls und warf dem schlanken Weißrussen einen flehenden Blick zu. Sie wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber, Mädchen, wer weint denn? Ist doch alles vorbei jetzt, es besteht keine Gefahr mehr. Bald sitzen wir in der Sonne und lassen uns braun brennen. Das wird Ihnen gut stehen!“ fügte er überflüssigerweise hinzu. Prompt wurde Dora Lindner noch ein wenig roter im Gesicht. „Aber – aber …“ „Kein ‚aber’! Ich werde Ihnen hier die Umgebung zeigen. Ich sage Ihnen, die Tundra ist einfach himmlisch. Und jetzt gibt es keine Menschen mehr, die stören könnten.“ Das Frivole seiner Worte kam ihm gar nicht zu Bewußtsein. Kubanow war kein schlechter Mensch, aber ein äußerst zynischer. Er hatte nie viel übrig gehabt für die Menschen im allgemeinen, obwohl er einzelne Vertreter dieser Menschen sehr geliebt hatte. Sein Kollektivverstand hatte vielleicht ein wenig übereilt geurteilt, aber allzu sehr hatte er sich dabei auch wieder nicht vertippt. Sein Umgang mit Frauen hatte sich auf das Mindestmaß beschränkt, daher seine ungeschickten Bemerkungen jetzt. Er war sich dessen kaum bewußt und hielt die Verstörtheit des jungen Mädchens für keimende Zuneigung zu seiner Person. Jetzt beugte er sich sogar vor und ergriff die bebende Hand von Dora Lindner, die nicht mehr wußte, wie sie sich verhalten sollte. 71
„Liebes Kind“, dozierte er weise, „die Natur hat sich selbst geholfen, indem sie ihren ärgsten Feind ein wenig dezimierte. Aber wir sind ja noch da, das menschliche Geschlecht stirbt nicht aus. Und …“ Verwirrt schwieg er. Dora Lindner hatte einen spitzen Schrei ausgestoßen und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Tränen quollen zwischen den Fingern hervor. Ein Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Wassil Kubanow war nicht gerade schüchtern. Da er nicht besonders auffallend häßlich war, waren ihm die Frauen nie ausgewichen, obwohl er kein Draufgänger im eigentlichen Sinne des Wortes war. Vielleicht ermangelte es ihn daher an Erfahrung. Jedenfalls hätte er nie zu sagen vermocht, was Dora nun so außer Fassung gebracht hatte. Er murmelte einige Worte vor sich hin, legte die Hände auf ihr dichtes Haar und versuchte sie zu trösten. Aber er redete nur noch mehr Unsinn. Schließlich stieß das Mädchen ihn von sich, schlug nach ihm. Er erhob sich verdutzt. Dann schüttelte er den Kopf und schritt zur Tür. „Das arme Kind“, knurrte er bedauernd. „Sie hat bemerkt, daß ich sie liebe. Und das hat sie derart verwirrt … sie muß sich erst daran gewöhnen, Na, wird schon werden.“ Getröstet und voller Zuversicht begab er sich in den Wohnraum. Er wußte, daß in der Bar noch so eine Art Wodka stand. * Das Flugzeug rollte eine kurze Strecke, ehe es sich schwerfällig in die Luft erhob. Die Atmosphäre war genauso dicht wie früher, nur hatte sich in größerer Höhe die Zusammensetzung verändert. 72
Scott steuerte. Lindner saß hinter ihm und starrte mit brennenden Augen zur Erde hinab. Er hatte keine Hoffnung, in diesen Breiten hoch nördlich noch Leben vorzufinden. Und seine Vermutung schien sich zu bestätigen. Schmutziggrauer Schnee bedeckte die Tundra, so als sei er geschmolzen und dann wieder gefroren. Hier und da zeugte eine halb zerfallene Blockhütte von ehemaligen Bewohnern, aber kein Mensch trat aus ihr hervor, winkte herauf. Schweigend und erstarrt lag die Landschaft unter der dahineilenden Maschine. Die Kabine war luftdicht verschlossen, so daß ein Anlegen der Atemvorrichtung unnötig schien. Leise zischte unablässig neuer Sauerstoff durch die Zuleitung. Hier oben erneuerte er sich nicht, denn die atembare Luftschicht war nur hundert Meter hoch. Trostlos zog die Landschaft unter dem Flugzeug dahin, bot keinerlei Abwechslung. Sie hätten sich genausogut auf einem unbewohnten Planeten befinden können, auf dem Mars, man hätte den Unterschied beim besten Willen nicht feststellen können. Sie erreichten die Meeresküste in der Höhe von Narvik, folgten den vorgelagerten Schären in südlicher Richtung und überflogen Stunden später Schottland und schließlich England. Von oben aus sahen die großen Städte ganz normal aus, erst das Fernglas offenbarte die völlige Leblosigkeit der fast unzerstörten Steinmeere. Kein Auto fuhr, keine Straßenbahn, kein einziges Fahrzeug zeigte sich. Wenigstens keine fahrenden. Wohl lagen hier und da zertrümmerte Wagen im Straßengraben oder waren in unentwirrbare Knäuel zusammengefahren und liegengeblieben, aber dieser Anblick verstärkte den Eindruck des Leblosen nur noch mehr. Von ehemaligen organischem Leben war bis auf die Reste der Zivilisation keine Spur. Die Sekunden dauernde Hitzewelle hatte es vernichtet. Metall, Stein und Wasser nur waren verschont geblieben. 73
Scott wandte den Kopf. „Sieht furchtbar aus dort unten. Wer hätte das gedacht? Gestern noch haben sie über deine Prognose gelacht, sich einen Dreck um deine Warnung gekümmert – und heute ist es zu spät dazu. Sie haben sich selbst vernichtet. Eine ganze Zivilisation, Jahrtausende alt, verging in einem einzigen Atomblitz.“ „Es wird diesmal nicht so lange dauern bis sie wieder besteht“, gab Lindner nachdenklich zur Antwort. „Vielleicht drei oder auch viertausend Jahre.“ „Wenn unsere Kinder und Kindeskinder nicht wieder verlernen, was wir wußten.“ „Um so besser! Dann verlernen sie auch, wie man eine Welt zerstört!“ Scott gab keine Antwort. Das Flugzeug glitt dicht über einer gewaltigen Stadt dahin. Das Häusermeer erstreckte sich bis zum Horizont und einige bekannte Gebäude gaben Auskunft über den Namen dieser Stadt. Es war London. Die Brücken über die Themse, der Tower, die ehrwürdige Westminsterabtei – alles schien heil und unversehrt. Und war es auch. Doch die Erbauer fehlten. Die Stadt war ohne Leben. Sie war einfach tot. „Ich möchte landen und den Grad der Radioaktivität nachprüfen“, sagte Lindner kurz. „Obwohl ich annehme, daß wir kaum etwas feststellen werden.“ Scott nickte und stellte die Sauerstoffzufuhr ab, die in den Motor führte, um die Verbrennung des Gemischs zu ermöglichen. Dann drosselte er die Zufuhr in die Kabine. Die Maschine sank tiefer, glitt dicht über die Dächer dahin. Dann kam ein großer, freier Platz, der kahl und nüchtern inmitten der Häuser lag. Es mußte der Hydepark gewesen sein, jetzt völlig bar jeden Baumes und jeder Vegetation. 74
Die Maschine landete unsanft, kam endlich zum Stehen. Scott ließ ein Fenster aufgleiten, steckte den Kopf hinaus. Er schnupperte. „Die Luft ist gut. Genug Sauerstoff. Hätte es genügend Sicherheitsmaßnahmen gegeben, könnte die Hälfte der Menschheit noch leben. Aber dieser verdammte Unverstand, diese bornierte Sturheit …!“ Er schwieg. Sie wußten es ja nur zu gut, was die Ursache des Unglücks gewesen war. Warum immer wieder davon reden? Die Glaskabine klappte auf. Warme Luft, würzig und sauber, drang in ihre Lungen. In London hatte es nie so gute Luft gegeben. Die beiden Männer kletterten auf den Boden hinab, blieben stehen. Der Boden war schwarz. Aber das Gras war nicht restlos verbrannt. An einigen Stellen drangen bereits schon wieder die ersten zartgrünen Spitzen aus der verbrannten Erde. Die Hitze hatte nicht lange genug angehalten, auch die Saat zu vernichten. Lindner atmete tief auf. „Das hätte ich nicht erhofft. Das 1st mehr, als wir erwarten konnten! Nun macht mir die Zukunft keine Sorgen mehr. Komm, Scott! Gehen wir ein wenig in die Stadt. Wir können hier auch irgendwo übernachten. Vielleicht gibst du eine Nachricht zur Station durch. Später.“ Schweigend schritten sie über die unebene Fläche, wichen den schwarzen Aschehaufen aus, die einst Bäume gewesen waren, und gelangten endlich an die Straße. Zwei ineinander verkeilte Autobusse boten einen erschreckenden Anblick. Um so mehr, als keine menschliche Leiche zu sehen war. Es schien, als wäre diese untergegangene Zivilisation vollkommen ferngelenkt gewesen. Straßenbahnen waren aus den Schienen gesprungen und in die nächsten Schaufenster gerast. Es war keiner mehr dagewesen, der sie hätte bremsen können, zu schnell war der Tod über die Menschheit gekommen. 75
Scott war stehengeblieben und zeigte auf den glatten Asphaltboden. „Sieh mal hier, Harald! Wie kommt das hierher? Eine Pistole, ein Feuerzeug, eine Uhr. Und dort – ein Magazinstreifen mit Munition.“ Lindner bückte sich. „Diese Gegenstände hat ein Mensch bei sich getragen, als ihn der Tod überraschte. Die Hitze ließ ihn verschwinden, die Sachen blieben.“ „Unheimlich!“ sagte Scott erschüttert. „Man sollte es nicht für möglich halten. Ob wir die Waffe nicht besser mitnehmen?“ „Wir werden noch genügend finden, aber wenn du meinst …“ Scott bückte sich, hob die Pistole auf, untersuchte sie. Dann schüttelte er den Kopf und ließ sie einfach zu Boden fallen. „Nichts mehr mit anzufangen. Das Pulver ist entzündet worden, die Geschosse sind gleichzeitig detoniert. Viel ist mit dem Ding nicht mehr anzufangen. Gut, daß wir unsere eigenen Waffen haben.“ „Ja, aber wir haben sie nicht hier. Sie sind in der Station.“ Scott erschrak. Hatten sie keine Waffen mitgenommen? Nein, das hatten sie tatsächlich vergessen. Sie rechneten auch kaum mit Überlebenden. Und wenn, dann mußten es ja nicht gerade raublustige Verbrecher sein. Schon die nächsten Minuten sollten zeigen, wie sehr er sich geirrt hatte. Sie waren weitergegangen und hatten einen kleineren Platz überquert. Den Eingang zu einem mittleren Atombunker sahen sie für den Eingang zu einer U-Bahnstation an. Daher schritten sie achtlos vorbei. Ein Geräusch warnte sie. Beide schnellten sie gleichzeitig herum, denn ein Geräusch in dieser trostlosen Leere und Einöde war erschreckend genug. 76
Die Welt war untergegangen und sie waren die letzten Überlebenden. Und da ertönten hinter ihnen Schritte … Vier Männer kamen auf sie zu. Lindner und Scott starrten ihnen sekundenlang sprachlos entgegen. Ihr Gehirn weigerte sich entschieden, das Bild anzuerkennen, das ihre Augen wahrnahmen. Vier Männer schritten auf sie zu. In ihren Händen lagen verbogene Eisenstangen, die sie drohend erhoben, je näher sie kamen. In ihren Gesichtern stand das Grauen der vergangenen Tage, die Verzweiflung unüberlegten Handelns und die Entschlossenheit von Irren. Ihre Lippen murmelten unverständliche Worte. Die Kleidung, die sie trugen, war zerfetzt und abgerissen. Scheinbar hatten sie eine wüste Rauferei hinter sich. Lindner und Scott konnten ja nicht wissen, daß diese Rauferei nichts anderes als der Kampf um einen Platz im Atombunker gewesen war. Vor drei Tagen. Oder vor einer Ewigkeit von zehntausend Jahren. Das spielte keine Rolle mehr. Die Zeitrechnung begann heute. Lindner erholte sich als erster. „Wir sind Freunde, wirkliche Freunde! Warum bedroht ihr uns? Wir haben euch nichts getan. Hört doch zu, laßt euch erklären …“ Der Vordere der vier Männer blieb stehen, lauschte den Worten nach. Langsam ließ er die Eisenstange sinken. „Wie habt ihr die Katastrophe überstanden?“ fragte er heiser. „Seid ihr Wissenschaftler?“ Diese Worte klangen drohender. Und dann: „Wir brauchen Feuer! Habt ihr Feuer?“ Scott langte in die Tasche und zog ein Döschen Streichhölzer hervor. Er reichte es dem Unbekannten, der gierig danach griff und es betrachtete, als hätte er nie in seinem Leben Streichhölzer gesehen. „Wo habt ihr sie her?“ fragte er lauernd. „Ich hatte sie zufällig bei mir, als die Welt unterging“, gab Scott Auskunft. „Und ihr? Hattet ihr keine Streichhölzer?“ 77
„Nur einer hatte ein Päckchen. Es ist verbraucht, denn wir dachten nicht daran, vorsichtig damit umzugehen, bis wir feststellten, daß es das einzige gewesen war. – Wo kommt ihr her?“ Die drei anderen Männer, die Begleiter des Sprechers, hatten ihre Stangen sinken lassen, behielten aber die beiden scharf im Auge. Das Mißtrauen blickte ihnen aus dem Gesicht. Scott spürte, daß er sehr vorsichtig zu sein hatte, wollten sie wieder heil aus dieser Klemme herauskommen. „Weiter südlich ist ein Bunker, in dem überlebten wir das Unglück“, log er freimütig und ohne Scham. „Wir hatten verdammtes Glück.“ Der Anführer zuckte mit keiner Miene. „Ach so, und ich dachte schon, ihr wäret mit dem Flugzeug gekommen, das im Park landete. Wie man sich nur so täuschen kann …“ Scott gab keine Antwort. Was sollte er auch sagen. „Also los, wo kommt ihr her? Ich will die Wahrheit wissen, oder …“ Er erhob die Stange. Lindner sah, daß sie wehrlos waren gegen diese vier entschlossenen Kerle, die aus unerklärlichen Gründen eine so feindselige Haltung einnahmen. Es war ihm schleierhaft, warum man sie nicht freudig aufnahm. Doch er sollte es sehr schnell erfahren. „Sind da, wo ihr herkommt, Weiber?“ erkundigte sich der Anführer. Lindner und Scott wechselten einen blitzschnellen Blick. Es wurde ihnen einiges klar. „Wir sind Flieger“, begann Scott wieder zu lügen. Er konnte das wesentlich besser als Lindner. „Die Katastrophe überraschte uns in einem unterirdischen Hangar in Schweden, somit überlebten wie sie. Frauen gibt es auch bei uns nicht mehr, wir 78
waren die einzigen Überlebenden dort. Aber wir könnten euch Lebensmittel bringen. Und Waffen!“ „Waffen brauchen wir nicht, auch keine Lebensmittel. Die fanden wir in genügenden Mengen. Mehr, als wir je in unserem Leben verzehren könnten. Aber ich habe eine bessere Idee: Ihr bleibt bei uns! Das Flugzeug können wir schon gebrauchen. Ich weiß nicht, ob die Maschinen auf dem Londoner Flugplatz noch flugfähig sind. Und wo die militärischen Basen waren, weiß ich auch nicht.“ Ein ziemlich dummer Vertreter seines Volkes, dachte Lindner flüchtig und wunderte sich, welchen Beruf der Mann wohl vor der großen Katastrophe ausgeübt haben mochte. Natürlich waren die Flugzeuge, die im Freien gestanden hatten, nicht mehr flugfähig, denn der in den Tanks befindliche Brennstoff mußte explodiert sein. „Sie können uns doch nicht festhalten!“ protestierte er dann. „Das wäre gegen jedes Recht!“ „Recht?“ machte der Anführer der vier Kerle höhnisch und schwang bezeichnend die Eisenstange. „Wissen Sie, was heute Recht ist? Die Gewalt! Der Stärkere hat immer recht!“ „Dann hat sich wenigstens nicht allzuviel geändert, obwohl die Welt inzwischen unterging!“ stellte Scott sachlich fest und verfluchte die Tatsache, daß er die vor kurzem gefundene Pistole fortgeworfen hatte. Diesen primitiven Vertreter mit der Eisenstange hätte er sicherlich bluffen können. „Und wieso wollen Sie uns festhalten? Aus welchen Gründen?“ „Weil wir mit der Maschine nach weiteren Überlebenden suchen wollen.“ „Wer ist ‚wir’?“ Der Mann machte eine unbestimmte Bewegung. „Es gab in London mehrere Atombunker, und einige Vorsichtige nahmen sie in Beschlag, nachdem dieser komische Professor im Radio gesprochen hatte. Er hatte verdammt 79
