Werner Kopacka
Everest Albert Richter hat nur noch ein Ziel im Leben: Er will den Mount Everest besteigen – ein Vorhab...
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Werner Kopacka
Everest Albert Richter hat nur noch ein Ziel im Leben: Er will den Mount Everest besteigen – ein Vorhaben, das für ihn nicht nur zum fast übermenschlichen Wagnis wird, sondern auch zu einem Weg zu sich selbst. Unterwegs trifft er auf eine Expedition, die der erfahrene Bergführer Ronny Steiner für drei ungeübte, aber betuchte Bergsteiger leitet. Bald schon wird das Unvermögen dieser drei zur lebensbedrohlichen Gefahr für all diejenigen, die zur selben Zeit auf dem Weg zum Dach der Welt sind.
Über den Autor: Werner Kopacka, geboren 1950, war im Jahr 1978 begleitender Journalist der österreichischen Himalaya-Expedition, bei der es Reinhold Messner und Peter Habeier gelang, den Mount Everest ohne Sauerstoffmaske zu bezwingen. Während dieser Expedition stürzte er im Khumbu-Eisbruch in eine Gletscherspalte und konnte in letzter Sekunde gerettet werden.
Werner Kopacka
Everest Der Roman
Vorwort von Robert Schauer
Besuchen Sie uns im Internet: www.droemer-knaur.de Vollständige Taschenbuchausgabe Januar 2000 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.. München Copyright © 1998 by Nymphenburger in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: Agentur Zero, München Umschlagabbildung: Bavaria Bildagentur, Gauting Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Clausen und Bosse, Leck Printed in Germany Non-profit scan, 2002 ISBN 3-426-61389-1 5 4 3 2 1
Knaur
»Der Khumbu hat mir bewiesen, daß ein Gelegenheitsbergsteiger wie ich auf einem Berg wie dem Mount Everest absolut nichts verloren hat. Den Mount Everest muß sich ein Bergsteiger verdienen, er muß sich für ihn mit extrem starken Leistungen qualifizieren, wie ein Leichtathlet für die Teilnahme an den Olympischen Spielen!« Werner Kopacka, nachdem er 1978 im Khumbu-Eisbruch den Sturz in eine Gletscherspalte überlebt hatte
Vorwort Jahrzehntelange Beobachtungen und Berichterstattungen über Alpinisten und Expeditionen für eine große österreichische Tageszeitung haben meinem Freund und Autor Werner Kopacka die Möglichkeit gegeben, sich eine eigene Sicht der Welt der Höhenbergsteiger und jener, die es gerne sein möchten, zu bilden. Viele prägende persönliche Erlebnisse als »schreibender« Expeditionsbegleiter und vor allem die Tatsachenberichte und Veröffentlichungen über das vielzitierte »EverestKatastrophenjahr« 1996 haben ihn inspiriert, eine Geschichte über eine durchaus mögliche Begebenheit am Mount Everest zu entwickeln. Es ist eine fiktive Geschichte, die versucht, eine Brücke in jene Bereiche der Psyche und Emotionen zu schlagen, die den »Helden« der Story und den Akteuren einer »realen Expedition« gemein zu sein scheinen. Vielfach habe ich selbst die Erfahrung gemacht, daß unter Extrembedingungen Erlebtes während einer Expedition von Begleitern anders gesehen, erlebt und später beschrieben wurde. Dieses Phänomen, welches der bekannte Wissenschaftler Paul Watzlawick in seinem Werk »Wie wirklich ist die Wirklichkeit« durchleuchtet hat, ist gerade bei Alpinisten verbreitet. Jene, die unter enormem physischen und psychischen Druck stehen, und dies nicht nur in großen Höhen, so erklärt er, bauen sich durch verschiedene Realitätswahrnehmungen eine Art »Schutzwall« auf, die als Form der Projektion zu beschreiben ist. Mit anderen Worten: Es stellen sich manche Tatsachenberichte stellenweise wie »fiktive Storys« dar. Für mich sind Romane wichtige Elemente der Imagination
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und der Unterhaltung, selbst wenn sie von jenen Themen handeln, für die ich ein schlechter Beurteiler bin, weil sie für mich die Realität darstellen und für einen Großteil meines Tuns zum fundamentalen Baustein geworden sind. Allen diesen »echten Geschichten« oder »Storys« aber liegt die Faszination der Bergabenteuer zugrunde, die, so hoffe ich, auf dieses Thema so richtig neugierig machen. Robert Schauer Zweifacher Everest-Besteiger und Kameramann der erfolgreichen IMAX-Everest-Expedition
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Richter Wie weit Ortsnamen doch reisen können, dachte er. Namche klang tibetisch. Oder nepalesisch. Aus einer der Sprachen, die den Himalaya umgeben jedenfalls. Bazar war für ihn jedoch eindeutig ein arabisches Wort. Namche Bazar. Ein seltsamer Ort. Fast eine Stadt, die sich in einer Welt niedergelassen hatte, in die keine Städte passen. Es war eine Welt der Stille, die hier laut war. Die bunte Kleidung der Trekker, die riesigen Rucksäcke, das Sprachengewirr. Der Mann links von ihm sprach tschechisch. Oder slowenisch. Vielleicht auch polnisch. Eine Frau, die der Sprache nach eine Amerikanerin war, unterhielt sich auf englisch mit einem Jungen, der vielleicht vierzehn war. Der Junge, der aus Namche Bazar oder der Umgebung stammte, gab ihr in seinem seltsam klingenden Englisch seltsam klingende Antworten. Selbst beim Reden versuchte er immer wieder zu lächeln. Die Augen waren dabei ganz schmal, und er hatte einen großen Mund mit großen, weißen Zähnen. Die Haut im Gesicht war dunkel und schon lange nicht gewaschen worden. Sie wirkte alt und abgenutzt. Sie redeten über den nächsten Tag, und was sie da zum Essen brauchen würden. Der Junge sagte, daß es in Namche alles gebe, die Frau solle ihm sagen, was sie wolle. Corned Beef, Ungarisches Gulasch, Streichkäse aus der Schweiz. Richter, der das Gespräch verfolgte, weil er in der Nähe saß und nichts anderes zu tun hatte, wußte bald, daß die Frau den Jungen als Küchenjungen angeheuert hatte. Und daß sie mit ihm und einem älteren Sherpa namens Rinzing so nahe wie möglich an das Basislager des Everest herantrekken wollte. Richter drehte es den Magen um. Für ihn war der Everest und alles, was sich in seiner
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unmittelbaren Nähe befand, geheiligter Boden. Er hatte lange geglaubt, daß dieser nur von Auserwählten betreten werden dürfe. Von den Männern, die sich im Laufe der Jahre als Helden in seinem Kopf eingenistet hatten. Menschen, die ausgezogen waren, um Berggeschichte zu schreiben. Die Frau, die neben ihm saß und dem Jungen sagte, ihr sei es egal, was er kaufe, sie hätte anderes zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, er müsse es selbst entscheiden, dafür würde sie ihn ja schließlich bezahlen, hatte am Fuße des Everest nichts verloren. Absolut gar nichts. Richter spürte, wie der Ärger in ihm zu wachsen begann. Die anderen Trekker, zum Teil lächerliche Gestalten in lächerlicher Kleidung mit noch lächerlicheren Gesichtern, würden wahrscheinlich dasselbe Ziel haben. Everest Basecamp. 5350 Meter hoch am Fuße des KhumbuGletschers gelegen. Hillary und Tenzing hatten dort gelagert, Dyrenfurth, Hornbein und Unsoeld, Uemura, Bonington, Haston, Scott, Messner und viele, viele andere. Richter wußte natürlich ganz genau, daß jetzt alles anders war. Er hatte Krakauer genauso gelesen, wie alle anderen Bücher, die er über den Everest bekommen konnte. Er kannte die Geschichte von Hall und Fischer und wußte über die Tragödie von ’96 genau Bescheid. Richter konnte das Gespräch neben ihm nicht mehr ertragen. Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. Es war ein großer roter Rucksack, der prall gefüllt war und an dem zwei Rollen befestigt waren. Das kleine Zelt und der Schlafsack. Im Rucksack befand sich alles, was er noch besitzen wollte. Mehr brauchte er nicht mehr. Er ging langsam durch den Ort. Vorbei an den Stimmen und den Häusern, aus denen sie drangen. In einigen brannte bereits Licht. Die Sonne war längst hinter dem immer düsterer werdenden
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Kamm verschwunden, der irgendwo hinter dem Dorf ein Stück in den Himmel wuchs. Einige der Trekker würden noch Bier trinken oder den dunklen nepalesischen Rum. Sie waren schließlich im Urlaub. Er ließ die Häuser des Ortes hinter sich und ging auf dem Weg, den er im letzten Licht des Tages gerade noch erkennen konnte, so weit, bis alle menschlichen Geräusche und alle beleuchteten Häuser verschwunden waren. Er blieb stehen und atmete die Stille ein. Dann suchte er einen ebenen Platz, räumte ein paar Steine aus dem Weg und schlug sein Zelt auf. Er hatte es während der vergangenen Tage so oft getan, daß er nur noch ein paar Handgriffe dafür brauchte. Als alles verstaut und der Schlafsack ausgerollt war, setzte er sich in den Zelteingang und starrte dorthin, wo der Berg sein mußte. Morgen, das wußte er aus seinen Büchern, würde er ihn sehen können. Er war fünf gewesen, als ihn sein Vater zum ersten Mal auf einen Berg mitgenommen hatte. Ein großer Mann mit großen Schritten. Ein Schritt des Vaters, drei Schritte von ihm. Demnach war er damals dreimal so weit gegangen wie sein Vater. Alles war so groß gewesen. Und weit. Und hoch. Er hatte Angst gehabt. Angst vor der fremden Welt, die ihn umgab, und Angst, dem Vater nicht folgen zu können. Er wußte noch genau, daß er alles gegeben hatte, um den Vater nicht zu enttäuschen. Der Vater hatte in einer Fabrik gearbeitet. Mit großen Hämmern und glühendem Stahl. Alles an ihm war hart gewesen. Das große Gesicht mit dem kantigen Kinn und der Haut, die wie ein Reibeisen an seiner geschabt hatte, wenn er ihn hochgehoben und geküßt hatte. Das hatte er jedoch nur getan, wenn er stolz war. Und stolz war er, wenn der Junge bewiesen hatte, daß er einmal ebenso hart werden würde wie der Vater.
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Der Berg war nicht hoch gewesen. Der Gipfel lag genau 2398 Meter über dem Meeresspiegel. Später hatte er ihn oft bestiegen. Mit der Leichtigkeit des geübten Bergsteigers, der wesentlich Höheres gewöhnt ist. Dieser Berg war für ihn jedoch immer etwas Besonderes geblieben. Auch die Gefühle, die er damals als Fünfjähriger bei seiner ersten Bergtour empfunden hatte, hatten ihn nie verlassen. Er konnte sie abrufen wie ein aufgezeichnetes Telefongespräch. Zuerst waren sie durch den Wald gegangen. Der Boden war weich, und es hatte feucht und muffig, nach weicher, schwarzer Erde, nach Moos und nach Tannennadeln gerochen. Zum ersten Mal hatte er die Stille gespürt. Sie war groß, und man selbst konnte sie nicht greifen, obwohl sie einen ständig berührte. Das Spiel der Sonne mit den Schatten zeichnete bizarre Bilder auf den Boden, die sich ständig änderten. Manchmal stach die Sonne wie ein Scheinwerfer durch das Blätterdach und markierte den Waldboden, mit einem goldenen Fleck. Ihm erschien es damals wie ein Fingerzeig der Sonne, daß hier ein Schatz vergraben sei. Man müßte nur graben und würde auf eine Truhe voller Gold stoßen. Während einer Rast hatte er es seinem Vater gesagt und ihn damit schallend zum Lachen gebracht. Später, als er selbst erwachsen war, hätte er an den Sonnenpunkten graben können. Er hatte es nie getan, obwohl ihn der Wunsch bis heute nicht verließ. Vielleicht deshalb nicht, weil er ihn sich als allerletztes Wunder für einen ganz speziellen Augenblick aufbewahren wollte. Alle anderen Wunder, an die er in seinem Leben geglaubt hatte, waren laut knallend zerplatzt und hatten schmerzliche Wunden hinterlassen. Dann war der Wald zu Ende gewesen, und sie waren in ein Reich hinausgetreten, das der Sonne, dem Gras, einigen,
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bescheiden am Boden dahinkriechenden Kiefern und mächtigen Felsen gehörte. Sie hatten am Waldrand angehalten, und der Vater hatte ihm aus der Thermosflasche warmen Tee in einen zerbeulten Blechnapf eingegossen. »Einen solchen Becher«, hatte der Vater gesagt, »hat auch der Hermann Buhl bei der Erstbesteigung des Nanga Parbat mitgehabt. Ich weiß es, weil ich Bilder davon gesehen habe!« Damals hatte er noch nicht gewußt, wer Hermann Buhl war. Aus der Ehrfurcht, mit der sein Vater den Namen aussprach, hatte er jedoch geschlossen, daß es sich um einen ganz Großen handeln mußte. Von diesem Moment an war der Becher für ihn wie eine Reliquie gewesen. Es ging nicht mehr darum, daß es ein Becher war, der jenem ähnlich sah, den Buhl verwendet hatte, für ihn war es der Buhl-Becher geworden – der Becher, welcher den großen Bergsteiger tatsächlich auf den Gipfel des Nanga Parbat begleitet hatte. Später, als er selbst mit dem Bergsteigen begann, hatte er ihn seinem Vater abgebettelt, und dieser hatte ihn schmunzelnd hergegeben. Der Buhl-Becher begleitete ihn seitdem als eine Art Glücksbringer bei jeder Tour. Er hatte ihn auch jetzt mit. Er steckte im Rucksack, der hinter ihm im Zelt lag. Damals am Waldrand hielt er ihn mit seinen kleinen Händen umklammert und spürte durch das Blech die Wärme des Tees. Die Wärme hatte sich von den Fingern über die Arme im ganzen Körper ausgebreitet, und er fühlte ganz klar, daß es nicht nur Wärme, sondern auch Kraft war, die vom Becher ausströmte. Sein Vater war ein schweigsamer Mensch gewesen, und sie hatten auch damals nicht viel miteinander geredet. Als sie weiterstiegen, fiel ihm, dem Fünfjährigen, das Hochstapfen plötzlich leichter, und einige Male war er es gewesen, der den
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Vater nach den regelmäßigen Verschnaufpausen, die dieser für den Kleinen eingelegt hatte, zum Weitergehen drängte. Er hatte keine Angst mehr und war auch nicht mehr müde. Es hatte nur noch den Berg gegeben und dann den Gipfel, der mit einem großen, hölzernen Kreuz markiert war. Als er oben gestanden und auf die anderen, niedrigeren Gipfel hinabgeschaut hatte, überkam ihn das Gefühl eines Siegers. Beinahe unverwundbar und mächtig – wie ein König. Sein Vater hatte ihn hochgehoben und ihm einen der raren Küsse gegeben. Später, als es in seinem Leben nicht mehr so gut lief, hatte er immer wieder die Einsamkeit der Berge gesucht, ihre Ehrlichkeit und die Kraft, die viel mächtiger war als das Intrigenspiel der Würmer, die unten sein Leben beherrschten. Immer wieder ließ er sich von der Macht des Siegers durchströmen. Am liebsten wäre er dort oben geblieben. Doch hatte es immer Kräfte gegeben, die ihn wieder nach unten zogen. Der Job, die Familie. Jetzt gab es nichts mehr. Nur noch ihn und den Berg. Den größten und mächtigsten aller Berge. Morgen würden sie einander erstmals begegnen.
Die Expedition Nichts hatte sich hier verändert. Sogar manche Gesichter waren dieselben. Ronny Steiner hatte einige der Sherpas wiedererkannt, die damals auch dabeigewesen waren. Er konnte sich sogar an einige Namen erinnern. Während des Anmarsches hatte er den großen Australier getroffen, der vor vier Jahren in der Lhotse-Flanke von einem
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Stein getroffen und beinahe erschlagen worden war. Zwei Sherpas und einer der Bergführer, die für den Australier als zahlenden Kunden verantwortlich waren, hatten ihn damals durch den Khumbu-Eisbruch nach unten ins Basislager geschleppt. Der Stein hatte neben dem rechten Auge eine dicke Narbe hinterlassen. »Es war nur Pech damals«, hatte der Australier gegrinst, »ich lass’ mir doch von so einem verdammten Stein den Gipfel nicht nehmen.« Er meinte, er hätte wie ein Wahnsinniger trainiert. Täglich zehn Kilometer Joggen, einmal pro Woche hundert Kilometer auf dem Rad, zwei Kletter-Camps pro Jahr, einmal Yosemite, einmal die Alpen mit dem Matterhorn. »Damals war ich zwar um vier Jahre jünger, jetzt bin ich dafür so stark wie ein Bulle.« Er hieß Colin Thorne und war Rechtsanwalt in Sydney. Und er hatte sich für siebzigtausend US-Dollar bei der amerikanischen Expedition eingekauft, die von Greg Randell geleitet wurde. Auch der war vor vier Jahren hiergewesen. Damals noch als Bergführer. »Drei Jahre lang war ich mir nicht sicher, ob ich es nochmals versuchen sollte«, hatte Thorne gesagt, »die Sache mit dem Stein hat an mir genagt. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich es vielleicht geschafft. Und plötzlich habe ich gewußt, daß mich dieser Gedanke mein Leben lang verfolgen würde. Ich würde nie wissen, ob ich in der Lage gewesen wäre, den Mount Everest zu besteigen. Mir blieb also nur eines: Es noch einmal zu versuchen. Dafür habe ich hart gearbeitet und viel Geld bezahlt. Jetzt bin ich hier und will es endgültig wissen!« Steiner lag in seinem Zelt und starrte ins Schwarz der Nacht. Draußen waren Stimmen und das Schlürfen von Schritten. Jemand hustete gequält, eine Frau lachte zu laut. Von
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irgendwoher kam sogar Musik. Die Nacht verzerrte alles und mischte es zu einem auf- und abebbenden Geräuschbrei. Es war wie auf einem Campingplatz. Und nichts anderes war das Basislager. Ein Campingplatz – der höchste Campingplatz der Welt. Ronny Steiner war keiner, der Angst hatte. Und wenn sie wirklich da war, dann zeigte er sie keinem. Nicht einmal sich selbst. Er hatte die Rolle des Furchtlosen immer schon gut gespielt. Das mulmige Gefühl, das sich manchmal in seinem Inneren breitmachte, konnte unmöglich Angst sein. Wenn man Angst hat, dann zittert man am ganzen Körper und stößt kalten Schweiß durch die Poren. Steiner hatte noch nie vor Angst gezittert, und wenn er geschwitzt hatte, dann war es vor Anstrengung gewesen. Für seine Kunden war er die ultimative Vertrauensperson. Hart zu sich selbst, kompetent, der beste Mann am Berg. Dort oben lag ihr Leben in seiner Hand. Und in der des Berges. Doch daran wollte er jetzt noch nicht denken. Seine Aufgabe war es, das Risiko auf ein Minimum zu reduzieren, alles perfekt vorzubereiten und den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Vor vier Jahren, als er als Bergführer für Berner gearbeitet hatte, war alles glattgegangen. Sie hatten vier der acht Kunden auf den Gipfel und vor allem wieder heil ins Basislager zurückgebracht. Es war das Jahr gewesen, in dem der Berg geschlafen hat. Die Stürme, die in den Jahren zuvor und danach Dutzenden Bergsteigern, darunter auch einigen der besten, das Leben gekostet hatten, waren großteils ausgeblieben. Ein Sherpa und ein Japaner waren bei Spaltenstürzen ums Leben gekommen, und einen Tschechen hatte eine Steinlawine in der LhotseFlanke erschlagen. Drüben, auf der tibetischen Seite, waren drei Chilenen an Erschöpfung gestorben. Berner hatte das getan, was nun er tat – das Risiko auf ein
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Minimum reduziert. Er hatte den Mut gehabt, vier Leuten, die je achtzigtausend Mark für die Teilnahme an der Expedition und damit auch für den erhofften Gipfelsieg bezahlt hatten, den Gipfelgang am letzten Tag zu verweigern. Sie hatten es mit allerletzter Kraft bis auf den Südsattel geschafft und dort um einen zusätzlichen Rasttag gebettelt, weil sie gehofft hatten, sich dabei so weit zu erholen, daß sie die mörderischen neunhundert Höhenmeter, die zwischen ihnen und ihrem Traum lagen, doch noch schaffen. Berner hatte ihnen jedoch erklärt, daß man sich dort oben nicht mehr erholen konnte, sondern von Stunde zu Stunde mehr an Kräften verliere. Außerdem läge die Entscheidung ohnehin nicht bei ihm, sondern einzig und allein beim Wetter. Wenn es um Mitternacht auch nur einigermaßen in Ordnung sei, dann müßten diejenigen, die stark genug wären, zum Gipfelgang aufbrechen. Steiner erinnerte sich noch genau an den leicht übergewichtigen Frauenarzt aus Stuttgart, der seine letzten Kräfte bei einem Schreiduell mit dem Expeditionsleiter verausgabte. Er habe verdammt viel bezahlt, er wäre verdammt hoch hinaufgekommen, und Berner hätte die verdammte Pflicht, sich den Wünschen seiner Klienten zu fügen. Am Ende hatte Berner den Mann am Kragen gepackt, ihn ordentlich durchgeschüttelt und dann ganz ruhig gesagt: »Hier oben bin ich Gott! Der Herr über Leben und Tod! Und du bewegst dich keinen Meter vom Zelt weg, während wir unterwegs sind, verstanden?« Die beiden Sherpas, die am Südsattel zurückgeblieben waren, erzählten später, daß sich der Stuttgarter und die drei anderen genau an die Anweisung Berners gehalten hatten. Sie hatten ihre Zelte nie verlassen und sich von den Sherpas mit Sauerstoff, Essen und vor allem mit Getränken versorgen lassen.
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Der Arzt hatte später gegen Berner prozessiert und einen Teil der Summe zurückgefordert, die er nur bezahlt hatte, weil man ihm einen Gipfelsieg garantiert hatte. Steiner und die anderen, auch die drei, die neben dem Arzt am Südsattel geblieben waren, hatten Berner als Zeugen jedoch entlastet. Einen versprochenen Gipfelsieg hatte es nie gegeben – nur die Möglichkeit, falls es die Bedingungen erlaubten. Als Berner vor zwei Jahren auf dem K2 ums Leben kam, wurde das Verfahren eingestellt. Steiner hatte gleichsam sein Erbe übernommen. Er war der einzige Deutsche, der in diesem Jahr in Deutschland eine geführte Everest-Expedition hatte anbieten können. Weil er der einzige war, der eine Genehmigung für den Berg besaß. Die jüngsten Horrorsaisonen am Everest hatten das Medieninteresse für den Berg wieder geweckt, und die Berichte über die vielen unfaßbaren Tragödien auch dafür gesorgt, daß sich die Teilnehmer für das Unternehmen, das er schon so lange vorbereitet hatte, in Grenzen hielten. Von den fünf Klienten, die bereit waren, je hunderttausend Mark zu bezahlen, waren nur drei einigermaßen brauchbar gewesen. Die hatte er nehmen müssen. Und weil es ein einmaliger Coup werden sollte, der ihn zumindest für längere Zeit von seinen latenten Geldsorgen befreien würde, hatte er darauf verzichtet, einen zweiten Bergführer mitzunehmen. Bei drei Klienten war dies auch durchaus vertretbar. Außerdem hatte er das Glück gehabt, mit Mingma, dem Sirdar, einen Mann anheuern zu können, der selbst bereits dreimal auf dem Gipfel war. Von den beiden anderen Sherpas, Dawa und Gyalzen, die ihr Führer Mingma mitgebracht hatte, wußte er nur, daß sie bei mehreren Everest-Expeditionen dabeigewesen waren. Sie waren noch jung, schienen jedoch stark und selbstbewußt zu sein. Seine Klienten schliefen in den beiden Zelten, die neben dem seinen standen.
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Max Dreier war fünfunddreißig Jahre alt und Sportlehrer in Köln. Er war breitschultrig mit kräftigen Oberschenkeln. Für das Höhenbergsteigen vielleicht etwas zu wuchtig gebaut. Hans Frey, achtundvierzig Jahre alt, hatte sich im Studio und beim Radfahren immer einigermaßen fit gehalten. Extremwandern hatte er als Referenz für den Everest genannt. Im Gegensatz zu seiner Frau Erika hatte Hans Frey schon beim Anmarsch ins Basislager Schwierigkeiten mit der Höhe gehabt. In den sieben Tagen, die seit ihrer Ankunft vergangen waren, hatte er sich jedoch erstaunlich gut erholt. Die Amerikaner und Italiener, die in diesem Jahr den Weg durch den Khumbu-Eisbruch versicherten, waren noch nicht ganz fertig. Steiner hatte, wie alle anderen, die keine Arbeiten im Eisbruch erledigten, die üblichen zweitausend Dollar für das »Wegerecht« bezahlt. In zwei Tagen, so hoffte er, würden er und Mingma zu einem ersten Erkundungsgang durch die bizarre und stets gefährliche Eiswelt, die zwischen ihnen und dem eigentlichen Fuß des Berges lag, aufbrechen können.
Richter Wie immer während des Marsches durch das Sherpaland war Richter früher aufgebrochen als die Schar der Trekker. Das erste Licht des Tages war für ihn wie eine Botschaft von oben. Die fremde Welt, die ihn umgab, schälte sich langsam aus den Schatten. Was Minuten zuvor noch ein düsterer Klotz gewesen war, bekam plötzlich Konturen, graue Flecken wurden scharf abgegrenzte Felsformationen, der Weg unter seinen Füßen zeigte ihm kleine Steinbrocken und größere Yak-Fladen.
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Er befand sich zwar erst auf 3500 Höhenmetern, spürte jedoch bereits, daß die Luft dünner wurde. Der riesige Rucksack wog schwerer als die dreißig Kilo, die eine Waage anzeigen würde. Und wenn er den gleichmäßig monotonen Schrittrhythmus änderte, etwas schneller ging, weil er die nächste Wegbiegung rascher erreichen wollte, dann spürte er, wie sein Herz heftiger zu pumpen begann und das Blut trotzdem langsamer in sein Hirn gelangte. Es war nichts Aufregendes, nichts, das ihn alarmiert hätte, obwohl er in seinen Büchern gelesen hatte, daß es im Laufe der Zeit immer wieder – auch gut trainierte – Menschen gegeben hatte, die auf dem Weg ins Basislager an der Höhenkrankheit gestorben waren. Richter begann erstmals, die Signale zu spüren, die der Berg, der nun schon so nahe vor ihm lag, ausschickte. Es war nicht irgendein hoher Berg. Es war der Mount Everest! Der Anstieg nach Khumjung war steil, er hatte jedoch keine Eile und rastete, wann immer ihm danach war. Obwohl er innerlich vorbereitet war, traf ihn der Anblick mit einer Wucht, die ihn beinahe niederwarf. Nach einer Wegbiegung öffnete sich die Welt plötzlich zu einem atemberaubenden Panorama. Tief unter ihm wälzte sich der Dudh Kosi wie eine Silberader durch das dumpfe Gestein des Tales, und vor ihm wuchs der Amadablam wie ein von einem überirdischen Künstler als gewaltige Pyramide aus der gefalteten Erdkruste gehauenes Monument in den Himmel. Dahinter türmten sich noch gewaltigere Felsmassen, und ganz oben lugte eine andere Pyramide hervor. Bei weitem nicht so spektakulär geformt wie der Amadablam, viel klobiger und ohne dessen Grazie. Dunkler Fels und weiße Eisflecken. Und doch stellte der Anblick dieses scheinbar unförmigen Felsklotzes alles, was Richter bisher gesehen hatte, in den Schatten.
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Richter wußte sofort, daß er zum ersten Mal der Majestät aller Berge gegenüberstand. Die Schneefahnen, die die Mächte der Natur von der Gipfelpyramide wegbliesen, sahen aus wie ein königlicher Umhang, der im Wind flattert. Richter konnte keinen Schritt mehr tun. Er starrte wie gelähmt auf den Punkt, der der höchste der Erde war. Er hatte ihn schon auf so vielen Bildern gesehen und hatte irgendwie geglaubt, er würde bei der ersten persönlichen Begegnung so etwas wie Vertrautheit spüren. Statt dessen fühlte er nur Ohnmacht. War so klein, so unbedeutend, so nichtssagend angesichts dieser felsigen Macht. Er verstand in diesem Augenblick ganz klar, warum dieser Berg für die Tibeter der Tschomolungma, die Göttin, Mutter der Erde, und für die Nepalesen der Sagarmatha, die Göttin des Himmels, war. Er verstand jedoch auch, warum es immer wieder Menschen gegeben hatte, die sich wie winzige Ameisen an ihm hochgequält und ihr Leben eingesetzt hatten, um ganz oben stehen zu dürfen. Ein Gipfelsieg auf dem Mount Everest war gleichsam das Synonym für das Höchstmöglich-Erreichbare. Das Ziel aller Ziele. Unter all den Menschen, die sich mit dem Everest gemessen und dafür ihr Leben gelassen hatten, waren es immer zwei gewesen, mit denen Richter gerne geredet hätte: George Leigh Mallory und Andrew Irvine. Zwei Briten, die im Jahre 1924 auf der Nordseite auf eine Höhe von mehr als 8500 Metern vorgedrungen, doch nie mehr zurückgekommen waren. Bis heute bleibt die Frage, ob es die beiden damals schon auf den Gipfel geschafft haben oder nicht, das größte Rätsel der Everest-Geschichte. George H. Leigh Mallory war ein biederer Schuldirektor gewesen. Verheiratet, drei kleine Kinder. Ein britischer
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Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle der ledernen Bergschuhe. Damals achtunddreißig Jahre alt, von der Natur besessen, gebildet, romantisch. Sein Charme und sein gutes Aussehen hatten bei seinen Vorträgen vor allem die Frauen begeistert. Ein Held, wie ihn sich alle wünschten. Mallory hatte die, für damalige Begriffe, schwierigsten Alpenwände bezwungen und war am Everest zwei Jahre zuvor bereits höher als 8000 Meter gestiegen. Dazu Andrew Irvine, erst zweiundzwanzig Jahre alt, ein Idealist mit wachen Augen und hellem Verstand. Ungemein kräftig, zäh, jedoch ohne ausreichende Erfahrung auf einem Berg wie dem Everest. Richter besaß die Gabe, Menschen vor seinem geistigen Auge zum Leben erwecken zu können. Er sah die beiden ganz klar und deutlich vor sich und tat plötzlich das, was er all die Jahre hatte tun wollen: Er redete mit ihnen. Es war der 8. Juni 1924. Noch Nacht. Mallory kroch aus dem einsamen Zelt, das auf 8145 Metern stand. Sie waren von Norden gekommen, von der tibetischen Seite. Nepal war damals noch verbotenes Land. Man hatte die Grenzen für Bergsteiger erst viel später, 1949, geöffnet. Klobige, lederne Bergschuhe, dicke, schwere Woll- und Lodenbekleidung, ein massives, unförmiges Sauerstoffgerät, der langstielige Eispickel, die Wollhaube. Hinter ihm der junge Irvine. Dieselbe Kleidung, dieselbe Haltung. Aufrecht, stark, zuversichtlich. »Wie habt ihr die Nacht verbracht. 8145 Meter, ohne zusätzlichen Sauerstoff?« fragte Richter. Mallory zuckte die Schultern. »Das Ritz war’s nicht«, sagte er trocken. Kein Lächeln. Derselbe Gesichtsausdruck, den er auch dem amerikanischen Journalisten gezeigt hatte, als der ihn gefragt hatte, warum er sein Leben riskieren würde, nur um einen Berg zu besteigen,
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und er mit dem legendären Satz: »Weil er da ist!« geantwortet hatte. »Gestern haben wir einander, solange das Tageslicht noch reichte, aus ›King Lear‹ und ›Hamlet‹ vorgelesen«, sagte Irvine. »Man soll auch am Berg nicht geistig verwildern«, brummte Mallory. Richter zeigte mit der ausgestreckten Hand in Richtung Gipfel. Da waren die Yellow Slabs, brüchige, schiefrige, sandige Steinplatten. Darüber lagen gelbe Felsbänder, dann kam die gewaltige Steilrinne, die den Nordostgrat vom eigentlichen Gipfelmassiv trennte. Oberstleutnant Edward Felix Norton, der Leiter der Expedition, war vor vier Tagen von derselben Stelle aufgestiegen, hatte den Steilhang gequert, sich dann im Couloir mühsam durch hüfttiefen Schnee gequält und gegen dreizehn Uhr erkennen müssen, daß der Weiterweg noch gefährlicher war. Dachziegelartige, glatte Felsplatten. Ein falscher Schritt wäre das Ende gewesen. Norton war so hoch gewesen, wie noch nie ein Mensch zuvor. 8572 Meter. Noch 276 Meter bis zum Gipfel. Aber er hätte ihn, wenn überhaupt, erst am Abend erreicht. Für die letzten dreißig Höhenmeter hatte er eine ganze Stunde gebraucht. Norton gab auf und kehrte um. »Werdet ihr Nortons Weg gehen?« fragte Richter. Mallory blickte ihn an, und in seinem Blick lag der Hochmut vieler Briten. »Norton«, näselte er belehrend, »ist ein ausgezeichneter Mann. Unser bester. Er hat es auf diesem Weg nicht geschafft. Uns bleibt dieselbe Zeit wie ihm, um auf den Gipfel zu steigen und vor Einbruch der Dunkelheit wieder hierher zurückzukommen. Die Logik sagt uns also, daß auch wir es nicht schaffen werden. Nicht auf seiner Route.« Richter schämte sich, Irvine kam ihm jedoch rasch zu Hilfe.
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»Wir werden von hier aus direkt zur Kante des Nordostgrates steigen«, sagte er. »Das können wir jetzt, wo wir noch einigermaßen ausgeruht sind, relativ schnell schaffen!« »Und dann?« fragte Richter leise. »Dann werden wir weitersehen«, knurrte Mallory. Das Schwarz der Nacht begann sich langsam aufzulösen. Es war bitterkalt. Ein eisiger Wind blies durch die schwere Kleidung, als wäre sie aus Papier. Die beiden machten sich bereit. Sie redeten kein Wort mehr miteinander. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Es war kurz nach sechs Uhr, als sie losgingen. Richters Auge folgte ihnen. Der Anstieg zum Grat war wesentlich schwieriger, als sie sich ihn vorgestellt hatten. Der Fels war glatt, und jeder Schritt mußte ungemein vorsichtig und überlegt getan werden. Die Rucksäcke mit den Sauerstoffgeräten begannen, immer schwerer auf die schlaffer werdenden Beine zu drücken. Sie atmeten schwer und rasteten immer öfter. Der Sauerstoffvorrat schwand schneller, als geplant. Kurz bevor sie den Grat erreichten, zog plötzlich dichter Nebel auf und reduzierte die Sicht auf wenige Meter. Sie erreichten den Grat trotzdem. Es war kurz nach dreizehn Uhr. Ungefähr jene Zeit, zu der Norton umgekehrt war. Doch Norton hatte das schwierigste Stück noch vor sich gehabt. Und sie hatten ein erstes, ungemein schwierig zu erreichendes Ziel bereits geschafft. Sie standen auf dem Grat! Von nun an würde alles leichter gehen! Um den immer kostbarer werdenden Sauerstoff zu sparen, schalteten sie die Geräte ab. Sie setzten sich kurz nieder und sogen die dünne Luft ein wie Verdurstende. Mallory war überzeugt, daß er noch immer im Besitz seines klaren, analytischen Denkvermögens war. Aber in seinem Hirn hatte
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sich ein keineswegs unangenehmer Rauschzustand breitgemacht, der keinen Platz mehr für die Vernunft ließ. Durch den Nebel konnten sie den Gipfel nicht sehen, Mallory war überzeugt, daß es nicht mehr allzu weit bis dorthin war. Sie hatten viel zu lange gebraucht, um den Grat zu erreichen, und sie blieben viel zu lange sitzen. Keiner von beiden dachte in diesem Augenblick an Umkehr. Hätten sie es getan, dann wären sie wohl am Leben geblieben. Sie gingen weiter und hatten dabei nur noch den Gipfel vor Augen. Ihr vom Sauerstoffmangel angegriffenes Gehirn war nur noch auf das eine Ziel gepolt. Es war nicht einmal tödlicher Ehrgeiz, es waren einfach die Umstände, die ihnen der Berg aufgezwungen hatte. Sie erreichten die Gipfelpyramide und stiegen automatisch wie Roboter immer höher. Der Nebel hatte sich nun gelichtet, und sie konnten das Ende des Berges sehen. Darüber war nur noch Himmel. Der Flaschensauerstoff, der noch immer vorhanden war, kann auf dieser Höhe die Luft im Tal nicht ersetzen. Wer über 8500 Meter mit Flaschen klettert, atmet wie einer, der sich ohne Flaschen auf 6500 Metern bewegt. Mallory und Irvine waren willige Opfer des Berges. Es gab keine Umkehr mehr, nur noch das Ziel. Und der Gedanke an die Nacht, die sie bald umschlingen würde, war so weit weg wie das Lager, das sie nun auch nicht mehr retten konnte. Es war steil, aber nicht allzu schwierig. Die Muskeln arbeiteten automatisch. Im letzten Licht des Tages erreichten sie den Punkt, an dem es nicht mehr höher ging. Den Gipfel der Welt! Der letzte Sauerstoff in den Flaschen reichte gerade noch für ein kurzes Gefühl der Freude. Den unbändigen Triumph, der mit diesem Augenblick hätte verbunden sein müssen, durften sie nicht mehr erleben. Sie blieben oben, bis es um sie herum schwarz war. Die Masken der Sauerstoffgeräte
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baumelten nutzlos an ihren Schultern. Jeder Atemzug, den sie taten, ließ ihre Gehirne träger werden. Die Kälte, die ihre Körper zu zerschneiden drohte, bewog sie schließlich dazu, den einsamen Ort zu verlassen. Der winzige Rest von Vernunft, der ihnen noch geblieben war, reichte nicht einmal aus, ihnen zu sagen, daß sie die schweren Rucksäcke mit den nutzlosen Sauerstoffflaschen abwerfen sollten. Sie torkelten wie Betrunkene durch die Nacht, bis ihre Füße, von der Kälte längst gefühllos gemacht, keinen Halt mehr fanden, und ihre Körper von den schweren Rucksäcken in die Tiefe gerissen wurden. Vielleicht hatte es sich damals wirklich so abgespielt. Er hatte immer gehofft, daß man eines Tages den Beweis dafür finden würde, daß nicht Hillary und Tenzing, sondern Mallory und Irvine die ersten auf dem Gipfel gewesen waren. Ihre Körper hatte der Berg geschluckt. Es gab nur Mallorys Eispickel, den man neun Jahre später auf 8450 Metern Höhe fand. Und die Frage, ob er ihn vor oder doch nach dem Gipfelsieg verloren hatte.
Die Expedition Max Dreier hatte es seinen Schülern versprochen und seinen beiden Söhnen, und er hatte es letztlich auch geschafft, seine Frau davon zu überzeugen, daß er es tun mußte. Bei ihr hatte das Argument mit dem Karrieresprung den Ausschlag gegeben. Als Sport- und Geographielehrer hatte er keine Chancen mehr, in seiner Schule aufzusteigen. Wenn er sich nicht veränderte, war sein Berufsweg bis zur Pensionierung vorgezeichnet.
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Als einer, der den Mount Everest bezwungen hat, bestanden jedoch gute Chancen, den Posten zu bekommen, für den er sich beworben hatte: Leiter des renommierten Sportinstituts in den bayerischen Alpen. Sein Vater war achtundsiebzig gewesen, als er starb. Der Tod des alten Mannes hatte ihn geschmerzt, er war jedoch zugleich auch ein Fingerzeig für ihn gewesen, es nun zu wagen. Mit dem Erbe, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, konnte er den Preis für den Everest bezahlen. Irgendwie war es ein Wink des Schicksals. Sein Vater war genau zum richtigen Zeitpunkt gestorben. Und Dreier wußte, daß auch er es so gewollt hätte. Mit dem Team, dem er sich angeschlossen hatte, war Dreier nicht ganz zufrieden. Ronny Steiners Qualitäten am Berg standen für ihn außer Zweifel. Er hatte sich zuvor genau über den Mann erkundigt. Menschlich kam er mit ihm bisher nicht allzugut zurecht. Dafür war Steiner zu sehr der Alpin-Sunny-Boy mit den YuppieAnwandlungen. Ein Angeber, der von der Corvette redete, die daheim in seiner Garage stand, und einer, der während des Anmarsches am Lagerfeuer mit seinen Weibergeschichten protzte. So waren sie eben, die neuen Helden. Was hier, am Fuße des Berges, wirklich zählte, war nur die Frage, ob man sich in Extremsituationen auf ihn verlassen konnte. Und das – so glaubte Dreier herausgefunden zu haben – konnte man. Das Basislager war ein Sauhaufen. Zelte, Zelte und wieder Zelte. Geröll, dreckige Eisklötze und viel zu viele Menschen. Wenn man seine Notdurft verrichten wollte, mußte man sich vor einem der Behelfsklos anstellen. Er war viel zu sehr Realist, und er hatte in Magazinen und Büchern genug über die Zustände im Basislager gelesen, um noch die Romantik vergangener Tage zu erwarten. Was er jedoch hier erlebte, übertraf alle Horrorvorstellungen, die er sich je ausgemalt hatte.
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Dreier wußte, daß es eine Einteilung geben würde, die die Leiter der Expeditionen untereinander absprachen. Jeder hatte seinen Gipfeltermin. Er wußte jedoch auch, daß es pro Saison nur wenige Tage gab – meistens waren es nicht mehr als ein Dutzend –, an denen das Wetter einen Gipfelgang erlaubte. Schlechtes Wetter würde alle vorher ausgemachten Abmachungen völlig über den Haufen werfen. Alle mußten dann die verbleibenden guten Bedingungen für ihren Kampf um den Everest nutzen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Es konnte zu einem Kampf Mann gegen Mann oder Mann gegen Frau oder Frau gegen Frau ausarten. Die Stärksten würden die Sieger sein. Dreier richtete sich jetzt schon geistig auf diese Situation ein. Er mußte bei den Stärksten sein. Weil es allein aus finanziellen Gründen keine zweite Chance für ihn geben konnte. Wenn er sich enger als die beiden anderen an Steiner band, würde er es schaffen können. Von Frey hielt er gar nichts. Ein reiches Großmaul, das glaubte, sich alles im Leben erkaufen zu können. Studio-Muskeln und Solarium-Bräune. Erika, seine Frau, wirkte ganz fit, war im Grunde genommen jedoch aus demselben Holz geschnitzt wie ihr Mann. Für beide war der Everest kein ehrliches Ziel, sondern nur ein Prahlthema. Am Berg würden sie nur ein Hindernis sein. Der Klotz am Bein, der alles verlangsamte. Dreier hatte längst erkannt, daß nur er und Steiner den Gipfel schaffen konnten. Die Freys würden unweigerlich irgendwo zurückbleiben müssen. Je tiefer, desto besser. Steiner war heute früh mit Mingma, ihrem Sherpaführer, einem netten, ständig lächelnden Burschen, der auch ihm am Berg gute Dienste erweisen könnte, erstmals in den Eisbruch aufgebrochen. Dreier hatte angeboten mitzugehen, war jedoch abgewiesen worden. Vielleicht war’s auch besser so. Vielleicht brauchte er
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wirklich mehr Zeit zur Akklimatisierung. Er hatte beschlossen, statt dessen morgen auf den nahen, 5545 Meter hohen Kala Pattar zu steigen. Zum Eingewöhnen. Dreier war der einzige, der noch im Messezelt saß. Ein hochtrabender Name für ein Stück Stoff. Die Sherpas hatten es auf einem halbwegs ebenen Stück Geröll aufgestellt, zwei Plastiktische aufgeklappt, daneben standen ein paar Campingstühle. An einem Ende hatte Tendi, der Koch, einen kleinen Steinwall errichtet, auf den er seine Kocher gestellt hatte. Zu trinken gab es hauptsächlich Tee und Instantkaffee, Steiner hatte jedoch auch einige Paletten Dosenbier und einige Flaschen des dunklen nepalesischen Khukri-Rums ins Basislager bringen lassen. Tendi war ein kleiner, drahtiger Bursche, der das beste Englisch all ihrer Sherpas sprach. Für das Lastenschleppen am Berg war er wahrscheinlich zu klein oder zu schlau. Der Job als Koch war weitgehend gefahrlos, und er beherrschte ihn auch so gut, daß ihm keiner der zahlenden Gäste an die Gurgel wollte. Es gab Reis in allen Variationen. Manchmal mit Frischgemüse, das die täglich eintreffende Yak-Karawane ablieferte, auch Frischfleisch war dabei. Gestern hatte Steiner eine ganze Yak-Keule gekauft, die nun an einem Strick von der Decke des Zeltes baumelte. Suppenpulver und Konserven hatten sie in ausreichenden Mengen von zu Hause mitgebracht, auch Elektrolytgetränke und Packungen mit sogenannter Astronautennahrung, in deren Genuß sie jedoch erst beim Aufstieg kommen würden. Das Bier wurde draußen, vor dem Zelt, gelagert, wo es jetzt kälter war als im Kühlschrank daheim. Dreier riß bereits die vierte Dose auf. Wenn der Vorrat verbraucht war, mußte Steiner eben für Nachschub sorgen. Schließlich hatten sie genug Geld dafür bezahlt. Tendi hatte in seinem großen Topf Wasser erhitzt und
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schrubbte nun die kleineren sauber. Dreier saugte an seiner Bierdose und beobachtete ihn dabei. »Aus welchem Dorf kommst du?« fragte er ihn schließlich. Der Sherpa blickte von seiner Arbeit hoch und lächelte. »Aus Khumjung!« »Ah«, sagte Dreier, »das Hillary Hospital!« Tendi ließ erneut einen Topf ins Wasser gleiten, wischte die Hände an der dreckigen Hose sauber und drehte sich um. »Ja«, sagte er, »Sir Edmund Hillary ist ein großer Mann. Hat uns Sherpas nie vergessen. Ist ein gutes Spital. Der Arzt, Doktor Stanley, kommt aus Neuseeland!« »Nimm ein Bier und setz dich zu mir«, sagte Dreier. Er wußte nicht viel über die Sherpas. Nur das, was man in seinen Breiten eben über sie wußte. Tendi grinste, holte von draußen eine Dose, riß sie auf und setzte sich zu ihm. »Germany«, grinste er, »schönes Land, gutes Bier!«
Richter Richter war allein, aber nicht einsam. Der schmale Weg führte einen Steilhang entlang, war jedoch glatt wie eine erdige Autobahn und beinahe eben. Er blickte immer wieder hoch, um nach der Gipfelpyramide zu sehen. Fast so, als hätte er Angst, sie würde entschwinden und nie mehr auftauchen. Sein Atem ging gleichmäßig, und die Luft, die er einsog, war rein und klar und schmeckte nach der Frische von Eisbächen und vom Regen reingewaschenen Felswänden. Wenn er es zugelassen hätte, dann hätte er grenzenlos
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glücklich sein können. Noch wog jedoch das, was er aus seiner alten Welt hierher mitgenommen hatte, viel zu schwer. Die Trauer über den Verlust seines Sohnes, der Zorn über das Intrigenspiel, das ihn seinen Job gekostet hatte, und die Leere, die geblieben war, als ihn seine Frau verlassen hatte. Wirkliche Freunde, solche, die bereit gewesen wären, alles für ihn zu geben, hatte er ohnehin nie gehabt. Jetzt hatte er nur noch sich selbst. Jemanden, den er vor nicht allzu langer Zeit noch abgrundtief gehaßt hatte. So sehr, daß er auch jetzt noch bereit war, ihn ohne Skrupel in einen Abgrund stürzen zu lassen. Das Sherpaland streichelte ihn, lullte ihn ein, versuchte, ihm zu sagen, daß es noch mehr für ihn gab als Trauer, Enttäuschung, Leere und den Haß auf einen, der in seiner alten Welt jämmerlich versagt hatte. Schönheit war nur Schönheit, wenn man sie auch wirklich suchte. Richter suchte nicht, er ließ nur das, was mit ihm im Augenblick passierte, geschehen. Es reichte noch nicht aus, um ihn vergessen zu lassen, doch hatte er erstmals nach so langer Zeit wieder eine vage Ahnung, wie es sein könnte, wenn man mit sich und der Welt zufrieden war. Der Weg fiel nun steil ab, und er konnte den Gipfel des Mount Everest nicht mehr sehen. Die Kraft, die sein Anblick ausgeströmt hatte, war nicht mehr da. Trotzdem schien nichts mehr so wie zuvor. Irgend etwas war mit ihm geschehen, und er wußte, daß es gut war. Er erreichte die Talsohle dort, wo der Phunki Drangka in den Imja Drangka mündete. Der Imja Drangka war ein Gletscherfluß, der von den Gletscherwassern des KhumbuEisbruchs genährt wurde. Es war Wasser, das direkt vom Everest kam.
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Richter nahm den Rucksack ab und hockte sich am Ufer nieder. Er zog Pullover und Hemd aus und warf mit beiden Händen kaltes, braungefärbtes Wasser auf den entblößten Oberkörper. Er genoß für einige Sekunden das Prickeln auf der Haut, dann beugte er sich hinab, tauchte den Kopf in den Fluß und hielt den Atem an, solange er konnte. Unter Wasser öffnete er die Augen, sah nur Braun und spürte, wie sich Eiszapfen in seine Augäpfel bohrten. Aus dem Braun formte sich Christophs Gesicht. Die Augen groß, der Mund weit aufgerissen. Er rief um Hilfe. Richter riß den Kopf aus dem Fluß und rieb sich mit den Fingerspitzen die Augen trocken. Das Bild des Sohnes konnte er nicht wegreiben. Es hatte sich eingebrannt und drückte so schwer auf seine Brust, daß er kaum noch atmen konnte. Er sah den Jungen, wie er vor der Schule stand. Lachend zu ihm herüberwinkte. Richter sah, wie Christoph losrannte, und beugte sich hinüber, um die Beifahrertüre zu öffnen. Er hatte nicht gesehen, wie es passierte. Hörte nur das Quietschen der Reifen und blickte dann auf den verkrümmten Körper des Jungen, den das Auto in seine Richtung geschleudert hatte. Sein Sohn starb kaum zwei Meter von ihm entfernt, und er hatte nicht einmal die Chance gehabt, dabei seine Hände zu halten. Christophs Tod war der Anfang seines persönlichen Endes. Er hatte allem, was er bisher getan hatte und in Zukunft noch tun wollte, jede Bedeutung genommen. Daß er bald danach den Job als Werbetexter verlor, war nur eine logische Folge. Sein Inneres war leergebrannt, und er war zum wehrlosen Opfer aller übelwollenden Kollegen geworden. Als die Kündigung kam, war er sogar erleichtert gewesen. Anna hatte ihn einige Wochen später verlassen. Er konnte sie verstehen. Das Leben mit einem Gespenst, das nur noch die Einsamkeit der Berge suchte und kaum zu Hause war, hatte für
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sie jeden Sinn verloren. Richter schulterte seinen Rucksack und ging weiter. Die Hütten waren niedrig und die Wände aus Stein gebaut. In den Hütten befanden sich große, uralte Gebetsmühlen, die sich ständig drehten, weil sie von Wasserkraft bewegt wurden. Auf der Eingangsschwelle einer der ersten Hütten hockte eine alte Frau. Sie hatte ein dunkles, zerschlissenes Tuch um die Stirn geschlungen, die Kleidung bestand aus dickem, schweren Stoff. Schwarz und dunkelrot. Um den Hals trug sie ein Band, auf das dicke, rundgeschliffene Kugeln aus Türkisen und blaßroten Korallen aufgefädelt waren. Auf ihrem rechten Knie kauerte ein kleiner Junge. Kaum älter als zwei. Er war in dicke, plumpe Kleider gehüllt, die viel zu groß für ihn waren. Das schwarze Haar stand wirr und drahtig vom kleinen Kopf, die Haut war dreckverkrustet. Richter murmelte einen Gruß und nickte den beiden zu, doch diese starrten durch ihn ins Leere. Er blieb vor ihnen stehen und stützte den Oberkörper auf den Stock, den er als Gehhilfe benutzte. Die Alte reagierte erst, als er ihr klarmachen konnte, daß er etwas zu essen kaufen wollte. Sie stellte den Jungen auf die Erde, wo er verloren stehenblieb und den Fremden anstarrte. Dann stand sie mühsam auf und verschwand wortlos im Hausinneren. Richter streifte den Rucksack ab und lehnte ihn gegen die Wand. Der Junge stand starr da, wie die Skulptur eines seltsamen Zwerges, und Richter wußte nicht, was er mit ihm anfangen sollte. Seit Christophs Tod hatte er den Umgang mit Kindern gemieden, und jetzt, wo die Erinnerung an seinen eigenen Jungen wieder so präsent war, fühlte er sich doppelt hilflos. Zu seiner Erleichterung kam die Alte bald zurück. Sie trug zwei Konservenbüchsen und eine Dose Foster’s Bier, die sie ihm entgegenstreckte.
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Richter schüttelte den Kopf. »Reis«, sagte er auf englisch, »oder Tsampa!« Sie verstand ihn nicht. Für ihn war es eine neue Situation. Bis jetzt hatten alle Einheimischen, die er getroffen hatte, zumindest ein paar Brocken der Universalsprache aller Trekker und Bergsteiger, die in diesem Teil der Welt unterwegs waren, verstanden und auch gesprochen. Als er versuchte, ihr mit Gesten zu erklären, was er wollte, zuckte sie die Schultern, stellte die Dosen auf den Boden und setzte sich wieder auf die Türschwelle. Auch der Junge bewegte sich dankbar auf seinen alten Platz zurück. Corned Beef und Irish Stew. Made in Australia. Die Alte zeigte ihm mit dürren, lederhäutigen Fingern einen unverschämt hohen Preis an. Richter gab ihr die Hälfte und griff nach den Dosen. Sie protestierte nicht und steckte das Geld in eine Falte ihrer Kleidung. Der Junge starrte ihn noch immer an. Zwischen der Talsohle und seinem Tagesziel, dem berühmten Kloster Thyangboche, bei dem jede EverestExpedition Halt machte, um traditionsgemäß den Segen und das Wohlwollen der Götter für das bevorstehende Wagnis zu erbitten, lag ein extrem steiler Anstieg von sechshundert Höhenmetern. Als sein Leben am wirrsten gewesen war und jede Ordnung verloren hatte, hatte es nur noch die Berge gegeben. Er war oft wochenlang von Gipfel zu Gipfel gezogen und hatte abends sein Zelt an windgeschützten Plätzen aufgebaut. Dabei hatte er gelernt, mit einem Minimum an Verpflegung auszukommen. Er hatte aus klaren Alpenbächen getrunken und war immer besser mit der Einsamkeit zurechtgekommen. Kommerziell bewirtschaftete Almhütten hatte er nur angesteuert, wenn er neue Nahrung gebraucht hatte.
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Jedesmal, wenn er einen Gipfel erreicht hatte, war er am Ende eines Weges angelangt. Dort oben, auf den Plätzen, an denen es nicht mehr höher ging, waren dann immer kurze Momente tiefer Befriedigung in sein zerrüttetes Gefühlsleben eingedrungen. Es war wie eine Droge gewesen. Im Laufe der letzten Monate waren die Gipfel immer höher geworden. Am Ende, an einem wolkenlosen Tag mit kristallklarer Luft, war es der des Mont Blanc gewesen. Beim Aufstieg hatte er gespürt, wie die dünner werdende Luft seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigte. Seltsamerweise war er jedoch nicht müder, sondern immer stärker geworden. Der höchste Gipfel Europas hatte ihn wie ein mächtiger Magnet angezogen. Und dort oben, mitten in der glitzernden Eis- und Felswelt, war ihm plötzlich klargeworden, daß das, was ihm von seinem Leben noch geblieben war, nur dann einen Sinn hatte, wenn er es zumindest versuchte. Der Gedanke war bis zu diesem Zeitpunkt so groß gewesen, daß er ihn nie wirklich zu denken gewagt hatte. Er war keine Expedition und würde nie das Geld besitzen, sich in eine solche einzukaufen. Als einer, der den Menschen seit langer Zeit aus dem Weg zu gehen versuchte, wäre er wohl auch nicht imstande gewesen, sich in eine Gruppe eingliedern zu können. Alles, was er zu verlieren hatte, war sein Leben. Und das hatte für ihn nur dann einen Wert, wenn er es einsetzen konnte, um das letzte und allergrößte Ziel zu erreichen. Den höchsten aller Gipfel. Bereits der erste Schritt des Abstiegs vom Mont Blanc hatte ihn in Richtung Mount Everest geführt. Es war ihm völlig klar, daß er für jeden Normaldenkenden damit zu einem realitätsfremden Irren geworden war. Deshalb hatte er keinen Menschen in seinen Plan eingeweiht. Es hätte auch niemanden wirklich interessiert. Das Geld, das er noch
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besaß, reichte bei weitem aus. Da sein allerletzter noch verbliebener Zukunftsplan nur bis zum Berg der Berge reichte und auf dessen Gipfel oder jenem Ort, den er als letzten erreichen würde, endete. Eine Tat wie die seine bedurfte keiner großen Planung. Es ging immer nur um den nächsten Schritt. Und das Vermeiden von Fehlern, die diesen verhindern könnten. Richter wußte, daß er am Berg ein Illegaler sein würde. Einer, der keine offizielle Genehmigung besaß und sich wie ein Einschleichdieb aufwärtsbewegen mußte. Er wußte jedoch auch, daß es dort oben keinen Polizisten geben würde, der ihn zurückschicken konnte. Und er wußte, daß jeder, der sich mit dem Berg maß, all seine Kräfte brauchte, um ihn lebend wieder verlassen zu können. Keiner konnte es sich leisten, seine Kräfte zu vergeuden, nur um einen wie ihn vom Berg zu jagen. Richter fühlte sich nicht als Selbstmörder. Nur als einer, der ein Ziel zu erreichen versuchte, das er nach menschlichem Ermessen nie und nimmer erreichen konnte. Er wollte sein Leben nicht verlieren, weil er es brauchte, um den größtmöglichen Triumph empfinden zu können. Den Gipfelsieg am Everest. Es war ihm aber auch fast egal, wenn es alles anders käme.
Die Expedition Nur das Satellitentelefon verhinderte, daß es daheim, in den vier »Sport- und Adventure-Shops«, zum Chaos kommen konnte. Hans Frey hatte die Läden sinnigerweise »Freyheit« genannt und verkaufte in ihnen alles, was mit den Modebegriffen
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»Outdoor« und »Adventure« zu tun hatte. Vom Tropenhelm bis zu den Wüstenboots, vom Bowiemesser bis zur Überlebensausrüstung. Selbstverständlich stammte jedes einzelne Stück, das er und Erika hierher ans Ende der Welt mitgebracht hatten, aus dem Sortiment der »Freyheit«-Kette. Sogar die Astronautennahrung. Auch Steiner und Dreier hatten davon profitiert. Steiner war kostenlos zur Gänze von »Freyheit« ausgerüstet worden, der Lehrer hatte alles, was er gekauft hatte, zum Einkaufspreis bekommen. Hans Frey war damit einer der Hauptsponsoren dieser Expedition. Für die Teilnahme hatte er trotzdem je hunderttausend Mark für sich und seine Frau bezahlt. Wenn sie den Gipfel schafften und es Fotos gab, auf denen Steiner, der in Bergsteigerkreisen ja ein bekannter Mann war, in seiner »Freyheit«-Ausrüstung zu sehen war, dann konnte er diese, zusammen mit denen, die ihn und Erika auf dem Gipfel der Welt zeigten, selbstverständlich und ziemlich sicher auch erfolgreich zu Werbezwecken einsetzen. Damit würde jeder Pfennig, den er für das Unternehmen ausgegeben hatte, mehrfach wieder zurückkommen. Ein Teil der Expeditionskosten könnte man als Werbeausgaben sogar von der Steuer absetzen. Hoffte er. Im Prinzip war es eigentlich sogar egal, wenn er selbst den Gipfel nicht schaffte. Ronny Steiner in seiner Ausrüstung würde als Werbehammer genügen. Im Vertrag stand ja ganz eindeutig, daß Steiner sich verpflichtete, im Falle eines Erfolges ein qualitativ einwandfreies Gipfelfoto, auf dem das Markenzeichen »Freyheit« an prominenter Stelle plaziert klar zu sehen war, zu liefern. Frey als Everest-Sieger wäre jedoch eine neue Dimension des Marketings. Die Leute würden dann nicht in irgendeinem Shop kaufen, sondern in dem des Everest-Siegers. Als Großinserent hatte er so gute Kontakte zur Presse, daß die seine Story und
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möglicherweise auch den Gipfelsieg seiner Frau ordentlich breitschlagen würde. Abgesehen vom Werbeeffekt war es natürlich auch der persönliche Prestigegewinn, der ihn hierher, an diesen gottverlassenen Ort, getrieben hatte. Mit dem Erfolg am Everest würde er allen Neidern und Zweiflern beweisen, daß er mehr zu bieten hatte als nur die sorgfältig gepflegte Hülle des extremen Outdoor-Typen. Und viel mehr draufhatte als die Jogging- und MountainbikeFreaks, mit denen er sich zu Hause umgab. Während der ersten beiden Jahre waren seine Shops ein echter Renner gewesen. Er hatte damit genau jene Lücke gefüllt, die zwischen den Supermärkten, den reinen Sportausstattern und den paar kleinen Spezialisten, die sich ausschließlich auf hochklassige Bergausrüstung konzentriert hatten, geklafft hatte. Seit einiger Zeit stagnierte das Geschäft jedoch. Andere hatten es ihm nachgemacht und damit auch ein Stück vom Kuchen ergattert. Hinzu kam, daß ein paar wichtige Mitarbeiter freiwillig ausgeschieden waren und danach hinausposaunt hatten, daß sie mit seinem autoritären Führungsstil nicht mehr zurechtgekommen waren. Jetzt mußte er sich auf einen Haufen Idioten verlassen, der nicht in der Lage war, selbständige Entscheidungen zu treffen. Zum Glück gab es das Satellitentelefon. Sauteuer und doch der einzige Weg, diesen viel zu hoch bezahlten Dilettanten aus der Distanz den nötigen Dampf zu machen. Frey war überzeugt, gut trainiert zu haben. Er hatte zehn Kilo abgespeckt und mit seinem Fitneßtrainer hauptsächlich auf Ausdauer gearbeitet. Trotzdem hatte er den Weg ins Basislager nur mit Mühe geschafft. Bis Duglha, und das liegt immerhin auf 4620 Metern, war es kein Problem für ihn gewesen. Dann wurden seine Beine immer schwerer, er war weit hinter die
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Gruppe zurückgefallen, und in Lobuche, knapp vor der 5000Meter-Marke, hatten ihn rasende Kopfschmerzen zu quälen begonnen. Mit starken Schmerztabletten gingen sie zwar weg, der Körper blieb jedoch schlaff und ohne Kraft. Frey schrieb diesen Zustand seinem Alter zu. Mit achtundvierzig Jahren war er der bei weitem Älteste in ihrer Gruppe. In diesem Alter akklimatisiert man sich wahrscheinlich langsamer. Jetzt, nach mehr als einer Woche im Basecamp, fühlte er sich bereits wesentlich besser. Heute hatte er die dreißig Meter vom Messezelt bis zu seiner Behausung erstmals ohne Pause geschafft. Er hatte nicht einmal schwer geatmet. Für alles, was vor ihnen lag, hatte er sich bis jetzt nicht sonderlich interessiert. Es war Steiners Job, ihn dort hinaufzubringen. Seine Aufgabe war es, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen: mit dieser verdammten Höhe fertigzuwerden und den Kopf klar und schmerzfrei zu halten, ohne ständig diese Tabletten schlucken zu müssen. Frey hatte sich deshalb während der ersten Tage geschont. Jede überflüssige Anstrengung vermieden, Kräfte gespart, viel Flüssigkeit zu sich genommen. Selbstverständlich kannte er den Khumbu. Hatte darüber gelesen und war von Steiner während der Vorbesprechungen auf die Gefahren aufmerksam gemacht worden. Er war da. Direkt vor ihrem Lager. Frey hatte sich jedoch noch nicht wirklich mit ihm beschäftigt. Weil er genug mit sich selbst zu tun gehabt hatte. Und mit den Tölpeln am anderen Ende der Satellitentelefonverbindung. Jetzt, wo er spürte, daß sich die erschlafften Kräfte langsam wieder aufzubauen begannen, nahm er sich erstmals die Zeit, den Eisbruch genauer zu betrachten. Er setzte sich neben seinem Zelt auf einen Stein und starrte auf das zerklüftete Felsund Eisgewirr, das sich vor ihm auftürmte.
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Frey hatte irgendwo gelesen, daß es sich dabei um einen gewaltigen, fünfhundert Meter tiefen, gefrorenen Fluß handle, der oben, in 7000 Metern Höhe, am Fuße der steilen LhotseWand entspringe, sich eher träge vier Kilometer weit durch das sogenannte Tal des Schweigens, auch Western Cwm (sprich: Kum) genannt, wälze und in einer Höhe von knapp über 6000 Metern in Tausende Teile zerbreche. Der allererste Teil der Aufstiegsroute auf den Mount Everest war das schwierigste und vor allem gefährlichste Wegstück, das die meisten Menschenleben gefordert hatte. Fakten und Zahlen können nur die Entstehungsgeschichte und die Gefährlichkeit dieses einzigartigen Stückes Natur beschreiben, Kameras können enorm eindrucksvolle Bilder liefern, wer den Khumbu jedoch verstehen will, der muß ihm persönlich gegenübergestanden haben. Wirklich empfinden kann ihn nur jemand, der sich als Bergsteiger in seine Umklammerung begeben hat. Jemand, der auf ihm und in ihm und durch ihn gestiegen ist. Frey war gerade dabei, ihn verstehen zu lernen. Obwohl er kein besonders sensibler Mensch war und Emotionen, die ihn belasteten, bedrückten oder auch nur allzusehr beschäftigten, meistens so weit beiseiteschob, daß er sie ignorieren konnte, spürte er auf seinem Basislagerstein, wie sich ein Gemisch aus Angst und Ehrfurcht in ihm breitmachte. Es war imposant und erschreckend zugleich, was die Natur hier geschaffen hatte. Das Zitat mit dem Riesen, das er in einem der vielen Expeditionsbücher gelesen hatte, fiel ihm ein. »Hier hat ein wahnsinniger Riese gewütet, der nur zerstören wollte. Der mit einem gewaltigen Hammer immer und immer wieder auf den eisigen Untergrund eingeschlagen hat, bis nur noch kleine und kleinste Bruchstücke vorhanden waren.« Frey wußte, daß die kleinen und kleinsten Stücke, die von seinem Platz aus auch so aussahen, in Wahrheit Eisklötze waren, hinter
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denen man Hochhäuser verstecken könnte. Vom Basislager aus betrachtet, erinnerte, ihn der Khumbu an einen gewaltigen Berg aus Würfelzucker, auf dem ein paar winzige Ameisen herumkletterten. Er holte sein Fernglas aus dem Zelt, um die Ameisen, die er sah, genauer betrachten zu können. Vielleicht handelte es sich dabei um Steiner und Mingma. Er sah zwei Menschen, die der Kleidung nach tatsächlich sein Expeditionsleiter und ihr Sirdar hätten sein können. Und noch etwas sah er, und es raubte ihm beinahe den Atem. Die Vergrößerung durch das Glas rückte die gigantische Eiswelt so nahe an ihn heran, daß er erstmals die Ausmaße der weißen Riesenklötze, die sich über die kleineren, von Spalten zerklüfteten Eishügel erhoben, abschätzen konnte. Die beiden Bergsteiger befanden sich auf dem Rückweg ins Basislager. Sie bewegten sich rasch und gekonnt, schneller, als man sich normalerweise beim Abstieg bewegt. Es war ganz klar, daß sie dieser weißen Hölle so rasch wie möglich entkommen wollten. Es war beinahe Mittag.
Richter Der Anstieg war steil und steinig, Richter fühlte sich jedoch gut in Form und konnte ein zügiges, gleichmäßiges Gehtempo beibehalten. Auf halber Höhe überholte er zwei halbwüchsige Sherpajungen, die zwei schwerbeladene Yaks, oder Dris, wie man die weiblichen Tiere nennt, mit Pfiffen und kleinen Steinen, die sie gekonnt ins Fell der zotteligen Urzeittiere schleuderten, antrieben.
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Angesichts der Leichtigkeit, mit der sich die beiden bewegten, kam sich Richter, der unter dem schweren Rucksack schwitzte und röchelnd atmete, plump und schwerfällig vor. Wie ein Büffel, dem zwei Gazellen über den Weg gelaufen waren. Er versuchte ein Lächeln und nickte einem der Jungen zu. Dieser antwortete mit einem breiten Grinsen. »Du nach Thyangboche?« fragte der junge Sherpa in holprigem Englisch. Richter nickte nochmals. »Thyangboche sehr schön«, sagte der Junge, »heiliger Ort, viele Mönche!« »Ja«, schnaufte Richter und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »viele Mönche!« Er ließ die Heiterkeit der beiden Jungen und den scharfen Geruch ihrer beiden Lasttiere hinter sich und konzentrierte sich wieder auf das Gehen. Immer wenn es daheim in den Bergen steil und schwierig geworden war, hatte er die Schritte gezählt. Er tat es auch jetzt. Es lenkte ihn von der Arbeit des Gehens ab und gab ihm ein Ziel. Hundert Schritte, zweihundert Schritte, tausend Schritte. Er kam mehrmals an aufgehäuften, dunkelgrauen bis schwarzen Manisteinen vorbei. Die Steinhügel sahen wie Altäre aus, die jemand scheinbar wahllos in die Landschaft gestellt hatte. Unbekannte Steinmetzen hatten in jeden einzelnen die Symbole eingemeißelt, die für die tibetische Gebetsformel »Om Mani Padme Hum« standen. »Heil Dir, Du Juwel in der Lotosblüte« oder so ähnlich lautete die Übersetzung, die er in seinen Büchern gelesen hatte. Die Manisteine sollten die Wanderer beschützen, ihnen jedoch auch bewußt machen, daß sie sich hier nur bewegen durften, weil es die Götter erlaubten. Am Ende eines Wäldchens, das aus niedrigen Nadelbäumen bestand, öffnete sich das Land vor ihm plötzlich zu einer
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breiten Hochebene. Zu Hause hätte man wohl Alm dazu gesagt. Blühende Rhododendronbüsche säumten den Weg, es duftete nach Frühling und Frieden. Das Kloster selbst stand auf einer kleinen Anhöhe am Rande der Ebene, zu seinen Füßen scharte sich ein gutes Dutzend niedriger Steinhäuser. Alles wirkte etwas sauberer und gepflegter als das, was er bisher in diesem Land gesehen hatte, die Fenster waren rötlichbraune Augen in den hellen Wänden. Auf der Wiese vor den Häusern hatten die Trekker ihre bunten Zelte aufgebaut. Ihre Besitzer, die Daunenjacken in grellen Farben trugen, bewegten sich wie Farbtupfer, denen Beine gewachsen waren, von der Zeltsiedlung auf das Kloster zu und umgekehrt. Richter, der einen roten Rucksack und eine blaue Jacke trug, sah genauso aus, und als er sich unter sie mischte, fiel er niemandem auf. Ein weiterer anonymer Trekker in einer Schar anonymer Trekker. Auf der Terrasse vor dem Kloster, das man hier Gompa nennt, standen einige junge Mönche. Dunkelrote Roben und fröhliche, dunkle Gesichter mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar. Einer hatte mehrere Khadaks über den Arm gehängt und bot sie den vorbeigehenden Fremden zum Verkauf an. Der Rimpoche, wie sie den Abt des Klosters nannten, hätte die traditionellen, weißen Seidenschals gesegnet, und sie würden dem Besitzer Glück und das Wohlwollen der Götter bringen, meinte der junge Mann. Richter glaubte zwar nicht daran, daß Glück käuflich war, und er bezweifelte auch, daß die Götter der Sherpa gerade ihn wohlwollend behandeln würden, wo ihn sein eigener Gott verstoßen hatte, er kaufte jedoch trotzdem einen Khadak und verstaute ihn in seinem Rucksack. Er redete eine Weile mit dem jungen Mönch, der erstaunlich gut Englisch sprach, und erfuhr dabei, daß sich zur Zeit
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siebenunddreißig Mönche in Thyangboche aufhielten. So viele wie noch nie. Der Mönch hieß Pasang Sona und stammte aus dem Dorf Thame. Er bot sich an, Richter durch das Kloster zu führen. »No money«, schwor er. Sie stiegen mehrere Treppen hoch, überquerten den Klosterhof, und als sie das schwere Holztor erreichten, hinter dem sich der große Versammlungsraum befand, wies der Mönch Richter an, seine Schuhe auszuziehen. Alles war aus Holz. Zum Teil kunstvoll geschnitzt, zum Teil künstlerisch bemalt. Dem Tageslicht standen nur wenige kleine Fenster zur Verfügung, und es drang auch nur spärlich in den Saal ein. Die Düsternis schuf eine Atmosphäre der Ehrfurcht und des Respekts. Einige Butterlampen verbreiteten flackernde Wärme und einen ranzigen Geruch. Der Holzboden war glatt und warm. Der Mönch deutete zur Stirnseite, wo die etwa fünf Meter hohe, goldene Statue des milde lächelnden Buddha Sakyamuni stand. Neben ihm hatte man ein paar kleinere Statuen aufgestellt. »Du solltest hiersein, wenn wir das Mani Rimdu feiern«, sagte der Mönch. »Es ist das größte Fest im Sherpaland Solu Khumbu!« Als Richter wieder im Freien war, tat es ihm einen Augenblick lang leid, daß er das Mani Rimdu nie erleben würde. Oder einer jener Feiern beiwohnen konnte, bei denen der Rimpoche den Mitgliedern der Expeditionen das Wohlwollen der Götter zu sichern versuchte. Alle bedeutenden und auch alle unbedeutenden Bergsteiger, die sich je am Everest versucht hatten, waren hiergewesen. Die Mönche hatten dumpfe, klagende Töne aus langen Hörnern geblasen, und Tenzing, Hillary, Bonington, Messner und wie sie sonst noch alle hießen hatten diese feierlichen Augenblicke zur
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Besinnung, zur Sammlung, einfach zum Nachdenken oder vielleicht sogar für ein Gebet genutzt. Und viele, für die der Rimpoche den Schutz der Götter erfleht hatte, hatten ihn nicht bekommen. Sie liegen heute noch irgendwo dort oben im Eis. Richter scheute sich nicht, daran zu denken, daß es auch ihm so ergehen könnte. Die Wahrscheinlichkeit, daß es nicht so sein würde, war sogar wesentlich geringer. Besser eine steifgefrorene Leiche auf dem Everest als ein langsam dahinsiechender Niemand zu Hause, dachte er. Dann tauchte wieder das Bild des Berges in seinem Kopf auf. So, wie er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Die schwarze Pyramide, die die weiße Schneefahne in den Himmel flattern ließ, hatte ihm keine Angst gemacht. Sie hatte ihn nicht an den Tod denken, sondern den Erfolg fühlen lassen. Der Everest, und das begann er immer stärker zu fühlen, war kein Feind, der ihn lockte, nur um ihn dann zu vernichten. Aber das alles hatte noch viel Zeit. Richter hatte es nicht eilig. Aus seinen zusammengetragenen Informationen konnte er sich ausrechnen, wie lange die Expeditionsmannschaften brauchen würden, um den Khumbu vollends zu versichern und die Lagerkette bis auf den Südsattel, den letzten Ort vor dem Gipfeltag, aufzubauen. In zwei bis drei Wochen, so schätzte er, würden die ersten ernsthaft daran zu denken beginnen, den Gipfel in Angriff zu nehmen. Richters Chance lag im Warten auf den richtigen Tag. Wenn er einmal oben war, würde es für ihn kein Zurück mehr geben. Und im Gegensatz zu den anderen, die jetzt bereits dort waren, hatte er nur eine einzige Chance. Richter konnte sich gemütlich an das Basislager herantasten und sich dabei so gut wie möglich akklimatisieren. Das langsame Hineinwachsen in die Höhenluft war für einen wie
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ihn, der den Gipfel ohne Sauerstoffflaschen erreichen wollte, extrem wichtig. Genauso wie das sorgfältige Einteilen seiner Kräfte. Mehr Kraft, als er jetzt hatte, würde er nie mehr haben. Das Basislager war kein Trainingscamp. Dafür lag es viel zu hoch. Hier baut der Körper ab. Von Tag zu Tag. Wird kaum merklich und doch kontinuierlich schwächer. Richter baute sein Zelt auf und schlürfte, als die Sonne beim Untergehen den Himmel färbte, heißen Tee aus seinem BuhlBecher.
