Sean Beaufort
Feuer auf der
Pilgrim"
Obwohl Kapitän James Drinkwater und sein Erster Graham Lilley ihr Bestes tate...
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Sean Beaufort
Feuer auf der
Pilgrim"
Obwohl Kapitän James Drinkwater und sein Erster Graham Lilley ihr Bestes taten, änderten sich die Zustände an Bord ins Schreckliche. Die Auswanderer unter Deck der alten Galeone fingen an, den Tag zu verfluchen, an dem sie an Bord gegangen waren. Das Übel hatte viele Namen: Rattenplage und verdorbene Lebensmittel, ein betrügerischer Koch, das Trinkwasser fing an zu faulen, und Krankheiten breiteten sich in der qualvollen Enge aus. Ein paar Männer taten mehr, als sie konnten, aber von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wurde es unerträglicher. Die „Pilgrim" war ein einziges Rattennest, und wenn die Auswanderer nicht versuchten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, würden sie in den Wellen des Atlantiks sterben und niemals das ersehnte Land erreichen. Die Ratten waren an allem schuld. Tod den Schädlingen, die das Essen zernagten! Schlagt die Ratten tot! hieß es bald...
Die Hauptpersonen des Romans: James Drinkwater - obwohl er seine „Pilgrim" als Kapitän hervorragend führt, bleibt ihm nichts erspart. Graham Lilley - sein Erster Offizier ist es, der auf einer Runde durchs Schiff das Feuer entdeckt und sofort Gegenmaßnahmen einleitet. Ed Cornhill - als seine Frau in Panik über Bord springt und ertrinkt, beginnt er durchzudrehen. Fred Blewitt - wird tot an einer Rah hängend gefunden, aber sein Tod bleibt un geklärt. Philip Hasard Killigrew- hat mal wieder Ärger mit den drei Hochwohlgeborenen bei sich an Bord, geigt ihnen aber seine Meinung.
1. Blutrot hatte sich der Himmel im Westen gefärbt. Zwischen riesigen Wolkenbänken, die wie seltsame Berge aus dem Meer wuchsen, schwebte die Sonne als dunkelrot strahlende Kugel. Dicke Lichtbalken zuckten zwischen den Wolken hervor. Das Meer hatte eine trübe Farbe an genommen. Wenn das seltsame Licht dieses Nachmittags die Schiffe traf und die Seeleute blendete, war es, als ob ein ferner Schrecken nach den Menschen griffe. Ein schlechtes Zeichen, ein bö ses Omen. Alle Berichte und Legen den, all das Seemannsgarn fiel ihnen wieder ein, das über den Tod auf See gesponnen wurde. „Wäre ich abergläubisch", sagte Don Juan de Alcazar zu Hasard, „dann würde ich Befehl zum Umkeh ren geben." Hasard beobachtete gebannt das herrliche Schauspiel, das tatsächlich auf neue Unwetter und Stürme hin deutete. „Da wir aber von Aberglauben
nichts halten", sagte er ruhig, „wer den wir geradewegs weitersegeln wie bisher, lieber Freund." „Und zwar noch länger als zehn Tage, wie mir Dan verraten hat." „Mit Sicherheit dauert's so lange." In den letzten Stunden hatte der Wind nachgelassen. Die seekranken Auswanderer konnten sich wieder er holen. Aber den vielen Kranken half es kaum etwas, daß die Schiffe ruhi ger lagen. Immerhin segelten die Ga leonen in geringer Entfernung hinter einander in Kiellinie. Die Schebecke hatte sie alle an Steuerbord voraus. „Ich kann nur hoffen, daß sich die Mannschaften etwas mehr um die Aussiedler kümmern", brummte der Seewolf. „Schließlich kann ich nicht jeden in Ketten legen, der sich an den armen Kerlen bereichert. Na ja, Har ris wird seine Sache schon richtig hin kriegen." „Das glaube ich auch", sagte der Spanier. An Bord der „Discoverer" hatte Hasards entschlossenes Vorgehen zumindest für einige Zeit - für Ruhe und eine Änderung der un
5 haltbaren Zustände gesorgt. Die El tern von Little John und Roebuck die Seewölfe hatten die beiden Jun gen kaum von Bord der Schebecke wegbekommen - hatten versprochen, auch unter den Auswanderern Helfer herauszusuchen, die sich unter Deck um ihre eigenen Leute und deren Not kümmerten. Die Seewölfe bedauer ten tatsächlich, daß die beiden Jun gen nicht mehr an Bord waren. Die Gelegenheit, von gut erzogenen Kin dern bewundert zu werden, hatte je der von ihnen genossen. Am meisten wahrscheinlich Hasards Söhne, die Zwillinge. Der Spanier fragte skeptisch: „Wird es eine ruhige Nacht?" „Meinst du,ob unter Deck oder auf diesem lieblichen Ozean?" „Ich bewundere das Licht und die Wolken. Wenn sie so schön sind, droht meistens ein Sturm. Oder noch Übleres. Ich meine, daß wir heute nacht wieder starken Wind kriegen. Oder irre ich mich?" „Ich glaube, es bleibt ruhig", ant wortete Hasard. „Jedenfalls wünsche ich es den Auswanderern auf den ver gammelten Galeonen." „Das wünsche ich ihnen auch. Sie haben verdammt viel zu leiden. Ir gendwie ist das alles falsch aufgezo gen worden. Von Anfang an. Je län ger die Fahrt dauert, desto schlimmer wird es. Und es ist schon sehr schlimm, nicht wahr?" „Ja. Und am schlimmsten verhal ten sich solche Kreaturen wie Gran ville. Es gibt noch eine ganz Menge kleiner Granvilles", sagte der See wolf voller Grimm. „Diese Fahrten mit solchen Schiffen oder zumindest mit derartigen Verbrechern als Kapi täne sollte man verbieten." Derlei Gedanken waren zutreffend, aber in dieser Stunde ausgesprochen
sinnlos und überflüssig. Die Fahrt nach Virginia ging weiter, und jeder hoffte, sie zu überleben. Wolken scho ben sich vor die Sonne, und eine dü stere Stimmung löste die bedrohliche Farbe auf dem Meer ab. Die Seewölfe waren nur mäßig be eindruckt. Naturschauspiele dieser Art kann ten sie zur Genüge. Die Männer dach ten kaum an böse Vorzeichen oder an voraussehbare Unglücke. Sie hatten ihre Aufgabe, und daran hatte sich nichts geändert. Die Schebecke se gelte hinter dem kleinen Schiffsver band her, und hin und wieder schau ten sich die Seewölfe nach der Kara velle um. Sie folgte wie die Flosse ei nes lauernden Haifisches unverän dert den Auswandererschiffen.
„Es wird Ärger geben, Sir", mel dete der Bootsmann. „Noch mehr?" fragte James Drink water unruhig. „Welchen meinst du?" „Den Ärger, Sir, den die Auswande rer veranstalten werden. Und auch ein paar von unseren Leuten. Das Zeug, das der Koch zubereitet, ist schier ungenießbar." Drinkwater und sein Erster, Gra ham Lilley, wechselten einen langen Blick, der ihre Unruhe verriet. Seit Kapitän Killigrew den „Discoverer" Kapitän in Eisen gelegt und auf sei her Schebecke in die Vorpiek ge sperrt hatte, war alles ganz anders ge worden. Der Seewolf und seine Män ner paßten höllisch auf. „Und warum wird über den Fraß gemeckert?" fragte Drinkwater auf merksam. „Weil die Ratten alles, was sie fin den, anfressen und verunreinigen, Sir", erwiderte der Bootsmann. „Es
6 war noch nie so schlimm. Alles ist an gefressen. Überall sind Ratten. Ich wundere mich, daß sie nicht hier auf dem Achterdeck herumturnen." „Ist mir noch gar nicht aufgefal len", sagte der Erste. „Tatsächlich? So viele Ratten? Auf unserem Schiff?" „Ich habe sie selbst gesehen. Beson ders in der Proviantlast sind sie in Scharen", erklärte der Bootsmann verdrossen. „Wollen Sie selbst nach sehen?" Graham Lilley dachte an die Mög lichkeit, daß Kapitän Killigrew auch auf diesem Schiff sein Regiment an trat und nachforschte. Er hatte nicht vor, das Schicksal Granvilles zu tei len. Er nickte dem Bootsmann zu und wandte sich an den Kapitän. „Es ist kein Kunststück, die Ratten aus dem Schiff zu kriegen, Sir. Wir haben schließlich genug Jäger an Bord. Sehen wir uns die Kombüse einmal genauer an?" „Gehen wir. Sonst heißt es noch, wir kümmern uns um nichts." Vom Achterdeck enterten sie ab und schoben sich durch die Reihen der sitzenden und liegenden Auswan derer. Es war auch im Halbdunkel der Laderäume und der niedrigen Decks nicht zu übersehen, daß die Auswandererfamilien ebenso litten wie die Mannschaften. Die Seeleute waren weitaus besser dran als die hilflosen, seekranken Landratten, denn sie bewegten sich auf ihrem Schiff ohne Einschränkungen. „Sieht schlimm aus", murmelte der Kapitän, als sie das Dämmerlicht der tieferen Decks erreicht hatten. Mit je dem weiteren Schritt schien der üble Geruch zuzunehmen. Die Bärte in den bleichen, schmut zigen Gesichtern der Männer wu cherten wild. Das kalte Salzwasser
hatte aus vielen Wunden eiternde Stellen und Schwären werden lassen. Verkrümmt und in stinkenden Lum pen, unter löchrigen Decken, lagen die Kranken auf schmutzigen Plan ken, Taurollen und Segelfetzen. Verbände, geschiente Gliedmaßen und gewickelte Binden hatte die graue Farbe der Umgebung ange nommen. Um die Kranken kümmer ten sich Frauen und Männer und ver suchten, den hilflosen Feldschern zu helfen. Sie fütterten die Siechenden mit einem Brei, dem man nicht ansah, aus was er bestand. Er wirkte unap petitlich wie alles hier unter Deck. Je mehr sich der Kapitän und seine Begleiter dem Großmast näherten, je mehr Decks über ihnen lagen, desto schärfer und ätzender wurde der Ge stank. Im flackernden Licht weniger Lampen erkannten sie die huschen den Ratten. Die Tiere sahen keines wegs verhungert aus. Ihre Augen leuchteten immer wieder in den Win keln auf. „Wenn wir heil zurückkehren, muß das Schiff in die Werft", sagte Drink water. Von der Sauberkeit, die auf dem aufgeklarten Oberdeck herrschte, war hier unten nichts mehr zu bemer ken. So schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt. Menschen hockten und la gen buchstäblich in jedem Winkel. Daß ihnen die Ratten über die Ge sichter liefen, war unter diesen Um ständen völlig normal. Drinkwater bückte sich unter ei nem wuchtigen Decksbalken und schob seinen Kopf in die Kombüse. „Aha", sagte er. „Die Auswanderer helfen sich selbst." Drei ältere Frauen schienen sich vor einiger Zeit entschlossen zu ha ben, dem Koch zu helfen. Sie versuch ten, mit Salzwasser aus Pützen und
7 mit Messerklingen, Lappen und Scheuersteinen die Kombüse zu säu bern. Über der Glut hing ein großer Kessel voller Wasser. Es roch durch dringend brackig. Wenn es nicht ge kocht wurde, war es das beste Mittel, die Hälfte von Crew und Auswande rern krank werden zu lassen. „Koch", sagte Drinkwater scharf und schaute sich um, „du sperrst so fort die Proviantlast auf. Wir brau chen viel Licht. Und in dieser Ruß höhle kochst du für das ganze Schiff?" „Ich habe genug zu tun, Sir", erwi derte der Koch. „Ich kann gleichzei tig nicht putzen und kochen." „Jetzt zeigst du uns erst einmal deine Vorräte", befahl der Erste. Der Kapitän sprach leise mit den Helferinnen und lobte sie. Wo sie sich beschäftigten, herrschte schon eine gewisse Sauberkeit. Der Boden war mit Abfällen und Asche bedeckt. Lilley wandte sich an den Boots mann: „Hierher muß Seewasser und Seife. Hol dir ein paar Männer von der Freiwache und schafft diese Sauerei außenbords. Und zwar so fort, verstanden? Ihr seid sonst die nächsten, die krank werden." Der Koch zündete einige Öllampen an, suchte den Schlüssel und reichte die brennenden Lampen weiter. Das Schloß knirschte, das Schott schwang knarrend auf. Vor den Männern er tönten die grellen, kurzen Pfiffe der Ratten. Zwei, drei Schritte weiter, und um die Stiefel der Eintretenden huschten die Ratten in alle Richtun gen und hinaus zur Kombüse. Schweigend hielt Drinkwater das Licht in die Höhe, leuchtete in die Winkel hinein und untersuchte die Ladung. Ein heilloser, kalter Zorn breitete sich in ihm aus. Er beherrschte sich
noch eine Weile, aber als der volle Umfang der Zerstörungen und Ver wüstungen sichtbar war, wirbelte er herum und schrie: „Du verdammter Hund! Ich lasse dich auspeitschen. Schau dir an, was das Rattenpack an gestellt hat!" „Sir", der Koch fing zu stottern an und hob die Hände, „ich hab's dem Decksältesten ein paarmal gesagt. Aber er hat keine Leute, die mir hel fen. Wann soll ich kochen, wenn ich die Ratten verscheuchen muß?" „Warum meldest du nicht bei mir, du Mistkerl? Wir müssen alle hun gern. Das verdorbene Zeug müssen wir wegwerfen. Und das andere stinkt nach Rattenpisse. Warum hast du mir nichts gesagt?" Drinkwater wartete keine Antwort ab. Er starrte seinen Ersten ah und sagte in scharfem Befehlston: „Wir brauchen ein halbes Dutzend erfah rene Auswandererfrauen. Sie müssen hier aufräumen. Sofort! Das Mehl muß gesiebt werden. Hier . . . " Er entdeckte in einem Faß, halb voll Pökelfleisch und wäßriger Soße, eine ertrunkene Ratte. Er packte sie mit spitzen Fingern am Schwanz und warf sie dem Koch ins Gesicht. „Willst du uns Rattenbraten vorset zen? Hier! Da hast du deinen Braten. Für dich überlege ich mir etwas ganz Ausgefallenes, du Schweinehund!" Wieder sprach er mit Lilley. „Zuerst wird hier aufgeräumt. Mit den Frauen dort rede ich. Der Koch geht in die Bilge zur Rattenjagd. Au genblicklich. Heute beim Wachwech sel zeigst du mir fünf Dutzend Rat ten, die du allein erschlagen hast. Keine Widerrede! Hinaus, du Ba stard!" Er stapfte aus der Proviantlast hin aus und blieb in der Kombüse stehen. Die Frauen, die seine Gardinenpre
8 digt gehört hatten, starrten ihn halb verlegen, halb hoffnungsfroh an. In mäßigerem Tonfall fuhr er fort: „Holt euch noch ein paar vernünftige Frauen, die gut kochen können. Seid ihr schon lange hier?" „Einen Tag, Kapitän. Nicht ganz ei nen Tag. Sonst würde es hier schon ganz anders aussehen." „Glaube ich. Der Erste bringt noch einige Helferinnen. Kocht für uns alle etwas Genießbares zum Abend. Für den Tee schicke ich euch ein Fäßchen Rum. Nehmt von dem Proviant, der zuerst verbraucht werden muß. Denkt daran, daß es noch zehn oder fünfzehn Tage dauern kann, bis wir Land sehen. Die Vorräte, nun, die Hälfte ist immerhin schon ver braucht. Ich kümmere mich um die Ratten." Fünf mürrische Seeleute erschie nen mit vollen Pützen. Drinkwater gab ihnen eindeutige Befehle. Als er endlich zu wettern aufgehört hatte, holte er tief Luft und sagte im eisigen Tonfall: „Ihr helft diesen tüchtigen Frauen, klar? Ich will die Maserung der Planken hier sehen, wenn ihr fertig seid. Den gan zen Mist außerbords, verstanden, ihr Kerle?" „Aye, aye, Sir", tönte es zurück. Es klang nicht sehr begeistert. In etwas ruhigerem Ton fuhr der Kapitän fort: „Ihr müßt den Fraß ge nauso essen wie die Auswanderer. Das Zeug ist voller Rattenkot. Also kein Mitleid mit dem verdammten Koch." „Aye. Verstanden." Widerwillig gingen die Seeleute an die Arbeit. Die Frauen halfen ihnen und versuchten, mit den mürrischen Männern zu scherzen. Mit Strömen von Seewasser, das in die darunterlie genden Decks tropfte und entlang der
Bordwand in die Bilge rann, wurde der schwarze, von weichen Krusten bedeckte Boden geschrubbt. Nachein ander erschienen Frauen, krempelten die Ärmel auf und wurden vom Kapi tän selbst eingewiesen. „Denkt daran!" rief er ihnen zu. „Der Proviant muß bis nach Virginia reichen. Nichts über Bord, das noch brauchbar ist. Und jede Ratte tot schlagen, die ihr erwischt." Nach einer Weile stolperte Lilley über den Niedergang in den Vorraum der Kombüse. „Diese Maßnahmen hätten uns schon früher einfallen müssen", sagte er leise zu Drinkwater. Die Frauen sahen eine neue Auf gabe. Ihre Langeweile war vorbei, sie wurden abgelenkt und konnten end lich etwas Vernünftiges tun. Mit viel Kreischen und Gelächter, das für ihre gute Stimmung sprach, übernahmen sie die Herrschaft über die Proviant last und die Kombüse. Das Wasser im Kessel fing zu sprudeln an. „Das hätte dem Koch wenig gefal len", sagte der Kapitän und sprang zur Seite, um einer Pütz schäumen den Wassers auszuweichen. „He, ihr jungen Ladys dort! Kocht einen gu ten Tee und bringt mir einen Krug in meine Kammer, ja?" „Geht klar, Kapitän." Drinkwater packte den Ersten am Arm und steuerte ihn aus der Kom büse. „Wenigstens herrscht in einer Ecke etwas Ordnung", sagte er. „Aber mit dem Proviant sieht's wirklich böse aus." „Er wird nicht reichen", erwiderte Graham Lilley unruhig. „Auf keinen Fall. Die Weiber werden sich den Bauch vollschlagen, wenn wir sie nicht beaufsichtigen." Der Kapitän schüttelte den Kopf.
9 „Und keiner von euch soll glauben, „Da paßt eine auf die andere auf. Keine Sorge. Aber an den letzten Ta daß ich scherze. Wenn ich sehe, daß gen wird gehungert. Alle werden hun die Vorräte ausgehen, setze ich alle, gern müssen. Wir, die Crew und die nur die Kranken nicht, auf Wasser und Schiffszwieback. Dann könnt ihr Auswanderer." „Das eine oder andere Fäßchen Fische fangen und an der Luft trock Wein wird sich noch finden", meinte nen. Ich verlange, daß die ,Pilgrim' rattenfrei wird." der Erste zuversichtlich. Sie erreichten die Kuhl. Die feuer „Das geht schon in Ordnung, Kapi rote Sonne war um eine Handbreite tän", versicherte der Gehilfe des Se näher an die Kimm gerückt. Kapitän gelmachers. James Drinkwater winkte Decksälte „Los, an die Arbeit!" schrie der ste und Bootsleute zu sich heran. Erste und schwenkte die Arme. Die „Zuhören", sagte er. „Jedes Crew Männer zerstreuten sich und stiegen mitglied und jeder Auswanderer, der unter Deck. Kurze Zeit später fing noch kriechen kann, fängt Ratten. auf der „Pilgrim" und in den schwar Vom Bug bis zum Heck, bis hinunter zen, stinkenden Kammern des in den Ballast. Zwischen den Ballast Schiffskörpers die erbarmungslose steinen könnt ihr sie erschlagen. Ein Jagd auf die Ratten an. paar Mann an die Lenzpumpe. Die Mehr als hundert Leute beteiligten Ratten haben unter den Vorräten ge sich daran. wütet. Die nächsten Tage kochen die Die kleinen Kinder schrien, weil sie Frauen der Auswanderer. Wahr nicht begriffen, was der Lärm und scheinlich können sie's besser als die das Umherhasten der Leute bedeuten ser schweinische Koch, der seine sollte. Die größeren beteiligten sich Kombüse in einen Dreckstall hat ver daran, das Gepäck und ihre Habselig kommen lassen." keiten aus den Ecken hervorzuräu „Verstanden, Sir." men und die pfeifenden und zischeln „Heute nacht bleibt es höchstwahr den Tiere aufzustöbern. scheinlich ruhig. Die Freiwache soll Latten knallten auf die Planken, sich an der Jagd beteiligen. Und Belegnägel krachten gegen das Holz. keine Kerzen, keine offenen Lampen Die Ratten rannten im Zickzack hin in den dunklen Winkeln, klar?" und her, zwischen den Knien und Fü „Aye, Sir. Das wird die Langeweile ßen der Auswanderer hindurch und vertreiben. Die Ratten müssen sich suchten ein neues Versteck in einem vermehrt haben. Beim Ablegen wa anderen dunklen Winkel. ren nur ein paar zu sehen." Der Boots „Wir brauchen mehr Licht!" schrie mann hob die Schultern. ein Mann, der wie ein Rasender unter „Das glaubt euch nicht einmal ein einem Gepäckstapel umherstocherte Blinder", herrschte ihn der Kapitän an. „Ganz egal, wie viele. Sie werden und ein Nest gefunden haben wollte. alle gefangen und über Bord gewor Das gellende Pfeifen bewies, daß er fen. Morgen will ich nichts mehr se recht hatte. „Seid vorsichtig mit dem Feuer!" hen und hören. Nehmt die Auswande rer mit auf die Jagd. Bewegung wird rief der Bootsmann. „Das Zeug brennt wie Zunder. Weg von den Pul ihnen nicht schaden." verfässern." „Aye, aye, Kapitän."
10 „Verstanden. Trotzdem ist es zu fin ster hier." Auf einer Galeone dieser Größe, die zudem mit Ausrüstung, Proviant und hauptsächlich Menschen und deren Habseligkeiten vollgestopft war, gab es unzählige Verstecke. Die meisten fanden sich in den tiefergelegenen Decks. Im feuchten, schlammigen Dreck des Steinballastes versteckten sich die meisten Nagetiere. Sie schleppten ständig den giftigen Schmutz in die oberen Decks, suchten unaufhörlich nach Eßbarem und ver darben den Proviant nicht nur da durch, daß sie ihn fraßen, sondern auch, weil sie ihn verunreinigten und ungenießbar werden ließen. „Hier sind sie, die verfluchten Na ger!" brüllte ein Seemann aus der Umgebung des Mastschuhs. Er war halb ohnmächtig von den Ausdün stungen der glitschigen Steine und des schleimigen Seewassers dazwi schen. Mit spitzen Fingern packten die Crewmitglieder und die Auswande rer ihre erlegten Opfer. Die bluten den Kadaver wurden in der Nähe der Niedergänge wie Siegestrophäen ne beneinandergelegt. Schnell bildeten sich große Blutlachen. Die Frauen blickten sie schaudernd an und zogen die Kleinkinder an ihre Brust. Im flackernden Licht der Öllampen sahen die Aussiedler ihre Feinde ge nauer. Die Felle der Nagetiere waren räudig und unglaublich verdreckt und naß. Die Haarbälge wimmelten von Läusen und anderen Schädlin gen. Eiternde Wunden zeigten sich. Die Tiere hatten sich gegenseitig ge bissen und versucht, einander aufzu fressen. Sie stanken abscheulich. Zwischen den Körpern der alten Tiere zuckten immer wieder die er schlagenen und ertränkten, zertrete
nen und zerschmetterten Leiber der nackten, blinden Neugeborenen. See leute ließen Pützen durch die Luken hinunter, und die Kadaver wurden in die leeren Behälter geworfen. Lärm schlug aus allen Ecken und Enden der Galeone. Nur an Deck war es einigermaßen still und ruhig. Die Frauen, die sich um die Küche und die Proviantlast kümmerten, riefen ihre Männer und die erwachsenen Söhne zur Hilfe. Sie erschienen mit Tauenden, Belegnägeln, Messern und Dolchen und mit allem anderen, das sich zum Totschlagen und zerschmet tern von Ratten verwenden ließ. Die Frauen hatten die Lebensmit tel, so gut sie konnten, gereinigt und dort ausgeschnitten, wo sie verschim melt, verdreckt und ungenießbar ge worden waren. Fast überall hatten sie die Planken, Spanten und Fächer mit Seewasser gescheuert. Salz kristallisierte auf dem trock nenden Holz aus, die Kristalle funkel ten im Flackerlicht wie kostbarer Staub. Hier jedenfalls war der üble Geruch verschwunden. Die Specksei ten hingen leicht schaukelnd an den Holzpflöcken. Graham Lilley tauchte plötzlich in der Kombüse auf, stemmte die Fäu ste in die Seiten und schnupperte. „Riecht verdammt gut", sagte er. Mittlerweile brannten weitaus mehr Lichter in der Kombüse. Er konnte ohne Schwierigkeiten sehen, daß eine Sauberkeit wie im Haus seiner Mut ter herrschte. Aus dem großen, frisch gescheuerten Kessel stieg Dampf auf, der das Wasser im Mund zusam menlaufen ließ. Er schmeckte nach Fett, Fleisch, nach Gemüse und gu tem Gewürz. „Für die Mannschaft oder die Passagiere?" „Für alle", war die schnippische
11 Antwort. „Auch für den Kapitän. Er hat es verlangt." Zwei Männer verließen die Pro viantlast und schleppten ein halb mannsgroßes Faß. Es war angefüllt mit Abfällen und toten Ratten. Der Erste warf einen Blick hinein, verzog angewidert das Gesicht und sagte: „Über Bord, klar? Und wässert das Faß gut. Laßt euch die Tampen nicht aus der Hand reißen." „Na klar, Sir!" Der Erste Offizier, alles andere als ein typischer Vertreter von Ehrlich keit und menschenfreundlichem Ver halten, begriff fast instinktmäßig, daß sich ein kleiner Bereich der Schiffsführung zum Besseren geän dert hatte. Obwohl er sah, daß die Proviantlast beängstigend leer ge worden war, freute er sich darüber, daß der Koch in der Bilge Ratten fing. Wenn es nach ihm, Lilley, ginge, blieb er bis Virginia dort über dem Kiel. „Meine Damen", versuchte er sich in einer höflichen Ansprache, „ich sehe, daß hier ausgezeichnete Arbeit geleistet wird. Wollt ihr weiterhin für uns alle kochen?" „Ich bin Mary Davids", antwortete eine stämmige, resolute Frau mit grauem, kurzgeschnittenem Haar. „Und ich sage Ihnen, Mister Lilley, daß es besser so ist. Jede von uns kann besser kochen als euer Schmier fink. Aber Sie wissen, wie schlecht es um die Vorräte bestellt ist?" „Ich weiß es", erwiderte er. „Und ich schätze, daß ihr die Vorräte ganz genau in fünfzehn, siebzehn oder so gar zwanzig karge Tagesrationen auf teilen müßt." „Dann gibt es Tag für Tag immer weniger, Sir." „Das kann nicht einmal Kapitän Drinkwater ändern", antwortete er wahrheitsgemäß.
