ESTNISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von Richard Viidalepp
Akademie-Verlag Berlin 1980
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ESTNISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von Richard Viidalepp
Akademie-Verlag Berlin 1980
Volksmärchen Eine internationale Reihe Herausgegeben vom Zentralinstitut für Geschichte Bereich Kulturgeschichte/ Volkskunde Prof. Dr. Julian Krzyzanowski, Warschau Prof. Dr. Gyula Ortutay, Budapest Erna Pomeranzewa, Moskau Gisela Burde-Schneidewind, Berlin Mitbegründet von Wolfgang Steinitz Redaktion Friedmar Geißler Erschienen im Akademie-Verlag GmbH 108 Berlin, Leipziger Straße 3 – 4 © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lektorin: Hildegard Palm Lizenznummer: 202 – 100/150/80 Herstellung: IV/2/14 – VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibnitz“, 445 Gräfenhainichen 5499 Bestellnummer: 752.015 (2121/8) LSV 7208 Printed in GDR DDR 10,50 M
Übersetzung von Eugenie Meyer Fachbearbeitung Richard Semrau Einband, Schutzumschlag Helga Klein
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Tiermärchen ................................................ 11 1 Der Fuchs, der Wolf und der Hase.............. 11 2 Der Fuchs bemalt den Pelz des Wolfes........ 18 3 Der Fuchs und der Wolf dreschen Korn ....... 22 4 Die Maus und die Katze............................ 25 5 Die Tiere als Kriegsflüchtlinge ................... 28 6 Der Igel und der Fuchs in der Grube .......... 37 7 Der Fuchs als Gänsehirt ........................... 40 8 Der Wolf und der Fuchs im Speicher .......... 48 9 Das Haus aus Eis und das Haus aus Stein ... 50 10 Der Wolf und das Pferd .......................... 53 11 Der Preis des Fohlens ist unter dem Huf ... 55 12 Wie die Krähe graue Federn bekam.......... 57 13 Das Kätzchen und das Hähnchen ............. 59 14 Der Wettkampf zwischen dem Hasen und der Kälte....................................... 63 15 Die Augen der Häschen .......................... 65 16 Der alte Hund und der Wolf..................... 66 17 Die Katze als Frau Fuchs......................... 74 18 Der Bär wird für den Pastor gehalten........ 77 19 Die Sau und der Wolf ............................. 79 20 Der kluge Schafbock .............................. 81 21 Der Ochse baut eine Hütte...................... 83 22 Der Bauer, der Bär und der Fuchs ............ 87 23 Der dankbare Wolf................................. 93 24 Bist du ein Mann? .................................. 96 25 Ein altes Weib überlistet den Bären .......... 99 26 Der Fuchs im Nachtquartier .................. 100 27 Das Zeugnis des Hundes ...................... 104
5
28 Der Krieg der Vögel und der Insekten mit den Vierbeinern ............................ 108 29 Der Adler lehrt den Fuchs das Fliegen..... 110 30 Die Waldtaube und das Huhn ................ 111 31 Die Heirat der Krähe ............................ 113 32 Der Truthahn, die Ente und der Gänserich.......................................... 115 33 Der Wettlauf des Krebses mit dem Fuchs ............................................... 117 34 Die Kriebelmücken und das Pferd........... 119 35 Die Fliege und der Floh......................... 121 36 Wie die Bohne einen schwarzen Streifen erhielt............................................... 122 37 Der Wind und die Sonne ....................... 123 Zaubermärchen .......................................... 125 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51
Die sieben Brüder ................................ 125 Die drei geraubten Königstöchter........... 135 Der Soldat freit eine Königstochter......... 138 Die goldene Katze ............................... 154 Der König von Tagutsemaa ................... 159 Die drei badenden Mädchen .................. 172 Die treulose Schwester......................... 183 Der Mann, der das Fürchten lernen wollte ............................................... 193 Die gute Tat des Kalevipoeg.................. 202 Der zum Pferd verzauberte Jüngling ....... 209 Der Sack-Toomas ................................ 217 Der Tod im Lägel ................................. 220 Der Mann mit der goldenen Nase ........... 225 „Der Mond scheint, der Tote fährt“ ......... 233
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52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Die Königstochter als Schlange.............. 237 Die vertauschte Braut .......................... 242 Die Tochter der Hexe ........................... 251 Die Frau der Schlange .......................... 256 Der verschwundene Mann..................... 263 Drei Haare vom Kopf des Teufels ........... 269 Die Geige aus der Hölle ........................ 280 Wie Aimu Andres die Königstöchter aus der Hölle befreite ............................... 286 Der Fronarbeiter als Kesselarbeiter in der Hölle ........................................... 298 Der Teufel wirbt um ein Mädchen........... 308 Die eigene Tochter und das Waisenkind .. 313 Die Goldspinnerin ................................ 317 Der Pilzkönig ...................................... 322 Aschenputtel....................................... 341 Sechse kommen durch die ganze Welt.... 345 Der Sohn und der Vater........................ 354 Die Königstochter auf dem Glasberg....... 364 Der Bauer Paalak und der Knecht Fuchs.. 374 Der goldene Vogel ............................... 383 Die Tiere als Schwäger ......................... 392 Der König des Nordlandes..................... 401 Die Wohltaten des heiligen Baumes........ 439 Der Wunderring .................................. 448 Das Feuerzeug .................................... 453 Das Pferd, das Tischtuch und der Stock .. 458 Der Speisesack und der Prügelsack ........ 463 Der Höllenhahn ................................... 467 Die zwei Brüder und das wundersame Huhn ................................................ 473
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80 Wie der Dummkopf die Königstochter gewann............................................. 493 81 Die goldenen Flügel ............................. 498 82 Die geschenkte Flöte............................ 502 83 Die Heirat des Kaufmanns .................... 507 84 Wahrheit und Lüge .............................. 512 85 Mats’ Sohn Mats .................................. 517 86 Wie der lahme Knabe ein Held wurde ..... 522 87 Der Kraftmensch ................................. 526 88 Der Gegnersucher ............................... 530 89 Der Vater und die drei Söhne ................ 534 90 Der Mann, der die Vogelsprache kannte .. 537 91 Die Tiere als Helfer .............................. 541 92 Vom Schlangenkönig............................ 549 93 Wie der Schweinehirt zum Schwiegersohn des Königs wurde ......... 555 94 „Sesam, Sesam, öffne dich!“ ................. 560 95 Der arme Tönu.................................... 563 96 Der Däumling ..................................... 568 97 Den Mond im Genick, die Sonne auf der Stirn................................................. 571 98 Das Mädchen im Räuberhaus ................ 577 99 Das Waisenkind wird ein Kuckuck .......... 587 100 Der geheimgehaltene Traum ............... 591 Legendenmärchen ...................................... 605 101 102 103 104 105
Gott und der Pastor............................ 605 Der ungewöhnliche Schmiedegeselle .... 609 Der Gutsherr als Pferd in der Hölle ....... 614 Das singende Schilfrohr ...................... 619 Der tüchtige Drescher ........................ 626
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106 Die gekochten Eier............................. 631 107 Der habgierige Gutsherr in der Bockshaut ......................................... 633 108 Die faule Weberin .............................. 636 109 Das Hemd des Glücklichen .................. 637 Novellenmärchen........................................ 640 110 Um die Wette lügen ........................... 640 111 Der größte Lügner wird Schwiegersohn des Königs ........................................ 644 112 Die Königstochter findet keine Antwort . 647 113 Die kluge Bauerntochter ..................... 651 114 Die drei Lehren des sterbenden Vaters.. 657 115 „Wenn sie nicht kommen, dann kommen sie“ ..................................... 662 116 Die Aufteilung der Gänse .................... 665 117 Die Weissagung über den Erben........... 670 118 Schlauer als der große Hexenmeister.... 674 119 Der Kaiser und der Einbrecher ............. 685 120 Der Räuber als Bräutigam ................... 688 121 Der Zimmermann und der Maler .......... 693 122 Der versteckte Alte ............................ 697 Märchen vom dummen Teufel....................... 700 123 124 125 126
Die Speichertür hüten ........................ 700 Die Augenarznei des schlauen Hans...... 702 Die geblendete Riesin ......................... 704 Wie Vanapagan und Ants um die Wette rodeten............................................. 708 127 Verarmung und Tod des Vanapagan ..... 710
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Schwänke.................................................. 723 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139
Der gelernte Dieb .............................. 723 „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ . 730 Die Axtsuppe .................................... 734 Der habgierige Pastor......................... 737 Peter ohne Hosen .............................. 742 Gutes Gedächtnis und Vergeßlichkeit .... 748 Pfuscher-Schmied .............................. 750 Der Herr lernt den Hunger kennen ....... 754 Die Geschichte der Usara-Tani ............. 763 Meine Jugendabenteuer ...................... 771 Was sollte ich denn sagen? ................. 774 Unbegründete Todesangst................... 776
ANHANG.................................................... 780 Nachwort ................................................ 780 Literatur- und Abkürzungsverzeichnis ......... 846 Worterklärungen...................................... 849 Anmerkungen.......................................... 850
