K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KARLHEINZ
HEFTE
DOBSKY
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
KARLHEINZ
HEFTE
DOBSKY
ETRUSKER MACHT U N D G E H E I M N I S E I N E S VOLKES
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK . BASEL
Die Fischer von Comacchio -L'and der Tränen — so nennen die Italiener das weite Sumpfgebiet zwischen Venedig und Ravenna, in dem der Po, der Padus des römischen Altertums und Italiens größter Strom, nach seiner langen Reise vom Monte Viso herab in einem mächtigen Delta sich den W e g ins Adriatische Meer gebahnt hat. Land der Tränen — kaum ein Jahr vergeht, in dem nicht die Rora, der schreckliche, kalte Sturmwind von der Küste Dalmatiens über die Adria herfällt und das Wasser aus den zahllosen Kanälen und Lagunen peitscht, auf die mühsam bestellten Maisfelder und die kärglichen Wohnstätten. Die Menschen aber kehren nach jeder Sturmflut wieder zurück in die zerstörte und doch so geliebte Heimat, bauen unverdrossen an neuen Dämmen und Schutzwällen und beten um neue Ernte und Frucht. Jahr für Jahr schiebt sich das Land achtzig Meter weiter ins Meer hinaus, und im Brackwasser zwischen den sumpfigen Ufern tummeln sich zu Tausenden die fetten, schillernden Aale, der grüßte Schatz des Lagunengebietes. „Anguilla" - Schlänglein — nannten die Feinschmecker des römischen Imperiums den von ihnen so geschätzten Fisch, von dem uns schon Plinius und andere Schriftsteller des Altertums merkwürdige Berichte überliefert haben. Julius Cäsar lieh sich einmal für ein besonders üppiges Triumphmahl von einem guten Freund sechstausend Aale. Er erhielt sie aber nur unter der Bedingung, daß er die gleiche Anzahl der köstlichen Fische später wieder zurückgeben werde — denn für Geld waren sie nicht zu haben. Die Römer hatten schon damals erkannt, daß der Aal in den Herbstmonaten flußabwärts wandert, und sie legten deshalb die noch heute teilweise erhal2
teilen Stauschleusen im Gardasee an, wie viele Jahrhunderte später die Italiener die berühmten Fangvorrichtungen in den Lagunen von Comacchio schufen, die alljährlich über eine Million Kilogramm Aale liefern und in der Weihnachtszeit ganz Italien mit den leckeren und begehrten Fischen versorgen. Die Stadt Comacchio südlich des Podeltas hat den Aalfang in ihrer Hand vereinigt — sehr gegen den Willen der Bevölkerung, welche die Fischerei als ein ihr zustehendes und durch die J a h r tausende geheiligtes Gewohnheitsrecht betrachtet und darum in einem ständigen, erbitterten Kampf nicht nur gegen Dammbruch und Überschwemmungen, sondern auch gegen die Polizei steht. Der Aal wird hier nicht in Netzen gefangen — er wird mit einer Harpune „gestochen", an deren langem Schaft sich etwa zehn mit Widerhaken besetzte Gabelzinken befinden. Mit dieser Harpune, „Fiocina" genannt, tasten die Fischersleute behutsam den schlammigen Grund der Gewässer ab, blitzschnell zustoßend, wenn sie die sich schlängelnden und windenden Fisehleiber spüren. Hastig wird die Beute in den wendigen Zweierbooten, den „Barchinis", nach Hause gebracht und listig in sicherem Versteck geborgen; man hat ja „gewildert". — und die Gendarmen sind wachsam. Nicht nur wegen der Aale . . . Denn es ist vorgekommen, daß so ein wildernder Fischer mit seiner Fiocina statt eines fetten Aals etwas ganz anderes zutage gefördert hat, ein moosbewachsenes Tongefäß etwa oder gar ein Schmuckstück von besonderer Art. Und solche Dinge bringen oft mehr Geld ein als der reichste Fischzug, zumal wenn man sie an den rechten Käufer zu bringen weiß und nicht bei der Behörde abliefert, wie ein Gesetz es befiehlt, das alle Funde und Ausgrabungen auf italienischem Boden zum Staatseigentum erklärt. Im Jahre 1919 beschloß die königliche Regierung zu Rom. das Sumpfgebiet bei Comacchio in fruchtbares Ackerland zu verwandeln. Großzügige Entwässerungs- und Entsalzungsarbeiten wurden mit Energie und Tatkraft in Angriff genommen, und schon im Frühling des Jahres 1922 furchten die ersten Pflüge das friedlich eroberte Neuland. Immer öfter aber klirrte die Pflugschar gegen Tonscherben und rostiges Metall, Dinge, die dem Bauern nur im Wege waren, für die aber die Ortsbehörden und die Archäologen das lebhafteste Interesse bekundeten. Das aber war wieder den alteingesessenen Fischern nicht recht, die für solche tönernen Gefäße und metallnen Geräte von ihren dankbaren und erfreuten Stammkunden aus den Kreisen des Altertümer-Schwarzhandels
manch hübsches Sümmchen erhielten — ein Geschäft, das ohne viel Aufsehen und unbeobachtet vom drohenden Auge des Gesetzes üppig blühte. Der Kampf der Behörde gegen die verbotene Schatzsuche verschärfte sich, als immer mehr Fundstücke im Handel auftauchten. Da gab es bilderreich bemalte „attische" Vasen, Tonfiguren, Spiegel und Bernsteinketten — Glücksgaben aus vergangenen Jahrtausenden. Die Archäologen begannen mit einer gewaltigen Grabungsarbeit im Sumpfland, und immer deutlicher ergab sich, daß hier bei Comacchio mehr verborgen sein müsse als diese gelegentlichen Schätze, die der Fischer mit seiner Harpune, der Bauer mit der Pflugschar, der Ausgräber mit Schaufel und schürfendem Spaten zutage förderte. Was man hier zu finden hoffte, war eine verschollene Großstadt des Altertums, die Hafen- und Handelsstadt Spina. Die versunkene Stadt ist bis heute noch nicht freigelegt. Der Widerstand der Einheimischen macht es den Ausgräbern wahrlich nicht leicht. Da wimmelt es nur so von anonymen Anzeigen, von gegenseitigen Anschuldigungen und Verleumdungen „freundlicher" Nachbarn, von verschwundenen Dokumenten, verratenen Verstecken und von neidischen Mitwissern, die manchmal auch vor Mord und Totschlag nicht zurückgeschreckt haben. Was heute die Lagunenfischer manchmal den Archäologen erzählen, dient oft mehr der Irreführung und bewußten Verdunkelung als der Lösung des Rätsels. Vieles bleibt ungeklärt und geheimnisvoll wie das Etruskervolk, dessen verwehte Spuren bis hierher, in die Nordostecke ihres einstigen Wohngebietes, verfolgt werden können (vergl. das Kartenbild Seite 5).