Die Expedition Mingma hatte im Eisfall drei gute Freunde verloren. Wenn er im Khumbu herumstapfte, was zu seinem Beruf gehörte, dachte er oft an sie. Hätte es sich um einen normalen Berg gehandelt, dann wäre er immer wieder an den Stellen vorbeigekommen, an denen sie den Tod gefunden hatten. Er wäre dann dort stehengeblieben und hätte mit ihnen geredet. Mit Lhakpa Nurbu, dem Nachbarjungen aus seinem Dorf Khunde, dem stets grinsenden, nie klagenden, bärenstarken Burschen, der mehr Lasten als jeder andere auf den Berg schleppen konnte. Er war mitten im Khumbu vom Eis geschluckt worden. Der Boden hatte sich unter ihm geöffnet wie der Schlund eines weißen Monsters, und er war hineingefallen. Einfach so. Endlos tief. Für immer. Mit Nima Dorje, dem erfahrenen Veteranen aus Thame, der bei einem guten Dutzend Expeditionen dabeigewesen war und den ein umstürzender Eisturm bei seiner letzten erschlagen hatte. Nima Dorje hatte sechs Kinder. Das älteste, heute ein Junge von sechzehn Jahren, war Mingma vor zwei Tagen im
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Basecamp über den Weg gelaufen. Karsang, so hieß er, war als Kitchen-Boy von den Amerikanern angeheuert worden. Und mit Ang Kami aus Khumjung, der erst vor einem halben Jahr in eine Spalte stürzte. Es war jene japanische Expedition gewesen, bei der er selbst den dritten Gipfelgang geschafft hatte. Wie beim zweiten Mal ohne Sauerstoffflaschen. Mingma haßte die Dinger, weil sie schwer und plump waren und ihn in seiner Bewegungsfreiheit einschränkten. Ohne sie war er zwar auch nicht wie ein junger Hirsch, sondern sogar wesentlich langsamer unterwegs, er fühlte sich jedoch freier und sicherer. Der Körper war ohnehin auf Gehen programmiert und folgte beinahe automatisch dem Befehl, der ihm einmal eingegeben worden war, und das Hirn wurde irgendwie eingeschläfert, wenn man das Südsattellager hinter sich gelassen hatte, von nagenden Fragen und bohrender Angst befreit. Nicht wirklich unangenehm, doch die Geschichten vom beglückenden Rauschzustand stimmten auf keinen Fall. Was sich dort oben in seinem Kopf und in seinem Körper abspielte, war nichts, was man immer und immer wieder erleben wollte. Mingma wußte ganz genau, daß jeder Aufstieg ein Lotteriespiel war, bei dem er bis jetzt einfach Glück gehabt und richtig gehandelt hatte. Er hatte absolut keinen inneren Drang oder den Ehrgeiz, oder wie man das Streben, unbedingt den Gipfel erreichen zu wollen, sonst noch begründen konnte. Er hatte einen Sherpa gekannt, der siebenmal am Everest gewesen und beim achten Versuch zweitausend oder dreitausend Meter tief nach Tibet gestürzt war. Die sieben Gipfelsiege hatten ihm nichts gebracht. Nur den Tod. Mingma wußte jedoch ganz genau, daß man ihn angeheuert hatte, um möglichst alle Teilnehmer auf den Gipfel zu bringen. Für ihn würde es der vierte Erfolg sein. Was jedoch viel mehr zählte, war, wieder heil von dort zurückzukommen. Er hatte keine Angst vor dem Khumbu. Er nahm ihn so, wie
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er war und wie er ihn kennengelernt hatte. Im Khumbu gab es keine Stellen, an denen man an Tote denken konnte. Weil sich alles ständig veränderte und es nicht viel nützte, wenn man sich einen Ort einprägte, weil dieser Ort möglicherweise am nächsten Tag nicht mehr da war. Im Khumbu war es nur wichtig, sich möglichst rasch zu bewegen. Das war nicht immer leicht. Vor allem dann nicht, wenn man mit schweren Lasten am Rücken aufsteigen oder sich um Langsamere und Schwächere kümmern mußte. Der erste Erkundungsgang, von dem er gerade mit dem Expeditionsleiter zurückkam, hatte ihn einigermaßen beruhigt. Die anderen hatten den Weg so gut wie möglich versichert. Sie hatten genügend Sicherungsseile angebracht, insgesamt wohl an die tausend Meter, und eine Route gefunden, bei der weniger Spalten mit Aluminiumleitern zu überbrücken waren als sonst. Das konnte sich natürlich ändern, wenn der Eiskoloß durch die Sonne oder andere Kräfte in Bewegung geriet. Morgen würden Dawa, Gyalzen, der Expeditionsleiter und er beginnen, die Ausrüstung hochzuschleppen. Zelte, Küchengeräte, Verpflegung und Sauerstoff. Zuerst alles ins Lager eins auf 6050 Metern, dann die Sachen für die drei weiteren Hochlager auf 6450 Meter, den Rest, vor allem die Sauerstoffflaschen, auf 7300, dann ging’s auf den Südsattel und damit auf 7986 Meter und von dort in einem Zug hoffentlich auf den Gipfel. Es war harte Arbeit, die auf ihn und seine beiden Sherpas wartete. Doch es war ihr Job, und sie bekamen gutes Geld dafür. Mehr als bei fast allen anderen Berufen in diesem Land. Der Expeditionsleiter war ein guter Bergsteiger. Mingma hatte ihn vor vier Jahren kennengelernt und ihn damals auch am Berg erlebt. Jetzt befand er sich vor ihm und bewegte sich fast im Laufschritt. Bergab ging es natürlich ungleich leichter und
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rascher, man durfte jedoch auch hier keinen unüberlegten Schritt tun. Bei dieser Art des Bergsteigens gab es kein Seil, das einen mit einem anderen verband. Auch weiter oben nicht. Die Gefahr, von einem Stürzenden mitgerissen zu werden, war viel zu groß. Wer im Khumbu ausglitt und über das Eis rutschte, konnte sich nur selbst vor einem drohenden Spaltensturz retten., indem er den Pickel ins Eis rammte oder sich sonst etwas einfallen ließ. Es war beinahe Mittag, und es gab keine Wolken, die die Kraft der Sonnenstrahlen gedämpft hätten. Das ungeschriebene Khumbu-Gesetz besagte, daß man sich nach Mittag nicht mehr im Eisbruch bewegen sollte. Die Gefahr, daß die Wärme einige der wackeligeren Eistürme zum Einstürzen bringen könnte oder sich in der weicher werdenden Schneedecke neue Spalten auftaten, wurde um diese Zeit immer größer. Der Mann, der vor ihm ging und den er respektvoll mit Bara Sahib ansprach, das Wort der Sherpas für einen Expeditionsleiter, redete etwas zuviel. Wenn er sein Handwerk nicht wirklich gut verstanden hätte, dann hätte man es vielleicht auch Prahlen nennen können. Mingma hatte im Laufe der Jahre viele Prahler im Basislager erlebt, deren übertriebenes Selbstvertrauen, man könnte es auch falsche Selbsteinschätzung nennen, bewirkt hatte, daß sie dem Berg nicht den nötigen Respekt entgegenbrachten. Oben veränderte sich dann alles. Der Berg zeigte ihnen rasch ihre Grenzen und hatte viele von ihnen grausam bestraft. Die Prahler, die lebend zurückgekommen waren, hatten nicht mehr geprahlt. Der Everest verändert jeden. Die Prahler am allermeisten. Steiners Expedition war die kleinste, für die Mingma je gearbeitet hatte. Nur drei Männer und eine Frau. Auf den ersten Blick wirkten alle, außer dem Bara Sahib, nicht sehr stark. Er hatte sie jedoch noch nicht am Berg gesehen. Der Eindruck,
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den man im Basislager von den Leuten bekam, sagte gar nichts aus. Fast jeder, der es durch den Khumbu schaffte, schaffte es auch bis ins Lager zwei. Die 850 Höhenmeter zwischen dem Zweierund dem Dreierlager trennten jedoch bereits die Spreu vom Weizen. »Schaut ganz gut aus«, sagte Steiner, als er und Mingma die Stelle erreichten, an der sie die Steigeisen abschnallten. Von hier war es nur noch ein Spaziergang ins Camp. »Heute schaut es gut aus«, korrigierte ihn Mingma. »Morgen kann alles ganz anders sein!«
Richter Sie hieß Nancy und kam aus Neuseeland. Richter stellte sich als Albert vor, sie nannte ihn jedoch Bert. Nancy war blond mit Sommersprossen, und sie hatte ihn angesprochen, als er am Morgen vor seinem Zelt gesessen, Tee getrunken und sich überlegt hatte, ob er weitergehen oder noch einen Tag länger in Thyangboche bleiben sollte. Da Richter selbst kaum auf Menschen zuging, es sei denn, er brauchte von ihnen eine Auskunft, hatte er während seines bisherigen Marsches durch das Sherpaland kaum Kontakt zu anderen gehabt. Deshalb war er zunächst unsicher, wie er mit dieser ungewohnten Situation umgehen sollte. Nancy lockte ihn mit ihrer ungezwungenen Freundlichkeit jedoch bald aus dem emotionalen Schneckenhaus, in das er sich seit langem verkrochen hatte. Sie erzählte ihm soviel von sich und stellte so viele Fragen, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als selbst zu reden.
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Sie habe sich nach Abschluß ihres Psychologiestudiums ein langersehntes Reisejahr verdient. »Ich liebe Neuseeland über alles«, sagte sie, »und ich werde wahrscheinlich auch den Rest meines Lebens dort verbringen, es liegt jedoch so weit von der großen Welt entfernt, daß man einfach irgendwann einmal weg muß, um zu sehen, was dort draußen los ist.« Als Neuseeländerin, schmunzelte sie, müsse man natürlich den Mount Everest gesehen haben. Schließlich sei er ja vom Neuseeländer Edmund Hillary erstmals bestiegen worden. »Tenzing Norgay«, sagte Richter. »Man sagt, daß Tenzing Norgay der erste auf dem Gipfel war. Er soll später nur bescheiden zurückgetreten sein, um Hillary, als Angehörigem des britischen Commonwealth, den Triumph der Erstbesteigung am Vorabend der Krönung der Queen nicht zu vermasseln.« »Für uns«, sagte Nancy, »war er der erste. Wir haben nie wirklich hinterfragt, ob es stimmt oder nicht. Ein kleines, so unbedeutendes Land wie das unsere braucht Helden. Für das nationale Selbstvertrauen. Wir würdigen Tenzing genauso. Aber Hillary war eben einer von uns.« »Hast du ihn gesehen?« fragte Richter. »Hillary?« »Nein, den Berg!« Sie lächelte, dann fragte sie ihn, ob sie einen Schluck von seinem Tee haben könne. Er reichte ihr den Buhl-Becher. »Dort«, sagte sie und zeigte in die Richtung des Weges. Richter nickte. Sie schloß die Augen, hob den Becher, den sie mit beiden Händen umklammert hatte, an die Lippen und schlürfte den heißen Tee. »Ich habe ihn gesehen«, sagte sie dann. Richter wurde ungeduldig. Er wollte von ihr hören, was sie
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empfunden hatte. Ob ihre Gefühle ähnlich intensiv gewesen waren wie die seinen. Konnten sie nicht. Weil nur er es wirklich verdiente, hier sein zu dürfen. Er und die Großen der Vergangenheit und die wenigen ernstzunehmenden Bergsteiger, die sich ebenso ehrlich mit dem Berg beschäftigt hatten wie er. Alle anderen waren Parasiten. Gaukler. Jahrmarktbesucher. Sensationsgeier. Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Erst jetzt bemerkte er, daß sie blaue Augen hatte. »Es ist wie ein Wunder«, sagte sie leise. »Wie er plötzlich vor einem auftaucht. Mächtig, stark, stolz. Er läßt selbst den Himmel klein aussehen. Der schwarze Fels und der seidige weiße Nebel, der von ihm wegweht und ihn noch größer macht. Ich habe viele Fotos gesehen und Filme, doch das war nur Papier und Zelluloid. Man muß ihn selbst gesehen haben, um seine Bedeutung verstehen zu können.« Richter war sprachlos. Er starrte sie an. Es waren auch seine Empfindungen gewesen, doch sie hatte es geschafft, sie in Worte zu kleiden, die wie ein Gedicht klangen. »Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Absicht gehabt, bis ins Basislager zu gehen«, fuhr sie fort, »doch jetzt muß ich dorthin. Ich will in seiner Nähe sein und ihn wenigstens einmal angreifen können.« Richter lächelte. »Angreifen kann man ihn nicht«, sagte er, »es ist ein Berg. Berge kann man nicht angreifen, dafür sind sie zu groß.« »O doch«, sagte sie, »man kann auch das Meer angreifen und das ist noch größer.« Er konnte ihrer Logik zwar nicht ganz folgen, hatte jedoch nach langer Zeit wieder Spaß daran, mit jemandem zu reden. Zu Mittag lud sie ihn in ihr Zelt ein. Er brachte seinen Kocher und den Alutopf mit, und sie kochte Reis, den sie in die Suppe taten, die er zubereitet hatte.
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Richter, der seit Monaten alles unternommen hatte, um menschliche Gesellschaft zu vermeiden, ließ das Zusammensein mit ihr geschehen. Er ließ sie so nahe an sich heran, daß er sie riechen konnte. Sie roch nicht nach Parfüm oder Seife, wie Anna, sondern nach ungewaschenem Haar und verschwitzter Haut. Sie war nicht schön, doch sie gefiel ihm. Er erzählte ihr nichts von seinem alten Leben, sie erfuhr nur, wie er hieß, woher er kam und daß er sich mit dieser Reise einen ähnlich großen Traum erfüllte wie sie. Sie erzählte ihm von ihren Begegnungen mit den Menschen in diesem Land. Von den Problemen, die das Sherpaland in nächster Zeit zu bewältigen hatte. Von der Abholzung und Zerstörung der Natur. Daß sich die Zahl der Trekker in den letzten zwanzig Jahren verfünffacht hatte und daß die Region auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet war. Daß Geld auch hier den Charakter verderbe, daß immer mehr Sherpas in die Städte oder in andere Länder abwanderten, daß nur noch dreitausend der insgesamt fünfunddreißigtausend Sherpas im Solu Khumbu lebten. Daß westliche Dekadenz die alten Sitten und Gebräuche unterminierte. Daß der Westen und da vor allem die Stiftung, die Edmund Hillary ins Leben gerufen hatte, zwar mit Krankenhäusern, Ärzten, Schulen und Lehrern helfen würde, daß Kindersterblichkeit und Analphabetismus jedoch immer noch große Probleme darstellten. Sie schien unendlich viel zu wissen und sich sorgfältig auf ihre Reise vorbereitet zu haben. »Vielleicht«, sagte Nancy, »komme ich irgendwann einmal hierher zurück und arbeite im Hillary Hospital.« Sie lachte. »Doch zuerst möchte ich den Mount Everest angreifen!« »Wirklich nur angreifen? Hast du nie das Verlangen gespürt, ihn besteigen zu wollen?« Ihr lautes Lachen klang fast, als wollte sie ihn für diese Frage
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verhöhnen. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nie. Niemals!« Richter verstand nicht. Sie hatte doch gerade für den Berg so wunderbare Worte gefunden, ihn als mächtig, stark und stolz empfunden. Klar würde sie nie in der Lage sein, ihn wirklich besteigen zu können, doch den Wunsch konnte sie haben. Der war doch nur natürlich, für ihn fast selbstverständlich. Es zumindest einmal versuchen. »Du würdest nicht«, fragte er, »auch wenn du könntest?« Sie hatte seine Enttäuschung bemerkt und rückte etwas näher an ihn heran. Sie legte beide Hände auf seine Schultern. »Du hast mich vorhin vielleicht falsch verstanden. Ich war vom Anblick des Berges fasziniert, aber ich habe nie gesagt, daß ich Menschen bewundere, die ihr Leben riskieren, nur um auf einem kahlen, einsamen, vom Sturm umblasenen Gipfel zu stehen. Und viel, viel Geld ausgeben, nur um später Witwen und Halbwaisen daheim zurückzulassen.« Richter starrte sie an und schüttelte den Kopf. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Es gibt so viele Dinge, für die es sich lohnen würde, Geld und Energie einzusetzen. Wissenschaft, Forschung, Friedenssicherung, den Schutz der Natur, den Kampf gegen den Hunger in der dritten Welt. Dort oben gibt es nichts zu erforschen. Höchstens das eigene Ich. Oder den Grenzbereich zwischen Leben und Tod.« Sie zog die Hände von seinen Schultern und ließ sie fallen. »Für mich ist jeder, der am Everest klettert, ein grenzenloser Egozentriker. Ein Mensch, der im wahrsten und makabersten Sinn des Wortes über Leichen geht.« Richter wußte, daß sie seine Absichten nicht kennen konnte, trotzdem fühlte er sich persönlich angegriffen. Doch in einem hatte sie recht: Er war ein Egozentriker. Einer jedoch, der niemandem abgehen und schon gar keinem schaden würde. Er
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sagte nichts. Sie hatte noch etwas zu sagen. »Er beeindruckt mich, weil er der Größte ist. Warum kann sich der Mensch nicht damit zufriedengeben, etwas nur betrachten zu können. Warum muß er alles besitzen, sich alles Untertan machen. Immer wenn ich die Phrase höre, daß jemand einen Berg ›besiegt‹ hat, steigt kalte Wut in mir hoch. Das heißt, daß man ihm zuvor den Krieg erklärt hat. Und das ist für mich pervers. Wenn niemand hinaufginge, würde es auch keine Toten geben!« Richter hätte ihr vieles erwidern können. Er gab sich jedoch mit der Erkenntnis zufrieden, daß eine wie Nancy einen wie ihn nie verstehen würde. Die Unterhaltung schlief bald ein, und er ging zu seinem Zelt zurück.
Die Expedition Erika Frey kam aus dem Spitzensport. Wildwasserpaddeln. Sie hatte vor drei Jahren noch zur Nationalmannschaft gehört und war zuletzt deutsche Vizemeisterin in der Regatta gewesen. Das ist eine Art Abfahrtslauf im Fluß. Man kämpft sich durch seine Tücken und versucht, die Schnellste zu sein. Dafür braucht man vor allem sehr viel Kraft und ein ausgeprägtes Balancegefühl, das man im Sitzen beherrschen muß. Das Boot liegt auf Millionen kleiner, glatter Kugeln, und der Paddler bewahrt es mit Kraft und Geschick davor, umzukippen. International hatte es nie zu einem absoluten Spitzenplatz gereicht. Einmal vierte bei einer Weltmeisterschaft.
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Da man vom Wildwasserpaddeln kaum leben kann und ihr der Sport, den sie seit ihrem zwölften Lebensjahr ausübte, keine Gelegenheit zu einer soliden Berufsausbildung gegeben hatte, war sie froh gewesen, als ihr der Hauptsponsor anbot, als Fachberaterin und Verkäuferin in einem seiner Läden zu arbeiten. Der Hauptsponsor hieß Hans Frey. Und sie war vor zwei Jahren sein Scheidungsgrund gewesen. Nun waren sie schon fast ein Jahr verheiratet. Der Everest-Trip war so etwas wie eine Hochzeitsreise. Erika Frey war groß, einsachtundsiebzig, brünett und athletisch. Sie hatte breitere Schultern als ihr Mann, und ihr Ausgleichssport war seit Jahren das Bergsteigen gewesen. Gemeinsam mit einer Gruppe junger Münchner hatte sie sogar einige schwierige Klettertouren gemacht und sich zuletzt immer mehr für das Paragleiten interessiert. Sie hatte ihren Schirm auch ins Basislager bringen lassen, zweifelte jetzt, wo sie dem Berg Auge in Auge gegenüberstand, jedoch, daß sie ihn jemals auspacken würde. Der Pumo Ri, der sich hinter dem Basislager erhob, war ein schöner Berg mit einem schlanken, elegant wirkenden Gipfelkegel. Er wäre vielleicht für einen Flug geeignet gewesen, doch seine Höhe von mehr als siebentausend Metern und die von seinen Flanken herabdonnernden Lawinen, von denen einige oft in Richtung Basislager gerollt waren, hielten sie davon ab. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der allerdings um zwanzig Jahre älter war, hatte Erika Frey keine Probleme gehabt, das Camp am Fuße des Khumbu zu erreichen. Sie hatte den Marsch genossen und sich dabei oft und intensiv mit Ronny Steiner unterhalten. Er war nicht ganz ihr Typ, doch für das, was sie vorhatten, wahrscheinlich der ideale Mann. Sie selbst hatte sich mit einer möglichen Everest-Besteigung nie beschäftigt. Die Idee dazu stammte von Hans, die sie
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zunächst für eine Schnapsidee gehalten hatte. Je mehr sie sich jedoch damit beschäftigte, desto reizvoller schien ihr das Ziel. Sie hatte sich ja auch während ihrer Zeit als aktive Sportlerin stets große Ziele setzen müssen. Der Ehrgeiz war es nicht gewesen, der ihren internationalen Erfolg verhindert hatte. Der war immer im Übermaß vorhanden gewesen. Früher hatte sie nie genau gewußt, was ihr zur absoluten Spitzenplazierung wirklich fehlte, jetzt war ihr klar, daß es die Taktik gewesen war. Sie hatte immer das absolute Risiko gesucht und dabei jene kleinen Fehler gemacht, die später entscheidende Sekunden ausmachten. Etwas weniger wäre in ihrem Fall manchmal ganz sicher mehr gewesen. Das war ihr auch bei den Gesprächen mit Steiner klargeworden. Auf einem Berg wie dem Everest ist es enorm wichtig, sich die Kräfte genau einzuteilen. Es geht nicht darum, den anderen davonzulaufen und als erste ihrer Gruppe auf dem Gipfel zu stehen. Es geht darum, es überhaupt bis zum Gipfel zu schaffen. Und lebend wieder zurückzukommen. Der Expeditionsleiter hatte ihr beinahe jeden Schritt beschrieben. Sie glaubte zu wissen, wie sie sich im Eisbruch zu verhalten habe, daß er die einzige Stelle am Berg war, an der Geschwindigkeit wirklich zählte. So betrachtet, war er die einzige Sprintstrecke. Weiter oben war ein langsameres Tempo gefragt, das jedoch nicht zu langsam, dafür gleichmäßig sein sollte. Um Lasten brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Das erledigten die Sherpas. Weiter oben würde sie dann das Sauerstoffgerät schleppen müssen. Steiner hatte immer wieder betont, daß es sich bei all seinen Erklärungen um die Schönwettervariante handelte. Was oben am Berg bei Sturm zu geschehen hatte, konnte keiner voraussagen. Auch er nicht. Weil er selbst noch keinen der berüchtigten Everest-Stürme erlebt hatte.
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»Da gibt es nur Erfahrungswerte von anderen, die heil zurückgekommen sind«, hatte er gesagt und ihr grinsend auf die Schulter geklopft, »mach dir keine Sorgen, der alte Ronny wird euch schon nicht als Leichen dort oben zurücklassen!« Hans hatte während des Anmarsches eine jämmerliche Figur gemacht. Alles, womit er zu Hause Eindruck machen konnte, zählte hier nicht. Die Autorität lag zur Gänze beim Expeditionsleiter, die Sherpas waren unentbehrliche Helfer, auf deren Wohlwollen man dort oben angewiesen sein würde, sie waren jedoch in keinem Fall bezahlte Leibeigene wie seine Angestellten daheim, und mit Geld konnte man hier auch keinen Eindruck schinden, weil es nichts dafür zu kaufen gab. Hans Frey war all seiner Machtmittel beraubt. Erika hatte das Gefühl, daß es ihm jetzt schon leid zu tun begann, daß er sich auf diesen Wahnsinn eingelassen hatte. Sie wußte, daß er es auch wegen ihr tat. Weil er glaubte, ihr seine Liebe beweisen zu müssen. Doch sie hatte nie danach verlangt. Sie liebte ihn mit all seinen Fehlern und war ihm dankbar für das neue Leben, das er ihr ermöglicht hatte. Erika Frey hatte sich vorgenommen, ein Tagebuch zu führen, war damit jedoch noch nicht sehr weit gekommen. Jetzt lag sie in ihrem Zelt und versuchte, einiges von dem niederzuschreiben, was sich in den vergangenen Tagen ereignet hatte. Ein Stimmengewirr draußen vor dem Zelt unterbrach sie. Steiner und der Sherpaführer, dessen Namen sie sich noch immer nicht gemerkt hatte, mußten von ihrem Erkundungstrip aus dem Eisfall zurückgekommen sein. Sie legte das Buch weg und richtete sich auf. »Alle ins Messezelt«, rief Steiner. Erika Frey kroch ins Freie und stieß dabei fast mit ihrem Mann zusammen. »Sie sind zurück«, keuchte er, »wir sollen ins Messezelt gehen!«
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»Ich hab’s gehört«, sagte sie. Er war außer Atem, weil er die wenigen Schritte zum Zelt hochgegangen war. Sie sagte nichts dazu. Nun waren sie schon eine Woche hier, und er hatte die Höhe noch immer nicht verkraftet. Und es warteten noch dreitausend Höhenmeter auf sie. Pemba, der Kitchen-Boy, servierte heißen Tee, wie er es immer tat, wenn ein Sahib ins Messezelt kam. Der Vorrat an heißem Tee schien unerschöpflich zu sein. Und vor allem: Es gab immer welchen. Steiner war bester Laune. »Randells Burschen haben beste Arbeit geleistet«, begann er, »der Eisfall ist gut versichert. Besser als vor vier Jahren. Es ist in diesem Jahr auch generell etwas kälter, deshalb gibt es nicht so viele Veränderungen. Und wesentlich weniger Spalten. Das macht es für euch leichter.« Er grinste. »Weniger von den verdammten, schmalen Aluleitern, über die man mit Steigeisen balancieren muß!« »Wie lange habt ihr für den Aufstieg gebraucht?« fragte Dreier, der Lehrer. Für Erika Frey eine absolut unnötige Frage. Die beiden waren oben gewesen und hatten den Weg gesehen. Darum war es gegangen. Nicht um die Zeit. Es stand ohnehin fest, daß sie, die Expeditionsmitglieder wesentlich länger für den Aufstieg durch den Khumbu brauchen würden. »Ich hab’s nicht gestoppt«, antwortete Steiner, »es werden so an die vier Stunden gewesen sein. Wir haben es nicht sehr eilig gehabt und da und dort noch ein paar Verbesserungen an den Sicherungsseilen vorgenommen.« Er grinste wieder. »Oben haben wir einen netten Lagerplatz für euch ausgesucht. Direkt neben den Amerikanern. Die haben ihr Küchenzelt bereits in Betrieb. Ziemlich luxuriöse
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Angelegenheit. Leider haben Mingma und ich nur eine halbe Stunde bleiben können. Es hat gerade für eine Schale Tee gereicht.« »Wie geht’s jetzt weiter?« fragte Hans Frey. »Die Sherpas und ich werden morgen damit beginnen, die Lasten hochzuschleppen. Ich schätze, daß wir das Lager in drei bis vier Tagen endgültig beziehen können. Ihr könnt übermorgen einmal mit uns hinaufgehen und euch das Ganze ansehen. Die anderen Expeditionen machen es mit ihren Leuten ebenso. Ein Aufstieg durch den Khumbu zur besseren Akklimatisierung und vor allem zur Gewöhnung an das, was euch dort oben bevorsteht. Dann wieder retour ins Basecamp und dann noch ein Probeaufstieg in Lager zwei. Erst dann geht’s endgültig hoch. Wenn das Wetter halbwegs hält und keine unvorhersehbaren Hindernisse eintreffen, können wir den Gipfelangriff vielleicht schon in der ersten Maiwoche starten. Sonst noch irgendwelche Fragen?« Dreier meldete sich noch einmal zu Wort und zeigte dabei mit der Hand auf wie einer seiner Schüler. »Ich wäre gern vorher noch auf den Kala Pattar gegangen«, sagte er, »das wird bei diesem Zeitplan wohl kaum noch möglich sein, oder?« Steiner schüttelte den Kopf. »Es ist alles bestens organisiert. Wer auf den Kala Pattar will, der kann das morgen tun. Es ist mir sogar sehr recht, und ich rate allen mitzugehen. Die Graterhebung ist nur 5545 Meter hoch, also etwas höher als unser Camp, da könnt ihr euch bestens an etwas größere Höhen gewöhnen. Ich habe zwar den Weg schon beim Anmarsch erklärt, zur Sicherheit werde ich euch Tendi, den Koch mitgeben. Ihr wißt ja: zurück nach Gorakshep, auf etwa 5000 Meter, dann geht es direkt hinauf. Vergeßt eure Kameras nicht. Man hat nirgends einen schöneren
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Blick auf den Everest als vom Gipfel des Kala Pattar. Weitere Fragen?« Hans Frey hätte gerne gesagt, daß er überhaupt keine Lust hatte, vor der Quälerei durch den Khumbu auf einen weiteren Berg zu steigen. Der Lehrer hatte es jedoch mit seiner dämlichen Frage für alle eindeutig klargestellt: Der Marsch auf den Kala Pattar gehörte somit zur Expeditionsvorbereitung. Wenn er nicht als Schwächling dastehen wollte, dann mußte er mit. Erika Frey freute sich. Endlich begann die Action, auf die sie schon so lange gewartet hatte. Der Kala Pattar würde ihr erster Himalayaaufstieg sein. Angesichts der Riesen, die ihn umgaben, zwar ein unbedeutender Zwerg, jedoch einer, der höher als der höchste Berg Europas und nur wenig niedriger als der Kilimandscharo, der höchste Berg Afrikas, war. Morgen würde sie sehen, wie stark sie wirklich war. Vor allem würde sie jedoch auch erfahren, was Hans zu leisten imstande sein würde.
Richter Richter hatte viele gekannt, die so denken wie die Neuseeländerin. Seine Frau war eine davon gewesen. Die hohen Berge waren große Steine, auf denen im Frühling der Schnee länger liegenblieb als im Tal. Imposant, vielleicht sogar schön, wenn man sie von unten betrachtete. Die Felswände sollten den Gemsen und dem anderen Getier gehören, das die Natur dafür gemacht hat. Den Menschen hatte sie für flacheres Land bestimmt. Ihm war es nie gelungen, Anna mitempfinden zu lassen, was
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die Berge für ihn bedeuteten. Anfangs war sie bei leichten Touren mitgegangen. Widerwillig. Später hatte sie Christoph als Entschuldigung benutzt, um daheimbleiben zu können. Es hatte nie andere Frauen gegeben. Nur die Berge. Und Anna haßte jeden Augenblick, den er in den Bergen verbrachte. Natürlich war da auch Angst um ihn. Und sie hatte sich vor dem Augenblick gefürchtet, an dem er Christoph erstmals auf eine Tour mitgenommen hätte. Sie wußte genau, daß sie es nicht verhindern konnte. Genausowenig, wie es seine Mutter verhindern hatte können, daß ihn sein Vater mitgenommen hatte. Wenn Anna morgens beim Frühstück einen Artikel über einen tödlichen Bergunfall in der Zeitung fand, hatte sie ihn jedesmal laut vorgelesen. Und jedesmal war es so gewesen, als hätte sie die Nachricht von seinem eigenen Tod verkündet. Anfangs hatte er noch argumentiert, später hatte er es bleibenlassen und stumm zugehört, bevor er einfach aufstand und wegging. Ihre Eifersucht auf die Berge hatte die Ehe eigentlich schon zerbrechen lassen, bevor Christoph gestorben war. Richter saß im Zelteingang und schnürte seine Schuhe zu. Es waren gute Schuhe. Die besten, die er in seinem Sportgeschäft gefunden hatte. Viel zu gut für das leichte Trekking zum Basislager. Für zwei Paar Schuhe war kein Platz in seinem Gepäck gewesen. Dies waren seine Everest-Schuhe, und sie würden ihn weitertragen. So hoch es ging. Bis zum Ende. Dünne Nebelschwaden hingen im Tal. Richter blickte zum Kloster hinüber. Ein paar rote Farbtupfen bewegten sich. Mönche. Mönche stehen wohl überall früh auf. Wahrscheinlich gingen sie zum Morgengebet. Richter hatte sich nie sehr für ihre Religion interessiert. Er wußte nur, daß sie Buddhisten waren. Vielleicht gab es für sie gar kein Morgengebet. Vielleicht taten sie etwas ganz anderes.
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Richter ersparte sich die Mühe, Tee zu kochen. Seiner Karte hatte er entnommen, daß er auf dem Weiterweg immer wieder auf Häuser stoßen würde. Meistens gab es dort Tee zu kaufen und etwas Eßbares. Wenn nicht, dann konnte er unterwegs immer noch den Kocher und das Geschirr auspacken und sich selbst etwas zubereiten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er seine Sachen zusammengepackt, das Zelt abgebaut und den Rucksack mit allem, was er noch besaß, beladen hatte. Reine Routine. Handgriffe, die automatisch geschahen und kaum noch Denken erforderten. Als er seine Last schulterte, blickte er zu den Zelten der anderen Trekker hinüber. Bunte Hügel im bräunlichen Graugrün der Hochebene. Er suchte das Zelt der Neuseeländerin, fand es jedoch nicht. Der Nebel war noch dünner geworden, und die roten Punkte beim Kloster waren verschwunden. Vielleicht waren die Mönche doch zum Beten gegangen. Nancy, dachte er. Dann murmelte er den Namen halblaut vor sich hin. Eine sonderbare Frau. Für kurze Zeit hatte sie ihn gestern aus seiner selbstgewählten Einsamkeit gerissen. Eigenartigerweise störten ihn ihre Ansichten über das Bergsteigen nicht. Sie hatte keine Stellungnahme von ihm gefordert. Ganz anders als Anna. Anna war eine anstrengende Frau. Voller Zweifel, voller Ängste, voller Vorwürfe, voller bohrender Fragen. Bei Anna war er ständig in die Defensive gezwungen worden. Es hatte immer wieder Forderungen gegeben, und Streit, wenn er die Erwartungen nicht so erfüllen konnte oder wollte, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Neuseeländerin hatte ihn nicht gefragt, warum er wirklich hier war. Er hätte keine Antwort gehabt. Weil das, was er vorhatte, bisher immer nur Gedanken waren, die ohne
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Worte geblieben waren. Richter wanderte durch einen dünnen Föhrenwald, in dem auch ein paar kümmerliche Birken und zerzauste Büsche wuchsen. Es wurde heller, und das stärker werdende Morgenlicht schälte die gewaltige Fels- und Eismasse des Ama Dablang aus dem blaßgrauen Himmel. Nur 6866 Meter hoch und doch einer der schönsten Berge der Welt. Richter konnte während des Gehens kaum den Blick von ihm wenden. Vor der ersten Hütte, die er erreichte, weideten mehrere Yaks. Weil die Bewohner auf sein zaghaftes Klopfen nicht antworteten und offenbar noch schliefen, ging er ohne Morgentee weiter, bis der Weg den Bach kreuzte. Er sah sie schon von weitem. Sie hatte den Rucksack am Ufer abgestellt und kniete neben dem Wasser, offenbar um sich zu waschen. Als er näher kam, sah er, daß sie sich die Zähne putzte. Sie tat es noch immer, als er seinen Rucksack neben ihrem abstellte. Er sah ihr zu, wie sie mit der Hand Wasser in den Mund schöpfte und den Kopf zum Gurgeln zurücklegte. Aus ihrem nassen Haar rollten Wasserperlen über die Schläfen auf Wangen und Kinn. Es war noch kühl, und in der Morgensonne glitzerten die Tropfen wie Glasperlen. Sie hatte hier auf ihn gewartet und sagte ihm dies auch, als sie sich mit einem ausgefransten dunkelgrünen Handtuch abtrocknete. »Ich hätte dich natürlich schon gestern fragen können, ob wir von nun an gemeinsam weitergehen, da hatte ich jedoch das Gefühl, daß es dir nicht recht wäre.« Richter runzelte die Stirn, und sie lachte. »Auf diese Weise werden wir durch Zufall Weggefährten. Die Wahl lag bei dir. Wenn du nicht stehengeblieben wärst, hätte ich gewußt, daß dir an meiner Gesellschaft nichts liegt,
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dann hätte ich dich ziehen lassen und wäre dir nie mehr in die Quere gekommen.« Er fühlte sich überrumpelt, es machte ihm jedoch nichts aus. Es war nur ein kleiner Teil des Weges, den er mit ihr teilen würde. Bis zum Basislager waren es noch zwei Tage. Dann gab es keinen Platz mehr für andere. Nur noch ihn und den Berg.
Die Expedition Gorakshep ist ein gottverlassenes Nest auf 5000 Metern Höhe. Ein paar Steinhütten, ein paar Trekkerzelte, ein paar stumpf starrende Yaks, ein paar Menschen. In der ersten Hütte hockte eine junge Sherpani vor der Feuerstelle und rührte mit einem Holzlöffel in einer dampfenden Flüssigkeit. Ein Kind sah ihr dabei zu. Zwei oder drei Jahre alt, vielleicht auch jünger oder älter, mit rotzverklebtem Gesicht, schmutzstarrend wie die Mutter, große Augen, mit dem Loch im Hinterteil der sonst erstaunlich intakten Hose, das der Mutter die Windeln erspart. Alles roch nach dem Rauch des Feuers, der in den Augen brannte. Hans Frey fand den Ort ebenso sinnlos wie seine Anwesenheit. Als er vor einer Woche hiergewesen war, hatte er sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten können. Was ihn letztendlich weitergetrieben hatte, war wahrscheinlich die Angst vor dem Spott der anderen gewesen. Einer, der zu Hause hinausposaunt, er würde den Mount Everest besteigen, kann es sich nicht leisten, bereits auf dem Weg ins Basislager zu scheitern.
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Die letzten drei, vier Kilometer bis zum Ziel waren jedoch mit unmenschlichen Qualen verbunden gewesen. Die Kopfschmerzen hätten beinahe sein Hirn zerrissen, die Beine wurden von Muskeln bewegt, die sich in einen weichen Brei verwandelt hatten, er brauchte mehr Luft, als er einatmen konnte, und mußte sie durch eine Kehle saugen, die höllisch brannte. Aber er hatte es geschafft, und im Lager war es ihm von Tag zu Tag besser gegangen. Noch zwei, drei Tage, und er wäre wieder der alte gewesen. Dann kam der Lehrer mit seiner hirnrissigen Idee daher. Für Frey war es eine ausgemachte Blödheit, eine bereits erreichte Höhe wieder zu verlassen und tiefer zu steigen. Bis in das öde Nest Gorakshep, die letzte menschliche Behausung vor dem Everest. Fast vierhundert Höhenmeter hatte er während der letzten Stunde hergeschenkt. Jetzt würde es wieder über fünfhundert einen verdammten Hügel hochgehen, dann dieselben retour, nur um sich am Ende über das Gletschergeröll und das Büßereis wieder dort hinschleppen zu können, wo er zuvor bereits gewesen war. Mit Akklimatisieren hatte das für Frey absolut nichts zu tun. Für ihn war es reiner Masochismus. Man akklimatisiert sich, indem man auf einer erreichten Höhe bleibt und sich nicht wie in einer Achterbahn ständig auf und ab bewegt. Er hatte kurz überlegt, ob er eine Krankheit vortäuschen sollte, um im Lager bleiben zu können. Erika hatte ihn seltsam angeblickt, als könnte sie seine Gedanken lesen. Während des Anmarsches hatte er bereits zu viele Schwächen gezeigt. Das wußte er, und das wußte sie. Für Erika und den Lehrer war der Kala Pattar ein lustiger Ausflug. So etwas wie ein letzter Ferientag vor Schulbeginn. Er konnte es sich einfach nicht leisten zu kneifen. Deshalb war er jetzt da. In der stinkenden Hütte neben einem rotzigen Kind und einer dreckigen Frau, die
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mit einem dreckigen Schöpflöffel dreckigen Tee in einen dreckigen Becher goß, den sie ihm mit einem Lächeln, das schlechte, braune Zähne entblößte, entgegenstreckte. Frey nahm den Becher mit säuerlichem Grinsen in Empfang und ging vor die Hütte. Der Rauch verfolgte ihn, seine Augen brannten noch immer, er konnte jedoch wieder etwas freier atmen und goß die dampfende Brühe neben einem Yak, der starr und unbeweglich wie die Statue eines Urzeitviehs dastand, auf den Boden. Erika und der Lehrer traten lachend aus der Hütte. Sie umklammerte ihren Becher mit beiden Händen und nippte daran, als handle es sich um etwas Erlesenes. »Etwas Warmes tut vor einer anständigen Bergtour immer gut«, sagte der Lehrer. Erika nickte und murmelte zustimmend in ihren Becher. Frey beherrschte sich, lächelte sogar und hielt zur Bestätigung, daß der Lehrer recht hatte, seinen leeren Becher in die Höhe. Er hatte keine andere Wahl. Er mußte das Spiel mitspielen. Nach der Expedition würde alles anders sein. Der erste Teil des Aufstiegs stellte für Frey kaum Probleme dar. Er hielt das Tempo der beiden anderen ohne größere Mühe und schaffte es sogar, dabei zu reden. Der Kala Pattar ist nichts anderes als eine Graterhebung, die bei Gorakshep beginnt. Der Weg war einigermaßen gut begehbar. Geröll, manchmal größere Steinbrocken, dazwischen sogar zähes Weidegras und breite Schneefelder. Das Elend begann für Frey etwa hundert Höhenmeter vor dem Ziel. Der Atem wurde kürzer, die Beine wurden schwerer, und der Hals begann wieder zu schmerzen. Zum Glück kamen keine Kopfschmerzen. Als die beiden anderen bemerkten, daß Frey Probleme hatte, verlangsamten sie das Tempo, es war jedoch trotzdem noch immer zu schnell für ihn.
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Frey blieb schnaufend stehen, vorgebeugt, die Arme auf den Stock gestützt. »Geht’s nicht mehr?« fragte der Lehrer. »Dann rasten wir eben eine Weile«, sagte Erika. Frey hob einen Arm und schüttelte den Kopf. »Geht nur weiter«, schnaufte er, »ich bin bald wieder in Ordnung. Muß der verdammte Tee sein. Kein Wunder, bei dem Dreck.« Sie blieben bei ihm, bis er wieder ruhiger atmete. »Du bist eben etwas langsamer als wir«, sagte der Lehrer und winkte ab, bevor Frey protestieren konnte. »Kein Werturteil, nichts Schlimmes. Es gibt viele gute Bergsteiger, die langsamer sind und trotzdem immer ans Ziel gelangen. Sie haben eben ihr Gehtempo, und das dürfen sie nicht verlassen.« »Keine Sorge«, sagte Erika, »wir bleiben bei dir!« Es war Mitleid, blankes Mitleid, und Frey hätte vor Wut aus der Haut fahren können, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Nach der Rast ging es wesentlich besser. Frey brauchte den anderen nicht mehr nachzuheizen, weil sie nun sein Tempo gingen, und fand bald eine Schrittfrequenz, bei der er sich einigermaßen wohl fühlte. Als sie oben ankamen, war er zwar müde, aber nicht entkräftet. Erika und der Lehrer hatten schon während des Aufstiegs immer wieder zum Everest hinübergeblickt und das, was sie sahen, mit Begeisterung kommentiert. Frey fand erst jetzt die Zeit, den Berg der Berge genauer zu betrachten. Er wuchs mit breiter Wucht in den Himmel, erschien im Vergleich zu anderen Bergen, wie dem Ama Dablang etwa, wie ein dicker Koloß, der auch an eine etwas zu flach geratene ägyptische Pyramide erinnerte. Schwarzer Fels, mit unzähligen größeren und kleineren blitzweißen Eis- und Schneefeldern gesprenkelt. Der Südgipfel ragte wie eine kleine Nase aus dem Grat, darüber der Gipfel, keine spitze Zacke, sondern leicht
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abgerundet, das Ende des Grats, auf dem sie aufsteigen wollten, und der Beginn eines anderen, der schon in Tibet liegt. Frey spürte eine Ergriffenheit, die ihm bisher fremd gewesen war. »Er ist auch nur ein Berg. Zufällig ein bißchen höher als andere«, hatte er zu Hause zu einem Angestellten gesagt, der schon beim Aussprechen des Namens Everest vor Ehrfurcht gezittert hatte. Was jetzt vor ihm stand, war mehr als nur ein Berg. Es war auch mehr als nur der höchste Berg. Es war der Everest! Frey fühlte zum ersten Mal in seinem Leben, daß auch etwas scheinbar Lebloses wie dieser gewaltige Felskoloß Persönlichkeit besitzen kann. Im Augenblick strahlte er Ruhe, beinahe Sanftmut aus. Majestätische Geduld. Der Schneeschleier, den der Wind vom Gipfelgrat blies, war nur ein zarter Nebel. Der Weg zum höchsten Punkt dieser Welt war frei. Es war ein Tag, an dem es der Riese gleichgültig erdulden würde, daß lästige Menschlein auf seinem Rücken herumkrabbelten. Dafür war es jedoch noch zu früh. Die Menschlein formierten sich erst zu seinen Füßen und bereiteten den Generalangriff vor. So gutmütig wie heute war der Everest nur selten. Auch Erika und der Lehrer hatten den Anblick stumm auf sich einwirken lassen. Sie räusperte sich und holte damit auch die anderen aus ihren Gedanken. »Ich werde ihn jetzt fotografieren«, sagte sie. Alle drei holten wie auf Kommando ihre Kameras aus den leichten Rucksäcken. Der Lehrer streckte seine Hand aus und zeigte in Richtung Gipfel. »Dort oben«, sagte er, »neben dem Südgipfel liegt immer noch die Leiche von Rob Hall!«
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»Und einige andere«, sagte sie. Hans Frey wurde plötzlich kalt. Mit einem Mal wußte er, daß er diesem Berg nie und nimmer gewachsen war. Daß das, worauf er sich eingelassen hatte, kein käufliches Abenteuer, sondern ein Kampf auf Leben und Tod war. Erika und der Lehrer ließen neben ihm ihre Kameras klicken. Frey war klar, daß seine persönliche Mutprobe nicht darin bestehen würde, möglichst hoch hinaufzugelangen, sondern in der Entscheidung lag aufzuhören, solange er noch eine Überlebenschance hatte. Erika senkte die Kamera und blickte ihn an. Er liebte sie, doch zweifelte er noch immer, ob sie ihn auch liebte. Wirklich liebte. Er hatte sie schon geliebt, als er sie zum ersten Mal im Fernsehen gesehen hatte. Das hautenge Paddler-Outfit, das wirre, brünette Haar, der Blick, den sie dem Interviewer zugeworfen hatte, eine Mischung aus Schalk und Verwegenheit. Er hatte sich sofort als Sponsor eingeschlichen, ihr dann den Job angeboten und mit seinem Heiratsantrag auf den exakt richtigen Moment gewartet. Die Scheidung von seiner ersten Frau hatte ihn viel Geld gekostet, doch er hatte es gern ausgegeben. Erika war seine Traumfrau. Und er wollte sie mit allen Mitteln behalten. Mit dem Everest wollte er auch ihr beweisen, daß man mit achtundvierzig noch ein ganzer Kerl sein kann. Bisher hatte er eine eher jämmerliche Figur abgegeben. Doch blieb ihm noch Zeit, alles ins rechte Lot zu bringen. Frey blickte noch einmal in Richtung Gipfel und dachte daran, was Erika wohl lieber wäre: ein toter Held oder ein lebender Versager.
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Richter Im Grunde genommen war der Anmarsch zum Basislager nichts anderes als eine Wanderung. Bergauf, bergab, mit Ruhepausen, in einer Landschaft, die in Zeitlupe an einem vorbeizog. Außer dem physischen Akt des Gehens hatte das, was Richter jetzt tat, nur sehr wenig mit seinen bisherigen Erfahrungen gemeinsam. Ihm fehlte die alles beschwichtigende Ruhe, die die Alpen auf ihn ausstrahlten. Die heilsame Stille und Geborgenheit, die in den Zeiten seiner schlimmsten inneren Zerrissenheit wie Medizin gewirkt hatte. Hier war es umgekehrt. Hier war er bisher ein Rastloser, der ein Ziel erreichen wollte. Der Weg blieb trotz der faszinierenden Naturschauspiele und der Exotik, die ihn begleiteten, nur Mittel zum Zweck. Er wollte ihn möglichst rasch hinter sich bringen, weil ihn der ständig wiederkehrende Gedanke an das Ziel mit Unruhe und Ungeduld erfüllte. Zugleich gebot ihm jedoch die Vernunft, sich Zeit zu lassen, weil sich der Körper so besser an die zunehmende Höhe gewöhnen konnte. Der Anmarsch war für alle Expeditionen der erste Schritt zur Akklimatisierung. Die meisten, das wußte Richter aus seinen Büchern, hatten in dieser Phase ähnlich empfunden wie er. Die Schönheit des Landes, die Eigenheiten der Menschen, das Mystische und Spirituelle, das dieser Teil Asiens ausatmete, lernte man erst beim Rückmarsch kennen und schätzen. Dann, wenn das Rendezvous mit dem Mount Everest beendet war. So oder so. Der Weg war schmal und steinig. Zwei Menschen konnten kaum nebeneinander gehen, der Yakdung am Boden bewies jedoch, daß er breit genug für die zotteligen Urzeitviecher war. Richter glaubte nicht, daß es Werkzeuge gewesen waren, die
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ihn in den steilen Hang gekerbt hatten. Mensch und Tier hatten ihn mit unzähligen Schritten über die Jahrhunderte geschaffen. Nancy ging vor ihm. Ihre Gegenwart tat ihm wohl. Sie lenkte ihn ab und nahm ihm einen Teil der nagenden Ungeduld. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit dachte er wieder an Sex. Wann hatte er zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen? Es war Anna gewesen, selbstverständlich. Vor dem Tod des Jungen. Danach hatten sie einander nie mehr berührt. Nicht einmal für einen flüchtigen Abschiedskuß, als sie endgültig auseinandergegangen waren. Frauen und Liebesabenteuer hatten ihn nie so gereizt wie die anderen Männer im Büro. Er wollte eine intakte Familie und viel Freiraum für sich selbst. Jetzt hatte er nur noch den Freiraum. Unendlich viel davon. Nancy drehte sich während des Gehens kurz zu ihm um. Ihr Gesicht war von der Anstrengung des Bergaufstapfens gerötet, ein paar Haarsträhnen klebten an der Stirn, sie lächelte ihm zu, und er lächelte zurück. Bald würde es kein Lächeln mehr geben. Vielleicht würde es nie mehr ein Lächeln geben. Würde er es vermissen? Er hatte es bis jetzt nicht vermißt, weil es für ihn nur Albert Richter gegeben hatte. Er hatte nicht einmal gelächelt, wenn er sich selbst im Spiegel gesehen hatte. Das hagere Gesicht, das lange Haar, das immer grauer wurde, die grauen Bartstoppeln, die jetzt, wo er keinen Spiegel mehr hatte, zu einem Bart gewachsen waren, die dunklen Augen, die tiefer werdenden Falten in der sonnenbraunen Haut. Sein Aussehen war ihm völlig egal. Funktionieren mußte er. Gesund und leistungsfähig sein, weil er den Körper als Fortbewegungsmittel brauchte. Pangpoche liegt laut Karte auf 3985 Metern Höhe. Eines jener winzigen Sherpadörfer, bei denen man sich überlegt, warum sich die Menschen ausgerechnet hier angesiedelt haben,
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wo es doch unten in den Tälern viele leere Plätze gibt, an denen einem die Natur das Leben viel leichter macht. Ursprünglich waren diese Dörfer Almen, Hochweiden für Yaks, Ziegen, Schafe. Nur während des nepalesischen Sommers bewohnt. Jetzt sind sie hauptsächlich Stützpunkte für Trekker, und die Hirten von einst sind Wirte oder Kaufleute. Ein paar Kinder, rotzig und wie alle in dieser Gegend mit fehlenden Hosenböden, riefen ihnen ein paar englische Grußworte zu, ein größerer Bub fragte sie, ob sie Tee und etwas zu essen wollten. Nancy blickte Richter fragend an, der zuckte die Schultern, dann folgten sie dem Jungen in eine Hütte, die offenbar dessen Eltern gehörte. Im Inneren war es düster, und der Rauch des Holzfeuers biß in den Augen. Der Junge half ihnen beim Ablegen der Rucksäcke, dann führte er sie zu einem wackeligen Holztisch, um den man sechs wackelige Holzstühle gruppiert hatte, und bat sie, sich zu setzen. Nancy wischte mit dem Handrücken die nassen Haarsträhnen von der Stirn und atmete tief durch. »Viertausend Meter sind für jemanden, der so fett ist wie ich, eine ziemliche Tortur!« Richter hob die Augenbrauen und begann, nach einer Antwort zu suchen, sie kam ihm jedoch zuvor. »Ich weiß, wer ich bin und was ich bin, und wenn ich etwas scheinbar Negatives über mich sage, dann brauche ich keine tröstenden Höflichkeitsfloskeln, weil ich keinen Wert auf hohle Komplimente lege.« »Frauenpsychologie«, stöhnte Richter. Sie lachte und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. »Keine Psychologie«, sagte sie, »nur das, was ich bin.« Der Junge drückte beiden einen abgegriffenen Zettel in die Hand. Irgendwer hatte irgendwann auf einer steinzeitlichen Schreibmaschine eine Speisekarte darauf getippt. Schwarzer
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Tee, tibetischer Tee, Tee mit Milch, Tee mit Rum, Nescafe, Bier, Spiegeleier mit Bohnen, Frankfurter Würstchen, Yakjoghurt mit Ahornsirup. Die Preise waren dreimal durchgestrichen und jedesmal mit der Hand nach oben korrigiert worden. »Willkommen im ›Waldorf Yak-Oria‹«, sagte Nancy. Die Eier schmeckten nach Yakbutter und Rauch, die Bohnen kamen aus einer Heintz-Dose, und nach dem dritten Rumtee begannen sie ernsthaft zu überlegen, ob sie ihren Weg, wie geplant, bis Pheriche fortsetzen oder gleich hier lagern sollten. Richter hatte nie viel Alkohol getrunken, nur das notwendige Höflichkeitsglas. Zuletzt hatte er das Zeug überhaupt nicht mehr angerührt. Doch als Nancy die Sache mit dem Rum vorschlug, hatte er sich nicht dagegen gewehrt. Der starke Schnaps war ihm sofort zu Kopf gestiegen. Nicht unangenehm. Den zweiten Rumtee hatte bereits er bestellt und den dritten auch. Bis Thyangboche hatte er nur an den Berg gedacht. Tagsüber während des Gehens und abends im Zelt. Der Berg war zu einer Person geworden, er hatte sich ihm in seinen gedanklichen Konversationen immer mehr angenähert. Nur bis zum Gipfel. Richter war in dieser Hinsicht bescheidener als alle anderen. Er bat den Berg nur darum, ihn auf den Gipfel steigen zu lassen. Das Gefühl der Gefühle. Jeder, der so auf Berge geht wie Richter, Gipfel sammelt wie andere Briefmarken, kann nur dieses Ziel haben: den höchsten zu erklimmen! Danach war das Nichts. Das Ende. Es gab keine Steigerung mehr – für Richter würde es nur die Rückkehr in ein Leben geben, das keines mehr war. Klipp und klar und ohne Schnörkel: Er, Albert Richter, war hierhergekommen, um Selbstmord zu begehen. Das hatte er dem Berg auch immer wieder gesagt: Gib mir den Gipfel, und ich gebe dir dafür mein Leben!
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Seit Thyangboche hatte er nie mehr mit dem Berg geredet. Sein Ziel war unverändert geblieben. Nur ahnte er, daß er sich den Weg dorthin angenehmer gestalten könnte. Keinen Rum mehr, der schwächt den Körper. Aber Nancy. Ihre Nähe, ihr Lächeln, die verrückten Gespräche. Ihren Körper. Richter beschloß, daß er keine Eile hatte und daß es bedeutungslos war, wenn der Anmarsch um einen Tag länger dauerte. Nancy konnte ihn nicht daran hindern, auf den Berg zu gehen. Sie konnte jedoch bis dorthin die dunklen Gedanken von ihm fernhalten.
Die Expedition Gyalzen war damals zwar erst vier Jahre alt gewesen, er erinnerte sich jedoch sogar noch an die Gesichter. Vielleicht, weil er einige davon später wiedergesehen hatte. Immer wieder waren Expeditionen durch sein Dorf gezogen, doch keine war ihm so stark in Erinnerung geblieben wie die erste, die er gesehen hatte. Es war im Frühjahr des Jahres 1978 gewesen. Sie hatten in Namche Bazar gelagert und waren über Syangyboche, wo sie den Flughafen und das berühmte »Everest View Hotel« besichtigt hatten, in sein Heimatdorf Khumjung gekommen. Viele Träger, viele Yaks, viele Sahibs. Und viele geheimnisvolle blaue Plastikcontainer, in denen sie das Expeditionsgepäck verstaut hatten. Einige Sahibs hatten an seinem Haus angeklopft und nach seinem Vater gefragt. Große, hellhäutige Männer mit Barten. Sein eigenes Gesicht war rotzverkrustet gewesen, und seine
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Hose hatte am Hinterteil den ominösen Schlitz gehabt. Einer der Sahibs schnitt die komischsten Gesichter, wohl um ihm anzuzeigen, daß er in die Kamera lächeln sollte. Gyalzen hatte es nicht getan. Der Sahib hatte ihn trotzdem fotografiert. Einer der Sahibs hatte dann seinen Vater umarmt. Gyalzen erfuhr erst viel später, daß Urkien, sein Vater, und der hagere, bärtige Mann, gemeinsam zwei Expeditionen erlebt hatten. Die Berge waren der Makalu und der Manaslu gewesen, sein Vater hatte dort als Sirdar die Arbeiten der Sherpa koordiniert. Der Sahib hieß Wolfgang Nairz und war als Leiter einer österreichischen Expedition zurückgekommen, die später in die Everest-Geschichte eingehen sollte. Weil zwei Mitglieder in diesem Jahr das scheinbar Unmögliche möglich machten: Peter Habeier und Reinhold Messner hatten wenige Wochen nach dem Besuch in seinem Elternhaus den höchsten Punkt der Erde erreicht, ohne Luft aus mitgeführten Sauerstoffflaschen gesaugt zu haben. Nur mit der Kraft ihrer eigenen Lungen. Gyalzen erinnerte sich nur an die Gesichter, nicht an die Geschichten. Die hatte er erst viel später gehört. Daß man anfangs an einen großen Schwindel gedacht hatte, daß selbst der große Tenzing Norgay Zweifel angemeldet hatte – und daß das damals Unglaubliche später doch als Tatsache in die Everest-Geschichte eingehen durfte, weil es viele nachgemacht hatten. Er erinnerte sich auch an das Gesicht Ang Phus. Gyalzen war gemeinsam mit einer Schar anderer rotziger Kinder hinter seinem Vater und den Sahibs hergelaufen, als sie von ihrem Haus durch das Dorf zum Haus Ang Phus gegangen waren. Die Österreicher hatten Ang Phu als Sirdar gewählt. Mit Ang Nima und Pasang Sona waren zwei weitere Dorfbewohner angeheuert worden. Eigentlich war Ang Phu zu jung für den Job. Doch er war gebildet und stark, einer für die Zukunft, einer mit Charisma, ein Führer, kein Diener.
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Ang Phu hatte später mit den Österreichern den Gipfel erreicht. Ein Jahr danach hatte ihn der Berg zu sich geholt. Nach seinem zweiten Erfolg am höchsten Punkt der Erde war der Schnee in Gipfelnähe einfach unter ihm abgebrochen, und sein Körper war irgendwo drüben in Tibet für immer verschwunden. Gyalzen hatte als Kind viele Expeditionen hinein- und wieder herausziehen sehen. Und er hatte gewußt, daß er eines Tages mitziehen würde. Weil er durch die glorreiche Vergangenheit seines Vaters und seine eigenen physischen Fähigkeiten zu den Auserwählten gehörte. Nicht jeder aus dem Volk der Sherpas bekam die Chance, als Hochgebirgsträger mehr Geld verdienen zu können als die meisten anderen Nepali. Mingma war ein guter Sirdar, und daß er ihn für diese Expedition angeheuert hatte, war ein Kompliment. Denn das, was vor ihnen lag, war ein Job für Spezialisten. Die Zeiten am Everest hatten sich geändert. Und damit auch die Aufgaben für die Sherpas. Früher hatte man Lasten hinaufgeschleppt, Lager eingerichtet, und die Sahibs waren selbst auf den Gipfel gegangen. Jetzt mußte man Lasten schleppen, Lager einrichten und dem Expeditionsleiter helfen, seine Kunden auf den Gipfel und vor allem wieder ins Tal zu bringen. Mehr Risiko, mehr Geld. Es war Gyalzens vierte Expedition. Viermal Everest. Vielleicht auch ein Grund, warum Mingma ihn ausgewählt hatte. Am Anfang war es immer am härtesten. Die Lasten waren die schwersten, und da war der Khumbu. Immer wieder der Khumbu, bis alles oben im Lager eins war. Jeder kannte die Gefahren des Eislabyrinths, und jeder versuchte, es so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Die Höhe war’s noch nicht, die spürte er kaum. Aber das Gewicht am Rücken, meistens dicke, unförmige Bündel, und die Eile,
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die vonnöten war. Da ging auch einem wie ihm kurzzeitig der Atem aus, und oben brannten die Beine. Mingma hatte vor dem Materialzelt das Zeug ausgelegt, das heute hochmußte. Mindestens zwanzig Kilo für jeden. Gyalzen packte ein Zelt in den Rucksack, füllte den freigebliebenen Raum mit Verpflegung aus und schnürte ein zweites Zelt obendrauf. Die Waage zeigte zweiundzwanzig Kilo für seine Last an. Der schwerste Rucksack gehörte dem blonden Bara Sahib. Er schleppte eine Fünfundzwanzig-Kilo-Last. Wenn er die Sherpas damit beeindrucken wollte, dann gelang ihm das nur bedingt. Es war ihnen egal, wieviel die anderen trugen. Für sie gab es nur die eigene Last und das Problem, damit heil durch den Khumbu zu kommen. Es beruhigte Gyalzen jedoch, daß der Expeditionsleiter zumindest physische Stärke bewies. Wie es mit seinen anderen, ebenso wichtigen Fähigkeiten bestellt war, würde sich erst später erweisen. Wenn es oben am Berg richtig losgegangen war. Das Wetter war ideal, wie auch schon während der letzten Tage. Blauer Himmel, kristallklare, angenehm kühle Luft, kein Wind. Ein perfekter Gipfeltag, dafür war es jedoch noch zu früh. Bei Gyalzens erster Expedition war es genauso gewesen. Herrliches Wetter während der Anfangstage, hochgespannte Erwartungen, beste Stimmung im Basislager und dann der abrupte Wechsel. Schneefall, Nebel, Wahnsinnswinde. Die höheren Lager mußten evakuiert werden, das frustrierende Warten begann. Für zwei oder drei Tage klarte es zwischendurch immer wieder auf, alle, die in der Lage waren, stürmten in die Höhe, viel zu viele erreichten den Südsattel und rannten direkt in den nächsten Sturm. Drei Tschechen hatten es damals trotzdem gewagt. Sie waren kurz nach Mitternacht in den Sturm hineingestiegen und nie
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mehr zurückgekommen. Hoffentlich, dachte Gyalzen, als er vor dem Eisbruch die Steigeisen anschnallte, wiederholt sich der Wahnsinn in diesem Jahr nicht. Allzu viele Gipfeltage schenkte der Everest nicht her. Zehn, zwölf, vielleicht vierzehn pro Saison. Und wenn es diese Tage gab, dann war es gut, wenn man schon am Südsattel oder knapp darunter war. Ein Gipfeltag im Basislager half niemandem. Im Gegenteil. Für Gyalzen war es sinnlos vergeudetes Schönwetter. Etwas Nebel und eine leichte Brise, vielleicht sogar ganz leichter Schneefall wären ihm lieber gewesen. Wieder im Khumbu. Das erste Mal in diesem Jahr. Es war kein Wiedersehen mit einem alten Freund, auch keine Begegnung mit einem erbitterten Feind, eher ein vorsichtiges Abtasten. Angst konnte sich einer, für den der Khumbu zum Arbeitsplatz geworden ist, nicht leisten. Respekt schon. Der Bara Sahib machte den Anfang, dahinter Mingma, dann Dawa. Gyalzen war das Schlußlicht der kleinen Gruppe. Als sie loszogen, sah Gyalzen, daß eine andere Sherpa-Gruppe vom Basislager aufbrach. Sieben Mann, wahrscheinlich von den Amerikanern. Er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Er kannte alle Sherpas hier oben. Einige, die für die Amerikaner arbeiteten, waren wie er aus Khumjung. Der Bara Sahib ging ein zügiges Tempo, doch Gyalzen hatte keine Mühe, ihm zu folgen. Er war überrascht, wie leicht ihm schon jetzt das Gehen mit den Steigeisen fiel. Sonst hatte es immer eine Weile gedauert, bis er sich daran gewöhnt hatte. Es kostete viel Kraft, wenn man die Zacken an den steileren Stellen tief ins Eis rammen mußte, und man mußte genau wissen, wann es wirklich sinnvoll war, diese Kraft einzusetzen. Unroutinierte Eisfallgeher vergeudeten sie an Stellen, an denen es nicht nötig war. Gyalzen hatte gelernt, die Steigeisen so ökonomisch wie möglich einzusetzen. Im Vorjahr hatte er
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einige Teilnehmer beobachtet, die sich in den Khumbu gewagt und offenbar zuvor noch nie Steigeisen an den Schuhen gehabt hatten. Einige von ihnen stellten sich so ungeschickt an, daß sie mit den scharfen Zacken die Kleidung zerrissen und sich sogar blutende Wunden an den Waden zuzogen. Die erste Leiter war etwa zwei Meter lang und lag über einer Gletscherspalte, die so tief war, daß man ihr Ende nicht sehen konnte. Oben glitzerte das Eis an ihren Seiten stahlblau, unten war die Spalte nur noch eine schmale, schwarze Linie. Für den Khumbu-Anfänger erforderte das Überschreiten solcher Brücken einiges an Überwindung. Gyalzen erinnerte sich an seine erste Expedition, als er sich unendlich vorsichtig mit den Steigeisen von Sprosse zu Sprosse getastet hatte und sich dabei wie ein Seiltänzer vorgekommen war, mit einer schweren Last auf dem Rücken bei der ultimativen Mutprobe. Damals wäre er am liebsten auf allen vieren darübergekrochen, die Last hatte dies jedoch verhindert. Als Vierbeiner wäre sie ihm wahrscheinlich über den Kopf gerutscht und hätte ihn aus dem Gleichgewicht gerissen. Das Gefühl hatte sich auch nach Dutzenden solcher Spaltenüberquerungen kaum verändert. Es war immer noch eine Mutprobe, die man nie mit Routine, sondern nur mit Vernunft und äußerster Vorsicht bewältigen konnte. Der Weg durch das immer bizarrer werdende Eislabyrinth war gut versichert. Besser als in den Jahren zuvor. Wo immer es möglich war, hatte man Fixseile angebracht und Hindernisse, die man sonst kräfteraubend hätte umgehen müssen, mit Leitern überbrückt. Nach einer Stunde machte Steiner zum ersten Mal Pause. Die Gruppe blieb auf einem kleinen Plateau am Fuße eines gewaltigen Eisturmes stehen. Gyalzen atmete, den Oberkörper auf den Stock gestützt, kräftig durch. Der Bara Sahib nahm seinen Rucksack ab und streckte sich stöhnend.
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Keiner redete, weil es nichts zu reden gab. Alles lief nach Plan. Gyalzen ließ die Last am Rücken. Wenn er sie abnahm, würde sein Körper so leicht werden, daß der Rucksack später doppelt schwer wog. Er blickte zurück und sah, daß die Siebenergruppe, die er vom Basislager hatte aufbrechen sehen, nicht mehr allzuweit entfernt war. Die Gesichter konnte er allerdings noch immer nicht erkennen. Der Bara Sahib schulterte seine Last, und sie gingen weiter. Der Eisturm war höher als jedes Haus, das Gyalzen bisher gesehen hatte. Der Weg führte links an ihm vorbei und stieg dann steil an. Gyalzen hieb die Zacken ins Eis und stapfte mit kurzen, kräftigen Schritten hoch. Auf halber Höhe hörte er plötzlich ein Krachen über sich, er warf sich instinktiv gegen den Hang und schützte den Kopf mit seinen Händen. Die Männer über ihm brüllten eine Warnung, im nächsten Augenblick donnerte eine kleine Lawine faustgroßer Eisbrocken an seiner linken Schulter vorbei. Als er sich aufrichtete, hörte er weiter unten einen Schrei, dann schrien mehrere. Gyalzen und die anderen stiegen, so rasch sie konnten, bis zum Ende des Eishanges hoch und legten dort die Lasten ab. »Ich gehe zurück«, sagte Mingma, und Gyalzen erklärte sich sofort bereit, mitzukommen. »Beeilt euch«, drängte der Bara Sahib. »Wir haben noch ein ziemliches Stück vor uns.« Hundert Meter tiefer lag ein Sherpa im Schnee. Es war Nima Tsering, ein junger Mann aus Thame. Einer der Eisbrocken hatte ihn am Kopf erwischt und eine klaffende, stark blutende Wunde in die Stirn geschlagen. Man hatte ihm die Last bereits abgenommen, und zwei aus der Gruppe bemühten sich nun, ihn wieder auf die Beine zu stellen.
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Nima Tsering war benommen, und die Hände, mit denen er immer wieder nach der Wunde griff, waren blutverschmiert. »Es geht schon«, stammelte er, »es ist nur ein Kratzer, ich kann weitergehen.« Gyalzen nahm sein Halstuch ab und band es über die Wunde. »Einer von euch muß ihn ins Basislager bringen«, sagte Mingma. Nima Tsering versuchte ein Lächeln. »Ich gehe weiter«, sagte er, »macht euch keine Sorgen um mich!« »Du kannst froh sein, daß du nicht tot bist«, antwortete Mingma. Er war zwar Mitglied einer anderen Expedition, genoß als Sirdar jedoch auch bei den anderen Respekt. Seine Autorität reichte sogar so weit, daß sich Ang Dale aus Khumjung auf Mingmas Anweisung hin sofort und widerspruchslos bereit erklärte, den Verletzten nach unten zu bringen. Die Lasten der beiden blieben am Unfallort zurück. Morgen konnten andere sie hochtragen. Es war der erste Unfall in diesem Jahr, und Gyalzen fragte sich, wie viele Opfer der Khumbu bis zum Ende fordern würde. Er wußte, daß es auch ihn hätte treffen können. Vernunft, Vorsicht oder Routine zählten in einem solchen Fall nicht. Sie hatten einfach Glück gehabt. Und deutlicher denn je wurde dem jungen Sherpa bewußt, daß er dem Berg ausgeliefert war. Nur der Berg bestimmte hier die Spielregeln.
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Richter Irgendwann am späten Nachmittag verließen sie die Hütte. Der Schnee auf den umliegenden Bergen ließ den zu Ende gehenden Tag noch heller strahlen, und eine leichte Brise strich kühl über ihre Gesichter. Als sie auf einer Wiese am Dorfrand ihre Zelte aufstellten, zog eine Yak-Karawane an ihnen vorbei. Die Tiere trugen keine Lasten, nur die leeren Traggestelle. Zwei Sherpas, wahrscheinlich Vater und Sohn, führten den Zug an. »Basislager?« fragte Richter und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Ältere nickte und wies in die Gegenrichtung. »Heute Thyangboche, morgen Namche«, sagte er. Das Wohin interessierte Richter nicht im geringsten, es war das Woher, das ihn in beinahe kindliche Aufregung versetzte. Das Ziel war zum Greifen nah. Die Männer und die Yaks waren gestern oder vorgestern noch dortgewesen. Was trotz seiner Entschlossenheit und Zielstrebigkeit bis jetzt immer noch mehr Traum als Realität gewesen war, nahm konkrete Formen an. Richter spürte, wie die Spannung in ihm zu wachsen begann. So ähnlich mußte sich ein Boxer fühlen, der sich monatelang auf einen Kampf vorbereitet hat und sich jetzt auf dem Weg zum Ring befand. Er ging neben dem Mann her, zurück in Richtung Dorf. »Wie sieht es dort aus?« fragte er. Der Sherpa zuckte die Schultern, sein Englisch war gerade noch verständlich. »Wie immer«, sagte er, »viele Zelte, viele Menschen, viel Eis, viele Felsen, der Khumbu.« »Wie viele Expeditionen?« setzte Richter nach. Wieder Schulterzucken.