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Tiermärchen 1 Der Fuchs, der Wolf und der Hase Zur kalten Winterszeit lief ein hungriger Fuchs im Walde umher auf der Suche nach Futter. Schließlich hatte der Fuchs den Wald kreuz und quer durchstreift, und es war ihm doch nichts begegnet, was er hätte ins Maul stecken können. Zufällig geriet der Fuchs an den Rand eines Weges. Da sah er von weitem einen Mann mit einem Wagen voller Fische kommen. Sofort hatte der Fuchs einen guten Einfall. Er legte sich am Rande des Weges hin und stellte sich tot. Bald kam der Mann an die Stelle, wo der Fuchs ausgestreckt am Boden lag. Als der Mann den toten Fuchs am Wegrand sah, hielt er gleich an und kletterte von der Fischfuhre herunter, um den toten Fuchs aufzuheben und auf die Fuhre zu legen. Dabei sprach er zu sich selbst: Der Reineke muß hier am Wegrand verendet sein; ist ja noch ganz warm. Wenn ich mit dem nach Hause komme, wird sich die Alte aber freuen! Eine große Fuhre Fische und ein schönes Fuchsfell dazu. Aus dem Fell bekommt die Alte einen schönen Kragen für ihren Pelz. So vor sich hin redend, trieb der Mann das Pferd wieder an und setzte sich dann selbst vorn auf den Wagen, den Fuchs hinter sich im Rücken. 11
Jetzt hielt der Fuchs seine Zeit für gekommen und begann hinter dem Rücken des Mannes die Fische leise vom Wagen zu werfen. Als er alle Fische vom Wagen hinuntergeworfen hatte, sprang er auch selbst unbemerkt ab und begann die Fische aufzulesen. Der Mann aber fuhr fröhlichen Mutes immer weiter und merkte nichts von dem Streich des Fuchses. Groß war sein Schreck freilich, als er zu Hause sah, daß die Fische verschwunden waren und auch der Fuchs nicht mehr da war. Als nun der Fuchs im Wald dabei war, die Fische aufzufressen, kam zu ihm der Wolf und bat ihn: „Gib mir auch von den Fischen!“ Der Fuchs antwortete: „Fang dir doch selber welche!“ Der Wolf: „Ich verstehe es aber nicht!“ Der Fuchs: „Ich werde es dich lehren!“ Der Wolf: „Ja, sei so gut, lehre es mich!“ Der Fuchs: „Komm, folge mir, gehen wir zum Fluß hinunter!“ Mit diesen Worten machte sich der Fuchs auf den Weg zum Fluß, der Wolf immer hinterdrein. Am Fluß lief der Fuchs zu einem Eisloch. Er befahl dem Wolf, den Schwanz ins Loch zu hängen und so lange zu warten, bis er merke, daß die Fische am Schwanz anzubeißen beginnen. Der Wolf hockte eine Weile über dem Eisloch, schließlich fragte er den Fuchs: „Soll ich jetzt den Schwanz aus dem Wasser ziehen?“ Der Fuchs erwiderte: „Noch nicht! Erst wenn das Schwanzende schwer wird.“ 12
Der Wolf gab sich damit zufrieden. Nach einer Weile fragte er wieder: „Soll ich jetzt den Schwanz aus dem Wasser ziehen?“ „Nein, noch nicht, erst wenn du merkst, daß das Schwanzende schwer wird!“ antwortete wieder der Fuchs. Der Wolf: „Oh, oh, mein Schwanz erfriert, ich kann nicht länger warten!“ Der Fuchs: „Dann zieh ihn heraus, jetzt sind die Fische dran!“ Der Wolf fing an zu ziehen, aber er bekam den Schwanz nicht her aus, denn der war im Wasser festgefroren. „Zieh, zieh!“ rief der Fuchs, „du hast viele Fische am Schwanz!“ Der Wolf zog aus Leibeskräften, doch der Schwanz gab nicht nach. Da sprach der Fuchs zum Wolf: „Warte noch ein Weilchen, ich gehe und hole Hilfe vom Dorf, sie werden dir helfen, deine Fischbeute herauszuziehen!“ Mit diesen Worten lief der Fuchs zum nahe gelegenen Dorf. Dort schlug er auf einem Hof so großen Lärm, daß die Bauern aus den Stuben herauskamen und den Fuchs erblickten. Der Fuchs begann zum Fluß hinunterzulaufen, die Bauern immer hinterher, mit Knüppeln und Prügeln in den Händen. Am Flußufer versteckte sich der Fuchs vor den Verfolgern in den Sträuchern. Da entdeckten die Verfolger den Wolf, der am Eisloch saß. Als sie den Grauen sahen, schrien
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sie: „Dort ist er ja, der Verbrecher! Ist ins Eisloch gefallen, das Aas!“ Der Wolf meinte, er brauche die Verfolger nicht zu fürchten, und blieb deshalb ruhig und erwartete sie. Groß war aber sein Schreck, als plötzlich Knüppel- und Prügelschläge auf ihn niederprasselten. Da nahm der Wolf in großer Angst seine ganze Kraft zusammen und zog. Er spürte bald, daß er frei war, doch sein Schwanz blieb im Eisloch, und er konnte sich nur mit einem blutigen Schwanzstummel davonmachen. Nachdem dies geschehen und der Wolf am Fluß verprügelt worden war, lief der Fuchs in den Hühnerstall des Dorfes und würgte dort mehrere Hühner. Sobald er seinen Wanst mit frischem Hühnerfleisch vollgeschlagen hatte, rannte er in die Milchkammer des Bauern und trank dort einen guten Schluck frischer Sahne. Weil ihm alles so gut gelungen war, lachte der Fuchs froh gelaunt und begann sich den Kopf mit saurer Sahne vollzuschmieren. Als er damit fertig war, machte sich der Fuchs auf den Weg zum Fluß, wo der kranke Wolf in einem Busche saß und vor Schmerzen stöhnte. Sowie er sich dem Wolf näherte, begann der Fuchs zu hinken und zu stöhnen. Der Wolf sah, daß der Fuchs hinkte. „Was fehlt dir, Bruder?“ fragte der Wolf. „Oh, wie bin ich verprügelt worden, als du fort warst, und nicht ein einziges Fischlein habe ich gefangen; und meinen Schwanz bin ich zudem losgeworden, o weh!“
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Als der Fuchs das hörte, machte er ein jammervolles Gesicht, seufzte einige Male und begann zu erzählen: „Ach, lieber Nachbar, mir ist es nicht besser ergangen. Meine Geschichte ist sogar noch schlimmer. Ich lief zu den Bauern, um Hilfe für dich zu holen, aber dort haben sie die Hunde auf mich gehetzt. Die Hunde haben mich erwischt und mir mein Fell arg zerzaust. Und danach sind die Menschen über mich hergefallen, sie haben mit Knüppeln auf meinen Kopf geschlagen. Mein Kopf barst fast auseinander, und sieh nur, wie er jetzt eitert!“ Dabei zeigte der Fuchs seinen mit saurer Sahne verschmierten Kopf. „Das Schlimmste war aber dies“, berichtete der Fuchs weiter; „ich sprang dann über den Zaun, stolperte, fiel und brach mir dabei das Bein. Mit großer Mühe bin ich bis hierher gehumpelt. Wer weiß, wie ich weiterkomme!“ Die Klagen des Fuchses erweichten das Herz des kranken Wolfes, und er sagte: „Deine Geschichte, Nachbar, ist viel schlimmer als meine. Dein Kopf ist voll Eiter, aber meiner ist heil; dein Bein ist gebrochen, aber meine Beine sind heil. Ich habe zwar einige Beulen am Kopf, und mein Schwanz ist ab, aber ich kann mich auf meinen Beinen noch fortbewegen, was du nicht kannst. Klettere auf meinen Rücken, lieber Nachbar, ich bringe dich zurück in den Wald, dort werden wir vor unseren Feinden etwas sicherer sein!“
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Der Fuchs ließ sich das nicht zweimal sagen und kletterte auf den Rücken des Wolfes. Mit großer Mühe schleppte der kranke Wolf den Fuchs in den Wald. Dort kam ihnen der Hase entgegen. Der Hase fragte erstaunt: „Wo kommt ihr denn her?“ Da erzählte der Wolf dem Hasen die Geschichte, wo sie gewesen sind und was ihnen zugestoßen ist. Als der Hase das hörte, erfaßte auch ihn Mitleid, und er sagte: „Nachbar Fuchs, ich will dich auch ein wenig tragen helfen, damit du schneller nach Hause kommst!“ Mit diesen Worten hob der Hase den Schwanz des Fuchses auf und trug ihn, und der Zug bewegte sich wieder. Auf dem Rücken des Wolfes lachte der Fuchs vor sich hin und murmelte halblaut: „Der Kranke schleppt den Gesunden! Der Kranke schleppt den Gesunden!“ Der Wolf und der Hase, die den Fuchs murmeln hörten, fragten: „Was hast du gesagt?“ Der Fuchs: „Ich sagte: Mein Magen ist leer, und der Schmerz ist groß!“ „Macht nichts, mein Freund“, tröstete der Hase, „ich werde dir etwas zu essen besorgen! Sieh, dort kommt eine Frau mit einem Brotkorb am Arm. Ich will versuchen, ihr die Brote aus der Hand zu schlagen.“ Mit diesen Worten flitzte der Hase an den Wegrand, warf sich dort nieder und stellte sich tot. 16
Die Frau kam, sah den Hasen, dachte, dieser sei tot, und wollte ihn in ihren Korb legen, doch der Hase entwischte der Frau. Darüber erschrak die Frau so, daß sie den Brotkorb fallen ließ. Der Wolf kam, packte den Brotkorb und lief mit ihm fort zu dem abseits wartenden Fuchs. Als der Wolf den Brotkorb zum Fuchs gebracht hatte, machte der Fuchs „Sst, sst!“ Der Wolf fragte: „Was fehlt dir?“ Der Fuchs flüsterte: „Der Jäger kommt mit der Flinte auf dem Rücken. Was soll jetzt werden?“ Als der Wolf und der Hase dies hörten, liefen sie vor Angst und Schrecken davon, der Fuchs aber schaute ihnen lachend nach. Sobald die beiden fort waren, fraß der Fuchs noch den Korb voll Weißbrote auf, den sie der Frau entwendet hatten, als Abschluß auf den vollen Magen; dann trottete er davon und legte sich in seinem Bau schlafen.
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2 Der Fuchs bemalt den Pelz des Wolfes In alten Zeiten, als der Wolf und der Fuchs noch Freunde waren und Vögel und Menschen eine gemeinsame Sprache sprachen und auch gleiche Laute von sich gaben, ereignete sich eine Geschichte, die viel Lachen und Spaß hervorrief und bis in unsere Zeit gelangt ist. Der Wolf und der Fuchs waren damals noch Freunde, und es gab keine Feindschaft zwischen ihnen. Aber wer ist schon Freund eines Schelms, und wen hält der Schelm für seinen Freund? Da geschah einst zu Martini eine feine Geschichte, die den Rock des Wolfes für Lebzeiten verdarb und den Wolf mit dem Fuchs auf ewige Zeiten verfeindete. Am Martinstag hatte Reineke einen schönen Pelz an, den er sich gerade beim Ülenurme-Onkel hatte nähen lassen, der Wolf aber trug nur sein altes lehmfarbenes graues Wams. Am Waldesrand traf der Fuchs in seinem neuen Pelz den Wolf. Der Wolf grüßte den Fuchs und fragte ihn sogleich: „Oh, Reineke-Bruder! Woher hast du diesen schönen Pelz?“ Der Fuchs wich aus und wand sich, wie es so Spitzbubenart ist. Doch der Wolf bedrängte den Fuchs und sagte: „Höre, Brüderchen, bester Freund, sei ein Mann und sage mir, woher du ihn 18
hast, ich werde hingehen und mir auch einen holen.“ Der Fuchs legte den Kopf schief, dachte etwas nach und sagte schließlich: „Ja-a, Herr des Waldes, wenn du auch einen so schönen Pelz haben willst, dann mußt du mitkommen, ich werde dir ebenfalls einen so schönen Pelz anfertigen. Ich habe jetzt Schneider gelernt; ich war den ganzen Sommer in Tuusla.“ Der Fuchs brachte den Wolf in den Wald zu einem großen breiten Heuschober. Die Feuerstelle der Hirten war aber in der Nähe dieses Schobers; dort hatten die Hirten am Tage Feuer angemacht, und der Feuerbrand war gerade entfacht. Der Fuchs sagte zum Wolf: „Klettere jetzt auf diesen Heuschober und schau die ganze Zeit hinauf zum Himmel, solange ich unten hexe. Aber paß auf, daß du nicht eher nach unten schaust, als ich es dir sage; dafür sollst du auch einen schönen Pelz bekommen. Aber vergiß nicht, du darfst nicht hinunterschauen, sonst verdirbst du sofort die Streifen und die Farbe.“ Der Wolf kletterte auf den Heuschober, setzte sich hin und schaute starr zum Himmel hinauf: Soll doch der Fuchs einen neuen Pelz zusammenzaubern. Der Fuchs lief zum Hirtenfeuer, nahm einen Feuerbrand und kroch unter den Heuschober, murmelte, rannte um den Schober herum und steckte ihn rundum an.
