Christian Montillon & Christian Schwarz
Feuerrose Professor Zamorra Hardcover Band 36
ZAUBERMOND VERLAG
Nicht lange...
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Christian Montillon & Christian Schwarz
Feuerrose Professor Zamorra Hardcover Band 36
ZAUBERMOND VERLAG
Nicht lange ist es her, da kreuzte das »dunkle Kind« schon einmal den Weg Professor Zamorras. Nun bekommt es der Meister des Übersinnlichen erneut mit diesem rätselhaften Geschöpf zu tun … Christian Montillon und Christian Schwarz spinnen die Geschichte des seltsamen Mädchens in einer weiteren spannenden Gemeinschaftsproduktion fort.
Vorwort der Autoren Wir können es kaum glauben, aber es ist unzweifelhaft wahr: Unser Hardcover »Das dunkle Kind« ist bereits vor vier (in Worten: vier) Jahren erschienen. Minette Fleurys Geschichte hat uns seitdem allerdings nicht mehr losgelassen. Das – inzwischen ehemalige – dunkle Kind hat es mühelos vollbracht, sich in unseren Gedanken festzusetzen, ein Eigenleben zu entwickeln und hin und wieder bei uns anzuklopfen. Mal ruhig und gelassen, mal energisch, mal unwiderstehlich. Was tut der brave Autor normalerweise, wenn seine Figuren derart hartnäckig bleiben? Richtig, er setzt sich an die Tastatur und gibt ihnen die Chance, erneut das Licht der Welt zu erblicken. Was übrigens immer dann geschieht, wenn ein Leser die Buchseiten aufschlägt und in der Geschichte versinkt – sonst ist es für gewöhnlich im geschlossenen Buch recht dunkel. In diesem Fall hieß das konkret, dass Minette bei Christian M. vorstellig wurde, mit dem Langka in der Hand. Dem sanften Lächeln und dem koketten »Na?« konnte dieser nicht widerstehen; es kostete ihn danach nur eine einzige Mail bei seinem Freund und Kollegen Christian S. und es stand fest, dass Minette tatsächlich ihre Wiederauferstehung erleben würde. Denn wir beide Christians sind immer noch verschossen in die Figur. So gingen wir begeistert ans Werk. Im Nachwort des »Dunklen Kind«-Buches schrieben wir vor inzwischen 50 Monaten: »Und das heißt, die Chancen stehen gar nicht einmal so schlecht, dass jenes dunkle Kind, die bedauernswerte Minette Fleury, früher oder später aus der Versenkung wieder auftaucht.« Ob es nun früher oder später geworden ist, mag der Leser entscheiden. Eins jedoch entscheiden wir, die Autoren: Wir stellen eine kleine Erinnerungshilfe für alle Leser voran. Für diejenigen, die Hardcover 19 nicht kennen (ein Fehler, wie wir leider sagen müssen …) kann es
als Einstiegshilfe dienen. Keine Inhaltsangabe des alten Buches – lest es selbst! – sondern die grundlegenden Informationen über die zwei … nun ja, Hauptfiguren. Ob das Langka eine »Figur« ist, steht dabei auf einem anderen Blatt. Schaun wir mal. Schon die Geburt von Minette Fleury verlief nicht gerade unter idealen Umständen; als das Kind heranwuchs, manifestierten sich parapsychische Kräfte, die ihre Umwelt (und auch sie selbst) in Angst und Schrecken versetzten. Als es zu Todesfällen kam und Minette buchstäblich die Hölle besuchte, entspann sich ein Reigen aus äußerst turbulenten Ereignissen, die im Detail an dieser Stelle nicht interessieren. Minette traf auf Professor Zamorra, und letztlich ergab sich folgendes Bild: Das Langka, ein magischer Gegenstand mit eigenem Bewusstsein, nutzte Minette, um sich zu reinigen – was immer das auch im Detail bedeuten mag. Dieses Langka lernten wir in der Professor Zamorra-Heftserie bereits kennen; es trägt eine starke, unbekannte Magie in sich und diente als Katalysator, Torre Gerret aus der Hölle der Unsterblichen zu befreien. Das nur für alle PZ-Historiker – im Kontext der Minette-Fleury-Hardcover spielt es keine Rolle. Das Langka ist ein Gegenstand, ähnelt einem Spazierstock und zeigt doch klare Anzeichen von Leben. Es steht in Gedankenkontakt mit Minette und spaltete mit ihrer Hilfe seinen dunklen Teil ab – einen Kinddämon. Nun ist das Langka gereinigt und verfügt nach wie vor über extrem starke Para-Kräfte. Der Kinddämon ist entkommen, Minette mit dem Langka in unbekannten Gefilden unterwegs … beide sind offenbar freundlich und wohlgesonnen. Was aus dem Kinddämon wurde und woher er stammte, wissen wir nicht. Wo das Langka einst herkam und wie es zu dem wurde, was es ist, wissen wir nicht – bis auf die Andeutung, dass es wohl viele Langkas gab und sie in Höllenkreisen zumindest bei den uralten Dämonen gut bekannt sind, weil sie einst große Taten vollbracht haben. Wieso sich das Langka reinigen musste, wissen wir nicht. Ob dies für alle Langkas gilt, wissen wir nicht. Viele Fragen …
Noch! Wir haben ja auch noch etwa 250 Seiten vor uns. Was wir euch aber bereits definitiv an dieser Stelle mitteilen können, ist der Zeitpunkt des erneuten Zusammentreffens unserer Protagonisten: Diese Geschichte spielt im Jahr 2008, zwei Jahre nachdem Professor Zamorra und Nicole das dunkle Kind seinerzeit aus den Augen verloren haben; in einer Zeit also, als Zamorras und Nicoles Welt noch nicht aus den Fugen geraten war. Neugierig geworden? Also los! Levertsweiler und Wattenheim, im Oktober 2010 Christian Schwarz und Christian Montillon
»Feuerfall« – Eine Legende der Brarktanen In jenen Tagen, als sich das Universum aus dem Nichts schälte, das LUZIFER und andere ausatmeten, gerann der böse Hauch zu einer eigenen Dimension. Sie verformte sich ständig und verändert sich bis heute, weil auch der Drachenatem im Wind weht und stets neue Formen annimmt. Seht nur nach oben. Seht die Wolken, wie sie ziehen. Doch ihr habt nicht nach den Wolken gefragt, sondern nach ihnen. So will ich euch berichten, wie sie entstanden: Wie Feuer fielen sie aus dem Nichts. Sie brannten nicht und doch entflammten sie. Sie bildeten sich dort, wo die Urkräfte aneinander rieben. Ohne sie wären das Universum und seine zahllosen Welten wieder erloschen, wie es zuvor schon millionenfach geschehen ist. Doch diesmal war es anders. So kam es, dass sie die Mächte in ein fragiles Gleichgewicht brachten. Die Waage gerann zu Materie, die Quelle ebenso, die Hölle der Unsterblichen und so vieles mehr, das ihr weder wisst noch wissen müsst. Selbst der große Asmodis wurde ausgespuckt vom Schoß der Wehen, mit denen die Hölle entstand. Er zappelte im dunklen Dämonenblut und mit ihm der dunkelhelle Zwilling. Was wie Feuer vom Himmel fiel, trieb lange umher, ehe es sich niederließ. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ein Brarktane es fand. Oder dass es sich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, von einem Brarktanen finden ließ. Ja, seht nur! Wer klug ist und Ohren hat zu hören, der höre!
1 – Die Steinrose entflammt Raffaela di Leo liebte die Feuerrose. Von allen uralten Artefakten, die an der Ziegelmauer neben der Kirche Santa Fosca für die Touristen zur Schau gestellt wurden, war sie das weitaus schönste und erhabenste. Jedenfalls für Raffaela. Die 45-jährige Frau pflegte eine ganz besondere Beziehung zu der kopfgroßen, steinernen Blume, der sie heimlich Zauberkräfte zugestand. Eine Skulptur, deren Blüten und Blätter so fein ziseliert waren, dass sie unmöglich durch Menschenhand entstanden sein konnten, musste einfach … magisch sein. Raffaela war sicher, dass sie als einziger Mensch auf der Welt das Geheimnis der Feuerrose kannte. Die wunderschöne Blume war einst das Herz einer Rosenzauberin gewesen. Als ihr Geliebter sie verließ und verriet, hatte sich die Zauberin dem furchtbaren Schmerz entzogen, indem sie ihren Körper aus eigenem Willen versteinerte. Ihr Herz war dabei zur Feuerrose geworden, denn aus einer solchen war die Zauberin ehedem hervorgegangen. Im silbernen Mondlicht unter Zedern war die Bedauernswerte von wehklagenden Feen umtanzt und betrauert worden. Sie musste die Rose nur anschauen, um zu wissen, dass es genau so und nicht anders geschehen war. Wer den geheimen Schlüssel zur Feuerrose fand, der würde sie aktivieren und ihre Kräfte nutzen können. Weil sie alles über die steinerne Rose wusste, betrachtete Raffaela sie als ihr Eigentum, als Freundin, der sie sich in Zwiegesprächen anvertraute und als Geliebte, der sie all ihre Gefühle schenkte. Es störte sie nicht, wenn Touristen die Rose kurz anfassten und dabei das Verbotsschild geflissentlich übersahen. Nur wenn es einem einfiel, seine Finger zu lange darauf verweilen zu lassen, rief sie schon mal durch das Fenster ihres Ladens und verlieh ihrer Forderung, wenn es sein musste, mit der typisch italienischen Gestik Nachdruck. Bisher hatte sie noch niemanden erlebt, der die Hand nicht
umgehend wieder zurückgezogen hätte. Doch so wie heute war es noch nie gewesen. Raffaela konnte ihre Eifersucht kaum noch bezähmen. Seit Minuten schon stand sie am Fenster und beobachtete das etwa 14-jährige blonde Gör mit dem Mireille-Matthieu-Pony. Das Mädchen war vielleicht eine Deutsche oder Schwedin, und sie steckte in Jeans-Shorts und einer schwarzen, kurzärmligen Bluse. Ein viel zu großer Ausschnitt gewährte viel zu deutliche Einblicke auf die knospenden Brüste, die zudem frei wippten und einige der Männer, die sich hier aufhielten, sichtlich beunruhigten. Der Grund für Raffaelas Unruhe war allerdings ein völlig anderer. Die blonde Halbwüchsige, die sie noch immer keinem der Erwachsenen zuordnen konnte, trieb sich nun schon seit gut zwei Stunden um die Kirche herum. Immer wieder kam sie zurück zur Mauer und starrte eine schiere Ewigkeit lang die Feuerrose an. Nicht das Relieffragment darüber, das einen Löwen zeigte, dem längst die Hinterbeine weggebröselt waren; nicht den geflügelten Dämon mit dem Pferdekörper, der seinen Kopf nach hinten drehte; und nicht die gewappneten Ritterschilde, die links und rechts neben der Rose hingen. Die Blicke des Görs hatten etwas Krankhaftes, Gieriges. Was wollte sie von der Rose? Besaß sie etwa den Schlüssel, den Raffaela noch nicht gefunden hatte? Ein ganz und gar entsetzlicher Gedanke, der gelinde Panik in ihr hoch steigen ließ. Komm, fass sie endlich an, meine Rose, du kleine Schlampe. Dann kann ich dir eine Szene machen, wie ich sie noch keinem anderen gemacht habe … »Scusi, Signora, darf ich zahlen?« »Was? Ach so, ja, ich komme.« Nur widerwillig verließ Raffaela ihren Standort am Fenster. Sie plagte das Gefühl, keinen Moment verpassen zu dürfen, und so hätte sie die Kundin am liebsten hinauskomplimentiert. Nur mit äußerster Mühe beherrschte sie sich. Erst vor einem Jahr hatte sie das wunderschöne Anwesen auf der Insel Torcello, direkt neben der uralten Kirche Santa Fosca teuer erstanden. Ihr ganzes Erspartes war dabei draufgegangen und nun war sie auf jede Postkarte, auf jedes
Minimodell des Gotteshauses angewiesen, die sie im Andenkenladen verkaufte. Sie konnte doch nicht mit dem Hintern einreißen, was sie mit den Händen so mühsam aufgebaut hatte! Also kassierte sie die Kundin mit einem freundlichen Lächeln ab und wünschte ihr einen schönen Tag. Raffaela stand schneller wieder am Fenster, als die Besucherin zur Tür draußen war. Doch das Gör war verschwunden und kam den ganzen Tag nicht mehr zurück. Trotzdem war sie alles andere als beruhigt. Was würde heute Nacht passieren? Sie fühlte, dass etwas nicht stimmte. Der Gedanke, dass die Rose wie alle Artefakte an der Kirche seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten angemauert war und nicht gestohlen werden konnte, schuf in ihr keinen Frieden. Sie schloss ihren Laden am frühen Abend und nutzte die immer noch sengende Julisonne, um ein wenig in ihrem Garten zu arbeiten. Zum Anwesen gehörten von Zypressen gesäumte Wiesen, idyllische Rosenhage und ein von verwitterten Vasenstatuen auf imponierenden Sockeln begrenzter Weg, über den sich einzelne Weinreben schlängelten. Nach Einbruch der Dunkelheit kam Julia vorbei, ihre Nachbarin, mit der sie sich recht gut verstand und hin und wieder ein Glas Chianti trank. Die beiden Frauen setzten sich auf die Terrasse, prosteten sich zu und schauten zum Vollmond hoch, der tief und riesengroß am wolkenlosen Himmel hing. Über die nördliche Lagune zog eine warme Brise und wehte den Geruch des Meeres und den Lärm Venedigs herüber. Sie ließ ihn als leises Murmeln auf Torcello ankommen, gelegentlich unterbrochen vom dumpfen Tuten der großen Schiffe. Julia erzählte von ihrem Tag in der Stadt. Sie arbeitete als Kellnerin im Café Quadri an der Piazza San Marco und liebte es, über die Gäste herzuziehen, denen sie im Laufe des Tages begegnet war. Raffaela lauschte ihr gerne, denn Julias Geschwätz war sinnentleert und doch amüsant – eine Art Brücke in die Welt, die Raffaela noch immer interessierte, die sie aber nicht mehr betreten mochte. In Venedig hatte sie drei Männer zurückgelassen, die ihr Herz gebrochen hatten, jeder ein bisschen mehr. Und nach Gianni hatte sie beschlos-
sen, künftig nur noch sich selbst zu gehören. Sich und der Feuerrose. Es war bereits kurz nach Mitternacht, als sich Julia verabschiedete. Sie schwankte weinselig zu ihrem Haus. Raffaela stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Haustür und schaute ihr nach – so lange, bis ihre Nachbarin in ihrer eigenen Haustür verschwunden sein würde. Das hatte sich so eingebürgert, weil Julia ein hohes Sicherheitsbedürfnis hatte und sich selbst vor dem kurzen Weg fürchtete. Raffaela stutzte. Dort, am Stamm der riesigen Eiche, die neben den Artefakten direkt an der Mauer stand … bewegte sich dort nicht etwas in den Schatten? Etwas, das nicht gesehen werden wollte? Sie spürte, wie sich ihre Nackenhärchen aufrichteten und eine Gänsehaut über ihren ganzen Körper kroch. Sollte etwa … Die Gestalt trat aus der düstersten Ecke heraus, stand nur noch wenige Schritte von Julia entfernt. Die hielt verblüfft inne. Tatsächlich, es war das blonde Gör! Raffaela erkannte das Mädchen sofort wieder, denn es drehte für einen Moment den Kopf in ihre Richtung. Sie erschrak fast zu Tode. Noch niemals zuvor hatte sie in derart böse, tückische Augen geblickt. Es schien ihr fast, als würden sie in einem unnatürlichen Hellblau schimmern. So sah doch kein Mensch aus! Julia hatte wohl ebenfalls etwas bemerkt, denn sie blieb stehen, wahrscheinlich starr vor Schreck. Immer hatte sie sich davor gefürchtet, auf dem kurzen Nachhauseweg jemandem zu begegnen. Andererseits war das Mädchen kein ernstzunehmender Gegner. Raffaela korrigierte sich selbst – sie spürte doch ebenso die düstere, unnatürliche Macht, die von dem Kind ausging. Das Mädchen – oder was immer es auch war – ging zwei blitzschnelle Schritte auf die Mauer zu. So rasch, dass Raffaela glaubte, es von seinem Standort verschwinden und direkt vor der Feuerrose wieder auftauchen zu sehen! Es fasste das Artefakt mit beiden Händen und drückte ihren Kopf fest dagegen. Einen Moment zögerte das Kind, dann murmelte es etwas, das kreatürliche Angst in Raffaela auslöste. Sie zitterte am ganzen Leib,
wollte fliehen, einfach weg, irgendwohin, aber eine dumpfe Faszination bannte sie geradezu auf der Stelle fest. Sie spürte es: Mit diesen dunklen Worten war das absolut Böse nach Torcello gekommen! Die Feuerrose begann plötzlich zu leuchten. Das fahle Licht entstand im Zentrum ihrer Blüte, war zuerst winzig klein, wurde aber rasend schnell größer. Als es die Abmessungen der Rose überschritt, explodierte der rotgelbe Schein förmlich und überflutete die ganze Umgebung. Heller als tausend Sonnen war es für einen Moment. Trotzdem konnte Raffaela deutlich erkennen, was sich darin abspielte, denn es blendete sie nicht. Julia, die noch im Zentrum des Lichts stand, war plötzlich durchsichtig. Als würde sie unter einem riesigen Röntgengerät liegen, vermochte Raffaela jeden Knochen ihres Skeletts zu erkennen, während das Gewebe drum herum nur noch als leicht wabernder Schleier zu existieren schien. Eine Spaziergängerin, die ihr bisher nicht aufgefallen war, erwischte es auf die gleiche Weise. Im selben Moment, als die Körper der beiden Frauen haltlos zusammensanken, entstand ein Sog. Das Mädchen wurde in das flammende Inferno gerissen, so rasch, als sei es von einem unsichtbaren Katapult abgeschossen worden. Dem Gesichtsausdruck nach schrie es, ohne dass ein Laut zu hören gewesen wäre, drehte sich unkontrolliert wie ein welkes Blatt im Sturm und schrumpfte rasend schnell. Irgendwann war der Körper, der direkt in die Hölle zu fliegen schien, nur noch stecknadelkopfgroß und schließlich ganz in den tobenden Gewalten verschwunden. Aus Raffaelas Mund kamen kurze, abgehackte Laute. Sie wollte ihre Angst hinausbrüllen, aber es ging nicht. Ihr blieb die Luft weg. Das Flammen der Rose wurde schwächer, auch der Radius der Lichtflut zog sich sichtbar zusammen. Aber nur, um noch einmal zu explodieren! Nun spielte sich der Vorgang in umgekehrter Richtung ab. Was immer dieses furchtbare Glosen im Inneren der Rose auch sein mochte, es vertrug das Mädchen offenbar nicht. Der Körper kam zurück! Und wurde ausgespien. Mit Urgewalt krachte er gegen die Mauern von Santa Fosca. Raffaela hörte ein grässliches Knirschen.
Der Leib schien einen Moment an der Wand zu kleben, dann erst fiel er zu Boden. Zerschmettert und grotesk verrenkt blieb er liegen, während an der Wand ein riesiger Blutfleck an den grausigen Vorfall erinnerte. Das Gör musste sich jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen haben. Das grelle Licht erlosch schlagartig. Wenn Raffaela glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, so sah sie sich bitter getäuscht. In den blutigen Haufen aus zerquetschtem Gewebe und grotesk verrenkten Gliedmaßen kam Bewegung. Wie von Geisterhand richtete sich der Körper wieder ein. Knochen zogen sich durch die durchstochene Haut zurück, Bruchstücke fügten sich ineinander und verheilten, ein Auge, das nur noch am Sehnerv gebaumelt hatte, wurde an diesem an seinen angestammten Platz in der Höhle gezogen. Keine zwei Sekunden später stand das Mädchen auf und schaute, vom Mondlicht beschienen, erneut zu Raffaela herüber. Dann rannte sie wie von Furien gehetzt entlang des Kanals in die Nacht hinein.
Um die Künstlerin vor dem Forum les Halles in Paris hatte sich eine riesige Menschentraube gebildet. Die Leute, vor allem die Kinder, konnten sich nicht an den ganz und gar unglaublichen Kunststücken sattsehen, die Minette Fleury ihnen bot. »Papa, wie macht das Mädchen das?«, fragte ein sechsjähriger Junge, als Minette mit 25 Bällen gleichzeitig jonglierte und über eine Minute lang keinen einzigen verlor. »Keine Ahnung«, gab der Vater zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das grenzt absolut an Zauberei.« Nachdem Minette fertig war und einen Ball nach dem anderen auf den Boden fallen ließ, wo sie zu einem exakten Kreis zusammenrollten, brandete Beifall auf. Pfiffe ertönten, Zugaberufe wurden laut. »Du solltest in den Zirkus gehen, Kleine! Das ist ja sensationell!«, rief ein Mann lauthals aus der Masse. Minette verbeugte sich nach allen Seiten und lächelte schüchtern. Als sie die Arme hob, verstummte das Publikum sofort.
Minette redete nur selten mit ihrem Publikum. Sie ließ lieber ihre Kunst sprechen. An ihrem Rucksack stand ein etwa unterarmlanger, hölzerner Stock, der ein wenig an einen Spazierstock erinnerte. Den nahm sie nun zwischen beide Zeigefinger, drehte sich nach allen Seiten und zeigte ihn dem Publikum mit ausgestreckten Armen. Dabei ließ sie erneut ein Lächeln sehen. Plötzlich zog sie die Fingerspitzen von dem Stock weg. Anstatt zu Boden zu fallen, blieb er frei in der Luft hängen! Ein Raunen ging durch das Publikum. »Der Stock hängt sicher an einer unsichtbaren Schnur!«, rief der Sechsjährige vorlaut. Minette ließ den Stock frei hängen, trat zu dem Jungen hin und nahm ihn bei der Hand. »Komm mit mir«, sagte sie nun doch. »Du darfst gerne schauen, ob du irgendwo eine Schnur findest.« Dem Jungen war plötzlich nicht mehr wohl bei der Sache. Hilfesuchend sah er sich nach seinem Vater um. Erst als der ihn ermunterte, ging er mit Minette. Die gab dem Jungen einen roten Spielring aus Hartplastik. »Da, fahr damit mal über den Stock.« »Aber das geht nicht. Der hängt zu hoch.« Statt zu antworten, fuhr Minette mit der in Stockhöhe ausgestreckten Hand nach unten. Wie von Zauberhand machte der Stock die Bewegung mit und blieb schließlich in etwa 80 Zentimetern über dem Boden hängen. Nun konnte der Junge den Ring bequem darüberstülpen und damit entlangfahren. Es gab keine Schnur. Auch zwei Erwachsene, die den Test wiederholten, fanden keinen doppelten Boden. Mit eleganten Handbewegungen scheuchte Minette ihr Publikum wieder zurück. Dann tat sie, als schimpfe sie mit dem Stock, indem sie ihm mit dem Finger drohte und ein grimmiges Gesicht zog. Als sie in eine Höhe von etwa drei Metern zeigte, stieg der Stock sofort dorthin und verharrte reglos. Das Publikum hielt nun endgültig den Atem an. Minette ging in die Knie – und schnellte sich senkrecht nach oben! Mit einem Satz, der sämtlichen Gesetzen der Physik Hohn sprach, landete sie direkt auf dem Stock. Schreie der Verwunderung und des Entsetzens wurden laut. Manche Frauen pressten sich die Hand vor den Mund.
Minette, die in roten, eng anliegenden Leggins und schwarzem Ballettkleidchen auftrat, balancierte sich mit ausgebreiteten Armen kurz aus und erhob sich dann. Sicher wie eine Eins stand sie auf dem Stock. Wie eine Turnerin begann sie nun Salti vor- und rückwärts zu machen. Immer wieder landete sie dabei sicher. Minette umklammerte den Stock mit beiden Händen und ging in den Handstand. Plötzlich gab der Stock nach, als ziehe jemand die unsichtbaren Stützen weg, auf denen er geruht hatte. Er fiel zu Boden. Und mit ihm Minette. Aus drei Metern krachte sie unsanft auf das Pflaster, zuerst auf die Handballen, dann per Überschlag auf Hinterkopf und Kreuz. Entsetzte Schreie ertönten. Menschen stürzten auf das benommen daliegende Mädchen zu, kümmerten sich um sie. »Ruft den Krankenwagen!«, brüllte einer. Sag mal, spinnst du? Was sollte das gerade? Ich hätte mir ja das Genick brechen können … Entschuldige. Es war der Schock. Das Pentagramm … es … es flammt … O nein. Sag bitte, dass das nicht wahr ist. Es ist wahr. Leider. Minette wurde von helfenden Händen aufgesetzt. Sie war längst wieder bei sich. »Danke«, flüsterte sie. »Es ist nichts passiert, mir geht es gut.« Tatsächlich fiel es keinem der Umstehenden auf, dass das Mädchen keinen Tropfen Blut verlor, nicht mal eine Schürfwunde aufwies. Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht und Sirene auf den Platz. Ein Notarzt kümmerte sich um Minette und ließ sie vorsichtshalber zur Beobachtung in die Klinik einweisen. Sie wurde in den Rettungswagen verfrachtet, mitsamt ihren Künstlerutensilien. Als das Fahrzeug im Krankenhaus ankam, öffnete der Beifahrer die Hecktür. Der begleitende Rettungsassistent starrte ihm entgegen. »Wann bringt ihr das Mädchen denn nun endlich?«, fragte er. »Ich sitz mir hier ja schon einen Wolf.« Von Minette Fleury gab es keine Spur mehr.
Nicole Duval räkelte sich in einer Liege am Pool von Château Montagne. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Hochsommerhimmel; ein fürwahr himmlischer Zustand, den sie nutzen wollte, um sich so viel wie möglich hüllenlose Bräune zu verschaffen. Butler William, der stets aufs Neue kühlende bunte Cocktails servierte, störte sich am Anblick einer nackten Nicole schon lange nicht mehr. Aber kalt ließ er ihn auch nicht. Sie amüsierte sich heimlich, wenn er die Drinks mit betont gleichgültigem Gesicht brachte, seine Blicke dabei aber nicht im Zaum halten konnte und sie immer wieder kurz über die Kurven der Schlossherrin gleiten ließ. Kein Problem. Sie genoss es durchaus, wenn Männer sie so betrachteten. Die Dämonenjägerin außer Betrieb, wie sie sich selbst nannte, wenn sie einmal einige Tage keinem Schwarzblütigen an den unheiligen Kragen musste, seufzte. Sie blätterte im Le Dauphine Libere, einer der großen Lyoner Zeitungen. Dabei blieb sie hauptsächlich an den Lifestyle-Seiten hängen, aber auch der Bericht über einen zwei Tage zuvor in der frühen Nacht erfolgten Terroranschlag in Venedig interessierte sie. Auf der Insel Torcello hatten Terroristen eine Bombe direkt vor der uralten Kirche Santa Fosca gezündet. Sachschaden war kaum entstanden, aber zwei Frauen hatten das Attentat mit dem Leben bezahlen müssen. Sie waren übel zugerichtet worden. Die Polizei hatte laut Zitat noch keine Ahnung, wer für den Anschlag infrage kam, da noch kein Bekennerschreiben eingegangen war. Manchen Leuten ist nichts mehr heilig, wurde ein Geistlicher zitiert. Santa Fosca ist doch nicht irgendein Gebäude! Wortgewandte Rhetorik war offenbar nicht seine Stärke. Nicole gab ein leises Brummen von sich. Sie war schon lange nicht mehr in Venedig gewesen. Zehn Jahre? Fünfzehn? Die Zeit verging so schnell. Aber an Torcello und Santa Fosca konnte sie sich noch gut erinnern. Das war Idylle pur, nicht mehr als ein Dutzend Einwohner, soweit sie sich erinnerte, ein paar hundert Touristen täglich immerhin. Trotzdem wollte ihr nicht in den Kopf, dass die Insel auch nur ansatzweise in das Anforderungsprofil von Terroristen passen könnte; dazu war sie einfach zu unbedeutend.
Sie dachte nicht länger darüber nach. Mit diesem offensichtlichen Fauxpas mussten die Terroristen leben, nicht sie. Weil William mit einem frisch gemixten Caipirinha daher kam, ließ Nicole die Zeitung neben den Liegestuhl sinken und widmete sich ganz dem eiskalten hochprozentigen Traum. Dabei bemerkte sie, wie Lady Patricias zitronengelber Renault Twingo die schmalen Serpentinen zum Château hoch schnaufte. Der auf die Haube gemalte Kussmund war bis hier oben zu sehen. Das erinnerte Nicole zum einen daran, dass sie schon seit einer halben Stunde keinen Kuss mehr von ihrem Ein und Alles bekommen hatte. Und zum anderen an den Umstand, dass Patricia mit Rhett beim Shoppen gewesen war und der junge Monsieur Erbfolger deshalb in wenigen Minuten wieder innerhalb der Schlossmauern weilen würde, um sich mit tausendprozentiger Wahrscheinlichkeit flugs zum Pool zu begeben. Einen Fünfzehnjährigen wollte sie durch ihre Nacktheit dann doch nicht provozieren. Oder welche Gefühle auch immer das in ihm auslösen musste. Sie schlüpfte also in ihre engen Jeans, zog eine leichte Bluse mit einem nach dem Jugendschutzgesetz völlig inakzeptablen Ausschnitt über und ging in den Fitnessraum des Châteaus. Dort, so wusste sie, plagte sich in diesen Momenten Professor Zamorra mit diversen Kampfsportübungen herum. Normalerweise quälte sie sich neben ihm ab, doch momentan war ihr einfach nicht danach. Der Meister des Übersinnlichen, nur mit einer knappen, blauen Sporthose bekleidet, übte gerade Kendo, die abgewandelte, moderne Art des ursprünglichen japanischen Schwertkampfes. Nicoles Kennerblick zufolge führte er aktuell die Kihon-waza durch, die Grundübungen. Mit schweißbedecktem Oberkörper wirbelte er das Übungsschwert aus vier Bambuslamellen, das Shinai, durch die Luft, holte weit aus und zog den Schlag bis in Kniehöhe eines imaginären Gegners. Ein lauter Schrei begleitete die präzise Aktion. Nicole klatschte anerkennend. »Super gemacht, Chéri. Allerdings würde sich dein Kendo-Meister im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass du einfach die Rüstung weglässt. Ich dagegen finde diese Variante doch ziemlich anregend.« »Schweiß nicht, was soll es bedeuten«, gab Zamorra grinsend und kaum außer Atem zurück. Seine grauen Augen funkelten vergnügt.
»War das eben so eine Art verkapptes, unmoralisches Angebot?« »Kannst du so sehen. Aber wenn du es annimmst, solltest du vorher noch kurz unter die Dusche hüpfen.« Zamorra stellte das Shinai an die Sprossenwand, an der bereits Merlins Stern baumelte, als sei das Amulett nichts als ein Schmuckstück. »Was hast du gegen Männerschweiß?« »Verschiedene Duschgels und Deodorants«, gab Nicole trocken zurück und löste damit einen Lachanfall bei ihrem Geliebten und Kampfgefährten aus. »Genug für heute«, entschied der Professor und grinste. »Ich fühle gerade ein dunkles Verlangen in mir hochsteigen, wenn ich dich so sehe, weißt du das?« »Zumindest seh ich's«, gab Nicole zurück. »Hm, wenn ich über die Dusche so nachdenke, könnte ich dich begleiten und mit dir unter die Strahlen hüpfen.« Zwei Minuten danach verschwanden sie endgültig in der Dusche. Später saßen sie, glücklich und entspannt bei weiteren Cocktails, hauptsächlich auf Whiskybasis, und Eiskaffee mit Patricia zusammen. Wider Erwarten war Rhett doch nicht am Pool erschienen, er zog es vor, mit dem Drachen Fooly in den riesigen Gemäuern herumzustrolchen. William brachte nicht nur eine weitere Runde Drinks, sondern auch einen lieben Gast mit. Pascal Lafitte lächelte. »Hallo Leute. Das sieht so gut hier aus, da möchte ich mich doch glatt dazusetzen.« »Red nicht, tu's einfach«, gab Zamorra zurück. »Und bestell beim Cateringservice Willi, wonach auch immer dir ist.« Er stand auf und drückte dem Ankömmling herzlich die Hand. »Freut mich, dich zu sehen. Ist schon eine ganze Weile her, dass wir das letzte Mal zusammen an einen Baum gepinkelt haben.« »Pfui«, kommentierte Nicole und zog ein Gesicht, als habe sie gerade in etwas extrem Saures gebissen. »He, Nicole, das tun wir tatsächlich hin und wieder«, gab Lafitte, dessen Alter sich irgendwo zwischen 45 und 50 bewegte, todernst zurück. »Das letzte Mal Baumpinkeln ist aber sicher schon ein Jahr oder so her.«
»Männer. Pah. Bevor ihr beiden weitere Ferkeleien austauscht, muss ich dich darauf aufmerksam machen, mein lieber Pascal, dass sämtliche Zeitungen, die ein gewisser Monsieur Lafitte ins Château zu bringen gedenkt, umgehend konfisziert und durch ein von William zu beschaffendes Feuerzeug noch umgehender vernichtet werden.« »Hä?« »Stehst du heute auf der Leitung, mein Lieber, oder was? Zeitungen, die du hier anschleppst, bedeuten Arbeit für uns. Für den ollen Professor, das ist der da …« Sie zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Zamorra, »… und für seine liebreizende Sekretärin, Kampfgefährtin, Geliebte und Zusatzgedächtnis. Das bin ich.« Ihr Finger drehte sich und wies nun auf ihre Brust. »William, Feuer frei!« »Ist mir jetzt richtig peinlich«, sagte Pascal mit einer Spur echter Verlegenheit in der Stimme und legte die Zeitung auf den Beistelltisch. »Muss es nicht. Setz dich erst mal. Und erzähl, wies dir so geht.« Ihr Gast lächelte und strich sich durch die schütter gewordenen Haare. »Eigentlich geht's gut. Ich bin mal gerade wieder nicht arbeitslos. André hat genug für mich zu tun. Und auch bei Charles komm ich immer mehr zum Zug. Er wird langsam alt, will aufhören und glaubt, dass ich der Richtige wäre, um die Werkstatt zu übernehmen.« Mit André meinte er Zamorras größten Weinbergpächter Goadec, mit Charles den Schmied des kleinen Dorfes unterhalb des Châteaus, der auch Autos reparierte, worin auch Pascal Lafitte großes Geschick bewies. »Und?« »Mal sehen, vielleicht mache ich's ja tatsächlich. Joaquin und Yvonne sind jetzt endgültig aus dem Haus. Ging so schnell, dass die lieben Kleinen flügge geworden sind. O Mann, manchmal will mir das noch gar nicht so richtig in den Kopf. Meine kleine Yvonne macht die Krankenpflegeschule in Lyon, Jo studiert an der Sorbonne Wirtschaftswissenschaften.« Lafitte kicherte vor sich hin. »Wisst ihr, Mostache hat ihm bereits das Angebot gemacht, dass er ihn mit Handkuss als Wirtschaftsweisen einstellt und hinter der Theke be-
schäftigt, wenn er fertig studiert hat. Und dann hat Mostache doch tatsächlich allen Ernstes behauptet, Wirtschaftswissenschaften heiße nichts anders, als dass man nur in der Wirtschaft wisse, wie man schafft.« »Der gute Mostache.« Heute schien der Tag des großen Grinsens angesagt zu sein. Nicole tat es im Moment. »War wohl mal wieder selbst sein liebster Kunde.« Mostache, der Wirt, betrieb die einzige und daher beste Kneipe im Dorf. Sie hieß Zum Teufel und der Platz davor verwandelte sich bei Regen in eine riesige Pfütze, die so genannte Mostach'sche Seenplatte. Pascal winkte ab. »Der trinkt noch immer keinen Alkohol. Bei ihm ist das eher eine Form von Altersstarrsinn mit einhergehender Verkalkung. Na ja, bis auf unsere zwei Ausnahmen werden auch wir nicht davon verschont.« Er blickte Zamorra und Nicole an. »Aber ich möchte trotzdem nicht mit euch tauschen«, fügte er schnell hinzu, als er deren irritierte Blicke bemerkte. »Äh ja, auf jeden Fall werde ich, ich meine, egal, was ich mache, ich werde auch weiterhin die Zeitungen und das Internet für euch nach irgendwelchen dämonischen Aktivitäten durchstöbern. Das mach ich nun schon so lange, das ist mir richtig ans Herz gewachsen. Wahrscheinlich sterbe ich irgendwann mal mit den berühmten letzten Worten: Zamorra, Nicole, fahrt nach Venedig. Dort scheint ein Dämon sein Unwesen zu treiben.« »Red keinen Blödsinn«, verlangte der Parapsychologe. »Sagtest du Venedig?«, fragte Nicole. »Seltsam, es ist noch keine zwei Stunden her, dass ich ebenfalls daran gedacht habe. Worum ging's da noch mal? Ah ja, richtig, um den Terroranschlag in Torcello. Das kann kein Zufall sein. Also, schieß schon los.« Pascal nickte und genehmigte sich zwei große Schlucke Caipirinha. »Ah, tut das gut. Du bist ein richtiges Trüffelschwein, Nicole.« »Danke. Diese gesetzten Worte haben mir in der Galerie meiner sieben wichtigsten jemals erhaltenen Komplimente noch gefehlt.« »Du weißt schon, wie ich's meine.« Pascal nahm die Zeitung an sich und faltete sie auf. Einige Computerausdrucke lagerten darin. Zamorra erkannte das Logo des Internetauftritts der Boulevardzeitung Le Parisien. »Es geht in der Tat um den angeblichen Terroranschlag in Torcel-
lo«, nahm Pascal den Faden wieder auf. »Alle seriösen Zeitungen und Medien vertreten diese Version. Aber in der Internetpräsentation des Parisien habe ich brandneu etwas gefunden, was mich stutzig machte. Seht mal hier. Der Parisien zitiert, von der italienischen Il Sole 24 Ore übernommen, die sich wiederum auf die Nachrichtenagentur Inter Press Service beruft, eine gewisse Raffaela di Leo. Die Frau ist wohl eine der vierzehn Torcello-Einwohner und erzählt etwas vollkommen anderes als die Terrorgeschichte. Ihrer Version nach hat eine Halbwüchsige irgendetwas mit einer steinernen Rose angestellt, die dann in grellem Feuer explodiert ist und die beiden Frauen getötet hat, weil sie zu nahe an dem Inferno standen. Hm. Und dann ergänzt sie noch, dass das Mädchen in das Leuchten hineingezogen worden und darin verschwunden sei, kurze Zeit später aber wieder ausgespuckt wurde, wenn ich das mal so sagen darf.« Pascal konnte sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sicher sein. Sie hingen förmlich an seinen Lippen. »Darfst du«, erwiderte Nicole. »Das hört sich so an, als habe die Halbwüchsige, wie du so schön sagst, ein Weltentor geöffnet. Möglicherweise hat sie den Durchgang nicht geschafft und wurde wieder retourniert. Vielleicht hat sie aber auch eine Mission in der fremden Welt erfüllt und kam erst danach wieder zurück. Durch verschiedene Zeitabläufe in den Welten könnte es so ausgesehen haben, als sei sie nur Sekunden unterwegs, wobei es sich aber, wie gesagt, eventuell um eine optische Täuschung handelte.« »Optische Täuschung ist gut.« Zum ersten Mal mischte sich Lady Patricia, wenn auch mit einem bescheidenen Beitrag, in die Unterhaltung ein. »Ja, nicht wahr?« Pascal nickte. »Die Beschreibungen der di Leo haben mich auch gleich an die Öffnung eines Weltentors erinnert. Natürlich nimmt die Polizei solche Aussagen nicht ernst. Ist ja nachvollziehbar. Aber für jemand, der schon mit diesen Dingen zu tun hatte, klingt das alles ziemlich plausibel. Ich denke mal, dass man sich diese Details nicht einfach aus den Fingern saugen kann, wenn man sie nicht selbst gesehen hat.« Nicole Duval nickte. »Sehe ich exakt genauso. Chéri, wenn du mich fragst, sollten wir in Venedig mal nach dem Rechten sehen.
Und das sage ich nicht nur, weil ich vorhin beschlossen habe, unbedingt mal wieder in die Lagunenstadt zu wollen. Soll ich schon mal die Flüge buchen?« »Aber nur Touristenklasse. Bei deinem letzten Einkaufsbummel hast du eine komplette Monatseinnahme verprasst.« »Aber wer wird denn, mein geliebter Chéri«, flötete sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich habe nichts verprasst, sondern die Wirtschaft gefördert. Das ist etwas völlig anderes.« Gleich am nächsten Morgen flogen Zamorra und Nicole von Lyon aus nach Venedig. Bei strahlendem Sonnenschein landeten sie auf dem Flughafen Marco Polo. Mit einem Vaporetto, einem Wassertaxi, setzten sie in die Stadt über und checkten im traumhaft schönen Hotel San Moisè in der Nähe des Markusplatzes ein. Wenig später mieteten sie sich privat ein Motorboot, um nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Zähneknirschend akzeptierten sie den sündhaft teuren Preis. Mit dem weißen Flitzer fuhren sie durch die nördliche Lagune, vorbei an der Friedhofsinsel San Michele, nach Torcello. Dort legten sie in dem kleinen Hafen an, wurden aber von einem schwer bewaffneten Carabiniere in Uniform sofort wieder abgewiesen. »Tut mir Leid, Signorina, Signore, Touristen dürfen die Insel momentan nicht betreten. Polizeiliches Sperrgebiet, Sie verstehen.« Nicole nickte. »Wegen des Terroranschlags, nicht wahr?« »Es dauert sicher noch ein paar Tage, bis wir die Sperre wieder aufheben können.« Zamorra hob bedauernd die Schultern. »Kann man nichts machen«, antwortete er in perfektem Italienisch. »Dann kommen wir eben ein anderes Mal zurück. In Venedig gibt's schließlich noch eine Menge sonstiger Sehenswürdigkeiten anzuschauen.« Sie drehten und fuhren ein Stück auf die Lagune hinaus, wo sie ankerten und erst einmal den Blick auf die Stadt und das bunte Treiben auf dem Wasser genossen. »Was tun wir also?«, fragte Nicole. »Ich denke, wir warten bis nach Einbruch der Dunkelheit. Danach mache ich mich unsichtbar, schleiche auf die Insel und checke die Lage. Momentan ist mir das ein bisschen zu riskant.«
»Und womit vertreiben wir uns bis dahin die Zeit?« Zamorra grinste. »Ich plädiere dafür, dass wir weit raus aufs Meer fahren, wo's einsam ist und wir uns ungestört auf Deck einander widmen können. Sehr körperbetont und in der prallen Sonne, du verstehst?« »Wüstling«, fauchte sie. »Ist dir eigentlich klar, dass uns dabei ein überfliegender Satellit in allen Details fotografieren könnte?« »Das erhöht den Reiz ungemein. Jedenfalls bei mir.« Nicole kicherte. »Stimmt. Am liebsten wäre mir ein GPS-Satellit. Vielleicht tauchen wir dann plötzlich stöhnend und grunzend in irgendeinem Navi auf? Das hätte doch was.« »Ich grunze nicht«, stellte Zamorra fest. »Ich atme höchstens etwas schneller.« Sie setzten ihren Plan in die Tat um. Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren sie erneut in den Hafen von Torcello. Dieses Mal stand Nicole am Steuer. Sie hatte Glück, dass der Carabiniere abgelöst worden war. Von seinem Kollegen bekam sie genau das Gleiche zu hören. Die Französin gab vor, Probleme mit dem Motor zu haben und ihn reparieren zu wollen. Der Mann gestattete ihr, nachdem sie ihn hinlänglich angeschmachtet hatte, liegen zu bleiben, bis der Schaden behoben war. Das Boot verlassen durfte sie aber nicht. Der Meister des Übersinnlichen nutzte die Zeit. Nur einen Meter von dem Polizisten entfernt schwang er sich über die Reling und sprang auf die Mole. Dabei kam es zu einem kleinen Geräusch. Misstrauisch fuhr der Beamte herum und hob die MP, konnte aber nichts sehen. Zamorras Unsichtbarkeits-Trick, den er einst von einem tibetanischen Mönch gelernt hatte, funktionierte perfekt. Durch reine Konzentration vollbrachte es der Parapsychologe, dass seine körpereigene Aura die Abmessungen seines Leibes nicht mehr überschritt und so von anderen nicht mehr wahrgenommen werden konnte. Er ging auf einem schmalen Weg entlang eines ebenso schmalen Kanals ins Inselinnere. In den schmucken Häusern, die sich vereinzelt am gegenüberliegenden Ufer des künstlichen Wasserlaufs aufreihten, brannten Lichter. Der Professor begegnete zwei, drei Menschen auf dem Weg, denen er aber geflissentlich auswich. Hätten sie
ihn berührt, wäre seine Unsichtbarkeit sofort beim Teufel gewesen. Dummes Sprichwort, dachte er. Weder Sid Amos noch Stygia hatten damit irgendetwas zu tun. Verrückt. Zamorra erreichte einen großen Platz. Der Mond schien auf Santa Fosca herunter und tauchte das ungewöhnlich gestaltete Kirchengebäude in geheimnisvolle Schatten. Auch in den wenigen Häusern rund um die Kirche brannte Licht. Der Meister des Übersinnlichen berührte kurz Merlins Stern, der auf der leichten Lederjacke offen vor seiner Brust hing. Aber das Amulett fühlte sich kühl an. Ein Zeichen, dass es keine dämonischen Aktivitäten in der Nähe gab. Langsam ging er an den Arkadengängen der achteckigen Kirche entlang, die aus dem elften Jahrhundert stammte. Nicole hatte ihm heute Nachmittag auf Deck, als sie eng zusammen gekuschelt lagen, mit Begeisterung den Reiseführer vorgelesen und so wusste er über die Anlage Bescheid. Innerhalb des Achtecks lag der Zentralbau, gestaltet als griechisches Kreuz, mit einer runden, abgestuften Kuppel in der Mitte. Direkt daneben, durch einen Säulengang verbunden, stand die Kathedrale Santa Maria Assunta. Orso Orseolo, der Bischof von Torcello, hatte Santa Fosca im elften Jahrhundert erbauen lassen. Wenn er es richtig behalten hatte, war die Kirche über dem Grab der christlichen Märtyrerin Fosca errichtet worden, deren Gebeine wiederum der Bischof irgendwo aus Kleinasien nach Torcello überführt hatte. Zamorra interessierte sich allerdings mehr für die Mauer mit den Artefakten, die sich direkt neben den Kirchen erstreckte. Ein Polizeiband sperrte den Platz davor weiträumig ab. Der Professor überstieg das Band und stand gleich darauf vor der geheimnisvollen Feuerrose, in der es zu den seltsamen Erscheinungen gekommen sein sollte. Er nahm Merlins Stern zur Hand. Nichts. Und trotzdem wurde der Meister des Übersinnlichen das Gefühl nicht los, dass doch etwas zu spüren war. Ob ihm vielleicht sogar das Amulett diese Ahnung vermittelte? Möglicherweise … Er musste mehr Details erfahren. Deshalb entschloss er sich, Raf-
faela di Leo zu suchen. Wenn er es geschickt anstellte, erzählte sie ihm die Geschichte noch einmal. Wahrscheinlich wohnte sie in dem efeuüberwucherten Haus links von ihm. Von da aus gab es zumindest freie Sicht auf das makabre nächtliche Geschehen. Aber hinter den Fenstern war alles dunkel und offensichtlich momentan unbewohnt. War di Leo ausgegangen? Oder hatte sie vorsorglich aus Angst das Haus gänzlich verlassen? Zamorra löste seine Unsichtbarkeit in den Schatten hinter dem dunklen Haus auf, ging zum nächsten Gebäude und klingelte. Ein junger, kräftiger Mann öffnete, nachdem ein bisschen Zeit verstrichen war. Er starrte den Professor misstrauisch an. »Ja bitte?« »Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch störe, Signore. Aber können Sie mir vielleicht sagen, wo ich Signora di Leo finden kann?« »Sind Sie von der Polizei? Dann müssten Sie doch wissen, wo die ist.« »Nein, keine Polizei. Ich bin ihr Onkel.« Das war das Erstbeste, das ihm eingefallen war. »Nein, tut mir leid, keine Ahnung.« Der Mann schlug Zamorra die Tür vor der Nase zu. Dann eben nicht … Er versuchte es ein zweites und drittes Mal an anderen Häusern, aber nirgendwo wurde ihm mehr geöffnet. Und das Restaurant hatte geschlossen, da ohnehin keine Touristen die Insel betreten durften. Frustriert zog der Dämonenjäger wieder ab, machte sich erneut unsichtbar und betrat so das Motorboot. Es gelang ihm sogar, Nicole zu erschrecken, als er sie plötzlich berührte. Die gab vor, den Schaden repariert zu haben und verabschiedete sich von dem Carabiniere. Gemeinsam fuhren sie auf die Lagune hinaus. Weder Nicole noch Zamorra bemerkten, dass glühende Augen ihnen noch eine ganze Weile nachstarrten.
