R. L. Stine
Mord im Mai Das Unheil kommt auf leisen Rollen
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Rosken
Loewe
...
16 downloads
563 Views
463KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
R. L. Stine
Mord im Mai Das Unheil kommt auf leisen Rollen
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Rosken
Loewe
Stine, Robert L.: Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Mord im Mai : Das Unheil kommt auf leisen Rollen / aus dem Amerikan. übers, von Maria Rosken. – 1. Aufl. – 1997
ISBN 3-7855-3101-X
ISBN 3-7855-3101-X – 1. Auflage 1997 Titel der Originalausgabe: : The confession Englische Originalausgabe Copyright © 1996 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 1997 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Maria Rosken Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Satz: DTP im Verlag Gesamtherstellung: Wiener Verlag Printed in Austria
Kapitel 1 Was würdest du tun, wenn einer deiner besten Freunde dich beiseite nähme und dir sagte, dass er dir ein Geständnis machen muss? Was würdest du tun, wenn er dann damit herausrückte, dass er jemanden umgebracht hat? Wenn er dich bitten würde es niemandem weiterzuerzählen, sein schreckliches Geheimnis nicht zu verraten. Was würdest du tun? Die Eltern deines Freundes einweihen? Die Polizei über den Mord informieren? Ihn zu überreden versuchen sich seinen Eltern anzuvertrauen? Mit deinen eigenen Eltern reden? Oder würdest du das Geheimnis für dich behalten? Keine leichte Entscheidung, nicht wahr? Ich bin siebzehn und habe eigentlich immer gedacht, dass ich auf eine Menge Fragen eine gute Antwort weiß. Aber als ein wirklich guter Freund aus unserer Clique uns bei sich zu Hause zusammentrommelte und vor versammelter Mannschaft gestand einen Mord begangen zu haben – nun ... da waren wir alle völlig ratlos. Eines steht jedenfalls fest: Als Hillary Walker, Taylor Snook und ich an jenem warmen Tag im letzten Mai nach der Schule zu mir nach Hause gingen, dachten wir an alles Mögliche, aber nicht an Mord. Die Luft war frisch und mild. Die alten Bäume in unserem Garten hinterm Haus trieben frische grüne Blätter und im Blumenbeet neben der Garage wogten sanft rote und gelbe Tulpen hin und her. Der Garten war über und über in helles Nachmittags-licht getaucht. Hillary, Taylor und ich ließen unsere Schultaschen fallen, setzten uns in Gras, streckten die Beine aus und hielten unsere Gesichter in die Sonne. Taylor strich sich ihre weißblonden, lockigen Haare aus dem Gesicht. Ihre grünen Augen funkelten im Sonnenlicht. Dann machte sie die Augen zu und drehte ihr Gesicht wieder zur Sonne 9
hin. Julie, hast du dich eigentlich schon mal nackt gesonnt?", fragte sie mich aus heiterem Himmel. Hillary und ich mussten über ihre Frage lachen. Taylor machte sich immer einen Spaß daraus, uns zu schocken. „Du meinst, hier im Garten?", fragte ich entgeistert. „Nein, am Strand natürlich", erwiderte Taylor scharf und seufzte genervt, als hätte ich eine völlig dämliche Frage gestellt. Taylor war noch ziemlich neu in unserer Clique und ich hatte öfter das Gefühl, dass sie mich nicht sonderlich mochte. „Ich war mal im Winter mit meinen Eltern auf einer der Karibischen Inseln, auf St. Croix, und da sind wir an einem Nacktbadestrand gewesen", erklärte Taylor, die noch immer die Augen geschlossen hatte und bei der Erinnerung daran lächelte. „Und - hast du da ohne Badeanzug gebadet oder nicht?", fragte Hillary gespannt. Taylor kicherte. „Ich war doch erst sieben." Ihr Kichern war so ansteckend, dass wir auch losprusteten. Hillary stand auf. Der lange Zopf, zu dem sie ihre Haare immer geflochten hat, hüpfte auf ihrem Rücken hin und her. ,Julie, können wir nicht ins Haus gehen?", fragte sie. „Ich finde, ich bin braun genug!" Taylor und ich mussten wieder lachen. Hillary ist nämlich dunkelhäutig. Ich streckte Hillary eine Hand hin um mich von ihr hochziehen zu lassen. „Kannst du es denn nicht mal länger als fünf Minuten an einem Fleck aushaken?", seufzte ich. Hillary und ich kennen uns schon seit Ewigkeiten. Ich bin an ihre manchmal etwas hektische Art und ihre schnelle Redeweise gewöhnt, aber andere Leute verblüfft sie damit immer wieder. Wenn sie plötzlich loslegt, schießen ihre Augen hinter der Brille mit dem weißen Kunststoffgestell wie wild hin und her. Sie ist anstrengend – das ist der einzig passende Ausdruck für Hillary. Sie ist klug, hübsch, lustig und ... eben anstrengend. Hillary erinnert mich manchmal an dieses Kinderspielzeug, das man aufzieht und das dann schnell und unberechenbar in 10
irgendeine Richtung abdüst, sobald man es loslässt. Sie zog mich hoch und wir schleppten unsere Schultaschen ins Haus. Bei ein paar Dosen Limo und einer Tüte Tortilla-Chips ließen wir uns an unserem runden Küchentisch mit der gelben Tischdecke aus Plastik nieder. Unser Gesprächsthema Nummer eins waren natürlich Jungen, hauptsächlich Vincent und Sandy. Vincent Freedman gehört auch zu unserer Clique. Mit ihm bin ich schon seit Ewigkeiten befreundet. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mir seit einiger Zeit wünsche, er wäre mehr als nur ein guter Kumpel. Ich glaube, Vincent und ich würden wirklich ein tolles Paar abgeben. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Vincent hat leider nicht den blassesten Schimmer, dass ich unheimlich in ihn verliebt bin. Er kommt wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, weil wir uns schon so lange kennen. Sandy Miller ist auch einer meiner ältesten Freunde. Er geht nun schon seit ungefähr einem Monat mit Taylor und durch ihn ist sie ni unsere Clique gekommen. Der arme Sandy. Seit Taylor sich für ihn interessiert, hat er total abgehoben. Er ist wirklich kaum wieder zu erkennen! Sandy ist eigentlich ein ganz schüchterner, stiller Typ und nicht gerade der begehrteste Junge an unserer High-School. Wahrscheinlich steht er immer noch unter Schock, weil ausgerechnet ein so hübsches Mädchen wie Taylor ihn für den tollsten Hecht aller Zeiten, für Brad Pitt persönlich zu halten scheint! Er kann sein Glück kaum fassen. Aber ehrlich gesagt wundern wir uns alle, dass ein so umwerfendes Mädchen wie Taylor sich ausgerechnet in Sandy verknallt hat. Aber auch das steht auf einem anderen Blatt. Wir hockten also um den Küchentisch herum, redeten über Jungen und hatten dabei jede Menge zu lachen. Schließlich kamen wir auf die Party zu sprechen, auf die Party schlechthin. Eine Party bei Reva Dalby ist nämlich immer eine Riesensache. Reva ist die Tochter der reichsten Eltern der ganzen Schule. Ihr 11
Vater besitzt eine Kette von mindestens hundert Warenhäusern und ihre Familie bewohnt ein riesiges Anwesen in North Hills, mit Wachhunden und hohen Zäunen ringsherum. Reva hatte sämtliche Mitschüler der Abschlussklassen eingeladen und gleich zwei Bands engagiert, die in dem großen Garten hinter ihrem Haus spielen sollten. Eine eher drittklassige Band mit dem Namen Garage Boys, die sonst immer in der Red-Heat-Disko in Shadyside auftritt, und die Rap-Gruppe 2Ruff4U, die extra für die Party von Los Angeles eingeflogen wird. Reva kann es sich natürlich nicht verkneifen, uns das ständig unter die Nase zu reiben. Niemand von uns kann Reva besonders gut leiden. Ich meine, sie würde nicht gerade die Wahl zum beliebtesten Mädchen der HighSchool gewinnen. Aber was soll's? Schließlich gibt sie die Party des Jahres und alle sind wild darauf hinzugehen. Wir redeten noch eine Weile über das große Ereignis. Hillary zerbrach sich den Kopf darüber, was sie anziehen sollte. „Die Party ist doch draußen, nicht wahr?", sagte sie. „Und abends ist es noch ganz schön kühl. Aber ich möchte mich auch nicht zu warm anziehen, schließlich will ich richtig abtanzen. Wenn ich lange Hosen und ein Sweatshirt trage ..." An diesem Punkt klinkte ich mich aus dem Gespräch aus. Es war typisch für Hillary, dass sie sich eine Menge unnötige Gedanken machte und diese so schnell hervorsprudelte, dass es unmöglich war, auch nur ein Wort einzuwerfen. Sie redete immer noch wie ein Wasserfall, als ich plötzlich ein lautes Geräusch an der Küchentür hörte. Ich sprang erschrocken auf, als eine kräftige Gestalt ohne zu klopfen die Tür aufriss und zu uns in die Küche stürmte. Wir schrien alle drei gleichzeitig auf. Und damit begann der Ärger ...
12
Kapitel 2 „Hey, Al – du hast es wohl auch nicht mehr nötig anzuklopfen, was?", sagte ich ärgerlich. Al Freed schnaubte verächtlich. Er schlenderte lässig zu uns an den Tisch und sah uns mit einem schiefen Grinsen an. „Wie geht's denn so, Mädels?" „Ohne dich geht's uns bestens!", zischte Hillary ihn an. „Ich kann mich nicht erinnern, dass dich irgendjemand eingeladen hat." Taylor und ich lachten, aber Al fand es alles andere als lustig. Al ist mit uns zusammen in der Abschlussklasse. Er ist groß, hat blonde Haare und sieht irgendwie brutal aus. Mit seinen kleinen, runden Augen, die eng nebeneinander liegen, und seiner großen Hakennase erinnert er mich immer an einen Geier, der kurz davor ist, sich auf seine Beute zu stürzen. Er zieht grundsätzlich nur schwarze Sachen an, was diesen Eindruck noch verstärkt. Er läuft ständig mit einem coolen Grinsen herum, so als wollte er allen zeigen, was für ein knallharter Bursche er ist. Ich weiß, dass Al bei meiner Beschreibung nicht besonders gut wegkommt, dabei hat er auch mal zu unserer Clique gehört. Wir konnten ihn wirklich alle gut leiden. Aber dann begann er sich mit ein paar richtig üblen Typen aus Waynesbridge herumzutreiben. Al veränderte sich. Er fing an jede Menge Bier in sich hineinzuschütten. Das haben mir jedenfalls ein paar andere Jungen erzählt, mit denen er auch viel zusammen war. Und er handelte sich eine Menge Arger ein und damit meine ich ernsthaften Ärger mit der Polizei. Schade. Immer wenn ich Al sehe, muss ich daran denken, wie er früher war, und ich wünschte, er würde seine neuen „Freunde" in die Wüste schicken und wieder so werden, wie er mal war. Aber das ist wohl ziemlich unwahrscheinlich. Jetzt stand Al also am Küchentisch und baute sich vor uns auf. „Ich seh euch doch an der Nasenspitze an, dass ihr gerade von mir geredet habt", flachste er. „Ihr seid doch alle ganz verrückt nach 13
mir, stimmt's?" „Da irrst du dich aber gewaltig", erwiderte Taylor kühl. Wenn sie will, können ihre grünen Augen kalt wie Marmor werden und eisige Blicke abfeuern. „Du willst Sandy doch schon lange den Laufpass geben und lieber mit mir wegfahren", redete Al weiter auf Taylor ein. „Mit welcher Art Dreirad fährst du denn im Moment gerade durch die Gegend?", machte Hillary sich über ihn lustig. Wie schon gesagt: Hillary reagiert immer blitzschnell und ist nie um eine Antwort verlegen. Als Segelohren liefen rot an. Daran kann man bei ihm immer erkennen, dass er wütend ist. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er eine Dose Bier in der Hand hielt, bis er sie an den Mund setzte. Er nahm eine kräftigen Zug und rülpste lauthals. „Du weißt wirklich, wie man Mädchen imponiert", zog Taylor ihn wieder auf. Hillary trommelte nervös mit ihren langen, roten Fingernägeln auf den Tisch. In ihren Brillengläsern spiegelte sich das Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, aber ich konnte trotzdem erkennen, dass sie Al keine Sekunde aus den Augen ließ. Ich glaube, dass Al ihr inzwischen ein bisschen Angst machte. Aber da war sie in guter Gesellschaft. Mir ging es genauso. Er klemmte sich die Bierdose zwischen Ober- und Unterarm, beugte den Arm und zerdrückte sie lässig. „Hab ja auch lange daran gearbeitet", sagte er. „Walnüsse mit den Zähnen zu knacken ist für dich sicher auch ein Kinderspiel", murmelte Hillary ironisch. Al ging nicht auf sie ein, sondern warf die Dose quer durch die Küche in die Spüle. Sie landete mit einem lauten Scheppern und hinterließ eine Spur aus Biertropfen auf dem weißen Küchenboden. „He, pass doch ein bisschen auf!", rief ich. „Was willst du eigentlich von uns, Al? Was hast du hier überhaupt verloren?" Er sah mich mit seinen blauen Augen an. „Du warst mir von allen schon immer die Liebste, Julie. Du bist die Allerbeste." Er zeigte auf Hillary und Taylor. „Die taugen nichts. Aber du bist einsame Klasse." 14
Ich verdrehte die Augen. „Also, was willst du, Al?", wiederholte ich ungeduldig. „Zwanzig Dollar", sagte er und hielt mir seine große Pranke hin. Seine Hand war voller schwarzer Ölflecken und unter seinen Fingernägeln saß dick der Dreck. Vermutlich hatte er an seinem Wagen herumgewerkelt. „Das ist auch schon alles. Nur lächerliche zwanzig Mäuse." „Die hab ich nicht", erwiderte ich kurz angebunden und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ehrlich nicht." „Du bist mir wirklich die Liebste von allen. Julie", sagte Al noch einmal. Er nahm seine dreckige Pfote nicht weg, sondern fuchtelte mir damit weiter vor dem Gesicht herum. „Du bist Klasse, einfach einsame Spitze. Schlappe zwanzig Kröten. Wenn ich sie nicht wirklich dringend brauchte, würde ich dich ja nicht drum bitten." Erwiderte mich an. „Al, ich bin völlig blank", erklärte ich. „Außerdem schuldest du mir sowieso schon zwanzig Dollar." „Hau endlich ab, Al", mischte Hillary sich ein. „Warum suchst du dir nicht irgendeinen Job?" „Wer würde den denn schon nehmen?", meinte Taylor gehässig. Ich war ein bisschen überrascht, dass Taylor sich einmischte. Schließlich war sie erst vor wenigen Monaten, so um Weihnachten herum, nach Shadyside gezogen und gehörte noch nicht lange zu unserer Clique. Sie kannte Al nun wirklich noch nicht gut genug um so einen bissigen Kommentar abzugeben. Wahrscheinlich wollte sie mir einfach nur aus der Patsche helfen. Al zog eine Zigarette aus der Tasche seines schwarzen Flanellhemds. Er zündete sie an und warf das Streichholz einfach auf den Boden. „He, lass das!", rief ich und schob ihn zur Tür. „Du weißt genau, dass meine Eltern nicht wollen, dass hier geraucht wird!" Grinsend wich er mir aus. Er zog kräftig an seiner Zigarette und blies mir den Rauch ins Gesicht. „Lass sie in Ruhe, Al", sagte Hillary bestimmt. Sie stand auf und schob ihren Stuhl zur Seite. Gemeinsam rückten wir ihm auf die Pelle. 15
„Hey, nicht!" Er hob beide Hände um uns abzuwehren. „Raus mit dir!", rief ich. „Wenn meine Mutter nach Hause kommt und Zigarettenqualm riecht..." Er schnippte die Asche auf den Küchentisch. Mit zusammengekniffenen Augen sah er mich spöttisch lachend an. „Julie, deine Eltern haben dir doch das Rauchen verboten. Aber ich kenne da ganz zufällig ein kleines Geheimnis. Du rauchst trotz des Verbotes, nicht wahr?" „Halt die Klappe!", fuhr ich ihn an. Sein Lachen wurde zu einem gemeinen Grinsen. „Ich hab dich nämlich letztes Wochenende in der Einkaufspassage dabei ertappt. Paff-paff-paff." Wieder blies er mir den Zigarettenrauch ins Gesicht. Julie ist wirklich eine ganz Schlimme. Vielleicht sollte ich es deiner Mutter verraten ..." „Nein!", schrie ich aus voller Kehle. Meine Mutter hat Hillary und mich nämlich im letzten Schuljahr in meinem Zimmer beim Rauchen erwischt -und sie hat getobt! Wenn es ums Rauchen geht, ist sie immer gleich auf hundertachtzig. Sie hat mir nach dem Examen eine Belohnung von tausend Dollar versprochen, wenn ich es schaffen würde, keine einzige Zigarette mehr anzurühren. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was meine Eltern sich einfallen lassen würden, wenn sie dahinter kämen, dass ich ab und zu eine Zigarette rauche, wenn ich mit meiner Clique unterwegs bin. Meine Mutter würde garantiert restlos ausflippen. Es würde jedenfalls unangenehm werden, verdammt unangenehm sogar. Und es war klar wie Kloßbrühe, dass Al mir nicht zum Spaß gedroht hatte. Er würde meiner Mutter meine Pafferei petzen, es sei denn, ich stellte mich weiter gut mit ihm. Aus diesem Grund hatte ich auch neulich die zwanzig Dollar für ihn herausgerückt. „Al, ich bin völlig pleite. Ehrlich", sagte ich wieder. ,Ja. Schon gut." Wieder schnippte er Asche vor Taylor auf den Tisch. „Wofür brauchst du denn so dringend zwanzig Dollar?", fragte Hillary. 16
„Damit ich mit Taylor ausgehen kann", antwortete er und grinste wieder. „Haha. Dass ich nicht lache", murmelte Taylor und streckte Al die Zunge heraus. „So gefällst du mir am allerbesten!", sagte er zu ihr. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Werd doch endlich mal erwachsen!" Al drehte sich wieder zu mir um. Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel mir nicht. So hart und eiskalt hatte ich ihn früher nie erlebt. „Wie war's denn, wenn ich ein kleines Loch ins Tischtuch brenne, Julie? Meinst du, du könntest die zwanzig Kröten dann auftreiben?" „Al, bitte ...", bettelte ich. Aber er drehte die Zigarette zwischen seinen Fingern und hielt sie immer näher an den Küchentisch. „Al! Hör auf!", rief ich und war mit einem Satz bei ihm. Aber er wirbelte herum und stellte sich mir mit seinem breiten Rücken in den Weg. Er hielt das glühende Ende der Zigarette ganz dicht an die Plastiktischdecke. „Komm schon, Julie. Irgendwo wirst du doch bestimmt noch zwanzig Dollar ausgraben. Du willst doch nicht, dass deine Mutter ein großes Brandloch in der Tischdecke entdeckt, oder?" „Hör auf damit! Lass das!" Gemeinsam zogen Hillary und ich ihn vom Tisch weg. Die Zigarette fiel auf den Fußboden. Al schien sich bestens zu amüsieren – sein widerliches lautes Lachen hallte durch die Küche. Mit vereinten Kräften schoben wir ihn zur Küchentür. „Mach's gut, Al", sagte ich. Aber er wand sich los und drehte sich zu Hillary hin. „Dein Vater ist doch ein stadtbekannter Arzt. Ich wette, dass du zwanzig Dollar für mich lockermachen kannst." Hillary ließ ihn los und sah ihn genervt an. „Warum sollte ich dir auch nur einen einzigen Penny geben?" Al kam mit seinem Gesicht ganz nah an Hillarys Ohr. Er rückte 17
ihr so dicht auf die Pelle, dass er ihren Ohrring aus orangefarbenem Glas hätte anknabbern können. „Wegen Chemie", flüsterte Al, allerdings laut genug, dass Taylor und ich es hören konnten. Hillary blieb die Spucke weg. „Du möchtest doch bestimmt nicht, dass Mr. Marcuso erfährt, dass du in der Examensarbeit in Chemie gemogelt hast", sagte Al zu Hillary. „Du willst mich doch wohl nicht erpressen!", zischte Hillary mit zusammengebissenen Zähnen. Al lachte. „Sicher will ich das! Was denn sonst?" „Aber du hast mir die Examensarbeit vom letzten Jahr doch freiwillig gegeben!", protestierte Hillary. „Ich hab dich nicht darum gebeten, Al. Du hast sie mir einfach auf den Tisch gelegt!" „Aber du hast daraus abgeschrieben, stimmt's?", sagte Al hämisch. „Wenn jemand Mr. Marcuso steckt, dass du gemogelt hast, Hillary, dann lässt er dich achtkantig durch die Prüfung rasseln. Und dann ist es aus mit dem fantastischen College, für das du eine Zusage hast. Buhu!" „Al, du warst früher mal richtig nett", sagte ich kopfschüttelnd. „Warum bist du bloß so unausstehlich geworden?" Er zog mich an den Haaren. „Das hab ich mir bei dir abgeguckt!", feuerte er zurück und lachte über seinen schlauen Einfall. „Du kannst doch nicht einfach hier reinmarschiert kommen und versuchen uns zu erpressen", mischte Taylor sich wieder ein. Sie hatte sich nicht vom Tisch weggerührt. Mir kam es so vor, als diente er ihr als Schutzschild gegen Al. „Ja. Mach endlich die Platter!", sagte ich mit Nachdruck und schubste ihn wieder an. „Ehrlich. Mach 'nen Spaziergang!" Aber Hillary kramte schon in ihrer Tasche herum. Sie zog einen Zwanzigdollarschein heraus und drückte ihn Al in die ausgestreckte Hand. „Wann zahlst du es mir zurück?", fragte sie ihn. Sie sah ihn dabei nicht an, sondern hielt den Kopf gesenkt und blickte hinunter auf ihre Tasche. „Gute Frage", erwiderte Al mit einem fiesen Grinsen. „Das weiß
18
ich selbst noch nicht." Er stopfte das Geld in die Tasche seiner schwarzen Jeans. Dann drehte er sich zur Tür hin. „Schönen Tag noch!" Er ging drei Schritte - und blieb dann abrupt stehen, denn in diesem Moment kam meine Mutter zur Windfangtür herein. „Oh, hi, Mrs. Carlson." Er war so verdattert, dass er wieder rote Ohren bekam. In beiden Armen eine braune Einkaufstüte trat meine Mutter in die Küche. „Hallo, alle zusammen. Ich bin heute ausnahmsweise ein bisschen früher dran." Al nahm ihr eine der Tüten ab und stellte sie auf den Küchentresen. Meine Mutter setzte die andere Tüte ab und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hat die gleichen dunkelbraunen Haare und die gleichen großen braunen Augen wie ich – das war's dann aber auch schon mit unseren Gemeinsamkeiten. Meine Mutter behauptet immer, ich hätte große Ähnlichkeit mit Demi Moore. Ich finde, sie sollte sich besser mal eine Brille zulegen. „Du bist in letzter Zeit aber ein ziemlich seltener Gast bei uns", sagte meine Mutter zu Al. „Ich war ziemlich im Stress", antwortete Al, der immer noch feuerrote Ohren hatte. Dann verabschiedete er sich schnell und hastete zur Tür hinaus. „Warum ist er denn ganz in Schwarz? Ist jemand gestorben?", fragte meine Mutter erstaunt. Wir kamen nicht mehr dazu zu antworten, denn plötzlich schrie sie entgeistert auf und zeigte wutschnaubend auf den Fußboden. Mir war sofort klar, was los war: Sie hatte die Zigarette entdeckt, die Al einfach fallen gelassen hatte. „Mom ...", begann ich. Sie bückte sich und hob sie mit wutverzerrtem Gesicht auf. „Die brennt ja noch!" „Das war Al!", rief ich. „Wir haben nicht geraucht. Die Zigarette gehört Al!" „Das stimmt, Mrs. Carlson", sagte Hillary. Taylor und Hillary 19
standen mit betretenen Gesichtern herum. Am liebsten wären sie vom Erdboden verschluckt worden. Schließlich hatten sie schon öfter miterlebt, wie meine Mutter wegen einer Sache, die ihr nicht in den Kram passte, völlig ausrastete. „Es ist mir völlig egal, wer hier geraucht hat, Julie", sagte meine Mutter mit steinernem Gesichtsausdruck und sprach jedes einzelne Wort betont langsam aus. „Die Verantwortung dafür liegt bei dir, wenn ich nicht zu Hause bin, und ..." Laut seufzend brachte sie die Zigarette zum Spülbecken. „Eine Bierdose auch noch?", schrie sie schrill. „Die ist auch von Al!", riefen Taylor und ich im Chor. Hillary drückte sich gegen die Wand und sah aus, als wäre sie am liebsten mit der Blümchentapete verschmolzen. „Du hast sie einfach ins Spülbecken geworfen?", sagte meine Mutter bedrohlich leise. Ich setzte zu einer Antwort an, aber was hatte es schon für einen Zweck? Mir war klar, dass ich dick in der Tinte saß. Es spielte keine Rolle, dass die Bierdose und die Zigarettenkippe auf Als Konto gingen. Seit meine Mutter Hillary und mich in meinem Zimmer beim Rauchen erwischt hatte, traute sie mir sowieso nicht mehr über den Weg. Ich bin mir sicher, dass sie glaubt, es ginge hier drunter und drüber, wenn sie nicht da ist. Und nun kommt sie nach Hause und findet offenbar ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Julie, das bedeutet Hausarrest für dich am Wochenende", sagte meine Mutter mit gepresster Stimme. Ihr Kinn zuckte und sie sprach betont ruhig, weil sie versuchte ihre Wut in den Griff zu bekommen. „Nein! Das kannst du mir nicht antun!", rief ich. Ich merkte selbst, dass meine Stimme einen völlig verzweifelten Klang hatte, aber ich konnte mich nicht zusammenreißen. „Die Party!", protestierte ich. „Revas Party! Mom, wenn du mir Hausarrest gibst, verpasse ich die Party!" Meine Mutter legte einen Finger auf ihren Mund. „Kein Wort mehr!" „Das kannst du doch nicht machen!", jammerte ich. „Ich bin 20
siebzehn und ich will Revas Party nicht ..." „Ich dulde es nicht, dass Freunde von dir herkommen und in meiner Abwesenheit Bier trinken und Zigaretten rauchen", schrie meine Mutter mich an und explodierte nun doch. „Und wenn es eine Party im Buckingham-Palast wäre - es interessiert mich nicht! Du bleibst zu Hause! Dann verpasst du die Party eben. Noch ein Widerwort und du gehst mir die ganzen nächsten zwei Wochen nirgends mehr hin!" Ich fuchtelte mit den Fäusten in der Luft herum und ließ einen Wutschrei los. Hillary und Taylor sahen aus lauter Mitleid mit mir verlegen weg. Daran ist ganz allein Al schuld!, dachte ich innerlich kochend. Dieser miese Kerl! Das habe ich ganz allein ihm zu verdanken! Was für ein schrecklicher Nachmittag! Ich glaube, an diesem Tag war uns dreien – Hillary, Taylor und mir – genau gleich zumute: Wir hätten Al umbringen können. Natürlich konnten wir unmöglich ahnen, dass Al zwei Wochen später tatsächlich nicht mehr am Leben sein würde.