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Der Rauch stieg dem Wolf in die Nase, und er rief: „Was tust du da, steckst du den Heuschober an?“ Der Fuchs sagte: „Sei still, sei still, die Streifen erscheinen schon, die Streifen erscheinen, so machen wir das Muster.“ Das Feuer aber kroch an den Seiten des Schobers hoch und begann bald das Fell des Wolfes zu erhitzen. Nun hatte der Wolf keine Zeit mehr, weder für das Erscheinen der Streifen noch für etwas anderes. Der Wolf rief: „O du Bösewicht, willst du mich etwa verbrennen! Ich werde dich zerfleischen!“ Der Wolf lief immer hin und her, konnte aber vom Haufen nicht mehr hinunter, auf allen Seiten loderte das Feuer. Endlich lief Brüderchen Wolf durch das Feuer und sprang vom Schober hinunter, verbrannte jedoch seine Beine und versengte sich den Pelz. Der Fuchs aber war längst im Dikkicht verschwunden, fange du einen Fuchs! Ein anderes Mal kam der Wolf wieder mit dem Fuchs zusammen und sagte: „Wie hast du Bösewicht mich betrogen, du wolltest mich wohl verbrennen? Sieh dir an, Schelm, wie mein Pelz jetzt versengt ist!“ „Ich wollte es ja nicht, Brüderchen“, erwiderte Reineke, „aber warum hast du vor der Zeit Lärm geschlagen. Dir wäre nichts passiert, die Streifen erschienen gerade, na und da fingst du an zu schreien, und meine Zauberkraft war gleich hin, es half kein Besprechen mehr noch sonst was. So hast du selbst deinen Pelz verdorben. Ich hatte dir 20
doch gesagt: ‚Sei still, schau nach oben’, du aber hörtest nicht!“ Und sprang in den Wald, versuch ihn zu fangen! So behielt der Fuchs recht. Suche bei einem Schelm Schutz oder bei einem Dieb Obdach, so verlierst du auch das, was du vorher hattest! Seit der Zeit mag der Wolf den Fuchs nicht, ja er haßt ihn.
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3 Der Fuchs und der Wolf dreschen Korn Einst gingen der Fuchs und der Wolf durch den Wald und fanden auf einer erdigen Feuerstelle einen Mistkäfer. Der Fuchs sagte zum Wolf, er solle ihn kosten, ob er gut schmeckt. Der Wolf kostete auch und lobte, er sei schmackhaft und knusprig, und der Fuchs solle ihn aufessen. Der Fuchs wehrte ab: „Ich überlasse ihn gern dir.“ Und der Wolf aß ihn mit Vergnügen auf. Dann gingen sie weiter durch den Wald. Sie kamen zu einem Heuschober, und davor stand das Essen der Schnitter. Der Fuchs sagte, jetzt sei er mit dem Prüfen an der Reihe. Er kostete, spuckte jedoch den ersten Bissen aus und sagte: „Oh, Bruder, es ist gar zu schlecht und bitter, es taugt überhaupt nichts.“ Der Wolf sagte: „Laß mich auch mal kosten!“ Doch der Fuchs verbot es ihm: „Das Zeug, Bruder, solltest du nicht einmal in den Mund nehmen, es ist schlecht und bitter. Doch ich bin fast am Verhungern, irgendwie werde ich es schon hinunterkriegen.“ So aß der Fuchs alles allein auf, und der Wolf bekam keinen Bissen davon. Dann gingen sie wieder weiter. Sie kamen zu einer Tenne, wo das Korn zum Dreschen aufgesteckt war. 22
Der Fuchs sagte: „Das Korn, Bruder, müßten wir uns dreschen, dann hätten wir auch einen Wintervorrat wie die Menschen.“ Der Wolf war damit einverstanden, und sie begannen das Korn zu dreschen. Der Fuchs ging hinaus auf die Tennenbalken und begann von dorther das Korn hinunterzuwerfen. Er warf alles auf den Boden und blieb dann selbst oben, saß auf dem Balken und schaute zu, wie der Wolf unten das Korn drosch, daß es nur so stiebte. Schließlich aber wurde der Wolf müde. „Ho, ho, zum Teufel“, rief der Wolf dem Fuchs zu, „wie lange soll ich hier noch allein dreschen! Was hockst du dort oben auf den Balken und kommst nicht herunter. Ich kann schon nicht mehr!“ Doch der Fuchs blieb ganz still auf den Balken sitzen und sagte nur zum Wolf: „Schau, lieber Bruder, ich schütze hier oben dein Leben und darf mich nicht mal bewegen; ich halte die Balken fest, sonst würden sie dir auf den Kopf fallen und dich erschlagen.“ Als der Wolf das hörte, erschrak er und sagte: „Gut, gut, bleibe auf den Balken und halte sie fest. Ich werde schon allein das Korn dreschen, wenn ich nur am Leben bleibe.“ Und der Wolf drosch allein das Korn und war bald naß wie aus dem Wasser gezogen – er tropfte nur so. Der Fuchs aber lag immer noch bäuchlings auf den Balken. Später, als das Korn zusammengeschaufelt war, rief der Wolf: „Du kannst jetzt herunterkommen 23
und die Balken loslassen; das Korn ist zusammengeschaufelt – fangen wir an, es zu reinigen.“ So reinigten sie beide zusammen das Korn. Alle Körner wurden sauber, und dann begannen sie zu teilen. Der Fuchs sagte: „Du, Bruder, hast beim Dreschen doch etwas mehr Mühe gehabt als ich beim Festhalten der Balken. Du mußt auch den größeren Haufen bekommen, und mir soll der kleinere bleiben.“ Der Wolf war damit zufrieden. Er nahm sich den großen Spreu- und Strohhaufen und ließ dem Fuchs den kleinen Körnerhaufen. Der Fuchs backte sich aus den Körnern ein Brot wie einen Hauskäse, doch das Brot des Wolfes, das aus Stroh war, hielt auf keine Weise zusammen. Einmal fragte der Wolf den Fuchs: „Bruder, warum ist dein Brot so fest?“ Da sagte der Fuchs: „Was ist daran zu ändern, Bruder? Du hast beim Dreschen mehr Mühe gehabt, und dein Brot ist dafür schön weich, aber ich muß beim Essen meines Brotes mehr Mühe haben als beim Dreschen. – Ich kann es kaum beißen.“
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4 Die Maus und die Katze Katze und Maus lebten in alten Zeiten in guter Freundschaft miteinander. Die Maus fürchtete die Katze nicht, und die Katze tötete die Maus nicht. Um diese Zeit sammelten sie einst im Herbst gemeinsam in einer alten Heuscheune Fett in eine Tonne, um einen Wintervorrat zu haben. Als die Tonne bis zum Rand voll war, versprachen sie einander ganz fest, nicht eher aus der Tonne zu nehmen, bis es schneit und man nirgends mehr etwas findet. Daraufhin verschlossen sie die Tonne mit dem Deckel und gingen nach Hause. Doch die Maus konnte vor Verlangen nach Fett nirgends Ruhe finden. Eines Morgens sagte sie zur Katze: „Gestern war ich mit der Krähe zusammen; sie hat Junge und rief mich für heute zur Kindtaufe. Erwarte mich nicht vor dem Abend zurück.“ Mit diesen Worten ging sie. Die Maus hatte aber gelogen. Sie hatte großen Appetit auf Fett. Damit die Schuld nicht allein auf sie fiel, rief sie ihre Freunde und Nachbarn in die bewußte Scheune zur Fettonne zu Besuch. Nun, dort aßen sie sich den ganzen Tag über satt und leerten die Tonne bis zur Hälfte. Da noch genug Fett da war, bestellte die Maus alle zum nächsten Tag wieder. 25
Kurz vor Mitternacht kam unsere Maus nach Hause. Als sie ins Zimmer trat, hatte die Katze schon den ersten Schlaf hinter sich. Da sie hörte, daß die Maus zurückkam, fragte sie: „Welchen Namen erhielt das Kind?“ Sich ins Bett legend, erwiderte die Maus ächzend: „Halb aus, morgen soll ich wiederkommen!“ Weil die Maus schläfrig zu sein schien, forschte die Katze nicht weiter. Am nächsten Tag aber traf sich die Maus mit ihren Freunden wieder zum Schmause in der Fetttonne. Am späten Abend war auch der Tonnenboden blank. Die Tonne war jetzt vollkommen leer. Alle bedankten sich und gingen nach Hause. Auch unsere Maus gelangte im Morgengrauen heim. Die Katze erwartete sie und fragte wieder: „Welchen Namen erhielt das Kind?“ „Boden blank“, entgegnete kurz die Maus und kletterte ins Bett, um zu schlafen. Als die Katze die Müdigkeit der Maus sah, unterließ sie auch diesmal, sie genauer über die Kindtaufe auszufragen, und legte sich ebenfalls zur Ruhe. Am nächsten Tag kam die Katze an der Heuscheune vorbei. Sie trat ein, um ihren kleinen Vorrat zu überprüfen, ob alles noch an Ort und Stelle war. Sie hob den Deckel von der Tonne und sah den leeren Boden; vom Fett war nicht ein Kleckschen mehr vorhanden. Die Spuren der Mäuse zeigten aber, wer die Tonne entleert hatte. Auf dem Weg nach Hause, beim Hin-und-her-
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Überlegen, fiel es der Katze wie Schuppen von den Augen: „Was für eine Kindtaufe konnte denn die Krähe im Herbst noch haben? Leeres Gerede der Maus! Am ersten Abend ‚halb aus’, am anderen Abend schon der ‚Boden blank’. Welcher Boden? Welcher sonst, wenn nicht der der Fettonne!“ Als die Katze diese ganze Spitzbüberei erkannte und an das gesammelte Fett dachte, schwor sie der Maus ewigen Groll und ewige Verfolgung, was die Maus bis zum heutigen Tage mit ihrem Leben bezahlen muß.