Annibale Tizian hielt sich elegant an der goldenen Engelsstatue fest, die den Campanile krönte. Er liebte es, von der Spitze des 98 Meter hohen venezianischen Giganten aus rotem Backstein über die Stadt
und die Lagune zu schauen. Manchmal tat er es einfach deshalb, weil es ihm möglich war. Gelegentlich tat er es, um von alten Zeiten zu träumen, und hin und wieder, weil es einen konkreten Anlass gab. So wie diesmal. Tizian war etwas über zwei Meter groß und kräftig. Er trug schwarze Kleider und einen bodenlangen nachtdunklen Umhang. In seinem markanten männlichen Gesicht, das so weiß wie der Mittelteil des Campanile war, schimmerten rötliche Augen. Die dichten schwarzen Haare, die er nach hinten gekämmt trug und die ihm über die Schultern bis auf die Brust fielen, verstärkten seine Bleichheit noch. Einmal hatte ihn jemand mit dem Tod verglichen. Das hatte ihm gefallen, wenn es auch zu viel der Ehre gewesen war. Für einen Moment geriet der Tageslichtvampir, der die vier Blutsaugersippen Venedigs seit vielen hundert Jahren führte, ins Träumen. Früher, ja, da hatten die Gondeln Trauer getragen, als sie die Toten nach San Michele brachten, und es war gut so gewesen. Würdig. Heutzutage trugen die Gondeln nur noch in Ausnahmefällen Trauer, etwa, wenn ein Gondoliere starb oder eine Contessa, die sich ein Begräbnis im alten Stil wünschte. Wie rasend schnell sich doch die Zeiten änderten. Heute hielt der Fährmann über den venezianischen Styx auf der Fahrt vom Reich der Lebenden in die Welt der Toten die Hände nicht mehr am Ruder, sondern am Gashebel des Außenbordmotors. Tizian bedauerte zutiefst, dass die alten Zeiten auf ewig als verloren gelten mussten. Damals waren die Kinder der Nacht noch die unumschränkten Herrscher der Stadt gewesen, Teilnehmer am öffentlichen Leben, stark und mächtig – denn die Menschen hatten noch um ihre Existenz gewusst und sie gefürchtet. Mit fortschreitender Technisierung der Welt war der Glaube an die Vampire jedoch immer mehr verloren gegangen, zugleich wurden die Waffen der Wenigen, die noch von den Kindern der Nacht wussten, stets besser. Dies alles hatte dazu geführt, dass Tizian und die Seinen nun weitgehend im Untergrund leben mussten. Starr wie eine Statue stand Annibale Tizian da, die Arme vor der Brust verschränkt. Noch lagen die Frühnebel über der Lagune, die
es hin und wieder auch im Sommer gab. Nur schemenhaft war deshalb der Glockenturm von San Michele zu erkennen, zumal er über die ganze Stadt hinwegblicken musste, um ihn zu sehen. Der Campanile stand am südlichen Rand Venedigs; die Friedhofsinsel aber lag in der nördlichen Lagune auf halbem Wege zwischen der Stadt und der Glasmacherinsel Murano; sie war das Reich der Toten und auch dasjenige, in dem Tizian herrschte. Teils offen, teils verborgen, stets im Wandel der Zeiten. Er war eine der wenigen Konstanten, die alles zusammenhielten, aber kaum jemand wusste darum. In seinen Augen blitzte es für einen Moment grell auf. San Michele schien wie ein Schiff auf dem leicht bewegten Wasser zu schwimmen und durch die trübe, graue Suppe zu schimmern. Eine Stimmung wie geschaffen für die Toten unter und über der Erde; genau wie er sie liebte. Tizians Gedanken wurden abgelenkt. Über den Rio di Palazzo tuckerte das tiefblaue Totenboot. Am Steuer stand Maurizio Piasenti, ein Tageslichtvampir wie Tizian. Vor langer Zeit hatte der Vampirfürst ihn gebissen. Warum gerade Maurizio ebenfalls immun gegen das Tageslicht war und alle anderen, die er zu seinen persönlichen Kindern gemacht hatte, nicht, war Tizian nach wie vor ein Rätsel. Er wusste es nicht und würde es wahrscheinlich auch nie wissen, welche magischen Gesetzmäßigkeiten in einem Fall wie diesem wirkten. Also nahm er es hin, wie es war. Andere zerbrachen sich den Kopf, was ihnen jedoch auch nicht weiterhalf. Da Maurizio sein persönliches Kind war, konnte der Vampirfürst in dessen Geist eindringen und durch dessen Augen sehen, wann immer es ihm beliebte. Und im Moment beliebte es ihm. Nachdem Maurizio seinen Herrn ehrfürchtig willkommen geheißen hatte, sah Tizian nun alles aus der Perspektive des Leichenfahrers. Seit 30 Jahren fuhr Maurizio Piasenti Leichen nach San Michele. Dort hatte er vor gut einem Vierteljahrhundert das Glück gehabt, dem Vampirfürsten in die Quere zu kommen, als dieser gerade seine Gruft verließ. Tizian veranlasste Maurizio, dessen Führerstand sich direkt am Bug befand, kurz zurück ins Boot zu schauen, in dem sich Blumenarrangements, Gestecke und Corone, Kronen, stapelten. Dabei han-
delte es sich um riesige flache Räder mit breiten grünen Schärpen, in denen kunstvoll Hunderte von Blüten angebracht waren. Gehalten wurden sie von den drei Männern der Besatzung, die als Beeinflusste Maurizios dunkle Existenz unterstützten, denn Vampire konnten sie nicht sein; schließlich mussten sie sich tagsüber bewegen. Im hinteren Teil des Bootes saßen zehn dunkelgekleidete Personen in einer Glaskabine, die sie vor dem kalten Morgenwind schützte. Ein Mann verließ diese Kabine und trat zu Maurizio Piasenti. Sein Gesicht war nicht so verhärtet und verweint wie das der anderen Trauergäste. Er musste Aurora nicht ganz so nahe gestanden haben – Aurora, die kalt und bleich im blumenübersäten Sarg lag, der auf einem Eisengestell genau in der Mitte des Bootes unter freiem Himmel über dem Dieselmotor stand. Aurora, die Annibale Tizian zu seiner neuen Gefährtin machen wollte, nachdem er ihrer Vorgängerin, die zu anspruchsvoll und ungehorsam geworden war, das Genick hatte brechen müssen. Eine ärgerliche Geschichte. Vor vier Nächten hatte er deshalb seiner aktuellen Auserwählten den Kuss des Todes gegeben und ihr Blut geschlürft. Ein wenig allerdings nur, damit die Menschen nicht misstrauisch wurden und sie aufschnitten. Alles hatte geklappt wie geplant, und nun transportierte Maurizio sie unversehrt in Tizians Reich, um dort aufzuerstehen und die Bluthochzeit mit ihm zu vollziehen. Der Trauergast befand sich offenbar in redseliger Stimmung. »Sicher ein schwieriger Job, den Sie da haben.« Der Leichenfahrer verzog keine Miene. »Ach wissen Sie, ich mache das seit 25 Jahren, jeden Werktag ein paarmal. Trotzdem muss ich immer aufpassen, auf die anderen Boote, den Nebel, die Strömungen, obwohl ich die Strecke wie meine Westentasche kenne, verstehen Sie. Auch den Kompass brauche ich manchmal, wenn die Sicht gar zu schlecht ist. Hier läuft es nicht so wie auf dem Festland, irgendwie ist es aufregender, jeder Tag hält ein Abenteuer bereit. Auf dem Land ist diese Arbeit viel monotoner. Ich bin lieber hier in der Lagune, auf dem Wasser, das mal steigt, mal fällt … es gibt Hochwasser, Niedrigwasser, die Brücken, langweilig ist mir nie.« Der Trauergast nickte stumm. »Ja, und im Herbst, wenn Nebel aufkommt, darf man sich trotz-
dem nicht mit allzu viel Wein aufwärmen, sonst landet man in den Untiefen der Lagune. Wenn man dort erst mal feststeckt, bleibt einem nichts anderes übrig als zu warten, bis das Wasser steigt und man wieder freikommt. Und man muss hoffen, dass das Boot nicht beschädigt ist und vielleicht sogar sinkt.« Schick ihn weg, Maurizio, er widert mich an … Ja, Herr! »Doch nun entschuldigen Sie mich, Signore, ich muss mich konzentrieren.« Das Totenboot verließ den Kanal und fuhr in die Lagune ein. Der Vampir lenkte es nach Steuerbord. Um nach San Michele zu gelangen, musste er Venedig zuerst an der Ostseite entlang umrunden. Er drückte auf den Hebel und beschleunigte. Die 130 PS im Dieselmotor fielen in einen lärmenden Galopp. Von der Kaimauer her blitzte es plötzlich. Touristen, von denen einige schon um diese Zeit unterwegs waren, schossen Bilder ins Zwielicht. Tizian hatte das bereits oft gesehen. Piasentis blaues Boot mit den vielen Blumen war für sie ein auffälliger Farbtupfer in der monotonen Lagune, immer etwas Besonderes. Manchmal stellten sie sich sogar vor das Boot und ließen sich fotografieren – vor allem Japaner, aber auch Besucher aus anderen Ländern. Die wussten oft nicht, dass sie sich mit einem Leichentransport ablichteten, sahen nur die prächtigen Blumen, die Gestecke und Girlanden. Und so mancher wunderte sich später, dass der Fahrer auf den Fotos nicht zu sehen war, obwohl er ihn garantiert mit aufs Bild genommen hatte. Der Weg über die leicht gekräuselten Wellen zog sich länger als sonst. Knapp über eine Stunde. Annibale Tizian beobachtete nun wieder durch seine eigenen Augen von seinem luftigen Ausguck aus. Schließlich breitete er die Arme aus, ließ sich fallen und verwandelte sich in der Abwärtsbewegung in eine riesige Fledermaus, die noch rasch eine Ehrenrunde über dem Totenboot drehte, ehe sie rasend schnell nach San Michele hinüberflog. Der Vampirfürst war bereits voller Vorfreude, den Sarg öffnen und Aurora in seine Gruft entführen zu können. Das Boot legte nach einer gefühlten Ewigkeit am Hintereingang
des Friedhofs an. Die Männer setzten den Sarg auf der winzigen Mole ab und fuhren ihn, die Trauergäste im Schlepptau, auf einem kleinen eisernen Karren zu der Renaissancekirche, wo die Totenmesse stattfand. Annibale Tizian kauerte im Wipfel einer Zypresse. Fiebrige Erregung packte ihn. Er konnte es kaum noch erwarten, sich von seiner neuen Gefährtin verwöhnen zu lassen. Unter ihm wurde ihr Leichnam gerade zur letzten Ruhestätte gefahren – dachten jedenfalls die da unten. Sie lag auf dem kleinen eisernen Karren, rollte vorbei an den viel besuchten Gräbern von Igor Stravinski und Ezra Pound und jenen von vielen tausend unbekannten Venezianern. Nur solche durften auf diesem besonderen Friedhof ihre letzte Ruhe – oder Unruhe – finden. Die Trauergäste nahmen Abschied von der lieben Verstorbenen und gingen wieder. Ihre Boote lagen schon bereit. Irgendwann stand der Sarg einsam über der Grube. Es würde noch einige Zeit dauern, bis ihn die Totengräber in die Erde ließen. Annibale Tizian sprang von der Zypresse herunter, landete geschmeidig und trat vor den Sarg. Er zeichnete mit den Fingern der rechten Hand magische Zeichen in die Luft. Bläuliche Flammen umliefen den Sarg für einen kurzen Moment und lösten die Verschraubungen. Problemlos hob der Vampirfürst den Deckel hoch, beugte den Oberkörper in den Sarg – und prallte entsetzt zurück. »Du … du bist nicht Aurora«, stammelte er. »Wer bist du?« »Dein ganz persönlicher Albtraum.« Ein Mädchen lag mit gefalteten Händen und angezogenen Beinen vollkommen nackt auf dem dunkelblauen Samt. Blitzschnell richtete sie ihren Oberkörper auf und ließ den rechten Arm vorschnellen. Bevor der Blutsauger reagieren konnte, fühlte er sich am Hemdkragen gepackt und in den Sarg gezogen. Der mächtige Vampirfürst röchelte verzweifelt. Seine Beine zuckten über dem Rand des Sarges. »Dein ganz persönlicher Albtraum, Annibale Tizian«, wiederholte Minette Fleury.
2 – Tiefste Vergangenheit: Ein Stückchen Hölle für den Brarktanen Grantor setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt fiel ihm schwer. Er schlurfte, zog die mächtigen Beine hinter sich her. Jede neue Jagd wurde anstrengender und anstrengender. Kurz überlegte er, demnächst zu zweit auf die Jagd zu gehen. Doch in seinem gesamten, schon Jahrtausende währenden Dasein war er noch keinem weiteren Brarktanen begegnet. Er musste sich berichtigen. Sein Zwillingsbruder hatte die Ausnahme dieser Regel gebildet, bis er ihn erschlagen hatte, kaum dass er das Bewusstsein erlangt hatte. Brarktanen waren nun einmal geborene Einzelgänger. Wenn Grantor auch nicht wusste, ob er tatsächlich geboren worden war. Ein eigenartiger Gedanke – diese Frage hatte er sich bislang nie gestellt. Doch nun, da er spürte, dass seine Lebensenergie nach und nach schwand und er sie immer öfter von außen auffrischen musste, überkamen ihn von Zeit zu Zeit seltsame Erinnerungen. Grantor hob seinen Schädel und sah sich um. Der Himmel waberte orangefarben, so weit die Augen blicken konnten. Der düstere Horizont erstreckte sich von einem Ende dieses Bereichs der Hölle bis zum anderen. Wie lange war er bereits marschiert? War er so in Gedanken versunken gewesen, dass er den allmählichen Ortswechsel gar nicht mitbekommen hatte? Er wusste nicht, wo genau er sich befand, aber das war selbst für einen so alten Dämon wie ihn schwierig in der Hölle. Diese Dimension war instabil. Wo an einem Tag noch eine Hügellandschaft aufragte, konnte am nächsten ein riesiges Bergmassiv stehen, dessen Gipfel sich in eisiger Kälte verloren. Oder es gab gar nichts mehr. Nur wenige Gegenden unterlagen keiner andauernden Veränderung.
Seine rechte Pranke zuckte. Die Haut seines nackten und haarlosen Körpers erinnerte an erkaltetes Lavagestein. Wie so oft brach diese stahlharte Hülle auf, so dass Hitze entwich und für kurze Momente zähflüssiges, gelbes Gewebe träge pulsierte … doch sofort schlossen sich die Risse in seinem Leib wieder. Mit der rechten Hand schleppte er einen Menschen der Erde mit sich, einer beliebten Dimension, um dort Jagd zu betreiben. Blut lief aus dem Mund des Mannes, bei diesen Sterblichen war es rot und besaß ein angenehmes Aroma. Eins der besten, wenn nicht das beste schlechthin. Die Dämonen behielten auch deshalb diese Welt besonders gut im Auge. Das Opfer stierte umher, offenbar ohne noch etwas wahrzunehmen; der primitive Geist dieses Menschen war bereits zerbrochen. Das spielte für Grantor keine Rolle, solange dieser Sterbliche am Leben blieb und das Blut noch pulsierte. Was bei der Frau, die er mit der Linken gepackt hielt, anscheinend nicht der Fall war. Sie rührte sich nicht mehr. Wie ärgerlich! Ihm war entgangen, dass sie gestorben war. Zwar konnte der langsam erkaltende Leib ihm nun keine neue Lebensenergie mehr liefern, aber das Fleisch würde ihn dennoch sättigen. Besser als nichts. Eine Energieentladung zerriss den Horizont. Das Licht flackerte sekundenlang. Grantor beobachtete das Phänomen für eine Weile und setzte sich wieder in Bewegung. Er wollte schnell einen geeigneten Ort für sein Mahl finden. Der Hunger quälte ihn noch mehr als die aufkeimende Schwäche und trieb ihn voran, weckte neue Energie in ihm. Er ging rascher und legte mit jedem Schritt eine gewaltige Distanz zurück. Die Beine nahmen mehr als zwei Drittel der Körperlänge ein und waren dick wie die Stämme der Mammut-Bäume, zwischen denen er vor wenigen Stunden die beiden Opfer gewählt hatte. Stein und Geröll wurden unter den breiten Füßen zu Staub zermahlen. Grantor nahm für gewöhnlich auf seinem Weg auf nichts Rücksicht. Weder auf Steine oder Felsbrocken noch auf Feinde und wildes Höllengeschmeiß – doch plötzlich geriet er außer Tritt. Sein Fuß berührte kaum den Boden, als er schon rückwärts taumelte. Machtvoll, als wäre er gestoßen worden, stolperte er meter-
weit zurück und ließ vor Überraschung seine Opfer los. Der Mann schlug auf, schlitterte weiter und stöhnte leise. Die Frau überschlug sich mehrfach. Die toten Arme drehten sich wie Dreschflegel rundum. Grantor konnte sich keinen Augenblick mehr aufrecht halten. Er fiel und krachte mit vollem Gewicht auf einen Körper. Ärgerlich grunzend rappelte er sich auf und sah nach unten. Luzifer sei Dank! Er war nur auf die Frau gefallen, deren Leib wie überreifes Obst geplatzt war. Eine schmierige Lache breitete sich aus. Der Sturz auf den Mann jedoch hätte sein Opfer umgebracht. Und das wollte er nicht! Es wäre schade um den späteren Genuss gewesen. Aber was hatte seinen Marsch unterbrochen? So etwas war ihm noch nie untergekommen. Grantor drehte sich um, musterte den Boden. Er entdeckte nichts, nur eine ebene Fläche, die … Halt! Zwei Schritte brachten ihn an die Stelle seines Missgeschicks. Dort ging er in die Knie. Trockenes, staubiges Gestein. Ein wenig Geröll. Kleinere Steine. Das war alles. Wütend stampfte er auf. Und flog im gleichen Moment durch die Luft wie von einem gewaltigen Katapult geschleudert. Krachend schlug sein felsenartiger Körper auf. Die Haut platzte erneut; sein pulsierendes inneres Fleisch trat hervor. Es dampfte, erkaltete aber sofort und verfestigte sich. Auf diese Weise war sein Leib ständigen Veränderungen unterworfen. »Bei allen verdammten Erzengeln!« Grantor rappelte sich wieder hoch. Fast dreißig Meter war er zurückgeworfen worden. Nur – wovon? Wütend sah sich der Brarktane um. Niemand war zu sehen, keine Anwesenheit eines anderen Dämons zu spüren. Dies war unbeanspruchtes Land. Wäre es im Besitz eines Höllenwesens oder gar das Refugium eines Erzdämons gewesen, der ihn auf diese Weise rigoros vertrieben hätte – er hätte es sofort gemerkt. Doch dies war totes Land. Uninteressant, ein Furunkel, dem niemand Beachtung schenkte.
Weite Schritte brachten ihn wieder zu seinen Opfern. Der Mann kroch über den Boden, Speichel tropfte aus seinem Mund. »Du bleibst hier«, grollte Grantor beiläufig. Er packte den Wehrlosen. Mit ihm in der Pranke schob er sich langsam an die Stelle, die ihn nun schon zweimal ausgehebelt hatte. Nichts geschah. Warum nicht? Sollte er es noch einmal probieren? Aber nicht ohne zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen. Zwei derartige Stürze waren ihm genug. Er schleuderte sein Opfer beiseite und kniete sich nieder. Vorsichtig fegte er mit den wulstigen Pranken Staub und Geröll hinweg. Eine glatte Fläche entstand, aus deren Zentrum eine kleine Wölbung hervorragte. Sollte dieses unscheinbare Etwas etwa der Auslöser seines Unglücks sein? Mit den Krallen fuhr er darüber. Es gab keine Reaktion. Warum also dann beim Auftreten? Trotz dieses Widerspruchs war sich Grantor nun völlig sicher, dass diese Wölbung in der Erde die Verantwortung trug. Speichel rann ihm über die Reißzähne, als er die Handfläche flach über den Boden streichen ließ. Ein Kribbeln legte sich auf seine Fingerspitzen, bahnte sich von da einen Weg in seinen Arm und schoss als Ausläufer in den gesamten Leib. Schnell zog der Brarktane sich etwas zurück. Es war kein Schmerz gewesen, und doch … er konnte nicht sagen, was es war, aber es ließ ihm keine Ruhe. Irgendetwas lauerte dort unter der Erde. Und er würde es herausholen! Grantor schlug die Pranken in den Boden, bohrte die Krallen in das Gestein und riss es auf. Doch rund um die Wölbung gab es solch starken Widerstand, dass es ihm nicht gelang. Ungeheuerlich! Seinen Kräften gelang alles! Fluchend drosch er die Faust auf den Boden. Sofort erwischte ihn eine erneute Entladung und trieb ihn zurück – diesmal in seiner kauernden Haltung auf den Knien schlitternd. Grantor kratzte sich den Schädel. Was auch immer da verborgen
lag, es schien zu erkennen, wenn Gewalt gegen es eingesetzt werden sollte. Das ließ nur eine einzige Schlussfolgerung zu. Was immer dort unten lauerte … … es lebte. Nun, der Brarktane verfügte über ausreichend Zeit. Er würde warten. Doch zuerst musste er sich stärken. Er griff sich einige der zerquetschten Überreste der Frau, deren Fleisch mittlerweile kalt geworden war. Dennoch schlang er es hinunter. Die Organe schmeckten nicht einmal übel. Die Knochen waren ein wenig spröde, aber das Mark noch saftig. Immerhin. Danach widmete er sich dem Mann. Er hob ihn hoch und beobachtete amüsiert das Zappeln dieser Kreatur. Genüsslich setzte er den verschmierten steinernen Schlund auf die Brust und begann zu saugen. Blut und Innereien flossen in ihn über, dabei nahm er die Energie des Opfers auf. Bis auf den letzten Rest leerte er den Unglücklichen, den er so lange wie möglich am Leben ließ. So schmeckte es am besten. Als nichts mehr Verwertbares blieb, schleuderte er die Hülle von sich. Sie fiel wie ein schlaffer Sack in sich zusammen, prallte vom Boden ab und flog weiter. Das war unnatürlich. Außer den noch von der Haut bespannten, großteils zerborstenen und ausgelutschten Knochen war nichts übrig geblieben, das … federn könnte. War dort unter dem Gestein etwa noch etwas verborgen? Grantor ging los, am Aufprallpunkt kniete er sich nieder. Er wiederholte die gleiche Prozedur und in der Tat entdeckte er eine weitere kleine Wölbung, die aus tieferen Schichten gegen den Boden drückte. »Was seid ihr bloß für Wesen?«, flüsterte er. Etwas Blut blubberte unter der Zunge hervor, bildete eine Blase, die rasch zerplatzte. »Und wie viele?« Der Brarktane sah sich um. Wuchs an diesem scheinbar bedeutungslosen Ort etwa eine Bedrohung heran? Oder umgekehrt – gab es etwas, das ihm von Nutzen sein konnte? Vielleicht fand er keine Antworten auf diese Fragen, aber zumin-
dest die Anzahl der Wölbungen vermochte er leicht herauszufinden. In den nächsten Stunden fand Grantor im Umkreis von wenigen Quadratmetern zehn Verwerfungen. Zehn Erhebungen im Boden. Zehn Kreaturen – welcher Art auch immer –, die auf Grantors Anwesenheit reagierten, wenn er versuchte, sie mit Gewalt hervorzuholen. Wenn er sich ihnen stattdessen langsam und ohne Aggression näherte, wehrten sie sich nicht gegen ihn. Diese Wesen besaßen also offenbar Intelligenz. Den Brarktanen dürstete es danach zu wissen, worauf er gestoßen war. Doch ein Versuch mit Gewalt schien von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Was blieb ihm also übrig? Warten? Vorher wollte er noch seine eigene Magie einsetzen. Mit seinem ihm angeborenen Spürsinn versuchte er den Boden zu durchdringen, um einen Blick auf das Verborgene zu erlangen. Er vermochte nicht durch feste Materie sehen, aber eine magische Präsenz spürte er normalerweise, und er konnte sie unterscheiden. Die Erzdämonen und die bekannten Dämonenrassen besaßen ihre ihnen eigene Ausstrahlung. Diese war … anders. Es erinnerte ihn an nichts, das ihm schon einmal begegnet war. Grantor musste sich sogar anstrengen, um überhaupt etwas zu spüren. Sonst hätten seine inneren Warnsensoren bereits viel früher reagiert, und er hätte nicht erst beim direkten Kontakt auf überraschende Weise die Bekanntschaft dieser unbekannten Art gemacht. Doch auch wenn er noch nicht erahnte, was an diesem Ort vor sich ging, eins spürte er deutlich: Macht. Vor ihm im Felsenboden saß etwas sehr Mächtiges. Er wollte es miterleben. Da auch sein magischer Versuch einer Kontaktaufnahme fehlschlug, blieb ihm tatsächlich nur Warten.
Die Zeit verging anders in der Hölle, aber sie verging. Der Brarktane saß neben der Erhebung, die sich nicht veränderte. Nicht um einen Millimeter wuchs sie an. Auch die Umgebung blieb
stabil. Anscheinend war dieser Bereich der Hölle nicht den sonst nahezu allgegenwärtigen Veränderungen unterworfen. Endlose Gesteinsformationen erstreckten sich nach wie vor unter dem orange leuchtenden Horizont. Kein anderes Wesen erschien. Langsam nagte der Hunger in Grantor. Auch seine magische Energie ließ wieder nach. Er brauchte eine Stärkung, doch die würde er nicht ohne weiteres finden. Er musste die Hölle verlassen. Sein Ziel war das Gleiche wie beim letzten Mal. Die Erde. Er aktivierte seine Magie zum Transfer in die andere Dimension. Seine Haut platzte auf. Blubbernd ergoss sich sein Inneres auf den Boden, bildete eine leuchtende Lache rund um ihn; seine Zauberkraft floss mit in diesen Strudel. Ein Wirbel entstand in der immer größer werdenden Schleimpfütze, wuchs an und glitt an seinem Körper hinauf. Bald war der Dämon komplett mit Schleim bedeckt. Ein starkes Blitzen, dann fiel das Leuchten in sich zusammen. Gleichzeitig verschwand die Umgebung um Grantor, und ein neues Bild formte sich. Er entstand auf der Erde. Schnell blickte er sich um, doch kein Feind hielt sich in der Nähe auf. Alles leuchtete ekelhaft weiß, die Sonne glitzerte auf einer riesigen Fläche. Schnee nannten die Menschen dieses Wetterphänomen, das es in der Hölle scheinbar nicht gab. Zumindest war Grantor nie darauf gestoßen. Das weiße, pulverartige Element fiel noch immer vom Himmel. Wenn es auf seinen Körper traf, schmolz es zischend und kleine Dampfwölkchen trieben in die Höhe, ehe sie verwirbelten. Er kannte diesen Ort. Dort hatte er die beiden letzten Opfer gefunden. Sie waren gerade so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie sein Kommen nicht bemerkt hatten. Aber auch ein früheres Entdecken hätte ihnen keine Flucht ermöglicht. Grantor lachte, als er sich daran erinnerte. Die Energie und das Fleisch hatten köstlich gemundet – etwas schal im Fall der Frau, aber das blieb im Rahmen des Erträglichen. Hin und wieder fraß er zwar auch niedere Dämonen, aber ein Mensch bildete nach wie vor seine Leibspeise. Dem KAISER sei Dank vermehrten sie sich schnell genug, gerade in kalten Gegenden wie diesen hatten sie offenbar
nichts Besseres zu tun, als Kinder zu zeugen. Einer mehr oder weniger fiel da gar nicht auf. Das letzte Mal war es allerdings heiß gewesen. Die Sonne hatte hoch vom Himmel gebrannt und die Bäume zum grünen Leuchten gebracht. Es mussten viele Monate vergangen sein. Hatte er tatsächlich so lange an der gleichen Stelle in der Hölle verharrt? Zeit war für einen Dämon wie ihn zwar von geringer Bedeutung, aber angesichts dieser Zeitspanne überraschte es nicht, dass der Hunger ihn plagte. Wegen der Kälte hielt sich niemand mehr in der Nähe auf. Er würde sich auf die Suche begeben müssen. Grantor stapfte los. Er hinterließ tiefe Spuren im Schnee. Ein Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Diese einfältigen Menschen hatten von der Hölle zwar keine Ahnung, aber dennoch würden sie dem Teufel die Schuld daran geben, wenn sie die Spuren entdeckten. Als er grölend lachte, flatterte ein Rabe erschrocken auf und trieb als winziger schwarzer Punkt in der weißen Ewigkeit. Manche Gruppen der Menschen entwickelten Ansätze einer Schrift, wie sie etwa in der Hölle schon lange verbreitet war, um Kontrakte und Verträge zu schließen. In Felswände und auf Tierhaut kratzten sie die Sagen und Legenden, die sie sich über die Hölle und den Teufel erzählten. Seltsamerweise glich er dem echten Asmodis nur sehr bedingt. Schnelle Schritte brachten den Brarktanen durch den Wald. Immer wieder musste er sich an eng stehenden Bäumen vorbei quetschen oder er brach sie der Einfachheit halber schlicht um. Er wollte sich beeilen, denn er mochte den Schnee nicht. Die Kälte störte ihn. Sein eigener Organismus war nicht an diese Bedingungen angepasst, darum hatte er auch nie versucht, sich auf dieser Welt ein Reich zu errichten und Untertanen um sich zu scharen wie andere Dämonen. Die ständigen Temperaturschwankungen behagten ihm nicht, und die besten Plätze auf dieser Planetenkugel waren bereits besetzt. Außerdem passte es nicht zum Einsiedlertum der Brarktanen, sich allzu eng an die Menschen zu binden. Und wer mochte schon unablässig sein Futter um sich wissen? Grantor verhielt seinen Schritt. Die Höröffnungen an seinem kanti-
gen Schädel vernahmen etwas – das Zusammenpressen von Schnee unter leichten Menschenfüßen. Mittlerweile war es dunkel geworden, aber er sah vorzüglich. Das wenige Mondlicht reichte ihm völlig aus. Die Quelle des Geräuschs lag gar nicht weit entfernt. So leise, wie es einem Dämon mit seiner Gestalt möglich war, schlich er näher heran. Bis zur Baumgrenze ging er vor. Dort versteckte er sich hinter einer mächtigen Eiche. Der Mensch stapfte langsam näher, quälte sich durch den tiefen Schnee. Grantor roch die Nahrung, und sie weckte seinen Hunger noch mehr. Leider handelte es sich nur um ein einzelnes Opfer, aber Brarktanen waren recht genügsam. Er lauerte in seinem Versteck und wartete ab. Er legte keinen Wert auf gruselige Auftritte und vor Angst schlotternde Opfer wie manch anderer Dämon. Alles Firlefanz, seiner Meinung nach. Ihm ging es nur um die Sättigung. Es handelte sich um einen Mann, und er schrie. Ihm war es gleichgültig. Seine Pranken schlugen zu, rissen ihn um. Der Mann brüllte immer noch, als könne er dadurch etwas ändern. Er lag im Schnee. Stattdessen hieb er zu und traf die Hand seines Opfers, die glatt abgetrennt wurde. Unter Schmerzen schreiend presste sich der bebende Mensch den Stumpf unter die Achsel. Grantor packte ihn und erlöste ihn von der Pein, die er wohl empfand. Als sein Hunger gestillt war, begab er sich auf seine eigene Art des Transports zurück in die Hölle. Und nun war er es, der schrie.
Auf den ersten Blick sah alles aus, wie er es verlassen hatte. Doch er, der so viel Zeit exakt an dieser Stelle reglos, wartend und beobachtend verbracht hatte, bemerkte es sofort. Eine der Erhebungen war gewachsen! Vielleicht nicht einmal um einen Millimeter, aber er erkannte es, wusste, dass er sich nicht täuschte. Es tat sich also etwas, wenn auch unglaublich langsam. Möglicherweise ging es nun, da der Prozess in Gang geraten war, schneller voran.
Grantor kontrollierte die anderen neun Fundstellen, doch bei ihnen hatte sich nichts verändert. Er kehrte zum Ort der überraschenden Entdeckung zurück. Es handelte sich um jene Stelle, die ihn zweimal zu Boden geschleudert hatte. Er beschloss, erneut zu warten. In den nächsten Tagen wandte er seinen Blick kein einziges Mal ab. Doch nichts geschah. Keine Veränderung, nicht die geringste. Grantor verfiel schließlich in finsteres Grübeln, doch was half das schon? Wie zuvor fühlte er nicht, wie die Zeit verging. Stunde um Stunde, Tag um Tag. Woche um Woche. Letztlich sogar Monat um Monat. Bis erneut der Hunger in ihm fraß, ihm die Kraft rauben wollte und an seine Reserven ging. »Nun tut endlich etwas!«, schrie Grantor wütend. War schon wieder so viel Zeit vergangen? Er konnte doch nicht den Rest seines vielleicht unendlichen Lebens damit verbringen, untätig zu beobachten! Wie viel Zeit wohl verflossen war? Er leitete den Transport ein und fand sich erneut an der bekannten Stelle. Sonne schien auf grüne Bäume. Es war Sommer geworden. Vielleicht nicht nur ein, sondern mehrere Jahre später? Grantor fluchte und marschierte los. Er fasste einen Plan. Er würde sich einen Vorrat anlegen, um länger in der Hölle ausharren zu können. Zuerst nahm er den Weg durch den Wald, den er auch das letzte Mal zurückgelegt hatte. Er erkannte ihn an den Spuren der Vernichtung, die immer noch deutlich waren. Also lag sein Besuch wohl doch nur Monate zurück. Die wie Streichhölzer umgeknickten Bäume wiesen ihm die Richtung. Bald erreichte er die Stelle, an der sein letztes Opfer sein Leben gelassen hatte. Er hob witternd den Kopf – sein Opfer musste irgendwohin unterwegs gewesen sein. Dort gab es aller Wahrscheinlichkeit nach noch mehr Menschen. Er roch etwas. Der Brarktane eilte los, und es dauerte nicht einmal zwei Stunden, bis er ein kleines Dorf erreichte. Schreiend rannten Kinder weg, die vor primitiven Hüttenbauten aus Steinen gespielt und ihn zuerst erblickt hatten. Lauthals kündig-
ten sie das Grauen an, das sich ihnen näherte. Wahllos drang Grantor in die vorderen einfachen Bauten ein. Man bewarf ihn mit Steinen doch diese prallten wirkungslos von ihm ab. Er packte sich die Menschen, die nicht fliehen konnten. Kinder verschonte er, nicht etwa aus Milde, denn diese bildete ein Fremdwort für ihn. Aber sie gaben ihm nicht genug Energie und sollten erst noch reifen, um dann umso wohler zu munden. Auch die Alten in ihren Lagern nahm er nicht mit sich, denen der Tod schon ins Gesicht geschrieben stand. Sie waren schal und ausgetrocknet. Am Ende hatte er drei Frauen und sechs Männer in seine Gewalt gebracht. Er umklammerte sie und brachte sie in die Hölle. Dort wartete bereits die nächste Überraschung. Sie waren gewachsen! Wütend warf der Brarktane die Menschen zu Boden. Einige blieben ohnmächtig liegen, die anderen versuchten kriechend Raum zwischen sich und ihren Entführer zu bringen. Ihnen stand in die Gesichter geschrieben, dass sie nicht verstanden, was vor sich ging. Sicher glaubten sie, einer ihrer Götter – wohl die böse Version – sei zu ihnen hinab gestiegen. Grantor beachtete sie nicht, sie würden ihm ohnehin nicht entkommen. Zwei weitere Wölbungen hatten sich in der Zwischenzeit vergrößert. Wie war das möglich? Es geschah immer, wenn er nicht anwesend war! Das konnte kein Zufall sein. Als warteten diese Wesen nur darauf, dass er ging – als wollten sie ihn verhöhnen. Doch dieses Mal würde er dabei sein, wenn es erneut dazu kam. Er verfügte über einen Vorrat. Aber ein neues Problem setzte sich in ihm fest – auch wenn in der ganzen Zeit seines Ausharrens kein anderer Dämon aufgetaucht war, bot dies keine Garantie für die Zukunft. Er musste dieses Gebiet offiziell für sich beanspruchen. Und das konnte ihm nur einer zugestehen: der Fürst der Finsternis, Asmodis persönlich. Grantor würde ihn bei der nächsten Audienz darum bitten.
Der Brarktane stand in der hintersten Reihe des Thronsaals. Unzählige Dämonen aller Rassen versammelten sich. Auch andere Wesen
der Finsternis, wie Vampire, hatten sich zur Audienz beim Fürsten eingefunden. Irrwische flitzten zwischen ihnen hin und her und versuchten die Wünsche ihrer Herren zu erfüllen. Nicht immer mit gutem Ausgang für sie. Die Ungeduld der Dämonen wurde oft an den kleinen Helfern ausgelassen. Immer wieder ertönten die leisen Schreie, mit denen sie verpufften. Das Scherflein Lebensenergie floss dann Asmodis zu, der dies unter Umständen wohlwollend zur Kenntnis nahm. Unter Umständen. Asmodis saß auf seinem Thron und hörte sich die Wünsche seiner Untertanen an. Meist wirkte er gelangweilt, doch er schien seine Pflicht als oberster Fürst immerhin so weit ernst zu nehmen, dass er seine kostbare Zeit für sein Volk verwendete. Zumindest während der – seltenen – Audienzen. Manchmal reagierte er auch unwillig, jagte Bittsteller fort und tobte auf seinem Thron. Grantor ließ bereitwillig jeden vor, er hatte kein Interesse daran, dass andere mitbekamen, worum es ihm ging. Es dauerte einige Tage, bis er an die Reihe kam. Der Fürst musterte ihn von oben bis unten. Er trat in seiner Lieblingsgestalt mit den beiden Stierhörnern und den Bocksfußen auf. »Ein Brarktane«, grollte er. »Es ist das erste Mal in meiner Regentschaft, dass sich jemand aus deinem Geschmeiß hierher verirrt. Und wie du vielleicht weißt …« Er spuckte aus, und es stank schweflig. »… regiere ich schon immer. Tja, ich hätte gedacht, ihr seid längst ausgestorben.« Asmodis lachte schallend. »Also, wer bist du und was willst du?« Grantor verneigte sich tief vor seinem Herrscher und nannte ehrerbietig seinen Namen. »Ich begehre einen Teil der Hölle als mein Gebiet zu beanspruchen.« Wieder musterte Asmodis ihn durchdringend. »Ein Wunsch, der mir seltsam deucht, mein Lieber«, sagte er hinterlistig. »Ihr Brarktanen seid doch ruhelose Wanderer. Noch nie hat sich jemand von euch an einem festen Ort niedergelassen. Wohl nur deshalb habt ihr auch keine Wünsche. Ihr zieht von dannen, wenn es ungemütlich wird.« Grantor verbeugte sich immer noch demütig. Sein steinerner
Rücken knirschte. »Herr, ich bin alt geworden. Wie Ihr sagtet, Ihr dachtet, wir Brarktanen gehören der Vergangenheit an. Vielleicht bin ich der Letzte meiner Art, ich weiß es nicht. Wir scheren uns tatsächlich nicht um unsere Artgenossen und auch nicht um die Politik der Hölle. Mir gefällt nur, dass ich da bin. Darin liegt mein Sinn … in der Existenz an sich. Doch jetzt bin ich alt und möchte mich niederlassen.« Das Reden strengte Grantor an. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Worte am Stück gesprochen zu haben. »So, so«, sagte Asmodis. »Alt geworden. Darf man erfahren, an welchen Bereich du gedacht hast? Wahrscheinlich eines der schönen, prominenten Gebiete mit feinen Weltentoren.« Grantor stellte sich aufrecht hin und sah den Höllenfürsten an. »Lest in meinen Gedanken. Ich hege keine Hinterlist.« Er öffnete seinen Geist für seinen Herrn. Dieser griff zu! »Dieses unwichtige, karge Land begehrst du?« Asmodis lachte schallend auf. Seine Stimme wurde von den Wänden der riesigen Thronhalle zurückgeworfen und verstärkt. Doch plötzlich vereiste sein Blick. »Warum willst du ausgerechnet dieses Stück Hölle? Sprich!« Nun kam es darauf an. Grantor musste den Fürsten der Hölle täuschen. Wenn Asmodis bemerkte, dass der Brarktane ihn belog und täuschte, war sein Leben keinen Funken Seele mehr Wert. »Ich suche Ruhe und Abgeschiedenheit, denn wie Ihr schon sagtet, bin ich ein Einzelgänger und will nichts weiter, als die Einsamkeit für mich haben.« Asmodis starrte ihn an. »Also gut, es sei dir gewährt. Von heute an gehört dieses Stück Hölle dir. Dein Fürst vertraut es dir als Lehen an.« »Danke, oh Gebieter.« Grantor verneigte sich noch einmal tief und ausgiebig. Asmodis winkte einen Archivar heran und ließ ihn die Vereinbarung aufschreiben. Dann sprang er von seinem Thron auf. »Und nun hinaus!«, brüllte er. »Ich habe mich lange genug mit euren Nichtigkeiten aufgehalten. Es gibt Wichtigeres zu tun.« Er wartete gar nicht ab, bis Grantor den Thronsaal verlassen hatte, sondern drehte sich dreimal um die eigene Achse und stampfte mit dem Fuß auf. Im selben Moment verschwand er und hinterließ nur eine
fürchterlich stinkende Schwefelwolke, die jedoch ausgerechnet an diesem Ort kaum weiter auffiel. Grantor lächelte, als er Asmodis' Refugium verließ und sich auf den Weg zu seinem eigenen Stückchen Hölle machte. Zu seinem Geheimnis. Dort angekommen überprüfte er zunächst seine Saat. Insgeheim nannte er sie mittlerweile so, schließlich wuchs das Etwas in seinem Herrschaftsgebiet heran. Er erkannte keine Veränderung. Nun ging es darum, sein Gebiet für andere unzugänglich zu machen. Nach einer kleinen Stärkung aus seinem Vorrat ging er an die Arbeit. Er schritt sein Reich ab. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und versank in Konzentration. Grantor ließ seine Arme an den Stellen aufplatzen, an denen bei Menschen die Pulsadern saßen. Orangeglühender Schleim quoll hervor und tropfte auf den Boden. Von dort floss er in gerader Linie nach links und rechts weg. Nach kurzer Zeit versickerte er und bildete eine neue Schicht auf dem alten Gestein. Diesen Vorgang wiederholte er, bis er eine magische Barriere geschaffen hatte. Sie zeigte vorbeikommenden Dämonen zuverlässig an, dass diesen Bereich jemand beanspruchte. Schwächere Schwarzblütige vermochte die Barriere beim unbefugten Übertreten zu vernichten, Stärkeren zumindest Schwierigkeiten bereiten. Grantor würde von nun an spüren, wenn es jemand wagen sollte, sich unangemeldet zu nähern. Von Zeit zu Zeit musste er diesen Bann erneuern, doch zunächst hielt er einmal einige Jahrhunderte lang. Nun konnte Grantor in Ruhe warten.
Die Zeit zog dahin. Der Brarktane verließ sein Reich nur noch, wenn er Menschen brauchte. In all den Jahren geschah nichts. Außer dass sich an dem Erntefeld der Saat eine Energie sammelte. Er fühlte sie. Sie vermischte sich mit seiner eigenen Magie. Bald schon konnte er nicht mehr trennen, was von den fremden Wesen und was von seiner ureigenen magischen Ausdünstung stammte.
