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Senait G. Mehari Feuerherz »Jetzt, nachdem ich all das niedergeschrieben habe, bin ich frei. Dieses Buch wird meinem Leben Frieden bringen. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist hart. Ich will aber nicht, dass die Menschen, die dieses Buch lesen, nur das Schreckliche sehen. Ich will, dass bei der Lektüre eine Tür aufgeht. Dass ein Licht zu sehen ist, eine Hoffnung.« Senait Das Kind aus dem Koffer Als ich zum ersten Mal aus dem Haus meiner Großeltern in das staubige Gässchen zwischen den windschiefen, einstöckigen Häusern trat, liefen die Nachbarskinder zusammen und schrien sich die Kehlen heiser: »Senait, Kofferkind!« — »Das Kind aus dem Koffer ist da!« Die Kinder brüllten aus Leibeskräften, und ich war schockiert, doch sie wussten genausowenig wie ich, was das bedeuten sollte »Kind aus dem Koffer«. Sie plapperten nur nach, was sie bei den Erwachsenen aufgeschnappt hatten. Erst viel später erfuhr ich, warum sie mich so nannten. Kurz nach meiner Geburt war meine Mutter verzweifelt. Adhanet war neu in Asmara, mein Vater wollte weder von ihr noch von mir etwas wissen. Das Geld war knapp, sie war bereits Mutter dreier Kinder: Zwei kamen aus einer unglücklich geschiedenen Ehe und eines aus der Ehe mit meinem Vater, die schon vor meiner Geburt in die Brüche gegangen war. Zu allem Überfluss stammt die Familie meines Vaters aus einer Kleinstadt im Hochland Eritreas, aus Adi Keyh. Die Familie meiner Mutter kommt dagegen aus Äthiopien, aus Addis Abeba. Das war damals eine denkbar ungünstige Konstellation: Die beiden Völker — Eritrea war damals noch eine Provinz Äthiopiens lagen seit fünfzehn Jahren miteinander im Krieg, und ein »gemischtes« Kind bedeutete eine Schande für die Mutter, den Vater und für das Kind selbst. Ich, das Neugeborene, war ihr also aus einigen Gründen zuviel. Ein paar Wochen nach meiner Geburt reifte in ihr der Entschluss, mich loszuwerden. Selbst Hand an mich zu legen, wagte sie nicht, also beschloss sie, mich in einem halbherzigen Mittelding zwischen Mordversuch und Kindesweglegung meinem Schicksal zu überlassen. Sie zog mich wie jeden Tag an, packte mich in einen Koffer und machte den Deckel zu. Dann verstaute sie den Koffer auf einem Schrank und ging hinunter in die Stadt. Die Nachbarin hörte mein Gewimmer und wunderte sich, warum meine Mutter nicht einschritt. Sie kam in unser Haus und hörte mich weinen, aber sie fand mich nicht. 11 Sie dachte, es sei etwas Schreckliches passiert, und lief kreischend weg, die Straße hinauf zur nahen Polizeiwache. Die Polizisten wollten erst nicht mitkommen, weil sie der hysterisch schreienden Frau keinen Glauben schenkten. Die ließ aber nicht locker, bis sich zwei Beamte mit ihr auf den Weg machten. Schließlich fanden sie mich in einem verschlossenen Koffer, den meine Mutter unters Bett geschoben hatte. Ich litt schon unter arger Atemnot, als sie mich befreiten. Die Polizisten brachten mich in das staatliche Waisenhaus, das »Orfan«, und meine Mutter nahmen sie fest, sobald sie nach Hause kam. Adhanet wanderte wegen versuchten Kindsmordes für sechs Jahre ins Gefängnis. Ein von den Nachbarn herbeigerufener Zeitungsreporter schoss ein Foto von mir, und am nächsten Morgen gab es mein Bild auf der Titelseite der Tageszeitung von Asmara zu sehen. Die Legende vom »Kind aus dem Koffer« war geboren. 12 Orfan Die erste Erinnerung meines Lebens: Ich saß mit einer Schwester aus dem Waisenhaus im Schatten auf den Stufen der hölzernen Veranda vor der Baracke, in der wir wohnten. Die Hitze flirrte in dem verdorrten Garten und über der steinigen Ebene dahinter. Am Horizont war verschwommen eine Bergkette zu ahnen. Vom Holz der Brüstung blätterte der Lack, den wir gerne abkratzten und zwischen den Fingern zerrieben, bis sie ganz bunt waren. Die anderen Kinder hielten drinnen ihren Mittagsschlaf. »Warum gibt es Löwen und Affen?« fragte ich die Schwester. Sie sah mich überrascht an. »Die hat unser Führer für uns gemacht«, sagte sie nach einigem Nachdenken. Ich staunte. »Unser Führer hat die Löwen gemacht und alle anderen Dinge auch«, fuhr die Frau fort, »alle Tiere, alle Pflanzen. Alle Häuser. Unser Führer sorgt für uns.« Sie sprach nicht von Gott, weder von dem der Christen noch von Allah, sondern von Mengistu Haile Mariam, dem kommunistischen Staatschef Äthiopiens. Ich lebte im Orfan, dem Waisenhaus von Asmara. Es war ein staatliches Waisenhaus, und der Staat hieß damals Äthiopien, denn von einem unabhängigen Eritrea war noch lange keine Rede. Das gibt es erst seit 1991, doch die Episode auf den Stufen spielt ungefähr im Jahr 1977. Damals war ich drei Jahre alt, und die Schwestern
sagten zu uns: »Euer Gott heißt Mengistu.« »Er hat die Löwen gemacht, um Bösewichter zu bestrafen«, fügte die Schwester mit drohendem Unterton hinzu, »damit sie Angst kriegen.« Was sie sagte, machte mir angst, und weil ich so riesige Angst hatte, dachte ich, dass ich sicher böse bin, und ich schämte mich dafür, unverzüglich und abgrundtief. Die Schwester wusste nicht, dass sie die Weichen für die zwei vorherrschenden Gefühle meiner Kindheit und Jugend gestellt hatte: Angst und Scham. Dennoch liebte ich es, auf den Stufen dieser Veranda zu sitzen, denn von hier aus war die Weite zu sehen. Ich starrte fasziniert auf die unendlich scheinende Fläche aus Steinen, Sand und Gestrüpp. Hier war der Wind zu spüren, der oft von den Bergen her über die Ebene von 13 Asmara strich. Hier roch es nach Staub, nach Kameldung, nach den Feuern der Karawanen, die draußen vor der Stadt lagerten. Hier schmeckte alles nach Ferne und Abenteuer. Vor dieser Terrasse stand kein Haus mehr, hier hatte man die Stadt Asmara im Rücken und die Wüste vor sich. Abends sahen wir den Kamelen nach, wie sie auf der staubigen Straße in langen Karawanen mit bedächtig wiegenden Schritten aus der Stadt hinauszogen. Eins hinter dem anderen gingen die Kamele, alle hoch bepackt und mit bunten Bändern geschmückt. Die Treiber liefen dicht daneben her, schwangen große Stöcke über ihren Köpfen und feuerten die Tiere mit kehligen Rufen an. Nachts hörten wir die Hyänen heulen. Chöre von Tieren, die wir nur selten und aus weiter Ferne zu Gesicht bekamen. Dafür konnten wir um so mehr von ihnen hören: ihr Heulen, Kläffen, Lachen, Jaulen, Knurren, Bellen, Pfeifen. Die mageren struppigen Tiere hatten es auf die Abfälle aus unserer Küche abgesehen. Auch die Löwen rochen unser Essen und den Müllhaufen hinter dem Haus. Sie kamen vor allem während der Dämmerung oder in der Dunkelheit. Dann konnten wir nur ihre Schatten erahnen. Dass sie da waren, merkten wir an unseren Katzen. Die Tiere, die sonst immer vor dem Haus lungerten, verschwanden plötzlich mit eingezogenen Schwänzen unter der Veranda oder in den dichten Büschen daneben. Löwen galten immer als Bedrohung für uns. »Geht nicht aus dem Garten raus«, sagten die Schwestern, »sonst holen euch die Löwen.« Die Ermahnung war kaum notwendig, weil wir sogar vor den kleinen Äffchen Schiss hatten, die in den Bäumen im Garten turnten. Wir blieben also freiwillig im mittleren Teil des Gartens, immer zwischen den Holzbaracken, in denen wir wohnten, und dem riesengroßen Haus daneben. Das war das Krankenhaus, ein Gebäude aus der italienischen Kolonialzeit mit haushohen Fenstern und einer langen Freitreppe. Zwischen diesen Gebäuden lagen der Garten, die Oleanderhecken, die Gemüsebeete, undurchdringliches Gestrüpp, ein Fußballplatz und unsere Spielgeräte, eine Schaukel und eine Rutsche aus bunt bemalten Eisenstangen. Hier spielten wir mit Steinen, die wir auf dem Boden fanden, mit Zweigen, die wir von den Büschen brachen, und mit Gefäßen, die wir aus alten Dosen oder anderen kaputten Be 14 haiuiisser cW Rrw^rhsenenweit bastelten. Manchmal jr^ufceii wir miteinander oder umarmten uns. Wir konnten auch stundenlang aneinandergepresst in einem Versteck liegen, oder wir liefen eng umschlungen durch den Garten oder tanzten zu einer Musik, die nur in unseren Köpfen klang. Am liebsten spielten wir auf der Veranda. An deren Pfosten hingen wir an selbstgeflochtenen Schnüren unsere aus zusammengebundenen Lumpen gemachten Bälle auf, die wir mit Fäusten schlugen und mit den Füßen traten. Stundenlang, ohne müde zu werden, ließen wir sie tanzen. Die Bälle flogen weg, wurden von den Schnüren zurückgerissen, erhielten den nächsten Schlag, flogen, kamen zurück, noch einen Schlag ... so konnte das den halben Tag gehen. Das staatliche Kinderheim »Orfan«, in dem ich meine ersten beiden Lebensjahre verbrachte 15 Die Eierdiebin Wir waren fast immer draußen, außer zum Schlafen und zum Essen. Die Mahlzeiten nahmen wir in einem Raum neben der Küche ein. Dort saßen wir Kinder immer unter dem Bild einer wunderschönen weißen Frau mit goldenen Haaren. Das war eine Frau, wie ich sie in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Sie sah immer auf uns Kinder herunter. Die Oberschwester hatte gesagt, die Frau würde aufpassen und alles sehen, was wir tun. Manchmal wandte sie sogar den Kopf und sah mir nach, wenn ich versuchte, mich voller schlechtem Gewissen davonzustehlen, weil ich irgend etwas angestellt hatte. Da war sie wieder, die Angst. Und die Scham. Zum Beispiel wegen der Eier: Manchmal bekamen wir am Abend ein hart gekochtes Ei. Das war immer ein Festessen für uns. »Wer zu spät kommt, dem isst die Frau das Ei weg«, sagte die Oberschwester. Ich beeilte mich, so gut es ging, um kein Ei zu verpassen, aber ein paar Mal war ich doch zu spät — und tatsächlich war das Ei dann weg. Ich heulte und guckte dabei immer diese Frau an, ob etwas zu sehen wäre. Aber gerade dann bewegte sie sich nicht, sondern sah starr in die Ferne und tat so, als würde sie mich nicht beachten. In diesen Momenten mochte ich sie nicht. Ich hasste sie sogar, obwohl uns die Schwestern stets einzutrichtern versuchten, wir sollten die Frau ganz liebhaben. Warum solte ich sie lieben, wo sie mir doch meine Eier klaute?
Eines Tages nahm ich mir vor, sie lange und genau zu beobachten, um ihr auf die Schliche zu kommen. Ich wollte wissen, wie sie das anstellte — Eierdiebstahl aus einem Bild heraus, hoch oben in einer Ecke des Raumes. Unauffällig stellte ich mein Ei vom Abend vorher, das ich heimlich aufgehoben hatte, im Vorbeigehen auf den Tisch. Dann schlich ich mich zurück in den Raum, verbarg mich hinter einem Tisch und wartete und wartete, aber nichts geschah. Die fremde weiße Frau regte sich nicht. Plötzlich kam eine der Kinderschwestern herein, eine Afrikanerin, die die meisten von uns nicht mochten. Sie entdeckte mein Ei und sackte es kurzerhand ein. Mein Ei, das ich an diesem Tag als Köder für die weiße Frau geopfert hatte! Wie enttäuscht ich war! Ich schoss sofort nach draußen, um den anderen Kindern von 16 en Entdeckung zu erzählen. Aber sie glaubten mir kein Wort. Ich war zutiefst getroffen, beleidigt und verunsichert — schließlich hatte ich die gemeine Tat mit eigenen Augen gesehen! Ich begrub die Sache in meinem Herzen und nahm mir vor, nie mehr zu spät zum Essen zu kommen. Der Tod in der Flasche Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich im Orfan. Helen war schon im ersten Schulalter, und obwohl sie deutlich älter war, verbrachte ich viel Zeit mit ihr. Sie lag in dem großen Krankenhausgebäude gleich neben unseren Wohnbaracken. Wir konnten immer in das Krankenhaus hinein, weil dort unser Essensraum war die Baracken dienten nur zum Schlafen. Helen lag in einem großen Bett, neben dem eine lange Stange stand. Daran hing eine Flasche, und aus dieser Flasche tropfte durch einen Schlauch Wasser in das Mädchen hinein. Es sah zumindest aus wie Wasser. Mich faszinierte diese Apparatur, und ich verfolgte gespannt, wie Tropfen auf Tropfen in den Schlauch perlte. Eines Tages saß ich wieder einmal bei Helen auf der Bettkante, als der Tropf leer wurde. Das Mädchen sagte, ich solle die Schwester holen, weil die Flasche nicht leer sein dürfte. »Wenn nichts passiert, fließt mein Blut nach oben, und ich sterbe.« Ich hatte keine Ahnung, was »sterben« heißt, aber ich spürte, dass es etwas Ernstes sein musste. Also rannte ich los, um eine Schwester zu holen, aber es kam keine. Eine hatte keine Zeit, eine andere wollte nicht kommen, eine dritte sagte, sie komme später. Ich musste bald wieder zu den anderen Kin dern meiner Gruppe, zu den Gleichaltrigen. Am nächsten Tag kam ich schon früh am Morgen, um nach Helen zu sehen. Ich war noch nicht bei ihr, als sie jemanden aus ihrem Zimmer holten. Ich wunderte mich über das große Kind, das mitten am Tag friedlich schlief. Über das reglose Kind, das einen großen Blutfleck hinterlassen hatte auf seinem Bett. Der Blutfleck sah sehr gefährlich aus. Ich begann zu weinen, weil ich nichts verstand. Ich begriff nicht, 17 dass das Helen war, ich empfand nur die Bedrohlichkeit der Situation. Dann sagte jemand, Helen sei tot. Von diesem Moment an hasste ich die Krankenschwestern, alle diese Krankenschwestern, die im Zeitlupentempo über die Gange schlurften und ihre Verrichtungen ohne jeden Eifer erledigten. Ich wusste bloß nicht, wem ich das sagen sollte, wem ich anvertrauen konnte, dass die Schwestern nicht reagiert hatten, als ich sie alarmieren wollte. Spater erzahlte ich unseren Kinderschwestern davon, aber ich glaube nicht, dass daraufhin etwas passierte. Die Krankenschwestern arbeiteten alle weiter, als ob nichts geschehen wäre. Wir Kinder aus dem Heim sangen tagelang ein Lied für die Tote, das wir uns selbst ausgedacht hatten. Wir stellten ihr Begräbnis nach, begruben eine Puppe und sangen ununterbrochen das Lied, vor unserem Begräbnis, danach, währenddessen. Alle weinten, nur ich konnte nicht weinen. Ein anderes Madchen verprügelte mich deshalb. Dabei wollte ich niemanden argern, ich konnte bloß nicht weinen, das war alles. Es war, als wurden mir die Tranen und die Luft und alles abgesperrt. Das andere Madchen geriet in Rage und schlug immer weiter auf mich ein, bis ich vor Schmerzen und wegen der Demütigung zu weinen anfing. Als ich spater einmal mit diesem Madchen im Garten spielte, verschluckte sie einen Cent. Wieder holte ich eine Krankenschwester, panisch. Diesmal kam sie, aber zu spat das Madchen erstickte. Das war meine zweite Erfahrung mit dem Tod. Helens Tod bedruckte mich langer und starker als der meiner Spielgefährtin. Ich wollte das am Tropf gestorbene Madchen rächen. Dazu schlich ich mich mit einer Kanne Wasser in die Sauglingsabtedung auch dort arbeiteten die Krankenschwestern, die ich damals zu Helen holen wollte und die nicht gekommen waren. Ich ging die Reihen der Betten entlang und goss Wasser über die Babys: über die Windeln, über ihre Kleidchen, über die Bettchen. Stundenlang mussten die Schwestern anschließend Windeln wechseln und die Betten frisch beziehen. Als ich diese Aktion wiederholte, erwischte mich eine der Schwestern. Zur Strafe erntete ich reichlich Schlage. Von da an wagte ich mich nicht mehr in die Sauglingsstation. Die größte Strafe im Kinderheim aber waren nicht die Schlage für 18 iiiiüi, sondern <j^ wv der L. artner mit mi± tat. H±mci dem Heim lag eine Zuckerrohrplantage. Dorthin musste ich immer mit dem Gärtner, einem alten, fetten Kerl, den keiner mochte. Wenn wir dort waren, sagte er: »Heb mal dem Kleid hoch.« Ich hob mein Kleidchen und wartete auf Schlage, aber es passierte nichts, außer dass der Gärtner sich angriff und mich auch. Manchmal musste ich mich neben ihn auf den Boden legen oder mich auf seinen Schoß setzen, wenn er auf dem
Boden lag. Ich war nicht die einzige, die mit ihm ms Feld musste. Oft waren mehrere Madchen gleichzeitig mit ihm unterwegs. Alles sollte ein Geheimnis sein. Er schärfte uns immer wieder ein, dass wir niemandem davon erzählen sollten. Ich weiß bis zum heutigen Tag nicht, wie weit er ging. Wenn ich daran denke, zerfließt mir alles in dichtem Nebel. Eltern und Waisen Immer wieder musste ich mit ansehen, wie Kinder von Erwachsenen abgeholt wurden, die extra wegen dieser Kinder gekommen waren. Das waren Erwachsene, die niemand anderen umarmten als genau ein Kind. Sie schlenderten nicht wie die Schwestern durch die Säle mit den vielen Bettchen, um ihre Aufmerksamkeit gleichmaßig hier und dort zu verteilen, sondern sie gingen zielstrebig auf ein Kind zu und nahmen es mit hinaus in die geheimnisvolle Welt jenseits des Zaunes. Dort drau ßen war der unendlich große Raum, die Wüste, in die man keinesfalls allein, sondern nur in Begleitung von Großen eintauchen durfte. Dorthin kam man nur zusammen mit Großen, die alleme für ein Kind da waren. Nach und nach merkte ich, dass viele Kinder von niemandem aus dem Heim geholt wurden, weil sie niemanden hatten. Alle, die in der Baracke schliefen, waren immer da, wahrend die, die im Krankenhaus wohnten, nur für ein paar Wochen oder Monate blieben. Es muss einen Unterschied geben zwischen uns und den anderen Kindern, dachte ich, zwischen denen, die blieben, und denen, die gingen. Nachdem ich mir 19 ein Herz gefasst hatte, danach zu fragen, klärte mich eine Schwester auf. »Das ist einfach«, sagte sie, »die Kinder im Krankenhaus haben Eltern, ihr aber nicht. Ihr seid Waisen.« Waisen und Eltern. Diese beiden Wörter entschieden also über Weggehen und Hierbleiben, über Glück und Unglück. Wie konnte es sein, dass manche Kinder Waisen waren und manche nicht? Hatten Waisen nie Eltern gehabt? Hatten sie etwas Böses getan? Es gab keine Antwort auf diese Fragen, es gab nur das ungute Gefühl eines Mangels. Jedesmal, wenn andere Kinder in ihr Elternhaus endassen wurden und ich bleiben musste, war es wie ein Schlag für mich. Warum das alles so war, konnte ich mit meinen drei Jahren nicht verstehen. Das heißt, ich nehme an, dass ich gegen Ende meines Aufenthalts im Orfan drei Jahre alt war, es können aber auch vier gewesen sein. Bis heute weiß niemand genau, wann ich geboren wurde. Das ist nichts Besonderes in Afrika. Fast niemand kennt dort sein Geburtsdatum — schon gar nicht, wenn er wie ich in einfachen Verhältnissen oder auf dem Land geboren wurde. Dort gibt es normalerweise keine Dokumente über eine Geburt. Geburtsurkunde, Taufschein, Reisepas s, Personalausweis — ein Durchschnittseritreer hat nichts davon. Wozu auch? Papiere kosten nur Geld, und eine amtliche Bestätigung der Tatsache, geboren zu sein, bringt keine Vorteile: Es gibt keine Geburtsprämie, kein Mutterschaftsgeld, keine Kinderbeihilfe, keine sozialen Leistungen oder medizinischen Dienste, die man ohne zu bezahlen in Anspruch nehmen könnte. Später erst ließ sich durch die Erinnerungen meiner Mutter und anderer Verwandter zwar der Tag meiner Geburt feststellen der 3. Dezember —, aber nicht das Jahr. Den Tag wusste sie, weil man sich einen bestimmten Tag besser merken kann als eine bestimmte Jahreszahl, zumal der äthiopische Kalender die Sache noch zusätzlich komplizierte. Bis 1991, bis zur Unabhängigkeit Eritreas, galt der äthiopische Kalender auch auf dem Gebiet Eritreas. Dieser Kalender rechnet mit anderen Jahreszahlen als unser Kalender: Das Jahr 2004 beispielsweise ist in Äthiopien das Jahr 1997. Bei mehrmaligem Hin und HerWechseln zwischen diesen beiden Kalendern konnte schon mal ein Jahr unter die Räder kommen. Nach meinem heutigen Wissensstand wurde 20 ich entweder am ^ ^p^emuu 1976, 1975, 1974 oder vielleicht sogar am 3. Dezember 1973 geboren. Am wahrscheinlichsten klingt mir das Jahr 1974. Ich könnte aber auch gut im Jahr 1973 auf die Welt gekommen sein. Ich bin noch nicht mal sicher, wie ich nach meiner Geburt hieß — der Nebel, der über meiner frühen Kindheit liegt, ist mindestens so zäh wie der Nebel, der in den Winternächten das eritreische Bergland verschluckt. Vermutlich hieß ich damals Saba, wie die berühmte Königin. Meinen jetzigen Namen, Senait, bekam ich erst viel später von meinen Großeltern. Mehari ist übrigens der Vorname meines Großvaters. In Eritrea bekommt ein Kind als ersten Namen einen Vornamen und als zweiten Namen den Vornamen des Vaters. Der führt seinen Vornamen ebenfalls als ersten Namen und den Vornamen seines Vaters als zweiten Namen. Auf diese Weise gibt es bei uns keine Unterscheidung von Vornamen und Familiennamen, sondern nur eine unendlich lange Abfolge verschiedener Vornamen. 21 Comboni Der Tag der Abholung aus dem Heim kam auch für mich — nur dass mich keine Eltern holten, sondern zwei Männer in Uniform. Sie hatten es eilig und ließen mir keine Zeit, mich zu verabschieden. Ich spürte plötzlich eine starke Sehnsucht, auch zu meinen Eltern zu kommen. Instinktiv war mir klar, dass keiner von den beiden mein Vater war, denn sie würdigten mich kaum eines Blickes. Als ich in dem kleinen
Transporter saß, hoffte ich trotzdem, dass die zwei mich zu meinen Eltern bringen. Ich hoffte auf eine lange Fahrt, denn ich wollte die Wüste sehen und die Berge und die Weite, die ich nur von der Veranda aus kannte. Doch der Wagen fuhr nicht hinaus auf die Ebene, sondern in die Stadt hinein. Auch auf dieser Strecke gingen mir fast die Augen über: Nie zuvor hatte ich das Gelände des Waisenhauses verlassen — und jetzt sah ich Menschen, Häuser, Straßen, Kreuzungen, Palmen, Fuhrwerke. Ich sah sie nicht durch einen Zaun, sondern ganz nah, eine Handbreit von mir entfernt, und ich war mittendrin. Ich klebte am Fenster und sog die Welt ein, die ich noch nie gesehen hatte. Es sollte kein langes Vergnügen werden. Nur ein paar Minuten später fuhr das Auto durch ein Tor, und ich sah etwas, was ich schon kannte: eine Mauer, einen Garten, ein großes Haus, viele Kinder, Schwestern und ein Tor, das die Welt draußen ließ. Dieses Haus war größer, schöner und älter als das, in dem ich bis jetzt gelebt hatte. Es war mit Ziegeln gebaut und hatte Giebel, Zinnen alles Dinge, die ich noch nie gesehen hatte. Sogar ein Turm stand da, in dem eine Glocke hing, die manchmal läutete. Aber dafür hatte ich jetzt keine Augen. Ich sah nur die Mauer rundherum, riesig hoch und unüberwindlich, selbst für einen Erwachsenen. Viel höher war sie als der Zaun im Orfan und noch dazu aus Stein. Eine undurchsichtige Mauer, die meinen an die Weite der Wüste gewöhnten Blick nach allen Seiten begrenzte, nur hinauf zum Himmel nicht. Eine tiefe Trauer erfüllte mich, als mir klar wurde, dass ich nicht in die Freiheit gekommen war. Nicht in die große weite Welt hatte man 23 mich gebracht, nicht zu meinen Eltern, sondern nur in ein anderes Heim. Hier trugen die Schwestern eine sonderbare Uniform aus bodenlangen grauen Kitteln mit hochgeschlossenen Kragen und riesigen weißen Mutzen, die aussahen, als waren sie schwer und fest wie Stein. Und noch dazu war ich in diesem Heim fast die einzige Schwarze. Die meisten anderen, Schwestern wie Kinder, waren weiß. Die Schwester, die mich in Empfang nahm, stellte sich als Florina vor. Solch einen Namen hatte ich nie zuvor gehört. Ihr Gesicht war weiß und auch ihre Kleidung, ein bodenlanges, strahlend weißes Kleid. Florina hatte dünne, harte Hände, die sie mir auf die Schultern legte. Ich schreckte zurück, weil auch diese Hände bleich waren und so hell, dass man die Adern unter der Haut sehen konnte. Ungläubig starrte ich diese Schwester an. Sie war sehr groß und schlank und hatte eine Brille auf der Nase. Ich wusste schon, dass es solche Glaser für die Augen gab, aber ich hatte sie erst selten gesehen. In einer Mischung aus Schrecken und Faszination stellte ich fest, dass die wenigen Haare von Florina, die hinter dem steinernen Kopftuch hervorlugten, auch hell waren. So golden waren sie wie die Haare der Frau auf dem Bild im Speisesaal des Waisenhauses. Überhaupt sah Schwester Florina ganz ahnlich aus wie die Frau auf dem Bild, nur war ihr Kopfschmuck weißer und großer und harter. Sie konnte genauso die Hände falten wie die Frau auf dem Bild. Dabei sah sie nicht mild aus wie jene, sondern viel strenger. Ich wusste sofort, dass ich vor Schwester Florina Angst haben wurde und dass man ihr mit Respekt begegnen musste. Florina sprach die Worter, die ich kannte, sonderbar hart aus. Bei ihr klangen sie ganz anders als bei allen Menschen, die ich bis jetzt sprechen gehört hatte. Ungläubig sah ich mich um. Abgesehen von der Frau auf dem Bild im Speisesaal hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Weißen gesehen, und nun lebte ich plötzlich mitten unter ihnen. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass es wirklich Menschen gab, die helle Haare und eine helle Haut hatten. Zu meiner Trauer über die neue Umgebung kam nun noch ein Gefühl von Kalte und Fremdheit, wie ich es in dieser Deutlichkeit und Schwere nicht gekannt hatte. Ich war traurig und konnte noch nicht einmal weinen. 24 In der Fremde Mir kam alles noch fremder vor, als ich mitbekam, dass diese Weißen untereinander eine Sprache verwendeten, die ich nicht verstand. Nicht das kleinste Wortchen erkannte ich. Sie gaben mir komplett fremde Laute von sich und nur selten das vertraute Knarren, Klopfen, Schnalzen und Gurren des Tigrinya, der Sprache meiner Menschen. Ihre Sprache war ein exotisch klingender Singsang, den sie schon melodisch, aber auch sehr schnell und hart ausstoßen konnten. Die Nonnen sprachen Italienisch. Sie redeten untereinander Italienisch und mit den ihnen anvertrauten Kindern. Mit den weißen Kindern und mit den wenigen hierher versprengten afrikanischen Kindern auch. In diesem Haus galten andere Regeln als dort, wo ich bisher lebte. Hier schwärmten sie nicht von Mengistu Halle Mariam, sondern von Daniel Comboni, einem weißen Mann mit langem Bart, der einen steinernen Kopf hatte und über der zweiten, inneren Eingangstur befestigt war. Dieser Mann, erzahlten die Schwestern, sei aus Italien, aus ihrer Heimat, hierhergekommen, um den Kindern zu helfen. Deshalb habe er dieses Haus erbaut. Der Mann mit dem seltsamen Namen wollte den weißen Kindern mehr helfen als den schwarzen, dachte ich, denn die erste Regel dieses Hauses besagte, dass die Menschen mit der hellen Haut mehr dürfen als die mit der dunklen. Das hatte mir niemand gesagt, ich bekam es durch das tagliche Leben mit. So gab es im Hof einen großen Spielplatz, in dem große bunte Spielgerate standen: ein Karussell mit Pferden, ein paar Schaukeln, eine Rutsche. Es war ein Paradies, solch prachtige Spielgerate hatte ich noch nie gesehen. Doch diese bunten
Wunderdinge durften wir schwarzen Kinder nicht benutzen, sie waren den weißen Kindern vorbehalten. Beim Essen saßen wir Schwarzen um einen kleinen Extratisch, der in einem winzigen Vorzimmer zu unserem Schlafraum stand, wahrend die Weißen in einem großen Speisesaal aßen, der so hoch war, dass man kaum die Decke sehen konnte. Dieser Raum, in den wir nur zu besonderen Gelegenheiten durften, war über und über bemalt. An den Wanden gab es Bilder, die fremde Dinge zeigten: grüne Walder, Berge, 25 Seen, Flüsse und große, braune Tiere, die darin herumgingen. Kleine weiße Menschen mit Barten und spitzen Hüten waren zu sehen, Mädchen mit langen Kleidern und eine Hyäne mit einem roten Tuch um den Kopf. Manchmal erzählten uns die Schwestern Geschichten zu diesen Bildern, aber ich verstand kaum etwas davon. Ich wusste nicht, ob es all diese Dinge wirklich gab oder ob sie von einem Ort kamen, den die Schwestern »Himmel« nannten. Anfangs starrten uns die weißen Kinder immerzu an, doch bald wussten sie selbst, dass sie etwas Besseres waren als wir. Wie gemein sie zu uns sein konnten! Einmal zwangen sie mich, meine eigenen Läuse zu essen. Das knackte zwischen den Zähnen, das krabbelte, kitzelte und schmeckte bitter und eklig. Angenehm waren hier nur ein paar Dinge, die ich bei Comboni zum ersten Mal in meinem Leben kennenlernte. »Formaggio« zum Beispiel, dieses italienische Wort für Käse klingt mir immer noch im Ohr, und es hat für mich einen wunderbaren Klang. Dann gab es Betten mit Laken, die immer wieder gewechselt wurden, und nicht nur Decken, Matratzen oder Säcke, auf oder unter die man sich kauern musste, um zu schlafen, denn in Asmara kann es in den Winternächten empfindlich kalt werden; dann sinkt die Temperatur auf fünf bis höchstens zehn Grad ab. Schön war auch ein leuchtend rotes Getränk, das wir immer bekamen, verdünnter Himbeersirup. Für mich waren das bis dahin ungekannte Genüsse. Am allerschönsten freilich war die Erfahrung, sich täglich satt essen zu können. Im Orfan hatten wir immer wieder hungrig oder zumindest nicht sehr satt zu Bett gehen müssen, weil es abends wenig zu essen gegeben hatte. Das war für uns so selbstverständlich, dass ich das abendliche Magenknurren für normal gehalten hatte. Wenn auch sonst vieles nicht nach meinem Geschmack lief im Kloster — diese wohligen Abende mit vollem Magen waren wunderbar! Gern mochte ich auch unsere Ausflüge. Alle paar Tage wurden wir in einen Bus gepackt und ins Stadtzentrum gefahren, zu einem viel größeren Haus, das einen noch viel höheren Turm hatte als das Haus, in dem wir lebten. Das war die Kathedrale von Asmara. Dort sollten wir gemeinsam mit den weißen Kindern Tigrinya lernen. Ich musste meine eigene Sprache wie eine Fremdsprache studieren, denn da ich 26 midi mit den ar^^en Kindern und mit den Schwestern nur auf italienisch verständigen konnte, war mir meine Muttersprache während dieses einen Jahres fremd geworden. Selbst mit manchen schwarzen Kindern sprach ich Italienisch, wenn sie aus Landesteilen kamen, in denen kein Wort Tigrinya gesprochen wird, sondern nur andere afrikanische Sprachen, von denen ich kein Wort verstand ... Diese babylonische Sprachverwirrung war der Grund, weshalb ich im Kloster keine Freunde fand. Deshalb sprach ich vor allem mit einem Freund, den nur ich sehen konnte und sonst niemand. Er existierte nur in meiner Phantasie, dort aber um so wirklicher. Oft redete ich stundenlang auf ihn ein, stritt mit ihm, ließ mir von ihm Dinge erklären, tröstete ihn und ließ mich von ihm trösten. So einen praktischen, geduldigen und liebenswürdigen Freund hatte ich danach lange Zeit keinen mehr. Die weißen Frauen freilich erzählten mir immer von anderen Freunden, die ich hätte. Den einen gab es gleich mehrmals in meinem neuen Heim. Er war mit riesigen Nägeln an ein hölzernes Kreuz geschlagen, weshalb ihm das Blut in Strömen von Händen und Füßen rann. Sogar am Kopf hatte er Blut, von einer Krone aus Dornengestrüpp. Dieser weiße und stets mit schmerzverzerrter Miene dreinsehende Mann sagte mir nichts, ich nahm das Gerede der Schwestern über ihn nicht ernst. Der Jesus aus dem italienischen Heim war für mich nichts anderes als ein ferner, weißer und sehr bemitleidenswerter Fremder. Die Rettung Ganz anders ging es mir mit der weißen Frau in dem wunderschönen, bodenlangen Kleid, deren Denkmal hier überall aufgestellt war. Im Durchgang zum Wohnhaus der Schwestern war sie, über dem Eingang zum Wohnhaus der Kinder und gleich mehrmals in der Kirche nebenan. Diese Frau mit der leuchtend hellen Haut, den blonden Haaren und hellblauen Augen erschien mir sehr fremd, aber ich mochte sie. Noch nie hatte ich eine auch nur annähernd so schöne Frau gesehen. Fast alle 27 geistlichen Schwestern waren Italienerinnen. Auch die meisten Kinder stammten von dort oder hatten zumindest einen italienischen Elternteil. Bis auf Florina waren sie daher dunkelhäutig und dunkelhaarig, wenn auch immer noch sehr hell im Vergleich zu Afrikanerinnen wie mir. Aber sie waren nicht von dieser strahlenden Helligkeit wie die Frau in dem blauen Mantel mit dem goldenen Kreis über dem Kopf. Nicht nur ihre Erscheinung zog mich zu dieser Frau hin, sondern auch die Bemerkungen der Schwestern, dass sie meine Mutter wäre. Doch diese Frau tat nichts, was eine Mutter hätte tun können: Sie holte mich nicht aus dem Heim. Sie bestrafte keinen meiner Peiniger. Sie sorgte nicht für Gerechtigkeit zwischen den weißen und den
schwarzen Kindern. Sie half mir nicht über meine Einsamkeit hinweg. Sie tat nichts, außer dazustehen und freundlich und schön dreinzuschauen. Trotzdem horchte ich auf: War das ein Bild meiner Mutter? Aber Als ich Anfang 2004 in Eritrea war, um die Statten meiner Kindheit zu suchen, stattete ich auch dem katho lischen Kloster »Daniel Comboni« einen Besuch ab. 28 warum sollte meine Mutter hellhäutig sein? Sonst, soviel hatte ich schon mitbekommen, hatten schwarze Frauen immer schwarze Kinder und weiße Frauen weiße. Sollte ich eine Ausnahme sein? Was meinten die Schwestern damit, dass diese Frau die Mutter aller Menschen wäre? Das schwächte die Sache ab, weil es offensichdich nicht stimmen konnte, denn verschiedene Kinder hatten verschiedene Mütter, ich hatte das mit eigenen Augen gesehen. War alles erlogen, was die Nonnen sagten? Obwohl ich mir nicht sicher war, was es mit der Frau auf sich hatte, versuchte ich oft, eine Nachricht von dieser Mutter zu bekommen. Wenn keiner zusah, drückte ich mich in ihrer Nähe herum. Ich streichelte sie, flüsterte ihr etwas zu, fühlte, ob sie warm und lebendig wäre. Doch ich erhielt keine Antwort, nichts geschah, die Mutter blieb stumm. Plötzlich tauchte eine andere Mutter auf. Eine Mama aus Fleisch und Blut. Eine schwarze Mutter. Meine Mama. Oder zumindest eine Frau, die behauptete, meine Mutter zu sein, was mir damals als völlig ausreichend erschien. Sollte es auch für mich eine Rettung geben? Mbrat stand eines Tages im Büro der Schwester Oberin und sagte der gestrengen Frau, dass sie meine Mutter wäre. Die Schwester ließ sich überzeugen und willigte ein, dass Mbrat mich mitnahm. Bei meiner Verabschiedung wirkten die Schwestern nicht traurig, genausowenig wie ich. Während Mbrat noch ein paar Worte mit den Schwestern wechselte, konnte ich es kaum erwarten, dass die stets verschlossene und von einem Mann in Uniform bewachte Pforte aufging und Mbrat zusammen mit mir ins Freie endieß — diesmal nicht in ein neues Heim, sondern endlich in die große weite Welt jenseits aller Mauern. Mbrat nahm mich einfach in den Arm, und ich ging freudig mit. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber von diesem Tag an sagte ich »Mama« zu ihr. Von Zweifeln, ob sie wirklich meine Mutter wäre, wollte ich nichts wissen. Sie war gut zu mir, sie hatte mich aus dem schrecklichen Heim herausgeholt, sie wollte für mich sorgen, sie lächelte mich an — ich war so glücklich wie nie zuvor. 29 Großeltern Als mich Mbrat durch die Pforte des ComboniKlosters geführt hatte, war ich nicht nur endlich außerhalb der Mauern, sondern fand mich inmitten einer gänzlich neuen Welt wieder, die mir noch viel fremder vorkam als alles, was ich auf den Straßen Asmaras zu sehen bekommen sollte: in der Welt der Familie. Nun wohnte ich tat sächlich in einem dieser kleinen Häuser, die ich bis jetzt immer nur von außen gesehen hatte. Ich war Teil einer Gruppe von Menschen, die vor allem eines zusammenhielt: die gemeinsame Abstammung. Ich war plötzlich Mitglied einer Familie, und zwar einer richtigen afrikanischen Familie aus mindestens zwanzig Leuten. Als jüngstes von insgesamt elf Kindern war ich das Nesthäkchen der Familie. Neben mir lebten in dem Haus noch die Kinder meiner Großeltern, also meine Tanten und Onkel, und das eine oder andere ihrer Enkelkinder. Die Kinder waren zwischen zehn und zwanzig Jahren alt, ich dagegen wurde gerade mal vier oder fünf. Für mich war das eine heile Familie ich wusste nicht, dass mein Vater als Deserteur und An dieser Straße steht das Wohnhaus meiner Großeltern in Asmara. 31 Ehebrecher mit einer anderen Frau durchgebrannt war. Ich fragte nicht nach ihm, denn für mich zählte nur eines: Mbrat, meine lange verschollene Mutter, hatte mich in den Schoß der Familie zurückgeholt. Wir lebten wie im Paradies. Das Haus meiner Großeltern stand in Maitemenai, einem der besseren Viertel von Asmara. Das war keines der schönen, noch unter italienischer Kolonialherrschaft erbauten Villenviertel, aber es war ein Wohngebiet etwas außerhalb der Stadt, auf einem sanft ansteigenden Hügel, ursprünglich rund um ein großes Krankenhaus erbaut. Hier stand Haus an Haus, alle mit kleinen Gärten oder Höfen, ohne Slums dazwischen, ohne Baracken, ohne Industrie. Das Haus meiner Großeltern war das letzte in einer Straße, die man kaum befahren konnte, weil sie so schmal war und weil die Steine so hoch aus dem Sand heraussahen, dass jeder Angst um sein Auto hatte. Aber die meisten Leute hatten kein Auto, sondern höchstens ein Fahrrad, einen Esel oder ein Pferd, das sie vor einen hölzernen Karren spannten. Unser Haus hatte einen Raum zum Kochen, Essen, Wohnen und Schlafen. Ein zweiter Raum diente als Lager und war gleichzeitig ein Schlafzimmer. In einem dritten, sehr kleinen und fensterlosen Raum lagerten ein paar Decken, ein Kocher, Holz und die Bottiche zum Wäschewaschen. Vor dem Haus lag der von einer Mauer umgebene Hof, nicht größer als ein normales Zimmer. Diese Mauer war keine Bedrohung, denn man konnte jederzeit durch das Tor nach draußen gehen. Sie war ein Schutz vor der Außenwelt, weil man das Tor immer zumachen konnte, wenn man wollte. Das war eine Mauer, die ich liebte wie keine Mauer zuvor. Auf der anderen Seite des Hofes standen die Verschlage für die Tiere. Das waren kleine Ställe, in die zwei Kühe