21
Kapitel 3 So kam es also, dass ich die Party verpasste. Ob ich das meiner Mutter wohl je verzeihen kann? Allerfrühestens in zehn Jahren vielleicht. Hillary verkündete, es sei die tollste Party unserer gesamten Schulzeit an der Shadyside-High-School gewesen. Sie neigt eben manchmal zu kleinen Gehässigkeiten. Sie hätte die Party ja auch aus Rücksicht auf mich als den langweiligsten Abend ihres ganzen Lebens hinstellen können. Stattdessen rieb sie mir unter die Nase, wie sensationell die zwei Bands gespielt hätten, dass sie bis zwei Uhr morgens nicht mehr von der Tanzfläche gekommen sei und dass sie danach im Mondschein im beheizten Swimmingpool der Dalbys geschwommen wäre. Noch nie hätte sie sich so gut amüsiert und alle hätten sich ständig bei ihr erkundigt, wo ich denn eigentlich bliebe. Ich flehte Hillary an nie wieder auch nur ein Sterbenswörtchen über die Party zu verlieren. Das war jetzt eine Woche her und sie hielt ihr Versprechen - bis wir am Freitag nach der Schule die Canyon Road entlang zu Sandy gingen. Die tief hängenden Wolken verhießen Regen. Es war nasskaltes, ungemütliches Wetter. Der Winter schien noch einmal zurückgekommen zu sein. „Ich verstehe Taylor und Sandy einfach nicht", fing Hillary an. Ich rückte meine Schultasche, die geradezu überquoll vor Hausaufgaben, die ich am Wochenende erledigen wollte, auf den Schultern zurecht. „Was ist denn mit den beiden?", fragte ich und war mit den Gedanken bei meiner Projektarbeit in Geschichte. „Na ja, du hättest sie mal auf Revas Party erleben sollen", fuhr Hillary fort. Ich blieb stehen und packte sie am Ärmel ihres blauen Pullovers. „Du hast es versprochen – kein Wort mehr über die Party!" Sie zog den Arm weg. „Ich rede doch gar nicht von der Party, Julie, 22
sondern von Taylor und Sandy." „Mhm ...was ist denn mit ihnen?", fragte ich mürrisch. „Ich hab sie auf der Party beobachtet", sagte Hillary. „Es war wirklich ein Bild des Jammers. Sandy ist Taylor wie ein Hündchen auf Schritt und Tritt gefolgt. Und Taylor hat kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Sie war ja auch schwer damit beschäftigt, sich um die anderen Jungen zu kümmern, die hinter ihr her waren." „Sie flirtet eben gern", versuchte ich Taylor in Schutz zu nehmen. Im Laufschritt liefen wir über die Straße, bevor die Ampel wieder auf Rot sprang. „Es war widerlich", beharrte Hillary. „Du hättest sehen sollen, wie sie mit Bobby Newkirk getanzt hat. Und dann hab ich mitgekriegt, wie sie mit einem Jungen, den ich noch nie gesehen habe, hinter der Garage herumgeknutscht hat." „Oh, hm", murmelte ich. „Und was hat Sandy gemacht?" „Ist wie ein aufgescheuchtes Reh herumgerannt um sie mit Cola zu versorgen", berichtete Hillary. „Also, ich versteh das nicht. Er muss doch mitbekommen haben, wie Taylor sich aufführt. Das war so was von offensichtlich! Sie hat praktisch so getan, als wäre Sandy gar nicht da, und er hat bloß gelächelt und ist ihr die ganze Zeit hinterhergerannt." „Das nenn ich wahre Liebe", bemerkte ich trocken. „Das ist wirklich nicht lustig", schimpfte Hillary mich aus. „Du weißt genau, wie ernst Sandy es mit ihr meint." „Ich wünschte, Vincent würde mich endlich auch mal ernst nehmen", murmelte ich vor mich hin. Hillary drehte sich zu mir um und sah mich forschend an. „Was hast du gerade gesagt?" „Ach nichts." Ich seufzte. Ich sah Taylor vor mir, wie sie auf der Party mit irgendwelchen Jungen herumflirtete. Auf die gleiche Weise hatte ich es bei Vincent auch schon einmal versucht, aber er hatte wohl gemeint, ich albere bloß herum, und es nicht weiter ernst genommen. „Sandy ist bestimmt ein prima Kerl", fuhr Hillary fort. „Aber ich glaube ..."
23
„Ich finde, dass sie wirklich toll zusammenpassen", unterbrach ich sie. „Vielleicht kriegt Taylor es ja so hin, dass Sandy ein bisschen lockerer wird und seine Schüchternheit ablegt. Immerhin ist Taylor seine erste richtige Freundin. Es war ja immerhin möglich, dass er darüber so aus dem Häuschen ist, dass ihn das völlig umkrempelt. Vielleicht ..." Ich winkte einigen Schulfreunden zu, die gerade in einem Kombi an uns vorbeifuhren. Erst als der Wagen außer Sicht war, fiel mir Hillarys sorgenvolle Miene auf. „Ich finde nicht, dass Taylor Sandy gut tut", wandte sie ein. „Sie wird ihm bestimmt das Leben schwer machen. Wahrscheinlich bekommt er bei der erstbesten Gelegenheit von ihr den Laufpass." „Mir ist auch klar, dass er die Sache viel ernster sieht als sie", gab ich ihr Recht. „Aber meinst du nicht, dass du ein bisschen zu hart mit Taylor ins Gericht gehst?" Hillary blieb der Mund offen stehen. „Wie bitte? Zu hart? Was redest du denn da?" Als wir in die Canyon Road einbogen, blies uns ein kräftiger Wind ins Gesicht. Das rote Backsteinhaus, in dem Sandy wohnte, stand gleich an der nächsten Biegung. Ich hatte das Gefühl, dass Hillary ein bisschen eifersüchtig auf Taylor war. Bis Taylor sich mit Sandy angefreundet hatte, waren Hillary und ich nämlich die einzigen Mädchen in unserer Clique gewesen. Dann war Taylor aufgekreuzt - mit ihren schicken Klamotten, ihrer tollen Frisur, ihrem hübschen Gesicht und ihrer perfekten Figur. Im Nu hatte sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden. Es wäre also wirklich kein Wunder, wenn Hillary ein ganz klein wenig eifersüchtig auf sie wäre. Aber als wir so nebeneinander auf dem Bürgersteig herliefen, beschloss ich diesen Gedanken für mich zu behalten. Es würde Hillary bloß kränken und dann würde sie die ganze übrige Woche darauf verschwenden, es abzustreiten. „Taylor ist schon in Ordnung", sagte ich stattdessen. „Sie ist gar nicht so übel. Sie kommt nur gern auf ihre Kosten, wenn es ums Spaß haben geht, das ist alles. Und dabei ist sie nicht gerade 24
zimperlich." Hillary lachte spöttisch. „Das kannst du wohl laut sagen!" Ich ging auf die Kiesauffahrt zu, die zu Sandys Haus führte. Aber Hillary hielt mich zurück. „Warte noch", murmelte sie und blickte zum Haus hoch. „Was ist denn los?", fragte ich, drehte mich zu ihr um und sah sie besorgt an. ,Al hat mich schon wieder erpresst", sagte Hillary und verdrehte die Augen. „Kannst du dir das vorstellen?" „Was wollte er denn diesmal? Etwa wieder Geld?" Hillary schüttelte den Kopf. „Er hat mich so lange weich geklopft, bis ich ihm meinen Wagen geliehen habe." „Oh", brummte ich. „Ich ... ich hab mich so über Al aufgeregt und geärgert, dass ich es einfach jemandem erzählen musste", stotterte Hillary. „Bei mir ist es selbstverständlich gut aufgehoben", beruhigte ich sie. „Schließlich bin ich deine beste Freundin." „Ständig ist er mir auf den Fersen und verlangt Geld von mir oder schreibt die Geschichtshausaufgaben bei mir ab oder verlangt meinen Wagen", redete Hillary wie ein Wasserfall weiter. Ihre Stimme schnappte vor Wut fast über. „Er lässt mich einfach nicht in Ruhe. Und wenn ich Nein sage ..." „...droht er damit, deinen Eltern zu verraten, dass du in der Chemieprüfung gemogelt hast", beendete ich ihren angefangenen Satz. „Wir sitzen im selben Boot, Hillary." Ich seufzte. „Mich versucht er auch dauernd unter Druck zu setzen." „Ich hasse mich dafür, dass ich das mit mir machen lasse!", zischte Hillary und ballte die Hände zu Fäusten. „Al hat mich in der Hand und das ist allein meine Schuld. Ich hätte die Chemiearbeit vom letzten Jahr einfach nicht von ihm annehmen dürfen. Nie, nie, nie! Das war der größte Fehler meines Lebens!" Ich sah Hillary entgeistert an. In all den Jahren, seit wir uns kannten, hatte ich sie noch nie so aufgelöst erlebt. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. Hillary zitterte ja! „Es kommt alles wieder in Ordnung", redete ich leise und beruhigend auf sie ein. „Mit mir macht er doch das Gleiche. Aber irgendwann 25
wird er die Lust daran verlieren. Ganz bestimmt!" Sie sah mich mit ihren dunklen Augen hoffnungsvoll an. „Meinst du wirklich?" Ich nickte. „Sein Interesse reicht immer nur von zwölf bis Mittag. Er wird es schnell leid werden, uns zu tyrannisieren, und sich neue Opfer suchen. Du wirst schon sehen." Hillary antwortete darauf nichts. Aber ihr war anzusehen, dass ihr förmlich der Kopf rauchte und sie angestrengt nachdachte – vielleicht über das, was ich gerade gesagt hatte. Wir liefen mit laut knirschenden Schritten die kiesbestreute Auffahrt hoch. Ich wollte gerade klingeln, als die Haustür schwungvoll aufgerissen wurde. Sandy stand vor mir in der Tür. An seiner besorgten Miene konnte ich sofort ablesen, dass irgendetwas nicht stimmte. „Sandy – was ist denn passiert?", fragte ich. „Habt ihr schon von der Sache mit Al gehört?", fragte er.
26
Kapitel 4 „Was?", stieß ich hervor und bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. „Kommt herein. Schnell!", trieb uns Sandy zur Eile an. Er hielt uns die Tür auf und Hillary und ich schlüpften an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Taylor und Vincent saßen jeder an einem Ende der grünen Ledercouch. Trotz des stürmischen Wetters trug Taylor nichts weiter als ihre khakifarbenen Shorts und dazu ein kurzes, rotes Trägerhemd, das ihr nur bis zum Bauchnabel reichte. Ich nickte den beiden kurz zu. „Was ist denn mit Al?", fragte ich, während ich mich zu Sandy hin umdrehte. „Er wurde von der Schule suspendiert." Taylor antwortete an Sandys Stelle. ,Ja, das stimmt." Sandy nickte zustimmend und knabberte nervös auf seiner Unterlippe herum. Wenn er das tut, sieht er immer viel jünger aus. Sandy ist klein und ein bisschen rundlich. Er hat ein nettes Gesicht – nicht auffallend, aber nett. Allerdings kommt er mir irgendwie immer wie ein schüchterner, zappeliger Junge von zwölf Jahren vor. „Warum?", fragte Hillary. „Warum haben sie ihn denn von der Schule verwiesen?" Vincent sah uns grinsend an. „Al hat vor Mrs. Hirschs Augen seine Englischarbeit als Blättchen für Zigaretten benutzt und dann eine nach der anderen gequalmt." Hillary und ich hielten die Luft an. „Du machst Witze!", rief ich. Vincents Grinsen wurde immer breiter. Ja, das war nur ein Scherz. In Wirklichkeit hat er einen Streit angezettelt." „Kannst du denn nicht einmal ernst sein?", sagte Sandy streng zu Vincent. Vincent schüttelte verneinend den Kopf. Taylor langte daraufhin quer über die Couch und schlug ihm auf die Schulter. „Du bist schrecklich!", sagte sie spöttisch zu ihm. 27
„Danke", erwiderte Vincent lächelnd. Ich finde sein Lächeln einfach hinreißend. Sein Gesicht ist dann voller Lachfältchen und seine tollen graugrünen Augen funkeln. Vincent trägt seine kastanienbraunen, fast schulterlangen Haare mit einem Mittelscheitel und er sieht damit irgendwie süß aus. Ansonsten ist er lang und schlaksig, was überhaupt nicht zu seinem Gesicht passt. Er hat riesengroße Hände und mit seinen Quadratlatschen von Füßen bewegt er sich total linkisch. Er sieht wie ein großer, tollpatschiger Clown aus, eben einfach süß. Ich bin total in ihn verschossen. Aber das sagte ich ja schon. Manchmal wünschte ich, Vincent, Sandy und die anderen würden nicht dauernd über alles Mögliche Witzchen reißen. Wenn Al wirklich von der Schule geflogen war, konnte das schließlich sein ganzes Leben über den Haufen werfen. „Al hat sich mit David Arnold angelegt", erzählte Sandy aufgeregt. „Nach der Schule haben sie sich auf dem Gang vor der Turnhalle in die Wolle gekriegt." „Ist David denn nicht in der Wrestling-Mannschaft?", fragte ich. ,Ja. Ausgerechnet mit einem der stärksten Typen der ganzen Schule muss er sich prügeln. Echt clever, was?", sagte Sandy. „Er hätte sich besser irgendeinen Winzling dafür aussuchen sollen – dich zum Beispiel!", zog Vincent Sandy auf. Sandy sah ihn finster an. „Hört auf herumzublödeln. Was ist denn nun wirklich passiert?", fragte ich ungeduldig. Vincent lachte. „Al hat David ein paar Kopfnüsse verpasst!" „Das ist nun wirklich überhaupt nicht zum Lachen", fuhr Sandy Vincent an. „Ein bisschen komisch ist es schon", mischte Hillary sich ein. Erst machte es mich etwas stutzig, dass sie ein breites Grinsen im Gesicht hatte. Immerhin war Al mal ein guter Freund von uns allen gewesen. Aber dann wurde mir klar, dass sie Al die Abreibung von ganzem Herzen gönnte, nachdem er sie die letzte Zeit ständig belästigt und bedroht hatte. „Sie sind aus heiterem Himmel aufeinander losgegangen", fuhr Sandy fort. „Al hat es dabei viel schlimmer erwischt als David. Und 28
als Al dann endlich auch mal einen Treffer landen konnte – wer kam da wohl gerade um die Ecke gebogen und hat es mitbekommen?" „Mr. Hernandez?", fragte ich. Sandy nickte. Ja, der Direktor höchstpersönlich. Also wurde Al von der Schule verwiesen, nicht David. Hernandez hat Al jedenfalls mit dem endgültigen Rauswurf gedroht. Seine Eltern sind wahrscheinlich im Moment schon auf dem Weg zur Schule." „Denen werden sie wahrscheinlich so richtig die Hölle heiß machen", meinte Vincent. .Auweia", murmelte ich und ließ mich in den grünen Ledersessel gegenüber der Couch fallen. „Das kann ja heiter werden!" „Das kannst du wohl laut sagen", bemerkte Hillary. Sie hatte die ganze Zeit mit ihrer Schultasche auf dem Rücken dagestanden. Jetzt stellte sie sie neben der Couch ab. Taylor stand auf und streckte sich. Sie rieb sich den Bauch unter ihrem kurzen, roten Trägerhemdchen. Wie hat sie es bloß geschafft, noch nach Hause zu gehen und sich umzuziehen, fragte ich mich. Und warum ist sie so sommerlich angezogen? Etwa nur um aufzufallen? „Es ist mir unbegreiflich, dass Al mal zu unserer Clique gehört hat", sagte Taylor und sah dabei Sandy an. „Ich meine, er ist doch eine komplette Niete. Er baut in letzter Zeit nur noch Mist." ,Ja. Er verpfuscht sich das ganze Leben", stimmte Sandy ihr zu. „Hey", sagte Vincent wie üblich grinsend. „Wenn er schon etwas verpfuscht, dann doch besser sein Leben als unseres, oder?" Taylor rieb sich wieder den Bauch. „Ich sterbe gleich vor Hunger", quengelte sie. „Gibt's denn hier nicht irgendwas zu essen?" „Klar! Kein Problem!", rief Sandy. Hillary und ich warfen uns einen viel sagenden Blick zu. Hillary hatte Recht: Taylor brauchte bloß irgendeinen Wunsch zu äußern und Sandy sprang sofort los. „Ich glaube, ich hab da eine Tüte mit Tortilla-Chips gesehen", sagte Sandy eifrig. „Und vielleicht steht im Kühlschrank ja noch ein Glas mit Chilisoße." 29
„Habt ihr eigentlich schon gewusst, dass in unserem Land mehr Chilisoße als Ketschup gekauft wird?", fragte Vincent. Keiner von uns sagte etwas dazu. Vincent wirft nämlich ständig mit solchen merkwürdigen Informationen um sich. Meistens stimmen sie tatsächlich - aber wen interessiert das schon? Wir folgten Sandy in die Küche. Taylor entdeckte als Erste die Tüte Tortilla-Chips auf dem Küchentresen. Sie riss sie auf, nahm sich eine Hand voll heraus und stopfte die Chips gierig in sich hinein. Hillary verfolgte, wie sich Taylor noch eine Hand voll Chips nahm und sie ausgehungert verschlang. „Wie ist es denn bloß möglich, dass du so schlank bleiben kannst, wenn du solche Mengen von Chips verputzt?", fragte Hillary. Taylor ließ sich eine Retourkutsche natürlich nicht entgehen. „Ich erbreche sie jeden Abend wieder", erwiderte sie trocken. Wir mussten alle lachen. Taylor ist wirklich unheimlich schlagfertig, auch wenn ihre Bemerkungen manchmal etwas daneben sind. Sandy mühte sich unterdessen mit dem Glas Chilisoße ab. Ächzend und stöhnend versuchte er den Deckel aufzubekommen. Schließlich stellte er das Glas auf den Kopf und klopfte auf die Unterseite. Nichts zu machen. Dabei ließ er Taylor keine Sekunde aus den Augen. Ich glaube, es war ihm peinlich, dass er es nicht schaffte, den Deckel aufzudrehen. Jungen sind in der Hinsicht ja manchmal etwas merkwürdig. „Lass mich mal versuchen", bot Hillary ihm an. Sandy wollte protestieren, aber sie nahm ihm das Glas einfach aus der Hand. Mühelos schraubte Hillary den Deckel auf und sah Sandy mit einem triumphierenden Blick an. „Na, bin ich nicht eine Superfrau?", fragte sie stolz. Sandy wurde rot. Dabei hätte es ihm nun wirklich nicht peinlich zu sein brauchen. Aber ich konnte ihm ansehen, dass er sich richtig gedemütigt fühlte. „Ich hatte ihn ja schon ein Stück weit aufgeschraubt", brummte er. Hillary winkelte ihren Arm an und ließ ihren Bizeps spielen. „Ich 30
bin eben in Bestform. Schließlich trainiere ich jeden Morgen", gab sie an. „Du stemmst doch höchstens deine Zunge", flachste Vincent. „Haha", sagte Hillary sarkastisch. Sie tunkte einen Chip ins Glas und reichte es dann an Taylor weiter. „Ihr Jungen könnt mich ja mal in unserem Keller besuchen kommen", schlug Hillary vor. „Mein Vater hat alle möglichen Fitnessgeräte angeschafft. Damit trainiere ich jeden Morgen vor der Schule eine halbe Stunde. Ich gehe jede Wette ein, dass ich besser in Form bin als alle anderen an unserer Schule." Das ist wieder mal typisch Hillary, dachte ich. Immer muss sie in allem die Beste sein. Sandy wollte gerade etwas sagen, aber ein lautes Klopfen an der Küchentür hielt ihn davon ab. Wir drehten uns alle gleichzeitig zur Glastür hin, die in den Garten führte. Als ich Al auf der Türschwelle stehen sah, krampfte sich mein Magen zusammen. Was will er denn jetzt schon wieder?, war mein erster Gedanke. Und warum sieht er so merkwürdig aus?
31
Kapitel 5 Sandy stürzte zur Tür. „Ich ... ich finde nicht, dass du ihn hereinlassen solltest", warnte Hillary Sandy. Al klopfte mit seiner großen Faust so fest an die Glasscheibe, dass ich die Zähne zusammenbiss und förmlich darauf wartete, dass das Glas zerbrach. „He, Leute!", rief er. „Lasst mich rein – ich bin es doch!" Sandy, der seine Hand schon auf den Türknauf gelegt hatte, zögerte. „Warum brüllt er denn so herum?" „Er scheint betrunken zu sein", meinte Taylor und ging zu Sandy. „Tja, uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihn hereinzulassen", meldete sich Vincent zu Wort. „Schließlich sieht er uns hier drinnen ja ganz genau. Er wird garantiert nicht aufhören gegen die Scheibe zu hämmern. Wir können ja nicht einfach so tun, als wäre er unsichtbar." „He, Kumpels! Macht auf! He, ihr widerlichen Schufte! Ich bin's doch!" Al presste seine Schulter gegen die Tür. „Oh!" Hillary bekam es mit der Angst zu tun und schrie auf. „Ich werde ihn wohl hereinlassen müssen", stöhnte Sandy. „Dieser Volltrottel tritt sonst womöglich noch die Tür ein." Sandy drehte den Knauf herum und öffnete die Tür. Al kam mit wütendem Blick in die Küche gewankt. „Warum habt ihr denn nicht gleich aufgemacht?" Er sprach betont langsam und seine Augen wanderten von einem zum anderen. „Weil wir dich nicht gehört haben", sagte Sandy zu ihm. Eine ziemlich lahme Ausrede. „Was?" Al schwankte hin und her, so als hätte er Schwierigkeiten sich auf den Beinen zu halten. Dann sah er Sandy mit zusammengekniffenen Augen an. „Er ist tatsächlich betrunken", flüsterte ich Hillary zu. „Bis oben hin abgefüllt."
32
,Ja, voll wie eine Haubitze", erwiderte Hillary flüsternd. Al schob sich an Sandy vorbei und ging torkelnd zum Kühlschrank. „Gibt's hier 'n Bier im Haus?" Er zog die Kühlschranktür auf. „He – kommt überhaupt nicht in die Tüte!", rief Sandy und lief schnell hin um Al zu stoppen. Al drehte sich um – und wäre fast vornübergefallen. „Wie? Kein Bier? Im untersten Kühlschrankfach hab ich aber ein Sechserpack gesehen." „Nein. Tut mir Leid", sagte Sandy angespannt. Er versuchte die Kühlschranktür wieder zuzumachen, aber Al ließ sie nicht los. Sandy warf Taylor einen nervösen Blick zu. Dann drehte er sich wieder zu Al hin. „Setz dich doch erst mal, ja?" Er legte Al eine Hand auf die Schulter um ihn zu beruhigen. Al wischte Sandys Hand wütend weg. „Fass mich gefälligst nicht an, ja", murmelte er mit drohender, leiser Stimme. Er starrte Sandy aus wässrigen Augen an. „Hände weg! Rühr mich nicht an!" „Nimm's dir nicht allzu sehr zu Herzen, Al", mischte ich mich ein und lief zu Sandy. „Wir haben gehört, was dir in der Schule passiert ist. Es tut uns Leid für dich. Du hast dir da wirklich schwer was eingebrockt." Ich glaube nicht, dass Al auch nur ein Wort von dem verstand, was ich sagte. Er stand schwankend in dem rechteckigen Lichtausschnitt der offen stehenden Kühlschranktür und starrte Sandy weiter wütend an. Obwohl es draußen ziemlich kühl war, rannen ihm Schweißperlen von der Stirn. Hillary stand mitten in der Küche. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sah Al mit ausdrucksloser Miene an und musterte ihn ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Sandy versuchte erneut Al vom Kühlschrank wegzuzerren. Aber groß wie Al war, schob er kurzerhand eine Schulter vor und stieß Sandy weg. „Ich lass mich doch von dir nicht so anstarren, Mann!", sagte Al wütend. „Al, bitte ...", flehte Sandy ihn an. „Als ob du mir überlegen wärst", murmelte Al gehässig.
33
Sandy machte einen Schritt rückwärts. Er ist mindestens zwanzig Zentimeter kleiner als Al und alles andere als athletisch gebaut. „Du glaubst wohl, du wärst was Besseres als ich", fuhr Al fort. „Du hältst dich wohl für einen ganz coolen Typen, was?" „Al, mach bitte den Kühlschrank zu und setz dich hin", sagte Sandy streng und zeigte zum Küchentisch. „Wir haben dir doch nichts getan", mischte ich mich ein und versuchte ihn so von Sandy abzulenken. „Wir sind doch Freunde." Aber Al ließ Sandy nicht aus den Augen. „Von dir lass ich mir gar nichts sagen! Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du hältst dich wohl für einen scharfen Typen, nur weil Taylor so tut, als würde sie auf dich abfahren." „Al, halt die Klappe!", schrie Taylor, die hinter uns stand, mit schriller Stimme. Ja – halt endlich die Klappe", knurrte Hillary ihn eiskalt an. „Du bist doch nur ein fieser, fetter Feigling", schnaubte Al verächtlich. Sandys Gesicht lief rot an. Seine Halsadern schwollen an und ich konnte sehen, wie sie pulsierten. Al kicherte. Keine Ahnung, was er daran so lustig fand. „Ein fieser, fetter Feigling", sagte er noch einmal, fast flüsternd. Uns war allen klar, dass er Sandy provozieren wollte, damit der auf ihn losging. „Hey, Al ... hast du etwa für heute immer noch nicht genug Zoff gehabt?", rief Vincent. „Mach bitte den Kühlschrank zu", bat Sandy ihn erneut. Seine Kiefernmuskeln zuckten und er war immer noch rot im Gesicht. Doch Al sah ihn mit seinem hässlichen, unangenehmen Grinsen an. „Na, dann versuch doch mich dazu zu bringen!" „Sandy – nein!", schrie ich. Doch es war zu spät. Sandy griff nach Als Arm. Er bekam Al oberhalb des Handgelenks zu fassen und zerrte ihn mit aller Kraft vom Kühlschrank weg. Al fluchte – und holte mit der anderen Faust aus. Dabei kam er ins Stolpern und verlor das Gleichgewicht. Trotzdem traf Sandy seine Faust mit voller Wucht an der Wange. Sandy schrie vor Schmerzen auf. Er taumelte rückwärts und hielt sich das Gesicht. 34
Schwer keuchend und vor Schweiß triefend lehnte Al sich an die Kühlschranktür. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Sandy an. Er war auf der Hut, weil er damit rechnete, dass Sandy zurückschlagen würde. Sandy lief Blut aus dem Mund und tropfte auf den Fußboden. Seine Wange war an einer Stelle ein wenig aufgeplatzt. „Meine Zähne ..." Sandy spuckte Blut aus. „Du hast mir einen Zahn ausgeschlagen." Al rieb sich die Faust und ließ Sandy nicht aus den Augen. Sandy sah Al ebenfalls unverwandt an und hielt sich weiter das Gesicht, während ihm Blut aus dem Mund tropfte. Da schrie hinter mir jemand wütend auf. Ich wirbelte gerade noch rechtzeitig herum um mitzubekommen, dass Hillary sich wutentbrannt auf Al stürzte. „Nein! Nicht!", schrie ich. „Hillary - tu's nicht!" Hillary drückte Al mit voller Wucht gegen die Kühlschranktür. Er war so überrascht, dass er laut aufstöhnte. Als er Hillary dann blitzschnell am Arm packte und sie zurückdrängte, erschien auf seinem schwitzenden Gesicht wieder sein breites Grinsen. „Okay", sagte er schwer keuchend. „Okay. Kein Problem. Dich erledige ich auch mit links!"