Recht mit seiner Behauptung, die Bombe würde vernichtend wirken. Nun ja, auch wir begaben uns in einen solchen Bunker. Leider achteten wir jedoch nicht darauf, wer mit uns kam. Somit überlebten etwa 30 Männer und nur zwei Frauen die Katastrophe. Ein reichlich ungleiches Verhältnis, meinen Sie nicht auch?“ Scott nickte beistimmend und warf Lindner einen Blick zu. Niemals dürften sie verraten, wo sich ihr Schlupfwinkel befand. Niemals dürften sie verlauten lassen, wer sie waren. Denn es war allgemein bekannt, daß die Mitarbeiter Lindners nicht nur aus Männern bestanden. Und es würde sich schon eine Gelegenheit zur Flucht bieten. „Ja, da kann man nichts machen“, knurrte er, scheinbar reichlich niedergeschlagen, was er sogar tatsächlich war. „Habt ihr denn einen Piloten?“ Der Mann mit der Eisenstange sah ihn verwundert an. „Nein, wozu denn auch? Oder haben Sie in der Zwischenzeit verlernt, wie man so ein Ding in die Luft bekommt? Das möchte ich Ihnen nicht raten!“ Scott unterdrückte mit Mühe ein erleichtertes Aufatmen. Gleichmütig murmelte er: „Das nicht! Also – wenn es unbedingt sein muß, in Gottes Namen! Aber ich hoffe doch, daß ihr uns später wieder laufen laßt.“ Die vier Kerle warfen sich grinsende Blicke zu. „Laufen schon, aber nicht fliegen“, sagte einer von ihnen. * „Immer noch keine Nachricht?“ erkundigte sich Fritz Albert nervös bei dem diensthabenden Funker. „Nichts!“ gab der zurück und rückte den Kopfhörer zurecht. „Außer der üblichen Statik kann ich keine Geräusche auffangen. 80
Am allerwenigsten Funkzeichen. Und noch weniger welche vom Chef.“ Albert verkrampfte sich die Finger. „Vier Tage sind sie nun schon fort, und keine Nachricht. Es wird ihnen doch wohl nichts zugestoßen sein?“ „Vielleicht fiel die Batterie aus oder der Sender ging zu Bruch, als sie landeten. Und nun sitzen sie fest und können nicht senden. Ich weiß wirklich nicht, was wir machen sollen. Ich habe schon versucht, das Rufzeichen zu senden, erhielt aber keine Antwort.“ Fritz Albert verließ den Raum und begab sich ins Laboratorium. Seine Verlobte Helen West war damit beschäftigt, Analysen der aus dem Schnee gegrabenen Pflanzen vorzunehmen. Bisher waren die Ergebnisse sehr erfreulich gewesen. „Von Lindner keine Nachricht!“ gab Albert bekannt. Helen West sah auf. „Was mag geschehen sein? Ein Unglück?“ „Vielleicht. Aber wie sollen wir sie finden? Die Welt ist jetzt wieder viel größer geworden, nachdem die Zivilisation erlosch. Es ist genauso, als wolltest du einen Verirrten zu Fuß in der Sahara suchen.“ „Und was ist mit dem zweiten Flugzeug?“ „Es ist eine Düsenmaschine. Wir müssen noch einige Wochen warten, bis die Atmosphäre normaler geworden ist. Im Notfall ginge es, aber der Verbrennungsvorgang benötigt zuviel Sauerstoff. Und so viel Flaschen können wir schlecht mitnehmen. Meiner Schätzung nach dürfte die sauerstoffhaltige Atmosphäre innerhalb von vier Wochen wieder gut einen Kilometer dick sein. Das genügt. Aber was mag bis dahin mit Lindner und Scott geschehen sein?“ Die gleiche Frage stellte sich Jane Granger. Sie brach nicht in hysterisches Weinen aus, als man ihr die Tatsachen mitteilte, sondern blieb ganz ruhig. Ihre Liebe zu 81
Scott war ruhig und stet, deshalb aber nicht weniger tief und echt. Mit kalter Nüchternheit rechnete sie sich die Chancen selbst aus. Die Welt war praktisch tot. Falls Scott und Lindner wegen Motorschadens notlanden mußten – wobei sicher der Sender zu Bruch gegangen war – und nun von sich aus keine Verbindung mit ihnen aufnehmen konnten, so war das natürlich ungleich schwieriger und gefährlicher, als wäre das gleiche etwa noch vor einigen Wochen passiert. In damaliger Zeit hatte es sogar Leute gegeben, die aus reiner Sensationslust Notlandungen in unwegsamen Gebieten inszenierten, um von sich reden zu machen. Es würde also nichts anderes übrig bleiben, als sie zu suchen. Aber wo? Die Flugrichtung war eine südliche gewesen, aber das Ziel sollte dem Zufall überlassen werden. Sie konnten irgendwo in Norwegen sitzen, vielleicht waren sie auch ins Meer gestürzt. Oder in Deutschland. Vielleicht auch Frankreich oder England. Aber falls sie noch lebten – und Jane rechnete fest mit dieser Tatsache – war sicher, daß sie ihren Landeplatz auffällig markieren würden. Eine eingehende Suche mußte also schließlich auch von Erfolg gekrönt sein. Und das gab den Ausschlag! „Sie müssen ihn suchen!“ sagte sie zu Albert, als sie beim Essen zusammensaßen. „Wer ist der Pilot?“ „Ein gewisser Mayers, ein Deutscher. Ging nach Amerika und wurde Düsenpilot. Kam dann aber wieder zurück und landete bei Lindner, der einen Piloten benötigte.“ „Und ich fliege mit ihm“, stellte Kubanow sachlich fest, als käme gar kein anderer in Frage. Hauptbeweggrund seines Entschlusses war die Tatsache, daß er sich damit die Zuneigung Dora Lindners zu erwerben erhoffte, die seinem Werben immer noch die gleiche Ablehnung entgegenstellte. Oder war es nur Schüchternheit? Ganz genau wußte Kubanow es noch nicht. Fritz Albert nickte. 82
„Also gut. Aber es wird noch etliche Wochen dauern, bis es so weit ist. Vielleicht hören wir bis dahin etwas vom Chef und Scott.“ Eine Hoffnung, die sich bewahrheiten sollte. * Mit vorgehaltener Maschinenpistole bog Morelli vorsichtig um die Häuserecke. Er hatte in den letzten Tagen sehr schlechte Erfahrungen machen müssen. Plündernde Banden zogen kreuz und quer durch New York, Überlebende der gewaltigsten Katastrophe der Menschheit. Es war Morelli, dem alten Gangster, nicht klar, was das Plündern jetzt bedeuten sollte. Früher, als die einen die Besitzenden waren und die anderen die Habenichtse, erschien ihm der Raub das einzig vernünftige Mittel, radikal einen Wandel in dieser Situation zu schaffen und das Verhältnis ein wenig umzuändern. Aber heute, nach dem endlich geglückten Versuch, die Erde erfolgreich und nachhaltig zu zerstören, blieben ihm die Motive der rigorosen Stadtbewohner ein Rätsel. Es gab Lebensmittel genug, die gewaltigen Lagerhäuser waren voller Konserven und Blechkisten, voller Vorräte in allen möglichen Dingen des nötigsten Lebensbedarfs. Es gab genug davon, eine Kleinstadt für Jahrzehnte hinaus mit allem zu versorgen. Ein Streit um diese Sachen schien Morelli ein Unding. Und doch hatte man ihn mit Schüssen empfangen, als er zusammen mit Renford in ein solches Haus ging und zufällig auf Menschen traf. Er hatte alles Mißtrauen vergessen und war diesen Menschen entgegengeeilt, bereit, sie als Schicksalsgefährten zu bewillkommnen. Die Geschoßgarbe hatte wie eine kalte Dusche gewirkt. Hätte man wenigstens eine Erklärung abgegeben. Aber nichts, nur wortlose Schüsse. Morelli war mit Renford zusammen zurückgekehrt, einem 83
schnellen Tode entronnen. Von jetzt an begab er sich nicht ohne seine alte, treue Maschinenpistole auf die Straße. Und was ihn ins Freie trieb, war nichts anderes als eine gesunde Neugier. Er wollte das Rätsel des seltsamen Verhaltens der Überlebenden lösen. Er mußte wissen, was diese einst so ruhigen Durchschnittsbürger so verbittert hatte, daß sie jeden Fremden erbarmungslos über den Haufen zu schießen beabsichtigten. Die Straße war leer, wie kaum anders zu erwarten. Morelli spähte zu den Fenstern hoch. Die kurze Hitzewelle hatte noch nicht mal vermocht, die Scheiben zu schmelzen. Es gab Millionen von leeren Wohnungen. Aber – Morelli blieb plötzlich ruckartig stehen, denn der Gedanke war ihm bisher noch gar nicht gekommen – was war mit den Menschen in diesen Wohnungen geschehen? Sicher, sie waren erstickt, wenn auch erst vielleicht Minuten nach der Katastrophe. Bis eben der Sauerstoff ausging. Aber die Hitze! Die hatte ihnen ja nichts ausgemacht. Wo waren ihre Leichen? Wo waren die Leichen der Menschen, die sich in abgeschlossenen Wohnungen befunden hatten? Sie mußten noch unversehrt sein! Ein leiser Schauer rieselte über Morellis Rücken. Sie würden verwesen, eine furchtbare Seuche verbreiten. Eine Seuche, die ihm und den letzten Menschen zum endgültigen Verderben gereichen würde. Er schüttelte den unangenehmen Gedanken ab, schritt weiter. Noch war es nicht so weit. Das würde noch Wochen dauern. Bis dahin konnte man sich entweder im Bunker wohnlich eingerichtet haben und abwarten, oder man war aufs freie Land geflüchtet, ein Gedanke, der ihm wesentlich sympathischer war. Oder auf die See … Wieder blieb er stehen. Natürlich! Auf die See! Auf der Stelle machte Morelli kehrt, schritt in Richtung des Bunkers zurück. Die Idee, die ihm gekommen war, war derart 84
bestechend, daß er sofort mit Renford und den anderen darüber sprechen mußte. Aber um einen Beweis seines plötzlichen Verdachtes zu erhalten, wollte er einem der großen Wohnhäuser einen Besuch abstatten. Vor einem Hochhaus blieb er stehen. Die Tür war verschlossen. Eine Garbe aus der Pistole öffnete das Schloß. Sorgfältig lud er die Waffe nach, ehe er begann, die breiten Treppen aufwärts zu steigen. Erst im dritten Stock fand er die nächste verschlossene Tür. Der Schlüssel steckte außen. Morelli nahm die Waffe in die Linke, drehte den Patentschlüssel und drückte die Tür auf. Seine Hand ging automatisch zum Lichtschalter, im letzten Augenblick erst fiel ihm ein, daß es so etwas wie Elektrizität außer mit Hilfe von Batterien nicht mehr gab. Der Flur lag halbdunkel vor ihm. Mehrere Türen führten zu den Räumen. Er schritt weiter, stieß eine der Türen auf. Es mußte wohl der Wohnraum gewesen sein. Der Tod war schnell, aber nicht schnell genug gekommen. Die Bewohner mußten den plötzlichen Sauerstoffmangel gespürt haben. Sie hatten die Fenster aufgerissen, in der Hoffnung, sich retten zu können. Die Hitzewelle war da schon vorüber gewesen. Und beim Öffnen der Fenster war der letzte Rest von Sauerstoff entwichen, der Tod trat auf der Stelle ein. Zwei Männer und eine Frau lagen in seltsamer Verrenkung genau unter dem Fensterbrett. Sie hatten gerade Zeit für einen einzigen Atemzug gehabt, und der hatte genügt. Jetzt erst bemerkte Morelli den widerlichen süßen Geruch. Mit einem plötzlich aufkommenden Übelkeitsgefühl drehte er sich blitzschnell um, raste aus dem Zimmer heraus und eilte durch den Flur in das Treppenhaus. Mit fliegender Hast lief er die Stufen hinab, atmete erst auf, als er die frische Luft erreichte. Schwer ging seine Brust. Die Waffe hing achtlos in der schlaffen Hand. 85
Verdammt! in einer Woche war hier die Hölle los! In trüben Gedanken versunken setzte er seinen Heimweg fort, erreichte bald die bekannten Straßen und Ecken. Dort drüben war das Warenhaus, in dem er die anderen Überlebenden überrascht hatte. Unwillkürlich wurden seine Schritte vorsichtiger, er hielt die Pistole bereit. Ob er hineingehen sollte? Vielleicht fand er nützliche Dinge. Der Eingang stand weit offen. Obwohl die Katastrophe um Mitternacht eingetreten war, mußte man hier beim Verladen gewesen sein. Denn sonst könnte das Portal nicht so weit auf sein. Oder sollte es erst nachträglich geöffnet worden sein? Eine neue Erkenntnis durchzuckte ihn: Da das Verschwinden des Sauerstoffes in New York um Mitternacht eingetreten war, bestand die grausige Wahrscheinlichkeit, daß die Leichen der meisten Menschen der Verwesung anheim fielen. New York würde bald eine einzige Pesthöhle sein. Es gab nur eine Möglichkeit: so schnell wie möglich in ein Land flüchten, wo sich die meisten Menschen im Freien befunden hatten – und durch die Hitzewelle aufgelöst worden waren. Das Innere des Hauses war halbdunkel. Die großen Hallen waren vollgepackt mit Gegenständen aller Art. Es war seltsam anzuschauen, wie in Holzkisten verpackte Dinge in wirrem Haufen aufeinanderlagen, die Kisten waren einfach verschwunden. Anders verhielt es sich mit den Metallbehältern und Blechkisten. Sie standen so da, wie man sie hingestellt hatte. Ein Raum enthielt nur Konserven und Lebensmittel, sorgfältig in Tropenkisten aus Blech verpackt. Und hier war es, wo Morelli zum ersten Mal etwas von der Tätigkeit anderer Überlebender merken konnte. Kisten waren aufgebrochen und ihr Inhalt wahllos über den Boden verstreut worden. Man hatte sicherlich einiges mitgenommen, aber Morelli sah mit einem Stirnrunzeln, daß von einer planvollen Organisation keine Rede sein konnte. Es mußte 86
sich um Plünderer gehandelt haben, die zwar an das Heute, aber nicht mehr an das Morgen dachten. Er schritt auf die Kisten zu, als plötzlich eine kalte Stimme sagte: „Halt! Keinen Schritt weiter! Ich schieße sofort!“ Morelli blieb stehen. Er erstarrte förmlich. Seine Augen suchten den unsichtbaren Gegner. Vielleicht zwischen den Kisten – „Lasse die Pistole fallen! Nun, wird’s bald?“ Morelli überlegte fieberhaft. Die Waffe war seine einzige Rettung, wenn es zu einem Kampf kam. Ob er versuchte, den anderen zu bluffen? „Ich habe nichts Böses vor“, sagte er ruhig und langsam. „Was ist es nur, das die letzten Menschen dieser Welt gegeneinanderhetzt? Ist auf der Erde kein Platz für die paar Überlebenden?“ „Für die Gesunden schon!“ kam die unklare Antwort. Morelli versuchte, hinter den Sinn der Worte zu kommen. „Für die Gesunden –? Was soll das heißen?“ Ein ungeduldiges Schnauben war die Antwort. Dann: „Du weißt genau, was ich meine. Der größte Teil der Überlebenden ist von einer rätselhaften Krankheit befallen, wahrscheinlich eine Folge der Verwesungserscheinungen in der Stadt. Die Hitze konnte die Leichen nicht alle beseitigen. Derjenige, der angesteckt wird, stirbt innerhalb von drei Tagen einen qualvollen Tod. Und darauf verzichten wir. Jeder Fremde kann bereits krank sein. Und nun runter mit der Waffe, schnell!“ „Augenblick!“ Morelli hatte erleichtert aufgeatmet. „Ich bin garantiert nicht krank. Ich habe alles in einem sicheren Atombunker überlebt und kam noch mit keiner Leiche in Berührung.“ „Haben wir auch, mein Bester. Außerdem genügt nicht etwa 87