Bis über die Abschirmung breitete sie sich allerdings nicht aus. Grantor war froh darüber, denn das hätte andere Dämonen nur auf ihn aufmerksam gemacht. Er spürte, dass die anderen Wesen unter dem Gestein seines Refugiums mächtig waren. Es ärgerte ihn, dass er ihre Ziele nicht kannte. Scheinbar akzeptieren sie seine Anwesenheit. Dies beruhigte ihn, denn Grantor glaubte nicht, dass er dem, was da wuchs, etwas entgegensetzen könnte, falls sie ihn vernichten wollten. Plötzlich begann es in ihm zu brodeln. Was war das? – Unfassbar! Jemand versuchte in sein Reich einzudringen! Doch an welcher Stelle genau? Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Da die Schwelle aus einem Teil seines Eigenbewusstseins bestand, fand er bald Zugang … Es war, als sei er selbst angegriffen worden. Er eilte an den Ort des Geschehens und ließ seine Haut aufplatzen. Der Schleim sonderte sich ab. Schnell entstand der magische Wirbel. Grantor ließ sich hinwegtragen – am Ziel riss er die Augen auf. Und glaubte kaum, was er sah. Ein zweiter Brarktane versuchte einzudringen! Der Eindringling war etwas kleiner als er, was darauf schließen ließ, dass er auch jünger war. Brarktanen wuchsen in gleichmäßiger Geschwindigkeit über die gesamte Lebensdauer, bis sie das Maximum an Masse erreicht hatten und schließlich zu einem Teil ihrer Umgebung wurden. Der Angreifer schleuderte aus seinen aufgeplatzten Armen Schleim in Richtung des Bannkreises. Sobald er dort aufprallte, zischte es. Noch hielt Grantors Abschirmung den Angriffen stand. Er brüllte den kleineren Dämon an. »Verschwinde von hier! Oder ich werde dich vernichten!« Für einen Moment stoppte der Angreifer seine Versuche und hob den Kopf. Feurige Augen funkelten in der steinernen Fratze. Die beiden Kontrahenten musterten sich aus wenigen Metern Abstand. »Du erregst Aufmerksamkeit, Grantor! Nie fand ich einen Bereich, den ein Brarktane für sich beanspruchte. Welche Pläne hegst du? Ich will es wissen!« Seine Stimme klang wie das Zermahlen von Felsen. Grantor ließ sich nicht einschüchtern. »Es geht dich nichts an. Ich
warne dich ein letztes Mal: Geh deiner Wege oder du wirst es bereuen.« Wieder musterten sich der alte und der junge Brarktane. Dann lachte der Angreifer. »Du altes verbrauchtes Stück Dämon willst mir drohen? Sieh dich an! Deine Zeit ist abgelaufen. Verrate mir dein Geheimnis und ich verschone dich. Vielleicht.« Grantor brüllte gereizt auf. Sein Innerstes kochte vor Wut. Es brodelte unter der steinernen Haut. Aus den Krallen trat Dampf aus. Der Zorn mobilisierte Kräfte in ihm, die er längst verloren geglaubt hatte. »Nun denn, der Worte sind genug gewechselt!« Jetzt lasse ich Taten sprechen, dachte Grantor noch und ging direkt zum Angriff über. Er stürmte vor und hieb zu. Dieser Kampf würde nicht nur durch Magie ausgefochten werden. Zwei Hünen trafen aufeinander, die über gewaltige Körperkräfte verfügten. Dabei hatte Grantor einen Vorteil: Er selbst vermochte seine Absperrung nach Belieben zu durchdringen. Nun sauste seine mächtige Faust hindurch und traf krachend auf die Schulter seines Gegners. Es klang wie Donnergrollen. Der Getroffene sank etwas in die Knie, federte aber wieder hoch. Sein Gegenangriff prallte an der unsichtbaren Grenze ab, hinter die sich Grantor listig zurückzog. Er lachte. Allerdings wusste er, dass sich nur mit Körperkraft dieses Duell nicht entscheiden ließ. Um seinen Gegner wirkungsvoll magisch zu treffen und zu vernichten, musste er nah an ihn heran. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sein Reich zu verlassen. Schnell trat er vor, überschritt die Linie und brachte einen weiteren Schlag an. Dieses Mal zog er sich nicht zurück. »Du magst jung sein, aber du bist auch leichtsinnig. Deine Jugend und die damit verbundene Entschlossenheit nutzen dir in diesem Fall nicht!« »Wir werden sehen. Wenn du Feigling dich nicht wieder zurückziehst, zeige ich dir, was ich zu tun vermag.« Die Kolosse standen sich gegenüber und sammelten ihre Magie für einen Angriff. Der jüngere Dämon war schneller. Er riss die Arme vor und ließ sie aufplatzen. Sein lavaartiges Inneres schoss auf Grantor zu. Dieser drehte sich so gut es ging zur Seite. Der Großteil der Ladung traf ihn nicht, doch er bekam einiges ab und fühlte bei-
ßenden Schmerz. Rasch spülte er mit eigener Glut die verwundeten Stellen. Sie schlossen die gegnerische Magie und lösten sie auf. Endlich hatte Grantor genug Energie gesammelt, um zum finalen Schlag auszuholen. Er ging in einen Ausfallschritt und schleuderte eine orange glühende Fontäne ab. Er zielte besser als sein Kontrahent. Das meiste traf! Auch sein Gegner öffnete die Haut versuchte die magische Attacke zu neutralisieren. Darauf hatte Grantor nur gewartet. Er hatte längst nicht alle Kraft in den ersten Schlag gelegt. Zwei schnelle Schritte brachten ihn auf Schlaglänge heran – er rammte die gespreizten Finger in den Körper seines Feindes. Darin krümmte er die Klauen und wühlte sich weiter vor. Der andere schrie markerschütternd auf. Grantor ließ seine Magie in ihn fließen, doch dann wurde er zurückgestoßen. Nach drei taumelnden Schritten kam er zum Stillstand. »Was sagst du nun, junges Großmaul?«, grollte er zufrieden. »Das wird dir nichts nutzen«, sagte der Verwundete, aber Grantor ließ sich nicht täuschen. Er sah, dass sein Treffer Wirkung zeigte. Sein Gegner wankte. Kleinere Wunden platzten am gesamten Körper selbsttätig auf und schlossen sich nur zögerlich. Jetzt muss ich nachsetzen! Grantor ließ seinem Feind keine Zeit, sich zu erholen. Er stürmte vor und schlug zu. Seine Pranke krachte ihm vor die Brust, die sofort aufplatzte – und nur an den Rändern wucherte neue Haut, viel zu langsam, um die schwere Wunde zu schließen. Ein Tritt brachte den jungen Dämon zusätzlich aus dem Gleichgewicht, ein weiterer Schlag ließ ihn fallen. Grantor lachte triumphierend auf. Er hob den Fuß und trat nach dem Schädel des Besiegten. Teile brachen ab, ein Stöhnen war zu hören. »Und nun empfange den Tod!« Grantor war gleichfalls am Ende seiner Kräfte, doch die Siegesgewissheit verlieh ihm die nötige Energie für den letzten Akt. Er schickte seine Magie in den aufgebrochenen Schädel.
Diesmal wurde ihm nichts mehr entgegengesetzt. Seine Kraft zerfetzte den Körper des Unterlegenen. Der Schleim verteilte sich rund um den Sterbenden und kristallisierte – ein sicheres Zeichen des nahenden Endes. Immer wieder brachen felsartige Stücke ab und zerfielen zu Staub. Der Todeskampf dauerte wenige Minuten, dann blieb von Grantors Feind nichts mehr übrig. Der Brarktane lachte auf. »So ergeht es jedem, der hier eindringen will! Hört ihr?«, brüllte er einen Triumph hinaus in die Hölle. Zufrieden zog er sich zurück in sein Reich, wo sich schon wieder etwas getan hatte: Ein fingerdickes, starres Pünktchen war aus dem Gestein gebrochen, wie ein kleines, hölzernes Auge, das ihn anstarrte.
Bis auf schwächere Dämonen, die sich von der Absperrung abschrecken ließen, erschien in den nächsten Jahrhunderten niemand mehr in der Nähe. So wenig sich außerhalb dessen Grenze abspielte, so viel tat sich innerhalb. Grantor stand zufrieden vor seiner Züchtung. Es hatte Jahre gedauert, bis sich minimale Veränderungen zeigten. Doch die Zeit hatte ihn nicht interessiert. Geduldig hatte er gewartet und es hatte sich gelohnt. Die Wesen waren zunächst zögerlich aus dem Boden gebrochen und schließlich gewachsen. Inzwischen ragten sie mehrere Zentimeter auf. Das Einzige, was Grantor nach wie vor wunderte, war, dass er nie einem Wachstumsschub hatte beiwohnen können. Stets geschah es, wenn er nicht darauf achtete, weil irgendetwas ihn ablenkte. Und das, obwohl er sie nahezu rund um die Uhr beobachtet hatte. »Wie lange werdet ihr noch wachsen, meine Schätze?«, sagte Grantor mehr zu sich selbst als zu den Wesen. – bald ist die Zeit reif – Was war das gewesen? Eine Antwort? Grantor erbebte innerlich. Er brauchte Stunden, um seine nächste Frage zu formulieren. »Wer seid ihr?« – langka – War das ein Name? Ihre Rasse? Grantor zitterte; an seinen Gelen-
ken knirschte die Haut. Seine Überraschung steigerte sich noch, als er eine Art magisches Lachen in sich fühlte. – wir sind Langka … und du bist unser Diener – Diese Antwort gefiel Grantor überhaupt nicht. Diener? Er war niemandes Diener! Vielleicht mit Ausnahme von Asmodis, dem Fürsten der Hölle. Und natürlich Lucifuge Rofocales, dem Ministerpräsidenten der Hölle. Ganz zu schweigen von LUZIFER, dem Höllenkaiser. Doch außer ihnen erkannte er keine Autorität über sich an. – du bist der Diener der Langkas – »Ich bin euer Herr!«, brüllte Grantor. »Ich habe euch beschützt und geheim gehalten, während ihr gewachsen seid. Ohne mich wärt ihr entdeckt und vernichtet worden.« – wir bedürfen keines Schutzes … wir sind die Macht … unser Keim fiel am Anfang mit Feuer und wartete – »Zeigt mir eure Macht!«, provozierte Grantor die Wesen, die gräulich schimmerten wie dürres Holz. Im gleichen Moment bereute er seine vor Wut getroffene Aussage. Etwas hob ihn hoch und schleuderte ihn zurück auf den Boden. Es fühlte sich an, als würden Tonnen Gestein ihn begraben, obwohl nichts auf ihm lastete. Die Langkas bewegten sich keinen Millimeter von der Stelle. Langsam nahm der Druck zu und drohte ihn zu zerquetschen. – wir sind Macht – »Lasst … mich …«, presste er hervor. – wir sind Macht – Der Druck verstärkte sich noch. »Ich … erkenne euch an. Ich bin euer … Diener!« Noch einmal steigerte sich der Schmerz, dann ließ er abrupt nach. Die Langkas gaben ihn frei. Mühsam richtete sich Grantor auf. Obwohl er sich den Wesen, die er so viele Jahrhunderte beobachtet hatte, unterworfen hatte, brannten die Fragen ihn ihm. Was wollen Sie nur? Worin besteht ihr Ziel? – wir sind, das ist unser Ziel gewesen – Sie hatten seine Gedanken gelesen! Grantor erschauerte. »Und was wollt ihr nun tun? Nun, da ihr … geworden seid?« – es wird sich zeigen … wir werden forschen und testen – Dies schien
das Letzte zu sein, was die Langkas ihm mitteilten, denn sie reagierten nicht auf weitere Anfragen. Grantor war sich zum ersten Mal seit Beginn dieser seltsamen Beziehung vor Hunderten, vielleicht Tausenden von Jahren nicht mehr sicher, ob er damals richtig entschieden hatte. Er befürchtete, dass etwas seinen Anfang genommen hatte, das er nicht mehr kontrollieren konnte. Und wenn solches geschah, wurde man allzu leicht zwischen fremden Steinen zermahlen.
3 – Rosentod Zamorra und Nicole hatten innerhalb der Mauern des rot gestrichenen venezianischen Palastes, der aus dem 16. Jahrhundert stammte, tief und entspannt geschlafen und waren schon sehr früh am Morgen erwacht. Während der Professor im Hotel San Moisè frühstücken wollte, schlug Nicole ein Lokal außerhalb vor. »Lass uns doch auf den Markusplatz gehen und dort was suchen«, flötete sie und setzte sich damit wie fast immer durch. Die Dämonenjäger traten noch kurz auf den schmalen, mit gusseisernen Geländern gesicherten Balkon und schauten den Booten und Gondeln zu, die im Kanal direkt unter dem Fenster fuhren. Dann spazierten sie Händchen haltend zum Markusplatz. Als sie an den Anlegekais entlang gingen, tuckerte ein tiefblaues Boot aus einem Kanal, das in Blumen geradezu versank. Es nahm Fahrt auf und fuhr in die Lagune hinaus. »Das Totenboot.« Nicole glaubte, nur für einen kurzen Moment, eine riesige Fledermaus über dem Boot fliegen zu sehen. Da Nebelschwaden über dem Meer waberten, durch die sich soeben die Sonne arbeitete, tat sie es als optische Täuschung ab. Sie fanden ein hübsches kleines Café und setzten sich an ein Tischchen am Fenster. »Ahh«, sagte Zamorra und dehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen. »Jetzt habe ich Lust auf einen Cappuccino mit irgendwas dazu. Du kannst mir sicher das Passende empfehlen.« Er lächelte. »Und dann besprechen wir, wie wir weiter vorgehen. So richtig weiß ich das im Moment nämlich auch noch nicht.« »Nicht verzagen, Nici fragen.« »Fragen kann ich dich immer. Ob ich allerdings auch Antworten kriege, das steht auf einem anderen Blatt.« »Blödmann.« Nicole kicherte. »Schau mal, da draußen vor der Säule. Die beiden Typen mit den Hüten, die da so betont unauffällig rumlungern, sehen aus wie Mafiosi.« »Oder wie Geheimdienstagenten. Ich tippe mal …«
Die Eingangstür flog auf. Drei schwarz gekleidete Männer mit Gesichtsmasken und Helmen stürzten in den Raum. Sie fächerten auseinander, drehten sich in Richtung Zamorra und Nicole und richteten ihre automatischen Sturmgewehre auf sie. Gäste begannen zu schreien und warfen sich unter die Tische – als ob diese ihnen Sicherheit bieten würden. »Keine Bewegung! Polizei!«, brüllte einer der Eindringlinge und ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass er die beiden Franzosen meinte. Zamorra und Nicole hoben die Arme. In diesem Moment flog auch die Hintertür auf. Männer und Frauen in schusssicheren Westen drängten herein, fächerten ebenfalls auseinander und hielten den Verdutzten mit ausgestreckten Armen Pistolen unter die Nase. »Bloß keine Bewegung! Pfoten oben lassen!«, brüllte nun auch ein großer, schlanker Mann Mitte vierzig, der einen beigen Trenchcoat trug. Darunter zeichneten sich stramme Muskeln ab, das kantige Gesicht mit den kurzen schwarzen gewellten Haaren hätte in jeden Modekatalog gepasst, so männlich markant war es. Weitere Behelmte drängten ins Café. Sie stürzten sich auf Zamorra und Nicole, sensten den beiden die Beine weg, drehten sie am Boden geschickt auf den Bauch und hebelten ihnen jeweils den rechten Arm auf den Rücken. Nicole schrie empört auf. Sie glaubte im falschen Film zu sein. Sofort darauf klickten Handschellen um ihre Gelenke. Eine Beamtin tastete sie nach Waffen ab und ein Mann tat genau das Gleiche mit Zamorra. Sie fanden nichts. Der Professor beglückwünschte sich heimlich, dass sie wegen des Fluges die E-Blaster dieses Mal zu Hause im Château gelassen hatten. »Los, raus mit ihnen!« Jeweils zwei Männer packten die beiden an den Armen und führten sie ab. »He, nicht so grob«, protestierte Nicole lautstark, aber sofort wurde ihr Oberkörper nach unten gedrückt. Also beschloss sie, erst einmal zu schweigen. »Was wirft man uns vor?«, rief Zamorra noch lauter, doch ihn ereilte das gleiche Schicksal. Man führte sie auf Polizeiboote ab; dort mussten sie auf einer Bank
Platz nehmen. Je drei Polizisten des Sondereinsatzkommandos bewachten sie. Mit Sirene ging es durch die Kanäle in den Ostteil der Stadt. In Castello befand sich das Polizeipräsidium, die Questura. Zamorra und Nicole wurden getrennt voneinander in Arrestzellen gestoßen. Kurze Zeit später fand sich der Parapsychologe in einem Verhörzimmer wieder. Die Handschellen musste er anbehalten. Der gut aussehende Polizist betrat den kahlen Raum, in dem es an Möblierung nur einen Tisch und zwei Stühle gab. Er setzte sich Zamorra gegenüber und musterte ihn einige Momente lang mit kalten Blicken. »Ich bin Commissario Emilio Cattani von der Polizia di Stato«, stellte er sich vor. »Abteilung organisierte Kriminalität.« »Professor Zamorra. Franzose. Und als solcher verlange ich, sofort mit meinem Konsulat telefonieren zu dürfen. Was wirft man uns überhaupt vor? Es muss sich um eine Verwechslung handeln.« »Verwechslung, ach ja?« Cattani lachte höhnisch. »Halten Sie uns für dumm, Professor Zamorra? Wenn das Ihr richtiger Name ist, was ich bezweifle.« »Er ist es. Sie werden es sehen, wenn sich die Verwechslung aufgeklärt hat. Ich halte Sie im Übrigen keineswegs für dumm.« »Nicht? Dann erzählen Sie mir doch mal, warum Sie gestern auf Torcello waren und nach Signora di Leo gefragt haben.« Daher also wehte der Wind. »Ich war tatsächlich da. Und ich habe mich auch nach ihr erkundigt, zugegeben. Ist das ein derartiges Verbrechen, dass man meine Lebensgefährtin und mich wie Schwerverbrecher behandeln muss? Wie sind Sie überhaupt so schnell auf uns gekommen?« Commissario Cattani legte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich nach vorne. Er sah nun so gefährlich wie eine zustoßende Schlange aus. »Weil Sie sich selten dämlich angestellt haben, Professore, deshalb. Die Leute von Torcello haben Angst nach den beiden Morden und dem Terroranschlag. Wir haben ihnen gesagt, alles Verdächtige sofort bei uns zu melden. Das hat der Mann, den Sie gestern gefragt haben, umgehend getan. Zudem haben die Carabinieri am Hafen die Nummer Ihres Boots durchgegeben, weil wir gerade etwas nervös sind und auf jede Kleinigkeit achten, wie Sie si-
cher verstehen werden, Professore.« Er lachte trocken. »Der Kollege, der morgens Dienst tat, beschrieb eine Frau und einen Mann an Bord. Der Kollege vom Abend sprach nur noch von der Frau, während Sie zur selben Zeit plötzlich bei den Kirchen gesichtet wurden. Da war uns klar, dass hier irgendeine Sauerei läuft. Über die Bootsvermietung war es eine Kleinigkeit, Ihre Namen zu bekommen und Ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Wir haben Sie seit dem frühen Morgen beschattet und dann zugeschlagen. Wollten Sie das zu Ende bringen, was Sie zuvor nicht geschafft haben?« Zamorra runzelte die Stirn. »Das Orakel von Delphi ist Klartext in Vollendung gegen Sie. Was wollen Sie damit andeuten?« »Na was wohl. Sie können gern den Naiven mimen, Professore. Das zieht bei mir nicht. Ich weiß alles. Der Bombenanschlag galt in Wirklichkeit gar nicht den Kirchen, er galt Signora di Leo. Sie wollten sie auf diese Weise beseitigen. Und weil das nicht geklappt hat, versuchen Sie's nun nachzuholen. Na los, geben Sie's schon zu, Sie haben ohnehin ausgespielt, Zamorra oder wie immer Sie tatsächlich heißen. Sie sind ein internationaler Auftragskiller der Mafia mit jeder Menge gefälschter Papiere und Ausweise. Mit dem Sonderausweis des britischen Innenministeriums haben Sie aber wohl etwas zu dick aufgetragen. Den haben wir natürlich auch gefunden.« Der Meister des Übersinnlichen war für einen Moment sprachlos. »Das Dokument ist echt«, erwiderte er dann. »Wenn Sie ihn überprüfen lassen, können Sie das ganz einfach feststellen.« »Ja, natürlich, klar. Was glauben Sie, tun wir momentan? Schlafen? Frühstücken? In Ihrem Land – falls Sie tatsächlich aus Frankreich stammen – futtert man vielleicht erst mal ein Croissant, und sucht sich ein Baguette … wir gehen etwas zielgerichteter vor! Und wenn sich das Ding als unecht herausstellt, woran ich nicht zweifle, werden wir Sie und Ihre Komplizin nach allen Regeln der Kunst auseinandernehmen.« »Ich bin Franzose. Und ich bestehe darauf, jetzt mein Konsulat anzurufen.« Und das Baguette nehme ich gleich auch noch, dachte er missmutig, verkniff es sich aber, es laut auszusprechen. Er hatte Hunger, weil er so äußerst unsanft bei der Mahlzeit unterbrochen worden
war. Cattani betrachtete seine Fingernägel. »Franzose? So? Hm. Da bin ich mir aber gar nicht sicher, Professore. Sie reden ein perfektes Italienisch, so wie einer von uns, nicht wie ein Franzose. Bis Ihre wahre Identität aufgeklärt ist, sind Sie für mich ein Italiener.« Eine Frauenstimme ertönte durch einen Lautsprecher und bat den Commissario nach draußen. Nach etwa einer Minute kam er wieder zurück, ziemlich bleich und deutlich verunsichert. Er räusperte sich und kniff die Augen leicht zusammen. »Nun, ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Professore Zamorra. Wir haben Ihre Identität und die von Signora Duval zweifelsfrei feststellen können. Und auch den Sonderausweis haben wir überprüft. Er ist tatsächlich echt, wie uns von höchster Stelle bestätigt wurde. Mann, was sind Sie? So eine Art James Bond? Mit dem Ding haben Sie praktisch uneingeschränkte Polizeivollmacht im Commonwealth, es gestattet Ihnen sogar, eine Waffe zu tragen.« »Da sehen Sie mal.« »Allerdings sind wir hier in Italien und nicht im Commonwealth. Hier können Sie sich mit dem Ding den Hintern abwischen, wenn Sie wollen, Professore.« »Ach kommen Sie, lassen wir das. Wenn Sie mir jetzt die Handschellen abnehmen und Signora Duval natürlich auch, vergessen wir den kleinen Zwischenfall und ich biete Ihnen Zusammenarbeit an, wenn Sie das irgendwann für nötig erachten. Meine Lebensgefährtin und ich, wir sind beide nicht nachtragend. Und ich verspreche, dass ich mich unter Ihr Kommando stelle und keine Alleingänge mache.« Kurze Zeit später saßen Zamorra und Nicole in Cattanis Büro und schlürften starken Kaffee. Das war schon besser. »Sie sind Parapsychologe, nicht wahr?«, fragte der Commissario. »Was machen Sie da? Geister und Gespenster jagen?« »Ja«, sagte Zamorra gelassen. »Aus diesem Grund haben mir die Engländer auch den Sonderausweis ausgestellt.« »Die spinnen, die Briten. Wenn die nicht täglich eine Spukerscheinung sehen, sind sie überzeugt, sie hätten Halluzinationen.« Cattani lachte geringschätzig. »Verzeihen Sie, aber an so einen Humbug
glaube ich nicht. Ich war viele Jahre Mafiajäger auf Sizilien. Da muss man mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben und sich gesunden Menschenverstand bewahren. Geister haben da keinen Platz.« »Mafiajäger, was?« Nicole lächelte maliziös. »Und Ihre Rambotruppe haben Sie auch gleich aus Sizilien mitgebracht? Lassen Sie mich raten: Sie sind hierher versetzt worden, weil Sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr eingehalten haben. Ein paarmal zu oft über die Stränge geschlagen, was, Commissario? Wie kommen Sie überhaupt auf die abstruse Idee, in uns Mafiakiller zu vermuten?« Cattani grinste zum ersten Mal. »Oh, so absonderlich ist das gar nicht. Signora di Leo war viele Jahre lang die Geliebte des Mafiabosses Gianni Riva und hatte auch davor Freunde aus dem Mafiamilieu. Riva hat sie verstoßen und die hübsche Raffaela hat sich enttäuscht nach Torcello zurückgezogen. Wir warten schon lange drauf, dass Riva irgendwann auf die Idee kommt, seine Ex könnte irgendwas ausplaudern, um sich an ihm zu rächen. Und wie geht die Mafia in so einem Fall vor?« »Also gut, das ist nachvollziehbar«, gab Zamorra zurück. »Ich wollte Ihnen aber erzählen, warum wir hier sind, Commissario. Wir haben nämlich nicht nur die Artikel über den angeblichen Terroranschlag in Torcello gelesen, sondern auch die Geschichte, die die Il Sole 24 Ore verbreitet hat. Stand auch im Le Parisien, wenn Sies interessiert.« »Ich hab's mir fast schon gedacht. Und da sind Sie als Geisterjäger natürlich voll drauf abgefahren. Das Ganze hat nur einen kleinen Haken.« »So? Welchen denn?« »Signora di Leo befindet sich seit vielen Jahren in psychiatrischer Behandlung, weil sie immer wieder Stimmen hört und Geistererscheinungen hat. Deswegen hat sie Riva auch rausgeworfen.« Zamorra und Nicole sahen sich an. »Scheiße«, sagte der Meister des Übersinnlichen.
Mamma mia, wenn die zu mir in die Gondel steigen würde, das wäre
Hammer … Dass Wünsche sich manchmal viel schneller erfüllten, als man hoffen durfte, erlebte Antonio Guardi in diesem Moment. Der hübsche Junge hatte sein 17. Lebensjahr vor drei Tagen begonnen und seit diesem Tag das offizielle Gondoliere-Examen in der Tasche. Von Stund' an konnte er ganz alleine Touristen durch die Kanäle der Stadt schippern. Und nun blieben die Blicke des etwa 15-jährigen Mädchens mit den großen, ausdrucksstarken Augen und den superfrech gestylten blonden Haaren, die bis auf die süßen kleinen Brüste fielen, viel länger auf seiner Gondel haften als auf den vier anderen, mit denen er an der Ponte del Rimedio in einer Reihe wartete. »Gondole, Gondola Service!«, rief Antonio laut, aber das wäre nicht mehr nötig gewesen. Mit einem Lächeln trat das Mädchen mit den engen kurzen Jeans und der fast durchsichtigen Bluse an seine Gondel und stützte sich mit beiden Händen neckisch auf den hölzernen Spazierstock, den sie bei sich trug. Jedenfalls war das so eine Art Spazierstock. Antonio hatte so eine Pose schon mal im Varieté gesehen. »Hallo«, sagte sie geradeheraus. »Du gefällst mir. Möchtest du mein Gondoliere sein?« »Nichts würde mir mehr Freude machen, Signorina. Kommen Sie, steigen Sie ein.« Sie stellte sich noch neckischer in Pose, indem sie den Hintern ein wenig hinausstreckte. »Halt, nicht so schnell. Zuerst muss ich wissen, ob ich mir die Fahrt mit dir überhaupt leisten kann. Was müsste ich denn bezahlen?« »Achtzig Euro für eine Dreiviertelstunde.« Sie zog einen Schmollmund und jetzt fiel ihm auf, dass sie den roten Lippenstift ein wenig zu dick aufgetragen hatte. »Was denn, so viel? Dann muss ich leider verzichten. Schade!« Antonios Augen strahlten. »Ich mache Ihnen ein besseres Angebot, Signorina. 40 Euro. Dafür gehen wir heute Abend zusammen was trinken.« Er wusste genau, dass es Frauen gab, die ein Abenteuer mit einem Gondoliere suchten. So eine schien er vor sich zu haben. »Warum nicht?«, gab sie zurück und sah ihn auf eine Weise an, dass es ihn heiß und kalt überlief. Dann stieg sie zu ihm in die Gondel. Als er ihr hineinhalf und sich ihre Hände berührten, durchzuck-
te es ihn wie ein elektrischer Schlag. »Sag bitte Minette zu mir.« »Ja, klar … Minette.« Er verfluchte sich für den roten Kopf, den er gerade bekam. Ein bisschen cooler hätte er schon gerne gewirkt. »Dann nenn mich Antonio.« Sie setzte sich auf das rote Plüschsofa in der Mitte der Gondel und platzierte den Spazierstock über ihre Oberschenkel. »Wenn's dir nichts ausmacht, dann bleibe ich bei mein Gondoliere. Das gefällt mir.« Antonio legte unter den neidischen Blicken seiner Kollegen ab und schipperte Minette durch die Kanäle, vorbei an den alten Häusern und Palästen, die zum Teil ziemlich heruntergekommen wirkten. Er benutzte nicht nur das steuerbordseitige Ruder, das Remo, zum Manövrieren, sondern auch Hauswände und entgegenkommende Boote, von denen er sich mit dem Fuß abstieß, wenn es nötig war. Dabei erzählte er Minette die Dinge, die er anderen Touristen auch erklärt hätte. Sie zeigte sich nur mäßig interessiert, hörte manchmal gar nicht zu. Plötzlich nahm sie den Stock, legte ihn sich hinter dem Kopf quer über die Schultern und die Arme darüber, während sie den Oberkörper weit zurücklehnte. »Hast du eigentlich eine Freundin, mein Gondoliere?«, fragte sie unvermittelt. Antonio blieb fast das Herz stehen. »N-nein«, stammelte er, »ich hatte mal eine, aber jetzt, mit der … äh, Gondel, jetzt hab ich keine Zeit.« Minette lächelte ihn an und ihre Zunge glitt für einen Moment sanft über ihre Lippen, wo sie einen feuchten Film hinterließ. »Du bist einfach süß, mein Gondoliere. Ich bewundere, wie du das mit dem Ruder machst. Große Klasse. Meinst du, du kannst mir das auch mal zeigen?« »Was denn, jetzt?« »Jetzt wär's doch toll.« Antonio war nicht wohl bei der Sache, denn es war nicht ungefährlich, eine zweite Person auf den Heckschnabel zu lassen. Aber wer konnte so einem Angebot schon widerstehen? Also stakte er die Gondel in einen wenig befahrenen Kanal und ließ Minette zu sich hoch klettern. Als sie sich drehte, um sich vor ihn zu stellen, gerieten
die Gondel etwas ins Schwanken. Und Minette gleich dazu! Antonio fasste instinktiv um Hüften und Bauch, um sie zu halten. Plötzlich standen sie eng aneinander gepresst. Er roch ihr Duschgel, ihr Parfüm und ihren leichten Schweißgeruch. Für einen Moment glaubte er wahnsinnig zu werden und war knapp davor, alle Hemmungen einfach über Bord zu werfen. »Mann, du gehst aber ran«, flüsterte Minette. Diese Worte brachten ihn wieder zu sich. »Scusi, ich wollte nicht …« Sie huschte mit dem Zeigefinger über seine Wange. »Nein, bleib so, es ist schön. Vielleicht könntest du mir ja tatsächlich ein wenig Unterricht geben?« Antonio versuchte es. Dabei wusste er genau, dass das angebliche Interesse nur Mittel zum Zweck war. Minette wollte lediglich, dass er ihre Hand berührte, wenn er ihr die Ruderführung zeigte und dass er sich möglichst eng an sie drückte. Sie tolerierte sogar seine Erektion, genoss sie darüber hinaus mit einem leisen Seufzen. Was nicht gerade dazu beitrug, dass er sich besser beherrschen konnte. Nach der Fahrt verabredeten sich die beiden jungen Leute. »Ich wohne in der Calle dei Frati«, sagte Minette. »Weißt du, wo das ist?« Antonio nickte. »Ja, ich glaube. Bei der Chiesa dell'Angelo Raffaele. Oder?« Sie lächelte. »Stimmt genau. Kannst du um acht bei der Kirche sein? Dort würde ich mich gerne mit dir treffen.« »Klar, kein Problem.« »Ich freu mich schon wahnsinnig auf dich.« Minette ging über die weiße Brücke. Bevor sie in das Gewühl der dahinterliegenden Straße eintauchte, drehte sie sich noch einmal kurz um und winkte. Antonio war den ganzen Tag nicht mehr fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er war froh, dass er Gondelgäste bekam, die nicht allzu viel wissen wollten und auch kein »O sole mio« verlangten, wie es jeder Gondoliere schmettern zu können hatte. Seine Gedanken weilten unablässig bei Minette und was ihn heute Abend erwartete. Was aber war, wenn sie nicht kam? Wenn sie ihn hochgenommen hatte? Daran wollte er lieber nicht denken, bekam es aber nicht
mehr aus dem Sinn. Als er um acht Uhr frisch geduscht, mit Rosen in der Hand vor der Kirche mit den beiden Türmen stand, war er völlig sicher, dass er den Weg umsonst gemacht hatte. Er kam sich vor wie ein Idiot. Sein Magen war nun ein einziger Klumpen. Minette bog um die Ecke. Lächelnd kam sie auf ihn zu. Wieder hatte sie ihren Spazierstock dabei. Antonio entspannte spürbar. Er gab ihr die Rosen und sie roch andächtig daran. »Die sind aber hübsch«, flüsterte sie. »Woher weißt du, was meine Lieblingsblumen sind?« »Ein so schönes Mädchen wie du kann nur die Rose am meisten mögen! Das habe ich genau gewusst.« »Danke, mein Gondoliere.« Sie steckte die Blumen auf den Stock. Antonio kniff die Augen zusammen. Denn die Rosen hielten darauf, als seien sie angeklebt. Das war schlichtweg unmöglich. »Wie machst du das denn?«, murmelte er. »Bist du 'ne Zauberin oder so was? Ich meine, aus dem Zirkus oder so. Darf ich mal sehen?« Er streckte die Hand aus. »Finger weg, mein Gondoliere.« Sie entzog ihm den Stock und drehte sich ein wenig von ihm weg. »Oder hast du schon mal gehört, dass Zauberinnen ihre Geheimnisse verraten?« »Also, einmal im Fernsehen, da hat's so ein Zauberer gemacht. Einer von den ganz guten. Aber sag mal, warum hast du eigentlich das Ding immer dabei?«, wollte Antonio wissen. »Ich meine diesen Stock.« »Ach der. Ein Andenken an meinen Vater. Der ist leider schon tot.« »Oh, tut mir leid. Äh, du hast ihn wohl sehr gemocht?« »Lassen wir das.« Es wurde ein toller Abend. Sie zogen durch die Bars des Stadtteils Dorsoduro und tranken sich einen an. Minette suchte wie schon nachmittags Antonios Nähe und ließ keine Gelegenheit zur flüchtigen Körperberührung aus. Mitternacht nahte. Schließlich standen sie in einem Hinterhof in einer finsteren Ecke und küssten sich wild und ungestüm. Antonio stöhnte. Seine Hand versuchte in ihren Hosenbund und tiefer zu wandern,
aber sie wehrte ab. »Nicht hier, mein Gondoliere«, flüsterte sie. »Mit dir will ich's an einem ganz besonderen Platz machen. Da, wo's bei mir am schärfsten abgeht.« Minette zog ihn hinter sich her durch die Dunkelheit, in der anderen ihren Stock. Nur wenige Menschen begegneten ihnen noch. Schließlich standen sie im Schatten der Kirche, die dem Erzengel Raffael geweiht war. »Was denn, hier?« Antonio fühlte sich bei dem Gedanken mehr als nur unwohl. »Nein, doch nicht hier. Wir gehen rein.« Minette kicherte leise. »Komm.« »Aber … aber das geht doch nicht.« »Willst du nun oder willst du nicht? Ich mach's nur da drin und sonst nirgendwo.« Antonio war längst überredet. Er wäre auch in die Hölle mit ihr gegangen, um endlich zum Zug zu kommen. Sie huschten zu einer Seitenpforte. Minette fuhr mit der flachen Hand über das eiserne Schloss. Antonio glaubte es für einen Moment aufleuchten zu sehen, aber das war sicher ein Lichtreflex von der Straße gewesen. Das Mädchen drückte gegen die Tür. Leise quietschend schwang sie nach innen auf. Sie betraten die Sakristei. Ein geheimnisvoll schimmerndes Licht erschien aus dem Nirgendwo. Antonio, der nun unablässig an seiner Eroberung herumfingerte und ihren Nacken immer wieder mit Küssen bedeckte, schien es, als sei gar keine Lichtquelle auszumachen … und als würde sich der helle Schein mit ihnen bewegen. Das konnte nicht sein. Er dachte aber nicht länger darüber nach – weil er Besseres zu tun hatte …
Minette Fleury zog Antonio in das Kirchenschiff. Sie spürte die gewaltigen Kräfte, die sich in ihm konzentrierten. Mehr konnte sie nicht in ihm sammeln, denn sonst hätten sie sich sofort entladen. Er war so stark. Viel stärker, als sie sich das jemals hätte träumen lassen. »Komm, wir machen's gleich jetzt und hier auf dem Boden. Ich halt das nicht mehr aus …«
Minette sah ihn an. Ihre Augen leuchteten plötzlich in einem düsteren Rot. Antonio prallte entsetzt zurück. »Was …« Sie streckte beide Arme nach vorne aus, während finstere Formeln von ihren Lippen flossen. Langsam hob sie die Arme an, und sie wusste genau, wie er sich nun vorkommen musste. Antonio fühlte sich von einer unsichtbaren Kraft ergriffen, die ihn lähmte und ihm zugleich fürchterliche Angst machte. Er wollte schreien, um sich schlagen, strampeln, flüchten, aber nichts von alledem gelang ihm. Stattdessen spürte er, wie er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und nach oben zu schweben begann. Im Gleichklang mit Minettes nach oben wandernden Armen. Es sah aus, als sei er eine Marionette, die Minette an ihren Fäden bewegte. Und das traf die Sache ziemlich genau. Gleich darauf schwebte Antonio in rund drei Metern Höhe frei in der Luft. Minette verstärkte die Intensität der magischen Formeln, ihre Augen leuchteten zweimal grell auf. In Antonios Augen las sie, dass er am liebsten gewimmert hätte, geschrien, gebettelt … aber auch das war ihm nicht möglich. Er war in einen Albtraum geraten. Antonio sah nicht, dass er unablässig höher schwebte, direkt auf das riesige Kreuz zu, das über dem Altarraum von der Decke hing. Plötzlich kam es zum Kontakt. Die böse Kraft bog seine Arme nach oben an den Querbalken, bis er wie einst Jesus am Kreuz hing – in gut fünf Metern Höhe! Nur dass ihn eine völlig andere Macht dort oben hielt als damals den Erlöser. Schlagartig löste Minette den Bann. Antonios furchtbares Grauen brach sich in einem einzigen schrillen Schrei Bahn, setzte all seine Energien frei. Minettes Spazierstock – das Langka – flammte grell auf, schickte eine grellweiß zuckende Lichtflut in das Kirchenschiff und ließ es für einen Moment heller als eine Sonne leuchten. Dann wich es tief rotem Licht, das sich explosionsartig ausbreitete und die gleißende Helligkeit förmlich fraß. Es ging von den Rosen aus, die Antonio Minette geschenkt hatte, und vom Kreuz, an dem er hing. Es leuchtete so blutrot wie eine – Rose? Gleichzeitig sank Antonio langsam tiefer in das Holz des Kreuzes ein! Tiefer, noch ein bisschen tiefer … »Nein, nein, bitte nicht«, krächzte er und versuchte mit panischen Bewegungen, seinen Kör-
per vom Kreuz zu lösen. In diesem Moment wäre es ihm wohl gleichgültig gewesen, wenn er aus dieser Höhe gefallen und auf den Steinboden geknallt wäre. Aber er schaffte es nicht mehr. Stattdessen griffen nun fremde Strukturen nach seinem Fleisch. Bohrten sich starr und hart in ihn. Die Holzfasern verschmolzen mit Muskeln und Sehnen, mit Knochen und Gewebe. Und da war noch etwas anderes, das ihn plötzlich durchdrang und ihm zweifellos die schlimmsten Schmerzen bereitete, die er je in seinem jungen Leben hatte erdulden müssen. Antonio schrie wie am Spieß. Doch schon nach wenigen Momenten ging das Schreien in Gurgeln über und endete dann abrupt. Die schlimmsten Schmerzen waren gleichzeitig seine letzten gewesen. Minette Fleury sah auf die Rosen an ihrem Stock, die völlig verwelkt nach unten hingen. Sie zitterte am ganzen Körper. Dann starrte sie noch einmal zum Kreuz und huschte mit gesenktem Kopf aus der geschändeten Kirche. In einem finsteren Hinterhof setzte sie sich an eine Hauswand, zog die Knie an, schlang die Arme darum und weinte bitterlich. Es ist nicht richtig, dachte sie verzweifelt. Doch, das ist es, erwiderte das Langka.