Die versunkene Großstadt Man sucht eine Stadt, fünfmal so groß wie Pompeji, eine Stadt, von der wir aus den Zeugnissen des Altertums nur wissen, daß sie vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden von griechischen Seefahrern mit Hilfe und Einwilligung der ortsansässigen Etrusker hier in der Landschaft des Podeltas gegründet wurde und bald zu einem der bedeutendsten Hafenplätze des Altertums aufblühte, Schnittpunkt griechischer und etruskischer Kultur. — Eine Hafenstadt hier, weit von der Küste entfernt? Ja — damals waren noch weite Gebiete der heutigen Pomündung vom Meere bedeckt; selbst die heute binnenländische kleine Provinzstadt Atria, die
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dem Adriatischen Meer ihren Namen gegeben hat, lag zu jener Zeit noch unmittelbar an der Küste, deren einstigen Verlauf man mit Hilfe von Luftbildern noch verfolgen kann. Sie erstreckte sich in fast genau südlicher Linie von Atria nach Ravcnna. Spinas Blütezeit kann nur kurz gewesen sein, denn schon hundert J a h r e nach der Gründung der Stadt hat die unaufhaltsame Versandung und Verschlammung der Pomündung die Küstenlinie um drei Kilometer weiter ins Meer vorgeschoben, so daß der Zugang zum Stadthafen für größere Schiffe bald unpassierbar geworden ist. Die Etrusker bauten viel und gut — aber sie bauten in der Frühzeit vorwiegend mit Holz und trieben jahrhundertelang verheerenden Raubbau an den reichen Wäldern des Landes. Der entblößte Erdboden, aufgerissen von den Pflügen der Bauern, wurde von Regen und Winden in die zahllosen Verästelungen der Poarme gespült und an die Mündung des Stromes geschwemmt. Zwei Meter hoch ist heute die Schlammschicht, unter der die einst blühende Stadt Spina nun ihrer Entdeckung harrt, mit ihren Warenspeichern und Märkten, auf deuen Griechen und Etrusker einträchtig mit Salz, Bernstein, Bronze und Tonwaren Handel trieben. Der Reichtum dieser Handelsherren läßt sich an den kostbaren Grabbeigaben abschätzen, die man in der Totenstadt, der ,,Nekropole" von Spina, gefunden hat und immer noch findet, über zweieinhalbtausend Gräber wurden bisher geöffnet und zahlreiche wertvolle Funde gemacht, die jetzt im Museum von Ferrara gesammelt sind. Die Totensladt war das erste, was man von Spina fand, und da man aus den Erfahrungen anderer Ausgrabungen wußte, daß die Etrusker ihre Grabstätten stets in Sichtweite von den Städten der Lebenden errichteten, ist der Raum, in dem Spina gesucht werden muß, einigermaßen sicher umgrenzt. Seit zehn Jahren werden die Ausgrabungen von Spina von Professor Nereo Alfieri geleitet, dem Direktor des berühmten Archäologischen Museums von Ferrara. Professor Alfieri hat die modernsten Hilfsmittel der Wissenschaft für das „Unternehmen Spina" eingesetzt: Mit Hubschraubern, Elektroden-Sonden und raffinierten Pumpwerken geht er dem Rätsel von Spina zu Leibe, dessen Lösung er sich zur Lebensaufgabe gemacht hat. Mit Hilfe zahlreicher Luftaufnahmen stellte er fest, daß jener Arm des Podeltas, der heute nur mehr durch den sogenannten Paviero-Kanal angedeutet ist, zur Blütezeit der versunkenen Stadt die wichtigste Wasserader gewesen sein muß, auf der die griechischen Schiffe an die Lagerhäuser ins Stadtinnere gelangten. Am Ufer 6
des Paviero-Kanals fand man auch die Überreste einer frühchristlichen Siedlung, die schon in mittelalterlichen Schriften als „versunken und verschollen" erwähnt wird: die Siedlung Santa Maria in Padovetere, die nach der Überlieferung auf den Trümmern heidnischer Kultstätten errichtet worden ist. Paviero, der Name des Kanals, ist eine Verstümmelung von Padovetere, das von dem lateinischen Padus vetus — Alt-Po — abgeleitet ist. Nicht ohne Grund nennt man die versunkene Stadt Spina das „Venedig des Altertums", denn auch Spina war — wie die „Königin der Meere" — von zahlreichen schiffbaren Kanälen durchzogen, und die Bauten der Stadt waren auf schweren, tief in den sumpfigen Boden gerammten Pfählen errichtet. Im Schlick und Schlamm haben sich viele dieser mächtigen Stämme zweieinhalbtausend Jahre lang bis in unsere Tage erhalten. Lage und Verlauf der Kanäle lassen sich zum Teil aus diesen Pfahlresten, sicherer aber aus den vom Flugzeug aus gemachten Aufnahmen bestimmen, die hier wie an anderen großen archäologischen Stätten aus unscheinbaren, vom Erdboden aus kaum erkennbaren Verschiedenheiten des Pfianzenwuchses und aus den Schatten geringfügiger Höhenunterschiede die Umrisse untergegangener menschlicher Siedlungen wieder sichtbar machen. Die neuartigen Sondengeräte ersparen den Forschern das kostspielige und mühselige Graben an ungeeigneten Stellen, über zwei in den Boden getriebene Drähte werden elektrische Ströme in das Erdreich geleitet, bis zur Tiefe von zehn Metern: wenn die Ströme auf Fremdkörper dringen, schlagen die Zeiger aus. Bei Stellen mit besonders großem Ausschlagzeichen, wo man etwa ein Kuppel- oder Kamntergrab erwarten darf, werden schmale Bohrlöcher in die Tiefe gebohrt und Rohre in den Boden geführt, mit sich drehenden Photogeräten und Blitzlichteinrichtungen. Mit ihnen kann man Grabgewölbe innen ableuchten und photographisch erfassen, ohne daß sie geöffnet zu werden brauchen. Der schönste Lohn und die stolze Krönung seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit wäre für Professor Alfieri die seit Jahrzehnten heiß ersehnte Auffindung einer zweisprachigen griechischetruskischen oder lateinisch-etruskischen Inschrift; denn noch immer sind die 100ÜO bisher entdeckten Schriftdenkmäler der Etrusker nur in Bruchstücken entziffert. Ein Zweisprachentext würde kaum geringeres Aufsehen erregen als der berühmte Tafeltext von Rosette, der im vorigen Jahrundert die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift möglich gemacht hat. . Auf seinem Feldzug nach Ägypten im Jahre 1798 hatte Napo7
leon in seiner Armee eine eigene Abteilung von Geographen, Wissenschaftlern und Zeichnern mit sich geführt, welche die aufgefundenen oder erbeuteten Altertümer sammeln, registrieren und sorgsam untersuchen mußten. Napoleons Soldaten fanden viel; aber keiner ihrer Funde erwies sich als so bedeutsam wie die Steintafol von Rosette. Sie enthielt die Verordnung eines Pharao in drei Sprachen, in ägyptischen Hieroglyphen, in Demotisch, einer altägyptischen Schrägschrift, und in Griechisch. Von dem bekannten Griechischen her konnte man nun auch die beiden anderen, uns bis dahin völlig rätselhaften Schriften und Sprachen entziffern und dadurch viele andere ägyptische Aufzeichnungen deuten. Erst seit diesem Fund wich vor unseren Augen der dunkle Schleier, hinter dem sich die geheimnisvolle Welt der Pharaonen verbarg. Die Erforscher der etruskischen Kultur erhoffen sich in Spina einen ähnlichen Glücksfall, da diese Stadt Griechen und Etrusker und später auch Römer und Etrusker zusammen beherbergt hat. Eine winzige Inschrift — in Lateinisch und Etruskisch oder in Griechisch und Etruskisch — könnte der Schlüssel werden zum Herzen eines Volkes, von dem wir einerseits so verwirrend viel und andererseits so entmutigend wenig wissen, das aber auf dem Gebiet der Kultur zu den Ahnherren des Abendlandes gezählt werden muß. Inzwischen geht der Kleinkrieg im Raum von Comacchio weiter, ein zäher und verbissener Kleinkrieg gegen das immer wieder nachsickernde Grundwasser, gegen plötzliche Sturmflut und Überschwemmung und gegen die Ausgräber auf eigene Faust, die an den Zinken ihrer Fiocinen immer wieder einmal etwas Blinkendes und Glitzerndes hängen sehen, nicht so nahrhaft wie die fetten Aale, aber mit größerem Gewinn abzusetzen, wenn man die heimlichen Aufkäufer kennt. In jüngster Zeit hat die Regierung den Schwarzfischern das Wasser ein wenig abgegraben. Sie schickte Kriminalbeamte, verblüffend echt herausgeputzt als reiche und spleenige Amerikaner, in chromglitzernden „Straßenkreuzern" ins Lagunengebiet, und diese „Amerikaner" gaben in einem Gemisch von Englisch und italienischen Brocken zu verstehen, daß sie geneigt seien, für die komischen kleinen Etruskersachen harte Dollars zu zahlen. Da gab es ein fröhliches Suchen im Ofenrohr und im Ziegenstall. Die „Amerikaner" waren hocherfreut über die herrlichen Dinge, die da zutage kamen — und nahmen Funde und Finder gleich mit.