nur eine Berührung mit den Toten, der bloße Anblick aus nächster Nähe ist schon genug, die Viren aufzuschnappen.“ Morelli wurde blaß, aber Gott sei Dank konnte der Unbekannte das nicht bemerken. „Ich habe noch keinen Toten bisher gesehen“, versicherte Morelli verzweifelt. „Bestimmt nicht!“ „Wer sind Sie?“ schien sich der Unsichtbare zufrieden zu geben. „Ich bin – ein guter Freund von Renford, dem Millionär. Wir haben uns in seinen Bunker retten können.“ „Der Rüstungsmann?“ „Ja!“ Eine Sekunde Schweigen. Dann: „Das Schwein! Er ist mitschuldig an der Katastrophe. Er soll sich nur nicht hier sehen lassen. Und du bist sein Freund? Man sollte dich über den Haufen knallen!“ Morelli hatte eine flüchtige Bewegung bemerken können. Dort, hinter der großen Kiste aus Blech hatte sich der Fremde versteckt. Aber wie sollte er an ihn herankommen, ohne seine Absicht zu früh zu verraten? . „Ich kenne ihn erst seit kurzem. Er hat ein vorzügliches Waffenlager in seinem Bunker. Wir würden vielleicht bereit sein, solche gegen Lebensmittel zu vertauschen, von denen ihr genug habt. Habt ihr auch genug Waffen?“ Der andere brummte etwas, dann sagte er deutlicher: „Darüber läßt sich reden.“ „Dann kommen Sie raus! Mit einem Unsichtbaren läßt sich schlecht verhandeln.“ „Legen Sie die Waffe weg!“ kam die prompte Aufforderung, immerhin schon etwas höflicher und ohne das vertrauliche „du“. „Ich hätte Sie ja schließlich schon längst töten können.“ Morelli trat einen Schritt vor und bückte sich. Ehe er jedoch die Pistole los ließ, schnellte er mit einem wahren Tigersatz 88
hoch, kam um die Ecke der Kiste – und stand einem älteren Manne gegenüber, der vor Überraschung einen schrillen Schrei ausstieß. Die Eisenstange, die er in der Hand hielt, fiel polternd zu Boden. Morelli grinste breit, trat dann zurück. „So ein fauler Trick, das hätten Sie schlauer anfangen sollen.“ „Wie konnten Sie wissen, daß ich keine Waffe habe?“ wunderte sich der Alte. Seine Hände zitterten immer noch heftig. „Sie hätten sonst nicht so eine furchtbare Angst vor mir gehabt. Aber warum haben Sie denn keine Waffe? Ihre Genossen haben doch welche. Sie haben mich noch vorgestern beschossen, als ich hier war und ihnen begegnete.“ „Wir haben nur zwei Maschinenpistolen, mehr nicht. Ich sollte hier nur aufpassen, ob jemand käme. Eine Waffe gab man mir nicht.“ „Feine Freunde“, murmelte Morelli und dachte flüchtig daran, daß er der einzige der Renford-Gemeinde war, der eine Waffe besaß. „Wo sind die anderen?“ „Im nächsten Häuserblock befindet sich ein Bunker. Dort wohnen wir. Wir wollen da bleiben, bis die Seuche vorbei ist. Nicht wahr, Sie haben mich doch nicht belogen? Sie haben noch keinen Toten berührt?“ Morelli schüttelte den Kopf. „Das nicht! Aber angesehen habe ich sie mir doch.“ Der alte Mann wich einen Schritt zurück, taumelte. „Das haben Sie …? Dann sind wir beide verloren. Die blauen Stellen auf der Haut werden sich schon morgen zeigen – und sie werden mich erschießen. Zum Wohle der Menschheit!“ fügte er bitter hinzu. „Sie sind ein gemeiner Schuft!“ Morelli konnte die kalte Faust, die nach seinem Herzen griff, nicht abwehren. Er sah schon die blauen Flecken in seinem Gesicht. 89
„Ich konnte es ja nicht wissen. Ahnungslos ging ich in ein Haus – und fand sie. Hätten Ihre Freunde mich vor zwei Tagen aufgeklärt, so wäre ich vorsichtiger gewesen. – Was ist das für ein Geräusch?“ Morelli war zusammengezuckt. Irgendwo hatte eine Tür geschlagen. „Sie kommen zurück, neue Vorräte für den Bunker zu holen.“ „Wieviel sind es?“ „Sechs Mann. Ich fürchte, man wird Sie umbringen. Wir dulden keine Fremden! Jeder kann die Seuche haben. Sie haben selbst erlebt, daß wir noch zu unvorsichtig waren.“ Die Schritte kamen näher, und dann leuchteten Taschenlampen auf. Ihr Schein fiel auf den Alten und Morelli, der seine Waffe schußbereit hielt. Er war entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Die Gruppe blieb stehen. Der Anführer, dessen Gesicht im Dunkel verborgen war, machte eine überraschte Gebärde. „Ein Fremder!“ stellte er fest. „Los, umlegen!“ „Halt! Hört mich erst an!“ rief Morelli laut. Er wollte unnötiges Blutvergießen vermeiden. „Ich bin nicht krank!“ „Das Leben der letzten Menschen ist wertvoller, als das eines vielleicht schon Todgeweihten, der uns alle umbringen könnte. Opa muß leider nun auch sterben. Zurück, Leute, ehe man uns ansteckt. Und dann – Feuer!“ Morelli warf sich mit einem Sprung in Deckung. Noch während er fiel, begann seine Waffe zu rattern. Sie spie Tod und Verderben – und Morelli war Zeit seines Lebens ein vorzüglicher Schütze gewesen, der einen ganzen Schwarm Tontauben aus der Luft holte. Der Anführer war tot, ehe er seine Pistole auch nur erheben konnte. Viel besser erging es den restlichen auch nicht. Sie kamen 90
noch nicht mal dazu, auch nur einen einzigen Schuß abzugeben. Der einzige, der ohne jede Verletzung das kurze Duell überstand, war Opa. Zitternd hatte er mitten im Kugelregen gestanden und sich nicht geregt. Wie ein Wunder hatte ihn kein Geschoß getroffen. Morelli stand auf und hob die beiden Maschinenpistolen auf, die wenige Meter von der reichlich kampfunfähigen Truppe lagen. Dann wandte er sich an den Alten. „Ich habe einige von ihnen am Leben gelassen. Damit Sie nicht so allein sind, wenn die blauen Flecken kommen. Und denken Sie nur nicht, es sei ein Zufall gewesen. Ich schieße prächtig. Vielleicht haben Sie schon mal von Morelli gehört. Vielen Dank auch für die Bereicherung unseres Waffenarsenals. Alles Gute dann!“ Morelli nahm die Waffen unter seinen Arm und schritt einfach davon. Hinter ihm verlor sich das erstaunte Aufatmen des Alten und das leise Wimmern der Verwundeten im Halbdunkel des Lagerraumes. Die Taschenlampen waren erloschen. * Lindner hatte vollste Bewegungsfreiheit, von der er aber kaum Gebrauch machte. Scott dagegen wurde strenger bewacht, da man ihn zum Steuern des Flugzeuges benötigte. Und heute sollte der erste Flug stattfinden. Lester, der Anführer der Londoner Überlebendengruppe, wollte es so. Lange genug hatte er gezögert, sich dem leichten Sportmaschinchen anzuvertrauen, aber seltsamerweise hatte Scott ihn zu überreden versucht. Seit dem Tage ihrer Gefangennahme hatten weder Scott noch Lindner Gelegenheit gehabt, die Kabine der Maschine wieder zu betreten. Und beide wußten sie, daß irgendwo in einem der kleinen Werkzeugkästchen eine Leuchtpistole war. Auch Leuchtpatronen. 91
An diesem vierten Tage also begaben sich Lester und Scott zum ehemaligen Hydepark, wo die Maschine noch genauso stand, wie die beiden Männer sie verlassen hatten. Sie bot ein merkwürdiges Bild von Verlassenheit, wie sie zwischen den fast unzerstörten Häusern der Großstadt stand, inmitten eines schwärzlich gefärbten Ackers fast ohne jegliche Spur von Vegetation. Lester hatte sich mit einer kürzeren Eisenstange bewaffnet, die er im Gürtel trug, stets griffbereit. Er schien Scott nicht zu trauen. „Wir machen einen Flug zur Küste. Vielleicht finden wir Treibstofftanks und Autos, vielleicht sogar ein Schiff. Vielleicht wäre das sogar die beste Lösung. Die tote Insel England wird mir allmählich unheimlich. Vielleicht gibt es auf dem Kontinent mehr Überlebende.“ „Nicht mehr als hier, Lester. Die Küste, das Wasser bot den besten Schutz. Hier erneuerte sich zuerst die Atmosphäre, hier hatte jedes Lebewesen Schutz vor der Hitzewelle. Wenn es nur ein Atemgerät besaß.“ „Trotzdem will ich zur Küste!“ beharrte Lester auf seinem Wunsch. „Ich bin die verdammte Stadt leid!“ Der Motor sprang sofort an. Erst lief er ein wenig unregelmäßig, dann aber tuckerte er seinen regelmäßigen Rhythmus dahin, das sich in surrendes Summen verwandelte, als Scott ein wenig Gas gab. „Wir haben nicht viel Brennstoff“, warnte Scott. „Also möglichst wenig planlos herumfliegen. Im Hafen finden wir sicher Tanks.“ „Los gehts. Aber mache keine Dummheiten, mein Lieber!“ warnte Lester grimmig. Scott bemerkte, daß er das Eisen-Stück jetzt in der Hand hielt. „Bei der geringsten verdächtigen Bewegung schlage ich dir den Schädel ein.“ Die Maschine rollte, sie hob ab und stieg in die Luft. Bald lag die Stadt unter ihr, glitt schnell nach hinten fort. 92
„Und wie stellst du dir dann die Landung vor?“ erkundigte sich Scott endlich. Er amüsierte sich über das Zusammenzucken seines Passagiers. „Dies ist kein ferngesteuertes Flugzeug.“ „Dann gehen wir eben beide drauf!“ zischte Lester wütend. „Ja, wo doch die Erde so übervölkert ist“, gab Scott ihm recht. Seine rechte Hand tastete sich zum Sender vor, stellte ihn ein. Die Röhren begannen zu summen, erwärmten sich. In wenigen Minuten würde er Verbindung mit der Station haben können, konnte Hilfe anfordern. Lester betrachtete mißtrauisch die Bewegungen Scotts. „Was hast du vor, Scott? Das ist doch ein Radio?“ „Natürlich ist das ein Radio. Wollen doch mal feststellen, ob noch jemand irgendwo in der Welt sendet.“ „Kannst du auch senden? Das Flugzeug hat doch sicher eine Funkanlage?“ Scott wunderte sich, daß der andere etwas davon verstand. Aber schließlich wußte ja jedes Kind, was ein Sender und Empfänger ist. „Im Notfall kann ich auch senden“, sagte er und drehte an den Knöpfen. Jetzt hatte er die Rufwelle genau eingestellt und den Hebel auf „Senden“ umgelegt. Wenn jetzt die Station besetzt war, dort im unterirdischen Laboratorium, mußte man genau das hören, was er jetzt sprach … „Tut mir leid, Lester, bis jetzt ist nichts zu hören. Scheint doch alles tot zu sein. Wenn Sie mich nicht gefangenhielten und mir freie Hand ließen, könnte ich vielleicht mit jemand Verbindung aufnehmen, der auch nur darauf wartet. In London gibt es keinen Sender mehr, aber vielleicht doch irgendwo anders.“ „Was soll das?“ erkundigte sich Lester. „Wackele lieber nicht so mit der Maschine, sonst sacken wir ab. Ich habe keine Lust, mir den Hals zu brechen.“ „Keine Sorge, so schnell stürzen wir nicht ab. Dort ist der 93
Hafen, sehen Sie? Ein kleines Fischerdorf, wie mir scheint. Wollen wir landen?“ „Wozu? Dort finden wir kaum, was wir suchen. Ich will ein Schiff haben. Ein richtiges Schiff, mit dem ich um die Welt fahren kann, den ganzen Kram vergessen kann. Früher konnte ich es nicht, aber heute –“ Scott war tiefer gegangen. „Warum eigentlich halten Sie uns gefangen?“ fragte er leichthin. „Welchen Zweck verfolgen Sie damit? Ist es nur das Flugzeug?“ „Nur! Sobald ich das gefunden habe, was ich suche, kannst du und dein Freund abhauen. Wir sind ja gar nicht so …“ Scott ließ die Maschine dicht über die kleinen Landhäuschen dahinstreichen, die dem eigentlichen Hafen vorgelagert waren. Enge Straßen und Gäßchen verrieten das bereits hohe Alter dieses kleinen Fischerhafens, der absolut nicht danach aussah, als berge er große Reichtümer an Luxusjachten und Treibstoffvorräten. Aber Lester schien sich hier auszukennen. Er winkte aufgeregt mit den Armen. „Dort drüben – das freie Feld vor der Mole! Siehst du es? Dort kannst du landen! Ist der Platz groß genug?“ Scott nickte zur Antwort und ließ die Maschine tiefer gehen. Das Funkgerät war auf „Senden“ eingestellt. Man konnte ihn anpeilen. * Jane Granger schrak hoch, als der Funker nach kurzem Anklopfen in ihr Zimmer stürzte. Sein Gesicht glühte vor Erregung. „Miß – es ist Nachricht da! Scott hat gesendet!“ Jane sprang auf, ihr Gesicht wurde von einer blutroten Welle überflutet, nachdem es zuerst weiß geworden war. Ihre Augen 94
leuchteten auf. Sie streckte ihre Arme aus, legte die Hände auf die Schultern des Mannes. „Ist das wahr? Sie leben?“ Flüchtig wunderte sich der Funker, daß sie „sie“ sagte. Sie dachte also gleichzeitig an den Professor, obwohl Scott ihr Verlobter war. Mit diesem kleinen Wörtchen: „sie leben“ offenbarte sich die ganze Weltanschauung dieser Menschen, die den Untergang überlebten. Nicht der Einzelne, nur das Ganze war von Bedeutung. „Sie leben!“ bestätigte der Funker. „Aber man hält sie gefangen. Eine Gruppe von Überlebenden aus London. Ich weiß nicht den genauen Standort des Flugzeuges, aber Scott hat den Sender eingeschaltet und er läßt sich anpeilen. Von hier aus sieht es aus, als befände sich das Flugzeug in der Londoner Gegend. Es wird Zeit, daß Mayers startet, denn ewig hält die Batterie das nicht aus bei Scott. Er kann nicht offen funken, da er offenbar niemals unbeobachtet ist.“ Jane Granger nahm die Hände von den Schultern des Mannes, ihr Gesicht hatte sich überschattet. „Die letzten Überlebenden dieser grandiosen Rasse Mensch streiten sich!“ sagte sie bitter. „Genauso wie vorher. Wann werden sie endlich einmal etwas dazulernen? Nie! Selbst der Untergang der Welt hat ihre Intelligenz nicht wecken können! Nein, das ist falsch! Intelligent sind sie schon, diese mit Verstand ausgerüsteten Tiere. Aber ihnen fehlt das Gefühl, die Einsicht. Ihnen fehlt die Seele des verantwortungsbewußten Lebewesens. Manchmal schäme ich mich, ein Mensch zu sein! Pfui!“ Sie schritt an dem verdutzten Mann vorüber und begab sich zu den anderen, die im Aufenthaltsraum saßen. Es war gerade Mittagspause. „Man kann aber auch alles übertreiben“, murmelte der Funker und ging zurück in seine Kabine. Man hätte nicht sagen können, 95