Nach dem Gespräch mit Commissario Cattani beschlossen Zamorra und Nicole, noch zwei, drei Tage in Venedig zu bleiben. Sie saßen beim Frühstück – dieses Mal im Hotel. Zamorra kaute genüsslich auf einer Gabel voll Rührei. »Selbst wenn diese Raffaela di Leo tatsächlich eher ein Fall für den Psychiater ist, so ist da immer noch mein dumpfes Gefühl, dass mit der Feuerrose etwas nicht stimmt. Irgendwas Magisches hat sie an sich und das würde ich gern in Ruhe untersuchen, sobald es möglich ist. Was meinst du, sollte ich vielleicht sogar nochmals mit Cattani sprechen? Könnte ja sein, dass er mir sofort einen etwas genaueren Blick erlaubt.« »Sozusagen als Wiedergutmachung?« Nicole, heute mit einer feuerroten Kurzhaarperücke, bauchfreiem grünem Topp und Miniröckchen gestylt, kaute auf einem Honigbrötchen. »Vergiss es. Der Typ lehnt doch alles rigoros ab, was mit ›m‹ beginnt und mit ›agisch‹
aufhört. Der würde dich wahrscheinlich eher ein zweites Mal einsperren, wegen Erregung öffentlicher Staatsgewalt oder so was.« Der Meister des Übersinnlichen grinste. »Amen. Aber du hast Recht, es ist wohl besser, wenn wir die Freigabe der Insel abwarten. Sollte es zu lange dauern, können wir ja immer nochmals wiederkommen. Von dem allem aber abgesehen: Raffaelas Aussagen müssen ja nicht unbedingt mit ihrer psychischen Verfassung in Verbindung gebracht werden.« Nicoles Augen funkelten, die goldenen Tüpfchen in ihren Pupillen erschienen. »Du nennst die di Leo bereits beim Vornamen? Muss ich mir Sorgen machen?« »Immer. Ich bin schließlich auch nur ein Mann, Mann.« Zamorras Grinsen verstärkte sich noch um einen Deut, während er sich kräftig Belag auf den Toast legte. »In der Not, ess ich die Wurst auch ohne Brot«, kommentierte Nicole trocken. »Also gut, dann genießen wir eben weiterhin das Leben auf unserem Luxusbootchen, das ja jetzt hoffentlich den Terroristen-Unbedenklichkeits-Stempel bekommen hat. Und ich werde nach wie vor mein Möglichstes tun, dass du die Raffaelas dieser Welt ganz schnell wieder vergisst.« »Na, da bin ich aber mal gespannt. Und das darfst du durchaus wörtlich neh … men …« Zamorra beendete seinen Satz mit leichter Verspätung, da unter dem Sprechen die Tür aufgegangen war. Anstatt eines weiteren Hotelgastes erschien Commissario Cattani, schaute sich kurz um und steuerte direkt auf den Dämonenjäger-Frühstückstisch zu. »Geht das schon wieder los?«, unkte Nicole. »Gleich donnert wahrscheinlich das Sondereinsatzkommando in einem Splitterregen durch die Scheiben.« Der Commissario, heute im modischen Karopullover, wirkte aufgeregt. »Guten Morgen, Signora Duval, Professore, darf ich mich zu Ihnen setzen?« »Aber gerne.« Nicole zog den dritten Stuhl etwas zurück. »Wollen Sie eine Tasse Kaffee? Einen Cappuccino? Sie sehen aus, als seien Sie dem Leibhaftigen persönlich begegnet, möchten nun Abbitte bei uns leisten und uns um unsere Mitarbeit bitten.«
Cattani sah sie verblüfft an. Er tastete sich über die Stirn. »Habe ich da vielleicht einen Zettel kleben, auf dem das alles steht? Oder können Sie am Ende auch noch hellsehen?« »Nein.« Nicole lächelte ihn an. »Aber mit dieser Armesündermiene, mit der ein Polizist bei uns Abbitte leisten will, werden wir immer wieder konfrontiert. Irgendwie sieht das jedes Mal aufs Neue gleich aus. Aber lassen wir das. Wo drückt also der Schuh?« Cattanis Gesichtszüge verhärteten sich. »Cappuccino übrigens. Danke. Wir sind heute Morgen zu einem Mord gerufen worden. Nun, wahrscheinlich ist es ein Mord. Auf jeden Fall habe ich so was noch nie zuvor gesehen. Es ist grauenhaft.« »Sprechen Sie weiter, Commissario.« »Nein, Professore. Ich denke, dass Sie sich das selbst mal ansehen sollten, ganz unvoreingenommen. Ich würde einfach gerne hören, was Sie dazu sagen. Im Übrigen, Signora Duval, werde ich mich keinesfalls bei Ihnen entschuldigen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich weiß ja nicht, was Sie wirklich leisten können. Wer sagt mir, dass Sie nicht doch irgendwelche Scharlatane sind, die Gutgläubigen das Geld aus der Tasche ziehen?« Zamorra nickte. »Ihr Misstrauen ist aus Ihrer Sicht berechtigt, wir haben kein Problem damit. Andererseits wären Sie sicher nicht hier, würden Sie uns tatsächlich für ausgemachte Scharlatane halten. Ein paar Pluspunkte scheinen wir also doch bei der Polizia di Stato gemacht zu haben. Und wir versuchen alles, dass noch ein paar dazu kommen. Erst nach getaner Arbeit wollen wir von Ihnen beurteilt werden.« Cattani nickte. »Das ist fair. So habe ich Sie auch eingeschätzt. Aber ich wollte Sie persönlich um Ihre Mithilfe bitten und nicht am Telefon.« Auf dem Kanal vor dem Hotel wartete ein hellblaues Polizeiboot. Im Canale della Giudecca ging es mit Rotlicht und Sirene in den Stadtteil Dorsoduro. Direkt vor einer Kirche mit zwei Türmen hielt das Boot. Schon von weitem bemerkten die beiden Dämonenjäger das riesige Polizeiaufgebot, das die Chiesa dell'Angelo Raffaele hermetisch abgeriegelt hatte. Als sie ausstiegen und hinter dem Commissario her auf den Eingang zugingen, kamen sie an Menschen mit
bleichen Gesichtern vorbei, die ihnen stumm Platz machten und höchstens kurz nickten. Zamorra und Nicole betraten das Gotteshaus. Wo sie ansonsten heimeliges Dämmerlicht erwartete, erstrahlte nun grelles Scheinwerferlicht. »Ach du Sch…«, entfuhr es dem Professor. Die Scheinwerfer strahlten das große Kreuz über dem Altarraum an. Ein toter junger Mann hing daran, das Gesicht halb seitlich gedreht und grässlich verzerrt, den Mund zu einem qualvollen Schrei aufgerissen. Nein – er hing nicht daran, sondern war damit verschmolzen. Es schien an seiner Schädeldecke in den Hinterkopf einzutauchen, durch den Körper zu laufen und am angezogenen Oberschenkel des rechten Beins wieder auszutreten. Wie ein Relief schaute die Vorderseite des Toten aus dem Holzbalken hervor, auch noch ein Teil der linken Hand und auf der Rückseite sein Gesäß und ein Schulterblatt. Noch seltsamer mutete die Tatsache an, dass sich auch ein Rosenstock durch den Körper rankte und Dornen und Zweige die Haut und die Kleidung an zahlreichen Stellen durchstoßen hatten. Direkt aus dem Mund des Toten hing an einem etwa zehn Zentimeter langen Stängel der Blütenkopf. Zamorra und Nicole schauten sich die furchtbare Szene von allen Seiten an und stiegen sie auf das Podest, das die Polizei vor die Leiche geschoben hatte. »Die Blechscheibe ist leicht warm«, murmelte der Meister des Übersinnlichen, während er die Komponenten der magischen Verschmelzung vorsichtig abtastete. »Ich hab's mir schon gedacht«, gab Nicole zurück, die ebenfalls den Toten untersuchte. »Fühlt sich alles an wie Stein. Der Körper, die Rose, das Kreuz. Cattani hat Recht. Das ist in der Tat eine Sauerei.« Der Parapsychologe nickte. »Da muss ich mit Merlins Stern ran. Wir müssen Cattani überreden, dass er uns hier alleine lässt. Na ja, er selbst kann auch bleiben, wenn er will.« Commissario Cattani überlegte kurz, dann war er einverstanden. Er schickte sämtliche Mitarbeiter aus der Kirche. »So, Professore, jetzt bin ich aber mal gespannt, was Sie tun wollen. Zuerst mal, wofür halten Sie das da oben überhaupt? Für einen Ritualmord?«
Zamorra schüttelte den Kopf. »Glaube ich eher nicht. Beziehungsweise kann natürlich schon einer gewesen sein. Aber hier war Magie im Spiel.« »Magie, hm. Ja, ich verstehe. Weil alles da oben so seltsam versteinert ist.« »Auch darum.« Der Dämonenjäger nestelte Merlins Stern unter dem Hemd hervor. »Und deswegen.« Cattani betrachtete das Amulett interessiert. »Was ist denn das? Das Handwerkszeug eines Parapsychologen?« »Diese Blechscheibe ist eine starke magische Waffe, offensiv wie defensiv. Ich werde jetzt gleich eine Funktion aktivieren, die sich Zeitschau nennt. Damit kann ich vierundzwanzig Stunden in der Zeit zurückgehen und sehen, was hier passiert ist. Allerdings läuft der Film rückwärts, wenn Sie so wollen, denn das Amulett arbeitet sich in die Vergangenheit vor.« »Das hört sich jetzt aber doch sehr nach Hokuspokus an.« Zamorra grinste. »Sie dürfen gerne mitschauen, Commissario. Danach bin ich dann auf Ihre Meinung gespannt. Hokuspokus oder nicht? Wir werden sehen. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Cattani verzog ungläubig das Gesicht. »Sie meinen, ich bekomme hier gleich im Detail den gesamten Tathergang präsentiert? Mit Opfer, Täter und allem Tralala?« »Normalerweise schon. Erschrecken Sie aber nicht, wenn der oder die Mörder etwas, nun, außergewöhnlich aussehen sollten.« Zamorra versetzte sich mit einem Schaltwort in Trance und aktivierte die Zeitschau. Im genauen Amulettmittelpunkt, im Zentrum des Drudenfußes also, entstanden winzig kleine Bilder, die aber gleichzeitig in Lebensgröße in die Gehirne der Beteiligten übertragen wurden. Cattani sah seine Leute bei der Arbeit, im Rückwärtsgang sozusagen, wie Zamorra gesagt hatte. »Das gibt's nicht«, flüsterte er. »Haben Sie die Szenen heimlich mit einer Kamera aufgenommen?« »Ja, klar«, antwortete Nicole. »Während wir im Hotel beim Frühstück waren und Sie uns abgeholt haben. Mit unserem persönlichen Satelliten.« Cattani sagte nichts mehr. Erst als er plötzlich selber ins Bild kam, stieß er einen erstaunten Ruf aus. Er sah sämtliche Untersuchungen
noch einmal, die Spurensicherung, danach sein Eintreffen und das seiner Leute. Schließlich war die Kirche unvermittelt leer. Nur der Tote hing am Kreuz. Commissario Cattani ballte vor Nervosität die Fäuste. Seine Zähne mahlten aufeinander. Jetzt musste es gleich so weit sein, musste der verschwindende Täter rückwärts ins Bild kommen. Und tatsächlich. Plötzlich war ein großer kräftiger Mann in schwarzen Kleidern und mit einem ebenso dunklen Umhang zu sehen. Er kam rückwärts durch die Tür der Sakristei, ging zum Kreuz und drehte sich dort so, dass kurz sein Gesicht zu erkennen war: männlich, brutal, totenbleich, mit rötlichen, nicht menschlich wirkenden Augen und mächtigen Bluthauern, die sich über die Unterlippe schoben. »Ein Vampir«, sagte Nicole verblüfft. »Wir haben es mit einem Blutsauger zu tun. Nun bin ich aber mal gespannt, was der anstellt.« Schlagartig riss das Bild ab, machte einem schwarzen Flimmern Platz. »Was ist denn jetzt los?«, murmelte Zamorra. »Das gibt's doch gar nicht. Ist dir etwa das Frühstück auf den Magen geschlagen, Blechscheibe?« »Das ist … unglaublich«, flüsterte Cattani und war für einen Moment annähernd so bleich wie der Blutsauger. »So was gibt's einfach nicht.« Zamorra versuchte alles Mögliche, aktivierte die Zeitschau erneut, wollte weiter in die Vergangenheit gehen, denn diese Details ließen sich durchaus manipulieren. In diesem Fall klappte es nicht. Immer zum exakt selben Zeitpunkt setzte das Flimmern ein. »Das begreife ich nicht«, murmelte der Meister des Übersinnlichen. »Haben Sie diesen Vampir vielleicht schon mal irgendwo gesehen?«, wollte Nicole vom Commissario wissen. »Vampir, sagen Sie? Das ist doch wirklich … Es gibt diese Blutsauger nicht, Signora. Das war irgendein verkleideter Kerl. Ich habe früher auch Vampirfilme angeschaut. Diese Viecher – wenn sie denn existieren würden – können nicht eine solche geweihte Kirche betreten, oder irre ich mich da?« Nicole nickte bedächtig. »Normalerweise nicht, da haben Sie schon
Recht. Aber es gibt immer wieder Schwarzblütige, die aus dem gewohnten Raster fallen. Magische Mutationen, wenn Sie so wollen. Jetzt nehmen Sie's halt einfach mal so hin, Commissario. Immerhin, ich staune selber. Der Vampir muss äußerst stark sein. Und wenn ich daran denke, dass der arme Kerl dort oben keine Vampirbisse aufweist, frage ich mich erst recht, ob wir's nicht sogar mit einem Vampirdämon zu tun haben.« »Oder wir haben es hier tatsächlich mit einem verkleideten Irren zu tun. Ich tendiere immer noch stark zu dieser Annahme.« »Mit einer männlichen Medusa, meinen Sie?« »Was?« Nicole lächelte. »Commissario, kann ein normaler Mensch so was wie da oben anrichten? Muss ich Sie daran erinnern, warum Sie uns hierher gebeten haben?« Emilio Cattani atmete tief durch. »Scusi, aber ich scheine total durcheinander zu sein. Wir haben jetzt das Bild des Mörders. Können Sie das irgendwie auf Papier oder digital reproduzieren?« »Leider nicht. Da müsste ein Polizeizeichner ran«, erwiderte der Professor. »Aber ich fürchte, dass das nichts nützt.« »Was würden Sie also vorschlagen?« Die Dämonenjäger merkten wohl, wie schwer ihm diese Frage fiel. »Wir haben zu Hause in Frankreich eine kleine, aber feine Fachbibliothek. Dort schauen wir nach, was wir über die Vampirsippen Venedigs herausfinden können …« »Sippen? Jetzt reden Sie schon von ganzen Sippen.« Cattani schüttelte entsetzt den Kopf. »Tausende? Millionen? Was wollen Sie mir hier weismachen?« »Jetzt übertreiben Sie mal nicht so schamlos.« Nicole legte ihm die Hand an den Oberarm. »Sagen wir mal: ein paar hundert. Das ist realistisch.« Cattani ließ sich auf die erste Bank sinken. »Ein paar hundert«, ächzte er und rieb sich die Augen. »Ein paar hundert Vampire sollen sich in meinem schönen Venedig herumtreiben? Hätte ich die Amulett-Zeitschau nicht gesehen, würde ich Sie für so eine Aussage wahrscheinlich in den Hintern treten.« Er grinste matt. »Und weiter?«
»Ganz konkret können wir auf Torcello angreifen. Ich würde wahnsinnig gerne in aller Ruhe diese steinerne Rose ausloten, weil ich denke, dass ein magisches Potenzial in ihr steckt. Falls ihr es euch noch nicht bewusst gemacht habt, wir haben auch hier eine versteinerte Rose in der Leiche stecken. Keine Ahnung, ob das ein Zufall ist oder ob die beiden Fälle vielleicht sogar zusammenhängen.« »Dürfen wir in diesem Zusammenhang etwas wissen, Commissario?«, mischte sich Nicole ein. »Handelte es sich in Torcello tatsächlich um einen Bombenanschlag? Oder ist das nur eine Version für die Öffentlichkeit? Jede Ungereimtheit würde Zamorras Vermutung stärken.« Cattani gab zu, dass er und seine Ermittler noch völlig im Dunkeln tappten. Es war kein einziges Teil gefunden worden, das auf einen explodierten Gegenstand hingewiesen hätte. »Wir haben schlichtweg keine Ahnung, was die beiden Frauen getötet hat.« »Also ist an der Version dieser di Leo vielleicht doch was dran«, sagte Nicole. »Nun, da Sie Ihr Studium der Magischen Wissenschaften mit summa cum laude abgeschlossen haben, Commissario, könnten Sie ja einen möglichen übernatürlichen Vorgang auf Torcello durchaus in Betracht ziehen.« Cattani nickte. »Also gut, Sie können die Rose auf der Insel untersuchen, Professore. Aber ich bin dabei.« »Wir freuen uns darüber. Und dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn ich mich mal mit Signora di Leo unterhalten könnte, um mehr Details ihrer Geschichte zu erfahren. Wissen Sie, wo sie gerade steckt?« Der Commissario nickte. »In der Psychiatrie, wo sonst? Keine Ahnung, ob die Signora ansprechbar ist. Ich werde aber schauen, was sich machen lässt.«
4 – Tiefe Vergangenheit: Der Brarktane als Schachfigur Grantor sah auf die Langkas herab. Wie sollte es weitergehen? Die aus dem Boden gewachsenen Kreaturen wollten forschen und testen, das hatten sie ihm gesagt. Mehr nicht. Seine Anwesenheit wurde einfach hingenommen. Forschen und testen … was genau das bedeutete, war exakt die Frage, die Grantor sich stellte. Eine Antwort erhoffte er nicht mehr zu bekommen. – es ist Zeit – Diesmal klang die Stimme in ihm anders. Nicht wie eine Gruppe, sondern wie ein Individuum. Und tatsächlich regte sich ein einzelnes Langka. Es war das erste Mal, dass er sah, wie sie sich bewegten. Zuerst wuchs es ein wenig. Es sah aus wie ein Wurm, der aus dem Boden gezogen wurde; das hölzerne Etwas glitt aus dem Gestein heraus und schwebte einen knappen halben Meter darüber. Wo willst du hin? – forschen – Was willst du erforschen? Und wo? – das Reich – Mein Reich? Es fühlte sich an, als würde sich das Langka amüsieren. – du besitzt kein Reich – Ich …, setzte Grantor zu einer Erwiderung an, brach aber ab. Er hatte die unglaubliche Macht der Langkas kennengelernt und kein Interesse daran, noch eine Demonstration am eigenen Leib erfahren zu müssen. Ich kann deine Fragen beantworten, dachte er stattdessen und hoffte, dass das Langka sich nicht von hier entfernte, denn das würde andere zu ihm fuhren – und ihm zweifellos die Schuld an allem geben. Wobei er doch selbst nur ein Opfer der Langkas war. Ein Opfer! Zum ersten Mal stieg dieser Begriff in ihm auf, aber ge-
nau das traf es. Er war gefangen in diesem Bereich der Hölle. Einen Fluchtversuch hatte er zwar nicht unternommen, aber er war sicher, dass die neuen Kreaturen ihn nicht gehen lassen würden. Sie benötigten ihn nicht, so sagten sie, aber sie sprachen ihn als ihren Diener an. Wenn sie sich überhaupt zu einer Reaktion ihm gegenüber herabließen. – deine Antworten werden uns nicht befriedigen … wir wollen selbst testen – Ohne weiter abzuwarten stieg das Langka höher. Mehrere Meter über ihm nahm es Tempo auf und schoss aus dem von ihm geschaffenen Bannkreis, der Eindringlinge abhielt, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu stocken. Bald war es aus seinem Blickfeld verschwunden. Grantor wandte sich ab. Wenigstens blieben die übrigen Langkas an Ort und Stelle, vielleicht würde ja gar nichts geschehen; möglicherweise sah sich das Langka nur um. Niemand konnte ihn … Der Brarktane zuckte zusammen. Gleichzeitig, wie auf einen Befehl, verließen alle anderen Langkas ihre Brutstätte. Die Lücken im Boden sahen aus, als habe sich ein Laserstrahl hineingebohrt. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann waren sie verschwunden. Jedes in eine eigene Richtung, manche hatten sich auch direkt vor seinen Augen aufgelöst – wie in einer Teleportation. Grantor überlegte, ob er fliehen sollte. Vielleicht wäre es besser, für immer von diesem Fleckchen Hölle zu verschwinden. Doch er entschloss sich abzuwarten. Es dauerte Stunden, bis das erste Langka zurückkam. Ob es dasselbe war, das auch zuerst gegangen war, vermochte er nicht zu bestimmen. Für ihn sahen sie alle gleich aus. Er musterte es, konnte aber keine Veränderung erkennen. Das Langka allerdings schien über seinen Forschungen sprechen zu wollen. – nenne uns den Namen dieser Dimension – Dies ist die Hölle. – ich sah Wesen … dir ähnlich, und doch vollkommen anders – Das Langka schickte ihm eine schnelle Abfolge von Bildern. Verschiedenste Dämonen tauchten in seinen Gedanken auf. Alle mögli-
chen Arten und Rassen, viele waren selbst ihm unbekannt. Es sind Dämonen wie ich, aber von unterschiedlichen Stämmen und Sippen. – warum seid ihr verschieden? – Grantor verstand die Frage nicht, stammelte deshalb eine Antwort, die ihm angemessen schien. Weil wir … wir stammen von anderen – Rassen ab. Ist das bei euch … ich meine, woher stammt ihr überhaupt? Wer hat euch erschaffen? Woher kommt ihr und wohin geht ihr? Wie üblich ging das Langka nicht auf seine Fragen ein. – wir sind Macht … wir können herrschen … sieh – Wieder entstanden implantierte Bilder in seinen Kopf. Es fühlte sich an, als würde er direkt an den Ort des Geschehens gebracht, so deutlich sah er nun alles vor sich. Ein Langka schwebte durch die Hölle. Zuerst erkannte er den Bereich, der sich um sein Reich erstreckte, doch bald beschleunigte die Fahrt. Nur noch verschwommen schaute er Umrisse und Schatten. Als die Bilder wieder klar wurden, zuckte Grantor zusammen. Er kannte diese Umgebung. Vor vielen Jahrhunderten war er selbst dort gewesen. Es war der Vorhof zu Asmodis Thronsaal! LUZIFER sei Dank war dort niemand zu sehen. Doch diese Erleichterung stellte sich sogleich als Täuschung heraus. Da war eine Bewegung; jemand ging auf das Portal zu, das ins Allerverfluchteste führte. Er erkannte einen der teuflischen Archivare. Die Arme waren vollgepackt mit Pergamenten und Schriftrollen. Das Langka stieß hinab, bremste seinen Sturzflug auf Kopfhöhe des Dämons. Der Archivar ließ vor Schreck fast die kostbaren Dokumente fallen. Schließlich betrachtete er das hölzerne Etwas neugierig, das über ihm schwebte. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann brach der alte Dämon zuckend zusammen und krümmte sich am Boden vor Schmerzen. Er schlug um sich und kratzte mit den Klauen über das Gestein … … bis ihm der Schädel platzte. Schleim und dunkles Blut spritzten umher. Der Körper zerfiel zu Staub. Das Langka ging tiefer, drehte eine Runde über dem Leichnam.
Der Staub begann zu leuchten und löste sich auf. Nichts erinnerte mehr an den Zwischenfall. All dies wurde Grantor in absoluter Lautlosigkeit präsentiert. Die Bilder verblassten, und er sah wieder das Langka vor sich. Nun jedoch nicht mehr alleine, auch die anderen waren unbemerkt zurückgekehrt, während der Brarktane fasziniert und schockiert den fremden Eindrücken gefolgt war. Warum?, fragte er. – wir forschen und testen – Grantor schüttelte den Kopf. Ihr tötet. Nicht, dass es ihm als Dämon etwas ausgemacht hätte. Mitgefühl war ihm ein Fremdwort, und ob andere Höllenkreaturen vergingen oder nicht, war ihm völlig gleichgültig. Aber er fürchtete die Macht der Langkas, und der Tod eines der alten Archivare konnte Konsequenzen nach sich ziehen … erst recht, wenn eine Verbindung zu ihm gezogen wurde. – wir forschen … zeigt es ihm – Unvermittelt brach eine Flut an Eindrücken über ihn herein. Grantor wurde schwindelig. Er sah andere Bereiche der Hölle, Dutzende von Dämonen. Bilder von der Erde erkannte er, aber auch aus Dimensionen, von denen er nie zuvor gehört hatte und die von Wesen bevölkert waren, die selbst er als ausgesprochen hässlich bezeichnen musste. So unterschiedlich all die auf ihn einprasselnden Eindrücke auch waren, eins vereinte sie – stets handelte es sich um ein Langka, das sich ein Opfer suchte. Sie vernichteten Dämonen, töten Menschen, löschten unbekanntes Leben aus. Als die Bilderflut abbrach, sank Grantor auf die Knie. Ihm war schwindelig. Er wusste, was all das zu bedeuten hatte: Die Langkas erprobten ihre Fähigkeiten, nicht mehr. Sie … spielten und machten sich keine Gedanken über die Konsequenzen ihres Tuns. Und dass sie ihn darin einweihten, bedeutete nicht etwa, dass sie ihn brauchten oder auf seine Meinung Wert legten; sie testeten nur seine Reaktion, wollten wissen, ob sie Angst verbreiten konnten. – du hast alles gesehen? – Ja. Zu einem klareren Gedanken als simpler Zustimmung war er noch nicht fähig.
– wir sind Macht –
Asmodis kochte vor Wut. Und er war nachdenklich. Der Archivar, der ihm die von ihm gewünschten Dokumente bringen sollte, war vernichtet worden. Der Tod des alten Dämons interessierte ihn kaum oder gar nicht. Mit ein wenig Schwund musste man nun einmal rechnen. Was ihn aber ärgerte, war die Tatsache, dass es quasi direkt vor seiner Haustür geschehen war, ohne dass er etwas davon bemerkt hatte. Galt der Anschlag ihm? Sollte er eine Warnung sein? Der Teufel erhob sich von seinem Thron und wanderte auf und ab. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es um den Archivar persönlich gegangen war. Seine Rasse bildete in der Hölle eine unbedeutende Randerscheinung. Sie scherten sich nicht um Macht und Politik. Das Einzige, was sie interessierte, war, in verstaubten Folianten zu blättern, sie zu sammeln und zu katalogisieren. Asmodis hatte es nie verstanden, aber es erwies sich hin und wieder als nützlich. Mit den Dokumenten, die er sich hatte bringen lassen, stand es auch nicht in Verbindung. Sie waren alle noch vollzählig, der Mörder hatte sie nicht angerührt. Und wer konnte es überhaupt wagen, solch eine Tat direkt vor seinem Thronsaal zu begehen? Keiner der Erzdämonen wäre so dumm, derart plump vorzugehen. Zumal sie nie offen gegen ihn agieren würden, diese feigen Speichellecker. Bei LUZIFER und seinem Unlicht, sie kuschten vor seiner Macht und kochten ihr eigenes Süppchen nur insoweit, wie es seine Kreise nicht berührte. Der Teufel stoppte seinen Marsch und hielt an. »Wer, bei den neunmal verfluchten Erzengeln, hat das getan?«, brüllte er, denn er hasste es, wenn er über etwas nicht Bescheid wusste. Seine Stimme brach sich an den Wänden des Saals. »Was schreist du, Asmodis?« Er wirbelte herum. Nahmen die Unannehmlichkeiten heute denn überhaupt kein Ende? Wer wagte es, ihn zu stören? Als er sah, wer
es sich herausnahm, ihn seinen unheiligsten Privatgemächern aufzusuchen, zügelte er sich. Er katzbuckelte. »Ah, Lucifuge Rofocale … Was führt dich zu mir?« Auch wenn es Asmodis nicht gefiel, aber der Ministerpräsident Satans stand nun einmal über dem Fürsten und hatte das Recht, unangemeldet aufzutauchen. Lucifuge Rofocale konnte alles tun und lassen, was ihm beliebte. Über ihm stand nur der KAISER persönlich, und der schwieg hinter seiner Flammenwand, wie er seit jeher schwieg. »Ich will nur sehen, ob mein oberster Diener auch seiner Arbeit ordentlich nachgeht. Wie mir scheint, ist das nicht der Fall!«, schoss der gehörnte Dämon eine Spitze ab. Weite ledrige Schwingen breiteten sich aus; der Ministerpräsident war in seiner ihm liebsten Gestalt erschienen. Rotglühende Augen funkelten tückisch in einer scheußlichen Fratze. Asmodis verneigte sich ein weiteres Mal, obwohl er ganz und gar nicht in der Stimmung dazu war. »Was soll das heißen? Womit habe ich deinen Unmut erregt?« »Wenn ich sehe, wie du hier tobst, scheint mir doch einiges im Argen zu liegen.« Asmodis entschloss sich, den Ministerpräsidenten einzuweihen. »Ein Bote ist ermordet worden.« »Und?« »Er war auf dem Weg zu mir.« »Das ist alles?« Lucifuge Rofocale lachte meckernd auf. Ein kleiner Flammenstoß fuhr aus seinem Maul und verbrannte einen Höllenkäfer, der vor ihm auf dem Boden krabbelte. Das Dämonentier zappelte und verendete. Der Ministerpräsident trat mit einer Klaue darauf und zerbrach die Überreste. »Ekliges Geschmeiß«, murmelte er. Asmodis nutzte die Gelegenheit, sein Mütchen etwas zu kühlen. »Alles?«, schrie er dennoch. »Du scheinst heute schwer von Begriff zu sein. Er wurde direkt vor meinem Thronsaal getötet. Niemand hat die Tat beobachtet, keiner weiß, aus welchen Motiven sie geschah oder wer der Täter war!« »Ich sagte ja … das ist alles?« Asmodis hasste es, wenn sein direkter Vorgesetzter ihn so von
oben herab behandelte. »Ja, das ist alles! Ich finde, es ist genug.« »Das ist eben nicht alles!« Jetzt war es Lucifuge, der brüllte. »Nur weil du wegen eines unwichtigen Archivars grübelst, bemerkst du überhaupt nicht, was in der Hölle vor sich geht! Dein Verhalten ist eines Fürsten der Finsternis nicht würdig. Vielleicht sollte ich mich nach einem Nachfolger umsehen!« Asmodis kochte, aber etwas in den Worten Lucifuges alarmierte ihn. Nicht alles? Er musste vorsichtig sein, um die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen. »Was ist geschehen?« »Während du hier auf- und abspazierst wie Rumpelstilzchen, das ich einst mit Magenschmerzen schuf und aus der Hölle schickte, schlachtet dort draußen jemand deine Untertanen ab.« »Was? Das kann nicht sein.« Wieder lachte Lucifuge auf. »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Sieh es dir selbst an! Oder soll ich dich gleich hier und jetzt degradieren?« Asmodis nickte beschwichtigend. Er benutzte die Drei-Finger-Schau. Und was er sah, machte ihn noch wütender. An zahlreichen Orten der Hölle waren Dämonen umgebracht worden. Er sah ihre Leichen, konnte aber keinen Zusammenhang zwischen den Taten erkennen. Offenbar war sein Bote tatsächlich nur eines von vielen wahllosen Opfern. Er ballte die Hand zur Faust, und die DreiFinger-Schau endete. »Ein Angriff auf die Hölle?«, flüsterte er. »Aber von wem?« »Ich rate dir: Finde heraus, was dahinter steckt. Sonst bist du die längste Zeit Fürst gewesen!« Asmodis nickte. Die Drohung des Ministerpräsidenten jagte ihm keine Angst ein, aber er wollte wissen, was hier vor sich ging. Lucifuge Rofocale drehte sich um und verließ den Thronsaal. Der Teufel ging zu seinem Thron und setzte sich. Er musste nachdenken. Er grübelte, und er ließ sich Zeit, denn jede Aktion wollte genau durchdacht sein. Als ein Irrwisch wagte, ihn zu stören, zermalmte er ihn unter seinem Bocksfuß. Wie sollte er herausfinden, was vor sich ging? Er konnte nicht überall sein, und bisher hatte es scheinbar keine Zeugen gegeben. Der oder die Täter waren schlau vorgegangen. Er überlegte, ob er
die Erzdämonen zu sich bestellen sollte, um sie zur Wachsamkeit zu ermahnen und sie als Spione und Beobachter einzusetzen. Doch er verwarf den Plan. Er wollte und musste das allein lösen, denn es war seine Aufgabe als Höllenherrscher. Würde es jemand anderem gelingen, so verringerte das sein Ansehen. Also dachte er weiter nach. Er brauchte Augen und Ohren, die überall zugleich waren. Und die nicht auffielen. Und da kam ihm die Idee! Irrwische. Wie schade, dass er den einen soeben zerquetscht hatte. Aber diese Winzlinge krochen und huschten an tausend Orten gleichzeitig herum, jeder Dämon hatte seine dienstbaren Geister. Meist wurden sie nicht beachtet, oft waren sie Blitzableiter für Wut und Hass. »Irrwische«, brüllte Asmodis deshalb. »Zu mir!« Innerhalb eines Augenblicks war der Bereich vor seinem Thron von irisierenden Geistern erfüllt. »Ihr habt gerufen, Meister?«, fragten sie mit ihren schwachen Stimmen. Typisch für sie. Schließlich waren sie nur darum gekommen. »Geht! Ihr werdet meine Augen und Ohren sein. Findet heraus, wer meine Untertanen abschlachtet.« Weitere Erklärungen gab er nicht. Es war deutlich genug. »Ja, Herr«, katzbuckelten sie und huschten davon. Nur einer schwebte weiterhin vor ihm. »Was ist mit dir? Brauchst du eine Extraeinladung?« »Herr, ich weiß, wer den Archivar getötet hat«, wisperte der glänzende Geist. »Was? Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Da bemerkte Asmodis, dass er seine Idee nicht bis zum Ende gedacht hatte. Andere beachteten die Irrwische nicht – und er hatte denselben Fehler begangen. Er hätte nachfragen sollen. Aus eigenem Antrieb taten diese Wesen nichts, sie fürchteten zu sehr um ihre armselige Existenz. »Sprich. Schnell!« »Eine Art Stock schwebte herab und flog genau auf den Archivar zu. Es hielt vor ihm an, und der Dämon brach zusammen. Kurz darauf platzte sein Schädel, und sogar der Staub löste sich auf.« Asmodis dachte nach. In der Tat konnte es so geschehen sein. Von
dem vernichteten Archivar war bislang keine Spur gefunden worden – sein Auslöschen jedoch hatte rekonstruiert werden können, weil die Todesaura noch über den verstreuten Dokumenten geschwebt hatte. »Ein … Stock? Was redest du da?« »So war es, Herr.« Erschrocken flackerte der Irrwisch auf, wartete wohl schon auf die Zornattacke, die ihn zermalmte. Doch Asmodis dachte nach. Der Botengeist würde nicht wagen, ihn zu belügen. »Was geschah dann?« »Das Ding drehte eine Runde um den Toten und flog weg.« »In welche Richtung?« »Nach oben, dort löste es sich einfach auf.« »Weiter, was geschah noch?« »Nichts, ich schwöre, Herr.« Mit einer unwilligen Handbewegung verscheuchte Asmodis den Irrwisch. Er hatte eine Spur – und sie war heiß, das spürte er. Er musste sie nur noch auf irgendeine Weise verfolgen können. Bis dahin hieß es, sich in Geduld zu üben.
Grantor war verunsichert. Die Taten der Langkas konnten nicht unbemerkt bleiben. Über kurz oder lang würde man ihn finden. Was dann mit ihm geschah, war ihm klar. Er hatte einen Entschluss gefasst, und daran hielt er fest. Er musste verschwinden. Für immer. Die Frage war nur, ob die Langkas ihn gehen ließen. Man wird euch entdecken, wandte er sich an die Unruhestifter, von denen stets einige unterwegs waren, um zu forschen und zu testen, eine Formel, die dem Brarktanen inzwischen Albträume bereitete. – das macht keinen Unterschied – Es wird Probleme geben. Niedere Dämonen mögt ihr vernichten können, genau wie mich, aber mächtige Feinde werden hierherkommen. – wir sind Macht – Grantor lachte. Erzdämonen wie Astaroth, Mavet oder gar Asmodis selbst würden sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Ein Zusammenprall dieser Mächte war nahezu unausweichlich. Es gibt auch andere mächtige Wesen, versuchte er es noch einmal. Die Langkas reagierten nicht.
Ein weiteres kehrte zurück, langsam schwebend diesmal. Sonst kamen sie so schnell, dass er ihnen mit den Blicken nicht folgen konnte; oder sie erschienen gänzlich aus dem Nichts. Das bedeutet nichts Gutes für mich, dachte Grantor. Er machte sich auf eine erneute Hiobsbotschaft gefasst.
Ein Irrwisch tauchte auf und riss Asmodis aus seinen Gedanken. »Herr, Herr.« »Ich hoffe für dich, du bringst mir wichtige Neuigkeiten.« Der Botengeist flackerte erregt. »Ich weiß, wo sie sind.« Asmodis wäre fast aufgesprungen, aber diese Gefühlsregung vor einem so niedrigen Wesen zu zeigen war unangebracht. »Sie?« »Die Stöcke, die töten!« Der Irrwisch berichtete vom Mord an einem weiteren Dämon und beschrieb den Täter genau wie den ersten. Danach war der Irrwisch dem gemütlich fortfliegenden Stock gefolgt. Er nannte seinem Meister die Richtung und den Ort. Der Fürst der Finsternis schickte den Irrwisch weg. Diese Gegend der Hölle war nahezu unbewohnt, öde und leer. Niemand herrschte darin, weil sie ganz einfach zu unbedeutend war. Oder? Es war ihm, als übersehe er irgendetwas. Er würde noch einmal die Archivare bemühen müssen. Dieses Mal wollte er allerdings keinen weiteren Mord an einem Boten riskieren. Er stand auf und wirbelte dreimal um die Achse. Noch in der gleichen Sekunde befand er sich im höllischen Archiv. Die wolfsähnlichen Archivare zuckten zusammen. Sie mochten es nicht, gestört zu werden und fürchteten stets um ihren Besitz. Zumindest erachteten sie die alten Dokumente als solchen. Im Zweifelsfall jedoch sollte je etwas Wertvolles auftauchen, würden sie nur als Verwalter gelten. »Wer beansprucht folgendes Gebiet der Hölle für sich?«, fragte er ohne sich mit irgendwelchen Floskeln abzuquälen, wie die Archivare sie so gerne zelebrierten. Er beschrieb den Ort. Sofort eilten alle Archivare los und suchten hektisch in den unzähligen vollgestopften Regalen. »Beeilt euch gefälligst!«, trieb er zu noch größerer Eile an und be-
sah sich ihr Treiben ein wenig amüsiert. Die alten Dämonen wirkten in ihrer Angst überfordert, aber das täuschte. Bereits nach kurzer Zeit brachten sie ihm das Protokoll einer Audienz, die er selbst gehalten hatte … vor langer Zeit. »Grantor, der Brarktane«, murmelte er. Er ließ das Pergament fallen und verschwand auf die gleiche Weise, wie er gekommen war. Die Archivare heulten erleichtert auf.
Grantor begab sich in den inneren Zirkel der Hölle. Asmodis hatte ihn zu sich bestellt. Er ahnte, dass man ihn in Zusammenhang mit den Geschehnissen brachte. Was sollte er tun? Die gesamte Geschichte von Anfang an erzählen, also auf gewisse Weise ein Geständnis ablegen? Nein, er entschloss sich abzuwarten, was Asmodis von ihm wollte. Vor dem Thronsaal fing ihn ein Diener ab, der ihn meldete. Kurz darauf wurde ihm das Portal geöffnet und er durfte eintreten. Etwa zehn Schritte vor Asmodis blieb er stehen und verbeugte sich tief. Sein Steinschädel kratzte fast über den Boden. »So, du lebst also noch immer«, begann der Teufel auf seinem Thron. »Dann hast du vielleicht etwas von den Vorkommnissen mitbekommen, die so viele Höllenbewohner in Sorge versetzten, dass sie mich, ihren Fürsten, um Hilfe baten?« Er weiß es, ging es Grantor durch den Kopf. Dennoch entschloss er sich erst einmal zu bluffen. »Vorkommnisse, Herr? Ich habe seit Jahrhunderten nicht mehr mein Gebiet verlassen.« »Seit ich es dir zusprach, ich erinnere mich. Komisch, dabei ist es dein Eckchen der Hölle, das als Zentrum der Taten ausgemacht wurde.« Asmodis stütze sich mit den Ellenbogen auf und sah auf seinen Untergebenen herab. »Was geht dort vor sich?«, sagte er scharf. Grantor wand sich, ihm war unwohl. Und weit mehr als das. Offenbar gab es kein Entkommen mehr vor der Wahrheit. »Langkas.« »Was?« »Es sind Langkas.« Asmodis dachte offenbar nach – zweifellos hatte er diesen Begriff
noch nie gehört. »Was soll das sein?« »Es sind … Wesen. Kreaturen, die unvermutet in meinem Gebiet wuchsen. Es dauerte Jahrhunderte, bis sie erstmals ein Lebenszeichen zeigten.« Dass er diesen Bereich nur deswegen für sich beansprucht hatte, verschwieg der Brarktane. Es schien ihm ratsamer, nicht alles preiszugeben. »Sie wuchsen? Was sind sie? Tiere?« »Ich weiß es nicht. Pflanzen. Gegenstände … Ich verstehe nur, dass sie hin und wieder meinen Bezirk verlassen und kurz danach wieder auftauchen.« Eine weitere Notlüge, die der Fürst hoffentlich schlucken würde. Asmodis musterte ihn. »Und du weißt nicht, was sie tun und wohin sie verschwinden?« »Nein.« »Sie ermorden meine Untertanen!« Ich weiß … Grantor duckte sich unter dem schneidenden Blick seines Herrschers, antwortete aber nicht. »Du wirst das in Ordnung bringen! Sofort! Ich werde das überprüfen. Geh jetzt.« Der Brarktane verbeugte sich noch einmal tief, dann verließ er hastig den Thronsaal. Mittels seiner Transportfähigkeit versetzte er sich zurück zu den Langkas. Dort verschlug es ihm die Sprache. Die Langkas hatten sich in einer Reihe aufgestellt. Wie in einer Marschformation schwebten sie in der Luft. – du hast uns verraten –, klagten sie ihn an. Nein, ich … Sie ließen ihn nicht zu Ende denken. – versuche nicht, uns zu belügen – Aber ich …. setzte er noch einmal an. Wieder wurde er unterbrochen. – dies war ein interessantes Forschungsfeld … nun müssen wir unsere Testreihen beschleunigen – Ohne noch eine Erwiderung abzuwarten, rasten die Langkas in verschiedenen Richtungen davon, tauchten blitzschnell wieder auf und wiederholten den Vorgang. Grantor ahnte, was sich in diesen Momenten abspielte. Überall in der Hölle starben Dämonen … und
am Ende der Reihe würde er selbst stehen. Verurteilt und hingerichtet durch ein Höllentribunal. Er hatte Asmodis Auftrag nicht erfüllen können. Sein Ende war vorgezeichnet.
»Asmodis!« Nicht schon wieder er … Lucifuge Rofocale tauchte aus dem Nichts auf. Bedrohlich spreizte er seine ledrigen Flügel. »Was willst du?«, fragte der Fürst, in einer Mischung aus Gereiztheit und notwendigem Respekt. Der Ministerpräsident Satans schnaubte ungehalten. »Du solltest etwas unternehmen, lautete mein Befehl an dich.« »Das habe ich. Ich habe den Verursacher ausgemacht und ihm befohlen, jeden weiteren Mord zu verhindern.« »So, hast du?« Ehe Asmodis etwas erwidern konnte, brüllte der Ministerpräsident ihn an. »Warum starben seitdem mehr als dreimal so viele Dämonen in kürzerer Zeit als vorher?« »Was?« Asmodis wollte nicht glauben, was er hörte – und verfluchte sich selbst, dass er seine Unwissenheit so offen zur Schau stellte. »Du verblödete Kopie eines Dämons! Hast du tatsächlich geglaubt, ein Befehl würde das alles beenden? Du hättest persönlich eingreifen müssen.« Das werde ich, dachte Asmodis grimmig, sprang von seinem Thron und sagte: »Komm mit!« Gemeinsam mit Lucifuge Rofocale machte er sich auf den Weg zum Epizentrum der Morde. Sie materealisierten vor der Grenze zu Grantors Bereich. »Hier ist es?«, fragte Lucifuge skeptisch. Asmodis nickte grimmig und wies auf die Bannzone. »Sieh dort hin.« Dort saß Grantor auf dem Boden. Tatenlos sah er dem Treiben der Langkas zu. »Das sind die Mörder«, sagte Asmodis.
»Diese … Stöcke?« »Sie nennen sich Langkas«, prahlte der Teufel mit seinem Wissen. »Wir sehen es uns aus der Nähe an.« Sie mussten ihren Weg nicht erst fortsetzen. Plötzlich tauchten zwei der Langkas vor ihnen auf. Sie umkreisten ihre Schädel und Lucifuge Rofocales ausgebreitete Schwingen. Ein schwacher Druck bildete sich in Asmodis Kopf. Sofort aktivierten er eine Verteidigungsmagie – wohl nicht anders als Lucifuge Rofocale auch. Der Druck jedoch blieb, stieg sogar noch langsam an. »Sie greifen an!«, ächzte Asmodis. »Dann lass uns zum Gegenangriff übergehen!« Lucifuge Rofocale spie eine Feuerlohe in Richtung des Langkas. Diese verpuffte, ohne auch nur irgendeine Auswirkung zu zeigen. Zwei weitere der schwebenden Stöcke tauchten auf. Scheinbar erkannten sie, dass sie diesmal keine leichten Opfer vor sich hatten, wie in all den anderen Fällen. Noch einmal spie Lucifuge Rofocale Feuer. Wieder war es wirkungslos. Asmodis wob einen Bann, um das Langka damit zum Stillstand bringen. Tatsächlich verlangsamte es sich, und der Druck in seinem Kopf ließ etwas nach. – wir sind Macht –, hörte er plötzlich in sich. Wollten die Langkas mit ihm kommunizieren? Ein Blick auf seinen Mitstreiter zeigte ihm, dass er dasselbe gehört hatte. »Wir sind die Beherrscher der Hölle!«, fauchte er zurück. Zu gleicher Zeit sandte er an Lucifuge: Wir können sie nicht vernichten, sie sind zu stark! Sie uns jedoch auch nicht, antwortete dieser. Ein klassisches Patt also. Asmodis überlegte, die Alte Kraft anzuwenden, entschied sich aber dagegen. Auch Lucifuge schien im Moment keine Lösung parat zu haben. »Was wollt ihr?«, wandte er sich noch mal an die Langkas. – wir sind Macht –, wiederholten diese. Wir erreichen hier nichts, dachte Asmodis. Lass uns fürs Erste verschwinden. Der Ministerpräsident stimmte telepathisch zu. »Wir kommen
wieder. Und dann kümmern wir uns auch um dich, Verräter!«, brüllte er in Grantors Richtung. Dieser saß weiter teilnahmslos auf dem Boden. Zu ängstlich, zwischen diesen Gewalten vernichtet zu werden. Asmodis und Lucifuge lösten sich auf.
Als die beiden Höllenherrscher verschwunden waren, wandten sich die Langkas an Grantor. – wer war das? – Asmodis und Lucifuge Rofocale. Sie sind mächtig. Ihr konntet sie nicht vernichten. Die Langkas schwiegen. Sie werden wiederkommen. Und dann werden sie euch zerstören. Und mich ebenso. – wir werden nachdenken – Nach diesem Satz sanken die Langkas zurück in den Boden, als würden sie sich verstecken.
Asmodis und Lucifuge Rofocale hatten sich zurückgezogen. Es wurmte sie, dass sie versagt hatten. Normalerweise war ihnen kein Gegner gewachsen, schon gar nicht, wenn sie vereint zuschlugen. »Was sind das nur für Wesen?«, murmelte Satans Ministerpräsident. »Du hast also auch noch nie von ihnen gehört?« »Nein.« »Ob in den Archiven etwas steht?« »Ich glaube nicht.« »Was können wir dann tun?« »Eine Armee«, murmelte Lucifuge. »Was?« »Wozu gebieten wir über Legionen von Dämonen? Wir stellen eine Armee auf!« »Du hast doch gesehen, was sie zu leisten imstande waren. Was sollen niederere Kreaturen als wir schon gegen sie ausrichten?«
»Lass mich ausreden. Wir nutzen sie als Schutzschild.« »Du willst sie opfern?« Asmodis sah seinen Herrn verblüfft an. Selbst ihn überraschte diese Skrupellosigkeit. »Wir legen einen Schutz um sie. Gleichzeitig zapfen wir ihre Energie an und verstärken so den Schlag, den wir gemeinsam ausführen werden.« »Du meinst, das wird funktionieren?« »Es muss!«, sagte Lucifuge Rofocale. »Sonst herrschen wir bald über eine leere Hölle.« Also sandten die beiden Erzdämonen einen Höllenruf aus und riefen ihre Heerscharen zu sich. Der Krieg in der Hölle konnte beginnen.
Grantor saß immer noch an der gleichen Stelle und überlegte, was er tun sollte. Zu Asmodis flüchten? Nein, das war gleichbedeutend mit Selbstvernichtung. Der Fürst würde seinen Worten keinen Glauben schenken. Bei den Langkas zu bleiben, verschaffte ihm allerdings auch alles andere als einen Vorteil. Plötzlich geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Der Boden erbebte vom Marschieren unzähliger Füße. Grantor erhob sich und sah in die Richtung, aus der die Vibration erfolgte. Am Horizont marschierte eine Armee auf. Unter ihrem Stampfen zitterte die Erde. Die Langkas schossen aus ihren Verstecken hervor – oder aus den Orten, an denen sie gewachsen waren. Der Anblick verschlug ihm endgültig die Sprache. Es handelte sich nicht mehr um die Zehn, die er bereits kannte. Weit über Hundert erhoben sich in die Luft und formierten sich. – wir sind Macht – Der Ruf war so laut, dass es ihn zu zerreißen drohte. Die Armee, es mussten Tausende von Dämonen und schwarzmagischen Wesen sein, nahm Aufstellung und brüllte wie aus einer Kehle. Am orangefarbenen Himmel zuckten Blitze. Dann erschienen die Fratzen von Asmodis und Lucifuge Rofocale über ihnen, gewaltige, wabernde Erscheinungen. Auch sie sprachen wie aus einem Mund.
»Für die Hölle und unseren Kaiser LUZIFER! Langkas, euer Ende ist nah.« Nach dieser Botschaft lösten sich die beiden Mächtigsten der Hölle wieder auf. Grantor spürte die Magie, die sich über den feindlichen Soldaten aufbaute. Ja, so musste er sie wohl ansehen; sie waren nicht nur die Feinde der Langkas, sondern auch seine eigenen. Auch die Langkas schoben sich in einer Front voran, bereiteten ihrerseits den Angriff vor. Die Dämonen, die ihnen am nächsten standen, taumelten. Einige fielen; starke, unbezwingbar scheinende Leiber zerplatzten. Schwarzes Blut schoss in hohem Bogen davon. Staub rieselte im Sturmwind von Explosionen, die inmitten der hässlichen Körper zündeten. Doch immer wieder rückten andere anstelle der Vernichteten nach. Auch die Langkas konnten sich nicht mehr ruhig in der Luft halten, als die erste gewaltige magische Welle in ihre Richtung geschleudert wurde. Sie sanken hinab, erholten sich aber und schlugen zurück. Nun platzten gleich mehrere Dämonenschädel. Grantor erkannte, dass es ein Massaker nicht nur bevorstand, sondern bereits in vollem Gange war. »Halt!«, brüllte er, doch niemand beachtete ihn. Wieso auch? Er war einer von vielen. Und in diesen Momenten verstand er endlich, auf welche Seite er gehörte. Er war ein Dämon. Ein Kind LUZIFERS, auch wenn seine Rasse einen anderen Weg genommen hatte als die meisten übrigen Dämonensippen und -arten. Und wenn er sich selbst noch als Dämon ansehen wollte – dann musste er diesen Krieg verhindern. Wut, Zorn und Entschlossenheit brachen sich Bahn. Er fand die Kraft und den Mut, seine ihm ureigene Energie zu aktivieren. Er ließ seine Haut aufplatzen, der Lavaschleim trat aus ihm hervor. Er glühte und glomm, verstrahlte Hitze und düsterrotes Licht. Die Langkas schossen vor und an ihm vorbei in Richtung des Dämonenheeres. Im gleichen Moment schleuderte der Brarktane seine Magie, gebündelt in der Essenz seines Körperinneren … … und traf eins der Langkas.
»Sieh dir das an, der Verräter wendet sich endgültig gegen uns«, sagte Asmodis, der zusammen mit Lucifuge Rofocale die magischen Attacken von einem Felsen aus steuerte und den Fortschritt beobachtete. Satans Ministerpräsident ruhte kauernd nur wenige Meter entfernt – und natürlich etwas höher als der Fürst, so dass er auf diesen hinabschauen konnte. Seine Flügel waren halb ausgebreitet. »Wenn das hier beendet ist, wird er dafür bezahlen.« »Wir müssen nicht mehr lange warten.« Asmodis freute sich schon darauf, dem Brarktanen die Hörner in den steinernen Leib zu rammen und ihn aufzuschlitzen. Gemeinsam bereiteten sie den nächsten magischen Angriff vor. Sie besprachen sich kurz, sammelten ihre Kräfte und schlugen zu.
Das Langka stoppte seinen Flug abrupt ab. Auch die anderen wurden langsamer. Ein neuer Angriff hatte sie erwischt. Dutzende Dämonen fielen entkräftet und hauchten ihre unselige Existenz aus. »Verschwindet von hier!«, brüllte Grantor die Langkas an. Ohne zu antworten, raste eine der hölzernen Kreaturen auf ihn zu und durchschlug ihn glatt. Er konnte fühlen, wie etwas aus ihm heraus gerissen wurde. Es war, als prasselten kleinen Steine herab. Augenblicklich schloss Grantors Magie den Durchschlagskanal, aber er fiel dennoch auf die Knie. Hinter ihm taumelte das Langka durch die Luft. Es zog einen feurigen Schweif aus dem glutflüssigen Inneren des Brarktanen nach sich; Tropfen klatschten zu Boden und verdampften zischend. Die anderen seiner Art schienen irritiert zu sein, als wären sie ein Kollektiv, das nur zusammen perfekt funktionierte. Einen Augenblick lang geriet alles ins Schwanken – doch schließlich bündelten sie ihre Kraft erneut und schlugen zu. Diesmal wurden Hunderte Dämonen vernichtet. Schreie gellten. Enthauptete Leiber torkelten. Formlose Monster zerschmolzen zu einem widerwärtigen Brei, der teils unter andere Soldaten glitt und
diese zu Fall brachte. – wir sind Macht –, hörte Grantor die ewigen, immer wieder gleichen Worte, die zu einer Art Schlachtruf geworden waren. Der Brarktane wankte näher auf die große Formation der Langkas zu. Ein weiterer Schlag erfolgte, der die Dämonenarmee weit zurückwarf. Die Kreaturen nahmen eine neue Konstellation ein. Sie ähnelten nun einem gewaltigen Kreis, der in der Luft schwebte. Nur das Langka, das ihn angegriffen hatte, taumelte nach wie vor knapp über dem Boden. »Verschwindet«, wiederholte Grantor, geschwächt von der Attacke und der brutalen Verletzung. Noch einmal ließ er seine Haut aufplatzen, teils um sich zu heilen, teils um Energie für einen Angriff zu sammeln. Die Langkas leuchteten auf. Es schien, als würden sie ein Loch in den Himmel brennen. Oder ein Tor.
»Wir schaffen es, Asmodis!«, triumphierte Lucifuge Rofocale. Das wird auch Zeit, dachte dieser. »Unsere Armee schrumpft: beträchtlich«, sagte er, in gelassenerem Tonfall, als er sich fühlte. Dies war zweifellos der verheerendste Verlust an Dämonen seit Anbeginn seiner Regentschaft. Was in etwa gleichbedeutend war mit schon immer. Zumindest sah der Fürst der Finsternis selbst dies so. »Wenn wir diese Schlacht nicht gewinnen, wäre ein Krieg von Beginn an für uns verloren.« Gemeinsam sahen die mächtigsten Dämonen der Hölle, wie etwas im orangeroten Himmel entstand. Es ging rasend schnell. Lucifuge Rofocale fluchte. »Sie öffnen ein Weltentor!« Die Worte waren noch nicht verhallt, als die Formation der stockartigen Wesen mit irrwitziger Geschwindigkeit in dieses Tor hineinraste – und verschwand. »Sollen wir sie verfolgen?«, fragte Asmodis. »Lass sie«, grollte der Ministerpräsident. »Sollen sie nur gehen –
wir werden sie im Auge behalten. Aber den Verräter holen wir uns.« Aus den Worten war nicht nur ein Todesurteil herauszulesen; schreckliche Folterungen und Marterungen würden diesem vorangehen. »Vorwärts!«, brüllte Lucifuge Rofocale magisch verstärkt, dass es jeder Einzelne des stark dezimierten Heeres hören musste. »Packt euch Grantor, den Verräter des Kaisers!«
Der Brarktane versuchte mit seiner Magie das Langka, das vor ihm schwebte, zu vernichten. Doch ihm fehlte die Kraft. Er wankte, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Nur ein dünnes Rinnsal produzierte er aus seinen Verwerfungen – viel zu wenig. Selbst ein Mensch hätte dem zu widerstehen vermocht – wie viel mehr das Langka, und sei es noch so geschwächt. Grantor ließ seine Haut wieder heilen. In diesem Moment hörte er den Ruf des Ministerpräsidenten. »Vorwärts! Packt euch Grantor, den Verräter des Kaisers!« Ich bin kein Verräter, dachte er verbittert. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass jeder dies anders sah. Ihm würde keine Zeit bleiben, sich zu erklären. Welche Ironie … der Brarktane hatte sich endlich für seine Wurzeln entschieden – und nun drohten diese Wurzeln ihn zu vernichten. Für den Ministerpräsidenten – und stand da nicht Asmodis, dicht bei der beeindruckenden Gestalt Lucifuge Rofocales? – musste es so ausgesehen haben, als hätte er die Langkas in Richtung der Armee getrieben. Der Tod kam auf ihn zu, hundert- und tausendfach. Dem Brarktanen blieb nur eine Möglichkeit: Flucht. Und diese bot sich wiederum nur an einer einzigen Stelle. Er fixierte das Tor, über das die Langkas die Hölle verlassen hatte … wohin auch immer sie gegangen waren. So schnell er konnte, eilte er in diese Richtung. Der wabernde Ring in der Luft wurde von Augenblick zu Augenblick kleiner und sank tiefer. Vielleicht dem letzten Langka in diesem Gefilde entgegen.