„Habt ihr irgendwo noch Wasser? Oder anderes Trinkbare?" wollte eine andere Köchin wissen. „Ein paar Fäßer Wein, etwas Rum, sonst nicht viel. Der eine oder andere Mann wird wohl einen Krug Wein versteckt haben. Was das heißt, wißt ihr." „In den letzten Tagen brauchen wir eine bewaffnete Wache vor der Küche und dem Essenslager." „Vor der Kombüse und der Pro viantlast", verbesserte der Erste. „Ich denke daran. Und wenn sich ein Kom büsenhelfer hierher wagt, müßt ihr ihn nicht gleich mit den dicken Holz löffeln erschlagen." Wieder wuchteten einige Mahner, von einer Frau angeführt, Abfälle und schmutzige Lumpen, Putzzeug und schwärzliches Seewasser aus den Kammern der Proviantlast. Aber mals sah der Erste ein, daß von An fang an für die Kombüse eine solche Lösung vorteilhafter gewesen wäre. Frauen waren also doch die besseren Köche. Was für ein Schiff voller Auswan derer möglich war, sagte sich der Erste mit innerlichem Grinsen, würde auf keinem anderen Schiff geduldet werden. Es blieb völlig undenkbar. „Seid ihr fertig mit der Ratten jagd?" brüllte er in die Proviantlast. „In einer halben Stunde, Sir", tönte es zurück. „Wann ist die Suppe fertig?" „Wenn hier endlich Ruhe herrscht", sagte die grauhaarige Meisterin der Kombüse. „Wenn Sie uns jetzt ent schuldigen würden, Mister?" „Ich weiche der Gewalt", brummte Graham Lilley und stapfte davon. Nach zwei Dutzend Schritten befand er sich schon wieder in einem anderen Mittelpunkt des Rennens, Hastens und Geschreis. Die Abenddämme
12 rung glitt unmerklich in die Sie prügeln sich förmlich darum, et Schwärze der Nacht hinüber, die was tun zu können." Hecklaterne, das Buglicht und ein „Hoffentlich überlebt die ,Pilgrim' paar kleine Lampen in den Wanten ihre Arbeitswut", brummte der Kapi wurden angezündet. tän. Unentwegt hievte eine Gruppe von Der Erste dachte an die vielen klei Seeleuten, denen die kräftigsten nen Ausschnitte einer zielstrebigen Männer aus den Kammern der Aus Arbeit und hob die Schultern. wanderer halfen, Pützen voller See „Was sie tun, hilft uns allen", sagte wasser an Deck Und kippte Dreck er schließlich. „Ich unternehme noch wasser außenbords. Immer wieder er einen Rundgang vom Bug bis ach schien jemand auf der Kuhl und tern, dann versuche ich, einen langen schleuderte tote Ratten, oft zuckten und tiefen Schlaf zu tun." sie noch im Todeskampf, nach Lee „Einverstanden. Und ich suche ei über Bord. Der Erste schritt langsam nach achtern und fand Drinkwater nen bestimmten Punkt. Ich muß heute in der Nacht herausfinden, wie im Kartenraum. Bisher hatten sich weder die Kraft lange ich noch von dem festen Land des Windes noch seine Richtung oder entfernt bin. Ich finde es heraus, die Höhe der Wellen verändert. Ver keine Sorge, aber wir sind in den letz mutlich gab es wieder eine einigerma ten Tagen und Nächten herzhaft hin und her geblasen worden. Gute Ver ßen ruhige Nacht. richtung, Lilley." „Ausnahmsweise kann ich eine „Danke, Sir. Wünsche ich Handvoll guter Neuigkeiten über bringen, Sir, und bald gibt es ein ebenfalls." Sorgfältig schloß der Erste Offizier reichhaltiges, wohlschmeckendes Es sen für alle", sagte der Erste Offizier die Tür hinter sich und zog das Spek und ließ sich auf einen Klappstuhl tiv aus der Tasche seiner langen Jacke. Er suchte die Umgebung ab, so fallen. „Das Schiff ist rattenfrei?" fragte lange es noch Tageslicht gab. Die Schiffe hatten ihre Lichter gesetzt James Drinkwater. „Noch lange nicht. Aber die mei und segelten unverändert in Kielli sten sind schon totgeschlagen und nie. Die Schebecke des Seewolfes se über Bord", antwortete der Erste. gelte ohne sonderliche Eile an Back „Die Herrschaft der Auswanderer bord näher an die „Pilgrim" heran, frauen hat angefangen. War auch die augenblicklich als letztes Schiff dringend nötig, Sir, wenn ich meine in der Linie dahinstampfte. Meinung sagen darf." Der Rudergänger des eigenen Drinkwater knurrte undeutlich Schiffes hielt den Kurs, wie er es ge eine Art Antwort. lernt hatte, und alle Segel waren rich „Die Deckswache? Alles aufge tig gesetzt und getrimmt. Der Aus klart?" guck war unbesetzt. Noch war es „In bester Ordnung, Sir. Auch sinnlos, einen Mann in die Wanten zu wenn die Leute etwas verwundert jagen, denn außer Wasser und Wol sind. Bisher hielten sie die Landrat ken gab es nichts zu sehen. ten für faules, langweiliges Pack. Die Karavelle blieb in der zuneh Jetzt haben die Leute eine Aufgabe. menden Dunkelheit unsichtbar. Auch
13 der Seewolf hatte Lichter setzen las sen. Der schwache Lichtschein brachte die dreieckigen Segel zu einem un deutlichen Leuchten. „Wird wohl wirklich eine ruhige Nacht", murmelte der Erste und be gann den Rundgang, während es un ter Deck unverändert rumorte. Als er an einer Luke vorbei ging, roch er den stechenden Rauch, der von irgendei nem Feuer herrührte, mit dem die Aussiedler die Ratten aus den letzten Winkeln herauszutreiben versuchten. Um die Aufregung an Bord nicht noch zu schüren, sprach Graham Lil ley mit jedem Seemann, der sich an Deck aufhielt. Er beruhigte die Män ner und versprach ihnen, daß die Aussiedlerfrauen viel besser kochten als der Kerl, der zugesehen hatte, wie die Ratten die Vorräte fraßen. Er versicherte, daß es eine ruhige Nacht werden würde, nach allem, was man sich ausgerechnet hatte. Aber die Männer, die über die Stufen des Niederganges an Deck stiegen und außer toten Ratten noch andere Ab fälle und stark riechenden Schmutz heraufschleppten, ließen seine An strengungen fragwürdig erscheinen. „Keine Sorge", versicherte er dem Decksältesten. „In ein paar Stunden schlafen sie wieder." „Niemand hat es gern, wenn sich Landratten um das Schiff kümmern. Schafft nur Wuhling und Unruhe." „Eigentlich wäre es eure Arbeit ge wesen", entgegnete Lilley grob und deutete auf das weit geöffnete Luk. „Seid froh, daß sie euch helfen. Dann werden sie heute nacht tief und fest schlafen." Er schwang sich von der Back wie der hinunter auf die Kuhl. Der Ge ruch nach schwelender Glut und brennenden Lumpen war stärker ge
worden. Lilley zuckte zusammen und spähte ins tiefergelegene Deck hinun ter. Er sah nur drei winzige Öllampen und keinen starken Rauch. Mit eini gen Schritten war er vor dem Achter deck und polterte den Niedergang ab wärts. Wieder war der Rauchgestank durchdringender. „Verdammt", murmelte er in stei gender Unruhe. „Da hat wieder je mand den Befehlen nicht gehorcht." Er erreichte das Batteriedeck, schaute sich um und schrie: „Wer ver brennt hier etwas? Wo ist das Feuer?" „Keine Ahnung! Wir sind beim Es sen!" riefen die Auswanderer und ho ben ihre Näpfe und Schüsseln. Der Erste eilte tief gebückt von ei ner Kammer zur anderen, von einem Teil der Laderäume in den nächsten. Der Geruch wurde stärker. Die ein zelnen Rattenjäger und die kleinen Gruppen, die mit Spieren und Spa ken in den Ecken stöberten, und die anderen, die wütend mit den blutigen Belegnägeln und Schiffshauern auf die flüchtenden Tiere eindroschen, arbeiteten mit kleinen und geschütz ten Lichtern. Der Erste rief ihnen zu: „Hier schwelt irgendwo ein Feuer. Geht an Deck und stellt Pützen bereit. Kann sein, daß ich euch brauche." „Aye, Sir." Noch immer war in den untersten Decks das Jagen und Erschlagen in vollem Gang. Es schien unglaublich, daß es auf der „Pilgrim" noch immer lebendes Rattenzeug gab. Graham hastete an der Kombüse vorbei, in der die Frauen ihre Kessel und Pfan nen putzten und den Tee für die Ablö sung vorbereiteten. „Hier brennt's auch nicht, Sir!" rie fen sie ihm zu. Jetzt sah er jenseits der Proviant
14 last einen dünnen Rauchfaden, der sich unter den Planken und Spanten einen Weg nach oben suchte, zum Deck, hinaus zur Luke. Er erreichte eine Menge Männer, die sich lang sam, fluchend und in erster Panik, rückwärtsgehend aus dem ersten und zweiten Bug-Laderaum zurückzogen. „Habt ihr das Feuer gelegt?" don nerte er, drehte sich herum und schrie nach achtern: „Hierher mit dem Wasser! Schnell, sonst brennt al les!" Er riß die Schultern der Männer zur Seite und sprang nach vorn. In der Mitte des Raumes war ein eiser ner Kessel umgefallen, der mit Holz stückchen und Lumpen gefüllt gewe sen war. Das Holz brannte, die Lum pen schwelten und sonderten schwar zen Rauch ab. Immer noch flüchteten quiekende Ratten aus den Ritzen und den Win keln. Segeltuch und die Stoffumhül lungen von Ladegut hatten Feuer ge fangen, brannten zwar nur mit schwachen Flammen, aber die Glut ränder wuchsen schnell nach allen Richtungen. Der Erste wußte, was jetzt zu tun war. „Bildet eine Kette bis zum Nieder gang. Einer läuft nach oben und sorgt für Pützen und Ösfässer. Es muß schnell gehen." „Schon klar. Ich gehe." Von Sekunde zu Sekunde gab es mehr Rauch. Durch den Rauch zuck ten und züngelten kleine Flammen. Das Feuer breitete sich schnell aus, aber noch nicht in einer solchen Ge schwindigkeit, daß nichts mehr getan werden konnte. Er wagte sich in den Qualm der Kammer und kämpfte sich hustend und mit tränenden Augen mitten in die vielen kleinen Flammen hinein.
Er schaffte es, an drei Stellen die hell rote Glut auszutreten und den Stoff gegen die feuchten Planken zu drük ken. „Wasser!" Das Trampeln der Stiefel auf den Planken, das klappernde Geräusch der Pützen und kleinen Fässer, das Geschrei und die ersten Schreckens rufe setzten sich als Kette durch die halbe Länge des Schiffes und hinauf bis zur Kuhl fort. Die erste Pütz Seewasser erreichte den Brandherd, als sich der Erste mit zwei Sprüngen aus dem verqualmten Laderaum rettete. Hustend packte er den schweren Behälter und schüttete das Wasser in die Richtung, in der er die größten Flammen durch den dik ken Rauch erkennen konnte. „Mehr Wasser. Schneller! Es brennt!" keuchte er und gab den lee ren Behälter ab. Der zweite schau kelte von Hand zu Hand, und er schüttete das Wasser im hohen Bogen in die entgegengesetzte Ecke. Eine große Dampfwolke breitete sich aus, stieg in die Höhe und zog, der heißen Luft folgend, entlang der Decke nach oben, in die Richtung des größten Luks. Sie riß den schwarzen Rauch und die wirbelnden Funken mit sich. Entlang der Strömung er schraken die Seeleute und die Aus wanderer gleichermaßen und fingen zu fluchen und zu schreien an. Aber inzwischen war der Nach schub des Wassers organisiert. Die Kette der Pützen und Ösfässer riß nicht ab. Hustend zog sich der Erste zurück, aber zwei stämmige Kerle drängten sich an ihm vorbei. Wür gend und mit brennenden Augen stol perte Lilley vorsichtig an den schuf tenden Männern vorbei und holte rö chelnd Atem. Wieder zischte der Dampf auf, als
15 die Wassergüsse in die züngelnden Flammen trafen. Einige Funken setzten sich in Klei dungsstücken und Decken fest und erzeugten schwelende Löcher. Die Ratten flüchteten mit brennen dem und rauchendem Fell aus den Laderäumen und Kammern und ver endeten quiekend und unter rasen den Pfiffen in den feuchten Winkeln. An Deck wirbelte eine große, mit Funken durchsetzte Rauchwolke zwi schen den Segeln aufwärts und wurde nach Lee gerissen und ver dünnt. Ununterbrochen wurden die überschwappenden Behälter gehievt und verschwanden im Rauch und im Halbdunkel. Unter Deck flüchteten die Leute vor dem Rauch, der sich in die Lade räume verteilte, in sämtliche Ecken kroch, die Kehlen reizte und die win zigen Tranlichter verdunkelte. Es gab Geschrei und Rempeleien. Die Leute drängten sich an den Stirnwänden zu sammen und sahen erschreckt den Rauch herankriechen und sich ent lang der Binnenspanten und Weger auszubreiten. „Schneller, ihr Schlafmützen!" schrie Kapitän Drinkwater auf der Kuhl. Er sah keine zusätzliche Mög lichkeit, das Feuer wirkungsvoller zu bekämpfen. Mit schwarzem Gesicht und Brand flecken in der Jacke taumelte der Erste den Niedergang hinauf und klammerte sich am Schanzkleid fest, während er den Rauch aus den Lun gen hustete. „Wie schlimm ist es?" schrie ihm der Kapitän entgegen. Graham Lilley nickte und holte zwischen den herausgestoßenen Wor ten tief Luft. „Wir - können - es schaffen, Sir." Zwischen den fluchenden und wie
wild arbeitenden Seeleuten drängten sich die ersten Auswanderer an Deck. Der Kapitän schrie ihnen zu, daß sie zum Bug gehen und die Leute nicht behindern sollten. Aus der Rauch wolke fielen brennende Stücke und verzischten ihre Flammen in dem Wasser, das über die Planken lief. Ein paar Ratten rasten über Deck und sprangen ins Wasser. Ihre Felle rauchten und stanken erbärmlich. An drei anderen Stellen holten die Män ner Wasser an Deck und hielten sich bereit, die ersten Flammen zu lö schen. Kommandos wurden gebrüllt, es herrschte ein gewaltiger Lärm. Un ter Deck wurden die Angstschreie und die Flüche lauter. In rasender Geschwindigkeit hiev ten die Männer, zwischen denen kräf tige Kerle der Auswandererfamilien standen, die schweren Fässer in den Rumpf der „Pilgrim" hinunter. Klappernd wurden die leeren Pützen nach oben gereicht. Inzwischen schien es im Rauch keine Funken mehr zu geben. Ein gu tes Zeichen? Der Kapitän drehte sich halb herum, als ein Mann ihm etwas zuschrie und nach achtern deutete. Die Schebecke der Seewölfe schob sich unter Vollzeug heran. Im Bug standen Gestalten und ließen die La ternen kreisen. „Kapitän Killigrews Seewölfe!" schrie Drinkwater, um seine Leute aufzumuntern. „Sie wollen uns hel fen." Längst waren die Grätings achtern vom Großmast geöffnet und die Lein wandabdeckung verstaut worden. Der Rauch, der aus diesem Teil des Schiffes drang, war weniger dicht. Immerhin drang frische Luft durch die große Öffnung, in die Seeleute abenterten und sich Pützen herunter fieren ließen. Unverändert stieg eine
16 fette Rauchsäule aus Luk und Grä tings und strich an beiden Seiten des Beibootes vorbei in die Höhe. Drei Mann der Besatzung standen an der Lenzpumpe und arbeiteten schweißüberströmt. Gurgelnd wurde schwarzes Wasser außerbords ge pumpt. Noch mehr Frauen, ihre jam mernden und hustenden Kinder in den Armen, torkelten halb blind an Deck und wimmerten erschöpft. „Helft ihnen! Aufs Achterdeck!" brüllte Drinkwater, halb verrückt in dem Bemühen, selbst anzupacken und zu versuchen, sein Schiff zu ret ten. Er schüttelte sich und sah ein, daß es sinnvoller war, klare Befehle zu geben. Er jagte ein Mannschafts mitglied in seine Kammer und be fahl, den Weinkrug und einen Becher für den Ersten zu holen. Sekunden später riß die Rauch wolke plötzlich ab. Ein dumpfes Krachen erschütterte die Planken. Gleichzeitig fuhr aus dem Luk eine fahle, von Rußflocken durchsetzte Feuerzunge und erlosch, noch ehe sie Segel und stehendes Gut erreicht hatte. Dann folgte wieder grauer Rauch. Riesige Lappen aus brennendem und schwelendem Mate rial fielen wie tote Fledermäuse an Deck. Crewmitglieder sprangen dar auf zu, traten die Glut aus, kippten Ösfässer darüber und schlugen die Funken mit nassen Lappen aus. Der graue Rauch schien anzuzei gen, daß die größten Gefahren vorbei und die Flammen ausgegangen wa ren. Während sich die Schebecke nä herte, während Lilley gierig einen Be cher Wein herunterwürgte, kroch wieder eine Gruppe von verstörten Auswanderern an Deck. Die Alpträume eines jeden See manns waren zur schrecklichen Wirk lichkeit geworden: Feuer im Schiff.
Drinkwaters Crew hielt sich her vorragend. Niemand brauchte ihnen zu erklä ren, wie groß die Gefahr war. Er schöpfte Seeleute wurden von ihren ausgeruhten Kameraden ersetzt. Die Freiwache befand sich an Deck, und die Männer kämpften sich von meh reren Stellen an den Laderaum her an, in dem es brannte und schwelte. Ströme von Wasser wurden ausge schüttet und durch die Lenzpumpen wieder aus der Bilge gepumpt. Die Aufregung, Angst und Panik hatte das Schiff vom Bug bis zum Heck ge packt. Die Auswanderer waren von nackter Furcht erfüllt und behinder ten in ihrer Menge die Rettungsarbei ten. Kapitän James Drinkwater ha stete ständig zwischen Bug und Heck über die Planken, schrie Befehle, packte selbst mit an und versuchte, die Panik der Auswanderer erst gar nicht ausbrechen zu lassen. Trotz des frischen Windes stank das gesamte Schiff nach kaltem und nassem Rauch. Wieder wirbelte ein Funkenschwarm aus der Gräting der vorderen Laderäume. Wasser zischte von allen Seiten in die Öffnungen hinunter. Wieder enterte eine ausge ruhte Mannschaft in das raucher füllte Chaos unter Deck ab. Das Fau chen und Gurgeln der Pumpen hörte nicht auf. An Deck drängten sich zwischen den Frauen und Kindern nur die Stärk sten und Rücksichtslosesten, aber die Crewmitglieder ließen ihnen keine Zeit, sich sicher zu fühlen - jeder mußte helfen. Der Rauch und der Qualm aus dem achterlichen Luk waren dünner ge worden, die Aufregung nahm ab. Aber die Gräting hinter dem Fock
17 mast ließ erkennen, daß der Schiffs und entlang der undefinierbaren Haufen von verschweltem Ladegut. brand noch nicht besiegt war. „Achtung, Sir! Wasser." Drinkwater hatte jede verfügbare Funzel und Laterne anzünden lassen. Seine Männer kippten die Pützen Er schob sich fluchend zwischen den aus. Sie brauchten nicht lange zu zie Leuten bis an das Süll der vierecki len, um die Glutnester und die Flam gen Öffnung und starrte hinunter. men zu treffen, die immer wieder auf „Sir, die Schebecke geht längs züngelten. „Die Ratten und die Funken, Sir", seits!" rief ihm Lilley zu. „Später, Graham!" rief Drinkwater erklärte ihm ein Bootsmann. „Sie ha ben das Feuer hierher geschleppt." zurück. „Was ist dort unten los?" Wieder wurden Behälter ausge „Sieht nicht gut aus, Sir", wurde leert, und statt der Glut gab es nur aus der Tiefe geantwortet. Ein Gluthauch heißer Luft, ver noch Dampf, der träge nach oben ab mischt mit Rauch und Ruß, folgten zog. Aus der Schwärze schwebten ei der Antwort. Wieder kreischten hin nige Tranlampen mit zitternden ter dem Rücken des Kapitäns die Flammen heran. Im Hintergrund des Laderaumes drängten sich die Aus Frauen und Mädchen auf. wanderer zusammen und versuchten, „Feuer!" ihre Kranken zu schützen. Der letzte „Das Schiff verbrennt!" Rauch verwandelte sich in Dampf, „Wir müssen fort!" aber noch immer schütteten die Drinkwater überhörte das sinnlose Crewmitglieder ihre Pützen in alle Geschrei. Eine Reihe Pützen wan Ritzen und Winkel und scharrten die derte abwärts, von Hand zu Hand. schwelenden Reste auseinander. Diesmal brodelte eine graue Dampf „Hierher, Sir!" rief ein Seemann. wolke hoch. Aus einem anderen Teil der Laderäume hörte man dumpfes „Da hat's am meisten gebrannt." Drinkwater zog den Kopf ein und Hämmern und das trockene Splittern stolperte in den Laderaum, in dem von Holz. „Wir haben es. Keine Flammen die Ankertrossen aufgeschossen auf den Planken gelegen hatten. Der üb mehr", hörte der Kapitän. Er packte ein Tau und kletterte rige Raum war von Gepäck und Hab langsam abwärts. Crewmitglieder seligkeiten der Auswanderer ange mit verrußten Gesichtern und ange füllt gewesen. Dazwischen erkannte sengten Haaren drängten sich, als er der Kapitän die verbrannten Decken wieder harte Planken unter seinen und Segeltuchfetzen, auf denen die kranken und geschwächten Aussied Sohlen spürte, um ihn. ler noch vor Stunden gelegen und ge „Ist es endlich vorbei?" fragte er schlafen hatten. heiser. Bis zu den Knöcheln in einem wei „Scheint so, Sir." Die Laderäume und Kammern hat teren Wasserguß ging Drinkwater ge ten sich in drohende, schwarze Lö radeaus und rutschte auf dem cher verwandet. Als sich die blinzeln schmierigen Belag aus. Er hielt sich den Augen an die Finsternis gewöhnt an einem angekohlten Spant fest und hatten, sah der Kapitän die winzigen drehte sich, nachdem seine Augen Glutinseln an den Rändern der We den Laderaum abgesucht hatten, ger und Spanten, auf den Planken langsam um.