was er damit meinte: Janes Ausbruch oder die Haltung des Menschen. Fritz Albert wußte schon, was geschehen war. Er hatte sich sofort mit Mayers in Verbindung gesetzt, der keinerlei Bedenken gegen einen Start äußerte. Morgen konnte es schon losgehen. Kubanow freute sich. „Ich halte dieses untätige Herumsitzen nicht mehr aus“, beschwerte er sich. „Draußen ging die Welt unter und wir sitzen hier, als sei nichts geschehen. Ich möchte wissen, wieviel Menschen alles überstanden haben, was alles zerstört wurde. Ich will wissen, ob unser Leben überhaupt noch einen Sinn hat.“ „Es hat so und so einen Sinn!“ sagte Jane Granger wütend. „Je weniger die Katastrophe überstanden haben, je mehr Sinn hat unser Leben!“ Der Russe starrte sie einen Augenblick an, ehe er begriff. „Das stimmt! Nun gut, dann will ich eben wissen, welchen Grad von Sinn unser Dasein erreicht hat. Wenn ich an die vergangenen Jahrhunderte denke, dann wünsche ich mir den höchsten Grad überhaupt!“ Minuten später meldete Mayers die Startbereitschaft der Maschine. Er hatte sie auf Anraten von Albert noch einmal überholt und überprüft. „Wir starten dann morgen früh!“ endete er in einer Feststellung. Die Nacht verging wie jede andere. Ein Unterschied war kaum zu bemerken, denn nur das Erlöschen des Lichtes kündete davon, daß auf der Oberfläche der Tag versunken war. Bald würden sie wieder dort oben leben können. Noch aber befürchtete man unerwartete Überfälle technisierter Banden von Überlebenden. Am anderen Morgen strahlte die Sonne zwar über London, aber nicht über Tanaelf. Hier herrschte dämmerige Finsternis, die den Tag nur ahnen ließ. Ein Stück der schneebedeckten 96
Tundra schob sich plötzlich zur Seite, gab eine viereckige Öffnung frei. Nach einem summenden Geräusch wurden die aufsteigenden Umrisse eines modernen Düsenflugzeuges sichtbar, das gleich einem unheimlichen Fabelwesen dem Schoß der Erde entstieg. Die Betonplatte schloß schließlich genau mit der eisigen Schneefläche ab. Der Bug der Maschine zeigte gen Westen. In der druckfesten Glaskabine saßen Mayers und Kubanow, versuchten, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. „Seid nur vorsichtig!“ kam die Stimme Alberts aus ihren Kopfhörern. „Und denkt daran, was ich euch sagte: Versucht zu bluffen! Rohe Gewalt ohne Überlegung kann Lindners Lage nur verschlimmern. Vielleicht lassen sie mit sich verhandeln. Wir wissen ja nicht, welche Motive dort in London eine Rolle spielen, aber wenn es purer Haß gegen die Wissenschaftler oder Politiker sein sollte, so ist Vorsicht geboten. Dann sind sie mißtrauisch gegen alles, was damit zusammenhängt Schon unsere Maschine kann ihnen verraten, wer wir in Wirklichkeit sind. Die Sendung, die Scott ausstrahlen läßt, verrät uns allerhand. Er redet stets so, daß wir uns den Rest zusammenreimen können.“ Mayers zündete die Düsen. Das aufkommende Summen verhinderte jeden Funkverkehr. Das Summen wurde lauter und schriller, füllte die ganze Kabine aus und schien das Trommelfell durchstoßen zu wollen. Plötzlich glitt die Maschine vor, verließ die Betonplatte und rutschte mit schwer rollenden Rädern über die glasharte Schneefläche. Immer schneller und rasender wurde die Fahrt, immer schriller das fast unerträgliche Summen des Antriebsaggregates. Kubanow versuchte dem Piloten etwas zuzurufen, aber er hörte seine eigene Stimme nicht mehr. Der Lärm war unbeschreiblich. Dann hob sich die Maschine vom Boden ab, strebte in steiler Kurve dem klaren Himmel entgegen, zog noch eine Schleife und verschwand endlich in südwestlicher Richtung. 97
Kubanow war froh, wieder die Stimme von Albert hören zu können. „Seid ihr gut abgekommen?“ fragte der Deutsche. „Ziemlich! Mir ist ein bißchen schlecht geworden, aber sonst keine Schäden. Unter uns die Berge, man kann sie kaum erkennen. Aber ich meine, es würde schon heller.“ „Wenn ihr hohe Geschwindigkeiten benützt, habt ihr in einer Stunde Tag! Wie schnell fliegt Mayers?“ Kubanow versuchte, einen Blick auf die Instrumente zu werfen. „Soweit ich erkennen kann, durchbrechen wir gleich die Schallmauer. Wir haben genau 1100 km/st drauf! Tolle Sache!“ „Bleibt unter Schallgeschwindigkeit“, warnte Albert. „Man kann nie wissen, wie sich das jetzt auswirkt. Ja, wir wissen noch nicht mal, ob die Schallgeschwindigkeit noch die gleiche ist wie vorher. Ein wenig hat sich die Zusammensetzung der Atmosphäre schon geändert.“ Kubanow überdachte das soeben Gehörte. Es leuchtete ihm irgendwie ein. Im Wasser setzte sich der Schall ja sogar dreimal so schnell fort wie in der Luft. Warum also auch nicht jetzt … „Küste in Sicht!“ sagte Mayers im Ton eines Fremdenführers. Kubanow blickte aus dem Fenster und sah schräg unter sich das blitzende Funkeln einer unübersehbaren Fläche. Das Meer! „Meer in Sicht!“ wiederholte er, damit Albert es auch nicht versäumte. „Wir haben die Küste schon hinter uns gelassen. Richtung West.“ „Geht südlicher!“ kam es zurück. Dann: „Wir schalten jetzt ab! Viel Glück – und bringt die beiden Freunde heil zurück.“ Kubanow nickte, gab aber keine Antwort mehr. Er nahm den Kopfhörer ab und legte ihn griffbereit auf den kleinen Tisch. 98
Mayers behielt ihn auf, verschob ihn jedoch ein wenig. Die Ohren waren frei. „Wie gefällt es Ihnen, Kubanow?“ erkundigte er sich freundlich. „Gut, sehr gut!“ sagte der Russe, als sei er nichts anderes gewohnt „Könnte ein bißchen schneller sein, die Kiste.“ Mayers verschlug es den Atem. „Schneller? Ist sie denn nicht schnell genug?“ „Schon, es geht. Ich bin aber schon einmal …“ „Ich auch, lieber Kubanow. Selbst jetzt könnten wir dreimal so schnell fliegen, wenn wir das wollten, aber es würde zuviel noch unbekannte Gefahren heranlocken. Wir wissen noch nicht, wie sich die Veränderung der irdischen Atmosphäre auswirken wird. Der Sauerstoff ist zwar wieder da, wenigstens in den unteren Luftschichten, aber hier oben sieht es doch ein wenig anders aus. Wir können die Versuche auf einen späteren Termin verschieben, jetzt ist mir das zu riskant. Ich weiß nämlich nicht, wo der nächste Rettungsdienst ist.“ Kubanow grinste. Die Welt war zugrunde gegangen, und Mayers sprach vom nächsten Rettungsdienst für schiffbrüchige Piloten. Nerven hatte der Kerl vielleicht! Es wurde zusehends heller und bald tauchte links hinter ihnen die Sonne aus dem Meer. Gleichzeitig erblickte Kubanow Land voraus. Es waren kleine, felsige Inseln, denen erst zögernd das Festland folgte. England war erreicht. In rasendem Flug ging es über die schottischen Hochflächen und Gebirge dahin, dann über die flacheren Gebiete des eigentlichen England. Als Mayers die Geschwindigkeit drosselte, wußte Kubanow, daß London nicht mehr fern war. Die Peilgeräte wurden in Tätigkeit gesetzt, die Antenne schwang herum und zeigte die Richtung an, in der sich Scotts Sender befand. Sie stimmte mit ihrer Flugrichtung überein. 99
Aber Scott mußte sich auf der Erde befinden. Kein Ton kam aus dem Kopfhörer. Nur das leise, gleichmäßige Summen des eingeschalteten Senders. Und dann glitten sie dicht über die Häuser von London dahin, suchten die Stelle, an der Scotts Maschine stehen mußte. Unaufhörlich fingen sie die Zeichen auf, richteten ihren Flug danach. Die Intensivität hatte zugenommen. Jeden Augenblick konnte das Ziel erreicht sein. Und genau in der Sekunde geschah das Unfaßbare … * Lindner und Scott standen neben dem Flugzeug, waren damit beschäftigt, die Startfläche ein wenig zu ebnen. Lester und einige seiner Leute standen dabei und machten mehr oder weniger intelligente Bemerkungen. „Ein bißchen schneller, ehe die Polizei kommt“, grunzte der eine, ein ehemaliger damals rechtschaffener Schuster. „Wir wollen möglichst bald auf unserer Luxusjacht sein, um dieses ungastliche Land zu verlassen. Woanders mag es auch nicht besser sein, aber ich reise gerne. Habe mein ganzes Leben lang dazu keine Gelegenheit gehabt.“ Scott sah kaum hoch. Er kannte diese Leute jetzt genau. Es waren meist kleine Geschäftsleute und Handwerker, ehrliche Menschen bis zur Katastrophe, Banditen und Räuber danach. Das Ereignis hatte sie verwandelt, ihren Charakter völlig verdorben. Die plötzliche Freiheit war ihnen nicht bekommen. Denn eine Welt ohne Menschen war frei, wahrhaftig und vollkommen frei. Aber welch eine Freiheit war das … In seiner Tasche steckte die Leuchtpistole. Nur einen einzigen Schuß konnte er damit abfeuern, und er gedachte, den Augenblick gut zu wählen. Vielleicht konnte er bei Gelegenheit Lester damit unschädlich machen, wenn Lindner in der Nähe 100
war. Im Flugzeug war genug Treibstoff, sie bis zur Station zurückzubringen. Im Hafen hatten sie einen ganzen unterirdischen Behälter gefunden, der kaum halb leer gewesen war. Lester stand dicht neben dem ehemaligen Schuster. „Wir werden uns einzeln zum Hafen bringen lassen“, sagte er und fügte hinzu: „Ladies first, natürlich!“ Scott kannte die „Ladies“. Vor dem Untergang der Welt sicherlich brave Ehegattinnen, hatte der Umstand, daß sie plötzlich die letzten Überlebenden eines Geschlechts waren, ihren Verstand ein wenig getrübt. Kaum hatten sie den ersten Schock überwunden, als sich auch schon wieder ihr Lebenswille regte. Wahllos schlossen sie sich den Männern an, bereit, mit ihnen ein neues Leben in einer leeren Welt zu beginnen. Lindner wälzte einen schweren Stein beiseite. Sein Gesicht war hager und verbittert. Aber der Gedanke an eine Rettung hatte ihn nicht verlassen. Sicher, Lester hatte gedroht, das Flugzeug zu vernichten, sobald sie England mit dem Schiff verlassen würden, das sie im Hafen gefunden hatten, aber trotzdem hoffte Lindner auf Hilfe. Man würde das Düsenflugzeug ausschicken, und der Sender Scotts war immer noch in Betrieb, wenn auch die Batterie schwach zu werden begann. Scott half Lindner, der zu schwach schien, den Stein zu bewegen. Ihre Hände berührten sich, ihre Blicke trafen sich. „Ich kann nicht mehr“, murmelte Lindner. Sein Schwächezustand entsprang hauptsächlich der grenzenlosen Enttäuschung, in den letzten Überlebenden des Menschengeschlechtes, die ihre Rettung nur seinem Warnruf über alle Sender der Welt verdankten, Unwürdige finden zu müssen. „Ich kann einfach nicht mehr!“ Scott richtete sich auf. „Können Ihre Leute denn nicht wenigstens helfen?“ Er sah Lester fragend an. „Wir schaffen es nicht allein. Und schließlich ist es ja auch euer Vorteil, wenn die Startbahn frei von 101
Hindernissen ist. Ich kann nicht dreißig Mal hier landen und starten, ohne Bruch zu machen, und ihr wollt ja alle zum Hafen kommen.“ Lester grinste zurück. „Macht schon voran. Wir wollen noch heute mit der Übersiedlung beginnen. Bis zum Hafen sind es fast hundert Kilometer.“ Scott zuckte mit den Schultern. Was würde Jane sagen, wenn sie ihn so sähe? Sklavenarbeiter – einige Tage nach dem Ende der Welt. Gab es denn schon wieder eine Zivilisation …? Zufällig vernahm sein Ohr das Geräusch zuerst. Ehe die anderen begriffen hatten, registrierte sein Gehirn: Düsenjäger! Seine Augen gingen zum Himmel hoch, erwarteten den heranjagenden Gegenstand, der nur von der Station kommen konnte. Jetzt hörten es auch die übrigen. Fragend blickten sie sich an, ein wenig ratlos fast entsetzt. In einer toten Welt flößt jedes Lebewesen Schrecken und Furcht ein. Und gar ein Düsenflugzeug! Dicht über die Dächer kam es heran. Die Geschwindigkeit war stark gedrosselt, hielt es kaum. Heulend jagte die Maschine auf sie zu, als würde sie von einer unsichtbaren Hand geleitet. Scott überlegte keine Sekunde. Seine Hand glitt in die Tasche, zog die Leuchtpistole hervor. Die Mündung zeigte gegen das herannahende Flugzeug, als er den Abzug durchzog. Ehe die Männer um Lester überhaupt begreifen konnten, was geschah, zischte die Leuchtkugel aus dem Lauf, versprühte blutroten Schein in greller Helligkeit. Die unbekannte Maschine schien direkt hineinzufliegen. Sie konnten es nicht übersehen. Lester vergaß das Gespenst am Himmel. Er drehte sich um, trat drohend auf Scott zu. „Eine Leuchtpistole? Wo hast du sie her? Warum hast du geschossen?“ 102
Scott hielt die Mündung wie zufällig auf Lesters Bauch. „Gefunden. Abgeschossen habe ich sie deshalb, um die Leute dort oben auf die wieder erwachte Menschheit hinzuweisen. Sie sollen nicht den Fortschritt versäumen, der sich hier anbahnt.“ Lester überhörte den Spott, vielleicht bemerkte er ihn auch nicht. Er wollte näher kommen, sah aber die große Mündung der Pistole. Und so eine schwarze Mündung sieht verdammt ungemütlich aus, auch wenn man ahnt, daß vielleicht doch keine Kugel mehr in der Waffe ist. Vielleicht ist aber doch noch eine darin. „Keinen Schritt näher!“ warnte Scott kaltblütig. „Sonst jage ich dir eine Leuchtkugel in den Bauch und du siehst aus wie eine Fackel. Ihr anderen auch! Bleibt genau da, wo ihr jetzt seid. Ich denke, das Düsenflugzeug kann hier landen. Wir haben ja so schön aufgeräumt.“ Lester rieb sich an der Nase herum. Er dachte also scharf nach. „Was werdet ihr tun, wenn sie landen? Sie können euch ja gar nicht mitnehmen. Das Ding ist zu klein. Bleibt besser bei uns.“ „Um Dienstmädchen für euch zu spielen? Nein, lieber nicht! Außerdem sind das keine Fremden dort oben in der Maschine, sondern gute Freunde von uns. Sie werden sich freuen, eure Bekanntschaft zu machen.“ „Wer seid ihr?“ fiel es Lester ein, sich endlich einmal danach ernsthaft zu erkundigen.. „Vielleicht …“ „Dies hier ist Professor Lindner, der die Welt immer und immer wieder warnte, mit den Atombombenversuchen Schluß zu machen. Ich bin sein Assistent Scott, falls euch das etwas sagt.“ Einer im Hintergrund drängte sich vor. „Ich habe den Radioruf gehört, darum ging ich auch in den Bunker, eine halbe Stunde vor der Katastrophe. Warum haben Sie denn nie etwas davon gesagt, Sir?“ 103