Schon besaß das Tor nur noch einen Durchmesser von gut zwei Metern. Grantor beeilte sich und stieß sich ab. Er fühlte einen leichten Widerstand, als wollte ihn etwas packen und zurückwerfen, dann war er durch.
Das letzte Langka lag auf dem Boden der Hölle. – reinige deine Existenz … du bist kontaminiert … du wirst uns finden, wenn es an der Zeit ist … verbleibe hier und forsche –, riefen seine Artgenossen durch das Weltentor. Sie hatten bereits ihr Ziel erreicht, an dem sie in Sicherheit sein und ungestört bleiben konnten. – nein! Ich will nicht hierbleiben! – Das Langka spürte, dass es verändert worden war, als es den Dämon durchstieß; eine Aktion voller Wut und rasendem Zorn, die es nicht ausreichend durchdacht hatte. Es fühlte sich schwach. Langsam ließ es sich in den Boden sinken und verkapselte dort sein Bewusstsein. Es ließ die Gesteinsschicht über sich zusammenwachsen, während es sich tiefer und tiefer bohrte und unter der Erde eine Wanderung antrat. Das Trampeln der Dämonenarmee blieb zurück. Es wurde immer schwächer und leiser. Niemand konnte das Langka nun noch finden. Es dachte nach und plante seine Reinigung von den Anteilen des dämonischen Brarktanen, die sich in sein tiefstes Inneres fraßen und dort verankerten. Sie zu entfernen, würde lange dauern. Sehr lange.
5 – Rosenherz Luigi Orseolo schenkte sich ein Glas besten Chiantis ein und streckte sich behaglich auf dem Sofa aus. Der Pfarrer von Jesolo freute sich auf einen tollen Fußballabend. Sein Verein, der AC Mailand, spielte das letzte Champions-League-Vorrundenspiel gegen Real Madrid, eigentlich das vorweggenommene Endspiel, und seine Mailänder hatten noch etwas gutzumachen aus dem Vorspiel, das 0:2 verloren gegangen war. Dementsprechend aggressiv würden sie zu Werke gehen. Vielleicht sollte er sich zu dem Wein noch ein bisschen Parmaschinken gönnen? Obwohl er bei der Geburtstagsfeier vorhin sehr gut gegessen hatte und eigentlich satt war. Egal – er hatte noch ein ordentliches Stück im Kühlschrank liegen. Die Versuchung war einfach zu groß. Und Versuchungen dieser Art waren ihm ja nicht verboten. Jedenfalls nicht von Gott. Noch eine Viertelstunde … Seufzend stand Pfarrer Orseolo auf und ging in die Küche. Der 54-Jährige erfreute sich nicht mehr allerbester Gesundheit. Zu wenig Bewegung, das Herz machte ihm in letzter Zeit ein wenig Sorgen, deswegen hatte ihm sein Arzt auch geraten, nur noch die Hälfte zu essen. Aber der hatte leicht reden. Und Luigi Orseolo großes Gottvertrauen. Der Schöpfer wollte ihn sicher noch lange nicht bei sich haben. Wenn er sich künftig etwas mehr bewegte, so wie jetzt zum Kühlschrank, würden die Beschwerden ganz zweifellos wieder verschwinden. Orseolo kam an seinem Arbeitszimmer vorbei, dessen Tür halb offen stand. In diesem Moment klingelte das Telefon. Er zuckte zusammen, nahm sich aber vor, nicht abzunehmen, selbst wenn es der Patriarch von Venedig sein sollte. Immerhin, auf das Display konnte er ja mal schauen, denn er war von Natur aus neugierig. Der Pfarrer schlurfte zum Telefon. Und erstarrte. Es war der Patriarch von Venedig! Die Nummer kannte er nur zu gut. Er zögerte. In den schrillen Klingeltönen glaubte er jedes Mal die
Schiedsrichterpfeife zu hören, die die Partie anpfiff. Dann nahm er unter allerlei inneren Flüchen doch ab. Angelo Scola zu versetzen war nicht ratsam. Zumal der Bischof genau wusste, dass er zu Hause war und das Fußballspiel anschauen wollte. »Pfarrer Orseolo.« »Bischof Scola hier«, ertönte eine aufgeregte Stimme, in der der Pfarrer nichtsdestotrotz die des Patriarchen erkannte. »Eminenz. Das ist aber eine … äh … Überraschung. Was verschafft mir die Freude und die Ehre?« »Reden Sie nicht so geschwollen rum, Orseolo. Machen Sie sich umgehend auf den Weg und kommen Sie so schnell wie möglich in den Markusdom. Es ist von äußerster Wichtigkeit.« »Was denn, jetzt?«, entfuhr es dem Pfarrer. »Schauen Sie sich die Zusammenfassung des Spiels morgen nach der Frühmesse an. Und nun fahren Sie umgehend los.« »Jawohl, Eminenz.« Orseolo hätte heulen können. Einen Moment lang tat er es tatsächlich. Die Mannschaften standen bereits auf dem Feld, die Champions-Hymne ertönte. Er schlüpfte umständlich in seinen schwarzen Priesteranzug mit weißem Kragen und schaute, dass er wenigstens noch die ersten fünf Minuten mitbekam. Als er sah, dass Madrid deutlich besser ins Spiel kam, fiel ihm das Gehen nicht ganz so schwer. Orseolo stieg in seinen Fiat und fuhr die wenigen Kilometer nach Punta Sabbioni. Die Nachtfähre würde ihn vom dortigen Fähranleger direkt zum Markusplatz transportieren. Auf dem riesigen Parkplatz, auf dem momentan nur vereinzelt Autos standen, stellte er seinen Fiat ab. Es war ziemlich finster und hinter den großen alten Bäumen, die überall rundum wuchsen, raschelte und knackte es. Ängstlich war Orseolo zwar nicht, aber jetzt schaute er sich schon mal um. Rasch ging er in Richtung Kaimauer. Dort spendeten die Laternen zumindest trübes Licht. Irgendjemand kam vom Fähranleger herangehastet, blickte sich kurz um und hielt direkt auf ihn zu. Gleich darauf stand ein etwa 15-jähriges blondes Mädchen mit tränenüberströmtem Gesicht vor Orseolo. »Herr Pfarrer, bitte, kommen Sie schnell mit, mein Papa ist
umgefallen und rührt sich nicht mehr«, sagte sie auf Deutsch, immer wieder von Weinkrämpfen unterbrochen. »Helfen Sie mir!« Sie packte ihn am Ärmel und zog ihn mit sich. Orseolo war dieser Sprache ausreichend mächtig; das musste jeder sein, der in der deutschen Enklave Jesolo arbeitete. »Natürlich komme ich mit, Mädchen«, antwortete er ebenfalls in Deutsch. »Wo liegt dein Vater? Zeig ihn mir.« Das Kind, ein hübsches Ding, rannte voraus und stoppte immer wieder ab, als sie merkte, dass der Pfarrer nicht nachkam. Luigi Orseolo tat, was er konnte, aber sein Herz ließ nicht mehr zu. Er keuchte von Sekunde zu Sekunde stärker. Aber der Wille zu helfen hielt ihn aufrecht. Das Mädchen lief an den Anlegestegen vorbei und auf das Grundstück eines der Häuser, die entlang der Uferpromenade aufragten. Das alte rostige Gartentor, durch das sie sich drückte, stand offen. Orseolo, der aus den Augenwinkeln bemerkte, dass die bunt erleuchtete Fähre noch ein ganzes Stück weg war, tat es dem Kind nach. Er betrat einen alten, verwilderten Garten mit Beerenbüschen, vermoosten Statuen und schmalen, überwucherten Plattenwegen. Das Mädchen winkte neben einem Busch. Durch die Lampen der Uferpromenade konnte er sie gerade noch so als Silhouette wahrnehmen. »Hier liegt er, Herr Pfarrer, kommen Sie.« Orseolo hastete zu dem Gebüsch und brauchte erst mal einen Moment, um seinen Kreislauf wieder etwas zu beruhigen. »Bitte, Herr Pfarrer, hier … O mein Gott, Papa, Papa …« Sie ging hinter dem Strauch in die Knie. Er nickte und atmete immer noch schwer. »Warte einen Moment. Gleich …« Pfarrer Orseolo setzte sich in Bewegung. Seine kleine Führerin erhob sich geschmeidig und trat zur Seite. »Wo ist er denn?«, fragte er erstaunt. »Ich sehe nichts.« Das Mädchen stand neben ihm. Ihre Augen glühten plötzlich rot. Orseolo fuhr zurück. Der Teufel war gekommen, um ihn zu versuchen! Er wollte instinktiv zum Silberkreuz greifen, das er um den Hals hängen hatte. Doch der Dämon vor ihm war schneller. Das hübsche Mädchenge-
sicht verzerrte sich für einen Augenblick fast bis zur Unkenntlichkeit, die Augen leuchteten noch greller und Orseolo, der plötzlich Stiche im ganzen Brustkorb verspürte, hatte den Eindruck, als waberten tief schwarze Schatten durch das Augenleuchten. Der Dämon kicherte höhnisch, schrie im nächsten Moment schrill auf – und schmetterte dem Pfarrer eine Art Spazierstock auf den Kopf. Orseolo ächzte. Er fiel auf die Knie und glaubte, sein Herz müsse aussetzen. Aber es schlug weiter. Selbst als der Dämon ihm mit einem Messer die Halsschlagader aufschlitzte und ein dicker Strahl Blut herausschoss. Und so wurde er Zeuge eines unglaublichen Phänomens. Direkt vor ihm begann der Boden in einem dunklen Rot zu glühen. Streng abgegrenzt war das quadratische Leuchten, etwa zwei auf zwei Meter groß. Es arbeitete sich senkrecht nach unten und machte den Grund gläsern-durchsichtig. Orseolo konnte die Umrisse von Käfern, Würmern und anderem Viehzeug erkennen. Er nahm das alles seltsam unwirklich wahr, während ihm das Leben im Puls seines Herzens aus dem Körper strömte. Und dann sah er ihn plötzlich. Den Kopf! Er ruhte in unbestimmter Tiefe im Boden. Leicht schräg gelegt, das Gesicht nach oben gerichtet. Ein steinerner Schädel, wahrscheinlich der einer Statue, ein Frauenkopf mit einst schönen Zügen und langen Haaren. Oder doch nicht? Die Züge waren grässlich verzerrt, die Augen verdreht, als habe die Frau im Tod unendliche Schmerzen erleiden müssen. Möglicherweise war es ein ganz und gar außergewöhnlicher Tod gewesen, denn aus dem geöffneten Mund der Frau ragte eine ebenfalls versteinerte Rosenblüte. Zudem drangen überall aus Wangen, Gesicht und Kopfhaut Dornen, so, als habe die Rose sie von innen durchrankt und getötet. Aber es war ja nur eine Statue. Oder? Pfarrer Orseolo wankte bereits. Blutrote Schleier, die nichts mit dem Leuchten vor ihm zu tun hatten, tanzten vor seinen Augen. Trotzdem sah er noch, wie die steinerne Rose im Mund des Kopfes blitzschnell nach oben wuchs, wie die Dornen und die Stängel, auf denen sie saßen, nachzogen. Eine Rosenranke durchstieß den Boden,
bohrte sich an mehreren Stellen durch den Körper des Pfarrers und bescherte ihm ein furchtbares Ableben . Gleich darauf erlosch das Leuchten. »Es tut mir so unendlich Leid«, sagte Minette Fleury mit der Stimme des Patriarchen Angelo Scola. Das schwarze Flackern in ihren roten Augen verglomm langsam, das Rot danach ebenfalls. Nun blickte sie wieder so normal wie ein Mensch auf die Fähre, die soeben anlegte und einige Nachtschwärmer auf den Kai entließ. Sie ließ sich auf den Boden sinken und weinte haltlos.
Commissario Cattani fand erst gegen Abend Zeit, mit Zamorra und Nicole nach Torcello überzusetzen. Dafür stellte er extra ein Polizeiboot zur Verfügung. Es war bereits dunkel, als sie die Insel betraten. Der wachhabende Carabiniere grüßte respektvoll. Die drei Ermittler gingen zu den Kirchen, die sich als riesige Schatten vor ihnen abhoben. Wolken jagten über den Himmel und verdeckten Mond und Sterne fast vollständig. So war kaum etwas zu sehen. Zudem wehte ein empfindlich kühler Wind. Zamorra ging zur Mauer mit den Artefakten. »Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob du dein Geheimnis preisgibst. Wenn du überhaupt eins hast«, murmelte er und strich mit der flachen Hand über die Rose. Dann versetzte er sich erneut in Trance und ging mit Merlins Stern ins Magische Universum. Fanden sie dort den Magischen Imprint der Rose, vermochten sie Kontakt mit ihr aufzunehmen und vielleicht ihre übernatürlichen Strukturen zu erforschen. Und tatsächlich, da war etwas! Etwas Leuchtendes, Verschwommenes allerdings nur, in das Merlins Stern nicht vordringen konnte und immer wieder daran abglitt. Der Meister des Übersinnlichen hatte den Eindruck, dass diese grundlegenden magischen Strukturen sogar für das Amulett unsagbar fremdartig waren. Dunkle Schatten flogen über der Lagune näher. Vier, fünf, sieben … Lautlos landeten sie auf dem Ziegeldach der Rundkuppel von Santa Fosca. Lange Flügel verformten sich zu Armen, hundeähnliche Fratzen zu menschlichen Gesichtern. Mit weiten Sätzen sprang
das Septett auf das Dach der darunterliegenden, umlaufenden Arkaden und kauerte sich an den Rand. Nicole spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie fuhr herum. Sieben bleiche, verwaschene, grausam verzerrte Gesichter starrten sie aus der Finsternis an. Sie sah rötliche Augen funkeln und lange Bluthauer, die wie Elfenbein glänzten. »Vampire!«, schrie sie. Commissario Cattani, der Zamorra beobachtet hatte, fuhr herum. Er sah die Blutsauger ebenfalls auf der Dachkante sitzen. »Was …« Weiter kam er nicht. Die Kinder der Nacht ließen ein gefährliches Fauchen hören. Sie sprangen ab. Schnell wie Geschosse rasten sie auf die Menschen zu. Nur Sekundenbruchteile blieben – viel zu wenig, um reagieren zu können. Ein Vampir prallte gegen Cattani. Der Commissario ächzte. Er hatte das Gefühl, von einer Abrissbirne getroffen zu werden. Die enorme Wucht des Aufpralls schleuderte ihn nach hinten. Er torkelte hilflos einige Schritte, geriet endgültig ins Straucheln, versuchte verzweifelt, sich abzufangen und gleichzeitig vorne den Blutsauger abzuwehren, dessen lüsternes Gesicht viel zu nahe an sein eigenes kam. Der Gestank, der aus dem weit aufgerissenen Maul mit den langen Saugzähnen und den dazwischenliegenden, haifischähnlichen Zahnreihen kam, war widerwärtig. Selbst in diesem Augenblick, da Cattani ganz sicher andere Sorgen hatte, nahm es ihm fast den Atem. Der Commissario konnte dem Druck nicht standhalten und krachte auf den Rücken. Doch er war schon immer ein hervorragender Einzelkämpfer gewesen. So nutzte er den Bewegungsschwung, indem er die Beine hochriss, sie dem Angreifer in den Bauch stemmte und ihn über sich hinaus beförderte. Der Vampir, darauf nicht vorbereitet, machte einen Überschlag und landete auf dem Rücken. Mit einem Fauchen kam er wieder hoch. Cattani rollte sich verzweifelt zur Seite. Noch immer auf dem Boden, zog er seine Beretta aus dem Schulterhalfter. Doch schon lag der Blutsauger erneut auf ihm. Eisige Kälte erfasste den Commissario und lähmte ihn für einen Augenblick. Der Vampir fauchte und riss das Maul auf; er legte den Kopf leicht
schräg, um die Bluthauer ungehindert in Cattanis Hals senken zu können. Er biss zu. Metall knirschte. Cattani hatte im letzten Moment seine Beretta gehoben und dem Angreifer ins Maul gerammt. Während der Schwarzblütige noch ächzte und die Waffe mit einer seitlichen Kopfbewegung weit zur Seite schleuderte, verpasste ihm der Commissario eine Kopfnuss mitten ins Gesicht. Doch damit hatte er sein Pulver auch schon verschossen. In diesem Moment bereute er, dass er das geweihte silberne Kreuz, das ihm seine von der Mafia getötete Frau Maria zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, mit in ihren Sarg gelegt hatte. Er schrie angstvoll, als er in den nun grellrot leuchtenden Augen sein Schicksal sah, das weitaus schlimmer als der Tod war. Nicole war derweil damit beschäftigt, gleich fünf Vampire abzuwehren. Eine weibliche Bestie konnte sie mit viel Glück sofort vernichten. Durch eine geschickte Ausweichbewegung sprang die Vampirin an ihr vorbei – und fiel genau auf den Gitterzaun, der den Platz mit dem ausgegrabenen Ziegelmauerwerk vor Santa Fosca umgab. Einer der spitzen Pfähle drang dabei direkt in das Herz der Blutsaugerin und ließ sie umgehend zu Staub zerfallen. Das machte die anderen Blutsauger unglaublich wütend. Im Gegensatz zu Cattani trug Nicole ein geweihtes silbernes Kreuz. Nachdem klar geworden war, dass sie es mit Vampiren zu tun bekommen würden, hatte sie sich am Nachmittag eines aus Zamorras Einsatzkoffer genommen. Das schwang sie nun an der robusten Kette am ausgestreckten Arm vor sich und beschrieb immer wieder Halbkreise damit. Das hielt die fauchenden Biester, die sich um sie gruppierten, zunächst noch auf Distanz. Auch die, die in die Luft stiegen und es von oben versuchten, kamen nicht durch. Sie verstanden anscheinend nicht, dass sie schon mit einer einzigen konzertierten Aktion erfolgreich gewesen wären. Denn immer wenn Nicole nach oben schlagen musste, öffnete sie fast ihre komplette Körperdeckung. Ihr Arm zuckte gegen einen der vorsteppenden Angreifer. Eigentlich hatte sie Cattani ebenfalls schützen wollen, aber zu diesem kam sie nicht mehr durch. Gott sei Dank stand sie aber direkt vor Zamorra, denn der rührte sich seltsamerweise noch immer nicht. Und auch
das Amulett, auf das sie so sehr hoffte, tat keinen Mucks. Was ging da vor? Nicole hörte Cattani schrill und verzweifelt schreien. In einem Reflex rief sie die Silberscheibe. Ohne Zeitverlust tauchte Merlins Stern in ihrer rechten Hand auf. Es war, als habe sie damit eine Barriere durchbrochen. Silberne Blitze schossen aus dem Amulettzentrum und schlugen in die Körper der Blutsauger. Die standen sofort in hellen Flammen. Schreiend und kreischend tanzten die lodernden Fackeln umher, torkelten, verrenkten sich in grotesken Bewegungen. Innerhalb weniger Sekunden sah Nicole nur noch die Skelette in dem Feuer, tiefschwarz wie Schattenrisse. Doch auch die Knochen verbrannten umgehend zu feiner Asche, die sanft auf den Boden rieselte und sich dort vollends auflöste. Nichts blieb von den Kindern der Nacht übrig. Commissario Cattani rappelte sich auf. »Danke, vielen Dank«, flüsterte er nur und klopfte sich Dreck und Staub vom Pullover. Auch Zamorra weilte wieder unter den Lebenden. Er untersuchte den Polizisten auf Bissmerkmale, fand aber keine. »Da haben Sie Ihr Glück gleich für ein ganzes Jahrzehnt aufgebraucht, Commissario«, stellte der Professor fest. Er nickte. »Das … das waren … richtige Vampire, oder?« »Richtiger und wahrer geht's nimmer.« »Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen … wirklich entschuldigen.« »Ach, lassen Sie stecken, Commissario. Sie wissen nun, was Sache ist, das ist das Wichtigste für uns. Und wir können alle froh sein, dass es so glimpflich ausgegangen ist. Da hat sich wohl Signore Vampir, den wir in der Zeitschau gesehen haben, von uns auf die Füße getreten gefühlt und gleich mal eine Vorhut seiner Armee auf uns gehetzt.« Zamorra grinste, was die anderen aber in der Dunkelheit bestenfalls erahnen konnten. »Schön und gut«, meinte Nicole. »Aber woher weiß der Blutsauger, dass wir ihn erkannt haben? Das will mir nicht so ganz in den Kopf. Da müsste er uns ja direkt bei der Zeitschau beobachtet haben.« »Oder er greift einfach zu präventiven Maßnahmen. Wir sind in den Schwefelklüften ja schließlich auch nicht gerade die großen Un-
bekannten.« Nicole zog die Schultern hoch. »Wie auch immer. Kommen wir nun zur wichtigsten Frage. Wieso hast du den Angriff nicht gleich bemerkt, Chéri? Und, was mich noch mehr umtreibt, weshalb hat die Blechscheibe nicht umgehend reagiert?« Der Parapsychologe kratzte sich am Kinn. »Hm, schwer zu sagen. Möglicherweise hat uns die Magie, die in der Rose steckt, blockiert. Sie ist extrem fremdartig. Keine Ahnung, was sie so alles anrichten kann. Auf jeden Fall war es eine super Idee, das Amulett zu rufen. So hat es wohl die Blockade überwunden.« Nicole seufzte. »Also gut. Und was machen wir jetzt?« »Das ist ja wohl keine Frage. Wir gehen mit unserem Freund Commissario Cattani noch in irgendeine Bar und begießen den glorreichen Sieg. Einverstanden?« »Einverstanden, ja. Und dabei werden Sie mir alles über diese … diese Wesen erzählen. Vielleicht hilft mir das, das Ganze besser zu verarbeiten. Gegen die ist die Mafia ja der reinste Provinzverein.« »Tiefste Provinz, in der Tat.« Nicole lächelte. »Eine gewisse Seelenverwandtschaft gibt es nichtsdestotrotz bei beiden Vereinen.«
Am nächsten Morgen fuhren Zamorra und Nicole mit ihrem Boot zur Questura in Castello. Commissario Cattani erwartete sie bereits. Das nächtliche Abenteuer und das anschließende Schöntrinken hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, während die beiden Dämonenjäger wie der junge Frühling wirkten. »Wie machen Sie das bloß?«, fragte Cattani und verzog die Lippen zu einem humorlosen Grinsen, als er sich auf seinem Stuhl bewegte. Die Verletzungen aus dem Vampirkampf würden sicher noch einige Tage bestehen bleiben. »Nicht mal das kleinste Fältchen.« Die beiden verzichteten darauf, ihm vom Wasser des Lebens zu erzählen, das sie immer vital hielt. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte Cattani. »Möglicherweise haben die zwei Mordfälle wirklich etwas miteinander zu tun. Wie wir von Zeugen wissen, hat der Tote aus der Raffaelskirche, ein Gondoliere namens Antonio Guardi, am Nachmittag vor seinem Tod ein etwa
fünfzehnjähriges Mädchen gefahren. Sie sah offenbar genauso aus, wie Signora di Leo das Gör, wie sie es nannte, auf Torcello beschrieben hat. Seltsamerweise soll das Mädchen einen Spazierstock dabei gehabt haben, das haben mehrere Zeugen übereinstimmend gesagt. Guardi hat bei seinen Kollegen noch damit geprahlt, dass er sich mit der Kleinen abends treffen werde. Und das hat er auch. Sie waren in verschiedenen Bars. Etliche Leute dort können sich an sie erinnern. Vor allem auch wegen des Spazierstocks.« »Hm. Ob sie eine Vampirin ist?«, fragte Nicole und freute sich über den Espresso, den eine junge Frau ins Büro brachte. »Möglicherweise. Gibt es bereits Zeichnungen von ihr?« Cattani nickte. »Ja, das hätte ich jetzt fast vergessen. Schauen Sie.« Er klickte sich die Phantombilder auf seinen Bildschirm. Zamorra und Nicole sahen sich ungläubig an. Sie schnappte nach Luft. »Du kannst mich nun schlagen oder auch nicht, Chéri. Die hat eine modernere Frisur. Aber sie sieht verdächtig aus wie unsere liebe kleine …« »Minette Fleury«, unterbrach der Meister des Übersinnlichen. »Das dunkle Kind, ja.« »Das ehemals dunkle Kind.« »Sieht wohl nicht so aus, als könne man diese Unterscheidung treffen«, murmelte Zamorra missmutig. »Dieser Stock. Meinst du, das könnte das Langka sein?« Nicole nickte bedächtig. »Du glaubst, es ist wieder zu ihr zurückgekehrt?« »Offenbar. Und es würde alles zusammenpassen.« Cattani räusperte sich vernehmlich. »Ich möchte Ihre traute Unterhaltung ja nicht stören. Aber Sie scheinen das Mädchen zu kennen?« »Na ja, zumindest sieht sie jemandem verdammt ähnlich, den wir vor, hm, ja, etwa zwei Jahren getroffen haben. Das heißt, Nicole, Signora Duval, hat Minette damals kennen gelernt. Bei mir liegt es schon ein wenig länger zurück. Rund dreißig Jahre.« Der Professor grinste breit, wusste genau, wie seine Worte wirken mussten. »Dreißig Jahre? Sie spinnen ja, Professore. Die zählt ja gerade mal die Hälfte an …« »Wenn das da tatsächlich Minette Fleury ist, täuscht das gewaltig,
Commissario. Sie wächst nicht mehr weiter und ist längst eine erwachsene Frau. Eigentlich ein bedauernswertes Wesen, das einst von einem Dämon besessen war.« »Und Sie haben sie natürlich gerettet.« »Was dagegen, Commissario?« »Selbstverständlich nicht.« Er leerte seinen Kaffee in einem Zug. »Lassen Sie mir einfach noch ein wenig Zeit, mich an diesen magischen Krimskrams zu gewöhnen, ja? Das geht nicht von heute auf morgen. Wo wohnt diese Minette Fleury?« »Keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Wahrscheinlich wandert sie ziellos in der Welt umher«, erwiderte Zamorra. »Aber das ist eine durch nichts gesicherte Behauptung meinerseits.« »Er will damit sagen, dass er mal wieder im Nebel rumredet.« Nicole knuffte ihren Chef und Lebensgefährten in die Lenden. »Auf jeden Fall handelt es sich bei dem Stock, den sie bei sich hat, um ein sehr seltsames magisches Wesen, das einen Wirt braucht …« »Den brauch ich auch manchmal.« »Nicht so einen. Ich will damit sagen, dass Langkas in Symbiose mit anderen Wesen leben müssen. Das ist ihre Natur.« »Wie auch immer. Ich lasse über Interpol und die nationalen Polizeien nachforschen, ob Minette Fleury irgendwo auffällig geworden ist. Mal sehen, was dabei rauskommt.« »Wir waren ebenfalls fleißig und haben gestern Nacht noch unsere heimische Bibliothek durchforstet«, tat Nicole kund und hob ihr TIAlpha-Handy hoch. »Darauf führen wir alles mit uns, was digitalisiert ist. Und das ist zwischenzeitlich schon eine ganze Menge. Aber richtig weiter geholfen hat uns erst unser Butler William. Er hat eine Abhandlung über das Vampirwesen in Venedig gefunden. Laut diesem Buch wurden die venezianischen Sippen viele Jahrhunderte von einem Langzahn namens Annibale Tizian geführt. Und nun schauen Sie sich das mal an, Commissario. Das ist die Zeichnung dieses Vampirs aus dem Buch.« Sie hielt ihm das Handy hin. »Das gibt's doch nicht! Das ist doch der Kerl, den wir in der Zeitschau gesehen haben!« »Eben! Wir sind fleißig dabei, Puzzleteile zu sammeln. Aber irgendwie ergeben sie noch kein richtiges Bild. Mit Minette, falls sie es
tatsächlich ist, wird das Ganze nun noch geheimnisvoller. Es sei denn …« »Es sei denn, was?« »Ersparen Sie mir die Details. Ein magischer Gegenstand … oder ein Wesen namens Langka, das wie dieser angebliche Spazierstock aussieht, hat Minette missbraucht, um sich in ihr zu reinigen. Das bedeutet, dass das Langka seinen dunklen Teil abgestoßen hat. Das wäre ungefähr so, wie wenn Sie alle Ihren bösen Seiten sammeln und aus sich rauswerfen würden, Commissario.« »Konjunktiv ist richtig.« Er grinste. »Ich hab so was nämlich nicht. Ich bin durch und durch ein herzensguter Mensch.« »Wer wollte daran zweifeln. Als vor zwei Jahren dieses Dunkle des Langkas aus Minette ausgefahren ist, hat es ihre Gestalt angenommen und ist geflüchtet. Es existiert also sozusagen noch eine böse Minette. Möglicherweise ist also ihr dunkles, skrupelloses Ich am Werk und nicht sie selbst. Aber gut, hier kommen wir im Moment nicht weiter. Konnten Sie einen Termin mit Signora di Leo für uns organisieren, Commissario?« »In der Tat.« Cattani sah zufrieden aus. »Wir können sie besuchen, wann immer wir wollen. Sie wird noch eine Weile in der Klinik sein. Die Ärzte sagen aber, wir sollen nicht allzu viel von ihr erwarten.« Sie fuhren mit dem Boot nach Cannareggio. Antonio Monteverdi hatte seine Privatklinik in einem der schönen alten Adelspaläste eingerichtet. Der Psychiatrieprofessor, ein Männchen mit Spitzbart und goldener Brille, empfing sie höchstpersönlich und geleitete sie in eines der Zimmer im zweiten Stock. Raffaela di Leo trug die Spuren ihres Lebens als tiefe Falten und dunkle Augenringe im Gesicht. Sie saß, mit einem Trainingsanzug bekleidet, in einem Sessel und starrte den Ankömmlingen schläfrig entgegen. »Signora di Leo, Ihre Gäste sind da.« Professor Monteverdi lächelte sie an. »Sie wollen ein wenig mit Ihnen plaudern.« »Plaudern, ja.« Sie sprach leise und etwas schleppend, da sie starke Medikamente bekam. »Ich plaudere gerne.« Sie seufzte plötzlich selig-entrückt. Der Commissario bat Monteverdi, sie alleine zu lassen. Sichtlich
widerwillig ging der Psychiater aus dem Raum – aber immerhin tat er es. Nicole nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben die Kranke. »Hallo Signora di Leo«, sagte sie leise, berührte sie kurz am Arm und lächelte sie freundlich an. Sie nannte ihren Namen. »Wir würden uns gerne mit Ihnen über die Feuerrose auf Torcello unterhalten. Und das Mädchen, das Sie gesehen haben.« Raffaelas Gesicht verzerrte sich. »Das Kind, nein, ist böse«, keuchte sie und drehte den Kopf hin und her, während ihre Augen irrlichterten. »Böse, böse, il diavolo …« »Der Teufel?«, fragte Nicole schnell. »Sie ist der Teufel?« »Ja, der Teufel, Teufel …« Zamorra griff zu einem Trick. Er sprang vor die Kranke hin und hielt ihr die Hand hin. »Guten Tag«, sagte er. Raffaela di Leo verstummte und starrte ihn an. »Guten Tag«, wiederholte der Professor. »Na kommen Sie, schlagen Sie ein.« Als sie ihm daraufhin zögerlich die Hand entgegen streckte, nahm er sie nicht, sondern ballte kurz davor seine eigene zur Faust. Mit dieser unverhofften Abweichung von einem eingeübten, zehntausend Mal praktizierten Ablauf kam Raffaelas Gehirn nicht klar. Deswegen fragte ihr Verstand im Unterbewusstsein nach, ob dort irgendwelche Lösungen verankert waren, mit der sie die ungewöhnliche Situation meistern konnte. Ein Zugang zu ihrem Unterbewusstsein entstand und den nutzte Zamorra, sprach es nun direkt an. »Beruhigen Sie sich, Raffaela. Wir sind Ihre Freunde«, sagte er mit ruhiger, fast monotoner Stimme. »Wir beschützen Sie. Das Mädchen, der Teufel, kann Ihnen nichts tun. Entspannen Sie. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.« Raffaela di Leo seufzte und sackte ein wenig zusammen. »Ich habe keine Angst mehr«, erwiderte sie. »Eine sogenannte Blitzinduktion«, flüsterte Nicole dem Commissario zu. »Er hat sie hypnotisiert. Es war ein Versuch, denn das funktioniert nicht bei allen Menschen. Sie scheint aber darauf anzusprechen. Ich gehe rasch mal für kleine Mädchen. Sollte ich etwas verpassen, seien Sie so gut und berichten es mir.« Sie lächelte, stand
auf und verschwand aus dem Zimmer. Sie fragte sich beim Pflegepersonal zur Toilette durch. Als sie sich in dem engen Vorraum die Hände wusch, ging die Tür auf. Die Französin schaute in den Spiegel. Tatsächlich schwang die Tür nach innen. An den Geräuschen hörte sie, dass jemand eintrat. Aber sie sah niemanden! Die Dämonenjägerin fuhr blitzschnell herum. Ein über zwei Meter großer Mann stand vor ihr. Weiß wie eine gekalkte Wand, rötliche Augen, schwarze Kleider und Umhang. Ein höhnisches Grinsen überzog sein gut aussehendes Gesicht. »Tizian«, fauchte Nicole, die den Vampirfürsten aufgrund der Zeichnung sofort wieder erkannte. »Jetzt ist heller Tag, du kannst gar nicht hier s…« Ihr mörderisches Gegenüber zeigte sich nur für einen kurzen Moment verunsichert. Seine Faust sauste heran. Nicole konnte ihr wegen der Enge nicht ausweichen. Krachend wie ein Dampfhammer landete sie an ihrem Kinn. Die Französin verdrehte die Augen und sank zusammen. Tizian fing die Bewusstlose blitzschnell auf. Mit nach unten baumelndem Kopf und hängenden Armen lag sie auf den seinen. Er fauchte erschrocken, als sich plötzlich die Perücke mit den langen schwarzen modisch gestylten Haaren löste, die sie an diesem Tag trug, und zu Boden fiel. Halblanges kastanienbraunes Haar kam zum Vorschein. Ein gemeines Grinsen legte sich auf das Gesicht des Blutsaugers. »Du bist schön, Nicole Duval«, flüsterte er. »Noch viel attraktiver, als Aurora es war. Du wirst ihren Platz an meiner Seite einnehmen, dich will ich haben als meine Königin der Nacht und sonst niemand anderen. Minette wird es sicher verstehen.« Er schaute sich zuerst verstohlen um, als ob er etwas Verbotenes täte. Dann beugte er sich mit entblößten Zähnen über den wunderbaren weißen Hals. Die bläulich leuchtende Schlagader, die im Takt des Herzens schlug und den herrlichen Lebenssaft transportierte, machte ihn fast wahnsinnig vor Verlangen. Tizian zögerte nicht mehr länger und biss zu. Nicole seufzte, als sich die Bluthauer in ihren Hals bohrten …
»Erzählen Sie mir, was das Mädchen mit dem Stock getan hat, Raffaela«, fuhr Zamorra unterdessen fort. »Es kann Ihnen nichts tun, wir beschützen Sie und lassen Sie nicht allein.« »Das Kind hatte keinen Stock! Sie ist immer wieder gekommen und hat meine Rose angestarrt. Aber sie hat kein Recht dazu. Es ist meine Rose. Meine Schwester. Das versteinerte Herz der Rosenzauberin.« Zamorra und Cattani schauten gleichzeitig alarmiert. Die Schlüsselwörter, auf die sie beide reagierten, hießen versteinert und Rose. »Wer ist diese Zauberin?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. »Wissen Sie, wie sie heißt?« »Fosca.« »Gut. Und was tut sie?« »Sie leidet. Sie leidet so schrecklich, dass ihr Herz zu Stein gerinnt. Sie selbst versteinert. Der Mann, er hat sie verlassen. Ich sehe sie sterben. Sie stirbt so grausam. Ich leide mit ihr. Ich bin ihr so nah. Sie ist meine Schwester …« Der Parapsychologe besaß latente telepathische Fähigkeiten. Nur unter besonders günstigen Umständen schaffte er es, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen. Diese waren in diesen Augenblicken gegeben, denn Raffaelas Geist war so weit geöffnet, wie sich ihm selten ein Bewusstsein präsentierte. Und unglaublich aufgewühlt. Zamorra berührte ihre Gedankenwelt. Und drang in sie ein. Bilder aus ferner Vergangenheit überfluteten ihn. Klare, intensive Bilder. Aber sie waren nicht geordnet, gingen kreuz und quer durcheinander, überlagerten sich, ergaben keinen Sinn. So verfiel er auf die Idee, das Amulett zwischenzuschalten, um ihm die Eindrücke zu ordnen. Es funktionierte tatsächlich. Unglaubliche Szenen öffneten sich vor ihm …
Zwischenspiel: Raffaelas Visionen Fosca stand auf dem Balkon des Palastes, sog die frische, salzhaltige Luft ein, die vom nahen Meer herüber wehte, und blickte sinnend über das morgendliche Sabratha hinweg. Die Sklaven und Arbeiter hatten schon wieder begonnen, das römische Amphitheater mit Marmor zu verkleiden. Auch sonst herrschte in den Straßen der tripolitanischen Hafenstadt bereits reger Betrieb. Händler bauten ihre Stände auf und feilschten mit den Einkäuferinnen, eine Dromedarkarawane, voll beladen mit Handelswaren, zog gerade aus Richtung Leptis Magna in die Stadt. Ihre Ausrufer versuchten, zwei schreiende Esel zu übertönen, aber das war fast nicht möglich. Fosca sah von Ochsen gezogene Gitterwagen weit hinter den Dromedaren. In jedem trottete ein Löwe oder Panther. Die große, hagere Frau mit dem dunklen Teint der Berber und der schwarzen, bis zur Hüfte reichenden Lockenpracht lächelte vor sich hin. Das alles klang so vertraut und weckte ein wohliges Gefühl in ihr. War es ein Zeichen, dass sie sich in der riesigen römischen Stadt mit ihren fast 20.000 Einwohnern doch langsam heimisch fühlte? Seit fünf Jahresumläufen wohnte Fosca nun bereits hier. Das Licht der Welt hatte sie als garamantische Prinzessin in der einstmals legendären Wüstenstadt Garama erblickt, deren Größe und Schönheit aber schon vor fast dreihundert Jahren von den Römern zerstört worden waren. Seitdem lebten die stolzen Garamanten in Frieden mit den Besatzern, aber es war ein wackliger Frieden, der immer wieder durch gegenseitige Heiraten, die oft mit Zwang einhergingen, gefestigt werden musste. Prokonsul Lucius Minor trat auf den Balkon. Fosca drehte sich um, lehnte sich an das Geländer und lächelte ihren Ehemann an. Obwohl sie mit dem römischen Statthalter Sabrathas gegen ihren Willen und rein aus politischem Kalkül verheiratet worden war, konnte sie in der Zwischenzeit gut und angenehm mit ihm ihre Tage teilen. Und das nicht nur, weil Lucius sie mehr liebte als sein Leben,
wie er ihr immer wieder versicherte und das auch mit zahlreichen kleinen Aufmerksamkeiten und dadurch, dass er so manches Mal auf ihren Rat hörte, bewies. Er war auch geistreich und witzig. Und wesentlich menschlicher als viele andere römische Prokonsuln, die ihre Provinzen oft mit eiserner Hand und unnötiger Brutalität regierten. Dazu kam, dass Lucius Minor mit 28 Jahren noch ein junger Mann war, nur vier Sonnenumläufe älter als sie selbst, und unverschämt gut aussah. In seinem glatt rasierten, markanten Gesicht blitzten wasserblaue Augen, die hellblonden Haare waren so gelockt wie ihre. Allerdings trug er sie militärisch kurz. Sein Körper, schlank und muskelbepackt, konnte sie nur als den eines Gottes bezeichnen. Er hatte ihr schon sehr viel Lust bereitet, auch deshalb, weil Lucius vollkommen auf die Liebesdienste von Sklavinnen verzichtete und sich nur für sie bereithielt. »Guten Morgen, mein Herz«, sagte Lucius, der bereits die Uniform der römischen Legionen mitsamt dem Gladius, dem Kurzschwert, trug, und umarmte sie. »Hast du gut geschlafen?« Fosca, selbst eine sehr schöne Frau und momentan in eine lange weiße Tunika gekleidet, küsste ihn. Anfänglich war ihr diese Form des Intimitätenaustausches ziemlich seltsam erschienen, aber jetzt hatte sie Gefallen daran gefunden. »Ja, mein Liebster. Ich habe gut geruht. Allerdings bin ich bereits erwacht, bevor noch die ersten Sonnenstrahlen meine Nase gekitzelt haben.« Lucius atmete schwer und schob sie ein wenig weg, so dass er ihr in die Augen sehen konnte. »Du bist nicht fröhlich, mein Herz. Etwas bedrückt dich. Leugne es nicht, ich sehe es genau.« Fosca nickte. »Ja, du hast Recht.« Er sah sie forschend an. »Es ist meine Mutter, nicht?« »Ihr Zustand hat sich heute Nacht wieder verschlimmert. Ich war bei ihr, nachdem ich aufgestanden bin. Ich habe ihr etwas gegeben, damit sie die Schmerzen besser aushält. Sie schläft jetzt. Aber es will mir einfach nicht gelingen, sie zu heilen. Die Krankheit ist zu mächtig. Die magische Kraft der Rosen, die durch mich wirken kann, schafft es nicht, sie zu besiegen.« Lucius schaute nachdenklich über das Mittelmeer hinweg, auf dem die Segel dreier Schiffe sichtbar waren. »Sie wird also sterben?«
»Ich fürchte, ja.« »Es macht mich traurig, aber wir müssen einsehen, dass wir – dass du – es nicht ändern kannst. Unser aller Leben liegt in den Händen der Götter.« In dieser Beziehung gab sich Lucius härter, als er war. Denn er liebte seine Mutter und fürchtete ihren Tod. Hätte er ein zuverlässiges Mittel gewusst, ihren Tod zu verhindern, er hätte sicher all seine Reichtümer investiert, um daran zu gelangen. Er verabschiedete sich, denn er wollte höchstpersönlich die Löwen und Panther in Augenschein nehmen, die als Nachschub für den Circus gedacht waren. »Wenn die Tiere brauchbar sind, werden wir sie gleich heute Abend auf diese verfluchten Christen hetzen, die meine Männer vor drei Tagen gefangen haben.« Fosca fand es grausam, dass unschuldige Menschen nur deswegen hingerichtet wurden, weil sie einen anderen, zudem noch friedlichen Gott namens Christus verehrten. Aber sie schwieg, denn in dieser Beziehung ließ Lucius nicht mit sich reden. Er hasste das Geschmeiß, das sich nicht in die römische Ordnung fügen wollte, Inzest und Ritualmorde beging und sich auch nicht davor scheute, rohes, noch blutendes Fleisch zu fressen, wie er zu sagen pflegte. Lucius ging und auch Fosca machte sich auf den Weg. Zuerst besuchte sie ihre Schwiegermutter Flavia, die wieder erwacht war und ihr matt zulächelte. »Dein Öl hat zumindest so weit geholfen, dass ich noch immer keine Schmerzen verspüre«, sagte Flavia. Sie schaute Fosca hohlwangig und aus rot unterlaufenen Augen an. »Ich danke dir.« Ihre Schwiegertochter lächelte sie tapfer an, obwohl ihr nach weinen zumute war. Ihr Verhältnis zu Flavia war ebenso gut wie das zu Lucius. Von Anfang an hatte die Römerin sie ohne Vorbehalte als neues Familienmitglied akzeptiert. »Darf ich kurz sehen?« Flavia nickte und Fosca schob ihre Schlaftunika vorsichtig hoch über den Bauch. Dann fuhr sie mit den Fingern langsam über das kinderkopfgroße Geschwür, das aus der linken Seite des Unterleibs ragte. »Ich werde sterben«, murmelte Flavia. »Nein, sag nichts, Tochter, ich fühle es genau. Die Götter rufen bereits nach mir. Nun weine doch nicht. Diesen Weg müssen wir alle gehen.«
»Aber du doch noch nicht«, flüsterte Fosca und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Du bist noch zu jung, um schon wegzugehen, Mutter.« »Ja, aber was soll ich machen? Wenn sogar die Magie deiner Rosenöle versagt, werde ich das Unvermeidliche wohl akzeptieren müssen.« Schweren Herzens verließ sie die Patientin. Flavia hatte wohl Recht. Wenn selbst Gas Macht ihr nicht mehr helfen konnte, war ihr Weg auf dieser Erde wohl zu Ende. Fosca war eine magische Tochter der garamantischen Rosengöttin Ga, von der allerdings sogar die meisten Angehörigen ihres Volkes heutzutage nichts mehr wussten. Ga war für sie im Dunkel der Zeiten verschwunden, lange noch, bevor die Römer gekommen waren. Doch Foscas Familie hielt die Verbundenheit mit Ga so lebendig wie eh und je, was kein Wunder war. Denn all die Frauen ihrer Familie gingen seit vielen Jahrtausenden direkt aus Ga hervor, auch wenn sie auf menschliche Art und Weise gezeugt und geboren wurden. So konnten sie Gas wunderbare Magie nutzen, um Kranke zu heilen und Bedürftigen zu helfen, denn die Mutter aller Rosen war eine gute Göttin. Und sie, ihre Töchter, hatten gute Botschafterinnen Gas zu sein. Fosca ging mit zwei Sklavinnen auf den Markt und besorgte sich Rosenblätter in großer Anzahl, denn solche hatten frisch ankommende Karawanen immer dabei. Aus diesen wertvollen Blättern würde sie wieder in verschiedenen Mixturen heilende Rosenöle herstellen und sie durch ihren Geist mit der Magie Gas versehen. Aber das war nicht eilig. Noch besaß sie genügend Vorräte. Sie nahm einige Fläschchen an sich, sattelte ihr Pferd, füllte zwei Satteltaschen mit Obst, Fleisch und Brot und ritt hinaus in die Wüste. Schon bald erreichte sie einen unzugänglichen Höhenzug mit engen, steilen Schluchten, die die Berge labyrinthartig durchzogen. Fosca kannte den Weg genau, sie war ihn bereits viele Male geritten. Hätte Lucius das gewusst, er würde es ihr sicher auf der Stelle verbieten. Aber er wusste es nicht und so sollte es auch bleiben. Die junge Garamantin, die wie alle ihres Volkes eine hervorragende Reiterin war, erreichte einen engen Talkessel. In den steilen Fels-
wänden gab es zahlreiche Höhlen. In diesen hausten die Ärmsten der Armen. Fosca sah einige von ihnen im Freien sitzen und trieb ihr Pferd an. Es schnaubte und tänzelte nervös, als sie sich den Menschen näherten. Ein schrecklicher Fäulnisgeruch hing über dem ganzen Talkessel. Fosca hatte ihren Kopf in ein weißes Tuch gehüllt, das nur die Augen freiließ. Es half gegen die Sonne, vertrieb aber nicht diesen bestialischen Gestank, auch wenn sie das Tuch nun unwillkürlich fest an Nase und Mund drückte. Die Leprakranken erhoben sich mühsam, als sie sie sahen. Das Lächeln in manchen Gesichtern konnte Fosca nicht mehr erkennen, weil ganze Stücke herausgefault waren. Sie erwiderte den Gruß verkrüppelter Hände, an denen es oft keinen Finger mehr gab, und sie weinte heimlich, als sie die kleine Fera hilflos sitzen sah, denn nun fehlte ihr der komplette linke Unterschenkel. Die Wunde unterhalb des Knies war lediglich mit einem schmutzigen Lappen bedeckt. Fosca sprang ab und ließ ihr Pferd laufen. Es würde sich nicht weit entfernen und auf Zuruf wieder da sein. Dann ging sie zu den Kranken, untersuchte den einen oder anderen kurz und redete ein paar Worte mit ihnen. Valeria trat aus einer Höhle. Fosca kannte die grobschlächtige Frau mit dem breiten Lächeln bereits. Sie stammte aus Sabatha und hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Leprakranken zu helfen, so gut es ging; hin und wieder arbeitete sie dafür bis zur Erschöpfung. Eine lose Freundschaft verband sie mit ihr. Die Frauen begrüßten sich herzlich. »Ich danke dir, dass du gekommen bist«, sagte Valeria. »Wir haben auf dich und deine Rosenöle gewartet. Den Tod können sie zwar nicht verhindern, aber ihn erträglicher machen und in vielen Fällen sogar hinauszögern.« Fosca nickte. »Und das ist doch schon eine ganze Menge. Leider kann ich nur Krankheiten, die nicht so schwer sind, mit meiner Rosenmagie vollständig heilen. Lepra jedoch …« Sie seufzte. »Bislang bin ich daran gescheitert.« Die Garamantin kümmerte sich bis zum Abend um die Kranken, teilte Essen aus und rieb sie mit Rosenöl ein. Vor allem aber sprach sie mit ihnen und erntete dankbare Blicke.