passten und zwei Ziegen und ein paar Hühner. Sie waren so niedrig, dass ich zwar noch aufrecht darin stehen konnte, die Erwachsenen aber lange nicht. Die Wohnräume dagegen waren sehr hoch, damit sich die Hitze nicht allzusehr staute. Sie boten Platz für die Betten, einen Tisch und ein paar Stühle und einen kleinen Schrank. Fenster mit Scheiben aus Glas gab es nicht, nur Fensterhöhlen, die wegen der Hitze immer mit Blechklappen verschlossen waren. Der Boden bestand aus nacktem und angenehm kühlem Beton, von der Decke baumelte eine Glühlampe. Die Betten waren 32 untertags unsere S^^elegcnn^iicn. Stühle gab es nur zwei, dazu einen niedrigen Tisch, von dem man essen konnte, wenn man am Boden saß. Aus dem Lagerraum holten wir vor dem Essen immer ein paar Schüsseln, Töpfe, Pfannen und den Spirituskocher. All das räumten wir zum Kochen in das mittlere Zimmer, in dem sich alles abspielte — das Zubereiten der Speisen, das Essen, das Leben, das Schwatzen, das Schlafen. Hier hockten wir Mädchen und Frauen auf dem Boden oder auf kleinen Schemelchen und schnitten das Gemüse klein und kochten die Suppen und die Soßen. Nach dem Essen wuschen wir alles im Hof ab und verstauten es wieder nebenan im Lagerraum, so dass vom Essen oder vom Kochen nichts mehr zu sehen war. Alles war immer angenehm leer und aufgeräumt, denn es stand nichts herum. Es gab nur wenige Dinge, und die hatten alle in einem Schrank und in ein paar Kisten mit Kleidern und Kleinzeug Platz. Für mich war es das Paradies. Hier hatte ich zum ersten Mal mein eigenes Reich! Das große Eisentor bewahrte mich vor herumstreunenden Nachbarskindern, Eseln, Kamelen und Hunden. Außerdem verfügte mein Reich über viele Kolonien außerhalb der schützenden Mauern und doch in nächster Nähe: Unmittelbar hinter dem Haus war die Stadt zu Ende. Hier weideten Hirten ihre Tiere, bearbeiteten Frauen Gemüsegärten und kleine Felder. Dort spielten wir Kinder. Hierher kamen alle Leute aus dem Viertel, um in einem kleinen Wäldchen ihre Geschäfte zu erledigen, denn fließendes Wasser oder Toiletten gab es in den Häusern nicht. Wer mal musste, ging ein Stückchen in die Natur hinaus, hockte sich in seinen weiten, bodenlangen Gewändern hin, plauderte mit ein paar Bekannten, reinigte sich mit Hilfe von kleinen Steinen und schlenderte gemütlich zurück. Ich brauchte einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen, denn im Kloster hatte es Toiletten gegeben mit Schüsseln aus weißem, makellosem Porzellan, durch die man Wasser fließen lassen konnte, wenn das Geschäft erledigt war. Für uns Kinder waren vor allem die felsigen Hänge interessant, die direkt hinter den Wiesen zu einem Wäldchen hinaufstiegen. Von dort oben konnte man fast die ganze Stadt sehen. Man konnte sich prima in Erdlöchern verstecken, konnte zwischen den eng stehenden Baumstämmen Abfangen spielen oder sich ins Gebüsch zurückziehen, wenn 33 man seine Ruhe wollte. Ich hatte mir ein verstecktes Platzchen zurechtgemacht, eine kleine Hohle oberhalb des Abhangs. Das war ein Ort, den ich niemandem zeigte, an den ich immer alleine ging. Ich liebte es, mich dort zu verkriechen, ein bisschen zu träumen, zu dosen oder einfach nur aus dem Schatten in die diesige Hitze des Mittags hinauszublinzeln. Meine Großeltern hatten Tiere, mit denen ich manchmal über die Wiesen zog, Kühe, Ziegen und Huhner. In dem winzigen Stall gleich neben dem Wohnhaus standen sie nur nachts, sonst waren sie immer draußen. Meine Familie schlachtete selbst und handelte mit dem Fleisch, den Hauten und allem, was sonst noch verwertbar war an einer Kuh. Es gab sogar einen Hund und eine Katze, die ich für mich allein beanspruchte. Die anderen ließen mich gewahren, weil Hunde und Katzen für sie nichts Besonderes waren. Also konnte ich besten Gewissens sagen, dass das mein Hund und meine Katze waren. Das war für mich ein unglaubliches Wohlgefuhl. Erstmals in meinem Leben konnte ich über etwas bestimmen. Selbst wenn es Streit mit meinen Geschwistern gab — die in Wahrheit naturlich nicht meine Bruder und Schwestern waren, sondern meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins —, selbst dann hatte ich keine Probleme, denn die Straße steckte voller Kinder, mit denen ich jederzeit losziehen konnte, um Abenteuer zu erleben und Spiele zu erfinden. Es war nicht nur wie im Paradies, es war das Paradies. Die Zeit bei meinen Großeltern war die schönste Zeit meiner Kindheit, wenn nicht die schönste Zeit meines Lebens. Von Anfang an spurte ich Geborgenheit, Sicherheit und Zuwendung, wie ich sie nie mehr fühlen sollte. Dabei war der Wechsel zu meiner Familie für mich vor allem zu Beginn durchaus mit Harten verbunden. Doch es waren Harten, die ich gerne meisterte. Zum Beispiel empfand ich die Schule, in die ich von nun an ging, als streng und kompliziert. Das lag daran, dass ich kaum mehr Tigrinya verstand und mir die Worter meiner eigenen Muttersprache erst mühsam wieder aneignen musste, die mir in der Zeit bei den italienischen Schwestern verlorengegangen waren. Deswegen galt ich in der Klasse als Außenseiterin und musste mir meinen Platz erst erkämpfen. 34 Auch das Essen \\ lr ehr ungewohnt für mich Hier aßen alle mit den Fingern und nicht mit Gabeln und Löffeln, wie uns das die italienischen Schwestern beigebracht hatten. Es gab keinen Käse, kein Weißbrot und keine Eier mehr, sondern Enjera Morgens Enjera, mittags Enjera, abends Enjera — wenn es denn drei Mahlzeiten am Tag
gab, oft wurde nur zweimal gegessen Enjera ist das Grundnahrungsmittel Eritreas schlechthin: dünne, weiche und stark säuerlich schmeckende Fladen aus Mehl und Wasser, auf die eine Soße geschüttet wird. An der Soße sieht man sofort, ob die Familie Geld hat oder nicht. Bei armen Leuten besteht sie aus nichts anderem als ein paar zerkochten Tomaten oder ein bisschen Gemusebrei. Gibt es mehr Geld, schwimmen in der Soße Fleischstuckchen, Zwiebeln, Gemusescheiben oder sogar Eier oder Huhnerkeulen. Wir hatten alle möglichen Soßen, wenn auch nicht immer mit Fleisch. Aber alles war scharf So scharf, wie überall in Afrika gegessen wird — doch ich war durch die Schwestern schon auf europaische Küche eingestellt gewesen. Beim EnjeraEssen saßen wir alle um ein rundes Tablett, und jeder riss sich ein Stuckchen Fladenbrot ab, nahm damit etwas Soße oder ein Fleischbrockchen auf und aß das, alles nur mit der Hand. Zum großen Gelachter der anderen Kinder und der Erwachsenen zuckte meine Hand immer wieder vom Mund zurück, weil es mir zu scharf war. Ich schämte mich und wechselte schnell und möglichst unauffällig die Hand, mit der ich gegessen hatte, weil ich dachte, die Scharfe komme aus der Hand und nicht vom Essen. Anfangs war ich ein paarmal panisch, weil es auch aus der anderen Hand scharf kam. Dann untersuchte ich meine Hände genau, ob vielleicht etwas Scharfes dran war. Ich konnte nicht einfach aufstehen, hinausgehen und mir die Hände waschen, denn wahrend des Essens aufzustehen gehorte sich nicht, und die Hände wusch man sich erst hinterher. Mit der Zeit lernte ich weniger Soße zu nehmen, um mit den scharfen Gewürzen klarzukommen. Ich muss wie eine Europäerin gewirkt haben, die zum ersten Mal original afrikanisch lsst 35 Die Taufe Bei meinen Großeltern ging es keinesfalls bäurisch zu, selbst wenn sie Bauern waren, die mitten in der Stadt lebten. Es war nicht wie in einem Dorf draußen in den Bergen, wo die Leute außer ihren Tieren, dem Wirt, dem Pfarrer und der näheren Umgebung nichts kennen. Meine Großeltern waren gebildete Leute, koptische Christen. Sie sprachen nicht nur Tigrmya, sondern auch Hebräisch. Die Mutter meiner Großmutter war im judischen Glauben erzogen worden — das Judentum war wie das Christentum vor Tausenden Jahren von Kaufleuten über das Rote Meer nach Äthiopien gebracht worden. Wir feierten nicht nur die christlichen Feiertage, sondern auch Hanukka, und ich lernte ein paar Brocken Hebräisch von meiner Großmutter. Außerdem beschlossen die beiden bald nach meinem Einzug, dass ich getauft werden müsse — daran hatte bis jetzt niemand gedacht, noch nicht einmal die katholischen Schwestern. Aber vielleicht glaubten sie, ich sei schon getauft. Weil meine Großeltern etwas auf sich hielten, ließen sie mich nicht irgendwo taufen, sondern im Zentrum des Christentums, in Jerusalem. Bei den Kopten in Äthiopien und Eritrea war es schon immer Brauch, sich dort taufen zu lassen, obwohl viele Leute sich die Reise ins Heilige Land nicht leisten konnten. Wer jedoch in Jerusalem getauft wurde, ist zeit seines Lebens sehr stolz darauf — genauso wie ich. In Äthiopien gibt es schon viel langer Christen als beispielsweise in Mitteleuropa. Syrische Kaufleute brachten das Christentum bald nach dem Tod Jesu nach Äthiopien. Im dritten oder vierten Jahrhundert war es dort bereits Staatsreligion — zu einer Zeit, als in Deutschland noch heidnische Germanen ums Feuer tanzten. Deshalb war Äthiopien als einziges Land Afrikas nur ein paar Jahre lang vom faschistischen Italien besetzt, aber niemals eine Kolonie der Europaer. Als die dort ankamen, durften sie nicht schlecht gestaunt haben, anstatt der schwarzen Wilden jahrhundertealte Kirchen vorzufinden, geweihte Priester und strengglaubige Christen. Von den Äthiopiern konnten sie nicht behaupten, es handle sich bei ihnen um Untermenschen, die man schnell versklaven und missionieren müsse, um ihnen das ewige Leben in Gottes Himmel 36 reich zu ermöglichen. All das Hatte mir mein Großvater voller Stolz erzahlt. Er vermittelte mir damals eine Nahe zu Gott, die ich bis heute spure. Meine Großeltern, die für ihre eigenen Kinder schon mehrere Male zuvor nach Jerusalem gereist waren, nahmen die weite Reise für mich noch einmal in Kauf. Es war tief in der Nacht, als wir in Massawa, der großen entreischen Hafenstadt, das Schiff bestiegen. Wir fuhren tausende Seemeilen nordlich, das Rote Meer hinauf, vorbei am Sudan und vorbei an Ägypten. Die Nacht zuvor hatten wir im Bus von Asmara nach Massawa zugebracht, Hunderte Serpentinen hinunter zum Meer, denn die Straße zwischen den beiden Städten überwindet fast zweitausendfunfhundert Hohenmeter. Vom Zielhafen aus nahmen wir wieder einen Bus, der uns quer über die Halbinsel Sinai nach Jerusalem brachte. In Jerusalem ließen meine Großeltern mich auf den Namen »Senait« taufen, die TigrinyaVersion von »Sinai«, dem Namen der Halbinsel zwischen Ägypten und Israel. Also hieß ich von nun an Senait wie der Berg, wo die Zehn Gebote ausgesprochen wurden. In Eritrea werden viele Madchen so genannt. Senait bedeutet »Ort des Friedens« oder »Frieden«, und den hatte unser Land damals bitter notig. Der Befreiungskrieg der Entreer gegen die Athioper ging damals schon mehr als zwanzig Jahre, auf beiden Seiten waren bereits Abertausende Menschen gestorben, viele Städte vor allem in Eritrea waren stark zerstört, weite Landstriche waren vermint und nicht zu betreten, und immer noch war kein Ende des Krieges in Sicht. Es gab viele gute Grunde, ein Kind »Frieden« zu nennen. Meine Großeltern meinten ihren Friedensappell sehr ernst. Sie waren, wie die meisten Mitglieder meiner Familie, zutiefst glaubige Christen. Ich lernte damals, an Gott zu glauben. Wir lasen manchmal in der Bibel, und
in der Kirche horte ich die Geschichten von Jesus und Maria. Nach unserer Taufreise kam ich hundemüde, aber mit vor Stolz geschwellter Brust in die Schule. Ab diesem Tag stieg die Achtung meiner Klassenkameraden mir gegenüber deutlich an. Das war für mich sehr wichtig, denn ich hatte es nach wie vor nicht leicht in der Schule. Mein Tigrinya machte nur langsame Fortschritte. Immer noch verstand ich 37 vieles nicht, was die Lehrerin oder meine Mitschüler sagten. Außerdem bin ich eigentlich Linkshanderin, doch die Lehrer verlangten, dass ich alles neu lernte. Ich musste mit der rechten Hand schreiben, zeichnen und alle Handarbeiten machen wie Nahen und Sticken. Das war für mich am allerschwiengsten: die Nadel in der Rechten, den Stoff in der Linken. Das wollte nicht in meinen Kopf hinein. Zu allem Uberfluss gingen die Lehrer in der Schule extrem schnell voran. Im Alter von fünf Jahren hatten wir Unterricht in Tigrmya und Englisch und fingen schon mit Bruchrechnen und Landeskunde, mit Auswendiglernen und Musik an. Alles stopften sie mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in uns hinein. In Afrika ist Wissen Luxus, der immer knapp ist und daher entsprechend gut genutzt werden muss, wenn man ihn hat. »Seid froh, dass ihr lernen dürft«, sagte uns die Lehrerin immer wieder. Faul herumsitzen und nichts tun kam weder für uns noch für die Lehrer in Frage. Die Lehrerin war in meinem Fall besonders engagiert, sie sah mich als Herausforderung. Jeden Tag lieferte sie mich persönlich zu Hause ab, als Dankeschön, weil ich ihr immer Bananen oder andere kleine Geschenke überreichte, die mir meine Großeltern für sie mitgegeben hatten. Die wussten schon, wie sie ihrer Enkeltochter eine optimale Ausgangs Situation verschaffen konnten. Trotzdem beschwerte sich die Lehrerin fast taglich über mich: »Dieses Kind ist ein Monstrum« — der Satz klingt mir heute noch im Ohr. Ich war ein wildes Kind, das nicht stillsitzen konnte, andere Kinder ärgerte oder dauernd Fragen stellte, auf die die Lehrerin keine Antwort wusste. Ich war ein Rebell, ein Wirbelwind, das quirligste Kind meiner Schulklasse und der ganzen Nachbarschaft. Sogar die Jungs in meiner Straße verprügelte ich. Madchen durften andere Madchen nicht schlagen, aber dass sie Jungs verprügeln, war so undenkbar, dass es noch nicht einmal auf der Verbotsliste stand. Martin, ein Junge in unserer Straße, war sehr dick, und auf ihn hatte ich es besonders abgesehen. Ich jagte ihn mit Vorliebe durch die Gegend, weil ich fette Kinder nicht mochte. »Nimm ab, nimm ab'« rief ich und rannte hinter ihm her. Ich muss ihn zur Verzweiflung getrieben haben. An einem Tag liebte ich ihn und fragte ihn, ob er mich heiratet, 38 am nächsten Tag bc^^g et wicdei Prugei. Es regte mich maßlos auf, dass er so dick war. Wie kann man nur immerzu fressen, dachte ich. Meine Oma machte das nervös. »Sie hat wieder dieses Funkeln in den Augen«, sagte sie, »nehmt euch in acht' Aber tut ihr nichts, sie ist nicht böse.« Das stimmte, ich war nur so direkt und ehrlich: Wenn ich jemanden mochte, sagte ich ihm das ohne Umschweife. Wenn ich ihn nicht mochte, sagte ich das genauso offen. Meine Offenheit war manchen Erwachsenen zuviel. Meine Oma bestrafte mich nie dafür oder höchstens einmal mit zwei, drei Klapsen auf den Po. Das war aber keine richtige Strafe, weil es nicht weh tat. Eine Strafe war es, Prugei zu beziehen, bis blaue Flecken kamen und man nicht mehr sitzen konnte vor lauter Striemen und Blutergüssen. Meine Oma sagte zwar immer: »Naturlich werde ich sie bestrafen«, aber dann kam nichts. Hatte ich Gluck mit ihr! Ich war nur deshalb so frech, weil ich wusste, mir passiert nichts. Wir hatten eine üble Nachbarin. Wir Kinder nannten sie nur »Haregu«, was soviel heißt wie »Mistkäfer«, und genauso sah sie aus. Alt, vergammelt, geizig und blöd war sie. Haregu hasste Kinder, und ich hasste sie. Ich zog sie oft damit auf, dass sie schlecht sah. Wir Kinder erschreckten sie immer und versteckten uns, so dass sie uns nicht sehen konnte. Haregu beschwerte sich oft bei meiner Oma. »Oh, dieses Monstrum, das ist kein Kind'« beklagte sie sich. Meine Oma versprach ihr, mich zu bestrafen, aber sobald wir wieder im Haus waren, lobte mich meine Oma nur. »Gut gemacht, gut gemacht'« sagte sie und klopfte mir auf die Schulter. Fleisch Ich baute jede Menge Mist in dieser Zeit. Da war zum Beispiel die Geschichte mit dem frischgewaschenen Fleisch. Ich wusste, dass meine Großmutter unsere Wasche mit Waschmittel kochte. Es gab keine Waschmaschine, sondern die schmutzige Wasche kam zusammen mit dem Waschmittel in einen Topf, der wurde aufs Feuer gestellt, dann 39 wurde das kochende Wasser ein paarmal umgerührt, und fertig war der Hauptwaschgang. Einmal legte meine Oma in demselben Topf, in dem sie sonst die Wäsche wusch, Fleisch ein. Bei uns gab es keine zwanzig Töpfe, Schüsseln oder Behälter, sondern nur drei oder vier davon, die für die ver schiedensten Funktionen herhalten mussten. Als ich abends über den Hof streunte, sah ich den Topf mit Fleisch und einer Flüssigkeit drin, eine Art Beize. Ich dachte, es wäre gut, dieses Fleisch ein wenig zu reinigen, tat einen guten Schwung Waschpulver hinein und
rührte ein paarmal kräftig um. Wie herrlich das sogleich aufschäumte! Am nächsten Morgen war die Hölle los — mit einem Wutschrei stürzte meine Oma in die Küche, die gleichzeitig das Wohnzimmer war und der Schlafraum von uns Kindern, und brüllte mich fuchsteufelswild an. Sie muss geahnt haben, dass nur ich hinter so einer Sache stecken konnte. »Was ist denn?« fragte ich sie mit der unschuldigsten Miene. »Du wäschst doch immer alles. Ich wollte dir nur helfen und das Fleisch waschen.« Das meinte ich ganz ehrlich. Mir war die Sache mit dem Waschmittel und dem Fleisch zwar selbst nicht geheuer vorgekommen, aber niemals hätte ich gedacht, dass das wertvolle Fleisch damit verdorben war. Das Fleisch von einer frisch geschlachteten Kuh war das Kostbarste, das es in einem afrikanischen Haushalt gab. In jeder anderen Familie hätte man mich dafür halbtot geprügelt, aber ich kann mich nicht mehr an meine Strafe erinnern. Sie fiel wohl nicht so schlimm aus. Dass ich beschloss, nie wieder Fleisch zu essen, hatte aber nichts mit dieser Episode zu tun. Auslöser dafür war, als ich einmal zusehen musste, wie ein Huhn geschlachtet wurde. Das war die normalste Sache der Welt, alle schlachteten ihre Hühner selber, genauso wie ihre Ziegen, Schafe oder Kühe, wenn sie welche hatten. Wer keine eigenen Hühner hatte, der holte sie sich vom Markt, immer lebend, um sie frisch zu schlachten. Kühlgeräte gab es nicht, und nur lebende Tiere ließen sich ungekühlt transportieren und aufbewahren. Meine Großeltern hatten eigene Hühner. Einmal wollte mein Großvater, dass ich ihm beim Schlachten zusehe, damit ich wüsste, wie das 40 geilt. Seihst hätti ich nie «chlachten dürfen, weil dao in Eritrea nur Männern erlaubt ist. Frauen gelten als unrein, und niemand würde ein Tier essen, das eine Frau getötet hat. Doch die Frauen dürfen alle Arbeiten machen, die nach dem Schlachten notwendig sind: das Hühnchen rupfen, waschen, ausnehmen, enthäuten, zerteilen, kochen. Einfach alles machen die Frauen, außer dem Schlachten. Manchmal dachte ich, dass sich das die Männer nur so zurechtgelegt hatten, um die Arbeit nach ihrem Sinn einzuteilen: Sie selbst haben mit einem Huhn ungefähr dreißig Sekunden zu tun, die Frauen drei Stunden. Ob das der wahre Grund dieser Arbeitsteilung ist? Mein Großvater zog mich also in den Hof, damit ich ihm zusehe. Die anderen Kinder waren alle schon versammelt, weil sie gern beim Schlachten zusahen. Nur ich sträubte mich dagegen, und genau deshalb hatte mich Großvater hergeholt. Diesmal nutzten keine Ausflüchte, ich musste bleiben und zugucken. Mein Großvater war Profi im Hühnerschlachten, er wird ein paar hundert Stück Federvieh auf dem Gewissen gehabt haben. Routiniert packte er ein Huhn an den Beinen, drehte es mit dem Kopf nach unten und legte es auf einen Stein. Er drückte das Tier mit einer Hand nieder, um ihm mit einem scharfen Messer den Hals abzuschneiden. Es war ein Schnitt, der leichter aussah, als ein Messer durch eine Tomate zu ziehen. Das Blut spritzte, der Rumpf des Huhns führte wilde Zuckungen aus, die anderen Kinder jubelten begeistert — und ich verbarg das Gesicht hinter meinen Händen und musste hemmungslos schluchzen. Das war der Moment, an dem ich beschloss, nie wieder in meinem Leben Fleisch zu essen. Bis heute habe ich mich daran gehalten. Mein Großvater war ärgerlich, dass ich mich so dumm verhielt. Er stülpte eine rote Plastikschüssel über den Rumpf des Huhns, damit der dort geschützt vor Staub und vor unserem Hund, der schon gierig herübersah, auszucken konnte. Aber noch bevor der Kadaver meinen Blicken entzogen wurde, war mir klar, dass ich kein Stück davon essen würde. Nicht einen Bissen! So war es dann auch, zum großen Unverständnis aller anderen, die mich für verrückt erklärten. Kein Fleisch zu essen, das es ohnehin so selten gab und das als die beste, begehrenswerteste Delikatesse galt! 41 Das Mädchen musste wahnsinnig geworden sein! Es dauerte Monate, bis sich meine Verwandten daran gewöhnt hatten, dass ich kein Fleisch mochte. Ich war vermutlich die einzige Vegetarierin in Eritrea — jeder, dem meine Großeltern davon erzählten, schüttelte fassungslos den Kopf. Nur meine Großmutter verstand mich ein bisschen, doch auch sie bot mir immer, wenn es Fleisch gab, welches an. Aber es half nichts, ich blieb meinem Entschluss treu. Bald jedoch sollte mir für lange Zeit kein Fleisch mehr angeboten werden. Bald sollte ich froh sein, wenn es überhaupt etwas zu essen gab. Fragen Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das Leben bei meinen Großeltern ewig so weitergehen können. Weder ich noch meine Großeltern vermissten meinen Vater. Nach all den Eskapaden mit den von ihm im Stich gelassenen Frauen und Kindern war mein Vater nicht sonderlich gern gesehen. Mein Vater wusste von alldem nichts. Er wusste zwar, dass Mbrat mich aus dem Heim geholt hatte, aber damit schien die Sache für ihn erledigt. Er kam uns nie besuchen. Trotzdem machten ihm seine Bekannten offenbar Vorwürfe, dass er eine seiner Töchter zu den Großeltern abgeschoben habe. Als »Mädchen aus dem Koffer« war ich immer noch ein Thema in Eritrea. Die Nachbarn meiner Großeltern kannten die Geschichte, alle kannten sie alle außer mir. Ich wusste nie, wovon die Rede war, wenn die anderen
Kinder »Senait, Kofferkind!« hinter mir herriefen. Ich dachte immer, das sei ein dummer Scherz oder eine Laune von ein paar Kindern. Meine Großeltern erzählten mir kein Wort von meiner Geschichte. Meine Großmutter sagte immer nur, ich solle die Kinder ruhig rufen lassen, die wüssten nicht, was sie da sagten. Sie dachte sicher, ich würde die Geschichte nicht verstehen, und das war richtig und gut so. 42 Während dieser ZJt • iti Jen Großeltern sagte ich immer »Mama« zu meiner Tante Mbrat, die mit im Haus meiner Großeltern wohnte. Außer mir hatte Mbrat noch zwei Mädchen, von denen das ältere Senait und das jüngere Frehiwet hieß. Beide waren älter als ich, aber nur Frehiwet wohnte noch bei uns. Die ältere Senait war schon ausgezogen, als ich zur Familie kam, die Jüngere war von nun an meine Schwester. Einmal sagte sie: »Senait, du hast noch eine Schwester, die heißt auch Senait.« Das gab mir zu denken. Also fragte ich Mbrat: »Mama, wieso nennst du zwei von deinen Töchtern Senait? Woher sollen wir denn wissen, wer gemeint ist, wenn du uns rufst?« Erst antwortete sie darauf nicht, dann meinte sie ausweichend: »Den Namen fand ich immer schon schön.« Aber bestimmt hätte sie mich nicht ebenfalls Senait genannt, wenn ich ihr Kind gewesen wäre. Für mich klang ihre Antwort zwar nicht logisch, aber ich akzeptierte sie schon deshalb, weil ich sie akzeptieren wollte. Ich brauchte eine akzeptable Antwort, um keine weiteren Fragen stellen zu müssen. Soldaten Während des Jahres, das ich in der kleinen heilen Welt bei meinen Großeltern zubrachte, wandelte sich die Welt der Erwachsenen draußen vor den Mauern meines Paradieses nicht zum Besseren: Der Krieg zwischen Eritreern und Äthiopiern nahm immer blutigere Züge an und drohte für die Eritreer endgültig verlorenzugehen, da sich die beiden eritreischen Befreiungsbewegungen ELF (Eritrean Liberation Front — Eritreische Befreiungsfront) und EPLF (Eritrean People's Liberation Front — Befreiungsfront des eritreischen Volkes) zunehmend feindselig gegenüberstanden und einander offen bekriegten, anstatt gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen. Hocherfreut über die Uneinigkeit seiner Gegner rieb sich der äthiopische Diktator Haile Mengistu die Hände und fühlte sich schon nah am Sieg. So gut wie alle größeren Städte standen unter der Kontrolle der äthiopischen Regierungstruppen, die Rebellen mussten sich in das unwegsame Bergland oder in den malaria 43 verseuchten Westen des Landes, an die sudanesische Grenze, zurückdrängen lassen. Die Eritreer wurden schikaniert. Immer wieder kamen äthiopische Soldaten ins Haus meiner Großeltern. Das waren keine normalen Besuche oder Hausdurchsuchungen, sondern Plünderungen. Die Soldaten polterten zu jeder Tages und Nachtzeit herein. Sie ließen mitgehen, was ihnen gefiel, und einmal setzten sie sogar das Haus in Brand, so dass meine Großeltern die Flammen nur mit Mühe und Not löschen konnten. Sie beteuerten den Soldaten zwar jedesmal, dass sie weder Waffen versteckt hielten noch Rebellen Unterschlupf boten, aber die Männer in den Uniformen schenkten ihnen keinen Glauben. Oder zumindest hatten sie den Befehl erhalten, es nicht zu glauben. Für uns lief es auf das gleiche hinaus: auf regelmäßig wiederkehrende Schikanen. Ich war alt genug, um zu verstehen, dass das kein Spiel war, sondern bitterer Ernst. Diese Männer in Uniformen waren etwas Besonderes. Sie hatten eine größere Macht als meine Großeltern, Onkel und Tanten, von mir ganz zu schweigen. Ein Blick über Maitemenai, mein ehemaliges Wohnviertel in Asmara. 44 In Asrnara herr^te eine »L^ngc Ausgangssperre. Aoend für Abend rollten die Panzer aus der Kaserne und besetzten alle wichtigen Kreuzungen der Stadt. Soldaten patrouillierten, es war immer wieder Gewehrfeuer zu hören. Wen die Soldaten nach acht Uhr abends auf der Straße antrafen, der musste mit seiner sofortigen Verhaftung rechnen — wenn die Soldaten nicht kurzen Prozess machten und ihn »in Notwehr« auf der Stelle erschossen. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder misshandelt — das waren die »Nebenwirkungen« eines Krieges, der mitten in den Wohngebieten, in den Städten und Dörfern stattfand. Ich fragte immer wieder, was dort draußen passierte, aber ich bekam keine Antwort. Eines Tages versuchte ich, mir selbst ein Bild zu machen von der Welt jenseits der schützenden Mauern unseres Hauses — ohne zu ahnen, wie gewalttätig und unfreundlich diese Welt selbst zu kleinen Mädchen werden kann. Während der Dämmerung, als alle nach Hause gingen und wir Kinder längst im Haus sein sollten, kletterte ich klammheimlich über die Mauer, die unseren Hof umgab. Ich schlich mich aus unserer kleinen Nebenstraße hinaus auf die Hauptstraße und von dort ein Stückchen bergauf bis zu einem Platz, auf dem die Soldaten standen und warteten. Als Geschenk brachte ich ihnen eine Kleinigkeit zu essen mit. Ich hatte die Vorstellung, dass diese Männer in ihren Baracken, Zelten und anderen notdürftigen Verschlagen so arm waren, dass sie sich nichts zu essen leisten könnten. Dabei war es genau umgekehrt: Durch Plünderungen und Beschlagnahmungen von Lebensmitteln und Vieh ging es den Soldaten viel besser als der Zivilbevölkerung, die völlig von deren Willkür abhängig war. Irgend etwas faszinierte mich an diesen Soldaten. Im Gegensatz zu allen Erwachsenen und zu den anderen Kindern fand ich sie nicht bedrohlich. Das lag nicht an meinem Mut, denn ich war feige. Wenn es ein Problem gab, verschwand ich immer so schnell es ging hinter der nächsten Ecke. Ich hatte einfach keine Ahnung davon,
was Soldaten waren und was sie taten. Die Erwachsenen wussten das, und deshalb hielten sie sich fern. Sie wussten, dass es im Krieg kein Recht und kein Gesetz gibt. Sie wussten, dass es für einen dieser schlecht ausgebildeten, aggressiven, hungrigen, 45 drogensuchtigen oder betrunkenen Soldaten wenig bedeutete, jemanden zu toten, der ihm im Weg stand. Der nervte. Der ihn in Angst versetzte. Dem er nichts Gutes zutraute. Sie wussten, dass die Soldaten so dachten, weil ihre Feinde genauso dachten: erst schießen — fragen konnte man hinterher. Wer erst fragte, konnte hinterher keine Erklärungen mehr abgeben, weil er langst tot war. Also machten die Erwachsenen einen weiten Bogen um jede dieser traurigen Figuren in ihren abgerissenen Overalls und zerrten mich weg, wenn ich zu diesen seltsamen Wesen hin wollte. Meine Neugier wurde dadurch erst recht angefacht. Für mich waren die Soldaten interessante Leute. Sie sahen zwar so aus wie wir, hatten aber viel mehr zu sagen. Die meisten Soldaten waren noch jung. Uns Kindern kam schon ein Vierzehn oder Fünfzehnjähriger erwachsen vor. Eine Zwanzigjährige war für uns eine mittelalte Frau, die schon ein, zwei oder drei Kinder hatte. Das war für dieses Alter vollkommen normal. Die meisten Soldaten waren schon mit elf Jahren in der Ausbildung, und ab dem Alter von vierzehn Jahren trugen sie reguläre Uniformen und kamen in regulären Verbanden an die Front. Die Besatzungssoldaten in Asmara waren ein wenig alter, denn so war und ist es bis heute in allen afrikanischen Kriegen: Die jungen Heißsporne verheizen sie an der Front, den weniger gefahrlichen Dienst in den bereits besetzten Gebieten oder im Hinterland übernehmen die alteren Soldaten. Der Dienst an der Front war kein Kinderspiel, aber es waren Kinder, die ihn ausbaden mussten. Ich wollte sehen, was die Soldaten dort oben auf dem Platz machten, wollte wissen, was das für Leute waren. Wahrend die meisten Menschen sich beeilten, nach Hause zu kommen, schlich ich die Hauptstraße hinauf, um den Soldaten ein paar Enjera, einen Maiskolben und ein bisschen Obst aus dem Garten zu bringen. Viel konnte ich nicht mitnehmen, sonst wäre das zu Hause aufgefallen. So reich waren wir nicht, dass wir Lebensmittel zu verschenken hatten. Es war ein großes Hallo, als die Soldaten mich zu ihren Befestigungen hinaufließen. Sie hatten provisorische Barrikaden gebaut, von denen aus man die Hauptstraße von der Innenstadt hinauf nach Malte menai sehr gut im Auge behalten konnte. Wir saßen zusammen in 46 ch.sen Verschlagen, und iie pladderten mit mir, zeigten m>r ihre Waffen und ließen mich aus den Gucklochern spähen. Plötzlich Besuch von einem kleinen Madchen zu bekommen, das sich mit ihnen unterhielt und ihnen noch dazu ein paar Leckereien brachte, war für diese Leute eine große Überraschung. Nachdem mein erster Besuch so gut verlaufen war, schlich ich mich öfter zu den Soldaten. Sie behandelten mich immer sehr freundlich. Als es einmal nach unseren Plaudereien schon dunkel geworden war, brachten mich zwei oder drei von ihnen nach Hause, denn wegen der Ausgangssperre durfte ich nicht mehr allein auf der Straße sein. Aus Angst vor Heckenschutzen wagten sich selbst die Soldaten niemals alleine auf die Straße. Im nachhinein betrachtet war es von den Soldaten ziemlich leichtsinnig, mir zu vertrauen und mit mir durch die dunkle Nebenstraße zu gehen. Wie leicht hatte ich sie in einen Hinterhalt locken können! Meine Oma war völlig aus dem Hauschen, als ich mit den Soldaten ankam. Sie hatte schreckliche Ängste ausgestanden, weil ich bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zu Hause gewesen war. Jetzt musste sie furchten, dass mich die Soldaten bei irgendeiner Dummheit geschnappt hatten und nun mir oder der Familie etwas Schlimmes antun wurden. Sie begann zu weinen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fiel vor den Soldaten auf die Knie und flehte: »Tut ihr nichts, sie ist doch noch ein Kind' Bitte, tut ihr nichts'« Die Soldaten waren daran gewohnt, Angst und Schrecken zu verbreiten. Zwar befanden sie sich in Äthiopien, aber doch im Feindesland, denn die Bewohner der Provinz Eritrea waren geschlossen für die Unabhängigkeit Eritreas und betrachteten die äthiopischen Soldaten als verhasste Besatzer, auch wenn die oft vom selben Stamm waren wie sie selbst. Diese Soldaten jedoch waren sehr nett. »Wir wollen ihr nichts tun«, beruhigten sie meine Großmutter, »nun sei ruhig, Alte. Schrei nicht herum. Wenn uns jemand hier sieht, kommen wir ins Gefängnis. Wir müssen auf unserem Posten bleiben. Aber das Madchen bringt uns immer Essen, und wir wollten uns bedanken. Sag ihr, dass sie nicht mehr kommen darf, sie bringt dich und sich selbst in Gefahr.« 47 Unter Tränen beschwor meine Oma sie, nur ja zu glauben, dass sie mich nie wieder abends hinauslassen wolle. Dieser Auftritt der Soldaten bei uns zu Hause beeindruckte mich gewaltig. Anschließend sagte meine Oma zu mir: »Wenn die dich erwischen, und da ist ein unfreundlicher Chef dabei, werden sie dich umbringen. Dann erschießen sie dich.« Von da an ging ich nie mehr zu den Soldaten und blieb abends immer zu Hause. Ich hatte richtig Angst bekommen. In dieser Nacht hatte ich einen starken und merkwürdigen Traum: Es war Neujahr, und Soldaten kamen zu uns ins Haus gepoltert. Diesmal kamen sie jedoch nicht, um nach meinem Vater zu suchen, sondern um meine Oma zu schlachten. Sie brüllten herum, dass sie sie schlachten wollten. Voller Panik schrie ich die Typen an: »Keiner