18 „Wir haben es wohl geschafft", zu Hand gewuchtet Wurden, riß nicht sagte er niedergeschlagen. „Bei Ta ab. Eine Kabellänge entfernt, an geslicht müssen die Trossen an Deck Backbord, rauschte die Schebecke gebracht und aufgeklart werden. gleichauf durch die dunklen Wellen. Beim ersten Versuch würden wir den Undeutlich sahen die „Pilgrim"-Man Anker verlieren. Gut gemacht, Män nen, daß offensichtlich die gesamte ner. Beim nächsten Glasen gibt's eine Crew am Schanzkleid stand und auf doppelte Ration Rum, klar?" merksam hinüberstarrte, aufgeschos „Aye, Sir. Aber achtern sind sie sene Leinen und Wurfanker in den Händen. Auch der Seewolf hatte noch nicht fertig." „War zu befürchten. Ich sehe nach", mehr Laternen setzen lassen. „Wir brauchen Wasser", wurde sagte Drinkwater. Seine Leute bestätigten ihm, daß Drinkwater geantwortet. „Die Lap die letzten Glutreste nicht nur in der pen schwelen und glühen." Ankerlast, sondern auch in den an Poltern, Zischen, Klappern, grenzenden Kammern und Laderäu Schritte und die Geräusche der men gelöscht worden waren. Wieder Schiffshauer und Äxte, mit denen enterte er die Niedergänge auf und man die Brandherde auseinander gelangte zur Gräting vor dem Besan zerrte, wurden durch die Hohlräume mast. schaurig verändert und verstärkt. Nur noch einige dünne Rauchfäden Fieberhaft überlegte der Kapitän, stiegen aus der Öffnung. Die schwe welche zusätzlichen Maßnahmen er ren, gitterförmigen Oberteile waren anordnen sollte, als das Hämmern ab weggeschleppt und mit Sorgleinen riß. festgebändselt worden. Die Seeleute Jemand schrie gellend: „Zur Seite! drängten sich unverändert um die Aus dem Weg!" Öffnung. Leitern waren zusätzlich Dann dröhnte eine Detonation auf. ausgebracht worden. An der Pumpe Sie war nicht gewaltig, aber in der ge wurde geschuftet, während klat genwärtigen Lage erschreckte sie schend die leeren Pützen in den Wel mehr als alles andere, das auf die ver len versanken. wirrten und erschreckten Auswande Drinkwater legte die Hände an die rer eingedrungen war. Lippen und schrie hinunter: „Wie Eine Rauchwolke wurde durch die steht es, Leute? Ist der Erste bei Öffnung gestoßen. Dann folgte eine euch?" spitze Feuerzunge, die sich zu einem „Dieses verdammte Zeug will nicht Ball ausbreitete und erlosch. zu brennen aufhören", dröhnte eine „Feuer! Rettet euch!" schrien die verzweifelte Stimme aus dem rußi Frauen. gen Laderaum. Drinkwater sah, daß Die Crew, die nicht aufgehört hatte, seine Männer die Pulverfässer in Si Löschwasser an Deck und unter die cherheit gebracht hatten. Dicker Ruß Planken zu schaffen, hatte sich zu Bo lag auf den Läufen der Geschütze. den geworfen oder war von der Ex „Braucht ihr Hilfe?" schrie er. plosion auf die Planken geschleudert Wenn sich zu viele Männer dort un worden. Sofort standen die Männer ten zusammendrängten, behinderten wieder auf und packten die schlaffen sie sich gegenseitig. Die Kette, in der Leinen, an denen die Ösfässer hingen. leere und gefüllte Pützen von Hand Der Kapitän rappelte sich hoch und
19 spähte unter angesengten Augen brauen hinunter in das schwarze Loch. Er sah keine Flamme mehr. Mit die ser harten Explosion schien auch die letzte Glut erloschen zu sein, aber noch immer entwickelte sich kochen der und brodelnder Dampf, der den Männern in die Gesichter schlug und sich in den Hosen und Jacken fest setzte. „Macht weiter!" rief Drinkwater und fragte sich ratlos, welche Prüfun gen Schiff und Mannschaft noch aus halten mußten, bis sie die fernen Ufer sahen. 2. Mit allem hatte Philip Hasard Kil ligrew gerechnet, aber nicht mit die ser Wendung. „Drinkwaters Crew hat sich gut ge halten, Sir", sagte Big Old Shane, und es schien, als habe er über jedes Wort nachgedacht. „Sie haben das Feuer gelöscht." „So sieht es aus, wenigstens kann ich keine Flammen mehr entdecken", antwortete der Seewolf. Im schwachen Licht erkannten die Seewölfe, daß an Bord der „Pilgrim" unverändert Aufregung und Angst herrschten. Mit Sicherheit betraf das die etwa hundert Auswanderer. Sie drängten sich vorn und achtern zu sammen. „Das heißt nicht, daß unter Deck al les in Ordnung ist", schwächte Car berry ab. „Da kenne ich ganz andere Brände. Hielten sich tagelang, Sir." „Weiß ich." Die Entfernung zwischen beiden Schiffen war groß genug. Die Ga leone wurde von der Schebecke nicht abgedeckt. Gleichzeitig konnten die
Seewölfe fast jedes Wort verstehen und vieles, wenn nicht alles beobach ten, was an Deck passierte. „Wenn wir drüben aufentern", sagte Dan O'Flynn, „dann wird die Wuhling nur noch größer." Vor weniger als einer Stunde waren sie bis auf eine oder zwei Kabellän gen an die „Pilgrim" herangesegelt, nachdem sie den ersten Ausbruch von Rauch gesichtet hatten. Die deut lichere Aufregung auf Deck, die ha stenden Menschen und die schwan kenden Tranlichter bewiesen den Seewölfen, daß die Crew der „Pil grim" ernsthaft Schwierigkeiten ha ben mußte - augenblicklich ent schied Hasard, der Galeone zu helfen. Bis zum gegenwärtigen Augenblick schienen aber die Männer dort drü ben recht gut mit ihren Problemen fertig zu werden. „Ich sehe keinen Grund, an Bord zu gehen", antwortete der Seewolf knapp. Sorgfältig beobachteten mehr als drei Dutzend Männer das Geschehen an Deck der Galeone. Die Spannung wich langsam. Weder die Segel noch stehendes oder laufendes Gut, auch keine Spieren oder andere Holzteile waren vom Feuer ergriffen worden. Ab und zu hörten sie die kräftige Stimme des Kapitäns und die nicht weniger laute des Ersten. Nach einigen Atemzügen meinte Don Juan de Alcazar: „Sie packen's auch ohne unsere Hilfe." Er hatte nicht ganz ausgeredet, als der dumpfe, laute Knall einer Deto nation unter Deck die trügerische, nur von weitaus weniger lauten Ge räuschen und Stimmen ausgefüllte Ruhe zerriß. Es klang mehr wie eine Verpuffung, keineswegs so, als sei etwa ein Pulverfaß in die Luft geflo gen. Gleichzeitig zuckten eine Feuer
20 zunge und ein Glutball zwischen den Masten in die Höhe. Stimmen kreischten, Kinder und Frauen schrien jäh auf. Dann hörten die Seewölfe das typische Klatschen, wenn Menschen über Bord gehen. Hasard stieß einen kurzen Fluch aus und schrie: „Beidrehen. In den Wind!" Während die Schoten losgeworfen wurden, legte Nils Larsen das Ruder, Der Seewolf und Carberry mit seiner kaum überhörbaren Stimme schrien gleichzeitig zur Galeone hinüber: „Bleibt an Bord! Ihr ersauft sonst alle!" „Nicht springen, ihr Narren!" „Drinkwater! Halten Sie die Land ratten an Bord!" Die Seeleute sprangen vor und ris sen die verängstigten Männer und Frauen vom Schanzkleid weg. An Bord der Schebecke schrien die See wölfe ein paarmal „Wahrschau!" und versuchten, die treibenden Körper nicht aus den Augen zu verlieren. Ein paar der verrückten, überängstigten Leute waren auf der abgewandten Seite des Schiffes über Bord gesprun gen. Das Geräusch weiteren Aufklat schens war nicht mehr zu hören gewe sen. „Seht ihr jemanden?" Bleiches Mondlicht, ein paar Sterne, der Widerschein der Laternen von Deck der Galeone und die weit aus helleren Flammen der eigenen Schiffslaternen bedeuteten nur etwas mehr als völlige Dunkelheit. Aber dort, wo die Leute versuchten, sich schwimmend oder strampelnd über Wasser zu halten, schäumte das Meerwasser. Gurgeln und Hilfe schreie markierten die Stellen, an de nen mindestens drei Körper schwam men. Roger Brighton spürte das Ziehen
und die verzweifelten Rucke am Ende der Wurfleine, die er in die Richtung eines dieser undeutlichen Flecke ge worfen hatte. Er zog langsam, aber ohne seine volle Kraft einzusetzen. Dabei schrie er: „Festhalten. Ich hole durch!" Die Schebecke schob sich langsam, fast ohne Bugwelle und Hecksee, durchs Wasser. Am Bug standen Ba tuti und Dan O'Flynn und hielten die langen Riemen des Schiffes ins Was ser. Steuerbord voraus schwamm ein Körper in der See. Er wurde deutli cher, als er näher zur Bordwand hin trieb. „Helft mir!" rief der Takelmeister. „Ich schaff's nicht allein!" Batuti spürte, daß sich der Schiff brüchige an das Holz klammerte. Er versuchte, das Dunkel mit seinen Au gen zu durchdringen und schob das Ruderblatt unter den Körper. Mac O'Higgins packte zu und half dem Gambiamann. Sie schafften es, den Körper an die Planken heranzuzie hen, dann beugte sich Batuti weit nach vorn und faßte in die Kleidung eines älteren Mannes, der nach Luft schnappte und Seewasser aus spuckte. „Hierher!"' Drei Seewölfe standen bereit und hievten entschlossen den halb ertrun kenen Auswanderer über das nied rige Schanzkleid der Kuhl. Fast zur selben Zeit wuchteten die Männer ne ben Roger den zweiten Geretteten an Deck. Es war eine junge Frau, die das Bewußtsein verlor, als sie sich auf den Planken ausstreckte. „Wahrschau! Wir suchen noch zwei!" rief Hasard. „Ich kann auch niemanden mehr sehen." Er stand achtern, lehnte sich über das Schanzkleid und versuchte, im Gekräusel der Wellen, zwischen den
21 schmalen Schaumstreifen einen drit ten oder vierten Körper zu erkennen. Die Schebecke hob und senkte den Bug und warf, als sie wieder ein tauchte, Gischt nach Steuerbord und Backbord. „Nichts zu sehen", tönte es vom Bug. „Ich sehe auch nichts!" rief Hasard junior von Backbord. Die Lichter der Galeone waren ge rade noch zu sehen. Schwach zeich nete sich das Kielwasser ab. Sämtli che Seewölfe starrten ins Wasser und suchten nach einem Zeichen. Sie wußten, daß jemand schnell unter ging, wenn er in diesem Wasser zu wenig Luft kriegte, zuviel Seewasser schluckte oder ihn die nasse Kälte be täubte. Keine Schaumkreise, keine dunkleren Silhouetten, die sich schwach bewegten. Kein Stöhnen und keine gurgelnde Schreie aus ei ner Kehle, die am Salzwasser würgte. „Nichts", sagte der Seewolf laut und stieß sich vom Schanzkleid ab. „Ihr dort vorn?" „Verdammt. Nicht die geringste Bewegung." Es war schon am Tag nicht einfach, einen Dahintreibenden zu finden, wenn die Wellen eine bestimmte Höhe überstiegen. Jetzt war es so gut wie unmöglich, weiteres Suchen und Starren schienen sinnlos zu sein. Die Schebecke hatte fast keine ei gene Bewegung mehr. Die Segel kill ten mit hartem Knattern, die Schoten peitschten durch die Luft und häm merten gegen die Rundhölzer. Ben, der Erste, beugte sich weit zu Hasard hinüber und rief: „Weitersu chen, Sir? Ich halte es für sinnlos." „Ich, ehrlich gesagt, auch. Noch ein paar Minuten, Ben. Mag sein, daß sie auftauchen." „Glaube ich nicht. In Ordnung. Wei
terhin Ausschau halten, Leute!" rief Brighton übers Deck. „Auch wenn es hoffnungslos ist." „Aye, aye." Langsam drehte sich der schlanke Schiffskörper, krängte weit nach Steuerbord, setzte schwer in die näch ste Welle ein und hob das Heck mit dem Ruder weit aus dem Wasser. Schweigend und mit angehaltenem Atem suchten die Seewölfe die dunkle, bewegte Fläche ab. Nach einer Handvoll Minuten ga ben sie es auf. Mindestens zwei Men schen waren ertrunken, es war nicht zu ändern. Der Kutscher, die Zwil linge und Mac Pellew versorgten un-, ter Deck die beiden durchnäßten und zitternden Gestalten. „Wieder auf Kurs, Segel trimmen", befahl der Seewolf und blieb neben dem Rudergänger stehen. „Verstanden. Alles klar." Die Segel füllten sich, der Bug spriet beschrieb langsam einen Vier telkreis. Die Wache trimmte die Segel und belegte die Schoten. Das Stamp fen der Schebecke hörte auf, wieder legte sie schwer über. Dann nahm sie Fahrt auf und wurde hart an den Wind gebracht. Der Rudergänger stemmte sich gegen die Pinne. Die Lichter der Hecklaternen waren weit voraus knapp über der Kimm zu se hen. „Wir holen,die ,Pilgrim' ein!" rief Hasard und hangelte sich zur Kuhl hinunter. „Vielleicht braucht Drink water etwas von uns. Das Feuer hat er wohl gelöscht, sonst würden wir es deutlich sehen. Die beiden Geretteten sagen uns sicher, wie es entstanden ist." Die Antworten erfolgten augen blicklich. „Verstanden! In Ordnung! Aye, aye, Sir!"
22 Die Fahrt nach Virginia wurde von Tag zu Tag mehr zu einer einzigen Kette von Zwischenfällen. Sie schie nen, je mehr sich die Schiffe der Kü ste näherten, immer gefährlicher zu werden. Von Tag zu Tag wurde die Anzahl der Toten größer, Krankheit und Unfälle dezimierten die Crews und die Passagiere. Kein Schiff blieb davon verschont. Ohne daß sie viele Worte darüber verloren, wußten die Seewölfe, daß es bisher nur kleine Katastrophen gewesen waren.
Es ist schließlich gelungen, das Feuer zu löschen. Die Verluste an Vorräten und Material werden sich verschmerzen lassen. Bei Tageslicht lasse ich aufklaren und alles durch zählen. Die Heimsuchungen reißen nicht ab. Mit Glück und Gottes Hilfe haben wir die Flammen besiegt, aber um ei nen hohen Preis. In Angst sprangen vier Aussiedler über Bord. Die Lade räume sind zum Teil verwüstet. In all den Gefahren ist Kapitän Killigrew stets ein zuverlässiger Helfer, der seine Verantwortung und Pflichten sehr ernst nimmt. Mister Graham Lilley und ich sind sicher, daß wir die Schäden wieder instandsetzen können, während wir uns weiter dem Ziel nähern. Schon viel zulange dauert diese Fahrt des Schreckens, und sie ist noch lange nicht zu Ende. An Bord sehnt sich je der nach der Sonne des Tages, und noch mehr nach dem ersten Blick auf die Küste von Sir Raleighs Kolonie. Kapitän James Drinkwater zö gerte. Er ahnte, daß er in dieser Nacht noch eine weitere Logbucheintra gung schreiben mußte. Also setzte er das Datum dieses
fürchterlichen Tages und der gefähr lichen Nacht nicht ein. Er streute Sand über die auftrocknende Tinte, blies darauf und schlug die Seite des schweren Buches um.
In den folgenden Stunden holte die „Pilgrim" langsam auf und fuhr als vorletztes Schiff. Auf den beiden Ga leonen voraus herrschte Ruhe. Drinkwater, der von der Heckgale rie aus mehrmals mit dem Spektiv die Finsternis zu durchdringen ver suchte, gestand es sich selbst nur un gern ein. Aber je mehr sich die Bugla terne der Schebecke näherte, desto sicherer fühlte er sich - er dachte an die „Pilgrim", weitaus weniger an seine eigene Person. Die Krankheiten, Todesfälle, der drohende Mangel an Proviant und Wasser, der Brand und die Bedro hung durch die Karavelle waren schuld daran, daß aus dieser schein bar normalen Fahrt ein höllisches Unternehmen geworden war. Die Überlebenden würden betend auf die Knie fallen, wenn sie endlich den Strand erreichten. „Ich werde mitten zwischen ihnen knien", sagte Drinkwater leise zu sich selbst. Angezogen warf er sich auf sein Lager und fand bis zum Morgengrau en tatsächlich ein paar Stunden Schlaf. Von der Kampanje aus, fröstelnd, gähnend und mit hochgeschlagenem Kragen, ließ James Drinkwater seine Augen über alle Einzelheiten seines Schiffes gleiten. Der Erste, unermüd lich und zuverlässig wie immer, führte die Wache. Alle Segel waren getrimmt, die „Pilgrim" lief gute Fahrt, und an Deck war alles so weit
23 aufgeklart, wie es unter den herr schenden Umständen möglich war. Drei kleine Gruppen männlicher Auswanderer standen auf der Kuhl und sprachen leise miteinander. Ihre Gesichter ließen nichts Gutes erken nen. Der Kapitän vergaß einen klei nen Teil seiner Sorgen und enterte den Niedergang ab. An Steuerbord ging er mit langen Schritten über das Achterdeck und blieb vor dem Großmast stehen. Auch mittschiffs hatte die Crew be stens aufgeklart. Drinkwater grüßte knapp zu seinem Ersten hinüber und begutachtete die achterliche Gräting. „Sieht gut aus, Mister Lilley!" rief er und winkte. „Wir sind ganz gut mit den ersten Schäden fertiggeworden, Sir", sagte der Erste und trat näher. „Unter Deck sieht es schlimmer aus." „Hauptsache, die ,Pilgrim' ist gut unterwegs." Die Auswanderer grüßten, wie es schien, widerwillig und warfen den beiden Männern kurze, unsichere Blicke zu. Der Wind war unverändert günstig, trotz aller Zwischenfälle hat ten die Schiffe gute Fahrt laufen kön nen. Drinkwater bemerkte die rußge schwärzten, aber kaum ernstlich ver sengten Bordwände des Beibootes und runzelte die Stirn, als sie an das Süll herantraten und hinunterschau ten. „Verdammt viel Ruß", stellte er fest. „Nach der Wachablösung gehen wir daran", versicherte Lilley. „Die Auswanderer haben sich auch gut ge halten. Sie sollten abentern, Sir, und die Leute ein wenig loben. Sie brau chen Zuspruch. Besonders Ed Corn hill. Seine Frau sprang über Bord." Die Männer wechselten einen
schweigenden, langen Blick. Dann nickte Drinkwater ernst. „Ich verstehe." Die Segeltuchabdeckung, die bei schwerem Wetter über die Grätings gezurrt wurde, war sauber zusam mengefaltet und über dem Lauf der frisch geputzten Kanone festgezurrt. Die Grätingsteile lehnten am Schanz kleid, ebenfalls mit Sand und Wasser gereinigt. Drinkwater betrat über die breiten Sprossen das nächsttiefere Deck und schob sich zwischen den Aussiedlern hindurch, die das Batte riedeck bevölkerten. „Ich danke euch, auch im Namen meiner Mannschaft", sagte er laut und suchte nach Worten, die dem An laß angemessen waren. „Ihr alle habt mitgeholfen, daß der Brand gelöscht wurde. Wir wären alle, ausnahmslos, verloren gewesen. In den nächsten Tagen tun wir alles, um mit unseren Mitteln die Schäden auszubessern." Ein stämmiger Mann mit schloh weißem Kinnbart stemmte sich hoch und erkundigte sich mürrisch: „Und unser Besitz? Verbrannt, verschmort, unbrauchbar. Da ist viel vernichtet worden, Sir." „Das weiß ich. Ich kann es euch nicht ersetzen. Wir werden klären, wo der Brand ausgebrochen ist, und wer daran schuld war. Vielleicht könnt ihr euch an ihn halten." Nach kurzer Überlegung fügte er resignierend hinzu: „Was ich aller dings bezweifle." „Freddy Blewitt soll der Schuldige sein", erklang es aus einer dunklen Ecke. Der Kapitän versuchte, die Leute mit einigen Gesten zu beschwichti gen. Er musterte, nachdem zwei Stückpforten aufgestoßen worden waren, die Schäden am Schiff. Nach einer Weile wandte er sich an
24 Lilley und forderte: „Die Männer müssen das Holz abkratzen, die Plan ken putzen und die Binnenspanten von der Brandasche säubern. Ich kann keine größeren Schäden entdek ken, nur an einigen Stellen muß kal fatert werden. Vielleicht helfen eini ge von euch mit? Euer ganzes Gepäck sollte an Deck, dort kann es trocknen, dort könnt ihr das Verdorbene aus sortieren. Wenn ihr zurückkommt, ist das Deck wieder sauber. Einverstan den?" Wieder erhob sich die Stimme aus dem hintersten Winkel. Sie gehörte einem schwarzgekleideten Mann in mittleren Jahren. „Die Arbeit würde uns weiß Gott leichterfallen, Sir, wenn wir etwas Eßbares in die Mägen kriegen wür den." „Eure Frauen helfen dem Koch. Ist der Mann schon wieder an seinem Kessel, Graham?" Der Erste grinste. „Sauber gewa schen, kleinlaut und kuriert, denke ich. Und eure Ladys sehen ihm scharf auf die Finger. Er hat sich dran ge wöhnt." „Sollte er Schwierigkeiten dabei haben", versprach Drinkwater, „dann kenne ich Mittel, ihn davon zu überzeugen." „Seit die Weiber kochen, schmeckt das Zeug viel besser", krähte ein Junge. Sein Vater verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige. Lilley und der Kapitän inspizierten das Deck an jeder Stelle, an der die Brandfolgen zu erkennen waren. Die Aussiedler, die noch kräftig genug waren, hatten schon in der Nacht ver sucht, die größten Schäden zu behe ben. Es roch durchdringend nach kal tem Rauch und nach dem fetten, tiefschwarzen Ruß, der sich nur schwer würde entfernen lassen.