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»Nicht gezählt. Zehn, fünfzehn.« Er runzelte die Stirn und dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, nicht mehr als fünfzehn.« »Wie ist der Weg?« fragte Richter. »Weg gut«, antwortete der Sherpa und lächelte erstmals. »Für Sahib und Frau drei Tage. Wenn schnell, zwei.« Richter bedankte sich und nickte einen Gruß, dann ging er zurück zur Wiese und zu Nancy. »Was war das?« fragte sie. »Eine Versorgungskarawane für das Basislager«, antwortete er. Sie schüttelte den Kopf. »Für dich war’s der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren. Du bist ja jetzt noch völlig aufgeregt.« Sie wußte nichts über ihn und die großen Expeditionen. Ihr Landsmann Hillary hätte ihn verstanden und Bonington, vielleicht auch Messner. Sie mußten vor der ersten hautnahen Begegnung mit dem Berg dasselbe Kribbeln gespürt haben, die Unruhe, das Wachsen der Spannung. Wenn es Holz gegeben hätte, dann hätte er ein Lagerfeuer gemacht. Sie waren vom Essen im Dorf noch so satt, daß sie nicht einmal etwas kochten. Sie saßen auf den Liegematten vor Richters Zelt und teilten die Stille der einbrechenden Nacht. Der Himmel verzichtet hier oben auf eine längere Dämmerung und überzieht das Land zu wolkenfreien Zeiten rasch mit einem atemberaubenden Sternenhimmel, der Millionen Lichter aus der Ewigkeit herabglitzern läßt. Irgendwann begannen sie, die Sterne zu zählen, und dann erzählte er ihr von Anna und von Christoph. Sie hielt seine Hand und streichelte sie. »Ich habe gewußt, daß du vor irgend etwas davonläufst«, sagte sie nach einer Weile, »ich habe jedoch nicht gewußt, daß
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es dein Leben ist.« Er zog die Hand zurück und richtete sich auf. Sie drückte ihn sanft wieder auf die Matte zurück. »Du willst auf den Berg«, sagte sie. »Auf den Mount Everest!« Richter spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg wie jemandem, der gerade einer Lüge überführt worden war. Er fühlte sich ertappt, bloßgestellt, nackt. Er wollte protestieren, lügen, sein Geheimnis von ihr zurückholen, tat es aber nicht. Sie legte sich neben ihn und schlang ihre Arme um seinen Körper. »Sag nichts«, flüsterte sie, »sag jetzt gar nichts.« Sie küßte ihn, zuerst zart, dann immer leidenschaftlicher. Richter nahm sie in die Arme und suchte unter der dicken Kleidung nach ihrer nackten Haut. Sie war weich und warm, und ihre Lippen schmeckten nach Honig oder süßem Kuchen, nach allem, was er liebte und schon so lange nicht mehr gehabt hatte. Richter hatte nie gewußt, ob er ein guter Liebhaber war. Nach den ersten, eher enttäuschenden Jugenderfahrungen war Anna gekommen und der Sex, der anfangs regelmäßig stattgefunden hatte und für beide meistens auch erfüllend gewesen war, war nach der Geburt des Jungen immer seltener und langweiliger geworden. Anna hat nie über Sex geredet, sie ließ ihn geschehen. Zuletzt nicht einmal mehr das. Und Richter hatte nichts unternommen, um die Situation zu ändern. Insgeheim war er sogar froh darüber. Er hatte seine Berge. In dieser Nacht war alles anders. Nancy gab ihm von Anfang an zu verstehen, daß sie ihn wollte. Sie heizte seinen Körper mit ihren Händen und ihren Lippen auf, dann führte sie ihn ins Zelt und zog ihn langsam aus. Dabei streichelte sie jeden freigelegten Körperteil mit einer Zärtlichkeit, die er nie gekannt hatte. Als ob er etwas unendlich Kostbares und
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Begehrenswertes wäre. Er spürte ihre Hände, ihre Lippen, ihre Brüste, sogar ihr heißer Atem liebkoste seine Haut, und er hörte sich stöhnen, etwas, was er bei Anna nie getan hatte. Bisher war für ihn nach dem ersten Orgasmus alles zu Ende gewesen, mit Nancy begann es erst. Ihr Spiel mit seinem Körper machte nie gekannte Kräfte mobil. Sein Denken war ausgeschaltet, es gab nur noch Gefühle. »Es ist das erste Mal, daß ich auf viertausend Metern Höhe mit einem Mann geschlafen habe«, sagte sie am Ende. »Vielleicht sollte man die Höhenluft abfüllen und als Aphrodisiakum verkaufen!« Er lächelte, dann schlief er mit tiefer Zufriedenheit in ihren Armen ein.
Die Expedition Prem Bahadur Bistra kam aus Katmandu. Er war Hindu, verheiratet, Vater zweier Kinder und Leutnant in der Armee des Königreichs Nepal. Als ihm sein Vorgesetzter mitgeteilt hatte, er müsse als Begleitoffizier einer deutschen Expedition ins Basislager des Mount Everest folgen und dort bis zum Ende der Expedition bleiben, hatte ihm der Auftrag nicht viel ausgemacht. Er war froh gewesen, für einige Zeit von daheim wegzukommen, die Probleme mit dem Haus und den Kindern der Frau überlassen zu können und dort draußen, in der unberührten Natur, so etwas wie einen bezahlten Urlaub genießen zu dürfen. Es war das erste Mal, daß man ihn mit einer Expedition mitschickte. Und eigentlich war der Auftrag ein ehrenvoller. Er
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kannte einige Kollegen, die es immer wieder getan hatten. Die Expeditionsmitglieder hatten ihnen teure Ausrüstungsgegenstände geschenkt, und offenbar hatten sie auch kräftig dazuverdient. Schon der Anmarsch war alles andere als eine Urlaubswanderung gewesen. Prem Bahadur war erst dreißig Jahre alt und hatte immer geglaubt, er wäre in guter körperlicher Verfassung, hier hatte er jedoch sein Allerbestes geben müssen, um den Ort seines neuen Aufgabenbereiches überhaupt erreichen zu können. Jetzt hauste er mit einer Liegematte und einem Daunenschlafsack in einem Zelt, das auf einem Gletscher stand, und wußte nicht, wie er die Zeit totschlagen sollte. Eigentlich wußte er auch nicht, warum er überhaupt hier war. Die Expeditionsmitglieder besaßen alle notwendigen Genehmigungen, hatten alle Gebühren an die Regierung abgeliefert und hielten sich auch an die Müllbestimmungen. Nichts durfte in der freien Natur deponiert werden, alles, was weggeworfen wurde, mußte so gelagert sein, daß man es später problemlos wegtransportieren konnte. Für die Notdurft hatte man, wie die anderen Expeditionen, eine kleine Steinhütte errichtet, die mit einer Plane überdacht und mit Behältern für die Fäkalien ausgestattet war. Eine eigene, gut bezahlte Sherpa-Crew würde die Gülle am Ende der Expeditionszeit vom Gletscher schaffen und draußen, an einem dafür geschaffenen Ort, entsorgen. Prem Bahadur schätzte, daß sich im Augenblick mindestens dreihundert Menschen hier aufhielten, und er hatte nachgerechnet. Wenn von jedem täglich ein halbes Kilo ausgeschieden wurde, dann ergäbe das hundertfünfzig Kilo pro Tag. Wenn sich jeder durchschnittlich zwanzig Tage lang – die Zeit am Berg zählte für seine Rechnung ja nicht – im Basislager aufhielt, dann würden sich bis zum Ende der Expeditionszeit drei Tonnen Scheiße angesammelt haben. Ein
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wahrhaft gewaltiger Haufen. Es war Teil seiner Aufgabe, darauf zu achten, daß die Gedärme der Mitglieder seiner Expedition auch wirklich am dafür vorgesehenen Ort entleert wurden. Mit den Sherpas hatte er keine Probleme. Sie begegneten ihm mit Respekt und gaben ihm bereitwillig Auskunft auf alle Fragen. Sie gehörten zwar einem anderen Kulturkreis an, waren Buddhisten, und er befand sich in ihrem Land. Doch schließlich waren sie alle Nepali, und er hatte als Armeeoffizier im Normalfall die Aufgabe, dieses Land und seine Bewohner zu schützen. Auch die Sherpas. Hier war es allerdings nicht so. Hier, in dieser seltsamen, für ihn so fremden Umgebung, wurde er, der Armeeoffizier aus der Hauptstadt, von den Sherpas beschützt. Jede Expedition hatte die Pflicht, einen Begleitoffizier mitzunehmen. Den größeren, wie jener der Amerikaner oder den zwei japanischen und der italienischen, hatte man sogar eigene Mülloffiziere zugeteilt. In Katmandu achtete man seit einiger Zeit darauf, daß das Land, das von den Fremden so begehrt war, auch sauber blieb. Die Kosten dafür trugen selbstverständlich die Fremden selbst. Was oben am Berg in dieser Hinsicht geschah, wußte Prem Bahadur Bistra nicht genau. Er wußte allerdings, daß man von Zeit zu Zeit Sherpas hochschickte, die den Auftrag hatten, Müll vom Berg zu schaffen. Hunderte Sauerstoffflaschen, die man in der Todeszone, vor allem jedoch auf dem 8000 Meter hohen Südsattel, der letzten Bastion vor dem Gipfelsturm, zurückgelassen hatte, fanden auf diese Art wieder den Weg ins Tal. Bistra wußte aber auch, daß Hunderte noch oben waren und daß in diesem Jahr wieder viele dazukommen würden. Abends saß er meistens mit einigen seiner Offizierskollegen beisammen. Einige der älteren und höherrangigen waren echte Respektspersonen und wurden von den Sherpas auch als solche
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behandelt. Die Küchenmannschaften der einzelnen Expeditionen versorgten sie mit allem, was sie brauchten, und hätten sie sich nicht in Zelten auf einem unwirtlichen Gletscher befunden, dann hätte man ihr Dasein als Luxusleben bezeichnen können. Die Alten wußten alles über den Berg. Auch daß dort oben Dutzende von Toten lagen. Einige der Leichen hatte man in Gletscherspalten geworfen, andere lagen einfach dort. Steifgefroren, von der Kälte mumifiziert. Irgendwann deckte sie der Schnee zu, irgendwann blies sie der Wind wieder frei. Ein Sherpa hatte von einem halben Körper erzählt, den er vor einigen Expeditionen in der Lhotse-Flanke gesehen hatte. In der Mitte abgebrochen wie ein Eiszapfen. Es war der untere Teil gewesen. Mit Daunenhose, Schuhen. Alles bestens erhalten, wie neu. Irgendwann würde vielleicht irgendwo dort oben auch der obere Teil auftauchen. Tote schockieren die erfahrenen Sherpas schon lange nicht mehr. Sie haben auf diesem Berg schon zu viele gesehen. Prem Bahadur Bistra war noch nie hiergewesen, ihn hatte die Erzählung tief getroffen. Der Berg raubte den Menschen nicht nur das Leben, er raubte ihnen nach dem Tod auch noch die Würde. »Warum«, hatte er die Sherpas gefragt, »geht ihr hinauf und schleppt nutzlose, leere Sauerstoffflaschen ins Tal? Warum bringt keiner die Toten herunter?« Die Sherpas hatten keine Antwort gewußt. Sie hatten nur die Schultern gezuckt. Das war einfach so. Immer schon so gewesen. Wer auf dem Mount Everest starb, der blieb oben. Das war zu einer Art makaberer Tradition geworden. Jeder, der hierherkam, um den Berg zu besteigen, wußte davon. Für die Entsorgung des Mülls gab es genaue Verordnungen, für die Toten gab es keine. Prem Bahadur Bistra hatte viel Zeit zum Denken. Er grübelte
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lange darüber nach, ob man – emotionslos betrachtet – auch einen toten menschlichen Körper als Müll bezeichnen konnte. Wenn ja, dann hätte die nächste Reinigungsexpedition wohl auch die Aufgabe, die Leichen zu beseitigen. Er beschloß, sich nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt genauer mit diesem Thema zu befassen.
Richter Der Morgen war ernüchternd. Nancy lag neben ihm und schnarchte leise. Richter dachte an die Nacht und schämte sich jetzt fast dafür, daß er sich so hatte gehen lassen. Schließlich war sie eine Fremde. Vor sechsunddreißig Stunden hatte er noch keine Ahnung gehabt, daß es sie gab. Der erwachende Morgen gab der Zeltwand langsam wieder ihre Farbe zurück. Richter überlegte, was er Nancy über sich erzählt hatte. Viel war es nicht gewesen. Anna, Christoph, ein paar Worte über seinen Beruf, die Stadt, aus der er kam. Vom Everest hatte er nichts gesagt. Irgend etwas mußte ihn verraten haben. Er dachte nach, was es hätte gewesen sein können, fand jedoch nichts. Sie hatte ihm klar zu verstehen gegeben, daß sie von Bergsteigern nicht allzuviel hielt. Je extremer, desto weniger. Ein Wort von ihr zu einem der Begleitoffiziere im Basislager würde genügen, um sein Vorhaben zu stoppen, bevor es überhaupt beginnen konnte. Er war ihr ausgeliefert, und das machte ihm Angst. Doch noch war es ja nur eine Vermutung von ihr. Noch hatte
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er das, was sie in der Nacht zu ihm gesagt hatte, mit keinem Wort bestätigt. Vielleicht hatte sie es schon wieder vergessen. Richter schloß die Augen und schwor sich selbst, daß es nichts geben würde, das ihn von seinem Plan abbringen könnte. Er hatte lange gebraucht, um zu erkennen, daß alles, was er in seinem Leben getan hatte und was sein Leben mit ihm getan hatte, zu dem Weg geführt hatte, den er nun ging. Es war eine Einbahnstraße und möglicherweise eine Sackgasse. Es gab nur einen Wegweiser, und auf dem stand nur ein Wort: »Everest.« Als sie sich zu regen begann und das gurgelnde Schnarchen einstellte, hatte er sich selbst wieder fest im Griff. Sie streckte die Hände nach ihm aus, und er ließ es zu, daß sie ihn umarmte. Er ließ es auch zu, daß sie sich noch einmal liebten, bevor sie aufstanden. Drüben im Dorf war es noch still. Ein paar Yaks hoben sich wie stumme Statuen vom Morgenhimmel ab. Sie kochten Tee, und mit dem Rest des Wassers, das noch in den Flaschen war, wuschen sie sich die Gesichter und putzten sich die Zähne. Sie redeten nicht viel, wenn sich ihre Blicke jedoch trafen, lächelten sie einander zu. Als sie aufbrachen, kroch die Sonne gerade über den Horizont. Der Weg führte einen Hang entlang und stieg stetig an. Immer wieder gingen sie an Chörten und Manimauern vorbei. Stumme, steinerne Gebete, die, wie Nancy laut dachte, wohl errichtet worden waren, um die Götter zu bitten, Nachsicht mit den kleinen, unvollkommenen Menschenkreaturen zu haben, die es gewagt hatten, in ihre Welt vorzudringen. Nach einer Weile erreichten sie die Stelle, an der sich der Khumbu- und der Imaja-Bach trafen und die Täler sich teilten. Sie betraten eine weite Talebene, die vielleicht einen halben Kilometer breit war, das Bächlein plätscherte durch eine
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dürftige Almwiese. Das Dörfchen Pheriche, auf über 4200 Metern, wird von einer überwältigenden Bergkulisse umrahmt. Richter kannte jeden Gipfel aus seinen Büchern. Den Taboche, 6542 Meter hoch, mit seiner gewaltigen Ostwand ausgestattet, den Ama Dablan und den 6145 Meter hohen Lobuche. Er wußte, daß sich im Umkreis von nur zwölf Kilometern dreiundzwanzig Sechstausender auftürmten. Nancy wußte etwas anderes über den Ort. »Ich habe vor einigen Jahren in Neuseeland eine Ärztin getroffen, Janet Madden, sie hat mir erzählt, daß sie einige Monate lang in Nepal war und in einem kleinen Krankenhaus im Sherpaland gearbeitet hat. Hier, in Pheriche. Ich würde gerne dort vorbeischauen. Wenn du nicht mitkommen willst, kannst du dich ja in ein Haus setzen und ein feudales Mittagessen bestellen. Ich bin sicher, daß es auch hier HeintzBohnen gibt.« Er ging mit ihr mit, und sie trafen eine amerikanische Ärztin, die ihnen erzählte, daß das kleine Krankenhaus 1973 von der Himalayischen Rettungsorganisation (HRA) gegründet worden war, weil immer mehr Trekker in dieser Gegend an der Höhenkrankheit gestorben waren. Seit es die Klinik gibt, sei die Todesrate auf einen unter dreißigtausend Trekkern reduziert worden. Früher sei einer von fünfhundert in dieser Höhe gestorben. »Keine Bergsteiger«, betonte sie, »Flachlandmenschen, Wanderer, die das alles einfach unterschätzten. Es gibt nicht allzu viele Menschen auf dieser Erde, die schon einmal auf 4300 Metern Höhe waren. Daß es hier Dörfer gibt und daß hier Menschen permanent leben, täuscht. Es sind immer noch 4300 Meter. Die Menschen, die hier leben, sind ganz besondere Menschen. Sherpas eben. Und als Sherpa muß man geboren werden!« Richter hatte kein Problem mit der Höhe. Nancy klagte
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jedoch schon am Vormittag über Kopfschmerzen, die jetzt schlimmer geworden waren. Die Amerikanerin gab ihr eine Packung Tabletten und den Rat, an diesem Tag nicht mehr höher zu steigen. »Von hier an geht’s ziemlich steil bergauf. Dugla liegt bereits auf 4620 Metern, in Lobuche – dem nächsten Tagesziel der meisten Trekker – schläft man schon auf 4930 Metern. Wenn deine Kopfschmerzen morgen nicht besser sind, rate ich euch, noch einen Tag in Pheriche zu bleiben.« Richter hörte zu und sagte nichts. Ein weiterer Tag in Pheriche hätte ihn auf eine sehr große Geduldsprobe gestellt. Er war so nahe am Ziel, und alles in ihm drängte zum Weitergehen. Nicht weiterzugehen bedeutete ohnehin schon den Verlust eines halben Tages. Das konnte er gerade noch ertragen. Andererseits wußte er auch nicht, wie er es schaffen könnte, sich von Nancy zu trennen. Nach dem, was in der letzten Nacht geschehen war, konnte er nicht einfach davongehen und sie allein zurücklassen. Sie wollte unbedingt ins Basislager und wußte wohl, daß sie es ohne seine Hilfe kaum schaffen würde. Hatte sie nur deshalb mit ihm geschlafen? Nancy lächelte und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so schlimm. Mit den Tabletten wird es bald besser sein!« Dann hieb sie ihm fest auf seine Schulter. »Keine Sorge, morgen geht’s weiter!« Richter fragte sich bereits zum zweiten Mal, ob sie seine Gedanken lesen konnte. Die Amerikanerin hieß Susan Bishop, und sie bot ihnen ein Zimmer in dem Haus an, das sie selbst bewohnte. Es war das erste Mal seit langem, daß Richter nicht in seinem Zelt übernachtete. Ein Haus mit festen Wänden, ein Stahlrohrgestell mit einer harten Matratze darauf, aber
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immerhin ein richtiges Bett, nicht nur genügend Wasser zum Waschen, sogar eine Dusche. Susan hatte zwei Gehilfen, einen Norweger und eine Australierin. Sie luden Richter und Nancy zum Abendessen ein, Joar, der Norweger, kochte eine Art Eintopf, scharf gewürzt und mit Reis serviert, dazu gab es Foster’s Bier aus Dosen. Es wurde ein angenehmer Abend. Richter erfuhr, daß alle drei keine Bezahlung für ihre Tätigkeit erhielten und sogar die Flüge selbst bezahlt hatten. Joar war erst vor kurzem im Basislager gewesen und hatte dort einen Norweger besucht, der sich bei den Italienern eingekauft hatte. »Er ist fünfundvierzig Jahre alt, hat seit seiner Jugend die Berge geliebt, war jedoch immer ein armer Schlucker. Jetzt geht sein Geschäft einigermaßen gut, und er hat sich endlich das Geld ersparen können, mit dem er sich seinen Traum erfüllen kann – den Everest! Ich wünsche ihm, daß alles gutgeht.« Es gibt auch andere, dachte Richter, ich bin doch nicht der einzige Verrückte!
Die Expedition Der Kala Pattar hatte Max Dreier das Selbstvertrauen gegeben, das er sich von diesem Trip erwartet hatte. Er wußte nun, daß er mit der Höhe, zumindest jener bis Lager eins, zurechtkommen würde. Die Frau hatte ihn überrascht. Daß sie Kraft hatte, war klar. Es war vielmehr die Leichtigkeit, mit der sie sich
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aufwärtsbewegte. Manchmal hatte er Mühe gehabt, mit ihr Schritt zu halten – nur hätte er das niemandem gegenüber zugegeben. Ihr Mann war sowohl physisch als auch psychisch für ein Unternehmen wie dieses ungeeignet. Das hatte sich schon während des Anmarsches abgezeichnet. Ein Großmaul, das sehr zur Freude Dreiers immer leiser wurde. Am Abend nach der Rückkehr vom Kala Pattar waren sie noch lange mit Steiner und den Sherpas im Küchenzelt gesessen und hatten über den heutigen Probeaufstieg durch den Khumbu geredet. Die Sherpas würden auch heute mit Lasten unterwegs sein, Steiner hatte angekündigt, daß er leicht gehen würde, um ganz für sie dazusein. Jetzt war es kurz vor vier Uhr und eiskalt. Das Thermometer, das er außen an sein Zelt gehängt hatte, zeigte siebzehn Grad unter Null. Es war noch tiefdüstere Nacht. Die Küchencrew hatte unten im großen Zelt die Gaslampen angemacht. Hoffentlich gab es schon etwas Heißes wie Tee oder Kaffee. Kein Essen. Beim Gedanken daran drehte es Dreier den Magen um. Er zog sich im dünnen Schein seiner Stirnlampe die Schuhe an. Zum Glück hatte er die Kleidung schon am Vorabend neben sich in der Reihenfolge aufgelegt, in der er sie anziehen würde, das hatte ihm jetzt, wo es schwarz um ihn war, viel Zeit und Mühe erspart. Er stand auf und hob den Rucksack auf, dabei schlugen die Steigeisen, die er außen angehängt hatte, mit stählernem Klirren zusammen. Der Sack war leicht, nur ein paar Riegel jener Kraftnahrung, die ein Sponsor im Übermaß zur Verfügung gestellt hatte, eine zweite Gletscherbrille, falls der ersten irgend etwas geschehen sollte, ein noch wärmeres Paar Handschuhe, die Sonnencreme, ein frisches Unterhemd und ein leichter Pullover, Sachen, die er oben anziehen würde, weil das Zeug, das er jetzt trug, dann sicher durchgeschwitzt sein würde,
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dazu zwei leere Trinkflaschen, die er im Küchenzelt mit Tee füllen wollte, in den er das isotonische Wunderpulver von einem anderen Sponsor mischen würde. Der Expeditionsleiter war bereits da, als er ins Küchenzelt trat, auch die Sherpas, das Ehepaar Frey ließ noch auf sich warten. Steiner nickte zustimmend, als er Pemba, dem Küchenjungen, seine leeren Flaschen gab. »Du wirst viel zu trinken brauchen. Die Flüssigkeitsaufnahme ist hier oben extrem wichtig, aber das weißt du ja.« Er lächelte. »Die Sherpas werden jetzt losgehen und lange vor uns oben sein. Ein paar Zelte stehen schon, bei unserer Ankunft wird uns wahrscheinlich schon ein fertiges Lager erwarten. Mit heißem Willkommenstee.« Sie hatten deutsch gesprochen, und Mingma hatte kein Wort verstanden. Trotzdem standen er, Dawa und Gyalzen wenig später auf und verließen mit einem kurzen Gruß das Zelt. Hans und Erika Frey trafen erst eine Viertelstunde später ein. Steiner funkelte sie wütend an. »Wenn ich vier Uhr sage, dann hat das einen Sinn! Wir machen heute nicht irgendeinen Spaziergang zur Kapelle des Heiligen Blasius, wir steigen durch den gefährlichsten Eisbruch der Welt. Und wir müssen zu Mittag wieder zurück sein. Sonst spielen wir russisches Roulette, versteht ihr?« Frey, der es nicht gewöhnt war, so schroff angesprochen zu werden, wollte protestieren, doch Erika kam ihm zuvor. »Tut mir leid«, sagte sie nur, »wird nie wieder vorkommen.« Es war schon fast fünf Uhr, als sie endlich aufbrechen konnten. Das Gletschergeröll, auf dem das Basislager gebaut war, hörte bald auf und wurde vom Khumbu-Eis abgelöst, auf dem eine dünne Schneedecke lag. Nach einem kurzen, zügigen Marsch, der ihnen die Kälte aus den Gliedern trieb, kamen sie zu der Stelle, an der die
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Steigeisen angelegt werden. Dreier, der sich zu Hause oft im Eis bewegt hatte, war unmittelbar nach Steiner fertig. Die beiden anderen hatten einige Mühe damit, obwohl sie die Prozedur mit Steiner während eines Vorbereitungstrips auf einem Alpengletscher mehrmals geübt hatten. Der Lehrer half Erika Frey, Steiner kümmerte sich um ihren Mann. Dann gab es nur noch das Knirschen der Zacken im Schnee, ihren eigenen Atem und die Stirnlampen, die vor ihnen vier einsame Lichtkegel aus der Nacht schnitten. Steiner ging an der Spitze, Max Dreier machte den Schlußmann. Obwohl der Boden unter ihren Füßen fest zu sein schien, hatte Dreier immer wieder das Gefühl, daß er sich bewegte. Einbildung, redete er sich ein. Bevor sie zum ersten Fixseil kamen, hörte er plötzlich ein Knacken im Eis, dann folgte dumpfes Donnergrollen, es kam jedoch nicht vom Himmel, sondern aus der Gletscherwelt, die sie umgab. Irgendwo, draußen in der Nacht, nicht weit von ihnen entfernt, zerbrach etwas, und die Trümmer rollten mit leiser werdendem Getöse dem Ende des Khumbu entgegen. Dreier hatte keine Ahnung, wie groß und wie weit entfernt sie waren. Vielleicht waren es nur Winzlinge, die sich ganz in der Nähe losgelöst hatten, vielleicht waren es jedoch auch kopfgroße oder noch größere Trümmer, die in einiger Entfernung abgegangen waren. Die beiden vor ihm waren ebenso abrupt stehengeblieben wie er selbst. Sein Herzschlag war schneller geworden und er hatte, unmittelbar nachdem er das erste Knacken gehört hatte, den Atem angehalten. Jetzt stieß er ihn fauchend aus. Das erste Geräusch, das er in der zurückgekehrten Stille hörte, war Steiners lautes Lachen. »Willkommen im Eis! Der Khumbu hat euch soeben gegrüßt. Absolut kein Grund zur Panik. Ihr werdet euch an diese kleinen
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Spielchen gewöhnen müssen. Wenn ihr jedesmal stehenbleibt, wenn irgendwo ein Eiszack abbricht, erreichen wir das Einserlager erst übermorgen. Also, weiter geht’s!« Das Fixseil half ihnen dabei, den ersten, etwas steileren Anstieg rascher zu bewältigen. Sie umklammerten es mit der rechten Hand, zogen sich daran hoch und entlasteten damit die Beine. Steiner bewegte sich mit etwa fünfzig Prozent seines normalen Gehtempos, und die beiden Freys hielten gut mit. Steiner, der Schlimmeres befürchtet hatte, war zufrieden. Langsam brach der Tag an und eine bizarre Welt begann sich aus dem Grau zu schälen. Da waren plötzlich Spalten und Abgründe, riesige weiße Türme, manche oben spitz wie das Matterhorn, andere flach wie der Tafelberg, nichts war eben oder gerade, alles war wirr und zerklüftet. Dreier hatte den Khumbu von unten durch das Fernglas studiert, er hatte ihn in Filmen und auf Fotos gesehen, Vortragende hatten von ihm erzählt, Steiner hatte sie immer wieder vor ihm gewarnt, die direkte Realität traf ihn trotzdem mit der Wucht eines Hammerschlags. Es war keine Angst, nur ein Gefühl der Wehrlosigkeit. Der Khumbu war viel größer und mächtiger als er, der kleine Mensch. Er brauchte sich nur sanft zu regen, und seine kristallene Welt würde in tausend tonnenschwere Trümmer zerfallen. Dreier kam sich vor wie eine Ameise, die auf einem Berg glitzernder, weißer Zuckerstücke herumkrabbelt. Steiners Timing hatte absolut gestimmt. Es wäre unverantwortlich gewesen, die erste Leiterbrücke über eine Gletscherspalte im Dunkeln zu überqueren. Als sie die Stelle erreichten, war es bereits so hell, daß sie sogar die schneegesprenkelten Felsen an den Rändern des Eisfalls erkennen konnten. Sie hatten drei Aluminiumleitern an den jeweiligen Enden mit Seilen zusammengebunden und über den Abgrund gelegt.
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Als Geländer dienten zwei Seile, links und rechts von der Brücke verlaufend und auf beiden Seiten der Spalte fest im Eis verankert. »Nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht«, grinste Steiner. Er zeigte, was sie zu tun hatten. Zuerst hängte er den Karabiner, den jeder an dem kurzen Seil, das am Körper festgemacht war, trug, in eines der Seilgeländer ein, als einzige Lebensversicherung, die man vor einem solchen Gang abschließen konnte. Dann tastete er sich, ein Seil in jeder Hand, unendlich vorsichtig von Sprosse zu Sprosse und erreichte scheinbar problemlos das andere Ende. Er drehte sich um und schickte ein breites Grinsen zurück. »Langsam und vorsichtig«, rief er von drüben, »nie nach unten blicken! Hans, du bist der nächste!« Frey drehte sich um und schaute die anderen an. Erika nickte ihm ermutigend zu. Dreier, der selbst gern der nächste gewesen wäre, um es hinter sich zu bringen, machte eine leichte Verbeugung und zeigte mit der Hand zur Brücke. »Nach Ihnen«, sagte er. »So ein Scheiß«, knurrte Frey, dann hängte er den Karabiner ein, griff nach den Seilen und tat die ersten drei Schritte. Metall traf auf Metall, nicht hell oder schrill, sondern dumpf und kratzend. Frey hatte sich noch nie auf diese Weise vorwärtsbewegt, seine Schritte hatten noch nie so geklungen. Er blieb stehen und blickte nach unten, zu seinen Schuhen. »Weiter«, drängte Steiner auf der anderen Seite, »nicht in die Spalte sehen, nur nach vorn auf die Leiter. Es geht schon, jetzt der nächste Schritt, du bist bald da!« Die Seile waren keine echte Hilfe, weil sie keinen Halt boten, wenn man zur Seite schwankte. Wenn man stürzte, fing einen das Seil am Karabiner wahrscheinlich auf, aber man durfte
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nicht stürzen. Frey durfte nicht stürzen. Sekundenlang kämpfte er mit seinem Gleichgewicht, Erika und der Lehrer hielten den Atem an. »Geh weiter, verdammt noch mal, geh weiter, du Idiot« brüllte Steiner. Frey richtete sich auf, kerzengerade wie ein Soldat vor seinem General. »Leck mich am Arsch«, brüllte er zurück. Dann ging er rasch, mit bombensicheren Schritten bis ans Ende der Leitern. Drüben baute er sich vor Steiner auf, hochrot, stinkwütend. Er streckte den Zeigefinger aus und fuchtelte damit vor Steiners Gesicht herum. »Rede nie mehr so mit mir, verstanden? Kein Mensch auf der Welt hat das Recht, mich einen Idioten zu schimpfen. So ein lausiger Bergheini wie du schon gar nicht, ist das klar?« Steiner klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Hab’s nicht so gemeint. Tut mir leid. Ich habe einen Augenblick lang befürchtet, du würdest zuviel nachdenken, das Gleichgewicht verlieren. Der Idiot war nur dazu da, dich vom Abgrund abzulenken.« Er grinste. »Hat doch funktioniert, nicht wahr?« »Blödsinn«, brummte Frey, ging angewidert ein paar Schritte von Steiner weg, nahm den Rucksack ab, setzte sich darauf und schaute zu, wie sich die anderen langsam und vorsichtig, jedoch ohne Schwierigkeiten über die Spalte tasteten. Als alle drüben waren, packte Steiner eine seiner Trinkflaschen aus, schraubte sie auf und reichte sie an Erika weiter. »Trinkt«, sagte er, »ihr habt es euch verdient.« Dreier hatte zwar keinen Durst, nahm aber dennoch einen tiefen Schluck. Symbolisch, als wäre es der Siegestrunk nach einem erfolgreich absolvierten Wettbewerb. Die Leiter war für ihn tatsächlich eine Art Reifeprüfung gewesen. Die erste
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größere Schwierigkeit auf dem Weg zum großen Ziel. Als er noch drüben gewesen war und den anderen zugesehen hatte, hatte alles viel schwieriger ausgesehen. Dann war er vor der ersten Sprosse gestanden, und der Moment des Entschlusses war ihm überraschend leicht gefallen. Sicher hatte ihm auch die Tatsache geholfen, daß Frey das Hindernis geschafft hatte. Alles, was Frey konnte, das konnte er viel besser. Ohne Frey hätte er vielleicht gezaudert, zu lange über alles nachgedacht. Zaudern und unnötiges Grübeln schufen Unsicherheit. Steiner hatte ihnen zuvor gesagt, wie sie ihren Kopf programmieren sollten. Sich mit positiver Energie aufladen, auf die eigenen Kräfte vertrauen, nach vorn blicken und nie ans Umkehren denken, wenn es keinen anderen Grund als Selbstzweifel gibt. Du kannst mehr, als du glaubst! Es war kein Gefühl der Sicherheit oder der besseren Vertrautheit mit dem Gelände, mit dem Dreier weiterging, dazu war alles um ihn herum zu kalt, zu bizarr, zu fremd, zu abweisend, und doch war es ein besseres Gefühl als zuvor. Zu seinem Ärger stapften sie viel zu gemächlich dahin. Er hätte wesentlich schneller gehen können, Steiner mußte das ohnehin schon sehr moderate Gehtempo jedoch weiter drosseln, weil Frey sonst nicht mitgekommen wäre. Dazu kam, daß Frey immer wieder stehenblieb, um zu verschnaufen, meistens dann, wenn die anderen gerade wieder zu ihrem Gehrhythmus gefunden hatten. Dreier hätte ihn am liebsten angeschrien und ihm gesagt, daß er doch, verdammt noch mal, im Basislager bleiben und die anderen am Berg nicht behindern sollte. Doch das war Steiners Aufgabe. Irgendwann, und Dreier hoffte, daß es bald wäre, mußte der Expeditionsleiter Frey die Wahrheit sagen. Daß er keine Chance hatte, daß er weiter oben nur ein Todeskandidat sei und die anderen unnötig in Gefahr bringen würde. Doch Steiner sagte nichts. Im Gegenteil. Er blieb geduldig
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stehen, wenn Frey hinter ihm anhielt, und hatte nur ermutigende Worte für ihn. Erika, die vor Dreier ging, spielte das Spiel wortlos mit. Manchmal, während der zermürbenden und immer länger werdenden Pausen, drehte sie sich allerdings zu Dreier um und rollte in einer Geste der Hilflosigkeit die Augen. Frey fehlte die Kraft zum Reden. Zwischen den fauchenden Atemzügen preßte er nur dann und wann ein »Scheiße« heraus. Er schleppte sich weiter hoch. Und Steiner redete ihm weiter Mut zu. Dreier hatte das Gefühl, daß die Geräusche des Khumbu lauter wurden und daß sie häufiger kamen. Es war, als würde der Eisfall sie zur Eile drängen. Unten, im Basislager, hatte Steiner gesagt, daß sie spätestens um 10.30 Uhr vom Lager eins aufbrechen müßten, um halbwegs sicher ins Basislager gelangen zu können. Ab Mittag gehe kaum einer durch den Khumbu. Da sei die Sonneneinstrahlung bereits so stark, daß sie die rohrförmigen Eisspiralen lockern konnte, mit denen Seile und Leitern gesichert sind, es konnte auch vorkommen, daß sie ganze Eistürme zum Einstürzen brachte. Es war neun Uhr und ein strahlend blauer Tag. Die Sonne brachte das Eis um sie herum zum Glitzern, gewaltige Quader, die in der Morgendämmerung noch grau gewesen waren, erstrahlten jetzt in kaltem Stahlblau. Immer wieder krachte es, manchmal kollerten in der Nähe kleine Eislawinen nach unten. Kurz vor einer mächtigen weißen Steilwand überholte sie zum dritten Mal eine Sherpagruppe. Diese fünf Männer waren schwer beladen und hatten im Vorbeigehen trotzdem noch ein freundliches Lächeln und ein höfliches Nicken für jeden von ihnen. Die Wand war fast senkrecht, und die Sicherungscrew hatte mehrere Leitern aneinandergereiht, um sie zu
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überwinden. Das Aluband schlängelte sich wie eine silberne Girlande in die Höhe, die Sherpas waren bunte Punkte, die sich langsam dem Himmel über dem Eis näherten. »Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Steiner, als sie die Leiter erreicht hatten. »Wie weit?« fragte Dreier. Steiner zuckte die Schultern. Seine Gleichgültigkeit irritierte den Lehrer. »Eine Stunde«, sagte Steiner. Dreier blickte auf seine Uhr. Es war 9.30 Uhr. »Wenn wir wirklich in einer Stunde oben sind, was ich bei diesem Schneckentempo bezweifle«, sagte Dreier und bemühte sich ruhig zu bleiben, »ist es zu spät zum Umdrehen.« Steiner sagte nichts. »Hast du gehört«, drängte der Lehrer, »wir schaffen es bis Mittag nicht mehr zum Basislager!« Der Expeditionsleiter legte eine Hand auf seine Schulter. »Beruhige dich, ich weiß schon, was ich tue!« Dann drehte er sich um und wandte sich an die beiden anderen. Frey atmete schwer, sein Gesicht war hochrot. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, verkündete Steiner. »Die erste: Wir drehen jetzt um und gehen zurück. Kein Erfolgserlebnis, jedoch eine erste Kraftprobe, nicht sehr erfolgreich, doch ihr habt immerhin den Khumbu kennengelernt. Die zweite: Wir gehen weiter, erreichen das Ziel, das wir uns vorgenommen haben, und bleiben über Nacht oben. Das Lager steht!« Er blickte die anderen herausfordernd an. »Kein Lager«, sagte Dreier, »nur Zelte!« Steiner grinste ihn herausfordernd an und hob den Zeigefinger. »Irrtum, Herr Lehrer! Der weise Mann baut vor. Ich habe zwar gehofft, daß wir heute noch den Rückweg
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schaffen, gewußt habe ich es nicht. Wer heil von diesem Berg herunterkommen will, muß an alles denken, jede Möglichkeit in Betracht ziehen, vorsorgen. Die Sherpas haben die Ersatzschlafsäcke, Liegematten und genügend Verpflegung für uns alle mitgenommen. Das Lager steht!« Frey atmete noch immer schwer, hatte sich jedoch soweit beruhigt, daß er halbwegs verständlich sprechen konnte. »Vorwärts«, fauchte er, »ich will diesen verdammten Hügel nicht noch einmal hochsteigen.« »Wirst du wohl müssen«, ätzte Dreier, »morgen geht’s wieder bergab!« Frey drehte sich von ihm weg und stapfte schwerfällig zur Leiter. Steiner nickte. »Weiter geht’s«, sagte er und folgte Frey. Dreier sah zu, wie sich Frey mit Steiners Hilfe, der ihn immer wieder von hinten anschob, die Sprossen hochquälte. Er zählte sie, es waren fünfzig. Erika stand neben ihm. »Stur wie ein Esel«, sagte sie. »Und genauso dumm«, antwortete Dreier. Sie drehte sich zur Seite, und ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte. »Du kennst ihn nicht«, sagte sie, »wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht er es auch durch.« Dreier schüttelte den Kopf. »Koste es, was es wolle?« Sie nickte. »Koste es, was es wolle!«
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Richter Der Norweger bereitete auch das Frühstück zu. Eier, Würstchen aus der Dose, Yakmilch, Tee oder Instantkaffee. Für Sex waren die Wände zu dünn und Nancys Kopfschmerzen zu stark gewesen. Richter hatte herrlich geschlafen, ohne quälende Träume, in einem Bett, wie in seinem vorherigen Leben. Er war vor ihr wachgeworden und hatte sie lange im Schlaf beobachtet. In ihrem Gesicht paßte alles zusammen, es war hübsch, nicht schön. Vielleicht etwas zu hart, nicht männlich, nur zu wenig Frau. Falsch! Frau genug, jedoch kaum etwas von der weichen Weiblichkeit, die Anna ausstrahlte. Anna hatte nach einem Beschützer gesucht, dem starken Arm, an den sie sich klammern konnte, der sie führte, immer für sie da war, der ihr gehörte, über den sie verfügen konnte. Mein Mann! Nancy war anders. Selbstbewußt, zielstrebig, eine, die ihr Leben selbst in die Hand nahm, den Weg kannte und in der Lage war, ihn allein zu gehen. Sie brauchte ihn nicht, sie hatte ihn wahrscheinlich nur benutzt. Richter machte es nichts aus. Es war keine Liebe, nur ein Spiel, das er mitspielte. Die Regeln waren klar, solange er die Kontrolle darüber nicht verlor. Wenn sie noch Kopfschmerzen hätte, würde er allein weitergehen. Er wollte endlich ins Basislager kommen, um die nächsten Schritte planen zu können. Abgesehen vom Berg, gab es für ihn eine ganze Reihe anderer Hindernisse, die er aus dem Weg räumen mußte. Als Einschleichdieb mußte er zuallererst die Gewohnheiten der Menschen studieren, die das Objekt bevölkerten, und das konnte er nur im Basislager. Richter wußte, daß er noch genügend Zeit dafür haben würde, es war die Geduld, die ihm fehlte. Und die Ungeduld, die mit jedem
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Schritt gewachsen war, der ihn dem Berg näher gebracht hatte. Gefühle, die stärker waren als jene, die er für Nancy empfand. Beim Frühstück lachte sie und verkündete, daß es ihr viel besser gehe. Die Droge, die Susan ihr gegeben habe, hätte Wunder gewirkt. »Hast du noch mehr davon? Ich werde es brauchen, wenn ich es bis zum Basislager schaffen will.« Die Ärztin runzelte die Stirn. »Verlaß dich nie auf die Medizin, sondern höre immer auf deinen Körper. Das war nur eine starke Schmerztablette, eine Krücke, die dir beim Gehen geholfen hat. Heute brauchst du sie nicht mehr, weil du wieder gesund bist und ohne Krücken gehen kannst. Die Kopfschmerzen werden wahrscheinlich wiederkommen, wenn du jetzt höhersteigst. Du kannst die Tabletten nehmen, aber sei ehrlich zu dir selbst. Wenn dir dein Körper sagt, daß er mit der Höhe absolut nicht mehr zurechtkommt, töte seine Warnungen nicht ab, nimm sie ernst und kehre um. Es ist absolut keine Schande. Es gibt viele, die es nicht bis ins Basislager geschafft haben. Und leider gibt es auch viele, die alle Warnungen des Körpers ignoriert haben und heute nicht mehr leben.« »Keine Sorge«, antwortete Nancy, »es gibt viel Wichtigeres in meinem Leben, als dem größten Felsbrocken der Erde Auge in Auge gegenüberzustehen. Wenn’s nicht geht, bin ich bald wieder bei euch.« Sie brachen unmittelbar nach dem Frühstück auf. Nancy war bester Stimmung und redete mehr, als sie sonst beim Gehen redete. Richter ließ sie reden und hörte zu. Es war ein gewaltiges Land, das sie umgab. Beinahe sanfte Almweiden, ein weites Tal, an den Rändern Fels und Eis und Berge, unten der Bach und über ihnen ein strahlend blauer Himmel.
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Er ging ein zügiges Tempo, und Nancy hielt ohne Mühe mit. Am Ende des Tales stand das Dörfchen Phulung Karpo, dann bog der Weg nach rechts ab und schlängelte sich einen steilen Hang entlang. Zu Mittag erreichten sie die wenigen Häuser von Duglha. Das Khumbu-Tal lag jetzt vor ihnen. Sie waren am Ende der gewaltigen Gletscherzunge angelangt, die ihren Ursprung am Everest hatte. Sie befanden sich jetzt 4620 Meter über dem Meeresspiegel, fast vierhundert Meter höher als Pheriche. Wieder ein paar Hütten, wieder ein paar Yaks, keine Trekkerzelte mehr. Nancy war müde, schwor jedoch, daß sie keine Kopfschmerzen habe. Richter glaubte ihr nicht. Sie hockten schweigend vor einer Hütte und tranken Tee. Über die wirklich wichtigen Dinge hatten sie seit dem Aufbruch in Pheriche nicht geredet, und sie taten es auch jetzt nicht. Nach einer Weile gingen sie weiter. Noch gab es kein Eis, nur karg bewachsenes Geröll, das die Eismassen im Laufe der Jahrtausende hier zusammengeschoben hatten. Der Weg wurde steiler. Bald kamen sie an einem Platz vorbei, den die Sherpas Chukpö Lare nennen. Richter wußte aus seinen Büchern, daß es sich um einen heiligen Ort handelte. 1970 hatte man hier zum Gedenken an sechs Sherpas, die für eine japanische Expedition gearbeitet hatten und im Khumbu ums Leben gekommen waren, sechs Steinsäulen errichtet. Jetzt zählte er mehr als dreißig. Ein hoher Lama war aus Thyangboche gekommen und hatte den Ort zu einem heiligen erklärt. Chukpö Lare war damit zum Friedhof all der Sherpas geworden, die am Everest ihr Leben gelassen hatten. Eine Säule für jeden. Wenn es den anderen gelungen war, die
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Körper der Verunglückten zu bergen, waren sie hierhergebracht und bestattet worden. Die Bergwelt, die ihnen das Leben genommen hatte, baute sich nun wie ein mächtiger, weißglitzernder Schutzwall um sie auf. Richter erzählte Nancy, was er über diesen Ort wußte, und sie schmiegte sich dabei stumm an ihn. Der Tag war hell und sonnig, er hatte jedoch hier, an diesem Ort, seine Leichtigkeit verloren. Die Nähe des Todes lud ihnen eine Beklemmung auf, die sie noch lange mitschleppten. Das Land wurde karger und steiniger, und die hohen Schneeberge rückten näher an sie heran. Zum ersten Mal begann auch Richter, die Höhe zu spüren. Wenn er so leicht und gleichmäßig atmete, wie er es bisher getan hatte, schaffte er sein Schrittempo nicht mehr, und wenn er sein altes Schrittempo beibehielt, ging sein Atem schwerer. Nichts Alarmierendes, und doch ein erstes Signal, das die Fünftausendergrenze, die sie bald erreichen würden, an ihn aussandte. Nancys Probleme wurden zusehends größer. Sie blieb weit hinter ihm zurück, und als er stehenblieb und auf sie wartete, brauchte sie elendslang, um zu ihm aufzuschließen. Ihr Gesicht war schweißnaß und hochrot. Sie lächelte tapfer. »Keine Kopfschmerzen«, sagte sie und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Dann zeigte sie mit demselben Finger auf ihre Beine. »Aber die Beine sind aus Gummi.« Sie legte die flache Hand an die Brust. »Und die Pumpe ist auch nicht mehr die beste.« Richter legte seinen Arm um ihre Schulter. »Ich bin davongestürmt wie ein Idiot«, sagte er, »dabei haben wir noch einen halben Tag und nur noch ein paar Kilometer.« » Sehr steile Kilometer«, flüsterte sie.
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Sie ließen sich Zeit, und es war noch hell, als sie Lobuche erreichten. Es war der letzte nennenswerte Ort vor dem Basislager, und er lag auf 4930 Metern. Dann kamen nur noch die Hütten von Gorakshep und der Weg durch das wirre Eis der Gletscherzunge. Es gab nichts, das freundlich oder aufmunternd war, nur ein paar vergammelte Schlafbaracken, die man errichtet hatte, um den vielen Menschen, die hier lagern mußten, überdachte Unterkünfte anbieten zu können. Dazu einige alte Steinhütten, die zuvor schon da waren und von den Sherpas, die hier ihr Geld mit den Fremden verdienten, bewohnt waren. Der Tee war heiß und das Essen teuer, aber einigermaßen genießbar. Es war schon dunkel, als sie neben der letzten Baracke Richters Zelt aufstellten. Nur noch ein Tag, dachte er immer wieder. Der letzte Tag in seinem alten Leben. Morgen abend würde er ein Ziel erreichen, das der Anfang vom Ende sein könnte. Doch für das, was dazwischen lag, hatte er ein Leben lang gelebt.
Die Expedition Am oberen Ende des Khumbu war die weiße Welt etwas milder. Ein breites Tal rollte sich scheinbar sanft ansteigend vor ihnen aus, bis es von einer steilen Felswand gestoppt wurde – der berühmten Lhotse-Flanke. Eine Schweizer Expedition hatte es 1952 Tal des Schweigens genannt. Von rechts ragten die Felswurzeln des Nuptse herein, auf der linken Seite waren es jene des Mount Everest. Die Expeditionen der Jetztzeit nennen es Western Cwm, ein altes
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walisisches Wort, das Tal bedeutet. Der Lagerplatz war nicht ideal. Es hatte jedoch keinen besseren mehr gegeben, weil die anderen Expeditionen früher hiergewesen waren. In ihrer Nähe standen mehrere kleine Zeltdörfer im Eis. Und links und rechts von ihnen klafften gewaltige Spalten, die so breit waren, daß sie Max Dreier an blauglitzernde, endlos tiefe Cañons erinnerten. Der Khumbu war in Wahrheit nur ein Treppenhaus, das dort endete, wo jede Everest-Expedition erst wirklich begann. Die Reifeprüfung, die man bestehen muß, um am Ende doch wieder bei Null anfangen zu dürfen. Die Sherpas, die oben mit wachsender Ungeduld auf das Eintreffen der Sahibs gewartet hatten, brachen sofort nach deren Ankunft auf. Der Ablauf des Lastentransports durch den Eisfall war an einen exakten Zeitplan gebunden, und Mingma, der dafür verantwortlich war, konnte es sich nicht leisten, einen Tag zu verlieren. Der Tee, den sie in Erwartung einer früheren Ankunft der anderen lange zuvor zubereitet hatten, war kalt. »Sorry«, sagte Mingma und zeigte auf den Alutopf mit der dunkelbraunen Brühe, der auf dem Kocher stand, den sie in der Mitte des kleinen Platzes aufgestellt hatten, um den die vier Zelte gruppiert waren, »aber wir müssen uns beeilen!« »Was heißt beeilen«, schrie ihm Dawa, der bereits losgegangen war, über die Schulter zu, »wir müssen fliegen!« Steiner nickte und blinzelte in die Sonne, die schon zu hoch am Himmel stand. »Wir treffen uns morgen im Eisfall, wenn wir ins Basislager zurückgehen«, sagte er. Frey, der die letzten Meter zum Camp auf allen vieren zurückgelegt und mit allerletzter Kraft wie ein verwundetes Tier den Schutz des ersten, erreichbaren Zeltinneren gesucht
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hatte, versuchte, eine Botschaft nach draußen zu schreien, es wurde aber nur ein halblautes Grunzen. »Hans«, rief Steiner zurück, »du hast dich großartig gehalten. Bleib jetzt ruhig liegen und ruh dich aus. Ich bringe dir den Tee, sobald er warm ist!« »Der braucht keinen Tee«, brummte Dreier, »der braucht Sauerstoff! « Steiner, der auf dem Weg zum Kocher war, blieb stehen. Er drehte sich um und zog verärgert die Augenbrauen zusammen. »Blödsinn«, knurrte er, »keiner, der sich so gut akklimatisiert hat wie wir, braucht hier, auf knapp sechstausend, schon die Sauerstoffflasche, auch Hans nicht, dafür übernehme ich die Verantwortung. Der ist bald wieder in Ordnung.« Erika Frey ging trotzdem mit besorgtem Blick zum Zelt, in dem ihr Mann lag, und kroch zu ihm hinein. Steiner kniete jetzt neben dem Kocher und brachte das ausströmende Gas mit seinem Feuerzeug zum Brennen. Dreier hockte sich neben ihn. »Wie ist das mit dem Deal, den du mit den Amerikanern geschlossen hast«, sagte er leise, »wir haben doch alle dafür bezahlt, daß wir von ihrem Expeditionsarzt mitversorgt werden?« Steiner blickte in den blauzüngelnden Flammenkranz. »Ist doch klar, was soll die Frage?« Dreier beugte sich noch näher zu ihm hin und redete noch leiser. »Ich werde jetzt ins Lager der Amerikaner hinübergehen und sie fragen, ob ihr Arzt hier oben ist. Wenn er da ist, werde ich ihn bitten, Frey zu untersuchen. Ganz genau zu untersuchen, verstehst du?« Dreier streckte einen Zeigefinger aus und berührte damit Steiners Brust. »Der Mann soll beurteilen, ob Frey in der Lage ist, noch
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höher zu gehen, was ich nach seiner jämmerlichen Vorstellung im Eisfall absolut nicht glaube. Zu seinem eigenen und zu unserem Schutz sollte er im Basislager bleiben, bis alles vorbei ist.« Steiner blickte ihm jetzt in die Augen. »Er wird sich erholen«, sagte er, wischte mit einer Handbewegung Dreiers Zeigefinger von seiner Brust, packte dessen Schulter mit beiden Händen und zog Dreiers Körper an sich, bis sich die Nasenspitzen fast berührten. »Die Verantwortung für alles, was hier geschieht, liegt ganz allein bei mir«, zischte er, »verstehst du? Es ist wie auf einem Schiff. Ich bin der Kapitän, und ihr habt mich selbst dazu gewählt. Jetzt fang, verdammt noch mal, keine Meuterei an, Max!« Dreier schüttelte ungläubig den Kopf und rollte die Augen. »Das ist doch scheiße«, sagte er, »du weißt, daß das scheiße ist. Mir geht es um den Berg, verstehst du? Um meine Chancen, nur um meine Chancen. Ich weiß nicht, was du Frey versprochen hast und was du dafür bekommst, wenn du ihn hochschleppst, ich weiß nur, daß er nichts anderes ist als unnötiger Ballast.« »Er wird sich erholen«, sagte Steiner ruhig und zwang sich zu einem Lächeln. Dann drehte er sich um, stapfte langsam durch den Schnee bis an den Rand der ersten Gletscherspalte, knöpfte umständlich seinen Hosenschlitz auf und pinkelte in die blaue Tiefe. Dreier blieb mit seiner Wut und dem ungelösten Problem, das Frey für ihn darstellte, beim Kocher zurück. »Wie geht es ihm?« fragte Steiner später, als Erika wieder bei ihnen war und ihre Becher mit heißem Tee gefüllt waren. »Er ist müde«, antwortete sie, »jetzt schläft er.« »Gut«, sagte Steiner. Ein wissendes Lächeln, dann die Erklärung.
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»Für das Höhenbergsteigen ist er wahrscheinlich etwas zu schwer«, sagte er, »kein Fett, es ist der Knochenbau, dafür kann er nichts. Damit muß man sich abfinden. Da hilft kein Training. Wer so wuchtig gebaut ist, braucht mehr Kraft, muß sich stärker quälen, ist doch klar. Das heißt noch lange nicht, daß er auf dem Berg versagen wird. 1978 hat ein Österreicher namens Franz Oppurg die erste Solobesteigung des Mount Everest geschafft. Schwer gebaut, ein Muskelprotz. Hat seinen Partner, einen vierundfünfzigjährigen Tiroler namens Josl Knoll, im letzten Lager auf 8500 Metern zurückgelassen und ist allein weitergestiegen. Heute lagert man dort nicht mehr, das wißt ihr selbst. Südsattel und dann die Direttissima auf den Gipfel.« Steiner, siegessicher grinsend. »Außerdem«, sagte Erika, »ist er achtundvierzig.« Wieder Steiner, der Lehrer, geduldig. »Da gibt es einen Spanier namens Ramon Blanco«, erklärte er, »der war sechzig, als er 1993 ohne größere Probleme den Gipfel erreicht hat.« »Hans ist anders«, antwortete Erika, »Hans ist Hans!« Steiner wartete. Dreier bückte sich und füllte seinen Becher. »Es geht ihm beschissen«, fuhr sie fort, »er kann sich kaum bewegen, sein Kopf dröhnt, das Reden fällt ihm schwer, ich hab’s zwar noch nie erlebt, aber für mich ist es die Höhenkrankheit. « »Morgen früh«, sagte Steiner rasch, »steigen wir ab. Früher geht’s nicht.« Dreier hob beschwörend die Hände. »Sauerstoff«, rief er, »ich hab’s vorher schon gesagt, der Mann braucht Sauerstoff! Aber auf mich hört hier ja keiner.« »Wir haben keinen«, schrie Steiner, »verdammt noch mal, wir haben keinen. Der beschissene Sauerstoff ist die letzte Ladung, die hochgetragen wird. Weil ihn hier, im Einserlager,
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noch keiner braucht, versteht ihr?« »Hans«, sagte sie leise, »wird ihn brauchen.« Steiner, unverstanden, ungeduldig, verzweifelt erklärend. »Wir haben keinen. Aus, Punkt, Schluß!« »Die Amerikaner«, schrie Dreier dazwischen. Steiner streckte beide Hände in die Höhe. »Ruhe«, brüllte er zurück. Abrupte Stille, sie schwiegen, starrten Steiner hilflos an und warteten. Steiner starrte zurück, das Gesicht angespannt, maskenhaft starr. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er den Lehrer und die Frau in diesem Augenblick zutiefst gehaßt, vom Berg gejagt, nach Hause geschickt, aber er durfte es nicht, sie hatten zuviel dafür bezahlt, seine Dienste gekauft. Ebenso wie der Mann, der im Zelt lag und um den er sich bis jetzt überhaupt noch nicht gekümmert hatte. Vielleicht war es wirklich die Höhenkrankheit. Er hatte sie selbst noch nie erlebt und war damit in diesem Bereich ebenso unerfahren wie Erika Frey. Auf jeden Fall mußte er jetzt reagieren, Stärke beweisen. »Es gibt überhaupt keinen Grund zur Panik«, sagte er. »Hans ist okay, davon bin ich überzeugt, ich werde ihn mir jedoch trotzdem anschauen und zu eurer Beruhigung auch den amerikanischen Arzt fragen. Wenn er nicht hier oben ist, dann über Funk. Er wird ihm keine bessere Medizin verschreiben können, als wir – den Abstieg ins Basislager!« Erika Frey schüttelte den Kopf. »Das Problem ist ein ganz anderes«, sagte sie, »Hans wird durch nichts und niemanden zu bewegen sein, nochmals abzusteigen. Er hat sich hochgequält und wird hier bleiben. Bis er sich besser fühlt und weitergehen kann!«
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Richter Zwischen Lobuche und dem Basislager liegen kaum zehn Kilometer. Für einen wie Richter ein lockerer Marschtag, allerdings einer, bei dem an die fünfhundert Höhenmeter zu überwinden sind. Jetzt wußte er allerdings nicht mehr, ob es wirklich nur noch ein Tag sein würde. Nancy beteuerte am Morgen zwar tapfer, daß sie völlig in Ordnung sei, und klopfte mit der Faust mehrmals hart gegen ihre Stirn, um es ihm zu beweisen, sie wirkte jedoch müde und ausgelaugt. Nicht entmutigt. Dafür war ihr Wille, mit ihm weiterzugehen, zu stark. Als sie das Zelt abbauten, fluchte Richter leise vor sich hin. Da er sich nun einmal entschlossen hatte, sie nicht im Stich zu lassen, würden sie es heute wohl nur bis Gorakshep, wo die letzten gemauerten Häuser vor dem Basislager standen, schaffen. Ein Tag mehr, der ihn mit nagender Ungeduld quälte. Der Weg schlängelte sich am Rande des auslaufenden Khumbu-Gletschers in die Höhe. Überall Geröll, riesige Gesteinshalden, die das fließende Gletschereis wie ein gewaltiger Bulldozer vor sich hergeschoben und hier abgeladen hatte. Nancy hielt sich überraschend gut und folgte ihm scheinbar ohne Mühe, als er das Gehtempo etwas erhöhte. Es gab immer wieder Wegstücke, die für kurze Zeit bergab führten. Nach vier fast mühelosen Gehstunden erreichten sie die Hochweiden von Gorakshep. Breite, grüne Flecken, auf denen zwischen den massigen zotteligen Yaks auch ein paar Schafe und Ziegen weideten. Nancy schwitzte, und das Gesicht, dessen Haut am Morgen noch fahl und schlaff gewesen war, war jetzt rot und glänzend. Sie freute sich, und aus ihren Augen blitzte wieder die
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Lebenslust, die sie am Vortag während des mühsamen Aufstiegs nach Lobuche unterwegs verloren hatte. »Die letzte Kneipe«, lachte sie und steuerte geradewegs auf eine Hütte zu, an deren Stirnseite zwei giftgrüne Trekkerrucksäcke lehnten. Sie gehörten einem amerikanischen Ehepaar, er mit dem wallenden weißen Haar und der Bartpracht eines Spät-Hippies, sie jünger, mit blonden Zöpfen und Sommersprossen am Nasenrücken und auf den Wangen. Sie schlürften mit sichtlichem Genuß am milchigen Tibetertee, und Richter bewunderte sie für ihre Schauspielkunst. Er konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Gemisch aus ranziger Yakbutter, bitterem schwarzen Tee und Salz irgend jemandem wirklich schmecken konnte. Er hatte es einmal probiert und nach dem ersten Schluck keinen zweiten mehr geschafft. Ethno-Freaks, nett und freundlich, ständig darauf bedacht, das Land von innen her kennenzulernen. Menschen mit manchmal fast lächerlich wirkenden Versuchen, mehr Sherpa zu sein, als es die Sherpas selbst waren. Richter hatte einige von ihnen getroffen, und er wunderte sich auch nicht, als der Mann Zigarettenpapier auspackte und sich seelenruhig einen Joint rollte. In Richters Welt hatte es für so etwas nie Platz gegeben, und er lehnte höflich ab, als ihm der Mann den brennenden Joint mit ermunterndem Kopfnicken entgegenhielt. Nancy nahm ihn, saugte den Rauch tief in ihre Lungen und hielt dann mit geschlossenen Augen lange die Luft an, bevor sie den dünner gewordenen Qualm wieder ausstieß. Richter sagte nichts. Er ärgerte sich darüber. Nach ihrem zweiten Zug stieß er ihr seinen Ellbogen sanft in die Seite. »Wenn wir heute noch weitergehen wollen, dann ist es wohl besser, wenn du damit aufhörst«, sagte er leise. Er wollte nicht, daß es vorwurfsvoll klang, trotzdem kam es so heraus. Sie
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schaute ihn milde lächelnd an, beugte sich zu ihm hin und drückte ihm einen langen, weichen Kuß auf die Lippen. »Ich hör ja schon auf«, flüsterte sie und streichelte dabei mit dem Zeigefinger sein Ohrläppchen. Die Amerikanerin hatte dasselbe Lächeln wie Nancy. »Es schadet nicht«, sagte sie, »wir haben es während des ganzen Marsches geraucht.« »Wahrscheinlich«, sagte der Spät-Hippie langsam und studierte dabei den Rauch, der sich vom glimmenden JointStummel wegkräuselte, »hat es uns sogar geholfen, die Höhe besser zu verkraften.« Richter, der mit diesem Gesprächsthema absolut nichts anfangen konnte und auch nichts dazu sagen wollte, nickte scheinbar zustimmend und hoffte, daß sie nicht mehr weiterreden würden. »Wir sollten etwas essen, bevor wir weitergehen«, schlug Nancy vor. Richter, der selbst noch keinen Hunger hatte, zuckte die Schultern. Die junge Sherpani, die den Tee für sie zubereitet hatte, meinte, daß sie gekochte Kartoffeln hätte, die sie mit etwas Zwiebel in der Pfanne rösten und auch ein paar Eier hineinschlagen könnte. Die Amerikaner nickten begeistert. Er schnalzte dabei mit der Zunge, als handle es sich um eine erlesene Luxusspeise. Obwohl Richter nichts bestellt hatte, stellte die Sherpani auch ihm einen Teller mit dem dampfenden Eier-ZwiebelKartoffelgericht hin. Nancy streichelte seinen Oberschenkel. »Iß nur«, lächelte sie, »damit du bei Kräften bleibst. Du wirst sie noch brauchen.« Wieder eine Anspielung auf das, worüber er mit ihr noch nie geredet hatte. Sie konnte es nicht wissen, weil es niemand
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außer ihm selbst wußte. Sie konnte es nur ahnen. Im Basislager würde er sie heute nacht oder morgen fragen, was ihn verraten hatte. Er wußte nicht, ob er es ihr erzählen, sie in alles einweihen sollte, bevor sie sich trennten. Dann würde es wenigstens einen Menschen geben, der Bescheid wußte. Verraten würde sie ihn nicht, davon war er inzwischen überzeugt. Sie war der Typ des loyalen Kumpels, mit dem man durch dick und dünn gehen konnte, der seine Entscheidung respektierte und nicht hysterisch zu einem der Begleitoffiziere laufen würde, um damit vielleicht sein Leben zu retten. Vielleicht würde er es ihr auch nicht sagen. Abwarten, wie sich die Dinge entwickelten. Während sie zahlten, schrieben die Amerikaner ihre Adresse auf einen Zettel und sagten, daß sie sie unbedingt besuchen müßten, wenn sie einmal nach Seattle kämen. Richter gab ihnen keine Adresse, weil er keine mehr hatte. Wenn sie eine von ihm verlangt hätten, dann hätte er irgend etwas aufgeschrieben. Es ihnen zu erklären wäre zu mühsam gewesen. Sie verlangten nicht danach, lächelten ihnen nur ein Haschisch-Lächeln nach, als sie gingen. Es ging wieder ein Stück abwärts, bis sie schließlich zum eigentlichen Gletscher gelangten. Das Eis war schmutziggrau, an manchen Stellen mit Kieselsteinen bedeckt, wie von einem unbekannten Straßenwärter gestreut, der die Wanderer vor dem Ausrutschen bewahren wollte. An anderen Stellen hatte er wohl versagt, da führte der Weg über blankes Eis, das vom Schmelzwasser freigespült und gewaschen worden war und nun wie Porzellan schillerte. Ein Teil des Wassers hatte sich unter dem Eis einen Kanal freigespült, es zischte und gurgelte unter den Füßen der Wanderer weiter und weiter, bis es irgendwo hilflos versickerte oder sich Tausende Kilometer weit bis zu einem der Meere durchkämpfte. Richter war nicht überrascht, als sie die sogenannte Phantom-
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Allee erreichten. Er hatte davon gelesen und Bilder gesehen. Die Wirklichkeit raubte ihm dennoch fast den Atem. Vor ihnen wuchsen gewaltige Eissäulen in die Höhe. Einige waren fast so hoch wie kleine Kirchtürme. Stalagmiten aus blankem Eis. Zwischen den großen, im Sonnenlicht hellblau bis türkisfarben glitzernden Riesenzapfen stachen Tausende von Winzlingen einen halben Meter hoch, knapp über das Knie reichend, aus einer Geröllmasse heraus. Es war ein bizarrer Märchenwald, den ein imaginärer Künstler aus dem wandernden Eis des Khumbu-Gletschers geformt hatte. Nancy, die auf dem zuletzt wieder stetig ansteigenden Wegstück langsamer geworden und immer öfter schwer atmend stehengeblieben war, brachte gerade noch genug Kraft auf, um die eisige Märchenwelt bestaunen zu können. Sie tat es ohne Worte, mit leisem Stöhnen. Sie kamen nur noch ganz langsam voran, und es dauerte unendlich lange, bis sie zur letzten, felsigen Steigung gelangten, die sie jetzt noch vom Basislager trennte. Links von ihnen streckte sich der Pumo Ri, 7145 Meter hoch, mit einer weißen Schneekappe über dem kegelförmigen Gipfel, dem noch immer blauen Himmel entgegen. Nancy sank vor der letzten Felsbarriere kraftlos zusammen. Sie rang mühsam nach Luft und stieß dazwischen Wortfetzen aus, die keinen rechten Sinn ergaben. Auch Richter war müde, seine Beine waren schwer wie nie zuvor, er atmete heftig, sog die Luft tief in die Lungen und hatte trotzdem das Gefühl, daß sie nie richtig voll wurden. Doch hatte er keine Kopfschmerzen und konnte klar denken. Es waren nur noch wenige hundert Meter, und sie mußten sie schaffen. Er nahm Nancy den Rucksack ab und half ihr, zwischen den Felsen eine halbwegs angenehme Sitzposition zu finden. Sie erholte sich rasch und war bald wieder in der Lage zu
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sprechen. »Laß mich hier«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. »Du mußt vorausgehen, einen Lagerplatz suchen, das Zelt aufstellen. Dann kannst du ja zurückkommen und mich holen. Bis dahin bin ich sicher wieder in Ordnung. Ich brauche jetzt nur etwas Zeit.« »Wir warten gemeinsam«, sagte er bestimmt. »Und dann steigen wir gemeinsam hoch.« Sie schloß die Augen und lächelte. »Weil wir ein Team sind?« Er beugte sich zu ihrem Gesicht herab und küßte ihre Wange. »Ja«, sagte er, »weil wir ein Team sind!« Eine Weile saßen sie schweigend auf ihren Steinen und starrten in die eisig-felsige Welt – menschenfeindlich, abweisend, tödlich. Nancy stemmte sich hoch und stellte sich auf die Beine. Die ersten Schritte, die sie tat, waren noch etwas wackelig, bald funktionierte das Gehen wieder so gut, daß sie zum Weitersteigen bereit war. Richter schulterte beide Rucksäcke, und sie ging voraus. Es dauerte eine halbe Gehstunde und unzählige Ruhepausen, bis sie das Ende des felsigen Hanges erreicht hatten. Vor ihnen breitete sich ein riesiger Felskessel aus, gewaltige Felswände erhoben sich an den Seiten, rechts nur vom bizarren Eiswulst des Khumbu durchbrochen. Irgendwann einmal war es wohl einer der einsamsten Orte der Erde gewesen. Jetzt machten ihn Hunderte von Zelten zu einem bunten Rummelplatz. Es war der 15. April. Bald würden die ersten Bewohner dieser seltsamen Siedlung erstmals versuchen, den Gipfel des Mount Everest zu
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erreichen. Von Richters Standort aus betrachtet, waren sie nichts anderes als winzige farbige Punkte.
Die Expedition Hans Frey hatte sich noch nie so mies gefühlt wie jetzt. Muskeln, die schlaff und kraftlos waren wie die Hülle eines leeren Luftballons. Der Kopf ein hohler Behälter, in dem sich nichts Gutes, sondern nur der verdorbene Rest seines einstigen Inhalts befand. Es fühlte sich an wie ein gewaltiger Kater, nur noch viel schlimmer. Doch kein Kater, den Frey jemals gehabt hatte, war so schmerzhaft gewesen. Er lag im Dämmerlicht des Zeltes und suchte in dem wilden Gehämmer und Gedröhne, das seinen Schädel erfüllte, nach halbwegs vernünftigen Gedanken. Als er sie nach einer Weile gefunden hatte, wollte er zunächst einmal herausfinden, was es war, das diesen erbärmlichen Zustand ausgelöst hatte. Natürlich die Höhe. Er hatte es befürchtet. Klar war ihm auch, daß er am Anfang für seine Verhältnisse viel zu schnell gegangen war. Sein Tempo war nicht das der anderen. Wahrscheinlich weil er doch wesentlich älter war als sie, er war auch schwerer gebaut und wohl doch nicht ganz so fit, wie er geglaubt hatte. Nur eines glaubte Frey absolut nicht: daß es die Höhenkrankheit war, unter der er litt. Extreme Müdigkeit, wahrscheinlich sogar totale Erschöpfung, ganz klar, wenn man die Faktoren, die er zuvor gesammelt hatte, zusammenzählte. Er hatte seit dem Morgen vieles falsch gemacht, er war eben
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ein Anfänger, und er hatte noch viel zu lernen. Er konnte sich noch dumpf daran erinnern, daß Erika bei ihm im Zelt gewesen war und ihm mit dem Tee auch Schmerztabletten gegeben hatte. Ihnen hatte er es wohl zu verdanken, daß sein Kopf jetzt etwas klarer war und das schmerzhafte Pochen langsam nachließ. Irgend jemand zog die Plane am Zelteingang zur Seite und ließ grelles Licht herein. Frey schloß kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er, daß Steiner neben ihm hockte. Er spürte, wie ihm der andere kumpelhaft auf die Schulter klopfte. »Wie geht’s dir, alter Knabe?« fragte Steiner. »Beschissen«, knurrte Frey und schaffte es, sich so weit aufzurichten, daß er den Oberkörper auf die Ellenbogen stützen konnte. Er blieb in dieser Position, obwohl ihn Steiners Hand, die immer noch auf seiner Schulter lag, wieder in die Liegeposition zurückzudrücken versuchte. »Bleib doch liegen«, befahl Steiners Stimme, »ruh dich aus, vergiß alles, es wird schon wieder, du wirst sehen. In ein, zwei Stunden bist du wieder okay.« »Ich bin es zu schnell angegangen am Anfang.« »Meine Schuld«, sagte Steiner leise, »jetzt weiß ich es. Beim nächsten Mal machen wir’s anders.« Freys Oberarme begannen zu zittern, er legte sich wieder zurück und schloß die Augen. »Der verdammte Khumbu«, knurrte er. »Du wirst sehen«, hörte er Steiner sagen, »zwei, drei Tage im Basislager wirken Wunder, beim nächsten Mal hast du ihn viel besser im Griff.« Frey hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Er wußte nur, daß er den Eisfall geschafft hatte und daß er dafür alles, was er an Kräften besaß, hatte hergeben müssen. Jetzt
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hatte ihn Steiner daran erinnert, daß alles nur eine Art erste Generalprobe für den wirklichen Aufstieg gewesen war, daß sie wieder hinunter und dann nochmals zur Akklimatisierung hinauf sollten, daß all das, was er während der vergangenen Stunden mitgemacht hatte, im Grunde genommen nichts wert sein würde. Es war, als hätte er soeben nach mühsamen Verhandlungen eine Million für ein Riesengeschäft erhalten und irgendeine hirnrissige Regel zwang ihn nun dazu, das Geld wieder zurückzugeben, weil er den Deal drei Tage zu früh durchgezogen hatte. Frey schlug die Augen auf. »Ich bleibe hier«, sagte er, »du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mir die Schinderei nochmals antue. Beim blödsinnigen Auf- und Absteigen verbrauche ich Kraft, hier oben kann ich mich erholen, ist doch klar, oder?« Steiner hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. »Da liegst du falsch, Hans. Der Abstieg wird dir nichts ausmachen, den schaffst du morgen früh mit Leichtigkeit. Du darfst nie vergessen, daß wir uns hier auf sechstausend Metern befinden. Hier kann man keine neuen Kräfte sammeln, man baut die alten ab, die man mitgebracht hat. Je höher, desto rascher. Auch das Basislager ist kein Sanatorium, es ist nur der tiefste Punkt und damit auch jener, an dem man am meisten Kraft sparen kann. Drei Tage dort unten sind trotz des Auf- und Abstiegs viel besser für dich als drei Tage hier oben. Du mußt lernen, deine Kräfte besser einzuteilen, und das kannst du nur, wenn du in Bewegung bist. Hier kannst du noch für oben lernen, und ich rate dir dringend, es zu tun.« Belehrendes Gefasel war an Frey schon immer abgeprallt, er wußte selbst am besten, was gut für ihn war, und seine Logik sagte ihm, daß ihm ein neuerliches Hochquälen durch den Eisfall auf keinen Fall mehr nutzen konnte als drei faule Tage. Schließlich war er keiner, der das Bergsteigen aus reiner
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Geilheit betrieb und süchtig danach war, wie eine Gemse zwischen Fels und Eis herumzuhüpfen. Er war überhaupt kein Bergsteiger, er wollte nur auf dem Gipfel des Mount Everest stehen, und dafür hatte er viel bezahlt. Mehr als die anderen, weil ja auch ein Großteil der Ausrüstung von ihm finanziert worden war. Deshalb hatte er sich auch eine besondere Betreuung verdient, Steiner sollte das nie vergessen. Frey verspürte jedoch keine Lust, ihm all das jetzt zu sagen. Er war müde und hoffte, endlich einschlafen zu können, wenn man ihn in Ruhe ließe. Er rollte sich zur Seite und drehte Steiner den Rücken zu. Steiner blieb noch einige Minuten lang bei ihm im Zelt, dann hörte Frey, wie er durch den Eingang ins Freie kroch. Der Schlaf kam, doch war es kein angenehmer Schlaf. Immer wieder der Khumbu. Er selbst, auf Leitern balancierend, Spalten wie weit aufgerissene Monsterrachen, die ihn schluckten, Eistürme, eigentlich schaurige, blauglitzernde Horrorgestalten, die mit dröhnendem Hohnlachen gezackte Eisbrocken auf ihn schleuderten, Steiner mit verzerrter Fratze, der ihn mit einer Peitsche zur Eile antrieb, und Erika, gazellengleich über Klüfte springend, senkrechte Glitzerwände hochschwebend und am Ende in Dreiers Armen landend, er selbst, kraftlos im Eis liegend, beide mitleidig zu ihm herablachend. Frey schreckte hoch, neben ihm saß ein Mann im Zelt, den er noch nie gesehen hatte. Der Mann redete, doch Frey verstand ihn nicht. Es dauerte einige Sekunden lang, bis sein Kopf etwas klarer war und er erkannte, daß der andere englisch sprach. »Ich bin Doktor Lee«, sagte der Mann, wahrscheinlich schon zum dritten Mal. »Jim Lee. Ronny Steiner schickt mich, wie fühlst du dich?« Frey starrte ihn an, er brauchte keinen Arzt.