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Ettuskischer Kampfwagen aus Bronze (Metropolitan Museum, New i'ork)
Woher die Etrusker kamen „Zur Zeit des Königs Atys, des Manes Sohn, herrschte in ganz Lydien (im Westen der heutigen Türkei) eine große Hungersnot. Anfangs ertrugen die Lyder sie geduldig; als die Not aber fortdauerte, suchten sie Abhilfe, und jeder erdachte etwas anderes. Damals wurden das Würfel- und Knöchelspiel, das Ballspiel und andere Spiele erfunden, nur nicht das Brettspiel, dessen Erfindung die Lyder nicht für sich in Anspruch nehmen. Durch diese Spiele vertrieben sie sich den Hunger in der Weise, daß sie einen ganzen Tag lang spielten, um die Eßlust nicht aufkommen zu lassen, und den nächsten Tag aßen sie und spielten nicht. So lebten sie achtzehn Jahre lang. Als die Not aber nicht nachließ, sondern immer größer wurde, da schied der König das ganze lydische Volk in zwei Gruppen und ließ das Los entscheiden: Die eine Hälfte sollte im Lande bleiben, die andere Hälfte aber auswandern. Der König selber trat mit auf die Seite derer, die bleiben mußten, und gab den Auswanderern seinen Sohn mit, namens Tyrsenos. So zog denn die Hälfte des Volkes, die das Los zum Auswandern verurteilt hatte, hinab zur Küste nach Smyrna, baute dort Schiffe, belud sie mit allen nützlichen Gerätschaften und fuhr aus, um Land und Lebensunterhalt zu suchen. An vielen Völkern segelten sie vorüber und gelangten in ein fremdes Land. Dort siedelten sie sich an, bauten Städte und leben dort bis auf den heutigen Tag. Sie änderten auch ihren Namen und nannten sich nach dem Königssohn, der sie geführt hatte1. So erhielten sie den Namen Tyrsener. Die in der Heimat verbliebenen Lyder aber wurden von den Persern vernichtet. . ." Manche Gelehrte nehmen an, daß in dieser Erzählung aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, die uns der Grieche Herodot, der „Vater der Geschichtsschreibung", überliefert hat, der wichtigste Hinweis auf das Herkunftsland der Etrusker gegeben sei. Das Etruskervolk sei nichts anderes als jener aus dem kleinasiatischen Lydien ausgewanderte Volksteil. Zwar hat schon der Gelehrte Dionvs von Halikarnaß, der in der Zeit des römischen Kaisers Augustus lebte, Herodots lebhafte Geschichte als Märchen bezeichnet, auch in den wenigen uns erhaltenen lydischen Geschichtszeugnissen findet sieh keine Andeutung von einer Auswanderung; aber es gibt doch manches in diesem Bericht des Herodot, was als Hinweis auf die Etrusker gedeutet werden kann. Die Etrusker nannten sich selber Rasenna, bei den Römern hießen sie Tuske, eine Benennung, die in dem Namen Toskana für 10
die Landschaft um Florenz, das Hauptwohngebiet der Etrusker, heute noch lebendig ist; die Griechen aber nannten die Etrusker Tyrsener oder Tyrrhener und den von ihnen beherrschten Teil des Mittelmeeres das Tyrrhenische Meer. Und in Kleinasien soll es einst eine Stadt Tyrsa gegeben haben, an deren Gründung die Etrusker vielleicht beteiligt sein könnten, so daß sie nach dieser „ i h r e r " Stadt ihren griechischen Namen Tyrsener oder Tyrrhener erhalten hätten, zudem glaubt man, daß Tyrsa gegenüber der Insel Lemnos gelegen habe; auf Lemnos aber hat man vor einigen Jahren eine Totensäule gefunden mit Inschriften in einer Sprache, die dem Etruskischen nahekommt. Aber all das reicht nicht aus zu dem schlüssigen Beweis, daß die Etrusker wirklich jene Auswanderer aus den Notgebieten Lydiens gewesen sind. Herodot verlegt seine Geschichte von der Auswanderung des halben Lydervolkes in das ausgehende zweite Jahrtausend vor Christi Geburt, in eine Epoche der Unruhe und Erschütterung, die als Zeit der „Großen", der „Ägäischen Wanderung", in die Geschichte eingegangen ist, eine Völkerverschiebung, von deren Ausmaß wir uns kaum eine Vorstellung machen können und die von Norden nach Süden, von Osten nach Westen Ost-, Mittelünd Südeuropa und die Mittelmeerküsten in Bewegung brachte. Die Wissenschaft versucht diese Große Wanderung mit einer katastrophalen Klimaverschlechterung zu erklären, durch die ganze Völkerschaften zum Verlassen ihrer Siedlungsräume und zum Aufsuchen neuen, fruchtbaren Acker- und Weidegrundes gezwungen wurden. Die Auswanderer stießen auf ältere Völker, und auch sie begannen zu wandern. Die gewaltigen Wanderzüge führten zu bedeutungsvollen Begegnungen zwischen einander bisher fremden Rassen und Kulturen, zum Zusammenprall verschiedenartigster Religionen und Weltanschauungen, zum Austausch von Erfahrungen in Technik und Kunst. Um diese Zeit verbreitete sich auch die bis dahin unbekannte Kunst des Reitens in Europa, die Beherrschung des Pferdes als Fortbewegungs- und Transportmittel und damit eine Veränderung des Kriegs- und auch des Verkehrswesens, die in ihrer Bedeutung nur mit der Entwicklung der Luftfahrtteehnik in unserem Zeitalter verglichen werden kann. Die hin- und herwogende Völkerbewegung brachte, vielleicht aus hygienischen Gründen, die Totenverbrennung und das Urnenbegräbnis anstelle der bisher allein üblichen Erdbestattung mit sich, sie schuf neue Jenseitsvorstellungen und ein neues- kultisches Verhältnis zu den Dahingeschiedenen. Wir werden noch erfahren, 11
welch große Rolle der Totenkult bei den Etruskern gespielt hat,' die ihren Verstorbenen ganze Städte errichteten, dauerhafter und wohnlicher als die Städte der Lebenden. Vielleicht sind die Etrusker in diese Völkerverschiebung hineingerissen worden, und Herodots Erzählung ist also vielleicht doch mehr als ein Märchen. Dionys von Halikarnaß, der sie zuerst in Zweifel gezogen hat, ist einem anderen Gedanken nachgegangen. Die Etrusker, so behauptete er, sind nicht über das Meer an die italischen Küsten gekommen, sondern sie sind von jeher in Italien ansässig gewesen, als „Autochthone", als bodenständiges Volk, das J a h r t a u sende hindurch unbemerkt dahinlebte, dann plötzlich eine unerwartete Macht- und Kulturhöhe erreichte und nach Jahrhunderten der Blüte ebenso plötzlich unterging. Eine dritte Meinung, die freilich in unserer Zeit kaum noch ernstlich vertreten wird, spricht von der Möglichkeit einer etruskischen Einwanderung von Nordwesten her, über die rätischen Alpen herunter nach Italien. Aus dem Namen der Räter, der frühesten in Graubünden und Tirol nachweisbaren Ansiedler, sei der Name Rasenna für die Etrusker hervorgegangen. Viele Gelehrtengenerationen haben sich an dem bis ins Altertum zurückreichenden Streit um Ursprung und Herkunft der Etrusker beteiligt, und noch ist es ungewiß, ob diese Streitfrage jemals entschieden werden kann. Zurzeit neigt die Mehrzahl der Fachleute — wenn auch nicht ohne Bedenken — zur Möglichkeit der kleinasiatischen Herkunft dieses Volkes. Aber auch die „Autochthonen-Theorie" hat noch Anhänger, und die dritte Vermutung, eine Einwanderung aus dem Norden, konnte zumindest bisher nicht eindeutig widerlegt werden. „Die Macht des Etruskervolkes war so groß, daß der Ruhm seines Namens nicht nur die Länder, sondern auch das Meer erfüllte, auf der ganzen Länge Italiens, von den Alpen bis zur Straße von Messina", schreibt der große Geschichtsschreiber der römischen Republik, Titus Livius aus Padua, zur Zeit des Kaisers Augustus. Damals war die Erinnerung an das große Volk noch nicht erloschen, und manche Tempelpriester verstanden noch die etruskische Sprache und Schrift, damals konnte der römische Baumeister Vitruv in seinen berühmten Büchern über die Baukunst noch die Regeln aufzeichnen, nach denen die Tempel der Etrusker errichtet worden waren; aber schon fünfzig Jahre danach, in der Regierungszeit des Kaisers Claudius, vermochte niemand mehr die Inschriften in etruskischer Sprache zu deuten. 12
Lebensgroße Maske, aua Bronzeblech getrieben, 7. Jh. v. Chr.