Am sandigen Ufer der Karibik würde es kaum ernsthafte Probleme geben, aber auf dem kalten Atlantik dauerte es lange, bis man die wirkli chen Schäden unter der Rußschmiere sah. Schließlich erreichten sie die La deräume, die sich um den Mastschuh und den Schaft des vorderen Mastes gruppierten. „Hier ist das Feuer ausgebrochen", erklärte der Erste. „Aber genau hier haben wir es sehr schnell löschen können. Die Flammen bewegten sich daraufhin sozusagen rückwärts und aufwärts, bis zu den Luks und Grä tings." „Ich sehe es." Daß Fässer und Segeltuch, Tau werk und Vorrat an Planken, Spaken und anderen Rundhölzern triefend naß und rußbedeckt waren, daß sich Asche in die Ritzen schob, wohin sie das Löschwasser geschwemmt hatte, daß sich der Rauchgeruch mit dem stechenden Gestank aus der Bilge mischte, war unwichtig. Diese Punkte lagen teils oberhalb, aber auch unter halb der Wasserlinie. Der Kapitän klopfte die Holzteile gewissenhaft mit dem Griff des Dol ches ab und stocherte an unzähligen Stellen mit der Schneide und der Spitze in den Planken und Spanten. Er konnte kaum Trockenfäule oder Naßfäule an diesen Stellen herausfin den. „Das beruhigt mich natürlich ein wenig", sagte er halblaut und zog den Kopf zwischen die Schultern, als er den Laderaum verließ. „Und das viele Wasser scheint die Ratten er säuft zu haben, nicht wahr?" „Es dürfte nicht mehr viele im Schiff geben", brummte Lilley. Jeder Nachteil, sagt ein Sprich wort, hat auch einen Vorteil. Den Spruch kannte er von seinem Vater,
25 einem alten Fahrensmann. Jeder Ab schnitt der Laderäume und der Weni gen Kammern wurde inspiziert. Der Kapitän beschränkte sich darauf, knappe Anordnungen zu geben: auf welche Schäden sich die Männer kon zentrieren mußten, wußte der Erste ebensogut wie er selbst. „Wird ein paar Wachen lang dau ern", meinte der Erste. „Viel Zeug muß an Bord und über Bord ge schafft werden." Buchstäblich überall gab es die ver kohlten, nassen und triefenden Reste von Decken, Kleidungsstücken und den Habseligkeiten der Auswande rer, ebenso wie zerbrochene und schwarze Bruchstücke, die völlig un kenntlich geworden waren. „Die Crew wird fluchen", sagte Drinkwater und schlug den Weg zur Kombüse ein. „Aber vielleicht bringt sie ein einigermaßen gutes Essen auf vernünftige Gedanken." „Da können Sie auch gleich ein Machtwort sprechen, Sir." Sie zwängten sich in die Enge der Kombüse. Der Koch schien sich seit seiner Strafe völlig verändert zu ha ben, und die Frauen begrüßten die Männer einigermaßen fröhlich. „Bringt ihr eine kräftige, gute Mahlzeit zustande?" fragte Drinkwa ter und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. „Wird schon gehen, Sir", erhielt er zuf Antwort. „Wir tun, was wir kön nen." „Niemand zweifelt daran. Ist Pro viant verbrannt oder verdorben? Ich meine, durch das Wasser oder den Rauch." „Das gepökelte Fleisch ist zum zweitenmal geräuchert worden", murmelte der Koch. Um diesen Teil des Schiffes brauchte er sich am wenigsten zu sor
gen, sagte sich Drinkwater. Er war ei nigermaßen zufrieden. Aber sehr lange würde auch der Vorrat an Tee kräutern nicht mehr reichen, mit des sen Hilfe das Wasser genießbarer wurde. Und weniger gefährlich, denn wenn es gekocht wurde, verbreitete es keine Krankheiten mehr. „Kaum ein Schaden", sagte der Ka pitän. „Also. Essen für alle beim nächsten Glasen?" „Selbstverständlich, Sir", sagte der Koch überaus eifrig. Der Aufenthalt in der Bilge schien kaum geahnte Fä higkeiten in ihm geweckt zu haben. „Wir können ohne Kapitän Killi grews Hilfe fertig werden?" erkun digte sich Drinkwater, als sie keine Zuhörer hatten. „Ich denke schon. Einige Werk zeuge sind möglicherweise mitsamt den Kisten verbrannt. Oder nur noch halb brauchbar. Man wird sehen, Sir." Auf dem Batteriedeck bewegten sie sich vom Heck zum Bug und spra chen mit der Crew und mit den Aus wanderern. Die Stimmung war, ange sichts des überstandenen Feuers, we niger verzweifelt, als sich Drinkwater vorgestellt hatte. Nacheinander erwachten die Leute aus einem unruhigen Schlaf. Einige fingen damit an, die Enden der ver schmorten Leinen zu ordnen und zu versuchen, in ihrer unmittelbaren Nähe das Durcheinander und den Schmutz zu beseitigen. Lilley winkte ab und rief ihnen zu: „Richtig geputzt wird später. Küm mert euch erst einmal um euren Tee und etwas Heißes in den Magen. Dann sieht der Tag schon sehr viel besser aus. Wir segeln, Leute, und wir haben ein schönes Stück Strecke hin ter uns." „Muß ja so sein", sagte eine jüngere
26 Frau voller Bitterkeit. „Das Schiff trägt leichter. Claire Cornhill ist von Deck." „Sie sprang, ohne daß sie jemand gestoßen hat", sagte der Erste schroff. „Es war dunkel, sagt man." „Was man sagt, zählt nicht." Der Erste schob mit dem Stiefel ein paar verbrannte Reste zur Seite. Sie hatten zu einem Bündel voller Kleidung ge hört, zwischen der geschwärztes Werkzeug klirrte. „Es gibt eine Unter suchung, und heute abend wird man mehr wissen. Später, Leute. Später. Alles zu seiner Zeit." Der Kapitän hatte an genau neun Stellen größere Schäden entdeckt. Planken waren durchgekohlt, die Kalfaterung war herausgetropft, und selbst an den Rüsten waren Schäden zu sehen. Als Lilley wieder an Deck stand, zählte Drinkwater die einzel nen Stellen auf und befahl schnellste Ausbesserung. „Ich lasse die Männer erst einmal essen. Einverstanden, Sir?" entgeg nete Graham Lilley und gähnte. Der Kapitän sah ihn prüfend an und befahl: „Und wenn die Kerls ar beiten, nehmen Sie eine Prise Schlaf, einverstanden?" „Ich hab's nötig", gab der Erste zu.
Auch an diesem Vormittag brach für wenige Stunden die Sonne durch die tiefhängenden Wolken. Die drei Galeonen, angeführt von der „Explorer" unter ihrem dicken, frömmelnden Kapitän Toolan, segel ten in Kiellinie noch immer auf Kurs Südwest zu West. Die trügerische Ruhe und endlose Schönheit des Mee res beruhigte nicht nur die Gemüter der Auswanderer, sondern auch die Seeleute.
Die blitzenden Schaumkronen auf den Wellen und die lang ausschwin gende Dünung des Ozeans ängstigten die Landratten nicht mehr, sie hatten sich an dieses ständige Schwanken der Decks und an die zahllosen Ge räusche des Schiffes gewöhnt. So ließ es sich aushalten, auch wenn sich erste und ernsthafte Mangeler scheinungen nicht mehr länger ver heimlichen ließen. Wasser und Provi ant waren noch immer vorhanden, aber es ließ sich bereits absehen, daß sie nicht mehr lange reichten. Hätten die Aussiedler genau ge wußt, wie schlimm es um die Vorräte stand, würden sie am Spiel der Wel len und Wolken keine Freude mehr haben. Aber in diesen Stunden erfreu ten sie sich daran, daß ihnen jeder Seemann versicherte, an Sturm sei nicht zu denken. Selbst dem puritanischen Amos Toolan ging auf, daß auch sein Schiff, trotz allen Betens, von dem Verhäng nis nicht verschont bleiben würde. Er beugte sich im Kartenraum über die Papiere und Pergamente und rech nete, verglich und wußte mit untrü gerlicher Sicherheit, daß der letzte Tropfen Wasser verbraucht sein würde, ehe die Küste gesichtet wurde. Zum gleichen Ergebnis gelangen die Offiziere und Kapitäne der beiden anderen Auswandererschiffe. Aber auf der „Pilgrim" lenkten die Reparaturen die Menschen ab. Nach dem Essen, nach einer Extraration Rum und dem heißen, würzigen Tee fast hatten es die Frauen fertigge bracht, den muffigen und schalen Ge schmack des brackigen Wassers zu verbessern - halfen die Auswanderer den Seeleuten beim Ausbessern der Schäden. Die Auswanderer arbeiteten, um die Langeweile zu vertreiben. Unter
27 ihnen gab es viele Handwerker, deren Erfahrungen samt ihrer Werkzeuge wichtig wurden. Die Mannschaft brauchte nicht an getrieben zu werden. Die Seeleute würden ihre schwimmende Heimat freiwillig nicht rott werden lassen. Sie wußten, daß ihr Leben von dich ten Planken abhing. Aber um die not wendige Sauberkeit sorgten sie sich nicht. Das war, wenn überhaupt wich tig, Sache der Leute in den Decks und Laderäumen. Immerhin gaben sie gute Ratschläge und halfen, wenn es nicht anders ging. Das versengte Zeug und die Abfälle wurden in Säcken und alten, offenen Fässern gesammelt und über Deck ge kippt. Ab und zu tauchte die dreiek kige Rückenflosse eines Haies auf. Die Raubfische witterten Beute und schlugen ihre furchtbaren Gebisse in schwarzverrußte Tampen, schlangen wütend Stoffetzen herunter und drehten enttäuscht ab. Aber kurz dar auf folgten sie den Galeonen wieder, ebenso hartnäckig wie die Karavelle. In einer schier endlosen Prozession waren alle Kinder und Frauen an Deck gebracht worden. Dort dräng ten sie sich an Stellen zusammen, an denen sie die Seeleute nicht störten. Und das waren nur wenige Teile des Decks. Auch die Kranken hockten oder la gen auf den trockenen Planken. Die Kleidung der Auswanderer ver strömte ausnahmslos den Geruch nach kaltem Rauch, der wieder erste Anfälle würgender Übelkeit und Seekrankheit hervorrief. Der Schiffszimmermann Derris legte nur Hand an, wenn es nötig war. Er ließ Sand aus dem Ballast aufhie ven und zeigte den Auswanderern, wie mit Lappen, Seewasser und Sand, mit Scheuersteinen und Schiffs
hauern, selbst mit Messer- und Dolch schneiden der fette Belag vom Holz abgeschabt werden konnte: Binnen planken, Spanten und Weger sahen an einigen Stellen schon wieder wie werftneu aus. „Da sparst du dir für die Heimreise viel Arbeit, Derris, wie?" fragte ihn der Bootsmann, und an Derris' Grin sen erkannte er, daß er recht hatte. „Wichtiger ist, daß wir sehen, ob die gute alte ,Pilgrim' irgendwo leckt", sagte der Zimmermann. Tatsächlich wurde das Schiff leich ter. Ein entkräfteter Mann war gestor ben und wurde der See übergeben. Der Zustand der meisten Kranken hatte sich nicht gebessert, aber auch nicht sonderlich verschlechtert. Die größere Sorgfalt, die von den Helferinnen des mürrischen Kochs aufgewendet wurde, zahlte sich aus: das Nervenfieber hatte vorüberge hend seine ärgsten Schrecken verlo ren. Und an Deck, im Licht einzelner Sonnenstrahlen, schienen die Kran ken förmlich aufzuleben. Segelleinwand wurde sorgfältig ausgeschnitten. Die verbrannten Teile gingen über Bord. Der schwarz graue Brei aus Sand und Ruß wurde in die Wellen gekippt. Harte Bürsten und die Bimssteinblöcke ratterten und kratzten über die Planken in fast allen Decks. Sämtliche Stückpforten waren weit geöffnet, frische Luft strich herein, und Ströme schmutzigen Wassers lie fen an den Seiten der Galeone hinun ter. Eine wahre Begeisterung, die in Erschöpfung und Muskelschmerzen enden w ü r d e , hatte die meisten Aus siedler gepackt. „Es fehlt nur noch Musik", sagte Kapitän Drinkwater. „Und Bier, ein paar Dirnen und ein
28 fluchender Pfarrer", ergänzte der Erste, dessen Gesicht eine teigige Farbe angenommen hatte. So grau wie er aussah, fühlte er sich. Der Schlaf hatte seine Müdigkeit eher vergrößert, als beseitigt. „Aber mir ist alles recht, wenn es unserem Schiff nutzt, Sir", murmelte er, gähnte und wischte das Wasser aus seinen Augen. „Mir auch. Ich habe Derris befoh len, unter der Wasserlinie alles anzu sehen und abzuklopfen. Der nächste Sturm soll uns nicht unvorbereitet treffen." „Hat er undichte Stellen gefun den?" „Noch nicht. Ich rechne irgendwie damit." „Verstanden, Sir. Ich werde dem Koch ein paar Bissen aus seinen fet ten Rippen leiern." „Ein trefflicher Schluck Wein war tet in meiner Kammer, Lilley." „Gern, Sir." Graham stapfte davon. Er fühlte sich schmutzig. Seine Kleider stan ken nach Schweiß. Er entsann sich seiner Pflichten und redete mit den Frauen und Kranken der Aussiedler. Er streichelte die Köpfe der Kinder und versprach, daß alles getan werde, um möglichst schnell und gera dewegs nach Virginia zu segeln. Das wäre, und da log er nicht einmal, auch sein dringender Wunsch, sein einzi ges Ziel. Er tauchte wieder ab unter Deck und in das System aus Niedergängen, Laderäumen, Decks und Kammern, das jeder Landratte wie ein unver ständliches Labyrinth erscheinen mußte, aus dem niemand flüchten konnte, wenn Wasser ins Schiff drang. Auch die wenigen Besitztümer der Mannschaft und der Passagiere wur
den weniger: am meisten Glück hat ten noch jene Leute gehabt, deren Seekisten außen angebrannt und ruß beschmiert waren. Der Inhalt war meist unversehrt. Aber die vielen Bündel und Packen, Ballen und Säcke hatten gelitten. Alles, was zu entbehren war, flog über Bord. Der frische, kalte Seewind blies ei nen Teil des Geruchs aus den Decken und Kleidern. Genug blieb übrig und würde sich, wenn Luks und Stück pforten geschlossen und festgelascht waren, mit dem Bilgengestank wie der zu einem üblen Brodem vermi schen. Diesmal war es kein Löschwasser, das an Bord gehievt wurde, sondern es gehörte zur Reinigung. Das meiste floß in die Bilge und wurde außer bords gelenzt. Und noch immer leb ten Ratten auf diesem Schiff! Mittlerweile war eine gewaltige Menge Wasser, selbst Regenwasser, binnenschiffs in die Bilgen gesickert, getropft, geronnen und in dicken Strahlen geschüttet worden. Der Steinballast, dessen Zwischen räume von menschlichem Kot und Urin, von Rattenkot Und toten Rat ten, von jeder Art Abfall ausgefüllt waren, wurde schwerer und wieder leichter, als die Bilgepumpe zu lenzen anfing. Gleichzeitig fand eine Art Reini gung statt, die aber nicht viel taugte. Immerhin warf die Lenzpumpe eine große Menge dreckiges Wasser aus, und das Geräusch beruhigte die Aus siedler, da sie es schon kannten und wenigstens jetzt wußten, warum die Seeleute die Pumpe betrieben. „Gut so!" sagte der Schiffszimmer mann, als er die Segelkammer sah. Die Planken glänzten feucht und sauber. Das Segeltuch war auseinan dergezogen und neu zusammengelegt
29 worden. Von der Wuhling war nichts mehr zu sehen, es stapelten sich die Kisten und Bündel der Auswanderer entlang der Planken, von einem straf fen Netzwerk festgezurrt. „Ihr könnt die Leute wieder von Deck herunterholen", ordnete der Erste an. „Sonst tretet ihr euch gegen seitig auf die Füße." „Aye, Sir." Unmittelbar über der Bilge kro chen die Männer, die Derris mit ei nem klaren Auftrag hinunterge schickt hatte, zwischen den schweren Brocken des Ladegutes herum. Jeder Seemann trug eine Tranfunzel mit winziger Flamme. Die Männer such ten die Planken ab, stocherten vor sichtig mit den Messern in die Zwi schenräume und suchten nach Leck stellen. Hier, im schwülen und nassen Halb dunkel, zwischen Bergen von Lasten, Taurollen und Fässern, würde jedes Stück Naßfäule verheerende Folgen haben. Hin und wieder scheuchten die Männer eine Ratte auf. Dann pfiff ein Belegnagel hinunter, oder ein Messer stieß zu. Die Tiere waren verdächtig fett, aber ihre Felle sahen räudig aus und starrten vor Dreck. Derris hangelte sich am Mastschuh des Besans vorbei und sprang unter halb des Kolderstock-Gelenks auf die Planken. „Hier bin ich!" schrie er bugwärts. „Wie geht's den rotten Planken der alten ,Pilgrim'?" Die schweren Fässer, die zwischen dem Durchstieg und dem Spiegel mit mehrfachen Tauschlingen und Rundschlägen belegt waren, standen noch in Reih und Glied im Laderaum unterhalb der Heckculverine. „Nicht sonderlich gut, Derris", tönte hohl die Antwort aus dem dunk
len, niedrigen Schlund. „Kleine Leckagen, und ein paar Nähte wer den bald aufbrechen." „Wir müssen also kalfatern?" „Muß wohl sein." Seine Leute zeichneten die befalle nen Stellen an. Er selbst untersuchte das Holzvwerk zwischen dem Spiegel, den Widerlagern der Ruderzapfen und den Spanten. Die Weger, hier be sonders wuchtige Hölzer, klangen ge wohnt zuverlässig und gesund, die Planken schienen trocken, nicht be fallen, und auch die Fugen waren dicht geblieben. Die winzige Tran flamme, zuckend und knisternd, be leuchtete das alte, rissige Holz, die bronzenen Nägelköpfe und die trä nenartig heruntergetropften Fäden der Kalfaterung. „Also", brummte der Schiffszim mermann im Selbstgespräch, „hier achtern kommt nicht ein Tropfen durch." Derris war beruhigt. Als er nach einander die kleinen Lecks begutach tete, mußte er einsehen, daß in den nächsten Wachen viel Arbeit auf ihn und seine Leute wartete. „Sucht Plankenstücke zusammen, macht einen Teil des Decks frei", wies er die Seeleute an, „und dann geht es los. Vor dem nächsten Sturm müssen wir die größten Arbeiten hin ter uns gebracht haben. Sonst schlägt das Schiff leck. Und dann . . . " Er fuhr mit der flachen Hand über seine Unterlippe. Jeder verstand die Geste. Der Schiffszimmermann schloß: „Es ist keine Eile. Aber der Sturm wird nicht auf uns warten. Ich rede mit dem Kapitän, klar?" „Wir fangen schon an, Derris." Der Schiffszimmermann enterte an Deck, fragte nach Drinkwater und klopfte schließlich an die Tür des
30 Kartenraumes. Er berichtete, was er und sein Team festgestellt hatten. Kapitän Drinkwater überlegte nicht lange. Er warf einen Blick zur Decke, als bäte er den Himmel um Hilfe. „Tu dein Bestes, Derris. Die Leute müssen abgelenkt werden." „Verstehe. Sorgen, Sir?" „Mehr als genug", antwortete Drinkwater. „Du weißt selbst, wie es unter Deck aussieht. In jeder Bezie hung." „Nicht besonders gut, Sir", sagte Derris und hob die Schultern. Ei nerseits war der Zimmermann froh, etwas tun zu können, von dem er überzeugt war, andererseits fragte er sich im stillen, wie lange diese Fahrt noch dauerte, und wann der Punkt überschritten war, an dem jeder Zwi schenfall die schlimmste und endgül tige Katastrophe auslösen würde. Er brummte: „Wir kriegen das schon wieder hin, Sir." „Damit rechne ich, Derris", sagte der Kapitän. „Aye, Sir." Der Kapitän oder ein Offizier würde dafür sorgen, daß sich der Koch nicht sträubte, wenn die Man nen den stinkenden Brei zum Kalfa tern in der Kombüse erhitzten. Und die Auswanderer verstanden ohnehin nichts davon.
Ed Cornhill stammte aus Londons Vorort Limehouse. Sieben Jahre lang hatten er und Claire geschuftet, ge darbt und gespart. Zwei Kinder wa ren kurz nach der Geburt gestorben. Ed war Feinschmied, darüber hinaus beherrschte er viele andere Arbeiten, die zu einem guten Leben in der Kolo nie führen konnten. Davon war er überzeugt, dafür hatten Cilire und er
sich jeden Bissen vom Mund abge spart. Jetzt war alles vorbei. Der Traum vom bescheidenen Glück in der guten Luft des fremden Landes, in sauberer Natur und einer paradiesischen Welt, in der nicht alles nach Staub, Ruß und Schlacke roch und schmeckte, dieser Traum war endgültig zerbro chen. Claire war ertrunken. Tot. Von den Haien zerstückelt. Er war allein zu rückgeblieben. Feuer an Bord, Flammen, Rauch. Ed wußte, daß sie aus Angst vor dem Feuer keinen anderen Ausweg mehr gefunden hatte, als sich ins Wasser zu stürzen. Ihr hatten die Segel der Sche becke gereicht. Dort war sie sicher vor den Flammen. Immer hatte sie sich vor Feuer und Brand gefürchtet. Es dauerte länger als einen halben Tag, bis Ed aus der dumpfen Betäu bung erwachte. Als sich die Schebecke der See wölfe gegen Mittag an die „Pilgrim" heranschob und die beiden Aussied ler wieder an Bord genommen wur den, schrie Ed seine verzweifelten Fragen hinüber zu Kapitän Killi grew. Was er geahnt hatte, traf zu. Der einsame alte Mann und die junge Frau - seine Claire - waren er trunken. Trotz langer Suche hatte keiner der Seewölfe etwas von ihnen gesehen. Spurlos verschwunden, ohne Schrei, ohne sich gegen die Wel len zu wehren. Claire hatte nicht schwimmen können. Auch das wußte er. Mit brennenden Augen starrte Ed Cornhill der Schebecke hinterher. Als die dreieckigen Segel so winzig klein geworden waren, daß sie mit der Kimm verschwammen, riß sich Ed aus seinem schwarzen Kummer.
31 Er vergaß seinen Durst und den knurrenden Magen. Sein Nachbar blickte ihm seit Mi nuten ruhig ins Gesicht. Ed hatte nicht darauf geachtet. Er hob seine Hände und schaute sie an, als sehe er sie heute zum erstenmal wirklich. Sie waren noch rußig, obwohl er sie im Seewasser mehrmals gewaschen hatte. „Ich bringe ihn um", sagte Ed un vermittelt. „Wen willst du umbringen?" fragte Will. Seit sie sich am Themsekai ken nengelernt hatten, waren sie meist zu sammengeblieben. Auch Will hatte eine junge und hübsche Frau. Sie lebte noch, vorn, im dritten Deck knapp hinter dem Bug, wo sich auch die Comhills aufgehalten hatten. „Den Schuft, diesen Hund, der das Feuer gelegt hat." Will schüttelte den Kopf und legte Ed die Hand auf die Schulter. Das schmale Gesicht des Londoners, das deutlich die jahrelangen Entbehrun gen zeigte, zuckte unbeherrscht. Der struppige Bart des kleinen Metallar beiters war nicht weniger rußig und versengt als seine Finger. „Niemand hat das Feuer gelegt, Ed", widersprach er und schüttelte den hageren Mann mit den dunklen, brennenden Augen. „Nein? Und warum hat das halbe Schiff gebrannt? Warum haben wir gelöscht und dann den Ruß und die Asche weggeputzt?" Will stöhnte und redete eindring lich auf seinen Nachbarn ein. „Dem Schiff ist nicht wirklich etwas pas siert. Das weißt du doch selber, Ed. Ein paar von uns haben diese ver dammten Ratten ausräuchern wol len. Und da ist der Kessel umgefallen. Das hast du doch auch gehört. Oder nicht?"