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5 Die Tiere als Kriegsflüchtlinge Einst lebten mitten im großen Wald in einem kleinen Häuschen ein Hahn und ein Huhn. Das Huhn blieb zu Hause und verrichtete die Hausarbeiten, der Hahn aber ging in den Wald, suchte Würmer und anderes Eßbare. Eines Tages brachte er sehr fette Würmer heim und befahl dem Huhn, sie zu kochen, selbst aber ging er wieder auf die Suche. Das Huhn kochte auch die Würmer. Es kostete von der Brühe – sie war sehr gut. Es kostete vom Dicken – das war noch besser. Und es aß alles auf. Der Hahn kehrte nach Hause zurück und brachte wieder viele Würmer mit. „Nun, gib mir etwas zu essen“, sagte der Hahn. „Verzeih mir! Ich hatte von der Brühe gekostet. Die Brühe schmeckte gut, ich hatte vom Fleisch gekostet – das Fleisch schmeckte noch besser, und ich habe alles aufgegessen“, sagte das Huhn. „Na, wenn du es aufgegessen hast, hast du es eben aufgegessen. Aber jetzt koche diese ab. Ich gehe und suche noch, doch iß nicht auch diese noch auf.“ Der Hahn ging zum dritten Male in den Wald, um Würmer zu suchen. Das Huhn stellte die Würmer zum Kochen auf. Nun, es kostete wieder von der Brühe – die Brühe 28
war gut. Es kostete vom Dicken – das Dicke war noch besser. Und es aß alles auf. Der Hahn kam wieder nach Hause und fragte nach dem Essen. Doch das Huhn log: „Der Topf begann sehr stark zu kochen, und es ist alles übergekocht.“ Nun wurde der Hahn böse und sagte: „Also paß jetzt gut auf, daß du nichts aufißt und auch nichts überkochen läßt, denn ich möchte auch essen!“ Das Huhn versprach, gut aufzupassen. Der Hahn ging wieder in den Wald, um Würmer zu suchen. Das Huhn stellte wieder die Würmer zum Kochen auf. Als die Würmer gekocht waren, kostete das Huhn wieder von der Brühe – die Brühe war gut. Es kostete vom Dicken – das Dicke war noch besser. Und es aß wieder alles auf. Dann aber begann es zu klagen, daß es jetzt sicher vom Hahn etwas setzen würde. Was sollte es ihm wieder vorlügen? Lange überlegte das Huhn, aber es fand keine Ausrede. Schließlich kam ihm doch noch ein guter Gedanke – den ganzen Kram packe ich zusammen, und wenn der Hahn kommt, flüchte ich und rufe dem Hahn zu, daß der Krieg kommt. Das Huhn begann sofort die Sachen zusammenzupacken. Als alles zusammengepackt war, sah das Huhn den Hahn aus dem Walde kommen. Es lief aus dem Hause mit den Sachen und begann zu schreien: „Der Krieg kommt, der Krieg kommt!“
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Der Hahn fragte: „Wer hat ihn gehört, wer hat ihn gesehen?“ Das Huhn erwiderte: „Ich hörte ihn selbst, ich sah ihn selbst!“ Und auch der Hahn floh. So flüchteten sie durch den großen Wald immer weiter. Zuerst begegnete ihnen der Fuchs. „Na, Nachbarn, wohin geht ihr?“ fragte der Fuchs. „Wir flüchten vor dem Krieg“, sagte der Hahn. Der Fuchs fragte wieder: „Wer hat ihn gehört, wer hat ihn gesehen?“ Das Huhn sagte: „Ich selbst habe ihn mit meinen Ohren gehört und mit meinen Augen gesehen.“ Der Fuchs machte sich mit ihnen auf die Flucht. So flüchteten sie zu dritt weiter. Dann kam ihnen der Wolf entgegen. Der Wolf fragte: „Na, Nachbarn, wohin geht ihr?“ „Wir flüchten vor dem Krieg“, riefen alle drei. Der Wolf fragte wieder: „Wer hat ihn gehört, wer hat ihn gesehen?“ Der Fuchs sagte: „Das Huhn hat ihn mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört.“ Der Wolf flüchtete mit vor dem Krieg. Sie zogen schon zu viert weiter. Es kam ihnen der Bär entgegen. Der Bär fragte: „Na, Nachbarn, wohin geht ihr?“ „Wir flüchten vor dem Krieg“, schrien alle zusammen. 30
Der Bär fragte wieder: „Wer hat ihn gehört, wer hat ihn gesehen?“ „Das Huhn hat ihn gehört, das Huhn hat ihn gesehen“, sagte der Fuchs. Na, auch der Bär gesellte sich zu ihnen – um vor dem Krieg zu flüchten. So flohen sie eiligen Schrittes weiter. Schließlich wurden sie sehr hungrig. Woher etwas zu essen bekommen? Kein einziges Dorf war in der Nähe. Da fiel dem Fuchs etwas ein. Er sagte: „Seht, Kameraden, wie wir etwas zu essen bekommen. Ich kenne hier in der Nähe eine Grube. Wir setzen uns in diese Grube und fangen an zu brummeln. Wessen Gebrummel am kürzesten sein wird, den essen wir zuerst auf.“ Das Huhn und der Hahn waren wohl dagegen, doch die anderen sprachen dafür. So gingen sie in die Grube. Sie fingen an zu brummeln. Während der ersten Brummelei war das Gebrummel des Huhns das kürzeste. Und das Huhn wurde aufgegessen. Sie saßen wieder lange Zeit, ohne zu essen. Da überfiel sie von neuem der Hunger. Sie überlegten, was sie jetzt tun sollten. Sie kamen auf keinen anderen Gedanken und begannen wieder zu brummeln. Sie brummelten eine Weile, und schließlich ging dem Hahn das Gebrummel aus. Der Fuchs aber brummelte am längsten. Der Hahn wurde aufgegessen. So endeten die ersten Kriegsflüchtlinge. Nun begannen sie zu dritt – der Bär, der Wolf und der Fuchs – zu brummeln. Sie brummelten 31
recht lange. Dem Fuchs begann das Gebrummel auszugehen. Und es ging auch aus, doch der Fuchs war so schlau, daß, sobald ihm das Gebrummel ausging, er sofort ein anderes begann. Als erstem ging dem Bären das Gebrummel aus. Doch wie sollte man daran gehen, den Größten aufzuessen? Er ist doch am stärksten und läßt sich nicht fressen! Da sagte der Fuchs leise dem Wolf ins Ohr: „Geh und feuchte meinen Schwanz an, dann stell dich hinter den Bären. Ich werde den Schwanz im Sande wälzen und gehe am Bären vorbei. Sowie ich in seine Nähe komme und ihm mit dem Schwanz gegen die Augen schlage, springst du ihm auf den Buckel und drehst ihm den Hals um.“ Sie machten es so und töteten den Bären. An dem Bären hatten sie recht lange zu fressen. Doch der Fuchs war schlau und zog die Gedärme des Bären unter sich. Der Wolf aber fraß sich den Bauch voll und dachte nicht daran, daß das Fleisch mal zu Ende geht. Schließlich war auch das Fleisch zu Ende. Sie saßen und saßen eine ganze Weile ohne Essen. Dann sagte der Wolf: „Ich will was essen!“ Doch der Fuchs erwiderte: „Wo soll ich hier etwas zum Essen hernehmen?“ Er steckte die Pfote unter sich und zog von dort ein Stück Gedärm heraus. Der Wolf fragte: „Lieber Freund, wo hast du das her?“ „Woher schon“, sprach der Fuchs, „ich habe mir ein Stück Darm herausgezogen.“ 32
Der Wolf begann auch bei sich einen Darm zu suchen. Suchte, suchte und fing plötzlich fürchterlich zu schreien an. „Na, was fehlt dir denn?“ fragte der Fuchs. „Es tut doch sehr weh“, sagte der Wolf. „Ach was tut’s, wenn es weh tut! Als ob es nicht auch mir weh tun würde.“ Der Fuchs steckte die Pfote unter den Sitz, zog ein Darmstück heraus und sagte: „Da siehst du, als würde es mir nicht weh tun!“ Der Wolf suchte zum zweiten Male, faßte irgend etwas und zog es heraus. Doch begann er sofort laut zu schreien und warf sich seitlings auf die Erde. So schreiend und sich windend, starb der Wolf. Der Fuchs freute sich, daß seine List Erfolg gehabt hat. Das Fleisch des Wolfes reichte für den Fuchs allein eine Weile aus. Schließlich kam der Frühling, und dem Fuchs wurde es in der Grube langweilig. Er überlegte, wie er aus der Grube herauskönnte. Eines Tages sah er eine Drossel über seine Grube fliegen. Der Fuchs rief laut: „Hei, Drossel, komm hierher, ich möchte ein wenig mit dir reden.“ Die Drossel flog hin und setzte sich an den Rand der Grube. „Hör zu, Drossel, was ich dir sage: Wenn du mir nicht hierher in die Grube so viel Schutt bringst, daß ich herauskann, fresse ich dich und deine Kinder auf!“ Die Drossel versprach es zu tun und brachte so viel Schutt, daß die Grube gefüllt war.