Eine merkwürdige Sprache: Das Alphabet entliehen sich die Etrusker wie vieles andere einfach von den Griechen, und der Laulwert der einzelnen Zeichen ist uns bekannt. Ein vor wenigen Jahren erschienenes Wörterbuch der etruskischen Sprache verzeichnet rund 1500 Wörter, deren Sinndeutung bisher gelungen ist, Wörter, die sich vor allem mit Ahnenkult und religiösen Dingen befassen, so daß ein berühmter Etruskerforscher mit Recht schreiben konnte: „Es ist, wie wenn nach Jahrtausenden der Erforscher u n s e r e r Sprache nur noch einige Todesanzeigen zur Verfügung haben würde." Das bedeutendste uns erhalten gebliebene Sprachdenkmal aus etruskischer Zeit ist eine etwa fünfhundert Wörter umfassende Mumienbinde aus Leinen, deren Textinhalt sich aber auch nur auf unverständliche religiöse Anweisungen und Formeln beschränkt. Da finden sich Wörter wie ana = Weihegabe, apa = Ahnc, fulum = Bauwerk, Uni = Juno, Mari = Mars oder krakru = der Panther. Manche etruskischen Wörter wurden später in abgewandelter Form von den Hörnern übernommen, wie auch gewisse Formen des Benehmens auf die Römer übergingen. Valerius Maximus deutet das einmal an: „ W i e es bei den Menschen Brauch ist, Dinge aus unbedeutenden Anfängen zu entwickeln, so fügte die römische Jugend, die sich ja gerne mit kunst- und regellosen Körperbewegungen vergnügt, den verehrungsvoll an die Götter gerichteten Worten auch Gesten hinzu. Dies gab Anlaß, sich einen Schauspieler aus Etrurien kommen zu lassen, dessen graziöse Behendigkeit nun von den Römern, für die sie ein neuer und gänzlich ungewohnter Anblick war, sehr bewundert w u r d e . " Alle Versuche, das Etruskische von einer anderen Sprache abzuleiten, sind bisher fehlgeschlagen. Ungewiß bleibt auch, ob diese Sprache wirklieh dem ganzen Volk eigen war oder ob die Bewohner der einzelnen Städte sich nicht vielleicht in einer eigenen, aus der jeweiligen Landschaft hervorgegangenen Umgangssprache verständigten. Daß auch im frühen Rom das Etruskische bekannt war, dafür spricht die Bemerkung des Schriftstellers Plinius des Jüngeren, daß einst auf dem Vatikanischen Hügel eine uralte Steineiche mit einer etruskischen Wciheinschrift gestanden habe. Auch ein etruskisches Geschichtswerk wird öfters erwähnt, das jedoch schon in der römischen Kaiserzeit verlorengangen war — sehr zum Leidwesen des Kaisers Claudius, der selbst eine zwanzigbändige Geschichte Etruriens verfaßt haben soll. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert ist dann die Welt der Etrusker in den geheimnisvollen Raum ferner geschichtlicher Ver14
gangenheit entrückt. Obwohl von Etruricn aus unzählige Kraftströme in das politische, kulturelle und religiöse Leben des r ö mischen Weltreiches geflossen waren, ist das, was die damaligen römischen und griechischen Schriftsteller von diesem Volk noch wußten und niederschrieben, oft vieldeutig und unklar. Zu uns aber sprechen die wieder aufgefundenen und ausgegrabenen Gräber und Totenstädte und die Überreste aus den Städten der Lebenden. Die erhaltengebliebenen Denkmäler etruskischer Kunst und Religion, die heute an den Grabungsplätzen, in Museen und Ausstellungen gezeigt werden, lassen uns Heutige deshalb viel lebendiger am Dasein und am Weltbild dieses Volkes teilnehmen, als es den Römern der nachchristlichen Jahrhunderte möglich gewesen ist.
Die Städtegründer Als die Etrusker — wir folgen hier den Forschern, die ihre Herkunft aus Kleinasien annehmen — vom Meer her in mehreren Schüben an der Westküste Italiens an Land gingen, war die italische Halbinsel in großer Unruhe. Von jenseits der Alpen waren Völkerstämmc eingedrungen und hatten sich im Norden, in der Mitte und im Süden Italiens niedergelassen. Diese Unruhe wurde durch die Invasion der etruskischen Stämme noch vermehrt. Nach ihrer Landung zimmerten sie sich Reisewagen und begannen in langen Zügen mit Weibern, Kindern, Proviant und Geräten den Marsch ins Innere, um geeignete Wohnplätze zu suchen. Die Frauen kümmerten sich um das neben den Wagen hertrottende Vieh, die Männer aber bahnten mit Pfeil und Bogen, mit Wurfspeer und scharfgeschliffenem Steinbeil dem endlosen \\ anderzug den Weg. In den dichten Eichenwäldern fanden sie Schutz vor Regen und Wind und erste notdürftige Nahrung für ihre Herden, sie rodeten Lichtungen und errichteten auf tief in den Boden gerammten Pfählen runde Hütten aus Reisig und Lehm. Diese Pfahldörfer hatten rechteckige Form und waren durch tiefe Rundgräben und Palisadcnzäune gegen feindliche Überfälle geschützt. Zunächst betrieben die Bewohner die Viehzucht — Herden von Rindern, Schweinen, Ziegen und Schafen weideten im Umkreis der Siedlungen, auch die Bestände an Pferden wurden durch sorgfältige Zucht langsam vergrößert, und noch lange Zeit blieb die Viehzucht den Pfahldörflcrn wichtiger als der Ackerbau, mit dem sie vor allem Gerste gewannen, die zwischen zwei Steinen 15
vermählen und als Mehlbrei genossen wurde. Die Kleidung war einfach, Flachs- und Wollgewebe oder Fell; später trat an die Stelle der roh verarbeiteten Tierfelle künstlich bereitetes Leder, das mit bronzenem Zierat geschmückt wurde. Die Kunst des Bronzegusses machte schnelle und bedeutende Fortschritte; in den sorgfältig untersuchten Abfallschichten, die sich rings um die Pfahlbauten angehäuft hatten, fand man nicht nur Sicheln, Handbeile, Fibeln und Messer aus Bronze, sondern auch schon bronzene Feilen, Kämme und Nadeln aller Art. Die Gefäße, Krüge, Töpfe und Trinkschalen, waren aus Ton ohne Hilfe der Drehscheibe geschickt mit den Händen geformt, mit eingekratzten geometrischen Linien verziert und am offenen Feuer gebrannt. Der Bau seetüchtiger Schiffe muß sich schon in der Urheimat zum meisterlich geübten Handwerk entwickelt haben, ein Handwerk, das die Etrusker nicht nur zur überfahrt von Kleinasien her befähigte, sondern in späterer Zeit auch zu einer mit ebenso großer Meisterschaft betriebenen Handels- und Kaperschifffahrt. Was sie nicht erhandeln konnten, das stahlen sie sich, und was sie auf ihren Raubzügen Nützliches sahen, das wurde nachgeahmt und verbessert. Bald wurden Lanze und Pfeil mit Hornoder Bronzespitzen versehen und der schützende Schild bekam einen Überzug aus kunstvoll verziertem Leder. Die Steinbauten der bereits blühenden Kulturen des Mittelmeerraumes, mit denen sie in kriegerische und friedliche Berührung kamen, weckten in den Führungsschichten den Wunsch nach einem Übergang von der dörflichen zur städtischen Siedlung, zumal die ständige Sorge vor kriegerischen Nachbarn auf italischem Boden die Anlage festgemauerter Plätze und wohlorganisierter Gemeinwesen forderte. Denn sie hatten inzwischen ihre Siedlungen über den Tiber hinaus bis nach Neapel, zur Insel Korsika, im Norden bis in die Poebene, ja bis ins Etschtal und zur Pomündung ausgedehnt. So entstanden Mantua und Bologna in der Poebene, Fiesole und Pisa in der Toskana und viele andere Städte, die fast alle die gleiche Art der Anlage zeigen. Sie lagen auf einer schon von der Natur möglichst geschützten Höhe und bildeten ein nach den Himmelsrichtungen ausgerichtetes Rechteck mit zwei sich rechtwinklig schneidenden Hauptstraßen. Alle diese Städte waren umgeben mit einer aus riesigen Steinquadern aufgetürmten „zyklopischen" Mauer, von der sich an vielen Orten bis auf den beutigen Tag großartige Reste erhalten haben. Unter den Straßen führten kunstgerechte, mit Tonnengewölben überdeckte Abflußkanäle hin. In der Stadtmitte befand sich der „Mundus", 16