35
Kapitel 6 Hillary und Al hielten sich bei den Schultern gepackt und standen einander keuchend und nach Luft schnappend gegenüber. „Ich schlag dich k.o. Da kenn ich nichts. Ich schlag dich zu Brei", leierte Al vor sich hin. Mit aller Kraft versuchte er Hillary wegzuschieben. Aber sie war stärker, als er gedacht hatte. Sie hielt ihn bei den Schultern gepackt und er schaffte es nicht, sie auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. „Ich schlag dich k.o. Willst du es wirklich auf einen Kampf ankommen lassen? Dich leg ich locker aufs Kreuz", drohte er ihr. Aber das wilde Funkeln in seinen Augen erlosch plötzlich und er sackte in sich zusammen. Dann ließ er Hillary endlich los und seine Arme baumelten schlaff herab. Auf wackligen Beinen stand er da und starrte vor sich hin. Sein Atem ging stoßweise, sodass sich seine Brust unter dem schweißgetränkten, schwarzen T-Shirt sichtbar hob und senkte. Hillary wich nicht vom Fleck. Die Fäuste in die Seiten gestemmt stand sie vor ihm. Ihr langer Zopf hatte sich gelöst. Ihre schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht, aber sie machte keine Anstalten sie nach hinten zu streichen. Al zuckte lässig mit seinen breiten Schulten. „Okay, okay. Vergesst das Bier." Er ging um Hillary herum und schlug Sandy mit beiden Händen so fest gegen die Brust, dass dieser rückwärts taumelte. Dann stolzierte Al mit einem triumphierenden, bösen Grinsen auf dem Gesicht zur Tür. „Ihr seid mir schöne Freunde", murmelte Al. „Rückt nicht mal ein lausiges Bier für mich raus." Fluchend ging er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, liefen Taylor und Vincent zu Sandy hin. „Ich hol Wasser und einen kalten Waschlappen", sagte Taylor und verschwand ins Badezimmer. Vincent führte Sandy zu einem der Küchenstühle. „Wegen dem 36
ausgeschlagenen Zahn musst du so schnell wie möglich zum Zahnarzt. Aber die Wunde auf der Wange ist nicht sehr tief, beruhigte Vincent ihn. „Da bleibt keine Narbe zurück." Gut so, Vincent, dachte ich. Red ihm gut zu und mach es nicht schlimmer, als es ist. Langsam beruhigte ich mich wieder etwas, auch wenn meine Hände sich immer noch eiskalt anfühlten. Aber wenigstens schlug mein Herz nicht mehr wie rasend. Ich drehte mich zu Hillary um – und war völlig perplex. Die Fäuste geballt und wie zur Salzsäule erstarrt stand sie immer noch beim Kühlschrank. Sie war von Kopf bis Fuß total angespannt. Sie starrte ins Leere und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie blutete. „Hillary ...", flüsterte ich. Sie hörte mich überhaupt nicht und wirkte wie in Trance. „Hillary...?" Als ich sie so ansah, überlief es mich eiskalt. Noch nie hatte ich einen solchen Hass in ihrem Gesicht gesehen. Und auch noch nicht bei irgendeinem anderen Menschen. Wie übel musste Al Hillary in letzter Zeit mitgespielt haben!, ging es mir durch den Kopf. Wie sehr musste sie unter seinem ständigen Druck leiden, dass sie ihn so abgrundtief hasste? Nach diesem schrecklichen Nachmittag bekam ich Al mehrere Tage lang nicht zu Gesicht. Von einem seiner Freunde erfuhr ich, dass er für zwei Wochen das strikte Verbot hatte, das Schulgelände zu betreten. Es ist schlimm, es zugeben zu müssen, aber ich war froh, dass er sich in der Schule nicht blicken lassen durfte. Denn das hieß, dass ich nicht zu befürchten brauchte, dass er mir in der Aula über den Weg lief und von mir Geld, meine Hausaufgaben in Geschichte oder etwas anderes verlangte. Hillary und ich haben nicht darüber gesprochen, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass es ihr nicht anders ging. Am Donnerstag darauf wollte ich mich eigentlich mit Vincent bei ihm zu Hause treffen, weil wir zusammen an einer Projektarbeit in 37
Chemie arbeiten mussten. Ich hoffte, dass sich auf die Weise vielleicht ja eine ganz andere Art von Chemie zwischen uns ergeben würde. Jedenfalls wurde ich an diesem Tag aufgehalten, weil Corky Corcoran und ein paar von den anderen aus der CheerleaderTruppe mich ansprachen und fragten, ob ich nicht Lust hätte ihnen beim gründlichen Saubermachen ihres Transporters zu helfen. Also trudelte ich erst so gegen halb fünf bei Vincent ein. Es war ein schwülwarmer Tag, aber trotzdem legte ich den größten Teil des Weges im Eiltempo zurück. Zu meiner Verwunderung traf ich Vincent auf der Auffahrt zum Haus an, wo er nervös auf und ab lief. „Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe", rief ich und strich meine Haare zurück. Irgendein trockenes, flusiges Etwas hatte sich darin verfangen. Ich zog es heraus und untersuchte es eingehend: Es war eine große, graue Motte. Ich wurde rot. Das war ja ein toller Anfang für ein Treffen mit dem Jungen, in den man total verliebt ist. Vincent schien es gar nicht aufzufallen. Er murmelte eine Begrüßung, sah aber an mir vorbei auf die Straße. Ich hatte gehofft mit meinen superschicken neuen Frühjahrsklamotten bei ihm Eindruck zu schinden: einem kurzen, blauen Faltenrock im Stil der sechziger Jahre und einem blauweiß gestreiften, ärmellosen Top. Gekauft hatte ich sie in einer neuen Boutique namens Street Grunge in der Einkaufspassage. Außerdem hatte ich sie noch kein einziges Mal angehabt und sie mir extra für unser erstes Treffen unter vier Augen aufgehoben. Aber leider nahm er sie nicht mal zur Kenntnis. „Was ist denn los?", fragte ich ihn. „Was hast du überhaupt hier draußen verloren? Ich dachte, du hättest vielleicht schon mit unseren Chemieversuchen angefangen." „Was? Soll ich etwa die ganze Arbeit allein machen?" Er war ziemlich grantig. Das sah Vincent gar nicht ähnlich. Was war bloß mit Mister Lustig los? „Also, warum stehst du hier draußen herum?", fragte ich noch einmal. „Nur um frische Luft zu schnappen?" „Schön war's", brummte er bitter. „Ich warte auf Al. Er hat sich 38
verspätet." „Auf Al?" Ich konnte meine Verwunderung nicht verbergen. Ja. Auf Al, den Oberfiesling." Vincent war stinksauer und kickte einen kleinen Kieselstein quer über die Auffahrt. Ich nahm meinen Rucksack ab und ließ ihn auf den Rasen fallen. Dann strich ich mein neues Top und den Rock glatt. „Du wartest hier draußen allen Ernstes auf Al?" Vincent nickte bedrückt mit dem Kopf. „Er ist mit dem Wagen meiner Mutter unterwegs." Ich war baff. „Hat er ihn etwa gestohlen?" „Nein. Ich hab ihm das Auto geliehen", erwiderte Vincent und schüttelte wieder den Kopf. „Das heißt, er hat mich gezwungen es ihm zu leihen." „Oh, verstehe", murmelte ich und schluckte schwer. Der große Al hatte wieder mal zugeschlagen. „Er wollte schon vor einer Stunde wieder zurück sein", stöhnte Vincent. „Er hat mir versprochen, der Wagen würde allerspätestens wieder vor der Tür stehen, wenn ich aus der Schule komme." Mit seinen graugrünen Augen suchte er in beiden Richtungen die Straße ab. Der sanfte Wind ließ seine kastanienfarbenen Haare flattern. Er sah einfach sagenhaft aus! Am liebsten hätte ich ihm auf der Stelle einen Kuss gegeben und ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen sollte, es würde schon alles wieder in Ordnung kommen. Wie er darauf wohl reagiert hätte? „Wenn meine Eltern dahinter kommen, dass ich diesem Vollidioten ihren Wagen geborgt habe, bringen sie mich um!", stöhnte Vincent. „Ehrlich. Sie ziehen mir das Fell über die Ohren." „Warum hast du ihm den Wagen denn überhaupt erst geliehen?", fragte ich sanft. Wieder verzog Vincent böse das Gesicht. Er war sonst die Ausgeglichenheit in Person und es machte mich wirklich rasend, mit ansehen zu müssen, dass er so aufgeregt und angespannt war. „Mir ist da was ganz Dummes passiert", gestand er. „Am Samstagabend hab ich mir einfach den Wagen meiner Eltern geschnappt ohne ihnen etwas davon zu sagen. Sie waren hier in 39
der Straße bei Freunden auf einer Party. Eigentlich hatte ich keine Lust groß was zu unternehmen. Du weißt schon, Frühjahrsmüdigkeit oder so. Also hab ich mir ihren Wagen genommen und bin damit eine Weile durch die Stadt gekurvt. Dabei bin ich dann irgendwann zu schnell gefahren", fuhr Vincent fort, die Augen weiter auf die Straße gerichtet. „Zwei Häuserblocks von hier hat mich ein Streifenpolizist angehalten. Er hat mir einen Strafzettel über fünfzig Dollar für zu schnelles Fahren verpasst. Das ist doch das Letzte, findest du nicht? Und wer kommt genau in diesem Moment angeschlendert, während der Polizist noch den Strafzettel schreibt? Ja, richtig geraten: unser Obermacker Al." „Nicht gerade gute Neuigkeiten", murmelte ich. „Der Polizist ist schließlich wieder abgebraust", erzählte Vincent weiter. „Ich sag noch zu Al, dass er mich in nächster Zeit wohl nicht mehr zu sehen kriegen wird, weil meine Eltern mir den Hals umdrehen würden. Schließlich hatte ich mir ohne zu fragen einfach ihren Wagen genommen. Und dann kriege ich auch noch einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens aufgebrummt. Ich war völlig am Boden zerstört." Hoch am Himmel zog eine Wolke vor der Sonne vorbei. Ein bläulicher Schatten huschte über den Rasen vor dem Haus. Auch Vincents Gesicht verdüsterte sich. „Al sagte großspurig, das sei doch nicht der Rede wert. Er würde mir helfen, damit meine Eltern es nicht erfahren." „Wie wollte er das denn machen?" Vincent schüttelte den Kopf. „Er hat den Strafzettel genommen und ihn in tausend Fetzen zerrissen. Die Computer der Polizei würden doch sowieso nicht ordentlich funktionieren. Also würden meine Eltern auch nie dahinter kommen, dass ich mir einen Strafzettel eingehandelt hätte." „Das war ja 'ne tolle Hilfe", brummte ich. „Na ja, könnte ja sein, dass er Recht behält", wandte Vincent ein. „Aber dann stand er gestern schon wieder auf der Matte und hat mich breitgeschlagen, dass ich ihm heute den Wagen meiner Mutter ausleihe. Angeblich braucht er ihn nur für zwei Stunden. Wenn ich mich weigerte, würde er meinen Eltern von meiner heimlichen Spritztour am Samstag erzählen und dass ich außerdem 40
einen Strafzettel zerrissen hätte." „Mit dir macht er es also auch", sagte ich. „Was hätte ich denn tun sollen?", stöhnte Vincent. „Mir blieb ja nichts anderes übrig, als ihm den Wagen zu leihen. Und wo bleibt er jetzt? Kurz nach fünf wird meine Mutter von der Fahrgemeinschaft ihres Büros hier abgesetzt. Wenn ihr Auto bis dahin nicht wieder vor der Tür steht ..." „Er wird schon noch kommen", sagte ich nicht besonders überzeugend. Ich traute Al einfach nicht mehr über den Weg. Aber das war ja nun auch wirklich kein Wunder! Vincent und ich schauten die Straße entlang und hielten in beide Richtungen Ausschau. Ich versuchte das Thema auf unsere Chemie-Experimente zu bringen, aber Vincent war viel zu aufgeregt, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können. Immer wieder warfen wir einen Blick auf unsere Armbanduhren. Die Zeit raste. Kurz vor fünf hörten wir scheppernd etwas die Straße heraufkommen. Al bog in die Auffahrt ein und ich erkannte ihn mit einem Blick. Ein lautes, metallisch schepperndes Geräusch dröhnte uns in den Ohren. Vincent blieb die Spucke weg. Mit aufgesperrtem Mund stand er da. „O neieiein!", heulte er los. „Das darf doch nichtwahr sein!"
41
Kapitel 7 „Hey, es war nicht meine Schuld, Mann!", rief Al und streckte den Kopf durch die Fensterscheibe an der Fahrerseite. Knapp vor uns hielt er an. Die gesamte Front des Wagens war vollkommen hinüber. Der Kotflügel vorne links war eingedrückt, die Motorhaube war völlig verbeult und das eine Ende der Stoßstange schleifte über den Boden. Vincent verschlug es regelrecht die Sprache. Ich glaube, er stand unter Schock. Er riss den Mund sperrangelweit auf und schluckte geräuschvoll. Tröstend legte ich ihm die Hand auf die Schulter. Ich hätte gern etwas gesagt um ihn zu beruhigen oder aufzumuntern, aber mir fehlten auch die Worte. Vincent ging langsam von der einen Seite des Wagens auf die andere und sah dabei immer nur auf die eingedellte Motorhaube, den kaputten Kotflügel und die herabhängende Stoßstange. Er war so entsetzt, dass er offenbar ganz vergessen hatte, dass ich auch noch da war. „Tatsache. Es war nicht mein Fehler", sagte Al noch einmal durchs heruntergekurbelte Fenster. Dann stieg er aus, wie immer mit irgendwelchen schwarzen Klamotten am Leib. Auf seiner blonden Mähne trug er eine schwarze Baseballmütze. Die Tür schepperte laut, als er sie aufmachte, denn sie war ebenfalls eingedrückt. „N-nicht d-dein Fehler?", stotterte Vincent mit erstickter Stimme. „Das Stoppschild war überhaupt nicht zu sehen", erklärte Al. „Es hingen Äste davor. Ehrlich. Wie soll ich denn ahnen, dass da ein Stoppschild steht? Ich konnte wirklich nichts dafür." Vincent seufzte tief auf. Kopfschüttelnd stand er da und starrte auf das Wrack von einem Wagen. Auf Als Gesicht machte sich ein Grinsen breit. Jedenfalls hab ich den Wagen pünktlich wieder abgeliefert!" Das war der Moment, in dem Vincent endgültig durchdrehte. 42
Er sprang Al an wie ein wildes Tier. Knurrend, kratzend, Zähne fletschend und fluchend zerrte er an ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich mich vor Angst und Entsetzen nicht rühren. Dann rannte ich quer über die Auffahrt, packte Vincent von hinten, schlang die Arme um ihn und riss ihn zurück. „Hör auf, Vincent! Hör auf!", schrie ich ihn an. Ich zog ihn von Al weg. Aber er fluchte immer weiter, holte mit den Fäusten aus und brüllte wie ein wild gewordener Löwe. „Lass mich los, Julie! Lass los!" Vincent kämpfte verzweifelt um mich abzuschütteln. „Vincent – bitte! Bitte!", flehte ich ihn an. Al war hintenüber gegen den Wagen gefallen. Ich sah, wie er sich wieder aufrappelte. Er strich sein schwarzes T-Shirt glatt und sammelte seine Mütze vom Kiesweg auf. Drohend kniff er seine blauen Schweinsäuglein zusammen und blickte mit wutverzerrtem Gesicht zu uns herüber. „Lass mich los!", schrie Vincent. Ich hielt ihn fest. „Nein, Vincent. Kommt überhaupt nicht in Frage! Er wird dich sonst zusammenschlagen", sagte ich bestimmt. „Du weißt genau, dass ich Recht habe. Du kannst es nicht mit ihm aufnehmen. Reiß dich zusammen!" „Aber ich kann ihn doch nicht einfach ungeschoren davonkommen lassen!", rief Vincent hitzig. Ich sah auf. Zu meiner Überraschung hatte Al auf dem Absatz kehrtgemacht und lief mit großen Schritten die Auffahrt hinunter. Ohne noch ein einziges Wort zu verlieren lief er über den Bürgersteig und verschwand mit einem Satz hinter einer hohen Hecke. Al sah sich kein einziges Mal mehr nach uns um. Das alles passierte am Donnerstag. Am Tag darauf – am Freitagabend – brachte ich ihn um.
43
Kapitel 8
Genauer gesagt: Manche Leute dachten, ich hätte Al umgebracht. Aber das stimmte nicht. Nach dem Abendessen am Freitag rief ich Vincent an. Er begrüßte mich mit einem mürrischen Hallo. Selbst am Telefon konnte ich ihm anmerken, dass er immer noch total aufgebracht und gleichzeitig sehr niedergeschlagen war. Ich startete einen Versuch ihn aufzuheitern. „Wir gehen gleich alle zusammen zum Rollschuhlaufen", sagte ich zu Vincent. „Hast du nicht auch Lust mitzukommen?" Vincent ist einsame Klasse im Rollschuhlaufen! Er dreht wie ein Wilder seine Runden und macht sogar Pirouetten, wobei er mit seinen Armen wirbelt wie eine Windmühle. Außerdem ist er mindestens fünfmal so schnell wie wir. Im Schlittschuhlaufen ist er allerdings eine totale Niete! Ich kann gar nicht mehr all die Male zählen, die wir ihn schon ziemlich angeschlagen vom Boden aufgesammelt haben. Aber er kann nun mal nichts mit dem nötigen Ernst angehen und will, koste es, was es wolle, seinen Spaß haben – und wenn er dafür Kopf und Kragen riskiert! „Ich kann nicht mitkommen", sagte Vincent traurig. „Ich darf überhaupt nirgends mehr hin, Julie. Meine Eltern haben mir Hausarrest verpasst - wahrscheinlich bis an mein Lebensende." „Oh, nein", murmelte ich. „Wegen des kaputten Wagens?" „Ja. Wegen des Wagens", wiederholte Vincent unglücklich. „Ich darf keinen einzigen Schritt mehr aus dem Haus machen. Und euch kann ich auch nicht mehr treffen." Er seufzte. „Und das ich noch nicht mal das Schlimmste von allem." Ich holte tief Luft. „Was ist denn dann das Schlimmste?" „Dass ich in diesem Sommer nicht mal im Ferienlager jobben darf", antwortete Vincent. Er stockte. Wie ich wusste, war er ganz versessen auf den Aushilfsjob im Ferienlager. 44
„Ich muss den ganzen Sommer über hier bleiben und im Laden meines Vaters mitarbeiten", stöhnte Vincent. „Um die Reparatur für den Wagen abzubezahlen." „Du meinst, du darfst das Geld, das du verdienst, nicht für dich behalten?", fragte ich. „Nein." Er sprach so leise, dass ich mir den Hörer ans Ohr pressen musste um ihn überhaupt noch verstehen zu können. „Um für den Schaden aufzukommen, den dieser Idiot von Al an unserem Wagen angerichtet hat, muss ich die ganze Kohle, die ich verdiene, an meinen Vater abgeben." „Oje", murmelte ich. Das tat mir wirklich entsetzlich Leid für Vincent. Schließlich hatte nicht er den Wagen zu Schrott gefahren, sondern Al. Und außerdem hatte er Al den Wagen ja nicht aus freien Stücken geliehen. „Im Grunde musste Al die Reparatur bezahlen", sagte ich. Vincent gab ein trockenes, bitteres Lachen von sich. „Erzähl das doch mal Al." Langes Schweigen. Ich konnte Vincent am anderen Ende der Leitung schwer atmen hören und hätte ihm gern was Aufmunterndes gesagt. Ich machte mir wirklich Sorgen um ihn. Es war das allererste Mal, seit ich ihn kannte, dass ihm kein einziger Scherz über die Lippen kam. Er war mit einem Schlag wie ausgewechselt und klang total niedergeschlagen und deprimiert. Und alles nur wegen diesem Riesentrottel von Al! „Möchtest du, dass ich zu dir komme?", bot ich ihm an. „Ich lass das Rollschuhlaufen einfach sausen und wir machen uns bei dir einen netten Abend." „Ist auch nicht erlaubt", antwortete er düster. „Ich darf nirgends hingehen und Besuch ist auch verboten. Ich sitze hier wie im Gefängnis, so 'n richtiger Knastbruder." Naja, vielleicht...", begann ich, aber im Hintergrund hörte ich, wie ihn sein Vater anraunzte. „Okay, okay! Lass mich doch in Frieden! Ich hör ja schon auf!", schrie Vincent seinen Vater wütend an. Dann war er wieder in der Leitung. „Muss aufhören. Grüß alle von mir." Und damit hängte er 45
ein. Ich legte ebenfalls auf und ging eine Weile in meinem Zimmer auf und ab. Vincents Eltern werden schon darüber hinwegkommen, dachte ich. Sie werden sich bestimmt bald wieder beruhigen und Vincent aus dem Haus lassen. Ein lautes Hupen riss mich aus meinen Gedanken. Ich warf einen Blick durchs Fenster auf die Auffahrt und sah dort Hillarys blauen Bonneville stehen. Ich fuhr mir schnell noch einmal durch die Haare, schnappte mir meine Rollschuhe und rannte zu ihrem Wagen. „Hallo, alle zusammen." Ich kletterte auf den Beifahrersitz. Taylor und Sandy saßen eng aneinander geschmiegt auf dem Rücksitz. Taylor trug ihre schulterlangen, weißblonden Haare offen. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass sie ihr ärmelloses Top, ihre kurzen, blauen Shorts und darunter eine dunkle Strumpfhose anhatte. „Kommt Vincent auch mit?", fragte Hillary und fuhr rückwärts die Auffahrt hinunter. „Vincent hat Ausgehverbot", berichtete ich und erzählte ihnen die ganze Geschichte. Hillary und Taylor regten sich furchtbar über Al auf und schimpften, wie unfair das von Vincents Eltern sei. Sandy dagegen sagte merkwürdigerweise überhaupt nichts dazu. Auf der Rollschuhbahn war es unwahrscheinlich voll, selbst für einen Freitagabend. Es waren jede Menge Schüler von unserer Schule da und massenhaft kleinere Kinder. Es gibt nun mal nicht so viel, was man in Shadyside unternehmen kann. Die Rollschuh-Halle ist einer der wenigen Treffpunkte, wo man sich mit seinen Freunden die Zeit vertreiben kann. Im Winter dient die Bahn zum Schlittschuhlaufen und auch dann fahren wir meist alle zusammen raus, laufen Schlittschuh, hocken herum und trinken eine Tasse Kaffee oder heiße Schokolade nach der anderen. Erst vor zwei Wochen war das Eis aufgetaut und entfernt worden. Also waren jetzt viele Kinder ganz versessen darauf, ihre neuen Rollschuhe auszuprobieren. Zu viert setzten wir uns auf die lange Bank außerhalb der Lauffläche. Es dauerte seine Zeit, bis wir unsere Rollschuhstiefel geschnürt hatten. Taylor hatte Schwierigkeiten ihre fest genug 46
zuzubinden. Also ließ sich Sandy prompt auf die Knie nieder und half ihr. Ich fand das schon eigenartig. Sandy lauerte förmlich darauf, Taylor einen Gefallen zu tun und sie von vorne bis hinten zu bedienen. Manchmal hatte man fast den Eindruck, dass er ihr Sklave und nicht ihr Freund war. Wäre Vincent mit von der Partie gewesen, hätte er sich garantiert darüber lustig gemacht und wir hätten was zu lachen gehabt. Aber so war unsere Stimmung ziemlich gedrückt. Ich glaube, den anderen tat es genauso Leid wie mir, dass Vincent den Mist, den Al gebaut hatte, ausbaden musste. Al machte uns allen langsam das Leben zur Hölle, aber uns blieb nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen und die Zähne zusammenzubeißen. Ich strich mir die Haare über die Schulter nach hinten und rollte auf die Bahn, fest entschlossen erst mal nicht mehr an die Sache mit Al und Vincent zu denken und mir einen netten Abend zu machen. Ich bin ziemlich gut im Rollschuhlaufen. Und auch wenn man auf der Bahn immer nur im Kreis herumlaufen kann, habe ich einen Riesenspaß daran. Allerdings war ich doch ein bisschen eingerostet. Schließlich hatte ich im letzten Herbst zuletzt auf Rollschuhen gestanden und auf der Bahn wimmelte es nur so von Läufern. Ich drehte ein paar Runden und glitt ziemlich unsicher dahin. Dabei hatte ich irgendwann ein viel zu hohes Tempo drauf. „Uaaah!", kreischte ich, als ich zu schnell eine Kurve anging – und ziemlich heftig gegen einen schlaksigen, rothaarigen Jungen krachte. Er hatte noch versucht mir auszuweichen, aber wir kamen beide zu Fall. Ich landete auf ihm und hörte ihn stöhnen. Er hatte sich anscheinend wehgetan. „Verzeihung", sagte ich außer Atem. Ich hatte ihn doch hoffentlich nicht schlimm verletzt? Ich rappelte mich schnell hoch, bückte mich um nach ihm zu sehen und erkannte ihn sofort. Es war Artie Matthews, einer von den Zwillingen, bei denen ich früher oft eingehütet hatte. 47
Natürlich kam Chucky, sein Bruder, sofort angelaufen. Er bremste scharf und starrte zuerst seinen Zwillingsbruder, dann mich mit seinen zusammengekniffenen blauen Augen an. Als ich die beiden sah, fiel mir als Erstes wieder ein, was für Nervensägen sie damals gewesen waren. Sie mussten inzwischen ungefähr zwölf sein, schätzte ich. Es war jetzt drei Jahre her, dass ich abends auf sie aufgepasst hatte, wenn ihre Eltern ausgingen. Vom Äußeren her hätte man sie für wahre Unschuldsengel halten können, aber das waren sie ganz und gar nicht. Sobald ihre Eltern zur Tür hinaus waren, verwandelten sie sich in die reinsten Monster. Sie schlugen aufeinander ein, piesackten den Hund, stellten das ganze Haus auf den Kopf und weigerten sich standhaft ins Bett zu gehen. „Hast du dir auch wirklich nicht wehgetan?", fragte ich Artie. „Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?", knurrte er mich an und rieb sich den Ellbogen. Julie – was machst du denn hier?", fragte Chucky gehässig. „Bist du zum Rollschuhlaufen nicht schon viel zu alt?" Beide lachten sich über Chuckys Bemerkung schlapp. Haha. Sehr witzig! Ich vergewisserte mich noch einmal, dass Artie sich bei unserem Zusammenstoß auch wirklich nicht verletzt hatte. Dann rollte ich hinüber zu Hillary. „Nimm doch mal 'n paar Trainerstunden!", rief Artie mir noch nach und lachte sich mit seinem Bruder über seinen blöden Witz halb tot. Ihr Gegacker dröhnte mir in den Ohren und verfolgte mich über die ganze Bahn. „Hast du bei den beiden früher nicht öfter eingehütet?", fragte Hillary, als ich zu ihr gerollt kam. Ich nickte zustimmend. „Den einen von ihnen hab ich eben über den Haufen gefahren", sagte ich. „Aber leider nicht fest genug!" Dann liefen Hillary und ich in einem gleichmäßigen Rhythmus weiter – so langsam kam meine alte Sicherheit zurück. „Wo sind denn eigentlich Sandy und Taylor?", fragte ich und ließ meinen Blick über die im Kreis fahrenden Läufer wandern. Hillary zeigte auf die beiden.
48
Wie zwei ineinander verschlungene Kraken saßen sie immer noch auf der Bank. Taylor hockte praktisch auf Sandys Schoß und ihre blonden Haare fielen ihm ins Gesicht, als sie ihm einen Kuss gab. Ich starrte zu ihnen hinüber und wäre beinahe gegen die Bande gedonnert! „Vielleicht hat sie ihn ja doch gern", meinte Hillary nachdenklich. „Sieht fast so aus", erwiderte ich. Kurze Zeit später waren Taylor und Sandy verschwunden. Weiß der Teufel, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatten ihre Rollschuhe mitzuschleppen. Hillary und ich liefen noch ungefähr zwanzig Minuten lang unsere Runden. Dann trafen wir ein paar Jungen und Mädchen, die wir kannten, und gingen mit ihnen eine Weile zum Imbiss und tranken Kakao. Schließlich entdeckte Hillary einen Typen aus Waynesbridge, den sie von irgendwoher kannte. Winkend und rufend rannte sie zu ihm und überschüttete ihn mit einem Redeschwall. Also schnürte ich wieder meine Rollschuhstiefel um noch ein paar Runden zu drehen. Ich spürte jeden einzelnen Muskel in den Beinen. Es war ein herrliches Gefühl. Ich brauchte dringend wieder etwas sportliche Betätigung, nachdem ich den ganzen Winter über keinen Sport gemacht hatte. „He, hör mal." Hillary war mir hinterhergelaufen und hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt. „Wir gehen zu einer Party, von der John vom Hörensagen weiß." Sie zeigte auf den Jungen aus Waynesbridge, einen großen, schlanken Burschen in einem lose fallenden, roten Hemd und ein paar Nummern zu großen, ausgebeulten Jeans. „Hast du auch Lust? Du kannst gern mit uns mitkommen." Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Geht ihr nur. Ich möchte noch ein paar Runden drehen." Sie beugte sich ganz dicht zu mir und blickte mir in die Augen. „Es macht dir auch ganz bestimmt nichts aus, wenn ich dich einfach hier sitzen lasse?" „Hillary, das ist überhaupt kein Problem", versicherte ich ihr. „Ich will wirklich noch ein bisschen üben. Ich werde schon 49
irgendjemanden finden, der mich nach Hause fährt. Und wenn nicht, nehme ich eben den Bus." Ich sah ihr nach, wie sie mit dem Jungen davonrauschte. Dann rollte ich wieder auf die Bahn und hielt mich dabei am Geländer fest. Wie schön wäre es gewesen, wenn Vincent jetzt hier gewesen wäre. Die anderen konnten sich von mir aus ruhig aus dem Staub machen. Aber ihn vermisste ich wirklich. Jedenfalls lief ich noch ungefähr eine halbe Stunde lang meine Runden und genoss es sehr. Es tat meinen Beinen gut, dass sie mal wieder so richtig beansprucht wurden. Außerdem hat die Bahn eine sagenhafte Lautsprecheranlage und sie bringen immer wirklich tolle Musik. Es muss so gegen elf Uhr gewesen sein, als ich beschloss aufzubrechen. Ich konnte niemanden mehr auftreiben, der mich nach Hause gefahren hätte. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als den Bus zu nehmen. So spät am Abend fuhren zwar nicht mehr viele, aber vielleicht hatte ich ja Glück. Ich verstaute meine Rollschuhe in der Tasche und verließ die Halle durch den Hinterausgang. Dort gibt es nämlich einen schmalen Weg, eine Abkürzung zur Bushaltestelle. Es war erstaunlich kühl draußen. Wahrscheinlich war ich noch ganz überhitzt vom vielen Laufen, von dem mir die Beine kribbelten. Ich sah hoch zu der dünnen Mondsichel, die zwischen den Häusern stand. Eine einzelne Laterne mit gelbem Licht beleuchtete schwach den Weg. Von der Straße am Ende des Weges wehten Stimmen zu mir herüber. Reifen quietschten und aus der Anlage in der Halle hinter mir dröhnten die Bässe der Musik. Ich lief ein paar Schritte den Weg entlang – und blieb dann jäh stehen. Vor mir auf dem Boden lag Al. Ich erkannte sofort sein Gesicht. Er lag der Länge nach ausgestreckt auf dem Rücken und hatte ein Knie angewinkelt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, als hätte er einen Angreifer abwehren wollen. Ich trat einen Schritt näher und dann sah ich es!