»Du bist eine wunderbare Frau«, sagte Valeria, als die Sonne langsam hinter die Berge zu sinken begann. »Ich werde dich in mein Gebet an Jesus Christus mit einschließen.« Fosca erstarrte. Sie drehte sich um und starrte ihr Gegenüber an. »Du … du bist Christin?« Valeria lächelte und nickte langsam. Und Fosca lächelte zurück. »Ich bin bisher noch niemandem begegnet, der deinen Glauben teilt. Aber ich habe bereits die fürchterlichsten Sachen über euch gehört.« »So, was denn?« »Ihr sollt mit euren Vätern, Müttern und Geschwistern schlafen. Und blutiges Fleisch fressen. Ganz abscheuliche Bestien seid ihr, nach allem, was man sich erzählt.« »Und? Bin ich das deiner Meinung nach?« »Nein, natürlich nicht. Obwohl, was weiß ich wirklich von dir?« Fosca zögerte und ließ sich erstmal auf einem Stein im Schatten nieder. »Komm, setz dich zu mir, wenn du willst. Darf ich dich etwas fragen?« »Nur zu.« »Warum haben die Römer eine solche Angst vor euch Christen? Weshalb machen sie euch so schlecht? Wieso verfolgen sie euch und werfen euch den Löwen und Panthern im Circus zum Fraß vor?« Valeria nickte nachdenklich. »Ja, warum? Unser Bischof Diokletian sagt …« Fosca schaute sie entsetzt an. »Du kennst Diokletian? Den größten Feind Roms in diesem Landstrich und meistgesuchten Mann?« »Er ist ein sehr weiser und gütiger Mensch.« »Warum hasst Rom ihn so?« »Weil er einer der ihren ist. Ein ehemaliger Senator, der Christ geworden ist. Etwas Schlimmeres kann den Römern gar nicht passieren. Und das bringt mich wieder zu deiner vorigen Frage, die ich noch nicht beantwortet habe, weil du anscheinend alles über unseren Glauben wissen willst, Fosca.« Valeria lächelte. Sie wand sich unbehaglich, konnte es aber nicht leugnen. »Ich bin neugierig, mehr nicht«, sagte sie ausweichend. »Natürlich. Du fragtest, warum Rom uns so sehr hasst und fürch-
tet. Nun, es ist so, dass wir Christen nur einen Gott kennen, zu dem wir beten, Jesus Christus nämlich. Deswegen lehnen wir den Kaiserkult, den Rom von allen seinen Untertanen verlangt, strikt ab. Wer Jesus Christus anbetet, kann niemandem sonst huldigen. Wir nehmen auch nicht an öffentlichen Veranstaltungen wie dem Schauspiel, den Aufzügen oder den Opfermahlzeiten teil, denn wir pflegen unsere eigenen Riten, die allein Jesus Christus, dem Erlöser, dienen. Der Kaiserkult und die anderen Traditionen aber sind lebenswichtig für Rom. Denn nur wenn alle Völker und Gruppierungen in den Grenzen des Imperium Romanum dies annehmen, ist es überhaupt möglich, ein solch riesiges Reich zu regieren. Dies sind die Klammern, die Rom zusammenhalten.« Fosca schluckte schwer. »Ich verstehe«, flüsterte sie. »Mit Lucius konnte ich darüber nicht reden, er ist jedes Mal gleich außer sich, wenn er das Wort Christ nur hört. Und er setzt alles daran, Diokletian zu finden und in den Circus zu bringen. Das heißt also, dass die Römer gar nichts gegen Jesus Christus an sich haben, sondern es geht nur um die Art und Weise, wie ihr ihn anbetet.« Valeria nickte und warf einige Steinchen auf eine freie Fläche. »Du hast es verstanden. Die Römer haben fremde Götter immer akzeptiert und sie in ihr Pantheon mit aufgenommen. Das ist ja bei euch Garamanten auch so. Du darfst unbehelligt zu deiner Göttin Ga beten, sogar im Hause des Prokonsuls. Aber Jesus Christus unterscheidet sich. Er ist keiner unter zahlreichen anderen Göttern, er ist der Sohn des einzigen und wahren Gottes, damit ein Teil von Gott selbst und höher als der römische Cäsar.« Ihre Augen leuchteten plötzlich. Fosca warf nun ebenfalls Steinchen und versuchte die von Valeria zu treffen. »Ich höre, dass es immer mehr Christen geben soll, dass die Menschen in Scharen diesem Jesus nachlaufen. Was macht das Christentum so attraktiv? Was lehrt euch dieser Gottessohn?« Valeria sprach von der Auferstehung Christi, von der Liebe zu Gott und zu anderen Menschen. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das verlangt Jesus Christus von uns, seinen Jüngern. Und deswegen bin ich hier und helfe diesen Bedauernswerten, denn auch sie sind seine Kinder und wert, dass man ihnen hilft. Gerade den Kranken soll man beistehen, lehrt uns der Herr. Ich tue es hier,
so wie es meine Brüder und Schwestern in Christus anderswo tun und ich führe diese armen Menschen gleichzeitig zum einzigen und wahren Glauben, so dass sie in tiefer Ruhe und Frieden zu ihrem Schöpfer heimgehen können.« Fosca war tief beeindruckt. Vor allem die Lehre von der Nächstenliebe war genau das, was Ga auch verlangte. Es musste also eine Seelenverwandtschaft zwischen der Rosengöttin und diesem Jesus Christus geben. »Erzähle mir mehr, Valeria, bitte.« Die Christin lächelte. »Weißt du, ich bin nur eine einfache Frau aus dem Volk und weiß nicht mehr, als das, was ich dir gesagt habe. Komm doch in eine unserer Versammlungen, wenn du Lust hast. Dort wirst du noch viel mehr über Jesus Christus erfahren. Vor allem, wenn der gute Bischof Diokletian uns besucht. Du müsstest ihn predigen hören, um zu verstehen, dass alles, was über ihn behauptet wird, eine Lüge ist. Er ist wunderbar.« Fosca zögerte einen Moment, weil ihr das wie Verrat an Lucius vorkam. Dann sagte sie zu, zugleich schweren Herzens und begeistert. Zwei Tage später wurde sie von Valeria zu einer abgelegenen Höhle unweit der Aussätzigen-Schlucht geführt. Fast einhundert Christen versammelten sich dort, begrüßten sich freundlich und freuten sich über Fosca, die ihre Gemeinschaft teilen wollte. Die Garamantin war gleich beeindruckt von der gelösten, lockeren Atmosphäre; niemand störte sich daran, dass dieses Treffen unter Lebensgefahr stattfand. Nicht einer der Anwesenden schien auf den Gedanken zu kommen, dass sie eine Spionin sein könnte, obwohl sicher alle wussten, wer sie war. Der Ruf ihres Mannes eilte ihr selbstverständlich voraus. In zwei Kreisen knieten die Christen am Boden und beteten im Schein von Fackeln zu ihrem Herrn. Fosca, die im äußeren Kreis saß, spürte die tiefe spirituelle Kraft, die an diesem Ort wirksam wurde. Plötzlich betrat ein groß gewachsener, schlanker Mann mit weißem Vollbart, einem Hirtenstab und einer seltsam anmutenden hohen Mütze die Höhle. »Bischof Diokletian ist gekommen!«, flüsterte Valeria verzückt. Er erwies sich tatsächlich als ein freundlicher und charismatischer
Mann, der mitreißend und tiefsinnig predigte. Er sprach Fosca direkt an. Selbst wenn sie eine Spionin sei, mache das gar nichts, sagte er. Die Römer könnten scharenweise Christen vernichten, aber den wahren Glauben, der wie eine Wasserwelle durch die Länder rolle, nicht mehr aufhalten. Und sie alle hier seien bereit, für ihren Herrn zu sterben. Fosca weinte, als sie das hörte. Demütig kniete sie vor Diokletian und küsste das silberne geweihte Kreuz, das er ihr hinhielt. Dabei spürte sie starke Kräfte auf ihren Körper überfließen. Gleich am nächsten Morgen suchte Fosca ihre Schwiegermutter auf. Flavia ging es schlechter als jemals zuvor, sie lag im Sterben. Die Garamantin schickte alle Dienerinnen hinaus. Sogleich murmelte sie ein christliches Gebet, das sie in der letzten Nacht gelernt hatte. »Vater unser, der du bist im Himmel …« Gleichzeitig rieb sie die kranke Wölbung an Flavias Körper mit Rosenöl ein. Dieses sickerte sofort in die Haut und durchdrang die Geschwulst vollkommen – die sich augenblicklich verhärtete und schließlich vollständig versteinerte. Mit angehaltenem Atem verfolgte Fosca, was weiter geschah. Die Wölbung rutschte plötzlich hin und her, ganz als bewege sich ein Tier unter der Haut. Dann wuchs die Geschwulst um ein Drittel an, spannte die Haut bis zum äußersten – und durchdrang sie! Dem ersten Entsetzen folgte ungläubiges Staunen. Fosca sah, wie eine steinerne Rose, so groß wie ein Kinderkopf, auf den Boden fiel. Flavias Haut aber war unversehrt, die Wölbung verschwunden. Ein friedliches, entspanntes Lächeln lag auf dem Gesicht der Schlafenden. Die Rosenzauberin seufzte. Sie vermochte nun Krankheitsherde zu versteinern und aus dem Körper zu ziehen. Damit würde sie sehr viel Leid auf dieser Welt beseitigen können. Ga und Jesus Christus bildeten eine unschlagbare Kombination, deren Kräfte sie in sich zusammenführte und zum Wohl der Menschen nutzen konnte. Die garamantische Prinzessin Fosca hatte endgültig zum Christentum gefunden.
Gleich am nächsten Tag gelang es Fosca, die Lepra bei einigen ihrer aussätzigen Freunde zu stoppen. Dabei bemerkte sie, dass sie die Kräfte nicht unbegrenzt einsetzen konnte, ohne Raubbau an sich zu betreiben. Auch wenn sie es sehr bedauerte, sie vermochte fortan nur ausgesuchte Fälle zu heilen. Zuhause war Flavia wieder völlig gesund, was allen wie ein Wunder erschien. Man beäugte Fosca von einigen Seiten misstrauisch. Die Rosenzauberin besuchte die christlichen Zusammenkünfte, so oft es nur ging, bald auch an anderen Orten. In diesem Kreis fühlte sie sich wohl. Nur selten kam es zu Gesprächen mit Bischof Diokletian, doch diese gaben ihr unendlich viel. Dabei half ihr der Umstand, dass sich Lucius für die nächsten Monate in Rom aufhalten musste, wohin er von Kaiser überraschend beordert worden war. Bald schon genoss sie in den Kreisen der Christen bis hinauf nach Carthago, wo die größte christliche Gemeinde Nordafrikas lebte, einen legendären Ruf. Zum Verhängnis wurde Fosca aber eine Lappalie. Sie erwischte eine der Dienerinnen Flavias beim Stehlen und ließ ihr zur Strafe fünf Peitschenhiebe verpassen. Aus Rache schwärzte die Dienerin sie beim Magistrat als Christin an. Denn ausgerechnet sie war es gewesen, die bei Flavias Heilung gelauscht und Fosca das Vaterunser hatte beten hören. Als Fosca zur nächsten Christenversammlung reiste, wandelte bereits das Verderben auf ihren Spuren. Zuerst trat es nur in Gestalt eines Spions auf. Nach zwei weiteren Versammlungen nahm es die Gestalt einer Kohorte schwer bewaffneter Legionäre an. 360 Soldaten drangen in die Höhle ein und sprengten den Versammlungsort. Fast die Hälfte der Anwesenden wurde an Ort und Stelle niedergemetzelt, auch Kinder. Fosca und die anderen gingen in die Gefangenschaft. Sie alle fanden sich in den finsteren muffigen Kerkern unter dem Circus wieder, umgeben von Kettenklirren, dumpfen Todesschreien und dem Gebrüll der Raubtiere. Nur Fosca erhielt ein besseres Los. Sie wurde in ihr Haus verfrachtet, das sie nicht mehr verlassen durfte. Schwer bewaffnete Wachen patrouil-
lierten Tag und Nacht. Die Garamanterin verfiel in tiefe Depressionen ob des Gemetzels und wegen des Augenblicks, an dem sie Lucius würde gegenübertreten müssen. Man hatte ihr gesagt, dass Boten in einer Galeere nach Rom reisten, um ihn zu informieren. Ihr war klar, dass der Statthalter in Eilmärschen nach Sabratha zurückkehren würde. Die nächsten Tage verbrachte sie wie in Trance. Flavia wollte sie besuchen, wie sie aus dem Fenster sehen konnte, doch man wies sie ab. Zehn Tage später stürzte Lucius ins Haus. Er sah wie eine wilde Bestie aus. »Sag, dass das nicht wahr ist! Sag, dass du keine Christin bist und ich lasse dem befehlshabenden Centurio umgehend die Haut in Streifen vom Leib schneiden! Nur ein Wort von dir, Fosca! Nur ein Wort und ich schenke dir mein Vertrauen.« Sie senkte den Kopf. »Es tut mir leid, mein Geliebter. Aber es stimmt. Ich bin Christin geworden. Es ist ein wunderbarer Glaube, von dem ich …« »Schweig!« Er trat vor sie hin und schlug ihr wuchtig den Handrücken ins Gesicht. Sie taumelte und fiel zu Boden. Blut lief aus ihrer Nase. »Wachen!«, brüllte Lucius außer sich vor Zorn. »Sofort die Wachen zu mir!« Das Klirren von Rüstungsteilen wurde laut. Zwei Legionäre erschienen. »Bringt sie in den Circus. Umgehend. Werft sie in die schlimmste Zelle, die ihr finden könnt. Weder Gnade noch Rücksichtnahme.« Mit hassverzerrtem Gesicht wandte er sich an seine Frau. »Und du, du elende Verräterin, siehst nun, wie ich mit den verfluchten Christenhunden umzugehen pflege. Du wirst dir noch wünschen, niemals geboren worden zu sein.« Zwei Tage musste Fosca ohne Wasser und Nahrung in der finsteren gemauerten Zelle verbringen, in der nur wenig Stroh auf dem Boden lag und Ratten sie immer wieder berührten. Die Garamantin betete fast ununterbrochen zu Jesus Christus oder hielt Zwiesprache mit Ga. Dabei merkte sie, dass ihr das ungeheure Kraft verlieh und ihr diese spirituelle Verbindung mehr bedeutete als alles andere auf der Welt.
Fast heiter blickte sie den schmutzigen Gefängniswärtern entgegen, als diese die Verliestür wieder öffneten. Die Wärter aber prallten zurück und riefen voller Entsetzen Minerva und ihre übrigen Götter an. Überall in der Zelle wuchsen Rosenranken aus den Wänden, aus der Decke und aus dem Boden. Manche blühten noch in sattem Rot, andere waren bereits versteinert. Sie weigerten sich, Fosca zu berühren. So musste sie von Legionären aus ihrem Gefängnis geführt werden. Fosca wurde vor Lucius geschleppt. Er wollte von ihr wissen, wo er Diokletian finden konnte. Sie schwieg, selbst als die ersten Peitschenhiebe auf ihren Körper niederprasselten und sie sich winden ließen wie eine Schlange. Plötzlich brüllte ihr Peiniger auf. Die mit feinen Widerhaken besetzte Peitschenschnur hatte sich in eine Rosenranke verwandelt! Lucius überstellte Fosca der Folter. Die nächsten Tage wurde ihr Körper systematisch zerstört. Schmerzen, die sie sich niemals hätte vorstellen können, ließen sie wimmern und unkontrolliert zucken. Da sie sich kaum noch auf ihre Gebete konzentrieren konnte, nahm sie die Pein nun immer stärker wahr. Aber sie hielt stand. Weder verriet sie Bischof Diokletian, noch schwor sie ihrem Glauben ab. In einem schmutzigen Hinterhof des Circus' wurde die nackte Fosca mit seltsam verrenkten Gliedern und einer abgeschnittenen Brust an ein X-förmiges Kreuz gehängt. Lucius, in prächtig schimmerndem goldenem Muskelpanzer, erschien persönlich. In seinem Gesicht zuckte es, als er die Liebe seines Lebens so hängen sah, kein Mensch mehr, sondern nur noch ein Stück zuckendes Fleisch. Dennoch blieb sein Blick hart. »Noch einmal frage ich dich, Fosca. Schwörst du dem Christentum ab? Sag ja, dann kann ich dich mit einem Stich töten und deinem Leiden ein Ende machen.« »N-nein, Geliebter. Ich bin Christin …« Ihr verbliebenes linkes Auge starrte entrückt zum Himmel. »Wo finde ich Diokletian?« »Weiß nicht …« Er schluckte schwer. »Also gut. Legionäre, schneidet ihr die verbliebene Haut in Streifen vom Körper. Lasst sie verbluten. Und da-
nach werft ihr die Verräterin den Löwen zum Fraß vor.« Ein letzter Schrei brachte Fosca noch einmal einen lichten Moment. Alles tat so weh. So fürchterlich weh. Sie konzentrierte ihre Rosenmagie zum ersten Mal auf sich selbst. Auf all die Wunden in ihrem Körper. Es mussten Hunderte sein. Doch Fosca plante nicht, sich zu heilen. Was für einen Zweck hätte es auch gehabt? Sie wollte nur schnell sterben, endlich vor Jesus' und Gas Thron treten, um ewig im Licht der beiden Gotteskinder leben zu könne, heiter und ohne Schmerzen. In den Wunden entstanden Rosenstöcke und wucherten blitzschnell durch ihren Körper. Überall traten Blüten, Dornen und Zweige aus der Haut und ließen die Legionäre entsetzt fliehen. Selbst Prokonsul Lucius Monor wich, vom Grauen gepackt, rasch zurück und rannte davon. Als schließlich zwei Centurionen mit totenbleichen Gesichtern und Hexenabwehrzeichen zurückkamen, weil der Prokonsul sie gezwungen hatte, fanden sie Fosca tot vor. Ihr gesamter Körper mitsamt den Rosen war versteinert. Lucius verpflichtete alle Beteiligten zu strengstem Stillschweigen. Die wundergläubigen Christen durften niemals erfahren, was sich abgespielt hatte; sonst wäre Fosca sofort zur Märtyrerin erhoben worden. Weil er nicht wusste, ob er die versteinerte Hexe, mit der er einmal Tisch und Bett geteilt hatte, nach Rom transportieren sollte, um sie dem Cäsar zu zeigen, ließ er sie über Nacht hängen und bewachen. Am nächsten Tag fehlten Kreuz und Körper, und auch die Wachen waren verschwunden …
6 – Das Rätsel der Rose Die Bilder erloschen, nachdem Merlins Stern alle Eindrücke in der richtigen Reihenfolge präsentiert hatte. Zamorra fand nur schwer wieder in die Wirklichkeit zurück. Von Commissario Cattani erfuhr er, dass er ungefähr fünf Minuten in Trance verbracht hatte. »Unglaublich.« Der Meister des Übersinnlichen schüttelte den Kopf. »Soll ich Ihnen mal was sagen, Commissario?« »Wenn Sie's nicht lassen können.« »Hm. Wo ist eigentlich Nicole abgeblieben?« »Immer noch für Königstiger.« »Gut. Was wollte ich sagen? Ach ja. Signora di Leo ist im höchsten Grad sensitiv veranlagt. Sie kann die Bilder empfangen, die in der steinernen Rose von Santa Fosca gespeichert sind.« »Sie kann … was bitte?« »Genau das. Diese Rose steht in irgendeiner Verbindung zu der Märtyrerin Fosca, deren Gebeine an diesem Ort begraben sind. Hm, oder etwas völlig anderes als ihre Gebeine. Ich erzähl's Ihnen, wenn Nicole wieder zurück ist, dann muss ich nicht zweimal loslegen. Auf jeden Fall habe ich gerade die ganze Geschichte Foscas gesehen. Kino de luxe. Besser als alle 3-D-Streifen zusammengenommen.« »Sie wollen mich wohl verarschen, Professore.« Cattani seufzte. »Nein, wollen Sie nicht, klar. Die Visionen, die die Signora hier hat, sind also echt. Kein Fall für den Psychiater.« »Doch, schon. Sie scheint an Foscas Schicksal zu verzweifeln, das sie immer und immer wieder miterleben muss. Zumal sie sie als Schwester ansieht und sich selbst nicht davon abzutrennen vermag.« Der Meister des Übersinnlichen holte Raffaela di Leo aus der Trance zurück und übergab sie den Pflegern zu treuen Händen. Danach verließen die Männer das Zimmer. Der Professor sah auf die Uhr. »Seltsam. Wo Nicole nur so lange bleibt?«
Gleich darauf standen sie vor der Toilette. »Hallo, Nici!«, rief Zamorra. »Hast du vielleicht was Falsches gegessen? Bist du noch da drin?« Niemand antwortete. Der Parapsychologe ging hinein. »Ach du …«, sagte er, als er Nicoles Perücke auf dem Boden liegen sah. Mehr jedoch war von ihr nicht mehr zu finden.
Kurz zuvor Annibale Tizian trat mit der gebissenen Nicole auf den Armen aus der Toilette. Blut tropfte aus den beiden Halswunden der Frau auf den Boden. Nur mühsam beherrschte er sich. Am liebsten hätte er die Dämonenjägerin, die nie wieder einen Schwarzblütigen jagen und töten würde, gleich auf der Stelle ausgesoffen. Ihr Blut mundete ungleich köstlicher als das aller Menschen, aus denen er bislang getrunken hatte. Süßer. Intensiver. Kraftvoller. Aber er musste aufpassen. Professor Zamorra befand sich ganz in der Nähe. Wenn er, Annibale, jetzt leichtsinnig war, konnte das bitterböse, ziemlich endgültige Folgen für ihn nach sich ziehen. »Renfield!«, rief Tizian, denn er liebte die Dracula-Filme, egal in welcher Version, über alles. Professor Monteverdi kam um die Ecke. Hündisch ergeben blickte er den Vampir an. »Renfield«, wiederholte der Vampirfürst, »nimm die Frau und bring sie zu Maurizio Piasenti. Ihr wisst jetzt, wo er haust. Er soll sie auf bewährte Art und Weise in mein Refugium führen. Aber hurtig. Heute Abend will ich mich an ihr ergötzen und sie endgültig zu meiner neuen Gefährtin machen. Aber soweit ich weiß, hat er ohnehin noch eine Beerdigungsfahrt.« »Natürlich, Meister, selbstverständlich.« Monteverdi rief zwei ebenfalls beeinflusste Pfleger. Annibale hatte das gesamte Pflegepersonal auf der Station hypnotisiert, aber niemanden gebissen. Das hätte Zamorras dreimal engelsgesegnetes Amulett sicher bemerkt und die Leute zudem für den Tagesdienst untauglich gemacht. Tizian war schlau und gerissen. Sonst hätte er sich unmöglich so lange
an der Spitze der venezianischen Vampirsippen halten können. Monteverdi und die Pfleger steckten Nicole in einen Wäschekorb und transportierten ihn im Aufzug hinunter in die Kellerräume. Dort luden sie ihn auf das Wirtschaftsboot und fuhren ihn zu Maurizio Piasenti, der in einem alten, verfallenen Palazzo in der Nähe des Canale Grande hauste. Der Tageslichtvampir erwartete sie schon, denn Tizian hatte ihn informiert. Er kicherte, als er den Wäschekorb mit der Gebissenen entgegennahm. Sie würde ihm keinerlei Schwierigkeiten bereiten, denn seit dem ersten Biss waren sie dem Meister hörig, sein uneingeschränktes Eigentum. Erst, wenn die Opfer sich selbst zu vollwertigen Vampiren entwickelten, entließ dieser sie zumindest zum Teil wieder aus seiner Abhängigkeit. »Du hast Geschmack, Herr«, stellte Piasenti fest, als er die Bewusstlose betrachtete, von der er gar nicht wusste, wer sie war. Es interessierte ihn auch nicht. Ob sie eine erträgliche Herrin werden würde, interessierte ihn da schon eher. Gianna war zum Schluss ja wirklich unerträglich gewesen und hatte sie alle tyrannisiert. Engelhaft. Hoffentlich hatte sich der Herr nun eine Bessere erwählt. Wunderschön war sie auf jeden Fall. Und gar nicht so bleich wie die anderen Bräute seines Herrn, die er bisher gefahren hatte. Piasenti schleppte die Bewusstlose zum Totenboot, das in einem abgeschlossenen und magisch gesicherten Bootshaus dümpelte, seit es einmal von Gruftis geklaut worden war. Sie hatten bitter bezahlt dafür, aber man musste den Erzengel ja schließlich nicht herausfordern. Der Vampir trug die Bewusstlose in den Führerstand und hinein ins Bootsinnere. Dort lagerte er sie vorerst. Dann war es auch schon an der Zeit, zur Leichenhalle nach Cannaregio zu fahren. Dort wartete bereits ein Sarg zur Überführung nach San Michele auf ihn. Und etwa zehn Trauergäste, direkte Familienangehörige, denn die waren es in der Regel, die auf dem Totenboot mitfuhren, während die anderen Trauernden mit neutralen Booten zur Beerdigung auf die Insel kamen. Das blaue Boot tuckerte mit leise summendem Motor in die Leichenhalle. Der Sarg, die Corone und die Blumen standen schon am
Einladesteg bereit. Die Trauergäste würden hingegen erst zusteigen, wenn alles in Ordnung war. Piasenti und seine drei Helfer setzten den Sarg routiniert auf das Eisengestell. Doch bevor sie die Blumenräder und die Gestecke aufluden, schraubten sie den Sargdeckel blitzschnell mit einem Akkuschrauber auf und wuchteten ihn zur Seite. Ein alter Mann ruhte in der Totenkiste. Friedlich sah er aus. Piasenti zerrte die Leiche heraus und tauschte sie gegen Nicole aus. Gleich darauf lag sie auf dem weißen Samt, auf dem kreuz und quer kleine italienische Flaggen aufgedruckt waren. Der Tote verschwand dagegen im Boot. Die Männer schraubten den Deckel nicht wieder fest, sondern legten ihn nur lose auf. Auf San Michele mussten sie die Leichen schließlich schnell austauschen. Das war in aller Regel eine schwierige Angelegenheit, eine Arbeit von Sekunden. Natürlich wäre es einfach gewesen, die Frau unten im Boot zu transportieren und den Toten im Sarg zu belassen. Aber der Fürst bestand darauf, dass seine Bräute würdevoll und angemessen im Hochzeitsbett, wie er das nannte, nach San Michele transportiert wurden. Und wer gegen Tizians Willen verstieß, war wenig später noch toter, als Vampire es im Allgemeinen sein konnten. Kurze Zeit danach kamen die Angehörigen an Bord. Ein Ehepaar im mittleren Alter, die Frau wahrscheinlich die Tochter des Verblichenen. Sie tupfte sich immer wieder mit einem Taschentuch Tränen aus den geröteten Augen, während der Mann eher gleichgültig zu schauen schien. Piasenti hatte längst ein Auge für die verschiedenen Typen entwickelt. Der hier gehörte zum Typ »Lass-es-schnell-vorbei-gehen«. Dann gab es noch die Frau des Toten, eine verhärmte Contessa, die so alt und verbraucht aussah, dass er sie nicht einmal im absoluten Notstand gebissen hätte, weil ihr Blut sicher schal und bitter schmeckte. Zwei etwa siebzehnjährige Mädchen waren ebenfalls dabei, lecker, modisch todchic gestylt; sie schienen die Beerdigung in erster Linie als Catwalk zu sehen. Dann fuhren noch drei ältere Männer mit. Sie alle stiegen ins Boot, dessen Glaskabine abgebaut war, weil die Sonne heiß vom Himmel brannte. Maurizio Piasenti startete den Motor, tuckerte langsam in die Kanäle hinein, zum Fondamenta Nuove an der Nordseite, und be-
schleunigte schließlich auf das freie Meer hinaus. San Michele war noch etwa zehn Minuten entfernt, als Piasenti erstarrte. Im Sarg begann es plötzlich zu rumoren! Tizians Braut klopfte von innen dagegen. »He, hallo«, rief es dumpf. »Was soll das? Sofort aufmachen, bevor ich wütend werde.« Wieder hämmerte es gegen den Deckel. Die Trauergäste fuhren zusammen. Ungläubig starrten sie auf das Blumenmeer, denn den Sarg sahen sie nicht. Die Frau mit dem Taschentuch röchelte, wurde schlagartig bleicher als jeder Vampir, wie Piasenti erstaunt feststellte, verdrehte die Augen und sank dann mit einem Seufzer zu Boden. Einer der Männer fing sie auf, während die anderen wild durcheinanderredeten oder einfach nur sinnlos hin und her starrten. »Wow, das ist ja echt abgefahren«, flüsterte eins der Mädchen und stellte Gänsehautvergleich mit dem zweiten an. »Ja, da liegt sicher ein Zombie drin.« »Oder ein Vampir.« Der Gleichgültige trat an den wirklichen Blutsauger – welch eine verkehrte Welt – heran. »Signore, was geht hier vor? Öffnen Sie sofort den Sarg. Sofort, hören Sie!« »Äh, ja … ich …«, stotterte Piasenti. Die Situation überforderte ihn gerade ein ganz klein wenig. »Ich weiß nicht …« »He, aufmachen, hört ihr nicht? Ich weiß, dass ihr da draußen seid, ich kann euch hören!« »Machen Sie endlich auf!«, fuhr der Gleichgültige Piasenti nun scharf an. »Da drin liegt ein lebender Mensch.« Die beiden Mädchen begannen am Sarg herumzufingern, wurden aber von Piasentis drei Helfern sofort daran gehindert. »Halloooooh!« Plötzlich knirschte es. Der Sargdeckel hob einen halben Meter ab, schoss aus den Blumen hervor, krachte zurück auf den Rand des Unterteils und fiel seitlich herunter auf die Corone. Nun schrie alles wild durcheinander. Die Mädchen kreischten schrill und sprangen über die Reling ins Wasser. Zwei der Männer fassten sich ans Herz, als sich eine junge hübsche Frau aus dem Sarg erhob, die Fäuste in die Hüften stemmte und mit vor Zorn sprühen-
den Blicken in die Runde schaute. Maurizio Piasenti fauchte unwillkürlich. Er hatte Angst vor dieser Furie, deren Hals keinerlei Bissverletzungen mehr aufwies. Wie konnte das sein? In diesem Moment begriff er, dass er sich verraten hatte. »Du bist also auch einer, was, du Scheißkerl?« Nicole sprang mit einem wahren Panthersatz aus dem Sarg. Sie warf sich auf Piasenti, um ihm das Genick zu brechen. Gedankenschnell drehte er sich beiseite. Die Dämonenjägerin krachte auf die Bootsplanken und riss dabei noch einen der Gäste – den Gleichgültigen – mit um. Das Boot geriet nun gefährlich ins Wanken und ließ auch das Unterteil des Sargs vom Gestell rutschen. Er traf den Mann am Kopf und ließ ihn erschlaffen. Nicole musste sich der Attacken der drei Helfer erwehren, während der Vampir zur Seite trat. Sie begriff sofort, dass es sich nicht um Blutsauger handelte. Und auch nicht um geübte Kämpfer. Zwei von ihnen hatte sie ruckzuck ins Wasser befördert, wo sie hilflos planschten. Den dritten schlug sie mit einem Handkantenschlag ins Land der Träume. Der Vampir im Heck, der auf der Bewusstlosen kauerte und fauchte, machte einen seltsam unentschlossenen Eindruck auf Nicole. Er dachte gar nicht daran, sie anzugreifen. Und sie begriff auch, warum. Tizian hatte sie gebissen, sie war somit sein Eigentum. Unantastbar für jeden seiner Untergebenen. Dumm gelaufen für den Blutsauger vor ihr, denn dem Zauber einer alten Waldhexe, der Nicole vor längerem magisch beeinflusst hatte, war es gelungen, den Vampirkeim in ihrem Blut komplett zu eliminieren, auch wenn es offenbar ein bisschen Zeit dazu gebraucht hatte. Mit den angezogenen Beinen hatte sie schließlich den Deckel wegwuchten und sich befreien können. Und nun stand der Vampir einer gefährlichen Gegnerin gegenüber, ohne sich irgendwie wehren zu dürfen. »Wie viele von euch vermögen denn noch am Tag aktiv zu bleiben?«, fragte sie, während sie sich ihm näherte. »Keine Bewegung mehr, oder die da stirbt sofort«, schrie Piasenti. Seltsame Wellen liefen durch sein Gesicht, verformten es langsam. Er schien solche Angst vor ihr zu haben, dass die Transformation in
die Fledermausgestalt unkontrolliert einsetzte. Bevor das Unglück noch größer wurde, rief Nicole das Amulett. Ohne Zeitverlust tauchte es in ihrer rechten Hand auf. Ehe Maurizio Piasenti begriff, was los war, stand er bereits in hellen Flammen. Ein silberner Blitz aus dem Zentrum von Merlins Stern genügte. Gleich darauf rieselte seine Asche ins Meer. »Ruhe sanft«, murmelte Nicole. Dann setzte sie das Motorboot in Bewegung, um die Havarierten wieder einzusammeln.
Nachdem sich Zamorra und Commissario Cattani und Nicole wiedergefunden hatten, beschlossen sie, Annibale Tizian zu jagen. Er schien Dreh- und Angelpunkt dieser schlimmen Geschichte zu sein. Über ihn hofften sie auch Minette Fleurys Beteiligung aufklären zu können. Gegen Abend erreichte sie die nächste Hiobsbotschaft. Nahe Tessera, auf dem Festlandufer der Lagune, etwas nördlich von Venedig, wartete erneut eine versteinerte Leiche auf sie. Mit dem Polizeiboot fuhren sie hinüber. Starke Polizeikräfte hatten das Gelände um eine Autobahnbrücke abgesperrt. Die Tote, eine junge Frau um die zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre, lag nicht weit von einem der mächtigen Pfeiler entfernt im Graben. Im Gegensatz zu dem toten Gondoliere hing sie aber nicht an einem Kreuz, sondern lag einfach so da. Seitlich, verkrümmt, mit dem Grauen der letzten Momente im versteinerten Gesicht, als habe irgendein Künstler auf diese Weise eine misslungene Statue entsorgt. Die Rosenranken, die ihren Körper durchwuchsen und überall austraten, gab es indessen auch hier. Die Blüte der Rose hatte sich dieses Mal seitlich aus dem Hals der Unglücklichen gebohrt. Zamorra saß wie auf Kohlen. Er hätte den Tatort am liebsten sofort per Zeitschau untersucht, aber momentan herrschte noch zu viel Betrieb, den Cattani nicht ohne guten Grund einfach unterbinden konnte. Schließlich bekam er aber doch zehn Minuten für chemische Sonderuntersuchungen, wie der Commissario das seinen Leuten verkaufte. Der Professor musste weiter in die Vergangenheit zurück, als ihm lieb war, obwohl er damit schon gerechnet hatte. Das Fenster, in
dem er sich mit der Zeitschau bewegen konnte, betrug etwa 24 Stunden. Ging er darüber hinaus, wurde es lebensgefährlich für ihn, weil Merlins Stern für diese magische Funktion auch die Energien des Benutzers anzapfte. Je weiter das Amulett zurück musste, desto mehr davon benötigte es. Bei exakt einem Tag war dann zumeist das Ende der Fahnenstange erreicht, obwohl die Silberscheibe rein magisch gesehen wesentlich größere Zeiträume überbrücken konnte. In diesem Fall hatte der Professor etwa elf Stunden zu verkraften. Das hieß, dass der Mord etwa um vier Uhr morgens passiert war. Wieder wurden die beiden Dämonenjäger samt dem Commissario Zeugen eines gespenstischen Vorgangs. Sie sahen, wie der Boden unter der jungen Frau plötzlich in intensivem Rot leuchtete und die Erde bis in unbestimmte Tiefe gläsern-durchsichtig werden ließ. In der Erde eingebettet tauchte mit einem Mal ein langes, seltsam geformtes Artefakt auf. Als es gerade wieder interessant wurde, setzte das Flimmern ein! Zamorra schüttelte den Kopf. »Das gibt's doch nicht. Genau wie beim ersten Fall in der Kirche …« Er versuchte alles Mögliche, aber es blieb dabei. Er konnte die Störung nicht überlisten. »Was war denn das in der Erde?«, fragte Cattani und schaute immer wieder auf den Boden. »Das Ding liegt wohl direkt hier unter uns. Ich bestelle einen Bagger und lasse es ausgraben. Was meinen Sie, Signora Duval, Professore? Ist das sinnvoll?« »Möglicherweise.« Nicole stemmte die Hände in die Hüften und blickte ebenfalls nach unten. »Hm, wonach hat das Ding denn ausgesehen? Mir kam es so vor, als sei es ein von Rosenranken durchwuchertes nacktes Frauenbein mit einem Teil der Taille gewesen. So, als habe jemand eine Statue auseinandergeschlagen und die Trümmerteile irgendwo vergraben.« »Hm, kam mir genauso vor«, sinnierte Zamorra. »Ich hatte einen ähnlichen Eindruck. Mensch, ich hab euch doch von Foscas Versteinerung erzählt. Angeblich hat dieser Bischof Orseolo ja ihre Gebeine hierher oder besser nach Torcello bringen lassen. Aber die Visionen Raffaelas sagen uns, dass es gar keine Knochen gab. Sondern einen versteinerten Körper. Was, wenn Orseolo diesen transportiert hatte?«
Cattani überlief es eiskalt, während Nicole mit dem Absatz ein wenig den trockenen Boden aufhackte. »Ja, sehe ich auch so. Dummerweise wissen wir nicht, wie die Geschichte mit der versteinerten Fosca weitergegangen ist. Gehen wir mal davon aus, dass die Statue tatsächlich nach Torcello gelangt ist. Was könnte dann mit ihr passiert sein? Hm. Da können wir jetzt Stunden lang trefflich drüber diskutieren und der, der die blühendste Fantasie hat, gewinnt. Deswegen die bessere Frage: Wer weiß möglicherweise, was damals geschehen ist?« »Galimberti«, murmelte Zamorra. »Wer soll das sein?« »Der kleine dicke Sizilianer«, antwortete Nicole verblüfft. »Natürlich, gar keine schlechte Idee.« »Doch. Denn ich hasse kleine dicke Sizilianer«, gab Cattani trocken zurück. »Die allerschlimmsten Mafiosi, die ich kenne, sind klein, dick und Sizilianer.« Nicole lächelte. »Der nicht. Agostino Galimberti ist Kardinal und der Bibliothekar des Vatikanischen Geheimarchivs. Zamorra hat ihn vor drei Jahren getroffen, als wir einen Fall im Vatikan lösen mussten.* Er war ganz vernarrt in dich, Chéri.« Sie kicherte. »Allerdings hat er dich da noch für Pater Dostal gehalten. Möglichweise ist er jetzt nicht mehr so gut auf dich zu sprechen.« »Wahre Freundschaft übersteht auch solche kleinen Missverständnisse«, brummte der Meister des Übersinnlichen. »Ich muss es einfach versuchen. Immerhin habe ich ja den Vatikan vor der totalen Vernichtung gerettet.« »Natürlich«, sagte Cattani und grinste schräg. »Wenn's nicht mindestens um die Rettung der Welt geht, stehen Sie wahrscheinlich gar nicht erst auf, Professore, oder?« »Wenn's um die halbe Welt geht, denke ich zumindest drüber nach. Aber im Ernst, Commissario, das scheint mir momentan der einzig gangbare Weg zu sein. In der Vatikanischen Bibliothek finden Sie Sachen, die glauben Sie einfach nicht. Stöbern Sie nur einen Tag dort und Ihr Weltbild wird wahrscheinlich völlig auf den Kopf ge*siehe Zamorra HC21: »Dämonenfalle Vatikan«
stellt sein. Dort ist auch alles gelagert, was kirchengeschichtlich irgendwie relevant ist und aufgezeichnet wurde.« »Also gut. Warum sind wir noch nicht unterwegs nach Rom?« »Das wird nicht so einfach sein. Zuerst mal muss ich unseren guten alten Freund, Kardinalstaatssekretär Roger Noe anrufen. Der muss dann mit Galimberti reden, aber das wird er schon deichseln. Die Kardinalsfrage ist …« Zamorra lächelte zufrieden ob des gelungenen Wortspiels, »… ob sich der Herr Kardinalstaatssekretär momentan überhaupt im Vatikan aufhält.« Noch am Abend erreichte Zamorra Roger Noe, der sich sehr freute, mal wieder etwas vom Professor und Nicole zu hören, und schnelle Hilfe versprach, als er hörte, worum es sich handelte. Da er noch einige Dinge erledigen musste, bat er die Dämonenjäger, morgen am späten Nachmittag im Vatikan zu sein. Ein bisschen Zeit brauche nämlich auch Galimberti, um solche speziellen Sachen herauszusuchen, falls sie überhaupt existierten. »Sie selbst wissen nicht etwa über die Märtyrerin Fosca Bescheid, Eminenz?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. Noe lachte. »Gott bewahre, Professor. Unsere Heiligen sind Legion, was ja durchaus schön ist. Aber da kann man wirklich nur die wichtigsten kennen. Für alles andere haben wir ja unsere Bibliothek … und Galimberti.«
Annibale Tizian kochte vor Wut. Die Überführung seiner neuen Braut war nicht nur total misslungen, er hatte dabei auch noch Maurizio verloren. Das Schlimmste aber war, dass er sich eingestehen musste, Zamorra und Duval unterschätzt zu haben, wie schon so viele andere, auch hochrangige Dämonen, vor ihm. Es hätte ihm eigentlich klar sein müssen, dass sich Duval nicht so einfach beißen und zum Bund der Nacht machen ließ. Wie hatte er nur denselben Fehler begehen können wie die Legion von vernichteten Schwarzblütlern? Nun gab es immer noch keine neue Gefährtin, was seine Laune noch weiter verschlechterte. Jemand musste dafür büßen. Er würde sich also furchtbar an den Menschen rächen und in dieser Nacht ein
wahres Blutbad in Venedig anrichten. Es juckte ihn bereits in den Bluthauern. Der venezianische Vampirfürst verließ seine prachtvoll geschmückte Gruft auf San Michele. Der nächtliche Friedhof mit all seinen geheimnisvollen Schatten und Geräuschen lag vor ihm, als er sich im Sichtschutz einer Zypresse in seine Fledermausgestalt verwandelte. Plötzlich berührte ihn etwas. Starke Magie floss und verhinderte die Transformation. Tizian fuhr fauchend herum. Und starrte in die Augen eines etwa 15-jährigen blonden Mädchens, das keinerlei Angst vor ihm zu haben schien. Falsch. Es hatte tatsächlich keine. Umgekehrt verhielt es sich ein klein wenig anders mit der Furcht. Vor allem, weil diese Minette Fleury den dreimal engelsgesegneten Stock in Händen hielt. »Was willst du hier?«, fragte Tizian unsicher. »Ich hatte dir doch klare Befehle gegeben, Vampir. Wenn ich mich recht erinnere, sagte ich, dass weder Zamorra noch Nicole Duval etwas passieren darf. Richtig?« Minettes Augen funkelten gefährlich. »Ich dachte nicht, dass dir das so wichtig ist. Zudem war ich mir sicher, dass es auch in deinem Sinne sein muss, wenn es mir gelingt, die Dämonenjägerin auf die dunkle Seite der Macht zu holen.« »Weißt du, was ich über alles hasse?« »N-nein.« »Vampire, die zu viel denken. So was braucht die Welt nicht.« Minettes Augen leuchteten rot. Sie wirbelte herum, sprang vor – und stieß Tizian unvermittelt den Stock ins Herz. Grelle Lichtentladungen durchfluteten seinen Körper und verwandelten ihn in Sekundenschnelle zu Asche, die sich auflöste, noch bevor sie den Boden erreichte. Er kam nicht einmal mehr dazu, zu schreien. Annibale Tizian, der sich Jahrhunderte lang an der Spitze der venezianischen Vampirsippen gehalten hatte, war von einem Kind quasi nebenbei ausgelöscht worden. Schwarze Schatten waberten durch Minettes rote Augen, die wieder Normalfarbe annahmen. Das Böse, Dunkle in ihr kreischte und versuchte die Situation auszunutzen. Minette musste ihre ganze
Konzentration aufbringen, aber dieses Mal wollte es ihr nicht so recht gelingen. Komm, du schaffst es. Gemeinsam wird es uns möglich sein!, meldete sich das Langka in ihren Gedanken. Einmal noch, dann ist es geschafft.
Zamorra und Nicole gingen in ihr Hotel zurück, um per TI-Handy in der eigenen Bibliothek nach Fosca zu forschen. Da es um ihre Person magische Vorgänge gegeben hatte, war es durchaus möglich, dass etwas über sie verzeichnet stand. Aber selbst mit Williams Hilfe fanden sie nichts. Am nächsten Morgen fuhren die beiden Dämonenjäger zur Questura, um den Commissario zu treffen. Cattani wollte es sich nicht nehmen lassen, mit nach Rom zu fahren – selbstverständlich in einem zivilen Dienstfahrzeug, damit sich Zamorra und Nicole die Kosten für einen Mietwagen oder Flug sparen konnten. Cattani kam, um sie am Eingang abzuholen. Glaubten sie jedenfalls. Der Italiener machte einen hektischen Eindruck. »Guten Morgen, Signora Duval, Professore, wir müssen leider umdisponieren. Vor fünf Minuten wurde eine weitere Leiche gefunden. In Punta Sabbioni. Verschieben Sie bitte den Vatikan-Termin und begleiten Sie mich.« »Schwierig«, antwortete Zamorra. »Heute Abend verschwindet Noe für einige Tage aus Italien, bis dahin sollte das Gespräch erledigt sein, sonst wird's nahezu unmöglich. Nici, nimm doch du Merlins Stern und schließ dich dem Commissario an, während ich nach Rom fahre. Du kannst das genauso gut erledigen wie ich. Einverstanden?« Zamorra bekam den Dienstwagen samt Chauffeur. Cattani und Nicole setzten mit dem Polizeiboot nach Punta Sabbioni über. An diesem Tag war das Wetter nicht gar so strahlend schön, dicke graue Wolken hingen am Himmel. Hoffentlich ist das kein Omen, dachte die Französin. Sie fanden die von Rosenranken durchzogene, versteinerte Leiche auf den Knien liegend und halb nach vorne gebeugt im verwilderten Vorgarten eines verlassenen Hauses.