schlachtet meine Oma!« Und: »Versteckt sie!« Schweißgebadet wachte ich auf und lief weinend ins Nebenzimmer zu meiner Oma, um ihr von dem Traum zu erzählen. Sie nahm mich zu sich ins Bett, aber es gelang ihr nicht, mich zu beruhigen. Am nächsten Tag spielten wir den Traum miteinander durch. Ich bestand darauf, dass sie sich im Haus versteckte, damit ich sie suchen konnte. Wenn sie sich nicht gut genug versteckt hatte, sagte ich: »Hier finden sie dich«, und suchte ihr ein besseres Versteck. Ich stopfte sie sogar in den Schrank. Dann zog ich sie wieder heraus und schrie sie an: »Nein, nicht hier, sondern im Wohnzimmer!«, und dort ging es weiter, genauso im Hof, in der Vorratskammer und in allen anderen Räumen auch, bis ich die arme Frau durch das ganze Haus gehetzt hatte. Sehr viele Verstecke gab es nicht, weil das Haus klein war und es nicht viele Winkel oder Schränke gab, in denen man sich verstecken konnte. Aber indem ich meine Oma durch die Gegend scheuchte, vertrieb ich meine Angst. Es war bezeichnend für meine Großmutter, dass sie bei diesem Spiel mitmachte. Niemand, mit dem ich früher oder später in meiner Kindheit zu tun hatte, konnte sich so gut auf Kinder einstellen wie sie. 48 Beim Vater Das erste Anzeichen dafür, dass die wunderbare Zeit im Haus meiner Großeltern zu Ende gehen sollte, war, als meine Großmutter sagte: »Senait, du musst deinen Vater kennenlernen.« Statt mich zu freuen, erschrak ich. Mein Vater ging mir nicht ab. Ich hatte doch meinen Großvater und meine Großmutter und lebte mit Mbrat, meiner Mutter, wie ich immer noch dachte, zusammen in einem Haus. Mit meinem Vater verband ich nur unangenehme Situationen: die Soldaten, die auf der Suche nach ihm immer wieder unser Haus auf den Kopf stellten. Die lästigen Fragen anderer Kinder, wo und wer mein Vater sei. Das ungute Gefühl, das mich ab und zu beschlich, wenn ich daran dachte, dass mich Mbrat aus dem Heim geholt, mein Vater aber offensichtlich keinen Finger dazu gerührt hatte. Mbrat, meine Tante, die sich als meine Mutter ausgegeben hatte, um mich aus dem Heim zu holen. 49 Ich wollte keinesfalls bei meinem Vater leben, sondern bei meiner Mutter und meinen Großeltern, und zwar für immer. Also sagte ich meiner Großmutter noch am gleichen Abend, dass ich meinen Vater nicht treffen wollte. Oma war ehrlich erstaunt: »Ja, wieso denn nicht?« »Ich mag ihn nicht.« »Du kennst ihn doch nicht.« »Trotzdem, ich mag ihn nicht!« »Warum denn? Sag mir wenigstens, warum!« »Das habe ich hier«, sagte ich und zeigte auf meinen Bauch. Von tief da drin kam meine Ablehnung. Ich mochte ihn nicht, ohne ihn zu kennen. Meine Großmutter sprach in den nächsten Tagen nicht mehr mit mir darüber, doch Mbrat reiste plötzlich ab. Wie ein Pfeil schoss ich durch das Haus, über den Hof. Die Straße hinauf und hinunter, doch Mbrat war weg. Alle fragte ich, ob jemand sie gesehen hätte, aber Mbrat blieb wie vom Erdboden verschluckt. Niemand sagte mir, wohin sie gegangen war. Dabei verreiste normalerweise niemand. Niemand fuhr auf Urlaub, niemand arbeitete woanders, niemand besuchte weit weg wohnende Verwandte. Die einzige Reise, an die ich mich erinnern konnte, war die Fahrt nach Jerusalem, zu meiner Taufe. Mbrat war längst getauft und sie blieb verschwunden. Am nächsten Tag sollte ich verreisen. Meine Großtante holte mich ab. Ich wusste sofort, wohin die Fahrt gehen sollte. Auch wenn ich nicht wusste, wo das Ziel war, wusste ich doch, dass diese Reise zu meinem Vater führen sollte. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, weinte, schlug um mich, schluchzte bitterlich. Alles vergebens — die Erwachsenen hatten etwas beschlossen, und ich hatte keine Chance, mich dagegen aufzulehnen. Die Großtante stieg mit mir in einen überfüllten Überlandbus, und los ging die Reise Richtung Keren, einer Stadt im Westen Eritreas, und von dort weiter in die Provinz Berka. Das war damals keine ungefährliche Reise, denn die schwersten Kämpfe zwischen äthiopischen Regierungstruppen und eritreischen Aufständischen tobten unter anderem in Berka. Dort waren nur die Hauptstraßen und einige der größeren Städte in der Hand der regulären Armee, auf dem Land hatten die 50 Eritreer das Sagen. Eo kam immer wieder vor, dass die Partisanen eine Straße blockierten, um den Verkehr zu stören oder äthiopischen Einheiten aufzulauern. Es gab auch regelmäßige Angriffe der Äthiopier auf zivile Einrichtungen, wenn dort feindliche Verbände vermutet wurden. Keine der beiden Seiten ging in diesem Krieg zimperlich vor. Wenn ich die Reise trotzdem schön fand, dann nur aus einem Grund: Als wir spätabends den Bus wechseln mussten, trug mich meine Reisebegleitung quer über einen riesigen Platz, schulterte mich und schleppte mich davon. Sie dachte, ich schlafe, aber ich stellte mich nur schlafend, um zu sehen, was passierte. Dann kam das Beste, was mir geschehen konnte: Ich wurde durchs Leben getragen. Da beschloss ich, dass diese Frau nicht
böse sein konnte. Möglicherweise gab es für mich im Haus meines Vaters eine Chance. Vielleicht musste ich nicht für immer dort bleiben. Vielleicht konnte ich nach kurzer Zeit zu meinen Großeltern zurück. Der Vater Spätnachts am zweiten Abend unserer Reise erreichten wir den Ort, in dem mein Vater wohnte. Die Strecken in Eritrea sind meistens nicht weit, aber trotzdem ist das Reisen langwierig. Schon zweihundert Kilometer können sich mit Wartezeiten und Umsteigen und Reifenpannen und überladenen, langsam kriechenden alten Bussen zu einer Tagesreise auswachsen. Als wir endlich todmüde ins Haus meines Vaters stolperten, erkannte ich Mbrat, meine Mutter. Plötzlich war sie wieder da, meine Rabenmutter, die mich im Stich gelassen hatte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und empfing mich nicht besonders herzlich. Ich aber flog ihr überglücklich in die Arme um gleich danach einer Frau vorgestellt zu werden, die meine neue Mutter sein sollte und Werhid hieß. Ich war verwirrt, und die Verwirrung steigerte sich noch, als Mbrat mir eine Menge neuer Geschwister vorstellte. Ich konnte mir all die neuen Verwandten nur mühsam merken: Werhid, meine Stiefmutter, 51 war die neue Frau meines Vaters geworden, nachdem er meine leibliche Mutter und seine zweite Frau Abrehet verlassen hatte. Werhid hatte vier Kinder. Es gab noch ein Kind von ihrer Schwester und Yaldiyan und Tzegehana, die beiden Töchter von meinem Vater und Abrehet. Diese beiden Halbschwestern sollten meinen Weg für viele Jahre begleiten. Und dann kam er herein, mein Vater. Er sah zum Fürchten aus: düster, groß, hager und nervös. Seine Gesichtszüge ähnelten den meinen. Es war ein Schock, plötzlich dem Mann gegenüberzustehen, den ich fürchtete und der doch eine so starke Faszination auf mich ausübte. So hatte ich mir meinen Vater nicht vorgestellt. Als er zur Tür hereinkam, erstarrte ich. Seiner Begrüßung versuchte ich mich zu entziehen, indem ich mich in Mbrats Gewand versteckte, doch sie schob mich in seine Richtung. Ich wandte den Kopf ab, verkrampfte mich und sagte nichts. Die Ablehnung war vom ersten Moment an gegenseitig, weil ich meinem Vater gleich von Anfang an das zeigte, was er in seiner Umgebung am meisten hasste: Widerstand. Mein Widerstand gegen meinen Vater wuchs vom ersten Moment an. Das hat mit der Sturheit zu tun, für die ich ebenso bekannt bin wie er. Es hat mit unserer Dickköpfigkeit zu tun, mit unserem Bestreben, die Situation um uns herum im Griff zu haben, und mit unserem Misstrauen gegenüber Versuchen, unsere Freiheit einzuschränken. Ich wusste sofort, dass ich diesen Menschen nicht mag. Ich spürte, dass sich von diesem Moment an etwas grundlegend ändern sollte in meinem Leben. Ich fühlte das, ohne es benennen zu können. Ich sagte sogar zu Mbrat: »Mama, ich spüre, dass ich dich nicht mehr wiedersehen werde. Du wirst weggehen, und ich werde dich nie wiedersehen.« Erschrocken versicherte sie mir: »Wie kommst du denn darauf? Natürlich sehen wir uns wieder, ich bin doch bei dir!« Zur Sicherheit wich ich ihr in diesen Stunden nicht von der Seite. Ich verkrallte mich in ihren Tüchern, ließ mich von ihr mitschleifen, auch wenn sie nur ins Nebenzimmer ging, und hing wie eine Klette an ihr, als sie einmal nach draußen an den Rand des Dorfes ging, um sich zu erleichtern. Bald rollten sich die anderen zum Schlafen auf einer der Matratzen oder auf dem Boden zusammen, nur ich blieb hellwach. Ich war 52 zutiefst erschöpft und gleichzeitig hellwach, denn ich spürte, dass meine geliebte Mutter jederzeit verschwinden könnte. Vor zwei Tagen war sie mir nichts, dir nichts über Nacht aus dem Haus meiner Großeltern verschwunden, und das könnte hier jederzeit wieder geschehen. Ich spürte höchste Gefahr, darum legte ich mich neben sie und klammerte mich mit aller Kraft an ihr fest, umschlang sie, so gut das ging, mit meinen viel zu kurzen und viel zu schwachen Armen. Meine Umklammerung ließ erst nach, als mich der Schlaf übermannte. Sobald ich beim ersten Sonnenstrahl aufwachte, schoss ich hoch und sah, dass Mbrat weg war. Ich wusste, dass sie weg war. Keinen Augenblick länger hielt es mich drinnen. Ich sah mich nicht einmal im Zimmer um, ob sie vielleicht woanders zwischen den Schlafenden liege, sondern schoss aus dem Hof hinaus auf die Straße. Ich rannte die Straße hinunter in der wahnwitzigen Hoffnung, noch einen Zipfel von ihr erhaschen zu können. Das Morgenlicht war trüb, es war neblig, über Nacht hatte es kräftig geregnet. Weit und breit war von meiner Mutter nichts zu sehen. Ein paar Dorfbewohner waren auf dem Weg zum Wasserholen, ein paar Kinder kamen mit ihren Ziegen die Straße herunter, das war alles. Kein Bus, kein Auto, keine Mutter. Hatte ich mich geirrt? War sie vielleicht doch noch im Haus? Ich lief zurück zum Haus meines Vaters, um nachzusehen, ob sie dort wäre — vergeblich. Meine Mutter war weg. Ich konnte noch nicht einmal weinen, der Hals war mir wie zugeschnürt. An diesem Morgen ging etwas kaputt in mir. Ein Riss tat sich tief in meinem Inneren auf. Der Rest des Tages verschwand darin. Ich habe keine Ahnung mehr, was danach passierte. Die neuen Schwestern Am nächsten Morgen hörte ich als erstes die Stimme meines Vaters. Es war eine dünne Stimme. »Steht alle auf!«
Das ist der erste Satz, den ich von meinem Vater in Erinnerung 53 habe. Ich erschrak und rollte mich auf meiner Matratze noch mehr zusammen. Mein Herz pochte bis in den Hals hinauf. Da kam Yaldiyan, meine neue, um rund fünf Jahre ältere Schwester, und flüsterte mir etwas zu. Zuerst war ich so aufgeregt, dass ich sie nicht verstand. »Komm, wir gehen Wasser holen«, wiederholte sie ein wenig lauter. Ich sah mich nach den anderen um, nach den Kindern von Werhid, meiner neuen Stiefmutter. Ich deutete auf sie: »Kommen die anderen nicht mit?« Yaldiyan schüttelte nur den Kopf und gab mir ein Zeichen, endlich zu kommen: »Dafür sind wir zuständig. Vater sagte, du sollst mitkommen.« Ich ließ nicht locker: »Wieso arbeiten die anderen nicht? Wieso müssen wir arbeiten?« In der Zwischenzeit war mein Vater von draußen hereingekommen und hatte unbemerkt un ser Gespräch verfolgt. Erst als ich das Brennen im Gesicht spürte und auf den Boden knallte, merkte ich, dass er da war. Alles ging so schnell, dass ich kaum mitbekam, wie er mir eine runterhaute. Es überraschte mich nicht, ich hatte geahnt, dass mein Vater mich schlagen würde. Alle eritreischen Männer schlagen ihre Kinder, und hin und wieder schlagen sie ihre Frauen, die wiederum hin und wieder ihre Kinder schlagen. Das gehört zur Erziehung, und Erziehung ist alles, was dazu dient, Kinder ruhigzustellen und sie zu guten Arbeitern zu machen. Von da an war die Sache klar. Mein Vater hatte sich mir gegenüber als Feind zu erkennen gegeben und nachdrücklich deutlich gemacht, dass ich von jetzt an ihm zu gehorchen hätte. Mehr musste ich nicht wissen. Ohne zu zögern und ohne Widerrede stand ich auf, um zusammen mit meiner Schwester Wasser holen zu gehen. Mein neues Leben als Tochter meines Vaters hatte begonnen und ich sollte fast zwei Jahrzehnte brauchen, um es wieder zu beenden. Wasserholen ist eine schwere Arbeit und daher ausschließlich Frauen, Mädchen und notfalls kleinen Jungs vorbehalten. Auf dem Land gab es keine Wasserleitungen, man holte das Wasser direkt aus Brunnen — zumindest theoretisch, denn oft genug waren die Brunnen ausgetrocknet. Dann hieß es, sich auf die Suche nach Wasser zu machen. Am ehesten findet man es in ausgetrockneten Bachbetten, in Wasser 54 löchern o'iet tiei eingeschnittenen Tälern. Meistens muss man ein bisschen graben, bis man auf eine braune Brühe stößt, die erst nach dem Abkochen genießbar ist. Diesmal hatten meine Schwester und ich jedoch Glück — es hatte geregnet, das Flussbett war ein wenig feucht. Wir mussten nur eine Stelle suchen, an der das Wasser zusammengelaufen war, um es mit einer alten aufgeschnittenen Blechdose und einem Frittierölkanister aufzunehmen. Yaldiyan hatte eine Stelle weit weg von unserem Haus gesucht. Unten im Bachbett flüsterte sie mir zu: »Stell dich dumm! Stell dich tolpatschig, das ist die einzige Möglichkeit!« Sie musste große Angst vor unserem Vater haben, dass sie nicht mal hier draußen normal sprach, sondern nur wisperte. Ich befolgte ihren Rat und ließ in Sichtweite des Hauses einen der beiden Behälter fallen, so dass alle sahen, wie sich das kostbare Wasser nutzlos in den Staub ergoss. Von nun an ließ ich immer wieder mal etwas fallen, so dass ich bald in den Ruf kam, zu ungeschickt und fahrig für die meisten ernstzunehmenden Arbeiten zu sein. Mein Vater war nicht nur zu uns grausam, sondern auch zu anderen Menschen. Schon als Kind neigte er zu derben Spaßen. Einmal hatte er eine Wahrsagerin bloßgestellt, die einen sehr guten Ruf im Ort hatte und deren Kunst darin bestand, den Leuten die eine oder andere Krankheit auf den Kopf zuzusagen. Dafür bekam sie Geld. Diese Frau war meinem Vater nicht geheuer, er hielt sie für eine Betrügerin. Um sie auf die Probe zu stellen, schnitt er eine Zitrone entzwei, band sie sich ans Bein, schob die Hose darüber und humpelte aus dem Haus. Auf der Straße ließ er sich fallen, rappelte sich wieder auf, ließ sich noch mal fallen und tat, als würde er vor Schmerzen schreien. Binnen kürzester Zeit lief das halbe Dorf zusammen. Er brüllte: »Ich will zur Wahrsagerin! Ich will zu ihr!« Die Leute trugen ihn zur Wahrsagerin, und alle versammelten sich vor ihrer Hütte. Er zeigte ihr die vermeintliche Schwellung und jammerte gehörig: »O Gott, das Ding wird jeden Tag größer!« Durch die Hose hindurch betastete die Wahrsagerin die Zitrone, weil sie es nicht wagte, einem jungen Mann von etwa zwölf Jahren das Hosenbein heraufzuziehen. Sie setzte eine trübe Miene auf. »Das ist 55 unheilbar«, sagte sie bedeutungsschwanger, »dein Bein muss amputiert werden.« Da begann mein Vater zu grinsen und zog sein Hosenbein in die Höhe, so dass alle die Zitrone sehen konnten. Es entstand ein Riesentumult. Ein paar Leute wollten die Wahrsagerin auf der Stelle lynchen, aber sie wurde nur verprügelt und aus dem Dorf verbannt. Von solchen Episoden erzählte mein Vater mit Genuss, und bis heute hat ihn der Übermut seiner Jugend nicht verlassen. Gleichzeitig verstand er es, sich Respekt zu verschaffen, und ich gewann bald den Eindruck, dass mein Vater eine wichtige Persönlichkeit im Dorf war, an der kein Weg vorbeiführte. Das hatte sein Gutes, denn dadurch wurden auch seine Kinder zwar nicht mit Respekt, aber doch nicht wie der letzte Dreck behandelt. Das
half mir ein wenig, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Trotz meiner Traurigkeit lachte ich viel, was meinen Vater noch mehr zu stören schien als meine Traurigkeit. Zwar hatte ich wie meine Schwestern Angst vor meinem Vater, aber ich war störrischer als sie, die immer versuchten, ihm alles recht zu machen. Wirfliehen Die Gleichmäßigkeit und Sicherheit, die den Alltag bei meinen Großeltern geprägt hatten, waren dahin. Im Haus meines Vaters regierten Unbeständigkeit, Aufregung und Unsicherheit. Schon ein halbes Jahr nach meiner Ankunft, als ich mich eben halbwegs eingelebt hatte, mussten wir packen, denn meine neue Familie zog weiter. Unsere Habe passte mühelos in einige wenige Plastiktüten und Jutesäcke: ein paar Schüsseln und Töpfe, ein Kocher, eine Kaffeekanne, ein Transistorradio, eine Mappe mit Dokumenten und Fotos, ein paar Decken und unsere Kleider, von denen wir nicht viel mehr hatten als das, was jeder von uns am Leib trug, das war alles. Wir mussten fortziehen, weil immer mehr Soldaten durch unser Dorf kamen und uns bedrohten. Nachts hörten wir oft Schüsse, wie 56 ich es bereits aus Asmara gewohnt war, und ein dumpfes Grollen, vor dem ich anfangs große Angst hatte, weil ich es nicht kannte. Ich dachte, die Erde bebt oder es naht ein gewaltiges Gewitter, bis mir meine Schwestern erklärten, dass diese Geräusche vom Krieg kommen und von sehr großen Gewehren gemacht werden, die man Geschütze nennt. Wir boten einen erbärmlichen Anblick, als wir uns auf den Weg machten: Unser Vater, seine Frau, die zerlumpte Kinderschar, alle waren mit Säcken, Decken und dem restlichen Kleinkram beladen. Weder hatten wir ein Kamel noch ein Auto — Autos gab es damals für Privatpersonen nicht, selbst wenn wir uns eines hätten leisten können —, also mussten wir uns auf unserer Reise auf die überfüllten Ladeflächen von Lastautos quetschen, die in unsere Richtung fuhren oder den durch den Krieg aus dem Takt geratenen Busverkehr ersetzten. Das Leben unterwegs war kein Vergnügen. Es gab nichts zu essen, kaum zu trinken, keine Ruhe, um zu schlafen, und keine Gewissheit, wohin die Reise gehen sollte. Mein Vater litt unter der Situation. Er ließ seiner Unruhe und Unzufriedenheit freien Lauf, indem er uns bei jeder nur denkbaren Gelegenheit schlug, trat oder bespuckte. Nachts rasteten wir meistens am Straßenrand. Wir hörten wieder das Donnergrollen der Artillerie und das Dröhnen von Flugzeugen, die über uns ihre Bahnen zogen, um ihre Bombenlast auf nahen Städten abzuladen. Die Flugzeuge waren nur zu erahnen, weil sie ohne Positionslichter flogen. Wir hörten bloß ihr Brummen und sahen, wie sich die Erwachsenen angsterfüllt duckten. Meine Angst wuchs. Unsere Familie war nicht auf einer Reise unterwegs, sondern auf der Flucht. Auf unseren Fahrten und Märschen sah ich erstmals die Folgen des Krieges: zerstörte Dörfer, ausgebrannte Häuser, zerschossene, zerbeulte und verkohlte Kanonen und Fahrzeuge am Straßenrand. Doch was wir hier sahen, war noch nicht die ganze Geschichte. Es war nur der Anfang eines noch viel größeren Elends. Auf der Suche nach einer neuen Bleibe landeten wir wieder in einer aus Holz und Holzresten erbauten Hütte. Sie befand sich am Rande eines abgelegenen Dorfes in einer bergigen Landschaft. Es war fast 57 eine kleine Stadt mit zwar ebenerdigen, aber gemauerten Gebäuden, die entlang einer Hauptstraße und ein paar Nebenstraßen standen. Hier gingen wir wieder zur Schule. Das »Schulgebäude« war nicht mehr als ein Dach aus Wellblech und ein paar alten Baumaterialien, das ein Stück steinigen Bodens beschattete. Alle saßen im Staub, die Lehrerin uns gegenüber. Es gab weder Bücher noch Hefte oder andere Unterrichtsmaterialien, nur eine kleine Schiefertafel für die Lehrerin, auf die sie mit Kreidesteinen Zahlen und Buchstaben malte. Trotzdem hingen alle wie gebannt an ihren Lippen. Niemand störte, blödelte oder beschäftigte sich mit etwas anderem, denn der Schulbesuch hatte etwas von einem Gottesdienst. Wir waren froh, uns mit Erfreulicherem beschäftigen zu können als mit Krieg, Flucht und Not. Diese ländlichen Schulen wurden von den Befreiungsarmeen organisiert — in diesem Fall von der ELF, der Eritrean Liberation Front, für die mein Vater gekämpft hatte. Unter dem Wellblechdach in der Steinwüste erfuhren wir erstmals von den ELFIdeen eines freien, sozialistischen und aufstrebenden Eritreas, und uns wurden die entsprechenden Slogans, Lieder und Träume eingepflanzt. Außerhalb der Schule gab es nur die mörderische Hitze, die Steine, die Dornen und das Gestrüpp rund um unser Schulgebäude — und die Nebenwirkungen des Krieges: die Gefechtsgeräusche, die Not, den Hunger und die angespannten bis aggressiven Erwachsenen. Da war es am besten, aufmerksam dem Unterricht zu folgen, der Welt des Krieges zu entfliehen und in eine andere, eine bessere Welt einzutauchen. Damals war ich sechs Jahre alt. Der Krieg kommt In den Tagen und Nächten bevor der Krieg zu uns kam, kündigte er sich an, Schritt für Schritt rückte er näher. In unserem Dorf gab es eine Sirene, die nun jede Nacht und manchmal auch tagsüber heulte. Dann dröhnten Flugzeuge über unsere Köpfe hinweg, so tief, dass wir die Buchstaben am Heck erkennen konnten oder die
Pilotenkanzel. 58 Manchmal waren J:c 1 lugzeuge bchon da, bevor die Sirene heulte. Aber ob die Sirene heulte oder nicht, machte keinen Unterschied, denn vor den Bomben hätte es keinen Schutz gegeben. Sobald die feindlichen Flugzeuge am Horizont zu sehen waren, liefen alle planlos durcheinander; viele rannten aus dem Dorf hinaus und zu den Felsen dahinter, obwohl es keinen vernünftigen Grund dafür gab. Es war das komplette Chaos. Wir Kinder wussten nicht, was Bomben sind. Man hatte uns nur erzählt, dass sie sehr gefährlich waren und alles um sie herum töteten. Das reichte, um schreckliche Angst zu haben. Natürlich verschwendeten die Piloten ihre Bombenlast nicht an dieses völlig unbedeutende Bergnest, sondern brachten sie nach Keren, nach Akurdet oder nach Asmara. Auf diese Städte konzentrierten die Partisanen ihre Angriffe, um die äthiopischen Besatzer zu vertreiben. Am Tag als der Krieg zu uns kam, war der Unterricht schon vorbei, aber einige von uns Kindern mussten noch ein paar Arbeiten verrichten. Wir wuschen Wäsche und sammelten Brennholz, während andere Kinder im Schatten des Schuldachs saßen und nichts taten oder auf irgend etwas warteten. Wir hatten alle Zeit der Welt. Als die Flieger kamen, heulte die Sirene nicht. Das Brummen der Motoren war schon von weitem zu hören, wie von einem Bienenschwarm. Langsam schwoll es an. Es waren nur wenige Flugzeuge, zwei oder drei. Die Erwachsenen begannen wieder wie verrückt durcheinanderzulaufen, nur wir Kinder blieben, wo wir waren. Durch die wiederholte Folgenlosigkeit des Fliegeralarms war unsere Angst stumpf geworden. Diesmal kam es anders. Genau über uns klinkten die Flugzeuge ihre Ladung aus, und es fielen viele kleine Dinge vom Himmel. Es sah aus wie kleine Tiere oder Kinder, die wie Steine zu Boden stürzten, etliche hundert Meter vom Schulplatz entfernt. Wir rannten in alle Richtungen davon, aber nichts passierte. Die Flieger entfernten sich, das Brummen nahm ab, die Stille der Wüste kehrte zurück. Vorsichtig hoben wir die Köpfe. Wir krochen aus unseren Verstekken hinter Felsen oder Dornbüschen hervor. Auch die Erwachsenen 59 kehrten langsam ins Dorf zurück. Weil die Dinge aus den Flugzeugen in eine kleine Senke nicht weit hinter dem Schulplatz gestürzt waren, hatte außer uns Kindern niemand etwas davon gesehen. Neugierig näherten wir uns den merkwürdigen Gegenständen. Es waren tatsächlich kleine Körper, die da lagen, teilweise aufgerissen und verletzt durch die harte Landung auf den Steinen. Doch bevor wir sie näher betrachten konnten, rief die Lehrerin alle Kinder, die vorher schon eine Arbeit zu erledigen hatten, denn die sollten weitermachen. Widerwillig trotteten wir zur Schule zurück. Plötzlich brannte die Mulde. Donnerschläge zerfetzten die Stille, Brüllen, Schmerzensschreie und prasselndes Feuer folgten. Rauch stieg auf, Flammen züngelten aus den trockenen Büschen. Blutüberströmte Kinder wankten aus den Rauchschwaden. Kreischende Mütter rannten zur Unglücks stelle. Weinen und Schreien waren nicht mehr auseinanderzuhalten. Wir liefen hinüber und sahen ein Bild der Verwüstung: verkohlte Kinder, zerfetzte Leiber, brennende, nicht erkennbare Gegenstände und — Puppen. Überall lagen Puppen, manche ein wenig beschädigt, andere zerfetzt, wieder andere heil. Eines von den neu dazugekommenen Kindern griff nach einer Puppe, es gab noch einen Donnerschlag, und das Kind stand in einem glühendroten heißen Blitz. In einem Feuerball, der das Kind zu verschlingen schien. Es stürzte zu Boden, wand sich schreiend, verstummte. Wir waren starr vor Entsetzen und Angst. Erwachsene zerrten uns weg. Diese Puppen waren mit Sprengsätzen ausgestattet. Sie waren gebaut und abgeworfen worden, um Kinder zu töten und zu zerfetzen. Die Schmerzensschreie dauerten noch den ganzen Tag an. Verkohlte Kinder starben in den Armen ihrer Mütter. Es gab keine medizinische Versorgung, kein Verbandszeug, keine Desinfektionsmittel. Ein paar der Verletzten wurden weggeschafft. Insgesamt starben um die zwanzig Kinder. Das Dorf war in Aufruhr, doch niemand konnte etwas tun. Nur kurz hatte der Krieg sein Gesicht gezeigt. Weinend und angstschlotternd pressten wir Schwestern uns aneinander. Wir verstanden nichts, wir waren nur schockiert. Selbst unseren Hunger hatten wir vergessen. 60 Als es dunkel "nirripj wagte niemand zu schlafen, ruie fühlten sich machtlos und ausgesetzt. Wehklagen zogen durch das Dorf, die ganze Nacht. Zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich richtig. Ich heulte stundenlang, wie ich nie zuvor heulen konnte. Niemand war da, um mich zu trösten. Meine Schwestern waren selbst am Boden zerstört, und mein Vater streunte unablässig wie ein tollwütiger Tiger durch das Dorf. Meine Stiefmutter kümmerte sich um das Leid ihrer Freundinnen, deren Kinder getötet worden waren. Erstmals spürte ich ganz tief, dass ich völlig alleine war. Dass nur einer da ist, wenn ich dringend jemanden brauche: ich selbst. In der Wüste Nach dieser Tragödie blieb nichts, wie es war. Das Dorf fand nicht mehr zum Alltag zurück. Die Schulstunden fanden zwar noch statt, aber es blieben zu viele Plätze leer. Die Lehrerin hockte oft auf dem Boden, sagte nichts und stocherte mit einem Stöckchen im Sand, als wollte sie etwas zeichnen, von dem niemand erkennen konnte, was es war. Unser Vater war noch nervöser als früher, er konnte kaum fünf Minuten lang stillsitzen, ständig trieb
es ihn nach draußen, zu den Nachbarn, hinaus in die Felsen, auf die Hauptstraße, in die Kneipe, wieder auf die Straße. Einige Familien hatten bereits ihre Sachen zusammengerafft und das Dorf verlassen. Es dauerte nicht lange, bis auch wir packten. Niemand fragte, warum und wohin wir gehen. Allen war klar, dass hier kein Bleiben war. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg, ohne Tiere, ohne Begleitung, nur unsere Familie: Vater, Stiefmutter und wir insgesamt acht Kinder. Tagsüber brannte die Sonne gnadenlos auf uns herunter, nachts froren wir, dass die Zähne klapperten. Wir schliefen im Freien, am Wegesrand oder etwas abseits von der Straße, um nicht durch vorbeiziehende Soldaten unsanft geweckt zu werden. In einer dieser Nächte kamen die Löwen. Zuerst spürten wir nur, dass irgend etwas anders war. Etwas fehlte. Die leisen Geräusche der 61 Nacht waren verstummt. Vater ließ das Feuer diesmal nicht ausgehen, sondern legte noch ein paar Wurzeln nach. Wir mussten sparsam mit Brennholz umgehen, denn es gab nur verdorrte Äste, wenige trockene Büsche, alte Wurzeln. Das meiste Brennmaterial musste man mühsam abhacken, was keine Kleinigkeit war mit einem stumpfen Küchenbeil, wie wir es hatten. Außerdem galt es immer, zwei Gefahren gegeneinander abzuwägen: Tiere und Menschen. Brannte das Feuer hell, wagte sich zwar kein Tier in die Nähe, doch es wurden Menschen angelockt — und nicht unbedingt nur Freunde. Glomm das Feuer nur mehr schwach, zogen Löwen, Hyänen und Kojoten immer engere Kreise um die Rastenden — dafür konnte kein Mensch von weitem den Lagerplatz erkennen. Jetzt sahen wir die Löwen. Sie waren viel zu nah herangekommen, obwohl nun wieder helle, frische Flammen aus dem Feuer züngelten. Doch diese Löwen ließen sich davon nicht beeindrucken. Es waren zwei ausgewachsene Löwinnen, und sie strichen fünfzehn, zwanzig Meter von uns entfernt an der Grenze zwischen Feuerschein und Dunkelheit umher. Sie bewegten sich ruhig und leise. Nur ihre Blicke zeigten, dass sie sich für uns interessierten. Ein paar der Kinder schliefen schon. Werhid und mein Vater waren noch wach — und ich, die größte Memme von allen. Ich dachte, jetzt hat mein letztes Stündlein geschlagen. Bestimmt würden die Löwen uns oder zumindest mich — auffressen. Ich wusste, dass man vor einem Löwen nicht weglaufen darf, sonst läuft er einem nach, holt einen ein und frisst einen. Ich wusste, dass man nicht schreien oder gestikulieren darf, sonst wird ein Löwe aggressiv. Ich wusste, dass wir nichts dabeihatten, um einen Löwen aufzuhalten, kein Gewehr, keinen Revolver, keine Waffe. Nur unser stumpfes Küchenbeil. Es nutzte nichts, dass ich all das wusste. Ein starkes Zittern befiel mich, und ich fing leise zu wimmern an. Wir lagen völlig still da, die Kleinen schlafend, die Großen schrekkensstarr, ich zitternd. Die Löwen kamen bis auf zwei, drei Meter an uns heran. Sie rochen an den Decken, schnüffelten an unseren leer gegessenen Töpfen, stupsten ein paar Plastiktüten beiseite. Unschlüssig blieben sie stehen, sahen sich um, sahen uns an, sahen sich wieder um. 62 Das waren die furchtcrhchbtui Momente für mich. Jetzt fressen sie dich, dachte ich. Es waren nur ein paar Sekunden, aber sie kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Plötzlich senkten die beiden ihre Köpfe und trotteten weiter. Ich pinkelte mich an vor Angst; das kam öfter vor bei mir. Eben hatte ich noch höllisch gefroren, nun war ich schweißüberströmt. Ich war unendlich erleichtert, als die riesigen Katzen im Dunkel der Nacht verschwanden. So groß, wie ich glaubte, war die Gefahr vermutlich gar nicht gewesen. Löwen fallen keine Menschen an, wenn sie nicht das Gefühl haben, sie werden angegriffen. »Ein Löwe«, klärte uns unser Vater auf, »frisst nichts, was ihm fremd ist. Er frisst nichts, das er nicht kennt, beispielsweise Menschen — an denen hängen ihm viel zu viele fremde Gerüche. Ein Löwe will Antilopen fressen oder Ziegen oder andere Wildtiere. Einen Menschen frisst er nur im Notfall.« Schläge Nach ein paar Tagen fanden wir ein provisorisches Quartier in einem Dorf, das viel kleiner war als das letzte. Hier konnten wir glücklicherweise ein bisschen länger bleiben. Das ständige Umherziehen war uns allen zu anstrengend geworden. Ein paar der Kinder waren so erschöpft, dass sie schon fieberten. Wir konnten in einem Haus bei Verwandten unterkommen. Leichter wurde unsere Situation dadurch nicht. Es gab immer zuwenig zu essen, zuwenig Platz, zu viele Kinder und zu viele Schläge. Mein Vater schlug sofort zu, wenn ihm etwas nicht passte. Das passierte oft: Jemand war zu laut — schon fing er sich eine Ohrfeige. Ich wollte nicht sofort Wasser holen gehen, weil ich erst noch ein Spiel beenden wollte — schon hagelte es links und rechts auf mein Gesicht ein, dass ich aus dem Haus taumelte. Das Essen war noch nicht fertig, obwohl mein Vater hungrig war — schon knallte es auf Backen, Köpfe, Rücken oder 63
es gab einen Hieb in den Magen. Auch wenn Schläge in Afrika zur Kindererziehung dazugehören, schlugen nicht alle Väter so hart, so oft und so brutal zu wie mein Vater. Zu allem Überfluss war ich das liebste Opfer meines Vaters. Je länger wir beisammen waren, desto deutlicher wurde, dass er es vor allem auf mich abgesehen hatte. Natürlich schlug er seine anderen eigenen Kinder, er schlug Werhids Kinder, er schlug sogar die Nachbarskinder, wenn sie ihm in die Quere kamen, oder die Freunde seiner Kinder, wenn sie seine Bahnen störten. Das geschah im Vorbeigehen und galt als völlig normal: Jeder Erwachsene hatte das Recht, jedes Kind zu schlagen, wenn es etwas tat, das ihm nicht gefiel oder wodurch er sich gestört fühlte. Mich schlug mein Vater nicht nur im Vorbeigehen, sondern richtig gezielt, ob ich etwas ausgefressen hatte oder nicht. Wenn er der Meinung war, dass ich schon Feuerholz hätte gesammelt haben müssen, obwohl ich eben erst von der Schule nach Hause kam, zerrte er mich in die Hütte und drosch so lange auf mich ein, bis jeglicher Protest von mir verstummt war. »Ich war doch die ganze Zeit in der Schule!« Rumms. »Was willst du von mir? Ich war doch gar nicht da?!« Rumms. »Warum sind denn nicht die anderen gegangen?« Rumms. »Ich kann doch nicht vor der Schule Holz sammeln, das ist zu früh!« Rumms. »Bitte nicht!« Rumms. »Warum schlägst du mich? Ich hasse dich!« Rumms. So ging das, bis ich nichts mehr sagte, sondern wimmernd am Boden lag, mich vor Schmerzen krümmte und nur noch die Zähne zusammenbeißen konnte. Erst dann ließ er ab von mir. Mit seinen beiden anderen Kindern, Yaldiyan und Tzegehana, ging er nicht so brutal um. Sicher schlug er meine beiden älteren Schwestern, aber nicht so besinnungslos. Yaldiyan, die Älteste, bekam zwar ihr Fett ab, aber weil sie am seltensten widersprach, weil sie die Folgsamste und Ruhigste von uns dreien war, war sie seine Lieblings tochter. Tzegehana schlug er am wenigsten, sie achtete er auf eine gewisse Weise, sie konnte ihn auch besser zum Einlenken bringen als ich, die noch auf ihrer Meinung beharrte, wenn er mich schon schlug. Ich widersprach ihm, ich kroch nicht. Tzegehana gab in solchen Fällen 64 klein bei, und die Sacht; war nach ein paar Schlägen erledigt Ich dagegen gab erst auf, wenn es mir so weh tat, dass ich nicht mehr anders konnte, oder wenn die Angst übermächtig wurde. Ich hatte Angst, er würde mich einmal umbringen, wenn ich ihm weiter widersprach. Ich hatte Angst, dass mich mein Vater zu Tode prügelt. Jedesmal, wenn ich blutete, an den Armen, aus der Nase, den Ohren, hatte ich Angst, dass das Leben aus mir herausrinnen würde. Damals, als die Puppen vom Himmel gefallen waren, hatte ich gesehen, wie so lange Blut aus den Kindern herausrann, bis sie tot waren. Ich hatte Angst, dass die Schläge meines Vaters mich auch so verbluten lassen könnten. Mädchen mussten öfter verprügelt werden als Jungs, das war eine allgemein anerkannte Tatsache. Jungs bekamen meist nur eins übergezogen, zum Beispiel auf den Kopf. Mädchen dagegen wurden richtig geschlagen, weil sie weniger wert waren. Weil sie besser parieren mussten. Weil man von ihnen keinen eigenen Willen erwartete und weil er gar nicht erst aufkommen sollte. Wenn Jungs etwas Schlimmes gemacht hatten, wie etwa beim Spielen den Stall ihrer Eltern in Brand zu setzen, hagelte es auch für sie Prügel. Mädchen aber wurden schon bei alltäglichen Vergehen so hart bestraft, etwa wenn sie zu spät kamen oder etwas verloren hatten. Auf Mädchen wurde viel mehr acht gegeben als auf Jungs. Man ließ ihnen keine Fehler durchgehen. Ich spürte, dass es Unterschiede gab zwischen Jungs und Mädchen, ich bekam diese Unterschiede im täglichen Umgang zu spüren. Das war ganz normal. Ich spürte, dass ich unrecht hatte, selbst wenn ich mich im Recht fühlte. Ich spürte, dass ich mich dafür zu schämen hatte. Ich lernte, dass es dafür Prügel gab, denen man am besten entging, wenn man klein beigab. Aber klein beigeben war nicht gerade meine Stärke. Das Terrorregime meines Vaters diente dazu, ihm alles Lästige vom Hals zu halten. Wir drei Schwestern erledigten die schweren Routinearbeiten, denn Werhid schaffte es immerhin, ihren eigenen Kindern die gröbste Plackerei zu ersparen. Zu mir war sie warm und herzlich, aber das Verhältnis zu meinen Schwestern war nicht so gut. Yaldiyan, die Älteste, musste Wasser holen und Holz hacken. Tzege 65 hana war für die Wäsche zuständig, weil sie sehr begabt beim Waschen war. Als Jüngste hatte ich die Aufgabe, Feuer zu machen und Holz zu schneiden. Mein Vater teilte uns generalstabsmäßig ein und konnte dadurch selbst wie ein Pascha leben — denn alle anderen Arbeiten wie Einkaufen, Kochen und Saubermachen erledigte Werhid zusammen mit ihren Kindern. Ihn selbst sah ich nie arbeiten, sondern nur liegen, sitzen, rauchen, mit anderen Männern diskutieren oder trinken. Mein Vater hatte zu lange gekämpft, er war zu lange im Krieg gewesen, hatte zu lange als Offizier gedient, um sich ein normales Erwerbsleben vorstellen zu können. In Eritrea gab es damals bereits etliche Generationen von Männern und mitderweile auch Frauen —, die nichts anderes getan hatten, als Krieg zu führen. Ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien bestritten sie aus dem kärglichen Sold, aus Plünderungen und von internationalen Hilfslieferungen. So war es auch in unserer Familie — mit Ausnahme der Plünderungen. Diese Zeit war für meinen Vater vorbei.