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Nun sagte der Fuchs zur Drossel: „Wenn du mir nicht so viel Gutes tust, daß ich einen Bauch voll Brei zu essen bekomme, fresse ich dich und deine Jungen auf!“ Die Drossel war wieder in Not; woher sollte sie so viel Brei heranschaffen? Plötzlich sah die Drossel eine Frau mit einem Pferdegespann kommen, und hinten auf dem Wagen stand eine Schüssel voll Brei. Diese Frau ging zu einer Wöchnerin und brachte ihr das Wochensüppchen. Die Drossel flog dem Pferd auf das Kummet. Die Frau ging vor, um die Drossel vom Kummet zu jagen, die Drossel aber setzte sich auf den Hintern des Pferdes. So hatte die Frau mit dem Verjagen der Drossel zu tun, und sie bemerkte gar nicht, wie der Fuchs die Breischüssel vom Wagen nahm. Doch der Fuchs verlangte wieder: „Wenn du mir nicht so viel Gutes tust, daß ich einen Bauch voll Fische zu essen bekomme, fresse ich dich und deine Jungen auf!“ Was blieb der Drossel anderes übrig, als zu gehen und zu suchen, woher sie für den Fuchs Fische bekäme. Da sah sie einen Fischer. Die Drossel flog auf das Kummet des Pferdes. Der Fischer begann mit der Peitsche nach der Drossel zu schlagen, die Drossel aber flog auf den Hintern des Pferdes. So war der Fischer mit der Drossel in Not, der Fuchs aber warf die Fische vom Wagen hinunter. Als der Fuchs genug Fische hinuntergeworfen hatte, hörte auch die Drossel mit dem Umherfliegen auf. So bekam der Fuchs genug Fische zu essen. 34
Jetzt aber wollte der Fuchs auch noch lachen und sagte zur Drossel: „Wenn du mir nicht so viel Gutes tust, daß ich genug zum Lachen bekomme, fresse ich dich und deine Jungen auf!“ Die Drossel begann sich wieder umzusehen, wie sie dem Fuchs etwas zum Lachen beschaffen könnte. Sie fand eine Tenne, wo die Frauen am Dreschen waren. Da ging sie und rief den Fuchs, zum Schauen mitzukommen. Der Fuchs blieb an der Ecke stehen, die Drossel aber flog vom Kopf der einen Frau auf den Kopf der anderen. Die Frauen wurden wütend über das Herumfliegen der Drossel und begannen sie mit dem Dreschflegel zu jagen. Die Drossel flog auf den Kopf der einen Frau. Die andere Frau holte mit dem Dreschflegel aus und schlug die erste Frau zu Boden. Der Fuchs aber lachte so, daß er sich den Bauch halten mußte. Das Lachen des Fuchses hörten jedoch die Dorfköter. Die Hunde liefen im Rudel zur Tenne. Der Fuchs sah, daß ein Hunderudel herankam, und begann nach dem Wald zu laufen. Fast hätten die Hunde den Fuchs erwischt, doch zum Glück war am Waldesrand eine Höhle, und der Fuchs lief da hinein. Nun begann der Fuchs seine Augen zu fragen. „Augen, was habt ihr getan?“ „Wir schauten, wie wir am besten in den Wald kommen.“ „Und ihr Beine, was habt ihr getan?“
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„Wir schauten, wie wir am schnellsten laufen konnten, damit uns die Hunde nicht nachkämen.“ „Ohren, was habt ihr getan?“ „Wir horchten, wie weit die Dorfköter waren, damit sie nicht nachkämen!“ „Aber du, Schwanz, was hast du getan?“ „Ich griff nach einem Stein, griff nach einem anderen Stein, damit der Fuchs nicht so schnell laufen konnte und die Hunde ihn erreichten.“ Nun wurde der Fuchs auf den Schwanz sehr böse und jagte den Schwanz aus der Höhle hinaus. „Hunde, nehmt den Schwanz! Hunde, nehmt den Schwanz!“ Die Hunde griffen auch nach dem Schwanz und zogen an ihm den Fuchs heraus. Nun nahmen sich die Hunde den Fuchs vor. Sie zerrissen ihn in viele Stücke, so daß von ihm nichts übrigblieb. So fand der Fuchs zusammen mit dem Schwanz sein Ende; er dachte wohl, daß die Hunde nur den Schwanz nehmen würden, doch die Hunde ergriffen auch den Fuchs dazu. So fanden alle Kriegsflüchtlinge den Tod.
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6 Der Igel und der Fuchs in der Grube Der Igel und der Fuchs fielen in eine Wolfsgrube. Schon nach ein paar Tagen begann sie der leere Magen zu plagen. Am dritten Tag sagte der Fuchs: „Es hilft nichts, alter Freund, die Not treibt den Ochsen in den Brunnen und der Hunger mich jetzt auf dich los; ich werde dich fressen!“ Der Igel aber dachte bei sich: Wo die Kraft nicht ausreicht, muß guter Rat helfen. Er entgegnete dem Fuchs: „Es ist besser, zu zweit Hunger zu leiden, als allein gefangen zu sitzen. Außerdem rettet mein Tod dein Leben nicht. Ich weiß einen ganz anderen Rat. Wir können uns noch beide vom Tod erretten! Doch mit einem so Hungrigen, wie du es bist, lohnt es sich wohl nicht erst zu reden!“ „Guter Rat ist immer etwas wert“, entgegnete der Fuchs, „insbesondere, wenn der Tod vor dem Maul lauert. Sprich nur, sprich! Ich schwöre dir ewige Treue und Freundschaft. Auch in jeder Not will ich dir ein Helfer sein, und mein Geschlecht soll lobend von dir reden. Sprich!“ „Den Mann beim Wort, den Ochsen bei den Hörnern“, antwortete der Igel, „im Glauben an deinen Schwur will ich dir meinen Rat mitteilen. Schau mal, wenn der Jäger kommt, stellen wir 37
uns beide tot, denn kein Mensch wird doch so dumm sein, Tote noch zu töten. Sind wir erst aus der Grube, dann…“ „Verstehe schon“, entgegnete der Fuchs, „dann laufen wir in den Wald!“ Bald darauf kam der Jäger zur Grube. Er schaute hinein und sagte: „Ein Fuchs – tot!“ Er kletterte auf einem ästereichen Baumstamm in die Grube. „Hart wie ein Knochen“, sprach er weiter, „auch das arme Igelchen krepiert, aus dir wird nichts“ und warf beide an den Beinen aus der Grube hinaus. Während der Jäger selbst herauskletterte, waren beide Tiere ihre eigenen Wege gegangen. Der Jäger spie aus und ging nach Hause. Nachher geriet der Igel mehrmals durch Hirtenhunde und mutwillige Hirten in Bedrängnis, doch der Fuchs dachte überhaupt nicht mehr an seine Versprechungen und Schwüre. Als dann noch der Fuchs ihm heimlich die Kinder aus dem Nest stahl, sann der Igel auf Rache. Eines Tages fand er eine Fuchsfalle. Warte nur, dachte er, jetzt ist die Zeit heran! Wie rein zufällig begegnete er dem Fuchs. Nach der Begrüßung sprachen sie vom Wetter und von den schlechten Zeiten; schließlich kam die Rede auf die Tätigkeit und die Wanderungen eines jeden. „Meine Beine reichen wohl nicht weit, doch gestern abend fand ich eine feine Flöte“, reizte der Igel, „wenn man einen Ton bläst, klingen gleich
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alle Töne! Ich spielte auf ihr in der vergangenen Nacht!“ Hier wollte er das Gespräch wieder in andere Bahnen lenken, doch der Fuchs verlangte, er solle ihm diese Flöte auch zeigen. Nach langem Bitten brachte der Igel den Fuchs zu der erwähnten Flöte. „Schau“, sagte er, „wenn du auf diesen Ton drückst, klingen alle Töne.“ „Warte! Ich spiele jetzt!“ drängte der Fuchs. Doch kaum hatte er mit seiner Pfote den Trift der Falle berührt, – bauz – schnappte die Falle zu, und der Fuchs saß mit der Pfote fest. Ob es dem Fuchs noch gelungen ist, sich zu retten, davon berichtet die alte Geschichte nichts. Doch so viel ist bekannt, daß es zwischen dem Fuchs und dem Igel keine große Freundschaft mehr gibt. Auch ein Sprichwort bewahrheitet sich hierbei: Gute Tat wird in den Sand geschrieben, böse Tat in den Lehm.