die Pforte zur Unterwelt —, ein tiefreichender, brunnenartiger Gewölbebau, in dem zur Erntezeit die Feldfrüchte als Opfergabe für die Unterirdischen niedergelegt wurden. Dreimal im Jahr, an den Weihetagen des Gottes der Unterwelt, wurde der riesige Vcrschlußstein weggeräumt und die Pforte geöffnet, damit die Seelen des Schattenreiches emporsteigen konnten zum Licht. Auch die Dorfsiedluiigen der Latiner auf den Hügeln in der Nähe der Tibermündung, aus denen die Stadt Rom hervorgehen sollte, fielen in die Hände der Etrusker. Achthundert Jahre später hat der Geschichtsschreiber Plutarch diese Eroberung umgedeutet; der erste König der Homer. Romulus, der heute als Sagengestalt erkannt ist, habe die Etrusker herbeigerufen, damit sie ihm bei der Gründung Roms behilflich seien. „Romulus", so berichtet Plutarch, „ließ Männer aus Etrurien kommen, die ihn, wie bei den gottesdienstlichen Feiern, unterrichten und alles nach gewissen heiligen Vorschriften und Gebräuchen anordnen mußten. Es w u r d t nämlich auf dem jetzigen Versammlungsplatz eine runde Grube gemacht, darein legte man Erstlinge von allen Dingen, deren Gebrauch entweder das Gesetz erlaubt oder die Natur notwendig erscheinen läßt. Zuletzt warf jeder eine Handvoll Erde darauf, die er mitgebracht hatte aus dem Lande, aus dem er gekommen war, und rührte nun alles durcheinander. Eine solche Grube heißt ,Mundus', ebenso wie das ganze Weltgebäude bei den Römern heißt. Um diese Grube zeichnete man nun wie um den Mittelpunkt eines Kreises den Umfang der geplanten Stadt. Der Erbauer befestigte an einem Pflug eine eiserne Pflugschar, spannte einen Stier und eine Kuh davor und zog- in eigener Person eine tiefe Furche um jene Grenzlinie. Einige Männer gingen hinterdrein, deren Aufgabe es war, die vom Pfluge aufgeworfenen Erdschollen stadteinwärts zu kehren und ja keine außerhalb liegen zu lassen. Durch diese Pfluglinie wurde der Umfang der Stadtmauer bestimmt. Wo man ein Tor einzusetzen gedachte, nahm man die Pflugschar ab und hob den Pflug darüber hinweg, um einen Zwischenraum zu lassen. Aus diesem Grunde hält man die ganze Stadtmauer für heilig, mit Ausnahme der Tore. Vorgeschrieben war ferner ein weißer Stier und eine weiße Kuh, und der Pflug mußte linksläufig sein." Seehandel und Seeräuberei bringen Reichtum und Luxus. In der zweiten Hälfte des achten vorchristlichen Jahrhunderts nehmen auch die ctruskischen Küstenstädte am Thyrrhenischen Meer einen gewaltigen Aufschwung, und eine Fülle von kostbarem Schmuck und Geräten aus Silber, Rronze und Gold kommt ins 18
Land — zur Freude der etruskischen Frauen, die durch ihre Schönheit berühmt sind und gleichberechtigt an allen Festen, Versammlungen und Spielen teilnehmen können. Griechische Handwerker werden, herangezogen und begründen in Verbindung mit etruskischen Kräften ein blühendes Kunsthandwerk, dessen Schöpfungen nicht nur dem eigenen Gebrauch dienen, sondern durch Tauschhandel auch weithin vertrieben werden. Da das Etruskerland reich an Kupfer und Eisenerz ist, gehören auch Kupfer- und Eisenbarren zu den Ausfuhrgütern. Prunkvoll und weiträumig werden die Städte Etruriens. Die damals noch dichten und reichen Wälder Italiens liefern Bauholz genug. So entstehen zwischen dem Tiber und Arno Vulci und Volterra, Veji, Caere und Tarquinia und an der Pomündung Spina. Die Städte schließen sich zusammen zu einem Bund, der das etruskische Volk, das nie zu einer Nation geworden ist, unter strengen religiösen Gesetzen umschließt und eint. Der Städtebund wird zur eigentlichen ,,Staatsform" Etruriens, eine freie Gemeinschaft von zunächst zwölf Gemeinwesen, das jedes für. sich mit einzelnen anderen Städten wieder Bündnisse abschließen kann. Die Zwölfzahl ist den Etruskern heilig. Vielleicht aus orientalischen Glaubenswelten stammend, hat sie sich ihre besondere Bedeutung bis in unsere Tage erhalten in der Anzahl der Monate, im Tierkreis des Sternenhimmels und auf dem Zifferblatt unserer Uhren. Zwei von den zwölf Städten des Bundes aber werden schicksalhaft und bestimmend für Etruriens Geschichte: Veji und Tarquinia. ,,Veji, du altes, auch dich befehligte einstmals ein König; auf deinem Marktplatz ward golden der Thron ihm gestellt, doch heute tönt nur in den Mauern das Hörn des gemächlichen Hirten, und über eurem Gebein werden die Felder gemäht." Mit diesen Worten besingt der römische Dichter Properz zur Zeit des Auguslus das Schicksal dieser Rivalin und Nachbarin Roms, deren Hoheitsbereich sich bis an das Tiberufer erstreckt. Heute künden nur noch spärliche Trünimerreste der zyklopischen Mauer von dieser mächtigen Stadt mit ihren bunten Tempeln und Palästen, ihren kunstvollen Wasserleitungs- und Entwässerungsanlagen, die den Römern zum Vorbild dienten. Reich, bunt und üppig ist das Leben der Bürger von Veji und der anderen Städte Etruriens. Sie lieben die Musik und alle Dinge, die das Leben verschönern. „Man erzählt in Etruricn, dort würden Wildschweine und Hirsche mit Netzen und Hunden gefangen, wie es allgemein Jagd19
brauch ist, noch erfolgreicher aber, wenn man die Musik zu Hilfe nähme. Wie das geschieht, will ich berichten. Man spannt also ringsherum Netze und stellt allerlei sonstiges Fanggerät auf. Dann kommt ein erfahrener Flötenspieler. Er meidet nach Möglichkeit gefügige Melodien und lautes Getön und spielt das Süßeste, was die Doppelflöte herzugeben vermag. Leicht dringt in der stillen Einsamkeit seine Weise bis zu den Bergeshöhen und in die Schluchten und Dickichte, kurz, sie ergießt sieh in alle Schlupfwinkel und Brunftplätze des Wildes. Zunächst, wenn ihr Ohr von den Klängen erreicht wird, erschrecken die Tiere und werden von Furcht ganz erfüllt. Dann aber erfaßt sie unwiderstehlich die Lust an den Tönen. Verzückt vergessen sie ihre Jungen, ihre Lagerstätten und die vertrauten Wildwechsel, von denen sie sich doch sonst nur ungern entfernen. So wird das Waldgetier Etruriens nach und nach wie durch einen mächtig wirkenden Zauber angezogen, fällt, durch die Klänge verhext, in die Schlingen." Diese hübsche Erzählung des Griechen Aelian aus seiner „Tierkunde", die viele Jahrhunderte nach Etruriens Blütezeit geschrieben worden ist, läßt die bedeutungsvolle Rolle ahnen, die die Musik im Leben dieses Volkes spielte. Die Doppelflöte, das Hörn und die helltönende Trompete erklingen zum Waffentanz und zum Frauenreigen, zum Götteropfer und zum festlichen Gelage. Auf prunkvolle Ruhelager hingestreckt, lassen sie sich von gehorsamen Sklaven die erlesenen Speisen reichen, während die Musikanten und Vortänzer die Gäste unterhalten. Die Frauen, schön, eitel und maßlos verwöhnt, wetteifern miteinander um den Besitz der kostbarsten Spiegel, der elegantesten Gewänder und der ausgeklügelten Schönheitssalben, Tränklein und Schminken. In den Museen können wir noch die wundervollen Schmuckund Toilettengegenstände bewundern, mit denen die vornehmen Etruskerinnen sich umgaben. Da finden wir kleine Fläschchen aus Elfenbein, Alabaster und golddurchwirktem Glas, Geräte zur Nagelpflege und zum Auftragen der Schminke, ölkrüglein und vor allem immer wieder kunstvoll gravierte und ziselierte Spiegel aus Bronze. Der Goldschmuck ist in der Verzierungsart der „ G r a nulation" gehalten: Winzige Goldkügelchen von nur einem Millimeter Durchmesser werden auf dem glattpolierten Goldgrund zu Flächen- und Linienornamenten zusammengesetzt; jedes Kügelchen darf nur ganz lose den Grund berühren und muß doch eine unzerstörbare Einheit mit ihm bilden. Auch Halsketten aus geflochtenem Golddraht sind erhalten, Glas- und Emailschmuck und Steinschnitte nach dem Vorbild ägyptischer Skarabäen. 20