„Und wer hat den Kessel umgewor fen?" flüsterte Ed heiser. Er zuckte wie im Fieber. „Dieses Schwein Ble witt war es, sage ich dir." Die beiden Männer, etwa gleich alt, standen auf der Kuhl und klammer ten sich am Schanzkleid fest. Im Rhythmus der Schiffsbewegungen er tönten die vielfältigen Geräusche des Geschirrs über ihren Köpfen. Seit dem Ablegen hatte diese Vielfalt un bekannten Lärm für Ed nichts von ih rer Drohung verloren. „Freddy Blewitt war dabei, rich tig", entgegnete Will. „Aber er hat doch das Schiff nicht niederbrennen wollen." Ed schüttelte hartnäckig den Kopf. „Blewitt ist schuld. Er hat Claire ins Wasser getrieben. Ich hätte ihr helfen müssen, Will." „Sie ist selbst an Deck geklettert. Du hast den Seeleuten geholfen. Nie mand ist schuld, begreif das endlich." Ed Cornhill starrte Will schwei gend an. Seine Finger zitterten, er at mete schwer. Seit der Mann die Wahrheit von einem der Seewölfe er fahren hatte, war er wie verwandelt. Will merkte, daß Ed an ihm vorbei blickte, über seine Schulter hinweg irgendwo aufs Meer hinaus. Langsam begriff er, daß sein jetzt so seltsamer Freund im Begriff war, die Wahrheit zu verbiegen. Er wollte, daß ein ein zelner Mann am Tod der geliebten Claire schuld war. „Blewitt ist schuld!" beharrte Ed keuchend. „Er weiß nicht einmal, daß Claire . . . Ich meine, er kennt deine Frau überhaupt nicht, Ed. Ich kenne Freddy. Er ist ein guter Kerl. Er hat am meisten Wasser geschleppt, als es brannte", beschwor Will den verzwei felten Mann mit dem wirren schwar
32 zen Haar und den hängenden Schul tern. „Er hat Claire ins Wasser getrie ben, dieser Verbrecher", sagte Ed mit heiserer Stimme. „Und ich werde ihn dafür erwürgen." „Vorher melde ich dich dem Kapi tän", entgegnete Will mit Bestimmt heit. „Du machst dich noch unglückli cher. Du wirst doch nicht zum Mör der werden wollen." „Ich bringe Freddy Blewitt um", knurrte Ed Cornhill. Er schüttelte sich und streifte die Hände des ande ren von seinen Oberarmen. „Ich halte es nicht aus, wenn dieser Schuft lebt." Will mußte einsehen, daß sich Cornhill von ihm weder beruhigen noch umstimmen ließ. Er hob ratlos die Schultern und fragte sich, was er noch tun konnte, um den Londoner von seinem mörderischen Vorhaben abzubringen. Daß er Freddy Blewitt kannte, war einigermaßen übertrie ben. Aber er hatte mehrmals mit ihm gesprochen. Blewitt, ein Holzarbeiter und La stenträger aus den Docks, war einen Kopf größer als der schmächtige Cornhill, mit einem Kreuz, das fast doppelt so breit war. Er würde den Kleinen mit einem einzigen Hieb von den Planken fegen. „Wenn du Blewitt angreifst, er schlägt er dich", sagte er warnend. „Er ist zwar gutmütig, aber wenn du ihn als Mörder bezeichnest, verliert er die Ruhe. Mit einem Schlag erle digt er dich, Ed." „Ich bringe ihn um", wiederholte Cornhill stur. „Du weißt nicht einmal, wo er schläft", wandte Will ein. „Hör mit solchen Reden auf. Du versündigst dich, Eddy." „Mir egal. Claire ist jämmerlich er
trunken. Meine Claire ...", keuchte Cornhill. Er senkte den Kopf und schaute auf seine Schuhspitzen. Zwei Seeleute, die an einer Talje hantier ten, warfen verwunderte Blicke her über. „Von einem Mord, den du ver suchst, wird sie nicht wieder leben dig. Sieh das doch endlich ein, du ver rückter Kupferschmied", beschwor ihn Will, innerlich ebenso verzwei felt. Er mochte den Kleinen, und er konnte sich vorstellen, daß der Kapi tän jeden Versuch Cornhills, sich an einem Unschuldigen zu vergreifen, mit strengsten Strafen ahnden mußte, um zu beweisen, wer das Sa gen an Bord hatte. „Ich halte das nicht mehr aus", murmelte Ed. „Ich kann nicht schla fen. Immer muß ich an Claire den ken." In seinen Augen standen Tränen". Er wischte sie mit dem rußigen Är mel weg. Dann stieß er sich vom Schanzkleid ab und schwankte, als wäre er betrunken, auf den Nieder gang zu. Will starrte ihm hinterher und sagte sich, daß es unter Deck ge nügend Männer gab, die den halbver rückten Limehouser vor einer Wahn sinnstat zurückhalten würden. Vielleicht packte Cornhill die Mü digkeit und ließ ihn schlafen. Der Tag war lang und voller harter Arbeit ge wesen. Will holte tief Atem und schaute über die endlose See. Auch für ihn war es eine fremde, verwirrende und angsterzeugende Welt. Aber er sagte sich, daß auch diese schlimme Erfah rung ein Ende haben würde. Dieses Ende rückte mit jedem Tag näher. Früher oder später würden sie mit dem Boot hinüberrudern an ein Ufer, an dem andere Engländer nach den
Den folgenden Brief erhielten wir von H K , straße 4, 6414 Hil ders . Er schreibt: Hallo! Ich bin ein großer Fan der „Seewöl fe". Ich kaufe mir seit einiger Zeit jede Wo che das neueste Heft. Vor kurzem habe ich Ihre Anzeige gelesen, in der Sie vier Sam melbände zum Preis von DM 31,80 anbieten. Daraufhin habe ich meine Schwester ge fragt, ob sie mir diese Bände zu Weihnach ten schenken will. Sie willigte sofort ein und bestellte die Bücher. Meine Schwester hat sie inzwischen auch erhalten. Nun habe ich erfahren, daß in diesen Bü chern Howard Bonty die Hauptperson spielt (und daß es Restbestände sind). Lei der habe ich nur acht Taschenbücher dieser Serie (die Geschichten sind wirklich das Be ste, was ich je gelesen habe). Leider sind die Bücher ja vergriffen. Deshalb möchte ich fragen, ob Sie nicht noch einmal alle Taschenbücher in einer Zweit auflage veröffentlichen könnten oder alle 57 Bände in Sammelromanen (3 Stück). Das beste wäre ja, wenn die Serie fortgesetzt werden könnte (warum wurde denn über haupt aufgehört?). Wenn ich in den Seewölfe-Heften das Forum lese, dann merke ich, daß sehr viele Leser auch meiner Meinung sind. Wenn einer der drei obengenannten Punkte sich verwirkli chen ließe, dann könntet Ihr das doch in den Seewölfe-Heften ankündigen (damit ich es nicht verschlafe). Ich finde zwar Hasard und die Arwenacks sehr gut, doch sind sie kein richtiger Ersatz für Howard Bonty und Jonny. Ich würde mich riesig freuen, wenn Sie mir auf meinen Brief antworten würden. Mit freundlichen Größen - H K PS: Gibt es auch Aufkleber von den Seewöl fen oder andere Artikel? Bitte lassen Sie Bonty und Jonny nicht sterben.
Herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr K Genau an dieser Stelle ha ben wir bereits einige Male auf ähnliche Fragen, wie sie von Ihnen gestellt wurden, geantwortet. Die Bonty-Serie einzustellen war eine Entscheidung der Verlagsleitung, die kaufmännisch nüchtern und sachlich feststellen mußte, daß der Umsatz von Ta schenbüchern auf dem Markt stetig zu rückging. Das ist nicht nur eine Beobach tung unseres Verlages, sondern diese Ten denz wurde auch von anderen Verlagen die ser Branche bemerkt - und man reagierte dort genauso. Kein Verlag kann es sich lei sten, Verlagsobjekte zu produzieren und sie dann in den Regalen verstauben zu las sen. So müssen eben dann - bedauerlich ge nug - solche Entscheidungen getroffen werden. Man kann darüber spekulieren, warum die Situation auf dem Taschenbuchmarkt so ist. Man könnte vermuten, daß der Markt zu vollgestopft ist. Man könnte aber auch ver muten, daß die „Leselust" nachgelassen hat. Eine dritte Vermutung lautet, daß das Geld knapper geworden ist: Der Leser gibt nicht mehr soviel Geld für Lektüre aus wie noch vor zwei oder drei Jahren. Unsere persönliche Vermutung - darüber müßten Umfragen erstellt werden - zielt auf den Verdacht, daß die „Glotzsucht" die „Lesesucht" abzulösen beginnt. Es ist ja auch bequemer, sich ohne eigene Anstren gung von der Mattscheibe berieseln zu las sen, statt sich der „Mühe" des Lesens zu un terziehen. Wenn diese Vermutung stimmen sollte - und dies scheint leider der Fall zu sein -, dann gehen wir trüben Zeiten entge gen, trüben insofern, als erwiesen ist, daß das tägliche Glotzen auf die Mattscheibe nicht gerade befruchtend auf den mensch lichen Geist wirkt. Möglicherweise stehen wir auf verlorenem Posten! Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern verschiedene Beiboote sowie deren Zubehör vor, und zwar um die Zeit der Jahrhundertwende, wobei zu bemerken ist, daß sich die äußere Form der Beiboote im Verlauf der Jahrhunderte kaum änderte. Ganz allgemein war und ist jedes größere Schiff mit einer Anzahl von Booten ausgerü stet, die verschiedenen Anforderungen dienen: dem Verkehr der Besatzung mit dem Land oder mit anderen Schiffen, der Beschaffung von Material, Wasser, Proviant usw., dem Ausfahren von Trossen und Ankern, dem Auffischen über Bord gefallener Men schen oder Gegenstände, der Ausbildung der Mannschaft im Rudern und Segeln, als Rettungsmittel für die Besatzung bei Schiffsunfällen, bei Landungszwecken, dem Einund Ausschiffen des Landungskorps, dem Ausloten unbekannter Gewässer, der Her stellung von Sperren und was der Dinge mehr sind. Das meiste der aufgeführten Anfor derungen besorgen in der heutigen Zeit Beiboote mit Außenbordmotor. Ein eigent licher Bootsdienst mit Segeln und Pullen wird wohl nur noch von den Kriegsmarinen durchgeführt. Die Beiboote der Segelschiffszeit mußten robust, gleichzeitig aber auch möglichst leicht sein, um sie ohne große Mühe aus- und einsetzen, pullen und segeln zu können. Die Buchstaben und Zahlen bedeuten: A ist ein Großboot oder eine sogenannte Barkasse, die bis zu 18 Riemen haben konnte (hier sind es nur 8) und dann 14 m lang und 3,60 m breit war. Sie diente meist dem Pendelverkehr zwischen Schiff und Land. 1 sind die Ruderduchten oder Ruderbänke, 2 die Ruderdollen, die als Widerlager der Riemen dienten. B ist ein Kutter oder eine Pinasse, die bis zu 12 Riemen haben konnte (sechs auf jeder Seite) und dann eine Länge von 11 m und eine Breite von 2,95 m hatte. Sie ist also bedeutend schmaler als die Barkasse. 1 sind wieder die Ruderduchten, wobei die zweite Ducht vorn die Segelducht ist; durch das Loch in der Ducht wird ein Pfahlmast gesteckt, der meist mit einem Gaffelsegel geriggt wurde. 2 sind die Rundseln,-in denen die Riemen geführt werden. Bei Nichtbenutzung werden sie mit dem Rundselbrettchen verschlos sen. C ist ein Rettungsboot, das schlanker und eleganter als Barkasse und Pinasse gebaut ist - dem Zweck entsprechend, schnell Hilfe zu leisten, wenn jemand über Bord gegangen ist. 1 sind wieder die Ruderduchten, 2 die Rudergabeln und 3 die Luftkästen, die dem Boot im Kenterfall Auftrieb verleihen. D ist eine sogenannte Gig, die meist dem Kapitän oder Kommandanten vorbehalten blieb. Sie wurde von der Gig-Crew besonders gepflegt und war im gewissen Sinne die Visitenkarte des Kapitäns. E ist ein Bootsriemen, F ein Bootshaken und G eine Ruderpinne, die über den Kopf von H, dem Ruderblatt, geschoben wird. I stellt eine sogenannte Bootsklampe mit K, dem Bootsklampenständer, dar. Auf den Bootsklampen ruhen die Beiboote an Bord. Ihr oberes Profil ist der Rumpfrundung angepaßt. L ist noch einmal eine Rudergabel, Dolle oder Szepter, M eine Öskelle zum Ausösen von Bilgewasser, und N stellt ein Ruderjoch mit Steuerleinen dar, eine Vorrichtung, die später von Sportruderbooten zum Steuern übernommen wurde. Üblicher war zum Steuern eines Beiboots die Ruder pinne (G). O ist ein Bootskrabber, auch Dollbordklau oder Kettenstander genannt. Mit ihm werden die Beiboote bei schwerem Wetter fester verzurrt, wobei der Haken über den Dollbord greift. In der Mitte befindet sich ein Sliphaken, mit dem der Kettenstander schnell losgeworfen werden kann.
37 Schiffen erwartungsvoll Ausschau hielten. Die einen sprachen von zehn Tagen. Andere meinten, bei diesem Wind würde es nur noch fünf Tage dauern. Die Seeleute schüttelten vielsagend ihre Köpfe und zuckten mit den Schultern. Die meisten antworteten, daß es wohl noch länger dauern würde. Er drehte den Kopf und suchte zwi schen den vielen Mannen, die an Deck hantierten, nach der Gestalt des Ersten Offiziers. Zu ihm hatten,die Passagiere das meiste Vertrauen. Aber Graham Lilley saß vermut lich mit dem Kapitän zusammen, oder er versuchte, trotz des Häm merns und Klopfens zu schlafen. Seit Mittag hantierten die Leute, die der Schiffszimmermann eingeteilt hatte, irgendwo in den nassen Tiefen der „Pilgrim". Zwei Stunden noch. Dann war die Sonne, die sich jetzt hinter den grauen Wolken versteckte, unter den Horizont getaucht. Wieder würde nur Finsternis die einsamen Schiffe umgeben. Will Horne schüt telte sich, er war wirklich nicht für ein Leben auf dem Meer geboren. Noch eine gewisse Zeit, und er würde anfangen, jeden weiteren Tag zu ver fluchen. Er hoffte, daß es heute noch etwas zu essen gab. Vielleicht war es sogar genießbar. Ein paar Tage. Hungern konnten niemandem schaden, aber eine düstere Eingebung sagte ihm, daß Wassermangel ebenso schlimm und tödlich sein konnte wie ein Brand an Bord. Er blickte lange zu der Galeone, die er an Steuerbord voraus undeutlich erkennen konnte. Dann folgte er Ed Cornhill unter Deck und streckte sich
auf den feuchten, nach kaltem Rauch stinkenden Decken aus.
Hasard junior hörte plötzlich auf, Plymmie am Nackenfell zu kraulen. Die Wolfshündin riß protestierend den Rachen auf und plierte ihn an. Er merkte es nicht oder tat wenigstens so, als hätte er etwas Wichtigeres zu tun. Während Plyrnmie leise jaulte, er klärte er: „Ich wüßte schon, was ich sagen würde, wenn ich bei einer gu ten Fee einen Wunsch frei hätte." „Ich kann's mir denken", gab Old Donegal zurück. „Eine Rothaarige aus Irland, die dich anhimmelt, nicht wahr?" „Falsch geraten, Grandad", sagte Hasard lachend. „Ausnahmsweise et was ganz anderes." „Aha. Das ist neu. Was soll's denn diesmal sein, Söhnchen?" Der junge Seewolf deutete kurz in die Richtung der Galeonen. Dann sagte er voller Ernst: „Ich wünsche mir und allen anderen, daß wir bald die Küste sehen. Ich denke mir vieles. Das meiste davon gefällt mir nicht. Dir würde es auch nicht gefallen." „Zum Beispiel?" „Diese armen Passagiere, Auswan derer, Pilger, oder wie du sie sonst nennen willst. Sie haben sich eine Seereise auch anders vorgestellt. Je denfalls ohne Durst, Hunger und Feuer im Schiff. Von Ratten und an deren Schädlingen ganz abgesehen. Oder möchtest du etwa auf einer Ga leone nach Virginia reisen?" „Lieber schwimme ich der Sche becke hinterher", sagte der „Admi ral" überzeugt. „Und dazu kommen noch die Rabauken mit ihrer Kara velle."
38 „Ganz recht. Immerhin geht's den Auswanderern auf der ,Discoverer' nicht mehr ganz so schlecht." „Der Unterschied wird nicht allzu groß sein." Granville war in der Vorpiek ein gesperrt. Die drei ehrenwerten Gent lemen hatten in den vergangenen Stunden ihrem Unmut nicht nennens wert nachgegeben. Auch sie schienen verstanden zu haben, daß Kapitän Killigrew keinen Spaß verstand. Aber es gab keinen an Bord der Sche becke, der von diesem Frieden über zeugt war. „Dan sagt, daß wir vielleicht erst Ende Juli Virginia erreichen", er klärte Old Donegal schulterzuckend. „Ich halte das durchaus für möglich. Wir brauchen bloß in eine Windstille zu geraten. Oder der Nebel führt uns in die Irre." „Oder ein Schwarm Seejungfrauen veranstaltet Jagd auf dich, Gran dad", scherzte Hasard. „Du hast recht. Die einzigen, die es gut überste hen können, sind vermutlich wir." Kapitän Drinkwater hatte glaub haft versichert, mit den Brandschä den ohne fremde Hilfe fertigzuwer den. Die Gesichter der Auswanderer, die nach den Überlebenden gefragt hatten und erfahren mußten, daß nur zwei Passagiere gerettet worden wa ren, würde keiner so schnell verges sen. Der nasse Tod rief mehr Entsetzen hervor als jede andere Art des Ster bens. So stellte es sich jedenfalls den Seewölfen dar. Sie hatten mitgehol fen, die beiden Auswanderer an dün nen Leinen gesichert, an der Bord wand über die Jakobsleiter wieder zur „Pilgrim" hinüberzuhieven. „Wir haben schließlich auch keinen Kapitän, der verdorbenen Proviant einkauft."
„Ich ahne, daß wir den Landratten etwas davon abgeben müssen, wenn es noch lange dauert", erwiderte Ha sard seinem Großvater. „Es wäre wirklich besser, wenn wir endlich Land voraus sichten würden." Das verwitterte Gesicht Old Done gals drückte die gleichen Sorgen aus wie der Junge. Sie hockten nebeneinander auf der Kuhl und lehnten sich gegen das Schanzkleid. Die Schebecke segelte verhältnismäßig ruhig mit raumem Wind. Die Karavelle hatte während der letzten Stunden, auf anderem Kurs fahrend, ein wenig aufgeholt und befand sich in weitem Abstand, aber gleichauf mit der „Pilgrim". Je des Manöver wurde von den Seewöl fen mit äußerstem Mißtrauen beob achtet. „Nein. Mit Proviant, Wasser und Krankheiten haben wir zum Glück keine Sorgen", sagte Old Donegal nach einer Weile und zog mit der Hand sein Holzbein über die Planken. „Sorgen kriegen wir, glaube ich, mit den anderen Schiffen." „Mit den Schiffen oder den Passa gieren?" „Beides, Söhnchen, beides", erwi derte der Alte. Obwohl er weder Tod noch Teufel fürchtete, erkannte er die Sorgen und Gefahren, die auf den überladenen Schiffen herrschten. Es war immer und überall das gleiche: von zehn Auswanderern erreichten sieben oder acht lebend das Ziel, auch wenn man alle Erzählungen aus langen Jahren zusammenrechnete. Auf die ser langen Fahrt würde es nicht an ders sein. „Merkwürdig. Ich halte nicht jeden Kapitän für einen Schurken wie Granville. Aber sie begehen alle die gleichen Fehler. Wenn wir so verfah
39 ren würden, wären wir alle längst tot. Verdurstet, an allen möglichen Krankheiten gestorben, verhun gert . . . " „Bei meiner lieben Mary Snuggle mouse!" Der rauhbeinige Vater Dan O'Flynns stimmte ein krächzendes Gelächter an. „Laß das deinen Dad nicht hören. Und schon gar nicht den Kutscher oder unseren griesgrämi gen Mac. Sie würden dich zu den See jungfrauen befördern." Natürlich verstand Hasard junior, was Grandad meinte. Äußerste Sau berkeit, eher doppelt so viele Vorräte, wie sie wirklich brauchten, saubere Fässer und die Sorgfalt ihrer Köche, das hielt sie gesund und kräftig. Nicht nur die Vielfalt der geräucher ten, gepökelten, eingelegten und sorg fältig gelagerten Nahrungsmittel hielten die Crew gesund und in bester Laune und Verfassung, sondern auch die ärztliche Kunst und dazu die teu ren Medikamente des Kutschers. „Wir sind schon weit besser dran", meinte Hasard und hob den Kopf. Auf dem Grätingsdeck erschien Al Conroy, peilte über den Rand des Schanzkleides und zuckte zusammen. Sein nächster Blick galt den Culveri nen, die unter der trockenen Segel tuchbespannung steckten. „Noch nicht so weit, Al!" rief Ha sard. Der Stückmeister hatte stets, wenn er die Karavelle sah, einen ausgespro chen gierigen Blick. Auch jetzt, in der ersten Abenddämmerung, war das Funkeln seiner Augen deutlich zu er kennen. „Sie trauen sich nicht an uns heran, diese Hundesöhne", sagte Al fast ent täuscht, trat näher und setzte sich ne ben Old Donegal. „Aber der ,Pilgrim' sind sie verdächtig auf den Pelz ge rückt."
Daß die Kerle auf dem kleinen Schiff nichts Gutes im Schilde führ ten, war jedem an Bord klar. Wahr scheinlich verrechneten sie sich, denn bei den Auswanderern war vermut lich ebensowenig zu holen wie bei den Seeleuten der drei Galeonen. Bill tauchte an Deck auf und zün dete die Dochte der beiden Laternen an. „Ich rate denen nicht, unsere Bord wand genauer anzusehen", sagte Al Conroy grimmig. „Meine Culverinen sind schnell schußklar, und unter Deck liegen die Drehbassen bereit." Ein Nachmittag ohne aufregende Ereignisse lag hinter der Seewölfe crew. Nachdem sie bei der „Pilgrim" längsseits gegangen waren, herrschte wieder der normale Alltag an Bord. Mac O'Higgins hatte zwei fast arm lange Fische gefangen und an Deck ausgenommen. Obwohl Mac Pellew alles andere als begeistert davon war, versprach er, sein Bestes zu tun. Also gab es heute frischen Fisch zum Wachwech sel. Dan O'Flynn arbeitete mit seinen Karten, Hasard hatte sich in seine Kammer zurückgezogen, und die Freiwache schlief oder knüpfte Fan cywork. „Und weil wir schon von bösen Ahnungen sprechen", erwiderte der „Admiral" dem Stückmeister, „trifft's auch dich. Wir sind sicher, daß du deine Culverinchen noch be nutzen wirst." Conroy grinste breit und ballte die Hand zur Faust. Er winkte zur Kara velle hinüber. „Das ist so sicher wie morgen früh der Sonnenaufgang", sagte er. Er fand diese Aussicht völlig in Ord nung. „Nicht, daß ich unbedingt auf die Karavelle feuern möchte. Aber in
40 einem solchen Fall habe ich mich noch nie wirklich getäuscht." „Mit dieser Vermutung, lieber Mei ster der Lunte, bist du hier an Bord keineswegs allein", bestätigte Hasard junior. Viele kleine Gefahren, viele ein zelne Beobachtungen, die lange Er fahrung der Seewölfe und die Ge setze der See - alles zusammen ergab wiederum ein Bild, das keinem See wolf fremd war. An einem bestimm ten Punkt der langen Fahrt wür den sich die Ereignisse überschla gen. Sturm, Schiffbruch, Überfall und Geschützdonner. Alles war möglich, manches traf ein. Die Seewölfe dach ten an ihr Glück und ihre Tüchtigkeit und waren überzeugt, zu überleben, was immer auch passierte. Schließ lich waren sie immer in der Lage ge wesen, dem Teufel den Schwanz ab zusegeln. „Lassen wir die verdammte Kara velle, wo sie ist", schlug Hasard ju nior vor und zog sich hoch. Schwanz wedelnd sprang Plymmie auf die Bei ne. „Und klauen wir dem Kutscher den Fisch aus der Pfanne." „Aye, Sir", meinte Conroy. „Trotz dem sollten wir ganz genau peilen, plieren und aufpassen. Für meinen Geschmack sind die Affenärsche zu nahe an Drinkwaters Galeone." „Wir merken es zuerst", sagte Old Donegal, ließ sich von Hasard hochziehen und stampfte mit dem Holzbein auf die Planken. „Wer sonst?" Sie verschwanden unter Deck, ge folgt von der Bordhündin. Kurze Zeit später gab es unter Deck Gelächter, Flüche und ein Geräusch, das klang, als würde ein mittelgroßer Gong ge schlagen.
3.
Drei Stunden vor Mitternacht öff nete Graham Lilley die Tür der Offi zierskammer. Er gähnte, legte die Hände in den Nacken und spannte seine Muskeln. Ohne Eile bewegte er sich am Rudergänger vorbei, kontrol lierte die Anzeige des Kompasses und wechselte mit dem graubärtigen Mann am Kolderstock einige Worte. „Es ist ruhig im Schiff, Sir", sagte der Bootsmann. „Nur die Zimmer leute kratzen noch da unten am Kiel herum." „Genau das sollten sie auch tun", pflichtete ihm der Erste bei. „Gibt es sonst etwas? Ärger? Gute Nachrich ten?" „Die Passagiere meckern. Das Es sen paßt ihnen nicht." Graham Lilley dachte an das Ta blett, das ihm aus der Kombüse her aufgebracht worden war. Das Essen stand noch unberührt auf dem Klapp tisch. Er hatte nur einen kräftigen Schluck Wein genommen. „Es wird auch niemand behaupten, daß die gute alte ,Pilgrim' eine schwimmende Schenke sei." Der Rudergänger antwortete mit ei nem wiehernden Gelächter. Der Erste nickte nur, schaute sich schweigend um und enterte dann zur Kuhl ab. Die Segelwache war an Deck, die Männer erwiderten schwei gend den reichlich knappen Gruß des Ersten, nicht mehr als ein kurzes Kopfnicken. Hinter seinem Rücken flüsterten sie miteinander. Am Groß mast, nach achtern blickend, lehnte eine Gestalt. Lilley trat näher. Unter einem dicken Schal, der Schultern und Kopf halb bedeckte, blickten ihm große Augen entgegen. „Sie sind der Erste Offizier, nicht wahr? Graham Lilley?" flüsterte eine
41 heisere Stimme. Er ging drei weitere Schritte auf die Unbekannte zu und erkannte, daß sie nicht sehr alt sein konnte. „Richtig. Ich bin Lilley. Was kann ich für dich tun?" Ohne Eile drehte er den Kopf und sah, daß sie fast allein hier waren. Die Männer standen so weit entfernt, daß sie nicht verstanden, was gespro chen wurde. „Ich habe Hunger, Sir." „Aber - es hat doch für alle etwas gegeben? Der Koch und eure Frauen tun, was sie können. Hast du nichts empfangen?" „Viel zu wenig. Seit Tagen. Das Wasser schmeckt nicht, es stinkt wie verfault." Lilley schüttelte den Kopf. Ein Se gel killte kurz, Lichtschein fiel auf den Großmast und Lilleys Gegen über. „Es soll an jeden die gleiche Menge ausgegeben werden", wich der Erste aus und dachte zum zweitenmal an das Essen in seiner Kabine. „Ich habe auch noch nichts gegessen, meine Kleine." „Was soll ich tun? Den Koch über fallen, dieses dicke Scheusal?" rief die junge Frau unterdrückt. Sie packte seine Hand und preßte sie ge gen ihren Magen. „Fühlen Sie, wie er knurrt und gur gelt? Das ist Hunger, Sir." „Ich weiß", sagte er leise. „Und warum hat man dir nichts gegeben? Oder zu wenig?" „Weil bei uns viele Kranke liegen. Und Kinder. Und die Männer. Sie drängen sich vor." „Und dich drängen sie zur Seite, wie? Würde mir niemals einfallen. Und wenn ich dir einen Bissen schen ken würde? Einen Schluck Wein oder zwei?"