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7 Der Fuchs als Gänsehirt Es lebte einmal ein altes Mütterchen, und es hatte vier Gänschen. Es hatte aber keinen Hirten und ging deshalb einen suchen. Es ging und ging, bis es mit einem Häschen zusammentraf. Der Hase sagte: „Guten Tag, Großmütterchen!“ „Guten Tag, Söhnchen!“ „Wohin gehst du?“ „Ich gehe einen Hirten suchen.“ „Nimm doch mich!“ „Wie singst du denn?“ „Huhuu, Huhuu!“ „Aber, Häschen, du scheuchst mir ja alle Gänschen weg!“ Die Alte ging weiter auf der Suche nach einem Hirten. Ging und ging, bis ihr ein Wolf entgegenkam. Der Wolf sagte ebenfalls: „Guten Tag, Großmütterchen!“ „Guten Tag, Söhnchen!“ „Wohin gehst du?“ „Ich gehe, einen Hirten suchen.“ „Nimm mich!“ „Wie singst du denn?“ „Auu – Auu – Auu!“ „Aber, aber, Söhnchen, aus dir wird kein Hirte – du scheuchst mir ja meine Herde davon!“ 40
Die Alte ging wieder weiter, bis sie ein Bärchen traf. Der Bär sagte auch: „Guten Tag, Altchen!“ „Guten Tag, Söhnchen!“ „Wohin gehst du, wohin eilst du, Altchen?“ „Ich gehe einen Hirten suchen.“ „Nimm doch mich zum Hirten!“ „Kannst du denn auch singen?“ „Kann ich!“ sagte der Bär. „Na singe denn!“ „Uuh, Huhuu!“ machte der Bär. „Nein, liebes Söhnchen, aus dir wird nichts. Du scheuchst mir ja die ganze Herde in den Wald.“ Die Alte ging wieder weiter. Ging und ging, bis ihr das Füchslein entgegenkam. „Guten Tag, Großmütterchen!“ „Guten Tag, Söhnchen!“ „Wohin gehst du, wohin eilst du?“ „Ich brauche einen Hirten und geh’ ihn suchen.“ „Nimm doch mich zum Hirten! Ich verstehe es, ich habe schon Gänse gehütet.“ „Aber wie singst du denn?“ „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“ sang der Fuchs. Dem Altchen gefiel der Gesang des Fuchses sehr. Es begann mit ihm das Geschäft zu machen. 41
Die Alte versprach für ein Jahr Dienst ein Gänschen und ein Hühnchen. Der Fuchs war damit zufrieden, und er begann die Herde zu schützen und dabei zu singen: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“ Der Alten gefiel der Gesang des Fuchses sehr, und sie ging immer wieder hinaus, um zu schauen und seinem Gesang zuzuhören. Der Fuchs lief hin und her, den Berg hinauf und den Berg hinunter, sang sein Lied und fraß ein Gänschen auf. Es kam der Abend, und das Füchslein trieb seine Herde nach Hause. Die Alte fragte: „Füchslein, Söhnchen, wo ist das vierte Gänschen?“ „Oh, Altchen, dieses Gänschen blieb zurück, um zu baden und grünes Gras zu fressen.“ „Gut, Söhnchen, gut“, sagte die Alte. Am nächsten Tag ging das Füchslein wieder mit drei Gänschen und sang: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“
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Der Alten gefiel sein Liedchen, und sie ging immer wieder hinaus, um ihrem Hirten zuzuhören, und war sehr zufrieden. Der Fuchs lief den Berg hinauf und den Berg hinunter und sang sein Lied. Am zweiten Tag fraß er schon das zweite Gänschen auf. Es kam der Abend, und das Füchschen ging singend mit seinen zwei Gänschen nach Hause. Die Alte lief wieder entgegen: „Liebes Söhnchen, wo hast du denn das dritte Gänschen gelassen?“ „Oh, Großmütterchen, es blieb zurück, um zu baden und grünes Gras zu fressen.“ Und er begann wieder zu singen. Das Großmütterchen war zufrieden und sagte: „Gut, Söhnchen, gut!“ Nun sagte der Fuchs zur Großmutter: „Großmütterchen, ich wurde zur Taufe gerufen, kann ich gehen?“ „Geh nur, geh! Ich verbiete es dir doch nicht. Nimm mich auch mit!“ „Ich geh’ lieber allein!“ Der Fuchs ging auch hinaus und kletterte auf das Bauernhaus. Dort hatte die Alte eine Bütte mit Butter. Der Fuchs aß davon die Hälfte auf, kam nach einiger Zeit wieder herunter und ging ins Zimmer. „Na, welchen Namen erhielt der Täufling?“ „Beginn.“ „Nein, was für ein drolliger Name! Ich habe einen solchen noch nie gehört.“
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Am dritten Tag ging der Fuchs wieder seine zwei Gänschen hüten. Der Fuchs sprang umher und sang: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“ Das Großmütterchen freute sich wieder über seinen Hirten und brachte ihm die besten Stückchen zum Essen. Der Fuchs dankte und sang noch besser: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“ Die Alte ging weg, und der Fuchs fing die dritte Gans und fraß sie auf. Es kam der Abend, und der Fuchs trieb wieder sein Herdlein nach Hause und sang: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“
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Die Alte hörte ihn sofort, lief hinaus, der Herde entgegen. Sie sah, daß nur noch ein Gänschen übrig war, und sagte zum Fuchs: „Liebes Hirtlein, wo hast du die anderen Gänschen gelassen?“ „Sorge dich nicht, Großmütterchen, die anderen blieben im Wald. Blieben zurück, um im Wasser zu baden und grünes Gras zu fressen.“ Die Großmutter glaubte wieder ihrem Hirten und rief ihn ins Zimmer zum Essen. Doch der Fuchs sagte: „Liebes Großmütterchen, ich komme nicht essen. Ich wurde heute wieder zur Taufe gerufen. Ich gehe dahin.“ „Geh, geh, Söhnchen, nimm mich auch mit!“ „Ich gehe lieber allein!“ Der Fuchs ging hinaus, kletterte auf das Bauernhaus und begann Butter zu essen. Aß, aß, bis alles zu Ende war. Na gut, der Fuchs kletterte hinunter und ging ins Haus. Die Alte fragte: „Na, Söhnchen, welchen Namen erhielt der Täufling?“ „Ende.“ „Hoho, was für ein sonderbarer und dummer Name, einen solchen habe ich noch bei keinem gehört.“ Es kam der vierte Tag, und der Fuchs ging wieder mit seiner kleinen Herde in den Wald – nur eine einzige Gans war übriggeblieben. Der Fuchs sang: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, 45
Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“ Die Alte lief wieder auf den Berg, um das schöne Lied zu hören und dem Hirten das Essen zu bringen. Jetzt fraß der Fuchs schon die letzte Gans auf. Es kam der Abend, und der Fuchs ging allein nach Hause – er hatte keine einzige Gans mehr – und sang: „Kireli, kareli, Schütze die Herde auf dem Berg, Kireli, kareli, Schütze die Herde unter dem Berg. Kireli, kareli!“ Die Alte hörte das Lied und lief wieder hinaus, der Herde entgegen. Nun sah das Altchen kein einziges Gänschen mehr und fragte: „Hirtlein, Söhnchen, wo hast du die Gänschen gelassen?“ „Oh, Großmütterchen, sorge dich nicht, ich werde morgen alle nach Hause bringen. Sie blieben im Walde, um zu baden und grünes Gras zu fressen.“ Das Altchen war zufrieden und ging ins Zimmer. Der Fuchs ging ins Bett und begann laut zu stöhnen und sich von der einen Seite auf die andere zu wälzen. Die Alte erschrak sehr, ging zu ihm hin und fragte: „Was fehlt dir, Söhnchen, was tut dir weh?“
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„Oh, der Bauch tut mir sehr weh. Ich werde wahrscheinlich sterben.“ „Ängstige dich nicht, Söhnchen, ich werde dich heilen.“ Und sie begann zu besprechen: „Schmerz auf die Elster, Schwarzem Vogel auf die Löcher, Der Katze auf die Zunge, Dem Hunde auf den Hintern, Der Krähe auf den Schnabel!“ „Das hilft nichts, Großmütterchen. Heize lieber die Sauna an und quäste mich tüchtig.“ Das Großmütterchen tat es, heizte dem Fuchs die Sauna und begann ihn zu quästen. Die Alte quästete und quästete, bis dem Fuchs ganz heiß wurde. Dann ging der Fuchs hinaus, um sich abzukühlen. Er ging vor das Fenster der Sauna und sagte: „Leck mich am Hintern, Altchen, ich habe deine Gänschen aufgefressen und auch deine Butter auf dem Bauernhaus.“ Und er lief in den Wald. Die Alte lief schnell aus der Sauna hinaus und begann den Fuchs zu beschimpfen und zu weinen. Es war aber nichts zu machen – das Altchen blieb ohne Gänse und auch ohne Butter. Und heizte dem Fuchs auch noch die Sauna! Der Fuchs lief in den Wald, schlüpfte ins Gebüsch und lachte.
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8 Der Wolf und der Fuchs im Speicher Einst war der Wolf sehr hungrig. Er traf mit dem Fuchs zusammen und sagte zu ihm: „Gevatter, ich bin sehr hungrig, ich werde dich fressen.“ „Gevatter, friß mich nicht!“ fing der Fuchs zu bitten an. „Siehst du nicht selbst, daß an mir außer Haut und Knochen nichts dran ist? Laß mich am Leben, ich bringe dich dorthin, wo du eine bessere Mahlzeit kriegst als mich.“ Der Wolf war damit zufrieden und ließ den Fuchs am Leben. Der Fuchs brachte den Wolf in einen Speicher, wo ein Bottich voll gesalzenem Schweinefleisch stand; und beide begannen zu fressen. Der Fuchs lief von Zeit zu Zeit durch das Loch hinaus, durch das sie in den Speicher gelangt waren. Der Wolf fragte: „Warum läufst du immer wieder hinaus?“ Der Fuchs sagte: „Ich gehe, um nachzuschauen, ob keiner kommt, damit wir weglaufen können, wenn jemand kommen sollte.“ Der Wolf aber fraß nur so das Fleisch. Er fraß sich so voll, daß er nicht mehr durch das Loch hinauskonnte. Am Morgen kamen Menschen zum Speicher und erschlugen den Wolf. Der Fuchs aber war schlau: Er lief deswegen hinaus, weil er wissen wollte, wieviel er noch fressen konnte. Und 48
als der Wanst richtig voll war, lief er fort in den Wald. So rettete sich der Fuchs vor dem Wolf.
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9 Das Haus aus Eis und das Haus aus Stein Die Ziege machte sich ein Haus aus Stein, der Wolf aber ein Haus aus Eis. Es kam der Frühling, und das Haus des Wolfes schmolz dahin; das Haus der Ziege aber blieb stehen. Es kam wieder der Herbst, und die Ziege heizte in ihrem Haus den Ofen an. Der Wolf kam an die Schwelle des Ziegenhauses und begann zu bitten: „Zieglein, laß mich doch die Nasenspitze wärmen!“ Die Ziege sagte aber: „Das kann ich nicht erlauben, du springst herein.“ „Ich springe nicht hinein, Zieglein!“ Das Zieglein erlaubte dann dem Wolf, sein Nasenspitzchen zu wärmen. Der Wolf sagte wieder: „Zieglein, laß mich doch auch die Vorderpfoten wärmen!“ „Das kann ich nicht – du springst herein.“ „Ich springe nicht, Zieglein.“ Das Zieglein erlaubte sodann dem Wolf, auch seine Vorderpfoten mit hineinzunehmen. Der Wolf aber bat wieder: „Zieglein, erlaube es mir, auch die Hinterpfoten hineinzunehmen. Sie frieren sehr!“ „Ich kann es nicht erlauben – du springst herein!“ 50
„Ich springe nicht hinein, Zieglein!“ Da ließ denn das Zieglein ihn auch die Hinterpfoten hineinnehmen. Der Wolf begann wieder zu bitten: „Mein Schwanzspitzchen friert sehr, laß es doch auch herein!“ „Ich kann es nicht – du springst mir in die Stube herein.“ „Ich springe nicht hinein, warum soll ich denn hineinspringen!“ Die Ziege überlegte eine Weile und erlaubte es dann. Hopp – war der Wolf in der Stube! Das Zieglein lief hinaus und flüchtete. Es floh über die Wiese zu der Großmutter und sagte, der Wolf sei in die Stube gesprungen. „Geh ins Moor“, riet ihr die Großmutter, „schneide dort ein Geißblattstöckchen und binde einen Beerenzweig des Schneeballstrauchs daran. Geh nach Hause, öffne die Stubentür und geh dreimal um das Haus herum und rufe: ‚Wenn ich die anderen Wölfe gerissen habe, so reiße ich auch diesen Wolf!’“ Das Zieglein ging ins Moor, schnitt sich vom Geißblatt einen Stock, band einen Beerenzweig des Schneeballstrauchs daran, öffnete die Stubentür, ging dreimal um das Haus und brüllte laut: „Kii kipst, kaa kapst. Wenn ich die anderen Wölfe gerissen habe, so reiße ich auch diesen Wolf!“ Als der Wolf das hörte, flüchtete er aus der Stube, daß es nur so stiebte. Die Ziege kehrte zurück in ihre Stube und lebte nun in Zufriedenheit,
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und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie auch noch heute.