Den Tod vor Augen Eines Tages hatte ich das deutliche Gefühl, dass meine Zeit abgelaufen war. Ich spürte, dass mein Leben zu Ende gehen sollte. Ich kann es nicht erklären, es war nur ein Gefühl. Ich sah, wie mein Vater rasdos im Hof auf und ab ging, mit sinnlosen Verrichtungen beschäftigt, die kein Ziel hatten außer dem, seine Unruhe zu verbergen. Ich sagte zu meinen Schwestern: »Heute bringt er mich um.« Yaldiyan und Tzegehana starrten mich fassungslos an. »Umbringen? Wo denkst du hin? Das macht er niemals!« Ich schüttelte nur den Kopf und fuhr fort, Holz zu zerkleinern. Irgend etwas musste an diesem Morgen den besonderen Hass meines Vaters auf mich hervorgerufen haben, aber ich wusste nicht, was das war. Ich wusste nur, dass er mich schon die ganze Zeit mit vor Wut sprühenden Augen anfunkelte. Das bedeutete die höchste Alarmstufe. 66 i'Iötziich kam ~r ?n mir und sagte. »Scnail, komiii initi Wir gehen hinaus und sammeln Holz.« Wir gingen nie zusammen Holz sammeln, sondern es gingen immer nur wir Kinder alleine, ohne ihn. Außerdem war momentan genug Holz im Haus, und Vorräte wurden nie angelegt — von nichts. Keine Familie in Afrika legt Vorräte an. Wenn man hungrig ist, geht man einkaufen und kocht. Wenn man Holz braucht, geht man welches holen. Man sammelt so viel Holz, dass es für heute reicht, nicht für morgen. Und nun wollte mein Vater mit mir Holz sammeln gehen? Widerstrebend ging ich mit. Was sollte ich auch tun? Wäre ich ihm nicht gefolgt, hätte er mich zu Tode geprügelt. Unterwegs hing ich den düstersten Gedanken nach. Mein Tod schien mir beschlossene Sache zu sein. »Okay, ich sterbe«, dachte ich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das wäre. Ich hatte Angst und wünschte mir nichts weiter, als dass er schnell machen würde, damit es rasch vorübergeht. Als wir in einer Senke ankamen, in der ein paar dürre Bäume standen, nahm er eine riesige Machete heraus, die man zum Holzschlagen verwendete. Diese Geräte konnten nur Erwachsene handhaben, so groß und schwer waren sie. Mein Vater hielt seine Machete abwartend in der Hand, sah sich um und sagte nichts. Mir war schlecht vor Angst. Er blickte mich an, und in seinen Augen stand wieder dieses Zucken. Noch gefährlicher schien mir, dass er in diesem Moment nicht voller Hass, sondern ganz ruhig zu mir sprach. »Stell dich an einen Baum«, sagte er. Ich glotzte ihn entgeistert an und bewegte mich nicht, also wurde er ein bisschen lauter: »Stell dich an einen Baum!« Ich war wie gelähmt. Selbst wenn ich ihm hätte gehorchen wollen, es ging einfach nicht. Ich konnte nicht mal meine Hand heben. In meinem Kopf ratterten die Gedanken: Wollte er mich töten? Wollte er mich erschrecken? Wollte er ausprobieren, wie weit er gehen konnte? In diesem Moment kam Werhid angerannt. Sie schrie auf meinen Vater ein. »Hör sofort auf damit«, brüllte sie außer Sinnen. »Ich bitte dich, ich bitte dich, hör auf. Wir schicken Senait, Yaldiyan und Tzegehana zur Jebha!« 67 Mein Vater war wie erstarrt. Nach bangen Minuten ließ er die Machete sinken. Er stöhnte auf, murmelte etwas und wandte sich von mir ab. Ich brach auf der Stelle zusammen. Fast schien es, als wäre mein Vater ein wenig erleichtert, dass Werhid ihn zurückgehalten hatte. Ich hörte Werhid sagen: »Ich bitte dich, versündige dich nicht so tief«, dann weiß ich nichts mehr. Werhid muss mich zurück ins Haus getragen haben. Als ich wieder zu mir kam, rasten die Gedanken wie noch nie. Hatte ich ein neues Leben geschenkt bekommen? Was hatte Werhid mit »Jebha« gemeint? Ich konnte nicht ahnen, dass ich mich in meinem neuen Leben noch oft nach meinem jetzigen zurücksehnen sollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte. 68 Wir Morgensterne Einen Tag nach dem Vorfall mit der Machete nahm unser Vater meine Schwestern Yaldiyan und Tzegehana und mich mit. Ein Bus brachte uns in ein anderes Dorf. Unser Vater sagte nicht, wohin die Reise gehen sollte. Er machte keine Andeutungen, was uns erwartete. Er sagte gar nichts. Wir Mädchen trabten still hinter ihm her. Ich war froh, dass meine beiden Schwestern bei mir waren, weil ich fürchtete, von ihm noch einmal in den Wald geführt zu werden. Wir saßen schweigend im Bus. Uns war klar, dass wir ihn nicht zu fragen brauchten, wohin diese Reise gehen sollte; er hätte es uns ohnehin nie verraten. Ich starrte hinaus in die Wüste, die vor den Fenstern des Busses vorbeizog. Ich spürte nicht die Hitze, die sich im Inneren des Busses ausbreitete, und nicht den beißenden Geruch der Hühner, die mit zusammengebundenen Beinen unter der Bank vor mir lagen. Ich spürte nichts außer einem großen Verlangen nach Ruhe und einer dumpfen Sorge, was auf mich zukommen würde. Nach ein paar Stunden Fahrt hielt der Bus in einem Ort, in dem einige große Militärzelte standen. Dort brachte uns unser Vater ohne Umschweife in ein Rekrutierungsbüro der ELF. Die Eritrean Liberation Front war die ältere der beiden Befreiungsarmeen, die um die Macht im Lande und um die Unabhängigkeit Eritreas kämpften. In der ELF hatte mein Vater gekämpft, bevor er sich wegen seiner schweren Verletzungen vor ein paar Jahren
vom Soldatenberuf zurückgezogen hatte. »Das ist das ELFBüro«, sagte er, »dort werdet ihr bleiben. Meine Freunde werden auf euch aufpassen und euch ausbilden.« Das »Büro« war ein Tisch, der unter einem Sonnenschutzdach mitten auf der Dorfstraße stand und um den herum ein paar gelangweilte Männer in zerlumpten Uniformen saßen. Auf dem Tisch lagen ein Buch und ein paar Blatt Papier. Wir hätten immer gerne Papier gehabt, um darauf zu zeichnen, aber abgesehen von der kurzen Zeit bei den italienischen Schwestern hatte es nie welches gegeben. Papier war absolute Mangelware. Hinter diesem »Büro« führten Stufen zu einer Bar hinauf, was nur 69 soviel hieß, dass da ein Raum war, wo Palmwein und Bier ausgeschenkt wurde. Die Uniformierten hatten schon einiges davon gekostet, zumindest rochen sie übel und hantierten mit fahrigen Bewegungen. Einer hatte eine Waffe bei sich, die er wie ein Kind auf seinem Schoß wiegte. Die Männer nahmen uns in Empfang, wie man eine Lieferung von Schafen oder Ziegen in Empfang nimmt: erst ein kurzer Händedruck mit dem wechselweisen Aneinanderreiben der Schultern, mit dem die Männer einander gewöhnlich begrüßen. Es folgte ein kurzer Wortwechsel, dann drückten sie noch einmal die Schultern aneinander, das war alles. Wir waren am Ziel unserer Reise. Der Abschied von unserem Vater ging wortkarg vor sich. Uns war klar, dass das kein Abschied für ein paar Stunden oder Tage war, sondern ein Abschied für länger. Ich hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte mit uns — es war mir egal. Ich wusste, dass mein Vater nicht mit uns kommen würde, und das war mir das Wichtigste. Auch meine Schwestern waren froh, ihn los zu sein, obwohl sie nicht so unter ihm gelitten hatten wie ich. »Weg von Ghebrehiwet«, sagten sie, nicht »weg von Papa«, und das klang nicht traurig. Offenbar sollten wir jetzt zu diesen Männern gehören. Aber das waren doch Soldaten, und wir waren Kinder! Auch mein Vater musste sich denken, dass wir zu jung waren für das, was mit uns geschehen sollte. Doch das Wichtigste für ihn war, drei hungrige Mäuler weniger stopfen zu müssen. Drei Esser mehr oder weniger in der Familie zu haben konnte den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern bedeuten. Als uns einer der Männer zu einem Auto führte, das ein paar Meter weiter weg stand, ging unser Vater in die andere Richtung davon, ohne sich umzusehen. Er ging fort, als würden wir uns in wenigen Minuten wiedersehen. Wir sahen ihm nach, doch keine von uns unternahm etwas, um ihn zurückzuhalten oder ihm etwas nachzurufen. Bevor er aus unseren Augen verschwunden war, drehten wir uns um und folgten dem Mann, der schon am Auto wartete. Heute war der Tag, an dem wir zu kleinen Soldatinnen werden sollten. Ich verband damit nichts weiter, als dass ich Ruhe vor meinem 70 Varer haben würuette uu ier einem schwarzen iuch mit einer Milliarde leuchtender weißer Punkte. Das Sternenlicht schien aber so schwach, dass wir ständig über Steine stolperten und uns an Disteln oder Dornen blutig rissen. Inmitten dieser Geröllhalde war weit und breit kein Wasser zu vermuten. Das bedeutete trockene Kehlen für diesen Abend und eine beschwerliche Wanderung zum nächsten Wasserloch am anderen Morgen. Dabei waren meine Füße schon blutig von den Steinen, die sich zwischen meinen Zehen verkeilten und sich zwischen die Fußsohlen und meine Gummilatschen schoben. Völlig erschöpft breiteten wir unsere Matten und Lumpen aus, um nur zu schlafen, schlafen, schlafen. Ich brachte gerade noch die Kraft auf, die spitzesten und größten Steine beiseite zu schieben, um nicht zerschunden zu werden, dann fiel ich auf der Stelle in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Niemand von uns wusste, ob die EPLFBatterie auf der Hügelkuppe neben dem Lager schon da war, als wir ankamen, oder ob unsere Ankunft bemerkt und die Batterie deshalb aufgebaut worden war. Letztlich machte es keinen Unterschied. Sobald sich im heranbrechenden Morgenlicht die ersten Schemen der Steine und Felsen und die Rücken der Schläfer vom alles verschlingenden Grau der Dunkelheit abzuheben begannen, belegten uns deren Geschütze mit ihrem Feuer. Eben noch herrschte tiefe Stille, und im nächsten Moment explodierte alles rund um uns herum. So musste der Weltuntergang klingen. Die Donnerschläge ließen das Lager erzittern. Riesige Staubwolken stiegen auf, Steine spritzten durch die Luft. Mit einem Satz sprangen wir mitten aus dem Tiefschlaf der Erschöpfung auf die Beine und rannten um unser Leben. Wenige Sekunden später starteten die Lkws, jeder raffte etwas zusammen, was er greifen konnte. Ich riss ein paar Decken an mich, und war schon ein, zwei Meter weiter, als mir einfiel, dass darunter meine Waffe gelegen hatte. Ich ließ sie liegen und rannte weiter, doch plötzlich bekam ich irrsinnige Angst, dass die Feinde mich töten wollten, ohne dass ich mich wehren könnte. Oder war es die Angst, von meinen eigenen
Leuten streng bestraft zu werden, wenn ich meine Waffe zurückließe? Es war beides zugleich 143 oder eines nach dem anderen, knapp hintereinander. Das waren keine Gedanken mehr, es waren Blitze, die mich durchzuckten, Gedankensplitter, die mir fast den Kopf zerrissen. Ich rannte die paar Schritte zurück und griff nach meiner Waffe. Rings um mich herum war Chaos. Schreie, Befehle, Flüche, die ich nicht mehr aufnehmen konnte. Mike'ele kam brüllend auf mich zu und hielt sich den Arm. Das Blut floss rot von seinem Arm über seine Hand. Sein Gesichtsausdruck war voll heilloser Panik. Es roch nach Rauch und nach verbranntem Fleisch und nach Todesangst. Orientierungslos stand ich einen Moment unschlüssig da, zitternd. Ich rannte ein paar Schritte in die falsche Richtung, instinktiv weg von dem aufheulenden Motor des Trucks, auf dessen Ladefläche ich springen sollte. Ich presste die Decken und meine Kalaschnikow an mich und hetzte los, ins Morgengrauen hinein. In diesem Moment schlug eine Granate genau dort ein, wo ich hätte sein sollen, um auf die Ladefläche zu klettern. Wäre ich dort gewesen, hätte die Sprengladung mich auf der Stelle zerfetzt. Ich sah nur einen Blitz und hörte den Knall. Eine ungeheure Wucht schleuderte mich ein paar Meter weit weg. Der Lkw wurde getroffen und fing Feuer. Menschen sprangen von der Ladefläche. Andere hingen verletzt zwischen Trümmern und Splittern und Rauch und Staub und zerbrochenen Flaschen. Woher kamen nur die vielen Glassplitter? Ich rappelte mich auf und rannte weiter, ins offene Feld hinein, die Decken und die Waffe fest an mich gepresst. Fast wäre ich mit dem Kopf in einen unserer kleineren Lkws gerannt, eine Art Lieferwagen mit Türen am Heck. Der Wagen fuhr bereits. Mit Mühe sprang ich hinten auf, fast wäre ich von dem glatten Trittbrett abgerutscht. Ich warf meine Lasten weg und klammerte mich mit aller Kraft an das Auto. Jemand zog mich hinauf. Ich quetschte mich in das stockdunkle Innere des Wagens, zwischen viele andere, die von allen Seiten schoben und drängten. Nass war es hier vom Schweiß oder vom Blut. Es war, als wäre ich in den feuchten Eingeweiden eines großen Tieres gelandet, das sich heftig rudernd fortbewegte. Dauernd stieß ich mich an. Alle im Auto waren still, einer stöhnte. Ein Wunder, dass der Fahrer einen Weg fand, denn es war noch immer fast völlig dunkel. Meine Angst war ver 144 flogen, dafür war ich wie gelähmt von dem Schrecken, den ich gesehen hatte. So nah war ich dem Krieg noch nie gewesen. Wir fuhren und fuhren den ganzen Tag, eine Kolonne von knapp zehn Fahrzeugen. Hinter den Führerhäusern standen jeweils die Größten von uns mit Maschinengewehren im Anschlag, jederzeit schussbereit, falls wir in einen Hinterhalt geraten sollten. Die anderen kauerten auf den Ladeflächen, immer noch schweigend. Jeder kannte einen, der tot oder, noch schlimmer, verletzt zurückgeblieben war und dem jetzt Erschießung, Gefangenschaft, Folter oder Gehirnwäsche drohte. Es gab genügend trübe Gedanken, denen man nachhängen konnte. Ich dachte an Mike'ele. Wo mochte er sein? Jedesmal, wenn wir auf einer der unbefestigten Bergstraßen in einer längeren Kurve fuhren, hing ich über der Ladewand und spähte nach den anderen Wagen, ob sein blonder Schopf irgendwo zu sehen wäre, doch ich wurde nicht fündig. Sicher war er zurückgeblieben, weil er es auf kein Auto mehr geschafft hatte. Mit seinem blutenden Arm konnte er sich nirgends hinaufziehen. Allein der Blutverlust brachte ihn sicher um, da war so viel Blut auf ihm. Wer hätte ihn verbinden sollen? Selbst wenn er es auf einen der Wagen geschafft haben sollte, konnte man seine Wunde nicht versorgen, denn das meiste Material wie Verbandszeug, Decken, Töpfe und sogar Proviant mussten wir bei unserer Flucht zurücklassen. Jede weitere Sekunde in diesem Lager hätte viele von uns das Leben gekostet. Gerettet fühlten wir uns aber immer noch nicht. Mit knurrenden Mägen waren wir unterwegs, ohne einen einzigen Tropfen Wasser und ohne Aussicht auf Nahrung oder Schutz. In dieser ausweglosen Situation kam das Lied. »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart...« Leise kam es von einer hellen Stimme tief drinnen im Laderaum des kleinen Lasters. »Durch ihn verlor ich meinen Bruder, durch ihn schieße ich auf meinen Bruder ...« Eigentlich hätte ich in diesem Moment weinen müssen, aber es kamen keine Tränen, es kamen Töne. »Während meine Familie hinter dem Haus geschlachtet wird, fliehe ich durch die Vordertüre ...« Ich stimmte ein in den Gesang, mit geschlossenen Augen. Das war Eden, die vorgesungen hatte. Die beste Sängerin der Jebha. Ich hatte sie zuvor nicht gesehen, in diesem Gewirr von Menschen 145 leibern und Armen und Beinen. Auch das Mädchen neben mir sang mit, der Junge hinter mir. Noch einer weiter hinten: »Der Schlachter meiner Familie ist doch mein Bruder. Mein Feind, mein Feind, aber warum ist er mein Feind, denn er ist doch mein Bruder ...!« Den Refrain sang die Besatzung des Lasters aus vollem Hals: »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart ...« Niemand weinte, alle waren in der Musik. Singend und hungrig und schwitzend fuhren wir durch die Landschaft, durchgerüttelt von den schlechten Schotterpisten und ohne Hoffnung außer diesem einen Lied. »Der Krieg ist hart. Mir ist er zu hart ...«
Als das Lied längst zu Ende war, klang es immer noch nach in meinem Kopf. Seine Melancholie fuhr mit uns durch diese steinige Berglandschaft. Wir hatten es schon oft gesungen, wenn es abends Zeit gab, zusammenzusitzen. Mihret mochte das Lied nicht. Nach den Übungen hatte sie uns immer etwas anderes singen lassen, doch ihre Kampflieder mochte ich nicht. Darin ging es immer nur um Heldentum, um Vaterland und Freiheit. Das waren Begriffe, die mich nicht interessierten. Ich war keine Heldin und wollte keine sein. Meinen Vater hasste ich — was also sollte mir ein Vaterland? Was Freiheit war, hätte ich gerne gewusst — nie hatte sie mir jemand gezeigt. Eden sang die richtigen Lieder. Ich versuchte, einen Blick oder eine Berührung von ihr zu erhaschen, aber ich kam nicht durch zu ihr. Es war, als bildeten die Leute auf der engen Ladefläche eine Barriere zwischen mir und ihr. Eden war nur ein paar Jahre älter als ich, aber sie konnte wunderbar singen. Sie hatte eine weiche, volle Stimme. Wenn Eden sang, dann war das nicht so ein hohes Krächzen wie bei Mihret und auch kein Piepsen wie bei mir. Damals auf der Ladefläche schwor ich mir, dass ich einmal so schön singen wollte wie Eden. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist. Ich habe es immer probiert. Eden war nicht nur eine wunderbare Sängerin, sie war eine kluge Frau, die wusste, dass sie es nicht bei der Trauer belassen durfte, die dieses Lied in uns alle gesenkt hatte. Also stimmte sie ein zweites Lied an: »Die EPLF, diese zwielichtigen Figuren, haben sich großgemausert, weil sie betrügen und belügen ...« Es dauerte nur ein paar Silben, dann fielen alle anderen ein. Jeder von uns kannte dieses Lied von der ersten bis zur letzten Zeile. Es war in den letzten Monaten unser wichtigstes 146 Lied geworden, wcü ls unseren Feind verdammte. Weil viele von uns verzweifelt versuchten, sich an diesem Lied festzuhalten. »Aber mach dir keine Sorgen, mein Volk! Jeder Böse hat ein böses Ende. Eritrea, mach dir keine Sorgen. Dein Befreier, Jebha, wird dich auf deinem Weg in die Unabhängigkeit führen ...« Das war ein Lied, das man laut und kraftvoll singen konnte. Ich habe keine Ahnung, woher immer wieder diese Kraft kam. Ich weiß nicht, wie wir es schafften, inmitten unserer Hoffnungslosigkeit und Not laut zu singen und zu summen und den Takt zu klatschen, während wir in eine Ungewisse Zukunft fuhren. Die Front Zwei Tage und zwei Nächte nach dem frühmorgendlichen Überfall stießen wir auf zwei weitere Wagenkolonnen unserer Truppe. Wir stellten fest, dass an jenem Morgen ein paar Dutzend unserer Leute gefallen oder zurückgeblieben waren. Zwar hatten wir immer noch jede Menge Waffen und Munition, die noch vom Abend vorher auf den Lkws lagen, aber das war alles. So durchkämmten wir jede Hütte, jeden Weiler, jedes Dorf auf unserem Weg nach Essbarem und nach Wasser. Die Bewohner, meist selbst ausgehungerte Habenichtse, flohen wehklagend vor uns, ohne Gegenwehr zu leisten — wie auch: Sie besaßen nichts außer ihren Hütten, einem Kochgeschirr und den paar halbverhungerten Ziegen, die wir ihnen wegnahmen. Etliche Familien dürften wir damit in den sicheren Tod geschickt haben, denn wenn erst die Tiere weg waren, gab es für sie keine Hoffnung mehr: keine Milch für die Kinder, kein Fleisch für die Eltern. Das bisschen, das die Menschen angebaut hatten, stand fast völlig verdorrt auf den Feldern, nachdem die Regenfälle im Frühsommer wieder so gut wie ausgefallen waren. Sie konnten nur auf Hilfskonvois internationaler Organisationen hoffen, doch die verirrten sich nur selten in diese abgelegene Gegend, wo es Banden gab wie uns, Minen und Banditen, die nichts zu verlieren hatten als ihren beißenden Hunger. 147 Mir brach das Herz, als ich sah, wie unsere Leute die verstört blökenden Tiere aus ihren Pferchen zerrten. Weinende, zerlumpte Frauen zogen an unseren Kämpfern, um sie zurückzuhalten, beschimpften sie, bettelten, flehten, doch es nutzte nichts. Sie stießen die Frauen weg, traten mit den Füßen nach ihnen, bis sich deren Kinder vor Angst zitternd auf ihre Mütter warfen. Sie hoben und schoben die Ziegen auf die Lkws, und weiter ging die Fahrt. Noch am selben Abend wurden die Tiere geschlachtet, zerteilt und sofort gebraten. Selbst ich kaute angewidert auf ein paar Bissen Fleisch herum, um den dröhnendsten Hunger zurückzudrängen. Verzweifelt grub ich in der Erde, ob es nicht eine Wurzel oder Gräser gäbe, die ich statt dessen essen könnte, aber ich fand nur selten etwas. Mein Festmahl gab es erst, als wir aus einer Hilfslieferung ein paar Säcke eines mir fremden Mehls erbeuteten. Ich kannte den Geschmack nicht, aber er war wunderbar. Die Fladen wurden zwar keine Enjera, weil das Mehl eine andere Zusammensetzung hatte als das, was wir sonst dazu verwendeten, aber es wurden wohlschmeckende Klumpen oder Klöße, von denen ich gierig so viele verschlang, wie ich ergattern konnte. Es war die erste richtige Mahlzeit seit Wochen. Ich konnte das Glück kaum fassen, mit so einem schweren runden Bauch durch die Gegend zu laufen. Ohne das Nagen des Hungers. Ohne ständig daran zu denken, woher der nächste Bissen kommen könnte. Statt dieser Hungergedanken plagte mich das schlechte Gewissen: Für wen waren die Säcke bestimmt? Wer musste jetzt statt meiner hungern? Ständig waren wir auf der Flucht. Unsere Anführer hatten keinen Plan mehr, sie wussten selbst nicht, wo wir hin sollten. Tag für Tag zogen wir uns weiter nach Westen zurück, aus der Gegend um Bisha in der GeshBerka Provinz über kleine Hügelländer und die DarEbene in Richtung sudanesische Grenze. Immer fuhren ein paar
Späher von uns in einem kleinen Auto voraus oder machten sich zu Fuß auf, um diesen oder jenen Weg zu erkunden. Wir warteten in der brütenden Hitze auf ihre Rückkehr, oft nur im Schatten unserer Fahrzeuge, manchmal im Schatten einzelner Baumgruppen. Je weiter wir nach Westen kamen, desto mehr Bäume gab es. Erst wuchsen nur vereinzelte Baobabbäume, Tamarisken oder Tamarin 148 den, weiter westlicn fanden wir Haine mit Eukalyptusbäumen, Akazien oder Palmen. Die Landschaft wurde zwar nicht merklich feuchter, aber buschiger und stärker mit Gras bewachsen beziehungsweise mit ver trockneten Halmen, die früher mal grün gewesen sein mussten. Regen war nicht in Sicht. Über uns spannte sich ein von Tag zu Tag größerer, knallblauer Himmel. Während dieser Fluchtbewegung kam es immer wieder zu Kämpfen mit nachrückenden Einheiten der EPLF, die uns endgültig den Garaus machen wollten. Meistens setzten unsere Lkws ein paar Dutzend unserer Kämpfer aus, die sich in der Landschaft verschanzten und unseren Rückzug deckten. Wir Kinder fuhren in den fast leeren Lastern noch ein Stück weiter. Die Fahrzeuge durften auf keinen Fall dem Feind in die Hände geraten. Zusammen mit ein paar Erwachsenen waren wir dazu eingeteilt, diese Schätze bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Glücklicherweise kam es nie zu einem Angriff auf unsere Wagenburg. Tag für Tag hockten wir mit den Waffen in der Hand zwischen den Fahrzeugen und starrten auf den Horizont, der hier besonders weit und besonders heiß war. In der Ferne zerflimmerten Bäume, Gras und Himmel zu einem undefinierbaren, weißbraunen Gemisch, das mit Blicken nicht zu durchdringen war, und wenn man noch so angestrengt hinsah. Oft schreckten wir hoch, weil wir glaubten, eine Wagenkolonne oder eine große Gruppe von Menschen ausgemacht zu haben, aber jedesmal verschwanden die Schatten und die dunklen Punkte wieder, oder sie klumpten sich zu einem kleinen Wäldchen zusammen oder zu einem tanzenden braunen Wurm, der sich über den Horizont schob, um plötzlich im Nichts zu verschwimmen. In dieser Landschaft kannte ich mich nicht aus. Ich war diese Weite nicht gewohnt, die unendlichen Blicke, die nach ein paar Kilometern von einem Graubraun verschluckt wurden, das alle Geheimnisse dieser Ebene eigensinnig für sich behielt. Oft hörten wir Schüsse, wenn sich unsere Leute gegen den anrückenden Feind verteidigten. Manchmal stieg eine kleine schwarze Wolke auf, eine Granatenexplosion, in der ein paar hundert Quadratmeter trockenes Steppengras verbrannten. Mitunter hörten wir auch Fahrzeuggeräusche, aufheulende Motoren, aber so fern, dass wir sie 149 kaum vom Rauschen des Windes in den Kronen der Baumgruppen unterscheiden konnten. Langsam kam unsere Fluchtbewegung ein wenig zur Ruhe. Wir mussten nicht mehr alle paar Tage den Standort wechseln und hörten nicht mehr täglich die wildesten Schießereien. Manchmal waren dafür Flugzeuge am Himmel zu sehen, die in großer Höhe über uns hinwegzogen. Sollten das die Äthiopier sein, die die Kolonnen der EPLF unter Beschuss nahmen und dadurch deren Vorstoß uns gegenüber zum Stocken brachten? Es war mehr als merkwürdig, dass wir womöglich unseren gemeinsamen Feinden dafür dankbar sein mussten, dass sie unsere eigenen Landsleute bombardierten. Nur wenige Kilometer von der sudanesischen Grenze entfernt, fanden wir nach langer Zeit endlich wieder einmal einen festen Unterschlupf. Mitten in der Ödnis einer verdorrten Steppenlandschaft, die nur von ein paar verlorenen Baumgruppen, verlassenen Dörfern und staubigen Wegen unterteilt wurde, stießen wir auf einen für unsere Verhältnisse komfortablen Lagerplatz: keine Höhlen oder Erdunterstände, sondern langgestreckte gemauerte Gebäude, die einmal als Ställe oder als Kasernen gedient hatten. Die Häuser, die wir nun bezogen, hatten lange leergestanden. In den von Armut und Krieg bestimmten Verhältnissen, in denen wir lebten, machte es keinen großen Unterschied, ob darin früher Tiere oder Menschen untergebracht waren — alles sah gleich verloren und ärmlich aus. Wir banden Besen aus dürren Reisern und kehrten damit Mist, Sand und Erde aus den Räumen. Die löchrigen Wellblechdächer flickten wir zum Schutz gegen die Sonne notdürftig, indem wir an mehreren Stellen zwischen Dachsparren und Blech Palmwedel und Äste verkeilten. Mit unseren improvisierten Besen vertrieben wir jede Menge Skorpione, indem wir so lange in sämtlichen Ritzen und Löchern stocherten, bis die Tiere flüchteten. Zweimal wurde ich dabei von Skorpionen ins Bein gebissen. Das war äußerst schmerzhaft, aber Gott sei Dank entzündeten die Wunden sich nicht. Eine Infektion hätte mein Ende bedeuten können. 150 Malaria In dem neuen Lager kehrte für ein paar Monate ein wenig Ruhe ein — zumindest, was die Angriffe der Feinde betraf. Die äthiopische Armee beanspruchte in dieser Zeit die Aufmerksamkeit der EPLF. Diese kurze militärische Verschnaufpause bedeutete jedoch nicht, dass es uns besserging. Wir hatten deswegen nicht mehr zu essen, kamen nicht leichter an Trinkwasser und waren auch nicht weniger von der Malaria, unserem anderen Todesbringer, bedroht. Unser Quartier lag zwar in einer sehr trockenen Gegend, auch der nah
gelegene Fluss Gesh, der Namensgeber für die Region, war fast zur Gänze ausgetrocknet, doch das Gebiet war trotzdem mit Malaria verseucht. Wir kannten keinen Schutz dagegen: keine Netze für die Nacht, keine Salben, keine Sprays oder Duftstoffe, um die nach Einbruch der Dunkelheit besonders lästigen Mücken fernzuhalten oder zu verscheuchen. Wir Kinder wussten viel zuwenig über die tödliche Gefahr, die von der Malaria ausging. Ich wusste zwar, dass es besonders abends nicht gut war, von den Mücken gestochen zu werden. Ich wusste auch, dass man eine Krankheit bekommen konnte, die Malaria hieß, mit starkem Fieber und Übelkeit einherging und mit dem Tod enden konnte, aber mir war nicht klar, dass die Mückenstiche und die Krankheit unmittelbar miteinander zusammenhingen. Mir war nicht klar, dass die einzige Möglichkeit zur Vermeidung der Krankheit darin bestand, nicht gestochen zu werden. Den Stichen völlig zu entgehen war unmöglich. Da wir den ganzen Tag arbeiteten, konnten wir nicht auf die kleinen Plagegeister achten. Einzelne Stiche hatten wir alle so viele und so regelmäßig, dass wir sie kaum mehr bemerkten. Wenn man nur oft genug gestochen wurde, ließ der Juckreiz von selbst nach. Anfangs, in unserer ersten Zeit in Gesh Berka und bei der ELF, litt ich noch sehr unter den Stichen, denn all die Jahre in Asmara hatte ich nie damit zu tun gehabt; die Stadt liegt auf über zweitausenddreihundert Metern über dem Meer, und oberhalb von zweitausend Metern gibt es keine Moskitos und damit keine Malaria. Hier jedoch gab es heftige Mückenschwärme. Wenn kein Wind ging, 151 Baracke stand Tag und Nacht wie ein Block der gleiche stickige Geruch nach Schweiß und alten Wänden und vergammelten Klamotten. Ich setzte mich vor die Tür und sah in den unendlichen Sternenhimmel hinauf, den Kopf an die bröckelnde Wand gelehnt. Weiter wagte ich mich nicht weg, weil ich fürchtete, einer der Anführer könnte mich wieder für gesund erklären und zu den immer gleichen zermürbenden Arbeiten einteilen. Lange dort draußen sitzen konnte ich allerdings nicht, denn das Gebäude war von Termiten unterwandert. Wer sich hier niederließ, war schon nach wenigen Minuten von den Tieren umrundet und gebissen. Wie ich diese Krabbeltiere hassen lernte! Als ich in den stickigen Raum zurücktaumelte, Kopf und Sinne vom Fieber vernebelt, waren die Decken aus meiner Ecke verschwunden. Schweißüberströmt und trotzdem zitternd vor Kälte ließ ich mich auf den verdreckten Boden gleiten und krabbelte auf allen vieren durch die Unterkunft, um eine neue Decke zu ergattern, aber aus jedem Stück Stoff, an dem ich zog, kam eine Hand hervor, um mich wegzustoßen, oder ein Bein, um mir einen Tritt zu versetzen. Schließlich gab ich auf und verzog mich wieder in meine Ecke, rollte mich zitternd zusammen und hatte nur den einen Gedanken: dass das Ganze endlich vorübergehen möge. Doch das Martyrium sollte noch ein paar Tage dauern, bevor sich die Krankheit für eine der beiden Prophezeiungen des Barfußdoktors entschied und sich genauso plötzlich verabschiedete, wie sie gekommen war. Das Fieber und die Übelkeit gingen vorbei — um wie vorhergesagt nach ein paar Monaten wiederzukommen. Das ging acht oder zehnmal so, bis mir die Krankheit ein paar Jahre Ruhepause gönnte. Ein Mädchen war ich trotzdem Mitten in meinem ersten Fieberschub lag ich zitternd da und umschlang mich selbst. Plötzlich wurde der stickige Geruch rundherum wärmer, er begann nach Tier zu dünsten. Etwas kam näher an mich heran. Eine Hand riss mich herum, eine andere drückte mich hinunter 154 auf den Lehmboden, noch eine Hand — oder war das wieder die erste? — zerrte an meinem Hemd und zog an meiner Hose. Ich verkrampfte mich und zitterte und wollte schreien, doch eine Hand legte sich über meinen Mund. Ich wusste schon, was jetzt kommen sollte. Ich bäumte mich auf, aber in meinem Kopf drehte sich alles, und ich hatte das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen wäre eine schwankende Angelegenheit, wie ein feuchtes Bachbett mit tiefem Sand darin. Doch plötzlich war der Boden unter mir hart und fest wie Stein. Einer der Jungen versuchte in mich einzudringen, während mich der andere festhielt. Es gelang mir, eine Hand freizubekommen. Ich stieß den Jungen von mir, der mir den Mund zuhielt, und schrie so laut, dass sie von mir abließen. Diesmal hatten sie ihr Ziel nicht erreicht. Doch ich hatte nicht immer solches Glück. Egal ob Junge oder Mädchen, wir standen alle auf einer Stufe, waren gleich viel wert, hatten dieselben Rechte. Ich war nicht besser und nicht schlechter als die anderen, die zusammen mit mir für Eritrea kämpften — jedenfalls hatten uns Agawegahta und die anderen Anführer das einzubleuen versucht. Ich wollte mithalten, mitreden, mittun — nur mit Waffen wollte ich nicht kämpfen, ich wollte um keinen Preis morden im Namen der unerklärlichen Freiheit Eritreas. Trotzdem wurde ich immer wieder eines Besseren belehrt, mir wurde klarge macht, dass ein Mädchen weniger wert war als ein Junge, dass es nicht die gleichen Rechte hatte. Und sosehr ich mich auch bemühte, es nicht durchscheinen zu lassen, ich war ein Mädchen. Es war nicht zuletzt die Sexualität, mit der mir die Jungs zeigen wollten, wo mein Platz als Mädchen war. Ich hatte mich gefälligst hinten anzustellen. Ich hatte ihnen zu Diensten zu sein, wenn es ihnen passte.