50
Die Schnürsenkel seiner Rollschuhstiefel waren fest um seine Kehle geknotet. Sie waren mehrmals um seinen Hals geschlungen und saßen so fest, dass sie ihm in die Haut schnitten. Seine aufgerissenen Augen starrten leblos auf die Mondsichel. Mit kreideweißem Gesicht lag er in dem schwachen, unheimlichen Licht der schwankenden Straßenlaterne. Ich konnte es einfach nicht glauben. Al lag tot vor mir auf dem Weg. Erdrosselt mit den Schnürsenkeln seiner eigenen Rollschuhe. Ermordet.
51
Kapitel 9 „Ohhhhh." Ich wimmerte leise wie ein verletztes Tier. Die Tasche mit den Rollschuhen fiel mir aus der Hand und meine Beine zitterten so heftig, dass mir die Knie einknickten. Ich beugte mich über Al und starrte ihn fassungslos an. Er war der erste Tote, den ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Es ist schon sehr eigenartig, was mit einem passiert, wenn man unter Schock steht und von Entsetzen geschüttelt wird. Das Einzige, woran ich denken konnte, als ich dort kniete und auf Al herabblickte, war: Ich habe noch nie in meinem Leben einen Toten gesehen. Dieser Gedanke kreiste wieder und wieder in meinem Kopf und ich konnte ihn einfach nicht loswerden. Ich schaute in seine Augen, in denen sich die Mondsichel spiegelte. Es war, als schaute ich in die Glasaugen einer Puppe. Sie wirkten merkwürdig künstlich. Dann sah ich die Rollschuhe, die neben seinem Kopf lagen. Die Räder glänzten schwach in dem gelblichen Licht der Laterne. Die Schnürsenkel der Rollschuhe waren fest miteinander verknotet. Jemand hatte sie ihm um den Hals geschlungen und fest zugezogen. Mir drehte sich der Magen um. Ich hielt die Luft an, würgte und hätte mich fast erbrochen. Unwillkürlich hielt ich mir die Hand vor den Mund. Was sollte ich tun? Mein Kopf war völlig leer. Ich wusste, dass ich hätte Hilfe holen müssen, die Polizei rufen – irgendetwas. Aber ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ich hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Ich kauerte neben Al und sah zitternd auf ihn hinunter. Das ist gar nicht mehr Al, dachte ich. Das ist nur noch sein Körper, eine leere Hülle. Ich weiß nicht, wie lange ich schon dort gehockt hatte, als mich plötzlich ein lautes Geräusch zusammenfahren ließ. Die Hintertür der Halle flog auf und gleichzeitig drang laute Musik nach draußen. Ein Schlagzeug und das Jaulen von Gitarren 52
dröhnten in meinen Ohren. Dann hörte ich Schritte und kurz darauf einen Schrei. „Er ist tot", kreischte jemand. Es war eine hohe, schrille Stimme, die ich zuerst nicht erkannte. „Er ist tot!" Dann gellte eine andere Stimme in meinen Ohren. „Sie hat ihn umgebracht!" „Neieiein!", schrie ich. Ich wirbelte herum und verlor das Gleichgewicht. Ich rappelte mich auf und entdeckte Artie und Chucky, die nur wenige Schritte von mir entfernt standen und mich entsetzt anstarrten. Ihre roten Haare stachen in dem schwachen Licht gespenstisch von ihren kreidebleichen Gesichtern ab. „Sie hat ihn umgebracht!", flüsterte Artie ungläubig. „Nein ... wartet!", flehte ich sie an und stand taumelnd auf. Ich zitterte so sehr, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. „Wartet ...!" „Sie hat ihn umgebracht! Ich hab es doch mit eigenen Augen gesehen!", kreischte Chucky. „Ruf die Polizei!" „Nein – bitte!" Schwankend ging ich einige Schritte auf sie zu. „Artie, Chucky – nein!" Als sie die Tür zur Halle öffneten, hörte man wieder die hämmernde Rockmusik. Im nächsten Moment waren sie auch schon wieder verschwunden und ließen mich wie betäubt zurück. Mir standen ihre entsetzten Blicke vor Augen. In meinen Ohren hallten immer noch ihre schrillen Schreie nach. „Nein – wartet! Ich war es nicht! Ich war es doch gar nicht!" Meine panischen Rufe verhallten ungehört. „Ihr irrt euch! Ich habe nichts damit zu tun!" Mir versagte die Stimme. Ich habe ihn nicht umgebracht, versuchte ich mich zu beruhigen. Die Polizei wird mir bestimmt glauben. Sie müssen mir einfach glauben!
53
Kapitel 10 „Wir glauben Ihnen ja", sagte Officer Reed milde und beugte sich ein Stück über seinen Schreibtisch, auf dem sich Akten und Papiere stapelten. Er war ein Bär von einem Mann mit einem roten, runden Gesicht, buschigen, grauen Augenbrauen und kleinen, rot geäderten Augen. Das Licht der Neonbeleuchtung spiegelte sich auf seiner Glatze. Der Kragen seines blauen Uniformhemds stand offen. Er zog sich den marineblauen Schlips vom Hals und warf ihn auf den Schreibtisch. „Wir glauben Ihnen, dass Sie mit dem Mord nichts zu tun haben. Aber wir müssen Ihnen trotzdem noch einige Fragen stellen, die Sie vielleicht sehr mitnehmen werden." Er sah mich eindringlich an. „Verstehen Sie, Julie?" Ich nickte und warf einen Blick zu meinen Eltern hinüber. Sie saßen dicht nebeneinander auf der anderen Seite von Officer Reeds Schreibtisch. Meine Mutter tupfte sich dauernd mit einem zusammengeknüllten Papiertaschentuch die Tränen von den Wangen. Mein Vater hatte ihr beschützend einen Arm um die Schultern gelegt, so als würde sie gleich vom Stuhl fallen. „Gewiss – wir sind alles schon zweimal durchgegangen, aber es muss noch ein drittes Mal sein", sagte Officer Reed erschöpft. Mit der Innenfläche seiner Hand wischte er sich den Schweiß von der kahlen Stirn. „Verstehen Sie, die Geschichte macht einfach keinen Sinn. Sie ist nicht logisch!" „Aber ich habe Ihnen doch schon alles erzählt! Jede noch so kleine Einzelheit! Was ist denn daran so unlogisch?", fragte ich erschöpft. Um das unkontrollierte Zittern meiner Hände in den Griff zu bekommen, klemmte ich sie zwischen meine Beine. Meine Mutter hielt die Tasche mit meinen Rollschuhen auf dem Schoß und schob sie nervös von einem Bein aufs andere. Ich fragte mich, warum sie sie nicht einfach auf den Boden stellte. Selbst wenn man einem Officer von der Kripo gegenübersitzt und von ihm wegen eines Mordes verhört wird, schweifen irgendwann die Gedanken ab. Auf einmal sah ich Hillary vor mir und fragte 54
mich, ob es ihr auf der Party wohl gefiel. Ich versuchte mir ihre Reaktion auszumalen, wenn sie irgendwann im Laufe des Abends nach Hause kam und von dem Mord an Al erfuhr. Officer Reed rieb sich das Kinn. „Was Sie schildern, klingt durchaus plausibel, Julie. Sie kamen aus der Halle und fanden Al tot auf dem Weg. Was mir aber immer noch unklar ist, ist das Motiv für die Tat." Ich starrte ihn an und schluckte schwer. Mein Mund war völlig ausgetrocknet und ich hatte das Gefühl einen riesigen Kloß im Hals zu haben. Ich trank einen kräftigen Schluck Wasser aus dem Pappbecher, den er mir auf eine Ecke seines Schreibtischs gestellt hatte. Das Wasser war inzwischen lauwarm und schmeckte leicht nach Schwefel. Vielleicht war daran aber auch der säuerliche Geschmack schuld, den ich auf der Zunge hatte. „Zum einen wurde er nicht ausgeraubt", fuhr Officer Reed fort. „In seiner Jacke wurden noch circa fünfzehn Dollar gefunden." Er sah hoch und blickte mich mit seinen rot geäderten Augen an. „Normalerweise hat er doch keine großen Summen Bargeld mit sich herumgetragen, oder?" „Nein", antwortete ich leise. „Al war so gut wie immer pleite. Er hat ständig probiert von mir Geld zu schnorren." Meine Eltern sahen mich eindringlich an. Es tat mir sofort Leid, dass ich es ausgeplaudert hatte, denn ich wollte nicht, dass die beiden jetzt auch noch anfingen mir Löcher in den Bauch zu fragen, warum ich Al Geld geborgt hatte. Officer Reed rieb sich wieder das Kinn. „Also, er wurde nicht ausgeraubt. Wenn nicht wegen seines Geldes – warum wurde er dann ermordet?" „Ich weiß es doch nicht!", sagte ich unbehaglich. „Ich glaube nicht ..." „Und vor allem: Warum wurde er auf so brutale Weise ermordet?", unterbrach mich Officer Reed und sah dabei über meine Schulter auf die blassgelbe Wand hinter mir. „Es sieht so aus, als hätte sich der Täter an Al rächen wollen. Verstehen Sie – es ihm heimzahlen, ihm eine Lektion erteilen." „Eine Lektion", murmelte mein Vater. Meine Mutter gab einen 55
wimmernden Laut von sich und tupfte sich wieder die Augen trocken. „Ich stehe das schon durch, Mom. Wirklich", flüsterte ich ihr beruhigend zu. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du etwas so ... Grauenvolles hast mit ansehen müssen", sagte meine Mutter mit erstickter Stimme. Officer Reed schien ihr überhaupt nicht zugehört zu haben. Seinen eigenen Gedanken nachhängend blickte er weiter auf die Wand hinter mir. Es herrschte ein bedrücktes Schweigen in dem kleinen Büro. Angespannt wartete ich darauf, dass er endlich mit dem Verhör fortfuhr. Ich trank noch einen Schluck von dem lauwarmen Wasser. Was überlegt er denn so lange?, dachte ich nervös. Zu welchen Schlüssen mag er wohl gekommen sein? Wenigstens hat er nicht daran gezweifelt, dass ich ihm die Wahrheit erzählt habe, dachte ich erleichtert. Er hätte ja auch diesen dämlichen Zwillingen glauben können. Aber er ist sich offenbar sicher, dass ich unschuldig bin. Trotzdem musste es ja irgendjemand getan haben. Dieser Gedanke machte sich immer mehr in meinem Kopf breit und ließ mich erschauern. Es gab einen Täter und dieser Täter lief frei herum. Officer Reed räusperte sich. Er beugte sich vor und schob mit dem Ellbogen Stapel von Akten auf dem Tisch beiseite. „Wir müssen nach dem Motiv suchen", sagte er schließlich. „Warum sollte jemand einen harmlosen Teenager so brutal umbringen? Das ergibt einfach keinen Sinn!" Er trommelte mit seinen kurzen, dicken Fingern auf die Schreibtischplatte und musterte mich die ganze Zeit über eindringlich. Julie - haben Sie nicht irgendeinen Verdacht? Kennen Sie vielleicht jemanden, der Al bis aufs Blut hasste, jemanden, der ihn auf den Tod nicht ausstehen konnte? Der ihn aus tiefstem Herzen verabscheut hat?" „Hm ... na ja ..." Ich holte tief Luft. Sollte ich wirklich damit herausrücken? War es klug, ihm 56
gegenüber ehrlich zu sein? Sollte ich ihm tatsächlich von dem abgrundtiefen Hass berichten, den wir allesamt in letzter Zeit gegen Al entwickelt hatten? Ihm erzählen, dass Al uns ständig belästigt, erpresst und bedroht hatte? „Ich brauche eine vollständige Liste seiner Freunde", meinte Officer Reed stirnrunzelnd. „Sagten Sie nicht, er hätte mal zu Ihrer Clique gehört?" Ich nickte zögernd. „Aber in letzter Zeit nicht mehr. Al hat sich neue Freunde gesucht, die uns nicht so ganz geheuer waren. Alle aus Waynesbridge. Es sind ziemlich knallharte Typen. Er ..." „Knallharte Typen?" Officer Reeds Augen blitzten plötzlich interessiert auf. „Er hat sich mit irgendwelchen üblen Typen herumgetrieben? Kennen Sie sie, Julie? Meinen Sie, einer von denen könnte ein Motiv gehabt haben Al aus dem Weg zu räumen?" „Ich ... ich habe keine Ahnung", stotterte ich. „Nicht, dass ich wüsste ..." Er hob die Hand und gab mir zu verstehen nichts zu überstürzen. „Lassen Sie sich Zeit. Atmen Sie erst mal tief durch und denken Sie in Ruhe darüber nach. Hat Al Ihnen irgendwann mal etwas über seine Kumpel erzählt? Hat er Ihnen gegenüber Bemerkungen fallen lassen, dass einer von ihnen sich vielleicht über ihn geärgert hat oder stinkwütend auf ihn war?" „Das waren wir doch alle!", platzte ich heraus. Wie ein Wasserfall sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich konnte es nicht länger für mich behalten, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte nichts zu sagen. Meine Mutter schnappte nach Luft. Die Tasche mit den Rollschuhen fiel ihr vom Schoß. Officer Reed hörte auf mit den Fingern auf den Schreibtisch zu trommeln. „Alle aus unserer Clique haben Al gehasst wie die Pest!", rief ich aus. Nachdem der Damm einmal gebrochen war, gab es kein Halten mehr. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich mich nicht mehr bremsen können. „Wir haben ihn bis aufs Blut gehasst!", erklärte ich dem völlig verdutzten Officer. „Und wir hatten alle einen Grund dazu. Alle – 57
auch ich!" Ich holte tief Luft. Mein Herz pochte wie wild. „Aber wir haben es nicht getan!", rief ich. „Weder meine Freunde noch ich würden Al deswegen umbringen! Wir sind doch keine Mörder!" Das ist die Wahrheit!, sagte ich zu mir, während ich die verblüfften Gesichter meiner Eltern und des Officers betrachtete. Wir sind keine Mörder. Ausgeschlossen! Das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit. Oder etwa nicht?
58
Kapitel 11 Das Wetter am Tag von Als Beerdigung passte ganz und gar nicht zu dem traurigen Anlass. Es war sonnig und schön und in der lauen Frühlingsluft lag der Duft von blühenden Kirschbäumen. Das Begräbnis war das erste, an dem ich teilnehmen würde. Irgendwie hätte ich es passender gefunden, wenn es trübe und neblig oder kaltes Nieselwetter gewesen wäre. Meine Mutter war dagegen, dass ich zu der Beerdigung ging. Sie wollte mich beschützen, aber mir war nicht ganz klar, wovor eigentlich. Ich erklärte ihr, dass Hillary, Sandy und alle anderen auch kommen würden, also konnte ich ja wohl nicht einfach wegbleiben. Es stimmt schon, dass ich jede Nacht Alpträume wegen Al hatte. Wer hätte das nicht nach einem so furchtbaren Erlebnis. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Alpträume schlimmer werden würden, nur weil ich an Als Begräbnis teilnahm. Vielleicht konnte seine Beerdigung ja auch der Abschluss eines traurigen und beängstigenden Kapitels in meinem Leben sein. Das hoffte ich jedenfalls sehr. Als ich an diesem Morgen meinen dunklen Rock und eine schwarze Leinenbluse anzog, konnte ich unmöglich ahnen, dass das Grauen immer noch weitergehen sollte. Zusammen mit meinen Eltern fuhr ich zur Kirche. Sie kannten Als Familie nicht besonders gut, aber sie hatten sich entschlossen an seinem Begräbnis teilzunehmen, weil Al und ich früher mal gute Freunde gewesen waren und weil sie mich nicht alleine lassen wollten. Während der ganzen Fahrt sagte keiner von uns ein Wort. Mein Vater hielt die Augen stur geradeaus auf die Straße gerichtet. Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete den Hauch von frischem Grün an den Bäumen. Es war ein wunderschöner, strahlend heiterer Tag und es kam mir ganz merkwürdig vor, dass wir auf dem Weg zu einer Beerdigung waren. 59
Die kleine, weiße Kirche von Shadyside steht auf einem Hügel außerhalb der Stadt, dort wo die Division Street auf den Highway führt. Im Kirchturm funkelte die bronzene Glocke, auf der sich das Sonnenlicht spiegelte. Große Töpfe mit weißen Lilien, die an der Eingangstür standen, verströmten einen süßen Duft. Als wir die Kirche betraten, waren die meisten der langen Bänke aus dunklem Holz schon besetzt. Viele Schüler sowie ein Teil der Lehrer unserer Schule waren gekommen. Meine Eltern setzten sich in eine der hinteren Bänke. Ich lief durch den Mittelgang zu Hillary und den anderen. Sie hatten sich ziemlich weit vorn in der Kirche einen Platz gesucht. Ihre Gesichter waren tief betrübt und sie sprachen nur im Flüsterton, sodass ich sie wegen der lauten Orgelmusik kaum verstehen konnte. Alle waren in Schwarz gekleidet. Die Jungen mit ihren Schlipsen und dunklen Anzügen wirkten irgendwie steif und unbeholfen. Das ganze Drumherum war völlig unwirklich, wie eine Szene aus einem Film. Eine Reihe bruchstückhafter Eindrücke ist mir von diesem Tag im Gedächtnis geblieben. Ich erinnere mich an die Jungen, die sich mit ihren Krawatten und Anzugjacken sichtlich unwohl fühlten. An das leise, unnatürliche Flüstern, kaum laut genug um es über die traurige, bedrückende Orgelmusik hinweg verstehen zu können. An den überwältigend süßen Duft nach Lilien. An Hillarys kalte, feuchte Hand, als sie mir zur Begrüßung die Hand gab. An den Sarg aus dunklem Holz vorn am Altar. Es konnte einfach nicht wahr sein, dass Al wirklich darin lag – oder? An die kleine Frau mit den weißen, lockigen Haaren, die den Kopf gesenkt hielt, unaufhörlich vor sich hin murmelte und der die Tränen auf den Schoß ihres schwarzen Kleids tropften. An all das erinnere ich mich – und an die geflüsterten und getuschelten Gerüchte, die durch die Bankreihen liefen. 60
Irgendjemand behauptete, dass Als Mutter zu stark mitgenommen sei um an der Beerdigung teilzunehmen. Sie liege im Krankenhaus und habe mit Tabletten und Spritzen ruhig gestellt werden müssen. Ein anderer erzählte, Als Vater habe eine Belohnung ausgesetzt für denjenigen, der Hinweise auf den Täter geben könne. Wieder ein anderer wusste zu berichten, dass der Polizei der Täter bereits bekannt sei. Einer von Als Freunden aus Waynesbridge sei der Mörder. Die Polizei würde bereits nach ihm fahnden, weil er nach der Tat geflüchtet sei. Gerüchte. Der Duft nach Lilien. Die kleine Frau, der die Tränen in den Schoß tropften. An all das erinnere ich mich. Und an die Gesichter meiner Freunde. Ich hatte in einer der seitlichen Bänke Platz genommen und hatte sie unmittelbar im Blick. Ihre blassen, bedrückten, traurigen Gesichter. Während der Pfarrer die Messe las, wanderte mein Blick immer wieder zu ihnen hin. Sandy kniete mit aufgestützten Ellbogen in der Bank und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Er richtete sich kein einziges Mal auf. Vincents Gesichtszüge waren wie zu Stein erstarrt. Nur hin und wieder spannten sich seine Gesichtsmuskeln an. Er starrte mit leerem Blick vor sich hin, so als wünschte er sich möglichst weit weg. Hillarys Gesicht war völlig ausdruckslos. Ich konnte keinerlei Regung darin erkennen. Sie saß kerzengerade da und spielte mit der einen Hand unaufhörlich an ihrem langen Zopf herum – sie zupfte daran und strich ihn dann wieder glatt. Taylor weinte leise in ein Papiertaschentuch, das von ihren Tränen schon halb aufgelöst und ganz zerfleddert war. Ihre weißblonden Haare trug sie hochgesteckt, aber sie hatten sich gelöst und fielen ihr jedes Mal, wenn sie sich die Augen trocknete, wieder ins Gesicht. So sehen doch keine Mörder aus, dachte ich, während der Pfarrer monoton vor sich hin leierte und ich sie mir einen nach dem anderen anschaute. Ich kenne sie alle schon seit Jahren. Sie sind meine Freunde – 61
und keiner von ihnen ist ein Mörder. Keiner. Ausgeschlossen! Nach der Beerdigung trafen wir uns alle gemeinsam bei Sandy. Seine Mutter hatte uns Teller mit Broten hingestellt, über die wir uns mit einem Bärenhunger sofort hermachten. Wir redeten alle gleichzeitig drauflos. Ich glaube, das lag daran, dass wir so angespannt waren und die ganze Beerdigung am liebsten verdrängt hätten. Da wir noch unsere schwarzen Sachen anhatten, war das allerdings gar nicht so leicht. Vincent nahm seine Krawatte ab und schlang sie sich wie ein Stirnband um den Kopf. So sah er schon etwas vertrauter aus. Ich glaube, er war sehr erleichtert, dass seine Eltern ihm erlaubt hatten mit zu Sandy zu kommen. Schließlich hatte er schon seit Tagen zu Hause gesessen. Um uns alle ein bisschen aufzuheitern erzählte er uns eine Geschichte von der Beerdigung seiner Großmutter. Sie war eine sehr korrekte Frau gewesen, streng und immer darauf bedacht, dass alles seinen ordentlichen Gang ging. Sie konnte richtige Wutanfälle kriegen, wenn nicht alles perfekt lief. Der Priester hatte eine so bewegende Lobrede auf sie gehalten, dass alle zu Tränen gerührt waren, berichtete Vincent. Dann wurde der Sarg noch einmal geöffnet, damit alle Anwesenden ihr die letzte Ehre erweisen konnten. Als sich der Deckel hob, ging ein entsetztes Raunen durch die Kirche. Denn nicht seine Großmutter befand sich in dem Sarg, sondern ein riesiger Dreizentnermann mit Glatze und Rauschebart lag darin. Es war nämlich aus Versehen der falsche Sarg in die Kirche gebracht worden. Das Raunen ging in ein überraschtes Kichern über. Und schließlich hallte die ganze Kirche vor Gelächter wider. „Die Leute haben regelrecht gebrüllt vor Lachen", erzählte uns Vincent. „Sie standen in den Gängen und haben sich gebogen vor Lachen. Wirklich! Irgendwie passte es wie die Faust aufs Auge. Meine Großmutter hatte ihr Leben lang immer herumgejammert, dass 62
nichts so gemacht würde, wie es sich gehörte - und sie behielt über ihren Tod hinaus Recht!" Auch wir mussten lachen – nur Sandy verzog keine Miene. Er wirkte noch verkrampfter als sonst. Er stand abseits am Kamin und drehte eine kleine Bronzebüste, die ihn als Kind darstellt, nervös in den Händen hin und her. Sandys Mutter ist Psychiaterin und außerdem eine wirklich talentierte Bildhauerin. Das ganze Wohnzimmer steht voll mit Büsten von Sandy und seiner älteren Schwester Gretchen, die ein College in Cornell besucht. Die beiden sind wirklich perfekt getroffen. Ich beobachtete Sandy, der die Bronzebüste von einer Hand in die andere schob. Er schien Vincent gar nicht zugehört zu haben. Aber was mich wirklich wunderte, war, dass er auch Taylor völlig links liegen ließ. Taylor und Hillary hockten auf dem Sofa und unterhielten sich flüsternd. Taylor hatte ihre Haare wieder ordentlich hochgesteckt. Selbst vom anderen Ende des Zimmers aus konnte ich sehen, dass sie vom vielen Weinen rote Ränder um die Augen hatte. „Hast du eigentlich immer noch Hausarrest?", fragte ich Vincent. „Oder haben sich deine Eltern mittlerweile wieder ein bisschen beruhigt?" Er sah durch mich hindurch, als ob ich Luft wäre, und gab mir keine Antwort. Sein Blick war starr auf Taylor gerichtet. Dann drehte er sich plötzlich um und lief mit schnellen Schritten in die Küche. „Will jemand eine Cola oder irgendetwas anderes?", rief er. Ich folgte ihm in die Küche. Er stand vor dem offenen Kühlschrank, beugte sich gerade vor und schaute hinein. „Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?", fragte ich ihn besorgt. Er nahm eine Dose Mineralwasser heraus und richtete sich auf. Dann zuckte er mit den Achseln. „Ich denke schon. Aber es gibt doch eine Menge Ungereimtheiten, findest du nicht?" ,Ja, das ist wahr", stimmte ich zu. Mit einem lauten Plopp riss er die Dose auf. „Wie geht's dir denn eigentlich, Julie? Hast du immer noch so schlimme Alpträume? Ich meine, du hast ihn schließlich dort gefunden. Er muss ..." 63
„Ich werde das Bild überhaupt nicht mehr los", gestand ich. „Meine Eltern meinen, das würde noch eine ganze Weile so bleiben. Sie glauben ..." Ich brach mitten im Satz ab, als ich hörte, dass Sandy uns zu sich ins Wohnzimmer rief. Vincent trank einen kräftigen Schluck Mineralwasser. Dann drehten wir uns um und gingen hinein um uns anzuhören, was Sandy wollte. „Kommt alle mit!", sagte er und führte uns ins Arbeitszimmer. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was das sollte, aber er wich meinem Blick aus. „Kommt alle hier hinein." Seine Stimme klang rau und erregt. „Was hast du vor?", fragte Taylor. Mit gesenktem Kopf brummte er irgendetwas vor sich hin. Ich konnte es nicht verstehen und ich glaube auch nicht, dass Taylor schlau daraus geworden ist. Wir zwängten uns allesamt in das kleine Arbeitszimmer mit der Korktapete. Behutsam schloss Sandy die Tür hinter sich. „Ich ... ich muss euch etwas beichten", sagte er leise. Er hielt immer noch die kleine Bronzebüste in den Händen. „Willst du das Ding da eigentlich meistbietend versteigern?", meinte Vincent im Scherz. „Oder kannst du dich von deinem eigenen Bild nicht losreißen?" Taylor lachte. Hillary und ich warfen uns einen erstaunten Blick zu. Was hat Sandy für ein Problem?, fragte ich mich. Was hat er uns denn so Wichtiges mitzuteilen? Sandy räusperte sich und stellte die Bronzebüste auf ein Regalbrett. „Ich erzähle es euch nur, weil ihr meine besten Freunde seid und ich euch vertrauen kann", sagte er. Er sprach hastig und schaute dabei zum Fenster hinaus. Vincent hatte schon den Mund geöffnet und wollte wahrscheinlich gerade wieder irgendeinen Witz reißen. Ich schüttelte den Kopf und gab ihm mit Blicken zu verstehen: „Jetzt nicht!" Daraufhin ließ er sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken. „Ich bin völlig hin und her gerissen. Einerseits möchte ich, dass ihr es erfahrt, und andererseits möchte ich es lieber für mich behalten", 64
sagte Sandy geheimnisvoll. „Aber ich habe das Gefühl ... Ich habe das Gefühl ..." Seine Stimme zitterte. Er atmete ein paar Mal tief durch. „Ich muss es einfach loswerden." „Sandy – worum dreht es sich denn?", rief Taylor und sprang vom Sofa auf. „Also ..." Wieder räusperte sich Sandy. „Ich ... ich muss euch etwas gestehen. Versteht ihr, ich war es. Ich war es, der Al umgebracht hat."