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10 Der Wolf und das Pferd Einst weidete ein Pferd auf einer Weide. Plötzlich schlich aus dem Wald der Isegrim heraus. Als er das Pferd erblickte, verspürte er sofort das Verlangen, es zu verschlingen. Das Pferd aber begann den Wolf zu bitten: „Lieber Nachbar, laß mich diesmal noch am Leben, du siehst ja selbst, wie mager ich bin! Gib mir noch ein paar Tage Zeit, damit ich mich mäste.“ Der Wolf war mit diesem Handel einverstanden und rührte das Pferd diesmal nicht an. Am nächsten Tag kam der Wolf wieder, ging zum Pferd und fragte: „Bist du jetzt fett?“ Das Pferd begann wieder zu bitten: „Lieber Isegrim, lieber Nachbar, ich bin überhaupt noch nicht fett. Laß mir noch ein paar Tage zum Mästen!“ Und das Weidenkalb gab auch diesmal nach, fügte jedoch hinzu: „Ich warte also bis morgen. Aber dann werde ich dich nicht mehr verschonen, denn sonst müßte ich vor Hunger sterben!“ Am Abend ging das Pferd nach Hause und erzählte seinem Herrn, wie es ihm mit dem Wolf ergangen war. Der Herr schlug dem Pferd gleich ganz neue scharfe Eisen unter und band den Schwanz zu einem Knoten. So ging dann das Pferd auf die Wiese und erwartete dort den Wolf. 53
Der Wolf ließ auch nicht lange auf sich warten, sondern war zeitig zur Stelle. Er ging zum Pferd und fragte: „Bist du jetzt fett?“ „Ja, das bin ich!“ antwortete das Pferd. „Von welchem Ende soll ich denn anfangen, dich zu fressen?“ fragte der Wolf. „Vom Schwanz!“ erwiderte das Pferd. Der Wolf schlug gleich die Zähne in den Schwanz, das Pferd jedoch rannte sofort los. Da der Schwanz zu einem Knoten gebunden war, bekam der Wolf die Zähne nicht mehr heraus und blieb am Schwanz hängen. Das Pferd aber schlug immer wieder hinten aus und zerschlug dem Isegrim den Kopf derart, daß er schließlich tot war. Als das Pferd an das Haustor kam, hockte neben dem Tor die Espenhaindame, die Häsin. Als sie den toten Wolf am Schwanz hängen sah, rief sie: „Nun habe ich wieder einen Feind weniger. Der Isegrim kann mich nicht mehr plagen!“ In ihrer Freude lachte die Häsin so lange, bis ihre Lippe platzte, dann lief sie in den Wald. Der Herr aber nahm den toten Wolf vom Schwanze des Pferdes, zog dem Wolf das Fell ab und machte sich daraus einen warmen Pelz.
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11 Der Preis des Fohlens ist unter dem Huf In alten Zeiten, als noch alle Tiere sprechen konnten, weidete einst eine weiße Stute auf einer ebenen Weide. Der Wolf kam zu ihr, begrüßte sie, begann mit ihr eine Unterhaltung und fragte schließlich, ob die Stute ihr Fohlen verkaufe. Die Stute versprach zu verkaufen, falls sie handelseinig würden. Da fragte der Wolf, wieviel denn die Stute für ihr Fohlen haben wollte. Die Stute antwortete: „Als mir der Schmied die Eisen anbrachte, schrieb er unter das Hufeisen des rechten Beines den Preis des Fohlens. Aber ich weiß nicht, ob du, ein Tier des Waldes, die Schrift zu lesen verstehst?“ Der Wolf entgegnete: „Ich verstehe jede geschriebene und gedruckte Schrift zu lesen. Zeig mal her!“ Die Stute hob das Bein, der Wolf begann unter dem Hufeisen die Schrift zu suchen, um den Preis des Fohlens zu erfahren, und blickte scharf unter das Eisen. Plötzlich aber – bauz – schlug die Stute mit dem Bein dem Wolf gegen den Kopf, so daß ihm Funken aus den Augen sprühten. Mit großen Schmerzen rannte der Wolf in den Wald und kam
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nicht wieder, um nach dem Preis des Fohlens zu fragen.
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12 Wie die Krähe graue Federn bekam In alten Zeiten, als noch alle Vögel und Tiere reden konnten, baute sich eine Singdrossel ihr Nest auf einer Espe, die nicht weit von einem Fuchsbau stand. Der Fuchs kam zum Baum und forderte von der Singdrossel ein Junges. Er sagte: „Diese Espe ist mein Baum, ich werde sie jetzt absägen; doch wenn du mir ein Junges gibst, lasse ich die Espe noch wachsen.“ Eine Krähe, die damals noch ganz schwarz war, beobachtete von der Spitze einer Fichte diesen spitzbübischen Betrug und sagte schließlich: „Singdrossel, glaube ihm nicht! Womit sollte er denn den Baum fällen, er hat ja kein Beil!“ Der Fuchs schlug dann mit dem Schwanz gegen den Baum und sagte: „Ist das denn kein Beil?“ Dann schlich er beschämt weg, drohte aber der Krähe: „Warte nur ab! Warte nur ab! Wirst schon morgen in meine Hände fallen!“ Am anderen Tag ging der Fuchs auf ein Brachland hinter dem Friedhof, legte sich am Wegesrand ausgestreckt hin, den Hals zurückgebogen, den Schwanz eingezogen, wie tot. Die Krähe kam dort vorbei, als der Fuchs ausgestreckt am Boden lag, und glaubte, es sei das Aas eines verendeten Fuchses. Sie ging näher und schaute ihn zuerst
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etwas an. Dann schlug sie ihm mit ihrem Schnabel ein paarmal in den Hintern. Als sie nun merkte, daß der Fuchs das aushielt und nicht aufstand, wurde die Krähe mutiger und glaubte, es sei tatsächlich ein toter Fuchs. Jetzt ging sie zu seiner Schnauze und wollte ihm vor allem die Augen aus dem Kopf picken. Sie begann gerade auf die Augen loszuhacken, als der Fuchs sie packte und sofort anfing, ihr die Federn vom Rücken zu rupfen. Der Körper der Krähe war schon ganz nackt gerupft, der Schwanz war noch da, der Kopf und die Flügel waren auch noch heil, als der Fuchs die Krähe fressen wollte, ohne auf ihr Flehen um Erbarmen zu achten. Schließlich bat die Krähe ganz herzerweichend: „Lieber Gevatter Reineke! Friß mich doch nicht, bevor du ein Tischgebet gesprochen hast.“ Der Fuchs wollte der Krähe diesen Gefallen noch tun und begann ein Tischgebet zu sprechen. Als er „Amen“ sagen mußte, gingen ihm plötzlich die Zähne zu weit auseinander, und die Krähe entwischte. Da ihre Flügel noch heil waren, flog sie sofort davon. Allmählich wuchsen der Krähe neue Federn nach, doch nicht mehr schwarze, sondern graue. Von der Zeit an hat das ganze Krähengeschlecht graues Gefieder. Nur der Kopf, die Flügel und der Schwanz, die der Fuchs nicht gerupft hatte, sind immer noch schwarz. Die Beine und der Schnabel, die schon früher ungefiedert waren, sind auch jetzt nackt. 58
13 Das Kätzchen und das Hähnchen Es war einmal ein Kätzchen, das hatte zwei Hühnchen und ein Hähnchen. Es brachte die Hühnchen und das Hähnchen auf eine Hühnerstange auf den Dreschboden und ging selbst Nahrung suchen. Es sagte: „Kommt nicht von der Stange herunter – der Fuchs schleppt euch fort!“ „Wir kommen nicht herunter!“ Der Fuchs kommt zur Tenne mit seinem großen Schwanz und sagt: „Schöner Hahn, lieber Hahn, komm herunter, um zu tollen, um zu scharren und zu karren!“ „Schleppst du mich fort?“ „Nein, das tue ich nicht. Wir werden hier scharren und karren, und dann gehe ich meiner Wege, und ihr geht zurück auf eure Hühnerstange.“ Der Hahn sprang herunter, sie begannen zu tollen, der Fuchs packte den Hahn und wollte ihn wegschleppen. Das Hähnchen begann zu schreien: „Kätzchen, Freundchen, Vierbeiniges Mädchen, Man schleppt mich über den Melste-Berg, Man bringt mich im Leichenwagen weg!“
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Das Kätzchen hörte den Hahn, lief zurück, haute dem Fuchs eins über die Ohren, nahm ihm sein Hähnchen weg, brachte es zurück nach Hause und stellte es auf die Hühnerstange. Es kam der nächste Tag. Das Kätzchen sagte wieder zum Hahn: „Ich gehe heute noch weiter fort, um Nahrung zu suchen. Spring nicht herunter, ich werde dich nicht mehr hören.“ „Nein, ich spring’ nicht.“ Das Kätzchen ging weg, und es kam wieder der Fuchs mit seinem langen Schwanz zur Tenne und begann wieder den Hahn zu locken. „Schöner Hahn, lieber Hahn, komm herunter zum Tollen, zum Scharren!“ „Ich komme nicht – du schleppst mich fort.“ „Das tue ich nicht! Der andere war ein großer Fuchs vom Moor, ich bin ein lieber Fuchs vom trockenen Grünland, ich bringe dich nicht fort.“ Der Hahn kam herunter, sie begannen zu tollen, und der Fuchs griff wieder nach dem Hahn und begann zu laufen. Der Hahn fing wieder an zu schreien: „Kätzchen, Freundchen, Vierbeiniges Mädchen, Man schleppt mich über den Melste-Berg, Man bringt mich im Leichenwagen weg!“ Das Kätzchen hörte den Hahn, jagte zurück, holte beide ein, schlug dem Fuchs eins hinter die Ohren, nahm ihm den Hahn weg, brachte ihn nach Hause und setzte ihn auf die Hühnerstange. 60
Es kam der dritte Tag. Das Kätzchen ging noch weiter fort, um Nahrung zu suchen, und sagte wieder zum Hahn: „Spring nicht von der Hühnerstange herunter – der Fuchs schleppt dich fort!“ „Ich springe nicht!“ Das Kätzchen ging weg, der Fuchs kam zur Tenne und begann wieder den Hahn zu locken. „Hähnchen, komm herunter, um zu scharren und zu karren!“ „Ich komme nicht – du schleppst mich fort!“ „Ich tue es nicht, der andere war ein großer Fuchs vom Moor, ich aber bin ein lieber Fuchs vom trockenen Grünland.“ Der Hahn kam wieder herunter, der Fuchs packte ihn und machte sich davon. Das Hähnchen begann zu schreien: „Kätzchen, Freundchen, Vierbeiniges Mädchen, Man schleppt mich über den Melste-Berg, Man bringt mich im Leichenwagen weg!“ Das Kätzchen hörte den Hahn nicht, und der Fuchs brachte das Hähnchen weg. Die Katze kommt nach Hause, schaut sich um – kein Hahn mehr auf der Hühnerstange. Die Katze begriff sofort, daß der Fuchs den Hahn weggeschleppt hatte. Die Katze legte einen Sack voll Asche auf einen Schlitten, nahm einen Holzschlegel mit und ging, um den Füchsen „Salz“ zu bringen.