Die Aufzeichnungen des Architekten Vitruv gehen uns einige Anhaltspunkte auch über den etruskischen Tempelbau, der gleich dem griechischen vom Holzbau ausging, aber nur zum geringen Teil später zu Stein wurde; aber auch dann behielt der ganze Oberbau, im Gegensatz zu den späteren Griechentempeln, die llolzkonstruktion bei, und dieser Zwiespalt ließ das Ganze wohl kaum zu einer künstlerisch befriedigenden Lösung kommen. Das Zweckmäßige, wie es dem Wesen dieses Volkes entsprach, stand immer im Vordergrund, wenn auch das reiche Schmuckwerk die religiösen Bauten über den Nutzbau erhob. Der Grundplan des etruskischen Tempels bildete ungefähr ein Quadrat, dessen vordere Hälfte eine tiefe Säulenhalle einnahm, während der übrige Teil meist in drei nebeneinanderliegende Hallen aufgeteilt war, unter denen die mittlere etwas breiter als die beiden seitlichen war. Jede dieser Hallen besaß ihren selbständigen Eingang von der Vorhalle aus, und jede war einem besonderen Götterbild geweiht. Das Ganze wurde bedeckt von einem hohen Dach, dessen Giebel etwas schwerfällig über die schlanken, in weiten Abständen aufgereihten Säulen ragte und dessen Ecken mit Figuren aus gebranntem Ton reich verziert waren. Der noch in der r ö mischen Königszeit begonnene, aber erst unter der Republik geweihte Tempel des Jupiter Optimus Maximus auf dem Kapitol in Rom, von dem sich der gewaltige Unterbau und Reste der Grundmauern bis auf den heutigen Tag im Caffarelli-Palast erhalten haben, war nach etruskischen Regeln erbaut worden; die Rekonstruktionsversuche geben ein gutes Bild davon, wie wir uns die Heiligtümer des etruskischen Volkes vorzustellen haben. Die ständige Gefährdung der einzelnen Städte durch feindliche Nachharn änderte auch die Art der Befestigungen. An den alten Stadtmauern von Cossa. Populinia, Todi und anderen Städten kann man deutlich den Fortschritt von der frühen zyklopischen Bauweise zum regelmäßigen Quaderhau feststellen. An den Stadttoren finden wir erstmals auf europäischem Boden den aus keilförmig gearbeiteten Steinen zusammengefügten Bogen, in dem die einzelnen Steine durch ihren Druck gegeneinander eine fest in sich geschlossene Wölbung bilden. In dieser Form ist auch das alte Tor von Volterra gebaut, an dem der Schlußstein und die beiden Endpunkte des Torbogens durch kräftig vorspringende Köpfe wirkungsvoll betont werden. In Rom ist die Cioaca Alaxima, ein im sechsten vorchristlichen Jahrhundert unter Etruskerkönigen angelegter Abzugskanal, eines der bedeutendsten Beispiele dieser neuen Wölbungsart, ein damals gewaltiger techni-
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scher Fortschritt, mit dem die etruskischen Architekten sich ein bleibendes Verdienst in der Geschichte der Baukunst erworben haben; denn die spätere Zeit lernte bei ihnen den Gewölbebau. Wie die etruskischen Menschen aussahen, wissen wir aus zahlreichen uns erhaltengebliebenen Beispielen ihrer plastischen Kunst, die das griechische, den Menschen idealisierende Vorbild zur wirklichkeitsnahen Darstellung umwandelte. Mit Recht kann man sagen, daß die Porträtplastik von Etruricn ihren Ausgang nahm. Bronze und Ton waren die bevorzugten Werkstoffe der Bildhauer. Aus der Totenstadt von Caere stammt der in vielen einzelnen Bruchstücken aufgefundene und liebevoll wieder zusammengefügte Prunksarg eines etruskischen Ehepaares aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Das Paar ruht auf einer „Kline", einem bequemen Lager, wie es sich auch in den reich ausgestatteten Wohnräumen der Lebenden befand und nicht nur zur Nachtruhe, sondern auch zu Gelagen benutzt wurde. An beiden Seiten des Kopfendes finden wir schön geschwungene Erhöhungen, der Faltenwurf der Matratze läßt auf einen Bezug aus kostbarem Stoff schließen. Der Mann stützt sieh mit dem linken Arm auf das Kissen, die linke Hand schalenförmig, als ob sie ein Opfer darböte, geöffnet. Mit der Rechten umarmt er in rührender Gebärde schützend die Gattin. Die Gesichter sind noch starr, mit der zagen Andeutung eines Lächelns, das die etruskische Kunst in der Zeit ihrer Hochblüte später bis zur Vollendung wiederzugeben wußte. Noch ist die Ausbildung der Körperformen, der die Griechen so hohen Wert beimaßen, vernachlässigt zugunsten der Gesichter. Das Grabmal ist auch aufschlußreich und bezeichnend für die hohe Stellung und Würde der Frau im etruskischen Leben. Die Familie der Frau war für die Erbfolge wichtiger als die des Vaters, viele Grabinschriften nennen nur den Vornamen des Vaters, jedoch den Familiennamen der Mutter, was bei den Römern und Griechen mit der unumschränkten Machtstellung des Mannes und Vaters undenkbar wäre. Im griechischen Olympia wurden Frauen, die an den Wettkämpfen der Männer teilzunehmen versuchten, mit dem Tode bestraft — in Etrurien veranstalteten die Frauen nicht nur sportliche \ Y ettkämpfe untereinander, sondern auch mit den Männern gemeinsam. Noch einmal begegnet uns das etruskische Lächeln in der berühmtesten Gestalt der Kunst dieses Volkes, dem Apoll von Veji. Aufrechtstehend, als sei er nach dem Untergang seiner Stadt 23
trauernd hinabgestiegen in die dämonenbelebte Unterwelt, fand man ihn im Jahre 1916 in den Trümmern des Tempelbezirks, und man erzählt sich, daß der Ausgräber beim Anblick des göttlichen Hauptes sich vor Ergriffenheit weinend zu Boden geworfen habe. W e r den Apoll von Veji geschaffen hat, weiß man nicht. Die Gestalt seines Gegners Herakles, auf den der gewaltige Gott zuschreitet, ist verlorengegangen. Das Antlitz des etruskischen Apolls ist nicht das des gleichnamigen griechischen Gottes des Lichtes, der Ordnung und des edlen Maßes. Dieser Etruskergott ist der „ A p l u " der dunklen etruskischen Glaubenswelt, ein Erdgott, der schweren Schrittes vornübergebeugt den Feind angeht, mit einem drohenden, lauernden und wissenden Lächeln. Jeder Muskel der Gestalt ist gespannt in kämpferischer Lust. Veji war die erste etruskische Stadt, gegen die sich die Bewohner Korns nach Vertreibung der Etrusker gewandt haben, um aus der Enge der Tiberstadt herauszukommen. Die kunstvollen unterirdischen Kanäle von Veji wurden der Stadt zum Verhängnis. Nach über zehnjähriger Belagerung hatten die Kömer erkannt, daß diese Stadt im offenen