Ein Mädchen hatte sich unterzuordnen, das war mir längst klar. Es gab leuchtende Ausnahmen wie Agawegahta, aber sie hatte ihren Rang nur um den Preis erreicht, mindestens genauso grausam zu sein wie die Männer, wenn nicht noch um eine Spur grausamer. Ich wusste um die körperlichen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs, und ich wusste, dass es dazu ein Geheimnis gab, das die Jungs miteinander teilten, die Mädchen aber nicht. Es gab da etwas, das sich die Jungs 155 nehmen konnten, ohne zu fragen, und wir mussten es uns gefallen lassen, wie sehr wir uns auch wehrten. Dicke Bäuche Mädchen und Jungs waren in unserer Einheit immer zusammen, es gab nichts Getrenntes. Themen wie Vergewaltigung waren tabu, über Sex zu sprechen war tabu. Schwangerschaften gab es laufend, aber sie wurden nie erwähnt, als ob es sie nicht gäbe. Immer wieder sah ich eines der Mädchen dicker und dicker werden. Anfangs fragte ich mich, woher sie so viel zu essen bekamen, dass sie so fett werden konnten. Es musste geheime Quellen geben, die ich nicht kannte. Doch als sich die Bäuche dieser Mädchen mehr und mehr spannten, sah ich selbst, dass es nicht vom Essen kommen konnte. »Die sind schwanger«, hatte mir meine älteste Schwester Yaldiyan einmal hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert. Ich muss sie ahnungslos angestarrt haben, denn sie fügte noch eine Erklärung hinzu: »Sie waren mit einem Jungen zusammen, und jetzt wachsen in ihren Bäuchen Kinder.« »Zusammen sind sie gewesen?« fragte ich ratlos. »Davon kommen Kinder?« Yaldiyan hatte keine Lust mehr, mir noch etwas zu erklären. Sie erklärte nicht gerne, und mir schon gar nicht. Dabei hatte ich so viele Fragen, und sie war die einzige von den Größeren, der ich vertrauen konnte, denn hier ging es um eine spezielle Sache, das fühlte ich. Einen Jungen konnte ich nicht dazu befragen. Nur ein Mädchen kam dafür in Frage. Älter musste sie zwar sein, aber keine übergeordnete Respektsperson wie Agawegahta — also blieb nur Yaldiyan. Tzegehana konnte mir solche Auskünfte nicht geben, weil sie über diese Fragen kaum mehr wusste als ich. Sie hätte gerne mehr darüber erfahren, doch Yaldiyan erzählte noch nicht mal Tzegehana etwas, abgesehen von kleinen Andeutungen, wie sie sie mir gegenüber gemacht hatte. Manchmal zweifelte ich sogar daran, dass Yaldiyan alles wusste über das Zusammenliegen und die Kinder und wie das alles ging. 156 Ich wusste nichts über das Frausein, nichts über meinen eigenen Körper. Ich wusste nicht, was passierte, wenn sich wieder mal einer der drei Jungen, die es auf mich abgesehen hatten, über mich hermachte, mich würgte, an meinen Kleidern riss und mit seinem Ding in mich eindrang. Ich spürte Schmerzen und Scham und Hass und Widerwillen und Hilflosigkeit, aber ich wusste nicht, was das alles sollte. Ich ahnte nur, dass es um all das ein Geheimnis gab, das keiner dieser Jungs aufklären konnte, und ich spürte, dass ich nicht darüber sprechen sollte — dazu war es nicht notwendig, dass die drei mir immer wieder einschärften, nur ja den Mund zu halten. Ich wusste, dass das Vorgefallene nicht nur für sie, sondern auch für mich eine große Schande bedeutete, die ich tief in mir vergraben musste. Also zog ich mich mit den Schmerzen und der Scham in mich zurück und verriet niemandem etwas davon. Oft konnte ich kaum aufstehen nach so einer Nacht, wenn einer oder mehrere zu mir gekommen waren. Es dröhnte und wand sich in meinen Eingeweiden, so dass ich weder schlafen noch mich rühren noch etwas tun konnte, außer die Arme um den Bauch zu pressen und jede Bewegung zu vermeiden, die einen anderen auf mich aufmerksam machen könnte. Ich war nicht die einzige, die nicht wusste, was mit ihr und ihrem Körper geschah. Eine Kameradin erschrak einmal fürchterlich, als sie sah, wie sich ihre Schenkel rot färbten, weil daran Blut heruntertropfte. Verzweifelt rannte sie zum Arzt, der sie nur kurz ansah, um gleich in schallendes Gelächter auszubrechen. Der Mann konnte sich gar nicht mehr beruhigen, er klopfte sich auf die Schenkel und brüllte vor Vergnügen so laut, dass ein paar Leute zusammenliefen, die wissen wollten, was sich hier ereignet hatte. Der Arzt zeigte auf das Mädchen. »Seht euch diesen Dummkopf an«, sagte er, immer noch lachend, »sie ist eben zur Frau geworden und glaubt, ihre Bauchschmerzen kämen daher, dass sie etwas Falsches gegessen hat!« Auch die anderen sahen das Blut, das ihre Beine herunterrann, und begannen zu lachen. Offensichtlich bedeutete dieses Blut nichts Schlimmes. Aber wieso um alles in der Welt sollte sie zur Frau geworden sein? Und was hatte das Blut damit zu tun? Ich begriff nichts mehr. 157 Eden Das Beunruhigende war, dass ich auch Bauchschmerzen hatte. Und nicht nur das, ich hatte eine Eiterung im Genitalbereich, die wahrscheinlich durch die Attacken der Jungs entstanden war und sehr schmerzhaft war. Nach dem, was ich gerade bei der Kameradin mit angesehen hatte, fürchtete ich, dass nun auch ich aus dem Bauch bluten könnte. Verstört wollte ich mich wieder an Yaldiyan wenden, doch die war mit einem Spähtrupp im Gelände unterwegs. Als ich auch Tzegehana nicht fand, setzte ich mich einfach auf den Boden und heulte los. Endlich kamen mir die Tränen, nachdem ich sie lange zurückgehalten hatte oder nachdem sie versiegt waren, vertrocknet zwischen den Fieberschüben der Malaria und den anderen Qualen, denen ich ausgesetzt war. In diesem Moment kam Eden vorbei. Die Sängerin, die sich noch nie groß um mich gekümmert hatte, ließ sich
neben mir nieder und nahm mich in die Arme. Als ich daraufhin nur noch mehr heulte, drückte sie mich wortlos noch fester. Eden war eine sehr schöne Frau: hochgewachsen, mit riesenlangen, wilden Haaren und mit — zumindest für eine Eritreerin — heller Haut. Schon deshalb war Eden ein Vorbild für mich, denn ich war der Meinung, dass eine helle Haut immer ein Zeichen guter Herkunft war. Je heller jemand ist, desto besser ist seine Familie und desto schöner ist er oder sie. Ich war immer eine der Dunkelsten bei der Jebha. Es gab nicht viele, die noch schwärzer waren als ich. Deshalb empfand ich mich immer als hässlich. Ich musste hässlich sein, weil ich so dunkel war. Eden war nicht nur hell, sie hatte auch ein sonniges Gemüt. Sie machte die erste Stimme, wenn wir nach den Übungen unsere ELFLieder sangen. Sie sang, wenn es am Abend etwas zu feiern galt, was selten genug passierte, es sei denn, dass es einem unserer Anführer gelungen war, ein paar Kisten Palmwein oder eine Batterie Flaschen voller farbloser Flüssigkeit zu organisieren, die schlimmer roch als der Sprit in unseren Fahrzeugen. Eden sang, wenn die Anführer etwas hören wollten, sie sang aber auch, wenn ihr einfach danach zumute war. 158 Wann immer sie in der Nähe war, kam ich herbeigelaufen und hörte andächtig zu, aber ich hatte e s nie gewagt, Eden anzusprechen oder sie darum zu bitten, mir etwas beizubringen, obwohl ich damals schon den Wunsch in mir spürte, genauso singen zu können wie sie. Eden aber hatte mich nie beachtet, hatte nie ein Wort an mich gerichtet — doch jetzt war sie da. »Was ist mit dir los?« fragte sie, wie eine Mutter ihr Kind fragt. Sie war höchstens zehn Jahre älter als ich, doch für mich klang das wie die Frage einer Mutter, und ich liebte nichts mehr als diesen Tonfall. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, schluchzte ich, »mir tut der Bauch weh, und jetzt habe ich Angst, dass ich bluten muss wie das Mädchen, das sie vorhin ausgelacht haben. Sie sagen, sie ist eine Frau dadurch, aber sie lachen sie nur aus.« Jetzt lächelte Eden, aber das war nicht schlimm für mich, weil ich es nicht als Auslachen verstand, sondern als Aufmunterung oder als Einverständnis. »Das hat jede Frau«, begann sie und setzte sich neben mich in den Staub, als ob sie eine längere Geschichte beginnen wollte. »Bei ihr fing es sehr früh an. Das ist das Geheimnis unter uns Frauen ...« Eden erzählte mir, wie das ist mit dem Blut und mit den Kindern und mit den Männern, und ich hörte gebannt zu. Sobald ich wusste, was los war, beruhigte ich mich — und beschloss, Eden immer einen Extraplatz in meinem Herzen zu reservieren. Ich bekam übrigens keine Blutung. Das passierte erst viele Monate später, als ich schon nicht mehr bei der Jebha war. Immerhin konnte ich nach meiner Aufklärung durch Eden mit anderen darüber sprechen, vor allem mit meinen Schwestern. Ich lernte, dass Frauen, die regelmäßig bluteten, sich mit Stoffabfällen behelfen konnten, damit das Blut nicht an ihren Beinen herunterlief. Ich erfuhr, dass es normal war, dass die Jungs sich nahmen, was sie wollten. Ich hoffte, dass ich nie plötzlich dick werden würde, und tatsächlich wurde ich in dieser Zeit nie schwanger. Viele andere Mädchen und Frauen zogen mit ihren dicken Bäuchen an die Front. Viele verschwanden irgendwann für ein paar Wochen, um in einem trostlosen Winkel dieser Provinz ihre Kinder zur Welt zu bringen, die sie anschließend entweder töteten oder in ein Waisenhaus gaben wie jenes, in dem ich meine 159 ersten Lebensjahre verbrachte. Fast immer kamen die Frauen ohne dicken Bauch und ohne Baby wieder zurück. Es gab keine Unterstützung für diese Frauen. Schwestern In der Jebha herrschte alles andere als Eintracht. Jeder beäugte jeden misstrauisch: Wer will mir meine Portion Enjera wegnehmen? Wer will sich auf die faule Haut legen, anstatt zum Frontdienst mitzukommen? Wer will mich beim Chef anschwärzen, um vor ihm selbst besser dazustehen? Jeder war gegen jeden, denn obwohl niemand etwas zu verlieren hatte, wurde doch um das kleine bisschen Essen und Beachtung gekämpft, das uns das tägliche Überleben sicherte. Auch wir Schwestern waren alles andere als ein Herz und eine Seele. Yaldiyan spielte sich gerne als unsere Anführerin auf. Tzegehana erkannte ihre Führungsrolle an, und so versuchte Yaldiyan vor allem mich zu unterjochen. Ich war zwar die Jüngste, aber viel frecher als Tzegehana. Ich ließ mir nichts sagen. Wenn Yaldiyan nicht mehr weiterwusste, warf sie mit kleinen Steinen auf mich, zog mich an den Haaren oder versuchte mir die Decke wegzuziehen, wenn ich schlafen wollte. »Lass das, Yaldiyan!« schrie ich sie an. »Nimm bloß deine Finger weg!« »Du bist ein Miststück, du schreist mich nicht an!« schrie sie zurück. »Du bist ein Balg! Deine Mutter ist eine Hure!« Das verstand ich nicht. Was war eine Hure? Für eine Frau bedeutete es etwas sehr Schlechtes, wenn sie so
genannt wurde. Das war etwas Unanständiges, etwas, das ich nie werden wollte. Ich wusste aber nicht, was Mbrat Schlechtes getan haben sollte. »Du lügst!« kreischte ich Yaldiyan entgegen. »Mbrat ist keine Hure! Du bist eine Hure!« Das war nun nicht wahr, aber was hätte ich sonst sagen sollen? »Mbrat ist nicht deine Mutter!« schrie Yaldiyan. »Deine Mutter ist nichts anderes als eine dreckige Hure!« 160 Das saß, weil ich ohnehin Zweifel hatte an Mbrat. Sie war zwar nie böse zu mir gewesen, und sie hatte mich nie geschlagen. Sie hatte mich aus dem Kinderheim geholt, aber sie hatte mich auch gegen meinen Willen zu meinem Vater gebracht, zu meiner Stiefmutter und zu meinen beiden Schwestern, von denen mich die eine hasste, weil sie ihren Vater und ihre Schwester mit mir teilen musste. Mbrat hatte mich verraten, das war klar, aber sie war doch trotzdem meine Mutter!? Oder nicht? Yaldiyan nährte meine ersten Zweifel daran, ob Mbrat nicht vielleicht doch nur eine Ersatzmutter war und nicht meine richtige Mutter. Warum hatte Mbrat noch eine Tochter, die ebenfalls Senait hieß? Yaldiyan verstand es geschickt, solche bohrenden Fragen zu stellen und mich dann damit allein zu lassen. Ein paar Kinder bei den Morgensternen wurden manchmal von ihren Verwandten besucht, auch von den Eltern. Das kam sehr selten vor, aber es steigerte meine Nachdenklichkeit. Dass uns unser Vater nie besuchte, war klar, schließlich hatte er uns ja loswerden wollen. Aber warum war meine Mutter Mbrat nie da? Wusste sie nicht, wo ich war? Auch Yaldiyans und Tzegehanas Mutter kam nie zu uns. Wussten sie nichts? Waren wir unseren Müttern egal? Über solche Fragen konnte ich nur mit Tzegehana reden, weil sonst niemand hier Mbrat kannte. Aber mit Tzegehana zu sprechen verbat mir Yaldiyan, wie sie auch Tzegehana verbat, mit mir zu reden. »Was hast du mit der zu schaffen?« fuhr sie Tzegehana an. »Das ist meine Schwester!« schrie ich zurück. »Das stimmt nicht!« brüllte Yaldiyan. »Du bist nicht ihre Schwester! Ich bin ihre Schwester! Du bist das Kind einer Hure!« Tzegehana war nicht stark genug, um sich gegen Yaldiyans Bevormundung zu wehren. Sie wollte mit mir reden und spielen und mit mir Zusammensein, das fühlte ich. Aber sie wagte nicht, gegen Yaldiyans Gebote zu verstoßen. Außer wenn Yaldiyan an die Front musste. Sobald Yaldiyan weg war, hatte ihr Wort kein Gewicht mehr. Anfangs wollte ich mich nicht damit abfinden, doch dann gab ich nach. Mir war lieber, nur im geheimen mit Tzegehana zu tun zu haben als gar nicht. 161 Yaldiyans Ausflüge an die Front dauerten meist länger, so dass immer Zeit für Tzegehana und mich blieb. In der Regel war die Front von unseren Lagerplätzen etwa fünf bis fünfzehn Kilometer entfernt. Wir hörten oft Schüsse und Granateneinschläge, aber wir sahen nichts, wenn wir uns im Lager oder in seiner Nähe aufhielten. Der Weg an die Front war immer mit langen und gefährlichen Fußmärschen verbunden, denn im Kampfgebiet lagen Minen, und es gab Hinterhalte und feindliche Trupps, die die Lage auskundschafteten. Alles war sehr un übersichtlich; ich hörte oft, wie unsere Anführer darüber stritten, was zu tun wäre. Wir hatten zwar Funkgeräte, aber die funktionierten nicht immer, und es waren zu wenige, als dass alle unsere Trupps miteinander Verbindung hätten halten können. Häufig wusste ein Teil der Truppe nicht, wo die anderen waren, und wenn unsere Kämpfer nach tagelangen Märschen zurückkamen, waren sie oft völlig überrascht davon, wie sich die Lage an der Front in der Zwischenzeit verändert hatte — obwohl sie gerade von dort kamen. So passierte es, dass ich Yaldiyan tagelang nicht sah, denn während sie an die Front zog, musste — oder durfte — ich fast immer beim Lager bleiben. Einsatz Tzegehana und ich hatten Angst vor dem Kämpfen, ich noch mehr als sie. Gegen Ende unserer Zeit bei der ELF musste Tzegehana immer wieder mit an die Front; ich dagegen wurde nur sehr selten eingesetzt. Einmal aber waren wir beide mit einem Fronttrupp unterwegs, weil ausnahmsweise ein gutes Stück gefahren wurde. Ich hatte zwar keine Waffe, aber es war üblich, dass bei solchen Einsätzen auch welche von uns Jüngeren dabei waren. Wir sollten uns hinter den anderen halten und alles mitmachen, damit wir eines Tages selbst kämpfen konnten. Jetzt saßen wir aneinandergedrückt auf der Ladefläche eines Lkws und hatten keine Ahnung, wohin es ging. Tzegehana hatte zwei alte Batterien gefunden, die jemand auf dem Truck liegen gelassen hatte. 162 Für uns waren diese leeren Batterien von großem Wert. Wir pulten die Pluspole ab, bis eine schwarze, gummiartige Masse zum Vorschein kam die wir kauen konnten. Wir stellten uns vor, dass das Kaugummi wäre, und genossen den bitteren, scharfen Geschmack. Aus Asmara kannte ich Kaugummi und wusste, dass das etwas Wohlschmeckendes, Süßes ist, das immer schwächer schmeckt, je länger es im Mund ist. Die Batteriemasse schmeckte scheußlich und wurde in ihrem Geschmack nicht schwächer, sondern immer stärker, aber wir liebten es trotzdem, daran zu kauen. Es beruhigte uns, etwas im Mund zu haben.
Plötzlich hielt der Laster, und wir wurden unsanft aus unseren Träumen gerissen. »Los, runter mit euch, da rüber!« brüllte einer aus dem Führerhaus und zeigte in ein lichtes Wäldchen neben der Piste. »Versteckt euch!« Wir sprangen von der Ladefläche. Kaum hatten wir uns in die Büsche und zwischen die Bäume geduckt, schon ging es los: Schüsse waren zu hören, und sie kamen näher und näher. Dann rannten Kameraden von uns herbei, verfolgt von feindlichen Kämpfern. »Feuer!« schrie einer, als vor uns ein paar Gegner auftauchten. Noch nie hatte ich den Feind so nah gesehen. Die anderen rissen ihre Waffen hoch und begannen zu schießen. Ich hatte schreckliche Angst, dass ich sterbe oder verbrenne und dass Tzegehana starb oder die Kameraden neben mir oder unsere Feinde. Das war zwar nicht logisch, weil die anderen uns ja töten wollten, aber ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass wir zwischen lauter Toten liegen und kämpfen und schießen sollten. Diesmal hatten wir Glück, denn nach ein paar Minuten sprangen die Feinde auf und rannten weg. Wir sollten ihnen nachsetzen, doch das war kaum möglich, weil wir in dem dichtbewachsenen Gelände nur langsam vorankamen und die Flüchtenden zwischen dem Gestrüpp, dem hohen Gras und all den Wurzeln, Büschen und Bäumen bald aus den Augen verloren. Ein Pfiff holte uns zurück, das war das Zeichen zur Umkehr. Ich trottete bereitwillig hinterher, völlig zerstochen und zerkratzt. Als wir endlich wieder auf die Ladefläche klettern durften, peitschten plötzlich ganz in der Nähe ein paar Schüsse. Ich stand als eine der 163 ersten mitten auf der Ladefläche und blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, mich zu rühren. Etwas Warmes lief an meinen Beinen herunter. Es lief einfach aus mir heraus, ich pinkelte mich an. Aus dem Gebüsch neben unserem Lastwagen kam ein hartes Lachen. Ich konnte nicht sehen, wer sich da verbarg, denn es war schon fast dunkel. Wieder knallte ein Schuss, und ich fiel wie ein Sack auf die Ladefläche. Ich war aber nicht getroffen. Die Angst hatte mir die Beine weggezogen. Plötzlich lachte noch einer und dann noch einer. Ich merkte nicht gleich, dass sie über mich lachten. Vorsichtig hob ich den Kopf ein wenig, konnte aber nichts erkennen. Ich setzte mich auf und sah, dass alle guter Laune waren. Einer von uns hatte geschossen, weil er einen versprengten Gegner hatte laufen sehen. Mit der zweiten Salve hatte er ihn niedergestreckt. Jetzt zerrten unsere Leute an dem Leichnam herum und zogen ihn ins Scheinwerferlicht des Lkws, um zu sehen, ob der Mann etwas bei sich hätte, was für sie interessant sein könnte. Als sie nichts fanden, ließen sie wieder von ihm ab. Ich stand auf und sah fassungslos auf die Leiche, ohne daran zu denken, dass ich mich nass gemacht hatte. »Senait bidewa schenait«, riefen die anderen und lachten. »Senait bidewa schenait« — »Senait pinkelt im Stehen«, wieder und wieder riefen sie das. Die anderen Kinder, die mit dabei waren, nahmen den Spottgesang auf und riefen es mir später immer wieder nach. »Senait bidewa schenait«, das wurde so etwas wie mein zweiter Name. Vor Scham kauerte ich mich still auf die Ladefläche und ließ mich auf der Fahrt zurück zum Lager durchrütteln. Tzegehana hockte stumm neben mir. Sie war nicht in den Chor der anderen mit eingefallen. Zwar hatte sie mich nicht verteidigt, aber das hätte ich auch nicht von ihr erwartet. Niemand war stark genug, um gegen den Chor der Spötter anzukommen, das wusste ich. Nicht einmal Yaldiyan, meine größte Schwester, hätte sich dagegengestellt, um wieviel weniger also Tzegehana. 164 Das Ende naht Spätestens seit wir in den alten Kasernen am Fluss Gesh unmittelbar an der sudanesischen Grenze lagerten, wussten wir, dass die Sache der ELF verloren war. Wir waren immer die Schwächeren gewesen, das hatte ich aus den Frontberichten der älteren Kollegen herausgehört. Offiziell war natürlich immer alles in bester Ordnung. Offiziell machte unser Kampf noch Fortschritte, als wir schon ins letzte Eck gedrängt waren und drauf und dran waren, mit der gesamten Truppe in den Sudan zu flüchten. Erst hatten uns die Gegner in der Gegend um Bisha herumgescheucht, dann trieben sie uns vor sich her in Richtung der sudanesischen Grenze, bis fast gegenüber von Kassala, der ersten größeren Stadt im Sudan. Über all diese Entwicklungen wurden wir Kinder im unklaren gelassen. Wir hatten nicht den geringsten Schimmer, worum es in diesem Konflikt ging. ELF und EPLF waren für uns nur Buchstaben. Unsere politische Bildung bestand aus ein paar Liedern, in denen wir die Guten und die anderen die Bösen waren. Die von der EPLF sind Betrüger und Mörder, die ELF ist das Gute — das war die Botschaft. Shabia waren die anderen, die Feinde, die Verlierer. Jebha waren wir, die Tapferen, die Sieger, die Retter Eritreas. Der Kampf der ELF war längst verloren, als wir Schwestern zur Jebha stießen. Unseren gemeinsamen Gegner, die äthiopische Armee, bekamen wir gar nicht zu Gesicht, weil uns die EPLF vor sich her jagte wie der Fuchs den Hasen. Wir waren ausschließlich damit beschäftigt, uns gegen die EPLF zu verteidigen und unsere Truppe vor dem Untergang zu retten. Uns blieb nichts als der Mut der Verzweiflung. Die Aussichtslosigkeit unseres Kampfes verlieh ihm eine Weihe, die manchmal wie etwas Heiliges wirkte. Oft dachte ich, die Jebha habe etwas mit Beten zu tun, weil die Männer sich mehrmals täglich in eine bestimmte Himmelsrichtung wandten, um ihre
Gebete zu murmeln. Erst später wurde mir klar, dass das nichts mit der Jebha zu tun hatte, sondern eine eigene Religion war, der Islam. Manche von uns waren Christen wie Yaldiyan, Tzegehana und ich, aber sie praktizierten ihre Religion nicht. Allenfalls beteten wir heimlich, aber es gab keine 165 Priester, keine Messen, keine Kreuze. Die offizielle Doktrin der Jebha hieß Gleichheit. Sie erzählten uns, wir kämpften für eine gerechtere Welt. In dieser Welt gäbe es keine Reichen mehr und keine Armen, alle hätten dann genug zu essen, ihr eigenes Vieh und ihre eigenen Felder. Unter einem Reichen konnte ich mir nichts vorstellen. Ich kannte nur Arme, die zwar nicht klagten, aber nichts besaßen und ihr Leben lang von der Hand in den Mund leben mussten. Wie sollten wir das ändern? Wuchs nicht deshalb kein Getreide, weil es zuwenig regnete und zu trocken war? Regen machen konnten die Führer der ELF ja nicht, das hatte ich schon erfahren. Einmal fragte ich Mihret danach, handelte mir aber nur eine Ohrfeige dafür ein und die Bemerkung, dass sie mich windelweich prügeln würde, wenn ich weiter solchen Blödsinn erzählen würde. Also erwähnte ich das Thema nicht mehr. Es war nicht wichtig, denn es hatte keinen Einfluss auf meine täglichen Probleme. Ich fragte viel zuviel. Das führte immer zu Schwierigkeiten, beispielsweise beim politischen Unterricht. Darunter darf man sich keine echten Unterrichtsstunden vorstellen, sondern Propagandaveranstaltungen, die nach dem immer gleichen Schema abliefen. Alle paar Wochen wurden solche Versammlungen einberufen, meistens ohne vorherige Ankündigung, denn wegen der unvorhersehbaren Entwicklung der Kämpfe gab es keinen festen Stundenplan. Zu diesen Versammlungen mussten möglichst alle erscheinen, die nicht an der Front waren oder Wache halten mussten, Erwachsene wie Kinder. Dann saßen wir auf der Erde und hörten zu, wie einer der Alteren über den Krieg sprach. Der Redner sprach immer sehr gestelzt und auf eine andere Art und Weise als sonst. Manchmal hielt Agawegahta einen solchen Vortrag. Sie sprach laut und in merkwürdig verworrenen Sätzen, die alle kein Ende nahmen und immer auf etwas hinausliefen, das ich nicht kannte. Am Ende ihres Vortrags wurde Agawegahta noch lauter. »Die Shabia ist ein Betrüger!« rief sie, oder: »Die EPLF will Eritrea verraten, wir müssen sie vernichten!« Das waren einfache Sätze, aber ich verstand sie trotzdem nicht. Als 166 wir Fragen stellen durtten, zeigte ich auf. »Die ShabiaSoldaten sehen genauso aus wie wir«, sagte ich, »warum soll ich auf sie schießen?« Agawegahta brüllte mich nicht an. Sie lachte nur, und die meisten stimmten in ihr Lachen ein. Ein riesiges Gelächter schwoll an, und mein Sitznachbar scheuerte mir eine, mitten ins Gesicht. Von hinten bekam ich ein paar Tritte, dass ich in den Sand fiel, und damit war die Sache erledigt. Fortan wusste ich, dass es sinnlos war, solche Fragen zu stellen. Ich wusste aber auch, dass ich es nie würde lassen können, über solche Fragen nachzudenken. Buschkrieger Der Krieg wurde immer brutaler, unsere Verluste fielen zusehends schwerer aus. Es gab kaum mehr einen Tag, an dem keine Toten oder Schwerverwundeten ins Lager gebracht wurden. Unsere Truppe bestand schließlich nur noch aus wenigen hundert Menschen. Es war abzusehen, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft entweder aufgerieben oder kampfunfähig sein würden. Immer öfter mussten wir Jüngeren mit an die Front. Ich war dafür zuständig, dass die anderen genügend Nachschub an Patronen hatten. Die waren in Pappschachteln, die ich zwischen den einzelnen Posten hin und hertragen musste. Ich hatte Angst. Angst vor den Feinden, die ich überall im Unterholz antreffen konnte, und Angst davor, von einer Mine zerrissen zu werden, wie es in den letzten Tagen schon ein paar meiner Kameraden passiert war. Ich wusste ungefähr, wie Minen aussehen, hatte selber aber noch keine gesehen. Ich wusste auch, dass man keine Chance hatte, eine Mine zu entdecken, wenn sie richtig im Boden vergraben lag. Trotzdem hielt ich meinen Blick krampfhaft auf den Boden geheftet, wenn ich durch den Wald eilte, aber ich sah nur Wurzeln und Gräser, Gestrüpp und Büsche, hinter denen immer ein Feind lauern konnte. Nach ein paar Stunden an der Front wusste ich nicht mehr, wovor ich am meisten Angst haben sollte, vor den Minen oder vor einem überraschenden Angriff. 167 Abends im Lager legte ich mich nach einem kärglichen Mahl sofort nieder. Ich verkroch mich unter der Decke und wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Da erklang das Lied »Kamel, Kamel, wie schön ist dein Name ...« Das war ein Kinderlied, eines der ersten Lieder, die wir in der ELF gelernt hatten. Es sollte uns kleinen Kämpfern den Krieg schmackhaft machen. Ich zog die Decke vom Kopf, um besser zuhören zu können: »Stets stehst du an der Seite des Kämpfers und trägst seine Waffen. Treu bist du in Hitze und Kälte, Hunger und Durst ...« Ich war machdos gegen die Tränen. Zwar mochte ich die Kamele, die uns ständig begleiteten, nicht sonderlich. Das waren große, furchteinflößende Tiere, vor deren Riesenhufen man sich immer in acht nehmen musste, weil
die Kamele sofort austraten, wenn ihnen etwas nicht passte. Ich liebte es aber, ihnen aus sicherer Entfernung zuzusehen, und vor allem mochte ich den Gedanken, dass jemand treu an meiner Seite war. Auch als die Stimme die abgedroschenen Kampflieder der Jebha sang, musste ich weinen: »Die EPLF, diese zwielichtigen Figuren, haben sich großgemausert, weil sie betrügen und belügen. Aber mache dir keine Sorgen, mein Volk, jeder Böse hat ein böses Ende. Eritrea, mach dir keine Sorgen. Dein Befreier, Jebha, wird dich auf deinem Weg in die Unabhängigkeit führen ...« Es war Genet, die da sang, eine andere Sängerin der Jebha. Sie sang zwar nicht so schön wie Eden, aber ich mochte sie, weil sie oft mit uns Kindern sang, zum Beispiel solche Lieder wie das vom Kamel. Oder das Lied vom Beginn des Tages, der uns viel Glück und reiche Ernte bringen sollte: »Morgengrauen, wir stehen da ...« Mehr hörte ich nicht von den Visionen einer wunderbaren Zukunft, die mir und Eritrea blühen sollte. Mitten im Lied fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. 168 Die Flucht Täglich mehrten sich die Anzeichen für die schleichende Auflösung der Jebha. Einmal kamen zwei Mädchen abends vom Brennholzsammeln nicht zurück. Wir anderen Kinder schwärmten am nächsten Morgen aus, um sie zu suchen, fanden aber nicht die kleinste Spur. Erst am Tag darauf stießen unsere Kameraden auf die zwei Vermissten — sie waren tot, wahrscheinlich von Beduinen erstochen. Ob es um das Brennholz gegangen war oder ob es aus einem anderen Grund Streit gegeben hatte, sollten wir nie erfahren. Anderntags machte sich ein Trupp spätabends auf den Weg zur Front. Sie wollten in der Nacht gehen, weil es nachts kühler und sicherer war, um früh am Morgen ein wenig zu rasten und danach einen Hinterhalt für die Feinde anzulegen. Die Gruppe bestand aus dreißig, vierzig Männern, darunter viele Jungs. Keiner von ihnen kam je zurück. Erst vermuteten unsere Anführer, der Trupp sei selbst in einen Hinterhalt geraten, aber soviel wir auch suchten, es waren keine Spuren zu finden. Dann hieß es, die Kameraden seien getürmt, weggerannt vor dem Krieg und über die nahe Grenze in den Sudan geflüchtet. Laut durfte man das natürlich nicht sagen, aber einige von uns fragten sich auch so, warum wir unseren sinnlosen Kampf weiterführen und unseren Kopf riskieren sollten, wenn es auch anders ging? Wenige Tage später ging ich zusammen mit meinen beiden Schwestern zum nahen Fluss, um Wasser zu holen. Im Flussbett war nur trockene, aufgerissene Erde, aber wir wussten, dass es ein Stückchen weiter eine Stelle gab, an der ein paar magere Bäume standen, ein sicheres Zeichen dafür, dass es hier Wasser gab. Hier waren wir schon oft fündig geworden. Blieb nur die Frage, wie tief wir diesmal graben mussten, um bis zum Wasser vorzudringen. Über eine steile, sandige und trockene Böschung kletterten wir in das Flussbett hinunter, mit einem Spaten, einem Eimer und ein paar Plastikkanistern bewaffnet. Wir suchten uns eine geeignete Stelle aus und begannen abwechselnd zu graben. Es ging leicht, denn der Boden war sehr sandig und wurde bald dunkel vor Feuchtigkeit. Man musste 169 nur darauf achten, dass die Wände des Lochs nicht ständig nachrutschten, weil der Boden sehr locker lag. Eine von uns stimmte ein Lied an. Wir fühlten uns völlig ungestört und sicher. Plötzlich hörten wir vom anderen Flussufer Geräusche. Dort schlugen ein paar Beduinen mit ihren Kamelen ihr Lager auf, und zwei von ihnen machten sich daran, ins Flussbett hinunterzusteigen. Es war nicht alltäglich, aber auch nicht ungewöhnlich, Beduinen zu begegnen; auf der Suche nach Nahrung für ihre Tiere durchstreiften sie die Grenzregion zwischen dem Sudan und Äthiopien und trieben mit allerlei Dingen Handel. Da wir weder Geld noch Dinge besaßen, die wir gegen die Waren der Beduinen hätten eintauschen können, beschränkten sich unsere Kontakte auf zufällige Begegnungen. Normalerweise scherten sich die Beduinen nicht um uns, sondern zogen ihrer Wege, weil sie wussten, das wir bloß arme Schlucker waren. Trotzdem mussten wir vorsichtig sein, weil es ein paar Zwischenfälle gegeben hatte. Die beiden Beduinen, die ins Flussbett hinuntergeklettert waren, hielten auf uns zu. Was sollten wir tun? Weglaufen? Unser Wasserloch, das schon einigermaßen tief war, wäre verloren gewesen, wenn nicht ständig jemand den nachrutschenden Sand befestigt hätte. Und mit leeren Händen ins Lager zurückzukommen war eine unangenehme Vorstellung. Wir berieten uns wispernd und taten fürs erste nichts, außer weiterzugraben. Yaldiyan meinte, die Beduinen würden uns schon nichts tun, wenn wir zu dritt blieben. Also gruben wir und gruben, was das Zeug hielt. Jeden Moment mussten wir auf Wasser stoßen. Wir taten, als ob uns nichts anderes interessieren würde. Dabei brauchten wir uns nicht sonderlich zu verstellen, denn wir waren sehr durstig. »Pssssst ... psssssssst!« Einer der beiden Beduinen zischte uns zu und versuchte unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Wir sahen zu den Störenfrieden hinüber. Der eine schob sein Kopftuch weit aus dem Gesicht heraus. Er sah anders aus als sein Begleiter, viel heller, mit wesentlich schärfer geschnittenen Konturen, und größer war er auch. Außerdem wirkte er nicht so bäuerlich wie die meisten Beduinen. Eigntlich sah dieser Mann ganz ähnlich aus wie wir.