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»Ich bin okay«, sagte er. Der Amerikaner lachte. »Einer, der okay ist, sieht anders aus.« Frey quälte sich, bis er aufrecht im Zeh saß. »Ich brauche keinen Arzt«, sagte er. Der Amerikaner lachte nicht mehr. »Steiner zahlt mich dafür, daß ich mich um euch kümmere«, sagte er, »ich bin nicht den ganzen Weg hier rübergekommen, um mich mit einem Dickschädel herumzuärgern.« Er griff nach Freys Hand und fühlte seinen Puls, dann befahl er ihm, den Oberkörper freizumachen. Frey tat es, weil der Mann vor ihm eine Autorität ausstrahlte, die so stark war, daß er keinen Sinn darin sah, sich ihm entgegenzustellen. Jim Lee hörte ihn mit dem Stethoskop ab. »Kopfschmerzen?« fragte er. »Schon besser«, antwortete Frey nicht mehr ganz so widerwillig. »Übelkeit?« »Nie gehabt, nur Kopfschmerzen.« Der Amerikaner blickte ihn nachdenklich an. »Alter?« »Achtundvierzig«, sagte Frey. Der Amerikaner blieb eine Weile stumm in derselben Pose, runzelte dabei die Stirn, dann nickte er sich selbst zu. »Es ist kein HAPE, kein Höhenluft-Lungenödem, obwohl einige Symptome dafür vorhanden sind. Deine Lunge klingt zwar nicht wie eine Konzertflöte, scheint aber doch einigermaßen in Ordnung zu sein. Was mir Sorgen macht, ist der totale Erschöpfungszustand, von dem du dich gerade erholst. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder du hast heute alle Signale, die dir dein Körper gegeben hat, ignoriert und ihn so lange gepeitscht, bis er dich beinahe im Stich gelassen hätte, oder es gibt etwas, das bei dir nicht in Ordnung
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ist, das ich hier jedoch, mit den begrenzten Möglichkeiten, die mir zur Verfügung stehen, nicht ausfindig machen kann.« Frey hob abwehrend die Hände. »Bei mir ist alles in Ordnung, von Spezialisten gecheckt. Ich weiß selbst nicht, was heute los war. Wahrscheinlich bin ich zu rasch angegangen.« Jim Lee nickte. »Wäre eine Erklärung.« Er begann, seine Sachen einzupacken. »Ich komme morgen früh noch einmal vorbei«, sagte er und zog dabei eine Pillenpackung aus der Tasche seines veilchenfarbenen Anoraks. »Nimm die, vorläufig einmal zwei, wenn es in der Nacht schlimmer wird, nochmals zwei.« Er griff nach Freys Hand und schüttelte sie. »Wir sehen uns morgen früh. Du mußt auf alle Fälle so rasch wie möglich ins Basislager!« Frey fragte sich, ob Steiner dem Arzt gesagt hatte, daß er morgen nicht mit den anderen ins Basislager zurückgehen wollte. Der Befehl war deutlich gewesen. Er verschwand, bevor Frey protestieren konnte. Vielleicht hätte Frey auch gar nicht protestiert, weil er außer seinem Starrsinn keine Argumente mehr hatte. Er dachte wieder an den Khumbu und fluchte, dann kam Erika. Sie beugte sich zu ihm herab und küßte ihn auf die Wange. Er streckte seine Hand nach ihr aus und zog sie an sich. Ihr Körper schmiegte sich an den seinen, es war warm und angenehm. Frey fühlte sich geborgen und beschützt. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, flüsterte sie. »Ich bin okay«, sagte er. »Keine Höhenkrankheit«, flüsterte sie.
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Er streichelte ihr Haar. »Nur eine alte Maschine und eine zu hohe Drehzahl.« Sie löste sich sanft aus seiner Umarmung, richtete sich auf und schlängelte sich in Richtung Zelteingang. Als sie wieder bei ihm war, hielt sie einen Becher in der Hand. Es war Tee, und er war heiß. »Du mußt jetzt deine Medizin nehmen.« »Zwei Stück«, lächelte er. Sie nickte. »Morgen steigen wir ab.« Er sagte nichts mehr.
Richter Richter hatte einen Felsklotz erklommen, der die anderen etwas überragte, und von diesem Aussichtsturm aus nach einem Ort gesucht, der nicht mehr zur Zeltstadt gehörte, von dort aus jedoch auch nicht gesehen werden konnte. Er sah mehrere Plätze, die für seine Zwecke geeignet gewesen wären, die besten waren jedoch zu weit weg oder lagen so nahe an den Wänden, die den weiten, u-förmigen Kessel begrenzten, daß er befürchtete, von den Lawinen getroffen zu werden, die – wie er in seinem Expeditionsbüchern gelesen hatte – immer wieder von dort herabdonnern. Er entschied sich schließlich für einen, der kaum fünfzig Meter von den letzten Zelten entfernt und von diesen durch einen mächtigen Felsklotz getrennt war. Es war ihm auch sehr recht, daß die Sonne inzwischen hinter dem Pumo Ri verschwunden war und ihr grelles Licht mitgenommen hatte. Die rasch hereinfallende Dämmerung machte alle Menschen zu
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anonymen, kaum erkennbaren Schattenfiguren, die sich langsam und scheinbar ziellos irgendwo hinbewegten. Es war beinahe dunkel, als sie den Platz, wo sie ihre Zelte aufstellen wollten, vom spitzen Geröll gesäubert hatten. Der Ort war fast eben, von der Zeltstadt war nichts zu sehen, es gab nur verzerrte Musik- und Wortfetzen, die der Abendwind manchmal herüberwehte. Nancys Zelt, das etwas größer war, wurde zum Wohnzelt, im anderen lagerten sie ihre Sachen. Als sie alles aufgebaut und verstaut hatten und Nancy auf dem winzigen Platz zwischen den Zelten den Kocher aufgestellt und angezündet hatte, stieg Richter auf den Felsklotz, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich oben auf wie die Statue eines alten Seefahrers, der an dieser Stelle zum ersten Mal neu entdecktes Land betreten hatte. Er hatte sein erstes Ziel erreicht. Es war sein Basislager. Er war eine Expedition, und auf der anderen Seite der Wand, die sich vor ihm hochtürmte und die Nacht noch schwärzer machte, war der Mount Everest. Richter spürte nur tiefe Zufriedenheit, keine Angst. Die Spannung, die ihn seit jenem Tag am Gipfel des Mont Blanc angetrieben und rastlos hatte vorwärtsstreben lassen, war zu einem kaum spürbaren Kribbeln verkümmert. Er drehte sich um, und die Zeltstadt, die sich jetzt vor ihm ausbreitete, schickte ihre Lichter in seine Richtung. Es war kein Lichtermeer, die meisten Expeditionsmitglieder saßen um diese Zeit wohl in ihren Messezelten und ließen sich vom angeheuerten Küchenpersonal bedienen. Richter begann, die glitzernden Lichtquellen zu zählen, und hörte bei dreißig auf. Er fragte sich, wo wohl Hillarys Zelt gestanden hatte und Tenzings. Die beiden hatten hier ähnliche Nächte erlebt und dieselben Sterne gesehen, die jetzt langsam auch für ihn zu glitzern begannen.
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Richter war ein reicher Mann, er hatte alles, was er sich wünschte, vor allem hatte er eine Chance. Die Chance seines Lebens. Und Nancy. Ohne wirklich zu wissen, warum. Nur weil sie eine Frau war? Richter wußte, daß da mehr war als nur das, was sie ihm mit ihrem Körper gegeben hatte. Vielleicht war es die Angst vor der ultimativen Einsamkeit gewesen, dem Alleinsein mit den hundertmal gewälzten Gedanken. Immer und immer wieder. Nur der Berg. Vorwärts, nie zurück zu Christoph und Anna. Keine Vergangenheit, nur die Zukunft, der Gipfel. Es gab kein Leben mehr, in das er zurückkehren wollte, nur noch ein Ziel, den extremsten aller Höhepunkte, der für ihn zugleich auch der Endpunkt sein würde. Richter hatte sein Gehirn darauf programmiert, sich zum Roboter gemacht. Dann war Nancy in sein Leben gestürmt, und er hatte sich nicht dagegen gewehrt, weil er eben doch kein Roboter war. An der Ausgangssituation hatte sich nichts geändert, auch am Ziel nicht, nur die Zeit hatte sich verändert. Statt des grauen Grübelns gab es bunte Gespräche, er hatte die Kunst des Lächelns wiedergefunden und war nun, verdammt noch mal, dazu verpflichtet, ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Das Wasser, das sie aus dem dünnen Gletscherrinnsal geschöpft hatte, das nicht weit von ihrem Lager entfernt dahingurgelte, war bereits heiß und mit ihm das Suppenpulver, das sie hineingerührt hatte. Es roch beinahe wie ein richtiges Essen. Er setzte sich auf einen der beiden kniehohen Steine, die er zuvor herangewälzt hatte. Sie saß auf dem anderen. Zwischen ihnen züngelte ein bläulicher Flammenkranz fahles Licht in die Nacht. Sie hörte still zu, als er ihr alles sagte. Am Ende kam das
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Schweigen. Sie rührte mit einem Löffel in der Suppe herum, die längst fertig war. »Der Anfang und das Ende«, sagte sie nach einer Weile und schaute ihm zum ersten Mal, seit er zu reden begonnen hatte, wieder in die Augen. Er wartete. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie schwieg wieder. Das Brodeln im Topf klang wie der Trommelwirbel eines weit entfernten Soldaten. »Du hast es gewußt«, sagte er. »Nein«, antwortete sie, »wie hätte ich es wissen können?« »Dann hast du es geahnt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab es nur so gesagt, einfach so, du weißt ja, man sagt etwas sehr bestimmt, als würde man es wissen, und wartet dann auf eine Reaktion. Bluff, Psychologenbluff, ein Spiel.« »Ein Spiel?« fragte Richter. »Nur ein Spiel«, sagte sie. Sie hatte ihn, ohne es zu wollen, überrumpelt, doch es machte ihm nichts aus. Er hatte eine Last abgeladen, und sie konnte sie einfach liegenlassen, morgen früh durch das Lager zum Fuß des Khumbu gehen, den Everest berühren und für immer verschwinden. Vielleicht war es besser so, für beide. Er schaute den Flammen zu, kleine tanzende Lichterkobolde, die einen Kreis gebildet hatten. Es war kälter geworden. Der Nachtfrost kroch heran. »Du mußt mir nur eines versprechen«, sagte er dann. Sie nickte jetzt schon ihre Zustimmung, vielleicht, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern. »Versuche bitte nicht, mich daran zu hindern. Ich habe es schon immer gewollt, und wahrscheinlich hat alles so kommen müssen, um es möglich zu machen.« »Daß dein Sohn gestorben ist?« Er wußte es nicht, und er wollte es nicht wissen. Christophs
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Tod, den er so lange nicht hatte wahrhaben wollen, war irgendwann für ihn zur Tatsache geworden. Wenn er den Jungen zurückholen hätte können, dann wäre er jetzt ganz sicher nicht hier. Aber er konnte ihn nicht zurückholen. »Es hat keinen Sinn, darüber zu reden«, sagte er. Sie rührte wieder mit dem Löffel in der Suppe, ans Essen dachten beide nicht mehr. »Zu Hause, an der Uni«, lächelte sie, »wärst du meine Diplomarbeit gewesen.« »Weil ich verrückt bin?« »Was ist verrückt?« fragte sie zurück. Er zuckte die Schultern. »Wenn einer bereit ist, alles zu geben, um einen Berg besteigen zu können.« »Der Mount Everest«, antwortete sie, »ist nicht irgendein Berg, vielleicht ist er überhaupt kein Berg mehr, vielleicht ist er für solche wie dich längst zum Gipfel der Besessenheit geworden, zum Synonym für das größtmöglich Erreichbare, zum letzten und extremsten Beweis für menschliche Kraft und Entschlossenheit. « »Ein Ziel«, sagte er, »für mich ist er nur ein Ziel, mein Ziel, es gehört mir ganz allein. Ich bin in meinem Leben immer im Kreis gegangen, für alles hat es einen Sinn gegeben, aber es war ein Sinn, der von der Verantwortung, von den Verpflichtungen, von der Vernunft vorgegeben war. Der Everest ist mein Sinn, und er hat mit Vernunft, Verantwortung oder Verpflichtung absolut nichts zu tun.« Er kratzte sich am Kopf, verlegen, für sie war es Unsinn. Er brauchte ihr nichts zu erklären, weil er sie nicht von der Richtigkeit seines Tuns überzeugen mußte. »Im Grunde genommen«, sagte sie, »ist das, was du vorhast, nichts anderes als ein heroischer Selbstvernichtungstrip.« Er hatte zwar nichts mehr sagen wollen, jetzt winkte er
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jedoch ab. »Mit Heldentum hat es überhaupt nichts zu tun«, protestierte er, »Helden brauchen die Öffentlichkeit, mir ist die Öffentlichkeit völlig egal.« »Manche Helden«, sagte sie ruhig, »sind solche Egoisten, daß es ihnen genügt, wenn sie von sich selbst bewundert werden.« Er nahm es so, wie sie es gesagt hatte, und nickte. »Lassen wir es dabei«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nur eines noch«, drängte sie, »dann werde ich das, was du vorhast, nie mehr kommentieren.« Sie ging zu ihm und hockte sich nieder. »Nehmen wir an«, sagte sie leise, »du hättest dein Leben lang Lotto gespielt und immer verloren. Eines Tages erscheint dir der Teufel und bietet dir einen Deal an: die richtigen Zahlen gegen dein Leben. Du hast dir nichts sehnlicher gewünscht, als endlich einmal zu den Siegern zu gehören. Jetzt hast du die Chance dazu – du darfst das Gefühl des Gewinnens kurz genießen und mußt dann sterben. Es ist jedoch nicht die Siegeseuphorie, die den Sinn des Gewinnens ausmacht, sondern der Gewinn selbst, das Kapital, das dir die Freiheit geben kann, nach der du dich so lange gesehnt hast, verstehst du?« Er legte seinen Arm um ihre Schulter. »Es ist zu spät«, lächelte er, »ich habe mich schon an den Teufel verkauft.« »Noch nicht ganz«, sagte sie, »du kannst sein Angebot annehmen und den Preis kassieren.« Sie griff nach seiner Hand und streichelte sie. »Der Teufel ist dumm und kurzsichtig«, lächelte sie, »er wird dich nicht holen, weil du schlauer bist und ihn am Ende überlistest. Dann kommst du zurück, und wir werden den Lohn
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gemeinsam verprassen!« Richter begann erst jetzt zu verstehen. »Heißt das«, fragte er, »daß du hierbleiben und auf mich warten willst?« Sie richtete sich auf und küßte ihn. »Nur wenn du mir versprichst, daß du zurückkommst.« Richter hatte sich immer nur auf den Gipfel konzentriert, der Rückweg war ihm nicht wichtig gewesen. Wenn hundert Prozent seiner Fähigkeiten gerade reichen würden, um das Ziel zu erreichen, dann würde er diese hundert Prozent rücksichtslos verbrauchen, auch das, was im Reservetank war. Das war sein Plan. Was ihn oben erwartete, wußte er nicht, und er wußte nicht, ob er dann, wenn es wirklich darauf ankam, auch die Kraft und den Mut aufbringen würde, um diesen Plan durchzuziehen. Jeder Gedanke an eine Umkehr mußte ausgeschaltet werden, weil er ihn weichmachen konnte. »Ich kann dir gar nichts versprechen«, sagte er. »Ich weiß«, murmelte sie, »ich werde trotzdem hierbleiben.«
Die Expedition Steiner war der einzige, der schon wach war, als Jim Lee ins Lager kam. Es war sieben Uhr früh, eine Zeit, zu der am Berg eigentlich nicht mehr geschlafen wurde. »Ich hab sie noch nicht geweckt«, sagte Steiner mit einer entschuldigenden Handbewegung, »waren ziemlich geschlaucht, die drei.« Der Amerikaner deutete auf den Kocher und den Tee, der im Topf dampfte. »Was Warmes wäre nicht schlecht.«
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Steiner füllte rasch einen Becher und reichte ihn ihm. »Schwere Aufgabe«, sagte Lee und deutete mit dem Kinn auf die Zelte, deren Eingänge noch verschlossen waren. »Nur der eine«, antwortete Steiner, »die anderen beiden sind in Ordnung.« »Wir haben in unserer Truppe einen ähnlichen Fall«, erzählte der Arzt, »auch schon fast fünfzig, stinkreich, hat im Vorjahr den McKinley geschafft und dann geglaubt, er könne den Everest als Draufgabe verspeisen. Er hat es vorgestern nicht einmal bis zur Hälfte des Khumbu geschafft. Ich habe ihn mit einem Sherpa zurückgeschickt, jetzt ist er stinksauer. Gestern hat er mich über Funk wüst beschimpft, er will morgen wieder hoch.« Lee schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ist ein Irrenhaus geworden, der Everest, der alte Tenzing Norgay würde sich im Grab umdrehen, wenn er sehen würde, welche Gestalten heutzutage versuchen, seinen Götterthron zu besteigen.« Steiner wußte nicht, ob es ein Vorwurf war, der auch ihn betraf, er beschloß, die Bemerkung zu ignorieren. »Das Wetter macht mir leichte Sorgen«, sagte er hingegen. Lee blinzelte in den Himmel, der langsam blau zu werden begann. »Ist doch in Ordnung.« Steiner schüttelte den Kopf. »Viel zu schön«, sagte er, »schon viel zu lange viel zu schön. Ein paar Wolken, etwas Wind, ein kleiner Schneesturm, das wäre normal. Gott bewahre uns vor einer massiven Schlechtwetterfront, das meine ich nicht, doch immer schön ist auch schlecht. Das war schon einmal so, vor ein paar Jahren, ich weiß nicht mehr genau, wann. Da ist es dann in der ersten und zweiten Maiwoche ganz dick gekommen, und es hat am Ende nur drei echte Gipfeltage gegeben.«
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Der Amerikaner nickte. »Dieser Berg hat ein paar Killer auf Lager. Unten ist’s der Eisfall, in der Lhotse-Flanke ist’s der Steinschlag, einige bringt die Höhe um, und wenn man all das durchgestanden hat, ist es das Wetter, das oben die Falle zuschnappen läßt.« »Mehr Tee?« fragte Steiner. Jim Lee schüttelte den Kopf und gab Steiner den leeren Becher. Er blickte auf seine Uhr. »Höchste Zeit, daß ich nach unserem Patienten sehe.« Erika Frey hatte sich nie aus- oder schon angezogen. Sie öffnete das Zelt, bevor der Arzt dort ankam. »Er ist schon wach«, sagte sie und kroch rasch ins Freie, um den Eingang für den Amerikaner freizugeben. Lee streifte sie mit einem flüchtigen Lächeln. Hans Frey hatte sich in der Nacht überraschend gut erholt. »Noch nicht brillant, aber einigermaßen zufriedenstellend«, sagte der Amerikaner am Ende der Untersuchung. Frey ließ es geschehen, daß ihm der Arzt eine Injektion gab. Das dumpfe Dröhnen im Schädel war noch da, das schmerzhafte Pochen jedoch verschwunden. Wenn dies der einzige Preis war, den er für die Höhenlage zahlen mußte, dann würde er ihn verkraften. Kurz vor neun Uhr brachen sie auf. Mingma und die beiden Sherpas kamen ihnen entgegen, als sie am Fuße der ersten langen Leiter angelangt waren. Sie hatten jetzt Sauerstoffflaschen mit, die Frey nun nicht mehr brauchte. Bergab ging es erstaunlich leicht. Um elf Uhr kamen sie im Basislager an. Zwei Stunden und ein kräftiges Mittagessen später war Freys Kopf bereits so klar, daß er sich an das Satellitentelefon setzte und seinen Geschäftsführer anrief. Erika Frey hatte die erste echte Prüfung auf dem Weg zum Gipfel bestanden. Das Gefühl, das sie vom Eisfall mitbrachte,
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glich jener Zufriedenheit, die sie verspürt hatte, als sie zum ersten Mal für Deutschland zur Weltmeisterschaft fahren durfte. Diesmal hatte sie ihren Körper einer bis jetzt noch nicht gekannten Belastungsprobe ausgesetzt und zuvor nicht gewußt, wie er darauf reagieren würde. Höhenbergsteigen kann man nur in der Höhe üben. Sie hatte mit einigem Bangen auf den ersten echten Test gewartet, jetzt war sie beruhigt, und das Bangen war weg. Und auch die Angst. Erfolge machen stark, und Erika Frey wußte nun, daß sie körperlich für den Berg bereit war. Den Respekt hatte sie nicht verloren, doch irgendwo ganz tief in ihr freute sie sich sogar auf das, was ihnen die nächsten Tage bringen würden. Heute hatte sie Zeit, einen halben Tag lang. Eigentlich hatte sie einige Briefe schreiben wollen, jetzt fehlte ihr jedoch die Lust dazu. Sie dachte, daß es ganz gut wäre, sich nach der ersten größeren Belastungsprobe auch einmal vom amerikanischen Arzt durchchecken zu lassen. Als Sportlerin waren die Ärzte ihre ständigen Begleiter gewesen. Außerdem bezahlten sie den Mann dafür. Und das Lager der Amerikaner kannte sie auch nur vom Vorbeigehen. Hans Frey hatte seine Geschäftsgespräche beendet, sie hatten ihn nicht fröhlicher gemacht, doch seine Gedanken waren zumindest für einige Zeit abgelenkt worden. Er fühlte sich ausgelaugt und müde und wollte sich für eine Weile ins Zelt legen. Erika Frey war froh darüber. Hans, zu Hause der souveräne Steuermann im Meer der Gesellschaftshaie und Geschäftsklippen, war hier wie ein Kind, schwach, anlehnungsbedürftig, zugleich jedoch auch ungezogen und aufmüpfig, und sie war in die Rolle der umsorgenden Mutter gedrängt worden. Wenn es etwas gab, was sie in ihrem Leben absolut nicht sein wollte, dann dies. Es war schon schwer genug, seine Frau zu sein.
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Das Lager der Amerikaner lag im oberen Teil des Kessels und hatte den kürzesten Zugang zum Khumbu. Es war das größte aller Lager und nicht zu verfehlen. Sie hatten in der Mitte der Zeltstadt zwei Stangen in den Boden gerammt. Von einer flatterte das amerikanische Sternenbanner, von der anderen das Firmenzeichen eines Computergiganten, der sich als Hauptsponsor am Unternehmen Everest beteiligt hatte. Jim Lee war ebenfalls leicht zu finden. Er befand sich in einem geräumigen Zelt, an dessen Eingang ein Schild hing, auf dem »Doctor« stand. Innen war es ähnlich ausgestattet wie die Praxis eines Landarztes. Kisten mit Medikamenten, zwei scheinwerferähnliche Lampen, drei Feldbetten, von denen eines belegt war. »Willkommen in unserem Lazarett«, schmunzelte der Arzt, als Erika Frey eintrat. Der Mann am Bett richtete sich auf und winkte ihr zu. Er trug einen Trainingsanzug, und seine nackten Zehen waren mit Pflastern verklebt. »Wir sind gerade fertiggeworden«, sagte Lee, »Barry hat Probleme mit seinen Zehen, zu verweichlicht der Kerl, Partyhengst, Frauenheld, trägt zu Hause nur dunkle Anzüge und Lackschuhe.« »Idiot«, brummte der andere und stand auf, beide lachten. Der Arzt stellte die beiden vor. »Erika, so war doch der Name?« Sie nickte. »Also, das ist Erika von der deutschen Expedition, die mich als Onkel Doktor angeheuert hat, und das ist Barry Hartley aus San Diego, gefürchteter Rechtsanwalt, in seinem zweiten Leben der härteste Hund südlich von Los Angeles.« Sie schüttelte ihm die Hand, seine war hart und trocken, er drückte kräftig zu, und sie drückte noch kräftiger zurück. »Die Dame hat eine Eisenklaue«, stöhnte Barry und
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schüttelte mit gespieltem Schmerz seine Finger aus. Die Amerikaner gefielen ihr, sie waren ganz anders als Hans, der Lehrer oder Steiner, viel unkomplizierter, geradliniger, freundlicher. Barrys Haar war extrem kurz geschoren, wahrscheinlich war es blond, er hatte breite Schultern, schmale Hüften, kräftige Beine und blitzweiße Zähne, die er ihr zeigte, bevor er aus dem Zelt ging. Erika fragte sich, warum er Anwalt und nicht Filmstar geworden war, in Kalifornien saß er schließlich an der Quelle. Sie sagte dem Arzt, warum sie hier war, Lee nickte. »Ich hab heute hier noch einiges zu tun, du kannst aber gerne bleiben. Morgen früh wäre ich ohnehin zu euch gekommen, hab ja schließlich einen Job zu erledigen.« Erika Freys Werte waren hervorragend. »Hab bei unseren Spitzenleuten nichts Besseres festgestellt«, sagte er, »warst du schon einmal auf einem Sieben- oder Achttausender?« Sie schüttelte den Kopf. »Wildwasserpaddeln«, sagte sie. Lee lachte. »Kein Wunder, daß ihr ›Krauts‹ alles gewinnt.« Sie gingen hinüber, zum Messezelt, das viel größer und geräumiger war als ihr eigenes. Sogar eine Video- und eine Stereoanlage waren da, die, wie Lee ihr erklärte, allerdings erst dann funktionierten, wenn abends der Generator lief. Er stellte ihr Lucie Bell vor, brünett, nicht älter als fünfundzwanzig, spitzes Mausgesicht, sehr schlank, sehr beschäftigt. Sie blickte nur kurz von ihrem Laptop hoch, als Lee Erika erklärte, daß Lucie als Journalistin mitgekommen sei und eine große amerikanische Illustrierte mit Nachrichten füttern solle. Erika erinnerte sich daran, daß sie vor der Abreise versprochen hatte, eine Münchner Tageszeitung mit Schreibstoff zu beliefern. Die hatten kurzfristig sogar überlegt,
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einen Mann mitzuschicken, dann war ihnen jedoch der Preis, den Steiner dafür verlangt hatte, zu hoch gewesen. Jetzt besaß der Expeditionsleiter alle Veröffentlichungsrechte und informierte via Satellitentelefon regelmäßig eine große Nachrichtenagentur, die ihn wahrscheinlich fürstlich dafür honorierte. Die Zeitung wollte jedoch »Der Everest, mit den Augen einer Frau gesehen«. Hans Frey, der sich durch die Veröffentlichung einiges an Werbung versprach, hatte sein ganzes Gewicht als Sponsor in die Waagschale werfen müssen, um Steiner die Erlaubnis dafür abringen zu können. Bis jetzt hatte Erika noch keine Zeile abgeschickt. Das Schreiben war nie ihre Sache gewesen. Der Kaffee war scheußlich, doch die Kekse mit den Schokoladestücken schmeckten großartig. Lee erzählte ihr alles über die amerikanische Expedition. Greg Randell, der Leiter, Initiator, Organisator, ein alpines Superhirn, das sich im Laufe der Jahre einen hervorragenden Namen erarbeitet hatte, war eine internationale Größe, der sich zehn zahlungskräftige Kunden anvertraut hatten. Mit Nick Hernandez, Stan Booker, Don Lewis und Stewart Allen hatte er vier absolute Spitzenleute als Bergführer angeheuert, dazu kamen zwölf der erfahrensten Sherpas, drei Köche, zwei Küchenjungen, der Basislagerleiter, zwei Basislagersherpas, der Begleitoffizier und er, Jim Lee aus Truckee, Kalifornien, vierunddreißig Jahre alt, geschieden, hauptsächlich als Arzt dabei, wenn sich jedoch die Möglichkeit böte, hätte er auch nichts dagegen, selbst den Gipfel zu erreichen. Er war, wie sie, zum erstenmal hier, da er jedoch schon eine Woche früher hier eingetroffen war, wußte er über den Lagerplatz und alles, was sich im Kessel am Fuße des Khumbu abspielte, besser Bescheid. Er konnte sogar alle vierzehn Expeditionen aufzählen, die hier in Lauerstellung lagen: USA, Deutschland, Italien, Südkorea, zweimal Japan, Slowenien,
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Argentinien, Tschechien, Großbritannien, Frankreich, Polen, Schweiz und die Skandinavier, denen Norweger, Schweden und Finnen angehörten. »Verrückt«, sagte er, »völlig verrückt. Da sind Leute dabei, die nicht einmal wissen, wie man Bergschuhe anzieht, von Steigeisen gar nicht zu reden.« Erika Frey dachte an ihren Mann und sagte nichts. Barry, der Patient vom Lazarettzelt, tauchte auf, sie lernte Lou Poole kennen und Wesley Stone, ebenfalls zahlende Kunden. Sie wirkten fit und kompetent und strotzten vor Selbstvertrauen. Am Ende kamen mit Nick Hernandez und Don Lewis auch zwei der Bergführer ins Messezelt. Die Nachricht, daß sich eine attraktive junge deutsche Bergsteigerin dort aufhielt, hatte sich offenbar bereits herumgesprochen. Lucie Bell bearbeitete noch immer ihren Laptop.
Richter Irgendwie war alles ganz anders gekommen. Richter hätte sich nie träumen lassen, daß er die erste Nacht im Basislager mit einer Frau verbringen würde. Er hatte es sich oft vorgestellt, doch damals hatte es nur den Berg gegeben und die Aufgabe, die vor ihm lag. Sie hatte es heroische Selbstvernichtung genannt. Er selbst hatte es noch nie definiert, es war nur ein Wunsch gewesen, ein Ziel, die Aufgabe, die er zu Ende bringen wollte. Wenn hier alles so verlaufen war, wie es immer verlief, dann waren die menschlichen Speerspitzen am Berg gerade damit beschäftigt, den Weg zu Lager zwei, vielleicht auch schon zu
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Lager drei für die nachkommende Meute zu versichern. Die Verlegung der ersten Gipfelgänger in die höherliegenden Lager würde bald beginnen, der Verkehr im Khumbu würde dann ein beängstigender sein. Richter wußte, daß er noch genügend Zeit hatte. Er war kein Apparat, dessen Beweglichkeit von vielen Faktoren abhing, er konnte zuschlagen, wenn er den Zeitpunkt für richtig hielt. Er brauchte die anderen, er mußte alles nutzen, was sie für sich und ihre Sicherheit vorbereitet hatten. Dazu mußte er jedoch ihre Pläne kennen. Richter hatte viel Zeit gehabt, sich das, was ihn erwarten konnte, durch den Kopf gehen zu lassen. Immer und immer wieder. Er hatte Dutzende Bücher studiert und sich alle Abläufe, die darin geschildert wurden, eingeprägt. Er hatte nach den Nischen gesucht, die ihm dabei offenstehen könnten. Er war jedoch noch nie hiergewesen. Und die Expeditionen, von denen er gelesen hatte, waren jetzt nur noch Geschichte. Die Gegenwart und vor allem die Zukunft waren von dem Wissen abhängig, das er sich hier, am Ausgangspunkt des Geschehens, aneignen mußte. Von nun an würde er ein Spion sein, die anderen aushorchen, Informationen sammeln. Und Nancy konnte ihm dabei helfen. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie beim Frühstück. Er hatte einen Bissen des Brotfladens im Mund, den er aus Pheriche mitgeschleppt hatte, er war zäh wie Gummi. »Worüber?« kaute er. Sie lächelte. »Da ich gerade nichts Besseres zu tun habe, werde ich mich deiner Expedition anschließen und das Basislager für dich managen.« »Gut«, mampfte er und bemühte sich, die zähe Teigmasse mit heißem Tee hinunterzuspülen. »Wir nennen sie ›Richters-Soloversuch‹.«
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»Klingt nicht schlecht«, grinste er und überlegte, ob er den Kampf mit dem Brotrest fortsetzen sollte. »Verstehst du nicht?« sagte sie ungeduldig, »das ist genial! Wir haben einen Namen und werden damit offiziell, eine richtige Expedition.« Richter legte den Brotrest weg. »Und wem nützt das?« fragte er amüsiert. »Dir«, sagte sie und korrigierte sich rasch, »uns – dem ›Richter-Soloversuch‹! Glaubst du wirklich, daß irgendeiner von den vielen Leuten, die in der Stadt dort drüben leben und nur sich selbst und den Berg im Schädel haben, daran denkt, dich nach einer offiziellen Genehmigung zu fragen?« Er lächelte milde. »Es gibt Begleitoffiziere«, sagte er, »Regierungsvertreter, deren Aufgabe es ist, darauf zu achten, daß alles korrekt, im Sinne der geldgierigen Regierung Nepals, die wir zu betrügen beabsichtigen, abläuft.« »Denen gehen wir aus dem Weg«, antwortete sie eifrig. »Wir brauchen sie doch nicht. Wen wir brauchen, sind die Kerle, die auf den Berg wollen, richtig? Ich glaube kaum, daß du einen der Offiziere dort oben treffen wirst.« Richter verlor langsam die gute Laune, mit der er den ersten Morgen im Basislager begonnen hatte. Ihre Gedankenspielereien waren für ihn Zeitverschwendung, die wirklich wichtigen Dinge lagen ganz woanders. Er brauchte vor allem Informationen, mußte es irgendwie schaffen, sich in das Nachrichtennetz, das die Geschehnisse am Berg betraf, einzuklinken. Er hatte darüber nachgedacht, immer wieder nach Wegen gesucht, und am Ende war einer übriggeblieben. Nur ein Journalist kann neugierig sein, ohne aufzufallen. Richter würde ihnen erzählen, daß er ein freischaffender Illustriertenschreiber sei, der wegen einer Reportage nach
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Indien gekommen sei und einen Abstecher zum Everest gemacht habe, um noch eine zweite Story mit nach Hause nehmen zu können. Um authentisch zu wirken, war es gut, daß er seine Kamera mitgebracht hatte, er würde sie später im Basislager zurücklassen. »Keine Expedition«, sagte er zu ihr und erzählte ihr, wie sein Plan aussah. »Aber oben«, sagte sie, »sie werden dich oben sehen, und dann brauchst du irgendeine Erklärung.« Da war es wieder, dieses Wort, das er so gerne nie mehr gebraucht hätte. Richter war hier, weil er nichts mehr erklären wollte. Die Welt der Erklärungen hörte anscheinend erst dort auf, wo die Welt der Menschen aufhörte. Hier gab es Menschen und damit auch Erklärungen. Die Rolle als falscher Journalist erforderte Erklärungen, Nancy forderte sie, und wahrscheinlich würde er auch oben am Berg Erklärungen brauchen, weil seine Anwesenheit in einer Welt, in die er sich nicht eingekauft hatte, begründet werden mußte. Sie hatte recht. Er würde den Erklärungen auch dort nicht entkommen. Richter zuckte die Schultern. »Ich werde auch dort derselbe Journalist sein, für die anderen ein Verrückter. Ich werde ihnen sagen, daß ich die ultimative Reportage schreiben will, alles am eigenen Leib erfahren muß, daß mich der Everest-Bazillus gepackt hat, daß man Authentizität nur dann glaubhaft beschreiben kann, wenn man sie selbst erlebt hat. Vielleicht fragt mich auch keiner.« »Die ultimative Everest-Reportage hat Krakauer schon geschrieben.« »Krakauer hat über Tote geschrieben, über das Katastrophenjahr 1996, über seinen eigenen Egotrip, das war eine spezielle Reportage über ein spezielles Ereignis.« »Es ist ein verdammt gutes Buch«, antwortete sie. »Und deine Begründung wirkt nicht sehr glaubwürdig.«
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Wieder eines jener Gespräche, bei denen einen der andere in die Enge treibt, Antworten auf Fragen fordert, die keine Bedeutung haben. Es war ein Spiel, das ihm in den letzten Tagen manchmal sogar gefallen hatte. Jetzt ging es um den Berg und um nichts anderes. »Kannst du fotografieren?« fragte er. Sie hatte noch Krakauer im Kopf, und die Frage überraschte sie. »Kannst du fotografieren?« fragte er nochmals. Jetzt nickte sie. »Dann werden wir als Team auftreten, ich der Schreiber, du eine Fotografin, auch freischaffend. Vielleicht solltest du sagen, du würdest an einem Bildband über Nepal arbeiten, oder über die Sherpa, vielleicht auch nur über das Leben im Basislager. Wir haben uns in Katmandu getroffen, und ich habe dich gebeten, die Fotos für meine Reportage mitzumachen. Das klingt so kompliziert, daß sie es glauben werden.« Sie hatte verstanden. »Du bist der Boß«, sagte sie. Richter atmete erleichtert auf und nickte. »Ich bin der Boß«, sagte er. Das erste Lager hinter dem Felsen gehörte den Argentiniern. Die Zelte waren vorwiegend blau und weiß. Wie die Trikotfarben ihrer Fußballer, dachte Richter. Die Argentinier hatten herrliche Berge, sie hatten Patagonien und damit eine wesentlich exklusivere Auswahl an reizvollen Felszielen als die Europäer, die noch immer glauben, sie wären gemeinsam mit den Nordamerikanern und einigen individuellen Ausnahmekönnern aus dem Rest der Welt im Besitz der Oberhoheit über alles Bergsteigerische. Die einzige Argentinierin, die Richter kannte, natürlich nur von Fotos und aus dem Fernsehen, war die Tennisspielerin Gabriela Sabatini. Die erste Person, der er im Lager der
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Argentinier begegnete, war eine Frau, die ihr so verblüffend ähnlich sah, daß er einen Augenblick lang glaubte, es handle sich tatsächlich um den Tennisstar. Die Sonne war noch nicht sichtbar, machte jedoch hinter den Bergen gerade ihre ersten Aufwärmübungen und hatte schon genug Kraft, um den wolkenlosen Himmel in makelloses Blau zu tauchen. Es war kühl, nicht mehr kalt. Die Argentinierin trug einen extrem gutsitzenden Trainingsanzug. Sie stand neben dem Messezelt, vor ihr eine Schüssel mit dampfend heißem Wasser, und sie nahm die Zahnbürste aus dem Mund, als sie die beiden Fremden sah, die auf sie zukamen. Sie hieß nicht Sabatini, sondern Franzoni, Blanca Franzoni, und war das einzige weibliche Mitglied des fünfköpfigen argentinischen Everest-Teams. Richter hielt den Atem an, als sie Nancy und ihn ins Messezelt bat. Es war seine erste direkte Begegnung mit einer echten Expedition. Früher hatte es nur eine einzige Mannschaft gegeben, die pro Saison hier hatte lagern dürfen. Eine während der Vormonsunzeit, die Mitte bis Ende Mai endete, eine andere während der Nachmonsunzeit im September und Oktober. Mit der Expeditionsinflation, die Nepali und Chinesen aus materiellen Gründen zugelassen hatten, war alles anders geworden, eben so, wie es jetzt war. Die Exklusivität der großen Expeditionen war Geschichte, die Zeit der großen Everest-Helden, die sie geschrieben hatten, wohl für immer vorbei. Der letzte war vielleicht Hans Kammerlander gewesen, der bärenstarke Südtiroler, der am 24. Mai 1996 auf der tibetischen Seite von 6400 Metern Höhe in sechzehn Stunden und fünfundvierzig Minuten allein auf den Gipfel gestiegen war, Skier mitgeschleppt hatte und mit diesen wieder zum Lager abgefahren war. Eigentlich war es kein
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Fahren, sondern ein seitliches Abrutschen gewesen, trotzdem einmalig und lebensgefährlich. Richter hatte Kammerlander nach dem Everest-Coup bei einem Diavortrag gesehen: am Berg ein menschliches Kraftwerk, hier klein, fast schmächtig, bescheiden. Kein Selbstdarsteller, eigentlich einer wie er, der wahrscheinlich nicht darüber geredet hätte, wenn nicht Verträge mit Sponsoren ihn dazu verpflichtet hätten. Eine Expedition war jedoch immer eine Expedition. Auch jetzt noch. Von langer Hand vorbereitet, nach mühsamen Bittgängen von scharf kalkulierenden Sponsoren finanziert, von der nepalesischen Regierung nach jahrelangem Schlangestehen und der Entrichtung fürstlicher Gebühren genehmigt, mit einer Auswahl von Menschen bestückt, die – im Falle der Argentinier – wahrscheinlich zur Elite des Landes gehörten und von daheim als verpflichtende Bürde wohl auch ein Säckchen, gefüllt mit Nationalstolz, ins Marschgepäck gesteckt bekamen. Blanca Franzoni bemühte sich um Leichtigkeit und Unbeschwertheit, die Spannung des Bevorstehenden sickerte jedoch trotzdem durch. Richter hatte das Gefühl, daß der Berg wie ein drohender Schatten im Messezelt hing. Sie waren zu fünft. Blanca war die Ärztin, sie sollte das Basislager organisieren und dürfte, wenn möglich, auch eine Chance nutzen, auf den Gipfel zu gelangen. Die anderen waren Rodolfo Larriera, der Leiter, Cesar Rodino, Alberto Olsina und Raul Marin. Reiche Erfahrungen mit den Andenbergen, aber der Himalaya war Neuland für sie. Im Augenblick waren alle vier auf ihrem Probegang ins Lager zwei. Sie hatten sich vor einer Stunde über Funk gemeldet. »Es soll herrlich sein dort oben«, stöhnte sie, »ich kann’s nicht erwarten, endlich einmal selbst hochzugehen.« Ich auch nicht, dachte Richter.
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Dann erzählte sie ihnen, was sie wußte. Seit gestern stand Lager drei, bald würden die ersten den Südsattel erreicht haben. Alles verlief bis jetzt nach Plan. Weil die Versicherungsmannschaften gute Arbeit geleistet hatten, vor allem aber wegen des Wetters. Der Himmel war schon seit Tagen friedlich blau, und eine gütige Sonne schien die sonst so gefürchteten Winde eingelullt zu haben. »Wenn es so bleibt«, lächelte die Argentinierin, »dann könnte es ein Rekordjahr werden.« »1993 wird schwer zu schlagen sein«, sagte Richter. »Wie viele waren es damals?« fragte Blanca Franzoni etwas überrascht. »Am zehnten Mai haben vierzig Menschen über den Südsattel den Gipfel erreicht. Die meisten, die es je an einem Tag geschafft haben. Während der gesamten Vormonsunzeit waren es einundachtzig auf dieser Seite und neun auf der tibetischen. Macht insgesamt neunzig.« Es war subtiles Wissen, absolute Insidersache, und Richter hatte es trocken aufgesagt, weil er damit nicht protzen wollte. Sie war trotzdem beeindruckt. »Endlich einmal ein Journalist, der seine Hausaufgaben gemacht hat«, schmunzelte sie. »Und wie war damals das Wetter?« Richter zuckte die Schultern. »Da muß ich passen, die Wetterberichte von damals hat leider niemand bei mir abgeliefert. Auf alle Fälle muß es eine ziemlich lange Schönwetterperiode gegeben haben, zwei, vielleicht sogar drei Wochen lang. Ich weiß, daß Rob Hall an diesem zehnten Mai eine Siebenergruppe auf den Gipfel gebracht hat.« »Der Neuseeländer, der 1996 in der Nähe des Gipfels erfroren ist und kurz vor seinem Tod noch über Satellitentelefon mit seiner hochschwangeren Frau gesprochen
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hat?« Richter war überzeugt, daß jeder hier im Basislager das Schicksal des Mannes und seiner Unglücksexpedition kannte, jeder im Basislager und Millionen andere auf der ganzen Welt. Sie redeten kurz über das Sterben, ließen das Thema jedoch auf ihren Wunsch hin bald fallen. »Hall liegt jedenfalls noch oben«, sagte sie zum Schluß. »Hall und ein paar Dutzend andere«, sagte Richter. Blanca Franzoni schüttelte den hübschen Kopf. Das Haar war immer noch naß, und ein paar Strähnen klatschten gegen ihre Wangen. »Ich hoffe«, sagte sie leise, »daß mir ein solcher Anblick erspart bleibt.« Richter sagte nichts. Er dachte nur daran, daß all seine Pläne von seiner Everest-Besteigung bis jetzt immer dort geendet hatten, wo der Tod begann.
Die Expedition Steiner hatte sich bisher immer als beinharten Burschen gesehen, der dann seine besten Fähigkeiten entwickelte, wenn es am schwierigsten wurde. Zähigkeit, Durchhaltevermögen, Selbstüberwindung, den Schritt über das Limit tun, sich auch jenseits des scheinbar Menschenmöglichen bewähren. Nichts war unmöglich, wenn man nur fest genug an sich selbst glaubte. Und er hatte geglaubt, daß er auch die Fähigkeit besaß, diese Einstellung auf andere zu übertragen, sie damit stark zu machen, geistige Hemmschwellen zu beseitigen. Daheim in den Alpen hatte er immer wieder beweisen
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können, daß es klappte. Er hatte Menschen über Wände und auf Gipfel geschleppt, die zuvor vom Bergsteigen ungefähr soviel Ahnung gehabt hatten wie er von der Atomphysik. Jetzt lag er in seinem Zelt und hatte zum ersten Mal seit Beginn dieses Unternehmens Zweifel. Anfangs hatte er versucht, den Gedanken zu verdrängen, doch er war immer wieder zurückgekommen. Vielleicht ist die Last, die ich mir mit dieser Expedition aufgebürdet habe, doch etwas zu schwer. Es ging um seine Zukunft, und es ging um Hans Frey. Und es ging um einen Pakt, von dem außer Frey und ihm niemand wußte. Nicht einmal Erika Frey war eingeweiht. Es war etwa einen Monat vor ihrem Abflug gewesen, sie hatten sich spätabends in Freys Büro getroffen. Protzig, viel Glas und Chrom, die riesige Farbkleckserei eines ausgeflippten Malers, eine gut bestückte Bar und viele Fenster, durch die die Lichter der Stadt glitzerten. Es hätte auch New York sein können. Frey hatte nicht lange herumgefackelt. »Ich will auf den Gipfel«, hatte er gesagt, »und du wirst es möglich machen!« Steiner hatte abgewehrt, die Hände gehoben, den Kopf geschüttelt. »Das kann niemand voraussagen, dafür gibt es keine Garantie!« »O doch«, hatte Frey gesagt und mit dem Zeigefinger auf ihn gezeigt. »Du bist meine Garantie!« Es konnte nur ein Spaß sein, Steiner hatte gelächelt. »Ich bin ein guter Bergsteiger, auch ein guter Bergführer, wahrscheinlich einer der besten, aber ich bin kein Zauberer.« »Kein Zauberer«, hatte Frey gelächelt, »doch vielleicht bald ein reicher Mann!« Und dann hatte er den Vorschlag gemacht, der Steiner beinahe den Atem geraubt hätte.
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»Wenn du mich auf den Gipfel bringst, mache ich dich zum Teilhaber, fünfundzwanzig Prozent der Firma!« Steiner hatte immer von einer eigenen Firma geträumt, einer, die genauso war wie die »Freyheit«-Läden. Spezialausrüstung auf hohem Niveau. Seine finanziellen Mittel hatten dafür jedoch nie gereicht. »Und wenn ich es nicht schaffe?« hatte er gefragt. Frey war aufgesprungen und hatte die Faust auf den Tisch geknallt. »Dann verklage ich dich! Dann wirst du nie wieder eine Expedition leiten, höchstens eine Almhütte und dort für den Rest deines Lebens Speck und Limo verkaufen.« Steiner erinnerte sich noch an den fassungslosen Blick, mit dem er Frey angestarrt hatte. »So viel ist dir der Berg wert?« hatte er dann gefragt. »So viel und noch viel mehr«, hatte Frey geantwortet und sich wieder niedergesetzt. Am darauffolgenden Wochenende hatte er Frey auf einen Berg mitgenommen. Es hätte der Anfang eines speziellen Intensivtrainings sein sollen, doch Frey hatte danach nie mehr Zeit dafür gehabt. Ohne Frey hätte er sich das ganze Unternehmen an den Hut stecken und die Genehmigung, auf die er so lange gewartet hatte, verfallen lassen müssen. Steiner starrte an die Zeltwand, auf der anderen Seite des orangeroten Farbflecks lag der Khumbu. Den könnte Frey schaffen, nur was kam dann? Es gab keine Wunderdroge, die ihm hätte helfen können, und auf diesem Berg geschahen auch kaum Wunder. Wer zu schwach war, wurde gnadenlos weggefegt. Steiner hatte drei Klienten, er hatte jedoch längst den Plan gefaßt, die beiden anderen Mingma und dem stärkeren der beiden Sherpas zu überlassen. Er selbst würde sich weiter oben nur noch mit Frey beschäftigen.
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Nach den jüngsten Ereignissen am Berg war er sich trotz seines ansonsten grenzenlosen Optimismus jedoch nicht mehr sicher, ob er stark genug dazu war. Steiner saß in einer gewaltigen Zwickmühle. Die Vernunft gebot ihm, Frey im Basislager zurückzulassen. Damit würde er dem Mann viel Zeit geben, mit Groll und Rachsucht allein zu sein. Sein Ruf als verantwortungsvoller Expeditionsleiter wäre allerdings auch ruiniert, wenn Frey am Berg sterben sollte. Dafür würden Erika Frey und der Lehrer sorgen. Vielleicht sogar als Zeugen vor Gericht, fahrlässige Tötung konnte die Anklage lauten. Nüchtern betrachtet, hatte er nur eine Chance: Er mußte Frey auf den Gipfel und wieder heil zurückbringen. Man konnte es auch anders sagen – Steiner mußte das Unmögliche möglich machen, koste es, was es wolle. Steiner schüttelte den Kopf, als ob er die düsteren Gedanken damit wegrütteln könnte. Es war das Größte, das er jemals in seinem Leben getan hatte, und er würde es durchziehen. So oder so. Einer wie er gab nicht auf, niemals. Er stand auf, ging ins Messezelt und ließ sich von Pemba eine Schale Tee geben, dann nahm er das Funkgerät und nahm Kontakt mit Mingma auf. Es war fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit, doch der Sirdar meldete sich sofort. Die Verbindung war bestens. »Alles okay«, sagte Mingma, »das ganze Zeug ist oben.« »Gut«, antwortete Steiner, »dann könnt ihr ja morgen das Zweierlager aufstellen.« »Kein Problem«, sagte Mingma, »die Amerikaner sind schon in der Lhotse-Flanke, sie meinen, daß am Südsattel bald die ersten Zelte stehen werden.« Es war der 17. April, und das Wetter war noch immer herrlich. Wenn alles klappte, wenn wirklich alles klappte, dann könnten sie in zwei Wochen den Gipfel erreichen.
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Steiner verabschiedete sich und schaltete das Gerät ab. Die Sherpas würden morgen mit dem Transport zum Lager zwei beginnen, drei oder vier Tage später würde Lager drei stehen. Er selbst mußte morgen und übermorgen die restlichen Sauerstoffflaschen durch den Khumbu schleppen. Eine verdammte Schinderei. Als er die Flaschenmenge kalkulierte, hatte er damit gerechnet, daß seine drei Klienten ab Lager drei mit Sauerstoff gehen würden, er selbst und die Sherpas würden ihn erst vom Südsattel an benutzen. Zum Glück hatte er ausreichend Reserve mitgenommen, von der er jedoch gehofft hatte, sie könne im Basislager bleiben. Jetzt wußte er, daß er sich, zumindest in bezug auf Hans Frey, gewaltig geirrt hatte, den würde er spätestens im Zweierlager, wenn nicht sogar früher, an die Flasche anschließen müssen. Steiner wußte auch, daß er es sein mußte, der beim Gipfelgang im Extremfall auf Sauerstoff verzichten müßte. Draußen knirschten Schritte über den Gletscherschutt, die Zeltplane wurde beiseitegeschlagen, Max Dreier trat ein. Er nickte einen kurzen Gruß, Steiner nickte zurück. »Ich mache mir Sorgen«, sagte der Lehrer. Er winkte Pemba zu, ihm ebenfalls einen Becher Tee zu bringen, und setzte sich zu Steiner. Daheim, bei den ersten Expeditionsbesprechungen, war es nur ein vages Gefühl gewesen, das beide Männer verdrängt oder nicht beachtet hatten, weil sie wußten, daß sie einander brauchten. Dreier brauchte Steiners Knowhow und Steiner Dreiers Geld. Was fehlte, war die notwendige Sympathie, um ein Zusammenleben auf engstem Raum, unter extremsten Bedingungen einigermaßen erträglich zu machen. Jeder hielt den anderen für einen Kotzbrocken, jeder wußte, daß der andere gleich empfand, doch keiner hatte es offen ausgesprochen. Steiner schaffte sogar ein ermunterndes Lächeln.
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»Was gibt’s, Max?« fragte er, fast väterlich besorgt. Dreier grinste zurück. »Mir geht es gut, fast zu gut«, sagte er, »und ich frage mich, ob das nach dem Khumbu normal ist?« Steiner atmete auf, erwiderte das Grinsen, klopfte dem anderen erleichtert auf die Schulter. »Großartig, Max, du hast dich bestens akklimatisiert, ich hab’s ja im Basislager schon bemerkt, du bist bereit für oben!« Der Lehrer lehnte sich zurück, Pemba reichte ihm den Tee. »Worauf warten wir noch?« fragte er. »Das Wetter ist noch gut, das Lager steht, von mir aus könnte es morgen schon losgehen!« Steiner seufzte. »Du weißt genau, daß wir unseren Zeitplan einhalten müssen. Die Sherpas haben oben noch viel zu tun, ich selbst bringe morgen und übermorgen den restlichen Sauerstoff hoch. Drei, vier Tage noch, dann können wir den nächsten notwendigen Probeanstieg machen, ruh dich bis dahin aus, du wirst bald jeden Funken Kraft brauchen. Es wird hart, glaub mir, es wird verdammt hart dort oben!« Dreier schlürfte am Teebecher. »Ich hasse das Warten«, murmelte er, »ich habe das Warten immer schon gehaßt, reine Zeitverschwendung, tötet die Motivation.« Er stellte den Becher auf den Tisch und drehte sich herausfordernd zu Steiner um. »Es ist wegen Frey, stimmt’s? Wir warten, bis sich Frey erholt hat. Und oben werden wir wieder darauf warten, in jedem Lager, falls er es überhaupt bis zum nächsten schafft!« Da war es wieder. Steiner mußte sich beherrschen, um das Verlangen, dem Lehrer die Faust in die Fresse zu knallen, zurückzuhalten. Als Expeditionsleiter war er zwar nach außen hin der Chef im Lager, das Geld, das die anderen bezahlt
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hatten, machte ihn jedoch zugleich auch zum Sklaven. Steiner biß die Zähne zusammen, atmete tief durch, nahm einen Schluck vom Rest des Tees, der mittlerweile lauwarm geworden war, und schüttelte dann den Kopf. »Es hat absolut nichts mit Hans zu tun, das weißt du ganz genau. Es gibt nur einige Regeln, die man gerade hier, auf diesem Berg, einhalten muß. Jeder muß das tun, nicht nur wir. Man stürmt nicht kopflos, nach Lust und Laune, auf den Mount Everest, man nähert sich ihm ganz vorsichtig, nutzt die Vorteile, die ein organisiertes, auf den Erfahrungen vieler vorangegangener Expeditionen aufgebautes Vorgehen bringt, bis ins letzte Detail aus und geht vor allem mit seinen Kräften extrem vorsichtig um.« Dreier hatte ihm stirnrunzelnd zugehört. »In welchem Buch hast du denn das gelesen?« fragte er. »In vielen Büchern«, antwortete Steiner geduldig, »es steht in fast jedem Buch!« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Und es steht auch hier drinnen, verstehst du? Du hast wahrscheinlich vergessen, daß ich schon einmal oben war, ganz oben auf dem Gipfel. Und daß ich, im Gegensatz zu dir, weiß, was dort oben los ist.« Dreier starrte ihn an. Steiner hatte einen kleinen Sieg errungen, und er kostete ihn aus, indem er gleich nachstieß. »Wenn du wirklich so stark bist, wie du glaubst, dann kannst du mir ja morgen helfen, eure Sauerstoffflaschen hochzuschleppen.« Der Lehrer hatte sein Grinsen wiedergefunden. »Keine Chance«, sagte er, »ich habe dafür bezahlt, daß du mich auf den Gipfel bringst, die Lastesel sind in diesem Preis inbegriffen.« »Dann wirst du wohl oder übel unten warten müssen, bis ich
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zurückkomme.« Dreier schüttelte den Kopf. »Ganz so ist das nicht. Ich gehe mit dir morgen durch den Khumbu, ohne Flaschen, nur mit meinem kleinen Rucksack, Zur Übung sozusagen, und weil ich da in der Nähe des großen Lehrmeisters sein darf, der seine reichhaltigen EverestErfahrungen mit mir teilen wird.« Steiner hätte gerne laut geflucht, er schaffte gerade noch ein gleichgültiges Schulterzucken. »Nichts dagegen«, sagte er, »um sechs Uhr ist Abmarsch.«
Richter Richter hatte sich zu Hause ausgerechnet, wieviel Zeit und Nahrung er für den Gipfelgang brauchen würde. Was sich in dem Plastikbeutel befand, den er bis hierher mitgeschleppt hatte, mußte für zehn Tage reichen. Mehr Zeit würde er nicht brauchen. Der Beutel war nicht sehr groß. Vakuumversiegeltes, extrem haltbares Schwarzbrot, ein paar ebenso verpackte Hartwürste, einige Beutel mit Suppenpulver für die unteren Lager. Oben würde es nur noch Kraftnahrung wie Traubenzucker, Schokolade, Müsliriegel und einige Packungen jener Astronautennahrung geben, mit denen andere Expeditionen zuvor schon gute Erfahrungen gemacht hatten. Wichtiger war die Flüssigkeitsaufnahme. Auf alle Fälle mußte er genug Brennstoff mitschleppen, um große Mengen von Schnee und Eis zu Wasser schmelzen zu können, in das er dann sein kräftigendes Elektrolytpulver rühren konnte. Fast alles, was er in seinem Rucksack bis hierher getragen hatte, würde er auch am Berg brauchen. Er hatte genau darauf
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geachtet, kein Gramm zuviel einzupacken. Nur die leichten Anmarschschuhe, den Toilettbeutel, etwas Wäsche und ein paar andere entbehrliche Kleinigkeiten würden am Ende hier unten zurückbleiben. Eigentlich war das, was er für den Aufstieg brauchte, lächerlich wenig. Zelt, Schlafmatte, Schlafsack, Daunenzeug, Spezialunterwäsche, Kochsachen, Verpflegung, Handschuhe, Reservehandschuhe, Mütze, Reservemütze, Pullover, Helm, Steigeisen, den Spezialpickel mit dem extralangen Stiel, einen Stock, fünf Meter Seil, zwei Karabiner, Klettergürtel, Steigklemme, zwei Gletscherbrillen, Kocher, Geschirr, Besteck, zwei Feuerzeuge, Taschenmesser, Sonnencreme, Taschenlampe. Keine Zahnbürste, keine Zahncreme, keine Seife. Er glaubte nicht, daß er Lust, Kraft oder Zeit für Körperpflege aufbringen würde. In zehn Tagen konnten seine Zähne kaum verfaulen, wahrscheinlich brauchte er sie später ohnehin nicht mehr. Richter war bereit. Es waren zwar noch viele Sekunden bis zum endgültigen Start, aber der Countdown hatte begonnen, und das Ticken der Zeit und die damit verbundene Ungeduld bereiteten ihm beinahe körperliche Schmerzen. Er hatte lange überlegt, ob er es riskieren sollte, seinen Gipfelversuch in einem Zug durchzuziehen. Die Gefahr der Entdeckung und der damit verbundenen endgültigen Zurückweisung hätte sich damit zwar gewaltig verringert, doch das Risiko, schon früh zu scheitern, wäre enorm gewachsen. Er mußte dem Körper einfach die Chance geben, sich langsamer an die Höhe zu gewöhnen und Risiko, Gefahren, Strapazen abtesten, bevor er aufs Ganze ging. Richter hatte sich entschlossen, so bald wie möglich durch den Khumbu zu steigen, sich an Lager eins vorbeizuschleichen und eine Nacht irgendwo im Western Cwm zu verbringen. Es war unvermeidlich, daß er dabei Menschen begegnete oder daß
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ihn Menschen sahen. Er hatte keine Ahnung, wie eine solche Situation zu meistern war, er konnte die Dinge nur an sich herankommen lassen und sich auf sein Glück verlassen. Es mußte getan werden, und zwar bald. Vielleicht schon morgen. Richter war allein. Nancy hatte sich schon früh aufgemacht um sich in ein paar anderen Expeditionslagern umzuhören und etwas Verpflegung aufzutreiben. Einen Teil davon würde er für seinen ersten Vorstoß auf den Berg brauchen. Die große Stille, die ihn umgab, wurde nur von kleinen Geräuschen unterbrochen, die dann und wann von den Lagern herüberwehten. Ein Schrei, das Klirren von Metallgegenständen, die aufeinanderprallten, manchmal ein Wort –, dann wieder ein paar Musikfetzen. Es war exakt zehn Uhr, als ihn ein leises Grollen aufhorchen ließ. Es kam vom Pumo Ri, zuerst von hoch oben und stürzte dann, immer lauter werdend, zum Lagerplatz herab. Als das Grollen zum drohenden Donner gewachsen war, sah er die Ursache. Die Lawine schwebte wie eine weiße Nebelbank über die ihm zugewandte Wand des Siebentausenders. Richter hielt den Atem an und verfolgte ihren Weg, bis sie am Fuß des Berges auf die Ebene krachte und zu einer gewaltigen Schneewolke explodierte, die wie ein kleiner Atompilz in die Höhe wuchs und sich so rasch, wie sie gekommen war, wieder in der Stille auflöste. Es war nur ein Naturschauspiel gewesen, das in sicherer Entfernung von den Lagern geendet hatte. Richter wußte jedoch, daß die Lawine alles, was sich ihr in den Weg gestellt hätte, ob Mensch, Panzer oder Hochhaus, zu einem Nichts zermalmt hätte. Es waren nur Sekunden gewesen, sie hatten Richter jedoch überdeutlich klargemacht, wie mickrig und unbedeutend alles Menschliche in dieser Urzeitwelt war. Es war, als ob der Berg erstmals zu ihm gesprochen hätte. Und es war nicht einmal der Everest selbst gewesen, er hatte mit dem Pumo Ri einen
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Stellvertreter geschickt, der ihm zeigen sollte, welchen Mächten er hier ausgeliefert war. Hilflos. Da nützten auch keine Vorsichtsmaßnahmen. Und das gesamte Wissen, das die Menschheit bis heute angehäuft hatte, war machtlos, wenn der Berg seine Waffen auspackte. Lawinen waren nur ein Teil davon. Wer sich auf den Everest wagte, mußte sich klar darüber sein, daß er sich damit einer Willkür auslieferte, die niemand berechnen konnte. Es waren einige der Besten gewesen, die nie mehr von oben zurückgekehrt waren. Grübeln war schlecht, Grübeln erzeugt Angst. Richter versuchte, sich von den Gedanken, die die Lawine geweckt hatte, freizumachen. Er kontrollierte jeden einzelnen Teil seiner Ausrüstung, überlegte, was ihm noch fehlen könnte, und fand schließlich etwas sehr Naheliegendes, an das er bis jetzt noch nicht gedacht hatte. Der Fatalismus, der ihn immer nur den Gipfel und kein Danach hatte sehen lassen, hatte ihn so blind gemacht, daß er den medizinischen Notfall vergessen hatte. In seinem Berggepäck befanden sich weder Verbandszeug noch Schmerztabletten und schon gar keine Spritzen mit Dexamethason, einem Hormonpräparat, Dex genannt, das die Auswirkungen der dünnen Höhenluft für einige Zeit beseitigt. Richter hatte bei Krakauer gelesen, daß es bei mehreren Überlebenden der 96er-Katastrophe erfolgreich angewandt worden war. Vielleicht war es die Lawine, die den Begriff Vorsicht plötzlich in Richters Denken implantierte, vielleicht war er bisher auch nur ein simpler Trottel gewesen, der in seiner blinden Konzentration auf das Ziel vergessen hatte, daß er, selbst wenn es nur um den Aufstieg ging, einen intakten Körper und einen ebenso intakten Geist brauchte. Nicht einmal in Pheriche hatte er daran gedacht. Im
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Krankenhaus hätte er sich mit allem, was nötig gewesen wäre, eindecken können. Jetzt mußte er versuchen, alles hier zu besorgen. Es ging nicht um Dex, das würde er wohl kaum bekommen, nur etwas Verbandszeug und eine Handvoll starker Schmerztabletten. Vielleicht von der argentinischen Ärztin. Nancy kam kurz vor Mittag zurück und brachte auch gleich das Essen mit. Die Südkoreaner hatten ihr einige Packungen mit Reisnudeln gegeben, die in wenigen Minuten zubereitet waren, die exotisch schmeckende Würze dazu kam aus winzigen Beutelchen, deren Inhalt sie ins heiße, dampfende Wasser schüttete. »Überall herrscht Aufbruchsstimmung«, sagte sie, »ich war bei den Italienern, den Engländern und zuletzt bei den Südkoreanern. Alle sagen das gleiche. Wenn das Wetter so bleibt, könnte der Gipfel schon Ende April fallen. Oben verläuft alles nach Plan, die Wege bis zum Lager drei sind versichert, die Italiener haben dort sogar schon ihre Zelte aufgebaut. Sie hoffen, daß in einer Woche am Südsattel alles bereit ist.« Richter zählte die Tage an seinen Fingern ab. »Das wäre der 24. April«, sagte er, »rechnen wir dann noch die fünf Tage für den Aufstieg dazu, dann könnte es der 29. April sein.« »Es wird klappen«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf und erzählte ihr von der Lawine. Sie war zu diesem Zeitpunkt gerade im Messezelt der Briten gewesen und hätte das Grollen vom Berg gar nicht gehört, wenn einer der Teilnehmer nicht nach draußen gezeigt und scherzhaft gesagt hätte, daß es sich um die tägliche Zehn-UhrLawine vom Pumo Ri handle. »So etwas passiert hier fast jeden Tag«, sagte sie. »Harmlos,
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keine hat je das Basislager erreicht.« Darum ging es nicht, Richter hatte jedoch keine Lust, ihr die wahren Zusammenhänge zu erklären. Vielleicht hätte sie ihn auch für verrückt gehalten, wenn er ihr gesagt hätte, daß der Berg erstmals zu ihm gesprochen und er die Botschaft verstanden hatte. Statt dessen erklärte er ihr die Sache mit der Medizin. Sie blickte ihn erstaunt an. »Du hast an alles gedacht, sogar die Verpflegung für den Gipfelgang von daheim mitgenommen, und du hast nicht einmal eine Kopfschmerztablette dabei?« Er versuchte, die Verlegenheit wegzulächeln. »Albert Richter, der Unbesiegbare, stimmt’s? Du hast immer nur an den Weg nach oben gedacht, es war der Geist und nicht der Körper, der dich tragen sollte.« »Ich weiß es nicht«, sagte er, »so ähnlich wird es wohl sein.« Sie streichelte seine Wange und küßte ihn. Dann schöpfte sie in sein Kochgeschirr die südkoreanischen Nudeln. »Ich werde es morgen bei Blanca versuchen«, sagte sie.
Die Expedition Es war seine Idee gewesen. Erika Frey hatte von ihrem Mann nie Beweise seiner Männlichkeit verlangt, sie hatte ihn so genommen, wie er war, mit all seinen Fehlern. Irgendwann einmal hatte er gesagt, daß er ihr alles geben würde, später hatte er es präzisiert – es war der höchste Berg der Erde, den er ihr schenken wollte. In seiner Vorstellungswelt konnte es nichts Größeres geben. Was waren alle Juwelen, Pelzmäntel, Luxushäuser, ja sogar tropischen
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Inseln gegen den höchsten Berg der Erde? Und nun waren sie hier. Es war wirklich ein mächtiges Geschenk. Erika war nie ein Mensch gewesen, der bunte Spiele mit seiner Phantasie trieb, ihre Träume hatten sich darauf beschränkt, das, was sie durch beinhartes Training vorbereitet hatte, im Wettkampf umzusetzen. Die Sache mit dem Berg war von Anfang an anders gelaufen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sie erwarten würde. Hans und Steiner hatten zwar immer wieder davon gesprochen, da war jedoch nie etwas Greifbares gewesen, an das sie sich hätte klammern können, nur Geschichten, Tips, Warnungen, Hinweise auf eine Zukunft, die für sie aus Mangel an Erfahrungen eine abstrakte gewesen war. Jetzt, wo sie hier war und sich selbst ein Bild von der Aufgabe machen konnte, die ihnen bevorstand, hatte sie ein Gefühl entwickeln können, das ihr durchaus gefiel. Es war ein Wettkampf, und physische Stärke und der unbändige Siegeswille allein genügten hier nicht. Sie waren ein Team, eine Kette, die nur dann funktionierte, wenn auch das schwächste Glied hielt. Und das schwächste Glied war Hans. Sie wußte, daß er glaubte, ihr permanent seine Liebe beweisen zu müssen. Sie hatte ihm immer wieder gesagt, daß es nicht so war. Er hatte ihr nie geglaubt. Hans Frey war nicht nur hier, um mit einem Gipfelsieg frischen Wind in eine Geschäftsflaute zu blasen, sondern weil er seiner Frau beweisen wollte, daß er ein Mann für schwierigste Aufgaben war. Und das war absoluter Blödsinn, doch konnte sie es ihm nicht sagen, weil sie ihn gut genug kannte, um zu wissen, daß sie ihn und ihre Beziehung damit zerstören würde. Hans war das Negative an der Sache, das Positive war, daß sie die neue Herausforderung ungemein reizte. Gleich nach der Ankunft im Basislager und später, beim Marsch durch den
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Khumbu, hatte sich ihr Kampfgeist geregt wie in alten Wettkampfzeiten. Mehr noch – da war irgend etwas Mystisches, Unerklärbares, das sie vorwärtstrieb, ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Der Reiz von Gefahren, die sie nicht kontrollieren konnte. Es war ein Glücksspiel, Roulette mit dem Berg. Das Problem hieß Hans. Er saß neben ihr im Messezelt und versuchte auch jetzt noch, oder gerade jetzt, stark zu sein. Es ging ihm gut. Er atmete normal, und auch die Gestik funktionierte wie sonst. Keiner hatte in seiner Gegenwart vom Khumbu geredet. Vielleicht hätte es der Lehrer irgendwann einmal getan, doch war der zum Glück nicht hier. Er war schon sehr früh mit Steiner aufgebrochen, um noch einmal durch den Eisfall zu gehen. Auch Dreier war einer, der mit allen Mitteln versuchte, sich und den anderen etwas zu beweisen. Im Grunde genommen sammelte er wohl nur Selbstvertrauen, denn den Beweis konnte es ja erst geben, wenn sie vom Gipfel zurückgekommen waren. Hans Frey redete über das Geschäft und die Idioten zu Hause, die es ihm versauen würden, wenn er ihnen nicht bald wieder persönlich auf die Finger klopfen könnte, Erika Frey hörte ihm zu. Sie tranken Tee, den Tendi, der Koch, mit einem Schuß des starken nepalesischen »Khukri-Rums« veredelt hatte. »Du warst großartig«, sagte Hans und beendete damit seine Grübeleien über eine düstere Geschäftszukunft, »ich bin sehr stolz auf dich!« »War nicht so schlimm«, lächelte sie, »ein Schritt und noch ein Schritt und noch ein Schritt, ich hab sie gezählt. Bei hundert habe ich immer wieder neu begonnen, zusammengezählt habe ich sie am Ende nicht.« »Schlaues Frauchen«, sagte er, »ich hab sie nicht gezählt, vielleicht war das mein Fehler.«
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»Dann zähl sie doch beim nächsten Mal«, schmunzelte sie. Er rückte näher heran und legte seinen Arm um ihre Schulter, dann küßte er sie zart auf den Mund. »Ich liebe dich«, sagte er, »du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich liebe!« »Ich liebe dich auch«, sagte sie, »und ich liebe dich ganz besonders, weil du mir die Gelegenheit gegeben hast, hier dabeisein zu dürfen.« »Wir werden beide ganz oben stehen«, schwärmte er, »Erika und Hans Frey, Everest-Sieger, klingt doch gut, oder?« Sie zögerte einen Augenblick lang, vielleicht sollte sie ihm jetzt sagen, daß es genügte, wenn eine Frey versuchen würde, den Gipfel zu erreichen, stellvertretend für beide, und daß sie sein Aufgeben für mutiger halten würde als stures Weitergehen, sie tat es jedoch nicht, weil sie ihn zu gut kannte und weil es alles nur noch schlimmer und ihn noch starrköpfiger machen würde. »Klingt gut«, antwortete sie, »klingt wirklich sehr gut!« Er drückte sie an sich, und sie legte ihren Arm um seine Mitte. Sie spürten einander für lange Zeit und sagten nichts. So nahe waren sie sich schon lange nicht mehr gewesen. Bei ihm waren es Zufriedenheit und das zurückgekehrte Bewußtsein, daß er sie nicht verloren hatte und auch nicht verlieren würde, bei ihr war etwas Mitleid dabei, auch das Gefühl, daß sie weiter oben am Berg gemeinsam mit Steiner für ihn verantwortlich sein würde. Der Gipfel war ihr während der vergangenen Tage zwar immer wichtiger geworden, aber höchstens als sportliche Herausforderung, nie als Ziel, für das sie bereit gewesen wäre, große Opfer zu bringen. Wenn es nötig wäre, mit Hans abzusteigen, dann stand für sie außer Frage, daß sie dies tun würde. Auch der höchste Berg der Erde war für sie kein Menschenleben wert. Nicht das eines anderen und ihr eigenes schon gar nicht. Sie konnte völlig problemlos
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auch ohne einen Gipfelsieg am Everest weiterleben und ihre Zeit anderen Dingen widmen. Sie war noch nie an einem Ort wie diesem gewesen. Nur Felsen, Geröll, Schnee und Eis. Nicht ein einziges einsames Pflänzchen hatte Wurzeln geschlagen. Es war eine öde, furchterregende Gegend, und trotzdem übte sie auf sie dieselbe Faszination aus wie auf alle anderen, die mit ihr hochgestiegen waren. Es war der Berg, der über allem stand, und es war die Spannung, die alle gepackt hatte, das Warten auf den Startschuß und der Weg, der sie danach in das unberechenbare Unbekannte führen würde. »Der Eisfall«, sagte er, »wird mir keine Probleme mehr bereiten, du wirst sehen. Ich weiß jetzt, was ich falsch gemacht habe, es wird mir beim zweiten Mal nicht mehr passieren.« »Es war gut, daß du nicht oben geblieben bist«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er, »wahrscheinlich hätte ich mich oben ebensogut akklimatisiert wie hier unten, Kräfte gespart, aber darüber zu reden hat jetzt keinen Sinn mehr. Ich bin da, und es geht mir gut.« »Bald wird es losgehen«, sagte sie. Er nickte. »Hast du Angst davor?« fragte sie. Seine Antwort kam zu rasch, und sein Kopfschütteln war zu heftig. »Selbstverständlich habe ich keine Angst, du weißt, daß ich keiner bin, der Angst hat. Ich habe noch nie vor jemandem in die Hosen geschissen, vor einem Berg schon gar nicht.« »Was ist es dann?« Er blickte sie erstaunt an. »Was ist was?« »Das Kribbeln, das wir alle spüren, die Nervosität, die
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Anspannung, das, was uns hier anders macht, als wir es daheim oder an irgendeinem anderen Ort auf der Welt sind.« Er zuckte die Schultern. »So muß es wohl sein, bei einer Expedition«, sagte er. »Sie verändert die Menschen«, stellte sie fest, »so ist es doch, oder?« Er lachte. »Irgend jemand hat einmal über den Everest gesagt, daß von diesem Berg keiner so zurückkommt, wie er losgegangen ist. Warten wir ab, vielleicht sind wir in zwei oder drei Wochen Helden, Monster, Heilige oder sonst etwas. Was würdest du denn gerne sein, Miß Everest?« Sie legte den Kopf auf seine Schulter. »Alles«, sagte sie, »nur nicht tot!«
Richter Richter hatte schlecht geschlafen. Zuerst war es Nancy gewesen, weich und weiblich, mit Händen, die ihn nach langem, gekonntem Spiel in einen Zustand versetzt hatten, der seine Gedanken vom Berg weglockte. Es hatte jedoch nicht allzulange gedauert, und sie waren wieder dagewesen. Es war nichts Drohendes, Düsteres, es war nur immer wieder dasselbe. Er und der Berg. Der Berg und er. Schritte, Schritte, Schritte, Steigeisen, die Stöcke, Gletscherspalten und dann die Lawine. Immer wieder die Lawine. Sie kam auf ihn zu, traf ihn jedoch nicht. Sie donnerte nicht an ihm vorbei, sie teilte sich vor ihm auch nicht, wie es das Rote Meer vor Moses getan hatte, sie verschwand einfach. Und dann kam sie wieder, immer wieder.