65
Kapitel 12 „Mit so was scherzt man nicht!", rief ich. Taylor schnappte nach Luft und schlug sich die Hand vor den Mund. Hillary beobachtete Sandy mit zusammengekniffenen Augen, zeigte ansonsten aber keine Reaktion. „Das meinst du doch nicht im Ernst – stimmt's?", sagte Vincent, stellte die Dose mit Mineralwasser ab und stand auf. „Das ist wirklich ein grober Scherz, Mann!" Sandy fing heiser an zu schreien. „Es ist kein Scherz, Vincent. Ich mache keine Witze. Es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit!" „Neeeiiin!", rief Taylor völlig entsetzt. „Es geht auf mein Konto", wiederholte Sandy. „Ich habe Al umgebracht. Ihr als meine Freunde sollt die Wahrheit erfahren. Ich vertraue fest darauf, dass ihr es für euch behalten werdet." „Ooohhh ...", murmelte Vincent nur. Mir liefen Welle um Welle kalte Schauer über den Rücken. Ich blickte Sandy fest an. Ich hatte zwar gehört, was er da gesagt hatte, aber ich konnte es einfach nicht glauben. Ich wollte es nicht glauben. „Es ist nicht wahr!", schluchzte Taylor. Sie stürzte durchs Arbeitszimmer und warf sich Sandy an den Hals. „Es stimmt nicht! Ich weiß, dass es nicht wahr ist! Ich weiß es genau!" Sandy nahm ihren Arm und schob sie sanft weg. „Es tut mir Leid, Taylor. Es tut mir wirklich Leid! Aber ich war es. Ich habe Al umgebracht." Kopfschüttelnd stand Hillary vom Sofa auf. Sie verschränkte die Arme fest vor der Brust, ging ans Fenster und blickte hinaus in das strahlende Sonnenlicht. Vincent starrte Sandy mit offenem Mund an. Ich mühte mich verzweifelt ab endlich das Zittern in den Griff zu bekommen, denn ich schlotterte am ganzen Körper. Schließlich 66
fand ich meine Sprache wieder. „Aber ... warum bloß?", brachte ich mit erstickter Stimme heraus. „Warum, Sandy? Wie konnte es bloß so weit kommen?" Es trat ein tiefes Schweigen ein. Ich hörte nur Taylors leises Schluchzen und meinen eigenen, rasend schnellen Herzschlag. „Er hat uns allen das Leben zur Hölle gemacht", erwiderte Sandy mit einer Stimme, die mehr ein Flüstern war. „Er hat uns allen das Leben ruiniert. Es wurde ja immer schlimmer. Ich ... ich hab es für uns alle getan." „Aber, Sandy ...", begann ich. „Ihr wolltet ihn doch auch los sein, stimmt's?", unterbrach mich Sandy mit schriller Stimme. „Ihr habt ihn doch auch abgrundtief gehasst - oder etwa nicht? Wir konnten es doch alle nicht mehr ertragen, dass er uns dauernd belästigte, uns nach seiner Pfeife tanzen ließ, uns zwang zu ... zu ..." Ihm versagte die Stimme. „Es ist nicht wahr!", schluchzte Taylor immer wieder. „Es ist überhaupt nicht wahr!" „Es tut mir Leid, dass ich dich so aufgeregt habe", sagte Sandy leise zu ihr. „Ich wollte dir niemals wehtun. Aber es tut mir nicht Leid, dass ich ihn umgebracht habe." Ich sah gerade rechtzeitig hoch um mitzubekommen, dass Hillary, die am Fenster stand, sich schnell auf dem Absatz herumdrehte. Sie hatte immer noch die Arme vor der Brust verschränkt und sah zu meiner Verwunderung stinkwütend aus. „Sandy, du hättest es für dich behalten sollen", fuhr Hillary ihn an. Sandy riss die Augen auf. Vollkommen baff sah er Hillary an. „Was? Ich dachte ..." „Du hättest es dir besser verkniffen", fauchte Hillary. Jetzt hast du uns alle in diese Mordgeschichte mit hineingezogen. Das ist nicht fair!" „Aber ... aber ... ihr seid doch meine Freunde!“, stammelte Sandy und machte mit ausgestreckten Armen ein paar Schritte auf sie zu. Hillary wich langsam vor ihm zurück, bis sie gegen die Fensterbank krachte. Einen Moment lang waren ihre Augen hinter einem Schleier aus Licht, das auf ihre Brille fiel, verborgen. "Dann 67
machte sie eine kleine Bewegung und ihre wütend funkelnden Augen waren wieder zu sehen. „Es ist nicht in Ordnung", sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen zu Sandy. „Auch wenn wir Freunde sind – wie kannst du uns in einen Mord, den du zu verantworten hast, verwickeln? Was sollen wir denn jetzt machen? Das Geheimnis für uns behalten und es einfach verdrängen?" „Aber ich habe es doch vor allem für dich getan, Hillary!", rief Sandy mit rauer Stimme. In diesem Moment hörten wir vor der Tür des Arbeitszimmers ein Geräusch – und drehten uns alle blitzschnell um. Sandy wurde kreidebleich. Er dachte bestimmt, seine Mutter sei an der Tür. Aber das Geräusch musste wohl von draußen gekommen sein, denn die Tür ging nicht auf. Sandy wandte sich wieder an Hillary. „Warum machst du mich so fertig? Ich hab es doch vor allem für dich getan", wiederholte er schrill. „Besonders dir hat Al das Leben doch zur Hölle gemacht. Er hat dich erpresst und immer wieder Geld von dir verlangt und ... und ..." Hillary schüttelte den Kopf und sah Sandy mit einem Stirnrunzeln an. „Du solltest mir dankbar sein!", hielt Sandy ihr vor. „Wirklich, Hillary. Statt dazustehen und mich so anzustarren solltest du froh sein, dass ich es getan habe!" „Aber du hast ihn umgebracht, Sandy!", rief Hillary mit einer zitternden, erregten Stimme, wie ich sie noch nie bei ihr gehört hatte. „Du hast ihn getötet! Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht, das stimmt. Er hat mich andauernd belästigt, wollte ständig irgendwas von mir haben. Er hat mich bedroht, das stimmt auch. Aber ..." Hillary holte tief Luft. „Aber deswegen bringt man doch niemanden um! Verstehst du denn nicht, Sandy? Begreifst du wirklich nicht, was du getan hast? Du hast einen Menschen auf dem Gewissen. Du hast Al getötet!" Sandy öffnete den Mund um zu antworten. Doch Hillary schnitt ihm mit einer entschiedenen Handbewegung das Wort ab. 68
„Bloß weil einem jemand auf die Nerven geht, bringt man ihn doch noch lange nicht um", sagte Hillary langsam und betonte jedes einzelne Wort. „Und ausplaudern tut man es auch nicht. Man geht doch nicht einfach hin und erzählt es einer ganzen Runde von Leuten!" „Aber ihr seid doch nicht irgendwelche Leute ..." Sandy gab nicht nach. „Ihr seid meine Freunde. Nur darum hab ich es euch gesagt." „Wozu hat man sonst Freunde?", mischte Vincent sich ein. Sein Versuch, witzig zu sein, ging ziemlich nach hinten los. Nicht einmal Vincent konnte uns jetzt zum Lachen bringen. Ich sah ihn forschend an und fragte mich, was wirklich in ihm vorgehen mochte. Das war bei ihm immer schwer zu sagen, weil er seine wahren Gedanken und Gefühle meistens hinter irgendwelchen witzigen Bemerkungen versteckte. „Du hast uns in eine furchtbare Lage gebracht, Sandy." Hillary seufzte, löste ihre fest verschränkten Arme und ließ sie sinken. „Wir müssen unsere Eltern einweihen oder die Polizei informieren. Etwas anderes bleibt uns ja gar nicht übrig." „Nein!", rief Taylor. Sie drehte sich zu Hillary hin. „Was redest du denn da? Wir müssen Sandy decken, indem wir die Sache für uns behalten." „Ich hab euch immer vertraut", murmelte Sandy nur und senkte den Kopf. „Ich finde, Taylor hat Recht", sagte ich nachdenklich. „Wir können Sandy doch nicht bei der Polizei anzeigen. Allein ... allein die Vorstellung ist so furchtbar, dass ich gar nicht darüber nachdenken mag." Einen Moment lang war ich kurz davor, in Tränen auszubrechen. Mir wurde alles zu viel. Hörte dieser Alptraum denn gar nicht mehr auf? „Aber er hat uns doch zu Mitwissern gemacht", hielt Hillary dagegen. „Wir sollten nicht vergessen, dass er es für uns getan hat", meldete sich Vincent zu Wort. „Ihr könnt mir glauben: Als Al den Wagen meiner Eltern zu Schrott gefahren hat, hätte ich ihn auch 69
am liebsten umgebracht. Ehrlich! Aber mir hat der Mut dazu gefehlt." „Das ist doch nur so eine Redensart", sagte Hillary zu Vincent. „Dass du es nicht getan hast, ist doch nicht Feigheit, sondern dir ist schlicht und ergreifend bewusst, dass man einen Menschen nicht einfach umbringt, bloß weil er einem auf die Nerven geht." Taylor stellte sich neben Sandy und legte ihm den Arm um die Taille. „Irgendwie muss es ja weitergehen", sagte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter. „Das Beste ist, wir versuchen zu vergessen, was passiert ist, und machen weiter wie bisher. Wenn wir Sandy bei der Polizei anzeigen – wie soll es dann weitergehen? Wie sollen wir dann je wieder zur Normalität zurückkehren?" „Sie hat Recht", sagte ich. „Wenn wir ihn anzeigen, ruinieren wir auch noch Sandys Leben." „Danke, Julie", sagte Sandy leise. Er drehte sich zu den anderen um. „Ihr kennt mich doch gut und wisst, dass ich kein berechnender Mensch bin. Ich bin kein kaltblütiger Mörder, sondern ein Mensch mit ganz normalen Gefühlen. Und ich bin euer Freund und wünsche mir, dass auch ihr meine Freunde bleibt." Er schluckte schwer. Vor Rührung blieb ihm die Stimme in der Kehle stecken. Taylor drückte ihn an sich. Dann hob sie den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ihr wisst genau, dass ich kein kaltblütiger Mörder bin", sagte Sandy noch einmal und sah jeden Einzelnen von uns eindringlich an. „Und ein Wiederholungstäter erst recht nicht. Ich würde nie wieder töten! Das wisst ihr doch, nicht wahr?" Doch eine Woche später schlug Sandy erneut zu.
70
Kapitel 13 Sandy beging einen weiteren Mord - aber diesmal geschah es nur in einem meiner Alpträume. In dem Traum rannte ich mit Hillary über ein endloses grünes Feld. Dann waren wir plötzlich auf Rollschuhen unterwegs. Immer schneller und schneller werdend glitten wir dahin. Wir mussten gegen den kräftigen Wind ankämpfen, der unsere Haare und Pullover wild flattern ließ. Ich weiß noch, wie merkwürdig es mir vorkam, dass wir auf dem Gras so prima gleiten konnten. Dann verfinsterte sich der Himmel. Das Gras färbte sich zuerst blau, dann schwarz und bald senkte sich tiefe Dunkelheit über uns. Wir liefen weiter, jetzt voller Angst. Mir war nicht klar, wovor wir Angst hatten – bis ich Sandy zwischen ein paar Bäumen hervorkommen sah. Er streckte die Hände in die Luft und hielt seine zusammengeknoteten Rollschuhe hoch. Dann schnürte er sie los und ließ die Schnürsenkel wie eine Peitsche knallen. Mein Leben lang werde ich dieses schreckliche Geräusch nicht mehr vergessen. Ich wusste, dass er nur darauf wartete, Hillary und mich zu erdrosseln. Trotzdem liefen wir zu ihm hin, als würden wir mit ihm zusammenarbeiten. Als wollten wir ihm helfen uns umzubringen. Wir kamen ihm immer näher. Wieder ließ er die Schnürsenkel mit einem lauten Peitschenknall durch die Luft sausen. Dann wachte ich schweißgebadet auf. Das Nachthemd klebte mir auf der Haut. Blinzelnd kam ich zu mir und war in höchster Alarmbereitschaft. Noch immer hatte ich das Geräusch der zischend durch die Luft sausenden Schnürsenkel im Ohr. Nur ganz allmählich dämmerte mir, dass das Geräusch vom Fensterladen kam, den der Wind gegen den Rahmen des Schlafzimmerfensters schlug. 71
Ich zitterte. Ich sah immer noch Sandy vor mir. Den pummeligen kleinen Sandy mit seinem runden Babygesicht. Plötzlich war mein alter Freund zu einer Bedrohung geworden, zu etwas Bösem, das mich bis in meine Träume verfolgte und mir Angst einjagte. Blinzelnd sah ich auf den Radiowecker auf meinem Nachttisch. Es war erst Viertel nach fünf. Der Himmel vor meinem Fenster war noch von einem tiefen Grau. Ich rappelte mich hoch, setzte die Füße auf den Boden und stand dann auf. Mir war klar, dass ich sowieso nicht mehr würde schlafen können. Und ich hatte auch gar keine Lust es zu versuchen. Auf noch so einen schlimmen Alptraum konnte ich wirklich gut verzichten. Am nächsten Abend nach dem Vorbereitungstreffen für die Abschlussfeier erzählte ich Hillary meinen Traum. Das Abschlussexamen! Ich konnte es immer noch nicht glauben! In diesem Jahr würden an die dreihundert Schüler nach dem Examen die Shadyside-High-School verlassen und es war uns allen wohl noch gar nicht richtig bewusst geworden, dass es schon in wenigen Wochen so weit war. Wir führten uns bei dem Vorbereitungstreffen auf wie die Kinder, alberten herum und hatten nichts als Blödsinn im Kopf. Mr. Hernandez brüllte sich die Kehle aus dem Leib, aber es wollte einfach keine Ruhe einkehren. Zu allem Überfluss trat schließlich auch noch Ricky Shore ans Mikrofon und rief mit dröhnend lauter Stimme hinein: „Auf die Plätze, fertig, los - es darf geblödelt werden!" Der ganze Saal brüllte vor Lachen. Aber dann wurde es plötzlich doch still. Unser Direktor dankte Ricky für seine Unterstützung, beorderte ihn vom Podium herunter und gab uns Anweisungen. Wir sollten unseren Schulsong proben und natürlich sangen wir ihn lauthals grölend und hoffnungslos falsch. Es hörte sich eher nach Hundegejaul an und wir lachten uns halb schlapp dabei. Als wir geordnet den Saal verlassen sollten, versperrten uns ein paar Jungen aus der Footballmannschaft den Weg und das sorgte für 72
noch mehr Lachen und Gejohle. Alles in allem benahmen wir uns wirklich eher wie Kindergartenkinder als Schüler der letzten Klasse einer HighSchool. Es lag sicher auch daran, dass viele von uns eigentlich noch gar kein Examen machen wollten. Jetzt, wo es fast so weit war, wären die meisten gerne noch etwas länger an der Schule in Shadyside geblieben. In all den Jahren war sie für uns zu einer Art zweitem Zuhause geworden. Wir hatten tolle Zeiten miteinander verlebt und es war klar, dass es nach dem Examen, wenn wir erst in alle Winde verstreut waren, nie mehr so sein würde wie jetzt. Das Vorbereitungstreffen war um kurz nach acht zu Ende. Wir machten uns fertig zum Aufbruch um zu Hause noch für die Schule zu arbeiten. Auch wenn wir es bald hinter uns hatten - noch gab es Projektarbeiten zu erledigen und Abschlussarbeiten zu schreiben. Am anderen Ende des Saals nah am Podium entdeckte ich Vincent. Er produzierte sich gerade vor einer Gruppe von Mädchen, indem er einen verrückten Tanz aufs Parkett legte. Seine Arme wirbelten durch die Luft und er machte mit dem Körper wild zuckende Bewegungen. Die Mädchen um ihn herum schüttelten lachend die Köpfe. Eine von ihnen versuchte sich in seinen Tanz einzuklinken, konnte aber nicht mit ihm mithalten. Alle finden Vincent einfach umwerfend – und das ist er auch. Was mache ich bloß falsch, dass er mich nie zum Tanzen auffordert?, dachte ich traurig. Ich setzte meinen Rucksack auf und holte Hillary vorn beim Podium endlich wieder ein. „Warte auf mich! Warum hast du es denn so eilig?", rief ich ihr nach. Ihr langer Zopf hatte sich im Riemen ihrer Schultasche verheddert und sie befreite ihn daraus. „Es ist fürchterlich heiß hier drinnen", nörgelte sie herum. „Außerdem hab ich nicht damit gerechnet, dass das Treffen so lange dauern würde. Ich muss zu Hause nämlich noch jede Menge Schularbeiten für Französisch erledigen." 73
Hillary musterte mich und zupfte einen weißen Fussel von meinem Pullunder. „Wie kommt es eigentlich, dass du so müde aussiehst, Julie?" „Ich hab letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen", sagte ich, erstaunt, dass mir die Müdigkeit anzusehen war. Dann erzählte ich ihr meinen Alptraum und dass ich schließlich mitten in der Nacht vom Klappern des Fensterladens aufgewacht war. Sie schauderte. „Mir spukt Sandy auch dauernd im Kopf herum", gab sie zu. Jedes Mal, wenn ich ihm über den Weg laufe, wird mir irgendwie ganz schlecht. Mir krampft sich regelrecht der Magen zusammen." „Das Gefühl kenne ich", stimmte ich ihr zu und drängte mich mit dem Rücken ans Podium um ein paar andere Schüler vorbeizulassen. „Immer wenn ich ihn sehe, schießen mir die gleichen Gedanken durch den Kopf: ,Du bist nicht mehr der Sandy, den wir mal kannten. Mit deinem Namen ist ein Mord verbunden. Du bist nicht mehr der Junge, den ich mal gut leiden konnte.'" „Ich ... ich bin da allerdings besonders übel dran", stammelte Hillary, „denn er hat es ja angeblich vor allem nur mir zuliebe getan. Er denkt, ich hätte gewollt, dass jemand hingeht und Al aus dem Weg räumt." Sie seufzte. „Ich habe immer gedacht, wir würden Sandy gut kennen. Sag mal ehrlich, hättest du ihm etwa einen Mord zugetraut?" Ich wusste auch keine Antwort auf diese Frage. „Inzwischen sehe ich es übrigens genauso wie du", sagte ich zu Hillary. „Ich meine, was das Geständnis angeht. Erst fand ich es ganz in Ordnung, dass er sich uns anvertraut. Aber jetzt wünschte ich auch, er hätte es nicht getan." „Und wir müssen nun sein Geheimnis mit uns herumschleppen", sagte Hillary. „Ich habe das Gefühl, dass es in mir wächst und mit jedem Tag größer wird. Dauernd bin ich kurz davor, damit herauszuplatzen. Es war total unfair von Sandy, es uns zu sagen!" „Und er hockt ganz locker beim Vorbereitungstreffen, blödelt mit allen herum und tut, als wäre nichts passiert", fuhr ich fort. „Wenn er das so leicht wegstecken kann – warum fällt es uns dann so schwer?" 74
Hillary wollte gerade zu einer Antwort ansetzen - blieb aber mit offenem Mund wie angewurzelt stehen. Da war jemand über uns auf der Bühne! Ich hatte das Knarren der Dielenbretter im gleichen Moment bemerkt wie Hillary. Ich drehte mich um und ließ meine Augen über die Bühne wandern. Da sah ich Taylor – halb verborgen von dem schweren braunen Vorhang. Als sie merkte, dass ich zu ihr hinüberblickte, verschwand sie lautlos im Dunkel. Hillary und ich tauschten einen besorgten Blick. Ich wusste, dass wir beide das Gleiche dachten: Wie lange hat sie uns schon belauscht? Hat sie alles mitbekommen, was wir über Sandy gesagt hatten? Und vor allem: Würde sie es ihm erzählen? Ein kalter Schauer lief langsam meinen Rücken herunter. Was würde Sandy tun, wenn Taylor ihm verriet, worüber wir gesprochen hatten?
75
Kapitel 14 Jetzt hab ich richtig Angst vor Sandy", sagte ich zu Hillary. „Wer weiß, was er tut, wenn er glaubt, dass wir ihn verraten könnten." Wir gingen gerade den Park Drive hinunter und waren auf dem Weg nach Hause. Ich hatte nicht auf den Bus warten wollen, der abends nur alle halbe Stunde fuhr. Außerdem hatte ich es plötzlich verdammt eilig, aus der Schule wegzukommen. „Ich verstehe nicht, wie er nachts überhaupt ruhig schlafen kann", sagte ich zu Hillary. „Und morgens seinen Eltern unter die Augen treten, obwohl er genau weiß, was er getan hat. Ich weiß nicht, wie er es fertig bringt, in der Schule herumzualbern, als wäre nichts geschehen? Wie schafft Sandy es bloß, sich auf die Arbeit fürs Examen zu konzentrieren? Wenn ich ... wenn ich jemanden umgebracht hätte, wäre ich völlig fertig und jeder würde es mir ansehen. Ich könnte so einfach nicht leben." „Ich weiß, was du damit sagen willst", meinte Hillary und rückte, während sie dies sagte, ihre Schultasche auf dem Rücken zurecht. „Es ist schwer, ihm überhaupt noch zu trauen. Unser Freund ist er jedenfalls nicht mehr. Er hat eine dunkle Seite an sich, von der wir rein gar nichts geahnt haben. Etwas Hartes, Eiskaltes ... das einem wirklich Angst macht." Eine Weile gingen wir schweigend weiter. Nur das Geräusch unserer Doc Martens auf dem Pflaster war zu hören. Ein Mann kam uns entgegen und ein Wagen mit nur einem Scheinwerfer fuhr vorüber. Die frischen Blätter an den Bäumen bewegten sich sanft im warmen Wind. Der sichelförmige Mond stand dicht über den Häusern vor uns. Jede einzelne Kleinigkeit nahm ich genau in mich auf. Ich war in höchster Alarmbereitschaft, so, als würden meine Sinne doppelte Arbeit leisten. „So wie die Dinge stehen, können wir einfach nicht länger mit ihm befreundet sein", meinte Hillary so leise, dass ich schon dachte, sie führte Selbstgespräche. „Ich meine, nichts wird je wieder sein, wie es mal war. Für keinen von uns." 76
Ich nickte. „Wenn Taylor ihm auf die Nase bindet, was wir von ihm halten", erwiderte ich ernst, „dann will Sandy bestimmt von sich aus nichts mehr mit uns zu tun haben." Wir überquerten die Straße und standen plötzlich in tiefster Finsternis. Zwei Straßenlaternen waren ausgefallen und die Zufahrten zu den Häusern lagen im Dunkeln. Ich weiß nicht mehr genau, wann wir bemerkten, dass wir verfolgt wurden. Es könnte genau an dieser Ecke gewesen sein, als wir kurz stehen blieben und das Geräusch von Schritten auf dem Pflaster hinter uns hörten. Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Doch als wir die dunkle Straße entlanggingen, hörte ich wieder Schritte und dann das Rascheln einer Hecke hinter uns. Da wurde mir klar, dass uns jemand verfolgte und beobachtete. Wir kamen gerade an einem alten, leer stehenden Haus vorbei, das in der Dunkelheit richtig unheimlich wirkte. Ich fasste Hillary am Arm und stoppte sie. „Dahinten ist jemand", flüsterte ich. „Wir werden verfolgt." „Ich weiß", flüsterte sie zurück. Wieder hörte ich Geraschel in der Hecke und dann leise Schritte. Ich spürte, wie sich Hillarys Armmuskeln anspannten, und bemerkte, dass sie die Zähne zusammengebissen hatte. Mit angehaltenem Atem drehten wir uns blitzschnell um – und schnappten erstaunt nach Luft.
77
Kapitel 15 Hinter uns war niemand zu sehen. Der Wind fuhr durch die hohe Hecke an der Straßenecke. Irgendein kleines Tier huschte leise über die Straße. Vielleicht ein Backenhörnchen oder eine Maus? Hillary und ich erstarrten und suchten mit unseren Blicken die Hecke ab. Ich hielt die Luft an und lauschte, ob nicht wieder Schritte zu hören waren, horchte auf Atemgeräusche, ein Hüsteln, ein leises Ächzen. Doch da war nichts. Nur Blätterrauschen und irgendwo in weiter Ferne der hohe Heulton der Sirene eines Notarztwagens. Vor lauter Erleichterung prusteten wir beide lauthals los. „Fangen wir jetzt schon an Gespenster zu sehen?", kicherte ich. Ja, ich glaube, wir leiden ein bisschen an Verfolgungswahn", gab Hillary zu. „Wir müssen echt aufpassen, dass wir nicht durchdrehen." „Warum sollte ausgerechnet uns jemand verfolgen?", sagte ich. „Wie sind wir bloß auf die Schnapsidee gekommen?" Blinzelnd sah ich ein letztes Mal zur Hecke hinüber. Still und friedlich ragte sie hinter uns auf. Dann drehte ich mich um und wandte mich zum Gehen. „Lass uns doch bei mir zu Hause die Hausaufgaben machen", drängte ich Hillary. „Wir könnten doch zusammen die Vokabeln für Französisch lernen. Zu zweit geht's viel leichter." Meine Anspannung war immer noch nicht ganz verflogen. Ich fühlte mich zittrig und mir war überhaupt nicht danach, jetzt alleine zu sein. Der Schreck saß mir noch in den Knochen, auch wenn ich das Hillary gegenüber nicht zugeben wollte. Hillary zögerte erst, aber dann war sie einverstanden. „Ich kann aber nicht allzu lange bleiben, Julie. Und eines musst du mir fest versprechen." „Und das wäre?" „Dass wir nicht mehr über Sandy und Al reden. Ich will von der
78
ganzen Geschichte kein Wort mehr hören!" „Versprochen", sagte ich sofort. Doch ich schaffte es nicht, mein Versprechen zu halten. Als wir an der nächsten Ecke in die Fear Street einbogen, konnte man schon unser Haus sehen. Ich bemerkte als Erstes den Polizeiwagen auf unserer Auffahrt, dann sah ich einen Polizisten, der gemächlich zur Haustür ging. „Was will der denn", rief ich erschrocken. „Warum lässt mich die Polizei nicht endlich in Ruhe?" „Das werden wir ja gleich feststellen", erwiderte Hillary leise. Am liebsten hätte ich mich auf dem Absatz umgedreht und wäre in die entgegengesetzte Richtung weggelaufen, bevor der Polizeibeamte mich entdeckte. Aber stattdessen gingen wir über den Rasen zum Haus und holten den Polizisten ein, als er gerade auf die Klingel drücken wollte. Es war Officer Reed. „Meine Eltern sind nicht da!", rief ich. Das war eine glatte Lüge, aber es platzte mir einfach so heraus. Ich wollte, dass er möglichst schnell wieder verschwand. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, weitere Fragen beantworten zu müssen. Officer Reed drehte sich um und sah uns an. Auf seiner Glatze spiegelte sich das Licht der Außenbeleuchtung. Die Hosen seiner Polizeiuniform waren zerknittert und die Jacke war voller Falten und an einem Ellbogen ganz fleckig. Er war noch dicker und ungepflegter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Die Jacke spannte über seinem gewaltigen Bauch und sein dunkler Schlips hing schief herab. Die Uniformmütze hielt er in der Hand. Ich sah auf die Pistole in dem braunen Halfter an seiner Hüfte. Ob er damit wohl schon mal auf jemanden geschossen hat?, ging es mir durch den Kopf. „Ich hatte gehofft, dass ich Sie antreffe", sagte er zu mir, nachdem er Hillary mit einem Kopfnicken begrüßt hatte. „Ich hab da noch ein paar Fragen." „Tut mir Leid, meine Eltern sind nicht da", log ich. „Also ist das 79
heute Abend wohl nicht so günstig." Bitte, bitte, geh doch endlich! „Sie wollen, dass ich nur in ihrer Anwesenheit Ihre Fragen beantworte", fuhr ich fort. Er blinzelte und spitzte seine trockenen Lippen. Da wurde plötzlich die Haustür aufgerissen und meine Mutter streckte den Kopf heraus. „Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört", sagte sie und sah uns erstaunt an. Als sie Officer Reed erkannte, war sie sofort in Alarmbereitschaft. „Ist alles in Ordnung? Julie und Hillary ...?" „Ich hätte da noch ein paar Fragen an Ihre Tochter, Mrs. Carlson", sagte Officer Reed und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Es gibt noch einige Dinge, die ich klären muss. Ich verspreche auch es kurz zu machen." Meine Mutter trat von der Tür zurück und ließ uns herein. Sie hatte einen Roman von Stephen King in der Hand. Das fehlte mir im Moment gerade noch, so ein Buch zu lesen, dachte ich. Wo mir mein eigenes Leben doch schon wie ein HorrorRoman vorkommt. Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Meine Mutter nahm im Sessel vor dem Fenster Platz. Sie behielt das Buch auf dem Schoß, klappte es jedoch zu und legte ihre Hände gefaltet darauf. Hillary und ich setzten uns jede an ein Ende des Sofas. Officer Reed zog einen Kugelschreiber und einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche. Dann ließ er seinen mächtigen Körper ächzend auf die Couch uns gegenüber sinken. „Sind Sie vorangekommen?", fragte meine Mutter Officer Reed von ihrem Platz am Fenster aus. „Ich meine, in dem Mordfall." Er saß mit dem Rücken zu ihr und drehte den Kopf herum. „Ein wenig schon, denke ich." Seine Worte versetzten mir einen eiskalten Stich ins Herz. Hatte er Sandy im Verdacht? Stand die Polizei etwa kurz vor der Aufklärung des Falles? Er drehte sich wieder zu mir hin. Ich bekam plötzlich ganz kalte, feuchte Hände. Um sie zu wärmen steckte ich sie unters Sofakissen. „Julie, ich hatte eben den Eindruck, dass Sie mich gern 80
losgeworden wären", sagte er. „Was?" Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Er sah mich unverwandt an und wartete auf eine Antwort von mir. „Gibt es irgendeinen Grund, weshalb Sie mir aus dem Weg gehen?" „Nein", erwiderte ich mit klopfendem Herzen. „Es ist bloß ... na ja ... es macht mich einfach fertig, die ganze Sache immer wieder von neuem aufzurühren." Er nickte und ließ mich keinen Moment aus den Augen. „Die Tat liegt doch nun schon ein Weilchen zurück und bestimmt haben Sie und Ihre Freunde über den Fall gesprochen. Kann es sein, dass Ihnen da irgendwas zu Ohren gekommen ist?" Wieder wartete er geduldig auf eine Antwort von mir, aber ich wollte dazu nichts sagen. „Sind irgendwelche Gerüchte im Umlauf, Julie? Gibt es vielleicht irgendetwas, was Sie mir auf keinen Fall verschweigen sollten?" „Nun, Officer Reed, Gerüchte ist nicht das richtige Wort. Ich kann Ihnen viel Zeit und Aufwand ersparen. Ein Junge namens Sandy Miller aus meiner Klasse hat Al umgebracht. Das hat er uns allen letzte Woche gestanden."