Lilley brauchte nicht lange zu über legen. Er zog seine Hand zurück, nicht ohne sich davon zu überzeugen, daß die Bluse gut gefüllt war. Er ver suchte ein aufmunterndes Lächeln. „In meiner Kammer wartet Essen." „Auf mich? Und Sie haben auch ein gutes Herz? Sie nutzen meine Notlage nicht schamlos aus?" „Wie heißt du eigentlich?" „Molly Langley, Sir." „Wir werden in Ruhe essen und uns überlegen, was wir mit dem Rest der Freiwache anfangen. Und morgen früh gibt's noch einen Happen, Molly. Du befindest dich in bester Gesell schaft." Sie zwinkerte ihn kokett an. Molly war überzeugt, daß sie gewonnen hatte. Die Nacht war lang genug, sagte sich Lilley und wußte, daß er sein Schäferstündchen lang genug ausdehnen würde. Es gab genug Wein für ihn und Molly. Er nahm sie am weichen Oberarm und zog sie lang sam nach achtern, über den Nieder gang und in seine Kammer. Die beiden Tranlampen brannten hell und nahezu ohne zu flackern. Molly stieß einen überraschten Laut aus, als sie die Schalen und Schüsseln sah, das Brot und das faustgroße Stück gesalzener Butter. Noch bevor sie auf der dünn gepolsterten Bank saß, goß ihr Lilley den Becher voll und gab ihn ihr. Molly ließ den dicken Überhang fallen. Lilley sah, daß sie jung, sauber und voller Rundungen war. Eine Frau, die jede Nacht in den Träumen aller Seeleute erschien. Mit drei Schlucken leerte sie den Becher. Ihre Wangen begannen direkt zu strahlen. „Darf ich alles essen?" fragte sie, gierig wie ein Kind. Lilley schloß die Tür und setzte sich neben sie.
42 „Ein paar Bissen will ich auch ha ben", erwiderte er lachend und brach das harte Brot auseinander. Es war nicht verschimmelt, roch aber auch nach kaltem Ruß. Er strich dick But ter darauf und säbelte eine fin gerdicke Scheibe von dem gelben Käse ab. Dann kramte er einen zwei ten Becher hervor und kippte den Weinkrug. „Sie haben mir das Leben gerettet. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ein gutes Essen schmeckt", sagte sie undeutlich. Sie beugte sich vor, um nach dem Becher zu greifen. Mit Vergnügen spähte Lilley in den Ausschnitt der Bluse. Was er sah, freute ihn und er innerte ihn daran, wann er zum letz tenmal eine Frau im Arm gehalten hatte. „Ich weiß aber gerade noch", erwi derte er und hob den Becher, um mit Molly anzustoßen, „wie eine Frau aussieht." „Sehen Sie mich ruhig an. Ich sehe aus wie eine Frau." Er lehnte sich zurück, in den Fin gern das Brot und den Becher. Er sah zu, wie sie mit vollen Backen kaute. Wahrscheinlich hätte sie alles andere mit demselben Appetit verschlungen. Der Hunger war keineswegs vorge täuscht, das wußte er. Nachdem sie die ersten Bissen mit Wein heruntergespült hatte, wech selte Molly die Anrede. Sie deutete auf die schmale Koje und sagte: „Ein schönes Bett, ganz für dich allein, Offizier. Es hat schon seine Vorteile, wenn man kein dum mer Passagier ist, wie?" „Ich würde es von Zeit zu Zeit gern mit dir teilen", erklärte er grinsend. „Bequem genug für zwei ist es." „Weicher als eure knarrenden Plan ken, Graham."
„Wärmer und weicher", stimmte Graham zu und schnitt zwei Scheiben vom Pökelschinken herunter. „Und es gibt keinen, der stören wird." „Du hast eine gemütliche Kam mer", sagte Molly. Sie hatte die ersten Bissen zu schnell heruntergeschlungen. Der erste, würgende Hunger war halb wegs gestillt. Jetzt aß sie bedächtiger und kostete das Essen mit Begeiste rung. Lilley grinste und überließ ihr den Rest des Essens. Aber er sorgte für genügend Wein und füllte die Be cher auf. „Kann nicht klagen. Bei euch unter Deck ist es nicht sonderlich gemüt lich, wie?" Lilley öffnete die große Schnalle und hängte den Gürtel mit der Waffe an einen kunstvoll geschnitzten Holz pflock. „Es ist schlimmer als in den Stra ßen von London", erwiderte Molly kauend und schüttelte sich. „Aber das weißt du selbst." „Weiß ich." Die „Pilgrim" war gut und, den Um ständen entsprechend, auch mit guter Fahrt unterwegs. Das Schiff hob und senkte sich in der Dünung, und die Geräusche der Wellen am Bug und hinter dem Spiegel hatten sich in der letzten Stunde nicht geändert. Viel leicht war ihnen allen wieder einmal eine ruhige Nacht gegönnt. Er allerdings versprach sich von dieser Nacht etwas anderes. Molly putzte das Essen bis auf den letzten Rest weg. Selbst die Krümel und die Butter aß sie auf. Wahr scheinlich sagte sie sich, daß diese einmalige Gelegenheit nie wiederkeh ren würde. Sie beugte sich vor, packte Gra hams Hand und sagte mit auffordern dem Lächeln: „Danke, Offizier. So
43 gut habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Und so reichlich." Er nickte und legte seine Pranke auf ihre Hand. „Und ich habe, bei meiner Seele, seit vielen Wochen keine hübschere Frau gesehen. Hier, trink. Du kannst hierbleiben." „Darf ich?" Molly schien überrascht, aber sie hatte keinen Zweifel, wie die Nacht weitergehen würde. Daß sie für alles bezahlen mußte, hatte sie schon ge wußt, als sie den Offizier am Mast angesprochen hatte. Lilley war ein stattlicher Mann, kein Rohling, und sie nahm jede Möglichkeit wahr, gesund den Strand von Virginia zu erreichen. Fast jedes Mittel war ihr recht. Sie hatte einen schönen Körper und setzte ihn ein, um sich einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Graham Lilley wollte ein Schäfer stündchen, sie hatte ihr Essen - was war falsch daran? „Du darfst", bestätigte Lilley mit einem zufriedenen Grunzen. „Aber du kannst nur bis zum nächsten Gla sen bleiben. Dann muß ich mich wieder um das Schiff kümmern." „Die Zimmerleute arbeiten noch immer", stellte sie fest und blies die Flamme der Funzel aus. Seine Finger tasteten unter dem Stoff über ihre Haut. „Fleißige Leute. Du bist auch ein fleißiger Mann, nicht wahr?" „Ich werde es dir zeigen, mein sattes Schätzchen", sagte er. „Da war tet nicht vielleicht dein Mann auf dich?" Sie schüttelte den Kopf und rutschte näher zu ihm heran. „Nein. Ich bin nicht verheiratet. Meine Eltern schlafen im Vorschiff. Sie werden nicht merken, daß ich fehle." „Nun", er zog sie an sich und fin
gerte an den Knöpfen herum. „Du wirst ja bald zu ihnen zurückgehen." „Nicht so bald." Graham Lilleys Finger fuhren in Mollys Haar. Er suchte ihre Lippen. Sie erwiderte seine Küsse, ihr Körper bog sich seinen suchenden Händen entgegen. Schließlich packte er die Frau und trug sie die wenigen Schritte bis zu seiner Koje. Als sie zu stöhnen anfing, hielt er ihr den Mund zu, denn er glaubte zu wissen, daß der Kapitän über ihm nicht schlief.
Claire streckte die Arme aus. Sie schwamm, bis zur Brust in den ko chenden und gischtenden Wellen, un erreichbar für ihn. Auch er hatte den Arm ausgestreckt und versuchte im mer wieder, ihre Finger zu packen, ihre Hand oder den Arm, um sie herauszuziehen. Sie starrte ihn aus großen Augen an, den Mund zu einem unhörbaren Schrei geöffnet. Dann versank sie langsam, direkt vor seinen Augen, unerreichbar für ihn. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd wachte Ed Cornhill auf. Seine Stirn glühte. Die kleine Flamme der Tranfunzel, die in der Mitte des Laderaumes gleichmäßig hin und her pendelte, drehte in seinen Augen wirre Kreise. Er schaute sich blinzelnd um und keuchte, als er sich aufrichtete und festhielt. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, trotz der Ge räusche, die dumpf aus den Kielräu men heraufschallten und seinen un ruhigen Schlaf begleitet hatten. Um ihn herum lagen die Reihen der Auswanderer. Die meisten schliefen tief oder schnarchten, pfiffen und gurgelten. Es stank nach einer Viel
44 zahl unterschiedlicher Gerüche, und keiner davon war gut. Cornhill stützte sich, kam in die Höhe und rutschte auf den Knien zu dem leidlich freien Mittelgang. Aus dem Halbdunkel hefteten sich einige Augenpaare auf ihn. „Was willst du, Ed?" murmelte eine Männerstimme. „Muß Freddy Blewitt finden", sagte Ed. „Hat das Schiff angezündet, der Hurensohn." „Quatsch. Er ist nicht hier. Irgend wo hinten, achtern." „Claire ist tot", flüsterte Cornhill und richtete sich halb auf. Die Schläfer bewegten sich unru hig. Das Schiff ächzte und knarrte, wie immer, wie in jeder verfluchten Stunde, seit sie an Bord waren. Ein zweiter Mann am Ende der rechten Reihe, halb verdeckt von Mänteln und Gepäckbündeln, richtete sich auf die Ellenbogen auf. „Macht keinen Lärm", brummte er. „Wollt ihr an Deck?" „Kennst du Fred Blewitt?" fragte Ed und zog sich nach dem letzten Stützbalken in die Höhe. Von oben wehte ein frischer Luftzug in den Raum und vermischte sich mit dem ekelhaften Gestank. „Hä?" Cornhill flüsterte eindringlich: „Ob du Blewitt kennst, Freddy Blewitt. Er hat geholfen, die Ratten auszuräu chern. Er hat das Feuer verschuldet." Der Angesprochene tauchte zwi schen den Decken auf und kam auf die Beine. Er ging auf Cornhill zu, aus dessen Augen ein fanatisches Feuer glühte. Seine Hände zitterten, die Hände schlossen und öffneten sichEr schaute sich suchend um, obwohl nur die beiden Männer zu sehen wa ren und sonst nur Schatten, Körper und Planken.
„Du willst an Deck? Ist besser, da gibt's wenigstens frische Luft. Oder was willst du?" „Ich will Blewitt finden", sagte Cornhill scharf. Gierig sog er die Luft ein. Das Essen, das er herunterge würgt hatte, ohne sich um den Ge schmack und das Aussehen zu küm mer, schien seine Kräfte verdoppelt zu haben. Er packte die Männer an den Armen und drängte: „Blewitt. Er hat zwei Menschen umgebracht." „Aber - sie sind freiwillig ins Was ser gesprungen, Ed", sagte der Bär tige, der in seiner Nähe geschlafen hatte. Er drängte die Männer aus dem Laderaum zum Niedergang hinaus. „Aus Angst vor den Flammen", stieß er hervor. Ganz plötzlich er schien aus dem angrenzenden Passa gierraum wieder sein besonnener Freund Will Horne. „Unruhig, Ed?" fragte er. Als er in Cornhills Gesicht blickte, wußte er schlagartig Bescheid. „Nein!" sagte er laut. Aus beiden Laderäumen drangen Flüche. „Ruhe dort draußen, geht an Deck, wenn ihr euch streiten wollt", schimpfte jemand. „Kommt", forderte Cornhill die an deren auf. „Ich muß mit ihm spre chen, versteht ihr?" Will Horne folgte schweigend. Er glaubte Cornhill nicht und hielt ihn durchaus für fähig, sich mit dem kräftigen Blewitt anzulegen. Er mußte versuchen, Cornhill von einer Wahnsinnstat abzuhalten. Auf Ze henspitzen schlichen die Männer wei ter, gähnend und um sich tastend. Kein Crewmitglied hatte sie bisher gesehen oder gar aufgehalten. „Wer weiß, wo Blewitt schläft?" fragte Ed Cornhill unterhalb der Grä ting seine Begleiter. „Achtern", murmelte der Bärtige.
46 In der Düsternis sahen die Männer nicht, wie Cornhill eine Schlinge aus Tauwerk von einem Haken nahm. Sie enterten leise auf und blieben am Fockmast stehen. „Verstehst du, Will", brachte Corn hill halblaut hervor, „ich muß mit dem Kerl sprechen. Ich bin aufge wacht. Claire - ich kann das Bild nicht vergessen." „Schon gut", meinte Horne. „Wir kommen mit. Vielleicht finden wir ihn. Warum, zum Teufel, gerade jetzt und nicht am hellen Tag?" „Es muß jetzt sein. Ich habe sonst keine Ruhe." Sie tappten unsicher einen Nieder gang aufwärts und gingen auf dem obersten Deck auf das schwankende Licht der Hecklaterne zu, das immer wieder von Segeln oder Masten ver deckt wurde. Die Seeleute, die an Deck saßen und nichts zu tun hatten, blickten ihnen schläfrig hinterher. Vor dem letzten Geschütz auf sei ner wuchtigen Lafette hielt die kleine Gruppe wieder an. Will hob fröstelnd die Schultern, zog aus der Nagelbank einen Belegnagel und schob ihn in den breiten Gürtel. „Da unten schläft er", sagte der Bärtige und zeigte mit der ausge streckten Hand auf die Planken. „Und was willst du wirklich von Ble witt?" „Ihn zur Rede stellen, Mann", zisch te Cornhill. „Oder glaubst du, ich will ihn erwürgen? Ins Wasser werfen?" „Erst einmal finden", sagte der Bär tige. Horne sagte sich, daß es auf jeden Fall völlige Narretei war, Blewitt zu wecken, sich mit ihm zu streiten und womöglich ein paar Dutzend Aus wanderer zu wecken. Aber vielleicht würden sie in dem ungewissen Halb dunkel zwischen den Schlafenden
den vermeintlich Schuldigen gar nicht finden. Irgendwie mochte er diesen schmalbrüstigen Mann, der wegen seiner ertrunkenen Frau halb durchgedreht war. Er würde auf ihn aufpassen. „Suchen wir Blewitt", drängte Ed. „Los. Schnell. Hier unten." Noch immer waren die Seeleute nicht aufmerksam geworden. Für die Segelwache handelte es sich um ein paar Auswanderer, die nicht schlafen konnten und an Deck frische Luft schnappen und nach den Sternen se hen wollten. Sie warfen ihnen träge Blicke zu, als sie wieder den achterli chen Niedergang abenterten. Einer nach dem anderen ver schwand auf dem Batteriedeck, und dort schauten sie sich im schwanken den Licht der Funzeln unter den Schlafenden um. Aber nach einer Weile, in der sie einige Leute auf weckten, schüttelte der Bärtige den Kopf. Cornhill bemerkte es nicht. Der andere zog ihn am Ärmel aus dem stickigen Deck und brummelte: „Warum mußt du unbedingt jetzt Un ruhe stiften, Ed? Hör doch mit diesem Unsinn auf." „Geh schlafen", raunte ihm auch Horne zu. „Suche ihn morgen." Cornhill schüttelte nur immer wie der den Kopf, wich der pendelnden Lampe aus und fing seine Suche an. Schließlich, nachdem er drei Frauen und einen Mann geweckt und den Na men Blewitts geflüstert hatte, zeigte einer mit dem Daumen in die tiefste, schwärzeste Ecke der Segelkammer und fluchte. Schließlich sagte er: „Schläft dort hinten. Seid endlich ruhig." Ed Cornhill schluckte, stieß einen schluchzenden Laut aus und kroch auf Knien und Händen in die bezeich nete Ecke.
47 Er rüttelte einen großen, breit schultrigen Mann aus dem tiefsten Schlaf und murmelte ihm ins Ohr: „Sie warten auf dich. Komm sofort hinaus. Du sollst aufs Deck hinaufge hen. Schnell! Es eilt." Blewitt begriff nicht, wer ihn ge weckt hatte. Aber er strampelte sich aus seinem Mantel, stierte Cornhill verständnislos an und benutzte ebenso wie Ed den freien Gang in der Mitte des Decks. Als er endlich, nach vielem Brummen, Knurren und Gäh nen, an Deck stand, holte er ein paar mal tief Luft und griff nach den Tauen, um sich auf den schwanken den Decksplanken festhalten zu kön nen. „Was ist los?" fragte er voller Ver wunderung und starrte verständnis los von einem Gesicht zum anderen. Nichts war klar zu erkennen, aber er spürte offenbar eine bestimmte Gefahr. „Warum hast du das Feuer umge stoßen? Bei der Rattenjagd. Den Kes sel mit den brennenden Lumpen, he?" „Wie? Ich? Feuer?" fragte er un deutlich. Er spuckte aus und schien Cornhill zu erkennen. „Du bist doch der Junge, dem die Frau weggelaufen und über Bord ge sprungen ist. Ah, ich - verstehe." Will Horne packte den Griff des Be legnagels und bereitete sich darauf vor, dazwischenzugehen. Cornhill stand regungslos da. Das aufgeschos sene Ende in seiner Hand schaukelte schwach im Mondlicht. Er schien Ble witt mit seinen Augen durchbohren zu wollen. „Was verstehst du? Du bist daran schuld, Blewitt. Du hast das Feuer ge legt. Das Schiff. Claire." „Ich war es nicht, Frage die ande ren", gab Blewitt dumpf zurück und
ballte die Hände zu Fäusten. „Du mußt verrückt sein. Ich war nicht dort, wo das Feuer ausgebrochen ist." „Du lügst!" Ed wollte schreien, be sann sich aber im letzten Augenblick. „Ich lüge nicht. Ich habe unten Ei mer geschleppt. Das können die ande ren bestätigen. Erkundige dich beim Offizier. Er hat mich gesehen. Zwei mal, dreimal." „Laß Blewitt in Ruhe", riet Will und schob sich zwischen Cornhill und den anderen Mann. Blewitt war nicht zornig, sondern überrascht. Er schien viel zu schläf rig, als daß er überhaupt an Gegen wehr dachte. Die anderen Männer packten Ed Cornhill an den Armen und zogen ihn zur Seite. Horne redete mit Nach druck auf ihn ein. Blewitt hatte noch immer nicht begriffen, daß ihn der andere allen Ernstes als Mörder be zeichnete. „Aber - Claire ist tot", beharrte Ed. „Blewitt ist nicht schuld daran. Mann! Du kostest uns den Schlaf. Wir verstehen, daß du traurig bist, Ed", mischte sich der Bärtige ein. Auch er war es leid, sich herumstrei ten zu müssen. „Gehen wir. Schlafen müssen wir auch, Ed." Cornhill atmete keuchend. Er blickte sich um wie ein gehetztes Tier. Dann schleuderte er Blewitt das Ende vor die Füße. Er drehte sich um und sackte zusammen. Die Männer fingen ihn auf, bevor er zu Boden kippte. Blewitt fragte ratlos: „Was hat er?" Will Horne sagte versöhnlich: „Nichts Besonderes. Er hält dich für den Mörder seiner Frau Claire. Ob du es warst oder nicht - er ist sicher. Aber er ist im Kopf nicht ganz rich tig." „Das habe ich gemerkt", entgegnete
48 Blewitt. „Nichts zu fressen, nichts zu saufen, und dann reißt einen noch solch ein Spinner aus dem einzigen Traum, den unsereins sich leisten kann." Die Männer schleppten Ed Corn hill, der unverständliche Worte lallte und hemmungslos schluchzte, über das halbe Deck und zum Niedergang. Einige Seeleute waren während des Wortwechsels näher herangetreten und schauten dem Abmarsch mit mä ßigem Interesse zu. Sie waren froh, daß sie sich nicht einzumischen brauchten. Schließlich war die Ruhe an Bord wichtig. Es reichte, wenn mehr als acht Dutzend Landratten mit ihrem Gepäck das Schiff verstopften. Minu ten später hörte man nur noch das Ar beiten der Zimmerleute und die ge wohnten Geräusche von Wellen, Ta kelage und Holz verbänden. Ab und zu, wenn die Wolken den bleichen Mond freigaben, schob sich aus der Dunkelheit die unverkenn bare Silhouette der Karavelle hervor. Sie näherte sich der „Pilgrim". 4. Noch vor Sonnenaufgang war Gra ham Lilley wieder auf den Beinen. Der Platz neben ihm war leer. „Habe ich gar nicht bemerkt", sagte er verwundert. Sonst hatte er einen außerordentlich leichten Schlaf. Er zog sich in bedächtiger Gewissenhaf tigkeit an und erinnerte sich jeder Einzelheit der vergangenen Stunden. Molly war eine reine Freude gewesen. Er schloß die Gürtelschnalle und hörte über sich die Schritte des Kapi täns. Er verstaute den zweiten Becher in seiner Seemannskiste. Keiner von
der Crew sollte sich über ihn das Maul zerreißen. Vielleicht hatte die Wache gesehen, wie Molly seine Ka bine verließ. Vielleicht auch nicht. Er würde es am schmierigen Grinsen der Kerle bald merken. Er verließ seine Kammer, enterte auf und war besonders leise. Möglich, daß er einen Seemann schnarchend in einem Winkel fand. Mit den ersten Blicken kontrol lierte er, wie immer, die Segelstel lung. Sie war wie zuvor, also hatte sich an der Windrichtung nichts geän dert. Seine scharfen Ohren fingen ein Geräusch auf, das nicht zu all den an deren paßte: es war ein dunkles Klat schen, unregelmäßig, ein kurzes Knattern eines killenden Segels. Während er mit kleinen Schritten über die Decksplanken ging und im allerersten Grau des Morgens sche menhaft die Karavelle auf gleicher Höhe querab entdeckte, etwa zwei Meilen entfernt, nahm er aus dem Au genwinkel vor der Leinwand des Großsegels einen seltsamen Gegen stand wahr. Er hing dort in Lee des Segels. Je desmal, wenn er gegen die Leinwand schlug, beulte sich das Segel und er zeugte das ungewohnte Geräusch. „Muß ich das wieder zuerst mer ken?" brummte er, ging bis zum Großmast und blickte das Segel von der anderen Seite aus an. „Verfluchte Scheiße", begann er, dann raubte ihm die Überraschung für wenige Augenblicke die Sprache. Er blickte noch einmal genauer hin. Ein menschlicher Körper hing senkrecht am Ende der Rah. Der Schrei des Ersten riß die Segel wache auf die Beine und weckte das halbe Schiff. „Bootsmann! Segelwache! Hier her!"