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Es war eine miese Nacht gewesen, und er war jetzt, am Morgen, noch müde vom Träumen. Heute ging es um den Medizinbeutel, morgen um den Khumbu. Richter hatte sich in der Nacht entschlossen, morgen endlich aufzubrechen, weil er zum einen das Warten nicht mehr aushielt und weil er zum zweiten endlich wissen wollte, wie sich sein Körper und sein Geist weiter oben bewähren würden. Außerdem sehnte er sich nach der ersten Begegnung mit dem Khumbu. Er hatte soviel über ihn gelesen, ihn so oft in Filmen gesehen, daß es ihm vorkam, sie wären alte Bekannte. Keine Freunde, dazu war der andere zu mächtig, zu unberechenbar in seiner willkürlichen Grausamkeit. Nach dem Frühstückstee gingen er und Nancy in das Lager der Argentinier. Zu ihrer Enttäuschung war Blanca Franzoni nicht mehr da. Der Koch sagte ihnen, daß sie kurz nach sechs Uhr zum Lager eins aufgebrochen sei. Larriera hatte sie über Funk hochbeordert, weil sich Olsina am Bein verletzt hatte. Irgend etwas am Knöchel, wahrscheinlich nichts allzu Ernstes, eine kleine Zerrung, vielleicht nicht einmal das, doch der Expeditionsleiter wollte es nicht riskieren, ihn so durch den Eisfall nach unten gehen zu lassen. Der Koch bot ihnen Tee an, sie lehnten jedoch höflich ab und überlegten draußen, vor dem argentinischen Messezelt, was sie nun tun sollten. »Die Italiener«, sagte Nancy, »waren nicht sehr freundlich, außerdem ist ihr Arzt ebenfalls gerade oben, und von den Südkoreanern weiß ich gar nicht, ob sie überhaupt einen Arzt mithaben.« Richter zeigte zum größten Camp mit dem Masten, von dem ein schlaffes Sternenbanner hing. »Am ehesten«, schlug er vor, »dürften wir bei den Amerikanern Erfolg haben. Die sind mit Sicherheit am besten ausgerüstet.«
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Nancy nickte. »Ich wollte sie ohnehin heute besuchen«, sagte sie. Ein Sherpa schickte sie zum Lazarettzelt, als sie ihn nach dem Expeditionsarzt fragten. Jim Lee unterhielt sich gerade über Funk mit einer krächzenden Männerstimme, als sie eintraten. Er bedeutete ihnen, draußen zu warten. Es war das größte Lager auf dem Gletscher, und alles schien bestens organisiert zu sein. »Fehlt nur noch, daß es Wegweiser gibt und man den Gassen zwischen den Zelten Namen gegeben hat«, flüsterte Nancy. »Hillary-Avenue oder Tenzing-Weg«, grinste Richter. »Die würden wohl eher ihre Präsidenten nehmen«, antwortete sie leise, »Kennedy-Boulevard oder ClintonSquare.« Der Arzt rief ihnen vom Zeltinneren aus zu, daß sie nun eintreten dürften. Er empfing sie mit einem freundlichen Lächeln und entschuldigte sich dafür, daß er gerade beschäftigt gewesen war. »Es war der Chef«, erklärte er, »er hat sich zum ersten Mal aus Lager drei gemeldet.« »Greg Randell?« fragte Richter. »Du kennst ihn?« fragte der Arzt. »Ich bin Journalist«, lächelte Richter. Er stellte sich und Nancy vor und erzählte dem Amerikaner, warum sie hier waren. »Habt ihr schon mit Lucie Bell geredet?« fragte Lee. Richter schüttelte den Kopf. »Lucie ist unsere Expeditions Journalistin«, erklärte der Arzt, »sie hat auf alle News, die bei uns passieren, die Exklusivrechte. Der Teufel weiß, was sie damit tut«, er grinste, »sie quält uns permanent mit den sonderbarsten Fragen, hockt den ganzen Tag lang im Messezelt, tippt Tausende Wörter in
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ihren Computer und schickt sie dann in die Welt hinaus. Nachrichtenagenturen, Magazine, Zeitungen, nur Gott und Lucie wissen, wo das alles hingeht.« Richter bedankte sich für den Tip. »Wir gehen gleich zu ihr, doch hat es auch einen Grund, warum wir hier vorbeigeschaut haben.« Die Geschichte, die Nancy dem Amerikaner auftischte, klang absolut glaubwürdig, Richter hörte stumm und staunend zu und bewunderte ihre schauspielerischen Fähigkeiten. »Ich verstehe«, nickte der Arzt am Ende, dann kratzte er sich am Kopf. »Wir haben genügend davon hier, um eine ganze Armee versorgen zu können, Verbandszeug ist kein Problem, bei den Schmerzmitteln wird es etwas schwieriger, wir haben schon mehr davon verbraucht, als ich ursprünglich berechnet hatte.« Er nickte Nancy ermutigend zu. »Keine Sorge, ein paar Packungen kann ich mit ruhigem Gewissen abzweigen.« Sie bedankten sich, und er begann einen Plastiksack mit dem, was sie brauchten, zu füllen. »Nur aus journalistischer Neugierde«, sagte Richter, »habt ihr auch Dexamethason mit?« Jim Lee packte weiter ein. »Selbstverständlich«, sagte er über die Schulter, »jeder hat heutzutage Dex mit, kein Wundermittel, im Extremfall kann es manchmal Wunder wirken, den kleinen Kraftschub auslösen, der dort oben vielleicht zwischen Leben und Tod stehen kann.« Der Sack war beinahe voll, und der Arzt drückte ihn Nancy in die Hand. »So, ich glaube, das reicht. Mehr kann ich euch beim besten Willen nicht geben.« Er zuckte die Schultern. »Ich hoffe, daß ihr nichts davon brauchen werdet!« Dann zeigte er ihnen eine Ampulle mit Dex.
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»Trotz der Vorteile, die es bringen kann«, sagte er und betrachtete das Ding nachdenklich, »ist es eine zweischneidige Sache. Körper und Geist befinden sich in so großen Höhen in einem Ausnahmezustand. Nichts ist so, wie es hier unten ist. Der Organismus balanciert auf des Messers Schneide, ein kleiner Schubs, und er stürzt ab. Dex soll man sich wirklich nur dann spritzen, wenn einem beim Absteigen der Sauerstoff ausgegangen, das Lager nicht mehr weit ist und man sich dort wieder an die Flasche anschließen kann. Wer glaubt, es würde ihm beim Aufsteigen Flügel verleihen, der kann seine blauen Wunder erleben.« »Also Finger weg davon«, sagte Richter. »Nicht ganz«, sagte Lee, während er die Ampulle wieder in der Kiste verstaute, »es hat auch schon Leben gerettet.« Sie bedankten sich nochmals, dann gingen sie zu Lucie Bell ins Messezelt. Sie war jung, viel jünger, als sie erwartet hatten, und unterbrach ihre Arbeit sofort, als sie eintraten. »Endlich einmal vernünftige Menschen«, grinste sie, »Journalisten! Gott, wie gut das tut! Immer nur diese Bergsteiger, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie das einer Normalsterblichen wie mir auf die Dauer auf die Nerven gehen kann.« Sie erzählten ihr, daß sie nicht die Absicht hätten, aktuelle Berichte aus dem Basislager nach Hause zu schicken und daß ihre Story erst erscheinen würde, wenn alles hier vorbei war. »Background, Human touch, das ist es, was man daheim von uns verlangt«, sagte Nancy, »und natürlich Wahnsinnsfotos. Greg Randell unter der Dusche im ewigen Eis zum Beispiel.« Die Amerikanerin lachte. »Duschen gibt’s sogar und Randell auch, beides werdet ihr kaum kriegen. Ich hab Greg noch nie duschen sehen, das höchste der Gefühle ist wahrscheinlich ein Foto, das ihn beim
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Zähneputzen zeigt. Ganzkörperpflege?« Sie schüttelte den hübschen Kopf. »Nichts für die harten Burschen, die dem Everest die Zähne zeigen wollen, reine Kraftverschwendung!« Eigentlich, erklärte Lucie, sei es ein Scheißjob, auf den sie sich eingelassen habe. »Einmal pro Woche eine Vier-Seiten-Reportage für das Outdoor-Magazin, bei dem ich angestellt bin, das wäre ja in Ordnung, aber weil die sich die Kosten mit einer Nachrichtenagentur geteilt haben, muß ich täglich einen halbwegs interessanten Aufhänger für eine Meldung finden fürs New Yorker Hauptquartier, von dort geht’s dann in die Welt hinaus, an ein paar tausend Kunden, die ’zig Millionen Leser, Zuschauer oder Hörer damit füttern. Und dann habe ich mich auch noch von einem halben Dutzend Lokalzeitungen beschwatzen lassen, die genau wissen wollen, wann der Expeditionsteilnehmer oder die Expeditionsteilnehmerin, die aus ihrer Region stammen, einen Furz gelassen haben, versteht ihr? Ein Scheißjob!« »Im wahrsten Sinn des Wortes«, grinste Nancy. Die beiden Frauen verstanden sich blendend. Lucie war eine der ersten im Basislager gewesen und deshalb über alles bestens informiert. Da sie nun wußte, daß die beiden Berufskollegen absolut keine Absicht hatten, ihr Exklusivrecht zu verletzen, erzählte sie ihnen bereitwillig, was sie wissen wollten, und noch einiges mehr. Es tat ihr sichtlich wohl, das Wissen, das sie so mühsam gesammelt und täglich niedergeschrieben hatte, endlich einmal auch mit Worten ausschütten zu können. »Die Italiener«, sagte sie, »haben bis zuletzt behauptet, daß Kammerlander doch noch kommt, sie haben’s ja daheim groß genug angekündigt, obwohl es nie eine gültige Vereinbarung gegeben hat. Kammerlander hat nie zugesagt, meines Wissens
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ist er zur Zeit mit einem Filmteam in der Antarktis.« Sie hob den Zeigefinger wie ein Oberlehrer. »Da wird’s noch einigen Wirbel geben. Offenbar hat die Expeditionsleitung Kammerlanders Namen ohne dessen Wissen widerrechtlich verwendet, um an die großen Sponsoren heranzukommen!« Wieder ihr Grinsen, diesmal stolz. »Exklusivstory von Lucie Bell!« Endlich dankbare Zuhörer, die nicht nur den Wetterbericht und ihre Blutwerte im Schädel haben. »Ich habe die Expeditionen, die hier lagern, in drei Gruppen eingeteilt«, erklärte sie und streckte den Zeigefinger wieder in die Höhe. »Erstens, die ernstzunehmenden. Genügend Geld, gute Organisation, gute Bergsteiger, gute Gipfelaussichten. Dazu gehören wir, die Amerikaner, obwohl wir eigentlich eine Mischgruppe sind, weil wir neben einer Reihe von Spitzenleuten auch ein paar zahlende Klienten mithaben.« Sie hob abwehrend die Hand, bevor die Frage kam. »Nein, nicht wie bei Scott Fischer oder Rob Hall. Es sind viel mehr echte Bergsteiger dabei, von den verschiedensten wissenschaftlichen und öffentlichen Stellen und natürlich auch von Sponsoren und den Medien finanziert, und viel weniger Leute, die alles selbst bezahlen. Zu den ernstzunehmenden Expeditionen gehören trotz ihrer Probleme auch die Italiener, dann die Briten, Argentinier, Tschechen, Slowenen, Schweizer und eine der beide japanischen Expeditionen. Die Schweizer sind Bergführer, die auch eine Genehmigung für den Lhotse haben, der 1956 ja von ihren Landsleuten Reiß und Luchsinger erstbestiegen worden ist – Spitzenleute, von der Schweizer Wirtschaft finanziert. Sechs Mann. Drei davon wollen vom Südsattel aus auf den Everest, drei am selben Tag auf den Lhotse. Wenn Timing und Wetter stimmen, wollen sie es so
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einrichten, daß alle sechs zur selben Zeit die beiden Gipfel erreichen. Außer bei den Argentiniern sind bei jeder dieser Expeditionen Leute dabei, die ohne Sauerstoffflaschen gehen wollen.« Nancy und Richter zeigten sich beeindruckt. Lucie Bell streckte dann ihren Zeigefinger und Mittelfinger in die Höhe. »Zweitens die Reiseveranstalter. Dazu gehören die Franzosen, drei Bergführer, sechs zahlende Kunden, die zweite japanische Gruppe, zwei Bergführer, vier Kunden, die Skandinavier, vier Bergführer, sechs Kunden, und ein sonderbarer Haufen aus Deutschland mit einem Expeditionsleiter, der als Bergführer zugleich auch sein eigener Untergebener ist und die Wahnsinnsaufgabe hat, zwei Männer und eine Frau auf den Gipfel zu bringen, die ihm dafür viel Geld bezahlt haben.« Richter räusperte sich. »Weißt du, wie dieser Mann heißt?« fragte er. Die Amerikanerin griff nach einem dicken Notizblock, der neben dem Laptop auf dem Tisch lag, und begann zu blättern. »Da haben wir’s«, sagte sie und hielt ihm eine aufgeschlagene Seite entgegen. »Ich hoffe, ich habe den Namen richtig geschrieben.« Richter las ihn, er war richtig geschrieben. »Ronny Steiner«, sagte er und kratzte sich am Kopf. »Kennst du ihn?« fragte die Amerikanerin. Richter nickte. »Eigentlich ein guter Mann, war vor ein paar Jahren mit der Berner-Expedition hier. Ich glaube, die waren damals zu acht auf dem Gipfel, Steiner war auch dabei.« »Diesmal wird er’s verdammt schwer haben«, sagte Lucie Bell und schüttelte zweifelnd den Kopf, »ich habe mit der Frau geredet, die dabei ist. Schaut gut aus, wirkt fit, hat jedoch noch
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nie einen Berg bestiegen, der höher als dreitausend Meter ist. Ihr Mann ist fast fünfzig und nur reich, vom dritten weiß ich nichts, wird aber wohl auch nicht viel besser dran sein.« »Steiner ist ein guter Mann«, sagte Richter. Die Journalistin nickte. »Ich weiß, Greg Randell kennt ihn, und Colin Thorne, der Australier, der bei uns dabei ist, lobt ihn in den höchsten Tönen, die beiden waren damals auch hier. Aber das Verhältnis stimmt nicht. Ein guter und drei unbedarfte Newcomer, das kann nicht gutgehen. Wenn Steiner nicht dabei wäre, müßte ich die Deutschen sicherlich in die dritte Kategorie einreihen.« Sie hielt Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger hoch. »Das sind die Hoffnungslosen, die Gruppen, denen ich absolut keine Chance gebe, weil bei ihnen gar nichts stimmt. Menschen ohne ausreichende Erfahrung im Höhenbergsteigen, ein Minimum an Ausrüstung, vor allem viel zu wenig Sauerstoff, naiv, blauäugig, überehrgeizig. Dazu gehören für mich in erster Linie die Südkoreaner, und gleich dahinter folgen die Polen.« Richter blickte sie erstaunt an. »Die Polen haben immer großartige Bergsteiger gehabt, Kukucka, Kurtyka, Wanda Rutkiewicz, die leider nicht mehr lebt.« »Keine Spur von solchen Kalibern«, wehrte Lucie Bell ab, »ich habe genug Zeit gehabt, mich über alles und jeden hier zu informieren. Was ich dabei über die Polen gehört habe, hat mir die Haare zu Berge stehen lassen. Ich war auch selbst in ihrem Lager, vier Männer und eine Frau, unfreundlich, unzugänglich, keiner wollte englisch sprechen, nur zwei Sherpas für die Küche, keine für den Berg, ein armseliges Lager. Die haben offenbar ihre kommunistische Vergangenheit noch nicht überwunden.« Richter mußte lächeln.
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Lucie Bell wußte ungemein viel über diesen Lagerplatz, sie war jedoch zu sehr Amerikanerin, um das neue Europa verstehen zu können. Die Polen sprachen wahrscheinlich einfach zu wenig englisch, um eine sprachliche Brücke zu ihr bauen zu können. Richter war jedoch überzeugt, daß es sich um hervorragende Bergsteiger handelte. Die Polen hatten zu viele davon, als daß sie es sich hätten leisten können, schlechte hierherzuschicken. Er dachte an sich selbst und an das, was er vorhatte. Er wäre ganz sicher eine gute Story für Lucie Bell. »Der Mann, der sich wie ein Dieb auf den Mount Everest schlich.« »Ein Leben für den Gipfelsieg am Everest!« »Der Gipfel des Wahnsinns – Selbstmord am Everest!« »Irrer starb nach Wahnsinnsmarsch durch die Todeszone!« Sie wußte nichts über ihn, und doch würde sie es sein, die am Ende seine Story schrieb. Bis jetzt kannten sie nur zwei Menschen: Nancy und er selbst. Vielleicht sollte Nancy mit Lucie reden, später, wenn alles vorbei und er nur noch eine Schlagzeile war. Was würde Lucie aus einem wie ihm machen? Richter suchte Nancys Augen und sah, daß sie nachdenklich waren. Vielleicht dachte sie dasselbe wie er.
Die Expedition Dreier hatte sich bemüht, mit Steiner Schritt zu halten. Weil der andere eine wesentlich schwerere Last trug und weil ihm dadurch der Ehrgeiz genommen wurde, es dem anderen zu
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zeigen, war ihm das auch einigermaßen gelungen. Obwohl es der Lehrer nicht wollte, kam während des Marsches durch den Khumbu zumindest Achtung für Steiner in ihm auf. Der Mann war stark, und der Mann wußte, was er tat. Es waren sicher mehr als dreißig Kilo, die er am Buckel mitschleppte. Sie rasteten zweimal, und Dreier war froh darüber. Sie standen nur so da, beide schwer atmend, auf ihre Stöcke gestützt, zu reden gab es nichts. Auf halber Höhe trafen sie auf eine Gruppe von Sherpas, die sich bemühte, eine Brücke aus Aluleitern wieder einigermaßen zurechtzubiegen, die am Vortag noch eine Spalte überbrückt hatte, in der Zwischenzeit jedoch von der Brachialgewalt des Gletschers zu einer u-förmigen, nutzlosen Konstruktion zusammengedrückt worden war. Die Spalte war jetzt viel schmäler, dafür hatte sich gleich daneben eine andere aufgetan, die nun wie ein weiteres, weit aufgerissenes Maul, stahlblau und unendlich tief, aus dem Gletscherlabyrinth grinste. Steiner streifte sofort seine Last ab und half den Sherpas, Dreier, der eigentlich seine Kraft für den Weitermarsch sparen wollte, stand eine Weile da und schaute zu, als ihn die ersten verächtlichen Sherpablicke aus den schwitzenden, angespannten Gesichtern trafen, griff jedoch auch er zu. Er spürte, wie die Uhr tickte. Alle, die hier schufteten, wußten, daß sie einen ganzen Tag verlieren würden, wenn der Übergang nicht rechtzeitig hergestellt war. Sie waren nicht allein unterwegs, sie waren dem Timing des Expeditionsapparates unterworfen, dem sie dienten. Und dieses Timing sah vor, daß sie nach Ablieferung ihrer Lasten wieder ins Basislager zurückmußten. Noch hatten sie ein Zeitpolster. Die kleiner gewordene Spalte war mit dem Rest der zurechtgebogenen Leiter bald
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überbrückt, für die neue, breitere Spalte reichte das vorhandene Material jedoch nicht mehr aus. Es gab nur einen Ausweg: Einige der Sherpas mußten absteigen und aus einem der Materialdepots, die der Versicherungstrupp klugerweise im Khumbu angelegt hatte, neue Leitern holen. Steiner verfluchte den blitzblauen Himmel und die Sonne, die ungehindert auf den gewaltigen Eisstrom strahlen konnte. Für Dreier war das Warten wie eine Fahrt in der Geisterbahn. Rund um sie herum knarrte und krachte es, immer wieder lösten sich irgendwo kleinere Eistrümmer, die über Eistürme und Felsstellen kollerten, eigentlich harmlose Geräusche, die in dieser Gigantenwelt, mit der ständig tickenden Uhr am Handgelenk, jedoch zu nerventötenden Warnsignalen wurden und zur Eile antrieben. Es war schon fast zehn Uhr, als die Sherpas mit den neuen Leitern zurückkamen, Minuten später lag die Brücke an ihrem Platz, und eine Viertelstunde später waren die Sherpas, die vor ihnen losgegangen waren, weder zu hören noch zu sehen. Sherpas waren anders. Sie waren mit dem Berg verwachsen, sie kannten seine geheimen Regeln. Die Männer, die zuvor ein Tempo eingeschlagen hatten, das ihn wie eine Schnecke neben einer Gazelle hatte aussehen lassen, waren keine kräftigen Muskelprotze, einige sahen sogar dünn und eingefallen aus, doch es war ihre Welt, in der sie sich bewegten. Dreier glaubte zwar noch immer, daß er gut war, daß Körper und Geist funktionierten, er wußte nun jedoch, daß es viele gab, die besser waren. Steiner war einer davon, und die Sherpas bewegten sich in einer anderen Dimension. Zum ersten Mal war die enge Beziehung zwischen Steiner und Hans Frey kein Grund zur Befürchtung mehr für ihn. Steiner sollte sich ruhig dem lungenschwachen Großmaul widmen. Sein Gipfelgarant hieß Mingma. Es war fast Mittag, als sie das Lager erreichten. Steiner, der
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trotz seiner Last noch einen Zahn zugelegt hatte, warf das Traggestell mit den daran festgezurrten Sauerstoffflaschen in den Schnee und sank daneben schwer atmend zu Boden. Der Lehrer, der zuletzt immer weiter zurückgefallen war, kam erst zehn Minuten später an. Der Himmel war noch immer strahlend blau, die Sonne gleißte ihrem höchsten Punkt entgegen. Die Zelte waren verschlossen, aus den anderen Lagern drangen Wortfetzen und dumpfe kleine Geräusche zu ihnen herüber. Dreier brauchte mehr Luft, doch selbst sein schwerstes Atmen reichte nicht aus, um die Lungen ausreichend zu füllen. Alles an ihm war kraftlos, selbst seine Empfindungen. Die einzigen Schmerzen, die er spürte, kamen aus dem Hals, wo die trockene Höhenluft gnadenlos an der empfindlichen Haut kratzte. Die Schmerzen hätten nachgelassen, wenn er in der Lage gewesen wäre, durch die Nase zu atmen. Sein Zustand zwang ihn jedoch, durch den weit aufgerissenen Mund soviel Atemluft wie möglich mit einem Zug einzusaugen, und er hatte bei jedem einzelnen Zug das Gefühl, jemand würde mit Rasierklingen an seiner Luftröhre herumschneiden. Steiner war bald wieder bei Kräften. Er stand auf und verstaute das beladene Traggestell in seinem Zelt. Der Lehrer wußte, daß er keine Chance hatte, auf die Beine zu kommen, und blieb im Schnee liegen. Sein Atem ging ruhiger, und er genoß das Gefühl, endlich wieder die Lungen vollzukriegen. »Zwei Möglichkeiten«, sagte Steiner halb zu sich selbst, als er wieder im Freien war. »Welche?« krächzte der Lehrer. Steiner drehte sich erstaunt zu ihm um, so, als habe er eben erst bemerkt, daß auch Dreier hier oben war. »Für dich«, sagte er und stieß den ausgestreckten Zeigefinger in Dreiers Richtung, »gibt es nur eine, du mußt hier
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übernachten. Ich habe von mir geredet. Bis morgen mittag muß ich die letzten Flaschen hochgeschleppt haben. Möglichkeit eins: Ich riskiere es, jetzt durch den Eisfall abzusteigen, oder, und das ist Möglichkeit Nummer zwei, ich bleibe hier, gehe morgen so früh wie möglich hinunter und pack dann den verdammten Khumbu gleich noch einmal.« Er erwartete keine Antwort, und Dreier gab ihm auch keine. Steiner starrte in Richtung Eisfall, überlegte eine Weile, dann nickte er entschlossen. »Ich riskier’s«, sagte er zu sich selbst. Und zu Dreier: »Schnauf dich aus, koch dir was und trinke viel. Hörst du? Mach dir literweise Tee. Du bist auf dich allein gestellt, bis ich wieder da bin. Die Sherpas werden wohl erst morgen mittag von oben zurücksein.« Der Lehrer dachte an die Leiter, die der Gletscher mit einem zarten Ruck verstümmelt hatte. Jetzt, zu Mittag, würde er sich mit Sicherheit stärker rühren, ein paar der Eistürme zum Einsturz bringen, Spalten aufmachen. Es war ihm egal, was Steiner tat. Es war sein Leben, und als Leiter hatte er die Pflicht, alles für die Expedition zu tun. Dreiers Gedanken kamen jetzt klarer, und plötzlich wurde ihm bewußt, daß Steiners Ende auch das Ende der Expedition bedeuten würde. Auch ein Unfall, der ihn gehunfähig machte, würde alles zum Scheitern bringen. »Das ist doch absoluter Blödsinn«, krächzte er und versuchte dabei, die Halsschmerzen hinunterzuschlucken. Steiner, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, drehte sich um. »Du willst doch nicht im Ernst verlangen, daß ich dich mitnehme.« Der Lehrer schüttelte heftig den Kopf. »Es ist Blödsinn, daß du gehen willst, viel zu riskant um diese Zeit, das weißt du besser als ich. Dir braucht nur ein
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Eisklotz auf das Bein zu fallen, und wir drei können im Basislager mit dem Kofferpacken beginnen. Hunderttausend Mark für zwei Ausflüge in den Eisbruch und wieherndes Hohngelächter als Empfang auf dem Frankfurter Flugplatz.« Steiner schaute auf seine Uhr. »Bist du fertig?« fragte er. Dreier starrte ihn an, Steiner zuckte die Schultern und ging los. »Weißt du, was du bist, Steiner?« schrie ihm der Lehrer nach, der andere reagierte nicht. »Du bist ein verdammter, egoistischer Drecksack. Wenn dir etwas passiert, will ich mein Geld zurück, verstehst du? Was du tust ist fahrlässig, grob fahrlässig, da wird mir jeder Richter recht geben.« Steiner hörte ihn, und er wußte, daß Dreier recht hatte. Was er jetzt tat, war fahrlässig, wahrscheinlich sogar völlig verrückt. Er wußte selbst nicht genau, warum er sich für den Abstieg entschieden hatte. Ein Grund, allerdings einer der unbedeutenderen, war wohl die Horrorvorstellung gewesen, mit dem Lehrer bis morgen vormittag allein sein zu müssen. Darüber hinaus hatte er Zeitdruck schon immer gehaßt. Wenn er Ab-, Auf- und Wiederabstieg morgen nicht schaffen würde, dann könnte der gesamte Expeditionszeitplan durcheinandergeraten und er gezwungen sein, alles, was er so mühsam ausgetüftelt, geplant und in seinen Gedanken als Tatsachen abgelegt hatte, völlig neu zu ordnen. Von nun an war jeder Tag bis zum Gipfelgang genau vorprogrammiert, sie mußten noch mindestens einen Probeaufstieg ins Lager eins absolvieren, und ein verlorener Tag würde sie weit zurückwerfen. Schlechtwetterunterbrechungen waren egal, die trafen alle gleich und würden sich nur auf den Gesamtzeitplan auswirken. So betrachtet, stellte für ihn der heutige Abstieg das geringere
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Risiko dar. Der Eisbruch war immer eine Glücksache, jetzt brauchte er eben noch mehr Glück. Er trug keine Last und fühlte sich leicht wie ein Vogel. Nur der Khumbu und er. Keine Müdigkeit mehr, nur noch die Herausforderung, eine Mutprobe vielleicht. Der Lehrer hatte recht. Als Expeditionsleiter hatte er die Verantwortung, und diese Verantwortung drückte immer schwerer. Er war kein selbständig handelndes Individuum mehr, er war die Expedition, der Weg, das Ziel. Der Entschluß, jetzt noch abzusteigen, war vielleicht auch ein letztes Aufbäumen seines Egos gewesen, die letzte Chance, allein mit sich selbst zu sein, bevor es für ihn nur noch die Verantwortung für alle gab. Er hatte den Khumbu gefordert, ihm wie ein mittelalterlicher Ritter den Fehdehandschuh zugeworfen. »Schau her, Khumbu, da bin ich, deine Tabuzeiten scheren mich einen Dreck!« Steiner gefiel das Bild mit dem Ritter, und er brüllte die Herausforderung ins Eis. »Bring mich doch um, wenn du kannst!« Die Geräusche, die ihn umgaben, waren lauter, und da waren auch andere Geräusche. Der Schnee auf dem Eis war schwerer und sulziger geworden, die Steigeisen sanken tiefer ein, bevor ihre Zacken greifen konnten. Manchmal knarrte es wie auf einem alten Segelschiff, nicht hölzern, auch nicht stählern, das Eis hatte sein eigenes Knarren. Steiner sprang über die Steilstufen, streute auf den ebeneren Stellen immer wieder Laufschritte ein, die komisch wirkten, weil ihn die Steigeisen dabei behinderten. Dem Unbehagen, das immer stärker wurde, konnte er jedoch nicht davonlaufen. Wenn das Eis irgendwo vor, hinter, neben oder über ihm barst, klang es wie ein dumpfer Kanonenschuß. Am
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schlimmsten waren die Geräusche des Wassers. Tropfen, die von oben kamen und neben ihm auf das Eis klatschten, manchmal sogar kleine Rinnsale, die murmelten und gurgelten wie winzige Gebirgsbäche. Der Gletscher schmolz. Nicht sichtbar, nur hörbar. Er schickte ihm hundert kleine Signale, einige zur Warnung, die anderen zur Unterhaltung, er konnte jedoch kein einziges davon deuten. Die Brücke, die sie beim Aufstieg neu gebaut hatten, lag noch so da, wie sie sie verlassen hatten. Keine neue Spalte, keine sichtbare Veränderung im Eis. Steiner blieb stehen und atmete tief durch. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, die wachsende Ungeduld zu verdrängen. Dann hängte er seinen Karabiner ein und tastete sich langsam auf den Sprossen vorwärts, immer auf das Krachen wartend, das den Schlund unter ihm noch weiter aufreißen würde. Schritt für Schritt, mit einer inneren Stimme, die ihn zur Eile antrieb, und einer anderen, die seine Bewegungen bremste. Als er in der Mitte der Brücke angelangt war, befahl ihm die erste Stimme, sich mit einem Hechtsprung auf die andere Seite zu werfen, die andere sagte ihm, daß er Zeit hätte, ruhig und konzentriert weitergehen sollte, daß sich der Gletscher während der nächsten Minuten hier nicht rühren würde. Steiner mußte gehen. Mit spitzen Eisenzacken an den Füßen über dünne, kaum dreißig Zentimeter lange Aluminiumrohre, zwischen denen Abstände klafften, die länger waren als seine Schuhe. Er hatte es schon oft getan, jetzt dachte er jedoch zum ersten Mal darüber nach. Wenn sich die Spalte nur um einen halben Meter weiter auftat, würden die Leitern und Seile losgerissen werden. Dann würde er in den Schlund hinabstürzen. Wie lange würde er fallen, bevor alles aus war? Zwei Sekunden, nein, länger, mindestens vier oder fünf Sekunden. Ein Skispringer, der einen Zweihundert-Meter-Flug tat, war zwischen Schanzentisch und Aufsprung an die acht Sekunden
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lang in der Luft. Er hatte einmal vor dem Fernseher mitgestoppt. Er hatte in irgendeinem Buch gelesen, daß das Eis des Khumbu an seinen tiefsten Stellen bis zu fünfhundert Meter dick sein konnte. Wenn die Spalte bis zum Felsboden, der darunterlag, reichte, dann konnte der Fall fast zwanzig Sekunden lang dauern. Was tut man in den unwiderruflich letzten zwanzig Sekunden seines Lebens? Es war das, wovor er alle anderen eindringlich gewarnt hatte, er blieb stehen und starrte an seinen Beinen vorbei in die Tiefe. Das glitzernde Eisblau der oberen Spaltenwände ging weiter unten in düsternes Stahlblau, dann in undurchdringliches Schwarz über. Steiner stand ganz ruhig da, wie ein Seiltänzer in perfektem Balancezustand. Es gab keine Geräusche mehr, der Gletscher schien den Atem anzuhalten, wie er selbst. Es waren nur zwei oder drei Sekunden, nicht erklärbar, aber beinahe tödlich. Die Tiefe zog ihn an, wie ein Magnet. Es war der Gletscher selbst, der ihn aus der Erstarrung weckte. Steiner sah es nicht, er hörte es nur. Gewaltige Eismassen gerieten ganz in seiner Nähe in Bewegung, Trümmer stürzten ab, Blöcke mahlten gegeneinander, gerieten ins Rollen, donnerten über das eisige Geröll. Er schreckte hoch, funktionierte wieder, wollte mit dem nächsten Schritt drei Sprossen überwinden, der Fuß kam aber nie ans Ziel, weil die Brücke hinter ihm im selben Augenblick von einem Eisklotz gestreift und mit einem gewaltigen Ruck zur Seite geschoben wurde. Steiners Füße wurden weggerissen, in die Luft geschleudert, seine Arme versuchten, irgend etwas zu greifen, den Spaltenrand, die Leiter, die Finger schlossen sich um etwas Kaltes, die Beine stürzten nach unten, dann baumelte der Körper über dem Abgrund, er fiel jedoch nicht. Steiners Kopf war plötzlich klar wie noch nie. Die Brücke war zwar verschoben, aber sie war noch da. Die Wucht des
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Aufpralls hatte bewirkt, daß der starke Haken, an dem das Sicherungsseil für die Brücke hing, losgerissen worden war, das Seilende mit dem nutzlosen Haken baumelte jetzt neben der Brücke in die Tiefe. Ihr Ende war nach dem Treffer wieder auf dem Spaltenrand gelandet. Gerade noch. Seine Hände klammerten sich um eine Sprosse, hielten den baumelnden Körper fest, die Brücke wackelte dabei. Zwischen seinen Händen und dem Ende der Brücke waren sieben Sprossen. Sein Atem ging ruhig, die ganze Konzentration lag in den Händen, die sich langsam, Sprosse um Sprosse, weiterbewegten. Der Körper mußte dabei ruhig bleiben, durfte nicht wieder zu pendeln beginnen. Steiner war ein Akrobat ohne Netz mit einem Seil, das an beiden Enden von Knoten gehalten wurde, die sich im nächsten Augenblick lösen konnten. Er schaffte es bis zur drittletzten Sprosse, die Kraft in den Fingern war noch da. Es gab nur einen Weg nach oben. Er mußte die Beine hochbekommen und um die Leiter schlingen, dann mußte er versuchen, sich seitlich nach oben zu rollen. Steiner hatte keine Angst, er tat, was er tun mußte. Es war der einzige Weg zurück ins Leben. Er tat es unendlich vorsichtig, spürte, wie sich die Brücke mit ihm mitbewegte, wußte, daß er eine Veränderung ihrer Lage nicht verhindern konnte, hoffte, daß ihr Ende dabei nicht über den Spaltenrand glitt. Dann ging alles so rasch, daß er sich später nur noch daran erinnern konnte, wie er auf dem Eis lag und auf die Leiter starrte, die immer noch an ihrem Platz war.
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Richter Für Richter war es die Nacht vor dem Tag, den er schon damals, als er noch nicht im entferntesten daran gedacht hatte, daß er eines Tages tatsächlich stattfinden könnte, immer wieder in seinen Träumen nachvollzogen hatte. Nicht als Albert Richter, damals war er Hillary gewesen oder Bonington oder Messner, zuletzt Kammerlander. Ein Sieger, kein Verlierer. Es war die Zeit vor seinem großen Entschluß gewesen. Die Zeit, während der er das gesamte verfügbare Wissen, jede Information, jede neue Nachricht über den Mount Everest gesammelt und in seinem Hirn gespeichert hatte. Seine Umgebung hatte ihn dafür belächelt, er war der Mann mit dem Everest-Fimmel gewesen. Nancy hatte seine Besessenheit ihm gegenüber nie gewertet. Sie wußte, daß ihm der Berg wichtiger war als alles andere, wichtiger als sie und wichtiger als sein eigenes Leben. Wahrscheinlich hielt sie ihn für einen Verrückten, und wahrscheinlich war er das auch. Weil der Weg, den er gehen würde, Lichtjahre von den Wegen entfernt war, auf denen die anderen Menschen dieser Welt herumtrampelten. Richter hatte so leicht geschlafen, daß er den Wecker bereits nach dem zweiten Zirpen per Knopfdruck zum Verstummen hatte bringen können. Es war vier Uhr früh. Die Welt, die ihn umhüllte, war pechschwarz. Innerhalb weniger Sekunden war Richter hellwach und von einer seltsam schweren Stille umgeben. Alles um ihn herum schlief noch. Die Menschen in den Zeltdörfern, der nahe Eisfall, sogar die Lawinen hatten eine Ruhepause eingelegt. Richter ließ sich Zeit und genoß die Spannung, die langsam immer heftiger an ihm zu zerren begann. »Ich liebe dich«, sagte Nancy plötzlich. Die Nacht versteckte ihren Körper, sie war nur eine Stimme.
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Richter wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Er griff nach der Taschenlampe und knipste sie an, um sich aus dem Schwarz zu befreien. »Du bis völlig verrückt, der verrückteste Kerl, der mir je in meinem Leben über den Weg gelaufen ist, ein Wahnsinniger, der sich in einen Berg verknallt hat«, sie setzte sich auf, ein Bündel in einem Sack, aus dem ein Kopf ragte. Richter strahlte sie mit der Lampe an. »Liebe?« fragte er. Der Kopf, der aus dem Sack ragte, nickte. »Nicht, weil du so sexy bist«, flüsterte sie, »das bist du natürlich auch, und du weißt es, für mich ist es jedoch etwas anderes, etwas, für das es keine logische Erklärung gibt.« Der Sack bewegte sich, bis sie ihre Hände befreit hatte. »Liebe und Logik haben sich noch nie vertragen«, sagte sie. Richter zuckte die Schultern. Sie hatte ihre stärkste Waffe ausgepackt. Das Seltsame daran war, daß er keinen Ärger empfand, ihre Stimme und das, was sie sagte, streichelten ihn in einem Moment, der eigentlich sein einsamster sein sollte. »Keine Sorge«, murmelte er, »es geht diesmal ja nur um den Khumbu und das Western Cwm, morgen, spätestens übermorgen bin ich zurück.« »Ich will dich nicht verlieren«, sagte sie, »aber ich habe auch keine Angst um dich, weil ich ganz fest an dich glaube. Du kannst kein Verlierer sein, weil du immer schon ein Sieger warst!« Richter warf ihr einen mitleidigen Blick zu. »Sieger schauen anders aus«, sagte er, »ich habe in meinem Leben noch nichts richtig gemacht, das weißt du doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Alles war richtig, irgendwie, auf eine verkorkste Art, hat es dich auf den Weg geschubst, den du nun gehst. Wenn es nicht so gewesen wäre, hättest du ein Leben lang die Last des
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unerfüllten Traums mit dir herumschleppen müssen.« »Kein Verlierer?« fragte er. »Ein Sieger«, lächelte sie. Richter schnürte die Schuhe zu. »Wir werden sehen, wie alles läuft«, sagte er, »heute stelle ich mich erst einmal dem Khumbu vor!« »Gestatten, Richter, Everest-Sieger«, lächelte sie. Er küßte sie, bevor er in die Kühle der Nacht hinauskroch. Den Rucksack hatte er am Abend zuvor mit allem, was er für den Berg brauchte, vollgestopft. Aus dem Dorf, das zwischen ihm und dem Khumbu lag, glitzerten ein paar Lichter. Gaslampen, wahrscheinlich in den Küchenzelten, in einigen wurde wohl schon jetzt gearbeitet, die Sahibs sollten ein anständiges Frühstück bekommen. Richter knipste die Stirnlampe an und stapfte los. Der helle Kegel, den das Licht aus der Nacht schnitt, genügte ihm, um den Weg zu finden, vorbei an den Zelten, die wie dunkle Beulen auf dem Gletscher hockten. Richter ging dem Everest entgegen, er ging langsam, und er genoß jeden Schritt. Er hörte bald nur noch das Mahlen seiner Schritte und seinen eigenen Atem. Es war kalt, es war jedoch keine eisige Kälte, die auf der Haut schmerzte und an den Atemwegen kratzte. Richter hatte die anderen durch sein Fernglas beobachtet und sich die Stelle gemerkt, an der sie die Steigeisen anschnallten. Jetzt, in der Nacht, war alles ganz anders, es gab keine markanten Geländepunkte, an denen er sich hätte orientieren können, nur sein Gefühl für Raum und Distanz, das ihm sagte, wo er sich befand. Als er stehenblieb und die Zacken anlegte, war er überzeugt, daß es der richtige Ort war. Es war beinahe still im Eisbruch, trotzdem hatte er das Gefühl, daß der Boden unter ihm lebte, sich bewegte, obwohl er diese Bewegungen nicht spürte.
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Richter war allein im Khumbu. Er war so früh aufgebrochen, daß es wohl noch eine Stunde oder länger dauern würde, bis ihm der erste der anderen folgen würde. Er hatte keine Eile, er hatte Zeit, sein Tempo zu finden, die Schrittlänge und die Schrittfrequenz, die ihn bei größtmöglichem Raumgewinn am wenigsten Kraft kostete. Es war sein erster Test als Höhenbergsteiger, die erste Phase eines Experiments, das er in seinem Kopf schon Dutzende Male durchgespielt hatte. Die Realität war so, wie er sie erwartet hatte, logisch betrachtet nur ein monotones Aufwärtsstapfen durch ein Eislabyrinth, das Erreichen einer Seehöhe von sechstausend Metern, keine Schwierigkeit, wenn man das Gehen mit Steigeisen beherrschte und körperlich einigermaßen fit war. Die Logik hatte jedoch keinen Platz in Richters Gefühlswelt. Dazu war die Situation zu außergewöhnlich. Es war der Khumbu, die erste Barriere zwischen Mensch und Gipfel. Berühmt, berüchtigt, respektiert, gefürchtet, ein Ort, der allein schon aufgrund seiner Geschichte niemanden kalt ließ. Richter empfand weder Furcht noch Respekt, vielleicht Achtung, vor allem jedoch Euphorie, ein Gefühl grenzenloser Freiheit, wie ein Vogel, den man aus seinem Käfig befreit, oder ein Lebenslänglicher, den man gerade noch rechtzeitig begnadigt hatte. Er lebte, er spürte es in jedem Muskel, mit jedem Atemzug, intensiv wie schon lange nicht, und zum ersten Mal seit langer Zeit ließ er auch seine Gedanken frei, ließ sie nicht beim Gipfel aufhören, wie er es bisher immer getan hatte, sondern in eine Zukunft weiterschweben, die er in seinen düsteren Tagen nicht mehr gewollt hatte. Vielleicht gab es doch ein Leben nach dem Gipfel. Die Entscheidung lag beim Berg. Er war sein Ziel, sein Schicksal. Er war es, der ihm alles nehmen und alles geben konnte, vielleicht auch eine Zukunft. Das hatte jedoch noch Zeit. Es war noch immer dunkel, aber nicht pechschwarz wie
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unten im Lager. Da waren ein schmalsicheliger, blasser Mond und der gewaltige Sternenhimmel mit seinen Tausenden winzigen Glitzerkörnchen, die einen Hauch von Licht in die Nacht warfen. Als Richter die erste Leiterbrücke erreichte, blieb er stehen. Sein Atem ging schwer, doch hatte er kein Problem, die Lungen ausreichend mit Luft zu versorgen. Die Muskeln in den Beinen und im Bauch waren gespannt, im Kopf hockte ein dumpfes Gefühl, ein sanftes Pochen im Rhythmus des Herzschlags, es tat ihm jedoch nichts weh. Einige dieser Sterne, dachte Richter, haben nur das Licht zurückgelassen, das sie vor Millionen von Jahren losgeschickt haben, sie selbst gibt es längst nicht mehr, von Kräften oder Mächten zerstört, von denen wir keine Ahnung haben. Nur das Licht lebt noch. Wie viele es wohl sein mögen, die jetzt ein Nichts in der Unendlichkeit sind? Ein Dutzend, Hunderte, Tausende, Millionen? Unter denen, die noch existieren, muß es wohl auch solche geben, auf denen organisches Leben möglich ist. Irgendwo dort draußen starrt vielleicht gerade jetzt ein denkendes Wesen in die Nacht, für das wir, die Erde, nichts anderes sind als ein winziges Glitzern, das aus der Ewigkeit kommt. Richter war froh, daß die Spalte, über der die Brücke lag, nur ein schwarzes Band in einer dunklen Umgebung war, die Tiefe konnte er zwar nicht sehen, er spürte sie trotzdem, als er sich unendlich langsam und vorsichtig auf den glatten Sprossen vorwärtstastete. Die Luft über der Spalte schien kälter zu sein, sie war ein Schlund, und Richter glaubte zu spüren, wie er atmete. Er war froh, als er wieder festes Eis unter den Steigeisen hatte. Der Tag kam rasch, er zog den dunklen Vorhang zur Seite und gab eine Bühne frei die viel gewaltiger war als jene, die sich Richter in seiner Vorstellungswelt zusammengesetzt hatte. Eis in jeder Form, riesige Quader, fast perfekte Kegel, Türme,
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weißes Geröll, dazwischen schwarze Spaltenklüfte, blauschimmernde Abgründe und der winzige Pfad, den der Mensch durch das Labyrinth gezogen hatte, scheinbar willkürlich, wie ein Faden, den jemand auf einen Eiswürfelberg gelegt hat, und doch wahrscheinlich die einzig gangbare Route. Das Tageslicht war gerade stark genug, daß Richter erkennen konnte, daß mit der längsten Leiterbrücke, die über der breitesten Spalte lag, etwas nicht stimmte. Er sah, daß die Seilverankerung auf der anderen Seite losgerissen war und daß das Ende gerade noch auf der Kante lag. Er entdeckte auch die verbogenen Reste einer anderen Leiter und die Reste der Eislawine, die wahrscheinlich für den labilen Zustand des wackeligen Übergangs verantwortlich war. Richter legte den Rucksack ab und spürte erst jetzt, wie schwer er auf seinen Rücken und die Beine gedrückt hatte. Trotz der Anstrengung des Aufstiegs und der wachsenden Müdigkeit fühlte er sich plötzlich leicht, er hob die Hände und sprang in die Höhe, es waren nur ein paar Zentimeter und ein Augenblick der scheinbaren Schwerelosigkeit, sie wirkten jedoch wie eine Droge, die ihn stärker machte. Er kniete am Spaltenrand nieder, und seine Kraft reichte aus, um die Brücke leicht anzuheben und das andere Ende so weit zu verrücken, daß es wieder dort lag, wo es vor dem Unfall mit der Eislawine gelegen hatte. Mehr konnte er nicht tun, das Verankerungsseil baumelte noch immer in den Abgrund. Es war eine mächtige Spalte, unendlich tief, düster, drohend. Richter ging mit Steigeisen an den Schuhen über rohe Eier, mit einem Rucksack am Buckel, der an die dreißig Kilo wog. Er schaffte es und brachte auf der anderen Seite die Verankerung wieder an, bevor er weiterging. Es war ein erster, winziger Teil der Reifeprüfung gewesen, die ihm noch bevorstand, er hatte sie geschafft und einige Zusatzpunkte für sein Selbstvertrauen gesammelt.
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Sein Kopf hatte nun doch zu schmerzen begonnen. Richter machte sich darüber jedoch keine Sorgen, er wußte aus seinen Büchern, daß es bei den meisten, die diesen Weg zum ersten Mal gingen, der Normalzustand war, dazu gehörten auch Halsschmerzen, die er zum Glück noch nicht hatte, und das leichte Kratzen in der Kehle störte ihn nicht. Als er über die letzte Kante stieg und zum ersten Mal auf die Zelte von Lager eins blickte, war es kurz nach acht Uhr. Er sah einige Menschen und hörte ihre Stimmen. Frühstückszeit. Richter hatte keinen Hunger, nur quälenden Durst, und er überlegte, ob er weitergehen und in einiger Entfernung sein eigenes Lager aufbauen oder sich einfach selbst bei den Amerikanern einladen sollte.
Die Expedition Nach seinem Spaltenabenteuer hatte Steiner beschlossen, sich in Zukunft keine Sekunde länger als unbedingt nötig im Khumbu aufzuhalten. Wenn er morgen mit dem Rest der Flaschen hochginge, würden die Freys bereits dabeisein, der zweite Akklimationsaufstieg einen Tag früher, als ursprünglich geplant, stattfinden. Der Lehrer ersparte sich so ebenfalls einen zusätzlichen Auf- und Abstieg durch den Eisfall. Er hatte es den beiden mitgeteilt, als er ins Lager zurückgekommen war, und sie hatten es ruhig aufgenommen. Erika schien sogar erfreut über den gewonnenen Tag zu sein, und auch Hans protestierte nicht. Er war, zum ersten Mal, seit sie im Basislager angekommen waren, bester Laune, weil er von zu Hause gute Nachrichten erhalten hatte. Eine der auflagenstärksten Illustrierten hatte endlich die Story gebracht,
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auf die er so lange gewartet hatte. »Freyheit am Dach der Welt« hieß der Titel, darunter stand: »Erfolgreicher deutscher Unternehmer will seine Karriere mit dem Gipfelsieg am Mount Everest krönen.« Reporter und Fotograf waren zwei Wochen vor Abflug bei ihnen gewesen, und er hatte schon befürchtet, die Leute in der Chefredaktion hätten erkannt, daß es sich in Wirklichkeit um eine gewaltige PR-Geschichte für die Firma handelte, und sie deshalb fallengelassen. Daß sie nun doch noch erschienen war, hob seine Stimmung sprungartig an. Jetzt mußte er nur noch den verdammten Berg packen, je früher, desto besser. Es war die Nacht zum 21. April, und Steiner hatte das Gefühl, daß sie etwas kühler war als die Nächte zuvor, da er jedoch keine gemessenen Temperaturwerte besaß, die er hätte vergleichen können, war seine Wahrnehmung eine äußerst subjektive und mußte keinesfalls stimmen. Da sie ja nur durch den Eisbruch und nicht mehr zurückmußten, hatten sie bis zum späten Vormittag Zeit, den Weg zu bewältigen, und brachen deshalb erst knapp vor sechs Uhr früh auf. Steiner ließ Frey an der Spitze gehen, damit er selbst das Tempo bestimmen und sich seine Kräfte bestmöglich einteilen konnte. Es ging zwar zäh, aber stetig vorwärts, und Steiner, dessen Last noch etwas schwerer war als jene vom Vortag, machte es nichts aus, gedrosselt aufzusteigen. Das Horrorerlebnis tauchte als Warnsignal immer wieder in seinem Gehirn auf, obwohl er jeden Gedanken daran zu verdrängen versuchte. Sie wurden mehrmals von schwer beladenen Sherpagruppen überholt, auch die Mitglieder anderer Expeditionen zogen an ihnen vorbei, zuletzt drei Skandinavier, hochgewachsene, zähe Männer mit langen Schritten, die freundlich grüßten und sich später, als sie längst schon vorn waren, noch einmal umdrehten. Steiner glaubte, im Gesicht des letzten ein
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mitleidiges Lächeln gesehen zu haben. »Idioten«, knurrte er, »kümmert euch um euren eigenen Dreck!« Frey hatte kein Problem mit der Führerrolle, im Gegensatz zum ersten Aufstieg fühlte er sich nicht getrieben oder gehetzt. Der Lehrer und seine ätzenden Bemerkungen fehlten ihm keineswegs. Außerdem hatten sie fünf Stunden Zeit, absolut keine Eile. Schnelleres Gehen wäre blödsinnig gewesen, ein sinnloses, unnötiges Kräfterauben. Der Eisfall knarrte und krachte, ließ es rieseln, kollern und manchmal sogar sanft donnern, doch konnten die drei ungehindert ihren Weg gehen. Im letzten Wegdrittel mußte Frey zwar mehrmals stehenbleiben, um das Brennen in den Beinen abklingen zu lassen und zu einem ruhigeren Atemrhythmus zurückzufinden, das Kratzen im Hals war wieder da und auch die Kopfschmerzen, alles war jedoch erträglicher als beim ersten Mal. Als sie knapp nach elf Uhr im Lager ankamen, konnte er sich noch immer ohne Probleme auf den Beinen halten und nach einer kurzen Verschnaufpause sogar verständlich reden. Dreier empfing sie mit sichtbarer Ungeduld. »Ich habe dich um acht oder neun Uhr hier erwartet«, warf er Steiner vor, »du hättest mir verdammt noch mal sagen können, daß du nicht allein kommst. Ihr habt Glück, daß ich gewartet habe und nicht abgestiegen bin.« Steiner war müde. Die Last hatte viel schwerer auf ihn gedrückt als am Vortag, durch das verzögerte Gehtempo hatte er sie auch viel länger schleppen müssen. »Du hast Glück gehabt«, schnaufte er, »denn du wärst es gewesen, der umdrehen und mit uns noch einmal hochstapfen hätte müssen.« Dreier schüttelte den Kopf, noch immer verärgert. »Wenn du gestern nicht wie ein Wahnsinniger abgehauen wärst und vernünftig gedacht hättest, dann hättest du mir ein
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Funkgerät zurückgelassen.« »War nicht nötig«, sagte Steiner, er hatte sein Grinsen wiedergefunden, »wie du siehst, sind wir auch ohne Funkgerät hier vereint.« Vor ihnen stand der Kocher und auch der Topf, in dem sich der Lehrer seinen Frühstückstee zubereitet hatte. Er hatte gerade so viel davon übriggelassen, daß es für eine Tasse reichte. Die hätte Steiner trinken sollen, bevor er mit ihm wieder abgestiegen wäre. Erika Frey übernahm wortlos die Rolle der Köchin, sie verteilte den Teerest auf drei Becher und schmolz dann Schnee für noch mehr Tee und die Mittagssuppe. Steiner nahm zur vereinbarten Zeit Funkkontakt mit Mingma auf, die Verbindung klappte auf Anhieb. Die Sherpas befanden sich in Lager drei, mitten in der steilen Lhotse-Flanke, auf 7300 Metern Höhe. Fast tausenddreihundert Meter höher als Steiner und die anderen, nur noch siebenhundert Höhenmeter unter dem Südsattel. »Die Italiener und die Amerikaner haben bereits einen Großteil des Wegs zum Südsattel versichert«, meldete der Sirdar, »in der Flanke sind wieder die Steine heruntergeprasselt, wir mußten höllisch aufpassen, es ist zum Glück nichts passiert, alles verläuft nach Plan.« Steiner war zufrieden. »Hier unten liegen noch jede Menge Sachen, die hochmüssen«, sagte er, »ich schlage vor, daß ihr heute noch zurückkommt und mit uns morgen früh zum Zweierlager hochsteigt.« »Haben wir ohnehin geplant«, antwortete Mingma, »wir sind gerade dabei, etwas zu essen, dann geht’s los. In ein paar Stunden sind wir bei euch. Ist unten alles okay?« »Alles okay«, sagte Steiner, »over and out!« Das Wetter war ein Wahnsinn, so gut wie nur ganz selten um
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diese Zeit. Wenn es so blieb, konnte es eine Rekordsaison werden. Hans Frey hatte sich gut gehalten, er ging zwar langsam, war jedoch in aufsteigender Form. Steiner grinste: die Doppelbedeutung gefiel ihm. Aufsteigende Form. Sie waren alle in aufsteigender Form.
Richter Richter hatte den Khumbu geschafft, leichter, als er gedacht hatte. Das Lager, das er am Ende des Aufstiegs erreichte, war kleiner als jenes, das er am Morgen verlassen hatte, keine Stadt, nur ein Dorf. Es waren trotzdem viele Zelte, die hier wie bunte Hügel aus dem Eis ragten. Dahinter wälzte sich das Western Cwm wie ein zerfranster weißer Teppich, den man zwischen zwei steilen Bergflanken ausgebreitet hatte, der Lhotse-Flanke entgegen. Nicht steil, aber von Spalten durchschnitten, die gemeinsam mit runden Erhebungen und kantigen Abbruchen das Muster des Teppichs bildeten. Abgesehen von den Zelten und den anderen Farbflecken, die von den Menschen heraufgetragen worden waren, gab es nur ganz wenige Farben in dieser Welt. Das Weiß von Schnee und Wolken, das Blau des Himmels, das Bläulich des Eises und den Fels, der an manchen Stellen grau, an anderen schwarz war. Richter fand die Zelte der Amerikaner sofort, es waren dieselben, die sie im Basislager stehen hatten. Als er auf sie zuging, wußte er noch immer nicht, ob er sich zu erkennen geben sollte. Es war nicht die Kraft, die ihm fehlte, es war nur der Durst, der ihn quälte. Ein paar Männer standen vor den Zelten herum, einer hatte
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sein Fernglas auf das Western Cwm gerichtet. Zwei Sherpas rührten vor einem Zelt in einem Alutopf, der auf einem großen Kocher stand. Richter sah den Dampf, der aus dem Topf stieg, es roch nach Essen. Nur Idylle, fast erholsamer Frieden. Nichts deutete darauf hin, daß unter ihnen der Khumbu und vor ihnen möglicherweise der Tod lag. Auch Hall und Fischer und alle anderen, die nie mehr zurückgekommen waren, hatten hier gelagert und sich so wohl gefühlt wie die Männer, die redeten und lachten und an ihren Teebechern nippten. Die Plastikflasche in Richters Rucksack war leer, ihr Inhalt hatte gerade für den Khumbu gereicht. Hier konnte er sie wieder auffüllen, nur was sollte er den Amerikanern erzählen? Zu seiner Überraschung beachteten ihn die Männer kaum. Einer von ihnen nickte ihm kurz und uninteressiert zu, als er sich näherte, dann setzte er das Gespräch mit seinem Nachbarn fort. Vierzehn Expeditionen, dachte Richter, keiner kennt die anderen, es gibt so viele Fremde, daß einer mehr nicht auffällt. Jeder hat sein eigenes Lager, seine eigene Welt, jeder konzentriert sich auf sich und seine Gruppe, die anderen sind ihm egal. Das multinationale Gewirr und die interesselose Kälte, die zwischen den einzelnen Mannschaften herrschte, war Richters beste Tarnung. Solange er sich nicht aufdrängte, sich den anderen als der, der er in Wirklichkeit war, zu erkennen gab, interessierte er keinen Menschen. Er stapfte an den Männern vorbei, durchquerte wortlos, nur mehrmals grüßend, mit dem Kopf nickend, zwei weitere Lager und baute hinter einem mannshohen Eiswall seinen Kocher auf. Es dauerte unendlich lange, bis der Schnee und die Eisklumpen schmolzen, und er wußte, daß er beim nächstenmal auch Nancys Wasserflasche mitnehmen mußte, um sich mit der lebensnotwendigen Flüssigkeit versorgen zu können.
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Als er endlich Wasser hatte, schüttete er etwas von seinem Elektrolytpulver hinein, es war jedoch so heiß, daß er das Gebräu, das er am liebsten in einem Zug ausgetrunken hätte, nur in ganz kleinen Schlucken genießen konnte. Er hatte immer gewußt, wie wichtig die ausreichende Flüssigkeitsaufnahme in der Höhe war, jetzt lieferte ihm sein eigener Körper den Beweis dafür. Richter begann zu lernen, und er ahnte, daß es noch vieles gab, das er nicht wußte, daß der Weg nach oben unendlich lang war und daß er nur dann zu schaffen war, wenn er auf jedes Signal hörte, das ihm sein Körper, sein Geist, vor allem jedoch der Berg geben würden. Als er getrunken hatte, schmolz er mehr Schnee, soviel, daß er seine Flasche mit dem Getränk füllen konnte. Mit dem Rest, der noch in seinem Trinkbecher war, schwemmte Richter zwei der Schmerztabletten hinunter, die ihm der Amerikaner im Basislager gegeben hatte. Das Pochen in seinem Kopf war nicht unerträglich, doch es tat weh und war ebenso lästig wie das Kratzen im Hals, das ihn immer wieder zum Räuspern und manchmal zum Husten brachte. Der körperliche Zustand war in seiner Situation völlig normal. Richter wußte, daß sich auch erfahrene Höhenbergsteiger bei ihrem ersten Vorstoß über den Khumbu nicht viel besser gefühlt hatten und daß es oben meistens noch schlimmer wurde. Vor allem, wenn man auf Sauerstoffflaschen verzichtete. Nach einer Weile begannen die Pillen zu wirken und nahmen ihm den Schmerz, das dumpfe Gefühl, das die Gedanken etwas langsamer und die Empfindungen stumpfer machte, blieb zurück. Richter hatte noch immer keinen Hunger, obwohl er seit dem Vorabend nichts gegessen hatte. Zweimal zogen Sherpagruppen ganz in seiner Nähe vorbei,
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die eine ging schwer beladen nach oben, die zweite kam mit leeren Traggestellen von oben zurück. Die Belagerung des Berges war in vollem Gange. Was hier geschah, war eine Materialschlacht. Der Mensch nutzte die Gutmütigkeit des Wetters aus, um alle Waffen nach oben zu schaffen, die ihm später im Kampf mit den Naturgewalten helfen sollten. Je mehr, desto besser. Vor allem Sauerstoff. Früher hatte man das Western Cwm sicherlich zu Recht das Tal des Schweigens genannt, jetzt war es jedoch zu nahe an den Lagern, um die Stille dieser gewaltigen Eis- und Felsarena spüren zu können. Diese alten Everestzeiten lagen noch gar nicht so lange zurück. Der neue Reiz des Mount Everest lag in der scheinbar leichter gewordenen Erreichbarkeit des Gipfels. Dabei hatte sich in Wahrheit überhaupt nichts geändert. Der Berg war der Berg geblieben, und der Mensch war trotz der immer besser gewordenen Ausrüstung und des umfangreicheren Wissens über das Wagnis immer noch ein Mensch, unvollkommen und zerbrechlich. Richter riß sich von seinen Gedanken los, die Sherpas waren nur noch winzige schwarze Punkte in der Weite des Eises. Der Tee und die Pillen hatten alles in ihm wieder einigermaßen in Ordnung gebracht, er hatte noch einige Stunden, und er würde sich nicht einmal allzusehr beeilen müssen, um heute noch Lager zwei erreichen zu können. Er glaubte nicht, daß jetzt noch irgend jemand aus dem ersten Lager aufbrechen würde, der Weg würde ihm allein gehören. Schon während der Rast war es so warm gewesen, daß sich Richter bis auf sein Hemd ausgezogen hatte. Während des Marsches über den stetig, teilweise kaum spürbar ansteigenden Gletscher wurde die Hitze immer größer. Die Sonne schien ein Loch in seinen Kopf bohren zu wollen, und er verfluchte sich,
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daß er nicht daran gedacht hatte, eine leichte Schirmmütze einzupacken. Als unvollkommenen Ersatz dafür versah er sein Stofftaschentuch an allen vier Enden mit Knoten, streute eine Handvoll Schnee auf den Kopf und stülpte den lächerlichen Hutersatz darüber. Der Schnee schmolz bald und rann, mit Schweiß vermischt, über sein Gesicht. Die Spalten, die den Gletscher aufrissen, waren hier viel mächtiger als weiter unten im Khumbu. Immer wieder verließ der Weg die gerade Linie, die direkt zur Lhotse-Flanke geführt hätte, und wich nach rechts zur Nuptse-Lhotse-Mauer hin aus. Einige Spalten waren extrem breit, aber nicht sehr tief, in diese stieg man hinab und stapfte auf der anderen Seite wieder hoch. Auf der linken Seite wälzte sich, gewaltig und schwarz, die Westschulter des Everest herab. Richter wußte, daß das gewaltige Gletschertal mehr als fünf Kilometer lang und bis zu tausend Meter breit war. Die Hitze zwang ihn dazu, immer öfter stehenzubleiben und zu trinken. Er hätte die Flasche jedesmal in einem Zug leeren können, und es kostete ihn fast übermenschliche Willenskraft, sie nach einigen kleinen Schlucken wieder zuzuschrauben und im Rucksack zu verstauen. Lager zwei befand sich auf knapp 6500 Metern am Rande des gewaltigen Eisteppichs. Der Begriff Lager stellte auch in diesem Fall eine Untertreibung dar, denn Richter zählte gut fünfzig Zelte, bevor er zu zählen aufhörte, da waren jedoch mindestens noch einmal so viele. Auch dieses Lager war eine kleine Stadt, zumindest war es ein großes Dorf mit vielen Menschen. Und viele Menschen machen viel Dreck. Früher hatte man damit einfach den Gletscher gefüttert und alles in die Spalten gekippt, heute war man verpflichtet, ihn wieder ins Tal zu schaffen, was in vollem Umfang kaum durchführbar war. Richter fragte sich, wie viele japanische Suppenpäckchen, französische Pastetenbehälter und deutsche Würstchendosen
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der Gletscher dort unten bereits hortete und mitschleppte, bis er sie in hundert Jahren oder mehr am Ende seines Weges wieder ausspucken durfte. Er stellte sein Zelt in angemessener Entfernung von der Zeltstadt auf und beeilte sich, den Kocher in Betrieb zu setzen, um Schnee zu schmelzen, viel Schnee. Hunger spürte er noch immer nicht. Dafür waren die Kopfschmerzen wieder da, schlimmer als mittags, und auch die Halsschmerzen waren ärger geworden. Als er getrunken und zwei weitere Tabletten geschluckt hatte, begann er sich langsam besser zu fühlen. Er war wieder allein, und er hatte viel Zeit für seine Gedanken. Immer wieder betrachtete er die Wand, die sich am Ende des Tales auftürmte, suchte sie mit dem Fernglas ab. Er fand Lager drei, bunte Zelttupfen mit winzigen Menschen, die wie Ameisen herumkrochen. Es war ein weiter, steiler Weg bis dorthin, und alles, was dann kam, war noch weiter und noch steiler. Das Wetter war noch immer gut. Er fragte sich, was die Ameisen tun würden, wenn es sich änderte, wenn der Sturm die Zelte zerfetzte. Er fragte sich, was er tun würde, wenn er dann selbst eine der Ameisen wäre, die einsamste von allen, der keiner helfen würde, weil sie für keinen Helfer bezahlt hatte und eigentlich gar nicht dort oben sein dürfte. Es war etwas kühler geworden. Er aß einen Müsliriegel und trank noch mehr von seiner Spezialmischung. Dann dachte er an Nancy.
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Die Expedition Die Sherpas hatten nicht nur gute Nachrichten von oben mitgebracht, sondern auch gute Stimmung, die auf alle übergriff, als sie abends vor den Zelten hockten. Hans Frey war zufrieden, weil der zweite Marsch durch den Khumbu kaum Spuren bei ihm hinterlassen hatte, Erika freute sich mit ihm, und für Dreier schien es nur Mingma zu geben. Er wich dem Sirdar kaum von der Seite und bemühte sich, jedes Detail des Weiterweges aus ihm herauszuholen. Steiner hätte sich gerne selbst mit seinem Sherpaführer unterhalten, der Lehrer gab ihm dazu jedoch nicht die geringste Chance. Dawa und Gyalzen erzählten ihm, daß sie oben Ang Chumbi aus Phorche getroffen hätten, den Sirdar der Italiener, einen der Erfahrensten auf dem Berg. Einen Mann, der in der Lage war, die Botschaften der Götter zu lesen. Ang Chumbi hatte ihnen gesagt, daß es sehr viele Anzeichen dafür gebe, daß es eine glückliche Saison sei. Es habe bis jetzt ja auch noch keine Toten gegeben, und die Lager seien in Rekordzeit aufgestellt worden. Die Zeichen stünden günstig, daß es so weitergehen könnte. Man müsse sich allerdings beeilen und die milde Stimmung der Götter ausnützen, sie seien bekanntlich launisch, und alles könnte sich schlagartig ändern, wenn sie irgend etwas verärgerte. Steiner hielt nichts von Sherpagottheiten und Aberglauben, für ihn zählte der Wetterbericht mehr. Da jedoch auch der für die nächsten Tage keine gravierenden Änderungen versprach, lobte er Ang Chumbi und dessen Weisheit, die sich sichtlich motivierend auf seine nepalesischen Helfer ausgewirkt hatte. Nach dem Essen verkrochen sich alle sieben bald in ihre Zelte. Für die Sherpas gab es nur eines, das sie sich zu dritt teilten, ein weiteres gehörte den Freys, Steiner und der Lehrer
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hatten je ein Einzelzelt, dazu kamen zwei Materialzelte und ein Küchenzelt. Steiner wußte, wie quälend heiß es gegen Mittag im Western Cwm werden konnte, deshalb drängte er am nächsten Morgen auf einen frühen Aufbruch. Nicht mitten in der Nacht – wie bei der Khumbu-Etappe. Sie standen kurz vor Sonnenaufgang auf, bereiteten während des Frühstücks ausreichend Tee für den Tag zu, füllten ihre Flaschen und marschierten kurz nach sieben Uhr los. Die Sherpas, die noch immer bester Laune und schwer beladen waren, gingen ihr normales Arbeitstempo und würden den anderen wohl bald weit voraus sein. Steiner schleppte wieder Sauerstoffflaschen. Er kannte den Weg durch das Tal des Schweigens und wußte, daß es außer einigen Spalten, die mit Leitern überbrückt waren, nur viel Hitze und viel zu gehen geben würde. Es gab keinen Grund, die Gruppe straff zusammenzuhalten, und er stellte es jedem frei, das Tempo zu wählen, bei dem er sich am wohlsten fühlte. Steiners Hoffnung, daß Dreier davonziehen würde, erfüllte sich bald. Der Lehrer hängte sich an die Sherpas an und schaffte es auch, ihr Tempo mitzugehen. Erika Frey, die wahrscheinlich keine Mühe gehabt hätte, es dem Lehrer nachzumachen, blieb wie Steiner bei ihrem Mann. Hans Frey hielt sich erstaunlich gut, er schnaufte und fauchte und schwitzte zwar noch mehr als die anderen, hielt jedoch ein langsames, stetiges Gehtempo ohne lange, zermürbende Rastpausen durch. Immer wieder wurden sie von anderen Teams überholt, schwer beladenen Sherpas und weniger schwer beladenen Teilnehmern anderer Expeditionen, auch von oben kamen ihnen Menschengruppen entgegen, die Lasten hochgeschleppt hatten. Nur einer, der nach unten ging, quälte sich mit einem
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prall gefüllten, sichtlich schweren Rucksack ab. Es war die Zeit des Hochtransports, alles mußte nach oben. Steiner wunderte sich über den Mann, doch da er selbst schwer zu schleppen hatte, ließ er ihn vorbeiziehen, ohne nach dem Sinn des offensichtlichen Unsinns zu fragen. Abgesehen von der Höhe, die sich auch nur ganz langsam steigerte, war der Marsch durch das Western Cwm eigentlich ein Spaziergang, die letzte Verschnaufpause, bevor es wirklich losging. Für Frey, der sich bereits nach dem gestrigen Khumbu-Aufstieg wie ein Sieger gefühlt hatte, war es fast ein Triumphmarsch. Lager zwei, 6500 Meter, keiner seiner Freunde hatte jemals ähnliches geschafft. Dreier und die Sherpas hatten längst Tee gekocht, als sie bei den Zelten ankamen. Der Lehrer blickte mitleidig auf seine Armbanduhr. »Eineinhalb Stunden Vorsprung«, grinste er, »ich habe schon mein Mittagsschläfchen gehalten!« Steiner befreite sich stöhnend von seiner Last, Gyalzen übernahm sie sofort und verstaute sie in einem der Zelte. »Wir steigen heute noch einmal ab«, sagte Mingma, »morgen früh laden wir die restlichen Flaschen auf und bringen sie gleich ins Lager drei.« Steiner nickte. »Wir müssen bereit sein«, sagte er und lächelte, »vielleicht wird’s wirklich ein verdammtes Rekordjahr.« Er blinzelte Mingma zu und streckte den Daumen in die Höhe. »Wenn der Wettlauf auf den Gipfel beginnt, müssen wir in der ersten Reihe stehen, den letzten beißen die Hunde, kennt man dieses Sprichwort auch bei euch?« Mingma schüttelte den Kopf. »Egal«, sagte Steiner, »ich werde jetzt was essen, dann schau ich mir den Weiterweg an. Vielleicht pack ich’s sogar bis zum
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Lager, dann bleib ich oben und hole euch morgen früh genug ab, daß wir es vor Mittag noch zurück durch den Eisfall ins Basislager schaffen.« Frey nickte ihm zustimmend zu, sein Gesicht war knallrot. Kein Supermann, nicht einmal ein Normalbergsteiger, doch er hatte es bis hierher geschafft, Schritt für Schritt. Und ihm schien inzwischen auch klar zu sein, daß er wieder absteigen mußte, um sich zu erholen und wirklich für den Gipfel bereit zu sein. Steiner war zufrieden.