170 Obwohl die Beduinen fast alle nur Arabisch sprachen, rief er plötzlich halblaut eine Begrüßung in unserer Sprache, in Tigrinya. Wir konnten ihn nicht recht verstehen, weil er so weit weg war und nur leise herüberrief. Erst als der Mann etwas lauter sprach, verstanden wir die Worte: »Yaldiyan! Yaldiyan! Komm her!« Yaldiyan zuckte zusammen und starrte den Mann entgeistert an. Dann flüsterte sie uns zu: »Das ist Haile, unser Onkel!« Ich hatte Haile noch nie gesehen, und Tzegehana konnte sich nicht mehr an ihn erinnern, weil sie noch zu klein gewesen war, als er sie das letzte Mal besucht hatte. Aber Yaldiyan war ganz sicher. Immer wieder murmelte sie: »Haile! Das ist Haile!« Gebannt starrte sie auf den Mann, als könnte sie in seinem Gesicht lesen, was er vorhatte. Haile machte nicht den Eindruck, als würde er sich freuen — oder wagte er es nur nicht, seine Freude zu zeigen? Ein Stück hinter uns kamen ein paar Kinder aus unserer Einheit mit Eimern und Kanistern behangen den Fluss herunter, um uns beim Wasserholen zu helfen. Haile wahrte einen deutlichen Abstand, als hätte er nichts mit uns zu tun, und kam nicht näher als zwanzig Meter an uns heran. »Ich will euch helfen«, flüsterte er, »ich habe eine Nachricht von eurem Vater!« »Von dem wollen wir nichts wissen!« platzte es aus mir heraus, und meine Schwestern nickten, wenn auch nicht so überzeugt wie ich. »Wir wollen nicht zu ihm!« sagte ich bestimmt. Hier konnte ich überleben, dachte ich, bei meinem Vater droht mir der sichere Tod. Haile blieb ganz ruhig, obwohl die anderen Kinder aus unserem Lager fast schon in Hörweite waren und wir Anstalten machten, davonzulaufen. Ich packte meine Kanister, Yaldiyan nahm den Spaten, Tzegehana die Eimer. »Kommt morgen!« flüsterte er. »Ich muss mit euch sprechen, ohne dass jemand dabei ist!« Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. War das eine Falle? Ein Hinterhalt unseres Vaters? Doch Haile hatte so eindringlich gesprochen, dass wir nickten. »Gut«, sagte Yaldiyan, »wir werden morgen wieder hier Wasser holen.« Haile schien zufrieden und wandte sich ab. Kurz darauf kamen die anderen Kinder aus unserer Einheit bei uns an. »Was wollten denn die 171 Kerle von euch?« fragten sie neugierig, doch wir zuckten nur mit den Schultern. »Ich habe kein Wort verstanden«, sagte ich frech. »Kein Wunder, du Depp«, sagte einer, »du verstehst ja auch nicht Arabisch!« Damit war die Sache erledigt. Abends lagen wir stundenlang wach und überlegten, was das Ganze zu bedeuten haben könnte. Yaldiyan war sicher, dass der zweite Beduine Haue war, daran gab es nichts zu rütteln. Sie hatte ihn als freundlichen und ehrlichen Mann in Erinnerung. Haile war der jüngste Bruder meines Vaters. Wir beschlossen, ihm zu vertrauen — und uns keinesfalls zu unserem Vater bringen zu lassen. Am nächsten Tag gingen wir wieder an das Wasserloch. Diesmal war keiner unserer Kameraden in der Nähe. Plötzlich tauchte Haile auf, immer noch als Beduine gekleidet, aber diesmal war er alleine gekommen. Er erzählte, dass er uns holen wolle, und sagte, dass »Che Guevara«, unsere Einheit, am Ende sei und dass die EPLF den Kampf gewinnen würde oder die äthiopische Armee. »Wenn ihr nicht mitkommt, seid ihr in großer Gefahr. Viele von euch werden getötet werden, es ist bald aus mit der ELF.« Damit rannte er bei uns offene Türen ein, denn dass es nicht gut um die Jebha stand, wussten wir selbst. »Kommt übermorgen wieder her, dann nehme ich euch mit und bringe euch in den Sudan. Ich verspreche euch, ihr wohnt bei mir in Khartum, das ist die Hauptstadt dort, und nicht bei eurem Vater. Der ist längst im Land der Weißen, in Europa.« Wir waren unschlüssig, sagten aber zu. Er hatte seine Bitte so eindringlich und so freundlich vorgebracht, dass wir sie nicht ausschlagen konnten. »Wir können uns nicht immer an derselben Stelle treffen«, sagte er noch, »am besten geht ihr hier vorbei und hinüber ans andere Ufer, als würdet ihr Wasser suchen. Dort werde ich auf euch warten!« 172 Hoffnung Es folgten zwei Tage voller Zweifel, Ängste und Befürchtungen, aber auch zwei Tage voller Hoffnung. Würden wir jetzt von den Kämpfen erlöst? Von der harten Arbeit an den Wasserlöchern, vom Hunger und von der Ungewissheit, ob wir den nächsten Tag erleben? Ängstlich vermieden wir es, einem der Spähtrupps zugeteilt oder mit einer Nachschubpatrouille an die Front beordert zu werden. Solche Abordnungen konnten immer ein paar Tage dauern, und wir wollten keinesfalls das Treffen mit unserem Onkel versäumen oder gar in den letzten Tagen bei der Jebha durch eine feindliche Kugel sterben. Wenn es nur wahr wäre und wir in die Freiheit kämen! Endlich war es soweit. Wir konnten es kaum erwarten, zum Fluss zu gehen. Eilfertig schnappten wir am Morgen unsere Gerätschaften, um Wasser zu holen. Wir waren schon auf dem Weg hinaus aus dem Lager, als uns Mihret nachrief: »He, kommt zurück! Ihr müsst mit auf Patrouille!« Mir blieb fast das Herz stehen. Was jetzt? »Wir kommen sofort, Mihret!« rief ich zurück. »Wir haben bloß schon ein paar Eimer Wasser unten, die wir
noch abholen müssen!« »Gut, aber beeilt euch!« rief sie zurück. Genau das taten wir. Wir beeilten uns fürchterlich. Völlig außer Atem kamen wir unten am Fluss an. Gleich gingen wir an das andere Ufer. Niemand sah uns, also hielten wir uns nicht damit auf, so zu tun, als würden wir Wasser holen. Plötzlich sprangen Haile und noch ein zweiter Mann, den wir nicht kannten, hinter einem Busch hervor und gaben uns ein paar Tücher, damit wir uns als kleine Beduinen verkleiden konnten. Ich zog und zerrte daran herum; meine Schwestern mussten mir helfen, weil ich noch nie so etwas umgelegt hatte. Der zweite Mann beobachtete uns finster. Er machte mich misstrauisch, aber jetzt war nicht die Zeit für Zweifel. »Kommt«, sagte Haile, als wir fertig waren, »ihr kehrt nie mehr hierher zurück.« Schweigend gingen wir los, bis wir auf einen weiteren Mann trafen, der außer Sichtweite mit einem Esel wartete. Hailes Begleiter schienen echte Beduinen zu sein, zumindest sahen sie so aus. Zu dritt sollten wir auf dem Esel sitzen. Als wir auf seinem Rücken saßen, seufzte er so tief 173 und deutlich, als wäre er ein Mensch. Mir tat der Esel leid, aber Haue sagte nur: »Red keinen Unsinn, wir müssen weit und schnell gehen! Du wirst Gott noch danken, dass du auf diesem Esel sitzen darfst!« Genauso war es. Wir gingen den Tag über schweigend voran, ohne Pause und ohne einem Menschen zu begegnen. Nur in der Ferne sahen wir ein paar Beduinen mit ihren Kamelen ziehen, einmal weit weg auch ein Fahrzeug, sicher saßen Soldaten darin. Niemand beachtete uns, denn mit uns Kindern und einem Esel sah unsere kleine Reisegruppe aus wie die Ärmsten der Armen, die sich kein Kamel leisten konnten und von denen sich niemand einen Vorteil erhoffen konnte. Der Marsch Die Ebene wurde immer karger, je weiter wir gingen. Hier gab es keine Bäume mehr, bloß vertrocknete Grasbüschel und hin und wieder einen dürren Strauch. Es war die eintönigste Landschaft, die ich je gesehen hatte. Die Sonne brannte unbarmherzig auf uns nieder, doch wir mussten die Tücher über unsere Köpfe gewickelt lassen. Das war ungewohnt, aber nicht schlecht: Darunter hatten wir es zwar warm und dampfig, aber dafür brannte uns die Sonne nicht auf den Kopf und ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen starrten wir zum Horizont, um endlich etwas wie ein Ziel auszumachen, aber da war nichts als hellblauer, fast weißer Dunst, der die merkwürdigsten Formen annahm. Mal erschien in der wabernden Hitze eine riesige Stadt, dann ein See, manchmal eine Bergkette. Alles schien dort hinten in ununterbrochener Bewegung zu sein, aber es waren nichts als Luftspiegelungen, die uns narrten. Jedesmal, wenn wir auf einen winzigen Hügelrücken kamen, war dort unten nichts weiter als eine harte Linie zwischen Himmel und Erde, die sich keinen Millimeter bewegte und kein Geheimnis barg. Abends, die Sonne war schon längst hinter dem Horizont verschwunden, schlugen wir ein kleines Lager auf. Die Männer hatten 174 ein Zelt, es gab trockenes Brot und Wasser. Gierig schlangen wir alles hinunter. So vieles hatten wir Onkel Haue fragen wollen an diesem ersten Abend in der Freiheit, weil er doch unterwegs nicht sprechen wollte und es zu heiß gewesen war, um sich zu unterhalten. Jetzt wollten wir aber nur noch wissen, wann wir schlafen gehen konnten. Draußen vor dem Zelt wurde es unangenehm kalt, drinnen stand noch die Wärme des Tages. Wir kuschelten uns aneinander. Ich schlief mit einem wunderbaren Gefühl ein: Nun konnte ein besserer Teil meines Lebens beginnen. Am nächsten Tag gingen wir anfangs zu Fuß, um den Esel zu schonen. Das war mir sehr recht, aber schon gegen Mittag änderte ich meine Meinung. Meine Füße brannten wie Feuer, die Zunge hing wie ein trockener Strick im Mund, und das Beduinengewand klebte schweißnass auf mir. Plötzlich standen wir vor ein paar Soldaten in Uniformen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich hatte die ganze Zeit nur auf meine Füße gestarrt und auf meine zerfetzten Latschen und auf die spitzen Steine, denen es auszuweichen galt, und hatte die Soldaten nicht bemerkt. Sie sprachen uns in einer fremden Sprache an, in Arabisch. Haile antwortete etwas, die Männer musterten uns von oben herab. Einer von ihnen machte eine kleine Bewegung mit dem Kinn in Richtung des Horizonts — ein Zeichen, dass wir weiterziehen konnten. Haile bedankte sich überschwenglich und verbeugte sich vor den Soldaten, die bloß ein paar wegwerfende Handbewegungen machten. Offensichtlich waren wir in unserer Rolle als Beduinen keiner größeren Beachtung wert. Mir was das nur recht, denn so kamen wir ungeschoren weiter. Onkel Haile konnte perfekt den armen Tropf mimen. Ich fand immer mehr Gefallen an seiner ruhigen und freundlichen Art. Wenn das der Mann war, in dessen Familie wir ab jetzt leben sollten, wollte ich um keinen Preis zurück zur Jebha, und schon gar nicht wegen ein paar hochnäsiger sudanesischer Grenzsoldaten. Der dritte Tag war eine Härteprobe für uns alle. Wir hatten kaum noch Wasser, jeder durfte nur einen kleinen Schluck von der lauwarmen, abgestandenen Brühe nehmen, die die Männer in zwei LkwSchläuche abgefüllt und dem Esel als zusätzliche Last aufgebürdet 175
hatten. Meine Augen waren rotgerändert von dem gleißenden Sonnenlicht und dem Sand, der uns unaufhörlich ins Gesicht blies. In meinem Kopf surrte und kochte es vor Hitze und den Gedanken, die ich wälzte: Wo sollten wir leben? Was wollte Haue von uns? Steckte vielleicht doch unser Vater hinter der ganzen Aktion? Viel Zeit hatte ich nicht, um mich mit diesen Gedanken zu beschäftigen, denn immer wieder gerieten wir in Militärkontrollen. Haile sagte, der Sudan versuche seine Grenzen zu schließen, weil es zu viele Flüchtlinge aus Eritrea gebe. Deshalb durften wir nichts sagen, selbst wenn uns einer der Soldaten etwas fragen sollte, damit wir uns nicht als Eritreer verrieten. Doch die Soldaten sprachen ohnehin nur mit Haile und den anderen beiden Männern, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Frauen werden im Sudan prinzipiell nicht von Männern angesprochen, wenn es darum geht, Auskünfte einzuholen. Lichter! Was war das für eine Wohltat, die erbarmungslose Sonne unter den Horizont sinken zu sehen! Der Himmel blitzte rot auf, um wenige Minuten später wie von Zauberhand in tiefdunkles Blau getaucht zu werden, an dem nach und nach die Sterne zu leuchten begannen. Nie zuvor hatte ich das so klar und mit so schnellen und harten Wechseln gesehen wie hier in der Wüste. Sehnsüchtig warteten wir auf Hailes Signal, endlich ein Nachtlager einzurichten, als plötzlich noch ein paar Sterne auftauchten, tief über dem Horizont. Nein, sie saßen genau auf dem Horizont. Angestrengt starrten wir in die Nacht. Diese Sterne sahen anders aus als die oben am Himmel. »Was ist das dort vorne?« fragte ich Haile. Ich hatte Angst, wieder Opfer einer Luftspiegelung zu sein. »Das ist unser Ziel«, murmelte er, »das ist Kassala!« Am liebsten hätten wir vor Freude geschrien, aber wir wagten nicht einmal zu kichern oder sonst eine Aufregung zu zeigen. Wir umarmten uns nur und drückten einander. Unsere Sehnsucht nach einem Lager 176 platz für die Nacht war wie weggeblasen — wir wollten nichts wie hin zu diesem wunderbaren Horizont! Was war das für ein herrlicher Anblick, die Lichter dieser Stadt über den Horizont hinaufwachsen zu sehen. Das war Licht aus Fenstern, licht von Straßenlaternen, Licht von Lampen, die über Marktständen baumelten. Mir wären fast die Tränen gekommen vor Glück — nicht nur, weil wir endlich am Ziel waren, mit der Aussicht auf Wasser und etwas zu essen, sondern weil ich seit Monaten keine Städte gesehen hatte. Gab es das wirklich noch? Beleuchtete Häuser, Menschen, die durch ihren Heimatort gingen, ohne sich gegenseitig erschießen oder abschlachten zu wollen? Ich hatte seit Jahren kein friedliches Leben mehr gesehen, sondern nur Kampf, Vernichtung und Hass erlebt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto froher wurde ich, das hinter mir gelassen zu haben. Für einen Moment vergaß ich Durst und Hunger und musste mehrmals tief durchatmen. Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Vor meinen Begleitern verbarg ich die Tränen, denn ich genierte mich immer, wenn ich weinen musste. Doch niemand achtete auf mich, alle starrten wie gebannt auf die Lichter vor uns. Die Lichter wurden größer und größer, Häuser zeichneten sich gegen den Horizont ab, Türme von Moscheen. Niemand sah unserer ärmlichen Karawane nach, als wir spätnachts in die Stadt einzogen. Alle gingen geschäftig ihren Aufgaben nach: Kameltreiber feuerten ihre Tiere an. Händler hockten neben Bergen von Gemüse und Obst auf dem Boden. Männer saßen auf den Stufen der Lokale oder auf Stühlen davor und unterhielten sich. Frauen schleppten Kanister mit Wasser, Holz oder Einkaufstüten. Kinder sprangen zwischen den Erwachsenen herum. Es gab etwas zu essen, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Hier gab es zu essen! Vertraute Bilder, die längst verlorengegangen waren, sah ich auf einmal leibhaftig vor mir: sorgfältig aufgestapeltes Obst und Gemüse, Schachteln mit Lebensmitteln in den Regalen, Säcke mit Bohnen, Getreide und Kaffee, getrocknete Früchte und Gewürze. Hier gab es Menschen, die nicht hungerten, die einfach in einen Laden gingen, w enn sie etwas zu essen haben wollten! 177 Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Alle waren wir ausgehungert und abgezehrt, zerlumpt, verdreckt und räudig, und genauso kamen wir uns auch vor. Wir schämten uns für unser Äußeres. Dabei war Kassala alles andere als eine schicke Stadt. Im Vergleich zu Asmara war Kassala ein ödes Kaff, die letzte Station für Reisende nach Eritrea, ein Vorposten in der Wüste, in dem die höchsten Gebäude nicht mehr als zwei Stockwerke hatten. Und doch erschien uns diese Ansammlung aus grauen und weißen Würfelhäusern, die nach einem groben Raster angeordnet eines neben dem anderen im Staub standen, nur von ein paar Märkten und Moscheen unterbrochen, wie das Paradies! Im Paradies Onkel Haue und seine beiden Begleiter schienen so unbeeindruckt von der überwältigenden Szenerie zu sein wie unser Esel. Zielstrebig gingen sie durch die Straßen der Stadt, um schließlich vor einem Haus haltzumachen, das aussah wie alle anderen auch. Wir traten ein und fanden uns in einer dunklen Höhle wieder, die nur von einer nackten schwachen Glühbirne erhellt wurde. Hier war einer der beiden Begleiter Hailes zu Hause. Seine Frau machte sich sofort und ohne viele Worte an die Zubereitung einer Mahlzeit. Wir setzten uns auf den Boden. Ein Mädchen brachte einen Krug mit Wasser. Gierig leerten wir Glas um Glas. Das Mädchen lächelte und schenkte uns nach, noch mal und noch mal. Wir konnten nicht genug kriegen. Es war ein wunderbares Gefühl, Wasser
trinken zu können, das aus einem Krug kam, einfach so. Ohne zu graben, ohne zu schleppen, ohne zu suchen. Das Mädchen reichte uns eine Schüssel, in der ein winziges Stück Seife lag. Sie hielt uns einen anderen Krug hin und goss daraus Wasser in die Schale, damit wir uns in dem Strahl die Hände waschen konnten. Genau wie hier, ist es auch in Eritrea üblich, Gäste zu bewirten und ihnen vor dem Essen eine Waschung anzubieten, denn es gibt ja kein Besteck. Ich war gerührt, weil sonst immer ich es gewesen war, die den Gästen unseres Vaters oder meiner Großmutter die Wasserkaraffe, die 178 Schüssel und das Handtuch gereicht hatte. Nun wurde ich selbst bewirtet und das nach Jahren, in denen sich kein Mensch darum gekümmert hatte ob ich gewaschene Hände hatte oder nicht. Das Mahl war einfach: Enjera mit einer Soße aus Tomatenmark und Zwiebeln. Für uns war es das beste Essen der Welt. Glücklich griffen wir zu, rissen hastig kleine Stückchen aus der Teigflade und tunkten sie in die Soße. Es war unbeschreiblich schön, einfach dasitzen und essen zu können, ohne an eine herannahende Gefahr, einen unerwarteten Befehl oder die Schrecken der bevorstehenden Nacht denken zu müssen. Plötzlich gab es wieder eine Nacht ohne Angriffe und ohne Hunger und ohne Durst und ohne Dutzende anderer Menschen, die im gleichen Raum schliefen, sofern es überhaupt einen Raum zum Schlafen gab. Hier durften wir uns in der Küche auf ein paar Matten ausstrecken, und während die Erwachsenen noch Tee tranken und redeten und redeten, fielen Yaldiyan, Tzegehana und ich erschöpft in Schlaf. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von Hailes Begleitern und von dem Esel, der die Nacht im Hof des Hauses verbracht hatte. Wir gingen zum größten Platz der Stadt, auf dem vollkommenes Chaos herrschte: Tausende Menschen, schwer mit Koffern, Ballen und Säcken beladen, rannten durcheinander. Dutzende Busse, Kamele, Esel, Fahrräder und Handkarren waren hoffnungslos ineinander verkeilt. Es erschien mir wie ein Wunder, dass Haile auf Anhieb den Bus fand, der uns nach Porto Sudan, einer Hafenstadt am Roten Meer, brin gen sollte. Der Bus war schon gerammelt voll, aber wir fanden noch ein Plätzchen hinten neben der Tür. Auf das Dach des Busses wurden nicht nur Kisten, Kartons, Koffer und Säcke geschnallt, hier wurden auch zwei Ziegen angebunden, die es sich zwischen all dem Gepäck gemüdich machten und ruhig wiederkäuten. Die drückende Hitze im Bus wurde nur langsam besser, als er sich in Bewegung setzte. Erst ging es im Schneckentempo durch das dichte Gedränge, dann rascher und rascher aus der Stadt hinaus auf eine schnurgerade Piste, vor uns nichts als Hitze und hinter uns eine riesige Staubfahne. Ich sank zufrieden in meinen Sitz, der mir trotz aller Enge unendlich komfortabel vorkam, und kuschelte mich an meine Schwe 179 stern. Wie herrlich es war, nicht dort draußen neben einem Esel zu laufen! So fuhren wir stundenlang dahin. In Porto Sudan stiegen wir in einen anderen Bus um, der nach Khartum fuhr, in die Hauptstadt des Sudan, wo Onkel Haile zu Hause war. Die Reise dauerte einen ganzen Tag, den wir in einer Art Dämmerzustand oder Dauerschlaf verbrachten, als ob uns die Anstrengungen der letzten Tage und Wochen und Jahre auf einen Schlag eingeholt hätten. Unsere Busfahrten durch die Weiten des Sudan hatten nichts von einer Flucht an sich, es war wie eine Kur, während der wir uns erholten. Die anderen Passagiere schnauften und ächzten unter der Hitze, dem Staub und der Enge, doch für uns war diese Fahrt die pure Erholung. In den letzten Jahren hatten wir während der heißen Tagesstunden nicht gemütlich in einem Bus gesessen, sondern geschuftet, was das Zeug hielt. Immer wieder fielen mir vor Erschöpfung die Lider zu. Vor meinem inneren Auge tanzten wie wild die grellsten Bilder der letzten drei Jahre bei der ELF. Das Schöne daran war, dass ich nur die Augen öffnen musste, um nichts mehr von dem Leid und dem Blut und dem Elend zu sehen. Sobald ich zum Fenster hinausblickte, erkannte ich nichts als Steine, Sand, Sonne und hin und wieder eine Hütte, vor der ein paar Leute im Schatten dösten. Bilder des Friedens. 180 Khartum Es wurde schon Abend, als wir in die Stadt rollten. Ich schreckte aus meinem Dämmerschlaf hoch, weil plötzlich von allen Seiten höllischer Lärm auf mich eindrang. Die Menschen im Bus schrien so laut durcheinander, dass ich instinktiv in Deckung ging, weil ich dachte, es fliegen Kugeln oder Granaten auf uns. Der Schrecken der vergangenen Jahre steckte tief in mir drin. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass gar nichts Schreckliches passiert war. Die Passagiere befanden sich nur in heller Aufregung über unsere bevorstehende Ankunft. Alle rissen an ihren Päckchen und Säcken herum, machten einander auf Dinge aufmerksam, die sich draußen abspielten, oder diskutierten laut darüber, was nun passieren sollte. Ich verstand kein Wort von dem Geschrei, weil alle in Arabisch oder in mir unbekannten afrikanischen Sprachen redeten. Auch Haile machte sich zum Aussteigen bereit und klopfte Yaldiyan und Tzegehana aufmunternd auf die Schulter, die noch immer durch das Land der Träume schwebten. Mit vor Staunen offenem Mund sah ich nach draußen. Hier gab es jede Menge Dinge, die ich noch nie gesehen hatte: Häuser, so hoch wie die Turmspitze der Kadiedrale in Asmara. Straßen, auf denen die Autos in mehreren Spuren nebeneinander fuhren. Moscheen, deren Türme so weit in den Himmel ragten, dass ich ihre Spitze vom
Busfenster aus nicht sehen konnte. Und überall Menschen, Menschen, Menschen. Asmara war immer eine belebte Stadt gewesen, aber hier waren unvergleichlich viel mehr Menschen unterwegs. Ich klebte mit dem Gesicht an der Scheibe und konnte kaum fassen, wie viele Menschen hier zwischen den Autos, den Fuhrwerken und den Häusern hin und herliefen. Haile ging mit uns nach Hause. Er sperrte ein eisernes Tor in einer hohen Mauer auf, hinter der sich ein üppiger Garten verbarg und ein gewaltiges Haus mit mehreren Stockwerken. Haile schmunzelte, als er unsere Verwunderung sah, und sagte nur: »Hier wohnen wir.« In diesem Palast sollten wir zu Hause sein? Hier gab es für alles ein eigenes Zimmer — ein Zimmer zum Essen, eins zum Kochen, eins zum 181 Waschen, eins zum Schlafen; acht Zimmer insgesamt. So etwas kannte ich noch nicht mal aus meinen Träumen. Das Wasser kam aus einer Leitung, und es gab ein Klo, durch das dieses Wasser floss. Das hatte ich erst einmal in meinem Leben gesehen, nämlich bei den italienischen Nonnen in Asmara. Doch dort mussten wir oft auf das Plumpsklo im Garten, das mir damals luxuriös vorgekommen war. Nach dem Haus erkundeten wir das Grundstück, auf dem drei riesige Hunde lebten. Dass Hunde so nah bei den Menschen waren, gefüttert wurden und wie Familienmitglieder lebten, hatte ich noch nie erlebt. Ich kannte nur Straßenköter, die von allen getreten, gejagt und verachtet wurden. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, einen Hund in seinen eigenen Garten zu lassen. Wir erfuhren bald, dass dieses Haus nicht Haue gehörte, sondern einer Verwandten von uns, einer reichen, wunderschönen Frau, die halb Ägypterin, halb Eritreerin war. Sie hatte sehr helle Haut, fast wie eine Weiße, und dazu pechschwarze Haare. Als ich sie das erste Mal sah, blieb ich mit offenem Mund vor ihr stehen, weil ich noch nie soviel Schönheit gesehen hatte. Ich wusste nicht, was gemeinhin als schön galt und was nicht — angesichts dieser Frau aber spürte ich sofort, dass ich einer außergewöhnlichen Schönheit gegenüberstand. Meine Bewunderung schien sie zu freuen, denn sie streichelte mir über den Kopf und ließ mich spüren, dass sie mich mochte. Ihrer Tochter Sanaa gehörte das prächtige Haus, in dem wir wohnten. Sie war ein verwöhntes, schon erwachsenes Mädchen, die alles hatte außer einem Mann: das Haus, ein Auto, eine Putzfrau, die Hunde und jede Menge toller Kleider. Zu arabisch anmutenden langen Kleidern trug sie nicht etwa Kopftuch und Schal, sondern ihr Haar blieb frei. Offenes, freies Haar kannte ich bis jetzt nur von den Frauen in der ELF, doch die hatten keine schönen Kleider getragen, sondern abgewetzte Tarnhosen, TShirts und zerschlissene Männerhemden. Sanaas Mutter mochte mich mit der Zeit immer mehr. Sie wollte, dass ich zu ihr und ihrer Tochter zog, und so lebte ich wochenweise in einem noch schöneren und prächtigeren Haus in einem Viertel, in dem nur solche Häuser standen, jedes in seinem eigenen Garten. Das Leben 182 dort war ein FesL. Schwere Aibeiten wie Wasser oder Hoizholen fielen nicht an, ich brauchte nur ein bisschen im Haushalt zu helfen. Gekocht wurde nicht mit Holz, sondern auf einem Herd, der an eine Flasche an geschlossen war, aus der Feuer kam, wenn man an die richtige Stelle ein Streichholz hielt. Wenn man Wasser brauchte, musste man nur an einem der Wasserhähne drehen, die es an mehreren Stellen im Haus gab, und wie durch ein Wunder lief das Wasser aus der Wand. Alles, was ich tun musste, war, auf den Markt gehen, einkaufen und einer alten Frau, die hier als Dienerin lebte, beim Kochen helfen. Noch nicht einmal saubermachen musste ich, dafür waren zwei andere junge Frauen zuständig. Es war wie im Paradies, aus dem ich nur manchmal für wenige Stunden vertrieben wurde, wenn Besuch da war. Dann musste ich mich immer mit den anderen Frauen, die hier arbeiteten, in der Küche aufhalten. Das schmerzte mich, denn auch wenn ich fast nichts verstand, weil ich erst ein paar Brocken Arabisch aufgeschnappt hatte, war ich doch neugierig und wollte wissen, was für Leute zu Besuch kamen und worüber sie redeten. Vor allem aber vermisste ich meine beiden Schwestern und Haue, der nur hin und wieder zu Besuch kam. Die drei wohnten im Haus Sanaas. Wenn Haue einmal da war, schien es mir, als würden sich Sanaas Mutter und Haue nicht mehr so gut verstehen. Einmal gab es richtig Streit. Ich wurde hinausgeschickt und hörte nur, wie die beiden sich lauter als nötig miteinander unterhielten. Plötzlich wurde eine Tür aufgerissen, Haile griff mich wortlos am Arm und schob mich hinaus. »Wir gehen«, sagte er. »Du kommst nicht mehr hierher zurück.« Ich war erschrocken, aber auch ein bisschen erleichtert. Doch dann fiel mir etwas ein. »Und meine Sachen?« »Also gut, hol sie dir.« Haile ließ mich los, und ich stürzte in das Zimmer, in dem ich mit einem anderen Mädchen wohnte, das hier saubermachte. Meine Habe war schnell zusammengerafft: ein Kleid, das mir Sanaa geschenkt hatte, ein paar Tücher und meine Gummilatschen, mehr hatte ich nicht. Das Kleid war mein ganzer Stolz, nie zuvor hatte ich etwas so Prächtiges besessen: Es bestand nicht nur aus ein paar Tüchern, sondern war aus einem genähten Stoff, der mir wunderbar 183 stand, wie ich fand. Dann eilte ich zu Haile, der mich zu Sanaas Haus führte. War das ein Wiedersehen mit
meinen Schwestern! An unserem ersten gemeinsamen Abend erzählte Haile die Geschichte, die sich hinter seinen Verwicklungen mit Sanaas Mutter verbarg. Ich war beeindruckt, denn bis jetzt hatte sich niemand viel Zeit genommen, um mir und meinen Schwestern etwas ausführlich zu erklären. Sanaas Mutter hatte meinen Vater kennengelernt, als er auf seiner Flucht aus Eritrea mit meiner Stiefmutter und deren Kindern zu ihr gekommen war. Sie hatte ihn sehr gemocht und immer von ihm geschwärmt. Haile dagegen mochte sie nicht. »Weil ich ihr gegenüber nicht gehorsam war wie euer Vater«, sagte Haile. Trotzdem hatte sie ihm und uns erlaubt, weiter im Haus ihrer Tochter zu wohnen, wenn ich dafür bei ihr lebe und ihr helfe. Das tat sie, weil sie mich mochte. »Dabei fühlte ich mich ein wenig unwohl«, erklärte Haile nach einigem Herumdrucksen auf die Frage, was ihn denn nun so geärgert habe. »Ich dachte, du solltest eigentlich nicht von deinen Schwestern getrennt sein. Als die Hausherrin dich dann auch noch adoptieren wollte, war meine Geduld am Ende. Einerseits solltest du ihr Liebling sein, andererseits musstest du mit den Putzfrauen in der Küche sitzen, wenn Besuch da war, weil du ihr zu schwarz warst. Da habe ich ihr gesagt, dass ich das nicht will, und sie hat mich aus der Wohnung geworfen.« Ich war Haile sehr dankbar. Ich konnte es kaum fassen, dass jemand, den ich kaum kannte, sich so für mich einsetzte. Onkel Haile Haile schleppte uns in ein Fotostudio. Fotos hatte ich zwar schon gesehen, aber noch keinen Fotografen, von einem Fotostudio ganz zu schweigen. Wir mussten unsere besten Kleider anziehen — jede von uns hatte ohnehin nur eines — und uns nebeneinander aufstellen. Hinter uns war ein wunderschöner Vorhang mit einem Bild darauf, den wir aber nicht ansehen durften. Statt dessen mussten wir zu dem Fotografen 184 schauen, der hinter einem kleinen Kästchen verschwand. Ein greller Blitz zuckte, aber Haile hatte uns gewarnt, und so hatten wir keine Angst davor. Am nächsten Tag konnten wir unser Bild abholen. Nach unserer Ankunft in Khartum ließ Onkel Halle ein Foto machen von Tzegehana (/.), Yaldiyan (r.) und mir. Es war kaum zu glauben, dass wir das sein sollten auf diesem Foto. Wir sahen hübsch und gepflegt und nett aus, als hätte uns nie etwas Böses gestreift. Auf dem Foto wirkten wir so unschuldig, als kämen wir frisch von der Schulbank oder aus einem wohlhabenden Elternhaus und nicht aus dem blutigsten und längsten Bürgerkrieg der neueren afrikanischen Geschichte. Erst jetzt, nachdem wir dem Krieg entkommen waren, erfuhren wir etwas darüber. Haile erzählte uns von der ELF und der EPLF, von dem sinnlosen Schlachten zwischen den beiden Rebellenorganisationen, die 185 einander bekämpften, obwohl sie dasselbe wollten: Freiheit für Eritrea und Unabhängigkeit von Äthiopien. Es gab keine Unterschiede zwischen den beiden Organisationen, keine weltanschaulichen Differenzen, wenn man davon absah, dass die ursprünglich in Kairo gegründete ELF von Moslems dominiert war, während bei der EPLF die Christen die Mehrheit hielten. Diese religiösen Unterschiede sollten eigendich keine Rolle spielen, denn immerhin hatten sich beide Organisationen dem Marxismus und damit dem Atheismus verschrieben, wenn auch die EPLF noch mehr Gewicht auf ihre Sozialrevolutionären Bestrebungen legte als die ELF. In Wahrheit bekriegten sich die zwei verfeindeten Organisationen aber, weil die Führer auf beiden Seiten um die Macht im Land kämpften, bevor es das Land überhaupt gab. Sie wollten den Kuchen verteilen, bevor sie ihn gebacken hatten. Von Freunden, die in Eritrea geblieben waren und mit denen er ständig in Kontakt stand, wusste Haue, dass die ELF kurz vor ihrer endgültigen Niederlage stand. Haue war vor den Hungersnöten in Eritrea und vor dem Krieg schon lange vor uns in den Sudan geflohen. Er wollte nicht in einem überflüssigen Bruderkampf sterben, und weil er weder Frau noch Kinder hatte, konnte er leicht fliehen. Auch im Sudan lebte er alleine. Ich konnte mir nicht erklären, warum das so war, denn mein Onkel sah mit seinen fünfunddreißig Jahren gut aus, er war intelligent, verdiente Geld und war ein guter Mensch was brauchte es mehr, um eine Frau zu finden? Andererseits waren wir drei Schwestern froh, dass es so war, denn Haue stellte sein Leben ganz auf uns ein. Ein Schrecken wie in der Familie meines Vaters, wo die neuen Kinder und die neue Frau alles dominiert hatten, blieb uns erspart. Haue wusste zu berichten, dass unser Vater mit seiner dritten Frau Werhid und ihrer gemeinsamen Tochter in Europa lebte, in Deutschland. Das sagte uns nichts, ich war bloß froh, dass dieses Land sehr weit weg und noch dazu auf der anderen Seite des Meeres liegt und dass wir daher unseren Vater nicht sehen würden. Aber obwohl unser Vater so weit weg lebte, hatte er unsere Rettung veranlasst: Im fernen Europa hatte er durch eritreische Freunde von der Nodage der ELF erfahren und Haile gebeten, uns da herauszuholen — so erzählte es jedenfalls Haue. 186 Zu dieser Zeit ^""pn tägiicu Flüchtlinge aus Eritrea im Sudan angekommen. Haile hatte sich bei seinen Freunden und Bekannten umgehört, die ständig das Neueste aus Eritrea zu berichten wussten. So hatte er erfahren, dass die