»Pfarrer Luigi Orseolo«, sagte Cattanis Assistent Goldoni, der schon eine halbe Stunde vor ihm am Tatort eingetroffen war. »Er ist bereits seit gestern Morgen als vermisst gemeldet, wurde aber nicht gesucht, da ja erst einige Tage vergehen, bis man …« Cattani winkte ab. »Geschenkt.« »Klar, Chef. Vorgestern hielt der Pfarrer noch die Abendmesse und freute sich wohl auf das Champions-League-Spiel. Was danach passiert ist, wissen wir aber noch nicht. Wir befragen gerade sämtliche potenziellen Zeugen.« »Am nächsten Morgen hat er auf jeden Fall gefehlt – wo auch immer«, stellte Nicole fest und erntete irritierte Blicke des Assistenten, auch wenn ihm bereits bekannt war, dass der Commissario in diesem Fall mit Sonderermittlern zusammenarbeitete. Da Goldoni sicher nicht dumm war, hatte er sich wohl im Internet über den Professor und Nicole Duval schlaugemacht, was nun beileibe keine große Sache war, und wusste jetzt nicht so richtig, wie er die Teilnahme zweier Parapsychologen einordnen sollte. Nicole lächelte Goldoni an. »Das heißt also, dass die Tat wohl in derselben Nacht passiert ist wie der Mord an der jungen Frau. Wer immer dafür verantwortlich ist und was immer er damit auch bezweckt, er verliert auf jeden Fall keine Zeit. Wissen Sie inzwischen, wer die Frau war?« Goldoni nickte. »Rosalba Veronese, eine Studentin aus Padua. Bisher ist unklar, was sie in Tessera wollte, sie hat niemandem aus ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis erzählt, dass sie hierher reist. Jedenfalls haben wir noch keinen ermittelt, der mehr wüsste.« »Gibt es irgendeine Verbindung zwischen den drei Opfern?« »Wir arbeiten dran, aber momentan ist nichts bekannt. So wie es aussieht, kannten sie sich nicht und hatten keinerlei Berührungspunkte.« Nicole nahm den Commissario zur Seite. »Mit dem Amulett brauche ich da nicht mehr ranzugehen, das ist bereits zu lange her. Aber fällt Ihnen am Namen des Toten etwas auf?« »Orseolo? Nein …« Cattani starrte sie an. »Mamma mia, wo hab ich nur meinen Kopf gehabt? Orseolo, na klar. So hieß doch auch der Bischof, der die Gebeine Foscas nach Torcello gebracht haben soll.«
»Eben. Das könnte ein Zufall sein, muss aber nicht. Vielleicht ist das aber eine Spur, der wir nachgehen sollten.« Der Commissario nickte langsam. »Gut. Wir überlassen Goldoni die Arbeit an der Front, er macht das ohnehin hervorragend. Und dann schauen wir mal, was wir über Pfarrer Orseolo herausfinden können. Am besten fangen wir erst mal in meinem Büro an und sehen zu, dass wir seinen Lebenslauf zusammenbekommen.« Cattani und Nicole fuhren in die Questura zurück. Im Büro des Commissarios ließen sie sich erst mal zwei große Tassen Kaffees aus der Maschine. Bevor sich Cattani setzte, markierte er den Leichenfundort auf der Wandkarte, die Venedig und Umgebung zeigte, mit einer roten Stecknadel, mit der er Punta Sabbioni regelrecht aufspießte. Weitere rote Nadeln steckten in Torcello, in Tessara und in der Chiesa dell'Angelo Raffaele im südwestlichen Stadtgebiet Venedigs. Dann gab es noch zwei grüne, eine blaue und eine gelbe Nadel. »Das sind andere Fälle von Schwerstkriminalität, mit denen ich mich gerade herumärgern muss«, seufzte Cattani. »Und überall will der Quästor schnelle Ergebnisse sehen. Dabei haben wir viel zu wenig Personal, um das alles ordentlich zu bearbei… Signora Duval, hören Sie mir eigentlich zu? Hallo …« »Was? Ach so, entschuldigen Sie, Commissario.« Nicole, die die ganze Zeit auf die Karte gestarrt hatte, drehte sich auf ihrem Stuhl in seine Richtung. »Sagen Sie mal, fällt Ihnen nichts auf?« »Auf der Karte?« »Nein, an meiner Frisur. Natürlich auf der Karte.« »Vielleicht ein bisher nicht identifiziertes Werk von Van Gogh? Picasso? Tintoretto? Könnte mich das unter Umständen reich machen?« Nicole lachte. »Ich liebe Ihren Humor, Commissario, doch, wirklich. Aber es geht hier um was völlig anderes. Schauen Sie mal.« Sie stand auf, nahm einen Kugelschreiber, der auf dem Tisch lag und trat an die Karte. »Das gibt's nicht«, flüsterte Cattani gleich darauf und spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten. »Das muss ein Zufall sein.« Nicole schüttelte langsam den Kopf. »Das glaube ich allerdings kaum.«
Die beiden Posten der Schweizergarde, die am St. Anna-Tor, einem der Haupteingänge zum Vatikan, Dienst taten, erwarteten Professor Zamorra bereits. Die Wachen begrüßten ihn höflich und informierten den Kardinalstaatssekretär. Der Meister des Übersinnlichen und sein Chauffeur durften passieren und fuhren zum Regierungspalast. Dort wartete der 84-jährige französische Kardinal Roger Noe, der sich seit ihrem letzten Zusammentreffen kaum verändert hatte. Mit den Hängebacken und dem gutmütigen Gesicht dahinter, vor allem aber durch seine kraftvollen, energischen Bewegungen, wirkte der Stellvertreter des Papstes und zweitmächtigste Mann im Vatikanstaat gut 15 Jahre jünger als er tatsächlich war. Die Begrüßung fiel herzlich aus. Noe erkundigte sich nach Nicole und bedauerte, dass sie nicht hatte mitkommen können. Da beide wenig Zeit hatten, führte Noe den Professor zum Vatikanischen Geheimarchiv, wo ihm Kardinalbibliothekar Agostino Galimberti die Hand reichte. »Eigentlich müsste ich es Ihnen ja übel nehmen, dass Sie sich als Pater ausgegeben und unsere heilige Soutane missbraucht haben, Professore Zamorra.« Der kleine dicke Mann mit den wässrigen Hundeaugen und den schwarzen, strähnigen Haaren grinste breit. »Aber da Sie auf diese Weise dem Satan eins ausgewischt und uns alle gerettet haben, will ich mal nicht so sein. Wie geht es Ihnen?« »Danke, so weit ganz gut, Eminenz. Wenn Sie aber etwas für mich hätten, würde ich mich sicher noch ein ganzes Stück besser fühlen.« »Ich habe gehört, dass es wieder gegen Satan und seine Schergen gehen soll. Da habe ich mich natürlich ganz besonders für Sie angestrengt, Professore.« »Und? Haben Sie was gefunden?« »Gemach, Gemach. Setzen Sie sich erstmal. So viel Zeit muss sein. Ich bin gleich wieder zurück.« Zamorra setzte sich gehorsam an den kleinen Tisch im ersten Saal, den er vom letzten Mal noch kannte, während der Kardinalbibliothekar in den zweiten Saal hinkte. Der Tisch stand in einer schnuckeligen Ecke, wie Nicole das wohl genannt hätte. Das untere Drittel
der Wände drum herum war mit prächtigen Eichenholzkassetten beschlagen, darüber lief ein breiter Fries mit bunten Fresken, die allesamt biblische Szenen zeigten. Sie gingen nahtlos in das hohe Deckengewölbe über, das ebenfalls mit Bilddarstellungen, Stuck und kleinen Putten übersät war. Eine größere Pracht hatte Zamorra auch in den letzten Jahren noch immer nicht gesehen. Galimberti kam zurück. Er trug zwei hölzerne Schubladen unter dem Arm und stellte sie auf den Tisch. Er zog die erste zu sich her. Der Parapsychologe sah viereckige Behältnisse darin aufgestapelt, jedes etwa 30 auf 30 Zentimeter in der Grundfläche und gerade mal streichholzhoch. Der Kardinalbibliothekar setzte sich schnaufend zu Zamorra. »Glück muss der Mensch haben«, sagte er, nachdem er seinen Atem wieder beruhigt hatte, und nestelte an einer der Schutzhüllen herum. »Wie meinen Sie das, Eminenz?« »Nun ja, der Inhalt des Vatikanischen Geheimarchivs war nicht immer so zentral gelagert, wie Ihnen vielleicht bekannt sein dürfte. Anfangs, in den ersten Jahrhunderten, haben sich die Dokumente auf den Petersdom, den Turm beim Titusbogen und die Garderobe der Römischen Kirche beim Lateran verteilt. Damals wurde noch häufiger umgezogen als heute und so sind eine ganze Menge Unterlagen und Überlieferungen auf ewig verloren. Mir blutet das Herz. Was wären das für Schätze gewesen.« Zamorra hatte den Eindruck, Galimberti würde gleich zu weinen anfangen. »Später, im Mittelalter, gab es dann nochmals herbe Verluste für das Archiv, als unzählige Dokumente mit den Päpsten nach Avignon, Anangi, Perugia, Viterbo, Lyon und sonst wohin wanderten. Vieles davon ist ebenfalls nicht zurückgekehrt.« »Das wusste ich gar nicht.« »Doch, ja, so war es, Professore. Vor allem aus den frühen Jahren unserer Geschichte ist nicht mehr allzu viel da, höchstens noch, sagen wir zwei komplette Registraturen mit etwa dreitausend Zeugnissen. Und da habe ich doch tatsächlich etwas über die heilige Fosca gefunden.«
»Ich war mir sicher, dass Sie mir helfen können, Eminenz.« Der Kardinal strahlte, holte eine bekritzelte viereckige Holztafel aus dem Schutzumschlag und betrachtete sie gegen das Licht. »Die Römer haben auf mit Wachs beschichtete Holztäfelchen geschrieben, aber das wissen Sie ja bestimmt, Professore. Wir begeben uns jetzt so etwa ins Jahr zweihundertfünfzig nach Christus zurück. Wir Christen wurden damals im gesamten Römischen Reich verfolgt. In Karthago existierte seinerzeit eine sehr große Christengemeinde. Der dortige Bischof Diokletian hat die Garamantin Fosca missioniert. Wie Sie vielleicht wissen, waren die Garamanten ein mächtiges Berbervolk, das den Karawanenhandel vom Mittelmeer bis nach Zentralafrika kontrolliert hat. Fosca war eine bewundernswerte Frau, die wie Jesus Christus Wunder tun konnte und deswegen zu Recht in den Stand einer Heiligen erhoben wurde. So schreibt Bischof Diokletian auf diesen Tafeln hier, dass Fosca ihren Glauben trotz schlimmster Folter nicht verleugnete und schließlich am Kreuz dafür gestorben ist. Eine andere Christin namens Flavia, wahrscheinlich ihre Schwiegermutter, aber das ist nicht gesichert, hat den toten Körper gestohlen und bei Diokletian in Sicherheit gebracht. Nun, von Flavia erfuhr der Bischof, dass Fosca nicht nur eine wunderbare Christin, sondern darüber hinaus sehr zauberkräftig war und ihren Tod selbst herbeigeführt hat, um weiteren schlimmen Foltern zu entgehen. Sie hat ihren Körper mit Rosen durchrankt und versteinert und das ist nun wirklich ein wahres und leibhaftiges Wunder.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Wahrhaftig. Nun ja – Jahrhunderte lang wurden Foscas Überreste an geheimen Orten in Karthago und in Sabratha aufbewahrt, bis sie schließlich Bischof Orso Orseolo, genannt der Bischof mit dem Stock, in die Hände fielen. Und hier kommen wir nun zum zweiten Teil der Geschichte.« Der Kardinalbibliothekar nahm das andere Kästchen und holte einige kunstvoll verzierte bunte Handschriften heraus, wie sie schreibkundige Mönche in den Klöstern angefertigt hatten. »Ich habe mittelalterliche Belege gefunden, dass Orso Orseolo die Überreste der Heiligen von einem venezianischen Reisenden namens Adhemar angeboten wurden, der dringend Geld brauchte. Adhemar war Teilnehmer des ersten Kreuzzugs und danach auch
nach Sabratha verschlagen worden. Dort hat er die Gebeine wohl gestohlen und an einem anderen Ort versteckt. Nun, Orseolo hatte viel Geld, denn er stammte aus einer der einflussreichsten venezianischen Patrizierfamilien und liebte es, Reliquien aufzukaufen, um seinen Bischofssitz Torcello damit zu schmücken. Er besaß bereits die Überreste der heiligen Barbara von Nikomedien, die er aus Byzanz nach Torcello überführen ließ. Für Foscas Leichnam hat er wohl noch sehr viel mehr bezahlt, wessen ich ganz sicher bin, denn schließlich hat er mit dem versteinerten Körper ein wahres Wunder erstanden. Nicht erstaunlich also, dass Bischof Orseolo über der Toten eine komplette Kirche mit ihrem Namen hat errichten lassen.« »Hm. Und was erzählen die Aufzeichnungen sonst noch?« »Nicht mehr allzu viel. Es heißt, dass die heilige Fosca so erfreut über das Gotteshaus war, dass sie Orseolo bei den ständigen Familienfehden, denen er ausgesetzt war, geholfen habe, sie erfolgreich zu bestehen. Vor allem mit dreien seiner fünf unehelichen Kinder, die Geld von ihm wollten, musste er sich wohl immer wieder auseinandersetzen.« »Gut. Das hilft mir weiter«, log Zamorra, der sich mehr von diesem Besuch erwartet hatte. Der wäre in der Tat hochinteressant gewesen, hätte er Raffaelas Visionen nicht gekannt. So aber hatte er weitgehend nur das erfahren, was er ohnehin schon wusste. »Sie sagten vorhin etwas vom Bischof mit dem Stock. Was haben Sie damit gemeint?« »Nun ja, es heißt, dass Orseolo fast niemals ohne seinen Spazierstock angetroffen wurde, den er angeblich sogar mit ins Bett nahm. Wenn ich mich recht entsinne, gibt es ein Porträt Orseolos, das ihn mit dem Stock zeigt. Wenn Sie sich einen Moment gedulden wollen?« Zamorra nickte. Galimberti erhob sich. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Kupferstich zurück. Er präsentierte einen vollbärtigen, stechend dreinblickenden Mann mit Bischofsmütze, der vor der Kirche Santa Fosca stand. Er stützte sich auf einen Stock. »Ich glaub's nicht«, entfuhr es dem verblüfften Professor. »Das ist ja ein leibhaftiges Langka.«
Minette Fleury führte den achtjährigen Jungen an der Hand. Auf dem nächtlichen Fondamenta di Sant'Anna gingen sie auf die gleichnamige Kirche im äußersten Osten Castellos zu. Minette hatte den kleinen Giuseppe heute Nachmittag beim Fußballspielen von einem Bolzplatz in Padua entführt. Und würde nun gleich mit ihm das Gotteshaus betreten … Giuseppe war ganz ruhig. Dafür sorgte sie schon mit ihrer Magie. Er hatte nur ein einziges Mal die Chance bekommen zu weinen und nach seinen Eltern zu rufen. Durch eine Seitentür drangen die beiden in die still daliegende Kirche ein. Hunderte Opferkerzen brannten auf den Seitenaltären und verbreiteten unheimliches Flackerlicht. Du bist so hübsch, mein kleiner Giuseppe. Wie schade, dass du gleich einen so grausamen Tod erleiden musst … Minette ging mit dem Jungen in die Nähe der Beichtstühle und ließ ihn auf dem Steinboden niederknien. Dann zog sie ein Messer, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Überall flammte Scheinwerferlicht auf, tauchte die beiden in eine grelle Lichtflut. Türen flogen auf, bewaffnete Einsatzkommandos stürmten in die Kirche. Durch die Sakristeitür traten Zamorra, Nicole und Commissario Cattani. »Gib auf, Minette«, rief der Meister des Übersinnlichen, sein Amulett in der Hand. »Du hast keine Chance mehr!« Sie stöhnte. In ihrem Arm zuckte es. Sie versuchte, das Messer doch noch gegen den Jungen zu richten, aber irgendetwas hinderte sie daran. Das Mädchen verdrehte dabei die Augen so weit, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Vier mächtige Sätze brachten Zamorra an Minette heran. Energisch entriss er ihr den Stock. Nein! Der Schrei des Langkas auf mentaler Ebene war so schrill, dass ihn selbst die nur mäßig parabegabten Zamorra und Nicole hörten. Minette sank zusammen, ihre Augen drehten sich wieder in Normalposition. »Danke, vielen Dank«, flüsterte sie, als habe sie der Dä-
monenjäger soeben von einer fürchterlichen Last befreit. Doch dann gab sie ein würgendes Geräusch von sich. Ihr Blick verschleierte sich. Ein tief schwarzer Schatten quoll aus Mund und Augen, wurde heller, verfestigte sich zu einem Körper, der Minettes genaues Abbild war … und stieß Zamorra mit hassverzerrtem Gesicht zur Seite. Sofort rannte das unheimliche Ding mit den rot glühenden Pupillen direkt auf einen der Männer des Sondereinsatzkommandos zu. Der verlor die Nerven und schoss. Eine Salve ratterte durch die Kirche, schlug in den Körper der Unheimlichen und schüttelte ihn. Schreie gellten, einige Projektile hackten Holzspäne aus den Bänken. Zamorra wäre ebenfalls um ein Haar getroffen worden. Angriff, befahl er dem Amulett. Merlins Stern ließ sich nicht zweimal bitten. Zwei silberne Blitze lösten sich aus dem Amulettzentrum und trafen die Flüchtende, als sie gerade den schrill schreienden Schützen beiseite stieß. Der materialisierte Doppelleib von Minette Fleury erstarrte – und innerhalb von Sekundenbruchteilen war eine weitere schwarzmagische Existenz beendet.
Zamorra bat, sich mit Minette und Nicole in die Sakristei zurückziehen zu dürfen. Gegen die Anwesenheit von Commissario Cattani hatte er wie immer ebenfalls nichts einzuwenden. Das Mädchen setzte sich auf einen Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und weinte erst einmal haltlos. Die Erwachsenen ließen es zu und warteten ab. »Danke, Zamorra, Nicole, dass ihr mich befreit habt«, flüsterte Minette schließlich und trocknete sich mit einem von Nicole gereichten Taschentuch die Augen. »Wie konntet ihr mich … uns finden?« »Weil ich auf der Landkarte im Büro des Commissarios etwas sehr Seltsames entdeckt habe«, antwortete Nicole. »Wenn man nämlich die bisherigen Leichenfundorte plus Santa Fosca auf Torcello durch gerade Linien verbindet, entsteht ein Pentagramm.« »Du hast es tatsächlich erkannt!« »Ja, Kleine. Ein Punkt des Fünfecks hat aber noch gefehlt. Wir
mussten nur die fehlenden Schenkel von Tessara und Torcello aus ziehen – und die Linien haben sich exakt hier in der Kirche getroffen. Da war uns klar, dass hier auch noch etwas passieren würde.« »Was hat es mit diesem Pentagramm auf sich, Minette?«, übernahm nun der Professor die Gesprächsführung. »Und vor allem mit dem Langka. Es ist zu dir zurückgekommen, nicht wahr?« Minette nickte und räusperte sich ein paarmal. »Kurz nach diesen Ereignissen damals, als ihr mich von dem Dämon, dem Langka und dessen dunkler Seite befreit habt, ist das gereinigte Langka wieder bei mir erschienen und bat, bei mir bleiben zu dürfen. Es hat betont, dass es gewohnt ist mit jemandem in Symbiose zu leben … und mich ja schon so lange kennt. Ich habe es ihm erlaubt und wir sind zwei Jahre lang zusammen durch Frankreich gezogen. Wir haben uns als Straßenkünstler über Wasser gehalten und manchmal mit unseren magischen Kunststücken sogar sehr gutes Geld verdient.« »Den abgestoßenen dunklen Teil des Langkas, der deine Gestalt angenommen hatte, habt ihr aber nicht gesucht, oder?« Minette lächelte verloren. »Keinen einzigen Tag lang! Ich wollte dem Kinddämon, diesem abgespaltenen Anteil, nicht begegnen und das gereinigte Langka ebenfalls nicht. Dann aber ist es vor wenigen Tagen zur Katastrophe gekommen. Da sich der Kinddämon auf der Erde nicht weiterentwickeln konnte und keine Macht bekam, hat er beschlossen, in die Dimension der Langkas überzuwechseln, weil es dort … weil er etwas suchte. Etwas, das ihn wiederum vervollkommnen würde.« »Eine Langka-Dimension?«, staunte Professor Zamorra. »So was gibt es also auch?« Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ja. Und es gibt ein Weltentor dorthin.« »Die steinerne Feuerrose auf Torcello.« »Genau die. Der dunkle Anteil kann zwar nicht mehr über Langka-Magie verfügen, hat aber noch alle Erinnerungen seines gereinigten Pendants. Deswegen wusste er, dass es das Tor gibt, wo es sich befindet und wie es geöffnet werden kann. Zwei Menschen mussten bei der Öffnung des Langka-Tors sterben, das macht mich sehr, sehr traurig.«
»Bei der Öffnung«, fragte Nicole. »War der Kinddämon denn erfolgreich?« »Nein!« Minette atmete tief durch. »Er hatte meine Gestalt angenommen und konnte das Tor zwar öffnen, aber nicht hinüberwechseln, weil das nur Langkas vermögen. Der Kinddämon wurde wieder auf die Erde zurückgestoßen, aber das Tor blieb offen.« »Aha. Und weiter?« »Mein Langka war deswegen voller Sorge. Es sagte mir, dass auf der anderen Seite eine furchtbare Gefahr lauert, die nun durch das Tor kommen und die ganze Menschheit bedrohen könnte. Darum drängte es darauf, das Tor so schnell wie möglich wieder zu schließen. Die Zeit sei noch nicht reif! Was drüben gefangen ist, müsse dort auch bleiben. Aber das Tor zu versiegeln … dazu mussten Menschen sterben und deswegen habe ich mich geweigert. Aber das Langka … verfügt über eine viel stärkere Magie als ich … und es … es hat mich gezwungen, all die fürchterlichen Dinge zu tun …« Minette schluchzte erneut los und Nicole nahm sie fast zärtlich in den Arm. »Ist schon gut«, murmelte sie und streichelte ihr über den Kopf. »Erzähl uns, wie es weiterging.« »Wir waren gerade in … in Paris, als es geschah. Das Langka bestand darauf, dass wir den Kinddämon wieder einfingen, um ihn zu beherrschen und ihn so daran zu hindern, einen erneuten Übergang zu versuchen. Denn das hätte das Tor noch stärker aktiviert. So gab es wohl schon Reaktionen auf der anderen Seite, wenn ich das richtig verstanden habe. Wir sind also hierher nach Venedig gereist und haben den Kinddämon in meiner Gestalt auf Torcello getroffen – und ihn aufgenommen, ganz kurz bevor er tatsächlich einen weiteren Übergangsversuch unternommen hätte. Der Dämon hat getobt und wollte wieder frei sein. Es hat uns große Mühe gekostet, ihn stets aus Neue zu bezwingen. Ich danke euch so sehr, dass ihr ihn vorhin endgültig getötet habt.« »Gern geschehen«, gab Zamorra zurück. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass damit dieser ganze Fall noch lange nicht abgeschlossen war. »Aber was hat es nun mit den Rosenmorden und dem Pentagramm auf sich?« »Dazu muss ich etwas ausholen. Darf ich?«
»Aber klar. So weit du willst. Ich nehme mal an, dass wir jetzt so ungefähr ins Jahr Tausend unserer Zeitrechnung wechseln.« »Ja, tatsächlich. Woher weißt du das, Zamorra?« »Sag ich dir später.« »Um diese Zeit lebte der Bischof Orso Orseolo auf Torcello und in Venedig. Damals war er der Symbiosepartner meines Langkas. Warum, dazu kann ich nichts sagen. Zufall vielleicht? Auf jeden Fall hat das Langka dem Bischof sehr geholfen, hatte zu dieser Zeit aber genug von der Erde und wollte in die Langka-Welt zurück, weil es glaubte, in dieser Dimension niemals einen Weg zur Reinigung zu finden. Es plante, Hilfe bei seinen Artgenossen zu suchen. Der Übergang war aber zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich, weil es keine Verbindung zwischen den beiden Welten gab. Orseolo versprach, dem Langka beim Schaffen eines Weltentors zu helfen, denn die Magie des Langkas reichte dafür alleine nicht aus. Der Bischof beschloss also, die wundersamen magischen Kräfte, die noch immer im versteinerten Körper der Märtyrerin Fosca ruhten, zu nutzen. Er hatte die Reliquie fünf Jahre zuvor gekauft und eine Kirche über ihr erbauen lassen. Foscas Statue bildete das Zentrum, in dem das Weltentor entstehen sollte. Aber auch die Rosenmagie war zu schwach, denn die Langka-Welt ist nahezu perfekt abgeschirmt vor allen Einflüssen. Also beschloss das Langka, diese Magie um ein Vielfaches zu verstärken, indem es den versteinerten Körper in fünf Teile zerbrechen ließ, um sie in Form eines exakten Pentagramms zu verteilen.« »Ich fasse es nicht«, murmelte Nicole. »Mir schwant Schlimmes.« Der Meister des Übersinnlichen gab ein Brummen von sich. »Mir schwant nicht nur, ich glaube sogar zu wissen.« »Orseolo berechnete, von Torcello ausgehend, ein genaues Pentagramm und ließ die Körperteile und ein Stück des Kreuzes, an dem Fosca gestorben war, an den Plätzen deponieren, die ihr inzwischen aus leidvoller Erfahrung kennt. Als Tor selbst sollte das versteinerte Herz Foscas dienen, das im Tod zu einer wunderschönen Rose geworden und aus ihrem Körper halb herausgebrochen war. Tatsächlich entstand ein ungeheures Kraftfeld, das Weltentor manifestierte sich und das Langka wechselte in seine ureigene Dimension. Aus ei-
nem Grund, über den es sich bis heute ausschweigt, kam es aber wieder auf die Erde und zu Orseolo zurück. Es zwang den Bischof, das Tor zu verschließen. Er musste dafür jeden einzelnen der fünf Fosca-Körperteile mit Menschenblut deaktivieren.« Zamorra nickte. »So wie du es jetzt auch getan hast – oder wie du gezwungen warst, es zu tun, nachdem der Kinddämon, der aus dem Langka entstand, das Tor öffnete. Es ist grausam. Du tust mir leid, Minette. Aber ich erkenne das magische Gesetz, das dahinter steckt. Schon einmal haben Ströme von Menschenblut Foscas Magie unschädlich gemacht, auch wenn es ihr eigenes Blut war, als sie starb, gefoltert und schrecklich gemartert. Das Blut anderer Menschen erzielt nun exakt die gleiche Wirkung. Dieses Gesetz, dass menschliches Blut Foscas Magie zumindest vorübergehend lahmlegt, ist wohl bis in alle Ewigkeit unumkehrbar.« »Aber warum versteinern die Opfer?«, fragte Nicole. »Ahnst du es nicht?« Sie verdrehte die Augen. »Würde ich sonst fragen?« »Weil die Rosenmagie der heiligen Fosca darauf ausgerichtet ist, körperliche Wunden und Krankheiten zu heilen, indem sie die Wundherde und die Verletzungen versteinert. Das hat die Magie nun, da sie wieder aktiviert wurde, auch bei den aktuellen Opfern versucht.« »Hm, ja. Ich glaube, ich verstehe. Lass es mich mal so ausdrücken: Die Rosen-Heilmagie greift ausschließlich auf den letzten Befehl Foscas zurück, den sie im Erinnerungsspeicher abgelegt hat. Und das ist ziemlich fatal. Denn dieser Befehl lautet: Körper komplett durchranken, versteinern und töten.« Zamorra seufzte. »Aber anstatt zu heilen, tötet Foscas Magie nun, ohne dass die Heilige das jemals beabsichtigt hat. Das trägt schon eine besondere Tragik in sich.« »Stimmt. Und dass Minette vom Langka aus einer eigentlich guten Absicht heraus, nämlich der Rettung der Menschheit vor einer ungeheuren Gefahr, zum Töten gezwungen wurde, ist nicht weniger tragisch. Aber du schuldest uns noch einige Erklärungen, Minette. Willst du sie uns geben?« Das Mädchen nestelte die Finger ineinander. Es sah unendlich
müde aus. Die blonden Haare waren verwuschelt und ungepflegt. »Die Nacht, als wir den Kinddämon in uns aufgenommen hatten, war auch die Nacht, in der ihr auf Torcello erschienen seid. Ich habe dich am Langka-Tor gesehen, Zamorra. Und der Kinddämon hat dich natürlich ebenfalls bemerkt. Er kannte dich ja und wusste, dass du seine Pläne durchkreuzen könntest … Also haben wir den Vampirfürsten Tizian überrumpelt und ihn gezwungen, Ablenkungsmanöver zu starten. Er sollte euch beschäftigen und auf eine falsche Spur führen, so dass uns Zeit blieb, die … die Morde in aller Ruhe durchzuführen. Zudem kennt das Langka ja noch dein Amulett, Zamorra. Es weiß von der Zeitschau und so hat es an jedem Tatort mit seiner Magie ein starkes Zeit-Störfeld geschaffen, das das Amulett mit der nur schwachen Kraft, die es sich aus dir holen kann, nicht durchdringen konnte. Und auch das Bild Tizians hat das Langka sozusagen in das Zeitfeld hineinkopiert, so dass ihr glauben musstet, der Vampir sei an allem schuld.« »Das alles kann das Langka?«, staunte Nicole. Minette zeigte ein schwaches Lächeln. »Es ist mächtig, sagen wir es so. Ich habe aus ferner Vergangenheit Eindrücke erhascht, die … verflixt, die mich sprachlos werden ließen! Ihr wisst doch, dass ich schon mal in der Hölle war, genau wie ihr. Aber was die Langkas dort angerichtet haben, ist kaum zu fassen. Fast hätten sie das ganze Höllengeschmeiß samt Asmodis und Lucifuge Rofocale ausgerottet.« »Ich hätte nichts dagegen gehabt.« Nicole grinste. »Und trotzdem sind wir dir, oder euch, recht schnell auf die Spur gekommen.« Zamorra lächelte kalt. »So weit ist es mit der Macht und Schlauheit dieses seltsamen Spazierstocks also auch nicht her.« »Es ist nicht böse, versteh das nicht falsch«, sagte Minette. »Aber es ist – anders. Zu anders, wenn du mich fragst. Nach welchen Kriterien habt ihr eure Opfer ausgesucht?« »Sie waren oder sind alle direkte Nachfahren von Bischof Orseolo. Das Langka ist der Ansicht, dass die Magie von Orseolo-Blut die Rosenmagie am wirkungsvollsten ausschalten kann. Der Bischof hat Foscas Magie schließlich schon einmal bezwungen, indem er ihren versteinerten Körper auseinandergebrochen hat.«
»Interessant. Was sollen wir nun mit dem Langka machen?«, fragte Zamorra. »Ich nehme an, dass das Tor noch nicht vollständig geschlossen ist.« Das bestätigte Minette. »Erst, wenn der Punkt in dieser Kirche und das Tor selbst in Torcello deaktiviert sind, ist der Durchgang wieder dicht.« Zamorra knirschte hörbar mit den Zähnen. »Das Langka wird also versuchen, zwei weitere Menschen töten zu lassen, durch wen auch immer. Das werden wir natürlich verhindern. Damit bleibt das Tor aber geöffnet und wir müssen ständig mit dieser gigantischen Gefahr aus der Langka-Welt rechnen. Auch nicht gut. Gibt es vielleicht eine andere Möglichkeit, das Tor zu schließen?« Darauf hatte Minette nur eine kategorische Antwort, aber die kam wie aus der Pistole geschossen: »Nein.« Zamorra seufzte. »Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Ich werde mit dem Langka in seine Dimension überwechseln und versuchen, die Gefahr, die dort droht, vor Ort auszuschalten.« »Wir werden wechseln«, widersprach Nicole. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich alleine gehen lasse.« »Ich gehe ebenfalls mit«, sagte Minette. »Aber zuerst werden wir das Langka überzeugen müssen.« »Ist es überhaupt noch da? Ich erinnere mich, dass es teleportieren kann.« »Es ist noch da, Zamorra, keine Angst. So schnell lässt es mich nicht im Stich. Dazu hat es sich viel zu sehr an mich gewöhnt.« »Gut, dann komme ich ebenfalls mit«, entschied Commissario Cattani, der bis jetzt eisern geschwiegen und sich lediglich aufs Zuhören beschränkt hatte. »Schlimmer als die Mafia auf Sizilien kann das auch nicht werden.« Wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte Zamorra, schwieg aber. »Dann mal los«, sagte er salopp. Viel salopper, als er sich eigentlich fühlte.
7 – Vergangenheit: Schlechte Karten für Brarktanen Ein Museumsfeld: Grantor sah sich um. Alles war grau. Er wusste nicht, wo er war. Es schien, als würde er mitten in einer Art Felsen feststecken. Oder auch in einem porösen Schwamm, der ein- und ausatmete, sich dabei dehnte und wieder zusammenzog. Jede Bewegung kostete Mühe. Schon den Kopf zu drehen, war alles andere als einfach, ganz zu schweigen davon, sich fortzubewegen. Der Brarktane war durch das Weltentor geschritten. Die Hölle und die apokalyptische Schlacht, die dort tobte, lagen hinter ihm. Er war Asmodis, Lucifuge Rofocale und deren Armee entkommen. Aber wo befand er sich nun? In welche Welt hatten die Langkas ein Tor geöffnet? Und wo befanden sich diese Kreaturen überhaupt? Sie waren nicht zu sehen, aber er konnte sie hören. Deutlicher noch als nur in seinen Gedanken. Ihre Stimmen flossen aus der grauen Materie, die ihn umgab, sie gerannen zu einer Existenz, die von außen zu ihm vordrang. – dies ist unsere neue Heimat … sie wird nur uns gehören – – etwas ging mit uns – Obwohl die zweite Stimme wie die erste klang spürte Grantor, dass ein anderes Langka geantwortet hatte; wenn man die Worte denn als Antwort bezeichnen konnte. Der Brarktane vermochte sie klar voneinander zu unterscheiden. Aber warum? Zuvor war ihm dies nie gelungen, jedes Langka hatte gleich geklungen. Was hatte ihn verändert? Der Schlag des Langkas gegen ihn? Der Moment, in dem der stockartige Leib ihn glatt durchdrungen hatte? Der Dämon fühlte in sich hinein und empfand dort eine Präsenz. Etwas, das nie zuvor da gewesen war. Eine Stimme, die nicht in klaren Worten, wohl aber in Empfindungen zu ihm sprach. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag der seine Außenhaut aufreißen ließ – nur dass es noch weitaus schlimmer war. Denn er ahnte, dass diese
simple Tatsache seine Existenz für immer verändern würde: So wie das Langka etwas aus ihm herausgerissen hatte, musste es ihm auch etwas hinterlassen haben. Ein Teil von ihm war verloren gegangen, ein Stück des Langkas hatte er gewonnen. – wo befindet sich das, was mit uns ging? – – wir vermögen es nicht zu finden. Es kriecht durch unsere Welt … ein Fremdkörper – – wir müssen es ausfindig machen und eliminieren – Grantor lachte teuflisch. Sollten sie doch nur suchen. Er würde es ihnen nicht leicht machen, ihn zu entdecken. Wobei es ihm allerdings seltsam erschien, dass sie seinen Aufenthaltsort nicht sofort erkannten. Dank ihrer Macht müsste ihnen dies doch einfach möglich sein; sie hatten weit Größeres und Schwierigeres vollbracht. Gerade in dieser Dimension, die sie als ihre neue Heimat bezeichneten … die sie sich selbst ausgesucht hatten, um darin zu wohnen … ausgerechnet hier dürfte es doch keine solchen Hindernisse für ihre Macht geben. – nicht ausgesucht –, erkannte er plötzlich tief in sich. Das Fremde in ihm hatte gesprochen, und seine Stimme erklang laut und deutlich. Was soll das heißen?, fragte er. – die Langkas haben sich … wir haben uns diese Welt nicht ausgesucht, sondern erschaffen – Wie soll das möglich sein? Binnen so kurzer Zeit? – könnte uns irgendetwas nicht möglich sein? – Das war der Augenblick, in dem Grantor zu verstehen begann, was mit ihm geschehen war. Alles war so schnell gegangen, das er sich der Konsequenzen noch nicht bewusst geworden war. Der Kampf in der Hölle war vorbei. Seine beschauliche Existenz inmitten der anderen Dämonen gehörte der Vergangenheit an. Etwas völlig Neues war entstanden. Und er, Grantor, vielleicht der letzte der Brarktanen, war ein Teil davon. Er war mit den Langkas verbunden, befand sich in ihrer Welt … partizipierte an ihrer fast unendlichen Macht. Sie wussten, dass sich ein Fremdkörper in ihrer Nähe aufhielt, doch sie vermochten ihn nicht auszuschalten, wie sie es eigentlich wollten. – weil ich dich beschütze … ich verberge dich … – Der Brarktane lachte dröhnend. Nun, er würde sich schon arrangieren mit dem fremden Teil in sich. Gemeinsam waren sie stärker als je zuvor.
Und eine komplette, neu erschaffene Welt stand ihm offen. Eine Welt, die es zu erobern galt. Die Langkas wollten Frieden und Ruhe? Pech für sie.
Grantor streifte, noch immer unerkannt, durch die Weiten der grauen Welt. Belustigt war er vor dem Museumsfeld stehen geblieben, das die ersten Minuten nach seiner Ankunft in dieser Dimension für die Ewigkeit konserviert hatte und seitdem zugänglich hielt. Sofort waren alle Erinnerungen und Empfindungen wieder spürbar gewesen, als wäre es erst gestern geschehen und nicht schon vor ungezählten Jahrhunderten. Wie hatte sich seit seiner Ankunft alles verändert. Nicht etwa in der Welt, die ihm umgab; diese bestand noch immer aus demselben grauen, schwammartigen Gestein, durch das sich Grantor mühsam voranbewegen musste. Sie war beständig und im Gegensatz zur Hölle niemals einem Wandel unterworfen. Wohl aber hatten sich die Machtverhältnisse verschoben. Oder besser gesagt, sie hatten sich umgekehrt. War er anfangs der im Verborgenen handelnde Eindringling gewesen, so besaß er nun die absolute, unmittelbare und infinite Macht, denn er war unangreifbar für die Langkas. Zwar waren sie nicht direkt seine Sklaven, aber was scherte ihn das? Sie kümmerten sich um ihn, sie versorgten ihn … mehr benötigte er nicht. Zumindest nicht von ihnen. Ein großer Vorteil bestand darin, dass er sich nicht mehr verbergen musste. Zwar begehrten hin und wieder einige Langkas gegen ihn auf, doch was sollten sie ausrichten? Sie konnten ihm nicht schaden und ihn schon gar nicht töten. Es hatte sich als ein seltener Glücksfall erwiesen, dass sich der Bruchteil eines der Ihren in ihm befand. Dieser Umstand schützte ihn perfekt. – brarktane? –, hörte er. Die Stimme gerann neben ihm aus der grauen Materie und tropfte in seine Ohren. Er wandte sich um. Ein Langka hing in einer Blase aus freier Luft. Sie waren oft auf
diese Weise unterwegs, trieben in einem kleinen Vakuum inmitten des schwammigen Materials. »Was willst du?« – eine neue Zucht steht bereit und wartet auf dich – Grantor brummte zufrieden. Er stapfte durch das dickflüssige Grau, das ihn – und alles andere – wie Gelee umgab. Dabei dachte er an die ersten Jahre zurück, ausgelöst durch die Begegnung mit dem Museumsfeld. Schon damals war diese Welt vollendet gewesen, eine formlose Ewigkeit, eine ewige, überall gleiche Masse. Langkas nahmen keine feste Nahrung oder Nährstoffe in irgendeiner Form zu sich; sie benötigten weder Wasser noch Sauerstoff. Grantor als Dämon konnte darauf ebenfalls leicht verzichten. Etwas anderes jedoch hatte er schmerzlich vermisst – sterbliche Opfer und deren Fleisch und Blut, das er verschlingen musste, um bei Kräften zu bleiben. Nur das allgegenwärtige Grau hatte existiert; und das erste Museumsfeld, das den Moment der Ankunft der Langkas in sich konservierte. Ein Nebenprodukt ihres Wissensdurstes, ihre Art, die Vergangenheit niemals in Vergessenheit geraten zu lassen. Als der Brarktane schließlich erkannt hatte, dass es kein Zurück mehr gab, dass er diese von den Langkas erschaffene Dimension nicht wieder verlassen konnte, weil es kein Tor nach draußen mehr gab, hatte er vor einem gewaltigen Problem gestanden. Denn es existierte kein anderes Leben in dieser gesamten Welt als jenes, das von der Hölle herübergewechselt war. Was bedeutete, dass es keinerlei Opfer gab, die er fressen konnte. Plötzlich tauchte etwas vor ihm auf. Ein Bild schwamm inmitten der Materie, formte sich zu plastischer Dreidimensionalität und schickte die in ihm konservierten Erinnerungen direkt in Grantors Verstand. Es handelte sich um ein weiteres Museumsfeld, das von seinen Gedanken angelockt worden war und ihm unerbittlich vor Augen hielt, wie er sich damals gefühlt hatte … und unter welchen Umständen sich die Lage verändert hatte.
Ein Museumsfeld:
Grantor litt Hunger. Und mehr als das: Seine Gier brachte ihn schier um den Verstand. Sie wühlte in ihm. Ließ sein glutflüssiges Inneres aufwallen. In Teilen verzehrte es sich sogar schon selbst. – so kann es nicht weitergehen – Und was sollen wir dagegen tun? – wir verbergen uns nicht länger – Dann werden die anderen Langkas uns … – gar nichts werden sie! – In der Stimme des fremden Teils, das der Brarktane längst als einen Part seiner Selbst ansah, klang überdeutlich Zorn mit. Zorn und grimmige Entschlossenheit. Grantor war bewusst, dass diese ganze Situation unausweichlich auf eine harte Konfrontation zulief – ich löse nun das Schutzfeld um uns auf – Der Gedanke war noch nicht in ihm verhallt, als bereits zehn Langkas in ihren typischen Blasen rund um ihn auftauchten. Sie schwebten im ewigen Grau. – du bist es – wie konntest du es wagen – wie bist du so lange unentdeckt geblieben – er ist nicht Grantor – er ist ein Teil von uns – Grantor spürte, wie sein bewusstes Handeln hinweggefegt wurde. Das andere – das Langka in ihm – übernahm die Herrschaft über seinen Körper. Wo er automatisch fliehen wollte, was wohl völlig chancenlos gewesen wäre, brachte ihn das Fremde dazu, stehen zu bleiben und in Ruhe denjenigen entgegenzublicken, die er als seine eindeutigen Feinde ansah. – wir müssen reden –, dachte das Langka. »Wir müssen reden«, sagte er. Die zehn schwebenden Stöcke verharrten bewegungslos. Obwohl es nicht danach aussah, gingen sie doch zum Angriff über. Eine magische Macht wallte ihm entgegen, versetzte die graue Materie in Schwingung. An einigen Stellen verdampfte sie sogar. Die Schwaden stanken und kondensierten sogleich zu Flüssigkeit, die sich ihre Kanäle schuf. Zum ersten Mal regnete es in der Dimension, die die Langkas sich erschaffen hatten. Das Licht – woher kam es eigentlich?, fragte sich Grantor beiläufig – brach sich an den Tropfen und dem schmalen Rinnsaal, das sich seinen Weg bahnte. Farbige Reflexe blitzten auf. – so nicht – »So nicht«, sagte er. »Ihr vermögt mich nicht zu treffen. Habt ihr vergessen, dass ich zu euch gehöre?« – du gehörst nicht zu uns –
»Mehr noch als das. Ich bin ein Teil von euch. Weil einer von euch sei nen Abdruck in mir hinterlassen hat.« – ich bin hier und ich kann ihn nicht verlassen – Erst in diesem Augenblick verstand der Brarktane in letzter Konsequenz, was geschehen war. Die Langkas konnten ihm nicht schaden, weil ein Langka niemals einem anderen seiner Art Schaden zufügte. Es war ein universelles Gesetz dieser Lebewesen, das unmittelbar mit ihrer Struktur verbunden war. – und was einer von uns weiß, das wissen alle –, hörte er … in sich und von den zehn Wesen. – es gibt keine Täuschung – keinen Grund, etwas zu verbergen – keine Möglichkeit, etwas zu verbergen – keine Chance, etwas zu verbergen – keine Hoffnung, etwas zu verbergen – »Und nun«, sagte Grantor, zum ersten Mal aus freiem Willen und völlig unbeeinflusst, »da die Tatsachen auf dem Tisch liegen, bitte ich euch, mir zu helfen. Nein, mehr noch: ich verlange, dass ihr mir helft.« Für eine nicht messbare Zeitspanne regte sich Widerstand doch er erlosch sofort, und nur ein gedanklicher Widerhall davon blieb zurück. Der Brarktane spürte genau, dass die Langkas ihn hassten, aber keinen Weg fanden, diesen Hass in die Tat umzusetzen, die ihnen vorschwebte. Es stellte sie vor eine ausweglose Situation. Sie müssten den fremden Anteil in ihm austreiben, ihn sozusagen reinigen, doch sie entdeckten keine Möglichkeit, wie dies gelingen konnte. Für Forscherwesen wie sie bedeutete dies eine klare Niederlage. – wir werden dir helfen –, empfing er. – du brauchst Beute – es ist archaisch und entspricht nicht unserem Wesen, aber solange dein schwacher Dämonenkörper einen Teil von uns in sich trägt, halten wir dich am Leben – Grantor lachte dröhnend. In seinem Hinterkopf entstand sofort ein Plan. Er würde nach und nach die Langkas in seine Abhängigkeit zwingen. Sie glaubten, achso allmächtig zu sein? Er würde sie schon bald eines Besseren belehren. Denn er war ein Dämon, und sie nur … nur … was immer sie sein mochten. In seinem ›Garten‹ waren sie gewachsen, und sie würden ihm zu Diensten sein. »Nun denn«, sagte er. »Ich habe Hunger.«
Sie erreichten ihr Ziel. Das Langka, das ihn geführt hatte, verabschiedete sich und trieb in die Höhe davon. Stets gaben sie sich den Anschein, beschäftigt zu sein. Grantor hatte nie verstanden, was sie so Dringendes zu erledigen hatten, in ihrer völlig isolierten Dimension. – sie forschen –, lautete dann immer wieder aufs Neue die stereotype Antwort aus seinem Inneren. Ihm war es gleichgültig. Solange sie nicht seine Wege störten, sollten sie eben Studien treiben, wie schon nach ihrem ersten Erwachen in der Hölle. Die Zucht war dieses Mal besonders gut geraten, fand er. In einer Mulde des ewigen Graus lagen vier Sterbliche. Es handelte sich um Menschen vom Planeten Erde, oder zumindest glichen sie diesen perfekt. Damals, in der Zeit, an die er sich dank des Museumsfeldes gerade noch genau erinnert hatte, hatten die Langkas eine genetische Grundmasse aus dem Nichts erschaffen, aus der nach und nach Körper gewachsen waren. Schon erstaunlich, die Magie der Langkas, er konnte es nicht leugnen. Alles vermochten sie jedoch nicht – einen Fehler besaßen seine Jagdobjekte. Das galt für die Ersten genau wie für alle nachfolgenden Generationen und auch die vier Menschen, die nun vor ihm kauerten. Der Brarktane stampfte näher, in die Mulde hinein, und kappte die glänzenden Tentakel, die in der Leibesmitte der Züchtungen verschwanden. Die Tentakel verschrumpelten sekundenschnell, und die Pseudo-Menschen schlugen die Augen auf. Stumpfsinn glänzte darin. Sie starrten ihn an, warteten auf den grundlegenden Befehl, der ihr kurzes Dasein bestimmen würde. Zu mehr waren sie nicht fähig, denn so genial die Langkas auch zu sein schienen, so war es ihnen doch nie gelungen, den Züchtungen eine Seele oder auch nur mehr als einen rudimentären Verstand zu verleihen. Das machte die Jagd schal, aber immerhin stillte sie seinen körperlichen Hunger. »Flieht«, sagte der Brarktane. Die Vier warfen sich herum, kletterten aus der Mulde und schoben
sich in das zähflüssige Grau hinein, aus dem sie geworden waren und zu dem sich ihre Überreste schon bald wieder gesellen würden. Sie versagten jämmerlich bei ihrer ersten und zugleich letzten Aufgabe. Sogar die einfachsten Regeln missbilligten sie – doch woher sollten sie sie auch kennen? So blieben sie zusammen, alle Vier, und Grantor tötete sie mit einem einzigen Schlag. Ihr Fleisch schmeckte, das Blut ebenso, das konnte er nicht leugnen. Aber das war nicht alles. Wie vermisste er die alten Zeiten in der Hölle, als er zwar müde gewesen war, aber als noch alles … normalen Gesetzmäßigkeiten folgte. Brarktanen liebten die Einsamkeit, sie jagten und fraßen. Einfache Regeln. Doch Grantor konnte sie nicht beherzigen, weil er in einer fremden Dimension gefangen saß, die völlig von allen anderen Welten abgeschüttet war. Ein Elend! Zwar war er zum König dieser Welt aufgestiegen, doch war half ihm das schon? Während er lustlos auf einem Knochen herumkaute und das Mark schlürfte, überkam ihn wieder einmal die Elendsstimmung, die ihm seine Existenz vermieste. Und genau das war der Moment, der nicht nur ihn, sondern auch alle Langkas und sogar das ewig gleiche Grau in helle Aufregung versetzte. Etwas hatte diese Welt betreten! Etwas … anderes. Etwas lange Vermisstes! Er rannte los, stampfte durch alle Hindernisse und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich vor dem Neuankömmling ein Museumsfeld aufbaute, das seine Geschichte erzählte und seine Gedanken und Empfindungen für alle zugänglich machte. Grantor versank darin und nahm im Bruchteil einer Sekunde eine Historie in sich auf, die viele Jahrzehnte und Jahrhunderte in Anspruch genommen hatte.