49 Während von allen Seiten hastige etwas gehört, gesehen oder gemerkt, Schritte zu hören waren, schrie der wie?" Erste noch einmal: „Licht! Fackeln!" „Nein, Sir." Er zeigte zum Großmast. Mochte Die Männer lockerten die Schlinge. der Teufel wissen, wie es der Mann „Wie war das Seil geknotet?" ein Passagier, wie an der Kleidung „Nach Landrattenart, Sir", erwi deutlich zu sehen war - fertigge derte einer von der Crew. „Wir haben bracht hatte, sich dort hinauszuhan kaum ein Auge zugetan, Sir. Aber wir geln, schwankend das Ende zu bele haben wirklich nichts gemerkt. Muß gen und den Kopf in die Schlinge zu höllisch leise gewesen sein. Außer stecken. Graham Lilley vergaß dem gab es vor drei Stunden ein paar schlagartig die prallen Hüften von Kaventsmänner. Und der Lärm vom Molly und ihre weiße, saubere Haut. Zimmermann und seinen . . . " Er ahnte, daß er am anderen Ende „Schon gut. Kapitän Drinkwater des Henkerseils keinen Seemanns wird den Fall untersuchen", erklärte knoten finden würde. Lilley. „Du willst was sagen?" Die Fackelflammen knisterten. Das Ein Mann berichtete, daß eine Licht breitete sich zuckend bis hinauf Gruppe von vier oder fünf Auswan zum Segel aus. derern an Deck gewesen wäre. Die „Aufentern. Bringt den Mann an Männer hätten miteinander geredet, Deck", befahl der Erste. Das war ihm aber sie hätten sich nicht geprügelt, in den vielen Jahren noch nicht pas nicht gestritten, niemand wäre auf siert. Daß ein Mann gehenkt Wurde fällig geworden. Beim geringsten das geschah nicht eben selten. Zwischenfall wären sie dazwi Aber daß sich auf „seinem" Schiff schengegangen. Schließlich wären jemand selbst aufhängte oder von die einen bugwärts davongetaumelt, den anderen aufgeknüpft wurde - un einen kleinen Mann zwischen sich. denkbar, jedenfalls für Lilley. Der andere wäre stehengeblieben. „Aye, Sir", gab ein Decksmann zu „Das war dieser Mann, Sir", sagte rück und schwang sich in die Wanten. der Decksmann und deutete auf die Andere folgten, einer hielt das Mes Leiche. ser in den Zähnen. Eine Leine flog zur „Bist du sicher?" Rah hinauf, und fünf Minuten später „Ja, Sir." lag der Mann an Deck. „Eine reichlich merkwürdige Ange Seine Augen standen weit offen. legenheit", murmelte der Erste nach Die Zunge hing zwischen den Zäh nen, die zu einem falschen Grinsen denklich und tastete die Kleidung des entblößt waren. Die Haut war bläu Toten ab. Schweigend hatte er dem lich angelaufen, der Körper starr wie Bericht zugehört, schweigend stan den jetzt die Männer um ihn herum ein Stück Treibholz. und wußten nicht, was sie unterneh „Wer kennt den Mann?" men sollten. Der Decksmann sprang wieder aufs „Ihr wißt sicher", wandte sich Lil Deck und meldete: „Ich, Sir. Ein Aus ley an seine Leute, „daß dieser Mann wanderer. Ich glaube, er heißt Ble allein zurückgeblieben ist? Die ande witt. Fred Blewitt. Hat fleißig beim ren gingen zum Luk und dann hinun Löschen geholfen." ter in die Bugräume? Ist das so?" „Und von euch hat natürlich keiner Der Decksmann kratzte sich im
50 Bart und versicherte: „Das können wir auf unseren Eid nehmen, Sir. Wenn sie ihn angegriffen hätten, nun ja, weit wären sie nicht gelangt." Graham glaubte ihm. Er befahl: „Schafft ihn auf die Kampanje. Der Kapitän wird sich mit dem Vorfall beschäftigen." Nach kurzem Zögern grinste er kalt und fuhr in schneidendem Tonfall fort: „Sollte euch dazu noch etwas, einfallen, besonders dazu, daß wäh rend eurer Wache jemand sich selbst an die Rah knüpft, dann erinnert euch daran, ehe Drinkwater die Neunschwänzige pfeifen läßt. Das ist ein guter Rat von mir. Oder wollt ihr kurz vor dem Ziel noch kielgeholt werden?" Sein Glück, sagte er sich, daß es nicht in die Zeit seiner Wache gefal len war. Er nickte den Männern zu, als sei er völlig unbeteiligt, dann ging er nach achtern und klopfte an die Tür der Kapitänskammer. Drinkwaters rauhe Stimme rief au genblicklich: „Herein! Das kann nur Ärger am frühen Morgen bedeuten." „Guten Morgen, Sir", entgegnete Lilley. „Sie werden mir nicht glau ben, was ich eben entdeckt habe. Aber es ist die Wahrheit. Zu all dem Ärger und dem Brand kommt jetzt auch noch eine unangenehme Pflicht." James Drinkwater starrte ihn an, als habe er über Klabautermanns Tochter gesprochen. Der Erste berichtete so genau wie möglich. Während er redete, hörte er auf dem obersten Deck die Schritte der Männer und den dumpfen Auf prall des Körpers. „Darauf brauche ich einen kräfti gen Schluck", erwiderte schließlich der Kapitän mit ehrlichem, fassungs losem Staunen. „Sie auch, Lilley?"
Graham dachte wieder an Mollys schwelgerische Formen und nickte stumm. Kurz darauf verbreitete sich der Geruch des mit Recht beliebten schottischen Lebenswasser in der Kammer und überlagerte den Dunst von Schweiß, Pergament und feuch tem Bettzeug.
Kapitän James Drinkwater, Gra ham Lilley und der Profos Harc, ein vierschrötiger Glatzkopf mit weiß grauem Bart bis zur Kinnbinde, stan den nebeneinander auf dem erhöhten Achterdeck der „Pilgrim". Das Deck war mehr als bevölkert, vor einer hal ben Stunde hatte der Wachwechsel stattgefunden. „Fangen wir an", durchschnitt die Stimme des Kapitäns das erwar tungsvolle Stimmengemurmel. „Wir haben da hinten eine Leiche." Eigent lich wollte er „Gehenkten" sagen, be sann sich noch rechtzeitig und fuhr mit einem wolfsähnlichen Lächeln fort: „Die Leiche eines Mannes, des sen Name, als er noch lebte, Freddy Blewitt gewesen sein soll." „Er hieß wirklich Fred Blewitt!" rief ein Auswanderer laut. „Das war sein wahrer Name, Kapitän!" „Verstanden. Wird zu Protokoll ge nommen", antwortete Drinkwater. Jetzt, gegen Mittag des Tages nach dem Vorfall, hatte sich das Bild auf dem endlosen Ozean wieder einmal völlig gewandelt. „Sie notieren es, Lilley?" „Schon geschehen, Sir." „Dieser Mann, einer von euch", rief Drinkwater und fing an, jede Se kunde dieser Prozedur zu hassen, „hing dort oben an der Großrah! Nie mand weiß angeblich, wie er dort hin aufgelangte. Der Knoten, mit dem
51 das Ende verzurrt war, war ein Land rattenknoten, will sagen: Kein See mann würde je einen solchen Knoten schlagen. Habt ihr verstanden, Leute, was ich damit meine?" Entlang des Schanzkleids und bis zum bugwärtigen Ende der Kuhl standen die Seeleute dicht in Reihen. Zwischen ihnen drängten sich die Auswanderer mit ihren Frauen und Kindern. Das Murmeln wurde lauter, deut lich verstand der Kapitän, daß die Auswanderer seine Feststellung be griffen hatten. Der Knoten mußte also von einem der vielen Passagiere geknüpft worden sein. „Die Schlinge, in der er sich er hängte oder erhenkt wurde, ist auch keineswegs seemännisch. Ich will euch sagen, daß kaum ein einziger Seemann je einen solchen Knoten schlagen könnte, selbst wenn er den Verdacht von sich ablenken wollte. Klar?" „Klar, Sir", erklärte der Profos und schlug mit der flachen Hand auf sei nen Brustkasten. „Muß einer von de nen gewesen sein. Oder er selbst." Als er zu der Stelle hinaufblickte, an der Blewitt aufgeknüpft gewesen war, schauten auch fast alle Auswan derer dorthin. Natürlich sahen sie nichts mehr. Für einen Seemann war es einfach, zur Rah aufzuentern. Ob es auch Ble witt selbst geschafft hatte, in der Fin sternis und über die schwankenden Wanten die Rah zu erreichen - das bezweifelten die meisten mit einigem Recht. „Wer es war, wird geklärt", sagte Drinkwater. „Und zwar bald." Die „Pilgrim" war während der Nacht ganz langsam an den beiden Galeonen vorbeigezogen und segelte Steuerbord voraus. Gleichauf folgten
die „Discoverer" und die „Explorer". Die Karavelle befand sich in Lee weit hinter den Schiffen, und in Luv zeig ten sich die Lateinersegel von Kapi tän Killigrews Schebecke. Die Stim mung über dem Wasser schien ein Ge witter anzukündigen, das in der Nacht oder spätestens am nächsten Tag über den Ozean hinwegziehen würde. „Wer weiß etwas über den Toten?" rief Graham Lilley in die Menge hin unter. Lange Zeit rührte sich niemand, dann schob sich ein jüngerer Mann nach vorn und erwiderte: „Ich bin Will Horne. Wir suchten gestern nach diesem Blewitt." „Wer ist ,wir?' ", fragte Lilley. Außer Horne meldeten sich noch zwei Männer. Sie berichteten, daß Ed Cornhill mit ihnen zusammen unter Deck nach Blewitt gesucht, ihn gefun den und an Deck gebracht hätte. Dort hätten sie ihn, nachdem Cornhill halb zusammengebrochen wäre, zurückge lassen. „Soll das die Wahrheit sein?" „Fragen Sie Ihre Männer, Sir!" rief Horne. „Die Segelwache hat uns alle gesehen." „Aber sie hat nicht gesehen, wie Blewitt auf die Rah gelangt ist. Es hat niemand etwas gesehen." Es meldeten sich andere Zeugen, die bestätigten, daß Horne und die anderen den kleinen Ed Cornhill nach unten gebracht, ihn auf seinem Lager ausgestreckt und so viele Schlafende mit dem Lärm geweckt hatten, daß genügend Zeugen ihre Aussage bestätigen konnten. „Und weil wir nicht mehr schlafen konnten", mischte sich eine ältere Frau ein, „wissen wir auch, daß sie das Deck, den Laderaum, nicht mehr
52 verließen, bis der Offizier zu brüllen anfing." Drinkwater nickte. Er hatte es ja gewußt! Nichts würde geklärt wer den, auch wenn er ein paar Leute aus peitschen ließ.. Ed Cornhill, der mit hohem Fieber unter Deck lag, kam als Täter ebenso wenig wie seine Freunde in Frage. Die Zeugenaussagen waren eindeutig und entlastend. „Woher hatte er das Ende, an dem er aufgehängt war?" Der Profos stellte die berechtigte Frage. „Von Cornhill. Der hat's irgendwo unter Deck gefunden." Drei Männer der letzten Wache be stätigten, daß der kleine Mann mit den hängenden Schultern und dem spitzen Gesicht dem größeren Blewitt das Ende vor die Füße geworfen hätte. Fast drohend erkundigte sich Drinkwater: „Weiß jemand einen Grund, warum sich Blewitt selbst umgebracht haben soll?" Schweigen. Niemand wußte etwas. Daß Cornhill ihn beschuldigte, am Tod seiner Frau Claire schuldig zu sein, war schon von Lilley erklärt worden. Aber auch in diesem Fall gab es genügend Zeugen, die zugunsten Blewitts aussagten. Er war nicht in der Kammer gewesen, in der der Brand angefangen hatte. Bei den Löschversuchen hatte er sich durch große Umsicht und rastlosen Fleiß hervorgetan. Nach einem bitteren Lachen stellte Kapitän Drinkwater fest: „Wenig stens eines wissen wir genau: Blewitt ist tot. Er hatte keinen realen Grund, sich aufzuhängen. Niemand be merkte etwas Verdächtiges. Niemand hatte darüber hinaus einen wirkli chen Anlaß, ihn umzubringen. Außer Cornhill, und der war es nicht. Ich
sehe keine Möglichkeit mehr, diese Verhandlung fortzusetzen." Es wären vier oder fünf Männer notwendig gewesen, einen Mann an diese Stelle zu bringen. Wenn er nicht betäubt oder halb totgeschlagen war, würde er sich gewehrt und geschrien haben. Diesen Lärm hätte die Wache auch im Orkan gehört. Und nicht ein einziges Gerücht, kein Hinweis keine Befragung ließen erkennen, ob dieser unauffällige Mann unter der Crew ei nen Gegner oder mehrere Feinde ge habt hätte. „Sir?" Der Erste wandte sich offen an Drinkwater. „Ich höre?" „Ich denke, wir sollten es gut sein lassen. Es gibt Wichtigeres an Bord. Wenn Sie wünschen, unterschreibe ich ein Protokoll im Logbuch. Der Tod von Blewitt kann wohl nicht ge klärt werden. Vielleicht erfahren wir später mehr, ich höre mich um." Drinkwater schien für diesen Ein wand außerordentlich dankbar zu sein. Er verzog sein grimmiges Ge sicht nicht um einen Zoll, als er ant wortete: „Genehmigt. Gute Gründe, Mister Lilley. Profos - die Leute sol len wieder an ihre Arbeiten gehen." Sie waren ratlos, versuchten aber, ihre Ratlosigkeit vor der Crew und den Auswanderern zu verbergen. Auch der Profos Harc, der bisher an Bord alles wußte, bevor andere daran dachten, hatte keine Ahnung. Daß sich Blewitt mit eigener Hand umge bracht hatte, war die einzig erklär bare Lösung. „Ihr habt gehört, was der Kapitän gesagt hat!" rief der Profos. „Unter Deck wird gearbeitet. Wer hier nichts zu suchen hat, verschwindet, aber schnell." Drinkwater winkte ihm und sagte: „Ich sehe mir an, was Derris und
54 seine Crew in der Nacht fertigge bracht haben." Während sich die Kuhl leerte, gin gen die Männer zum Niedergang und enterten in die halbdunkle Tiefe der Decks über der Bilge ab. Aus der Kombüse roch es schauerlich nach dem Teer, den Derris zum Kalfatern brauchte. Die Karavelle lag achteraus. Wenn die finsteren Gestalten in der Nacht etwas Übles im Schilde geführt ha ben sollten, dann hatten sie es nicht gewagt. Vielleicht hatte sie der An blick des Gehängten erschreckt? Drinkwater sagte sich, daß er mit dem Stückmeister ein paar Sätze würde wechseln müssen. 5. Roger Brighton bemühte sich, in seine Gedanken und Empfindungen mehr Ordnung zu bringen. Er saß auf dem vorderen Rand des Grätings decks, und sein Blick fiel voller Miß behagen auf Sir William Godfrey, ei nen der drei Hochwohlgeborenen mit rot gefärbtem Riechorgan - das Zei chen für allzu tiefe Beschäftigung mit Rotwein und anderen alkoholischen Getränken. Sir William starrte ihn ebenso prü fend an wie er den seltsamen Gentle man. Will der was? fragte sich Roger. Der Takelmeister hielt einen abge brochenen Narwalzahn in der linken und ein Messerchen in der rechten Hand. Bedächtig schnitzte er an dem falschen Elfenbein. Der Wind blies die winzigen Späne und Krümel über die Decksplanken. Roger schnitzte weiter und feilte liebevoll an den Hüften und Hinter backen der Gestalt. Noch wußte er
nicht genau, an welche seiner Verflos senen er bei dieser kleinen Plastik denken sollte, aber das gab sich im Lauf der Arbeit, die er sehr häufig unterbrach. William Godfrey hockte auf der Kuhl, in seinen dicken Mantel gewik kelt. Er unterhielt sich mit Alec Mor ris, den der Takelmeister noch weni ger leiden konnte, und unterstrich seine Sätze mit fahrigen, weit ausho lenden Gesten. Neben Roger saß Matt Davies und hatte den Haken seiner rechten Kunsthand in ein Tau eingeklingt. „Sie hecken wieder einmal etwas aus, meinst du nicht auch?" sagte Matt und fragte sich, ob der Schul denfürst Davenport noch unter Deck schlief. „Sieht fast so aus", gab Roger zu. „Wahrscheinlich pure Langeweile." Die Planken des Beibootes verdeck ten die beiden Gentlemen nur halb wegs. Zwar sahen die beiden See wölfe die Gesten, verstanden aber kein Wort. Als Godfrey und Morris mehrmals in die Richtung des Bugspriets zeig ten, meinte Matt Davies: „Sie spre chen vom ehrenwerten Kapitän Granville. Wahrscheinlich tut er ih nen maßlos leid." „Will Thorne hat aufgeschnappt, daß sie Hasard zwingen wollen, den Kapitän freizulassen." „Wirklich?" „Will hat sie flüstern hören", sagte Matt verschwörerisch. „Er ist ganz si cher. Sie haben sich aber noch nicht entschlossen." „Sie sind verrückt", erklärte der Takelmeister ungerührt. „Drei oder vier gegen uns alle, mehr als dreißig Mann und einen Hund. Reiner Schwachsinn, Matt. Vergiß es. Das müssen sie sich doch selbst sagen."
55 „Was weiß ich? Närrisch genug Niederganges trat, rutschte er aus und verlor den Halt. Er wirbelte mit sind sie ja." „Da hast du auch wieder recht", den Armen durch die Luft, stieß ei brummte Brighton und schabte wei nen erschreckten Schrei aus und ter an den langen Beinen und den rollte auf die Seite. Die nächste Bewe schwellenden Schenkeln seiner Fi gung des Schiffes ließ ihn in den Win gur. Interessiert sah Matt zu, wie aus kel zwischen Deck und Schanzkleid dem gelblichen Material allmählich purzeln. weibliche Formen wurden. Das gemütvolle Gelächter der Se gelwache begleitete seinen Versuch, „Wer soll das werden?" fragte er. Sie waren auf Freiwache. Sturm sich hochzuziehen. Mit tief rotem Ge und Windstille schienen vergessen in sicht stelzte er auf Roger und Matt zu. sein. Der Rudergänger, Mac O'Hig Neugierig sah Mac O'Higgins, der Ire, gins, stand an der Pinne, war um ei dem Stutzer entgegen. Aussehen und nen Strich abgefallen und hielt Kurs Kleidung hatten während der langen auf die „Pilgrim". Dabei würden sie Reise sichtlich gelitten, es gab nur in kurzer Zeit die achterlich der „Pil noch Spuren der einstigen Eleganz. grim" dahinstampfenden Galeonen „Wo verbirgt sich eigentlich der überholen. Kapitän dieses Schiffes?" fragte Sir Hasard wollte Kontakt mit den Ka William herausfordernd. pitänen aufnehmen und feststellen, Rogers Antwort fiel erwartet ob sich etwa wieder neue Katastro knapp und kühl aus: „Unter Deck, phen oder Tragödien anbahnten. Er Mister." hatte Little John und Roebuck ver „Wir müssen ihn dringend spre sprochen, so nahe wie möglich an die chen. Hole ihn!" „Discoverer" heranzusegeln. Roger fuhr fort, an seinem Kunst Wahrscheinlich schwärmten die werk herumzuschaben, hob schließ beiden noch immer von ihren knapp lich den Kopf und warf Sir William drei Dutzend Freunden, den Seewöl einen Blick zu, der den anderen ei fen. gentlich hätte warnen müssen. „Das weiß ich noch nicht. Eine „Kapitän Killigrew befindet sich in Frauenfigur." seiner Kammer oder bei Dan O'Flynn Roger Brighton hob das Figürchen beim Studium der Seekarten", sagte in seinen kräftigen Fingern hoch und Roger mit sichtlicher Verdrossenheit. drehte es hin und her. Er grinste. „Wenden Sie sich, Sir, an Don Juan „Kenne ich sie?" wollte Matt wis de Alcazar, der soeben an Deck er sen. „Deine Mutter wahrscheinlich, scheint." oder?" Roger Brighton hatte versucht, den „Niemals. Vielleicht eine Galionsfi blasierten Tonfall zu imitieren, des gur für das Modell der Schebecke", sen sich die drei Herrschaften oft be erwiderte Roger und fuhr fort, die fleißigten. Sir William funkelte ihn Hüften zu modellieren. „Was haben wütend an und rieb sich die geprell die Kerle jetzt vor?" ten Knochen. „Soll das heißen, ich muß ihn su William Godfrey war aufgestanden und näherte sich den Seewölfen auf chen?" fragte Godfrey aufgebracht. „Das soll es heißen", bestätigte Ro der Gräting mit energischen Schrit ten. Als er auf die unterste Stufe des ger Brighton ungerührt.
56 „Ich - wir - ich werde diese Unver schämtheit zur Sprache bringen", er klärte Sir William und richtete sich straff auf. Seine Nase schien zu glü hen wie Holzkohle. „Können Sie tun, Sir. Direkt bei Kapitän Killigrew. Wir sind nicht als Ihre Kammerdiener angeheuert wor den", fuhr Roger im gleichen blasier ten Ton fort. „Wir sind sicher, daß Euer Gnaden Verständnis dafür ha ben." Voller Empörung drehte sich Sir William um und stolperte wieder auf den Niedergang zu. Bevor er ihn erreichte, rief Matt Davies: „Achtung!" Sir William zuckte zusammen. Matt und Roger grinsten einander an. Von hinten rief der Ire: „Jetzt ha ben wir nicht erfahren, was er wirk lich wollte!" „Er wird es Hasard schon verklik kern", gab Roger zurück. „Und sich wieder eine Abfuhr holen." Über den endlosen Wellen, die sich aufbauten und wieder vergingen, erstreckte sich am Nachmittag ein wolkenbedeckter Himmel. Die tief hängende Wolkenschicht zeigte graue und weißliche Farben. Nur ganz selten brach ein dicker Balken aus Sonnenstrahlen durch die bro delnde Schicht. Der Wind war ein deutig wärmer geworden und hatte gleichzeitig aufgefrischt. „Spätestens beim nächsten Sturm", sagte Matt schließlich, „werden un sere Gäste wieder zahm." „Und lange läßt er nicht auf sich warten", prophezeite der Rudergän ger. Hinter der Schebecke breitete sich, aus zischenden Wellenrändern und weißem Gischt geformt, die Kielspur aus.
Sir William polterte den Mittel gang entlang und hämmerte an den Rahmen der Tür, die den Karten raum abschloß. Die Tür wurde aufge rissen. Das Erstaunen im Gesicht Ha sards verwandelte sich, als er sein Ge genüber betrachtete, in gemäßigte Überraschung. „Sir?" fragte er mit minimaler Höf lichkeit. Der andere fing sofort zu reden an, aufgeregt und hastig: „Sie müssen Kapitän Granville aus seiner unwür digen und unbequemen Haft freilas sen, Killigrew!" Hasards Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Seine Stimme blieb ruhig, als er zurückfragte: „Ich muß? Aus welchem Grund?" Auch Dan schaute von seinen Kar ten hoch. Er ließ Zirkel und Stift sin ken und verfolgte die drohende Aus einandersetzung mit nachlässiger Aufmerksamkeit. Hasards breit schultrige Gestalt schien den Sir halbwegs aus der Kammer drücken zu wollen. „Es ist unrecht, Kapitän. Was hat der Mann eigentlich verbrochen, daß er derartig schmählich und grausam bestraft wird? Wer sind Sie? Die Kö nigin von England?" „Ich bin glücklicherweise gutge launt, Godfrey. Ich habe entschieden, daß Kapitän Granville in die Vorpiek gesperrt wird, weil er den Bogen sei ner Verfehlungen mehr als über spannt hat. Sollten Sie zuviel Mitleid mit ihm haben, erneuere ich gern mein Angebot." „Sie sind unangemessen hart!" rief Sir William. „Der arme Granville. Er ist wirklich ungerecht behandelt wor den. Wir alle sind uns darüber einig, Kapitän." „Wollen Sie meinen Entschluß dis kutieren?" fragte Hasard.
57 „Wir wollen nicht, daß er für etwas büßt, was Sie ihm unterschoben ha ben. Er ist, wie jedermann weiß, ein ehrenwerter Mann. Es ist ein verteu felt schweres Amt, Kapitän, ein Schiff voller Angehöriger der unter sten Klasse zu führen." „Soso", knurrte Hasard. „Auch mein Schiff ist nicht leicht zu führen. Verblüffenderweise finden hier keine Vorfälle statt, die in London den Richter und den Henker interessieren würden. Granville bleibt, wo er ist." Er hatte lauter gesprochen, konnte sich aber immer noch beherrschen. Nach dem nächsten Atemzug setzte er hinzu: „Und wann er herausgelas sen wird, bestimme ich. Ihm geht's besser als den armen Leuten auf sei nem vergammelten Kahn, verstan den? Oder wollen Eure Lordschaft vielleicht auf die ,Discoverer' ge bracht werden und dort stinkende Wassersuppe oder gebratene Ratten zu sich nehmen?" Der Seewolf blitzte sein Gegenüber mit einem Blick aus eisblauen Augen an, der jeden, der ihn kannte, gewarnt hätte. Sir William verstand noch im mer nicht. Zu allem Überfluß näherte sich auch noch Frank Davenport und legte seine ringgeschmückte Hand auf Godfreys Schulter. Er blickte nicht weniger vorwurfsvoll drein als sein Freund. „Ich beabsichtige nicht, das Schiff zu wechseln", schnarrte Sir William und hob abwehrend den Arm. Er schlug sich die Knöchel am Decksbal ken blutig. „Ob Sie das Schiff wechseln, be stimme einzig und allein ich", sagte Hasard. Jetzt wurde er wütend, aber die drei stellten für ihn keinen wirkli chen Gegner dar. „Sie sind rücksichtslos, Kapitän", erklärte Davenport.