Lindner lächelte schwach, als er das „Sir“ vernahm. Ganz genau vermochte er nicht zu erraten, ob das die Folge der plötzlichen Verstärkung oder der Entlarvung seiner wahren Persönlichkeit war. Nur Lester schien ein wenig beeindruckt. „Also auch einer von den Brüdern, die uns in die Luft gejagt haben! Wenn Sie auch im letzten Augenblick eine Warnung herausgaben, so kam diese zu spät. Sie trifft die Schuld genauso wie die übrigen. Nichts vermag Sie zu entschuldigen, Lindner. Und nun …“ Scott blieb nichts anderes übrig. Er schleuderte die Waffe mit aller Gewalt mitten hinein in das gemeine Gesicht Lesters, als dieser nach seinem Arm greifen wollte. Der schwere Kolben schmetterte genau auf die Nase, ließ sie in Sekundenschnelle zu einem unförmigen Etwas anschwellen. Blut schoß daraus hervor. Das Summen in der Luft verstärkte sich, in großem Bogen war die Düsenmaschine zurückgekehrt, setzte zur Landung an. Ein gefährliches Wagnis auf einem so kurzen und unebenen Landeplatz. Aber Mayers hatte während seiner Ausbildungszeit nicht geschlafen, sondern allerhand gelernt. Wenige Meter vor der unschlüssigen Gruppe kam die Maschine zum Stillstand. Die Kabinentür öffnete sich und Wassil Kubanow sprang auf den Erdboden hinab. In seiner Hand lag eine gefährliche Schnellfeuerwaffe. Er hielt sie so, als handle es sich um einen Spazierstock, einen Gegenstand des alltäglichen Gebrauchs, den man nicht missen konnte. „Sind das die Leute, die euch gefangen nahmen?“ erkundigte er sich und zeigte mit der Mündung auf Lester, der Scott am nächsten stand. Außerdem mochte Wassil die prächtig verfärbte Nase aufgefallen sein. „Mann, Wassil! Wie kommen Sie nach hier!“ entgegnete Scott völlig überflüssig, denn er war ja selbst die Ursache dafür. 104
„Das ging schnell! Wie geht es Jane? – Ja, das sind die Leute. Aber wenn sie auch gefährlich aussehen, sie sind es nicht. Ein bißchen durcheinander von dem nicht alltäglichen Ereignis des Weltunterganges.“ Kubanow grinste. „Ihren Humor scheinen Sie nicht verloren zu haben. Hallo, Professor! Wie geht es Ihnen? Kamen wir nicht gerade zur rechten Zeit?“ Lindner nickte. Er zeigte auf Lester, der mit geschwollener Nase und blutunterlaufenen Augen der Unterhaltung gefolgt war. „Das ist der Anführer der Bande. Bis jetzt anscheinend die einzigen Überlebenden von London. Einige Gruppen existieren noch im Süden, hatten bisher aber noch keine Verbindung mit ihnen aufgenommen. Wir wollten die Rollbahn glätten, um sie zum Hafen zu transportieren, einen nach dem anderen. Sie haben dort ein Schiff gefunden, mit dem sie England verlassen sollen.“ „Ah! Pirat spielen?“ wandte sich Kubanow an Lester und stieß ihn freundschaftlich in die Rippen. „Schwimmen genug leere Metallkästen auf den Ozeanen herum. Keine dumme Idee!“ Lester gab keine Antwort. Er knurrte nur etwas vor sich hin, das jedoch unverständlich blieb. Kubanow wandte sich an Scott. „Was machen wir mit ihnen? Sollen wir sie umlegen?“ Scott wehrte entsetzt ab. „Wozu denn? Sie haben uns verhältnismäßig gut behandelt, wenn wir auch für sie arbeiten mußten. Sollen sie doch mit ihrem Kahn glücklich werden. Nur fürchte ich, jetzt müssen sie die 100 km zu Fuß laufen, falls sie kein Fahrzeug auftreiben, daß zufällig keinen Sprit im Tank hat. Benzin finden sie vielleicht auf dem Flugplatz, etliche Kilometer südlich von hier. Nein, lassen wir sie laufen. Wichtiger ist: Wie kommen wir zur Station?“ 105
„Der Professor fliegt mit uns. Er sieht so aus, als habe er Erholung bitter nötig. Sie kommen mit der vorsintflutlichen Benzinkutsche nach. Abgemacht?“ Scott schüttelte den Kopf. „Ein Tempo haben Sie, Wassil! Aber gut, machen wir es so. Ich habe Sprit genug. Aber darf ich darum bitten, daß Sie die Leutchen hier solange unterhalten, bis ich glücklich in der Luft bin? Sie könnten sonst auf die Idee kommen, mich vor Dankbarkeit festzuhalten. Und die Knarre könnten Sie mir auch leihen, bis wir uns wiedersehen.“ Mayers streckte den Kopf aus dem Schlitz, der Kabinentür von Wandung trennte. „Wir bringen den Chef nach Hause, und dann kommen wir Ihnen entgegen. Lassen Sie nur den Sender eingeschaltet, das genügt. Wir haben jetzt schon Übung darin. Vielleicht können Sie sich auch ein wenig mit Ihrer Braut unterhalten. Wie ich die kenne, sitzt sie jetzt dem Funker sowieso auf der Pelle, um alles zu erfahren.“ Der Kopf von Mayers verschwand wieder. Scott nahm die Maschinenpistole dem verständnisvoll grinsenden Kubanow aus der Hand und kletterte in die Kabine seines Sportzweisitzers. Als der Vorwärmer summte, beugte er sich noch einmal heraus und winkte Lester zu. „Sie haben verdammtes Glück gehabt, Lester!“ rief er diesem zu. „Vielleicht war es ein Fehler von uns, stets menschlich zu denken, oder wie immer Sie es nennen mögen. Vielleicht wäre es jetzt besser, Sie alle über den Haufen zu knallen, denn Ihre Gegenwart läßt nicht viel zu hoffen für England. Aber es ist auch möglich, daß die See ein Einsehen hat und uns die schmutzige Arbeit abnimmt. Doch leider ist es immer so: Das Schlechte ist am widerstandsfähigsten!“ „Sieht man an uns!“ konnte sich Kubanow nicht verkneifen zu bemerken, ehe er den reichlich klein gewordenen Lester an106
herrschte: „Hast du gehört, Erdenwurm! Nachkomme eines vergangenen Geschlechtes, Mensch genannt! Hast du gehört? Komme zukünftig nicht mehr mit den Gesetzen in Konflikt, die aufgehört haben, zu existieren. Seid brav und ehrlich, friedsam und fleißig! Und nun tretet ein wenig zurück, damit der Propeller meines Freundes euch nicht das bißchen Gehirn aus der Knochenvase schmettert! Los, ein wenig schneller!“ Die Meute verschüchterter Gangster wich zurück. Das Gefühl der Überlegenheit war von ihnen gewichen, seitdem sie einen anderen mit einer Waffe gesehen hatten. Sie waren nicht mehr allein auf der Welt. Es gab andere, Stärkere. Lester schluckte den Fluch hinunter, der sich auf seine Lippen drängen wollte. Ein letzter Rest von Verstand sagte ihm, daß er noch einmal sehr glimpflich davongekommen sei. Dann heulte der Motor auf, die Umdrehungen der Flugschraube wurde schneller und schneller, dann ruckte die Maschine an, rollte über das unebene Feld und zog schließlich hoch. Eine Schleife ziehend strich sie über die Köpfe der Zuschauenden hinweg, ehe sie in nördlicher Richtung verschwand. Scott war unterwegs zur Station in Lappland. Kubanow schob Lindner in die Kabine des Düsenflugzeuges, machte ihm den Sitz frei. Dann beugte er sich aus der Kabine, drohte Lester mit erhobenem Zeigefinger. „Hübsch artig sein in Zukunft, verstanden? Geht heim zu Mutti und laßt euch verbinden. Und wenn wir uns noch einmal begegnen sollten, was heutzutage nicht so ausgeschlossen ist, dann zieht schon von weitem euren Hut, um uns zu grüßen. Aber zieht ihn zuerst – rate ich euch!“ Die Düsen heulten auf, noch ehe er die Kabine schließen konnte. Die Männer stoben in alle Richtungen davon, brachten sich in Sicherheit vor der flammenden Hitze freiwerdender Energie. Einige stolperten, fielen der Länge nach hin. 107
Und siehe da. Trotz der augenscheinlichen Panik bückten sich einige, halfen den Gestürzten wieder auf. Zwei Mann hatten Lester in die Mitte genommen, führten ihn. Trotz der Furcht war in ihnen auf einmal wieder das Gefühl zu helfen erwacht. Sie waren wieder Mensch geworden, im besseren Sinne des Wortes. Heulend fauchte die Maschine über den Acker, erhob sich in letzter Sekunde und streifte fast das Hausdach. Dann jedoch gewann sie an Höhe, kletterte steil in den Himmel und zog eine Schleife. Unten lag London, ein dunkler Fleck unzähliger Häuser. Und vorne sprach ein Mann sinnlose Worte in ein Mikrofon, das diese Worte allen weitergab, die es hören wollten: „Jane – Liebling! Mein zuckersüßes Putzilein! Bald bin ich bei dir …“ Kubanow verdrehte die Augen und schaltete den Empfänger aus. Der einzige Sender der Welt … und so ein verrücktes Programm! * „Renford! New York ist eine Pesthölle, die wir so schnell wie möglich verlassen müssen. Die Autos, die ich bisher fand, sind zerfetzt worden, als das Benzin explodierte. Unsere einzige Rettung ist ein Schiff. Ich glaube nicht, daß wir im Hafen vergeblich nach einer Jacht suchen. Und wenn es nur eine mittlere Segeljacht ist.“ Renford, die drei übrigen Männer und die fünf Frauen hatten atemlos dem Bericht Morellis gelauscht. Das Entsetzen stand auf ihren Gesichtern geschrieben. „Vielleicht ist meine Jacht noch heil“, sagte Renford leise. „Sie war überholt worden und hatte keinen Treibstoff an Bord. 108
Und Rohöl lagerte in einem Tank, einige Meter unter der Erdoberfläche. Vielleicht …“ Morelli konnte den Seufzer der Erleichterung nicht ganz unterdrücken. „Das nenne ich Glück, es erspart uns langes und unnötiges Suchen. Sind Lebensmittel an Bord?“ „Nein! Aber es lagern genügend in der Werft. Wir können sie leicht umladen. Leicht fällt es mir nicht, den sicheren Bunker zu verlassen, aber es wird wohl sein müssen, wenn wir nicht den Rest unseres Lebens unter der Erde verbringen wollen.“ „Es muß sein!“ bestätigte Morelli hart. „Und zwar schnell. Noch heute – oder warten wir besser bis morgen. Wir brechen in der Nacht auf. Waffen zu unserem Schutz haben wir genug.“ Es war noch dunkel, als ein schwer bepackter Zug von Menschen den Bunker verließ. Jeder trug soviel er zu tragen vermochte. Die verlassenen Straßen der einst so lebendigen Riesenstadt wirkten lähmend und beängstigend. Unheimlich die tödliche Stille, die nur von den Schritten unterbrochen wurden. Gespenstisch hallte es von den Steinmauern wider. Morelli ging an der Spitze, hinter ihm Renford, der ein wenig unsicher die Maschinenpistole in der Hand hielt. Noch nie in seinem Leben hatte er so ein Ding aus der Nähe gesehen, geschweige denn damit geschossen. Aber Morelli hatte ihm erklärt, wie er damit umzugehen hatte. In der verlassenen und toten Stadt kam man schneller vorwärts, dadurch entstand der Eindruck, sie sei inzwischen kleiner geworden. Früher hätte man für die gleiche Strecke Stunden gebraucht, heute erreichten sie bereits nach einer halben Stunde den Hafen. Renfords Privatwerft lag ein wenig abseits. Das niedrige Steingebäude zeigte keinerlei Veränderung. Einsam stand es zwischen großen Lagerhäusern und gewaltigen 109
Steinmolen. Das Wasserbecken war leer bis auf eine 50 m lange Segeljacht, deren kurzer Schornstein von einem zusätzlichen Motor zeugte. Renford war stehengeblieben. „Das ist sie!“ sagte er stolz. „Niemals hätte ich gedacht, ich würde sie noch einmal so dringend benötigen. Bisher diente sie nur Vergnügungsfahrten.“ „Dies wird auch eine Vergnügungsfahrt“, murmelte Morelli und der Anflug eines schwachen Lächelns huschte über sein Gesicht. Er drehte sich zu den nachfolgenden Mädchen um. „Was meint ihr dazu?“ „Das kommt ganz auf die Umstände an“, erklärte eines von ihnen mit ernster Miene. „Ich bin noch nie mit einem Schiff gefahren.“ Morelli lachte. „Auch daran kann man sich gewöhnen, wenn es das ist. Doch nun wollen wir mal sehen, ob der Kahn noch flott ist. Renford!“ Renford dreht sich um, denn er war vorausgegangen. „Ja, was ist?“ „Wir müssen sofort verladen, nachdem wir den Motor geprüft haben. Ich verstehe ein wenig davon, auch von Navigation. Wo liegt der Treibstoff?“ „Dort im Garten. Wo die Säule steht.“ „Lebensmittel?“ „Im Haus!“ Morelli nickte. „Dann ran an die Arbeit. In drei oder vier Stunden müssen wir unterwegs sein. Ich habe keine Lust, mich von einigen Narren davon abhalten zu lassen, noch einige Jahre zu leben.“ Es war klar, was er meinte. Die Überlebenden von New York brachten es in ihrer Panikstimmung fertig, das Auslaufen des Schiffes zu verhindern, nur um eine weitere Verbreiterung der 110
Seuche aufzuhalten. Sehr edel gedacht, aber auch ein wenig zu rigoros. Der Motor war intakt, wie sich nach dem Einfüllen einiger Liter Treibstoff ergab. Das gleichmäßige Stampfen der Kolben wirkte beruhigend auf die bis zum Zerreißen gespannten Nerven Morellis, den es mit allen Fasern vom Festland forttrieb. Das Verladen der wichtigsten Güter, Konserven in unvorstellbarer Menge, ging sehr schnell vonstatten. Einige Handwagen erleichterten die Arbeit. Außerdem brachten sie Medikamente und Geräte an Bord, da man ja beabsichtigte, auf einer der einsamen Inseln zu landen und zu bleiben, bis alles vorüber war … Bis alles vorüber war … * Die Wochen und Monate wurden schließlich zu einem Jahr. Lindner und seine Getreuen hatten alles getan, was nur menschenmöglich. war, um die Überlebenden der großen Katastrophe von der Notwendigkeit zu überzeugen, das menschliche Geschlecht zu erhalten. Ganz ohne Ordnung und Gesetz ging es nicht. Immer wieder jagte das Düsenflugzeug von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, suchte die Menschen. Überall fand Mayers die Überlebenden, suchte sie auf und stellte die Verbindung her. Meist waren es blasse, verängstigte Kreaturen, denen das Entsetzen über das plötzliche Ende der Welt noch auf den Gesichtern geschrieben stand. Aber er traf auch gewissenlose und brutale Gangsterbanden an, die ihn mit Schüssen und unverständlichem Haß empfingen. In solchen Fällen pflegte Mayers ohne jegliche Reue das Radikalmittel anzuwenden, von dem Lindner nichts wußte und auch nichts wissen durfte: Eine Bombe beendete das Dasein dieser Menschen, die ein unbegreifliches Schicksal in reißende Raubtiere verwandelt und für den Rest 111
der Menschheit nutzlos gemacht hatte. Was die Bombe verschonte, wurde ein Opfer des Maschinengewehrs. Europa hatte vielleicht zweitausend Überlebende, Asien und Rußland mehr als fünftausend. Amerika kaum tausend. Eine unerklärliche Seuche drohte, auch die letzten Überlebenden dort hinwegzuraffen. Die Inseln der Südsee waren leer von Menschen, keiner hatte dort die Katastrophe überlebt, soweit sich das durch die oberflächliche Nachforschung überhaupt bestimmen ließ. Aber seltsamerweise hatte die Vegetation kaum gelitten. Mayers wußte ja nicht, daß die sofort einsetzende Flutwelle ein Verbrennen verhindert hatte. Jene Insel von Häuptling Makauo war seinem suchenden Auge entgangen. Ein Schiff hatte die meisten Bewohner Amerikas in das sichere Europa gebracht, wo keine Seuche ausgebrochen war. Dort organisierte sich das Leben, eine internationale Regierung wurde gebildet. Zum Präsidenten wählte man Lindner, der das Amt ehrenhalber annahm. Und so vergingen weitere Monate, reihten sich zum zweiten Jahr. Als die Menschen in diesem Jahr in der Hauptstadt der neuen Welt, in Stockholm, Sylvester feierten, begrüßten sie das neue Jahr. Sie nannten es schlicht und einfach: Drei! Friede Für die Bewohner einer kleinen Südseeinsel hatte sich nichts geändert. Makauo war noch dicker geworden, sein Bauch noch fetter. Immer noch bedienten ihn die beiden Lieblingsmädchen, fütterten ihn immer besser. Immer noch stand auf dem Gipfel ein Posten, hielt Ausschau nach einer neuen „Sonne“. Aber es kam keine Sonne mehr, die von den Weißen künst112