Ein Museumsfeld: Tief vergraben wartete das Langka im Gestein unterhalb der Hölle. Mal ein Dutzend Meter, mal noch weitaus höher über ihm spielten sich Intri-
gen und Triumphe ab, wurde gejagt und getötet, gequält und dämonisch gelacht. Ihm war es gleichgültig es versuchte zu ignorieren, was sich dort ereignete. Denn es hatte seine eigenen Probleme, und diese waren alles andere als gering. Es war nach wie vor ein Langka, daran gab es keinen Zweifel … aber nicht nur das. Als es den Brarktanen durchstoßen hatte – eine spontane Aktion, die sich im Nachhinein als bitterer Fehler herausstellte –, war etwas in seine ureigene Substanz eingedrungen. Sein Wesen hatte sich mit dem des Dämons vermischt. Ein Teil war aus dem Langka herausgerissen worden, dafür war ein Splitter des Brarktanen in es eingedrungen. Zwei neuartige Lebewesen waren entstanden – ein Langka mit Dämonenanteil, ein Dämon mit einem Splitter des Langka. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, waren die beiden ZwitterKreaturen weiter voneinander getrennt, als es irgend möglich war. Sie hielten sich nicht nur in verschiedenen Welten auf, sondern zu allem Überfluss war die Dimension der Langkas, die diese sich als Heimat erschaffen hatten, völlig von allen anderen Existenzebenen abgeschüttet. Das Weltentor existierte nicht mehr, und es würde mehr als nur schwer werden, ein neues zu errichten. Um nicht zu sagen, es war unmöglich. Und doch wollte das in der Hölle gestrandete, dämonisch verunreinigte Langka eines Tages zu seinen Artgenossen vorstoßen, um sich mit ihnen zu vereinen. Der Weg dorthin jedoch war ein äußerst schwieriger. Weil das Langka an der Erschaffung der fremden Dimension unmittelbar beteiligt gewesen war, hegte es allerdings Hoffnung, unter günstigen Umständen doch noch einen Weg öffnen zu können. Zumindest, falls es jemanden fand der ihm dabei half. Von Seite der Höllenwesen durfte es auf Hilfe nicht hoffen; auch wenn es einen dämonischen Anteil in sich trug. Diesen Splitter des Brarktanen Grantor jedoch unterdrückte das Langka mit Macht, zwängte ihn am Rand seines Bewusstseins ein, ließ ihm keinen Freiraum. Während das Langka im Gestein der Hölle abwartete, versuchte es einen Weg zu finden, diesen dunklen Bewusstseinsteil wieder abzustoßen – sich zu reinigen. Doch ihm kam nie die zündende Idee. Vielleicht fehlte ihm magische Er-
fahrung. Andererseits hatte es zweifellos noch nie eine Situation wie diese gegeben. Zuerst vergingen Wochen, dann Monate, schließlich Jahre und Jahrzehnte. Mit seinen telepathischen Fühlern tastete das Langka hinauf und spürte, wie die Aufregung über die große Höllenschlacht sich auflöste. Die Langkas gerieten bei den Dämonen nach und nach in Vergessenheit; selbst Asmodis dachte kaum noch darüber nach, dass etwas zurückgeblieben sein könnte – wovon er anfangs überzeugt gewesen war, und das völlig zu Recht. Andere Probleme kamen und gingen, und bald – einige Jahrhunderte später – erinnerte sich kaum noch jemand an das, was in einem unbedeutenden Bezirk der Hölle herangewachsen war. Zu dieser Zeit hatte sich das Langka längst mit seinem dunklen Teil, dem Erbe des Brarktanen Grantor, arrangiert. Oder genauer gesagt, es hatte gelernt, den Dämonensplitter zu unterdrücken. Umso mehr vermisste es den Teil, der aus ihm herausgerissen worden war. Es war, als existiere ein hauchdünner Faden – dick nur wie ein Gedanke, ein Hauch von Erinnerung und Verbundenheit. Und diese Schnur bildete einen winzigen Anker zu der anderen Dimension. Außer dem gestrandeten Langka würde niemand jemals ein Tor dorthin öffnen können. Diese Überlegung war es, die das Langka schließlich aus seiner Isolation trieb. Es bohrte sich durch das Gestein in die Höhe, raste kurz wie ein Komet durch die Hölle, sammelte Eindrücke und wechselte schlussendlich auf die Erde. Dort war das Leben kaum noch vergleichbar mit dem, das die Langkas in ihrer Gesamtheit nach ihrem endgültigen Erwachen studiert hatten. Die Menschheit hatte sich auf ganz erstaunliche Weise weiterentwickelt. Strukturen hatten sich herausgebildet. Es gab Mächtige, die über andere geboten. Einen solchen Mächtigen suchte das Langka auf und präsentierte sich ihm; einen Menschen, den die Art dieser Begegnung zwar erstaunte, dessen Geist aber offen war. – hab keine Angst, Orso Orseolo – »Wer oder was bist du?« Schon diese nüchterne Frage zeigte dem Langka, dass es sich den richtigen Partner ausgesucht hatte. Keine nagende Angst oder Dämonenfurcht quälte diesen Menschen, sondern er besaß einen wachen, dem Übernatürlichen gegenüber aufgeschlossenen Geist. – ich bin ein Langka, und ich werde dich von nun an begleiten –
An dieser Art von Zusammenleben fand das Langka Gefallen; es war eine ganz andere Art der Symbiose als etwa mit dem Dämon Grantor; dem dunklen Teil, von dem es sich reinigen musste. Es gab Erklärungen ab, und Orseolo lauschte gebannt. Fortan begleitete das Langka ihn stets, und bald war Orseolo als der Bischof mit dem Stock bekannt, weil sein tölpelhaftes Umfeld nicht in der Lage war, das Langka von einem toten Stück Holz zu unterscheiden. Orseolo war bereit, dem Langka zu helfen, doch auch gemeinsam fanden sie keinen Weg, bis etwas ins Spiel kam, mit dem niemand hatte rechnen können: Eine fremde, wundervolle Rosenmagie. Und wenige Jahre später – ein Augenblick nur in der Existenz des Langka, nicht mehr als ein Hauch – entflammte die Feuerrose, und das Langka sprang zu seinen Artgenossen. Das erste, dem es dort begegnete, waren jedoch nicht diese, sondern die große, scheußliche Gestalt eines Dämons.
Grantor stand vor dem Neuankömmling und verstand sofort, wen er vor sich hatte. Das letzte Langka war ihnen in diese Dimension gefolgt! Jenes mysteriöse Wesen, das seinen Körper durchstoßen und dabei einen Teil von sich in ihm zurückgelassen hatte. Und in dem Langka, verborgen und unterdrückt, pochte und quälte sich ein Brarktanen-Bruchteil. Der Dämon war erschüttert. – ich bin zuhause –, rief das Langka. Noch während Grantor überlegte, was er tun sollte, stürmten die anderen heran. Sie stoppten so abrupt, dass ihre Transportblasen zerplatzten. – du darfst nicht … – Da war es bereits zu spät für die Langkas. Der unterdrückte Dämonenanteil reagierte auf die Nähe seines Ursprungs. Die neu angekommene Kreatur, eben noch voller Freude und Begeisterung, kreischte gequält auf. Der Schrei gellte telepathisch, floss durch das ewige Grau und ließ es gerinnen. Ganze Stränge verhärteten sich, trockneten aus und sackten als Pulver in die Tiefe. Ein Ächzen und Knacken durchdrang alles, als wolle die Welt selbst zerbrechen. Grantor fühlte, wie ihm Kraft zufloss. Feine Nebelschwaden quol-
len aus dem Neuankömmling, verdichteten sich zu einer ektoplasmatischen Gestalt, die die Umrisse eines kleinen Brarktanen annahm. Ein neuer Dämon entstand … ein Kinddämon … Das Langka wand sich vor Schmerzen und Pein. Bei dem magischen Vorgang wurde ihm sämtliche Kraft entzogen. Es würde sterben. Die anderen schrien kollektiv auf. Alles ging sekundenschnell. – geh zurück! – zurück! – du darfst erst wiederkehren, wenn du dich gereinigt hast! – Die Stimmen kamen so schnell und erklangen alle in Einigkeit, dass sie dem Brarktanen wie eine einzige schienen. Vor seinen Augen formte sich der kindliche Brarktane immer deutlicher aus. Das grobschlächtige Gesicht mit den bösen, tückischen Augen, hinter denen große Macht schillerte. Die noch unfertigen Hände, glutflüssig und dampfend. – kann nicht … nicht zurück … – In diesem Moment revoltierten die Langkas gegen Grantor und dessen Herrschaft. Der Grund ihrer Unterwürfigkeit verlor seine Existenzberechtigung, denn sie standen vor einer simplen Wahl – entweder weigerten sie sich wie bisher, gegen den Bruchteil eines der Ihren in dem Brarktanen vorzugehen … oder sie ließen zu, dass ein vollständiges Langka starb. Denn dass das neu angekommene Langka die absonderliche Geburt nicht überleben konnte, stand fest. Der mentale Schrei wurde immer schwächer. Sie flogen in Keilformation auf Grantor zu. Der Dämon fühlte sich gepackt, und es war, als legten sich Zwingen um seinen gesamten Leib, die sich langsam und unerbittlich enger zogen. Schon knirschte und knackte seine Haut und platzte an den ersten Stellen auf. »Was bringt es euch, mich zu töten?«, brüllte er. Die Antwort strömte von allen Seiten auf ihn ein. Wenn es ihn nicht mehr gab, würde vielleicht der notwendige Katalysator für die Geburt des neuen Brarktanen fehlen. Möglicherweise konnte dann das andere Langka überleben. »Ihr begeht einen Fehler! Ihr wisst nicht, ob es so sein wird!« Sein rechter Arm brach zuerst. Hautfetzen flogen wie Steine davon.
»Und ihr tötet den Langka-Teil in mir! Alleine kann er nicht existieren.« – das wissen wir – – doch es ist das kleinere Übel – »Es gibt noch eine andere Möglichkeit! Etwas Besseres!« Über seinen Rücken rann es heiß, und es gelang ihm nicht, die Wunde zu schließen. Die geistige Präsenz des neuen Langkas war nur noch ein Hauch, kaum mehr fühlbar. Seine materielle Gestalt flackerte. Der Kinddämon in Brarktanen-Gestalt jedoch füllte sich mit unheiligem Leben. »Wir alle gemeinsam stoßen das Langka zurück in seine Welt«, brüllte Grantor. Schmerzen wollten ihn mit sich ins Verderben reißen. »Dann können alle weiter existieren!« Die Phase, in der die Langkas nachdachten, umfasste weniger als eine Sekunde. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Dann fällten sie eine Entscheidung. – geh und kehre einst zurück, wenn du dich gereinigt hast! – – und du, Grantor, gib deine Kraft hinzu! – So geschah es. Gemeinsam packten sie mit ihren Kräften und ihrer Magie das Langka, das noch immer über eine hauchdünne Schnur mit der Welt verbunden war, aus der es gekommen war. Die Erde … Grantor spürte sie, roch die Menschen, die Jagdobjekte, die Unzahl an Opfern … er fühlte sich ihnen so nahe, doch das Tor war nicht groß genug, ihn dorthin mitzunehmen. So gab er ebenfalls einen Befehl, an seinen Bruchteil, der in diesem Moment ins Langka zurückkehrte, weil er noch nicht einzeln lebensfähig war. Wie die Langkas dem Ihren die Reinigung befohlen, damit es einst zurückkehren konnte … so trug Grantor dem Seinen auf, auf andere Weise als echter Kinddämon geboren zu werden und das Tor so zu öffnen, dass Grantor auf die Erde überzuwechseln vermochte. Dann schloss sich die Verbindung nach draußen, und die Dimension der Langkas war erneut völlig von allen anderen Welten abgeschüttet.
8 – Die Rose welkt Minette Fleury, das ehemals dunkle Kind, dem in den letzten Tagen und Wochen übel mitgespielt worden war, streckte beide Hände aus, brachte sie zusammen und hob sie leicht an. Es flimmerte kurz, dann entstand das Langka darin. Mit einem tausendfach geübten Griff schloss sich die Rechte darum. Das Mädchen legte das spazierstockähnliche Etwas in ihrem Schoß ab. »Weiß es Bescheid?«, fragte Zamorra. »Es hat alles in meinen Gedanken gelesen.« Nicole stellte sich neben Minette; denselben Beschützerinstinkt hatte der Meister des Übersinnlichen auch bei ihrer ersten Begegnung beobachtet. »Und ist es einverstanden?«, fragte die Französin. »Es gibt keinen Grund, der dagegen spricht«, meinte Minette. »Der Kinddämon ist vernichtet, und damit ist die größte Gefahr gebannt. Das Langka dankt dir dafür ausdrücklich, Zamorra.« Der Parapsychologe grinste. »Nicht der Rede wert.« Nicole verdrehte die Augen. »Macho.« Commissario Cattani ließ ein Seufzen vernehmen. »Können wir endlich zur Sache kommen?« »Später«, sagte Nicole. »Allerdings ohne Sie. Das akzeptieren Sie sicher.« Cattani verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich gehe mit in diese andere Welt, oder was immer das ist, das war ausgemacht und …« »Sie verstehen nicht«, unterbrach Zamorra. »Aber egal … Wir sollten tatsächlich das Tor durchschreiten.« »Ganz so leicht ist es nicht«, widersprach Minette. »Zwar ist der Kinddämon tot und damit gehört, wie ich schon sagte, die schlimmste Gefahr der Vergangenheit an. Aber das Tor muss gänzlich geschlossen werden. Sonst besteht das Problem, dass anderes Übel hindurchdringen könnte. Außerdem lauert etwas auf der gegenüberliegenden Seite, das auf die Erde zurückkehren will.«
»Minette«, sagte Nicole sanft. »Wenn wir dir … und dem Langka … helfen sollen, müssen wir alle Hintergründe kennen.« Der Stock reckte sich in Minettes Händen. Zamorra spürte eine intensive Gedankenflut, und er wusste, dass es seinen beiden Begleitern ebenso ging. »Lasst es zu«, bat das Mädchen für das Langka. Nicole suchte seinen Blick. Der Meister des Übersinnlichen nickte. Und so erfuhren sie binnen Sekunden eine unglaubliche Geschichte aus der Historie des Langkas. Er hörte und erlebte, wie eine dämonische Kreatur namens Grantor über etwas stolperte und sich in der Folge dieses Gebiet der Hölle aneignete. Wie dort das wuchs, was einst angeblich in einem Feuerfall vom Himmel gefallen war, weil es zuvor als Nebenprodukt aus dem Atem gewaltiger Mächte entstanden war, die sich aneinander rieben. An dieser Stelle verklärten sich die Urerinnerungen des Brarktanen und des Langkas, und Zamorra vermutete, dass dem allem eher eine legendenhafte Wahrheit innewohnte. Anders jedoch dem Krieg in der Hölle, der sich zweifellos genauso abgespielt hatte. Ein weiterer Teil deckte sich perfekt mit dem, was Zamorra selbst in Erfahrung gebracht hatte, nur dass er die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erfuhr und nun neue Details erlebte. All das warf ein völlig neues Licht auf die Erlebnisse von Orso Orseolo, dem Bischof mit dem Stock. »Die Gefahr, von der du sprichst«, sagte der Parapsychologe schließlich, »besteht also in diesem Brarktanen-Dämon, der auf die Erde zurückkehren will? Ich gebe gerne zu, dass ich ihn nicht hier sehen will, aber so schrecklich erscheint es mir nicht. Ich bin zuversichtlich, dass wir diesem Wesen den Garaus machen können.« »Unterschätze ihn nicht«, bat Minette. »Er ist nicht mehr nur der Dämon, der er einst war. Er trägt erstens einen Anteil des Langkas in sich, was seine Macht sicherlich potenziert. Und zweitens hatte er viele Jahrhunderte Zeit, diese Macht inzwischen perfekt zu beherrschen. Er besitzt unglaublichen Blutdurst und eine rasende Lust auf die Jagd auf Menschen. Seit einer schieren Ewigkeit existiert er völlig isoliert und wartet nun auch schon wieder sehr lange auf die Rückkehr des Kinddämons.« »Der nie wieder irgendetwas tun wird«, sagte Nicole. »Das Amu-
lett hat ihn vernichtet.« Cattani räusperte sich. »Äh … ich weiß, was ich gerade lautstark gefordert habe, aber wäre es angesichts dieser Umstände nicht besser, wir würden unsere Sachen packen, die andere Dimension eine andere Dimension sein lassen und nach Hause gehen?« »Für Sie wäre das wirklich besser«, sagte Zamorra. »Aber Nicole und ich …« »Und ich!«, ergänzte Minette. »Wir werden das Weltentor nicht halb geöffnet zurücklassen. Sonst öffnet es sich noch durch einen bizarren Zufall oder etwa durch gezielte Intervention von der anderen Seite völlig, und dieser Grantor taucht mitten in ihrem hübschen Venedig auf. Oder würde ihnen das gefallen?« Der Commissario schwieg; er fand wohl keine Möglichkeit zu widersprechen. »Also«, kam Zamorra auf das Wesentliche zurück. »Wir müssen einen Schlachtplan entwickeln. Am wichtigsten ist, dass dieser Super-Brarktane, wenn wir ihn mal so nennen wollen, keinen Weg auf die Erde findet. Sprich: wir müssen ihn vernichten.« – und zwar –, sandte das Langka einen scharfen Impuls, – ohne dass der Langka-Anteil in ihm ebenfalls zerstört wird – »Was wiederum kaum möglich sein wird«, meinte Nicole. »Immerhin versuchen deine Artgenossen das schon seit einer halben Ewigkeit, und es gelingt ihnen nicht. Wie sollten wir es dann gerade mal im Vorübergehen erledigen können?« – du vergisst etwas Entscheidendes – »Und das wäre?« – diesmal werde ich dabei sein, und das Langka-Teil wurde einst mir entrissen – »Was das Langka damit sagen will«, erklärte Minette, »ist ganz einfach. Stets suchte es einen Symbiosepartner … zuletzt mich. Aus dem einfachen Grund, weil ein Teil von ihm fehlte. Und diesen Teil kann es nun möglicherweise finden und wieder mit sich vereinen.« – auf dass ich endlich vollständig werde – »Und dann braucht es mich nicht mehr«, ergänzte Minette. In den Worten klang ebenso Erleichterung wie große Traurigkeit mit.
Sie standen vor der steinernen Feuerrose – dem Weltenportal, das einst das Herz der Märtyrerin Fosca gewesen war, deren Leben und Tod Zamorra in einer Vision miterlebt hatte. Ihm schwindelte, wenn er sich vorstellte, welche Ausmaße dieser zunächst harmlos erscheinende Fall angenommen hatte. Minette Fleury, das Langka, mittelalterliche und tiefe Vergangenheit, ein Krieg in der Hölle, eine fremde, speziell erschaffene Dimension … Cattani tippte mit der Spitze des Zeigefingers vorsichtig auf die versteinerte Rose. Er sah aus, als erwarte er, dass sie förmlich explodieren würde. Tatsächlich jedoch geschah nichts. – dem Kinddämon in Minettes Gestalt gelang eine teilweise Öffnung vor einigen Tagen nur, weil er Anteile von mir in sich trug – »Das soll wohl heißen«, mutmaßte Zamorra, »dass du und niemand sonst in der Lage bist, das Weltentor völlig aufzustoßen?« – nun ja, Minette wird es für mich tun – »Vorher noch eins«, warf der Meister des Übersinnlichen ein. Wer wusste schon, ob noch einmal Zeit bleiben würde, in Ruhe miteinander zu reden. Es kam darauf an, ob ihr Plan aufging oder nicht. Wenn alles funktionierte, würden sie Grantor ordentlich einheizen, mochte er dank des fremden Anteils in ihm auch noch so ein … Super-Dämon sein. Nur leider ging meistens schief, was nur irgendwie schiefgehen konnte. Aus diesem Grund hatten sie die eine oder andere geheime Sicherung eingebaut. »Zum ersten Mal bin ich im Umfeld der Hölle der Unsterblichen auf dich aufmerksam geworden. Du warst der Katalysator dafür, dass Torre Gerret von dort befreit wurde und mit Andrew Millings zu einem Zwitterwesen verschmolz.« »Das ist zwar ein wenig vereinfacht ausgedrückt«, antwortete Minette anstelle des Langkas, »aber im Kern trifft es die Sache.« »Wieso?«, fragte Zamorra. »Weshalb warst du ausgerechnet für diesen Vorgang geeignet und hast ihn angestoßen?« – kannst du dir das nicht denken? – »Wenn er's könnte«, grummelte Commissario Cattani, »würde er wohl kaum fragen. Nicht dass ich auch nur den blassesten Schimmer davon habe, worüber ihr euch gerade unterhaltet.« Er massierte
sich den Hinterkopf. »Ich werde wahrscheinlich ohnehin wahnsinnig, wenn ich mir morgen vorstelle, was heute passiert ist. Allein diese fremden Gedanken in meinem Kopf …« »Man gewöhnt sich dran«, meinte Minette lässig. »Danke, kein Interesse.« Der Meister des Übersinnlichen musste zwar über diesen Dialog grinsen, doch ihm gingen wichtigere Dinge durch den Kopf. »Ich kann es mir nicht denken«, antwortete er provokativ auf die gedanklich gestellte Frage. – ich bin prädestiniert dafür, in Symbiose mit einem zweiten Lebewesen zu existieren, seit ich Grantor in der Hölle durchdrang und Teile unserer Bewusstseine in den jeweils anderen wechselten – »Und es trägt eine starke Magie in sich«, ergänzte Nicole. »Aber gerade die Hölle der Unsterblichen …« Der Parapsychologe seufzte, denn er ahnte, dass er keine Antworten erhalten würde. »In der telepathischen Information war auch die Erinnerung an eine … Legende enthalten, die die Entstehung der Langkas mit der Quelle des Lebens, der Hölle der Unsterblichen und der Schicksalswaage in Zusammenhang bringt. Was hat es damit …« – eine Legende, du sagtest es schon – »Aber solche Überlieferungen gehen meistens auf einen wahren Kern zurück.« – den gibt es auch, aber die Historie ist nicht so einfach, wie du es dir denkst oder erhoffst – »Dennoch will ich verstehen.« – es wird die Zeit kommen, in der du verstehst oder zumindest einen Hauch dessen erhaschst, was die wahre Bedeutung der Dinge ist – »Das genügt mir nicht! Du bist hier, jetzt, und du weißt mehr als …« Ein verärgerter Impuls ließ ihn verstummen, doch der Meister des Übersinnlichen sah nicht ein, einfach zu schweigen. »Du schuldest mir etwas! Ich habe den Kinddämon vernichtet und bin bereit, dir in der anderen Dimension beizustehen, damit du dich wieder mit dem Anteil deiner selbst vereinen kannst, der dir geraubt wurde! Aber ich verlange eine Gegenleistung!« »Ist das die Art, wie du seit Neuestem arbeitest?«, fragte Minette skeptisch.
Zamorra verzog verärgert das Gesicht.* – auch ich kenne die Zukunft nicht exakt, aber ich glaube zu erahnen, dass es nicht mehr lange dauert, bis du mehr über die Quelle und die großen Zusammenhänge deiner Unsterblichkeit erfährst – Er wartete ab, doch es kam nichts mehr nach. – das muss für jetzt genügen – »Das muss für jetzt genügen«, sagte Minette. Offenbar war die Einheit mit dem Langka momentan so stark, dass sie unwillkürlich die gedankliche Botschaft aussprach und auch danach noch direkt zum Sprachrohr des lebenden, in der Hölle gewachsenen Gegenstands wurde. »Begleite mich oder lass es bleiben. Ich werde nun das Tor öffnen.« Nicole legte ihm die Hand auf die Schultern. »Lass es sein.« »Resigniert, Nici? Weil wir schon gewöhnt sind, von Wesen, die mehr wissen als wir, ohnehin keine Antwort zu erhalten?« »Vielleicht gibt es auch Dinge, die wir einfach nicht wissen sollten«, meinte seine Geliebte. Minette schob den Commissario, der noch immer direkt vor der Steinrose stand, sanft beiseite. Dazu musste sie ihn nicht berühren, sondern wandte ihre Parakräfte an – ein Überbleibsel ihrer Symbiose mit dem Langka. »Schön, ich kann meine Kräfte wieder frei benutzen, wie es mir gefällt.« – ich wollte dir nichts Böses, Minette – »Das weiß ich doch.« Spürbare Zärtlichkeit lag in ihrer Stimme. Es schien, als trage sie dem Langka nichts nach. Minette Fleury hob nun ihrerseits die Hand und näherte sie der Steinrose. »Aber … das gibt's doch nicht!«, entfuhr es Cattani. Auch Zamorra verschlug es den Atem – obwohl er sehr wohl wusste, dass es dergleichen gab und obwohl er schon so gut wie alles gesehen hatte. *Die Handlung dieses Romans spielt im Jahr 2008. So falsch liegt das Langka mit seiner Prophezeiung also nicht – noch ahnt Zamorra nicht, dass er schon bald tatsächlich mehr erfahren und die wahre Geschichte der Quelle des Lebens und ihrer Ursprünge in Erfahrung bringen wird.
Die Steinrose verwelkte. Die starren, grauen Blütenblätter schrumpften, bogen sich, fielen in sich zusammen. Eines löste sich und stürzte – im wahrsten Sinne des Wortes – wie ein Stein zu Boden, wo es aufschlug und in der Mitte zerbrach. Der kräftige Blütenkopf zog sich in sich zurück. Feiner Staub wallte auf. »Die Kräfte sind fast verbraucht!«, rief Minette aufgeregt. Zamorra stand neben ihr. »Schaffen wir es trotzdem?« – wir müssen! – Das Amulett regte sich nicht. Es wurde keinerlei schwarze Magie wirksam, gegen die es vorgehen könnte. »Kann ich euch irgendwie unterstützen?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. Minette ächzte. Sie drehte sich zu ihm um. Ein feiner Blutfaden rann aus ihrem linken Nasenloch. Ihre Lippen bebten. »Weniger …«, brachte sie mühsam heraus. »Nicht … Cattani …« Er warf Nicole einen Blick zu, die sich um den Commissario kümmern würde; ihm blieb schlicht keine Zeit für lange Diskussionen. Minette schrie, als aus dem verwelkten Stein eine Flamme schoss. Knisternd breitete sie sich aus, leckte über die Kirchenmauer und wehte in Form einer Lohe auf Zamorra und Minette zu. Das Langka hüpfte in ihrer Hand. Für einen Augenblick sah Zamorra das blonde Mädchen, von Flammen umhüllt, statt dem Langka eine Rose in der Hand, die ein letztes Mal erblühte, und er hörte die Stimme der Märtyrerin Fosca, die ihnen alles Glück der Welt wünschte und schließlich für immer verwehte. Dann umwehten die Flammen auch ihn.
9 – Gegenwart: Die Hoffnung des Brarktanen Grantor beendete eine Mahlzeit. Sie war nahrhaft, aber zugleich schal wie immer. Er kratzte eine Sehne zwischen den Zähnen heraus, fuhr sich mit der reibeisenartigen Zunge über die Reißzähne und spuckte einige geronnene Tropfen Blut aus. Ein weiterer Kreislauf in der Langka-Dimension war beendet. Der wievielte wohl? Er trottete davon. Inzwischen wusste er, auf welche Art die Langkas forschten: in magischen Feldern warfen sie Blicke in andere Welten, ohne dass eine echte Verbindung dorthin zustande kam. Sie konnten nur sehen, Daten sammeln, in ihren Köpfen katalogisieren und miteinander in Beziehung setzen. Langweilig. Für die Langkas jedoch schien es das Höchste zu sein, die Erfüllung ihres Daseins. Seit er es herausgefunden hatte, waren sie für ihn nicht mehr wert als die teuflischen Archivare, wenngleich sie weitaus mächtiger waren. Doch was nutzte diese Macht? Nichts, solange sie sich verkrochen und ihn auch noch gefangen hielten. Sie gaben sich unterwürfig und versorgten ihn mit ständig neuen Züchtungen, doch insgeheim vermutete der Brarktane, dass sie auch ihn beobachteten, ihre Studien durchführten und mehr über ihn wussten als er selbst. Vielleicht trachteten sie danach, ihn eines Tages doch noch zu hintergehen und den Langka-Anteil aus ihm zu entfernen, auf eine Art und Weise, dass dieser lebensfähig blieb. Sollten sie es nur versuchen. In dieser Hinsicht war Grantor weitaus schlauer als sie – man konnte dieses fremde Etwas nicht aus ihm extrahieren, solange dessen Ursprungs-Langka nicht aufnahmefähig bereitstand. Und dieses wiederum vermochte nicht in diese
Dimension zu gelangen, ohne dass der Kinddämon aufs Neue materialisieren würde, was eindeutig zum Tod des Langkas führen würde. Ein klassisches Patt, an dessen Voraussetzungen sich auch niemals etwas ändern würde. Zumindest nicht im Sinne der Langkas, die akribisch darauf bedacht waren, dass weder ihr Artgenosse noch dessen abgetrennter Teil starben. Der Brarktane hegte derlei Skrupel nicht, was ihn in eine weitaus bessere Ausgangsposition versetzte. Doch auch er konnte nicht tätig werden, ehe der Kinddämon zu ihm zurückkehrte. Wofür es keinerlei Anzeichen gab. Er hatte das alles schon tausendmal durchdacht. Der springende Punkt war das Verhalten des Langkas in der anderen Welt. Grantor war nach wie vor überzeugt, dass die Aufgabe, die die übrigen Langkas ihm erteilt hatten – reinige dich! – nicht erfüllbar war, sonst wäre es längst geschehen. Grantors Anteil saß unlösbar fest in dem Langka. Ebenso wenig schien es dem Kinddämon allerdings zu gelingen, das Weltentor erneut zu aktivieren, um dann durch es … Er stockte. Es traf ihn wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Etwas tat sich. Es geschah! Direkt vor ihm wallte die graue, geleeförmige Masse, schob sich von einem punktförmigen Zentrum aus explosionsartig zur Seite. Der Brarktane erbebte. Seine lang gehegte Hoffnung erfüllte sich. Dies war der Moment aller Momente. Das Ende stand bevor. Die Entscheidung! Es dauerte nicht lange, bis von allen Seiten die Langkas heranrasten. Längst waren es unzählig viele geworden. Wie sie sich vermehrten, hatte er nie herausgefunden, nur manchmal die unfertigen Gedanken von knospendem, wachsendem Leben zu erhaschen geglaubt. Irgendwo musste es ein Feld geben, in dem sie gediehen und die Lebenskraft und Energie aus dieser Welt saugte, deren Materie natürlich die besten Bedingungen für sie bot … schließlich war sie exakt zu diesem Zweck erschaffen worden. In Form einer vielblättrigen Rose riss die Wirklichkeit auf. Ein Loch stanzte sich in die Welt. Darin brodelte es, und Feuer-
flammen tanzten einen irrsinnigen Reigen. Schwarzer Qualm drang als erstes hervor, gefolgt von Gesteinsstaub, der orkanartig hinauspreschte und wie tausend Kugeln gegen Grantors Leib prasselte, ohne auch nur den geringsten Schaden anrichten zu können. Doch aus dem Weltentor stieg nicht etwa das Langka samt des Kinddämons … … sondern das, was er am allerwenigsten erwartet hätte: Ein Mädchen.
10 – Wie Rosenblätter im Wind Professor Zamorra brannte. Er hob die Hand. Flammen tanzten auf den Fingern. Die Nägel glühten, dass die Knochen durchschienen. Doch er fühlte keinerlei Schmerz, und das Feuer versengte ihn nicht. Er wirbelte durch eine brennende Welt, oder durch einen Schlauch, der ihn erst in eine Welt bringen würde. Momentan war er nirgendwo und überall: In der Rosenmagie der Märtyrerin, in der Kraft des Langkas, auf der Erde, der Langka-Dimension und in tausend anderen Welten, die mit Spinnenfingern nach ihm griffen. Es zog ihn hierhin, zerrte ihn dorthin. Er drohte sich zu verlieren, sich in hundert Daseinsformen gleichzeitig zu zerreißen, die ätzend und gierig seine einzelnen Glieder in sich aufsaugen wollten. Die Flammen wurden heller, das Licht, das sie verströmten, greller. Er sah die sieben Kreise der Hölle, und da verstand er: Auf den Weltentunnel griffen all jene Bereiche des Multiversums zu, in die die Langkas schon einmal einen Blick geworfen hatten. Und das waren nicht nur Tausende, sondern ungezählte Myriaden. Und jede einzelne wollte den Meister des Übersinnlichen ergreifen und an sich ziehen. Und nicht nur ihn. Nicht nur ihn … Er trieb weiter, versuchte sich zu widersetzen, aber es gelang nicht. Schon fühlte er, wie es an seinem Körper riss, als solle er nicht nur gevierteilt, sondern in unzählige Fetzen gerissen werden. Die lodernden Flammen schienen krallenartige Klauen auszubilden, die sich in ihn hinein bohrten. Nun fühlte auch er die Hitze, schrie, als sich die Haut von seinem Fleisch, das Fleisch von den Knochen löste. In höchster Not dachte er an das Amulett, wartete darauf, dass es sich aktivierte, dass es die Pein beendet, den Angriff abschmetterte.
Er wollte danach greifen, um Hieroglyphen zu verschieben, doch seine Finger waren nicht mehr als brennende Holzscheite, in denen es knisterte, dass Funken sprühten und sich in den Weiten des Multiversums verloren. »Bleib hier«, hörte er eine ruhige Stimme. – bleib hier! – Minettes Gesicht war schön und engelhaft, die Haare leuchteten im Feuer. Die Augen bildeten einen Ruhepol, wie er perfekter und harmonischer nicht sein konnte. In den Pupillen schwebte das winzige Abbild des Langkas. »Du brauchst …« – du brauchst keine – »… keine Angst zu haben.« – angst zu haben – Eine Hand streckte sich ihm entgegen, und als einziges in weitem Umkreis brannte sie nicht, sondern war nur von Feuer umgeben. Der Schmerz ließ nach, als Minette ihn berührte. Die Feuerkrallen ließen von ihm ab, die fremden Welten verblassten und verloren ihre dunkle Anziehungskraft. Nur noch ein einziges Ziel stand klar vor ihnen. »Wann endet es?«, fragte der Parapsychologe. »Wann sind wir endlich da?« »Wann?« – wann? welch eine – »seltsame Frage. Es gibt« – kein Wann – »Was soll das heißen?« – es vergeht keine Zeit – »Wir sind in einem einzigen Augenblick in der Dimension der Langkas, schneller als ein Blinzeln.« – doch du fühlst – »Doch du fühlst so intensiv wie ein Langka jeden Moment seines Daseins fühlt.« – so intensiv, wie ein Langka jeden Moment seines Daseins fühlt – Zamorra ergriff nun auch Minettes Hand, umschloss sie mit seinen eigenen Fingern. Tiefer Friede strahlte von ihr aus, und die Gewissheit, dies alles beenden zu können. – meine Erfüllung steht bevor – Diesmal waren die Gedanken des Mädchens klar von denen des Langkas abgetrennt. Mehr noch, der fein geschwungene Mund formte die Worte: »Denk daran, was wir ausgemacht haben, Zamorra. Weiche keinen Millimeter von den Wegen des Planes ab, und es wird gelingen.«
»Es ist anders«, sagte der Meister des Übersinnlichen. »Ganz anders als ich sonst zu handeln pflege.« – dann lerne es, anderen zu vertrauen – »Darauf hin ich schon lange angewiesen. Alleine könnte ich es niemals schaffen, gegen die Höllenmächte zu bestehen.« »Dann wirst du nun lernen«, sagte Minette, »mir zu vertrauen und dem Langka ebenso. Bist du bereit?« »Ich bin bereit«, versicherte Zamorra, und das Feuer erlosch. Ein schwarzes Loch tauchte vor ihm auf. Die Ränder rasten und wirbelten und sogen alles auf, was sich ihm näherte. Tentakelarme aus geronnener Dunkelheit griffen nach Minette, das glatte Gegenteil der Feuerpassage, und sie erfassten ihn und rissen ihn mit sich.
Das Langka schwebte neben Minette. – ich bin zuhause – Sie freute sich mit ihm, doch es gab keinen Grund zur Wiedersehensfreude. Noch nicht. Eine mächtige Gestalt wie ein Steinkoloss ragte vor ihr in die Höhe, stand wie alles andere in einem grauen Gelee, das diese Welt nicht nur füllte, sondern sie ureigen erschaffen hatte und sie wie Wasser umgab. Der Brarktane schrie auf, als er das Langka erkannte … und fühlte, dass es gereinigt war. »Wo ist der Kinddämon?«, brüllte er mit einer Stimme, die klang, als würden Steine aneinanderreiben. »Ich habe ihn getötet«, dehnte Minette die Wahrheit. In Wirklichkeit stand dieser Verdienst Zamorra zu, dem das Werk mithilfe des Amuletts gelungen war. Grantor rannte los, auf das Mädchen zu, das eiskalt stehen blieb. Das Langka stellte sich vor sie, und der Dämon kam keinen Schritt mehr näher, obwohl er unablässig weiterstürmte. Im Augenwinkel sah Minette eine Bewegung. Zamorra hatte sein Ziel ebenfalls erreicht. Er trat aus dem Weltentor, das hinter ihm in dunkler Schwärze wirbelte. Winzig, wie in ewiger Ferne, waren darin die lodernden Flammen der Passage zu erkennen. Bald würden sie kollabieren, weil Foscas Magie aufgebraucht war. Nur noch wenige Minuten, und auch diese Passage, die letzte Verbindung zur Dimension der Langkas, würde der Geschichte angehören. Dann
hatten die Langkas endlich erreicht, was sie von Anfang an angestrebt hatten: Freiheit und Einsamkeit … und keines von ihnen würde noch fehlen. Minettes Langka setzte sich ansatzlos in Bewegung, raste auf den Brarktanen zu, und genau wie vor Jahrhunderten schmetterte es mitten in den Leib des Dämons, bohrte sich durch die steinerne Haut und durchdrang das glutflüssige Innere. Doch dieses Mal verlor es keinen Teil von sich wie während der ersten Passage. Stattdessen holte es sich zurück, was ihm gehörte. – es ist vollbracht! ich bin ich und ich bin vollständig – Professor Zamorra rannte auf den wankenden Dämon zu, hinter dem ein Kreis aus Langkas entstand, die ihre Spitzen auf den Brarktanen ausrichteten. – nimm ihn mit dir aus unserer Welt hinweg – wir wollen keine Verunreinigung mehr – »Ihr habt eure Reinheit verdient«, sagte Zamorra. Die Silberscheibe in seiner Hand war nicht nur leicht erwärmt, sie glühte fast. Feine Silberblitze zuckten über ihre Oberfläche. Zamorra versuchte mit aller Gewalt, das Amulett von einem direkten Angriff abzuhalten. Es wäre ihm nicht gelungen, wenn Minette nicht zusätzlich ein Dämpfungsfeld darübergelegt hätte, mit dem sie den schwarzmagischen Einfluss weitgehend neutralisierte. Grantor presste die Pranken gegen das Loch in seinem Körper, aus dem ein orangeglühender Schleim rann. »Auf Wiedersehen«, sagte Minette. – ich werde dich nie vergessen – Der Dämon wollte fliehen, doch die Langkas erschufen eine unsichtbare Wand und stießen ihn auf das noch geöffnete, aber bereits flackernde Weltentor zu. Staunend sah der Meister des Übersinnlichen zu, wie sich der mächtige Körper erhob und wild um sich schlagend auf die Passage zuflog. Zamorra selbst war nur als Absicherung mitgekommen, damit er mit dem Amulett angreifen konnte, falls es sich als nötig erweisen würde. Doch davon konnte keine Rede sein. Die Langkas und Minette hatten die Situation perfekt unter Kontrolle, und das Mädchen würde für eine sichere Rückpassage sorgen. Grantor stürzte zuerst in die Öffnung, Zamorra sprang hinterher,
und das Mädchen folgte nur Sekunden später. Die Dimension der fremdartigen Wesen blieb zurück.
»Die Verbindung ist nun für immer gekappt«, sagte Minette. Feuerflammen umgaben sie. Feuer, in dem Zamorra brannte, ohne Schaden zu erleiden … Feuer, in dem sich der Dämon wand und schrie, während sein Körper verzehrt wurde. Die höllischen Augen in dem Steinkopf schmolzen und verdampften. »Wie geht es dir?«, fragte der Meister des Übersinnlichen. Er trieb weiter, der Erde entgegen, und obwohl er diesmal wusste, dass keine Zeit verging, änderte das nichts an seinem Empfinden, dass es sehr wohl so war. »Weil ich mich von dem Langka getrennt habe?«, fragte Minette. »Du musst einsam sein.« Sie lachte. »Das bin ich. Und doch bin ich froh. Zu viel Schlimmes habe ich erlebt. Und es hat sich so gefreut, als es den verlorenen Teil in sich aufnahm und seine Heimat erreicht hat.« »Also bist du glücklich?« Sie nickte. Neben ihr zerplatzte der Dämon in tausend Fetzen. »Ich bin glücklicher als je zuvor.« »Willst du mit uns auf Château Montagne kommen? Wir können dir …« »Ich will nicht zurück auf die Erde«, unterbrach sie. »Was hat sie mir noch zu bieten, nun, da ich so viel Herrlicheres gesehen habe?« »Herrliches?«, fragte Zamorra. »Die graue Welt der Langkas?« »Du hast sie nur mit deinen Augen gesehen, ich jedoch auch mit den Sinnen meines Langkas.« Er dachte kurz nach. »Dem kann ich wohl nicht widersprechen. Aber du weißt, dass du stets willkommen sein wirst, wenn du bei uns vor der Tür stehst. Was auch immer das Schicksal für dich bereithalten mag.« »Auf Wiedersehen, Zamorra«, sagte Minette Fleury. Ihre Augen strahlten. »Du hast den Ausgang erreicht. Ich wähle einen anderen.« »Welchen?« »Einen, der in eine der zahllosen Welten führt, in die die Langkas
schon einmal einen Blick geworfen haben. Ich habe unendlich viele Möglichkeiten.« Sie lächelte, ein letztes Mal, dann fühlte sich Professor Zamorra gepackt und hinweggerissen. Er landete in den Armen von Nicole Duval. »Es ist vorbei«, sagte er. Hinter ihm schloss sich das Dimensionstor. Etwas Staub rieselte heraus. Das Letzte, das noch an einen Brarktanen namens Grantor erinnerte, der das Schicksal vieler Welten und Wesen beeinflusst hatte. »Und Minette?«, fragte Nicole. »Sie ist glücklich.« Zamorra atmete tief durch. »Das muss genügen.«
Epilog – Minettes Mythos Es gibt eine Sage, meine Lieben, von einer Frau, die auch ein Mädchen ist. Sie durchstreift die Weiten und Welten, und sie wacht über die Kinder, die Angst haben. So wie ihr. Das wissen wir, das wissen wir doch. Aber wisst ihr auch, dass das Mädchen viel schlimmere Angst durchlitten hat als ihr? Sie ging durch Feuer und Tod, und sie hat schon mehr Kindern geholfen als euch. Auch auf euch passt sie auf. Tut sie das wirklich? Aber meine Lieben … fühlt ihr denn nicht, wie ich über eure Köpfe streiche? So echt wie meine Hand ist auch das dunkle Kind. Wieso heißt es das dunkle Kind? Das klingt so unheimlich. Weil sie die Dunkelheit kennt. Sie hat sie gefühlt, hat sie sogar in sich getragen, doch sie hat sie besiegt und ist nun glücklich und froh. Sie wandert und hilft, und sie lehrt auch euch, meine Lieben, dass ihr das Dunkle besiegen könnt, wenn ihr nur wollt. Also geht zum Licht, geht dahin, wo es hell ist. Das tun wir gern … aber wie ist der Name des Mädchens? Den hast du uns nie verraten! Weil er ein Geheimnis ist, und Geheimnisse sind wichtig. So schlaft nun schön, und träumt. Wir können nicht schlafen, weil wir rätseln. Wir würden so gern den Namen wissen. Eines Tages … wer weiß … wird das dunkle Kind vielleicht auch zu euch kommen mit seinem Licht und dann wird es euch seinen Namen nennen. Kennst du ihn? Hast du es einmal getroffen? Wer weiß, meine Lieben. Hast du? Hast du? Sag, warum lächelst du so fein?
Nachwort der Autoren Wir wollten Minettes Geschichte eigentlich in diesem Buch beenden. Tatsächlich! Das wollten wir! Aber wie handelt der brave Autor für gewöhnlich, wenn seine Figuren ein Eigenleben entwickeln? Richtig. Die Story der Langkas ist erzählt, aber die von Minette … wer weiß. Als wir, Christian M. und Christian S. vor kurzem zum letzten Mal wegen dieses Romans telefonierten, da sagte plötzlich einer von uns (wer es war, ist im Dunkel der Historie verschwunden), dass man doch vielleicht ein weiteres Mal … Minette erweist sich als störrisch. Sie hat sich in unseren Gedanken festgesetzt, und es würde uns nicht wundern, wenn sie eines Tages wieder daraus hervortritt und ihr Lächeln aufsetzt, diesmal ohne das Langka in der Hand, und einen von uns keck ansieht: »Na?« Levertsweiler und Wattenheim, im November 2010 Christian Schwarz und Christian Montillon