81
Kapitel 16 Genau das lag mir auf der Zunge. Ich sehnte mich förmlich danach, es loszuwerden! Die Worte warteten nur darauf, endlich aus mir herauszuströmen. Es wäre so eine Erleichterung gewesen! Ich wüstste, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich ihm alles erzählte. All meine Ängste und Sorgen und die schlimmen Alpträume würden endlich ein Ende haben. Aber konnte ich Sandy das antun? Nein. Sandy hatte uns vertraut - mich eingeschlossen –, hatte uns sein dunkles Geheimnis verraten. Und so schlecht es mir damit auch ging – ich konnte Sandy doch nicht in den Rücken fallen. Sosehr ich mir wünschte die Wahrheit sagen zu können, ich brachte es einfach nicht fertig. Sandys Geheimnis musste auch mein Geheimnis bleiben. Ich ließ meinen Blick zu Hillary hinüberwandern. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie meine Gedanken gelesen hatte. Hillary hätte es sich auch gern von der Seele geredet. Ihr brannte es sogar noch mehr unter den Nägeln als mir. Sie war so voller Zorn auf Sandy, dass sie sich kaum noch zurückhalten konnte. Hillary war wegen Sandys Verhalten noch viel aufgebrachter als wir übrigen. Vom ersten Augenblick an hatte es sie total wütend gemacht, dass Sandy uns in die Sache mit reingezogen hatte. Mit der einen Hand zupfte sie nervös an ihrem langen Zopf, mit der anderen trommelte sie leise auf die Sofalehne. Aber obwohl Hillary stinksauer auf Sandy war, würde sie kein Sterbenswörtchen verraten. Da war ich mir ganz sicher. Und von mir würde der Polizist auch nichts erfahren. Officer Reed beugte sich keuchend vor. „Irgendetwas müssen Sie doch aufgeschnappt haben", beharrte er. „Ihre Klassenkameraden – sie haben doch mit Sicherheit darüber geredet, wer Al Freed auf dem Gewissen haben könnte." 82
Ich schüttelte den Kopf. „Alle sind völlig erschüttert", erklärte ich. „Ich meine, keiner kann es so recht fassen. Es ist irgendwie, als wäre das ganze Unglück gar nicht wirklich passiert." „Wir reden nicht gern davon", meldete Hillary sich zu Wort. Ihre Stimme klang angespannt, aber entschieden. „Es ist einfach zu schrecklich. Wir unterhalten uns mehr übers Examen und solche Sachen. Wir verdrängen das Ganze und wollen es vergessen." „Das stimmt", pflichtete ich ihr schnell bei. Hillary war in solchen Dingen einfach viel gewandter als ich und fand immer die richtigen Worte sich auszudrücken. „Es soll trotz allem noch eine möglichst schöne Zeit werden. Für uns Schulabgänger meine ich. Keiner möchte ständig an das furchtbare Ereignis erinnert werden. Darum war ich auch vorhin nicht so begeistert, als ich Sie vor unserer Tür stehen sah." Officer Reed nickte grimmig und rieb sich die hohe Stirn. Dann senkte er den Blick und sah auf seinen kleinen Notizblock. „Lassen Sie uns ein paar Namen durchgehen. Nur um zu sehen, ob einer davon Ihnen etwas sagt." Langsam las er eine Liste von sechs, sieben Jungennamen vor. Keiner der Jungen war an unserer Schule. Hillary und ich hatten ihre Namen noch nie gehört. „Sind das Als Freunde, die er aus Waynesbridge kannte?", fragte ich. Officer Reed steckte das Notizbuch in seine Hemdtasche. Ja. Zumindest einige von ihnen." „Er hat sie nie mit hergebracht", sagte ich. „Meist hat er sich mit ihnen in Waynesbridge rumgetrieben." „Verstehe." Der Officer quälte sich mühsam von der Couch hoch. „Das war's dann einstweilen", sagte er. „Es tut mir Leid, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe." Mit einem Kopfnicken verabschiedete er sich von meiner Mutter, die am Fenster sitzen blieb. „Es tut uns Leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen konnten", sagte ich und begleitete ihn zur Haustür. „Wenn ich irgendetwas hören sollte ..." „... rufen Sie mich sofort an", sagte er. „Gute Nacht." Er ging zur Tür hinaus. 83
Von der Türschwelle aus sah ich ihm nach, bis er in seinen Wagen stieg. Ich war unheimlich erleichtert, dass er endlich fort war, und noch erleichterter, dass ich es geschafft hatte, ihm nichts zu verraten. Die Tür seines Wagens klappte zu. Die Scheinwerfer leuchteten auf und ein paar Sekunden später fuhr er leise weg. Sobald er außer Sicht war, schloss ich die Haustür hinter mir. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, schlug mein Herz schon etwas ruhiger und meine Hände wurden langsam wieder warm. „Hoffentlich schafft er es, den Mörder bald zu finden", bemerkte meine Mutter und biss sich nervös auf die Unterlippe. Ja, hoffentlich", plapperte ich ihr mechanisch nach. Meine Mutter stand auf. „Ich lese mein Buch oben weiter. Ich grusel mich zwar fürchterlich, aber ich kann es einfach nicht aus der Hand legen." Sie wünschte Hillary eine gute Nacht und ging mit dem Buch unterm Arm hoch in ihr Zimmer. Ich wartete, bis sie oben auf dem Treppenabsatz angekommen war. Dann flüsterte ich Hillary zu: „Hast du an dasselbe gedacht wie ich?" „Du meinst Officer Reed einzuweihen?" Ich nickte. „Ich war kurz davor ..." Ich stockte mitten im Satz, weil ich glaubte draußen vor dem Wohnzimmerfenster eine Bewegung gesehen zu haben. Eine schattenhafte Gestalt, die mit großen Sätzen über die Auffahrt rannte. Sofort löschte ich sämtliche Lichter. Dann ging ich durch das stockdunkle Zimmer ans Fenster – und sah ihn! Ich erkannte ihn ganz deutlich! Sandy! „Ohhh", rief ich leise und winkte Hillary zu mir. Sie stellte sich neben mich ans Fenster und schaute hinaus. „Es ist Sandy", flüsterte ich. „Er versteckt sich hinter dem Baum dort." „Vorhin ist uns also doch jemand gefolgt!", flüsterte Hillary. „Es muss Sandy gewesen sein." „Was hat er da draußen bloß verloren?", fragte ich. „Ob er befürchtet, dass wir ihn an Officer Reed verpfiffen haben? 84
Meinst du, er glaubt, dass wir ihn angezeigt haben?" Hillary erwiderte nichts darauf. Wir starrten weiter aus dem Fenster. Sandy versteckte sich immer noch hinter dem dicken Stamm des Ahornbaums. Das Mondlicht beschien den Boden vor ihm und sein Gesicht war in dem bläulichen Schatten nur schwer zu erkennen. „Er ... er ist doch wirklich ein schrecklicher Feigling", flüsterte Hillary. „Was hat er bloß hier verloren?", fragte ich. „Will er uns etwa Angst machen? Was zum Teufel hat er vor?"
85
Kapitel 17 Wir liefen zur Tür und riefen nach ihm. „Sandy! Sandy!" Ich beugte mich in die Dunkelheit vor und rief immer wieder seinen Namen. Doch es kam keine Antwort. Er wich noch ein Stück zurück, bis er vollständig im Dunkeln stand. „Wo ist er geblieben?", flüsterte Hillary. „Was hat er vor?" Ihre Stimme zitterte vor Angst. Hillary und ich fürchteten uns inzwischen alle beide vor Sandy. Das hätten wir uns noch vor kurzem nicht träumen lassen. Wenn uns jemand erzählt hätte, dass der nette, pummelige Sandy versuchen würde uns Angst einzujagen, hätten wir ihn schallend ausgelacht. „Da ist er!", flüsterte ich ihr zu. Sandy lief geduckt an der Hecke entlang und verschwand im Garten des Nachbarhauses. Hillary und ich starrten ihm noch eine Weile hinterher, bis wir sicher waren, dass er nicht zurückkommen würde. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich die Tür hinter uns zuschloss. Warum verfolgte er uns? Was hatte er vor? „Merkwürdig", murmelte ich. „Wirklich sehr merkwürdig." Ich konnte nicht wissen, dass das erst der Anfang war. Zwei Tage später jagte uns Sandy wieder schreckliche Angst ein. Nach Schulschluss ging ich an der Turnhalle vorbei. Die Doppeltüren standen offen und ich hörte jemand meinen Namen rufen. Eine ganze Horde von Jungen vertrieb sich die Zeit mit Basketballspielen. Sie dribbelten durch die Halle und gaben wilde Schüsse auf den Korb ab. „Hey, Julie – wie geht's denn so?", rief Vincent mir zu. Hinter ihm sprang Sandy mit einem Riesensatz in die Höhe, versuchte den Ball im Korb unterzubringen – und verfehlte ihn. 86
Alle johlten vor Lachen, aber Sandys Gesicht verfinsterte sich. Dann setzte ein anderer Junge dem Ball nach, aber Sandy schnitt ihm den Weg ab und schnappte ihm wutschnaubend den Ball weg. „Wir hören gleich auf, rief Vincent. „Warte doch auf mich, dann können wir zusammen nach Hause gehen." Mein Herz machte einen Hüpfer. Vincent wollte mit mir nach Hause gehen? Hatte er etwa endlich was gemerkt? Wahrscheinlich will er bloß wieder meine Hausaufgaben in Geschichte abschreiben, dachte ich mit einem Seufzer. Aber egal – ich ließ meine Schultasche fallen, lehnte mich an die Wand und sah ihnen beim Spielen zu. Alle waren mit Spaß bei der Sache. Sie riefen sich anfeuernde Bemerkungen zu und zögen eine große Show ab. Ständig versuchten sie sich gegenseitig auszutricksen und mit verrückten Würfen Treffer zu landen, verfehlten den Korb aber meist. Keiner schien das Spiel so richtig ernst zu nehmen – außer Sandy. Nach einer Weile versuchten Sandy und Vincent gleichzeitig den Ball zu erwischen. Vincent rief Sandy etwas zu, aber ich konnte nicht verstehen, was. Da hielt Sandy mitten im Lauf abrupt an und stieß Vincent kräftig mit beiden Händen weg. Vincent brüllte Sandy erschrocken an. „Hey – das hab ich doch bloß zum Spaß gesagt!", verteidigte er sich. Sandy warf ihm finstere Blicke zu und rannte dann wieder mit dem Ball los. Vincent stürmte hinter Sandy her und rempelte ihn von hinten. Es sah so aus, als hätte er es nicht mit Absicht getan. Als Vincent ihm dann jedoch den Ball wegschnappte, rastete Sandy völlig aus. Ein paar von den anderen Jungen fingen an zu lachen. „Reg dich doch nicht so auf, Pummelchen!", sagte einer von ihnen zu Sandy. „Na, hat er dich ausgetrickst, Kleiner?", rief ein anderer. Sandy verzog keine Miene, aber ihm stieg die Zornesröte ins Gesicht. Ich sog scharf die Luft ein. Mit einem Schlag wirkte Sandy wieder total Furcht erregend.
87
Vincent war wohl gar nicht klar, dass Sandy vor Wut kochte. Er drehte sich zu ihm hin, hielt ihm den Ball unter die Nase und zog ihn dann schnell wieder weg. Als Sandy losbrüllte, hielt ich die Luft an. Er war völlig außer sich und stand anscheinend kurz vor einem Tobsuchtsanfall. Unter lautem Fluchen schnappte er Vincent den Ball aus der Hand. Vincent wollte sich gerade zum Gehen wenden, als Sandy den Ball mit voller Wucht nach ihm warf. „Neieiein!" Laut schreiend rannte ich aufs Spielfeld. Vincent stöhnte und ging in die Knie. Ich sah, dass er mühsam nach Luft schnappte. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. Dann fiel er vorn über auf den Boden. Ich beugte mich über ihn, schüttelte ihn und rief immer wieder seinen Namen. Die anderen Mitspieler kamen auch alle sofort angelaufen – nur Sandy nicht. Vor sich hin schimpfend stampfte er mit hochrotem Kopf davon ohne sich noch einmal nach uns umzudrehen. Vincent stöhnte und schlug blinzelnd die Augen auf. Er kam langsam wieder zu sich. Er blinzelte noch ein paar Mal und sah sich dann um. Anscheinend hielt er Ausschau nach Sandy. „Das nenn ich einen echten Freund", murmelte Vincent und schüttelte den Kopf. Sandy ist schon lange nicht mehr unser Freund, dachte ich bitter und half Vincent auf die Beine. Im Gegenteil – er ist unser Todfeind! Am Samstagabend wollte ich mir mit Hillary im Kino in der Einkaufspassage den neuen Keanu-Reeves-Film anschauen. Ich rief Vincent an um ihn zu fragen, ob er nicht Lust hätte mitzukommen. „Hillary und ich treffen uns zur Achtuhrvorstellung im Kino. Hättest du nicht Lust mal aus deinem Schneckenhaus rauszukommen?" Bitte, komm doch mit, dachte ich. Ich brauche jemanden, der mich aufmuntert. Ich brauche dich! „Ich kann nicht", sagte er. „Meine Eltern sind immer noch stinksauer und ich hab eigentlich weiter Hausarrest." „Eigentlich?", fragte ich. 88
„Ja. Es hängt immer ganz von ihrer Laune ab." Er stöhnte. „Heute Abend brauch ich es gar nicht erst zu versuchen. Sieht verdammt schlecht aus. Meine Eltern haben sich mal wieder in der Wolle. Ich hör bis hierher, wie sie sich anpflaumen." „Oh." Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen. „Tja, dann mach ich jetzt besser mal Schluss. Bin sowieso schon spät dran. Vielleicht kann ich dich ja später noch mal anrufen?" Ja, okay. Später." Er klang wirklich ziemlich niedergeschlagen. Auf dem Weg zum Kino dachte ich an Vincent, Sandy und Taylor und an die tollen Zeiten, die wir bis vor kurzem miteinander gehabt hatten. Jetzt standen wir kurz vorm Examen und alles schien sich aufzulösen. Normalerweise hätten Hillary und ich an einem Samstagabend Sandy und Taylor angerufen und uns mit den beiden fürs Kino verabredet oder wir hätten irgendetwas anderes unternommen. Aber jetzt mieden wir die beiden wie die Pest. Das lag nicht an Taylor. Gegen sie hatten wir eigentlich nichts. Aber sie war ja ständig mit Sandy zusammen. Und Sandy hatte ein Verbrechen begangen – er hatte einen Mord auf dem Gewissen. Er war ein Mörder, ein Mörder, ein Mörder. Beim Fahren kreiste das Wort immer wieder in meinem Kopf – so lange, bis es jede Bedeutung verloren hatte. Mörder. Ich hätte nie gedacht, dass dieses Wort einmal mit meinem Leben zu tun haben würde. Das war etwas für Schlagzeilen und Fernsehshows. Ich schüttelte heftig den Kopf um diese Gedanken loszuwerden. Auf der Division Street herrschte furchtbar viel Verkehr. Am Samstagabend ist sie meist sehr stark befahren. Heute war zu allem Überfluss auch noch ein Lkw mit einer Panne auf der mittleren Fahrspur liegen geblieben, was natürlich zu einem immer länger werdenden Stau führte. Ungefähr eine Minute vor acht kam ich schließlich bei der Einkaufspassage an und musste zweimal im Kreis herumfahren, bis ich in der Nähe des Kinos einen Parkplatz fand. Dann rannte ich durch das Gewimmel von Leuten zu unserem Treffpunkt. 89
Hillary wartete schon am Eingang des Kinos auf mich. Sie hatte ihre schwarzen Jeans und ein T-Shirt an und trug darüber offen ihre rote Lederweste. „Es tut mir Leid", rief ich ihr außer Atem schon von weitem zu und lief zu ihr hin. Im Kinofoyer standen nur noch ein paar Leute, die meisten waren schon in den Vorführsaal verschwunden. „Die Eintrittskarten hab ich schon gekauft", sagte Hillary und drückte mir eine in die Hand. „Die Vorschau hat zwar schon angefangen, aber vom Film haben wir noch nichts verpasst." „Such schon mal einen Platz in den vorderen Reihen", sagte ich zu ihr. „Ich komm sofort. Ich geh nur noch mal schnell zur Toilette." Hillary marschierte zur Tür. Ich machte kehrt und lief über den dicken roten Teppich zur Damentoilette ganz am anderen Ende des Foyers. Ich steckte meine Eintrittskarte in die Hosentasche, öffnete die Tür und ging hinein. Dort lief ich geradewegs Taylor in die Arme.
90
Kapitel 18 „Oh!", riefen wir beide erstaunt aus. Dann redeten wir gleichzeitig los: „Ich wusste ja gar nicht, dass du dir auch den Film anschaust!" „Gerade eben hab ich an dich gedacht!" „Wo sitzt du denn?" „Ziemlich weit hinten." „Hillary ist auch da." Taylor sah wirklich super aus. Sie hatte ihre weißblonden Haare streng nach hinten gekämmt und mit einem hellblauen Haarband, passend zu ihrem Top, zusammengebunden. Außerdem hatte sie einen schönen tiefroten Lippenstift aufgelegt, der ihre vollen Lippen wunderbar zur Geltung brachte. Sie sah schlicht und ergreifend umwerfend aus. Ich freute mich sie zu sehen. Allerdings hielt die Freude nur so lange an, bis mir auf einmal wieder Sandy einfiel. Auch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Ihre grünen Augen nahmen einen eiskalten Ausdruck an. „Sandy und ich bekommen euch in letzter Zeit ja auch nicht mehr oft zu Gesicht", sagte sie tonlos. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen. „Naja, du weißt ja", stotterte ich. „Das Examen und so." Das war wirklich eine ziemlich lahme Ausrede, aber mir fiel so schnell nichts Besseres ein. „Wir machen übrigens auch Examen, falls du das vergessen haben solltest", erwiderte Taylor scharf. „Äh . . . wir gehen jetzt besser rein", sagte ich ausweichend und ging zur Tür. „Der Film ... ich kann es auf den Tod nicht leiden, den Anfang zu verpassen. Ich finde mich dann gar nicht mehr richtig rein." Sie sah mich forschend an und blieb ungerührt am selben Fleck stehen. „Dabei hab ich immer gedacht, du und Sandy, ihr wärt wahnsinnig dick befreundet", sagte sie. „Das waren wir auch", platzte ich heraus. „Ich meine natürlich – 91
das sind wir noch!" Es war mir so peinlich, dass ich feuerrot anlief. „Es ist nur, dass ich in letzter Zeit unwahrscheinlich viel zu tun hatte... und so." „Sandy ist kein Verbrecher!", rief sie plötzlich hitzig. Sie hatte sich für einen Augenblick nicht mehr in der Gewalt und ihre Augen blitzten vor Zorn. Ich hielt die Luft an. „Also solltest du dich auch wie eine Freundin verhalten", fuhr sie jetzt ein bisschen ruhiger fort. „Sandy nimmt das alles sehr mit. Ich meine, er hat immer geglaubt, du würdest zu ihm stehen, egal was passiert." „Ich ... ich muss jetzt wirklich rein. Hillary wartet schon auf mich", stammelte ich. Ich drehte mich zur Tür und war schon auf dem Weg nach draußen. Aber dann blieb ich doch noch einmal stehen, weil ich mir die Frage einfach nicht verkneifen konnte: „Hast du Sandy eigentlich verraten, was Hillary und ich über ihn gesagt haben?" Sie stand mit offenem Mund vor mir und sah mich erstaunt an. Auf ihren Schneidezähnen waren Flecken von ihrem roten Lippenstift zu sehen. „Wie bitte? Was soll ich ihm denn erzählt haben?", sagte sie und zog die Augenbrauen hoch. „Du hast uns doch belauscht. Vom Podium aus, nach unserem Vorbereitungstreffen für die Abschlussfeier. Hast du es ihm nun gesagt oder nicht?" Sie schüttelte den Kopf. „Ich versteh überhaupt nicht, wovon du redest, Julie. Ich hab euch beide nicht belauscht. So was würde ich nie tun!" Jetzt ging es mir schon etwas besser, ich war richtig erleichtert. Aber dann wurde mir klar, dass Taylor log. Das verriet ihr kalter Blick. Natürlich hatte sie uns belauscht und natürlich hatte sie Sandy alles haarklein erzählt. „Äh ... wir verpassen den Anfang", stotterte ich. „Hillary und ich ... halten nach dem Film nach dir Ausschau." Das war auch gelogen. Aber sie hatte es nicht anders verdient. Ich drehte mich um, zwängte mich zur Tür hinaus und hastete in 92
den inzwischen verdunkelten Kinosaal. Am Montagabend hatten wir wieder ein Vorbereitungstreffen für die Abschlussfeier. Diesmal ging es um eine Kleiderprobe. Das Ganze zog sich endlos hin. Es gab irgendein Durcheinander bei den Mützen und Roben und einige von uns bekamen Sachen, die ihnen mehrere Nummern zu groß waren. Und dann verwechselte der Klavierspieler auch noch dauernd irgendwelche Lieder. Aus irgendeinem Grund fanden wir auch an diesem Abend alles zum Brüllen komisch. Also mussten wir ständig wieder von vorne anfangen. Schließlich waren wir ziemlich erschöpft - vom vielen Lachen und vom dauernden Auf- und Abmarschieren auf der Bühne. Wir waren erhitzt und schwitzten in unseren blauen Roben, die sich immer schwerer anfühlten, je länger sich der Abend hinzog. Bis ich Hillary abgesetzt hatte und zu Hause ankam, war es schon nach elf. Das Haus war dunkel. Meine Eltern waren zu Besuch bei meiner Tante und meinem Onkel, die in der Altstadt wohnten. Normalerweise lassen sie immer das Licht über der Haustür brennen, wenn sie abends weggehen, aber heute mussten sie es wohl vergessen haben. Die Scheinwerfer meines Wagens beleuchteten das Garagentor. Ich hielt an und stieg aus. Der automatische Türöffner lag unter einem Busch neben der Garage. Ich drückte darauf und das Tor öffnete sich rumpelnd. Ich legte den Türöffner wieder an seinen Platz. Dann stieg ich ein und fuhr vorsichtig in die Garage - was jedes Mal Millimeterarbeit war. Sie ist nämlich ziemlich schmal und mit Fahrrädern, Rasenmäher, Gartengeräten und allerlei Gerumpel voll gestellt. Ich freute mich auf etwas Erfrischendes zu trinken und auf eine heiße Dusche. Als ich ausstieg, roch es durchdringend nach frischer Farbe. Mein Vater hatte den hinteren Gartenzaun gerade frisch gestrichen. Ich kramte in meiner Tasche nach den Hausschlüsseln, während ich um den Wagen herum zu der Tür ging, die von der Garage in die 93
Küche führte. Es war stockdunkel und ich konnte den verdammten Hausschlüssel einfach nicht finden. Während ich noch dabei war, in meiner Tasche herumzusuchen, hörte ich plötzlich ein lautes Poltern. Dann ertönte ein metallisches Scheppern und ein schleifendes Geräusch. Ich hielt die Luft an, drehte mich um und sah, wie sich das Garagentor schloss. „Hey...!", rief ich entgeistert. Eine panische Angst schnürte mir die Brust zusammen. Ich atmete tief durch und spähte nach draußen auf die Auffahrt. „Hallo – wer ist da?", rief ich über das laute Rumpeln des herabgleitenden Garagentors hinweg. Ich erstarrte. Vor lauter Panik konnte ich mich nicht vom Fleck rühren. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich unter dem herabgleitenden Garagentor hindurchtauchen und ins Freie huschen oder weiter nach dem Schlüssel suchen und versuchen sollte ins Haus zu gelangen. Das Tor hatte sich schon geschlossen, als ich laut polternde Schritte vernahm. Jemand duckte sich unter dem Tor hindurch und kam in die Garage. „Wer ist da?", rief ich. „Was soll das?" Keine Antwort. Fieberhaft suchte ich nach dem Hausschlüssel, aber meine Hände zitterten so sehr, dass mir die Tasche auf den Boden fiel. Scheppernd fielen alle möglichen Sachen heraus. Aber ich warf keinen Blick nach unten, sondern starrte wie hypnotisiert auf die dunkle Gestalt, die sich langsam an einer Seite des Wagens entlangschlich. „Hey...!", rief ich noch einmal mit erstickter Stimme. Das schwere Garagentor fiel ins Schloss. Dann herrschte Stille. Ich sitze in der Falle, schoss es mir durch den Kopf. Ich ließ den Blick über die Regalbretter an der Garagenwand schweifen, auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem ich mich verteidigen konnte. Eine Heckenschere. Ein Besen. Völlig egal, was! 94
„Wer ist da? Was wollen Sie von mir?" Meine Stimme zitterte vor Angst und Entsetzen. Blasses Mondlicht fiel durch das hohe, schmale Fenster in der Garagenwand. Der Eindringling trat in das gedämpfte Licht. Es war Sandy! „Hi, Julie. Ich bin's", sagte er in aller Seelenruhe. In dem silbrigen Licht konnte ich ein Lächeln auf seinem Gesicht erkennen - ein seltsames, widerliches Lächeln. „Sandy! Bist du jetzt völlig übergeschnappt?", rief ich und meine Angst verwandelte sich blitzschnell in Zorn. Er gab keine Antwort. Ich sah, wie er sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Etwas Silberfarbenes, Metallisches blitzte auf. Sandy hatte meine Rollschuhe in der Hand und hielt sie wie eine Waffe vor sich, während er immer näher auf mich zukam. „Sandy – nicht!", schrie ich. „Was hast du vor?"