Reste der Jebha zuletzt nahe der sudanesischen Grenze kämpften. Als er auch noch hörte, dass die allerletzten TebhaVerbände bald aufgerieben werden könnten, leitete er seine Rettungsaktion ein. Er, der stets europäisch angezogen war, kleidete sich in der islamischen Tracht der Beduinen in weiße bodenlange Tücher. Er verbrachte sogar ein paar Tage mit den Beduinen draußen in der Wüste, um die Merkmale dieser Menschen genau zu studieren. Einen von ihnen bestimmte er zu seinem Vertrauten, gab ihm Geld und ließ sich von ihm zu uns führen. Er selbst hätte uns nie mitten in der Wüste ausfindig gemacht, denn in dieser abgelegenen Region gab es keine Wegweiser, keine Landkarten, keine festen Straßen. Nur die Beduinen wussten, wo man die Grenze zwischen dem Sudan und Eritrea überqueren konnte, ohne allzu vielen Patrouillen in die Arme zu laufen. Neubeginn Haile hatte uns in letzter Minute gerettet. Ich war damals neun oder zehn, Tzegehana war elf und Yaldiyan vierzehn Jahre alt, und wir mussten von vorne beginnen. Vielmehr: Wir durften von vorne beginnen, denn nichts war uns lieber als das. Für uns gab es hier wenig Vertrautes. Wir hatten in Khartum keine Freunde und keine Verwandten bis auf Haile. Zu Sanaa und ihrer Mutter hatten wir ab dem Moment keinen Kontakt mehr, an dem Sanaas Mutter sich mit Haile zerstritten hatte. Auch die Sprache war uns fremd. Alle redeten Arabisch, und bis auf ein paar Brocken verstanden wir die Sprache nicht. Das bisschen, das wir konnten, hatten wir von moslemischen Kameraden bei der Jebha gelernt, die aber selbst nur schlecht Arabisch sprachen, weil sie meistens ihre afrikanische Muttersprache benutzten. Von den afrikanischen Sprachen der Sudanesen verstanden wir kein Wort; sie hatten nicht das geringste mit 187 Tigrinya zu tun. Also lernten wir Arabisch, wie man unter solchen Umständen eine andere Sprache lernt: auf der Straße, von anderen Kindern. Wir mussten uns an die islamische Lebensweise anpassen. Mädchen gingen hier nur mit Kopftuch aus dem Haus, manche der erwachsenen Frauen waren verschleiert. Ständig mit schwarzen Tüchern über Gesicht und Kopf herumzulaufen kam mir völlig aberwitzig vor. Wir trugen Kopftücher nur zum Schutz gegen die Sonne, wenn es zu heiß war. Nachdem uns Sanaa hinausgeworfen hatte, hatte Haile ein neues Haus für uns gesucht. Es lag in einer anderen Gegend dieser Stadt, die so groß war, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich zu Fuß von einem Ende zum anderen gelangen sollte. Man ging und ging und ging, und immer taten sich neue Straßen auf und neue Märkte und neue Plätze und Moscheen und große Häuser, in denen Ämter oder Schulen waren, und wieder Wohnhäuser und Lagerhallen und Fabriken und wieder Wohnhäuser. So ging das immer weiter, ohne dass man den Horizont zu sehen bekam, die Berge oder die Spiegelungen der Hitze über der Ebene. Hier war überall Stadt. Das Viertel, in dem wir jetzt lebten, erinnerte mich an Asmara: Die Straßen waren nicht asphaltiert, sondern staubige und steinige Pisten. Die Häuser standen dicht an dicht. Manche hatten Gärten oder enge Höfe, die hinter hohen Mauern verborgen waren, so dass von der Straße aus nur Wände und Mauern mit eisernen Toren dazwischen zu sehen waren. Die Gegend war nicht so schön wie die, in der Sanaa wohnte, aber niemand lebte hier in Zelten, Wellblechverschlägen oder aus Abfällen zusammengezimmerten Hütten. Es gab noch nicht einmal Leute, die auf der Straße schliefen. Haile konnte es sich leisten, in diesem ordentlichen Viertel zu leben, weil er über ein regelmäßiges Einkommen verfügte. Das war zu dieser Zeit in Khartum eine Besonderheit. Er arbeitete in einem sehr vornehmen Viertel der Stadt, wo viele Häuser standen wie das von Sanaa. Haile arbeitete für das Rote Kreuz und war für den Garten, die Küche und alles Handwerkliche im Dienstgebäude des Roten Kreuzes zuständig. Hier arbeiteten sogar Weiße, so dass Haile die besten Kontakte hatte. 188 In unserem Vi^tci war aiics viei schlichter. Die Hauser hier waren ebenerdig und sehr einfach gebaut. Zwischen hölzernen Masten waren Drähte gespannt, die die Stadt wie ein Netz überzogen, denn jedes Haus hatte Strom, auch wenn es darin nur eine oder zwei Glühbirnen und eine Steckdose für den Radioapparat und den Fernseher gab. Auch wir hatten einen Fernseher. Stundenlang konnten wir davor sitzen und sudanesischen Sängern zuhören, die auf arabisch über ihr Liebesleid klagten. Manchmal gab es Tänzer und Tänzerinnen zu sehen oder Filme über die Wüste oder über neu eröffnete Fabriken, doch die interessierten uns nicht so brennend. Am liebsten sahen wir amerikanische Filme, in denen weiße Männer und Frauen in riesigen Autos durch riesige Städte fuhren. Alle Menschen lächelten in diesen Filmen und trugen schöne Kleider. Manchmal stritten die Männer, dann schössen sie und töteten sich gegenseitig. Ich konnte das nicht verstehen: Alles war so schön und perfekt, alle hatten immer zu essen, sie hatten Kinder und Häuser und alles — und dann streckte der eine den anderen nieder. Die Filme liefen meist in englischer Originalfassung mit arabischen Untertiteln. Englisch konnte ich nicht, und Arabisch konnte ich zwar ein wenig verstehen, aber /licht lesen. Fernsehen hieß für uns deshalb vor allem, mit offenen Mündern bunte Bilder anzustarren. Bald verloren wir das Interesse für diese Art der Unterhaltung, weil die Filme, die Konzerte und die Fabrikeröffnungen sich nach ein paar Wochen zu gleichen begannen. Wir gingen zurück auf die Straße und
sahen uns dort um. Hier waren die Kinder den ganzen Tag sich selbst überlassen, abgesehen von den paar Stunden am Vormittag, wenn sie in der Schule sein mussten. Aber längst nicht alle gingen zur Schule, auch wir nicht. Anfangs gingen wir meistens zu dritt hinaus, weil wir uns dann in der neuen Umgebung am sichersten fühlten. Schließlich hatten wir nur sehr wenige Möglichkeiten, uns mit den anderen Kindern zu verständigen. Wir waren nicht von ungefähr so vorsichtig, denn es kam zu Beginn immer wieder zu Konflikten mit Kindern, die hier aufgewachsen waren. Einmal wollten wir uns auf einem kleinen Platz in der Nähe unseres Hauses umsehen, wo es ein Geschäft gab, das wir 189 interessant fanden. Da kamen die Steine geflogen. Kleine Steine trafen uns am Kopf und auf dem Rücken. Blitzschnell duckten wir uns und rannten wie die gehetzten Tiere, um uns hinter dem Geschäft zu verschanzen. Der Fluchtreflex war in uns noch so tief und fest verankert, als hätten wir die Jebha erst gestern verlassen. Als wir in Sicherheit waren, wagten wir uns umzusehen. Doch da waren nur ein paar kleine Kinder, manche jünger als wir, die unverständliche Dinge in unsere Richtung schrien. Erst nach einiger Zeit kamen wir dahinter, dass die Kinder schimpften, weil wir Fremde waren und keine Kopftücher trugen. Hier hatten schon die jüngsten Mädchen Kopftücher. Wir versuchten etwas zu sagen, doch plötzlich kamen von der anderen Seite ein paar Jungs, die Erde und Steine auf uns warfen. In diesem Moment schoss der Besitzer aus seinem Laden und brüllte auf uns und die anderen Kinder ein. Es klang furchteinflößend, und als die anderen so schnell sie konnten das Weite suchten, nutzten auch wir die Gelegenheit, um nach Hause zu laufen. Künftig würden wir öfter Kopftücher tragen, um nicht aufzufallen. Doch das war fast unmöglich, denn »Hawesch« waren wir sowieso. »Hawesch« nannten die Araber Äthiopier und Eritreer. Für sie sahen wir alle gleich aus: Wir waren viel hellhäutiger und größer als die Sudanesen, hatten die Haare nicht so stark gekräuselt und weniger dicke Lippen. Alles in allem sahen wir nicht so afrikanisch aus. Die Bezeichung »Hawesch« kommt vom Begriff »Abessinier«. So hatten die Italiener die Äthiopier genannt. Erziehung Haue unterrichtete uns selbst, denn das Geld reichte nicht, um uns alle drei zur Schule zu schicken. Schulen waren nicht öffentlich, sondern privat, und nur wenige Eltern konnten sich das Schulgeld leisten. Bei Haile lernten wir vor allem Englisch, das er auf seiner Arbeit beim Roten Kreuz täglich brauchte. Er brachte uns Mathematik bei, außerdem unsere eigene Schrift, die koptischen Buchstaben, in denen Tigri 190 nva ges>cliiicben ""*•Nee«, sagie ich »ich ^ c kein gutes Herz, da täuschst du dich.« Ich sagte das nicht aus falscher Bescheidenheit oder weil es sich so gehörte, ich empfand mich wirklich nicht so. Ich sah mich, wie ich durch das Zimmer meiner Schwester geschlichen war, um sie um ein paar hundert Mark zu erleichtern. Ich sah, wie ich mit ihr gekämpft, sie zu Boden geschleudert hatte. Ich sah mich, wie ich Stefan belog. Ich sah mich schießen, damals im Krieg. Ich sah mich zusammen mit meinem Vater unsere Nachbarn ärgern, sah mich, wie ich Onkel Haue hintergangen hatte, um mich ohne sein Wissen auf den Straßen Khartums herumzutreiben. »Du kennst mich nicht«, sagte ich zu Mariam, »mein Herz ist nicht gut, aber es brennt, manchmal lichterloh.« Ich war zwar nicht immer von Herzen gut, aber dafür nie gleichgültig, sondern mit meinen Gefühlen immer voll bei der Sache. Manchmal so sehr, dass mich diese Gefühle fast verbrannt hätten. »Vielleicht habe ich ein Feuerherz«, sagte ich. An dem ratlosen Blick, den meine Freundinnen tauschten, erkannte ich, dass sie mit meinem Vergleich nichts anfangen konnten. Rasch wechselte ich das Thema, bevor ich noch mehr von meinem Innersten preisgab. Wir sprachen über die neuesten Boygroups und über das beliebte Thema »Wer mit wem?« und wohin wir heute abend tanzen gehen sollten. Aber ein bisschen gut war es doch, mein Feuerherz. Meinen afrikanischen Patenkindern habe ich bis heute die Treue gehalten, manche von ihnen sind inzwischen schon zu Jugendlichen herangewachsen. Vor Weihnachten lud ich immer ein paar Einkaufswagen voll mit Leckereien, mit Obst, fertig Gekochtem und Zigaretten. Damit fuhr ich die Mönckebergstraße rauf und runter und verteilte das als Geschenke an die Obdachlosen. Bald kannten mich alle. »Senait!« riefen sie schon von weitem, wenn sie mich sahen. Ich machte das, weil ich nie vergessen konnte, wie mir viele von ihnen in jener Zeit geholfen hatten, als ich selber nichts hatte. Insgeheim hoffte ich, auf einer meiner Weihnachtstouren den Richter zu treffen, doch ich bekam ihn nie wieder zu Gesicht. Einmal fragte ich Mariam, meine beste Freundin, ob sie mitkommen wolle auf die Mönckebergstraße, um mir beim Verteilen zu helfen. Ich 251 teilte damals vieles mit ihr, warum also nicht auch diese glückbringenden Momente? Aber Mariam wollte nicht mitgehen, sie schützte eine andere Verabredung vor. Von anderen Freundinnen erfuhr ich später, dass sie oft über meine karitative Ader gelästert hatte, über meine »PennerMacke« und über meine Persönlichkeit. Unsere Freundschaft kühlte danach rasch ab, und bald verlor ich den Kontakt zu ihr. Jahre später traf ich Mariam zufällig in einem Club wieder. Sie wollte mich erst nicht erkennen, doch als ich sie freundlich grüßte, konnte sie nicht aus. Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. »Senait, ich habe schlecht über dich geredet«, gab sie sich schuldbewusst. »Ich weiß«, winkte ich sofort ab, denn mir lag alles ferner, als mich für Dinge zu rächen, die längst Geschichte waren, »ich verstehe nur eines nicht: Ich hab dir mein Leben gezeigt, du warst jeden Tag bei mir in der Wohnung, ich habe dir immer zugehört, wir waren lange ein Herz und eine Seele — warum das alles?« Ich war froh, es aussprechen zu können, denn diese Frage hatte mich die letzten Jahre immer wieder gequält. Mariam suchte lange nach Worten. Dann sagte sie: »Ich war neidisch auf dich. Du hattest deine eigene Wohnung, du warst mir einfach zuviel. Du hast über allen Dingen gestanden, das war mir zu heftig.« »Wir waren Freundinnen! Warum hast du nie mit mir geredet?« fragte ich. Heulend fielen wir uns in die Arme, und alles war wieder okay. Es war wie meistens bei mir: Ich habe keine Lust zu hassen oder jemanden grundschlecht zu finden. Ich möchte nur den Grund wissen, wenn mir einer blöd kommt und nicht sagt, warum. Ich finde fast immer heraus, was los ist. Ich habe keine Lust, so zu tun, als wäre nichts, und einfach zu schlucken, was andere mir servieren. Ich kann das nicht. Ich habe keinen Platz dafür. Ich kann nichts in mich reinfressen. Das war die erste Selbsterkenntnis, die ich gewann, nachdem ich auf eigenen Beinen zu stehen gelernt hatte in Hamburg — mit meinem eigenen Geld, meinem eigenen Job, meiner eigenen Wohnung, meinen eigenen Freunden: Ich will nichts mehr in mich reinfressen, nichts mehr runterschlucken. Ich hatte in meinem Leben schon viel ein 252 stecken müssen, if~h hatte so vieles hinunterwürgeii müssen, dass ich keine Kraft mehr dazu hatte. Weder Kraft noch Zeit, um genau zu sein, denn ich war rund um die Uhr beschäftigt, ich rotierte wie ein Brummkreisel, der
alles Negative, was mir die Menschen oder meine Umgebung andienen wollten, von sich schleuderte. Damals dachte ich, dass dieser Zustand immer anhalten könnte, doch damit hatte ich mich schwer getäuscht. Erwachsenwerden Seltsamerweise kam mir in der ersten Zeit, nachdem ich von zu Hause ausgerissen war, vieles leichter vor als in den Jahren danach. Ich war mit einem Optimismus ins Leben gestartet, der mir rückblickend fast verwegen vorkam. Tatsächlich klappte bei mir vieles auf Anhieb: die erste Wohnung, Jobs, das Modeln, die erste CD, der Hit in Korea, viele Freundschaften. Es klappte viel mehr, als sich ein sechzehnjähriges Mädchen erwarten darf. Vielleicht hatte ich deshalb die steinigen Klippen unterschätzt, die den Weg jedes Menschen von der Kindheit und Jugend zum Erwachsenenleben versperren. Meine über weite Strecken düstere Vergangenheit konnte ich nicht mit einem Schlag wegwischen. Bis heute kann ich das nicht, ich will es auch nicht mehr. Damals hätte ich gerne die Schatten dieser Vergangenheit gebannt, mich ihnen nicht so ausgeliefert, doch das war mir nicht möglich. Oft ragten sie in meine sonnigsten Tage hinein: Beim Einkaufen im Supermarkt sah ich plötzlich uns Hungerkinder bei der Jebha vor mir. Als ich gerade im Halbdunkel der UBahn wegdämmern wollte, schrak ich hoch, weil ich mich mit meinen Kameraden in einem Lkw durch die nächdiche Wüste rasen sah, von den Granatwerfern der Feinde verfolgt. Im Treppenhaus des Jugendwohnheims spürte ich hinter jeder Ecke Waffengewalt, schwerbewaffnete Schützen und Ausbilder, die mich zum Schießplatz prügeln wollten und mich verfolgten, bis ich endlich schweißgebadet die Wohnungstür hinter mir zuziehen konnte. 253 Am schlimmsten war es während der Nächte. Ohne laufenden Fernseher wagte ich mich nicht ins Bett zu legen — bis heute nicht. Ich brauchte die Bilder, das Licht, die Bewegungen, um nicht in ein schwarzes Loch zu fallen und vom Strudel der Erinnerungen in die Tiefe gerissen zu werden. Oft lag ich stundenlang wach und starrte auf den Fernsehschirm, um die Erinnerungen nicht aufsteigen zu lassen. Ich war todmüde, doch erst wenn mein Kopf mit neuen Bildern vollgestopft war, die ich aus dem Fernseher gesogen hatte, konnte ich einschlafen. Erst dann konnte ich hoffen, dass die bunten Bildchen der Videoclips und Soaps und Werbesendungen die düsteren Bilder der Vergangenheit zumindest für diese Nacht verdrängt hatten. Doch nicht nur die Bilder, auch die realen Menschen aus meiner Vergangenheit wollten mich nicht so ohne weiteres ziehen lassen: Mein Vater ließ nichts unversucht, um mich zurück in seinen Machtkreis zu befehlen. Mal rief er mich an, mal ließ er mir über Freunde oder meine Schwestern ausrichten, dass er mit meiner neuen Selbständigkeit alles andere als zufrieden war. Er fürchte, ich würde auf die schiefe Bahn geraten: Drogen, Alkohol, Prostitution — die gesamte Bandbreite. Immer wieder versuchten meine Schwestern, zu mir Kontakt aufzunehmen und mich zu beeinflussen. Sie hätten es gern gesehen, wenn ich zurückgekommen wäre. Es war eine paradoxe Situation: Einerseits litten sie unter unserem Vater und wären gern selbst seinem Dunstkreis entflohen, andererseits litten sie darunter, dass ich es geschafft hatte, mir ein eigenes Leben aufzubauen. Paradox auch, dass unser Vater versuchte, mich über meine Schwestern zu beeinflussen, ihnen aber zugleich strengstens jeden Kontakt mit mir verbot. Immer wieder malte er ihnen aus, wie schlecht ich wäre und was ich alles ausgefressen hätte — bis Yaldiyan und Tzegehana ihm zu glauben begannen und von sich aus den Umgang mit mir mieden. Nur mein Onkel Haue bestärkte mich. Nachdem ich von zu Hause weg war, sprachen wir ein paarmal am Telefon miteinander. »Ich habe gehört, du wohnst alleine«, sagte er. »Ja«, gab ich zu. Ich hatte ihm von meinem Ausreißen nichts erzählt, aus Angst, ich könnte ihn verletzen, aber jetzt, da er alles wusste, 254 hcschloss ich, frei zu .p'ciuen. »Zwischen meinem Vater und mir ist zuviel passiert«, sagte ich. Haile reagierte wie immer souverän und gelassen. Er meinte nur: »Ich will mich nicht einmischen, du musst wissen, was du getan hast und was du tun willst. Du bist erwachsen, du bist eine Frau.« Das fand ich so toll, so weise, dass ich am Telefon fast in Tränen ausgebrochen wäre. Endlich hielt mich jemand für zurechnungsfähig und wollte mir nichts am Zeug flicken, sondern wünschte mir aus tiefstem Herzen alles Gute für mein weiteres Leben. Dieses Leben erkämpfte ich mir mit aller Kraft selbst. Reisen Ich wollte die Welt sehen, ganz alleine. So oft war ich gegen meinen Willen unterwegs gewesen, war in Lkws gepfercht worden und in Busse, war zu Fuß angetrieben oder auf einen Esel gesetzt worden, so oft hatte man mich an Orte gebracht, an die ich nicht wollte: zur Jebha, an die Front, zu meinem Vater. Jetzt wollte ich selbst entscheiden, wohin die Reise gehen sollte. Ich reiste viel und gab, auch wenn ich unterwegs immer sparsam war, viel Geld für dieses Stück Freiheit aus, das ich mir genommen hatte. Alle meine Freunde und Freundinnen sagten: »Du bist eine Frau, du kannst nicht alleine verreisen, schon gar nicht in exotische Länder, in die Dritte Welt«, aber ich konnte. Ich war in Barbados, Kingston (Jamaika), in der Dominikanischen Republik, Trinidad, Tansania, Äthiopien und Eritrea, in der Türkei und in Korea. In Südkorea
war ich auf Einladung der Plattenfirma, aber sonst hatte ich immer nur den Flug gebucht, für zwei oder drei Wochen, und bin los, bloß mit wenigen Klamotten in einem kleinen Rucksack oder in einer Tasche, die ich bequem selbst tragen konnte. Am ersten Tag nach dem Flug schlief ich mich aus, meistens an einem Strand. Vor der Abreise lief alles hektisch ab, weil ich tausend Dinge, die noch zu erledigen waren, immer auf die letzte Sekunde hin 255 ausschob. Obwohl ich deshalb vor dem Abflug kaum ein Auge zugemacht hatte, konnte ich im Flieger selbst nie schlafen, dazu war ich zu aufgeregt. Am Abend suchte ich mir dann eine billige Pension oder ein Appartement mit Küche und allem Drum und Dran. Meist lieh ich mir auch noch ein uraltes, billiges und unauffälliges Auto aus. Dann ging ich einkaufen, kochte sehr viel, spazierte durch den Ort, ging abends immer fort, lernte viele Menschen kennen und erlebte die spannendsten Dinge. Meine Freunde zu Hause in Deutschland konnten es nicht fassen: »Du bist sechzehn«, sagten sie (oder siebzehn, achtzehn, neunzehn, aber auf jeden Fall immer zu jung), »in dem Alter geht das nicht, dass du alleine am Strand rumhängst oder abends alleine unterwegs bist. Sie werden dich überfallen, vergewaltigen, ausrauben ...« Alles, was einem nur zustoßen kann, malten sie mir in bunten Bildern aus. Doch mir passierte nie etwas. Ich donnerte mich nicht auf, lief nicht wie ein Barbiepüppchen rum, sondern mit fetten Dreadlocks, die ich unter einem bunten Tuch zusammenband. Dazu trug ich Armeehosen und schwere, feste Schuhe, DocMartens. Ich war nie geschminkt und zeigte immer, dass ich auf eigenen Füßen stand. So machte ich alles, was man eigentlich nicht tun dürfte: am Strand schlafen, die halbe Nacht mit wildfemden Leuten am Lagerfeuer sitzen, reichlich Gin oder Rum trinken, Joints rauchen — das volle Karibikprogramm. Und jedesmal kam ich gesund und wunderbar erholt wieder zurück. Ich zog mein Ding durch, im Gegensatz zu meinen Klassenkameraden aus dem Gymnasium, die mit ihren Eltern an die Ostsee oder nach Mallorca fuhren, ins gemüdiche Familienhotel oder ins eigene Sommerhäuschen. Wenn ich denen von meinen Abenteuern erzählte, fragten sie mich: »Sag mal, tickst du noch richtig? Was ist, wenn einer dich umbringt?« Ich sagte darauf nur: »Dann soll's eben so sein. Ich habe keine Angst, ich will die Welt sehen.« Heute könnte ich nicht mehr so unterwegs sein. Ich bin viel vorsichtiger geworden, weil ich mitderweile viel fraulicher aussehe. Damals hätte man mich fast für einen Jungen halten können, wenn ich die Haare unter einem Tuch versteckt hatte. Ich war flach wie ein Brett, 256 frech wie Oskar und L^ttc nichib Weibliches an mir. Viele Leute, die ich unterwegs traf, dachten, ich müsse kokainabhängig sein, weil ich mich so furchtlos und ohne Bedenken durch die Welt bewegte. Aber ich brauchte kein Kokain, in mir steckte noch die ganze Energie meines Aufbruchs, das war alles. Das Gefühl, ich könnte die Welt aus den Angeln heben, war ein stärkerer Schutzschild, als es jeder Pfefferspray oder jede Schreckschusspistole gewesen wären. Schutz hätte ich damals nicht vor fremden Angreifern gebraucht, nicht vor Dieben, Mördern und Vergewaltigern, sondern vor mir selbst und vor den Stürmen, die in meinem Inneren tobten. Meine neue Freiheit fühlte sich wunderbar an, aber sie bereitete mir Probleme, denn sie stellte mich vor die Aufgabe, alleine damit zurechtzukommen. Leider entdeckte ich einige Helfer, die mir versprachen, dass durch sie alles ein bisschen leichter gehen würde: Alkohol und Cannabis. Ich probierte keine harten Drogen, obwohl sie mir oft angeboten wurden, nahm kein Koks, kein Heroin, noch nicht einmal Zigaretten rauchte ich. Aber ich trank, bis ich bewusstlos war. Bis alle meine Sorgen, meine Probleme, meine Erinnerungen in einen so dichten, pelzigen Nebel eingehüllt waren, dass ich sie beim besten Willen nicht mehr erkennen konnte. Oft torkelte ich nachts von einer Bar oder einem Club mit letzter Kraft zum Taxi, kaum noch imstande, mich auf den Beinen zu halten. Manchmal fragte ich mich am nächsten Morgen, wie ich es in mein Bett geschafft hatte. Ich schämte mich dafür, ich hasste mich dafür — und es konnte sein, dass es mir schon am selben Abend wieder passierte. Stefan Ein großer Teil meiner damaligen Verwirrung hatte nichts mit meiner Vergangenheit oder meiner unglücklichen Familienkonstellation zu tun. Das Problem hatte einen konkreten Namen: Stefan, mein erster Freund. Er war meine erste große Liebe, der Mann, der mein Leben bestimmen könnte — wie ich damals dachte. Mein Stefan. Gut, dass alles anders kam. 257 Meinen vierzehnten Geburtstag hatte ich zusammen mit Stefan gefeiert. Ich trank zwei Glas Sekt, und mir war danach sterbensübel, weil ich keinen Alkohol gewohnt war. Erst ein halbes Jahr später erzählte mir Stefan, er und Boris hätten damals eine Wette abgeschlossen. Boris wettete, dass er auch mit mir zusammenkomme, und Stefan hielt dagegen. Der Einsatz betrug hundert Mark. Ich war sauer, als ich das erfuhr. Unnnötig zu sagen, dass Boris seine Wette verlor. Solche Dinge erlebte ich öfter mit Stefan. Er war sehr verwöhnt, und manchmal verhielt er sich so, als ob alle nach seiner Pfeife tanzen müssten. Trotzdem waren wir viereinhalb Jahre zusammen. In unserem
Bekanntenkreis galt das als Sensation, denn die meisten wechselten alle paar Monate ihre Beziehungen. Dass Stefan und ich so lange zusammen waren, lag nicht etwa daran, dass es so harmonisch zwischen uns zuging, sondern an unserer gegenseitigen Abhängigkeit und an meiner Unfähigkeit, das zu erkennen. Er brauchte mich, um sich in seinem haltlosen Leben bei einer Person anzuklammern, die ihm wohlgesinnt war. Ich brauchte ihn, weil ich dachte, er könne mir ein lebenswertes, aufregendes Leben bieten. Stefan war mir gegenüber alles andere als gleichgültig. Dass er sich für meine Herkunft interessierte, freute mich, machte mir aber zugleich angst. Deshalb erzählte ich ihm, wie toll meine Familie sei, wie gut mein Vater wäre und meine Mutter sowieso. Doch Stefan wurde bald misstrauisch. Immer wieder fragte er mich, ob er nicht mal meine Eltern kennenlernen könne, aber ich log ihm vor, da ss mein Vater so beschäftigt sei und meine Mutter wieder nach Afrika gezogen wäre. Meine wahre Geschichte wäre für ihn völlig unvorstellbar gewesen. Er hatte sein ganzes Leben zu Hause verbracht, und seine Eltern lasen ihm jeden Wunsch — vor allem jeden finanziellen Wunsch — von den Lippen ab. Er kannte keine Sorgen, keine Nöte. Ich tat immer so, als hätte ich auch jede Menge Geld zur Verfügung, und prasste in den Clubs und Bars genau wie er. Geld hatte für ihn keine Bedeutung, weil er es sich am nächsten Tag von seinem Papa zurückholen konnte, doch für mich war es sauer Erspartes, für das ich stundenlang bei McDonald's oder in der Bäckerei oder später beim Modeln arbeiten musste. Nie hätte ich das ihm gegenüber zugegeben 258 oder mich von ihn. einladen !?ccen, dafür war ich \icl zu stolz. Lieber biss ich die Zähne zusammen und arbeitete doppelt soviel. Durch meine Lügen, die er Stück für Stück durchschaute, machte ich viel kaputt. Ich zerstörte sein Vertrauen in mich, und bald war es so weit, dass er mir nichts mehr glaubte. Das war natürlich noch lange kein Grund, mich zu schlagen, auch wenn er ständig dachte, ich würde ihn mit einem anderen betrügen. Das war eine absurde Unterstellung. Ich wollte Stefan nicht betrügen, dazu fühlte ich mich ihm viel zu sehr verbunden. Ich liebte ihn, ich war von ihm abhängig. Außerdem reichte mir das, was ich sexuell mit ihm erlebte, völlig — genaugenommen war es mir schon wesentlich zuviel. Für mich war es jedesmal eine Tortur, mit Stefan zu schlafen. Ich war noch viel zu kaputt dazu. Er merkte immer nur, dass es mir nicht gefiel, und ging nicht gerade verständnisvoll damit um. Wenn er schlecht gelaunt war, bezeichnete er mich als frigide und als Lesbe. Ging es ihm besser, klopfte er mir schon mal zärtlich auf den Kopf und sagte, mehr zu sich selbst als zu mir: «Was geht in diesem kleinen Kopf vor?« Ich konnte diese Frage genausowenig beantworten wie er. Ich wollte sie ihm auch nicht beantworten, weil ich damals noch nicht so weit war, dass ich frei über meine Vergangenheit hätte sprechen können, schon gar nicht über meine sexuelle. Also sagte ich nichts. Ich schwieg, wenn wir zusammen im Bett lagen. Er musste oft den Eindruck haben, als wäre mir alles egal. Dabei war ich gelähmt vor Schmerzen, vor körperlichen Schmerzen und vor solchen, von denen ich nicht mal sagen konnte, wo sie ihren Ursprung hatten. Gift Stefan konnte ganz reizend sein, aber er litt unter extremen Stimmungsschwankungen. Mit seinen Stimmungen jagte unsere Beziehung hinab ins Bodenlose, dann stieg sie unvermittelt auf zum nächsten Höhenflug, um wieder abzustürzen. Nur langsam kam ich dahinter, 259 warum er keinen Grund unter den Füßen hatte, warum er immer wieder in bodenlosem Hass und in gewalttätigen Aggressionen versank. Meine ersten Funde hielt ich noch für verdreckte Radiergummis. Ich packte sie in sein Federmäppchen, doch er verstaute sie immer wieder woanders. Das kam mir komisch vor: Warum konnte er seine Ratzefummel nicht da drinlassen? Ein paarmal fragte ich ihn schon ein wenig ärgerlich: »Was machst du mit deinen Radiergummis?«, doch er gab nur ausweichende Antworten. Das ging so weiter, bis ich so ein Radiergummistückchen der Putzfrau zeigte, die gerade Stefans Zimmer saubermachte. Sie erzählte Stefans Mutter davon, und die klärte mich auf: »Das ist kein Radiergummi. Das ist Hasch. Sie zerkrümeln das und rauchen es zusammen mit Zigarettentabak in selbstgebauten Joints.« Ich kam mir unendlich dumm vor, dass ich nicht selbst draufgekommen war. Ahnungen in dieser Richtung hatte ich gehabt, aber ich hatte es mir selbst nicht zugegeben. Ich wollte nichts davon wissen. Ich hatte gehofft, dass das Radiergummis sind und Stefan ein braver Junge. Doch er war alles andere als das. Später waren es keine »Radiergummis« mehr, sondern verbrannte Folien und verkrümelte Löffel. Später sagte er: »Ich gehe zur Tankstelle, bin gleich wieder da.« Vier Tage darauf kam er mit riesigen Pupillen zurück. Dann kauerten ein paar Typen in der Wohnung, die ich nicht kannte, und hörten Techno ohne Ende, hämmernden Schrott. Schon damals dachte ich: »Das ist nicht mein Leben, das ist nicht mein Mann. Das will ich nicht, das geht nicht.« Doch es ging weiter, immer weiter. Als ich einmal seine Wäsche für die Waschmaschine vorbereitete, fand ich eine Tüte mit tausend Pillen. In einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Verdrängung wunderte ich mich,
warum er seine Schmerztabletten in eine Tüte packte. Ich wollte nicht daraufkommen, dass das Drogen sein könnten, ich wollte, dass sich alle Befürchtungen als Hirngespinste entpuppen und in Luft auflösen würden. Brav legte ich die Tüte in einen Wandschrank, der für Medikamente reserviert war. Ein paar Tage später, als Stefan hektisch nach dieser Tüte suchte, sagte ich, er solle mal bei seinen Medikamen 260 ten nachsehen. EioL zls üi die Tüte, schwitzend vor Erleichterung, in der Hand hielt, klärte er mich auf: »Senait, das sind keine Aspirin. Das sind meine Wunderpillen, damit ich alles aushalte. Das sind Ecstasy.« Je mehr ich von Stefans Drogenkonsum mitbekam, desto klarer wurde mir, dass er sich auf einer Spirale befand, die nur eine Richtung kannte: abwärts. Ich war dabei, als er mit Drogen anfing, und ich war immer noch mit ihm zusammen, als er zusehends durchdrehte — bis er den Kampf aufgab. Er versuchte, mir die Schuld für sein Scheitern in die Schuhe zu schieben: »Das alles passiert nur wegen dir«, schrie er mich an, wenn er wieder mal zuviel erwischt hatte, »du machst mich fertig! Du zerstörst mich! Du bist eine Psychotante, du bist eine heavige Nummer ...« Nach ein paar Monaten begann ich ihm zu glauben. Ich begann mich zu fragen, was ich falsch gemacht hatte. Wie ich Stefan so weit bringen konnte. Und wie ich ihm nur helfen könnte. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto seltsamer kamen mir seine Vorwürfe vor. Also sagte ich ihm eines Tages meine Meinung dazu: »Weißt du was, Stefan, das kann nicht sein. Ich nehme nichts, keine Drogen, ich rauche nicht mal Zigaretten. Ich bin gut in der Schule. Ich bin nicht diejenige, die drei Tage weggeht und in Technoclubs rumhängt. Ich bin nicht diejenige, die jeden Tag ihren Stoff braucht, damit es für sie ein Leben gibt. Ich habe dich kennengelernt, als du vor deinem Spiegelbild rumgeturnt bist — da hat doch damals schon was nicht gestimmt. Außerdem bist du der Ältere von uns, du warst schon volljährig, als wir uns kennenlernten, ich nicht. Also müsstest du doch mehr Reife haben als ich, du müsstest weiter sein. Irgendwann muss ein Mensch anfangen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Du kannst nicht mir die Schuld geben. Ich bin nicht einfach, okay, aber ich habe einen Typen, der jeden Tag nur darauf au s ist, high zu sein, alles andere ist Nebensache. Nur daran bin ich schuld, dass ich immer noch mit so einem Typen zusammen bin!« Stefan war durch meine kleine Ansprache sichtlich bewegt, aber bewirkt hatte sie nichts alles lief genauso weiter wie bisher. Mit der Zeit bekam ich nicht nur in Stefans Leben einen immer tieferen Einblick, sondern auch in das seiner Familie. Der Kontrast zu 261 meiner Familie hätte größer nicht sein können: auf meiner Seite eine Familie, die diese Bezeichnung kaum verdiente, auf Stefans Seite eine scheinbar intakte Familie — Vater, Mutter, Sohn —, extrem erfolgreich, wohlhabend und glücklich. Es gab nur einen schweren Mangel: Keiner in Stefans Familie hatte Zeit für die anderen, die Sorgen der anderen wurden erst wahrgenommen, wenn sie nicht mehr zu übersehen waren. Wenn es darauf ankam, kümmerte man sich umeinander, doch bis dahin wurden Probleme immer nur über die Brieftasche gelöst, nach dem Motto: Fehlt dir was, dann kauf dir das. Nach außen hin gab es nicht den geringsten Anschein eines Mangels, aber alle Bedürfnisse, die sich nicht von der Kreditkarte abbuchen ließen, blieben auf der Strecke. Gegensätze Stefans Eltern waren sehr gut zu mir, besser als zu ihrem eigenen Sohn, bei dem sie merkten, dass er ihnen mehr und mehr entglitt. Den Ursachen dafür aber wollten sie sich nicht stellen, sie weigerten sich sogar, seinen Drogenkonsum zur Kenntnis zu nehmen. Zwischendurch lebte ich manchmal vier, fünf Monate durchgehend in Stefans Familie und ließ mich nur kurz in meinem Wohnheim blicken. Das Zimmer dort gab ich freilich nie auf, denn ich wollte nicht von Stefan oder seiner Familie abhängig sein. Allein schon die Vorstellung erdrückte mich. Nach kurzer Zeit war ich völlig in Stefans Familie integriert. Seine Mutter stellte mich allen Besuchern als ihre Schwiegertochter vor. Sein Vater schwärmte allen Leuten vor, wie toll ich sei, wie klug und fleißig und schön. Oft luden mich Stefans Eltern ein, mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Das waren immer besondere Reisen, die ich mir alleine nicht hätte leisten können. Stefan wollte immer in den Luxusferienanlagen bleiben, die seine Eltern gebucht hatten, am besten noch bei Schnitzel und Pommes. Ich fuhr aber nicht in die Karibik, damit ich Schnitzel und 262 Pommes essen und am Pool liefen konnte, ich wollte pkvjc ^.ehen vom Land und von den Leuten. Am liebsten wäre ich mit Stefan nach Afrika gefahren, aber das wollte er nicht. »Ihhh! Afrika! Das ist doch dort, wo man mit der Hand isst!« Er sprach von meinem Kontinent wie von einer ansteckenden Krankheit. Ich hätte ihn unmöglich meiner Familie dort vorstellen können, weil er mit meinen Leuten sicher nichts hätte anfangen können. Er wäre durchgedreht, wenn er jeden Morgen um vier mit meinem Opa aufstehen müsste, um angeln zu gehen. Oder wenn er auch nur auf dem Boden sitzen und gemeinsam mit allen anderen aus einer Schüssel essen müsste — mit der bloßen Hand. Dritte Welt war für ihn etwas Stinkendes.