Richter Richter wußte, daß er auffallen mußte. Die Ordnung war klar, alles, was Lasten trug, bewegte sich nach oben, alles, was sich nach unten bewegte, trug keine Lasten. Außer ihm. Er hätte sein Zelt und einen Teil der Ausrüstung gerne oben zurückgelassen, doch er besaß nur eines, und das brauchte er als Sicherheit für den nächsten Aufstieg. Als Alleingänger war er eine Schnecke, die ihr Haus und alles, was dazugehörte, ständig mit sich herumtragen mußte. Aber nicht einmal als Schnecke schien er die anderen sonderlich zu interessieren, einige skeptische Blicke, manchmal ein verwundertes Grinsen, oberflächliche Grußworte, die ihm im Vorbeigehen in mehreren Sprachen zugeworfen wurden, mehr war’s nicht. Niemand forderte ihn zum Stehenbleiben auf, keiner fragte. Er war ein sonderbarer Vogel, für einige ein Spinner, doch die schienen am Mount
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Everest keine Seltenheit mehr zu sein. Richter war’s recht. Der Abstieg war beinahe ein Spaziergang, der Weg zum wachsenden Wohlbefinden, je tiefer, desto mehr. Die Gedankenbremse löste sich, der Blick wurde klarer, das Pochen im Kopf verebbte, er atmete leichter. Der Khumbu war nach der Hitze im Western Cwm fast wohltuend kühl, an manchen Stellen gab es sogar Schatten. Er war auf 6500 Metern gewesen, und es hatte ihn nicht umgebracht, nicht einmal richtig angekratzt, es war leichter gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. Jetzt wußte er, daß er einer war, der mit der Höhe zurechtkam. Nicht jeder Körper war für das Höhenbergsteigen geeignet, mit seinem schien er Glück zu haben. Im Khumbu konnte er die Basislager-Zeltstadt zum ersten Mal von oben sehen. Es sah aus, als hätte jemand Hunderte bunte Papierschnipsel auf einen hellen Marmorboden gestreut. Er suchte Nancys Zelt, war sich jedoch nicht sicher, ob es das Papierschnipsel, das er dafür hielt, auch tatsächlich war. Er war froh, daß dort unten unter diesen vielen Menschen jemand auf ihn wartete, dem er von seinem ersten Erlebnis mit dem Berg erzählen konnte. Richter beschleunigte seine Schritte, lief an den Zelten des letzten Lagers vorbei, die Steigeisen, die hinten am Rucksack hingen, klirrten wie Weihnachtsglocken. Als er Nancys Zelt sehen konnte, rief er nach ihr, bekam jedoch keine Antwort. Der Eingang war verschlossen, an der Stoffwand klebten ein paar Kleidungsstücke, die sie gewaschen und zum Trocknen aufgelegt hatte. Richter war plötzlich müde, und er war enttäuscht, obwohl er eigentlich keine konkreten Erwartungen gehabt hatte. Er stellte den Rucksack ab, setzte sich darauf und zog die Schuhe aus. In
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der Nacht im Zelt auf 6500 Metern hatte er es nicht getan. Nancy kam eine halbe Stunde später und kreischte vor Freude, als sie ihn sah. Sie warf die Arme in die Höhe, lief auf ihn zu und ließ sich von ihm auffangen. Die Körper trafen sich mit einer Wucht, die beide fast zu Boden geworfen hätte. Ihre Wangen glühten, und in ihren erwartungsvollen Augen waren Tränen. Beide sagten lange nichts, sie spürten einander, und das genügte ihnen. Später erzählte er ihr vom Berg, dann liebten sie sich, dann erzählte er ihr noch mehr vom Berg. Nancy war bei Lucie Bell gewesen, der Journalistin. Sie wußte, daß es morgen im Messezelt der Amerikaner ein Treffen aller Expeditionsleiter geben würde, bei dem die endgültige Reihenfolge der aufsteigenden Teams festgelegt werden mußte. »Was wirst du machen?« fragte Nancy. Richter brauchte nicht zu überlegen, als Alleingänger hatte er so viele Nachteile, daß er es sich nicht leisten konnte, auch nur auf den kleinsten Vorteil zu verzichten. »Ich muß bei den ersten sein«, sagte er.
Die Expedition Ronny Steiner war happy, vor allem über die Art, wie seine Sherpas funktionierten. Sie waren ohne das sonst vielfach übliche Murren oben geblieben und hatten sich sogar bereit erklärt, vor dem Gipfelsturm nicht mehr ins Basislager zurückzukommen. Sicher ein Risiko, weil sie damit auf die wichtige und wohl auch notwendige Erholungs- und
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Regenerationsphase vor der letzten großen Kraftanstrengung verzichteten. Der Hauptgrund für ihren Entschluß lag darin, daß sie ihren Job so rasch wie möglich erledigen und die Schönwetterphase nutzen wollten, die irgendwann zu Ende gehen würde. Dann würde alles viel länger dauern, und der Berg würde viel gefährlicher sein. In zwei bis drei Tagen wäre auch am Südsattel alles bereit. Mingma hatte es versprochen. Steiner war auch über die Art, wie sich seine drei Kunden während der Generalprobe verhalten hatten, happy. Der Lehrer war zwar ein Idiot, doch seine Leistung am Berg hatte ihn beeindruckt, und Erika Frey war eine Wahnsinnsfrau, der er unter anderen Umständen bedingungslos nachsteigen würde. Hier hatte er sie als geschlechtsloses Wesen zu betrachten. Der Berg unterschied nicht zwischen Mann und Frau, nur zwischen stark und schwach, zwischen mutig und feige, zwischen durchbeißen und aufgeben. Hier waren Männer und Frauen absolut gleichgestellt. Der Gedanke an Hans Frey war nicht mehr mit der tiefen Hoffnungslosigkeit verbunden, die Steiner noch vor einigen Tagen empfunden hatte. Der Berg hatte den Mann jetzt schon verändert, er war schweigsamer, wirkte entschlossener, schien bereit zu sein, sich zu quälen, bis an die Grenze der Belastbarkeit zu gehen. Für Lager zwei hatte es immerhin schon gereicht, mit viel Glück, Zeit und Schönwetterhilfe könnte es sogar bis zum Südsattel reichen, dort war für Frey jedoch Endstation, null Chance, den Gipfel in einem Tag zu erreichen und wieder zum Sattellager abzusteigen, auch bei den alleridealsten Bedingungen nicht, das wußte Steiner. Er wußte aber auch, daß früher alle Expeditionen auf 8500 Metern an jener Stelle, die man heute Balkon nennt, ein fünftes Lager eingerichtet hatten. Wenn die Sherpas mitmachten und den Sauerstoff hochtrugen, dann könnte es klappen. Das Zelt würde
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er selbst schleppen, und Frey auch, bis zum Gipfel und wieder zurück. Wenn das Wetter mitspielte. Die meisten anderen waren schon da, als Steiner ins Zelt kam. Randell sah ihn sofort und stellte ihn den anderen vor. »Ronny Steiner«, sagte er, »aus Deutschland, war bei der Berner-Expedition dabei, jetzt ist er mit einem eigenen Team da, aber das wissen ja die meisten von euch schon.« Er winkte Steiner zu. »Hi, Ronny, alles okay?« »Alles okay«, sagte Steiner und setzte sich auf den nächsten freien Stuhl. Vierzehn Mann, nur die Expeditionsleiter, und Lucie Bell. Sie saß neben Randell, vor ihr lag ein kleines Tonbandgerät. Steiner hatte alle schon gesehen, einige schon in Katmandu, einige in Lukla, einige während des Anmarsches, einige erst hier. Es waren nur Gesichter, und sie ließen ihn kalt, Randell respektierte er. Der Amerikaner leitete die größte Expedition, hatte einen ausgezeichneten Namen, kannte den Berg besser als alle anderen, die hier waren, hatte bis jetzt alles hervorragend organisiert und einen fairen Preis für den Weg verlangt, den seine Leute mit den Italienern angelegt hatten. Steiner hatte nichts dagegen, daß Randell jetzt den Leithammel spielte. »Es wird ernst, Leute«, sagte Randell, »kein Schlechtwettertag, kein fataler Unfall, meines Wissens hat es noch nie idealere Bedingungen um diese Zeit gegeben.« Nichts Neues, einige zuckten die Schultern, Randell hob die Hand. »Die meisten von euch wissen auch, daß wir bereits am Südsattel arbeiten, der Weg ist versichert, und die ersten Zelte stehen bereits.« »Eure Zelte«, sagte der Brite. Randell nickte. »Unsere und die der Italiener.« »Weil ihr die ersten sein werdet?«
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»Wir sind die ersten, weil wir für euch die ganze verdammte Knochenarbeit erledigt haben!« »Und wir haben dafür bezahlt«, schrie der kleinere der beiden Japaner. Stimmengewirr, einige lauter als die anderen. Randell lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und wartete. Lucie Bell grinste, sie schien sich blendend zu unterhalten. »Okay«, sagte der Brite schließlich und wandte sich an die anderen, »es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, weil ja von Anfang an klar war, daß die beiden Großen das Sagen haben werden, im Sinne eines Fair play haben sie durch ihre Arbeit auch das Recht dazu.« Wieder Gemurmel, diesmal leiser. Der Brite zu Randell. »Zuerst also ihr, und was dann?« Der Amerikaner nickte. »Ich habe mir alle Wetterberichte besorgen lassen, es gibt fast eine Garantie dafür, daß sich in den nächsten fünf bis sechs Tagen kaum etwas ändern wird.« »Eure Gipfeltage«, rief der zweite Japaner. Randell lächelte. »Ihr wißt genausogut wie ich, daß es hier nie eine Schönwettergarantie gegeben hat, daß alle Prognosen nicht einmal einen Furz wert sind, wenn es sich der Berg anders überlegt. Und ihr wißt auch, daß die beste Gipfelzeit bisher immer die erste Maihälfte war. Das Ungewöhnliche in diesem Jahr ist, daß die Vorbereitungszeit nie durch Schlechtwetter behindert worden ist und alles viel schneller gehen konnte als geplant. Es ist noch nicht einmal Ende April, und am Berg ist schon alles für den ersten Gipfelgang vorbereitet. Einige von uns sollten es versuchen, die anderen werden, und davon bin ich überzeugt, nichts verpassen, wenn sie noch etwas Geduld
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haben. Selbst wenn das Wetter kurzfristig schlechter werden sollte, ist absolut kein Grund vorhanden, die Nerven zu verlieren, weil die eigentlichen Gipfeltage, wie alle Erfahrungen beweisen, ja erst im Mai kommen.« Sie hatten ihm zugehört, er hatte nur das gesagt, was sie ohnehin schon wußten. Steiner, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte, stand auf. »Du hast es selbst gesagt, Greg, es ist ein ungewöhnliches Jahr mit ungewöhnlichem Wetter, vielleicht wird es sogar das erste Jahr ohne einen einzigen Schlechtwettertag, vielleicht aber auch das erste Jahr, in dem es im Mai keinen einzigen Gipfeltag gibt, dann sind die Geduldigen die Trottel. Ich glaube deshalb, daß jeder die Chance haben sollte, so früh wie möglich hinaufzugehen. Alle zugleich geht nicht, das wissen wir. Zwei große Expeditionen an einem Tag geht, das haben andere bewiesen. Nehmen wir also einmal an, die Amerikaner und die Italiener bekommen den ersten Gipfeltag, drei kleinere den nächsten, macht fünf, bleiben noch neun Expeditionen, die auf die nächsten drei Tage verteilt werden. Insgesamt brauchen wir also fünf Gipfeltage. Wenn die ersten morgen aufbrechen, könnten sie, einen Reservetag eingerechnet, in sechs Tagen oben sein, laut Prognosen immer noch Schönwetter. Für die anderen, die, den Abstieg mitberechnet, noch eine weitere Woche voller Sonnenschein brauchen, beginnt dann das große Zittern, je weiter hinten in der Warteschlange, desto mehr. Das heißt, daß es keine Freiwilligen geben wird, die sich hinten anstellen. Meine Frage: Wie bestimmen wir, wann wer losgehen darf? Losen wir es aus, kämpfen wir mit Schwertern darum, versteigern wir die Gipfelzeiten an die Höchstbietenden?« »Scheiße«, brüllte Randell, »laßt euch doch vom momentanen Wetter nicht blenden, uns kann es genauso erwischen, dann müssen wir uns hinten anstellen und es noch
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mal versuchen!« »Oder ihr könnt heimfahren, während wir uns dort oben den Arsch abfrieren«, schrie einer. Randell erhob sich und wartete, bis sich die Stimmung etwas beruhigt hatte. »Die Italiener und wir«, sagte er und zeigte dabei auf den italienischen Expeditionsleiter, der bisher kein Wort gesagt hatte, »brechen morgen auf, das ist eine Tatsache, an der nicht zu rütteln ist. Wir sind zwar die ersten, zugleich jedoch auch die Versuchskaninchen. Eure Rangordnung geht mich nichts an, ich schlage aber vor, daß sie ausgelost wird und daß sich am Ende wirklich jeder an das Ergebnis hält.« Keiner wollte es, doch alle wußten, daß es hier und jetzt keinen anderen Weg gab, das Problem zu lösen. Die Auslosung ergab folgende Gruppen. 1. USA und Italien. 2. Schweiz, Japan II, Argentinien. 3. Südkorea, Slowenien, Tschechien. 4. Japan I, Großbritannien, Skandinavien. 5. Frankreich, Polen, Deutschland. Es war nichts, nur ein Zeitplan, den das Los bestimmt hatte, der absolut nichts mit Erfolg oder Mißerfolg, mit Schön- oder Schlechtwetter, mit Glück oder Unglück zu tun hatte. Nur eine Ordnung, wo sonst Chaos gewesen wäre. Steiner war trotzdem zutiefst verärgert. Wie die meisten anderen glaubte er fest daran, daß das Wetter nur noch wenige Tage halten würde, keine Logik, nur ein Gefühl. Als er mit Berner hiergewesen war, war alles anders gewesen, da hatte es im Vorfeld eine wilde Mischung aus Schön- und Schlechtwettertagen gegeben und Prognosen, die nur in den seltensten Fällen auch eingetroffen waren. Damals war es völlig egal, wer sich wann auf den Weg nach oben machte. Am Ende des Lotteriespiels mit dem Everest-Wetter
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hatte es trotzdem zwei Dutzend Menschen gegeben, die den Gipfelsieg gewonnen hatten. Dieses Mal war es anders, Steiner spürte es. Der Berg war offen wie noch nie, er breitete geradezu seine Arme nach ihnen aus, friedlich, beinahe versöhnlich, das spürten auch die Sherpas. Sie spürten aber auch, daß der Berg zur Eile drängte. Jeder, der hier war, hatte sich mit demselben Geld dasselbe Recht auf den Gipfelsieg erkauft wie alle anderen, die nun durch das Los bessere Chancen hatten, es gab kein Gesetz, das ihm den Tag vorschrieb, an dem er aufzubrechen hatte. Steiner beschloß, die Amerikaner und die Italiener ziehen zu lassen. Keiner konnte ihn jedoch daran hindern, einen Tag später loszugehen.
Richter Nancy erfuhr von Lucie noch am selben Abend alle Details. Richter hatte angesichts der seltsamen Wettersituation zwar damit gerechnet, daß es so sein würde, die Nachricht, daß es schon morgen losgehen sollte, überraschte ihn dennoch. Sein Gipfelgang war für ihn zwar immer eine Tatsache gewesen, bis jetzt hatte es jedoch ein Zeitpolster gegeben, das zwischen Traum und Realität lag. Jetzt war die Endgültigkeit da, der Termin, nach dem er sich so gesehnt hatte und dessen Ende er nicht kannte. Wenn die Amerikaner und die Italiener bereits morgen aufbrachen, dann würde er selbst es einen Tag später tun, so hatte er es geplant, einen Tag nach den ersten Gipfelgängern. Der Berg machte Richter keine Angst, es war sein Körper, sein Kopf, seine eigene Unzulänglichkeit. Er hatte Angst davor
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zu versagen, bevor das Ziel erreicht war. Er war bereit, alles zu geben, das größte Opfer zu bringen, aber er wußte nicht, ob es reichen würde. Versagen hieß umkehren oder auch sterben, bevor er den Gipfel erreicht hatte. Er durfte weder umkehren noch beim Aufstieg sterben. Er mußte leben – für sein Ziel. Noch war das Zeitpolster da, es war dünn und nur noch mit Unruhe und Ungeduld gefüllt. Am liebsten wäre Richter gleich morgen früh mit den ersten beiden Teams losgegangen. Doch die waren zu stark, zu gut organisiert, um einen Fremdling in ihrer Nähe zu dulden, außerdem würden sie Hindernisse aus dem Weg räumen, die man bisher vergessen hatte, die Route für sich und alle anderen, die nach ihnen kamen, also auch für ihn, endgültig klar machen. Von Nancy wußte er, daß es die Schweizer, die Argentinier und das schwächere der beiden japanischen Teams sein würden, die am selben Tag wie er losgehen sollten. Gygi, Gutscher, Guignard, Pult, Deller und Ryser, er kannte die Namen aller sechs Schweizer, hatte daheim von ihrem Vorhaben gelesen, zugleich drei Mann auf den Everest- und den Lhotse-Gipfel zu bringen. Adrian Gygi, der Expeditionsleiter, brachte als Referenz vier andere Achttausender, darunter den Nanga Parbat, mit. Die Argentinier gehörten auch zu den besseren Teams, Richter fragte sich, ob auch Blanca Franzoni für einen Gipfelgang vorgesehen war, gewünscht hatte sie es sich. Von den Japanern wußte er nichts, nur daß ihre Expedition aus zwei Bergführern und vier zahlenden Kunden bestand, dazu würden wohl auch einige Sherpas kommen, die mithelfen sollten, die Schwächeren hochzuschleppen. Wenn bis dorthin alles glattging, würden sich vom Südsattel aus drei Schweizer, vier oder fünf Argentinier, sechs Japaner, zwei bis drei Sherpas und er selbst mehr oder weniger zugleich zur allerletzten Etappe aufmachen, sechzehn bis achtzehn
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Leute, eine ganze Menge, aber noch immer viel weniger als beim ersten Versuch. Richter schätzte, daß es die Amerikaner und die Italiener mit dreißig bis fünfunddreißig probieren würden. Ein Teil davon befand sich bereits am Berg, wahrscheinlich würde man sich in Lager zwei treffen und von da an gemeinsam aufsteigen. Morgen war der 24. April, wenn der 30. April ihr Gipfeltag war, dann könnte der 1. Mai schon seiner sein, also früher, als er ursprünglich gedacht hatte. Das Wissen um den endgültigen Zeitpunkt seines Aufbruchs hatte in Richter eine Veränderung bewirkt, seine Gedanken drehten sich jetzt nur noch um den Berg. Er versuchte, alles aus dem Gedächtnis zu holen, was er über den Mount Everest wußte, und in den dreißig Jahren war eine ganze Menge zusammengekommen. Richter versuchte nun, das nutzlose vom nützlichen Wissen zu trennen. Namen, Jahreszahlen, selbst die Zahl der Toten waren unwichtig. Er versuchte, sich daran zu erinnern, welche Expeditionen in der Lhotse-Flanke Probleme mit Steinschlägen hatten, wo diese Gerölllawinen abgegangen, wo im Normalfall Fixseile montiert waren, ob es Stellen gab, an denen man eine Steigklemme einsetzen sollte, welche Passagen die kraftraubendsten waren, wie sich die Sauerstofflosen ihre Kräfte einteilten, was ihnen geholfen hatte, sich in dieser für Körper und Geist völlig neuen Situation zurechtzufinden, wie sich der Sauerstoffmangel auf das Gehirn auswirkte, welche Brücken zur Realität die anderen in dieser immer irrealer und unbegreifbarer werdenden Geisterwelt zu bauen imstande gewesen waren. Richter grübelte, obwohl er wußte, daß es nur zwei Dinge gab, die am Ende dort oben zählten: ein möglichst gut funktionierender Körper und ein möglichst klarer Geist. Das Grübeln verband ihn immer enger mit der bevorstehenden Aufgabe und lenkte ihn vom Warten ab.
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Nancy spürte, daß die Zeit gekommen war, Richter mit dem Berg allein zu lassen. Außer dem Essen, dem Trinken und dem Schlafplatz im Zelt gab es nichts, was sie jetzt mit ihm teilen konnte. Sie hatte ihm alles mitgeteilt, was sie von Lucie wußte, seither hatten sie nur noch wenige Worte gewechselt. In der Nacht hatte sie seine Unruhe gespürt, hatte gehört, wie er sich rastlos in seinem Schlafsack wälzte. Mitten in der Nacht war er aufgestanden und lange draußengeblieben, später war sie ihm nachgegangen und hatte im fahlen Mondlicht gesehen, daß er auf dem Stein vor den Zelten hockte und den Aufbruch der Amerikaner und Italiener verfolgte. Ihre Stirnlampen waren wie Glühwürmchen über den Gletscher gewandert, das Glitzern hatte sich dann im Khumbu verloren. Nach dem Frühstück prüfte er jedes Detail seiner Ausrüstung, immer wieder, dann fragte er sie nach ihrer Wasserflasche, die sie ihm gab. Er zählte die Kartuschen für den Kocher, legte eine davon weg, um sie nach einer Weile wieder zurückzuholen. Dasselbe tat er mit den Taschenlampenbatterien. Es ging um das Gewicht, das er zu schleppen hatte, viel zuviel, dort oben wog jedes Gramm ein Vielfaches, Brennstoff bedeutete dort oben aber Wasser, und Wasser bedeute Leben, ebenso wie das Licht, das einen vor dem Sturz in den Tod bewahren konnte. Nancy beobachtete ihn, sie hatte noch nie einen solchen Menschen getroffen. Kraftstrotzend und doch unendlich schwach, wild entschlossen und doch resignierend, voller Optimismus und doch ein düsterer Pessimist. Was muß das Leben diesem Mann angetan haben? Was hat dieser Mann seinem Leben angetan? Sie hatte bald gewußt, daß es eine ungesunde Besessenheit war, die ihn mit diesem Berg verband, als er sie jedoch in das wahre Ausmaß dieser Beziehung eingeweiht hatte, hatten sie
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seine Worte wie ein Keulenschlag getroffen. Der Mount Everest als Höhepunkt und Ende, der wahnsinnigste aller Zwiespälte, die diesen Mann prägten. Keiner gibt auf, wenn er das höchste Ziel in seinem Leben erreicht hat, wenn er bewiesen hat, daß für ihn selbst das Unmögliche machbar war. Sie hatte versucht, es ihm zu erklären, zuerst subtil, dann immer deutlicher, und er war ihr dabei nicht immer ausgewichen. Manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, daß sie zu ihm durchgedrungen war, daß sie das Danach für ihn sein könnte. Und als sie ihm gesagt hatte, daß sie ihn liebe, war dies die Wahrheit gewesen. Richter hatte ihr gesagt, daß das Negative wie eine Krankheit in sein Leben gedrungen und wie ein Krebsgeschwür gewachsen war, das er nur dann besiegen konnte, wenn er den Körper, der es beherbergte, vernichtete. Nancy sah es anders. Für sie war es heilbar, und sie war der Arzt. Sie hatte nie versucht, ihn vom Berg fernzuhalten, sie hatte ihm sogar mit allen Kräften geholfen, seinen Plan durchzuziehen, sie hatte nur versucht, das Ende zu beeinflussen. Sein Leben als Preis für einen Gipfelsieg einzusetzen war selbstvernichtender Irrsinn. Richter wollte den Gipfel, vielleicht wollte er nun auch sie. Nancy hoffte mit jeder Faser ihres Körpers, daß er beides bekommen würde. Sie blickte ihn an und spürte die Spannung, die an ihm zerrte. Die nächsten Tage würden auch für sie zu den härtesten ihres Lebens werden. Sie fürchtete sich vor dem Warten und hatte Angst vor der Trauer.
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Die Expedition Die anderen waren im Messezelt versammelt, als Steiner von den Amerikanern zurückkam. Er hatte eine Flasche Champagner aus der Kiste geholt, die in einem der Vorratszelte stand, und jedem, auch dem Koch und seinem Gehilfen, ein Glas eingeschenkt, bevor er ihnen mitteilte, daß es bereits übermorgen losgehen würde. »Die Amerikaner und die Italiener sind morgen dran, zwei große Gruppen, die wie ein Rammbock alles aus dem Weg räumen, das uns später beim Aufstieg behindern könnte, die Vorhut sozusagen.« Er grinste. »Die werden am Gipfel Campingtische und Klappstühle aufstellen und außerdem hoffentlich ein heißes Süppchen für uns zurücklassen!« Hans Frey schmunzelte amüsiert, seine Frau lächelte, Dreier schüttelte verärgert den Kopf. »Laß doch den Scheiß«, sagte er, »sag uns lieber, was die Wetterfrösche meinen.« »Eine Woche Sonnenschein«, antwortete Steiner, »die Berggötter meinen es gut mit uns!« Dreier gab sich noch nicht zufrieden. »Zuerst die Amerikaner und die Italiener, gut, nur was folgt dann? Der gesamte Rest der Meute, oder gibt es doch so etwas wie eine vernünftige Einteilung?« Steiner hatte beschlossen, den anderen nichts von dem unglückseligen Los zu erzählen, Dreiers Frage zwang ihn nun aber doch zu einer Erklärung. »Alle zugleich geht natürlich nicht, es hat eine Art Einteilung gegeben, und dabei sind die restlichen Gruppen auf die nachfolgenden vier Tage verteilt worden. Weil wir die kleinste sind, hat man geglaubt, man könnte mit uns nach Belieben
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umspringen, und hat uns einfach auf den allerletzten Platz gesetzt.« Er klopfte sich mit der Faust an die Brust. »Nicht mit mir! Gerade weil wir so klein sind, haben wir überall Platz, ich habe uns auf übermorgen vorgereiht, ob es den anderen nun recht ist oder nicht. Wahrscheinlich werden ein paar murren, wenn wir im Khumbu auftauchen, hindern kann uns keiner daran!« Er griff nach seinem Becher und hielt ihn in die Höhe. »Übermorgen geht’s los, und darauf trinken wir! Auf den Everest!« Dreier war zufrieden, es war ihm egal, wie Steiner es geschafft hatte, vorne dabei zu sein, Hauptsache, sie waren vorne dabei. Am nächsten Morgen half Steiner jedem von ihnen, seine Ausrüstung zusammenzustellen, sorgfältig alles zweimal überprüfend. Zu Mittag meldete sich Mingma erstmals vom Südsattel, mit krächzender Stimme, die Worte kamen nur langsam, er klang müde. »Drei Zelte«, sagte er, »zwei Kocher, genügend Brennstoff und Verpflegung.« »Sauerstoff«, schrie Steiner ins Funkgerät, »wie steht’s mit dem Sauerstoff?« »Noch nicht alles oben«, krächzte Mingma, »wir müssen jetzt hinunter, brauchen noch ein paar Tage.« »Morgen«, schrie Steiner, »wir steigen morgen hoch, Lager eins, verstehst du, übermorgen Lager zwei, dann ein Rasttag und dann geht’s los, wir müssen das Wetter ausnützen!« »Wir sind müde«, antwortete Mingma nach einer Weile, »gehen heute ins Lager zwei, Lager eins wäre noch besser.« »Geht nicht«, schrie Steiner, »keine Zeit mehr, heute Lager zwei, dann noch einmal hoch mit dem Sauerstoff, in drei Tagen treffen wir euch im Zweier, da habt ihr einen Rasttag, es geht
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um das Wetter, verstehst du, das Wetter, eine Woche Sonnenschein!« »Ich weiß«, krächzte Mingma, »wir werden es versuchen, wir steigen jetzt ab!« Steiner schaltete das Gerät ab. »Die sind auf achttausend Meter, habt ihr gehört? Unsere Burschen sind am Südsattel!« »Er hat müde geklungen«, sagte Erika Frey. »Mingma weiß, was er zu tun hat«, antwortete Steiner, noch immer grinsend, »sie leisten viel mehr, als sie unter normalen Umständen geleistet hätten, riskieren es sogar, zu lange in großen Höhen zu sein. Es ist das Wetter, versteht ihr, Mingma weiß genau, wie wichtig es ist, jetzt vorn dabeizusein. Wenn wir den Zug verpassen und das Wetter umschlägt, könnte es für ihn und die beiden anderen bedeuten, daß sie sich noch zwei oder drei Wochen lang mit dem Berg herumschlagen müssen, je später, desto gefährlicher.«
Richter Es war das Tageslicht, das die Unruhe in ihm schürte, als es dunkel war und ihn die Nacht einhüllte, war Richter ruhig, fast gelassen. Nach dem Essen setzte sich Nancy neben ihn und griff nach seiner Hand, er zog sie nicht zurück. Er überlegte, ob es noch etwas gab, was er ihr sagen sollte, etwas Wichtiges, vielleicht sollte er ihr sagen, daß auch er sie liebte, doch war er sich nicht sicher, ob es stimmte, und er wollte keine Lüge bei ihr zurücklassen. Er dachte daran, wie es gewesen wäre, wenn er sie nicht getroffen hätte, wie er die Einsamkeit verkraftet hätte, jetzt, wo
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das Endgültige näherrückte. Die Stunden wären schwerer gewesen und viel länger, wahrscheinlich hätte er sie mit der Vergangenheit verbracht, mit Christoph, und sich vom Schmerz und der Verzweiflung, die ihn an diesen Ort getrieben hatten, quälen lassen. Der Schmerz war immer da, wenn er an den Jungen dachte, auch jetzt, doch mit Nancy saß etwas Positives in seiner Nähe, das ihn erträglicher machte. Christoph würde bei ihm sein, wenn er dort oben mit dem Berg allein wäre, und auch sie würde dasein. Er würde beide wie zwei Amulette mittragen, die ihm Sicherheit geben sollten, wo es keine Sicherheit mehr gab. Nancy durchbrach das Schweigen. »Ich möchte noch einmal mit dir schlafen«, sagte sie leise. Er drückte ihre Hand etwas fester, weil ihn ihre Worte überrascht hatten. Sein Körper war darauf programmiert, ihn wie eine Maschine den Berg hochzutragen, Sex hatte in seinem Kopf keinen Platz mehr. »Ich weiß nicht«, sagte er zögernd. »O doch«, flüsterte sie, »du weißt ganz genau, daß du es auch willst, es ist der Berg, der in deinem Hirn alles andere in eine Ecke drängt, alles auffrißt, was dich von ihm ablenken könnte.« Sie streichelte mit der freien Hand seine Wange. »Ab morgen früh darf er dich besitzen, heute gehörst du auch noch mir.« Ihre Hand verließ seine Wange, streichelte die Schulter, öffnete das Hemd, streichelte die Brust, die zweite Hand löste sich aus seiner, knöpfte die Hose auf, und plötzlich wollte auch er sie. Eine Stunde lang dachte er nicht mehr an den Berg, dann schlief er mit einem Lächeln ein. Es war vier Uhr, als er erwachte, genau wie geplant. Er hörte das Zirpen des Weckers und schlug sofort die Augen auf. Seine Hand fand die Taschenlampe, die neben ihm auf dem
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Zeltboden lag, und knipste sie an. »Guten Morgen«, sagte Nancy. Er nickte. »Es ist ein guter Morgen«, sagte er, »und es wird ein noch besserer Tag!« Sie schaute ihm zu, wie er sich anzog, langsam und sorgfältig, weil er sich selbst dabei keinen Fehler leisten konnte. Von nun an konnte er sich überhaupt keinen Fehler mehr leisten. Sie folgte ihm, als er aus dem Zelt kroch. »Ich habe noch etwas Nescafé«, sagte sie, »den letzten Rest, ich habe ihn für diesen Morgen aufgespart, wenn du zurückkommst, wird mehr dasein. Ich werde mir welchen besorgen.« »Von Lucie?« fragte er. Sie nickte. »Dicke Kumpel, ihr zwei«, lächelte er. »Sie mag mich«, antwortete Nancy, während sie den Kocher anzündete, »und ich mag sie auch.« Der Kaffee war stark, und Richter war froh, daß er etwas Heißes im Magen hatte. Mit dem letzten Schluck wusch er zwei von Jim Lees Pillen hinunter und hoffte, daß damit die Kopfschmerzen ausbleiben oder erst viel später kommen würden. Es war wieder sternenklar, nur der Mond schien etwas größer geworden zu sein. In einigen Teilen des Lagerplatzes brannten Gaslampen, die Nacht wehte gelegentlich Geräusche zu ihnen herunter. »Es ist etwas kälter als sonst«, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht«, antwortete er. Sie lachte. »Einer, der dicker angezogen ist als ein Polarforscher, kann es natürlich nicht spüren.« Richter hob belehrend den Zeigefinger.
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»Nicht Polarforscher«, schmunzelte er, »Everest-Sieger!« Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. »Mein Everest-Sieger«, sagte sie. Sie standen eine Weile stumm da, dann löste sie sich von ihm und verschwand für ein paar Sekunden im Zelt. Als sie zurückkam, hielt sie etwas in der Hand, sie streckte es ihm entgegen, und er sah, daß es zwei Injektionsnadeln waren. »Dexamethason«, sagte sie, »ich hab sie von Doktor Lee gestohlen, die haben so viele davon, daß sie den Verlust gar nicht bemerken werden.« Richter starrte sie ungläubig an. »Gestohlen?« fragte er, »du hast sie wirklich von den Amerikanern gestohlen?« Sie nickte. »Ich will, daß du zurückkommst«, sagte sie, »dafür würde ich noch viel mehr tun, als nur zu einer kleinen Diebin zu werden.« Sie nahm seine Hand und legte die Ampullen hinein. »Nimm sie«, flehte sie, »du mußt mir versprechen, daß du sie nimmst, wenn es dir ganz dreckig geht, nicht für dich, sondern für mich, ich brauche dich, Bert Richter, verstehst du, ich brauche dich wirklich!« Er zögerte einen Augenblick lang, dann nahm er die Dinger, nicht weil er von ihnen dieselbe Wunderwirkung erwartete wie Nancy, sondern weil er sie nicht verletzen wollte, jetzt nicht. Er verstaute die Ampullen in seinem Rucksack, dann schulterte er ihn, er war schwer, und die Last drückte jetzt schon auf seine Beine. »Ich gehe jetzt«, sagte er. Es gab keinen Abschied mehr, er ging, und sie blieb bei ihrem Zelt zurück. Er wußte nicht, ob er sie jemals wiedersehen würde, er wußte es wirklich nicht, doch er spürte, daß er es wollte. Trotzdem war der Berg für ihn noch immer wichtiger als alles andere, das
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hatte er sich geschworen, und das schwor er sich jetzt wieder. Das Lager der Argentinier war hell erleuchtet, er hörte spanische Stimmen, auch jene der Ärztin. Richter war der erste, doch auch die anderen würden bald losziehen, die Schweizer, deren Lager etwas weiter oben am Gletscher lag, und die Japaner, die am linken Rand, näher am Pumo Ri, lagerten. Er hatte erwartet, daß nur diese drei Camps Lichter hätten, und wunderte sich, daß man auch in einem anderen, nicht weit von jenem der Japaner entfernt, die Lampen angezündet hatte. Es konnte jenes der Tschechen sein oder der Deutschen. »Vielleicht nur die Sherpas, die sich für einen letzten Lastentransport vorbereiten«, dachte er. Der Khumbu hatte sich nicht verändert, um diese Zeit war er offenbar immer zahm, schien zu schlafen. Obwohl er den Weg schon einmal gegangen war, gab es nichts, was ihm bekannt vorkam. Die Nacht verhüllte die Umgebung, und vom Weg sah er nicht mehr als die Länge eines Stirnlampenstrahls. Richter konzentrierte sich auf das Gehen, suchte nach dem richtigen Atem- und Schrittrhythmus und stapfte mechanisch wie ein Roboter durch das Eis, als er ihn gefunden hatte. Die Leiterbrücken waren alle da, der Gletscher duldete sie noch. Ihr Überqueren konnte man nicht lernen, es blieb ein Tanz auf rohen Eiern, auch beim hundertsten Mal. Richter schaltete alle Gedanken ab und konzentrierte sich nur auf seine Füße, die Steigeisen und die dünnen Sprossen, die er treffen mußte. Die Leitern bogen sich bei jedem Schritt leicht durch, die Enden, die auf dem Eis lagen, machten dabei ein Geräusch, das fast wie ein gequältes Stöhnen klang. Als Richter nach einer Stunde stehenblieb, um zu rasten, sah er, daß unten die ersten Lichter in Richtung Eisfall tanzten.
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Die Expedition Die Rucksäcke, die sie trugen, waren etwas schwerer als beim ersten Mal. Steiner hatte genau darauf geachtet, daß nichts vergessen wurde, was sie oben brauchten. Ein Zurück würde es während der nächsten Woche nur dann geben, wenn sie das Wetter dazu zwang. Oder etwas anderes. Aber daran wollte keiner von ihnen denken. Steiner hatte beim Frühstück versucht, sie mit ein paar lockeren Sprüchen bei Laune zu halten, doch wer in den Khumbu steigt und dann weiter, immer weiter nach oben, in ein Gelände, aus dem viele nie mehr zurückgekommen sind, spricht auf banale Scherze nicht an, der bemüht sich, die steigende Spannung im Zaum zu halten und mit der wachsenden Angst fertig zu werden. Hans Frey versuchte, cool zu bleiben, doch es war ein lächerlicher Versuch, weil er seine Nervosität und die Anspannung nicht verbergen konnte. Er redete kaum, und wenn ihn die anderen etwas fragten, antwortete er mit ungeduldigen, kurzen Sätzen. Max Dreier war gereizt, versuchte die nervöse Ungeduld hinter seinem Sarkasmus zu verbergen, drängte ständig zum Aufbruch. Erika Frey erkannte, daß dies etwas ganz anderes war als ein Wettkampf. Es gab niemanden zu besiegen, nur sich selbst. Ein Berg und das Wetter waren keine Gegner, höchstens Gegebenheiten, mit denen man fertig werden mußte, Gegner waren berechenbar, kämpften mit den gleichen oder ähnlichen Waffen, hier begaben sie sich in das Unberechenbare. Jetzt, wo es wirklich und unwiderruflich losgehen sollte, spürte Erika Frey zum ersten Mal, daß auch sie Angst hatte, Angst vor dem Unbekannten, dem sie sich ausliefern würde. Sie bemühte sich, es die anderen, vor allem ihren Mann, nicht merken zu lassen. Bei Hans und Dreier gelang es ihr, weil die beiden genug damit
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zu tun hatten, mit ihren eigenen Emotionen fertig zu werden, nur Steiner, der sie genau beobachtet hatte, schien zu wissen, was in ihr vorging. Als sie das Messezelt verließen um die Ausrüstung zu holen, stand er plötzlich neben ihr und griff nach ihrer Hand. »Keine Angst«, flüsterte er, »du bist die Stärkste von allen. Denk daran, daß es ein herrliches Erlebnis ist, das vor dir liegt, etwas absolut Einzigartiges, das nur ganz wenige Menschen erleben dürfen, und denk daran, daß ich immer für dich da bin, der alte Ronny läßt keinen im Stich!« Die Hand, die in ihrer lag und sie sanft drückte, gab ihr wirklich einen Teil des verlorenen Selbstvertrauens zurück. Sie klammerte sich einen Augenblick daran fest, dann zog sie ihre Hand zurück und nickte entschlossen. »Wird schon schiefgehen«, lächelte sie. Beim Aufstieg durch den Khumbu waren sie zu sechst. Tendi, der Koch, und Pemba, der Küchenjunge, stiegen ebenfalls auf, um den anderen in den Lagern eins und zwei die Arbeit des Kochens abzunehmen. Sie trugen schwere, plumpe Lasten, zu denen viel Verpflegung und die großen Kochtöpfe gehörten. Steiner schleppte den schwersten Rucksack von allen, er hatte sich im letzten Augenblick entschlossen, auch die restlichen drei Sauerstoffflaschen, die er eigentlich als eiserne medizinische Reserve im Basislager hatte zurücklassen wollen, hochzutragen, für den Fall der Fälle. Wenn wirklich etwas passieren würde, dann würden sie hier unten niemandem nützen, Sauerstoff brauchte man oben. Steiner hatte die Lichter in den Lagern der anderen drei Gipfelgruppen ständig beobachtet, er hatte auch gesehen, daß sich ein einsamer Geher als erster auf den Weg gemacht hatte. Für ihn war es klar, daß es sich dabei nur um einen Sherpa handeln konnte, der heute noch Lager zwei, vielleicht sogar
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Lager drei erreichen wollte. Er und seine Leute waren etwas früher aufgestanden, weil sie, um Konflikte mit den anderen zu vermeiden, unbedingt vor ihnen losziehen mußten. Das war ihnen auch gelungen, weil die drei Teams heute sicher nur bis zum Lager eins gehen würden und sich deshalb etwas mehr Zeit lassen konnten. Steiners Hoffnung, daß Hans Frey bei seinem dritten Khumbu-Aufstieg in der Lage sein würde, ein schnelleres Tempo zu gehen, erfüllte sich nicht. Dreier stapfte eine Weile schimpfend hinter dem Münchner her, dann löste er sich plötzlich wortlos von der Gruppe und zog davon. Steiner hatte nichts dagegen, er riet Erika Frey sogar, sich dem Lehrer anzuschließen. Sie zögerte kurz, suchte mit einem Blick bei ihrem Mann Rat, erhielt ein knappes Nicken zur Antwort und ging Dreier nach. Die Schweizer waren die ersten, die ihn und Frey einholten, Steiner kannte zwei von ihnen, er hatte sie im Vorjahr am Matterhorn getroffen. »Ronny Steiner«, schnaufte Deller, als er zu ihm aufgeschlossen hatte. »Grüezi«, grinste Steiner. »Schwere Last«, sagte der Schweizer und deutete auf die Flaschen. »Wer zu wenig Geld für mehr Sherpas hat, muß selbst den Esel spielen«, antwortete Steiner, dann zeigte er auf Frey, der vor ihm langsam und stur dahinstapfte. »Akklimatisierungsmarsch«, sagte er, »meine Leute brauchen noch ein paar Khumbu-Kilometer, bevor’s wirklich losgeht!« »Wir packen’s jetzt schon«, sagte Deller, als er sich an ihm vorbeischob. »Ich weiß, Everest und Lhotse«, rief ihm Steiner nach, »viel Glück!« »Werden’s brauchen«, brummte der nächste Schweizer.
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Einige Minuten später war Steiner wieder mit Hans Frey allein. Obwohl das Gehtempo gleichblieb, hatte der Münchner Fortschritte gemacht, weil er im oberen Teil des Eisbruchs bei weitem nicht mehr so viele Rastpausen einlegte wie bei seinen anderen beiden Aufstiegen. Er fauchte und keuchte zwar, manchmal hustete er und mußte so lange stehenbleiben, bis es vorbei war, er litt sich mit zäher Stetigkeit jedoch immer weiter nach oben, und Steiner folgte ihm wie ein gehorsamer Lastesel, den man etwas zu schwer beladen hatte. Kurz vor der langen Leiterbrücke wurden sie auch von den Argentiniern eingeholt. Steiners Schultern waren vom Druck der Last beinahe gefühllos geworden, der Rücken schmerzte, dazu kamen höllische Halsschmerzen, er verfluchte leise die verdammten Sauerstoffflaschen und sagte laut zu Frey, daß er warten solle, bis die Südamerikaner drüben wären. Es waren vier Männer und eine Frau, zwei der Männer waren Sherpas. Alle fünf grüßten kurz, gingen ein paar Schritte weiter und warteten, auf ihre Stöcke gestützt, am Rande der Spalte, bis ihr Atem etwas ruhiger ging, dann tastete sich der erste über die Leiter. Weder die Männer noch die Frau beachteten Steiner und Frey, die ihre Rucksäcke abgelegt und auf ihnen Platz genommen hatten. Sieben Menschen inmitten einer bizarren Eiskulisse, die genausogut das Ende der Welt hätte sein können, und keiner redete. Die Argentinier und ihre Sherpas gaben sich mit Kopfbewegungen und Handzeichen zu verstehen, wer als nächster dran war, und die anderen schauten dem Auserwählten dann mit stummer Spannung zu, wie er über den Abgrund balancierte. Wenn sie ihn gefragt hätten, dann hätte Steiner ihnen dieselbe Geschichte erzählt, die er zuvor schon den Schweizern erzählt hätte, und er hätte ihnen genauso Glück für den
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Gipfelgang gewünscht, doch niemand fragte ihn. Als das stumme Schauspiel vorbei war und sie wieder allein mit dem Eis, der Spalte und den Leitern waren, bedeutete er Frey aufzustehen, und dieser tat es, ohne ein Wort zu sagen. Es war, als hätte der Berg den Menschen die Sprache geraubt.
Richter Im Lager eins war es stiller als beim ersten Mal. Die meisten Menschen, die es an diesem Tag bevölkern sollten, waren noch nicht angekommen, die Amerikaner und die Italiener waren bereits abmarschiert und hatten nur ihre Küchenmannschaften und einen Teil jener Mitglieder zurückgelassen, die nicht für den Gipfelgang vorgesehen waren. Der Himmel hatte dasselbe Blau wie immer, nur über dem Felswall des Lhotse-Grates, der das Tal abschloß wie eine riesige Staumauer, trieb der Wind ein paar Wolkenfetzen vor sich her, wie es in einer anderen Welt ein Hirtenhund mit verirrten Schäfchen tat. Richter hatte sich vorgenommen, sein Zelt an jenem Platz aufzustellen, an dem er bei seinem ersten Aufstieg Rast gemacht hatte. Das Lager der Amerikaner schien zunächst leer zu sein, als er es jedoch erreicht hatte, trat vor ihm plötzlich Doktor Lee aus einem Zelt. Beide erschraken, dann erkannten sie einander, und aus der Unsicherheit des Überraschungsmomentes wurde bei beiden ein Lächeln. »Hey«, rief der Amerikaner, »was zum Teufel hat dich hochgetrieben?« »Die Neugierde«, antwortete Richter rasch, »nichts als die verdammte Neugierde.«
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Jim Lee schüttelte den Kopf. »Deine verdammte Neugierde wird dich eines Tages noch umbringen!« Richter zuckte die Schultern und grinste. »Wer nichts riskiert, wird nie gewinnen.« Der offensichtliche Mut des Schreiberlings und die Art, wie er den Aufstieg durch den Khumbu verkraftet hatte, schienen dem Arzt zu imponieren. Er lud Richter ein zu bleiben, rief nach einem Sherpa und bestellte Tee für beide. Richter war froh, daß er nicht selbst kochen mußte und Brennstoff sparen konnte. Später aß er sogar mit dem Amerikaner und ersparte sich auch einen Teil seiner kostbaren Verpflegung. Doktor Lee schien es völlig egal zu sein, daß sich ein offenbar nicht registrierter Fremdling in das Expeditionsgebiet gewagt hatte. Er wußte, daß Nancy und Lucie Freundinnen geworden waren, und hatte damit auch ihn mit der freundlichen Leichtigkeit des Amerikaners gleichsam in ihre Familie aufgenommen. Richter wußte nicht, ob es gut war, ob es ihn zu sehr von dem ablenkte, was ihm bevorstand, er hatte jedoch keine andere Wahl. Wie hätte er dem anderen erklären können, daß er lieber allein wäre und selbst über seine Zeit verfügen wollte. Andererseits lieferte ihm Jim Lee freiwillig und ungefragt Informationen, zu denen er sonst nie gekommen wäre. »Die Meute«, erzählte er während des Essens, »hat sich bereits in Lager zwei niedergelassen. Die meisten sind fit, einige klagen zwar über die unvermeidlichen Kopf- und Halsschmerzen, doch das sollte sie am Weitergehen kaum hindern. Onkel Doktor haben sie jetzt keinen mehr, der bleibt noch einen Tag lang hier, dann steigt er ins Lager drei hoch und wartet dort, wie sich die Dinge oben entwickeln. Wenn sie mich nach der Rückkehr oben am Südsattel brauchen sollten,
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bin ich am nächsten Tag bei ihnen, präpariere sie für den Abstieg und begleite sie dabei. Es hat überhaupt keinen Sinn, wenn ich an vorderster Front mitkämpfe und meine eigenen Kräfte verpulvere.« Richter runzelte die Stirn. »Ich erinnere mich«, sagte er, »daß du bei unserem ersten Zusammentreffen gesagt hast, du wolltest selbst auf den Gipfel.« Jim Lee nickte. »War immer schon ein Traum von mir«, sagte er, »deshalb bin ich ja auch in diese gottverlassene Gegend gekommen. Ich werd’s auch versuchen, Randell hat es mir versprochen. Wenn der erste Ansturm vorbei ist und alle Teams ihre Chance erhalten haben, werden wir, die Zurückgebliebenen, noch einen Versuch starten. Zwei Mann haben wir unten zurücklassen müssen, weil sie jetzt noch nicht fit genug für den Gipfel sind, dazu kommt der Basislagerleiter, der ebenfalls darauf brennt, seinen Job für eine Weile abgeben und selbst hochsteigen zu können. Auch zwei Sherpas haben sich bereit erklärt, es mit uns am Ende noch einmal zu versuchen, macht insgesamt sechs, die darum beten, daß uns der Berg am Ende noch ein paar Besteigungstage schenkt.« »Und wenn er es nicht mehr tut?« Doktor Lee zuckte die Schultern. »Dann haben wir Pech gehabt. Es wäre schön, aber letztendlich ist es doch nur ein Berg. Mein Leben wird nicht stehenbleiben, wenn ich nicht auf dem Gipfel des Mount Everest war. Dann war das Ganze eben ein gewaltiges Abenteuer, eine unvergeßliche Erfahrung, eine Story, die ich später sicher einmal meinen Enkelkindern erzählen werde. Opa Jim war dabei, als die Amerikaner den höchsten Berg der Welt gestürmt haben.« Er verstellte seine Stimme zu einem kindlichen Piepsen.
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»Und warum war Opa Jim nicht selbst oben?« Normalstimme. »Weil Opa Jim der Onkel Doktor war, der den anderen geholfen hat, und weil Opa Jim kein verdammter Selbstmörder ist, der für einen stupiden Stein sein Leben riskiert. Seid froh, ihr kleinen Quälgeister, daß er es nicht getan hat, sonst würde es euch und eure blödsinnige Fragerei heute nicht geben!« Der Amerikaner lachte, und Richter lachte mit, weil Jims Einstellung absolut glaubwürdig war, weil er das, was Jim gesagt hatte, witzig fand und weil es absolut nichts mit seiner eigenen Einstellung zum Berg zu tun hatte. Er war anders, bei ihm war alles anders, kein lockerer Knoten, den man mit einem Griff lösen konnte, sondern eine Schweißnaht, die für die Ewigkeit hielt. Er erzählte dem Amerikaner, daß ihn der Aufstieg durch den Khumbu, der ihm viel leichter gefallen war, als er befürchtet hatte, hungrig nach mehr gemacht hätte und daß er am nächsten Tag versuchen wolle, ein Stück durch das Western Cwm zu gehen, vielleicht sogar bis zum nächsten Lager. Er sei ja nur ein einzelner und damit niemandem im Wege. Wenn er es schaffen sollte, dann würde er oben auf Jim warten, vielleicht konnte er sich sogar als Arzthelfer irgendwie nützlich machen. »Bist ein zäher Bursche«, sagte der Amerikaner. Richter grinste. »Vielleicht habe ich wirklich das Talent zum Bergsteiger, ich hab’s bis jetzt nur noch nicht gewußt.« Doktor Lee grinste zurück. »Deine Nancy weiß wahrscheinlich gar nicht, welches Kaliber sie da neben sich im Zelt hat.«
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Die Expedition Zu Steiners Erstaunen hatte Frey auch den obersten Teil des Eisbruchs ohne zusätzliche Rastpausen überstanden, er war zwar nicht schneller geworden, aber auch nicht langsamer, und am Ende hatten sie für den Khumbu um eine ganze Stunde weniger gebraucht als beim letzten Mal. Tendi und Pemba waren lange vor ihnen und auch eine Weile vor dem Lehrer und Erika Frey oben angekommen, und als Steiner und Frey die Zelte erreichten, wartete bereits heißer Tee auf sie. So sollte es sein, so war es auch bei einer richtigen Expedition, Steiner war zwar todmüde und heilfroh, als er den schweren Rucksack endlich los wurde, aber er war mit dem bisherigen Verlauf des Tages mehr als zufrieden und sah den kommenden Ereignissen mit Optimismus entgegen. Jetzt glaubte er beinahe, daß es auch Hans Frey schaffen könnte. Der Mann schien erkannt zu haben, wo seine Leistungsgrenze lag, und er schien jetzt auch bereit zu sein, sich dort zu bewegen, wo es schmerzte und wo es Überwindung kostete. Jeder Everest-Gang war mit Leiden verbunden, bei dem einen mit etwas weniger, bei anderen mit mehr, der Weg war nur zu schaffen, wenn man in der Lage war, alles aus sich herauszuholen, viel, viel mehr, als man jemals zuvor aus Muskeln und Geist herausgeholt hatte. Beim Essen redeten sie über die Schweizer und das Tempo, das die Burschen um Adrian Gygi zu gehen imstande waren. »Das ist eben der Unterschied zwischen Profis und Amateuren«, sagte Steiner, »diese Leute haben ihr Leben lang nichts anderes getan, als auf Berge zu steigen.« »Wie du«, warf Hans Frey ein, während er seine Suppe löffelte. »Stimmt«, nickte Steiner, »wie ich.« Erika Frey redete nie viel, wenn sie beisammensaßen, jetzt
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schaute sie nachdenklich von ihrem Teller auf. »Tut es dir nicht leid, daß du nicht mit einer solchen Gruppe unterwegs sein kannst, sondern dich mit uns abquälen mußt?« fragte sie. Unten, in der normalen Welt, hätte Steiner ganz anders geantwortet. Er hätte ihnen wahrscheinlich gesagt, daß er seine Chance ja bereits gehabt und auch genutzt hatte und daß es ihn nie reizte, etwas bereits Erledigtes noch einmal zu machen. Er hätte ihnen wahrscheinlich gesagt, daß ihn der Everest nur dann reizen würde, wenn er mit einer völlig neuen Aufgabe verbunden wäre und daß diese Aufgabe sie seien. Nur Starke in einem Team zusammenzufassen sei unfair, für ihn seien die Starken dazu da, den Schwächeren zu helfen, ihnen die Türe zu einer Welt zu öffnen, die für sie bis jetzt scheinbar unerreichbar war. Dort unten hätte es klug geklungen und glaubhaft, obwohl es eine Lüge war. Er hatte sie hierhergebracht, weil er ihr Geld brauchte. Er wußte es, sie wußten es. Sie hatten noch nie darüber geredet. Steiner, weil ihm bewußt war, daß er im Grunde genommen nichts anderes als ein Seelenverkäufer war, die anderen, weil sie nicht wahrhaben wollten, daß ihre einzige Qualifikation für diesen Berg eine hohe Geldsumme war, die sie bezahlt hatten, um dabeisein zu dürfen. Bis vor wenigen Tagen hatten sie keine Ahnung gehabt, was hier wirklich los sein würde, sie alle hatten mehr Vergnügen und weniger Arbeit erwartet, jetzt wußten sie, daß es kein Vergnügen geben würde, nur harte Arbeit, härtere als je zuvor, einen Körper, der ständig irgendwo schmerzte, mit Muskeln, die zum Zerreißen gespannt waren, und einen Kopf, der dort oben zumindest so klar bleiben mußte, daß er seine primäre Funktion erfüllen konnte, die des gnadenlosen Sklaventreibers der Gliedmaßen, ein Schritt und noch ein Schritt, wer jetzt aufgibt, der stirbt, also weiter, immer weiter.
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Steiner stellte seinen Teller in den Schnee, wischte mit dem Handrücken über den Mund und sagte: »Ja, es wäre schön, mit den Schweizern gehen zu können«, er lächelte und kratzte sich am Kopf, es wirkte fast so, als sei er verlegen, dann warf er die Hände in die Höhe, zuckte die Schultern und grinste sein bubenhaftes Grinsen. »Andererseits«, fuhr er fort, »wäre es auch schön, es einmal von der tibetischen Seite versuchen zu können, auch der K2 würde mich reizen oder der Makalu. Es gibt so vieles, das einem das Leben verschönern könnte, diese Expedition ist es nicht. Das hat nichts mit euch zu tun, nur mit mir selbst. Ich habe eine Aufgabe übernommen, die fast nur aus Verantwortung für andere besteht. Verantwortung für die Genehmigungen, die Ausrüstung, die Reise, die Auswahl der Sherpas und dann natürlich für alles, was jetzt am Berg passiert. Ein ganz schöner Brocken für einen, der bisher nicht einmal die Verantwortung für eine Familie getragen hat.« Hans Frey hatte keine Lust, den Rest des Tages mit endlosem Philosophieren und Phantasieren zu verbringen. Er haßte Gespräche, bei denen jeder versucht, sein Innerstes nach außen zu kehren. »Hast du eine Ahnung«, fragte er Steiner, »wie es drüben bei den Chinesen aussieht?« Der Expeditionsleiter stieg sofort auf die Frage ein, sichtlich dankbar, daß Frey das Gespräch in eine andere Richtung zu führen versuchte. »Wettermäßig wird es wohl nicht viel anders sein. Zwölf Expeditionen, nur zwei weniger als hier, annähernd dieselbe Vorbereitungszeit, die werden jetzt wohl auch schon die ersten Gipfelgruppen losgeschickt haben. Ich weiß, daß Österreicher dabei sind, Adi Hausberger, ein alter Kumpel von mir. Ich weiß auch noch von einem spanischen Team, wahrscheinlich sind auch die Chinesen selbst wieder am Berg, ganz sicher
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auch ein oder zwei japanische Expeditionen, ohne die geht’s nicht, doch selbst das ist schon Spekulation.« »Ist es drüben leichter?« fragte Frey. Steiner zuckte die Schultern, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube es nicht. Dort gibt es zwar keinen Khumbu, dafür sind die Wege länger, und oben, im Gipfelbereich, sind die Schwierigkeiten wahrscheinlich annähernd gleich. Es ist derselbe Berg mit demselben Wetter. Es stimmt schon, daß unerfahrenere Gruppen, die es erstmals versuchen, die tibetische Seite wählen, weil sie glauben, es sei dort etwas einfacher. Für mich ist es ein Trugschluß, weil man auch dort auf 8848 Meter muß. Allein die Todesstatistik beweist, daß es nicht so harmlos sein kann, immerhin sind auch auf der Nordseite schon weit mehr als fünfzig Leute gestorben.« Max Dreier war auffallend ruhig geblieben. Alles, was gesagt wurde, schien ihn kaum zu interessieren. »Was ist mit unseren Sherpas«, fragte er jetzt, »sollten sie nicht heute zu uns stoßen?« Steiner schaute auf seine Armbanduhr. »Um zwölf«, sagte er, »haben wir Funkkontakt. Ich habe es ihnen überlassen, ob sie uns hier treffen oder im Zweierlager auf uns warten wollen.« »Die sind schon verdammt lange dort oben«, brummte Dreier. Steiner gab ihm recht. »Sie haben es selbst so gewollt, und wenn jemand weiß, wie lange er es in dieser Höhe aushaken kann, dann sind sie es, ich kann und will ihnen da nicht dreinreden.« Als sich Mingma schließlich meldete, war es aus Lager zwei. Der Sirdar schien bester Laune zu sein und sagte mehrmals, daß es ihnen gutgehe und daß für die Sahibs alles bereit sei, sie brauchten nur noch hochzugehen, er und Dawa und Gyalzen würden sie morgen im Lager erwarten, der Abstieg ins
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Einserlager und ein Wiederaufstieg am nächsten Morgen wären zu kräfteraubend. Steiner fragte Mingma nach den Amerikanern und den Italienern. »Alle oben, alle gut angekommen«, antwortete der Sirdar, »wollen sich beeilen, morgen ins nächste Lager gehen.« Er machte eine kurze Pause. »Der italienische Sirdar hat mir gesagt, daß nur drei Gruppen folgen sollen, Schweizer, Argentinier und Japaner, von euch hat er nichts gesagt, kommt ihr trotzdem?« »Wir kommen«, antwortete Steiner kurz. »Ist gut«, krächzte es aus dem Gerät, »das Wetter hält nicht mehr lange.« »Woher weißt du das?« »Ich spüre es«, sagte Mingma, »der Berg hat keine Geduld mehr.«
Richter Richter wachte um vier Uhr auf und konnte nicht mehr einschlafen. Doktor Lee hatte ihm erlaubt, in einem der amerikanischen Zelte zu übernachten, das hatte ihm einiges an Arbeit erspart. Er hatte auch alle Funksprüche mitgehört, die der Arzt mit dem Basislager und mit der Gipfelgruppe führte, dabei jedoch nichts Neues erfahren. Es ging allen gut, der Wetterbericht hatte sich nicht verändert, es schien fast so, als hätte der Berg diesmal für alle einen roten Teppich ausgebreitet, auf dem sie nur noch hochzugehen hatten. Es klang gut, zu gut, irgend etwas in Richter sagte ihm, daß der Friede nicht andauern würde, es war nur eine winzige
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Alarmklingel, mit einem winzigen, kaum hörbaren Ton, aber sie war da, vielleicht war sie es gewesen, die ihn geweckt hatte. Er hatte sich vorgenommen, diesmal die anderen ziehen zu lassen und ihnen als letzter zu folgen. Er hatte Zeit, und wenn er das Lager erreicht hatte, würde es noch mehr Zeit geben, die er totschlagen mußte, bevor er endlich Neuland betreten durfte, steiles, gefährliches Neuland: die Lhotse-Flanke. Wenn er dort oben war, würde ihn keiner mehr zurückschicken können. Richter war überzeugt, daß ab Lager drei jeder genug mit sich selbst zu tun haben und keinen Gedanken daran verschwenden würde, ob der sonderbare Fremdling die Berechtigung hatte, hier zu sein. Auch er würde genug mit sich selbst zu tun haben, mit der Anstrengung, mit der Höhe. Richter hatte immer schon einmal dort oben sein wollen, er hatte davon geträumt wie andere von einsamen tropischen Inseln. Zwei Tage noch, nur zwei Tage, dann würde er es wissen, und dann noch zwei Tage bis zum Ziel. Der Rest seines Lebens bestand nur noch aus vier Tagen, dann endeten all seine Pläne. Er hoffte, der Berg würde ihm diese vier Tage geben, aber da war das Alarmklingeln und die Ahnung, die er nicht loswurde. Stellte der Berg ihnen eine Falle, lockte so viele wie möglich hoch in die Todeszone, in der sie ihm hilflos ausgeliefert waren? Richter spürte es, so wie er den Berg gespürt hatte, bevor er ihn jemals gesehen hatte. Irgendein Band hatte ihn immer schon mit diesem Ort verbunden, jetzt hatte der ihm eine Warnung ausgeschickt. Doch da war auch noch die Logik, die Fakten über Gefühle stellte und ihm sagte, daß die Amerikaner und die Italiener alles, was die moderne Technik bot, zur Verfügung hatten, um jedes unnötige Risiko zu vermeiden, und genau wußten, was sie taten. Es war kalt, als Richter vor das Zelt trat, am Himmel hatte der Morgen begonnen, die Dunkelheit zu verdrängen. Er sah,
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daß sich die erste Gruppe bereits auf den Weg gemacht hatte, ihre Lampen schwebten wie Irrlichter durch die dünner werdende Nacht. Im Küchenzelt war bereits Betrieb, der Küchenjunge sagte ihm, daß er gerade hatte aufbrechen wollen, um ihm und dem Doktor-Sahib den Morgentee zu bringen. Richter wußte, daß dies bei Expeditionen üblich war, im Morgengrauen kam der Tee, ob man aufstehen wollte oder nicht, wahrscheinlich ein Relikt aus der Kolonialzeit, von den Briten eingeführt, bis heute nicht vergessen. Eine zweite Gruppe brach auf, dann eine dritte, Richter ließ sich noch etwas Zeit. Doktor Lee schlief noch immer. Als er zum Zelt zurückging, um seinen Rucksack zu holen, sah er, daß sich ein weiteres Team auf den Weg durch das Western Cwm machte. Wieder wunderte er sich darüber. Ob es dasselbe war wie am Vortag? Richter wartete noch eine Weile, um zu sehen, ob jetzt wirklich alle unterwegs waren, dann schulterte er seinen Rucksack und marschierte los. Es war schon hell genug, und er brauchte keine Lampe mehr. Es war wie beim ersten Mal, aus kühl wurde warm, aus warm wurde heiß, der Gletscher glitzerte beinahe unerträglich weiß, der Weg war lang und wurde immer länger. Richter sah die anderen als schwarze Punkte vor sich, die langsam, unendlich langsam dahinkrochen. Zwei von ihnen waren noch langsamer, und er mußte seinen Schrittrhythmus drosseln, um sie nicht einzuholen. Auf halbem Weg machte er eine Rast, länger als geplant, um den Abstand zwischen sich und den beiden Nachzüglern wachsen zu lassen. Die Kopfschmerzen waren wieder da, doch sie waren erträglich, wahrscheinlich hatte er sich schon daran gewöhnt, auch an das Kratzen im Hals und die gelegentlichen Hustenanfälle. Er ging nicht bis zum Lager, sondern stellte sein Zelt hundert
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Meter vorher auf. Es bereitete ihm Mühe, Tee zu machen, dann legte er sich nieder und schlief sofort ein. Als er aus einem traumlosen Schlaf aufwachte, wußte er zunächst nicht, wo er sich befand. Er drehte seinen Kopf nach rechts, um zu sehen, ob Nancy da war, aber dort, wo sie sonst lag, lag nur sein Rucksack, eine in sich zusammengefallene Stoffskulptur, die ihn im ersten Augenblick an eine kleine, kauernde Gestalt erinnerte. Er fühlte sich noch immer müde, seine Schultern schmerzten, und das Kratzen im Hals zwang ihn zu einem bellenden Husten, der säuerlichen Schleim aus seinem Magen hochpumpte. Er wußte, daß er bald etwas essen mußte, hatte jedoch überhaupt keine Lust dazu. Es waren erst 6500 Meter. Wie schlimm würde es weiter oben werden? Die Einsamkeit des Zeltinneren bedrückte ihn. Wahrscheinlich war es die Stoffwand, die das Licht filterte und alles um ihn herum in unwirklich gefärbte Düsternis tauchte, auch den Stoffgnom, der immer noch stumm neben ihm kauerte. Er ging ins Freie. Dort blendete ihn das gleißende Licht der Außenwelt, vor seinen Augen tanzten goldene Ringe. Erst als er seine Gletscherbrille aufsetzte, wurde alles wieder normal. Es war die Welt der gewaltigen Eis- und Felsarena, in die die EverestGeher ihre abnormalen, winzigen, unvollkommenen Behausungen gestellt hatten, eine Unzahl gleichgeformter Stoffhügel, die man dem Berg aufgedrängt hatte. Einige ragten aus dem schneeüberzogenen Schutt, den die gewaltigen Eismassen auf ihrem Weg nach unten zur Seite geschoben hatten, andere hockten im Schatten der blauglitzernden Eistürme, die so langsam gewachsen waren und von denselben Mächten so rasch wieder zerstört werden konnten. Links und rechts türmten sich mächtige Felsflanken in den Himmel, nur Schnee und Eis durften sie berühren. Das Tal
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setzte sich am Ende des Lagerplatzes weiter fort, fast flach, wie ein riesiger, zugefrorener Fluß, und am Ende war der Wall der Lhotse-Flanke, fast greifbar nahe, und doch noch durch einige harte Gehstunden von Richter und allen anderen getrennt. Hier draußen war alles anders als in der düsteren Gefängniszelle, die er hierhergeschleppt hatte. Es konnte eine Zeit geben, in der sie ihn vor der Wut der Winde und dem wirbelnden Schneechaos beschützen mußte, nur eine dünne Wand, der schützende Kokon. Jetzt, wo der Himmel blau war und die Felswände wie kunstvoll gemalte Kulissen herumstanden, raubte sie ihm jedoch die Freiheit, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Richter spürte keine Schmerzen mehr, nur noch die grenzenlose Bewunderung für das, was die Natur hier aufgebaut hatte, und tiefe Dankbarkeit, daß er jetzt hier sein durfte. Und er fühlte die Spannung, die sich in ihm ausbreitete wie ein Knäuel, das langsam zu einem Ballen wuchs.
Die Expedition Der Weg durch das Tal des Schweigens war zäh und mühsam. Hans Frey hatte sich wie eine Maschine vorwärtsbewegt, die gerade noch genug Pferdestärken besaß, um das Gefährt in Bewegung zu halten, viel zu langsam für Steiner und die beiden anderen. Während der Lehrer und Erika Frey vorn immer weiter davongezogen waren, hatte Steiner seine Pflicht erfüllen und den Schlußmann machen müssen. Als sie ankamen, wurden sie von Mingma und seinen beiden Sherpas fast enthusiastisch begrüßt, Steiner spürte die Ungeduld, die die drei Nepali gepackt hatte, den Drang, der sie
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zur Eile trieb. Hans Frey zeigte weder Freude noch Genugtuung über das, was er nun schon zum zweiten Mal geschafft hatte, er redete kaum, und wenn er etwas sagte, dann waren die Worte an seine Frau gerichtet, die sich immer in seiner Nähe aufhielt und versuchte, ihm jede unnötige Handbewegung abzunehmen. Alle hatten Probleme mit der Höhe, spürten, daß Körper und Geist anders funktionierten. Dreier redete ständig darüber, trank mehr als die anderen, schluckte drei Pillen, wenn Erika und Hans Frey zwei nahmen, auch Steiner und die Frau spürten die wachsende Müdigkeit, es schien sie jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen, alle drei wußten, daß Hans Frey am meisten von allen litt – aber keiner wußte, wie sehr. Steiner hatte während des Aufstiegs beobachtet, daß drei aus dem Team der Japaner, das am Morgen vor ihnen losgezogen war, nur unwesentlich schneller gegangen waren als Frey und er. Der Lehrer und Erika Frey hätten sie sogar einholen können. Steiner wußte über diese Gruppe nur, daß sie ähnlich zusammengestellt war wie seine eigene. Shin Kataoka, der Leiter, hatte den Everest im Vorjahr bestiegen, dazu kam mit Naoki Ishida ein erfahrener Mann, der zwar noch nie hier, jedoch auf dem Dhaulagiri und dem Manaslu gewesen war. Der Rest war, wie in seinem Fall, zahlendes Volk, ein Ehepaar und zwei jüngere Männer. Die Schweizer waren so stark, daß es sie eigentlich kaum berühren dürfte, wenn sich zugleich mit ihnen eine zusätzliche, schwächere Gruppe auf den Weg zum Gipfel machte, auch die Argentinier schienen stark genug zu sein, zumindest hatten sie keine zahlenden Kunden mit, was blieb, waren die Japaner. Dort oben würden sie mit Steiners Gruppe wahrscheinlich irgendwann zu einem Team zusammenschmelzen. Sechs Japaner, dazu mit Sicherheit zwei Sherpas, er selbst, Mingma und seine drei Kunden, macht insgesamt dreizehn Langsame.