95
Kapitel 19 Ich wollte vor ihm zurückweichen, krachte aber seitlich gegen den Wagen. Er nahm die Rollschuhe und schwenkte sie über meinem Kopf in der Luft. „Sandy ...!", rief ich und streckte die Hände in die Höhe um ihn abzuwehren. „Du solltest sie nicht auf dem Boden abstellen", sagte er leise. „Jemand könnte aus Versehen darüber stolpern." Dann ließ er seine Arme wieder sinken und stellte die Rollschuhe auf eins der Regalbretter an der Wand ab. „Dabei kann man sich leicht verletzen", fügte er flüsternd hinzu. Ich atmete tief aus. Sandy kam noch näher und grinste hämisch über seinen miesen kleinen Witz. „Das ist überhaupt nicht lustig", fuhr ich ihn schrill an und versuchte mich wieder in den Griff zu kriegen. „Warum jagst du mir solche Angst ein?" Er zuckte mit den Achseln. Dann kam er mit seinem Gesicht ganz nah an meins und musterte mich mit eiskaltem Blick. „Warum versuchst du mir Angst einzujagen?", fragte er. „Ich ... ich weiß nicht, wovon du redest", stotterte ich, fasste ihn mit beiden Händen bei den Schultern und schob ihn grob weg. Ist das allen Ernstes noch Sandy?, fragte ich mich und blickte in sein eiskaltes, drohendes Gesicht. Ist das wirklich noch der Sandy, den ich schon seit Ewigkeiten kenne? „Was willst du eigentlich von mir?", fragte ich wütend. „Deine Unterredungen mit der Polizei machen mir Angst", erwiderte er scharf. „Und zwar große Angst!" „Also gibst du zu, dass du vor unserem Haus herumspioniert hast!", rief ich. „Du warst es also tatsächlich, der sich da hinter dem Baum versteckt hat!" Wieder zuckte er mit den Achseln. „Na und?", murmelte er. „Aber, Sandy ...", begann ich. 96
Er unterbrach mich. „Ich hab den Polizeiwagen gesehen und mich gefragt, was da bei euch los ist. Also hab ich euer Haus beobachtet." „Sandy, du hast dich doch nicht zufällig vor unserem Haus rumgetrieben. Du bist Hillary und mir auf dem Heimweg gefolgt. Kannst du nicht wenigstens dieses eine Mal die Wahrheit sagen?", rief ich. Er überging meine Frage und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Warum hast du die Polizei gerufen, Julie? Kannst du mir das vielleicht verraten?" „Das hab ich überhaupt nicht!", blaffte ich ihn an, schriller, als es meine Absicht war. „Ich hab sie nicht gerufen. Officer Reed stand plötzlich vor der Tür, als ich nach Hause kam. Er hat mich nach dem Vorbereitungstreffen abgepasst, weil er mir noch einige Fragen stellen wollte. Hat die Polizei dich denn nicht auch noch mal verhört, Sandy?" Er nickte. „Sie lassen nicht locker", sagte er leise. „Bei mir zu Hause sind sie auch ein zweites Mal aufgekreuzt." „Sie glauben, sie stünden kurz vor der Aufklärung", sagte ich. Sandys Augen flackerten. „Das tun sie aber nicht! Das ist glatt gelogen, Julie. Nimm ihnen das nicht ab. Das machen sie bloß den Fernsehreportern weis, damit sie nicht ganz so schlecht dastehen. Aber die Polizei hat nicht die geringste Spur." Er sah mich finster an und beugte sich noch näher zu mir. „Es sei denn, du hast ihnen irgendwas gesteckt." „Ich ... das hab ich nicht!", stotterte ich und versuchte ihm auszuweichen. „Ich hab kein Sterbenswörtchen verraten, Sandy. Ich schwöre es!" Er sah mir forschend in die Augen, als könnte er so die Wahrheit herausfinden. „Ich schwöre es hoch und heilig!", sagte ich noch einmal und blickte in sein finsteres Gesicht. Selbst in dem matten Licht konnte ich sehen, dass ihm der Schweiß von der Stirn lief. „Sieh dich doch mal an!", schrie ich. „Du hast dich überhaupt nicht mehr in der Gewalt. Wenn du davon ausgegangen bist, dass wir dich anzeigen würden, warum hast du uns dann die Geschichte anvertraut? Warum hast du es nicht für dich behalten?" 97
Er seufzte mit erstickter Stimme auf. „Weil ich euch vertraut habe. Darum", sagte er schwer atmend. „Aber jetzt..." ,Ja?", fragte ich. Er schüttelte den Kopf und gab keine Antwort. „Wir müssen den ganzen Schlamassel vergessen", murmelte er schließlich und sah auf den Boden. „Wirklich, Julie. Wir sollten einfach aus unserem Gedächtnis streichen, was passiert ist." „Wie stellst du dir das denn vor? Die Polizei lässt das nicht zu und du selbst machst es ja auch unmöglich." „Ich ... ich gebe eine Party", sagte er und sah mich an. „Am nächsten Freitag. Sozusagen eine Vor-Examens-Party, eine ganz normale Fete eben. Also ... komm doch auch, so gegen acht, okay? Hillary und Vincent und noch jede Menge andere lade ich auch ein." Das kann doch alles gar nicht wahr sein, dachte ich. Erst versucht er mir Angst einzujagen, indem er mich in der Garage in die Falle lockt. Und dann lädt er mich zu einer Party ein. Ich schluckte. „Äh ... ich glaube nicht, dass ich kommen kann, Sandy", sagte ich zu ihm und gab mir Mühe meine Stimme ruhig und fest klingen zu lassen. Ich sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Ansonsten zeigte er keinerlei Reaktion. „Ich habe am Freitagabend schon was vor", log ich. Er nickte und biss die Zähne noch fester zusammen. Sein Blick wurde hart und kalt. ,Ja. Ist schon gut", murmelte er bitter. „Sandy. Ehrlich ...", setzte ich an. „Spar dir die Mühe dich rauszureden!", fuhr er mich an und packte mich so fest am Arm, dass es wehtat. „Das mit der Party war gelogen, Julie. Ich gebe überhaupt keine Party. Es war bloß ein Test." „Ein Test?", fragte ich entgeistert und wand meinen Arm los. Wieder nickte er. „Und du bist durchgefallen." Er schob mich grob weg. „Du hast den Test nicht bestanden, Julie. Aber ich warne dich. Vergiss die ganze Sache! Hillary, Vincent und du – ihr streicht alles, was ich euch erzählt habe, am besten aus eurem Gedächtnis." Bei seinem Anblick bekam ich es plötzlich wieder mit der Angst zu tun. Das war keine Warnung mehr, die er da ausgesprochen 98
hatte – es war eine echte Drohung! „Wir sollten einfach so tun, als wäre nichts passiert, und weitermachen wie bisher", fuhr er fort. „Und ... und was ist, wenn uns das nicht gelingt?" Das Zittern in meiner Stimme verriet meine Angst. „Ich warne dich", sagte er noch einmal. Er drehte sich blitzschnell um und drückte auf den Türöffner. Der Motor fing an zu brummen und quietschend und rumpelnd öffnete sich das Tor. Er bückte sich und tauchte unter dem Tor hindurch. Ich sah, wie er den Türöffner in den Busch neben der Auffahrt warf. Dann verschwand er in die Nacht. Die Arme um mich geschlungen stand ich in der dunklen Garage und versuchte angestrengt mein Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Mich überlief ein Angstschauer nach dem anderen. Ich sah immer noch ganz deutlich das eisige, wütende Funkeln in Sandys Augen vor mir.
99
Kapitel 20 „Mir hat er auch gedroht", flüsterte Hillary. „Er stand plötzlich unangemeldet bei mir auf der Matte und hat mir einen Riesenschrecken eingejagt." „Mich hat er auch beinahe zu Tode erschreckt", sagte ich. Mit unseren Lunchpaketen in der Hand stellten wir uns an die Tür der Cafeteria und suchten mit den Augen die Tische ab. Ich entdeckte Sandy an einem Tisch am Fenster. Er unterhielt sich mit Taylor, die mit dem Rücken zu uns saß. Regen prasselte gegen die Fenster. Über das Stimmengewirr in der vollen Cafeteria hinweg war entferntes Donnern zu hören. Obwohl die Neonlampen brannten, sickerte von draußen düstergraues Licht herein. „Wo möchtest du sitzen?", fragte Hillary. Sie winkte Deena Martinson am Tisch gleich neben uns zu. Deena machte gerade mit ihrem Freund Fingerhakeln. Die anderen, die mit ihnen am Tisch saßen, johlten und feuerten sie an. „Sandy hat uns entdeckt", sagte ich zu Hillary. „Er schaut zu uns herüber. Anscheinend will er, dass wir uns zu ihnen setzen." Taylor drehte sich um. Jetzt sahen beide zu uns herüber. „Vergiss es. Ich will die Mittagspause genießen", sagte Hillary. Sie legte ihr Lunchpaket auf einen Tisch gleich am Gang und zog sich einen Stuhl heran. Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber und achtete darauf, dass ich auch ja nicht in Sandys und Taylors Blickrichtung saß. „Vielleicht denken sie ja, wir hätten sie gar nicht gesehen", meinte ich. Hillary machte ein angewidertes Gesicht. „Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich mag mich jedenfalls nicht zu Sandy an den Tisch setzen. Er kann mir drohen, so viel er will, ich lasse mich von ihm nicht einschüchtern!" Als ich das Tunfisch-Sandwich aus meinem Lunchpaket nahm, schaute ich zum Fenster. Ein Donnerknall ließ ein paar Schüler zusammenfahren. Sandy und Taylor blickten zu uns herüber und 100
Sandy sagte wütend etwas zu Taylor. Ich drehte mich sofort wieder zu Hillary um. „Sandy ist doch total durchgeknallt", sagte ich. „Erst jagt er mir Todesangst ein und droht mir, dass er mir etwas antun wird, wenn ich ihn an die Polizei verrate. Und im selben Atemzug versucht er mir klarzumachen, dass wir wieder Freunde sein sollten wie in alten Zeiten." Mein Sandwich fiel auseinander und ich schob den Tunfisch wieder zwischen die Brotscheiben. „Es wird nie mehr so werden, wie es mal war", sagte Hillary und schüttelte traurig den Kopf. Ihre langen, silbernen Ohrringe baumelten hin und her. „Im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen mich jemals wieder normal zu fühlen. Nachts mache ich kein Auge zu und ich kann mich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Und ... Appetit habe ich auch keinen mehr." Sie schob ihren Jogurtbecher weg. „Hey – da ist ja Vincent!", rief ich. Mit hoch ausgestrecktem Arm winkte ich ihm zu. „Hey, Vincent! Vincent!" Mit den Augen folgte ich Vincents Blick. Auch er hatte Sandy und Taylor entdeckt. Dann hörte er mich und kam zu uns an den Tisch. „Hey, was gibt's Neues?", fragte er und sah sich nach Sandy um. Offensichtlich erwartete er gar keine Antwort, denn er beugte sich mit ernstem Gesicht über den Tisch und legte sofort los: „Sandy hat mich gestern Abend angerufen. Er hörte sich wirklich total aufgelöst an. Und er hat mir gedroht. Könnt ihr euch das vorstellen? Er hat mir doch tatsächlich gedroht." Hillary sollte nach der Schule ins Sekretariat kommen. Es drehte sich darum, dass verkehrte Abschriften ans College in Princeton geschickt worden waren. Ich beschloss mitzugehen. Es dauerte länger, als wir gedacht hatten. Bis wir den ganzen Papierkram erledigt hatten und das Büro endlich verlassen konnten, hatte sich die Schule schon fast völlig geleert. Hillary murmelte gerade irgendwas vor sich hin – von wegen Computer würden ja doch immer bloß Murks machen –, als wir um die Ecke bogen und mit Taylor zusammenstießen. „Hi. Wie geht's denn so?", sagte ich und versuchte möglichst lässig zu klingen. Aus lauter Verlegenheit plapperte ich drauflos, 101
dass es ihr unheimlich gut stehen würde, wenn sie ihre Haare hinten zusammenband, verstummte aber, als ich ihr ärgerliches Gesicht bemerkte. Außerdem wurde mir klar, dass es kein Zufall war, dass wir ihr über den Weg gelaufen waren: Sie hatte uns abgepasst. „Sandy ist ziemlich sauer", sagte Taylor mit zusammengebissenen Zähnen und ihre zarten Adern an den Schläfen pulsierten. „Ihr habt ihn wirklich tief gekränkt." „Es tut mir Leid", sagte ich schnell, weil ich keinen Streit mit Taylor anfangen wollte. Schließlich hatte ich ja überhaupt keinen Grund dazu. Hillary dagegen reagierte ärgerlich, was mich wunderte. „Das ist uns doch egal", sagte sie zu Taylor. „Wie es Sandy geht, interessiert uns nicht die Bohne. Dass du dir Gedanken um ihn machst, ist ja klar. Aber wir nicht. Wir sind nämlich überzeugt, dass er ..." „Du weißt ja gar nicht, was du da redest!", protestierte Taylor. Ihr sonst so blasses Gesicht war plötzlich voller roter Flecken. Die Adern an ihren Schläfen pulsierten jetzt noch stärker. „Ihr wisst überhaupt nicht, was für ein anständiger Kerl Sandy ist! Wie könnt ihr ihn bloß so verletzen?" „Anständig?", rief Hillary. „Sandy und anständig? Taylor – bist du denn noch ganz bei Trost? Du weißt doch genau, was er verbrochen hat. Wie kannst du da immer noch in ihn verknallt sein und dann auch noch behaupten, er sei ein anständiger Kerl?" Als ich Taylor ansah, bekam ich Herzklopfen. Ich war ganz schön geschockt, als ich merkte, dass sie bereit war ihn mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Ich meine, ich hätte nicht im Traum gedacht, dass Taylor wirklich in Sandy verliebt war. Er war doch überhaupt nicht ihr Typ. Und außerdem hatte sie, seit sie mit Sandy ging, ständig mit anderen Jungen geflirtet! „Sandy hat es doch für uns getan!", rief Taylor und spuckte Hillary die Worte buchstäblich ins Gesicht. „Und was machen seine angeblich besten Freunde? Sie drehen sich auf dem Absatz um und tun einfach so, als existierte er für sie nicht mehr! Das ist... das ist einfach widerlich! Ich ..."
102
Sie reckte die Fäuste und glühte jetzt förmlich im ganzen Gesicht. „Taylor – sag mal, was willst du eigentlich von uns?", fragte ich. „Du kannst uns doch nicht dazu zwingen, Sandy wieder in unsere Clique aufzunehmen! Und du kannst uns erst recht nicht zwingen zu vergessen, was passiert ist!" „Julie hat Recht", sagte Hillary und setzte dann noch barsch hinzu: „Lass uns in Frieden!" Sie wandte sich ab und ließ Taylor einfach stehen. Taylor kochte vor Wut und packte Hillary mit einem heiseren Schrei beim Zopf. „He...!", rief Hillary protestierend. Taylor zog mit voller Kraft an Hillarys Zopf und drehte ihr den Kopf herum. Mit der anderen Hand packte sie Hillary am Genick – tiefe, dunkle Kratzspuren überzogen Hillarys Nacken und Hals. Hillary schrie vor Schmerz auf. Sie umfasste mit beiden Händen Taylors Hüften und zog sie mit all ihrer Kraft zu Boden. „Hört auf! Hört sofort auf!", rief ich, aber sie schienen mich gar nicht zu hören. Schließlich stand ich nur noch sprachlos daneben, während die beiden miteinander kämpften, sich auf dem Boden wälzten, aufeinander einschlugen und sich zerkratzten. Ihr Keuchen und ihre Schmerzensschreie waren die einzigen Geräusche in der verlassenen Schule. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich endlich zur Besinnung kam. Ich bückte mich, packte Taylor bei den Schultern und versuchte mit aller Kraft sie von Hillary herunterzuziehen. „Nicht! Hör auf, Taylor – bitte!", flehte ich. Sie wand sich von mir los und stürzte sich sofort wieder auf Hillary. Als Nächstes sah ich hellrotes Blut auf dem Korridorboden. Es stammte von den tiefen Kratzern an Hillarys Hals. „Taylor – bitte! Lass das! Hör auf!", rief ich verzweifelt. Schließlich gelang es mir, sie von Hillary herunterzuzerren. Sie landete seitlich auf dem Boden und kam sofort wieder angekrabbelt. Aber ich stellte mich vor sie und versperrte ihr den Weg. Schwankend rappelte Hillary sich auf. Mit der einen Hand fasste 103
sie nach ihrem zerkratzten Hals, die andere Hand richtete sie drohend auf Taylor und stieß hervor: „Was zum Teufel ist eigentlich in dich gefahren?" Taylor gab ihr keine Antwort. Sie stand vornübergebeugt da und rang keuchend nach Luft. Strähnen ihrer schweißnassen Haare hingen ihr ins Gesicht. Ihr T-Shirt war zerrissen und an den Seiten und an den Ärmeln voller dunkler Blutflecke. „Was ist eigentlich mit dir los?", brüllte Hillary sie an. „Du bis ja komplett verrückt! Du ..." Sie brach ab, denn Taylor musste sich übergeben. Sie beugte sich vornüber, stöhnte und versuchte tief durchzuatmen. Dann drehte sie sich um und wandte sich von uns weg. Sie ächzte leise und würgte, während sie sich wie wild die Haare aus dem Gesicht wischte. „Auuu", murmelte Hillary und schüttelte den Kopf. Mit der einen Hand hielt sie sich immer noch den Hals. „Verdammt, tut das weh!" Ich ging einen Schritt auf Taylor zu. „Geht es?" Sie gab keine Antwort. „Taylor – geht es wieder?", wiederholte ich meine Frage. Sie stand mit dem Rücken zu mir und drehte sich einen Moment lang zu mir um. In ihren Haaren hing Erbrochenes. Ihre Augen waren rot geädert und Tränen liefen über ihr Gesicht, das jetzt erschreckend blass war. „Aua, aua", wiederholte Hillary monoton. „Taylor – können wir dir irgendwie helfen? Soll ich dich nach Hause bringen?", fragte ich sie sanft. Sie lehnte mein Angebot mit einem Kopfschütteln ab und stolperte auf wackligen Beinen davon ohne ein Wort zu sagen. Ich lief ihr ein Stück hinterher, blieb dann aber stehen. Taylor beschleunigte ihren Schritt, stieß sich die Schulter an der gekachelten Wand und verschwand dann schwankend um die Ecke. Eine Weile konnte ich noch ihre schnellen Schritte hören, die langsam in der Ferne verhallten. 104
Ich drehte mich zu Hillary um. „Vielleicht ist die Sanitäterin ja noch da", sagte ich. Jemand muss sich um deinen Hals kümmern." „Ach, die paar Kratzer", erwiderte sie zitternd. Sie blinzelte mehrere Male, dann bückte sie sich und hob ihre Brille vom Boden auf. „Die kann ich genauso gut selber zu Hause sauber machen." Ihr Zopf hatte sich gelöst und sie strich ihre Haare zurück. „Ich nehme ihr kein einziges Wort ab", sagte ich leise und blickte in die Richtung, in die Taylor verschwunden war. „Sie hat sich doch gar nicht so viel aus Sandy gemacht, wie sie immer tut. Ich verstehe einfach nicht, warum sie so ausgerastet ist." „Das interessiert mich alles nicht", zischte Hillary. „Taylor ist mir schnuppe. Aber eins steht für mich fest, Julie." Mit zitternden Händen stopfte sie sich das Hemd wieder in die Hose. „Ich hab jetzt endgültig die Nase voll. Mir reicht's! Ich lass das nicht länger mit mir machen!" Sie ging durch die Eingangshalle zu ihrem Spind und ich folgte ihr. „Hillary – was meinst du denn damit?", fragte ich. „Ich werde Sandys Geheimnis keine Minute länger für mich behalten", erwiderte sie. „Ich lass mir doch von ihm nicht mein Leben kaputtmachen." Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie es todernst meinte. „Was hast du denn jetzt vor?", fragte ich. „Ich werde die Polizei informieren", sagte sie. „Und zwar, sobald ich zu Hause bin."
105
Kapitel 21 Hillary und ich diskutierten immer noch hin und her, als wir schon auf dem Schülerparkplatz angekommen waren. Es regnete in Strömen und obwohl wir rannten, so schnell wir konnten, waren wir völlig durchnässt, als wir bei meinem Wagen ankamen. Kaum hatten wir uns den Regen aus den Augen gewischt, stritten wir auch schon weiter. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich versuchte sie zu überreden die Polizei aus dem Spiel zu lassen. Ich war doch auch schon viele Male kurz davor gewesen, Sandys Geheimnis zu verraten, das mir regelrecht die Luft abschnürte. Wie gerne wäre ich diese Last losgeworden. Ich sehnte mich danach, endlich die Wahrheit sagen zu können. Und trotzdem versuchte ich Hillary zu überzeugen den Mund zu halten. Warum eigentlich? Weil es um Sandy ging, unseren alten Freund? Mag sein. Oder weil Sandy uns alle mit hineingezogen hatte? Weil er uns zu Mitwissern gemacht hatte und eine Art Kettenreaktion, die uns alle betraf, in Gang gesetzt werden würde, wenn die Polizei die Wahrheit erfuhr? Vielleicht auch das. „Al ist tot", sagte ich. „Sandy bei der Polizei anzuzeigen macht ihn nicht wieder lebendig." „Das interessiert mich nicht", murmelte Hillary und blickte stur geradeaus durch die Windschutzscheibe, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt. „Damit wäre Sandys Leben endgültig ruiniert", fuhr ich fort und bog in die Hawthorne Street ein. Die Scheibenwischer strichen im regelmäßigen Rhythmus über die Windschutzscheibe. Der heftige Schauer war in Nieselregen übergegangen. „Sein ganzes Leben wäre verpfuscht." „Das geschieht ihm recht!", zischte Hillary. 106
„Er hat Al umgebracht, Julie. Und dann kommt er auch noch zu uns gerannt und gibt damit an, als hätte er eine Heldentat vollbracht." „Aber er hat es uns doch aus einem ganz anderen Grund erzählt", wandte ich ein. „Nämlich?", fragte sie mit harter Stimme. „Er wollte doch nur, dass wir die Wahrheit erfahren", erwiderte ich. „Und warum?" „Weil ... weil wir seine Freunde sind und er uns vertraut. " „Das ist doch keine Erklärung", schnaubte Hillary ungeduldig. „Begreifst du denn nicht, Julie – er hätte es doch auch für sich behalten können. Für uns hätte es keinen Unterschied gemacht. Al war tot. Kein Mensch hätte je zu erfahren brauchen, wer ihn umgebracht hat. Was glaubst du wohl, warum Sandy so scharf darauf war, uns die Wahrheit zu sagen?" Ich war sprachlos. Darauf fiel mir nun wirklich keine gute Antwort mehr ein. „Weil er von uns bewundert werden wollte!", rief Hillary. „Er wollte, dass wir in Jubel ausbrechen und ihm gratulieren, dass er uns von Al befreit hat. Und vor allem wollte er vor Taylor als der größte Held aller Zeiten dastehen." Mir blieb die Spucke weg. „Du willst doch wohl nicht behaupten, dass er Al umgebracht hat um bei Taylor Eindruck zu schinden?" Hillary schüttelte den Kopf. Sie blickte nachdenklich vor sich hin. „Nein. Ich glaube, er hat es getan, weil Al ihn vor Taylor gedemütigt hat. Und erst in zweiter Linie, weil Al uns allen das Leben zur Hölle gemacht hat." Sie holte tief Luft. „Aber", fuhr sie fort, „ich bleibe dabei: Er hat uns die Tat auf die Nase gebunden, weil er Taylor imponieren wollte." „Und das hat ja auch funktioniert", sagte ich seufzend. „Taylor ist inzwischen sogar so verrückt nach ihm, dass sie jeden angreift, der Sandys Gefühle verletzt. Ich kann es immer noch nicht glauben, wie sie vorhin über dich hergefallen ist." Hillary sagte nichts darauf. Aber an ihrem entschlossenen 107
Gesichtsausdruck merkte ich, dass sie ihre Meinung nicht geändert hatte. Wir saßen schweigend im Auto, während wir durch den dichten Nieselregen fuhren. Ich musste das Licht anmachen, denn obwohl es erst Nachmittag war, war es bereits ziemlich dunkel. Nach einer Weile startete ich einen letzten Versuch. „Sandy hat ein furchtbares Verbrechen begangen", sagte ich leise. „Mit diesem Wissen zu leben ist für uns alle nicht leicht. Aber wenn wir ihn bei der Polizei anzeigen, ruinieren wir sein ganzes Leben. Wozu soll das gut sein? Es ändert doch jetzt auch nichts mehr. Du und ich – wir können seine Tat nicht fassen, aber wir wissen auch, dass Sandy im Grunde seines Herzens kein Verbrecher und erst recht kein Wiederholungstäter ist. Haben wir wirklich das Recht sein Leben zu zerstören, nur weil uns sein Geständnis so sehr belastet? Und weil du sauer auf Taylor bist?" Hillary drehte sich zu mir hin und sah mich zum ersten Mal, seit wir im Auto saßen, direkt an. „Da wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher", sagte sie. Ich hielt an einer roten Ampel an. Der heftige Regen setzte wieder ein. „Was meinst du damit?", fragte ich verwirrt. „Dass er nicht noch einen weiteren Mord begeht", erwiderte sie. „Hillary, also ehrlich ...", setzte ich an. „Er versucht uns mit seinen Drohungen einzuschüchtern", fuhr Hillary fort. „Dauernd bearbeitet er uns, wir sollten so tun, als wäre nichts passiert. Er hat sich doch überhaupt nicht mehr in der Gewalt, Julie." Sie schluckte schwer und fasste nach ihrem zerkratzten Hals. „Warum sollte er also nicht zu einem zweiten Mord fähig sein?" Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Vielleicht hatte Hillary ja Recht. Blinzelnd sah ich in den Regen hinaus. Die Scheibenwischer verschmierten die Scheiben und ich konnte kaum noch etwas sehen. „Dreh um", verlangte Hillary plötzlich. „Los, fahr zurück!" „Was?" Ich war völlig verdutzt. „Was ist denn jetzt los?" „Ich hab es mir anders überlegt", sagte sie, setzte sich aufrecht hin und strich ihre Haare zurück. „Ich will noch nicht nach Hause. Setz mich bei Sandy ab." 108
„Aber, Hillary! Was um alles auf der Welt...?" „Du hast mich überzeugt", sagte sie. „Ich werde nicht zur Polizei gehen, sondern mir zuerst noch mal Sandy vorknöpfen. Vielleicht kann ich ihn ja überreden, dass er sich freiwillig stellt. Du hast vollkommen Recht, Julie. Sandy ist nun mal ein alter Freund von uns. Das bin ich ihm schuldig. Er sollte wenigstens diese eine Chance bekommen, den richtigen Weg einzuschlagen." Ich bog in eine Auffahrt ein, wendete und fuhr dann Richtung Canyon Road, wo Sandy wohnte. „Ich komme mit", sagte ich. „Nein." Hillary drückte kurz meine Schulter. „Das ist lieb von dir, aber ich möchte allein mit Sandy reden. Wenn wir plötzlich zu zweit auf der Matte stehen, rastet er vielleicht völlig aus. Er könnte denken, wir hätten uns gegen ihn verbündet." „Aber, Hillary ..." „Nein." Mit einer energischen Handbewegung schnitt sie mir das Wort ab. „Ich bleibe dabei. Ich will alleine mit ihm reden." „Dann warte ich solange draußen im Wagen auf dich", bot ich ihr an. Aber das wollte sie auch nicht. „Fahr nach Hause, Julie. Ich ruf dich an, sobald ich zu Hause bin. Versprochen." Ein paar Minuten stand ich vor Sandys Haus und sah Hillary nach, die in großen Sätzen durch den strömenden Regen zur Haustür lief. Bereits nach ein paar Sekunden hatte sich die Tür geöffnet und Hillary verschwand im Haus. Ich wartete ein paar Minuten mit laufendem Motor und starrte immer noch auf die Haustür, die längst ins Schloss gefallen war. Ich wäre am liebsten ausgestiegen und Hillary hinterhergelaufen. Egal, ob sie es wollte oder nicht. Ich machte mir Sorgen, weil ich nicht wusste, wie Sandy reagieren würde. Vielleicht brauchte sie ja meine Hilfe. Aber ich beherrschte mich. Ich legte den Rückwärtsgang ein, setzte zurück und fuhr nach Hause. Unterwegs war ich mehrere Male kurz davor, umzudrehen und zurückzufahren. Warum habe ich bloß so eine Angst?, fragte ich mich und fuhr weiter durch die graue Dämmerung, durch den herabprasselnden 109
Regen. Warum bin ich so unruhig, so besorgt? Warum habe ich das Gefühl, dass jeden Moment etwas Grauenvolles geschehen wird? Drei Stunden später wusste ich die Antwort.
110
Kapitel 22 Ich wollte möglichst schnell zu Hause sein um neben dem Telefon auf Hillarys Anruf zu warten. Aber wegen des heftigen Regens staute sich der Verkehr auf der Mill Road. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich endlich in der Fear Street ankam. Als ich in unsere Straße einbog, war es stockfinster, wie mitten in der Nacht. Die alten Bäume, deren Äste über die Straße hingen, ließen nicht das kleinste bisschen Licht durch. Warum muss ich auch ausgerechnet in der Fear Street wohnen?, fragte ich mich zum hundertsten Mal. Dauernd zogen meine Freunde mich damit auf. Alle kannten irgendwelche gruseligen Geschichten über die merkwürdigen Dinge, die in der Fear Street passiert waren. Ich finde unsere Straße nicht gruseliger als viele andere auch. Sie wirkt nur wegen der vielen alten Bäume so düster. Ich fuhr zügig die Auffahrt vor unserem Haus hoch, wobei die Reifen auf dem nassen Kies knirschten. Ich sah, dass der Wagen meiner Mutter in der Garage stand. Sie ist ungewöhnlich früh zu Hause, dachte ich. Hoffentlich ist nichts passiert. Meine Mutter war in der Küche. Obwohl sie mit dem Rücken zu mir stand, hatte ich sofort bemerkt, dass sie weinte. „Mom? Was ist denn los?", fragte ich besorgt. „Ich schneide Zwiebeln", erwiderte sie und drehte sich mit einem Lächeln zu mir um. „Angeblich soll es ja helfen, wenn man beim Zwiebelschneiden die Luft anhält oder die Augen zukneift. Aber bei mir funktionieren die Tricks nicht. Ich muss immer heulen." Ich seufzte erleichtert auf, denn ich hatte schon befürchtet, dass sie irgendwelche schlimmen Nachrichten für mich hätte. Meine Gedanken wanderten zu Hillary, die jetzt mit Sandy allein war. „Hat Hillary angerufen?", fragte ich meine Mutter. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. „Nein. Ihr habt euch doch gerade erst in der Schule gesehen. Warum sollte sie denn dann anrufen?"