lich an den Himmel gezaubert wurde. Nur die richtige Sonne stieg jeden Morgen in gleichmäßiger Schönheit aus dem Meer empor, kletterte bis hoch in den Himmel, stand senkrecht über der kleinen Insel und begann dann wieder, an der anderen Seite hinabzusteigen, bis sie endlich gegen Abend im Meer versank. Nichts hatte sich geändert. Wie immer lebte man friedlich und geruhsam dahin, fuhr zum Fischfang hinaus auf das Meer, kehrte mit reicher Beute zurück und feierte Feste. Ein gelegentlicher Besuch auf der benachbarten Insel förderte die erstaunliche Tatsache ans Tageslicht, daß der dortige Stamm ausgewandert war. Das Ziel war unbekannt. Folglich nahm Makauo diese herrenlose Insel in Besitz. Die Welt war inzwischen untergegangen, die Menschheit fast ausgestorben. Nur noch knapp zehntausend Menschen lebten auf der Erde – aber Makauo und sein Stamm wußten nichts davon. Für sie gab es kein Jahr drei. Und somit war man eines Tages nicht allzuüberrascht, als sich am Horizont ein Segel zeigte. Man hatte sich gewundert, daß schon so lange kein weißer Händler mehr zu ihnen gekommen war. Doch diesmal schien es wieder soweit zu sein. In dem Haus des Häuptlings lagerte eine ganze Schale voll wunderbar schimmernder Perlen, die die Taucher der Tiefe des Meeres entrissen hatten. Sie würden allerhand Kostbarkeiten bringen … Man rüstete sich, den Händler zu empfangen, bereitete ein großes Fest vor. Händler waren zwar auch Weiße, aber sie waren anders als die Uniformierten, die scheinbar alle aufgezogenen Automaten glichen und der alte Haß war längst vergessen. Renford und Morelli allerdings waren nicht wenig erstaunt, als die Bewohner der Insel, die sie zuerst für unbewohnbar gehalten hatten, in ihren kleinen Auslegerbooten aufs Meer hi113
nausgefahren kamen, um sie mit Früchten und weißen Blumen zu begrüßen. Morelli stand in tiefen Gedanken versunken. Renford blickte ein wenig unsicher, wagte aber nicht, seinen Freund zu stören. Er begriff überhaupt nicht, wie jemand die Katastrophe nur wenige hundert Kilometer vom Explosionsherd der schrecklichen Bombe entfernt hatte überleben können. „Das kann ich nicht verstehen!“ sagte Morelli endlich. „Wie können die noch leben? Es sind die ersten Überlebenden, die wir antreffen. Und ausgerechnet hier, wo der Versuch stattfand. Unbegreiflich!“ Die ersten Eingeborenen kletterten an Bord der Jacht, die langsam in dem sanften Wind auf die Insel zutrieb. Sie tanzten freudig auf dem glatten Deck herum, übergaben ihre Früchte den fassungslosen Weißen und sahen erfreut zu, wie ihre Mädchen sich zur leise gesummten Melodie hin- und herwiegten. „Das Paradies!“ murmelte Renford unsicher. „Wir haben das Paradies gefunden. Ich kann es nicht fassen!“ Morelli gab keine Antwort. Er überwachte das Landemanöver seiner drei „Matrosen“ und ließ selbst den Anker in die Tiefe gleiten. Dann schritt er über die Holzplanke hinüber zum Strand, blieb vor dem unglaublich fetten Makauo stehen, der unschwer als der Herrscher der Insel zu erkennen war. Einer der Eingeborenen konnte genügend Englisch, um den Dolmetscher zu machen. „Sei uns willkommen, weißer Trader“, sagte Makauo voller Würde. „Es ist schon lange her, daß uns ein solcher besuchte. Du magst es bereits an der großen Freude bemerkt haben, mit der wir dich empfingen. Komme mit in meine Hütte, wir wollen dort ein Palaver abhalten.“ Morelli war nicht nach einem Palaver zumute, bei dem er doch nicht das geringste würde erfahren können. Er wollte 114
wissen, warum dieser Stamm überhaupt noch lebte. Es schien ihm unwirklich … „Wie lange lebt dein Volk schon auf dieser Insel, großer Häuptling?“ fragte er salbungsvoll. „Es ist eine schöne Insel.“ „Schon so lange ich denken kann“, erwiderte Makauo voller Stolz. „Schon mein Vater war Häuptling, auch dessen Vater vorher. Und dessen Vater wiederum …“ „Und nicht erst seit drei Jahren?“ Makauo sah Morelli verblüfft an. „Wie kommst du auf die Idee, Trader? Seit drei Jahren erst?“ „Vor drei Jahren geschah eine furchtbare Katastrophe, Häuptling, die auch vor deiner Insel sicher nicht Halt gemacht hatte. Sie suchte die ganze Welt heim. Daher verstehe ich nicht, daß dein Stamm noch lebt und die Insel keine Spuren des Unglücks zeigt.“ „Ah – ich entsinne mich. Es war eine dieser künstlichen Sonnen, die die Weißen an den Himmel zauberten. Wir waren im Berg und kamen erst wieder an die Oberfläche, als alles vorbei war. Seitdem jedoch stand keine zweite Sonne mehr am Himmel.“ In Morelli dämmerte die leise Ahnung dessen auf, was sich ereignet haben mochte. Vielleicht eine gewaltige Höhle, in der dieser Stamm Zuflucht gesucht hatte. „Es wird nie mehr eine solche Sonne am Himmel stehen“, sagte er prophetisch und mit einiger Berechtigung. „Die Weißen haben die Versuche aufgegeben.“ Er hielt es noch nicht für ratsam, dem Südseeinsulaner mitzuteilen, daß es so etwas wie eine Zivilisation gar nicht mehr gab, obwohl er sich für die einsetzende Reaktion sehr interessiert hätte. Man hielt sie für Händler. Nun, vielleicht konnte man ein Geschäft machen. Oder sollte man gleich hier auf der Insel bleiben? Er wurde wieder unsicher. Sein Blick streifte die wiegenden Palmenwälder und die ge115
schwungene Sandstreifenküste, den hohen Gipfel des Inselberges und den ewig blauen Himmel. Die Insel war groß, groß genug jedenfalls, um ihn und seine Freunde aufzunehmen. Wenn dieser Häuptling vernünftig war, und das schien der Fall zu sein, würde es sich gut leben lassen. „Wir sind keine Händler, Häuptling“, sagte Morelli endlich. „Wir sind vielleicht die letzten Weißen dieser Welt überhaupt. Willst du uns in Freundschaft aufnehmen, wenn wir dir alles erklären?“ Makauo zeigte keine Gefühlsregung. Noch nicht. „Die letzten Weißen? Wo sind denn die anderen? Sind sie in ihre alte Heimat zurückgegangen?“ „Wie man es nimmt, großer Häuptling. Sie sind tot!“ Jetzt wurde Makauo doch stutzig. Er betrachtete Morelli mit einem nachdenklichen Bück, ließ sich langsam auf einen nahen Stein nieder. Das Stehen fiel im Zusammenhang mit der zusätzlichen Tätigkeit des Denkens sichtlich schwer. „Tot?“ fragte er langsam. „Was soll das heißen?“ „Sie experimentierten mit neuen Waffen, mit immer größeren Energien. Die Sonnen, die ihr am Himmel saht, waren nichts als gewaltige Bomben, die sie Versuchsweise zündeten. Und diese letzte Bombe war die schlimmste. Sie vernichtete die Erde.“ Makauo konnte doch logisch denken. Er fragte: „Und uns nicht? Wie kam das?“ „Ich verstehe es selbst nicht ganz“, gab Morelli zu. „Auch eure Nachbarinseln scheinen unversehrt. Es sieht so aus, als habe eine Wasserflut die Hitzewelle abgehalten. Und auch der Sauerstoff scheint sich hier nicht bei der Explosion zersetzt zu haben.“ „Sauerstoff?“ machte Makauo erstaunt. Er schien die Bedeutung des Wortes nicht zu fassen. „Das ist ein Element in der Luft, das zum Atmen benötigt 116
wird“, unternahm Morelli den Versuch einer Erklärung. „Wenn es fehlt, erstickt man. Und ihr seid ja nicht erstickt.“ „Wir hatten immer Luft in unserer Höhle“, sagte Makauo bestimmt. „Die Höhle muß ich mir mal ansehen“, entschied Morelli und sah zum Schiff hinüber. Er konnte seine Freunde an Deck deutlich sehen. Leise ertönte der Gesang der Eingeborenen herüber. Nach den langen Jahren der Einsamkeit, des planlosen Herumstreifens über den Stillen Ozean, nachdem man die Südspitze Südamerikas umfahren hatte, sehnten sich Morelli und seine Gefährten nach Ruhe und Frieden, nach einer wirklichen Heimat. Die Vernichtung der menschlichen Zivilisation hatten sie überwunden, sich mit dem Gedanken abgefunden, die letzten Menschen auf dieser Welt zu sein. Doch die wenigen Jahre bis zu ihrem Tode wollten sie wenigstens in Gesellschaft einiger Rassegenossen verbringen. Und vielleicht konnte so das Geschlecht der Menschen erhalten bleiben. Makauo erhob sich mühsam. „Wie lange bleibt ihr?“ fragte er und fügte hinzu: „Habt ihr Waffen und Lebensmittel?“ „Waffen werden unnötig sein, Makauo! Und die Lebensmittel reichen noch für Jahre. Die Inseln hier bieten genug Früchte, das Meer genug Fische. Können wir bei dir bleiben?“ Makauo sah den Weißen erstaunt an. „Ihr wollt bei uns bleiben? Ihr wollt nicht zurück?“ „Verstehe doch, Makauo: Es gibt kein ‚Zurück’! Die ganze Welt besteht nur noch aus dieser Insel! Die Welt ist tot! Wir sind die letzten Menschen! Begreifst du nun auch, daß wir keine Waffen mehr benötigen? Eine Welt ohne Menschen ist eine Welt ohne Feinde!“ Makauo machte Anstalten, sich wieder zu setzen. Morelli verhinderte das geschickt, indem er sagte: „Du willst sicher unser Schiff sehen. Komm, ich bringe dich 117
zu meinen Gefährten. Sei unser Gast, bis wir uns Hütten gebaut haben.“ Makauo nickte zustimmend. Er schien zu begreifen. Dann winkte er einigen seiner Leute zu, die in der Nähe herumlungerten. „Fällt Bäume!“ befahl er ihnen. „Baut neue Häuser. Unser Stamm hat sich vergrößert. Jetzt sind wir unbesiegbar, denn die Weißen haben mächtige Waffen.“ Morelli verstand ihn nicht. Und somit wußte er auch nicht, daß der Häuptling immer noch nicht erfaßt hatte, daß er der letzte und einzige Häuptling der Welt war. Eine Welt ohne Menschen ist eine Welt ohne Feinde … * Das Raumschiff landete nicht weit von der Riesenstadt New York entfernt auf einem freien Feld. Es hatte die Form einer großen Zigarre, besaß eine Reihe kreisrunder Sichtluken und senkte sich auf schimmernden Lichtstrahlen hinab auf den grasbedeckten Erdboden. Mit einem leichten Ruck kam es zum Stillstand. Xalap, inzwischen zum Kommandanten eines Exekutivschiffes des Galaktischen Rates befördert, stand unbeweglich im Kontrollraum. Neben ihm sein alter Freund und Gefährte Trakos. Sie hatten damals nach ihrer Rückkehr dem Rat von dem Geschehnis auf Sol III berichtet und wie erwartet, den Auftrag erhalten, die Intelligenzen des einzigen bewohnten Planeten dieses Systems zu vernichten. Monate darauf waren sie gestartet, um den Befehl auszuführen. Die farbige Bildscheibe zeigte das naturgetreue Bild ihrer Umgebung. 118
„Wir haben uns nicht geirrt“, sagte Xalap wortlos zu Trakos. „Sie haben ihr Ziel inzwischen doch erreicht! Wir sind zu spät gekommen!“ Trakos wiegte bedenklich den unförmigen Kopf hin und her, der nicht viel menschenähnliches hatte. Seine feinen Fühler spielten nervös auf und ab. „Ich bin nicht sicher. Wir haben keine Beweise!“ „Beweise?“ dachte Xalap ein wenig verärgert. „Ist es nicht Beweis genug, daß sie ihre Welt verlassen haben? In den vergangenen Jahren haben sie Zeit genug gehabt, ihre Technik so weit zu vervollkommnen, daß sie ihre ganze Bevölkerung evakuieren konnten. Wer hätte das gedacht? Wenn ich nur wüßte, warum ihnen Sol III nicht mehr genügte! Bei der kriegerischen Veranlagung dieser Rasse bedeuteten sie eine sehr große Gefahr für unsere Galaktische Förderation. Sie werden unsere friedlichen Welten finden, überfallen und berauben.“ „Ich gebe zu, sie hatten damals schon Raumschiffe und furchtbare Waffen“, gab Trakos zurück. „In drei Jahren kann viel geschehen. Aber nicht die Auswanderung der Bevölkerung eines ganzen Planeten.“ „Großer Rat, wo sollen sie denn sonst sein! Wir haben diesen Planeten umrundet und sind – nachdem wir keine Spur von Leben mehr entdecken konnten – hier gelandet, wo wir vor Jahren die Zentrale dieser Zivilisation erkannten. Und was finden wir? Eine tote Stadt, ein totes Land, eine tote Welt! Und nichts ist zerstört! Also haben sie freiwillig ihre Welt verlassen.“ Das war logisch gedacht, und doch falsch. „Vielleicht sind sie ausgestorben“, vermutete Trakos. „Nein! Das ist unmöglich! Wir müßten ihre Überreste finden. Und gewaltsame Vernichtung kommt auch nicht in Frage, denn dann wären auch die Bauten zerstört. Siehst du eine besondere Zerstörung, Trakos? Nein! Bis auf einige Kleinigkeiten steht alles so da, als sei es erst eben gebaut worden.“ 119
Auf dein Bildschirm standen die Silhouetten New Yorks, reglos, wuchtig und drohend. Nichts rührte sich. „Ich begreife das nicht, Xalap. Es ist mir unheimlich!“ „Nichts daran ist unheimlich! Wenn ich nur wüßte, wohin sich diese Lebewesen gewandt haben. Ihr Flugziel müßten wir kennen, um sie dort aufzufinden. Wir müssen verhindern, daß sie uns entdecken.“ Trakos’ Fühler vibrierten, ein Zeichen, daß er scharf nachdachte. „Findest du es eigentlich richtig, daß wir immer wieder nur zerstören, um den Frieden zu erhalten? Warum erzeugen wir keinen Frieden durch den Frieden? Vielleicht sind sie gar nicht so schlecht, wie wir einfach annehmen, ohne sie zu kennen?“ Xalap schien erstaunt. „Das fragst du, der du jahrelang mit mir durch das All flogst? Kennst du nicht die Geschichte der Galaxis? Beweist sich nicht immer wieder das gleiche Gesetz: Kriegerische Rassen werden niemals den wahren Frieden wollen. Weil sie es nicht können! Ihr Blut und ihre Seele ist Kampf, ihre Tapferkeit Gewalt, ihre List der Verrat! Erinnere dich an die Tripeds im System Xenaris! Nachdem sie sich gegenseitig Jahrtausendelang bekämpft hatten und schließlich doch den Weg in den Weltraum entdeckten, fanden wir es. Sie begegneten uns freundlich und wir ließen uns bluffen. Wir nahmen sie in unsere Gemeinschaft auf. Du weißt, daß nur im letzten Augenblick die Aufsplitterung des Rates verhindert, die gewaltsame Zerstörung der Galaktischen Förderation vermieden wurde. Sie hatten einen Verräter in ihren Reihen. Wir konnten in wahrhaft letzter Sekunde zurückschlagen, sie vernichten. Als Letzter starb der Verräter. Was sollten wir noch mit ihm? Nein! Alle Rassen, die im Kampf um das Dasein groß geworden sind und endlich eine gewisse Stufe erreicht haben, ei120