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Am Hillarystep könnte es eng werden. Er dachte wieder daran, daß es immer noch die Möglichkeit des fünften Lagers gab und daß er Mingma und seinen Sherpas aufgetragen hatte, das dafür vorgesehene Zelt auf den Südsattel zu bringen. Als er den Sirdar fragte, ob dies auch geschehen sei, schüttelte dieser den Kopf. »Unmöglich, Bara Sahib«, sagte der Sherpa, »wir haben jetzt schon mehr getragen als bei jeder anderen Expedition.« Steiner war nicht wütend, er war enttäuscht. Er wußte, daß Mingma recht hatte, trotzdem hatte er gehofft, daß es irgendwie klappen könnte. Jetzt war das Zelt hier, wenn er es oben haben wollte, würde er es wohl selbst hochschleppen müssen. Die Sherpas hatten von nun an genug damit zu tun, die Sachen seiner drei Kunden zu tragen, weil diese ab Lager zwei mit den Sauerstoffflaschen belastet sein würden. Lager drei stand auf 7300 Metern, zu hoch für seine Amateurtruppe. Er selbst hatte bis jetzt mehr als genug geschleppt, viel mehr als damals bei der Berner-Expedition. Es hatte an seinen Kräften gezehrt, mehr, als er dachte. Das Zelt wog nicht allzuviel, nur ein paar Kilo, vielleicht waren es jene paar Kilo, die später über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden könnten? Steiner beschloß, das Zelt wenigstens bis zum Südsattel mitzutragen, dort würde man ja sehen, wie es Frey ging, ob sie es brauchten oder nicht. Er hatte keine andere Wahl. Er suchte den Himmel nach Wolken ab, fand jedoch keine. Bald würde alles vorbei sein, ein paar Tage noch. Steiner sehnte sich nach dem Ende, dem endgültigen. Eine Expedition wie diese würde es für ihn mit Sicherheit nie mehr geben. Am späteren Nachmittag tauchten Gygi und Deller in seinem Lager auf. Einige Meter hinter ihnen folgten ein Japaner und ein anderer Mann, den er nicht kannte. Steiner wußte, daß es kein Höflichkeitsbesuch war, insgeheim hatte er jedoch
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gehofft, daß die Konfrontation mit den anderen erst im nächsten Lager passieren würde. Deller grinste, als er ihm die Hand schüttelte. »Du bist ein Schlitzohr, Steiner«, sagte er in seinem eckigen Schweizerdeutsch. Steiner grinste zurück, Gygi und die anderen grinsten nicht. »Was du da machst, ist scheiße«, sagte Gygi. Steiner hob die Augenbrauen. »Was ist scheiße?« Der Schweizer stöhnte gequält und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Mach uns nichts vor, Steiner, es ist doch klar, daß ihr zugleich mit uns hinaufwollt, keiner treibt eine Truppe wie deine jetzt ins Zweierlager, nur um sie wieder ab- und zwei Tage später wieder aufsteigen zu lassen. Wir sind doch keine Idioten, und eure Sherpas sind es auch nicht, die schuften sich doch nicht die Seele aus dem Leib, wenn es anders auch gegangen wäre.« Mingma winkte Dawa und Gyalzen zu und deutete mit dem Kopf in irgendeine Richtung, die drei Sherpas drehten sich um und gingen aus dem Lager. Die beiden Freys hatten sich vor einer Weile in ihr Zelt verkrochen, nur Dreier gesellte sich zur Gruppe. »Es gibt eine Abmachung«, sagte der Japaner, er war klein, mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar, am Kinn wurde die dunkle Haut von einer langen Narbe durchschnitten. »Shin Kataoka«, sagte Deller und zeigte auf den Mann, der soeben geredet hatte, dann deutete er auf den anderen. »Und das ist Rodolfo Larriera, Chef der Argentinier.« Steiner nickte beiden zu, sie warteten auf seine Antwort, Steiner ließ sich Zeit. »Drei Dinge«, sagte er schließlich und hielt drei Finger in die Luft, »es sind drei Dinge, die ich euch erklären muß, dann
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werdet ihr mich verstehen.« Gygi schüttelte den Kopf. »Wir brauchen keine Erklärung, wir wollen von dir nur hören, daß du morgen wieder absteigst und im Basislager wartest, bis du an der Reihe bist, wie es alle anderen tun.« Steiner streckte ihm die flache Hand entgegen. »Erstens«, sagte er, »gibt es kein Gesetz, das uns zu einer solchen Aktion zwingen könnte, wir haben gleich viel für den Berg bezahlt wie ihr und uns damit dieselben Rechte erkauft. « Der Japaner wollte ihn unterbrechen, aber Steiner redete weiter. »Zweitens sind die Amerikaner und die Italiener gerade jetzt mit mindestens ebenso vielen Leuten zum Gipfel unterwegs, wie es unsere vier Gruppen sein werden, und drittens ist es meine verdammte Verpflichtung, jene Leute, die mir vertrauen und die mich dafür bezahlt haben, so schnell und vor allem so gefahrlos wie möglich ans Ziel zu bringen. Jeder von euch weiß, daß alles, was hier passiert, am Ende ein Lotteriespiel ist. Ich versuche nur, ein schlechtes gegen ein besseres Los auszutauschen.« »Das ist deine Wahrheit«, sagte der Argentinier, ein langer, dürrer Mann mit Brille und Halbglatze; er sah aus wie einer, der eher in einen Lehrsaal als auf diesen Berg gehörte. »Dir geht es nur um deine eigenen Interessen, du hast einen Deal mit Erfolgszwang abgeschlossen, da muß die Moral auf der Strecke bleiben, das verstehe ich sogar. Nur weigere ich mich, daß ich mit meinen Leuten den Kopf für dein Geschäft hinhalten soll.« »Du warst selbst schon oben«, sagte Deller, »du weißt so gut wie ich, daß es dort oben verdammt eng ist und daß manche Stellen nur einzeln passiert werden können. Mehr Leute heißt längere Wartezeiten, längere Wartezeiten heißt mehr Risiko. Und wenn du jetzt sagst, daß wir ohnehin schneller sind und ihr uns deshalb nicht im Weg sein könnt, dann sage ich dir, daß
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auch das scheiße ist, weil ihr uns dann eben beim Abstieg in die Quere kommt, den Hillarystep hochkrabbelt und uns den Weg versperrt.« Der Japaner schüttelte den Kopf. »Er weiß es, aber er wird es trotzdem tun, habe ich recht?« Steiner nickte. »Du bis ein verdammter Drecksack«, sagte Gygi, »ein verdammter, verantwortungsloser, egoistischer Drecksack.« Steiner zuckte die Schultern. »Wenn du in meiner Haut stecken würdest, dann würdest du wahrscheinlich dasselbe tun«, sagte er. Der Schweizer hob abwehrend die Hände. »O nein«, sagte er, »diese Ehre gebührt dir ganz allein, du bist ja auch der einzige, der auf die Abmachung gepfiffen hat. Wenn es alle anderen auch getan hätten, dann würden morgen zwölf Mannschaften von hier aus losziehen.« Dreier hatte bis jetzt nur zugehört. Am Anfang war er wütend auf Steiner gewesen, weil dieser sie nie ausreichend über die Lage informiert hatte, jetzt richtete sich seine Wut gegen die anderen, vor allem gegen Gygi, der das stärkste Team und damit überhaupt keinen Grund hatte, ihnen die Chance zu vermasseln. Der Lehrer tat ein paar Schritte und baute sich vor dem Schweizer auf. »Wo sind die anderen«, herrschte er Gygi an und ließ einen Arm durch die Luft kreisen, »sie sind nicht da! Sie hocken mit ihrer Moral noch unten im Basislager und werden es vielleicht noch lange tun. Vielleicht sind wir schon längst in Katmandu, und sie warten noch immer. Und weißt du, warum? Weil sie sich von Typen wie dir einschüchtern lassen und nicht wissen, daß dort oben Platz für alle ist, wenn das Wetter schön ist. Ich darf dich vielleicht daran erinnern, daß es im Mai ‘93 vierzig Leute an einem Tag bis zum Gipfel und heil wieder zurück geschafft haben. Es geht um das Wetter, verstehst du, nur um
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das Wetter, nicht darum, ob es fünf Leute mehr oder weniger sind!« Dreiers theatralischer Auftritt hatte den Schweizer anfangs überrascht, dann hatte er ihn amüsiert, jetzt ärgerte er sich darüber. »Einer deiner Klienten, nehme ich an«, sagte er zu Steiner, »war er schon auf der Zugspitze?« »Lassen wir doch den Unsinn«, lenkte der Japaner ein, »wir befinden uns in einer neuen Situation, und wir sollten versuchen, sie zu lösen, ohne die Emotionen ausufern zu lassen.« »Shin hat recht«, sagte der Argentinier, »hier oben ist kein Platz für Differenzen, wenn alle von uns heil zurückkommen, können wir uns immer noch im Basislager die Schädel einschlagen.« »Er ist trotzdem ein verdammter Drecksack«, knurrte Gygi.
Richter Lager zwei war im Grunde genommen noch gar nichts, keine große Leistung, höchstens ein Erlebnis, ein Test, die Möglichkeit einer ersten Standortbestimmung für Körper und Geist. Selbst durchschnittlich trainierte Begleitjournalisten hatten es erreicht, wenn sie den Mut aufgebracht hatten, durch den Khumbu zu steigen. Der Eisfall war die Treppengalerie, und das Western Cwm war die Veranda, an deren Ende sich erst das wirkliche das Tor zum Everest befand. Richter gefiel dieses Bild. Er wußte, daß sich die Veranda hinter dem Lagerplatz noch weiter ausbreitete, hatte jedoch nicht geglaubt, daß der Weg so weit sein würde. Er war nicht
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steil, und manchmal führte er über Geröll, dann tauchten im Licht seiner Stirnlampe wieder Eismauern auf, wie die Schutzwälle einer gewaltigen Burg, die hinter der Dunkelheit lag. Richter hatte sich gezwungen, etwas zu essen, bevor er losgegangen war. Diesmal hatte er nicht auf die anderen geachtet, er hatte zwar ihre Lichter gesehen und ihre Geräusche gehört und hatte auch beobachtet, daß sich einige schon vor ihm auf den Weg gemacht hatten. Das Versteckspielen war nun zu Ende, im Laufe des Tages würden sie ihn ohnehin bemerken, und er würde ihnen irgend etwas erklären müssen, er wußte nur noch nicht genau, was! Doch das war ihm egal. Als es heller wurde, wurde der Weg etwas steiler, nur ein eisiger Hügel, der jedoch das stumpfe Dahinstapfen der letzten beiden Stunden beendete und vom Körper mehr Kraft forderte. Das Tageslicht schälte eine gewaltige Mauer aus Fels und Eis aus der Nacht, Richter hatte endlich den Geburtsort des Gletschers erreicht, er stand vor dem Tor zum Berg. Es war keine Ehrfurcht, eher das Erkennen einer Gegend, die er so oft auf Bildern und in Filmen gesehen hatte. Sie alle waren in die Lhotse-Flanke eingestiegen, kein zerklüfteter, heimtückischer Eisbruch mehr, kein endloses Tal, in dem man von der Hitze gequält wurde, sondern eine Wand, endlich eine Wand. Kein Fels, nur Eis, dickes, schweres Eis, das sich wie eine weiße Glocke über das Gestein gelegt hatte. Richter stellte seinen Rucksack ab und genoß den Augenblick, indem er einen tiefen Schluck aus seiner Trinkflasche nahm, dann noch einen und noch einen. Sein Kopf war beinahe klar, und er fühlte sich viel besser als gestern. Er hatte es bis zur Lhotse-Flanke geschafft! Der Sicherungstrupp hatte ein Seil in die Wand gehängt. Er hätte auch versuchen können, sich mit den Händen daran hochzuziehen, er entschloß sich jedoch, die Steigklemme
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einzuhängen. Er würde auf diese Art Kraft sparen, jene Kraft, die er später vielleicht brauchen würde. Richter schulterte seinen Rucksack, wie nach jeder Rast schien er schwerer geworden zu sein, dann hängte er den Bügel ein und hieb die Spitzen seiner Steigeisen ins Eis. Schritt für Schritt, Zug um Zug ging es langsam höher, während der ersten zwanzig Meter stieg der Berg beinahe senkrecht hoch. Er wußte, daß er in der Lhotse-Flanke ständig der Gefahr herabstürzender Steine ausgesetzt war. Bei vielen Expeditionen war es gerade hier zu folgenschweren Unfällen gekommen. Mehr als ein halbes Dutzend Menschen hatten sie im Laufe der Besteigungsgeschichte des Mount Everest nicht überlebt. Selbst die langsamste Art der Fortbewegung war in diesem Bereich und in dieser Höhe Schwerstarbeit, vor allem, wenn man einen Sack auf dem Rücken mitschleppen mußte, dessen Gewicht einen bei jedem Schritt in die Knie zu zwingen drohte. Das Atmen fiel Richter bereits merklich schwerer als noch am Vortag. Da hatte er noch einen, zwei, manchmal auch drei Schritte pro Atemzug geschafft, jetzt waren es mindestens zwei Atemzüge pro Schritt. Natürlich war der Weg nicht so steil gewesen, aber das allein war es nicht, es war die zunehmende Höhe, die 7000 Meter, denen er entgegenkroch. Seine Finger taten in den dicken Handschuhen weh, wurden immer steifer, irgend etwas blies ihm Eiskristalle ins Gesicht, die wie Nadeln auf den Wangen stachen, wenn er das Kinn von der Brust nahm und nach oben blickte. Ein Wind, es mußte ein Wind sein, bis jetzt war die Luft am Berg beinahe stillgestanden. Wahrscheinlich war es hier immer windig. Richter hatte keine Zeit, sich länger darüber Gedanken zu machen oder gar Sorgen, es war die Fortbewegung, nur die Fortbewegung, um die er sich mit all seinen Kräften kümmern mußte. Wenn der Wind nicht blies, sah er den Himmel. Er war noch
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immer blau, etwas dunkler vielleicht als weiter unten. Er zählte die Schritte, und immer, wenn er hundert geschafft hatte, blieb er stehen, pumpte für eine Weile mehr Luft in seine Lungen und wartete dann, bis die Maschine, die seinen Körper in Bewegung halten mußte, wieder etwas ruhiger lief. Bei einer dieser absolut notwendigen Erholungspausen sah er rechts von sich ein blaues Bündel im Eis liegen. Das meiste davon war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, an einigen Stellen hatte sie der Wind jedoch weggeblasen, und Richter wußte sofort, daß es sich um menschliche Kleidung handelte, auch ein Bergschuh ragte klar erkennbar aus dem staubigen Weiß. Ein Toter, und sie hatten ihn einfach hier liegengelassen. Er hatte erwartet, daß es Leichen geben würde, steifgefroren, von Kälte, Eis und Zeit mumifiziert, namenlos, weil niemand mehr da war, sie zu identifizieren. Jetzt, wo der Rest eines Menschen jedoch nur wenige Meter von ihm entfernt einfach so dalag, weil er für kurze Zeit vom selben Wind freigeweht worden war, der ihn später wieder zudecken würde, war Richter von der Endgültigkeit des Todes geschockt. Menschliches Leben war hier oben viel weniger wert; wenn es vom Berg ausgelöscht worden war, wurde der Körper zur Wegwerfware, Bergmüll, wie die Sauerstoffflaschen und die Zeltreste. Leichen waren der Preis, den dieser Berg kassierte, immer schon kassiert hatte. Richter warf einen letzten Blick auf das blaßblaue Bündel und dachte an einen grausamen, heidnischen Gott, dem man Menschen opferte, um ihn gnädig zu stimmen. Für die Menschen, die in seiner Umgebung lebten, war der Everest ein Gott, für die Opfergaben sorgten die Fremden. Nicht weil sie ihn gnädig stimmen wollten, sondern weil er zum ultimativen Prüfstein ihres Ehrgeizes geworden war, auch für ihn. Richter war noch immer bereit, den höchsten Preis zu bezahlen, doch vorher würde er mit jeder Faser seines Körpers um den Erfolg
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kämpfen, der ihm als einziges Ziel geblieben war. Es ging nur noch aufwärts, alles, was unter ihm lag, zählte nicht mehr. Die Schritte wurden mühsamer und schmerzvoller, doch jeder einzelne brachte ihn näher an den Gipfel heran. Er verfluchte das Gewicht des Rucksacks und wünschte sich nichts mehr, als daß er ihn abwerfen und mit der Leichtigkeit eines Vogels hochschweben konnte, er verfluchte seine Finger, die immer steifer und gefühlloser wurden, er verfluchte seine Beine, die den Rest des Körpers nur noch schwankend und immer mühsamer höherschleppten, und er verfluchte seine Lungen, die nie mehr richtig voll zu werden schienen, obwohl er ständig Unmengen von kalter Luft durch den schmerzenden Hals saugte. »Mir wurde schnell klar, daß es bei der Besteigung des Everest in erster Linie darum ging, wieviel Schmerz man auszuhalten vermochte«, hatte Krakauer geschrieben. Richter hatte nie an der Richtigkeit dieses Satzes gezweifelt, er hatte bisher nur keine Vorstellung davon gehabt, wie sich diese Schmerzen anfühlen würden. Jetzt wußte er es, und er wußte auch, daß es nur der Beginn war und daß weiter oben alles noch viel schlimmer sein würde.
Die Expedition Der Preis, den Steiner für das Durchbrechen der Expeditionsordnung zahlen mußte, war das Versprechen, an allen Tagen als letzte der vier Gipfelgruppen aufzubrechen. Er hatte es am Ende der immer ruhiger gewordenen Verhandlung mit den anderen Expeditionsleitern gerne gegeben, weil es ihm, zumindest bis zum Südsattel, egal war und weil er sich damit
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die Garantie eingehandelt hatte, von den anderen als zusätzliches Team akzeptiert zu werden. Der Gipfeltag selbst war eine andere Story, bis dahin blieben ihm ja noch mindestens zwei Tage, während deren sich einiges ändern konnte. Im Augenblick hatte er ganz andere Sorgen: Er mußte Hans Frey die Lhotse-Flanke hochbekommen. Sie hatten das Ende des Fixseiles langsam, aber ohne größere Schwierigkeiten erreicht. Die anderen waren vorausgegangen, hatten hier jedoch, wie von Steiner befohlen, auf ihn und Frey gewartet. Im Normalfall verwendeten die Schwächeren erst ab Lager drei Flaschensauerstoff, er hatte es seinen Leuten jedoch freigestellt, die Masken bereits jetzt aufzusetzen. Es stand außer Frage, daß Hans Frey, der jetzt schon schlaff und müde wirkte und das Geschehen wortlos, fast apathisch mitmachte, ohne die zusätzliche Luftspritze nicht auskommen würde. Dreier könnte es ohne Flasche schaffen, bei Erika Frey wäre es Verschwendung, sie verkraftete die Höhe mindestens genauso gut wie Steiner selbst. Steiner machte den beiden den Vorschlag, die Masken zunächst noch nicht aufzusetzen und erst dann zum Sauerstoff zu greifen, wenn es wirklich nötig sein würde. Erika Frey erklärte sich sofort dazu bereit, der Lehrer winkte ab. »Wenn ich das Zeug schon bis hierher mitgeschleppt habe und es noch weiter schleppen muß, dann will ich wenigstens etwas davon haben. Je mehr Kraft ich hier unten spare, desto mehr bleibt mir dann oben, ist doch völlig klar, oder?« Sie hatten das Anlegen und den Gebrauch der Masken zwar schon zu Hause und auch im Basislager mehrmals geübt, jetzt erklärte Steiner es allen noch einmal. Es war die simpelste Sache der Welt, doch dort oben, wenn das Gehirn nicht mehr richtig funktioniert, war es
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lebenswichtig zu wissen, in welche Richtung man den Regler drehen mußte, um mehr oder weniger Sauerstoff in die Maske zu bekommen. Deshalb durfte die Handhabung des Reglers nie zur Denkaufgabe werden, sondern mußte eine automatische Handlung sein. Der Sauerstoff hatte Frey wieder etwas munterer gemacht. Steiner ließ den Lehrer und Erika Frey in Begleitung von Dawa und Gyalzen losziehen und machte sich dann mit Mingma und Hans Frey auf den Weg nach oben. Sie nahmen den Münchner in die Mitte, um ihn von beiden Richtungen unterstützen zu können, das war zwar anfangs nicht nötig, nach einer Stunde wurden seine Bewegungen allerdings langsamer, die Arme, die den Aufstiegsbügel am Seil hochschieben und den Körper dann nachziehen sollten, wurden immer kraftloser, manchmal knickten seine Beine ein, und er kniete hilflos im Eis, bis Steiner von hinten anschob und Mingma ihn von oben weiterzog. Irgendwie ging es, irgendwie schafften sie es immer, ein paar Höhenmeter zu gewinnen, dann noch ein paar, dann rasteten sie, und am Ende jeder Rast hatte sich Frey so weit erholt, daß er den beiden anderen während der nächsten Viertelstunde die Arbeit beträchtlich erleichtern konnte. Trotzdem quälten sich Steiner und der Sirdar bis zur Erschöpfung. Plötzlich prasselte eine kleine Lawine aus Gesteins- und Eisbrocken auf sie zu. Keine großen Brocken. Doch groß genug in ihrer Unachtsamkeit. Einer traf Mingma mit voller Wucht an der linken Schulter. Der Sirdar stieß die Luft, die er noch in den Lungen hatte, mit einem lauten Schrei heraus, klammerte sich mit letzter Kraft mit der gesunden rechten Hand ans Seil und ließ sich gegen den Hang fallen. »Scheiße«, brüllte Steiner, Frey sank vor ihm in die Knie. Der Sirdar atmete schwer, versuchte jedoch ein Lächeln, als sich Steiner bis zu ihm hochgearbeitet hatte. »Es ist die Schulter«, sagte er, »verdammter Stein, hat irgend
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etwas gebrochen.« Steiner war hilflos, er hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte. In seiner Verwirrung griff er nach Mingmas Schulter und berührte sie, als wollte er sich vergewissern, daß das, was der Sherpa gesagt hatte, auch tatsächlich stimmte. Mingma schrie vor Schmerz auf, und Steiners Arm zuckte zurück, als hätte er soeben in ätzende Säure gegriffen. Sie lagen eine Weile da, Frey hockte noch immer in derselben Stellung unter ihnen. »Was sollen wir jetzt tun?« fragte Steiner. Der Sherpa zog sich stöhnend mit dem gesunden Arm am Seil hoch, bis er wieder auf den Beinen stand. »Alles geht weiter«, sagte er, »ihr müßt weitergehen, es geht auch ohne mich.« Steiner deutete auf Frey. »Ich, allein, mit dem da?« Mingma nickte. »Ich schaffe es allein bis zum Lager, mach dir deshalb keine Sorgen.« Steiner hatte sich keine Sorgen um Mingma gemacht, nur um Frey und um sich selbst und um die ganze Expedition. Mit Mingma war es gut gelaufen, sie hätten Frey hochbekommen, gemeinsam. Scheiß Stein. »Es ist nicht mehr allzu weit bis zum Lager«, stöhnte der Sherpa, das Reden tat ihm weh. Steiner wußte, daß er keine andere Chance hatte, Mingma war out, die Last war jetzt noch größer geworden. Er hatte nur zwei Möglichkeiten, und eine davon war aufgeben, alles abblasen, als Verlierer zurückkehren. »Okay«, sagte er und nickte, »ich mache weiter.« »Gut«, antwortete der Sirdar und deutete auf seinen Rucksack. »Nimm das Funkgerät heraus, ich werde es jetzt wohl nicht mehr brauchen.«
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Richter Lager drei stand auf blankem Eis in der Lhotse-Flanke. Es war eine steile, weiße, glitzernde Wüste mit kleinen Hügeln, die der gleißenden Sonne die Chance gaben, auch ein paar Schatten in diese unwirkliche Welt zu werfen. Die Zelte sahen aus der Entfernung aus wie bunte Glasperlen, die eine Riesenhand scheinbar wahllos hier verstreut hatte. Richter bemühte sich, seine Schritte zu beschleunigen. Es gelang ihm nicht. Seine Beine stapften stumpf weiter, zwei Atemzüge, ein Schritt, zwei Atemzüge, ein Schritt, bis hundert, dann Rast. Der Befehl, den das Gehirn an die Beine gab, kam nie dort an. Die Kopfschmerzen waren längst wieder da, die Kehle schmerzte, war ausgetrocknet. Er hatte schon lange nicht mehr getrunken. 7300 Meter, das war doch schon was, 1300 Meter, und er lebte noch, konnte sogar noch einigermaßen klar denken, wenn nur das lästige Klopfen im Kopf nicht gewesen wäre. Mitten in der Lhotse-Flanke, 1500 Meter noch, eine Kleinigkeit, 1500 Höhenmeter hatte er daheim in ein paar Stunden geschafft, dort, wo noch der Almenrausch wuchs, wo man mit Glück ein paar Gemsen sehen konnte. Hier gab es keinen Almenrausch und auch keine Gemsen. Nur Beine, die dem Gehirn nicht mehr folgten, und Durst, wahnsinnigen Durst. Er fand einen einigermaßen flachen Platz und warf seinen Rucksack ab. Die Schultern waren gefühllos und die Finger taten ihm immer noch weh. Eine der Flaschen war noch zu einem Viertel voll, er trank sie in einem Zug aus und schwemmte damit zwei von Doktor Lees Pillen hinunter. Die Zelte des nächsten Lagers waren rot, weiter oben standen einige gelbe. Er sah Menschen, schwarze Vierecke mit kleinen Kugeln drauf und langen Beinen, die lange Schatten warfen und wie
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Stelzen aussahen. Die Menschen bewegten sich auf die Zelte zu, gingen von den Zelten weg, standen einfach nur so da, im Eis. Richter kramte den Kocher aus dem Rucksack, stellte den Aluminiumtopf drauf, warf ein paar Eisbrocken hinein und stopfte die Zwischenräume mit Schnee aus, das Feuerzeug wollte nicht, dann funktionierte es doch, die Flammen waren hellblau, kaum sichtbar, es würde unendlich lange dauern, bis er wieder zu trinken hatte. Dann stellte er das Zelt auf, das Haus, das er mitgetragen hatte. Albert Richter, die Schnecke, hat immer sein Haus mit. Auch hier, auf 7300 Metern, 1500 Meter unter dem Gipfel des Mount Everest. Die Flammen züngelten, leckten nach dem Boden des Topfes, unablässig, gleichmäßig, erreichten ihn jedoch nie, nur die Hitze, die sie geboren hatte, strömte höher, irgendwann würde sie Eis und Schnee zum Schmelzen bringen, bald, hoffentlich bald. Richter schaute den kleinen Zungen zu, begann, sie zu zählen, weil er wissen wollte, ob sein Gehirn noch funktionierte. Die Zahlen waren da, acht, neun, zehn, fünfzehn, zwanzig, doch er kam nie zu einem Ende, weil er zum Schluß nicht mehr wußte, bei welcher Flamme er zu zählen begonnen hatte, keine wollte die Flamme Nummer eins sein, widerspenstige kleine Dinger. Langsam, ganz langsam wurden die Eisbrocken kleiner, der Schnee formte sich zu Wasser zurück. Richter hielt das Warten nicht mehr länger aus, er nahm den Topf vom Feuer und schüttete den flüssig gewordenen Inhalt in seinen Becher, er wurde nicht einmal halb voll. Richter trank, ganz langsam, in kleinen Schlucken, der Tag war noch lang, noch sehr lang, und er hatte viel Zeit, um mehr Wasser zu machen, viel mehr Wasser, es war alles, was er
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heute noch zu tun hatte. Wasser machen und vielleicht etwas essen. Er begann, sich besser zu fühlen, wahrscheinlich waren es die Pillen, vielleicht auch nur der Körper, der ihn jetzt, wo er nicht mehr gequält wurde, mit dem Wegfallen der meisten Schmerzen belohnte. Der Kopf dröhnte noch, auch der Hals tat ihm weh, aber die Gedanken waren wieder klarer geworden. 7300 Meter, Junge, du bist jetzt auf 7300 Metern! Er blickte zurück, nach unten, dorthin, wo er hergekommen war, und er sah vier Punkte, die langsam näher kamen. Er schaute ihnen eine Weile zu und war froh, daß er es schon geschafft hatte, dann goß er das neue Wasser in den Becher und füllte den Topf wieder mit Schnee. Er sollte etwas essen, hatte aber keine Lust dazu. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ihn die Menschen erreicht hatten. Vorn ging ein Sherpa, dann ein Mann, der eine Sauerstoffmaske trug, dann folgte eine Frau ohne Maske, der letzte Mann war wieder ein Sherpa. Alle vier waren müde, auch die Sherpas, die im Gegensatz zu den beiden anderen schwere Rucksäcke trugen, kurze Schritte, nach jedem eine Pause, die zwei oder drei Atemzüge lang dauerte. Die beiden Sherpas grüßten kurz, blieben jedoch nicht stehen, der Maskenmann grüßte nicht einmal, die Frau lächelte ihm zu. Vier Roboter, die auf langsames Gehen programmiert waren, eckige, schwerfällige Bewegungen, gleichmäßig und zackig, wie Soldaten, bei einer Parade in extremer Zeitlupe gefilmt. Richters Finger waren noch immer steif und kraftlos, es war jetzt jedoch nicht mehr die Kälte, es waren nur noch die Auswirkungen der Arbeit am Seil. Die Schultern und die Beine taten weh. Er war froh, daß er mit den Füßen, vor allem mit Fersen und Zehen keine Probleme hatte. Gute Schuhe, er freute
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sich, daß seine Schuhe so gut waren. Richter hatte Bilder von abgefrorenen Zehen gesehen, jämmerliche, pechschwarze, nutzlos gewordene Stummel, auch Reinhold Messner hatte einige seiner Zehen durch Erfrierungen verloren. Auch viele andere von den Alten hatten nur noch Stummel in den Schuhen, ihrem Balancegefühl schien es jedoch kaum geschadet zu haben. Höhenbergsteigen war eine Sucht, die auch ein paar abgefrorene Zehen nicht stoppen konnten, irgendwie waren sie vielleicht sogar so etwas ähnliches wie Orden, die man sich erst verdienen mußte. Damals. Der Biß der Kälte war auch jetzt noch da, heute war jedoch das Schuhwerk besser, bestand nicht mehr aus Leder, das die Nässe aufsaugte, sondern aus neuen, in den besten Labors entwickelten Materialien. Die Ausrüstung hatte sich im letzten Jahrzehnt gravierend weiterentwickelt, ersparte den Menschen, die sie am Berg trugen, einiges von den Härten, die früher einfach dazugehört hatten. Richter fragte sich, ob mit der steigenden Qualität der Ausrüstung jene der Menschen, die sie verwendeten, gesunken war. Er hatte keine Antwort, weil er das Damals nicht selbst erlebt hatte. Das jetzt war hart genug, auch ohne gefrorene Zehen. Richter wußte, daß das Feuer hier, in der dünner gewordenen Höhenluft, viel länger brauchte, um den Schnee zu schmelzen, als unten im Tal, er hatte jedoch nicht geglaubt, daß es so lange dauern würde. Als er genug getrunken hatte und beide Flaschen gefüllt waren, wartete er weiter neben dem Kocher, weil er sich noch eine Suppe kochen wollte. Der Nachmittag war zur Hälfte vorbei, als er die beiden Gestalten bemerkte, die auf ihn zutorkelten. Er war so gesessen, daß er ihnen bis jetzt den Rücken zugekehrt hatte, er hatte nie mehr nach unten gesehen und sie auch nicht gehört.
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Der erste konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, er trug keine Maske, und Richter konnte das verzerrte Gesicht sehen, den weit aufgerissenen Mund, der alles, was ihn an Luft umgab, zu fressen versuchte. Der zweite klammerte sich mit beiden Händen am ersten fest und ließ sich von diesem ziehen, er hatte kein Gesicht, nur eine Maske, und darüber die runden, schwarzen Löcher der Gletscherbrille. Als beide stürzten und bewegungslos auf dem Eis liegenblieben, mühte sich Richter auf seine Beine, das Aufstehen fiel ihm schwer, er glaubte, seine Gelenke krachen zu hören, und spürte, wie sich jeder Muskel dagegen wehrte. Die beiden waren kaum zwanzig Meter von ihm entfernt, und als er sie erreicht hatte, hörte er, daß der Mann, der keine Maske trug, mit dem anderen redete. »Wir haben’s geschafft, Hans«, stöhnte die Stimme, »dort vorn ist das Lager, es sind nur noch ein paar Schritte!« Aus der Maske des anderen kam nur schweres Schnaufen. Erst als Richter neben ihm niederkniete, bemerkte der Mann, der soeben geredet hatte, daß sie nicht allein waren. Er schüttelte die Hände des zweiten, die sich noch immer an ihn klammerten, ab und richtete sich mühsam halb auf. Der Gestürzte hatte deutsch gesprochen, und Richter redete ihn auf deutsch an. »Ich helfe euch«, sagte er und streckte dem Mann seine Hand entgegen. »Mein Sirdar«, krächzte dieser und versuchte selbst aufzustehen, dann nahm er jedoch die angebotene Hand und zog sich an ihr hoch. Als er wieder auf den Beinen stand, hatte er vergessen, was er sagen wollte. Die Situation, in der ihn Richter gefunden hatte, war ihm jetzt sichtlich peinlich. Er räusperte sich, der Mann mit der Maske blieb weiterhin im Schnee liegen. »Ronny Steiner.«
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Richter nickte. »Deutsche Expedition«, sagte er, »du warst schon mit Berner auf dem Gipfel.« Steiner starrte ihn an, einen hageren, bärtigen Mann, der deutsch sprach, keiner außer ihnen und den Schweizern sprach hier deutsch, und an Gespenster glaubte er nicht. Er war erschöpft, ausgelaugt, doch der Mann, der vor ihm stand, war real, greifbar, keine Halluzination. »Dein Sirdar«, sagte Richter, »was ist mit ihm?« Steiner schüttelte sich wie ein Hund, der lästige Regentropfen loswerden wollte. Sein Atem ging schwer, er kämpfte noch immer um Luft, doch war er stark und hatte seinen Körper jetzt, wo sich kein anderer an ihn klammerte, wieder unter Kontrolle. »Steinschlag«, sagte er, so rasch er konnte, und zeigte nach unten, »hat ihm in der Flanke die Schulter gebrochen, ist abgestiegen«, dann kam er zu dem, was ihn im Moment viel mehr interessierte. »Und wer bist du?« fragte er. Richter stellte sich vor, nur den Namen und die Stadt, aus der er kam. »Nie gehört«, sagte Steiner. Hans Frey hatte sich in der Zwischenzeit aufgesetzt und versuchte mit langsamen, unbeholfenen Bewegungen, die Maske vom Gesicht zu ziehen. Richter hätte nichts weiter sagen können, dann wären Fragen gekommen, er hätte auch lügen können, doch das war ihm zu mühsam. »Ich will auf den Gipfel!« Steiner lächelte zum ersten Mal. »Ein Illegaler«, sagte er. Richter nickte. »Völlig illegal!« Sie halfen Frey auf die Beine. Der Münchner bestand nur aus
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Keuchen und aus einem weit aufgerissenen Mund, sie stützten ihn an beiden Seiten und führten ihn zu Richters Lagerplatz. Der Schnee im Topf war geschmolzen, das Wasser war warm, doch es dampfte nicht. Richter schüttete etwas von seinem Elektrolytpulver hinein und füllte den Becher. Frey umklammerte ihn mit beiden Händen und schlürfte so lange daran, bis er leer war, dann kam Steiner an die Reihe. Richter beobachtete die beiden. Der Mann, der die Maske getragen hatte und es trotz der Sauerstoffspritze kaum bis hierher geschafft hatte, war fertig, völlig geschafft, der andere war ein Kraftbündel, das sich fast bis zur völligen Erschöpfung gequält hatte und sich jetzt überraschend schnell zu erholen schien. Als Steiner ausgetrunken hatte, zeigte er nach oben, dort, wo die anderen Zelte standen. »Dort drüben ist unser Lager«, sagte er, »ich erkenne es an den Zelten.« Richter schaute ihn erstaunt an. »Du warst selbst noch nicht hier?« Steiner grinste und zeigte auf Frey, der teilnahmslos auf seinem Rucksack hockte und stumm vor sich hin starrte. »Das ist Hans Frey, Besitzer der Ausrüsterfirma Freyheit, du kennst sie vielleicht, Superläden. Hans ist viel zäher, als alle glauben. Zwar langsam, dafür unheimlich zäh, dasselbe Spiel hat er schon im Khumbu gespielt, und jetzt ist er hier, weil er einen Willen hat, der Berge versetzen kann!« Steiner runzelte die Stirn, dann hob er den Zeigefinger und grinste wieder. »Hast du das gehört? Phantastischer Vergleich, ist mir gerade eingefallen, könnte aber in dieser Situation nicht passender sein. Hans Frey besitzt einen Willen, der Berge versetzen kann!«
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Wenn Frey Steiner gehört hatte, dann ignorierte er jetzt dessen Worte, wahrscheinlich hatte er gar nicht mitbekommen, daß über ihn geredet wurde. Richter konnte nicht einschätzen, ob es unerschütterlicher, realitätsferner Zweckoptimismus war, der Steiner trotz dessen jämmerlichen Zustandes noch immer an Frey glauben ließ, oder ob es andere Gründe dafür gab, daß er ihn hierher geschleppt hatte, er wußte nur, daß es dieser Mann nie und nimmer bis zum Gipfel schaffen konnte. Er sagte nichts, hier mußte jeder selbst wissen, was er tat. Sie redeten noch eine Weile miteinander, und Steiner war äußerst beeindruckt, daß es Richter als Höhen-Greenhorn bis hierher fast problemlos ohne Sauerstoffhilfe geschafft hatte. »Wenn du mir im Basislager gesagt hättest, daß du als sauerstoffloser Kamikaze sogar den Gipfel erreichen willst, hätte ich dich für verrückt erklärt«, sagte Steiner, »jetzt glaube ich fast, daß du es schaffen könntest.« Der Deutsche hatte, ohne die Hintergründe zu kennen, das richtige Wort gewählt. Richter war ein Kamikaze. War er noch immer ein Kamikaze? Der Selbstmörder, der die Sache über sein eigenes Leben stellte? Zum ersten Mal, seit Richter sich auf den Weg zum Gipfel gemacht hatte, dachte er wieder an Nancy. Sie hatte ihm unten das Alleinsein genommen, die Düsternis seines immer wiederkehrenden Selbstmitleids durchbrochen, das nur dann erträglich gewesen war, wenn der Erfolg am Berg, die Erfüllung seines Lebenstraums, am Ende gestanden hatte. Richter sah Steiner an und sah einen unerschütterlichen Optimisten, der die Endgültigkeit des Unmöglichen nicht zu akzeptieren schien. Liegt der wahre Mut nicht im Weitermachen? Ist der Erfolg, der ultimative Sieg über sich selbst, nicht Ende, sondern Anfang?
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»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Steiner, »ich steige zu unserem Lager und hole Dawa und Gyalzen, damit sie mir helfen, Hans hochzuschaffen, oder ich erspare mir den Weg, und du hilfst mir dabei.« Frey hob seinen Kopf und schaffte eine abwehrende Handbewegung. »Ich gehe selbst«, lallte er. »Okay«, sagte Steiner und zuckte die Schultern, »dann versuch aufzustehen.« Frey stöhnte und ächzte, die Sauerstoffmaske baumelte an seinem Hals, er griff danach und setzte sie auf. Steiner stellte sich neben ihn und drehte den Regler auf, den er zuvor abgedreht hatte. Richter stand daneben und schaute zu. Es war ein mühsamer Kampf, doch Frey gewann ihn. Er stellte seinen Körper auf die dazugehörenden Beine und begann zu gehen. »Ich hab’s ja gesagt«, grinste Steiner, »der Mann ist ein zäher Hund.« Dann schulterte er seinen Rucksack und folgte Frey. Im Weggehen drehte er sich nochmals um. »Wenn du willst, kannst du mitkommen. Du bist herzlich zum Abendessen eingeladen.« Richter überlegte nicht lange, er drehte den Kocher ab, auf dem immer noch der Topf stand, mit neuem Schnee gefüllt, verstaute seine Sachen im Zelt und folgte den beiden. Er war froh, nicht allein mit dem Berg und seinen Gedanken sein zu müssen.
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Die Expedition Erika Frey sah sie kommen, drei Männer, einer davon war Hans. Sie erkannte ihn sofort. Er ging zwischen den beiden anderen, schwankte wie ein Betrunkener, hielt sich jedoch auf den Beinen, und Erika war in diesem Augenblick sogar stolz auf ihn. Sie wußte, daß es Irrsinn war, daß Hans hier oben nichts verloren hatte, doch sie wußte auch, daß es nichts gab, das ihn davon hätte abhalten können, vor allen Dingen nicht sie. Steiner vielleicht, Steiner hätte es ihm verbieten müssen, und der hatte es nicht getan. Sie sah Steiner, er ging vorn, winkte ihnen zu, und sie sah den anderen Mann, aber es war nicht Mingma, sie hatte das Gesicht noch nie gesehen. Wo war der Sirdar? Und wer war der Fremde? Erika Frey war körperliche Müdigkeit gewöhnt, früher hatte sie oft den Körper bis zu dem Punkt gebracht, wo es einfach nicht mehr weiterging. Sie war auch jetzt erschöpft, doch war es eine ganz andere Art der Erschöpfung. Muskeln und Glieder waren ausgequetscht wie eine Zitrone, das hatte sie auch früher schon erlebt, da hatte es nie lange gedauert, bis der Saft wieder zurückgeströmt war, jetzt blieben sie schlaff und trocken, nichts sickerte nach. Früher war der Geist wachgeblieben, hatte ihr Mut zugesprochen, sie aufgerichtet, die Erholung beschleunigt, jetzt war auch der Geist ausgelaugt, die Gedanken flossen zu langsam dahin, ließen sich nur schwer ordnen. Erika Frey war müde, doch selbst ihre langsamen Gedanken sagten ihr, daß die Reserven reichen würden, sie auf diesem Berg noch ein Stück höherzutragen. Nichts war von nun an leicht, alles war ungemein schwierig. Doch sie hatte keine Angst davor, sie wollte nur nicht sterben, nicht für einen Berg.
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Der Lehrer fühlte sich beinahe wohl. Das Gehen mit der Maske hatte ihn anfangs eingeengt, es war, als hätte jemand eine Glaskuppel über ihn gestürzt und seine eigene Realität von der Wirklichkeit, die vor der Maske war, getrennt. Die Außenwelt war wie ein Film vor ihm abgelaufen. Dann hatte er sich jedoch an die neue Situation gewöhnt, eine Atemtechnik entwickelt, die einigermaßen mit seinem Schrittrhythmus mithalten konnte. Er hatte während des gesamten Aufstiegs zum Lager nie wirklich ans Limit gehen müssen, er hatte zwar keine Kräfte gespart, aber auch nicht alle verbraucht. Steiner stapfte wie ein Sieger in das Lager. Er warf seinen Rucksack ab und zeigte mit einer Geste des Triumphs auf Hans Frey, der nach dem letzten Schritt kraftlos in den Schnee sackte. »Wir sind hier«, schrie der Expeditionsleiter, »alle Mitglieder auf Lager drei!« Es klang wie ein Siegesschrei. Erika Frey kniete neben ihrem Mann nieder und zog seinen Kopf mit beiden Händen hoch. Sie nahm ihm Maske und Gletscherbrille ab und blickte in stumpfe Augen, die sie erst nach einigen Sekunden erkannten. »Erika«, flüsterte er, die Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. »Du mußt etwas trinken, essen«, sagte sie. Seine Hilflosigkeit tat ihr weh, sein stilles Leiden noch mehr. Wie sehr wünschte sie sich jetzt den alten Hans Frey, den ungeduldigen Dränger, den rücksichtslosen Vorwärtsstreber, den gnadenlosen Chef und Geschäftsmann, der seinen Ärger herausbrüllte, egal, ob er damit Gefühle verletzte oder nicht. Dieses stille, duldende Bündel Mensch war nicht mehr ihr Hans! Sie streichelte ihn sanft, dann zog sie ihren Anorak aus und legte ihn als Kissen unter seinen Kopf. Sie stand auf und packte Steiner, der ihr den Rücken
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zuwandte, an der Schulter. Der Expeditionsleiter drehte sich langsam um. »Er muß sofort hinunter«, sagte Erika Frey ruhig. Steiner sagte nichts, er starrte sie nur an. Sie sah den Fremden, der neben ihm stand, der Fremde nickte ihr einen Gruß zu. Sie hatte jetzt keine Zeit zu fragen, wer er sei. »Hast du gehört«, drängte sie, »mein Mann kann nicht mehr, er muß sofort hinunter!« Dreier stand neben dem Fremden, auch die beiden Sherpas – fünf Männer, und keiner schien sie gehört zu haben. Erika Frey wartete. Steiner lächelte jetzt, so wie man einem Kind zulächelt, das die Welt der Erwachsenen nicht versteht. »Er ist hier, und wir haben genügend Sauerstoff. Es wird ihm bald wieder besser gehen, dein Hans ist ein zäher Bursche, er hat das immer wieder bewiesen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß du schon hier oben warst, und ich weiß, daß ich keine Ahnung vom Bergsteigen habe, aber ich kenne Hans besser als ihr, und ich weiß, daß ihn der Berg umbringt, wenn nicht bald etwas passiert.« Steiner legte seine Hand auf ihre Schulter. »Er wird etwas trinken, dann wird er etwas essen, dann bekommt er seine Medizin, dann seine Sauerstoffflasche, und dann wird er schlafen wie ein Baby. Mach dir keine Sorgen, bis morgen früh ist alles wieder in Ordnung.« Erika Frey blickte ihn fassungslos an. »Du glaubst doch nicht im Ernst, daß er morgen weitergehen kann!« Dreier stöhnte und schüttelte den Kopf. »Ich habe es kommen sehen, verdammt noch mal, ich hab’s kommen sehen, jetzt fängt die Scheiße an!« Steiner räusperte sich. »Die Scheiße hat schon weiter unten angefangen«, sagte er,
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»Mingma hat es in der Flanke erwischt, Steinschlag, er ist abgestiegen.« Er erzählte ihnen alles, auch, wer der Fremde war. Den Sherpas sagte er, Mingma hätte ihm aufgetragen, ihnen mitzuteilen, daß sich an ihrer Aufgabe nichts geändert habe und daß Dawa von nun an der Sirdar sei, der die Sahibs beim Gipfelgang unterstützen müsse. Die Sherpas hörten stumm zu, wenn sie von der Nachricht geschockt waren, dann konnte man es in ihren Gesichtern nicht lesen. Dawa übernahm sofort die Rolle des Leiters. Er deutete auf Hans Frey, der noch immer im Schnee lag und auf seinem Anorak-Kissen ins Leere starrte. »Dieser Sahib«, sagte er und schüttelte den Kopf, »keine Chance!« »Okay«, gab Steiner nun zu und nickte, »okay, dann bleibt er hier, bis wir zurückkommen, aber nur, wenn er es selbst so will.« »Da gibt’s nichts mehr zu wollen«, sagte Dreier, »schau ihn dir doch an, der Kerl ist fertig, vollkommen fertig.« Erika Frey drehte sich um und ging zu ihrem Mann zurück, er brauchte sie mehr als dieser Haufen, den der Berg jetzt schon verrückt gemacht hatte. Sie spürte die Ohnmacht des einzelnen, der sich gegen die Masse nicht durchsetzen kann. Die wollte nach oben, nur nach oben, auch Hans hatte zu ihnen gehört, gehörte wahrscheinlich noch immer dazu. Mit Erikas Hilfe schaffte er es, sich aufzusetzen. Es gab Tee, und sie half ihm dabei, etwas davon zu trinken. »Ich werde mit dir morgen absteigen«, sagte sie. Er hob den Kopf und suchte ihre Augen. »O nein«, flüsterte er, »niemals, das darfst du niemals tun, dann war alles vergebens.« »Du bist krank, Hans«, drängte sie, »du weißt, daß du krank bist, und du weißt auch, daß es nicht mehr weitergehen kann, du mußt ins Basislager, zum amerikanischen Doktor, und dann
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hinaus, nach Katmandu, ins Krankenhaus.« Frey schaffte ein Grinsen. »Der hat mich doch schon einmal untersucht, nach dem Khumbu, keine Höhenkrankheit, hat er gesagt.« Sie preßte beide Hände vor ihr Gesicht und machte alles schwarz, dämpfte die Außenwelt ab, versuchte, vernünftige Gedanken zu sammeln. War sie wirklich die einzige, die die Dinge so sehen konnte, wie sie wirklich waren, die einzige, die dieser Berg noch nicht verrückt gemacht hatte? Diese Männer hatten wahrscheinlich noch nie wirklich verloren, vielleicht war es nur die Angst vor der Niederlage, die sie immer höher trieb? Sie nahm die Hände vom Gesicht. Hans lag noch immer da und schaute sie an. Sie nahm seine Hand und streichelte sie. »Sie müssen mir helfen, dich ins Basislager zu bringen«, sagte sie leise. Sie spürte, wie sich seine Finger verkrampften, er wollte ihre Hand drücken, es blieb jedoch beim Versuch. »Nein«, sagte er, so laut er konnte, »ihr müßt weitermachen, du mußt weitermachen, du wirst es schaffen, ich weiß es, du wirst den Gipfel schaffen, einer von uns muß dort oben stehen!« »Warum?« fragte sie. Seine Hand zuckte wieder, sie spürte seine Finger, diesmal drückten sie zu. »Weil wir es denen zeigen müssen«, sagte er. »Wem müssen wir es zeigen?« »Allen! Allen, denen wir gesagt haben, daß wir es schaffen werden, denen, die nur darauf warten, daß wir versagen. Wir sind Sieger, verstehst du, nur Sieger kommen in dieser Welt weiter, die Verlierer bleiben auf der Strecke.« Er hatte zu lange geredet, es hatte ihn müde gemacht, und er legte den Kopf wieder zurück auf den Anorak. Alles war lächerlich, alles war plötzlich so lächerlich und so
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banal. Erika Frey lachte auf, weil alles so lächerlich war. Da lag ein Mann, der bereit war zu leiden, wahrscheinlich sogar zu sterben, weil er ein zu großes Versprechen zu Hause zurückgelassen hatte. Mit ihr als Gipfelsiegerin konnte er es wenigstens zur Hälfte einlösen, es würde keinen Hohn geben, nur eine Heldin, seine Heldin. Für Erika Frey sahen Helden anders aus. Männer oder Frauen, die ihr Leben und das Leben anderer riskierten, um auf einen Berg zu steigen, waren keine Helden. Helden waren Menschen, die sich in einen reißenden Gebirgsbach oder in ein brennendes Haus stürzten, um ein Kind zu retten, Helden waren Menschen, die Kriege verhinderten und in Krisengebieten arbeiteten. »Warum lachst du?« fragte er. »Ich lache nicht«, antwortete sie. Es gab wirklich nichts zu lachen, eigentlich hätte sie weinen müssen.
Richter Am späten Nachmittag zogen Wolken über ihnen auf, keine dicken, weißen Bündel, es waren eher langgezogene Nebelbänke, die der Wind über den dunkler werdenden Himmel jagte. Es wurde klirrend kalt. »Morgen um diese Zeit«, sagte Steiner und zeigte mit der Hand nach oben, »waren die anderen schon am Gipfel!« Richter hatte mitgeholfen, den Mann in ein Zelt zu tragen, die Frau war bei ihm geblieben. Jetzt hockte er mit Steiner und dem anderen, der sich als Max vorgestellt hatte, vor einem anderen Zelt und löffelte die Suppe, die die Sherpas zubereitet
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hatten. Sie schmeckte ihm nicht, doch sie war warm, und er wußte, daß er etwas in den Magen bekommen mußte, um einigermaßen bei Kräften bleiben zu können. Zwei Tage noch, nur noch zwei Tage. »Was wirst du jetzt tun?« fragte Max und deutete mit dem Kinn in die Richtung, in der Freys Zelt stand. Steiner zog den Löffel aus dem Mund und musterte ihn, als ob er noch nie einen Löffel gesehen hätte. »Wir werden ihn hier zurücklassen«, sagte er langsam, »natürlich mit genügend Sauerstoff, und Gyalzen wird wohl bei ihm bleiben müssen.« Richter hatte von solchen wie Frey gelesen, sie hatten zu großen Expeditionen gehört, und es hatte genügend Leute, meistens Sherpas, gegeben, die sie sofort nach unten gebracht hatten, einige hatten es trotzdem nicht überlebt. 1996 hatte es mit Ngawang Topche sogar einen Sherpa erwischt, der sich trotz rascher Sauerstoffzufuhr und trotz des scheinbar rechtzeitigen Abstiegs nie mehr erholt hatte und später im Krankenhaus von Katmandu gestorben ist. Doch was ging es ihn an? Der Mann namens Max atmete auf. »Vielleicht bleibt sogar seine Frau bei ihm«, sagte er, »dann können wir den Sherpa mitnehmen.« Steiner schüttelte den Kopf. »Gyalzen bleibt auf alle Fälle hier«, sagte er, »auch wenn sie nicht mitgehen sollte. Ich kann es in keinem Fall verantworten, ein Mitglied, vielleicht sogar zwei, allein hier zurückzulassen.« Max wollte etwas sagen, doch Steiner kam ihm zuvor. »Ich habe mir etwas anderes einfallen lassen«, sagte er und verzog den Mund zu einem wissenden Grinsen. Richter spürte, daß es etwas mit ihm zu tun hatte, er blickte von seiner Suppe auf und in Steiners Augen. Der Expeditionsleiter streckte den Zeigefinger aus und zeigte
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auf ihn. »Wir werden diesen Mann mitnehmen. Einer, der stark genug ist, ohne Sauerstoff ins Lager drei zu steigen, ist mit Sauerstoff gut genug für den Gipfel. Er kann Mingma ersetzen, und Dawa kann am Südsattel bleiben und dort alles für unsere Rückkehr von oben vorbereiten.« Richter stand vor einer völlig neuen Situation, und es dauerte einige Sekunden lang, bis er begriffen hatte, welches Angebot Steiner ihm soeben gemacht hatte. Im Klartext hieß es nichts anderes als Sauerstoff für Hilfeleistung. Steiner bot ihm an, Mitglied seiner Expedition zu werden, ohne dafür zahlen zu müssen. Als Gegenleistung sollte er einen Sherpa ersetzen, Steiner dabei unterstützen, zwei Menschen, die ihm dafür viel Geld gegeben hatten, auf den Gipfel zu bringen. Albert Richter, jetzt Ang Richter, der Sherpa, eine absurde Vorstellung für einen, der sich um den Preis seines Lebens hochschleichen wollte. Ein Jobangebot in 7300 Metern Höhe. »Ich kenne ihn nicht«, warf Max ein. »Ich kenne ihn auch nicht«, antwortete Steiner, »aber ich weiß, der Mann will nach oben, um jeden Preis!« Er suchte Richters Augen. »Habe ich recht?« Richter antwortete nicht, weil er seine Entscheidung noch nicht kannte. Für ihn war der Berg etwas anderes als für Steiner oder Max oder die beiden, die dort drüben im Zelt lagen. Er hatte ihn nie kaufen wollen, selbst wenn er das Geld dafür gehabt hätte, er wollte ihn fühlen, ihn besteigen, nur besteigen, nicht erobern oder besiegen, das geben, was er zu geben hatte, und die Überlegenheit des Berges akzeptieren, wenn es nicht reichen sollte. Dort unten, nach der Ankunft im Lager drei, hatte ihm der Berg zum ersten Mal zu verstehen gegeben, daß er mehr
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verlangen könnte, als Richter zu geben imstande war. Dort unten hatte Richter an Nancy gedacht, sich einsam gefühlt, war froh gewesen, anderen Menschen begegnet zu sein. Steiner grinste, der Mann namens Max sah ihn skeptisch an. Richter suchte nach der Verzweiflung, die ihn nach Christophs Tod getrieben hatte: Sie war nicht mehr da. Er hatte wieder etwas zu verlieren, auch die Erinnerung an den Jungen, die nicht mehr aus quälendem Schmerz allein, sondern immer mehr aus Liebe und Dankbarkeit für die Zeit, die er mit ihm hatte verbringen dürfen, bestand. Und Nancy. Sie wartete auf ihn, weil sie an ihn glaubte, wieder jemand, den er enttäuschen konnte. Richter wußte, daß die Entscheidung, die er nun treffen würde, wahrscheinlich die Entscheidung zwischen Leben und Tod war. Plötzlich hörte das dumpfe Pochen in seinem Schädel auf, der Hals schmerzte nicht mehr, die kalte Luft strömte wie auf einer Autobahn in seine Lungen, er atmete, tief und frei, und die Gedanken waren klar wie ein Gebirgsbach. »Nimm den Berg und nimm das Leben«, hörte er Christophs Stimme, »du mußt nicht zu mir kommen, ich werde immer bei dir sein!« Richter streckte seine Hand aus, und Steiner nahm sie. »Abgemacht«, sagte Richter.
Die Expedition Hans Frey weigerte sich, durch die Sauerstoffmaske zu atmen. Immer wenn Erika sie ihm an den Mund preßte, stöhnte und röchelte er und versuchte, sich mit den letzten Kräften, die noch in seinem Körper steckten, davon zu befreien. Die Hustenanfälle wurden immer stärker, und sie sah im
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Licht der Taschenlampe, daß der Schleim, den er hochbrachte, blutig war. Irgendwann in der Nacht streckte er plötzlich seine Arme nach ihr aus, sie nahm seine Hände und hielt sie fest. Langsam, unendlich mühsam, richtete sich sein Körper auf, die Augen waren weit aufgerissen. Er hustete, wieder kam Blut, sie preßte ein Stück Stoff, irgendeines, das sie aus dem Rucksack gezogen hatte, vor seinen Mund. »Erika«, röchelte er, sie verstand ihn kaum. Er versuchte, seine Hand zu heben, den Kopf zu drehen, ihren Blick auf seinen Rucksack zu lenken, der unausgepackt an der Zeltwand lehnte. Sie wischte ihm den blutigen Schleim aus dem Gesicht, jetzt weinte sie. »Außentasche«, murmelte er wie ein Betrunkener, »kleines Paket.« Sie nickte und leckte mit der Zunge eine Träne aus dem Mundwinkel, dann ließ sie ihn vorsichtig los, er blieb schwankend sitzen. Es war ein kleines dunkelblaues Etui, sie nahm es und öffnete es, und im mattgelben Schein der Taschenlampe blinzelte ihr ein großer Diamant entgegen, der auf einem zarten Goldring saß. Er hustete wieder, und sein Oberkörper fiel kraftlos um, bevor sie ihn auffangen konnte. Sie sah, daß er lächelte. »Am Gipfel«, hauchte er, »für dich, am Gipfel.« Dann sagte er nichts mehr. Er lag mit geschlossenen Augen da, sie hockte neben ihm, die Finger umklammerten den Ring mit dem Stein so fest, daß die Kanten in die Haut schnitten. Sie hörte seinen knarrenden Atem, die Hustenanfälle, und die Ohnmacht, der sie ausgeliefert war, entlud sich in lauten Klageschreien, die unten, in der anderen Welt, Hilfeschreie
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gewesen wären. Hier half ihr keiner. Steiner steckte zweimal den Kopf durch den Zelteingang und versuchte, sie zu beruhigen, doch sie hörte nicht einmal, was er sagte. Es war noch Nacht, als das Röcheln nach einem letzten, heftigen Hustenanfall aufhörte. Hans Frey atmete plötzlich ruhig, Erika richtete den Strahl der Taschenlampe auf sein Gesicht, seine Augen waren weit offen, der Mund lächelte. Die Lippen versuchten ein letztes Wort zu formen, aber der Tod war schneller. Hans Frey starb in der Nacht zum 28. April um 4.30 Uhr auf 7300 Metern Höhe im Lager drei. Er war achtundvierzig Jahre alt geworden. Erika Frey hatte keine Tränen mehr. Sie knipste die Lampe aus und legte sich neben ihn, ihre Hände umklammerten den leblosen Körper. Es hatte keinen Sinn mehr, alles hatte keinen Sinn mehr, es hatte nie einen Sinn gehabt. Draußen war der Berg, und sie haßte ihn nicht einmal. Für Hans war er zu stark gewesen, vielleicht war er es auch für sie. Jetzt mußte sie es zu Ende bringen, sonst war er umsonst gestorben. Ihre Hand hielt noch immer den Ring umklammert.
Richter Wieder das seltsame, eckige Aufwärtsstapfen, zu dem einen die Steigeisen zwingen. Man setzt den Fuß nach einem Schritt nicht auf den Boden, man rammt ihn jedesmal ins Eis, immer wieder, wie ein Roboter, der auf gleichmäßiges, langsames Gehen programmiert ist. Richter wünschte sich, er wäre ein Roboter. Roboter gehen
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und gehen, kennen keine brennenden Muskeln, keine schmerzende Kehle, keinen dröhnenden Kopf, kein pochendes Herz. Sie kennen auch keine Maske, durch die zwar ausreichend Sauerstoff in die Lungen strömen konnte, die das Gehen für Richter jedoch zu einem völlig neuen, völlig unbekannten und anfangs sogar beklemmenden Erlebnis machte. Es war, als bewegte er sich in zwei verschiedenen Welten. Einer inneren, die sich hinter der Maske in seinem Kopf und in seinem Körper befand, und einer äußeren, fremden, die draußen vor der Maske und der Brille wie ein Film ablief. In Zeitlupe. Es dauerte lange, bis er den Kontakt zur Realität, die außerhalb der Maske lag, wieder hergestellt hatte, bis er sie begriff und sich wieder als Teil von ihr fühlte. Der Sauerstoff, der aus der Flasche kam, wirkte keine Wunder, er war kein Turboantrieb, der seine Schritte beschleunigte. Er machte das Gehen leichter und gleichmäßiger, ersparte ihm den mühsamen Kampf des Einsaugens kalter Luft und wahrscheinlich die Hälfte der Rastpausen, die er ohne Maske hätte einlegen müssen. Die Kopfschmerzen konnte der Sauerstoff nicht wegzaubern, auch das Brennen im Hals war noch da, und auch die Muskeln in den Beinen waren schlaff, fühlten sich ausgelaugt an, taten weh. Doch er funktionierte noch, besser als gestern. Er hatte schlecht geschlafen und war bei Tagesanbruch aufgestanden. Dann hatte er seine Sachen zusammengepackt und war zu Steiners Lager hochgestiegen. Dort hatte er vom Tod des Münchners erfahren. Es war kein Schock, nicht einmal Trauer; als er den Mann zum ersten Mal gesehen hatte, war er bereits halbtot gewesen, er hatte ihn nie gekannt. Die Trauer gehörte der Frau. Sie ertrug sie still und ohne Tränen, die anderen vermieden es, ihr in die Augen zu blicken, keiner redete vom Toten, der neben ihnen im Zelt lag. Steiner hatte es ihm gesagt. Er hatte ihm auch gesagt, daß
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sich für die anderen nicht viel ändern würde. Erika Frey wollte weitermachen, weil es der letzte Wunsch ihres Mannes gewesen war. Dann hatte ihm der Deutsche den Arm um die Schulter gelegt und ihn einige Schritte weit zur Seite gezogen. »Du darfst mich nicht mißverstehen«, hatte er leise gesagt, »der Tod von Hans Frey trifft mich besonders hart, er war mein Hauptsponsor, und ich hätte ihn gerne am Gipfel gesehen, es hat nicht sollen sein, Schicksal! Für uns geht das Leben weiter, und es wird hart, verdammt hart. Sein Tod ist tragisch, aber er hat, auch wenn’s makaber klingt, eine positive Seite. Hans hat uns als Erbe seine Sauerstoffflaschen hinterlassen, wir werden sie notwendig brauchen. Und wir haben wieder zwei Sherpas, die uns beim Aufstieg helfen werden. Es hat keinen Sinn, einen Mann bei einer Leiche zurückzulassen. Gyalzen kann jetzt im Viererlager am Südsattel bleiben, und Dawa kann mit uns auf den Gipfel gehen.« Das Wetter hatte sich während der Nacht leicht verändert, am Himmel waren Wolken aufgezogen, die im Laufe des Vormittags immer dichter wurden. Nichts Ungewöhnliches und eigentlich auch kein Grund zur Sorge. Es war der Wind, der alles zunichte machen konnte, und den gab es nicht, nur dann und wann einen kalten Hauch, der vorbeistrich. Sie befanden sich in einer Welt, die aus blankem Eis bestand, weiß und glitzernd, nicht glatt, sondern sanft gewellt wie die Oberfläche eines erstarrten Meeres. Die Schweizer, die als erste aufgebrochen waren, waren so weit vorn, daß sie nur noch als winzige, schwarze Punkte zu sehen waren, die bald von dieser gewaltigen weißen Einsamkeit geschluckt werden würden. Dahinter kamen die Argentinier einigermaßen zügig voran, der Abstand zwischen dieser Gruppe und jener der Japaner wurde immer größer. Die Japaner waren langsam unterwegs, und es war nur noch eine
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Frage der Zeit, bis Steiners Team zu ihnen aufschließen und sie überholen würde. Steiner ging an der Spitze, dann folgten die Frau und Max, Richter war der vierte. Die beiden Sherpas, die wesentlich schwerere Lasten trugen als die anderen, blieben etwas zurück. Sie hatten am Morgen müde, beinahe mutlos gewirkt. Hinzu kam, daß es für sie jetzt noch keine Sauerstoffflaschen gab, nur der Mann, früher Mingma, jetzt Dawa, der sie während des Gipfelganges begleitete, durfte ab dem Südsattel mit der Maske gehen. So war es vorgesehen. Sie hingen wieder am Seil, die Hand schob die Steigklemme hoch, die Beine schleppten den Körper hinterher. Vor ihnen tauchte das Gelbe Band auf, ein leicht überhängender Wall aus gelblichbraunem Kalkgestein, steil und brüchig, die Eiswelt wie eine steinerne Barriere durchbrechend. Der Khumbu, das Western Cwm, die LhotseFlanke, das Gelbe Band, der Genfersporn, der Südsattel, der Balkon, der Südgipfel, der Hillarystep. So hießen die Meilensteine auf dem Weg zum Gipfel, menschliche Namen für eine menschenfeindliche Welt. Sie holten die Japaner noch vor dem Felsband ein. Da es nur ein Seil gab, mußte jeder von ihnen den Bügel aushaken, so rasch wie möglich um den Vordermann herumstapfen, den Bügel wieder einhaken, sich zum nächsten heranarbeiten, dasselbe Spiel spielen, bis die letzte Person aus der japanischen Gruppe überholt war. Es waren sechs Mitglieder, darunter eine kleine, zart wirkende Frau, die sich offenbar nur noch mit größter Mühe auf den Beinen halten konnte, und ein Sherpa, der den Schlußmann machte. Der Überholvorgang dauerte lange und war äußerst kräfteraubend. Das Gelände war steil, und Richter verspürte bei jedem Ausklinken der Klemme ein mulmiges Gefühl. Um diesen Zustand möglichst rasch zu beenden, beschleunigte er jedesmal seine Schritte und trieb
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dabei den ausgelaugten Körper bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit. Sein Kopf bestand nur noch aus schmerzhaftem Pochen, der Brustkorb brannte vom Einsaugen der Luft, die viel zu langsam und viel zu dünn aus der Flasche in den Mund zu strömen schien, der Hals fühlte sich an wie eine einzige, große Wunde. Als es geschafft war, hätte sich Richter am liebsten auf das Eis gelegt, um für immer dort liegenzubleiben, er wünschte sich nichts sehnlicher als eine Rastpause, dafür mußte jedoch der Abstand zwischen ihnen und den Japanern viel größer werden, sonst würden sie wieder von diesen überholt werden, und das Spiel würde von vorn beginnen. Richters Gedanken waren Flüche, er stöhnte, und der Atem, den er in die Maske stieß, klang in seinem Kopf so laut wie das Fauchen einer Dampflokomotive, die sich eine Steigung hochquält. Der Frau und Max schien es ähnlich zu gehen, sie waren merklich langsamer geworden, die Bewegungen wirkten unbeholfener. Als sie das Gelbe Band erreichten, sahen sie, daß die Japaner weiter unten stehengeblieben waren und sie ebenfalls rasten konnten. Steiner hatte die Felsbarriere lange vor ihnen erreicht, er wirkte müde, aber nicht kraftlos. Richter nahm die Maske ab und spürte sofort, daß ihm das Atmen wesentlich schwerer fiel. Obwohl rings um ihn herum Luft war, gelang es ihm nur mit Mühe, genügend davon aufzusaugen, um den Bedarf der Lungen einigermaßen befriedigen zu können. Sie redeten kaum miteinander. Alle hatten die Masken abgenommen und waren mit Luftholen beschäftigt, die Frau starrte nach oben, den Gipfel konnte man von hier aus noch nicht sehen, nur die Wand und die Wolken, die jetzt so tief hingen, daß sie den Grat, der vom Südsattel zum Lhotse führte, bereits teilweise einhüllten. Jetzt spürte Richter auch den Wind,
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er kam in kleinen Stößen und trieb eisige Kälte vor sich her, die in sein Gesicht biß. Sie brachen bald auf, nicht erholt, aber froh, wieder durch die Maske atmen zu können. Sie schleppten ihre Müdigkeit weiter, zwischen den seltsam gefärbten Felsen hindurch, immer höher, immer steiler, dann wieder Eis, ein steiler Quergang und dann der Genfersporn, schwarzer Fels. Richter wußte, daß man von hier aus erstmals die Gipfelregion sehen konnte, den Südostgrat, wuchtig, hautnah, bis zum Südgipfel. Er hatte von anderen Expeditionen gelesen, die, von diesem Anblick überwältigt, hier Rast gemacht und ihre Ferngläser in die Wand gerichtet hatten. Ihm selbst blieb dieses Erlebnis verwehrt, die Wolkenwand über ihnen war zu dicht geworden. Nach unten war die Sicht klar, Richter konnte winzige Farbtupfen im Eis sehen, die Zelte von Lager zwei. Steiner drängte zur Eile. Es war Mittag, die Italiener und die Amerikaner mußten den Gipfel bereits erreicht haben oder knapp darunter sein. Der Südsattel ist ein großes, halbwegs ebenes Geröllfeld, das zwischen den steil aufsteigenden Gipfelwänden des Mount Everest und des Lhotse liegt, der mit seinen 8511 Metern immerhin noch der vierthöchste aller Gipfel ist. Auf der einen Seite fällt der Berg am Südsattel mehr als zweitausend Meter tief nach Tibet ab, auf der anderen etwa einen Kilometer tief ins Western Cwm. Die Stelle, an der im Laufe eines halben Jahrhunderts Hunderte Menschen aus Dutzenden Nationen gelagert hatten, bevor sie sich auf den letzten, für manche tödlichen Weg zum Gipfel gemacht hatten, liegt auf 7986 Metern. Schon während der Siebzigerjahre hat man den Südsattel die höchste Müllkippe der Welt genannt. Fast alles, was mühevoll hierhergeschleppt worden war, hatte man nach erfolgreichen Gipfelgängen oder kräfteraubenden Fehlversuchen zurück-
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gelassen. Zelte, die der Wind in den darauffolgenden Monsunperioden zu winzigen Textilflecken zerfetzt hatte, Konservenbüchsen, voll und leer, weit mehr als tausend Sauerstoffflaschen, fast alle leergesaugt, Kocher, Kartuschen und vieles andere, das seine Schuldigkeit getan hatte und beim Abstieg nur unnötiger Ballast gewesen wäre. Der Anblick des Chaos nutzlos gewordener Hilfsmittel, mit denen der Mensch diesen einst so einsamen Ort befleckt hatte, ließ Richter plötzlich daran zweifeln, ob seine Entscheidung, das Angebot Steiners anzunehmen und mit Sauerstoff zu gehen, richtig war, denn auch seine Flaschen würden höchstwahrscheinlich am Ende hier zurückbleiben. Es war jedoch nur ein kurzer Gedankenblitz, der im nächsten Augenblick von der Freude verdrängt wurde, jenen Ort erreicht zu haben, von dem er so oft geträumt hatte: den Südsattel, das Vorzimmer zum Gipfel. Ein düsterer Nebel hüllte das Ringsherum ein, der Wind riß an den Zeltwänden, es war kalt. Steiner fand die drei Zelte, die ihre Sherpas auf dem Geröll aufgestellt hatten. Sie waren auch hier oben Teil eines bunten Dorfes, das in den vergangenen Tagen gewachsen war. Neben ihnen standen jene der Amerikaner, es waren die gleichen wie in den Lagern weiter unten, Richter erkannte sie sofort. Einige dick vermummte Männer standen davor, einer redete in ein Funkgerät. Richter war hundsmüde und heilfroh, daß er sein Zelt nicht aufbauen mußte. Erika Frey hatte ihm vor dem Aufbruch den freien Platz in ihrem angeboten, und er hatte seines im Lager drei zurückgelassen. Sie war bereits im Zelt, als er hineinkroch und seinen Rucksack nachzog. Er hatte noch nicht viel mit ihr geredet, nur ein Dankeschön, als sie ihm unten, im Lager, das Quartier angeboten hatte.
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»Ich heiße Albert«, sagte er, als er seine Sachen auszupacken begann. Sie zog gerade den Schlafsack aus der Hülle, ein kurzer Blick über die Schulter, ein winziges Lächeln. »Erika«, antwortete sie, »Erika Frey.« Er hätte jetzt sagen müssen, daß ihm das mit ihrem Mann leid tat. Er tat es nicht. Er war ein Fremder, und es wären für sie nur leere Worte gewesen, und für banale Worthülsen und sinnlose Höflichkeiten war es die falsche Zeit und auch der falsche Ort. Wenn sie reden wollte, dann sollte sie damit beginnen; wenn sie allein sein wollte, dann wollte er ihr nicht im Wege sein. Sie sagte nichts, und Richter kroch wieder aus dem Zelt, als er alles für seine Nacht vorbereitet hatte. Der Wind, der ihm ins Gesicht schlug, war eisig und so stark, daß er sich beim Gehen gegen ihn stemmen mußte. Die Sherpas, die sich ebenso wie Steiner und Dreier ein Zelt teilten, waren noch nicht da. Richter hatte unterwegs beide Trinkflaschen geleert, es war nicht der Durst, er sehnte sich nach etwas Heißem, nach einem Becher, an dem er sich die Hände wärmen konnte, und nach dem Getränk, das wie ein Heizstab durch den Körper glitt und sich dann warm und wohlig im Magen niederließ. Was draußen, in der anderen Welt, im normalen Leben, das jetzt so weit weg war, daß er sich kaum noch daran erinnern konnte, die banalste Selbstverständlichkeit war, das war hier, auf diesem Berg, in dieser entrückten Welt Luxus, der einzige Luxus. Richter steckte seinen Kopf in Steiners Zelt. Dreier wirkte erschöpft, er war bereits in seinen Schlafsack gekrochen, der Expeditionsleiter hockte auf der anderen Zeltseite und knabberte an einem Müsliriegel. »Wie war’s mit etwas Warmem?« fragte Richter. Steiner hörte auf zu kauen. »Sind die Sherpas schon da?«
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Richter schüttelte den Kopf. »Das mit Mingma ist verdammter Mist«, fluchte Steiner, »ohne ihn ist mit diesen Burschen nicht viel anzufangen.« »Ich mach’s«, bot Richter an, »sag mir nur, wo das Zeug ist.« »Drüben im Sherpazelt wahrscheinlich, wenn die Kerle nicht vergessen haben, die Küche hochzutragen.« Richter ging, Steiner kaute weiter. Dreier starrte an die Zeltwand. Alles war im Sherpazelt. Richter nahm den Topf und begab sich auf die Suche nach sauberem Schnee. Der Mann mit dem Funkgerät stand noch immer neben dem Amerikanerlager. »Wie sieht’s dort oben aus?« fragte Richter. Der Mann drehte sich um, Richter hatte das Gesicht schon gesehen, unten im Basislager. »Fünf Leute am Gipfel«, antwortete er und zeigte mit der freien Hand nach oben. »Das Wetter hat umgeschlagen, ganz miese Verhältnisse dort oben, die zweite Gruppe hat vor dem Südgipfel aufgegeben, müßte bald hier sein.« »Wer hat’s geschafft?« Richter mußte laut reden, fast schreien, der Wind blies ihm die Worte weg. »Randell war oben, mit ihm zwei Sherpas, Poole und Hernandez«, brüllte der andere zurück, »vor einer halben Stunde, müßten jetzt schon auf dem Weg nach unten sein.« Er klopfte auf das Funkgerät. »Hab im Moment keine Verbindung!« Er ging ein paar Schritte zur Seite und hockte sich in den Windschatten eines Zeltes, Richter folgte ihm mit dem leeren Topf. »Hier ist’s etwas ruhiger«, sagte der Mann. Er musterte Richter. »Schweizer?« fragte er.