111
„Einfach so", sagte ich. Eine Regenbö schlug gegen das Küchenfenster. Es klang, als hätte jemand angeklopft. Erschrocken wirbelte ich herum. „Nanu, du bist aber nervös heute", bemerkte meine Mutter. „Es ist ... äh ... bloß der Regen", sagte ich. „Warum bist du heute eigentlich schon so früh zu Hause?" Sie nahm sich die nächste Zwiebel vor. „Ich hatte heute um halb vier einen Zahnarzttermin. Danach lohnte es sich nicht, noch mal ins Büro zu gehen." „Was gibt's denn zum Abendessen?", fragte ich und nahm mir etwas zu trinken aus dem Kühlschrank. „Hackbraten. Dein Vater kommt heute auch etwas früher. Da hab ich mir gedacht, ich überrasche ihn mit einem leckeren Abendessen." Die Zwiebeln trieben jetzt auch mir die Tränen in die Augen. „Kann ich dir helfen?", fragte ich und war in Gedanken wieder bei Hillary. „Nein. Eigentlich nicht. Wenn du willst, kannst du später den Tisch decken." „Okay", sagte ich und versuchte die Tränen wegzublinzeln. „Dann geh ich solange in mein Zimmer. Vielleicht schaffe ich ja noch vor dem Abendessen meine Hausaufgaben für Französisch." Ich stürmte hoch in mein Zimmer, setzte mich aber nicht an den Schreibtisch. Stattdessen ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte unentwegt das Telefon neben mir auf dem Nachttisch an. „Los – nun klingle doch endlich", befahl ich dem Apparat. Doch der gab keinen Mucks von sich. Wo bleibt Hillary bloß?, dachte ich nervös. Warum braucht sie so lange? Alle paar Minuten warf ich einen Blick auf den Radiowecker. Halb sechs. Zwei Minuten nach halb sechs ... zwanzig vor sechs. Sie müsste doch längst zu Hause sein!, dachte ich besorgt. Mit schlotternden Beinen stand ich auf und lief in meinem Zimmer auf und ab, wobei ich bei jeder Kehrtwendung einen scharfen Bogen machte. Mein Zimmer war so klein, dass ich mir 112
vorkam wie ein Tiger im Käfig. Wo steckt sie? Wo bleibt sie bloß? Ich machte mir schreckliche Vorwürfe. Ich hatte sie einfach abgesetzt und war dann davongebraust. Du bist mir eine schöne Freundin!, hielt ich mir vor. Es war unverantwortlich von mir, dass ich sie mit Sandy allein gelassen hatte. Ich hätte hartnäckig bleiben und einfach nicht auf sie hören sollen. Wir hätten ihn uns zu zweit vorknöpfen sollen. Vor lauter Schuldgefühlen drehte sich mir der Magen um und meine Hände waren kalt wie Eis. Ich ließ mich wieder aufs Bett sinken und starrte aufs Telefon. Nun mach schon – klingle! Das Telefon klingelte tatsächlich. „Ohhh!" Ich erschrak so sehr, dass ich leise aufschrie. Gleich nach dem ersten Klingeln stürzte ich mich wie eine Wilde auf den Hörer. „Hallo?", meldete ich mich atemlos. Julie?" Ja?" „Hallo. Hillarys Mutter hier. Wie geht es dir?" „Äh ... gut, Mrs. Walker. Ist Hillary ..." „Weißt du vielleicht, wo sie steckt?", fragte Mrs. Walker. „Ich hab ihr heute Morgen extra noch gesagt, dass wir um Punkt sechs essen wollen, weil mein Mann und ich um sieben zu einem Treffen müssen. Ist sie vielleicht bei dir?" Ich schluckte schwer. Mein Mund war völlig ausgetrocknet. „Nein, nein. Bei mir ist sie nicht", sagte ich leise. Vor Entsetzen verkrampfte sich mein Nacken. Wo mag sie sein? Wo steckt sie bloß? „Hatte sie noch länger in der Schule zu tun?", wollte Mrs. Walker wissen. „Sie hat mir nämlich erzählt, dass es einige Probleme wegen irgendwelcher Zeugnisabschriften gab." „Ich ... ich weiß es nicht", log ich. „Ich hab wirklich keine Ahnung, wo sie steckt, Mrs. Walker. Sollte sie auftauchen ..." „Wahrscheinlich steckt sie irgendwo im Stau", sagte Hillarys Mutter. „So ein Unwetter hab ich ja schon lange nicht mehr erlebt." „Es ist wirklich ziemlich übel", murmelte ich und dachte an 113
Hillary, die also offenbar immer noch bei Sandy war. „Na dann, bis bald mal, Julie. Mach's gut. "Mrs. Walker legte auf. Ich hängte ebenfalls ein und schloss die Augen. „Hoffentlich hat er dir nichts angetan, Hillary", flüsterte ich vor mich hin. Schließlich war ich es gewesen, die sie bei Sandy abgesetzt hatte – bei einem Mörder! Was habe ich bloß angerichtet?, dachte ich und fühlte panische Angst in mir aufsteigen. Hatte ich Hillarys Todesurteil unterschrieben, als ich sie alleine ließ? Würde Sandy es fertig bringen, auch sie umbringen? Kaltes Entsetzen packte mich und ich saß wie erstarrt da. „Essen!" Der Ruf meiner Mutter brachte mich zurück in die Realität. „Essen, Julie! Hast du nicht gehört? Wie oft muss ich dich denn noch rufen?" „Verzeihung, Mom. Ich komme sofort", rief ich nach unten. Ich schüttelte heftig den Kopf um die entsetzlichen Gedanken loszuwerden. Julie, jetzt fängst du aber wirklich langsam an zu spinnen", sagte ich laut zu mir und stand auf. Meine Fantasie war einfach mit mir durchgegangen. Sandy würde Hillary nie und nimmer etwas antun!, beruhigte ich mich selbst. Wie war ich bloß auf diese Idee gekommen? Auch wenn er Al getötet hatte, würde er doch niemals einen seiner Freunde umbringen! Ich atmete ein paar Mal tief durch und ging zum Spiegel über der Kommode. Ich betrachtete mich: mein blasses Gesicht, den gequälten Ausdruck in meinen Augen, meine strähnigen Haare. Julie – wo bleibst du denn? Das Essen wird ja kalt!" Die ungeduldige Stimme meines Vaters drang von unten herauf. Ich fuhr mir schnell mit dem Kamm durch die Haare, lief die Treppe hinunter und setzte mich an den schon fertig gedeckten Abendbrottisch. Ich stocherte in dem Hackbraten und dem Kartoffelbrei herum, die meine Mutter gekocht hatte. Eigentlich war es eins meiner Lieblingsessen, aber heute bekam ich nur mit Mühe und Not etwas hinunter. Bei Tisch erzählte ich von der Abschlussprüfung und anderem 114
Schulkram und musste mich richtig anstrengen um ruhig und normal zu klingen. Aber Hillary wollte mir einfach nicht aus dem Kopf. Ob sie wohl immer noch bei Sandy war und versuchte ihn zu überreden sich der Polizei zu stellen? Erst nach dem Abendessen, nachdem wir gerade den Tisch abgeräumt hatten, rief sie endlich an. Während ich zum Telefon rannte, sah ich auf die Uhr. Es war Viertel nach sieben. Hillary sprach leise und gepresst. Julie ...?" Ja. Hi. Was war denn los, Hillary? Wie ist es gelaufen?", fragte ich atemlos. Julie ...?", wiederholte sie. Sie klang sehr merkwürdig. Völlig verängstigt. Ja? Was ist, Hillary? Nun sag doch schon!" „Kannst du rüberkommen? Jetzt gleich?", fragte sie mit zitternder Stimme. „Was? Rüberkommen?", keuchte ich. „Wieso denn, Hillary? Was ist passiert?" „Etwas Schreckliches, Julie", sagte sie so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. Schweigen. Ich wartete, dass sie fortfuhr. „Was denn?", brachte ich mit erstickter Stimme heraus. „Was?" „Ich habe ihn getötet", flüsterte Hillary. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mich verhört. „Ich habe ihn getötet", wiederholte sie. „Ich habe Sandy umgebracht."
115
Kapitel 23 Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich danach zu Hillary gekommen bin. In meinem Gedächtnis ist da nur ein großes, schwarzes Loch. Ich weiß zwar, dass ich mit dem Wagen zu ihr gefahren bin, aber die Fahrt dorthin oder ob es noch regnete oder nicht – alles wie weggeblasen! Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist meine panische Angst und eine heftige Übelkeit, gegen die ich ankämpfen musste. Und dass ich mit meinen kalten, feuchten Händen immer wieder vom Lenkrad abgerutscht bin. Was für eine Ausrede habe ich eigentlich meinen Eltern aufgetischt, als ich an einem ganz gewöhnlichen Wochentag Hals über Kopf noch mal aus dem Haus gestürzt bin? Woran habe ich auf der Fahrt zu Hillary gedacht? Welcher Film lief da in meinem Kopf ab? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich war es der Schock, den Hillarys Worte mir versetzt hatten. Es war einfach zu viel! Erst Sandy, der Al auf so furchtbare Weise umgebracht hatte, und jetzt Hillary. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass meine beste Freundin jemanden getötet hatte. Ich versuchte die schreckliche Wahrheit einfach zu verdrängen. Aber als ich bei Hillary ankam und mir auf der Matte vor der Tür die nassen Schuhe abtrat, holte mich schlagartig alles wieder ein – wie eine hohe Meereswelle, die über einen hinwegschwappt und einen benommen und nach Luft schnappend am Strand zurücklässt. Als Hillary die Tür öffnete, schluchzte ich auf, schlang meine Arme um ihre Schultern und hielt sie ganz fest. Ich drückte meine kalte Wange an ihre und war erstaunt, wie heiß sich ihr Gesicht anfühlte. „Noch hab ich ... die Polizei nicht angerufen", flüsterte Hillary. „Was hast du gesagt?" Ich löste mich von ihr, machte zitternd ein paar Schritte rückwärts und kämpfte mühsam gegen die aufsteigenden Tränen. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt 116
anfangen würde zu weinen, würde ich nie wieder aufhören. Da entdeckte ich Taylor und Vincent, die unbeholfen mitten im Wohnzimmer standen. In diesem Moment zuckte ein grellweißer Blitz über den Himmel und ließ in dem dämmrigen Licht ihre Schatten über die Wände tanzen, obwohl sie völlig weglos dastanden. Taylor trug schwarze Leggins und ein lässiges, rotes Top. Ihre hellblonden Haare fielen ihr lose auf die Schultern. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. Vincent, der neben ihr stand, fuhr sich nervös durch die Haare. Sie waren klatschnass, als wäre er eine ganze Weile durch den Regen gelaufen. Ei irrachte einen noch unruhigeren Eindruck als sonst, seine großen Hände waren in ständiger Bewegung - er schien überhaupt nicht zu wissen, wohin mit ihnen. Er sah mich mit einem halb lächelnden, halb fragenden Blick an, so als wollte er sagen: Was ist eigentlich los? Weißt du vielleicht, warum man uns hier zusammengetrommelt hat? Natürlich wusste ich das. Diesmal würde es Hillary sein, die uns ein erschreckendes Geständnis zu machen hatte und uns in Entsetzen und Trauer stürzen würde. „Wie geht's dir denn so?", murmelte Vincent mir zu, während er pausenlos seine Hände zu Fäusten ballte und wieder öffnete. „Ich ... ich weiß nicht genau", stotterte ich und sah zu Hillary hinüber. Sie wirkte erstaunlich gelassen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie geweint hatte. Als sie meinen prüfenden Blick auffing, senkte sie die Augen, so als wollte sie ihre Gefühle vor mir verbergen. „Setzt euch doch", sagte sie leise und zeigte mit den Händen zum Sofa und zu den Sesseln gegenüber vom Kamin. Als es plötzlich laut donnerte, fuhr ich vor Schreck zusammen. Dabei biss ich mir aus Versehen so fest auf die Unterlippe, dass sie blutete. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel und ließ unsere Schatten über die Wand tanzen. Vincent und Taylor setzten sich aufs Sofa. Ich hockte mich auf eine Sessellehne. 117
Hillary baute sich vor uns auf. Nervös zupfte sie an ihrem Zopf herum, strich ihn glatt und drehte ihn zwischen den Fingern hin und her. „Ich ... habe ... Sandy ... getötet." Sie sprach langsam, tonlos und scheinbar ohne Gefühl. Sie sah uns dabei nicht an, sondern starrte zum Fenster hinaus. Der nächste Blitz spiegelte sich in ihrer Brille und verbarg ihren Blick vor uns. Taylor rang nach Luft und schoss vom Sofa hoch. Sie stolperte mit erhobenen Händen auf Hillary zu, als wollte sie sie angreifen. Ich sprang ebenfalls auf. Ich weiß auch nicht genau, warum. Vielleicht um Hillary vor Taylor zu schützen? Vincent starrte sie nur ungläubig an. Er schien seinen Ohren nicht trauen zu wollen. Aber Hillary wiederholte es noch einmal: „Ich habe Sandy umgebracht. Es war keine Absicht, aber es ist passiert." „Neieiein!" Ein gellender, tierischer Laut kam über Taylors Lippen. Sie stürzte sich auf Hillary und packte sie grob bei den Schultern. „Neieiein!" Ich stürzte zu den beiden hin, weil es so aussah, als würde Taylor wieder ausrasten und Hillary angreifen. „Ich will es euch erklären!", rief Hillary jetzt mit lauter Stimme. Verdutzt ließ Taylor sie los und trat einen Schritt zurück. „Setzt euch!", befahl Hillary streng. „Ich bin euch eine Erklärung schuldig. Gebt mir wenigstens eine Chance und hört mir zu. Das, was passiert ist – es ... es war einfach grauenvoll!" Ich setzte mich wieder hin. Taylor, die zu zittern angefangen hatte, sah Hillary fassungslos an und wich langsam bis zum Sofa zurück. Vincent seufzte. Er stützte den Kopf in die Hände, beugte sich gespannt vor und ließ Hillary nicht aus den Augen. Hillary rieb sich die feuerroten, übel aussehenden Kratzer am Hals. Dann lief sie mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf und ab und berichtete, was vorgefallen war. „Nach der Schule bin ich zu Sandy gefahren", fing sie an zu erzählen. „Das heißt, Julie hat mich bei ihm abgesetzt. Ich ... ich ..." Ihr versagte die Stimme. 118
Sie holte tief Luft und setzte erneut an. „Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, Sandys Geheimnis mit mir rumzuschleppen. Ständig spukte mir der Gedanke im Kopf herum, dass er Al auf dem Gewissen hat. Ich konnte an nichts anderes mehr denken - es hat mich völlig verrückt gemacht." „Immer wenn ich Sandy über den Weg lief, hätte ich losheulen können", führ Hillary fort. „Und gleichzeitig hätte ich ihn am liebsten gepackt und geschüttelt, bis er Vernunft annimmt. Ich ... ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Es war zu viel." Wieder holte sie tief Luft. Sie fingerte an ihrem Zopf herum und lief weiter auf und ab. „Also bin ich zu Sandy gegangen um ihn zu überreden, dass er sich der Polizei stellt und mit der Wahrheit herausrückt. Ich hab versucht ihm klarzumachen, dass er vielleicht keine so hohe Strafe bekommt, wenn er erzählt, dass Al uns erpresst, bedroht und uns das Leben zur Hölle gemacht hat." Hillary fing laut an zu weinen. Es dauerte eine Weile, bis sie weiterreden konnte. „Ich hab Sandy angefleht sich um Himmels willen endlich zu stellen. Aber er wollte nicht auf mich hören und hat sich geweigert auch nur darüber nachzudenken. Als ich sagte, dass ich zur Polizei gehen würde, wenn er es nicht tut, hat er mich angegriffen. Er ... er ist fuchsteufelswild geworden." Hillary zog ein völlig durchweichtes Taschentuch aus ihrer Hosentasche. Sie nahm die Brille ab und wischte sich damit die Augen trocken. „Er ... er hat einen Tobsuchtsanfall bekommen", sagte Hillary stockend und nestelte an dem Taschentuch herum. „So habe ich ihn noch nie erlebt ..." Sie brach ab. Wieder wischte sie sich die Augen trocken. Das Taschentuch zerbröselte allmählich in ihrer Hand. „Er hat diese schwere Büste genommen, die seine Mutter von ihm gemacht hat. Ich würde alles kaputtmachen, hat er mich angebrüllt. Aber er würde nicht zulassen, dass ich sein Leben verpfusche. Und dann hat er mit der Büste ausgeholt und wollte sie mir über den Kopf hauen." Wieder brach Hillary in Schluchzen aus, fuhr dann jedoch mit erstickter Stimme fort. „Ich hab auch nach der Büste gegriffen. Sie war viel schwerer, als ich gedacht hatte. Wir ... haben wie die 119
Wahnsinnigen miteinander gekämpft. Ich hatte furchtbare Angst, weil ich dachte, dass er mich umbringen wollte." Hillary sah uns alle mit flehendem Blick an. „Sandy hat gebrüllt wie ein Irrer. Ihr hättet ihn überhaupt nicht wiedererkannt. Er hat immer nur geschrien: ,Ich lass mir doch von dir mein Leben nicht kaputtmachen!“ Irgendwie hab ich es geschafft, ihm die Büste wegzunehmen, und dabei ist sie mir aus der Hand gerutscht. Dieses schwere Bronzeding hat ihn genau am Hinterkopf getroffen ..." Hillary atmete schwer. Sie war totenblass und schien kaum noch weiterreden zu können. Sie holte tief Luft und sagte mit einer ganz fremden Stimme: „Sandy... er hat geschrien. Es war so furchtbar, dass ich es nie vergessen werde. Er ist hingefallen und dann war er auf einmal ganz still. Und ... und überall war Blut. Ich hab ihn geschüttelt und seinen Namen geschrien, aber er hat sich nicht bewegt. Sandy war tot. Ich ... ich hatte ihn getötet. Und dann bin ich einfach weggelaufen, nur weg, hinaus in den Regen. Den ganzen Weg nach Hause bin ich gerannt und gerannt. Gleich nachdem meine Eltern weg waren, habe ich euch angerufen." „Neieiein", schrie Taylor. Sie hatte die Arme fest um ihren Körper geschlungen und wiegte sich vor und zurück. „Neieiein." „Ich habe Sandy getötet", sagte Hillary noch einmal. Ihre Stimme klang jetzt ganz dumpf. Der fiebrige Glanz in ihren Augen war erloschen, sie wirkten wie tot. „Es war keine Absicht. Das schwöre ich euch!" Sie drehte sich zu mir hin. „Ich werde jetzt die Polizei anrufen und ihnen erzählen, was passiert ist. Aber ihr ... solltet es zuerst erfahren. Ihr seid meine Freunde und ich wollte, dass ihr die Wahrheit kennt." „Aber warum?", rief Taylor schrill. „Warum? Warum? Warum?" Wieder wankte sie auf Hillary zu. „Warum musste Sandy sterben?", schluchzte sie. „Taylor, ich hab's doch erklärt...", fing Hillary an. Aber Taylors Schreie übertönten ihre Worte. „Du begreifst nicht!", schrie Taylor. „Du begreifst überhaupt nichts! Warum musste Sandy sterben? Er hat doch niemandem etwas getan! Nicht Sandy hat Al getötet! Ich war es!" 120
Kapitel 24 Es traf mich wie ein Schlag. Völlig betäubt ließ ich mich in den Sessel zurückfallen. Alles um mich herum schien sich zu drehen. Als ob Hillarys Geständnis nicht schon schlimm genug gewesen wäre! Voller Entsetzen hatte ich lebhaft vor mir gesehen, wie die beiden miteinander kämpften und Sandy dann leblos auf dem Boden lag... Und plötzlich stellte Taylor mit einem Paukenschlag die ganze Welt auf den Kopf! Nur zwei Sätze, die alles veränderten: „Nicht Sandy hat Al umgebracht! Ich habe es getan!" „Ist das wahr?" Fast hätte ich meine eigene Stimme nicht wieder erkannt. Sie klang ganz rau und kratzig, weil meine Kehle wie zugeschnürt war. “Du hast Al getötet?" Taylor nickte. Sie wirkte auf einmal ganz verändert. Ihre grünen Augen funkelten vor Zorn und sie sah Hillary mit stechendem Blick an. „Du hast leider den Falschen umgebracht, Hillary." „Es war keine Absicht!", verteidigte sich Hillary. „Es war ein Unfall!" Ich ging zu ihr hinüber, legte ihr einen Arm um die Schulter und führte sie zum Sofa. Vincent nahm tröstend ihre Hand und drückte sie. Hillary zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Fieber. Ich nahm die Decke, die zusammengefaltet über der Rückenlehne des Sofas hing, und legte sie Hillary um die Schultern. „Interessiert euch eigentlich gar nicht, warum ich Al getötet habe?", fragte Taylor aggressiv. Ich drehte mich um und stellte fest, dass sie sich auf meinen Platz gesetzt hatte. Sie hielt beide Sessellehnen umklammert und beugte sich weit nach vorne. Ihr ganzer Körper schien unter Hochspannung zu stehen. „Ich hab mich mit Al getroffen", gestand Taylor. „Hinter Sandys Rücken. Ja, ja, ich weiß. Ihr braucht mir keine Moralpredigt zu halten. Außerdem ändert es jetzt auch nichts mehr, deswegen ein 121
schlechtes Gewissen zu haben, oder?" Sie seufzte bitter. „Ich hatte schon immer eine Schwäche für solche knallharten, coolen Typen wie Al. Jedenfalls war er tausend Mal aufregender als Sandy. Aber er hat mir auch jede Menge Ärger gemacht." Sie schüttelte den Kopf und sah auf den Boden. „Vor ein paar Monaten hab ich meinen Eltern Geld geklaut – so an die hundert Mäuse – um Al aus der Patsche zu helfen. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Es war der größte Fehler meines Lebens!" Sie verstummte. Ihr standen Tränen in den Augen und ihr Kinn zitterte. Sie schien völlig in ihre eigenen Gedanken versunken. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich weitererzählte. „Al war wirklich ein Mistkerl! Er hat immer mehr Geld von mir verlangt. Sonst würde er meinen Eltern verraten, dass ich ihnen Geld gestohlen hatte – dabei hatte ich es doch ihm zuliebe getan!" „Das gibt's doch nicht!", murmelte Vincent ungläubig. „Irgendwann ist mir dann die Sicherung durchgebrannt. Ich hab ihn angebrüllt, dass ich ihn nie wieder sehen will und er mich endlich in Ruhe lassen soll. Eine Weile hat er sich auch daran gehalten, aber an dem Abend, als wir Rollschuh laufen waren, hat er mich gezwungen mit ihm zu reden. Als ich von der Toilette kam, stand er auf dem Gang. Er hat mich einfach nach draußen gezerrt und noch mal hundert Dollar von mir verlangt. Ich hab mich geweigert. ,Du bist ja nicht ganz dicht!', hab ich zu ihm gesagt. „Dann erzähl es doch meinen Eltern! Das ist mir jetzt auch egal!' Da ist er grob geworden. Er hat mich gepackt und gegen die Mauer der Halle geschleudert. Ich ... ich hab wirklich Todesangst gehabt. Dann hat er versucht meine Rollschuhe, die ich mir um den Hals gehängt hatte, herunterzureißen." Taylor schluckte schwer. Tränen liefen über ihre kreidebleichen Wangen. Sie wischte sie nicht einmal weg. „Und dann hab ich rot gesehen. Meine ganze Angst war plötzlich wie weggeblasen und ich war nur noch tierisch wütend", fuhr sie fort und umklammerte die Lehnen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Ich hab ihm 122
die Rollschuhe einfach weggeschnappt und wir haben miteinander gekämpft. Irgendwie ... irgendwie waren auf einmal die Schnürsenkel um seinen Hals gewickelt. Ich weiß nicht mehr genau, wie das passiert ist. Meine nächste Erinnerung ist, dass ich sie um seinen Hals zugezogen habe, ganz fest. Ich war so voller Hass und so wütend, dass ich Kräfte entwickelt hab, die ich mir nie zugetraut hätte. Ich konnte einfach nicht wieder aufhören ... Es war wie in einem Alptraum. Ich stand praktisch neben mir und sah zu, was ich da tat, aber ich konnte nicht aufhören. Ich habe ihm so lange die Kehle zugeschnürt, bis er sich nicht mehr bewegt hat. Und dann ...", sie holte tief Luft. „Und dann bin ich zu Sandy gelaufen und habe ihm alles gebeichtet." Taylor schluchzte und bebte am ganzen Körper. „Sandy war einfach wundervoll zu mir. Noch nie hat sich jemand so um mich gekümmert! Um mich zu decken hat er sogar den Mord auf seine Kappe genommen. Euch hat er erzählt, daß er Al getötet hat. Sandy war sich hundertprozentig sicher, dass ihr zu ihm haltet, dass ihr ihn nicht verraten würdet. Und ... und ..." Taylor versagte die Stimme. „Und was tut ihr?", schrie sie uns dann an. „Er hat euch vertraut – und ihr lasst ihn fallen!" Mit funkelnden Augen sah sie zu Hillary hinüber. „Du hast dich von Anfang an gegen ihn gestellt – und jetzt hast du ihn getötet! Wie konntest du das nur tun? Er war doch unschuldig, völlig unschuldig!" Taylor sprang auf, ballte ihre Hände zu Fäusten und ging auf Hillary los. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Taylor blieb wie angewurzelt stehen und erstarrte mitten in der Bewegung. Wir erschraken alle so sehr, dass wir aufschrien. Hillary sprang vom Sofa hoch, schleuderte die Decke weg und rannte aus dem Wohnzimmer. Wieder klingelte es. Vincent und ich liefen Hillary hinterher. „Hast du die Polizei gerufen?", kreischte Taylor mit Panik in der Stimme. „Du hast doch nicht etwa die Polizei angerufen, bevor du uns zusammengetrommelt hast?" 123
Hillary gab ihr keine Antwort und öffnete die Tür. Vor der Tür stand Sandy.
Kapitel 25 Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Sandys unerwartetes Auftauchen war wie ein Schock für mich. Meine Gefühle spielten total verrückt und mir wurde schwindelig. Das ganze Zimmer schien sich um mich zu drehen. Als wieder ein Blitz durch die offene Tür aufleuchtete, kam es mir vor, als würde glühend heißer Strom durch mich hindurchgejagt. Das grelle Licht blendete mich. Unheimliche, zitternde Schatten jagten über die Wände. Taylors Stimme brachte mich wieder in die Realität zurück. „Du hast mich hereingelegt!", schrie sie schrill. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie zusammenbrach und zu Boden sackte. „Du hast mich hereingelegt!", schluchzte sie wieder und wieder. Sandy zog sie hoch und nahm sie in die Arme. „Es tut mir Leid", flüsterte er. „Taylor, du musst mir glauben. Es tut mir ja so Leid." Er hielt sie auch noch in den Armen, als Hillary und ich zum Telefon liefen, um ihre Eltern zu verständigen. „Mir tut es auch Leid, dass ich dir etwas vormachen musste, Julie", entschuldigte sich Hillary bei mir und hielt sich den Hörer ans Ohr. „Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass an Sandys Geständnis etwas faul war. Als ich bei ihm war, habe ich ihm gesagt, dass ich glaube, dass er jemanden deckt. Da hat er es mir dann erzählt. Er konnte damit einfach nicht länger leben. Wir wussten, dass wir Taylor schocken mußten, damit sie alles gesteht. Ich konnte euch unseren Plan nicht verraten, weil sie sonst bestimmt was gemerkt hätte." „Schon gut", sagte ich. „Wenigstens wissen wir jetzt endlich die Wahrheit." Hillary sprach mit Taylors Vater und bat ihn so schnell wie 124
möglich herzukommen. „Ich schulde euch eine Erklärung und muss mich bei euch entschuldigen", sagte Sandy. „Ich ... ich wollte Taylor decken, aber ich weiß auch nicht, warum ich zu euch so mies war. Es tut mir wirklich Leid, dass ich euch verfolgt und Todesängste eingejagt habe und all das. Ich wollte verhindern, dass ihr die Wahrheit herausfindet und Taylor wollte ich beweisen, dass ich genau so ein cooler Typ bin wie Al." Sandy seufzte und hielt Taylor weiter fest in den Armen. „Ich weiß jetzt, dass ich einen Riesenfehler gemacht habe", sagte er traurig. „Ich hätte den Mord nicht auf meine Kappe nehmen dürfen. Niemals!" „Ich finde, das sind nun aber genug Geständnisse! Genug bis an unser Lebensende!", rief ich aus. Und alle stimmten mir zu. Doch ein Geständnis stand noch aus. Zwei Wochen später ging ich mit Vincent von der Schule nach Hause. Da beugte er sich plötzlich ganz dicht zu mir und flüsterte mir leise ins Ohr: Julie, ich muss dir etwas gestehen." O nein! Bitte nicht!, dachte ich. Noch ein Geständnis und ich bekomme einen Schreikrampf! Ich hielt die Luft an und schloss die Augen. „Worum geht's denn?", fragte ich zögernd. „Ich bin total in dich verliebt, schon von unserem allerersten Schultag an", gestand Vincent. Und ich schrie wirklich auf – aber diesmal vor Freude.
125