nigen sich zwar, sind aber dann um so gefährlicher. Sie sind nicht mehr mit ihrer eigenen Welt zufrieden, wollen den Kosmos erobern. Nein, Trakos! Die Bewohner von Soll III haben uns damals angegriffen, als sie uns am Himmel erblickten, ohne daß sie wissen konnten, wer wir waren. Und eine Rasse, die Besucher aus dem Weltall ohne vorherige Verhandlungen vernichten will, ist nicht mehr wert, angehört zu werden, wenn ihr Todesurteil vollstreckt werden soll. Sie ist nicht reif – und wird es nie sein!“ Trakos stand in tiefes Nachdenken versunken. Seine Augen starrten auf den Bildschirm, suchten das vergangene Leben in der toten Stadt. „Vielleicht hast du recht, Xalap. Aber trotzdem – ich hätte wenigstens gerne gewußt, wie die Intelligenzen aussahen. Vielleicht …“ „Wir werden es nie erfahren, wenn wir keinen Entschluß fassen. Verlassen wir das Schiff, gehen wir in die Stadt. Es mag sein, daß wir einen Hinweis fanden.“ „Ist die Atmosphäre atembar?“ „Nur für eine geringe Zeitspanne. Wir benötigen keine Geräte. Aber die Waffen nehmen wir mit. Eine tote Welt ist gefährlicher als eine lebende, wo man weiß, daß Gefahr vorhanden ist.“ Die Außenluke des Raumschiffes schwang auf. Zwei seltsame Wesen verließen es, schritten mit schwingenden Bewegungen langsam aber stetig auf die ferne Stadt am Horizont zu. Vor einem Haus, keine fünf Kilometer von der Peripherie der Stadt entfernt, blieben sie stehen. Es war ein einzelnes Haus. Xalap nickte Trakos zu. Sie traten ein. *
121
John D. Smith war der letzte Bewohner von Amerika. Er hatte die Katastrophe in seinem Spezialtreibhaus überlebt, dessen Wände aus dicken Quarzglasscheiben bestanden. Die Radiowarnung Lindners war zu spät gekommen, außerdem befanden sich sichere Bunker nur in der nahen Stadt. Also hatte er sich in sein Treibhaus begeben. Entweder er starb mit seinen geliebten Pflanzen, oder er hatte Glück. John D. Smith hatte Glück gehabt. Da er weder Frau noch Angehörige besaß, war er somit der Einzige, der in dieser Gegend nach dem Weltuntergang noch lebte. Die grausig tote Fassade der Stadt hatte ihn erschreckt, niemals in den vergangenen drei Jahren hatte er es gewagt, sich ihr zu nähern. Daher verpaßte er den Abtransport der New Yorker Überlebenden – und er verpaßte auch die tödliche Seuche. Allein und einsam fristete er sein Leben, ernährte sich von selbstgezogenen Früchten und Gemüsen und dem, was er im benachbarten Dorf an Konserven gefunden hatte. Seine meisten Bücher hatte er retten können. Und so saß der letzte Mensch der Erde – er dachte, er sei es – in seinem Zimmer und las. Rings um ihn herum war die vollkommene Stille einer toten Welt. In diesem Augenblick knarrten die Treppenstufen und schleichende Schritte bewegten sich näher und näher. John D. Smith saß reglos da und lauschte. Es dauerte Minuten, ehe sein Verstand die ungeheuerliche Tatsache verarbeiten konnte, daß ein lebendes Wesen zu ihm heraufkam. Ein lebendes Wesen! Ein Mensch …? Smith sprang hoch, blieb zitternd mitten im Zimmer stehen, Wie gebannt hingen seine Augen auf der Türklinke. Die Schritte hatten aufgehört. Alles war wieder ruhig wie zuvor. Ob er sich getäuscht hatte? 122
Die Türklinke bewegte sich langsam, unendlich langsam, nach unten. Gleichzeitig spürte er, wie ein unerklärliches Gefühl schrecklicher Furcht von ihm Besitz ergriff. Etwas Furchtbares drang in sein Gehirn, verdrängte alle anderen Gedanken. Wie eine Welle eiskalter Angst zwangen sich fremde Gedanken seinem Bewußtseinszentrum auf. Er verstand, was diese Gedanken bedeuteten, noch ehe er sah, wie sich die Tür öffnete. „Eine Wohnung der Lebewesen von Sol III“, sagte der Gedanke. „Wie primitiv sie hausten.“ Eine Sekunde des Zögerns. Dann: „Ich fühle die Gegenwart eines fremden Wesens. Ich kann mich nicht täuschen. Sei vorsichtig, Trakos. Halte die Waffe bereit. Jeden Augenblick …“ Die Tür hatte sich geöffnet und John D. Smith starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt, die im Rahmen stand. Groß, unheimlich und vollkommen fremd. Es war ein Wesen aus einem Albtraum. Seiner Kehle entrang sich ein gräßlicher Schrei. Es wurde schwarz um ihn und mit einem schweren Fall polterte er zu Boden. Er hatte die Besinnung verloren, ehe ein weiterer Gedanke sein Gehirn erreichen konnte. Xalap hatte blitzschnell den kleinen, blitzenden Gegenstand erhoben und ihn auf die fallende Gestalt gerichtet. Da kam Trakos’ Gedankenimpuls: „Nicht, Xalap! Es ist ungefährlich! Vielleicht stellen sie sich auch nur tot, wenn sie in Gefahr sind. Kein Zeichen für überragende Intelligenz. Ich nehme daher an, wir haben nicht das wahre Intelligenzwesen dieser Welt vor uns.“ „Es kann gefährlich sein, vernichten wir es.“ Und wieder hob Xalap die Waffe. „Nein, das wäre falsch. Erst müssen wir versuchen, etwas von ihm zu erfahren. Wenn es wider Erwarten doch der Beherr123
scher dieser Welt sein sollte, was ich nicht glaube, würden wir einen Fehler begehen. Warte, ich werde mich ihm nähern. Decke du mich mit der Waffe.“ Xalap nickte zögernd und trat beiseite, um Trako in das Zimmer zu lassen. Seine dunklen Augen huschten flüchtig durch den Raum, suchten nach einer zweiten Gefahr. Aber außer einigen ihm unverständlichen Gegenständen rührte sich nichts. John D. Smith stöhnte leise auf, als er die Berührung spürte. Die fremde Hand war kalt und feucht. „Es sind Wesen aus einer anderen Welt!“ dachte er entsetzt und vermied es, die Augen aufzuschlagen. „Was mögen sie wollen?“ Er zuckte zusammen, gewann seine volle Besinnung wieder, als er den nächsten Gedankenimpuls aufnahm: „Xalap! Es denkt! Es ist intelligent! Ich habe es gefühlt!“ „Ja, ich auch! Scheint ebenfalls telepathisch zu sein. Galaxis! Solche Intelligenz hätte ich nicht erwartet! Frage es etwas!“ „Wer bist du?“ fragte Trakos den Menschen, der seine Augen nur zögernd aufschlug. Smith nahm seinen ganzen Mut zusammen, um den Anblick ertragen zu können, der sich ihm bot. Waren es riesengroße Quallen? Insekten? Mutantierte Menschen? Er hätte es nicht zu sagen vermocht, wollte auch keine Antwort mehr. Er wußte nur eins: Es waren keine irdischen Geschöpfe. „Ich bin John D. Smith“, sagte er laut, obwohl das unnötig war. „Ein Name – es versteht uns!“ gab Trakos mit zitternden Fühlern bekannt. „Es ist intelligent! Nun werden wir erfahren …“ Er blockierte den Gedanken und fuhr fort: „Wo sind deine Rassegefährten? Warum habt ihr eure Welt verlassen? Hat man dich absichtlich zurückgelassen?“ „Zurückgelassen?“ staunte Smith sichtlich und schon etwas 124
ruhiger. Zwar deutete er den blitzenden Gegenstand in der feingliedrigen Hand des einen Wesens ganz richtig als Waffe, aber er merkte doch, daß man ihn nicht direkt feindlich gegenübertrat. Sonst hätte man ihn doch sicher schon getötet. „Wieso zurückgelassen? Ich bin der einzige Mensch, der die große Katastrophe überlebte.“ Xalap wechselte einen kurzen Blick mit Trakos. Eine Ahnung begann in ihnen zu dämmern, eine ganz unbestimmte und gewisse Ahnung. „Welche Katastrophe?“ fragte Trakos hastig. Seine Fühler vibrierten mit zauberhafter Schnelligkeit. Er trat einen weiteren Schritt zurück, als Smith sich aufrecht setzte und schließlich ganz aufstand. Er war fast so groß wie sie. „Die Bombe!“ sagte Smith und setzte sich auf den Stuhl. „Welche Bombe?“ kamen zwei Gedanken gleichzeitig. John D. Smith betrachtete die beiden Wesen jetzt genauer. Er erschrak noch einmal und entsann sich der vielen Geschichten, die er früher gelesen hatte. Einmal hatten sie sogar ein Hörspiel im Radio gebracht. Dann begann er zu sprechen, erzählte ausführlich von den Atombombenversuchen der verschiedenen Nationen und der letzten, endgültigen Vernichtungswaffe der Amerikaner. Er erwähnte auch den Aufruf Professor Lindners und die Möglichkeit, daß vielleicht in anderen Ländern noch Überlebende existierten. Fast zehn Minuten redete er ununterbrochen, dann erst schwieg er erschöpft. Wieder wechselte der Blick zwischen Xalap und Trakos. „Wann geschah es?“ vernahm Smith, aber er wußte nicht, welches von den beiden Wesen gefragt hatte. „Wann explodierte die Bombe?“ „Es war an einem Herbsttag – nein, im Dezember. Vor drei Jahren also. Drei Jahre, das stimmt.“ Trakos rechnete nach, dann nickte er. 125
„Jener Blitz, den wir sahen, den wir für eine Abwehrwaffe hielten, das muß es gewesen sein! Sie haben uns also doch nicht angegriffen!“ Xalap hatte die Waffe gesenkt. „Das stimmt, aber es spricht immer noch nicht für Sie. Sie hatten furchtbare Waffen – und produzierten diese nicht zum Spaß. Sie bereiteten den Krieg vor …“ „Nein!“ sagte Smith bestimmt. „Das ist nicht wahr! Alle Nationen der Erde besaßen Waffen, mußten sie besitzen! Wehrlos wurde man das Opfer irgendwelcher Aggressionen. Die Atomwaffen waren nur Schutz, nicht aber Angriffswaffen.“ „Wer stellt schon Waffen her ohne die Absicht, sie eines Tages einzusetzen? Das gab es noch niemals bei einem der unzähligen Völker der Galaxis.“ „Galaxis?“ machte Smith verständnislos. „Was ist das?“ „Milchstraße!“ sagte Xalap erklärend. „Ihr nennt sie die Milchstraße, wie ich errate. Die Sterne am Himmel – ihr seht sie nur bei Nacht, ihr habt doch eine Gashülle – sind nichts anderes als die Sonnen bewohnter Welten. Nicht alle sind bewohnt, aber sehr viele. Und sie haben sich zusammengeschlossen in der galaktischen Förderation. Wir hatten den Auftrag, die Bewohner von Sol III zu vernichten, weil sie äußerst kriegerisch veranlagt waren. Mir scheint, wir haben den weiten Flug umsonst gemacht. Das Schicksal hat uns die Arbeit abgenommen.“ „Sol III ist – die Erde?“ John D. Smith beobachtete die beiden Fremden aufmerksam. Sie schienen miteinander zu konferieren, aber er vermochte nicht, einen der Gedanken aufzufangen. Wahrscheinlich besaßen sie die Fähigkeit, ihr Gehirn abzuschirmen. Aber er sah die spielerischen Bewegungen der Fühlerpaare, die offensichtlich als Antenne dienten. 126
Endlich drang der erste Gedanke wieder zu ihm. „Seid ihr Menschen die einzigen Bewohner der Erde gewesen?“ Smith schüttelte den Kopf. „Nein! Wir hatten Pflanzen und Tiere in großer Zahl. Draußen steht noch ein gläsernes Haus, in dem sich eine Menge Pflanzen befinden. Wollt ihr sie sehen?“ „Was sind Pflanzen?“ fragte einer der beiden zurück. „Nun, Pflanzen sind – Pflanzen! Vegetation.“ „Sind Pflanzen Lebewesen?“ „In gewissem Sinne schon, ich wenigstens betrachte sie als solche. Kommt mit, ich werde sie euch zeigen. Seht selbst!“ Er stand auf, wartete ab. Nie im Leben wäre er so dicht an den unheimlichen Wesen vorbeigegangen, obwohl er sich schon fast an ihren Anblick gewöhnt hatte. Diese jedoch schienen seine Furcht zu spüren, denn sie schritten ihm voran die Treppe hinab. Sie bewegten sich mit seltsam schwebenden Gleiten, als gingen sie durch Wasser. Erst jetzt konnte Smith sie von hinten sehen. Wie ein zusammengefaltenes Stück Tuch trugen sie einen Fallschirm auf dem Rücken. Oder … Oder waren es etwa Flügel …? Sie erreichten das Gewächshaus. Smith öffnete die Tür und ging voran. Mitten zwischen den üppig gedeihenden Pflanzungen blieb er stehen und erwartete die fremdartigen Gäste aus dem Weltraum. „Dies also sind Pflanzen?“ kam die erste Frage. „Sie besitzen keine Intelligenz?“ Smith verbarg sein Erstaunen nicht. „Wie können Pflanzen denn intelligent sein?“ wunderte er sich. „Ihr kennt nur die Erde, mehr nicht“, kam die Antwort. „Würdet ihr das Universum kennen, so sprächet ihr anders. In der Förderation befinden sich mehr als ein Pflanzenstaat, wenn man so sagen darf. Sie wären über eure Worte beleidigt“ 127
Smith spürte wieder das widerliche Kribbeln auf seinem Rücken. Doch ehe er dem Sinn der Worte nachhängen konnte, kam eine zweite Frage: „Warum hältst du diese Pflanzen hier gefangen?“ „Gefangen?“ Das Gesicht von Smith war ein einziges Fragezeichen. Dann lächelte er krampfhaft. „Ich züchte sie hier in diesem Haus. Draußen wären sie schon lange eingegangen, hätten die Katastrophe nicht überlebt. Ich ernähre mich von ihnen.“ Er sah, wie das eine der beiden Lebewesen zurückwich und wieder den blitzenden Gegenstand gegen ihn erhob. Aber das andere legte eine Hand auf den Arm mit der Waffe. „Nicht!“ verstand er. „Sie kennen es nicht anders. Du darfst nicht voreilig urteilen, Xalap! Welchen Sinn hätte sein Tod, wenn er der letzte seiner Rasse ist? Keinen! Nehmen wir ihn lieber mit! Der Rat wünscht ein Exemplar dieser Rasse, die sich Mensch nennt.“ Xalap ließ den Strahler sinken. „Du hast recht. Ich habe mich gehen lassen. Nehmen wir ihn also mit.“ Und er sah Smith an. „Du kommst mit in unser Schiff! Wir werden dich mit zu uns nehmen. Dein einsames Leben auf dieser Welt ist so und so sinnlos geworden.“ Smith wich zurück. Er streckte wie abwehrend die Hände aus. „Nein!“ stammelte er erschrocken. „Laßt mich hier! Ich will hier sterben. Ich will in Frieden sterben!“ Immer weiter war er zurückgewichen, die beiden Wesen folgten ihm, tauschten per Antenne nach Gedanken aus. Smith verstand nicht mehr, was sie sagten oder dachten. Er stieß mit dem Rücken gegen die Tür des kleinen Geräteraumes. Sie war verschlossen. Xalap und Trakos blieben dicht vor ihm stehen. 128
„Warum soll ich mitkommen?“ jammerte John D. Smith angstvoll. Er erhielt keine Antwort. Trakos hatte für einen Augenblick den Erdenmenschen aus den Augen gelassen, hatte mit Bedauern und gelindem Entsetzen die Pflanzen betrachtet, die eng und eingepfercht auf so beschränktem Platz ihr Dasein fristen mußten und fühlte in sich die aufsteigende Verachtung für das Wesen Mensch, das nichts anderes war als ein Schmarotzer. Der Mensch lebte von der Existenz anderer Lebewesen! Trakos versuchte sich in die Lage eines intelligenten Organismus zu versetzen, der anstatt von Kraftströmen und Energiestrahlungen von anderen Organismen lebte. Der Gedanke erregte Ekel. Er fühlte sich zornig werden. Seine Hand hielt plötzlich ebenfalls so einen gefährlichen, glitzernden Gegenstand in der Hand. Und dann, als seine Augen wieder zu dem Erdenmenschen zurückwanderten, entdeckte er den Kasten mit der Glasscheibe. John D. Smith, der letzte Bewohner des Kontinentes Amerika, erfaßte nicht mehr die Bedeutung des plötzlich in sein Gehirn dringenden Gedankens. Er spürte nur die Welle unfaßbaren Grauens und unvorstellbarer Abscheu, seine Augen erhaschten nur noch die blitzschnelle Bewegung des einen Lebewesens – und dann war es zu spät für jede weitere Wahrnehmung. Vor seinen Augen zuckte es auf. Er schien in eine Sonne hineinzufallen, fühlte die entsetzliche Hitze entfesselter Naturenergie und sackte unter den elektrischen Schlägen einer unbekannten Kraft zusammen. Doch den Boden erreichte er nur noch als seitlich davongleitende Rauchwolke, die in verwehender Eile durch den Türspalt ins Freie zu gelangen versuchte. Trakos’ Zorn war so schnell verraucht, wie er gekommen war. Die Waffe verschwand wieder. Seine entschuldigenden Gedanken trafen auf Unverständnis. 129