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Richter schüttelte den Kopf. »Bin mit den Deutschen unterwegs.« Der Mann hielt ihm die Hand entgegen. »Stan Booker«, sagte er, »bin heute früh leider schon nach zwei Stunden mit Barry Hartley wieder abgestiegen, liegt dort im Zelt, Magenverstimmung oder sonst irgend etwas, keine Höhenkrankheit, glaube ich. Hoffe ich.« »Einer von den Zahlenden?« Der Amerikaner nickte. »Wir haben vier davon, Poole hat’s heute als einziger geschafft, der Australier und Stone sind mit Lewis, Allen und einem Sherpa dort oben, haben vor dem Südgipfel aufgegeben, vernünftige Entscheidung. Seit der Sache mit Hall und Fischer ist es für uns Bergführer etwas leichter, die Leute zum Umdrehen zu bewegen.« »Viel Geld«, sagte Richter. Booker grinste und zeigte nochmals nach oben. »Aber auch viel Tod«, sagte er. Richter klopfte ihm auf die Schulter und stand auf. Er zeigte entschuldigend auf den Topf. »Ich hin heute Küchenchef«, sagte er. »Dort drüben, zwanzig, dreißig Schritte vielleicht, dort gibt’s sauberen Schnee«, rief ihm der Amerikaner nach. Richter drehte sich um. »Und die Italiener?« Booker schüttelte den Kopf. »Sind nach uns losgegangen, keine Information!« Der Schnee war bereits halb geschmolzen, als die Sherpas oben ankamen. Beide ausgelaugt und mutlos. Gyalzen ließ den Rucksack auf den Boden fallen. »Zu schwer«, keuchte er, »viel zu schwer!« »Zu lange am Berg«, schnaufte Dawa, »Berg frißt Kraft.« Steiner bemühte sich, seinen Ärger hinunterzuschlucken.
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»Einen Tag noch«, sagte er ruhig, »nur noch einen Tag. Morgen am Gipfel, dann Abstieg ins Tal und ab nach Hause!« Die Sherpas ließen sich auf ihre Rucksäcke fallen, hockten da und atmeten schwer. »Vielleicht warten«, sagte Dawa nach einer Weile, »Wetter nicht mehr gut, morgen vielleicht noch schlechter.« »Absteigen«, sagte Gyalzen, »absteigen vielleicht besser.« Steiner lachte laut. »Absteigen?« fragte er. »Vielleicht besser, später noch einmal versuchen«, nickte Dawa. Steiner stemmte die Arme in die Seite, er lachte nicht mehr. »Wir sind verdammt noch mal am Südsattel, einen Tag vor dem Gipfel, kein Sonnenschein, stimmt, ein bißchen Nebel, ein bißchen Wind, stimmt auch, kein Luxuswetter, nur Normalwetter. Bei diesen Verhältnissen sind schon Dutzende Expeditionen auf den Gipfel gekommen. Und auch wieder zurück. Ich will verflucht sein, wenn ich es morgen nicht versuche, es ist eine Chance, und wir werden sie nutzen, umdrehen können wir immer noch!« Er trat einen Schritt nach vorn und zeigte mit dem Finger auf Dawa. »Und du gehst mit, du bist jetzt mein Sirdar, und es ist ausgemacht, daß uns der Sirdar bis zum Gipfel begleitet.« Dawa hob seinen Kopf und starrte Steiner an. »Wenn Sahibs gehen, gehe ich auch.« Steiner lächelte zufrieden. »Damit hätten wir dieses Problem gelöst«, sagte er. Richter wußte nicht, ob es gut war. Doch es war nicht seine Angelegenheit. Als der Tee fertig war, brachte er Erika Frey einen Becher. Sie hatte das Zelt nicht verlassen und hockte noch immer auf dem Schlafsack. Vor ihr lag der Ring, den sie rasch aufhob und
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in die Tasche steckte, als Richter auftauchte. »Danke«, sagte sie und griff nach dem Becher. Dann lächelte sie. »Keine Sorge, es geht mir gut.«
Die Expedition Es war knapp vor 16 Uhr, als Thorne, Stone, Lewis, Allen und ein Sherpa namens Phurba weiter oben aus dem Nebel auftauchten und auf das Lager zustapften. Schweizer, Japaner, Argentinier, die zurückgebliebenen Sherpas der Italienerexpedition, Steiner und Richter hatten sich vor den Zelten der Amerikaner als Empfangskomitee versammelt. Wer Dramatik erwartet hatte, wurde enttäuscht. Colin Thorne, der Australier, und Wesley Stone, das zweite zahlende Mitglied, waren zwar müde, jedoch nicht am Ende ihrer Kräfte. »Es wäre bei diesen Bedingungen zu riskant gewesen«, sagte der Bergführer Don Lewis und zuckte die Schultern, »Befehl von Randell.« Thorne fluchte. »Es wäre zu schaffen gewesen, Poole ist um nichts stärker als ich!« »Heute war er es«, sagte Stewart Allen, der zweite Bergführer, Wesley Stone sagte nichts. Es gab einige Fragen und einige knappe Antworten. Am Ende kannten alle die Story. Randell war mit seinem Sirdar Ang Dale, seinem Sherpa Tendi, dem italienischen Leiter Marco Dallari, einem zweiten Italiener namens Silvio Filzer und dem italienischen Sirdar
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Ang Rinzing vor den anderen aufgebrochen, um zu spuren, an einigen Stellen Fixseile anzubringen, vor allem jedoch, um den Hillarystep rechtzeitig zu versichern, bevor die anderen oben waren. »Im unteren Teil war die Sicht miserabel«, erzählte Lewis, »weiter oben ist der Nebel etwas aufgerissen, wir haben sogar den Himmel durchschimmern sehen.« »Dann war die Geschichte mit Barry«, warf Allen ein, »dem ist’s heute beschissen gegangen, Booker hat ihn nach zwei Stunden ins Lager zurückbringen müssen, dadurch haben wir schon am Anfang viel Zeit verloren.« »Und dann ich«, sagte Stone, »mir ist’s nicht viel besser ergangen, der verdammte Regler, ich habe einfach nicht genug Luft gekriegt.« Er zeigte auf Lewis. »Don hat mir seine Flasche gegeben, da war’s dann besser«, er zuckte die Schultern. »Nicht dein Fehler«, sagte Lewis, »hat heute eben einfach nicht sollen sein.« Allen nickte. »Der Knackpunkt war, als uns die Italiener überholt haben, auch die Frau, sind einfach vorbeigezogen.« »Poole hat sich einfach an sie angehängt, und Hernandez ist bei ihm geblieben, ich Idiot hab’s nicht getan!« ärgerte sich Thorne, der Australier. Lewis klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst es noch schaffen, Colin, wir alle werden es noch schaffen!« Thorne schüttelte den Kopf, verzweifelt, wütend. »Randell hätte uns nicht zurückpfeifen müssen, die Chance war da, es war noch nicht zu spät.« »Und andere«, sagte Allen ruhig, »sind draufgegangen, viele andere. Randell ist kein Feigling, das weiß jeder, er riskiert, aber er riskiert nie zuviel.« »Red keinen Blödsinn«, schnaufte der Australier, »es ist nur
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die Sache mit Fischer und Hall, Randell hat die Hose voll, dabei war damals alles ganz anders, haarsträubende Fehler, Hirnaussetzer, tödliche Blödheiten.« Lewis trat ganz knapp an Thorne heran, die Nasen der beiden berührten sich beinahe. »Halt die Klappe, Thorne, hörst du, halt jetzt deine verdammte Klappe und sei froh, daß du noch am Leben bist!« Insgesamt schafften dreizehn Männer und eine Frau an diesem Tag den Gipfel. Greg Randell, Lou Poole, Nick Hernandez, Ang Dale, Tendi und alle Mitglieder der italienischen Expedition: Marco Dallari, Silvio Filzer, Fulvio Folco, Paolo Menozzi, Roberto Zadro, Alberto Vasallo, Teresa Tomassini, die einzige Frau im Team, Sirdar Ang Rinzing und der Sherpa Lhakpa Tawa. Die letzten erreichten das Lager knapp vor Einbruch der Dunkelheit. »Wir haben den Gipfel, und wir haben keine Toten, nicht einmal einen Verletzten«, sagte Randell. Keine Euphorie, nur tiefe Zufriedenheit. Thorne war nicht da, er hatte sich schon lange vor der Rückkehr des Expeditionsleiters in sein Zelt verkrochen. Steiner und die anderen bedrängten ihn mit Fragen, Randell bemühte sich, geduldig zu bleiben. »Die Bedingungen, die wir hatten, waren an der Kippe«, berichtete er, »miese Sicht, vor allem im unteren Teil, und auch oben war es nicht viel besser, der Wind kam in Böen, manchmal ganz schwach, dann wieder ein mächtiger Stoß, eine verdammt haarige Sache, doch es war zu schaffen. Wie ihr seht, sind wir alle heil wieder unten.« »Und wie ist es Lou Poole, dem Newcomer, ergangen?« fragte Kataoka. Poole selbst war nicht mehr da, wahrscheinlich im Zelt, beim Tee.
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»Er hat Nick Hernandez mitgehabt, einen der besten Leute, die es derzeit in Amerika gibt, frag doch den, der steht da.« Hernandez grinste. »Es war ziemlich hart für Lou, vor allem nach dem Südgipfel, am Hillarystep habe ich schon geglaubt, es geht nicht mehr. Doch er hat sich durchgebissen, irgendwie, bis zum Gipfel. Hat sich hingesetzt und wollte nicht mehr aufstehen. Mein Schädel war leer, wer schon einmal oben war, der kennt diesen Zustand. Wir waren oben, aber geschafft hatten wir’s noch lange nicht. ›Ich mach jetzt ein Foto, Lou‹, habe ich gesagt, ›dann gehen wir!‹ Das hat ihn aufgeweckt, er ist aufgestanden und hat sich brav hingestellt, er hat sogar die Maske abgenommen und ein Lächeln geschafft. Greg und die Sherpas haben beim Hillarystep auf uns gewartet, nach uns ist nur noch die italienische Frau mit ihrem Sirdar gekommen. Die Frau hat uns umarmt, das hat im alten Lou wahrscheinlich die Lebensgeister wieder geweckt.«
Richter Richter hatte sich am Abend gezwungen, viel zu trinken, gegessen hatte er kaum etwas. Erika Frey schien zu schlafen, als er in ihr Zelt kam. Im Schein der Stirnlampe bereitete er alles vor, was er für morgen brauchte. Der Rucksack mußte leicht sein. Trinkflaschen, Reservehandschuhe, Reservebrillen, etwas Kraftfutter, ein kurzes Seil, später würde der Sauerstoff dazukommen, für jeden drei Flaschen, von denen jede fast drei Kilo wog und Sauerstoff für mindestens fünf Stunden lieferte. Insgesamt blieben ihnen damit also fünfzehn Stunden, um auf
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den Gipfel und wieder zurück zu steigen. Er dachte kurz daran, was Hillary und Tenzing empfunden haben konnten, als sie sich vor so vielen Jahren am selben Ort für denselben Gipfel vorbereitet hatten. Keine großen Emotionen, die hatte der Geist weiter unten zurückgelassen, als noch mehr Platz im Hirn war. Jetzt gab es nur noch mühsame Gedanken, die schwer zu ordnen waren, Themen, die kurz aufflackerten, kurz durch die Windungen irrten, schmerzhaft an den Ecken anstießen und sich dann wieder verflüchtigten. Hillary und Tenzing. Ihre Gesichter flatterten vorbei, ernst, bedeutungsschwer, dann sah er den Gipfel, das berühmte Foto von Tenzing, eine vermummte Gestalt auf einem weißen Fleck, rundherum blauer Himmel, Kapuze, Maske, kein Gesicht, graue Gamaschen, weiße Hose, blauer Anorak, die Linke hält ein dünnes Seil, die Rechte streckt einen Pickel in die Höhe, auf den man kleine Fahnen geknüpft hatte. Kein Wind, nur Stille. Ein winziges Stück schneebedeckter Erde und viel Himmel. Dokument eines historischen Augenblicks und trotzdem nur ein Foto. Richter hatte es hundertmal gesehen, es hatte sich in sein Hirn eingebrannt, es war sein Lieblingsfoto, vielleicht war es schuld daran, daß er jetzt hier war. Jetzt sah er es, doch es berührte ihn nicht, weil ihn alles, was war, nicht mehr berührte – nur Christoph. Was sagst du, Christoph? Tenzings Bild löste sich im Nichts auf. Christoph lächelte. Du schaffst es, Papa, du bist stark. Ich bin da, vergiß das nicht, ich bin immer bei dir, ich lebe in deinem Kopf, für immer. Richter nickte ihm zu, so war es, der Junge war zu ihm zurückgekehrt. Es gab keine Trauer mehr. »Sie sind zurück«, sagte Erika Frey. Er drehte sich zu ihr um, sie schaute ihm in die Augen. »Wer ist zurück?« »Die anderen, die Amerikaner, die Italiener«, lächelte sie,
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»ich hoffe nur, daß es keine Toten gegeben hat.« »Keine Toten«, antwortete Richter, er hatte vergessen, wie viele den Gipfel geschafft hatten, es waren viele. Er sagte es ihr. Sie seufzte und lächelte dabei weiter. »Nur noch morgen«, sagte sie, »mein letzter Wettkampf.« Sie lag da, eingewickelt in den Schlafsack, ein schmales Gesicht und große Augen. »Um Mitternacht geht’s los«, sagte er. Sie nickte. »Steiner hat es mir gesagt, ich habe versucht, etwas zu schlafen, doch es geht nicht.« »Wir werden’s mit Sauerstoff versuchen«, sagte er. »Wir haben genug davon, auch die anderen schlafen vor dem Gipfelgang mit Sauerstoff.« Sie zeigte auf die Flasche mit dem Schlauch und der Maske, die zwischen ihr und der Zeltwand lag. »Ich hab’s versucht, doch ich schaff’s nicht, es ist beklemmend, wie ein Knebel.« Richter bereitete eine andere Flasche vor, dann arbeitete er sich in den Schlafsack hinein. Den Anorak hatte er zuvor ausgezogen, die Stirnlampe brannte noch. »Du solltest es noch einmal versuchen«, sagte er, »eine Nacht auf achttausend Metern ohne Sauerstoffflasche saugt dir zuviel Kraft aus dem Körper. Ich weiß, daß in meiner Batterie nicht mehr allzuviel drin ist.« Sie nahm die Maske und befestigte sie gehorsam über dem Gesicht. Er hörte ihren Atem, und er hörte seinen, ein gespenstisches Fauchkonzert in der Todeszone. Es war ein unbefriedigender Halbschlaf, ein Dämmerzustand ohne Träume, eine bewußt erlebte Bewußtlosigkeit ohne Gedanken und ohne Zeitgefühl, in der erst Richters Wecker, der um elf Uhr nachts loszwitscherte, wieder für Ordnung sorgte.
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Es war kein großer Augenblick, nur stumpfes, mechanisches Handeln. Sie sagte: »Guten Morgen«, nur zwei Worte, nicht aufmunternd, nicht einmal sarkastisch. Sie knipsten ihre Lampen beinahe gleichzeitig an, und jeder sah das Gesicht des anderen. Ihres wirkte verwirrt, unkonzentriert, er hatte das Gefühl, daß sie nicht wußte, wo sie war. »Wir sind am Südsattel«, sagte er ernst und brachte sie damit zum Schmunzeln. »Danke«, sagte sie, »jetzt weiß ich’s. Everest, stimmt’s? Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug in den Himmel!« Er lächelte zurück. Die Nacht war tiefschwarz und klirrkalt, voll kleiner Geräusche und winziger Lichter, die drüben, bei den anderen Zelten, wie Glühwürmchen herumschwebten. Ein Gedankenblitz machte Richter darauf aufmerksam, daß er sich im höchsten teilweise bewohnten Ort der Welt befand. Zweimal im Jahr siedelten sich hier Menschen an und brachten für diese Zeit sogar eine Art Infrastruktur mit. Eines Tages, wenn auch der Vatikan eine Expedition schickte, würde man vielleicht sogar ein Kirchenzelt hochschleppen müssen. Die Sherpas hatten bereits Tee vorbereitet. Steiner wirkte nervös. »Wir lassen die Schweizer losziehen, mit denen will ich keine Schwierigkeiten haben, dann sind wir an der Reihe.« Er schaute in die Runde. Erika Frey sagte nichts, Dreier nickte, Dawa brauchte seine Konzentration, um die Trinkflaschen mit Tee aufzufüllen, Gyalzen war mit den Kochern beschäftigt, Richter zuckte die Schultern. Steiner war der Chef, von ihm hatte er den Sauerstoff bekommen, der wahrscheinlich dafür verantwortlich war, daß er überhaupt noch halbwegs klar denken konnte. Er hatte keine Ahnung, wie
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es gewesen wäre, wenn er Steiner nicht getroffen hätte, ob er es überhaupt bis hierher geschafft hätte, ob er jetzt noch am Leben wäre. Egal! Alles war so, wie es war, es mußte weitergehen. Steiner war ein guter Mann, er würde schon wissen, was getan werden sollte. Es war exakt Mitternacht, als die Schweizer aufbrachen. Drei Mann in Richtung Everest-Gipfel, drei Mann in Richtung Lhotse-Gipfel. »Schweizer Präzision«, grinste Steiner. Es war kalt, und es wehte stetig Wind, der die Kälte vor sich hertrieb. »Könnte schlimmer sein«, sagte Steiner über das Wetter, »das Ärgste, das einem hier oben passieren kann, ist Schneefall, und den gibt es heute nicht.« Bevor sie losgingen, kontrollierte Steiner bei jedem die Sauerstoffflaschen und die Regler, alles schien bestens zu funktionieren. Richter hatte die Sauerstoffmaske beim Gehen bisher nur bei Tageslicht aufgehabt, die Nacht machte alles anders. Sie waren Tiefseetaucher auf achttausend Meter Höhe, Soldaten bei einem Giftgasangriff, vermummte Einschleichdiebe oder Marsmenschen, keine Bergsteiger, die wegen des Naturerlebnisses hier waren. Sie waren Eroberer, und sie hatten ihre Rüstungen angezogen, um sich gegen die Waffen des Berges zu schützen. Sport? Mit Sport hatte das, was sie jetzt taten, nichts mehr zu tun, auch wenn Erika Frey von ihrem letzten Wettkampf gesprochen hatte. Es war ein Gang an die Grenze der menschlichen Leistungsfähigkeit, ein physisches, vor allem jedoch psychisches Erlebnis, das nur wenigen vorbehalten ist, der Blick in eine Welt, die von der Brachialgewalt unkontrollierbarer Elemente regiert wird. Richters Rüstung war nur ein lächerlicher Schutz dagegen. Gipfeltag! Mein Gott, wie gern hätte er ihn intensiver erlebt.
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Doch es gab nur die Nacht und die Schritte, den fauchenden Atem, die Steigeisen, die sich in das Eis bohrten, das dünne Licht der Stirnlampe und die Beine des Vordermannes, die das Tempo bestimmten. Höher, immer höher, doch die Nacht und die Enge der Maske, von der er abhängig war, stahlen ihm das Erfolgserlebnis. Er hätte sich genausogut in einem schwarzen Raum befinden und auf einer Fitneßmaschine sinnlos am Stand treten können. Die Kälte spürte er bald nicht mehr, nur den Wind. Er kam und griff plötzlich zu, wischte wie ein eisiger Lappen über die wenigen ungeschützten Hautteile im Gesicht, gab dem Körper einen Stoß, einen schwachen nur, doch er störte die Balance und sorgte für Augenblicke der Unsicherheit. Steiner, Dreier, Erika, Richter und am Ende Dawa, so hatte es der Expeditionsleiter bestimmt. Hinter ihnen sahen sie manchmal die Lichter der anderen, insgesamt waren an diesem Tag zweiundzwanzig Menschen auf dem Weg zum Gipfel, die Lichter der Schweizer sahen sie nicht mehr. Zwei Stunden und noch immer Nacht. Am Eis ging es relativ einfach, dazwischen legten sich jedoch immer wieder Felsbänder in den Weg, die das Gehen mit den Steigeisen beträchtlich erschwerten. Die Rastpausen, die Steiner dann und wann einlegte, waren keine Erleichterung, die Beine wurden zwar für kurze Zeit entlastet, doch der bewegungslose Körper wurde von der Kälte und dem eisigen Wind gequält, und der Frost biß sich rasch bis zu den Fingern und den Zehen durch. Sie folgten der Spur, die von den Amerikanern und den Italienern gezogen worden war, manchmal war der Schnee trotzdem so tief, daß Richter die Beine bis in Kniehöhe heben mußte, um sie in das nächste Loch stellen zu können. Es war Arbeit, schwerste Arbeit. Drei Stunden nach ihrem Aufbruch behauptete Dreier zum
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ersten Mal, daß sein Sauerstoffgerät nicht in Ordnung sei. Steiner überprüfte den Regler, testete die Maske des Lehrers, stellte dabei jedoch keinen Fehler fest. »Vielleicht atmest du falsch«, riet er dem Lehrer, »versuch, die Luft möglichst gleichmäßig und nicht in wilden Schuhen einzusaugen.« »Arschloch«, sagte Dreier, »ich bin doch kein Idiot, wenn ich sage, daß es das Gerät ist, dann ist es auch das Gerät.« Steiner gab ihm seines. Es dauerte eine Weile, bis der Tausch vollzogen war, die Lichter der anderen, die hinter ihnen waren, rückten näher. Kurz vor fünf Uhr begann sich das Schwarz zu lichten. Im heller werdenden Grau schälte sich eine Landschaft aus der Nacht, die nur aus Eis und Schnee, schwarzem Fels und den Fußstapfen bestand, denen sie folgten. Der Wind war noch da und auch der Nebel, es begann zu schneien. Dreier war der erste, der seine Sauerstoffflasche leergesaugt hatte. Er hatte zuerst nicht bemerkt, daß kaum noch Luft kam, und noch kräftiger an der Atemmaske gesaugt; als nichts mehr kam, riß er sie in Panik vom Gesicht und versuchte, um Hilfe zu schreien. Steiner war sofort bei ihm, erkannte die Situation und schloß den Lehrer, so rasch er konnte, an die zweite, volle Flasche an. Während der nächsten halben Stunde waren auch die Flaschen der anderen leer. Um sieben Uhr erreichten sie ein kleines Plateau, dem irgend jemand sinnigerweise den Namen Balkon gegeben hatte. Auch die anderen hatten hier gerastet, der Schnee war zertrampelt, sie fanden sogar mehrere leere Sauerstoffflaschen, und Steiner nahm für ein paar Sekunden seine Maske ab und forderte sie auf, auch ihren nutzlos gewordenen Flaschenballast hier zurückzulassen. Der Balkon lag auf etwa 8500 Meter, sie hatten beinahe den halben Weg zum Gipfel geschafft.
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Richter hatte sich während des Aufstieges kaum um seinen Hintermann gekümmert; wenn sie gerastet hatten, war Dawa immer hinter ihm gewesen, stumm, schwer atmend, ohne Worte. Zuletzt war er immer weiter zurückgeblieben, den Balkon erreichte er zehn Minuten nach den anderen. Zum Reden mußte man die Maske abnehmen, zuviel Mühe für ein paar Worte, man mußte die Maske aber auch abnehmen, wenn man trinken wollte. Hier tranken alle, deshalb redeten sie auch. Richter machte Steiner darauf aufmerksam, daß Dawa offenbar Probleme hatte. Steiner fragte den Sherpa, ob das der Fall sei, der Sherpa schüttelte den Kopf. »Wenig Kraft«, gab er zu, »genug für den Gipfel.« Er deutete nach unten. »Beine schwer«, sagte er, »zu lange am Berg.« Er probierte ein Lächeln. »Keine Angst, Bara Sahib, Dawa jetzt Sirdar, will Sirdar bleiben. « Steiner hatte die Gedankenwelt der Sherpas nie begriffen, er verstand sie auch jetzt nicht. Alles, was er über dieses seltsame Volk wußte, war, daß es da war, um für wenig Geld die Dreckarbeit am Everest zu erledigen, und daß es in ihren Reihen immer wieder Naturtalente gab, die in der Lage waren, in großen Höhen Übermenschliches zu leisten. Mingma gehörte wahrscheinlich dazu, Dawa sicher nicht. Zum Glück hatte er Richter, der kostete ihn nichts, nur den Sauerstoff, den ohnehin kein anderer brauchte. »Keine Chance«, sagte Steiner, »wenn du keine Kraft hast, dann kannst du uns auch nicht helfen. Steig ab ins Lager!« Der Sherpa riß die Augen auf und schüttelte heftig seinen Kopf. »Nein, Bara Sahib, nicht zurück. Dawa wird vorn gehen, genug Kraft dafür, kann Sahibs helfen.«
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Richter wußte, daß der Sherpa log, daß seine Energie verbrannt war, daß es nur noch der Wille war, der ihn weitertrieb. Dawa war jung, mußte sich erst hocharbeiten, würde seine erste Gipfelchance wohl erst in einigen Jahren bekommen. Gestern abend hatte er noch gezögert, sogar zum Abstieg geraten, dann hatte ihm Steiner den Gipfelgang befohlen, und jetzt wollte er ihn nutzen als Karrieresprung; ein Gipfelsieger am Everest war im Sherpaland mehr wert. Steiner stöhnte, er wollte keine Entscheidung treffen, nicht hier auf 8500 Metern, nicht jetzt, wo alles so gut zu laufen schien. Dawa war bis jetzt nur nutzloser Ballast gewesen, doch er hatte ihn bis jetzt auch nicht gebraucht. »Okay«, sagte Steiner schließlich, »du kannst dabeibleiben, wenn du die Spitze machst.« Dawa faltete die Hände zum Gruß, jetzt war es eine Geste der Dankbarkeit. »Danke, Bara Sahib«, sagte er. Der Schneefall wurde dichter. Steiners Entscheidung, Dawa von nun an der Spitze gehen zu lassen, zwang ihn selbst dazu, den Schlußmann zu machen. Als sie vom Balkon aufbrachen, folgte Erika Frey dem Sherpa, hinter ihr war Richter, dann kamen Dreier und Steiner. Es ging den Südostgrat entlang, steil und messerscharf, fast senkrecht nach Tibet abfallend. Sie folgten dem Weg, den die anderen ausgetreten hatten. Dawa bemühte sich, doch seine Beine konnten mit seinem Willen nicht Schritt halten. Richter hätte schneller gehen können, er wußte es, er dachte jedoch nicht darüber nach. Sein Körper folgte gehorsam irgendwelchen Befehlen, und diese schienen nicht aus seinem Kopf zu kommen. Da waren Fixseile, die Hände griffen danach, die Beine stapften weiter, blieben stehen, wenn die Beine davor stehenblieben, es waren Erika Freys Beine. Richter wußte es
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nicht mehr. Er hatte auch längst aufgehört, seine Schritte zu zählen und sich über Zeit und Entfernung Gedanken zu machen, es gab überhaupt keine Gedanken mehr, nur Bilder, die dann und wann auftauchten und ihm eine andere Welt vorgaukelten. Christoph, immer wieder Christoph, lachend, wie damals auf dem Gipfel des Großglockner, ein Schloß, der König, Christoph war der König, die Wiese vor der Hütte, in der sie übernachtet hatten, Blumen, die Kühe, ein Hund. Dann kamen die Argentinier, einer nach dem anderen, auch die Frau, Richter erkannte sie, lächelte unter der Maske, sinnlos. Sie waren schneller, sechs Leute, einer nach dem anderen drängte sich an ihm vorbei, dann an den Beinen, die vor ihm gingen, jetzt erinnerte er sich wieder, daß sie Erika Frey gehörten, und auch daran, daß er irgendwann einmal gedacht hatte, er könne schneller gehen. Dawa lehnte sich gegen den Hang, bewegte sich nicht, ließ die anderen nach vorn. Erika Freys Beine folgten dem letzten Argentinier, Richter folgte Erika Freys Beinen, beide stapften an Dawa vorbei, stiegen weiter, immer weiter.
Die Expedition Steiner war froh, daß er nicht mehr an der Spitze gehen mußte, Dawa war langsam, doch es machte ihm nichts aus, es ging aufwärts. Bald würden sie am Südgipfel sein, dann würde er wieder die Spitze übernehmen. Bis dorthin konnte er abschalten, nur gehen, kein Druck, keine Verantwortung. Vielleicht hatte er zu viel geschleppt, die blöden Sauerstoffflaschen, die ihm fast das Rückgrat gebrochen
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hätten, alles wegen Frey, und der lag jetzt dort unten in einem Zelt, mausetot. Keine Sicht, nur ein paar Meter, dazu der verdammte Schnee, der immer dichter von oben kam, zum Glück hatte der Wind etwas nachgelassen, trotzdem ein Scheißtag für den Gipfel. Aber vielleicht der einzige. Steiner wünschte sich, daß alles vorbei war, eine Badewanne, weißen, duftenden Schaum, nicht einmal eine Frau, nur den weißen, duftenden Schaum, mehr wollte er nicht. Es war klar, daß sie von den Argentiniern eingeholt werden würden, nicht von den Japanern, die waren zu schwach dazu, Steiner hatte jedoch gehofft, daß es erst nach dem Hillarystep sein würde. Doch sie waren jetzt schon da, drängten sich an ihm vorbei, einer nach dem anderen, sechs Leute, keine Worte, keine Blicke, weil es nur Brillen und Masken, aber keine Gesichter gab. Dawa hatte sich gegen den Schneewall fallen lassen, der den Grat wie eine Zuckerglasur überzieht; der Weg, den die Amerikaner und Italiener herausgestapft hatten, verlief zwei, manchmal auch mehr Meter unter dem Wächtenkamin: Dawa lag da, und Dreier lag daneben. Steiner nahm die Maske vom Gesicht, die Kälte ließ die Haut erstarren, sie fühlte sich an wie dünnes, durchsichtiges Eis, das mit einem kleinen Hämmerchen in tausend kleine Stücke zerschlagen werden konnte. Atmen, Eis einatmen, sehr viel Eis einatmen, zuviel Kälte und nicht genug Luft. Steiner wollte etwas sagen, doch es gelang ihm nicht. Er packte den Sherpa an der Schulter und schüttelte ihn. Dawa bewegte sich, richtete sich auf, stellte die Beine wieder in die Spur. Dann der Lehrer, mühsame, langsame Bewegungen. Steiner war nur seinen Beinen nachgestapft und hatte nicht bemerkt, daß der Mann fertig war, absolut geschafft. Den Sherpa hätte er unten zurückschicken sollen.
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Steiners Kopf dröhnte. Entscheidungen, immer wieder Entscheidungen. Wo war die Frau? Und Richter? Vorn, bei den Argentiniern, ganz sicher vorn bei den Argentiniern, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er konnte sie nicht allein lassen, nicht Erika Frey, er brauchte das Foto am Gipfel, er und sie, für die Firma, die jetzt ihr gehörte, für seine Zukunft. Mit Mingma wäre alles anders gewesen, Mingma hätte sich um Dreier gekümmert, und er hätte der Frau nachsteigen können, aber Mingma war jetzt Dawa, und Dawa war eine Last, die er loswerden mußte. Steiner sagte es ihm, nicht mit Worten, doch seine Gesten waren deutlich genug. Der Sherpa verstand ihn sofort und wehrte sich nicht mehr dagegen. Er drehte sich um, quälte sich langsam, mühsam wankend nach unten und wurde bald von der Nebelwand geschluckt. Steiner nahm seinen Rucksack ab und holte ein Stück Seil heraus, mit dem er sich und den Lehrer verband. Zwischen den beiden lagen kaum zwei Meter Seil, Dreier war gezwungen, Steiners Tempo zu gehen oder sich von diesem ziehen zu lassen, anfangs für beide eine unendlich quälende Fortbewegungsart, dann fanden sie jedoch zu einer Art Rhythmus, der Steiners Kraftaufwand einigermaßen erträglich machte. Sie kamen damit rascher voran und erreichten bald den Südgipfel. 8760 Meter hoch, nicht einmal mehr hundert Höhenmeter bis zum Ziel. Steiner hatte gehofft, die Argentinier samt Erika Frey und Richter hier anzutreffen. Es war der letzte Rastplatz vor dem Gipfelgang, der Ort, an dem zum letzten Mal die Sauerstoffflaschen gewechselt wurden. Er war leer, nur Schnee und ein paar leere Flaschen, die die anderen hier zurückgelassen hatten. Der Berg würde sie
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bald ebenso schlucken wie die Leichen von Rob Hall, Doug Hansen und Andy Harris, die ‘96 hier gestorben waren und irgendwo, nicht weit entfernt, unter dem Schnee liegen mußten. Dreier hatte keine Ahnung, wo er war, er war nur froh, daß das Gehen zu Ende war, er merkte nicht einmal, daß ihm Steiner die Maske abnahm und eine neue Sauerstoffflasche anschloß. Auch Steiner war müde, so müde wie noch nie, doch er funktionierte noch. Sie mußten weiter, zum Hillarystep, zum verdammten Hillarystep, dann war’s ein Kinderspiel, gehen, nur gehen. Er packte Dreier an der Schulter und versuchte, ihn hochzuziehen. Mingma, verflucht noch mal, ich hab dich dafür bezahlt, und jetzt muß ich alles allein machen! Der Lehrer bewegte sich, hob den Kopf, starrte ihn durch die schwarzen Brillengläser an. »Steh auf«, schrie es in Steiners Kopf, die Hände zerrten an Dreiers Schulter. Langsam, ganz langsam kam Bewegung in den Körper, es waren eckige Bewegungen, wie bei einem ferngesteuerten Roboter, und das Aufstehen dauerte eine Weile. Steiner sah die Männer erst, als sie neben ihm waren. Gygi, Gutscher und Guignard, alle drei waren ohne Maske gegangen, in ihren Barten hingen Eiszapfen, der Wind hatte die Körper mit einer Schneeschicht beklebt. Sie sahen aus wie Wesen, die von einem fernen Eisplaneten kamen. Zwei gingen weiter, einer blieb kurz stehen, deutete nach oben und nickte, dann folgte er den anderen. Steiner starrte ihnen kurz nach, dann zog er am Seil und setzte Dreier in Bewegung. Jedes Zeitgefühl war ihm längst abhanden gekommen.
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Richter Am Südgipfel erkannte Richter, daß sich das Team der Argentinier gespalten hatte. Drei von ihnen waren offenbar vorausgegangen, sie waren nicht mehr da. Bei den drei anderen, denen er mit Erika Frey gefolgt war, handelte es sich um Blanca Franzoni, Raul Marin und den Sirdar Ang Rita. Die Frau erkannte ihn, nickte ihm zu, war jedoch so erschöpft, daß sie nicht reden konnte. Auch Marin war in schlechter Verfassung, der Sirdar war offensichtlich zurückgeblieben, um sich um die beiden zu kümmern. Fünf Menschen, die kein Wort miteinander redeten und die der Berg, jetzt und hier, trotzdem zu einem Team zusammengeschweißt hatte. Richter sah, daß der Sherpa der Frau dabei half, die Sauerstoffflasche auszutauschen, er schaute ihm eine Weile dabei zu, ohne daran zu denken, daß er dasselbe tun sollte. Wahrscheinlich hätte er es vergessen, wenn ihm Erika Frey nicht auf die Schulter geklopft und es ihm in Zeichensprache mitgeteilt hätte. Er nahm die Maske ab und wollte ihr danken, doch wurde es nur ein unverständliches Lallen, sie lächelte und sagte nichts. 8760 Meter. Richter saugte die Luft ein, sie war kalt und stach mit tausend Nadeln auf seine Luftröhre ein. Richter wußte, daß er es nur der Flasche verdankte, daß er jetzt hier war. Der Südgipfel. Ein großer Name. Jetzt nur ein trostloser Ort, den er so rasch wie möglich verlassen wollte. Endlich wieder Luft aus der Flasche, endlich weiter. Der kurze Abstieg, dann der scharfe Gipfelgrat, Stapfen, stumpfes Stapfen, ein Schritt, dann noch einer. Für andere hatte sich hier ein herrliches Panorama aufgetan, die höchsten Berge der Welt, Richter sah nur Grau.
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Der Hillarystep, steil, viel Schnee, ein Seil, drei Menschen, die sich abgeseilt hatten und nun auf sie zukamen. Die Schweizer. Eisverkrustete Gesichter, gut funktionierende Körper. Als sie an ihm vorbeieilten, zeigte Richter in Richtung Gipfel, einer der drei nickte, dann eilte er weiter. Der Hillarystep. Zwölf senkrechte Meter. Es schneite noch immer, der Wind war stärker geworden. Richter war der letzte. Warten, verdammtes Warten, alles ging so langsam, die Argentinierin brauchte für jeden Meter eine Ewigkeit. Die Kälte begann, Richter aufzufressen. Er war der Maskenmann, das Monster, das aus dem Frost kam. Er hatte glühende Finger und glühende Zehen, sie taten ihm weh. Frost und Feuer hatten denselben Schmerz. Endlich war Erika Frey an der Reihe, er stellte sich neben sie, sah ihr zu, wie sie sich langsam höherschob, dann kam er. Zwölf Meter, die zu einem Jahr werden. Winzige Schritte und gefühllose, schlaffe Hände, die sich nur festklammern können, weil die Arme nicht mehr stark genug sind, um das Gewicht des Körpers höherzuziehen. Qualvoll. Nur Erika Frey wartete oben, die anderen waren im Nebel verschwunden. Sie gingen weiter, den Grat entlang. Richter hatte sich so oft vorgestellt, wie es sein würde, ein Triumphgefühl, das einem fast den Brustkorb zerreißt, jetzt empfand er gar nichts, er spürte nur den Wind, der an ihm riß, und die Kälte, und er sehnte sich nach dem Ende des Weges. Nicht weil es der Gipfel des Mount Everest war, sondern das Ziel, das er erreichen mußte. Schatten lösten sich vor ihm aus dem Nebel, Richter erkannte sie nicht, wußte nicht mehr, wer sie waren, für ihn waren sie nur Hindernisse, die aus dem Weg gehen sollten, er wollte
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nicht stehenbleiben, jetzt nicht mehr. Der erste Schatten tat einen Schritt zur Seite, in den Schnee hinaus, Richter ging weiter, an allen drei vorbei, dann gab es sie nicht mehr, nur noch die Spur im Schnee, die ihn weiterzog. Ein Schritt und noch einer, dann der nächste, bis der Weg zu Ende war. Der Gipfel des Mount Everest. Düsteres Grau. Die Höhe sieht man nur dann, wenn man in eine Tiefe blicken kann. Für Richter und die vier anderen, die diesen Ort mit ihm erreicht hatten, gab es keine Tiefe, nur eine einsame Kuppe mit von Füßen zertrampeltem Schnee, aus dem einige bunte Stoffetzen, die Spitzen einiger Aluminiumstangen und anderer Müll ragten. Die Amerikaner oder die Italiener hatten zwei Sauerstoffflaschen hier zurückgelassen. Höher ging es nicht mehr, nur noch bergab, es war der Gipfel der Erde, dann kam nur noch der Himmel. Der Aufstieg hatte Richter völlig entleert, ihm alle Kraft für große Emotionen genommen, wenn er etwas empfand, dann war es Erleichterung, nicht einmal Freude. Der Sherpa holte eine Kamera aus dem Rucksack der Argentinierin und machte ein paar Fotos. Richter stand da und sah ihm dabei zu, es war ein Film, der vor ihm ablief. Erika Frey stand neben ihm, doch er nahm sie kaum wahr. Erst als sie ihn am Arm packte und auf ihren Rucksack zeigte, erinnerte er sich. Fotos, man macht Gipfelfotos, alle machen Gipfelfotos, sie sind der einzige Beweis dafür, daß man es geschafft hat. Wer keine Fotos hat, war nie hier. Richter hatte keine Kamera mit, weil es niemanden gab, für den er einen Beweis brauchte, nur für ihn selbst, und er war hier. Er war wirklich hier! Inmitten der großen Leere. Der Wind fetzte an seiner Kleidung, es schneite nicht mehr. Erika Frey riß an seinem Arm, er starrte sie an, dann verstand er. Ihre Kamera. Seine Finger waren steif, nicht mehr kalt, nur gefühllos. Es
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dauerte unendlich lange, bis er die Kamera aus der Außentasche ihres Rucksacks geholt hatte, ein kleines Ding, gut verpackt. Für ein gutes Bild hätte er Brille und Maske abnehmen müssen, er tat es nicht. Sie stapfte ein paar Schritte von ihm weg, er hielt die Kamera in ihre Richtung und drückte ab, dreimal, Gipfelfoto im Nebel, wer zum Teufel sollte wissen, daß es der Everest-Gipfel war. Sie kam zu ihm zurück, nahm ihm den Apparat ab und deutete ihm, zur selben Stelle zu gehen, von der sie gerade zurückgekommen war. Er dachte nicht nach, er tat es einfach, sie fotografierte ihn. Das war’s, Richter packte die Kamera wieder ein, verstaute sie im Rucksack. Es gab kein mächtiges Gefühl, das er auskosten konnte, nur den Wunsch, diesen Ort schnell wieder zu verlassen. Die Argentinier und der Sherpa standen noch da, verloren, wußten nicht, was sie jetzt noch tun sollten. Richter drehte sich um und ging los, Erika Frey folgte ihm. Richter war froh, daß er wieder geben konnte, eine Aufgabe hatte. Bergab waren die Beine leichter, das Atmen machte weniger Mühe. Sauerstoff. Richter dachte plötzlich an den Sauerstoff, der Sauerstoff war jetzt das Maß aller Dinge, er setzte die Grenzen. Zeit. Er hatte nur noch soviel Zeit, wie er Sauerstoff in der Flasche hatte. Keine Panik, es wird reichen, du mußt jetzt nur etwas schneller gehen. Der Befehl erreichte seine Beine, sie bemühten sich. Er versuchte langsamer zu atmen. Erika Frey war noch hinter ihm, er konnte jetzt jedoch nicht stehenbleiben, um es ihr zu sagen.
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Die Expedition Steiner hatte Dreier bis zum Fuß des Hillarysteps geschleppt, weiter ging es nicht mehr. Etwas weiter unten waren die drei Argentinier wortlos an ihnen vorbeigestiegen, vielleicht hätten sie Dreier mit ins Lager genommen, wenn er sie darum gebeten hätte, er hatte es nicht getan, weil er in diesem Augenblick einfach nicht daran gedacht hatte. Als es ihm eingefallen war, war es längst zu spät gewesen. Jetzt stand er vor der mickrigen Steilstufe und wußte, daß er ohne fremde Hilfe keine Chance hatte, den Mann hochzubekommen. Nur zwölf Meter, sie hätten jedoch genausogut die ganze Eiger-Nordwand sein können. Er selbst war beinahe am Ende seiner Kräfte, die Batterie, die ihn so lange gespeist hatte, reichte wahrscheinlich gerade noch für den Rückweg, vielleicht für eine letzte Kraftanstrengung. Dreier hatte sich in den Schnee fallen lassen. Es würde nicht lange dauern, eine Stunde vielleicht, dann hatte Steiner es geschafft. Bis zum Gipfel und wieder zurück, dem Lehrer würde es dann besser gehen, und Richter und Erika Frey würden dasein, um ihm zu helfen. Er beugte sich zu Dreier hinab und nahm die Maske ab. Er sagte ihm, daß er nur kurz weg sein würde, daß sich der Lehrer keine Sorgen machen sollte, nur hierbleiben, sich ja nicht vom Fleck rühren, doch Steiner konnte seine eigenen Worte nicht hören, nur den Wind. Er nahm das Seil ab, das ihn mit Dreier verband, und verknüpfte es mit dem Ende des Seils, das vom Hillarystep hing. Falls der Lehrer wirklich die Kraft aufbringen würde, aufzustehen und irgendwo hingehen zu wollen, würde es ihn zurückhalten, nicht wirklich sichern, aber vielleicht vor einem Absturz bewahren. Der Knoten war einer von Steiners Spezialknoten, Dreier würde ihn nicht aufknüpfen können. Steiner wußte, daß er die Verantwortung für das Leben des
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Mannes trug, jetzt hatte er sie auf den Knoten übertragen. Der Hillarystep, nur ein blödsinniger Hügel, ein Nichts, fünfzig, sechzig Schritte nach oben, mehr nicht. Als er mit Berner unterwegs gewesen war, war alles ein Kinderspiel gewesen, fast lächerlich. Der Sauerstoff würde nicht reichen, er wußte es, bergab war es jedoch auch ohne die Maske zu schaffen, andere, die nicht so gut waren wie er, hatten überhaupt keine Maske gebraucht. Erika Frey würde auf dem Gipfel warten, viel schneller war sie nicht unterwegs gewesen. Dann das Foto und dann endlich abwärts. Mit Mingma wäre alles so viel leichter gewesen. Noch immer der verdammte Hillarystep, warum ging alles so langsam. Er blickte zurück, Dreier kauerte noch immer an derselben Stelle. Steiners Finger waren gefühllos, Klauen aus irgendeinem fremden Material, die seinen Befehlen gehorchten, das Seil umklammerten, vielleicht hätte er den Steigbügel nehmen sollen. Steiner hatte es beinahe geschafft, als die Klauen dem Befehl nicht mehr gehorchten, das Seil nicht mehr fest genug umklammern konnten, um dem Körper die nötige Stabilität zu geben. Sein Hirn explodierte in einem Alarmschrei. Plötzliche Hitze schoß durch die Glieder. Es gab nichts mehr, das den Absturz verhindern konnte. Er landete zuerst auf der Seite, dann auf dem Rücken, der Körper drehte sich, schlug gegen einen Felsen, kollerte weiter, er spürte noch, wie ihm die Maske vom Gesicht gerissen wurde, dann spürte er nichts mehr.
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Richter Dreier lag noch immer an derselben Stelle am Fuße des Hillarysteps, an der ihn Steiner zurückgelassen hatte, als Richter und Erika Frey bei ihm anlangten. Der Wind, der jetzt immer wütender wurde, hatte seinen Körper mit einem Frostschleier überzogen. Er sah aus wie eine Leiche, die man in einer Tiefkühlkammer deponiert hatte. Richter beugte sich über ihn und nahm ihm die Brille ab, um seine Augen sehen zu können. Sie blickten ihn scheinbar leblos an, waren jedoch nicht tot. Die Augäpfel bewegten sich und dann auch die Augenbrauen, wohl um ihm zu signalisieren, daß noch Leben im frostigen Körper war. Richter nahm zuerst seine Maske ab, dann auch die des Lehrers. Dreier bewegte die Lippen, aber er schaffte keine Worte. »Steiner?« fragte Richter und wunderte sich, daß er wieder reden konnte, »wo ist Steiner?« Wieder der Versuch, etwas zu sagen, dann ein kaum erkennbares Kopfschütteln. »Wahrscheinlich abgestiegen, um Hilfe zu holen«, vermutete Erika Frey neben ihm. Sie hatten Steiner oben nicht gesehen, also mußte er unten sein, eine andere Möglichkeit gab es für ihr gemartertes Hirn in diesem Augenblick nicht. Richter wußte, daß sie kostbaren Sauerstoff verschwendeten, wenn sie länger hierblieben, er wußte aber auch, daß sie jetzt nicht weitergehen konnten. Was Steiner getan hatte, war Steiners Sache, wenn sie Dreier hier liegenließen, würden sie mit Sicherheit einen Toten zurücklassen. Wenn es bei diesem Wetter überhaupt die Möglichkeit gab, einen Hilfstrupp bis hierher zu schicken, würde er zu spät kommen. Es war mehr Gefühl als Logik, mehr
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Ahnung als nüchterne Einschätzung. »Wir müssen etwas tun«, sagte Erika Frey, Richter nickte. Dann kamen die Argentinier, zuerst die Ärztin, dann der Mann, zuletzt der Sherpa. Nur Ang Rita war noch einigermaßen bei Kräften, die beiden anderen wirkten ausgelaugt, fast lethargisch. Sie wollten weitergehen, doch Richter stellte sich in ihren Weg. »Wir brauchen Hilfe«, sagte er zu Blanca Franzoni und zeigte auf Dreier, »der Mann stirbt, wenn wir nichts tun.« Der Sherpa nahm die Maske ab und schüttelte den Kopf. »Wind zu stark, wird Sturm, müssen ins Lager, vielleicht schon zu spät!« Er zeigte auf den Lehrer. »Wenn Mann nicht selbst gehen kann, keine Hilfe, tragen unmöglich. « Der Sherpa nickte der Ärztin und Raul Marin zu. »Jetzt gehen, sofort gehen, sonst sind alle tot!« Blanca Franzoni blieb einige Sekunden lang stehen, dann ging sie zum Lehrer und kniete sich neben ihm nieder. Sie zog ihre Handschuhe aus und befreite sich von der Maske, dann legte sie auch Dreiers Gesicht frei, untersuchte die Augen, fühlte den Puls, fast wie zu Hause in ihrer Ordination. Richter erinnerte sich plötzlich an das Dexamethason, das Nancy für ihn von Doktor Lee gestohlen hatte. Er hatte es in ein Paar Socken gewickelt und in die Innentasche seines Anoraks gesteckt, jetzt nahm er es heraus und zeigte der Ärztin die beiden Packungen. »Dex«, sagte er, »glaubst du, es wird helfen?« Raul Marin brüllte etwas auf spanisch. »Keine Zeit mehr«, warnte der Sherpa wieder. Blanca Franzoni antwortete ihnen nicht. Sie nickte und nahm ihm eine Packung ab.
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»Ich habe selbst keines mit«, sagte sie, »hab nie geglaubt, daß es wirklich hilft, aber es ist eine Chance!« Die Injektion bewirkte tatsächlich eine Veränderung in Dreiers Zustand, er versuchte bald, seine Gliedmaßen zu bewegen, es gelang ihm auch und mit Richters, Erika Freys und der Hilfe der Ärztin schaffte er es nach einer Weile sogar aufzustehen. Sie hatten mindestens eine halbe Stunde verloren, der Sauerstoff in ihrer letzten Flasche würde nun mit Sicherheit nicht mehr bis zum Südsattel reichen, doch sie bewegten sich jetzt wieder. Langsamer als zuvor, weil sie Dreiers Tempo gehen mußten, der gehorsam, wie eine Maschine, die man darauf programmiert hatte, einen Schritt vor den anderen setzte, aber es ging abwärts. Der Lehrer gehörte jetzt wieder Richter und Erika Frey, die Argentinier waren längst vor ihnen im Nebel verschwunden. Am Südgipfel blieben sie kurz stehen, und Richter packte die Sauerstoffflaschen ein, die im Schnee steckten, weil er hoffte, sie würden noch nicht ganz leer sein. Wenn nichts mehr drin war, hatte er sie umsonst geschleppt, nur ein schwerer Rucksack, sein Körper registrierte es kaum, weil er nur noch aus Bewegung bestand, und Schmerz und Kälte und Erschöpfung zu einem Zustand zusammengeschmolzen waren, den seine Sinne nicht mehr erfassen konnten. Er ging, bis der Sauerstoff zu Ende war, dann nahm er die Maske ab und schloß mühsam zuerst die erste, dann die zweite Flasche vom Südgipfel an. Beide waren leer. Sie gingen weiter, in den Sturm hinein, der sie vom Berg zu reißen versuchte und ihnen eisige Schneewolken in die Gesichter schleuderte. Dreier stürzte einige Male, doch sie schafften es immer wieder, ihn hochzubringen und wieder ein paar Schritte zu tun. Sie hatten keine Ahnung, wo sie sich befanden, zuerst waren noch die Spuren da, halb verweht, im wütenden Wirbel der
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aufgewühlten Schneemassen kaum sichtbar, dann gab es auch keine Spuren mehr, und als Richters träges Gehirn ihm endlich signalisierte, daß sie den Weg verloren hatten, war es zu spät. Wenn irgendwo dort vorn der Abgrund nach Tibet war, dann würden sie ihn in diesem Zustand, bei diesem Wetter nicht sehen können. Sie waren am Ende des Weges angelangt, und Richter nahm es hin. Er konnte nicht mehr kämpfen. Der Berg hatte seine Entscheidung getroffen, und sie war gegen ihn ausgefallen. Der Boden, auf den er sich setzte, war hart. Eis und darüber eine dünne Schneeschicht, keine Chance, eine Höhle zu graben. Der Wille, der den Körper in Bewegung gehalten hatte, war nicht mehr da. Es gab auch keine Verzweiflung, keine Angst, kein Später, nur das Jetzt. Das Heulen des Sturms, die Milliarden Eiskristalle, die er durch die Luft wirbelte, die immer wiederkehrende frustrierende Anstrengung des unbefriedigenden Atemholens, das langsame Absterben der Gliedmaßen, die mühsame Suche nach klaren Gedanken. Dreier verfiel rasch wieder in denselben Zustand, in dem sie ihn unter dem Hillarystep gefunden hatten. Richter besaß noch eine Ampulle, doch er wußte es nicht mehr, und wenn er es gewußt hätte, dann hätte sie niemandem mehr genutzt. Erika Frey nahm den Rucksack ab und legte ihn so hin, daß er eine kleine Barriere bildete, die ihr Gesicht vor dem Wind schützte, wenn sie sich flach gegen den Hang preßte. Richter erhöhte die Barriere, indem er seinen Rucksack auf ihren legte. Sie lagen nebeneinander, ihre Körper berührten sich, doch es gab keine Wärme, die sie austauschen konnten. »Steiner«, sagte sie plötzlich, er verstand sie zuerst nicht, erst als sie es nochmals sagte. »Steiner wird kommen, morgen früh.«
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Die Expedition Steiner hatte das Gefühl, aus einem tiefen, langen, traumlosen Schlaf zu erwachen. Er hatte keine Schmerzen und ließ sich von einem angenehmen Dämmerzustand tragen, bis langsam das Bewußtsein durchsickerte und ihm befahl, die Augen zu öffnen. Sie sahen ein Stück schwarzen Fels und Schnee und seinen Arm, der seltsam verkrümmt an der Felswand lehnte. Er versuchte, ihn zum Körper zu ziehen, doch er wehrte sich mit einem stechenden Schmerz dagegen. Steiner suchte nach einer Erklärung dafür, und langsam, ganz langsam kam das Wissen. Everest, Hillarystep, der Sturz. Er richtete sich auf, der Arm baumelte mit, schmerzte wieder, der schlimmere Schmerz kam jedoch aus seinem linken Bein, das offensichtlich ebenfalls gebrochen war. Der Felsblock ragte aus einem steilen Hang, er war nicht hoch, einen Meter vielleicht, aber er hatte seinen Sturz gebremst, sonst wäre er wohl tausend Meter in die Tiefe gestürzt. Steiners Kopf war plötzlich klar. Er schaute nach oben. Da war nur der Beginn eines mit Fels durchsetzten Schneefeldes, das sich im Nebel verlor, eine gewaltige Herausforderung für einen gesunden Bergsteiger, der ohne Sauerstoffflasche ging, unmöglich für einen Krüppel mit gebrochenem Arm und Bein. Selbst wenn er es schaffen würde, wäre dort oben nichts, nur eisige Kälte und das Peitschen des Windes, und selbst wenn er oben, neben der Aufstiegsroute, unter diesen Umständen die Nacht überleben und irgendwann, am nächsten Tag, von den anderen gefunden werden würde, hätte er absolut keine Chance. In dieser Höhe war noch nie einer, der nicht mehr in der Lage war, selbst zu gehen, in Sicherheit gebracht worden. Er hatte verloren, für immer und endgültig. Es war nicht der
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Tod, den er fürchtete, nur das langsame, qualvolle Sterben. Er stemmte sich mit der gesunden Hand gegen den Felsbrocken und zog das funktionierende Bein langsam zum Körper, es dauerte unendlich lange, bis er es geschafft hatte, einigermaßen aufrecht zu stehen. Er sah nicht viel von der Tiefe, nur ihren Anfang, und der sah gleich aus wie der Hang über ihm, Eis und Schnee und dazwischen schwarzer Fels, nur ein paar Meter, dann tauchte alles im grauen Nebelmeer unter. Er dachte daran, daß er nun nie mehr diesen verdammten Berg hochsteigen mußte, nie mehr, dann ließ er sich fallen.
Richter Als Richter ihre Arme spürte, die sich fest um seinen Körper schlangen, legte auch er seine Arme um sie. Sie lagen eng umschlungen am Eis, ihre Wangen berührten sich, doch die Haut war so kalt, daß er ihren Atem nicht spüren konnte. Er hatte keine Ahnung mehr, wie sich Wärme anfühlte, der Berg hatte ihm fast alles, was er davon besessen hatte, genommen, jetzt forderte er auch den winzigen Rest, der ihn gerade noch am Leben hielt. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Es war nicht ihre Stimme, aber es gab keine andere außer seiner eigenen. Dreier, er hatte völlig vergessen, daß auch Dreier hier war. Er löste sich kurz von ihr und drehte sich um. Dreier lag dort, wo er von Anfang an gelegen hatte. Dreier hatte sicher nicht geredet, es mußte ihre Stimme gewesen sein oder seine eigene. Vielleicht war es Christoph. Es mußte Christoph gewesen sein. Er sah den Jungen, eine Almwiese und blauen Himmel, der Junge ging langsam auf ihn zu, blieb
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stehen, lächelte. »Du hast es geschafft«, sagte er, »du warst auf dem Gipfel.« »Es war kein Gipfel«, schrie Richter, »es war nur eine mickrige Schneekuppe, auf der sie Müll lagern, der Berg hat mich betrogen.« Der Junge schüttelte lächelnd den Kopf. »Du hast keinen schönen Ort gesucht, sondern ein Ziel. Es war dein Ziel, und du hast es erreicht, ich bin stolz auf dich.« »Nicht einschlafen«, sagte eine Stimme, es war doch ihre, es mußte ihre sein. Richter riß die Augen auf und sah nichts, nur Schwarz. Ich bin blind, dachte er, und es störte ihn nicht, alles war in Ordnung, so wie es war. Er hatte keinen Körper mehr, spürte nichts. Er sah Kerzen, viele Kerzen, dunkles Rot und Gold und den Dalai Lama mit dem ewigen gütig-heiteren Blick hinter den Brillengläsern. Es war warm und schön, er fühlte sich geborgen. Wenn es bei den Göttern so warm und so schön war, dann wollte er bleiben, dann war alles nicht vergebens gewesen, dann hatte ihn der Berg zu den Göttern geführt. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Wieder das Schwarz, er spürte plötzlich wieder seine Hände, sie lagen auf etwas, das sich bewegte. Nancy, es mußte Nancy sein. Er sah sie, irgendwo am Meer unter einem blauen Himmel, Palmen, weißer Sand. »Das Paradies ist hier, bei mir«, sagte sie. Sie trug einen Bikini, ihr Haar wehte im Wind. »Komm zurück, ich warte!« Christoph, neben ihr im Sand hockend, eine Sandburg bauend. Nancy deutete auf den Jungen: »Wir warten!« Der Junge schaute auf, hinter ihm stand plötzlich der Teufel. Er sah so aus wie die Teufel aus seiner Kindheit, schwarzes Zottelfell, rote Hörner, rote Augen, lange, spitze Ohren, Pferdefuß, Schwanz.
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Der Teufel kicherte sein teuflisches Kichern, Christoph baute weiter an seiner Sandburg, er hatte den Teufel nicht bemerkt. »Wir haben einen Pakt«, kicherte der Teufel, »du weißt genau, daß wir einen Pakt haben.« »Nein«, schrie Richter, »ich habe nichts mit dir zu tun!« »O doch«, kicherte der Teufel, »du hast mir deine Seele versprochen, wenn ich dir den Berg gebe, jetzt hast du den Berg.« »Es war kein Berg«, rief Richter, »nur Schnee und Müll, du hast mich betrogen.« Der Teufel lachte dröhnend. »Es gibt ein Foto, den Beweis«, sagte er, »leugnen ist zwecklos.« Richter sah plötzlich klar, der Teufel hatte sie mitgeschickt. Erika Frey stand neben dem Teufel, hatte auch Hörner und rote Augen, streckte ihm die Kamera entgegen. »Der Beweis«, kicherte sie. Richter riß die Augen auf, sie war der Teufel, er lag neben dem Teufel. Er versuchte aufzustehen, wegzulaufen, doch der Teufel hatte seine Glieder gelähmt. »Wir beschützen dich«, lächelte der Dalai Lama, »du bist bei den Göttern gelandet.« Wieder die Kerzen, das dunkle Rot und das Gold, die wohlige Wärme. »Komm zu uns«, forderte Nancy, Christoph stand neben ihr, sie hatte ihren Arm um seine Schultern gelegt, »komm rasch, wir brauchen dich!« »Alles okay, Papa«, sagte der Junge, »du schaffst es, du hast immer alles geschafft, ich liebe dich.« Der Junge streckte die Hand aus und streichelte sein Gesicht. Er spürte seine Finger, sie waren stark, sie schlugen ihn, kein Schmerz, nur der Druck des Schlages auf seiner gefühllosen Haut. Richter riß die Augen auf, es war nicht mehr schwarz, er
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konnte wieder sehen. Nicht Christophs Gesicht, es war ein anderes, er kannte es. Doktor Lee, es war Doktor Lee. Was zum Teufel tat der Amerikaner hier? Jim Lee und ein anderes Gesicht, das er kannte. Sie redeten, aber er verstand sie nicht. Es war hell, fast zu hell, die Augen schmerzten ihn, und er schloß sie wieder. Langsam, ganz langsam, löste er sich von seinen Träumen und begann, die reale Welt wiederzuerkennen. Er lag noch immer am Berg, doch es gab keinen Sturm mehr, auch keinen Nebel. Richter schlug die Augen wieder auf und sah den Himmel, Wolken, aber auch viel Blau, kein Wind, nur die Stimmen, er begann Wortfetzen zu verstehen. »Injektion«, verstand er, »Weile dauern … werden sehen … wirkt.« Er versuchte zu reden. Es ging nicht. Dann spürte er, wie sein Körper langsam zu ihm zurückkam, kein Schmerz, nur das Gefühl, daß er mehr war als nur die Träume und die Gedanken, die jetzt immer klarer wurden. Sie hatten sie gesucht, und sie hatten sie gefunden. Es waren fünf Männer. Zwei von ihnen halfen ihm, sich hochzusetzen, dann halfen sie ihm aufzustehen. Es funktionierte, er stand, und seine Beine trugen ihn. Neben ihm stand Erika Frey. Ihre Blicke trafen sich. Sie sah anders aus, fast wie ein alter Mann. Er versuchte wieder zu reden, die Lippen waren steif, und die Zunge war dick und schwer. »Nicht einschlafen«, krächzte er. Sie nickte, sie hatte verstanden.
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Neuseeland Der Strand sah genauso aus wie jener, den er vor acht Monaten in seinen wirren Träumen gesehen hatte, Nancy trug einen Bikini, ihr Haar wehte im Wind. Es war ein einsamer Strand, in Neuseeland gibt es noch viele einsame Strande. Sie hatten eine Decke ausgebreitet, Richter lag auf dem Bauch und las in einem Buch. Sie hatten es gestern bekommen, per Luftpost aus den Vereinigten Staaten. Es hieß »My Life for a Mountain«, und es erzählte seine Geschichte, aufgezeichnet von Lucie Bell. Es war Nancy, die ihn überredet hatte, es zu tun, er hatte sich zuerst dagegen gesträubt, weil er sich für das, was geschehen war, geschämt hatte. Er hatte auch befürchtet, Lucie würde ihn zu einem anderen machen, einer heroischen Gestalt, die Übermenschliches geleistet hatte, Helden verkaufen sich noch immer gut. Die langen Gespräche mit Lucie und Nancy im Krankenhaus von Wellington hatten ihm jedoch nicht nur geholfen, die lähmenden Krankenhaustage aufzulockern, sie hatten ihm auch die Gewißheit gegeben, daß es sein Buch sein und seinen langen Weg auf den Berg, der letztendlich der Weg zu sich selbst war, in seinem Sinne beschreiben würde. Die Phrase klang alt und abgelutscht, und doch stimmte sie. Der Berg hätte ihn fast umgebracht, und am Ende hatte er ihm ein neues Ich gegeben. Es war wie eine Wiedergeburt. Richter hatte in jener Nacht am Berg die ersten Glieder von acht Zehen verloren, die Erfrierungen an den Händen und im Gesicht hatten langwierige Behandlungszeiten erfordert, das Geschick der neuseeländischen Ärzte hatte jedoch verhindert, daß weitere Amputationen vorgenommen werden mußten. Acht kleine Haut- und Knochenstücke und die Zeit im Krankenhaus waren der Preis, den er für ein neues Leben
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bezahlt hatte. Richter fand, daß es ein fairer Preis war. Lucie war mit stundenlangen Tonbandaufzeichnungen nach Amerika zurückgeflogen und hatte dort seine Aussagen mit ihren eigenen Recherchen verknüpft. Vor drei Monaten hatte sie ihm das fertige Manuskript geschickt, es war gut, er hatte nur geringfügige Korrekturen gemacht. Jetzt hielt er das fertige Buch in der Hand, in zwei Wochen würde es in den Buchhandlungen liegen. Richter blätterte zu der Stelle, in der Lucie die Rettungsaktion beschrieb. Jim Lee war an jenem Tag, an dem Steiners Truppe zum Gipfel aufgebrochen war, von Lager drei zum Südsattel hochgestiegen, weil er sich um Barry Hartley kümmern wollte, der noch immer an Magenkrämpfen litt und in diesem Zustand nicht in der Lage war, mit den anderen abzusteigen. Stan Booker und zwei Sherpas waren bei ihm geblieben, der Rest der amerikanischen Mannschaft hatte den Südsattel am Morgen verlassen. Als der Arzt Lager vier erreicht hatte, wurde er von einem zunehmend wütender werdenden Sturm empfangen, der Wind hatte einige der leerstehenden Zelte weggeweht, einige andere bestanden nur noch aus verbogenen Rohren und Stoffetzen. Er versorgte Hartley mit Medikamenten, bald danach kehrten die Japaner von oben zurück. Shin Kataoka, der Expeditionsleiter, war erfahren genug, um zu wissen, daß er mit dieser Mannschaft bei diesen Bedingungen an diesem Tag keine Chance hatte. Das Ehepaar Goto hatte den Anstieg so verlangsamt, daß sie knapp vor Mittag noch nicht einmal den Balkon erreicht hatten. Bald darauf erreichten auch die drei Schweizer, die auf den Lhotse gestiegen waren, das Lager und trafen eine Stunde später mit Gygi, Gutscher und Guignard zusammen, die vom Everest zurückkamen, zu müde zum Jubeln, jedoch
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überglücklich über den erfolgreichen Verlauf ihrer Expedition. Gygi und die beiden anderen berichteten von extrem schwierigen Bedingungen und meinten, daß es für einige dort oben noch ernste Probleme geben könnte, wenn sie sich nicht zur rechtzeitigen Umkehr entschließen würden. Als Larriera, Rodino und Olsina eintrafen, blieb höchstens noch eine Stunde bis zur Dunkelheit. Die drei Argentinier erzählten, daß sich zwei Mitglieder der deutschen Expedition mit der zweiten Hälfte ihres Teams zusammengetan hatten und wohl bald eintreffen müßten, die beiden anderen Deutschen hätten große Schwierigkeiten gehabt und seien hoffentlich vernünftig genug gewesen, sich der Fünfergruppe beim Abstieg anzuschließen. Von Dawa wußte zu diesem Zeitpunkt niemand etwas. Die Japaner hatten ihn zuletzt gesehen, er war ihnen während ihres Aufstiegs entgegengekommen, hatte kraftlos und völlig ausgelaugt gewirkt, war wortlos an ihnen vorbeigewankt und im Nebel verschwunden. Der junge Sherpa ist nie im Lager angekommen, sein Körper wurde bis heute nicht gefunden. Daß Blanca Franzoni, Raul Marin und Ang Rita den Rückweg ohne größere physische Schäden geschafft hatten, grenzte beinahe an ein Wunder. Sie hatten den letzten Teil des Weges bei völliger Dunkelheit, im Sturm, mit leeren Sauerstoffflaschen zurückgelegt und sich trotzdem nicht verirrt. Alle drei waren völlig entkräftet und eine Zeitlang nicht in der Lage gewesen zu berichten, was sie von den anderen, die noch immer am Berg waren, wußten. Dann erzählte die Ärztin von Dreier, den sie am Fuße des Hillarystep am Ende seiner Kräfte angetroffen hatte, und daß eine Frau und ein Mann bei ihm geblieben waren. Stan Booker, der einzige am Südsattel verbliebene Bergführer, der seine Kräfte noch nicht bei einem Gipfelgang
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verbraucht hatte, erklärte sich sofort bereit, hochzusteigen, um nach den Verschollenen zu suchen, wenn es die Wetterbedingungen auch nur einigermaßen erlauben würden, Jim Lee schloß sich ihm spontan an, dann bat Gyalzen, mitgehen zu dürfen, auch einer der beiden Sherpas, die für die Amerikaner arbeiteten, war dabei, und am Ende bot auch Shin Kataoka, der japanische Expeditionsleiter, seine Hilfe an. Wenn es in diesen Tagen auf dem Mount Everest Helden gegeben hatte, dann waren es diese fünf Männer. Zum Glück für alle ließ der Sturm gegen Mitternacht nach, am Morgen gab es nur noch starken Wind und teilweise sogar blauen Himmel. Der Sturm hatte die Spuren fast zur Gänze verweht, sie mußten sich mühsam einen neuen Weg nach oben bahnen. Sie waren allein am Berg, die Slowenen, Tschechen und Koreaner, die an diesem Tag für den Gipfelgang an der Reihe gewesen wären, hatten ihn wegen des schlechten Wetters verschoben und waren wieder ins Zweierlager abgestiegen. Bookers Berechnungen nach, die er aufgrund der Auskünfte der Argentinierin angestellt hatte, müßten die drei, auch wenn sie extrem langsam vorangekommen waren, bis auf etwa 8300 Meter gelangt sein, bevor die Nacht gekommen war. Sie suchten das in Frage kommende Gebiet ab, fanden jedoch nichts. Es war Gyalzen, der weiter oben den roten Fleck sah, der sich etwa fünfzig Meter neben der Aufstiegsroute vom Weiß des Geländes abhob. Es waren Teile von Dreiers Anorak, den Rest des Körpers hatte der Schnee zugedeckt. Sie legten ihn frei, doch Jim Lee stellte rasch fest, daß der Mann tot war. Es war ihm auch bald klar, daß sie keine Leiche gefunden hatten, die schon lange hier oben war, sondern einen von den drei Vermißten. Sie begannen, die Umgebung abzusuchen, entdeckten zunächst jedoch nichts. Sie arbeiteten sich immer näher an den Grat heran, der zweitausend Meter
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tief nach Tibet abstürzt, und wollten schon aufgeben, als sie auf die beiden eng umschlungenen, fast völlig vom Schnee zugedeckten Körper stießen, sie lagen kaum zehn Meter vom Abgrund entfernt. Einige Schritte mehr, und sie wären in die Tiefe gestürzt. Richter hatte während seiner Rettung nie an Dreier gedacht, erst später hatte er erfahren, wo man den Lehrer gefunden hatte. Irgendwann, während der Nacht, mußten sich die allerletzten Kräfte, die noch in ihm gesteckt hatten, zusammengeballt und den Körper vorwärtsbewegt haben, zu Erika Freys und Richters Glück in Richtung Aufstiegsroute. Es war eines jener Wunder gewesen, die über Leben und Tod entscheiden. Nur weil Dreiers Körper dort lag, hatten die Helfer auch die beiden anderen finden können. Damit war der Lehrer in der letzten Phase seines Lebens zu ihrem Retter geworden. Steiners Verschwinden blieb ein Rätsel. Am wahrscheinlichsten schien die Erklärung, daß er sich beim Aufstieg mit Dreier völlig verausgabt hatte und nicht mehr in der Lage gewesen war, klar zu denken. Statt auf die anderen zu warten, die von oben zurückkommen mußten und ihm helfen konnten, hatte er sich entschlossen abzusteigen und von unten Hilfe zu holen, eine Entscheidung, die in jedem Fall für Dreier fatal sein mußte. In diesem Fall war sie auch für Steiner selbst fatal, wahrscheinlich war er in seinem entkräfteten Zustand vom Weg abgekommen und in die Tiefe gestürzt. Erika Frey hatte nach ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Pressekonferenz gegeben und die Dinge so dargestellt, wie sie wirklich waren. Die Folge davon waren massivste Vorwürfe gegen Steiner, dessen Expedition nur deshalb zum Desaster geworden war, weil ihr Leiter eine ganze Reihe falscher Entscheidungen getroffen hatte. Es begann damit, daß er zumindest einen zweiten Bergführer hätte mitnehmen und
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mehr Sherpas anheuern müssen, dann hätte er in jedem Fall seine Autorität als Leiter nutzen müssen, um Hans Frey den Aufstieg zu verbieten. Da er bei seinem Gipfelgang mit der Berner-Expedition mit drei Sauerstoffflaschen ausgekommen war, hatte er auch jetzt dieselbe Menge eingeplant, obwohl er genau gewußt hatte, daß diese Truppe viel länger unterwegs sein würde, er hätte zumindest auf 8500 Metern ein zusätzliches Flaschendepot errichten müssen. Das war ihm nicht möglich, weil er sich selbst wegen des Wetters unter massiven Zeitdruck gesetzt hatte. Ein weiterer schwerer Fehler war, daß er zwar zwei Funkgeräte besaß, diese jedoch am Südsattel zurückgelassen hatte, weil er offenbar geglaubt hatte, sie würden nicht gebraucht werden, weil sie ohnehin als geschlossenes Team unterwegs sein würden. Das Team hatte sich jedoch getrennt, und Steiner hatte damit keine Möglichkeit, mit Richter und Frey in Verbindung zu treten und mit ihnen eine mögliche Rettungsaktion für Dreier zu planen. Steiners offenbares Versagen ließ vor allem in Deutschland die Diskussion um Sinn und Unsinn der sogenannten kommerziell geführten Expeditionen auf Achttausender neu aufflammen. Erika Frey wäre dabei ein begehrtes Interviewopfer gewesen, sie enthielt sich jedoch nach ihrer Pressekonferenz jeglicher Aussagen. Richter kannte sie kaum, sie hatten nur gemeinsam den Tod besiegt, und möglicherweise hatte sie ihm sogar das Leben gerettet, weil sie ihn mehrmals vom Einschlafen abgehalten hatte. Nach seiner Ankunft in Neuseeland hatte Nancy Erika Freys Adresse in Deutschland ausfindig gemacht, und er hatte ihr geschrieben. Die Antwort war erst vor wenigen Wochen gekommen. Sie hatte zwar ebenfalls schwere Erfrierungen erlitten, es waren jedoch keine Amputationen notwendig gewesen. Es gehe ihr gut. Vor kurzem hätte sie die Firma verkauft, sie sei jetzt eine einigermaßen wohlhabende Frau und
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hoffe, daß der Erlös für ein möglichst sorgenfreies Dasein bis zum Lebensende reiche. Sie sei gerade dabei, sich ein Haus in Spanien zu suchen, zum einen, weil das Leben dort billiger sei, zum anderen wolle sie möglichst weit weg von jedem Berg sein. Sie wünschte ihm Glück und lud ihn ein, sie einmal in Spanien zu besuchen, doch nur, wenn er versprechen könnte, den Mount Everest mit keinem Wort zu erwähnen. Außer Dreiers unerklärlicher Energieleistung hatte es an diesem Tag ein zweites Wunder gegeben. Es war der einzige Tag gewesen, an dem eine Rettungsaktion überhaupt möglich gewesen war. Das Wetter schlug bereits in der darauffolgenden Nacht wieder um und machte bis zum Ende der Saison jeden weiteren Gipfelversuch unmöglich. Damit blieb es bei den vierundzwanzig Erfolgen der ersten beiden Tage. Von tibetischer Seite aus wurde der Berg in dieser Vormonsunzeit kein einziges Mal bestiegen.
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