Kampf nicht zu besiegen war, und griffen zu einer List. Die Truppen des Konsuls Marcus Furius Camillus schlichen sich in der Nacht durch die weitverzweigten Gänge des Kanalnetzes mitten ins Zentrum der Festung und überwältigten die überraschten Verteidiger. Die reichen Ländereien der besiegten Stadt wurden in den römischen Herrschaftsbereich eingegliedert, der Tiber wurde vom Grenzfluß zum römischen Strom. Als Triumphator zog Marcus Furius Camillus im Schmuck des Jupiters vom Kapitol auf schimmelbespanntem Kampfwagen in Veji ein, um den Göttern sein Dankopfer darzubringen für den allzuleicht errungenen Sieg, den ersten bedeutenden Sieg des jungen Rom. Mit dem Fall von Veji im Jahre 396 v. Chr. war die erste Perle aus der Krone des etruskischen Zwölfstädtebundes herausgebrochen. Die Stadtgöttin von Veji, die Königin Uni, wurde von den Römern in feierlichem Zuge nach Rom gebracht, wo man ihr auf dem Aventinhügel einen eigenen Tempel errichtete, zum Zeichen, daß die Stadt römisch geworden war. Das zweite Opfer im etruskisch-römischen Machtkampf war nach dem Untergang Vejis Tarquinia, die „Mutterstadt" des etruskischen Volkes, deren Geschichte weit in das undurchdringliche Dunkel der ersten Siedlung und Landnahme zurückreicht. Im Boden Tarquinias soll nach der Legende die etruskische Religion wurzeln, hier soll Tyrrhenos oder Tyrsenos, der sagenhafte lydische Königssohn, mit der Hälfte seines Volkes, so wie 24
Rekonstruktion eines Grabgewölbes aus der Totenstadt von Tarqulnia
das Los es bestimmt hatte, auf der Flucht vor Hunger und Not seiner Heimat gelandet sein.
Efrusker als Könige in Rom Mit dem Namen der Bergstadt Tarquinia verbindet sich die Erinnerung an die letzten Könige Roms, die vor der Erhebung des römischen Staatswesens zur Republik eine etruskische Fremdherrschaft in der Tibersiedlung errichteten. Sie stammten aus den Adelsgeschlechtern Tarquinias, ihre Königszeit ist von einem fast undurchdringlichen Netz von heldischen Sagen umwoben. Die Geschichtsschreiber der späteren Weltmacht Rom haben diese Anfänge ihres Staates in allzu glorreiche Höhen hinaufgesteigert. 25
Als der erste Etrusker, Tarquinius Priscus, sich der Herrschaft über Rom bemächtigte, war die Tiberstadt noch ein Dorf, das von Latinern bewohnt wurde. Die Latiner waren noch vor den Etruskern mit vielen anderen Völkerschaften in Italien eingewandert; sie kamen über die Alpen herüber und gründeten im Küstenland am unteren Tiber und in den nahen Bergen kleine Ortschaften, die sich durch ein Bündnis zur gemeinsamen Abwehr von Feinden zusammenschlössen. Der Etrusker Tarquinius Priscus ging sogleich daran, die Dorfsiedlung Rom, die auf dem Palatinhügel lag, zu einem kraftvollen Stadtstaat nach dem Vorbild der Etruskerstädte zu machen. Sichtbarstes Zeichen seiner Macht und seiner richterlichen Gewalt waren die Liktoren, ausgewählte Dienstleute, die ihn mit Doppeläxtcn und Rutenbündeln ständig begleiteten. Er berief eine große Zahl ctruskischer Techniker, Künstler und Handwerker nach Rom und dehnte die Stadt auch auf die benachbarten Talgründe aus. Nördlich des Palatinhügels, wo sich sumpfiges und unbewohntes Wildland hinzog, entwässerte er das Gelände durch den Bau jener Cloaca maxima, des zuerst offenen und dann überwölbten riesigen Abzugskanals, der die Sumpfwässer zum nahen Tiber hin ableitete. Vier Meter hoch und drei Meter breit, ohne Mörtel aus Tuffquadern gefügt, durchzog dieses mächtigste Bauwerk der Etrusker unterirdisch das Tal. Auf dem entwässerten Grund am Fuße des Palatins breitete sich schon bald ein Marktplatz, das Forum, aus, das in späterer Zeit Regierungsplatz und Mittelpunkt des Römerreiches werden sollte. Auch auf der anderen Seite des Palatins legte Tarquinius das Tal trocken, hier fand der „Große Cirkus'" Raum, der für Wagenrennen bestimmt war, wie die Etrusker sie liebten. Bevor der König noch den Bau des nach strengen etruskischen Regeln errichteten Dreigöttertempels zu Ehren Jupiters, des Gottes des Himmelslichtes, Junos, der Stadtgöttin, und Minervas, der Schirmherrin, vollenden konnte, starb er unter dem Dolch eines Meuchelmörders. Auch Servius Tullius, sein Nachfolger in der Reihe der Könige Roms, war Etrusker. Auf ihn gehen die Anfänge einer Verfassung zurück, die auch den Bauern neben den Großgrundbesitzern gewisse Rechte zugestand. Unter der Regierung des Servius Tullius wurde Rom mit einem Festungswali umschlossen. Gegen die etruskische Fremdherrschaft erhoben sich die Großbauern Latiums. Um die Wende zum 5. Jahrhundert errangen sie die Freiheit. Rom würde Republik. An die Stelle der Könige traten zwei alljährlich gewählte Konsuln. Der Tarquinier floh 20
in seine etruskische Heimat und ließ sich in Caere nieder, wo die vor einiger Zeit wiedergefundenen Grabgewölbe die geschichtliche Existenz dieses Königsgeschlechtes beweisen. Von diesem Zeitpunkt an beginnt Rom den jahrhundertelangen, blutigen Kampf gegen die Bollwerke des etruskischen Städtebundes. Griechen und Karthager brechen Etruriens Seemacht. Aus der Poebene werden sie durch die Gallier, aus der Landschaft Neapel durch die Samniter vertrieben. Die letzten Bastionen aber fallen erst im Jahre 88 v. Chr. nach zahlreichen Aufständen, Siegen und Niederlagen. Das Etruskervolk verschwindet aus der Geschichte. Seine eroberten Stützpunkte werden altgedienten Soldaten des römischen Heeres als Wohnsitze zugewiesen.
In der Totenstadt Durch die Ruinenstädte der Etrusker und durch ihre Gräberstädte wandern heute nachdenklich die Fremden. Was könnte die Menschen stärker anrühren als dieser plötzliche Übergang aus der Gegenwart in die lautlose Einsamkeit einer untergegangenen Welt! Die Nckropolen — die Totenstädte —, die von Straßen durchzogen sind wie die lebensdurchpulsten Stadtgebiete, zu denen sie einst gehört haben, überlagern oft ganze Höhenrücken, und der Besucher findet sich ohne Führer nicht mehr zurecht. Rechts und links der plattenbelegten Friedhofsstraßen reihen sich die Totenhäuser, überwölbte Grabkammern, aus Steinblöcken zusammengefügte Gehäuse, Kuppelgräbcr mit rechteckigen oder runden Steinsockeln, über denen stufenweise vorkragende Riesenquadern sich zur Deckenrundung wölben, überall wuchert Gesträuch zwischen dem altersgrauen Gestein. Selbst der überwachsene Hügel, der plötzlich, dreißig Meter hoch aufsteigend den Straßenzug abschließt, birgt eine Grabanlage, die Ruhestätte einer vornehmen Familie und ihres Gesindes. Zwischen wildwachsenden Reben werden Reste von niedrigen, ringförmigen Stcimimwallungen sichtbar, zur Seite öffnen sich schmale Zugänge, die in die Vielzahl der inneren, erdüberlagerten Kammern führen. Anderswo führen Treppenstufen in die Tiefe der Totengemächer, die durch enge Durchlässe miteinander verbunden sind. Manche Totenstädte setzen sich bis in die Felsen fort, katakombenartig durchziehen Grabflure den Berg. Viele Gräber sind schon in Römerzeiten geschändet und nach Sehätzen durchsucht worden, sie sind leer bis auf die Nischen oder die steinernen 27
Kopf des Mars, des Kriegsgottes, von Todi^ Bronze aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.