„Ich sorge dafür, daß jeder emp fängt, was er verdient. Darf ich Ihnen sagen, daß Sie meine Geduld strapa zieren, Sir? Ich bin bald überfordert, und dann handle ich mit entschlosse ner Härte - wie es mir meine und Ihre Königin befohlen hat. Nicht anders." „Wir kennen Ihre Befehle nicht", wagte Davenport einzuwenden. „Wollen Sie's schriftlich?" fragte Hasard. Seine Wut kletterte langsam höher. Er stand kurz davor, die letzte Beherrschung zu verlieren. Die bei den begriffen nicht, daß sie mit ihrer Freiheit an Bord spielten. „Wir zweifeln nicht an den Befeh len. Nicht am Wortlaut, meine ich", sagte Davenport. Er sah ein, daß Sir William zu weit gegangen war. „Aber Sie behandeln Kapitän Granville zu hart." „Noch nicht hart genug. Er verhun gert nicht, er kümmert sich um nichts, und er wird nicht ausge peitscht. Kann ich mit Ihnen, auf mein Kapitänsehrenwort, ein Ab kommen schließen?" „Selbstverständlich. Von Ehren mann zu Ehrenmann", entgegnete Sir William, der wohl glaubte, der See wolf ändere plötzlich seine Meinung und erlöse als erstes Granville aus der Vorpiek. Hasard dachte nicht einmal daran. „Also, bis zur Landung in Virginia, Gentlemen, gilt folgendes: Kapitän Granville bleibt, wo er ist. Sie belästi gen mich nicht wieder, denn sonst lei sten Sie ihm schneller, als Sie den ken, dort oder an einem ähnlich be quemen Ort Gesellschaft. Und noch etwas: Meine Crew hat ein hartes Le ben. Lassen Sie die Männer in Ruhe. Sonst verliere ich meine sprichwörtli che Güte und Milde. Und dann werde ich ausgesprochen ärgerlich." „Aber - das sind Sie ja schon."
58 Der Seewolf schluckte eine tref fende Erwiderung hinunter und fragte sich allen Ernstes, aus wel chem Grund er diese drei Kerle nicht einfach beim nächsten Sturm über Bord werfen ließ. Da er bisher mit diesen drei Narren keinen solchen Ärger gehabt hatte, der das Maß seiner Belastbarkeit überschritten hätte, hatte er keinen wirklichen Grund, zurückzuschlagen. Aber er war am Ende seiner Geduld ange langt. . Der nächste Angriff dieser Art und er betrachtete die Einmischung der drei nicht zahlenden Passagiere als direkten Angriff - würde ihn ohne weiteres Nachdenken dazu bringen, seine Befehlsgewalt auszuschöpfen. „Diese Affenärsche!" sagte er leise, aber erbittert und blickte auf ihre krummen Rücken. „Sie lassen nicht locker, wie?" er kundigte sich Dan und hob seine Werkzeuge wieder auf. „Der Teufel oder sein Bruder soll diese Fahrt und alle Granvilles und Godfreys holen." Hasard grinste ihn breit an, obwohl er noch immer nicht genau wußte, was diese verschlagenen und hinter hältigen Schufte wirklich planten. Ihnen war Granville gleichgültig. Sie würden ihn skrupellos benutzen, um ihm, dem Seewolf, etwas anzuhän gen. Sie hatten einen bestimmten Grund dafür, und er kannte ihn nicht. Noch nicht. Plötzlich fing er zu lachen an. Dan drehte sich zu ihm um. „Du hast sicher einen Grund für dieses Gelächter", sagte er. „Habe ich", bestätigte der Seewolf. „Welchen?" „Mit diesen drei Verrückten", sagte Hasard und wurde wieder ernst, „werden wir noch viel Spaß haben. Sind gar nicht dumm, die Kerle. Sie
wollen mit diesem Geschwätz nur eins." „Und das wäre?" fragte Dan. „Sie wollen feststellen, wie weit unsere Geduld reicht. Sie haben et was vor. Vielleicht hängt es mit Gran ville zusammen. Vielleicht auch nicht. Sie prüfen, wie weit unsere Geduld reicht." „Das verstehe, wer will", brummte Dan. „Für astrologische Überlegun gen ist mein Vater zuständig. Viel leicht solltest du ihn fragen, Sir." „Brauche ich nicht. Warte es ab, Dan. Sie planen etwas, und sie wer den es ausführen, wenn wir nicht daran denken. Vielleicht mitten im Sturm, wenn wir alle an den Schoten hängen oder uns irgendwo festklam mern. Oder in einer anderen ernsten Lage. Sie sind unangenehm, sind ver rückt, Spinner und Betrüger, aber sie sind nicht dumm. Schließlich haben sie ihr Leben lang andere Leute be trogen. Gibst du mir recht?" Dan O'Flynn überlegte eine Weile, dann breitete er halb hilflos, halb verzweifelt die Arme aus und ant wortete: „Ich bin nur ein schlichter Seemann, Sir, und verstehe nichts von den Ränken des niederen Adels. Wenn du meinst, daß sie dich übers Ohr hauen wollen, dann rate ich dir, sie genau zu beobachten. Ich helfe dir gern, selbstverständlich." Hasard schob die verrutschten See karten wieder zurecht und entgeg nete: „Genau das werden wir tun, mein Freund." Sie widmeten sich wieder dem Ver such, Kurs und Position genau zu bestimmen. Nach einer halben Stunde hoben sie die Köpfe, und Dan erklärte: „Ende dieses Monats, Sir. Nicht früher. Sturm, Wellen und Strömungen ha ben uns einen schlechten Kurs auf
59 gezwungen. Allen Schiffen, nicht nur der Schebecke. Vor Ende Juli errei chen wir die goldenen Küsten Virgi nias nur, wenn ein Wunder ge schieht." Hasard nickte und schloß grimmig: „Und Wunder sind außerordentlich selten." „Aye, aye, Sir", sagte Dan und rollte die Karten sorgfältig zusam men. 6. Fast gleichzeitig hoben Hasard, Ben Brighton und Don Juan die Arme und winkten zu Kapitän Drink water und seinem Ersten Offizier Lil ley hinüber. Während der Kapitän der „Pilgrim" recht zufrieden und ausgeschlafen wirkte, glich sein Offi zier einem wandelnden Gespenst. „Alles aufgeklart, Kapitän?" don nerte Hasards Stimme vom Achter deck der Schebecke hinüber zur Ga leone. „Mehr schlecht als recht!" rief Drinkwater zurück. „Die Schäden des Brandes sind beseitigt. Wir haben viele Teile unter der Wasserlinie neu kalfatert." „Ernsthafte Schäden?" fragte Ha sard. „Nein. Haben Sie ausgerechnet, wann wir die Küste sehen, Sir?" fragte Graham Lilley, offensichtlich kurz vor dem Zeitpunkt, an dem er im Stehen einschlief. „Mehr oder weniger genau!" schrie Don Juan. „Ende des Monats! Noch ein kräftiger Sturm, dann werden's zwei, drei Tage früher." , Auf der „Discoverer" schien unter der Verantwortung des Ersten Offi ziers Harris alles in Ordnung zu sein. Es gab zu wenig Wasser, verdorbenes
Essen und viele, meist nutzlose Ver suche, diese Lage zu verbessern, aber sie würden Versuche bleiben. „Gott schütze uns!" brüllte Drink water durch das Gurgeln und Plät schern des Kielwassers. „Alles, nur keinen Sturm!" „Ich habe nicht darum gebetet!" rief Hasard zurück. „Schneller wird es schwerlich gehen, Kapitän Drink water." „Ich weiß. Das bedeutet Hunger, Durst und Mangelkrankheit." „Ich kann's nicht ändern!" rief Ha sard. „Sturm lauert an der Kimm, Gentlemen." Das Licht der versteckten Sonne hatte abgenommen. Die Wolken, die am späten Nachmittag noch grau und unwirtlich gewirkt hatten, verwan delten sich nun, dunkler und schär ere Ränder zeigend, in zusammenge ballte Schwärze. Der Wind pfiff käl ter aus Ost. Blieb er aus dieser Rich tung stehen, würden die Schiffe in der nächsten Nacht gute Fahrt lau fen. Aber sicherlich wartete auf sie eine wilde, sturmdurchtoste Nacht. „Das sagen alle!" rief der Erste. „Heute nacht hat sich ein Auswande rer an der Großrah selbst erhängt. Niemand weiß, warum." „Was meinen die anderen Auswan derer?" rief Hasard besorgt. Dies be deutete im Zweifelsfall neuen Ärger. „Nicht viel. Es gibt keine Erklärung dafür. Nachts segelte die Karavelle nahe an uns heran." „Ich weiß ein gutes Mittel dage gen!" rief Ben Brighton. „Ich habe jeweils drei Culverinen laden lassen. Der Stückmeister weiß, was er zu tun hat", lautete die Ant wort vom Kapitän der Galeone. „Die Kerle auf der Karavelle jagen uns al len nicht gerade Angst ein. Aber es bleibt ein unguter Zustand. Unruhe
60 und die Erwartung eines Gefechts zu falscher Zeit." „Aufpassen", riet Hasard. „Wir hal ten es ebenso. Auch unsere Geschütze sind bereit." Wieder einmal erkannten die See wölfe, wie überlegen die Schebecke den schwerfälligen Galeonen war. Obwohl diese dickbäuchigen Schiffe ein großes Maß an Sicherheit und Zu verlässigkeit boten, blieben sie lang samer und wegen der schweren La sten schwerfälliger. Sie waren lange gesegelt, und wahr scheinlich starrten die Planken unter der Wasserlinie von Bewuchs. Naß fäule und Holzwürmer setzten die Zu verlässigkeit weiter herab und ver minderten die Fahrt ebenso nach drücklich, als würden die Segel back gebraßt. Aber dieser Umstand würde sich in den verbleibenden Tagen und Nächten nicht mehr ändern lassen. „Ihr braucht keine Hilfe?" schrie der Seewolf. Es war seine letzte Frage an diesem frühen Abend. „Nein, danke. Noch schaffen wir es aus eigener Kraft." „Verstanden. Schicken Sie Ihren Ersten in die Koje, Drinkwater." „Dafür sorge ich", antwortete der Kapitän, ehe die Schebecke den Bug spriet wieder nach Luv ausschwenkte und ihre Position hinter dem Spiegel der Galeone verließ. Hasard winkte ein letztesmal und wandte sich an Don Juan und Ben. „Diese Nacht überstehen wir auch noch. Wie gut, daß wir nicht auf einer der Galeonen sind." „Wenn nicht gerade ein Dutzend Leute jeden Tag tot über Bord ge hen", erklärte Ben, scheinbar mit brutaler Härte, „sagt jeder Kapitän, daß es allen gut geht." „Leider ist es so", brummte der Spanier. „Wenn ich an die Schiffe
meiner königlichen Majestät denke..." Sie sprachen die Wahrheit. Unter den Seeleuten wüteten die Krankhei ten nicht viel weniger als unter den Auswanderern. Aber die Seeleute wa ren es gewohnt, sich das Überleben zu erkämpfen. Nicht so die Ärmsten der Armen, die in den Decks zusam mengepfercht waren. Die drei See wölfe ahnten, daß der nächste Sturm mehr Schaden anrichten würde als die vorhergehenden. „Denke nicht daran. Unsere Sche becke zählt zu den besten Schiffen der Sieben Meere", sagte Hasard. „Haltet lieber die Augen offen. Der Sturm, die Karavelle und unsere vier Schurken, das sind die echten, wirkli chen Gefahren." Daß ein Sturm, vielleicht ein wü tender Gewittersturm, sogar die Schebecke wüst umherwerfen und beschädigen konnte, das wußten sie inzwischen sehr genau. Daß die See wölfe in dem kochenden Atlantik un tergingen und ertranken, das konn ten sie nicht glauben, das gab es nicht, das war völlig ausgeschlossen. „Ich habe die nächste Wache", er klärte Don Juan und hob drohend die Faust. Er meinte die Karavelle, die in rund drei Seemeilen Abstand unver ändert als schweigende Drohung den Schiffsverband begleitete. Die drei Galeonen und die Schebecke bildeten eine Formation, die schräg zueinan der versetzt in Kiellinie fuhr. „Ich löse dich ab", sagte der Erste. „Und ich lasse sie ebensowenig aus den Augen wie du. Diese Burschen planen etwas. Und ich kann mir den ken, daß sie in einer ganz finsteren Nacht versuchen, eine Galeone zu überfallen. Ich weiß, das haben wir schon ein paarmal gedacht."
61 „Was sollten sie sonst tun?" meinte Hasard. „Wegen unserer schönen Se gel begleiten sie uns nicht seit Eng lands Küsten." Die Schebecke setzte Lichter, schob sich zwischen die Karavelle und den Schiffsverband und blieb in Luv. Aus den schwarzen Wolken wurde nach und nach die sternen- und mond lose Finsternis der Nacht. Nur die winzigen Lichter der Laternen waren zu sehen, während der Wind in böi gen Stößen kam und die Geräusche mit sich brachte, vor denen sich jeder Auswanderer fürchtete.
Undeutliche Dinge schoben sich, zusammenbrechenden Mauern gleich, von allen Seiten auf ihn zu. Die Decke aus rußigen Bohlen senkte sich. Der Boden, hart wie Stein, hob sich. Er befand sich im Mit telpunkt drohender Flächen, und in den Fugen und Rissen erschienen lange, blutrote Streifen. Als die Qua der auseinanderbrachen, entpuppte sich die Glut als Feuer, als Flammen und Rauch, als tödliche Drohung. Die Luft füllte sich mit schwarzem Rauch. Hustend, keuchend und mit einem gellenden Schrei, der drei Dut zend anderer Schläfer hochjagte, er wachte er. Er schwitzte und fror gleichzeitig. Die Luft pfiff in seiner Kehle. Er blickte mit verklebten Augen um sich und fand sich nicht zurecht. Jemand griff nach ihm und rüttelte seine Schulter. „He, Cornhill! Du bist bei uns. Hast einen schlechten Traum erwischt, wie?" fragte jemand unterdrückt aus der Dunkelheit. „Ja. Wo bin ich. Wo ist - Claire?" Ein Holzstück flog durch die Dun
kelheit und traf ihn schmerzhaft am Kopf. Er merkte es nicht. Als er die Finger aus seinen schweißnassen Haaren nahm, erkannte er nicht, daß Blut daran klebte. „Deine Claire ist ersoffen, ver dammt! Gib endlich Ruhe, Ed." Nur in kleinen Schritten fand Corn hill in die Wirklichkeit zurück. Das Erwachen war ebenso schlimm wie der Alptraum. Das Deck schlingerte unter ihm und beruhigte sich nicht, als er erkannt hatte, daß er sich auf der „Pilgrim" befand und allein war. „Claire!" flüsterte er und sank wie der zurück. Seine Lippen waren rissig, die Zun ge schien geschwollen. Eine nie ge kannte Art von Durst plagte ihn. Der Durst schien ihn innerlich verbren nen zu wollen. Er legte sich zurück, schloß die Augen und sah wieder die Flammen und den Rauch vor sich, die Claire in den Tod getrieben hatten. „Wasser", flüsterte Ed Cornhill. Er war sicher, daß ihn das Fieber verlassen hatte. Aber weil er schlief, erhielt er nichts zu essen und nichts zu trinken. Hier gab es keinen Vorrat an Wasser. Seine Gedanken über schlugen sich, während die Hitze in seinem Körper immer mehr zunahm und immer höher kletterte. Als er ver zweifelt über seine Stirn strich, spürte er die Rückstände des salzigen Schweißes, und seine Haut war heiß und trocken wie Sand. Wieder stemmte er sich hoch. Alle Gegenstände und Personen, die er im schwachen Licht zu erkennen ver mochte, vollführten einen lautlosen und schnellen Reigen um ihn. Das än derte sich auch nicht, als er zur Seite rollte, einen Schläfer weckte und von dem Schwung, den dessen Stoß ihm gab, auf die Knie gelangte. Auf den Handflächen und den
62 Knien schob er sich auf den schmalen Gang hinaus und kroch dorthin, wo er den Niedergang wußte. Er erta stete, nachdem ihm ein Dutzend Füße schmerzhafte Tritte versetzt hatten, die unterste Stufe. Daß aus seiner Stirnwunde eine breite Blutspur auf die Planken tropfte, merkte Cornhill nicht. Wie ein krankes Tier kletterte er mit Händen und Füßen die rissigen Holzbalken hinauf. Eine Ratte stürzte sich auf ihn, biß in seinen Fin ger, und mit einer achtlosen Bewe gung schleuderte er sie hinter sich. Die Ratte, die er nicht wirklich wahr nahm, flog im hohen Bogen mitten unter die Schläfer und rief Schreie, Flüche und die Versuche hervor, sie totzuschlagen. Ein Messer bohrte sich hart in die Planken. Ohne daß ihn jemand hörte oder sah, erreichte Cornhill auf allen Vie ren die Kombüse. Sie war leer. Unter dem Kessel, der vor seinen Augen schwankte, sah er dunkle Glut. Schemenhaft erkannte und ertastete er die Gegenstände und hörte das leise Plätschern von Wasser im Kessel. Er richtete sich auf, indem er sich irgendwo festhielt und in einzelnen Anstrengungen hochzog. „Wasser - trinken - brennt", keuchte er flüsternd. Seine zitternden Finger erwischten einen Becher. Schwankend versuchte er, den Becher in den Kessel zu tau chen und Wasser zu schöpfen. Er schüttelte sich, als ihn ein Krampf packte, aber es gelang ihm, einen hal ben Becher zu schöpfen und in die Kehle zu gießen. Den brackigen Geschmack und den Geruch, den das halb verdorbene Trinkwasser verströmte, nahm er nicht wahr. Aber er glaubte, es zische
laut, als das Wasser seinen Schlund hinunterrann, obwohl es lauwarm war. „Wasser!" Sein Flüstern war leiser als das Zi schen einer Schlange. Er trank noch einen zweiten Becher, dann ließ er das Gefäß fallen. Es rollte schep pernd über den Boden der Kombüse. Von irgendwoher schrie eine grobe Stimme. Ed Cornhill drehte sich, und ihn erfaßte ein rasender Schwindel. Er verließ die Hitze der Kombüse, die von der Glut nach ihm griff wie die Flammen, die Claire versengt hatten. Halbblind, keuchend und, ohne daß er es wußte, weinend kletterte und kroch er weiter. Er wußte nicht wo hin, aber instinktiv bewegte er sich auf einem Zickzackweg, der ihn schließlich in den Bereich einer küh len, wohltuenden Strömung brachte. Er öffnete wieder einmal die Augen und sah fast nichts. Nur vage Unterschiede von Dunkel und Hell. „Claire", keuchte er und wußte in seinem Alptraum, daß er sie in Wirk lichkeit nicht verloren hatte. Er fühlte unter seinen blutigen Fingern ein Stück gerundetes Holz und hörte vor sich Claires Stimme. Aber er ver stand nicht, was sie sagte. Cornhill brach zusammen und fiel, ein schwarzes Bündel auf schwarzen Planken, neben dem Schanzkleid langsam um. Sein Fall erzeugte so gut wie kein Geräusch. Oder es war so leise, daß es im Knarren und Knat tern, im Zischen und Klatschen un terging. Die Segelwachen sahen ihn nicht, weil sein Körper völlig mit der dunklen Umgebung verschmolz. Das Licht der Buglaterne erzeugte schwache Muster auf dem Deck. Über die vertiefte Kuhl huschte es hinweg. Die größere Ölflamme aus der
63 Hecklaterne warf den Schatten des Großmastes geradeaus bugwärts. Ne ben dem Schatten war ein hellerer Streifen entstanden, in den ein Fuß Cornhills hineinragte, mehr nicht. Eine Stunde verging. Der achterliche Wind hatte zuge nommen, aber es war kein Sturm auf gekommen. Das Heben und Senken der Galeone, die dickbäuchig durch die Wellen stampfte, schläferten den Mann ein, und der kalte Wind schien die Hitze des Fiebers von ihm zu neh men. Er schlief tief und fest, und als er zu frieren begann, wachte er wie der auf. „Hier bist du", flüsterte er, packte irgendwelche Dinge, die er nicht er kannte und zog sich mit schmerzen den Muskeln hoch. Er erreichte den oberen Rand des Schanzkleides, der ihn stützte, als er die Arme ausstreckte und nach Claire greifen wollte. Das glatte Holz hielt ihn in den Achselhöhlen, sicher und fest, während er sich vorbeugte, um ihre Arme zu packen. „Wo warst du?" fragte er leise. „Ich war krank, Claire. Ich habe mit Män nern gestritten. Ich habe das Feuer gelöscht." Claire antwortete nicht. Ihre Ge stalt floß auseinander und bildete sich wieder neu. Immer wenn er ihr ganz nahe war, entglitt sie ihm wie der. „Du sollst nicht weggehen", stöhnte er. „Ich habe gedacht - sie haben ge sagt, daß du ertrunken bist." Er rö chelte, flüsterte und stöhnte und reckte seine Arme. Jetzt wurde sie deutlicher, schwebte näher, kam in seine Arme. Er breitete seine Arme aus und schloß sie hinter ihrem Körper. Als er den Widerstand ihres warmen Kör pers spürte, da waren es seine eige
nen Oberarme, die er mit den Fingern umklammerte. „Claire! Endlich." Er hielt sie fest. Endlich hatte er sie wieder. Niemand konnte sie ihm weg nehmen. Die Flammen würden keine Macht mehr über sie und ihn und über ihr Leben haben. Er drückte sie fest an sich und schaukelte langsam vorwärts und rückwärts. Die nächste große Welle, die das Schiff an Steuerbord hob, ließ ihn und Claire zurücktaumeln. Als sich die Galeone wieder nach Backbord bewegte und weit krängte, verlor Ed Cornhill den Halt, schlug mit dem Magen gegen den Rand des Schanzkleides und kippte vornüber. Sein Fall war lautlos, denn er hielt den warmen, lebenden Körper seiner Frau in beiden Armen und ließ ihn nicht mehr los. Mit dem Kopf tauchte er zuerst in eine schäumende Welle, öffnete in der wunderbaren Kühle weit den Mund und trank gierig das klare, kühle Wasser. Er schwamm in der Dunkelheit des Abends in Virginia in den warmen See neben dem kleinen Haus, das er mit Claire bewohnte. Endlich waren
64 sie gelandet, und rund um das Haus erstreckte sich ein grünes Paradies. Claire schnappte nach Luft, stieß sich von seiner Brust ab und tauchte auf. Der Mann folgte ihr, durchbrach mit Kopf und Schultern das laue Wasser und sah, als er die Augen öff nete, direkt über sich einen einzelnen hellen Stern. Langsam schwammen
sie zum sandigen Ufer, wo sie sich in der milden Nacht trocknen lassen wollten. Während Ed Cornhill ertrank, ohne es zu merken, heftete sich sein Blick auf die Hecklaterne der „Pilgrim", die sich immer mehr entfernte, genau dorthin, wo hinter der Kimm das pa radiesische Virginia lag . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 627
Im Atlantik verschollen
von Fred McMason Auf dem Achterdeck sah Kapitän Harris mit steigendem Entsetzen, wie seine Galeone buchstäblich abgewrackt wurde. Gerade eben hatte es in diesem furchtbaren Sturm den Fockmast erwischt. Vorn ragte nur noch ein zerbroche ner Stumpf aus dem Deck. Der Mast war zweimal gebrochen und hing außen bords. Ein Gewirr aus Leinen, Fallen, Schoten, Wanten und Pardunen hielt ihn noch fest. Die Sturmsegel waren nur noch flatternde Fetzen. Bei dem nächsten hart überkommenden Brecher wurde der Fockmast zum tödlichen Rammbock. Die See holte wild mit ihm aus und schmetterte ihn voller Wucht an den Rumpf. Es krachte und knirschte. Durch das Heulen des Sturms war das Bersten von Planken zu hören, das Gurgeln von eindringendem Wasser...
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. April 1988