„Warum tatest du das? Wie konntest du deine Meinung so ändern?“ Xalap stand mitten im Gewächshaus und sah sich um, als suche er den Grund für die plötzlich so ausgebrochene Wut seines Freundes. „Ja – hast du denn nicht gesehen? Dieser Barbar! Dieser Kannibale! Siehst du denn nicht dort …? Deshalb tötete ich ihn! Unsere kleinen Freunde …“ Mit entsetzt weit aufgerissenen Augen und wirbelnden Fühlern starrte Xalap auf die Ursache von Trakos’ Zorn. John D. Smith war schon lange vor der großen Katastrophe ein eifriger Sammler seltener Käfer und Schmetterlinge gewesen … Professor Lindner blickte nachdenklich hinüber zur tief am Himmel stehenden Sonne. Henry Scott stand neben ihm, die Hand leicht auf den Arm seiner Frau gelegt. „Ich glaube, die Welt ist heute schöner als vor drei Jahren“, sagte der Ältere zu seinem Freund und Assistenten. „Selbst der Anblick der Sonne scheint irgendwie friedlicher, prächtiger zu sein. Vielleicht täusche ich mich aber auch und spreche eine Gotteslästerung aus. Aber ich fühle nun mal so, und kann es nicht ändern.“ „Es geht mir genauso, Harald. Die Welt hat sich geändert.“ Den Weg hinauf, durch das hohe, blühende Moos, kamen Fritz Albert und seine Frau Helen. Ihr helles Lachen wirkte befreiend. Hinter ihnen tollten zwei spielende Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Während Wassil Kubanow immer noch versuchte, seine langjährige Verlobte Dora Lindner endlich zur Hochzeit zu bewegen, wuchs das neue Geschlecht bereits heran. Lindner sah den beiden Menschen und den Kindern lächelnd entgegen. 130
„Unsere Tochter versteht sich gut mit Albert Junior“, sagte Scott und zeigte auf die spielenden Kinder. „Sie müssen auch“, fügte er dann ernst hinzu. Lindner lächelte noch immer, als der große, silberne Schatten für eine Sekunde die Sonne verdunkelte, ehe er sich auf die weite Ebene herabsenkte. Doch dann verwandelte sich sein Lächeln jäh in stummes Entsetzen. Fassungslos sah er zu, wie der gewaltige, metallisch schimmernde Körper tiefer und tiefer kam, schwerelos und fast unbeweglich in der Luft hängenblieb und dort verharrte. Gegen alle bekannten Naturgesetze verstoßend schwebte er mehrere Meter über dem Erdboden, still, reglos und abwartend. Scott hatte den Arm seiner Frau losgelassen, seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Unverständliche Worte kamen aus seinem Mund, während er, die Augen weit aufgerissen, zu dem seltsamen Gegenstand hinüberstarrte, der da so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Fritz Albert war stehengeblieben, hatte die beiden Kinder an die Hand genommen. Obwohl im ersten Augenblick furchtbar erschrocken, fühlte er auf einmal die beruhigenden Gedanken, die von irgendwoher in sein Gehirn drangen. Er wollte an etwas ganz anderes denken, vielleicht an den Ursprung des gewaltigen Flugschiffes, aber er konnte es einfach nicht. Gewaltsam und doch friedlich zwangen sich ihm die fremden Gedanken auf – und er begann, sie zu verstehen. Den anderen ging es genauso. Lindner verlor sein erstes Entsetzen, das der Befürchtung entsprungen war, sie würden von einer unbekannten Macht angegriffen, die noch irgendwo im Verborgenen existiert haben mochte. Zwar wußte er nicht, wer in jenem riesigen Flugkörper saß, aber er wußte, daß sie nichts zu befürchten hatten. Scott nahm den Blick für einen Moment von dem Schiff, sah zu seinen Gefährten hin. Da wußte er, daß auch sie den fremden Gedankenimpuls aufnahmen, den er verspürte. Es war unbegreiflich. 131
„Habt keine Furcht“, verstanden sie alle gleichzeitig, auch die beiden Frauen und vielleicht sogar die Kinder. „Wir kommen in Frieden. Könnt ihr uns verstehen?“ Lindner verstand die Frage und wandte sich an Scott: „Was ist das? Wer spricht da zu uns? Hast du gehört?“ Sofort war in seinem Gehirn wieder der Druck, der einem telepatischen Gedankenstoß voranging. Er verstand: „Ihr versteht also. Denkt eure Antworten, wir fangen sie auf. Wir haben nicht gewußt, daß ihr Telepathen seid. Wozu habt ihr dann noch die Sprache?“ Sie antworteten alle gleichzeitig und der Erfolg war ein harter Druck auf ihr Gehirn und der Gedanke: „Es soll nur der reden oder denken, den ihr Lindner nennt. Er ist doch euer Anführer?“ Lindner sah ein wenig hilflos und verwundert zu seinen Gefährten hin, ehe er laut sagte: „Wer seid ihr?“ „Wesen von einer anderen Welt, Beauftragte des Galaktischen Rates. Wir hatten Befehl, diese Welt zu zerstören, aber wir kamen zu spät. Ihr hattet uns die Arbeit abgenommen. Doch ihr seid uns noch eine Antwort schuldig.“ Lindner entsann sich. „Wir sind keine Telepathen, sondern verständigen uns durch die Sprache. Ich habe nicht recht verstanden: Ihr seid Wesen einer anderen Welt? Dann ist dies also ein Weltraumschiff?“ Lindner unterdrückte die ungeheuere Erregung, die auf ihn einstürmte. Drei Jahre nach dem Ende der Zivilisation landete ein außerirdischer Flugapparat auf der Erde! Hätte das nicht eher geschehen können? „Besser nicht!“ klärte ihn das unbekannte Wesen auf. „Das hätte ebenfalls das Ende bedeutet – aber ein absolutes, endgültiges Ende ohne jede Chance. Nur die Tatsache eurer eigenen Katastrophe rettet euch.“ 132
„Wieso?“ „Kannst du die Antwort nicht selbst finden, Lindner? Ich lese in den Gedanken deines Freundes, den du Scott nennst, daß gerade ihr es seid, die damals vor der überreifen Menschheit floht. Könnt ihr euch nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn diese gleiche Menschheit den Raum erobert und die anderen Welten gefunden hätte? Doch die Natur ist weise, wenn auch nicht immer früh genug. Im Falle Sol III war sie es jedoch.“ „Und – wenn sie es nicht gewesen wäre?“ fragte Lindner voller banger Ahnung. Die Antwort bestätigte seine Vermutung: „Wir hätten diesen Planeten verwandelt.“ „Verwandelt?“ „Ja. Aus Masse hätten wir Energie gemacht.“ Lindner erschauerte. Er ahnte die Bedeutung der gedachten Worte. „Und – was nun?“ fragte er. „Wir werden euch verlassen und zu unserer Welt zurückkehren. Unser Auftrag ist erledigt. Es wird weitere tausend Sonnenumläufe dauern, ehe wir zurückkommen. Vielleicht seid ihr dann soweit, wie ihr schon lange hättet sein können.“ Scott machte eine Handbewegung und sagte: „Warum landet ihr nicht und verlaßt das Schiff?“ „Weil unser Anblick euch erschrecken würde. Ich sagte doch schon: eure Zeit ist noch nicht gekommen. In tausend Jahren vielleicht.“ Für einen Augenblick war nichts. Dann: „Habt ihr noch eine Frage?“ Lindner nickte unwillkürlich. Er trat ein wenig vor, hob wie grüßend seine Hände und machte eine leichte Verbeugung in Richtung des Raumschiffes. „Bestellt euren Auftraggebern, daß diese Welt eine andere 133
geworden ist. Sagt ihnen, daß ein friedliches Menschengeschlecht heranwächst, ein Geschlecht, das den Krieg nicht kennt, obwohl es durch ihn entstand. Sagt ihnen noch, daß wir kommen werden, bevor die tausend Jahre um sind. Wo werden wir euch finden?“ Die Antwort kam sofort: „Wir warten auf euch. Ihr findet uns auch ohne Hinweis, denn wir hinterlassen unsere Spuren. Im Zentrum der Galaxis befindet sich auch das Zentrum der Macht. Lebt wohl – und versucht, eine bessere Welt aufzubauen als eure Vorfahren. Und nochmals: Die Natur ist weise, sehr weise. Erst dann, wenn ihr euch ohne Sprache zu unterhalten vermögt, ist die Zeit gekommen.“ „Wie sollen wir das verstehen?“ fragte Lindner, während das gigantische Raumschiff langsam und vollkommen geräuschlos zu steigen begann, als höbe es eine verborgene und unsichtbare Kraft in die Höhe. Die Antwort kam schon etwas schwächer, aber sie war noch deutlich: „Wenn ihr das Stadium der Barbarei überwunden habt, wenn die verborgenen Kraftquellen des Universums euch ernähren – dann erst wird sich jener Sinn in eurem Gehirn entwickeln, der bisher ruhte. Ohne ihn seid ihr machtlos und noch nicht reif. Ihr werdet es nicht erleben, aber eure Nachkommen. Vielleicht …“ Der Gedanke verstummte, während das Schiff an Fahrt gewann. Plötzlich stellte es sich mit der Spitze schräg, verharrte einen Moment, ehe es blitzschnell in den dämmerigen Nordlandhimmel schoß. Innerhalb einer einzigen Sekunde war es den Augen der Menschen entschwunden. Lindner löste sich gewaltsam von der Starre, die ihn befallen hatte. Sein Blick war nachdenklich, als er sagte: „Wir sind nicht allein im Universum, ich habe es immer geahnt. Aber ich hätte nie gedacht, daß man schon das Todesurteil 134
über unsere Welt gefällt hätte. Welche Wesen müssen das sein, daß Gott ihnen eine solche Macht in die Hände gab. Hände? Sagten sie nicht, wir würden über ihren Anblick erschrocken sein? Wie mögen sie ausgesehen haben?“ Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: „Die Natur kennt nicht die Unterschiede, wie wir sie machen. Es müssen Intelligenzen sein, die uns weit überlegen sind. Technisch wie auch geistig. Sie kennen keinen Krieg, wohl aber die Vernichtung. Aber sie kennen auch Erbarmen. Die Menschheit hat eine Chance!“ Scott nickte. „Es ist aber ihre letzte.“ „Hunderte von Jahren wird es dauern, bis sie eine neue Zivilisation aufgebaut hat. Es wird an uns liegen, den rechten Weg aufzuzeichnen. Auch weiß ich, daß das schwer sein wird, denn schon unsere Kinder, die das Schiff mit ihren eigenen Augen sahen, werden es später nicht mehr wissen. Ihre Kinder wiederum werden es für eine Unwahrheit halten und deren wiederum für eine Lüge. In hundert Jahren schon ist es eine Sage aus längst versunkener Zeit. Hinterlassen wir ihnen ein Vermächtnis, das sie nicht verstehen werden?“ Albert nickte zögernd. „Es ist möglich, und manchmal meine ich, es wäre uns schon einmal so gegangen. Vielleicht vor Tausenden von Jahren. Erinnert ihr euch?“ „Ich erinnere mich“, sagte Lindner ernst. „Wollen wir daraus lernen. Das dritte Mal werden die Wesen aus den Weiten des Raumes keine Nachsicht mehr kennen. Ihre Geduld wäre erschöpft.“ Die drei Männer sahen sich eine Weile stumm an, ehe sie sich zum Gehen wandten. Scott hatte seine junge Frau eingehakt, Albert folgte seinem Beispiel. Die beiden Kinder gingen links und rechts von Lindner, er hielt sie bei der Hand. Sie 135
schritten den Weg entlang, der durch die Tundra führte, ihren Wohnhäusern entgegen. Und da hörten sie schon von weitem eine aufgeregte und laute Stimme. „Lindner! Lindner! Wo sind Sie denn? Hallo …! Lindner!“ Das war Kubanow, ohne Zweifel. Hatte er das Raumschiff gesehen oder gar die gedankliche Botschaft der unbekannten Wesen auch verstanden? Das würde die bei dem Russen so ungewohnte Erregung erklären. „Hier sind wir“, rief Lindner dem herbeieilenden Kubanow entgegen. Der kam in Sicht, mit beiden Armen heftig gestikulierend und dabei unverständliche Laute ausstoßend. Hinter ihm wurde Lindners Nichte sichtbar, die sich bemühte, dicht hinter ihrem Verlobten zu bleiben. „Wißt ihr es schon?“ brüllte Kubanow mit aller Lautstärke und strahlte über das ganze Gesicht. „Aber ihr könnt es doch noch gar nicht wissen! Ihr werdet staunen, wenn ihr es erfahrt. Staunen werdet ihr.“ „Wir wissen es, denn mit uns haben sie ja gesprochen“, sagte Scott und freute sich, dem anderen den Wind aus den Segeln nehmen zu können. „Du bist ja gewissermaßen nur Zaungast gewesen, während wir die Hauptpersonen waren.“ Der Russe schwieg plötzlich. Sein Gesicht zeigt völlige Ratlosigkeit. „Nicht beteiligt war ich?“ stammelte er erschrocken. „Nur Zaungast?“ Er war stehengeblieben, sah sich nach Dora Lindner um, deren Verwirrung ob seiner Frage mehr als deutlich war. Dann wandte er sich wieder an Scott: „Mit wem haben Sie gesprochen? Mit mir?“ „Unsinn! Mit jenen telepathischen Wesen aus der Milchstraße.“ 136
„Ach so“, machte Kubanow und grinste. „Und ich dachte schon, ihr wolltet einen guten Witz machen. So wißt ihr also noch nichts davon? Na gut, ich habe euch eine Neuigkeit mitzuteilen: Dora hat eingewilligt! Sie will mich heiraten. Mr. Lindner: Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Nichte.“ Lindner sah Kubanow eine Weile erstaunt an, ehe er sein Gesicht zu einem Lächeln verzog. Scott und Albert waren weniger rücksichtsvoll. Sie lachten aus vollem Halse. Die Tränen liefen ihnen über die Wangen und die Luft entwich keuchend ihren Lungen. Sie hatten schon lange nicht mehr so gelacht. Und während jenes fremde Raumschiff mit immer schneller werdender Geschwindigkeit in die Unendlichkeit hineinfiel und die Erde als Ball und später als winziger Stern zurückließ, zog Kubanow seine künftige Frau an sich, legte seinen Arm um ihre Hüfte und sagte mit einem verächtlichen Schnauben: „Laß’ sie lachen, Liebling. Was verstehen diese nüchternen Wissenschaftler schon von der Erhabenheit wirklicher Liebe? Nichts, rein gar nichts!“ Sprach’s und drehte sich um, um davonzugehen. Die immer noch verwirrte Dora zog er mit sich. Die Zurückgebliebenen hörten ihn noch murmeln: „Wesen aus der Milchstraße! Pah, welch ein billiger Witz!“ Sie schwiegen, als ihr Lachen verstummt war. Unberührt von alledem rissen sich die beiden Kinder von den Händen Lindners und liefen davon, tollten sich im blühenden Moos der Tundra und freuten sich ihres Lebens. Ihres jungen und noch so lange währenden Lebens. – Ende –
137