Urnensockel. Andere, die der Spaten der Archäologen freigelegt hat, zeigen noch die reiche Ausstattung, Säulen mit halbplastischem Bildschmuck, mit Tierreliefs, in Stein geformten Schwertern, Streitäxten und Hausgerätschaften. An den Wänden stehen die steinernen Totenbetten, aus dem Fels gehauene Möbel, Urnen in Menschengestalt. Als Grabbeigaben sind Vasen, Waffen, Schmuck den Toten mitgegeben. W a r doch der Tod in der Vorstellungswelt der frühen Etruskerzeit nichts anderes als die Fortsetzung des Lebens. Im Totenreich von Tarquinia, das in Etrurien immer als die „Stadt der Städte" größere Bedeutung hatte als andere Etruskerorte, hat die Malerei dieses Volkes ihre besondere Heimstätte gehabt. Man hat damit begonnen, die aufgefundenen Wandbilder der Grabgewölbe, um sie vor weiterer Verwitterung und Zerstö-
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rung zu schützen, behutsam zu lösen und auf* Leinwand zu übertragen. Bei diesen Arbeiten ist es auch möglich gewesen, Malweise und Technik der etruskischen Künstler zu studieren. Meist wurde die geglättete Felswand des Grabes mit einer dünnen, aus Ton und gelöschtem Kalk gemischten Tünche bedeckt, die bei einzelnen Malereien noch durch beigemischte Torffasern zu eitler kunstgerechten „Grundierung" wurde. Diese Grundierung ließ jedoch die Farbe sehr schnell eintrocknen, was den Künstler zu einer sehr schnellen Malweise zwang. Ornament und Figurenumrisse wurden mit dem Spachtel eingeritzt und dann mit den aus pflanzlichen und mineralischen Stoffen bestehenden Farben ausgefüllt, Farben, deren Abstufungen von den Grundtönen Schwarz, Rot, Weiß und Gelb über Grün und Grau bis zu zarten, gebrochenen Zwischentönen von Rosa, Ocker und Türkis reichte. Die sagenkundlichen und religiösen Darstellungen dieser W a n d malereien entziehen sich zum großen Teil noch der Deutung — interessanter sind für uns die Bilder, die sehr wirklichkeitsnah und getreu Szenen aus dem Lebensalltag der Verstorbenen zeigen. In bunter Üppigkeit bietet sich hier die ganze Pracht etwa eines etruskischen Festmahls dar. Die Teilnehmer liegen auf den bequemen Ruhebetten, die uns schon vom Prunksarg des Ehepaares von Caere her bekannt sind. Die Gäste werden von Mädchen und schönen Jünglingen mit köstlichen Speisen und Getränken bedient, die griffbereit auf kleinen, niedrigen Tischchen angerichtet stehen. Zu Häupten der Tafelnden winden sich Blütenkränze, und um die Ruhelager drängt sich ein fröhliches Volk von Tänzern und Tänzerinnen, von Flöten- und Leierspielern, von Gauklern und Sängern. Verzückt ergeben sich Gäste und Gastgeber, Diener und Herren dem Rausch der verzaubernden Musik, und wir verstehen, daß diese Musik auch die scheuen Hirsche aus ihren Schlupfwinkeln hervor in die Fangnetze der schlauen Jäger zu locken vermochte. Zwischen der Menge tummeln sich in bunter Fülle Hunde, Katzen, Tauben und Hühner, und jedes versucht, von den reichbesetzten Tischen der Menschen einen Bissen zu erhaschen. Es ist ein Bild der Lebensfreude und Daseinslust, der sinnenfrohen Hingabe an die Schönheit und Fülle des Irdischen. Diese Bilder entstanden, um die Toten glauben zu machen, sie weilten noch mitten unter den Gefährten ihrer irdischen Tage und nähmen an ihren Freuden, ihren Unterhaltungen und ihren ausgelassenen Tänzen t e i l . . .
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Bild der Musen, Wandgemälde in Tarquinia
Dem Schicksal verfallen Und doch müssen die Etrusker, vielleicht unter der zunehmenden Bedrohung durch die Römer, gespürt haben, daß über ihrer heiteren Lebenswelt die .Schatten heraufzogen und daß in absehbarer Zukunft das Schicksal ihres Volkes erfüllt sein werde. Vom 4. Jahrhundert an verschwinden mehr und mehr die freundlichen Jenseitsvorstellungen Die Unterweltsgötter steigen herauf, werden zu angsterregenden Dämonen. Dumpfer Ernst durchbebt nun die meisten Bildwerke in den Gräbern. Nach einer Legende dieser Zeit soll ein Bauer aus Tarquinia beim Pflügen ein Kind gefunden haben, einen Knaben mit dem Antlitz eines Greises und langem, weißem Haar. Es war der Götterknabe Tages, der Sohn des Genius und Enkel der Gottheit Tinia. Der erschrockene Landmann rief mit lautem Geschrei die Priesterkönige herbei, und ihnen verkündete das greise Kind das härtere Gesetz des Daseins. Als er die letzten Gesetzesworte gesprochen hatte, verstummte der Knabe und zerfiel vor den Äugen der Umstehenden zu Staub. Die Priester aber schrieben sorgfältig auf, was sie gehört hatten und bewahrten das Geheimnis bis an das Ende. Zwölftausend Jahre hatte der Schöpfer nach dem etruskischen Weltbild dem Weltall zugemessen, und jedes Jahrtausend stand unter der Herrschaft eines Tierkreiszeichens. Im ersten entstanden Himmel und Erde, im zweiten das Firmament, im dritten 30
die Meere, im vierten Sonne und Mond, im fünften Pflanzen und Tiere, im sechsten der Mensch. Sechs Jahrtausende also war es dem Menschen beschieden, auf dieser Erde zu wandeln, bis der Schöpfer das All wieder zurücknehmen würde in seine Hände. Die Erdenzeit des etruskischen Volkes war auf zehn „ J a h r hunderte" festgesetzt, von denen die ersten je hundert Jahre dauerten, die nächsten 123 Jahre, die nächsten 119 Jahre. Trompetensignale zeigten, wie Plutarch berichtet, im Jahre 88 vor Christi das Ende des achten etruskischen Jahrhunderts an, ein grell leuchtender Komet wies auf den Ablauf des neunten hin. Das Etruskervolk hat das ihm als Daseinsfrist prophezeite) zehnte Jahrhundert nicht erlebt. Ihre Glaubenslehre bot diesen Menschen der Spätzeit keine Hoffnung mehr auf Erlösung und Erbarmen. Umgeben von den finsteren Gestalten der Genien, Furien und Dämonen, wußten sie sich dem Gesetz verfallen, das ihnen, wie sie glaubten, nicht von den Gottheiten der lichten Himmelshöhen, sondern durch den Mund des Götterknaben Tages von den Beherrschern der nachtdunklen Bereiche des Todes auferlegt worden war.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Vorderes Umschlagbild: Frühetrusklscher Jupiterkopf aus Veji, um 500 bis 400 v. Chr.; 4. Umschlagseite: Apoll von Veji; innere Umschlagseite: Etruskischer Krieger; Textseite 2: Etruskischer Triumphzug
L u x - L e s e b o g e n 2 7 0 (Geschichte) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vlerteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Lux, Muroau vor München
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