Einmal war ich mit ihm in Puerto Plata in der Innenstadt. Wir suchten den Markt, als uns eine Frau ein paar gebratene Bananen zu essen gab. Er nahm sie, ging aber gleich um die Ecke, spuckte den Bissen, den er im Mund hatte, aus und warf den Rest weg. Die Früchte schmeckten hervorragend, aber er meinte, dass da so viele Bakterien drin seien. Stefan war verwöhnt. Mit zwölf hatte er vierhundert Mark für das Wochenende, mit achtzehn zwei Autos und eine Ferienwohnung an der Ostsee. Er kannte nichts anderes, und ich konnte von ihm nicht erwarten, dass er in meine Lebensweise einstieg. Ich dagegen akzeptierte seine Lebensweise, ich verstand sie. Aber ich mochte sie nie. Stefans Vater merkte, wieviel Mühe es mich kostete, das Geld zu verdienen, um an diesem aufwendigen Lebensstil teilzuhaben. Hin und wieder steckte er mir Geld zu, aber ich wollte mich nicht von ihm finanzieren lassen. Es war mir wichtig, mein eigenes Geld zu verdienen. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, Stefan in die Augen zu sehen. Ich hätte ihm nicht mehr frei meine Meinung über alles sagen können. Ich hätte mich ihm nicht mehr ebenbürtig gefühlt, wenn ich meine Drinks zur Not nicht auch selbst hätte bezahlen können. Stefan dagegen hatte kein Problem damit, sich von seinen Eltern hinten und vorne aushalten zu lassen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, einen Job anzunehmen, um sich etwas dazuzu verdienen. Dabei hatte er allein schon wegen seines Drogenkonsums beträchtlichen Geldbedarf. Er sagte immer: »Warum soll ich arbeiten? 263 Ich werde sowieso alles erben'« Lieber ging er ein paarmal öfter zu seinem Vater und bat ihn um eine Draufgabe aufs Taschengeld Und er bekam sie Sein Vater gab ihm ein paar hundert Mark, wie andere Vater ihren Söhnen ein Funfmarkstuck für einen Eisbecher gaben. Stefan war sehr besitzergreifend und hatte mich gern in Abhangig keit von seiner Familie gesehen. Er dachte, so konnte er mich für immer haben, denn er hatte schnell gemerkt, dass ich nicht festzuhalten bin. Aber mich konnte er nicht einsperren, nicht besitzen, und das ärgerte ihn, weil er von zu Hause aus gewohnt war, alles zu kriegen, was er wollte Darum behandelte er alles und alle um ihn herum wie sein Eigentum In der Zwischenzeit hatte mein Vater davon erfahren, dass ich mehr bei meinem Freund lebte als im Wohnheim Das war ihm nicht recht Ich war ihm zu jung dafür, ich war nicht unter seiner Kontrolle, und es verletzte seinen Stolz, weil er dachte, jemand anders halte seine Tochter aus. Der Gedanke war ihm so unerträglich, dass er sich überwand und bei Stefans Vater anrief, um ihm Geld dafür anzubieten, dass ich in seinem Haus wohnte Das war zuviel für den. »Lassen Sie das unsere Sorge sein mit dem Geld, wir verdienen genug«, erklarte er meinem Vater klipp und klar. »Wir haben Senait gern Wenn sie sagt, sie will gehen, kann sie gehen, aber wenn sie sagt, sie mochte hierbleiben, kann sie so lange bleiben, wie sie will« Damit musste sich mein Vater zufriedengeben, ob er wollte oder nicht Mir war die Sache extrem peinlich, vor allem, weil ich Stefans Eltern in bezug auf meine idealen Familienverhältnisse immer etwas vorgelogen hatte Lügen Nach außen hm hielt mein Lugengebaude so lange, bis Stefans Vater mir eines Tages die Meinung sagte. »Senait, wir mögen dich sehr. Aber lug uns nie wieder an. Wir wissen alles.« Das war einer der peinlichsten Momente dieser Jahre. Ich wollte 264 anlangen, ilincn et;1"" 7u erkiaicn. Ich wollte versuchen, Stefans Eltern klarzumachen, was es für mich bedeutete, ihre perfekte Familie zu erleben und sie taglich mit dem Trümmerhaufen meiner Familie vergleichen zu müssen, aber Stefans Vater winkte ab: »Du musst nichts erklaren. Es ist alles gut.« Damit beschloss er das Gesprach, Dafür werde ich ihm immer dankbar sein, das hatte Große. Ich konnte mir alles Herumgerede ersparen. Was für ein herrliches Gefühl, mit ihm und mir im reinen zu sein' So viele Lugen hatte ich ihm aufgetischt Ich habe einen tollen Daddy, ich habe eine tolle Mama, ich habe Schwestern, die so wunderbar zu mir halten und mit denen ich eine enge, liebevolle Beziehung pflege. Ich hatte meine Mutter noch nie gesehen, und doch glaubte ich manchmal an meine eigenen Lugen, bis ich Depressionen bekam, weil ich das Lugengebaude in meinem Inneren zusammenbrechen sah. Ich halte sonst nicht viel von neunmalklugen Sprichwörtern, aber eins kann ich gut nachvollziehen »Lugen haben kurze Beine.« Sogar kli putanermaßig kurze. Einige meiner Freunde, Freundinnen und Schulkameraden, denen ich ebenfalls Senaits heile Welt vorgegaukelt hatte, wandten sich von mir ab, als sie das Spiel durchschauten »Die ist )a gestört«, sagten sie, »die spinnt nur herum, nichts davon stimmt.« Aber am meisten taten meine Lugen nicht den anderen, sondern mir selbst weh. Es gab nur eins, was mich noch mehr geschmerzt hatte: allen die Wahrheit zu erzählen. Welches Madchen von sechzehn Jahren mochte schon seinen Freundinnen und Freunden gegenüber zugeben, dass es jeden Tag Prügel bezieht, wenn es nach Hause kommt'* Dass es von seinem Vater taglich gedemutigt und angebrüllt wird5 Welches Madchen wurde nicht lieber behaupten, es sei gestürzt und habe sich den Arm gebrochen? Wie soll ein Madchen seinem Freund
erzählen, dass es keinen Sex mit ihm haben kann, weil ihm so viele innere und äußere Verletzungen zugefugt wurden, dass es noch keinen Sex vertragt? Jeder Freund denkt, es liege an ihm, wenn das Madchen offensichtlich nichts empfindet im Bett. Ich wusste das, aber es ging nicht. Wahrend wir Sex hatten, angelte ich mir die Fernbedienung und zappte durch die Programme, bis ich bei den Schlumpfen landete. Ihn ließ ich 265 da oben machen, was er wollte. Das machte ihn rasend, und er verprügelte mich deswegen. Dadurch versank ich nur noch tiefer in meiner Gefühlskälte und meiner Sprachlosigkeit, während Stefan sich immer mehr im Gewirr seiner Drogen verfing. Mit der Zeit fand ich mich damit ab, dass es mit uns beiden nichts wird. Ich würde meinen ersten Freund an die Drogen verlieren. Auf eigenen Füßen Nachdem ich mich von Stefan getrennt hatte, ging es mir eine Zeitlang viel besser. Kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag konnte ich mir meine erste eigene Wohnung finanzieren und endlich aus dem Wohnheim ausziehen. Das Heim passte nicht mehr zu mir. Die meisten der Bewohner waren viel jünger als ich und viel kaputter — aber vor allem hatten sie viel weniger Lust, etwas für sich zu ändern. Das Heim war für mich von einem Ort der Befreiung zu einem Platz geworden, dessen Energien mich nach unten zogen. Ohne weitere Anleitung der Sozialarbeiter und Jugendamtstanten, die im Heim nach dem Rechten sahen, nahm ich mein Leben selbst in die Hand. Ich besorgte mir eine Wohnung, eine Ausbildung und Jobs, denn einer reichte bei weitem nicht aus, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Mit dem Modeln hatte ich aufgehört, weil ich es zunehmend als eine Art Prostitution empfand. Ich entwickelte immer mehr Abscheu dagegen, meinen Körper von einer unnatürlichen Position in die nächste zu verbiegen, die Augen unablässig auf die Kamera gerichtet, ihr immer untertan, mit schmollendem Mündchen von unten nach oben blickend. Für mich war das nicht das Richtige. Ich hatte nur gemodelt, um meine Mutter durchzufüttern, meinen Patenkindern etwas schicken zu können und um mir meine Reisen zu leisten, doch das gelang mir auch so. Selbst das Kellnern ließ ich bleiben, weil ich es höchstens drei oder vier Monate in einem Lokal aushielt. Ich konnte mir noch nie anhören, dass ich dies oder jenes machen soll, und zwar am besten ein bisschen plötzlich. Dazu bin ich zu stolz, zu ungeduldig 266 und zu sehr darauf aus, ici» s^lnsi zu sein Tch wollte endl^h mein eigener Chef sein. Soweit war es damals aber noch nicht, auch wenn ich während dieser Zeit immer wieder an meinen Demobändern arbeitete, um mir einen eigenen Musikstil zu erarbeiten, die Zusammenarbeit mit anderen Musikern zu testen und um zu einem Plattenvertrag zu kommen. Da ich keine Lust auf ein Leben als brotlose, verkannte Künstlerin hatte, beschloss ich, gleichzeitig eine »bürgerliche« Berufslaufbahn einzuschlagen, und begann eine Ausbildung zur Notargehilfin. Das klingt fürchterlich trocken, doch mir machte die Arbeit Spaß. Die Hamburger Kanzlei, die mich ausbildete, hatte gleich zu Beginn meiner Tätigkeit vier Araber als Kunden, zwei aus Dubai, zwei aus dem Jemen. Es ging um Scheidung, um Geld nach der Ehe, um sehr viel Geld sogar. Die eine Frau war einundzwanzig, ihr Mann war neunundzwanzig. Ein Jahr lang waren sie verheiratet, und bei der Scheidung bekam sie 4,5 Millionen Mark. Das beeindruckte mich: Eine Frau aus dem arabischen Kulturkreis, die von ihrem Mann zwar immer reich beschenkt, aber ansonsten wie eine Sklavin behandelt wurde, begehrte auf und bekam recht. Ich musste bei den Verhandlungen immer vom Arabischen ins Deutsche und umgekehrt übersetzen und legte mich voll für sie ins Zeug. Über Mundpropaganda bekam ich bald auch außerhalb der Kanzlei viele Anfragen für Dolmetscharbeiten aus dem Arabischen, manchmal aber auch aus Tigrinya, das nicht nur in Eritrea, sondern auch in Äthiopien gesprochen wird. Aus beiden Sprachen konnte ich fast gleichermaßen leicht ins Deutsche und ins Englische übersetzen. Damals entdeckte ich neue Fähigkeiten in mir. Ich merkte, dass ich mit Leuten umgehen kann. Dass ich mich sprachlich gut auszudrücken vermag und dass ich logisch denken kann, was bei rechtlichen Fragen nie schaden kann. Ein Satz brachte für mich die Sache mit dem Denken auf den Punkt: »Ich denke, also bin ich.« Mir war schlecht vor Aufregung, als ich das las. Die Jahre zuvor hatte ich mich noch geschlagen, um mich selbst zu fühlen, aber ich hatte nicht mal die Schmerzen gespürt. Ich hatte mir die Beine mit Rasierklingen aufgeritzt, aber es passierte nichts, außer dass mir rotes Blut über die Schenkel rann. Dann 267 brachte mir ein Freund dass Buch mit diesem Satz. Ich schrieb ein Lied, das den Titel hat »Ich denke, also bin ich«. Der Verlag von Rene Descartes machte zwar Stress, aber nach einigem Hin und Her durfte ich diese Zeile von Descartes verwenden. Privat hatte ich mehr Schwierigkeiten weiterzukommen als im Beruf. Christian, mein neuer Freund, war zwar kein Schläger, aber auch ein reicher Typ. Verwöhnt und im Internat aufgewachsen, hatte er praktisch kein Selbstbewusstsein. Sein Vater war Deutscher, seine Mutter Perserin. Sie liebte mich und hatte vor nichts mehr
Angst, als dass ihr Sohn mit einer Deutschen zusammenkäme. Manchmal scherzte sie: »Er heiratet bald eine Kartoffel. Aber ich will keine Kartoffel, ich will dich!« Sie nannte die Deutschen immer »Kartoffeln«. Ihr Mann hatte etwas gegen Ausländer, was komisch genug war bei einer persischen Frau — oder hatte er nur etwas gegen Schwarze? »O Gott«, sagte er vor mir zu seinem Sohn, »bringst du schon Nigger ins Haus?« »Werden Sie mal wach!« schrie ich ihn an. »Die Zeiten haben sich geändert. Ihren Sohn erziehen Sie als Memme, und ...« Weiter kam ich nicht, weil er mich aus dem Haus warf. Das machte mir nichts aus, weil ich sowieso Schluss machen wollte mit Christian. Nach Christian kam Klaus, ein wunderbarer Typ. Seine Mutter ist Brasilianerin, der Vater Deutscher. Klaus ist bis zum heutigen Tag einer meiner besten Freunde. Unser beider Sternbild ist Schütze, und deshalb klappte es nicht. Wir vertrauten einander blind, wie die allerbesten Freunde, aber wir merkten bald, dass das keine liebe war, sondern Freundschaft, eine innige Freundschaft, wie zwischen Geschwistern, die sich gut verstanden. 268 Mutter Afrika Ich war zum ersten Mal wieder in Afrika. Als ich auf dem Flughafen von Asmara aus dem Flugzeug ausstieg, kam alles Verdrängte auf einen Schlag zurück. Ich prallte von der Augusthitze vor der Kabinentür ab wie an einer Wand. Ich sah das weiße Licht, den blauen Himmel, die vielen Afrikaner unten auf der Rollbahn. »Hhhhhhh«, rang ich nach Luft, denn plötzlich schnürte es mir die Kehle ab. Meine Schwestern stürzten auf mich zu — dann fiel ich um, die Treppe hinunter. Ich rappelte mich wieder hoch, und Yaldiyan nahm mich in den Arm. »Senait, ich weiß«, sagte sie, »ich weiß das aus deinen Träumen. Du redest im Schlaf, du hast mir alles erzählt.« Sie saß auf dem Rollfeld des Flughafens von Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, und erzählte mir von meinem Traum. Ich hätte gesagt, dass ich sofort fliegen würde, wenn ich in Afrika ankäme. Dass mir auf der Stelle Flügel wachsen würden und ich frei und leicht sein könnte wie ein Vogel. Rund um uns herum standen Dutzende Passagiere, alles Schwarze, und hörten aufmerksam zu. Sie lachten, klatschten und freuten sich an der Geschichte, die Yaldiyan erzählte. In diesem Moment wusste ich, dass ich zu Hause angekommen war. Wie lange ich mich auf diesen Moment vorbereitet hatte! Wie lange ich dafür gejobbt, geschuftet und gespart hatte, um mir die Reise nach Eritrea leisten zu können, um endlich meine Mutter zu finden. Ich wusste weder, wo sie wohnt, noch, wie sie hieß. Alles, was ich hatte, war ihr Vorname: Adhanet. Mein Vater hatte meine Mutter noch ein paarmal getroffen, seit er nach Europa ausgereist war. Er war öfters in Äthiopien gewesen; nur nach Eritrea durfte er nicht einreisen, denn dort stand er seit dem Sieg der EPLF über die ELF, der er bis heute fanatisch angehört, als Deserteur auf der Fahndungsliste. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter erzählten mir später, dass sie nicht miteinander redeten, als sie sich sahen. Da passierte nichts, keine Aufarbeitung der Vergangenheit, kein Dialog, kein Miteinander. Noch nicht einmal über mich, ihre einzige Gemeinsamkeit, hatten die beiden ein Wort zu verlieren. 269 Unser Vater hatte Tzegehana aufgetragen, mich vor meiner Mutter zu warnen: »Sorge dafür, dass Senait nichts bei ihrer Mutter isst«, sagte er zu ihr, »du musst auf sie aufpassen, sie vergiftet Senait bestimmt.« Ich verstand nicht, warum sie das hätte tun sollen. Außer unmittelbar nach der Geburt hatte sie mich noch nie gesehen. Ich glaubte nicht an die Verschwörungstheorien meines Vaters, und doch tröpfelten sie ein wenig Gift in meine Seele. Was, wenn Mama aus schlechtem Gewissen mir gegenüber böse Gedanken hegte? Wenn sie mich hasste, weil ich gegen ihren Willen überlebt hatte? Mit solch düsteren Gedanken war ich mit Tzegehana nach Addis Abeba geflogen. Yaldiyan war in Asmara gebliegen. Zwei Wochen hatte es gedauert, meine Mutter ausfindig zu machen, und jetzt brachte ein Bekannter Tzegehana und mich zu ihr. Die Taschen hatte ich voller Geschenke: Kaffee, Tee, Mehl, Gewürze, Öl, Obst, Zu cker — lauter Dinge des täglichen Lebens. Abwesend starrte ich aus dem Autofenster auf die Reihen ebenerdiger Häuser, die staubigen Straßen, die vielen Fußgänger, Pferdekarren, Lastesel. Zum ersten Mal seit vielen Jahren sah ich wieder die rauchenden, uralten Autobusse, die bettelnden Frauen, die Scharen zerlumpter Kinder und Frauen, die Hühner vom Markt nach Hause trugen, indem sie sie an den Beinen packten und mit den Köpfen nach unten hielten. Der Anblick war mir aus meiner Kindheit vertraut, und doch war er mir fremd geworden. Das Treffen Das Auto hielt. Ich erschrak. Waren wir schon da? Einen Moment lang stand ich verloren auf der Straße. Dann riss ich mich zusammen, und wir traten aus dem gleißenden Sonnenlicht durch eine offenstehende Tür in einen hohen Raum. Zuerst sah ich nichts, nur Dunkelheit. Der Raum war wie die meisten Räume hier fensterlos, es gab nur eine Luke, die wegen der Hitze mit einem Blechladen verschlossen war. In der Aufregung hatte ich vergessen, die Sonnenbrille abzunehmen. Jetzt 270 gewöhnten snh meine Augen langsam an das Dämmerlicht, und ich sah ein paar Konturen: einen Schrank, ein Bett, einen Tisch, Körbe und Kisten. Auf dem Boden standen ein kleiner Herd und der Spiritusbrenner, der zum
Kochen und Kaffeemachen dient. Auf einem Stuhl ganz in der hintersten Ecke saß eine große, hagere Frau. Ihre Haare waren grau, aus der Stirn gekämmt, nach Landessitte streng geflochten und zu einem großen Dutt verknotet. Sie war in traditionelle weiße Tücher gehüllt, an den Füßen trug sie Sandalen. Regungslos saß sie da und blickte scheu zu Boden. Nur die Hände arbeiteten in ihrem Schoß. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also blieb ich einfach stehen, wo ich war. Stille. Langsam löste sich ihr Gesicht aus dem Dunkel, die hervorstehenden Backenknochen, die großen Lippen. Sie hatte ein scharf geschnittenes Gesicht. Es waren meine Züge, die ich sah. Hier saß meine Mutter. Sie war mir fremd. Unser Bekannter sagte, ihre Tochter sei gekommen, um sie zu besuchen, und ob sie denn wisse, wer von uns beiden ihre Tochter ist. Da zeigte meine Mutter auf mich und sagte: »Sie ist meine Tochter. Sie sieht doch aus wie ihr Vater.« Es war, als würde ich meine vertraute Welt verlassen, als ich zu der Frau hinüberging, die meine Mutter war. Ich setzte mich neben sie. Vorsichtig strich mir meine Mutter über das Haar. »Du hast schöne Haare«, sagte sie. »Senait.« Mir ging kein Wort über die Lippen. Ich war wie erstarrt. Es dauerte unendlich lange, bis ich meine Sprache wiederfand. Dann begannen wir zögernd, einander unser Leben zu erzählen. Sie hatte während der sechs Jahre, die sie für ihre Kindesweglegung im Gefängnis war, unendlich viel Leid erfahren. Meine Mutter hatte ein zweites Mal geheiratet und noch drei Kinder bekommen, zwei Mädchen und einen kleinen Jungen, die bei ihr aufwuchsen. Als ihr Mann nach ein paar Monaten an der Front zurückkam, war er kriegsversehrt. »Was soll ich mit einem Krüppel?« hatte meine Mutter ihn gefragt, ihm das drei Monate alte Kind auf den Schoß gelegt und war verschwunden, auf immer. Kinder und Mann hatte sie sang und klanglos hinter sich gelassen. 271 Eben erst hatte ich meine Mutter wiedergefunden, und doch blieb sie mir fremd. Es war eine unwirkliche Situation, ich fühlte mich steif und unbehaglich. Einen verletzten Mann hatte sie verstoßen, einen Säugling, zwei kleine Kinder' Nahm diese Geschichte der Schrecken denn nie ein Ende, tauchte nicht langsam ein Licht auf in dieser Biographie der Leiden und der Lugen^ Doch ich wartete vergeblich, kein Wort des Bedauerns kam über ihre Lippen. Ich sah nichts als eine arme, verzweifelte Hau, die nicht wusste, wohin mit sich selbst und mit ihrem Leben. Das Leiden, das sie verursacht hatte, konnte sie genausowenig unter Kontrolle bringen wie das Leiden, das ihr zugefugt worden war. Ich konnte nicht anders, als mein Gesicht in den Händen zu verbergen und zu weinen. Meine Mutter glaubte, ich weinte aus Rührung über ihre Geschichte, und versuchte mit eckigen, ungeschickten Bewegungen mich zu trösten. Es waren Hände, die noch nicht viel Trost gespendet hatten. Doch ich weinte nicht wegen ihr, ich weinte über mich. Ich weinte über meine Geschichte, über meine Familie, über mein Leben. Ich musste weinen über die stockdunkle Finsternis, die sich von Anbeginn an über mein Leben ergoss. Die Erzählungen meiner Mutter hatten Tur und Tor weit aufgerissen, auf dass noch mehr Dunkelheit in mein Leben strömen konnte. Ich weinte und weinte und beruhigte mich nicht. Meine Mutter stand auf und tat, was die meisten Frauen in Afrika tun, wenn sie nicht weiterwissen: Sie begann zu arbeiten, entzündete ein kleines Holzkohlenfeuer mitten im Haus und rostete ein paar rohe Kaffeebohnen. In einem eisernen Morser zerstieß sie sie zu Pulver. Dann setzte sie Wasser auf in der traditionellen irdenen, bauchigen Kaffeekanne mit dem schmalen Ausguss. Über einen geflochtenen Fächer, den sie zu einem V zusammendruckte, leerte sie das Kaffeepulver in die Kanne. Sie setzte die Kanne auf das Feuer und hielt das Feuer aufrecht. Stumm fächelte sie der Glut frischen Sauerstoff zu, bis der starke, fast sämig aus der Kanne rinnende Kaffee fertig war. Wahrend dieser traditionellen Kaf feezeremonie war es Abend geworden, und über der Betrachtung ihrer sicheren, jahrzehntelang eingeübten Handgriffe gewann ich zumindest kurzfristig wieder Oberhand über meine Gefühle. Die Handgriffe meiner Mutter spendeten mir Trost, genauso wie sie ihr selbst Halt gaben. 272 Erst als wir n^benciiiandei auf den winzigen, «el^ctg^ wimmerten Holzschemeln hockten, auf denen die Frauen immer schon in den Ecken der Zimmer gehockt hatten, als wir da kauerten und den süßen, starken Kaffee tranken, konnten wir wieder miteinander reden. Ich wollte von meiner Mutter wissen, wer der Vater ihrer anderen drei Kinder war und wie ich ihn finden konnte, damit ich mich um meine Schwestern kummern konnte, doch sie sagte nur: »Das ist es nicht wert. Wenn du gekommen bist, um alte Wunden aufzukratzen, dann verlass mein Haus.« Wieder senkte sich diese Finsternis über mich. Ich spurte, wie sich meine Seele verdunkelte. »Nicht wert?« »Es ist nichts«, sagte meine Mutter trocken, mehr zu sich selbst als zu mir, »dieser Mann ist ein Taugenichts, und seine Kinder werden genauso enden.« Das war so einfach wie falsch gedacht. Es war trosdos pessimistisch, wie nur sehr frustrierte Menschen sein können, Gequälte, Zuspatgekommene, Getretene. Ich wusste nichts darauf zu sagen. In diesem Moment glaubte ich es selbst. Ich glaubte, dass ich das gewollte Erzeugnis von etwas Bösem sei. Ich glaubte, dass ich auf die
Welt gekommen war, um das Böse zu verkörpern. Ich war davon überzeugt. Etwas musste total danebengegangen sein, denn ich hatte mich selbst noch nie so negativ empfunden. Das ist nicht wahr, dachte ich. Die beiden konnten unmöglich meine Eltern sein, hoffte ich verzweifelt. Ich konnte unmöglich das Kind dieser beiden sein. Aber es gab keinen Zweifel: Hier saß meine Mutter Adhanet, und ihr Exmann Ghebrehiwet Mehari war mein Vater. Ich saß da und grübelte, kam aber zu keinem Schluss. Ich verstand nicht, wie meine Mutter die Gefühllosigkeit haben konnte, mir ins Gesicht zu sagen: »Ach, weißt du, ich will nicht mit so einem Krüppel leben, und was soll ich denn mit seinen Kindern, mit seinen Kindern ...« Sie dachte in diesem Moment gar nicht daran, dass sie mich damit verletzen konnte, weil ich genauso ihr Kind war wie meine Halbgeschwister. Ich wollte etwas dazu sagen, etwas wie: »Weißt du, bei dir wundert mich nicht mal das mehr ...« Ich war kurz davor, es auszusprechen, aber dann dachte ich mir: Ach, Senait, warum deine Mutter verletzen^ 273 Sie musste sich schäbig fühlen, wenn sie mich sah: gebildet, gut aussehend, erwachsen und ihr finanziell so überlegen, dass ich sie ernähren konnte. Was sollte ich da noch ändern bei ihr, was verbessern? Ich erwarte manchmal, dass Menschen so denken wie ich. Ich erwarte, dass Menschen aus ihrer Kindheit lernen und sich sagen, so wie unsere Eltern wollen wir nie werden. Ich hatte das getan, ich hatte meine Lehren gezogen. Aber es wäre vermessen, davon auszugehen, dass alle Menschen so sind wie ich. Zumindest konnte ich das nicht von meiner Mutter verlangen. Ich wollte niemals weniger meinen Eltern gleichen als in diesem Moment. Ich wollte niemals weniger mit der Last einer solchen Vergangenheit leben als jetzt. Doch trotz allem konnte ich meine Mutter nicht hassen, ich konnte sie nicht verachten. Ich spürte kein Mideid, keinen Ärger, keine Wut. Ich empfand nur Trauer, unendliche Trauer über alles, was passiert war. Trauer über Dinge, auf die ich keinen Einfiuss hatte. Nachdem wir den Kaffee ausgetrunken hatten, musste ich mich verabschieden. Das ging ohne große Zeremonie, ohne viele Emotionen. Meine Mutter schien es normal zu finden, dass ich eben mal aus Hamburg vorbeigekommen war, zu ihr nach Addis Abeba, auf eine Runde Tränen und einen Kaffee. Sie umarmte mich und bat mich, ihr Geld zu schicken. Das war's. Sie fragte nicht, ob wir uns wiedersehen würden während der nächsten zwei Wochen, die ich noch in Afrika war. Sie wollte nicht wissen, was ich sonst noch vorhatte während dieser Zeit, sie wollte gar nichts wissen, sie wagte nicht zu fragen. Schwankend ging ich nach draußen. Unser Bekannter brachte Tzegehana und mich zurück in die Stadt. Eigentlich hatten wir gemeinsam noch etwas unternehmen wollen, doch ich konnte niemanden mehr sehen. Ich ging direkt aufs Zimmer und tat das, was ich schon tun wollte, seit wir in Afrika angekommen waren: weinen, weinen, weinen, bis meine Tränen versiegten. Es tat mir gut wie eine ärztlich empfohlene Kur. Ich fuhr noch einmal in das Haus meiner Mutter, aber es passierte nicht mehr als beim ersten Mal. Sie kochte Kaffee, wir schwiegen, sie erzählte ein wenig, ich erzählte viel, wir tauschten unsere Adressen und 274 Telefonnummern aus, ^id sc'niieRlirh fuhr ich enttäuscht wieder ab. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber es trat nicht ein. Alles in allem aber hatte ich Feuer gefangen. Meine Wurzeln lagen in Afrika. Ich musste hier sein, um etwas über mich zu erfahren. Ich musste hier mit den Menschen reden, die Luft über dem ostafrikanischen Hochland schmecken und die Berge am Stadtrand sehen, wie sie sich abends gegen den rot werdenden Himmel abheben, um in einer sternklaren Nacht zu versinken. Hier könnte ich mich finden, wenn ich offenen Herzens auf das Land und die Menschen zuginge. Das tat ich von nun an. Im Sommer 1993 war ich zum ersten Mal bei meiner Mutter gewesen, und ab da flog ich jedes Jahr nach Eritrea und manchmal auch nach Äthiopien. Meistens flog ich zu Weihnachten, weil es im Sommer so unerträglich heiß ist. Im Winter ist es im Hochland selten wärmer als fünfundzwanzig, dreißig Grad, aber auch nicht kälter als zehn Grad in der Nacht und zwanzig Grad bei Tag. Gleichzeitig ist das Wetter fast auschließlich schön und sonnig. So muss das Klima im Paradies sein. Meiner Mutter sollte ich freilich nie wieder begegnen. Nur zweimal hatte uns das Leben zusammengeführt: in meinen ersten Lebenswochen und als ich sie in Addis Abeba besuchte. Am 14. August 1993 war ich zum ersten Mal in die Dunkelheit ihres Hauses gestolpert, hatte ihre Hände gefühlt, ihr Gesicht gesehen, ihre dunkle Geschichte gehört. Genau ein Jahr später, am 14. August 1994, saß sie in dem Linienbus, der auf seiner Fahrt von dem Bergdorf Adi Keyh, von wo sie stammte, nach Asmara abstürzte. Nach einem Bremsdefekt fiel er von der gewundenen Bergstraße Hunderte Meter tief in eine felsige, unwegsame Schlucht. Meine Mutter hatte ich zum ersten Mal gegen neunzehn Uhr besucht. Fast auf die Stunde genau ein Jahr später fand sie gegen siebzehn Uhr in dem zersplitternden Bus den Tod. Das ist nur einer von vielen Gründe, warum ich nicht an Zufälle glaube, sondern an Schicksal. Meinen Trost fand ich darin, dass ihr letztes Jahr — nicht zuletzt durch meine Hilfe — vielleicht das beste ihres Lebens war. Frei von finanziellen Sorgen, aber auch frei von Hass und Rache, frei von Verfolgung und Krieg und frei von Unrast und Umherwandern konnte sie ihr Leben
275 genießen — soweit ihr das unter der Last ihrer Vergangenheit möglich war Es war für sie ein Jahr, das ich ihr von Herzen gönnte Vergangenheit Zusammen mit meinen Schwestern besuchte ich auch deren Mutter Abrehet, die zweite Frau unseres Vaters Sie lebt in Adi Keyh, einem entreischen Bergdorf Ich werde nie vergessen, wie sie zu mir sagte »Senait, dein Vater hat viele Fehler gemacht, nur mit dir hat er es richtig gemacht, und das ungewollt« Auch bei ihr war kein Hass zu spuren, keine Rachegelüste, nur Sym pathie, und zwar nicht nur für ihre eigenen Tochter, sondern auch für mich Sie erzahlte uns, was unser Vater alles gemacht hatte Ihre Eltern hatte er verprügelt, seiner Schwiegermutter das Bein gebrochen, ihr Meine neu gefundene Familie in Adi Keyh Abrehet (vorne r) die Mutter von Tzege hana und Yaldr\an ihre jüngste Tochter Fion (vorne Mitte) und zwei Schwestern mei nes Vaters (stehend hinten r) In der Mitte ein koptischer Geistlicher aus Adi Keyh 276 c'bst hatte ex in den B