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Sie kam zur Höhle der Füchse und begann zu rufen: „Füchse, kommt, holt euch Salz!“ „Fein. Bei uns kocht schon das Essen, wir müssen die Speise salzen.“ Ein Fuchs kommt aus der Höhle. Die Katze schlägt ihm mit dem Schlegel über den Kopf und wirft ihn den Berg hinunter. Dann beginnt sie wieder zu rufen: „Füchse, kommt, holt euch Salz!“ „Einer ging schon!“ „Gott weiß, wohin er ging!“ Es kommt ein zweiter Fuchs aus dem Loch, und die Katze schlägt ihm wieder mit dem Holzschlegel über den Kopf und wirft ihn den Berg hinunter. Dann ruft die Katze wieder: „Füchse, kommt euch Salz holen!“ „Es ging schon einer!“ „Gott weiß, wohin er ging!“ Es kommt ein dritter Fuchs aus dem Loch heraus, die Katze schlägt auch ihm mit dem Holzschlegel über den Kopf und wirft ihn den Berg hinunter. Dann ruft sie wieder: „Kommt, Füchse, holt euch Salz!“ Es kam aber keiner mehr heraus. Das Kätzchen ging in die Höhle, hörte, wie das Hähnchen in einer Schublade krähte. Es nahm den Hahn aus der Schublade heraus, nahm noch einiges von den Sachen der Füchse und ging mit seinem Hähnchen nach Hause.
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14 Der Wettkampf zwischen dem Hasen und der Kälte In alten Zeiten stritten sich die Kälte und der Hase, denn die Kälte wollte den Hasen erfrieren lassen. Die Kälte drückte einmal, der Hase legte sich neben einen Busch in den Schnee schlafen. Die Kälte drückte zum zweiten Male stärker und fragte: „Ist es kalt?“ Der Hase stand auf und zeigte seine in den Schnee geschmolzene Liegestatt. Da nahm die Kälte ihre ganze Kraft zusammen und kühlte sehr stark, dann fragte sie: „Ist es kalt?“ Dem Hasen saß schon der Tod auf der Schnauze, denn all seine Glieder waren steif; er nahm seine letzte Kraft zusammen, konnte sich noch vom Boden erheben und über einen alten verfaulten Baumstumpf springen. Dabei rief er: „Oh, wie warm!“ Die Kälte wurde böse, als sie dies hörte, und sagte, daß ihre Kraft nichts helfe. „Du hast mich besiegt.“ Da wurde es dem Hasen ganz froh zumute, weil durch seine Schlauheit das Geschlecht der Hasen am Leben geblieben war. Er fing an zu lachen und lachte so lange, bis ihm die Lippen platzten und bis zum heutigen Tage so geblieben sind. Es hat 63
auch bisher keiner gesehen, daß ein Hase jemals erfroren wäre.
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15 Die Augen der Häschen Eine Häsin hatte mehrere Junge. Im Walde, wo sie mit ihren Jungen wohnte, gab es wenig Nahrung; deshalb bereitete ihr das Füttern große Sorgen. Einmal sagte sie zu ihren Jungen: „Zeigt mir eure Augen!“ Die kleinen Häschen schauten ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an. „Ahaaa, eure Augen sind ebenso groß wie die meinen! Ihr könnt selbst für euch sorgen und braucht mich nicht mehr“, sagte die alte Häsin, hoppelte in den Wald und ließ die Jungen allein. Seit der Zeit haben die Hasen Glotzaugen und sorgen nicht für ihre Jungen.
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16 Der alte Hund und der Wolf Es lebten einmal ein Bauer und eine Bäuerin. Sie hatten einen alten Hund, der Soobol hieß. Soobol war schon alt und konnte nicht einmal mehr bellen. Die Bäuerin wollte den Hund nicht unnütz ernähren und trachtete ihn loszuwerden. Eines Tages befahl die Bäuerin, Soobol zu töten. Der Bauer hatte Mitleid mit seinem Hund und wollte ihn nicht umbringen. Doch die Frau ließ ihm keine Ruhe, er mußte den Hund abschaffen. Der Bauer hatte keine andere Wahl und legte Soobol einen Strick um den Hals, brachte ihn in den Wald, band ihn dort an einen Baum und ging selbst nach Hause. Soobol saß und saß unter dem Baum und überlegte, wie er loskommen könnte. Bald fand ein Wolf seine Fährte, kam zu ihm und sagte: „Guten Tag, Vetter, was suchst du hier? Ich werde dich fressen.“ „Nichts suche ich hier. Man hat mich hierher gebracht, mich an den Baum gebunden, und ich kann gar nichts tun.“ Der Wolf wollte schon anfangen, Soobol zu fressen, aber der bat ihn inständig, es noch nicht zu tun, und sagte: „Was willst du mich so ganz ohne Verstand fressen, ich bin doch sehr mager.
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Mach mich erst mal richtig kräftig und friß mich dann auf!“ Der Wolf hörte auf den Hund und fragte: „Was soll ich dir bringen, damit du kräftig wirst?“ Der Hund sagte: „Bringe mir ein halbes Pferd und komm dann in einer Woche nach mir schauen.“ Der Wolf gehorchte und ging auf die Suche nach einem Pferd. In der Nacht kamen Nachthüter in den Wald, um Pferde zu weiden. Der Wolf schlich vorsichtig an ein Pferd heran und tötete es. Erst schlug er seinen eigenen Bauch schön voll, dann brachte er den Rest dem Hund unter dem Baum und ging selbst davon. In der folgenden Woche kam der Wolf wieder und fragte: „Bist du schon kräftig geworden?“ „Ach, Vetter, ich habe wohl zugenommen, doch wenn du mir noch ein Kalb bringen würdest und eine Woche später zurückkämest, dann sähe die Sache schon anders aus, und mein Fleisch würde viel schmackhafter sein als jetzt.“ Der Wolf hörte auch darauf und ging ein Kalb suchen. Mit großer Mühe gelang es ihm, irgendwo ein Kalb aufzutreiben. Er brachte es Soobol und befahl ihm, bis zur nächsten Woche kräftig zu werden. Soobol sagte: „Ich werde es schon“, und der Wolf ging seiner Wege. Der Hund Soobol aber machte sich an das Kalb, fraß es auf und ruhte sich dann aus. Die Woche verging, und der Wolf kam wieder zu seinem Vetter und fragte: „Bist du jetzt schon kräftig geworden?“ 67
Soobol sagte: „Kräftig bin ich schon geworden, doch ich habe den Geruch eines alten Hundes an mir. Wenn du mir noch einen Hammel bringen würdest, dann würde das Fleisch viel besser werden.“ Der Wolf hörte wieder auf Soobol und ging einen Hammel suchen. Er suchte und suchte, schließlich fand er in einer Herde einen guten Hammel, brachte ihn Soobol und versprach ihm, in einer Woche wiederzukommen. Der Hund fraß den Hammel ganz und gar auf und wurde kräftig wie ein Ochse. Nach einer Woche kam der Wolf und fragte: „Was ist, ich komme, um dich zu fressen!“ Soobol sagte: „Du kannst mich wohl fressen, aber einen Nutzen hättest du nicht davon. Besser, du bindest mich vom Baum los, und wir gehen dann ins Dorf, dort werde ich für dich schon sorgen.“ Soobol versprach ihm, süßes Essen zu bringen, und legte dem Wolf seinen Plan dar: „Ich gehe aufs Feld, wo die Bäuerin Roggen schneidet. Sie wird ihr Kind in der Wiege bei sich haben. Schnapp dir das Kind aus der Wiege und laufe zum Wald, ich aber laufe hinter dir her, und dann läßt du mich das Kind wieder wegnehmen. Darüber wird sich die Bäuerin sehr freuen, sie wird mich pflegen und mir gutes Essen geben; ich werde selbst fressen und auch dir noch reichlich übriglassen.“ Der Wolf war damit einverstanden, und sie gingen aufs Feld. Der Wolf schlich sich durch den 68
Roggen leise ans Kind heran, packte es mit dem Maul und lief zum Wald. Vor Schreck fing das Kind an zu schreien. Auch die Mutter erschrak über den Wolf und schrie aus Leibeskräften: „Dörfler, Beerensammler, kommt zu Hilfe, der Wolf bringt mein Kind fort!“ Jetzt sprang auch Soobol aus dem Roggen hervor und lief dem Wolf hinterher. Und schon nach kurzer Zeit trabte er mit dem Kind zu seiner Bäuerin zurück. Die Bäuerin freute sich sehr, doch gleichzeitig schämte sie sich vor ihrem alten Hund, weil sie befohlen hatte, Soobol zu töten, und ihm kein Fressen geben wollte. Jetzt aber rettete Soobol ihr Kind. Soobol kam zur Bäuerin und legte das Kind auf eine Garbe nieder. Nun suchte die Bäuerin den ganzen Kinderbrei und auch die besten Stücke von ihrem Essen zusammen und gab alles Soobol. Der fraß einen Teil auf, ließ aber den anderen für seinen Vetter oder Gevatter zurück. Der Wolf fraß das Essen mit ebenso gutem Appetit auf, und die Speisen schmeckten ihm sehr. Die Bäuerin rief Soobol nach Hause, versprach ihm rote Schuhe zu nähen und ihn bis ans Lebensende zu füttern. Soobol verstand alles, was die Bäuerin wollte oder sagte, und ging mit ihr nach Hause. Bevor er sich jedoch auf den Nachhauseweg machte, ging er zum Wolf und sagte: „Bei uns zu Hause wird bald Taufe sein, es werden viele Men-
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schen zusammenkommen, dann rufe ich dich auch zu uns.“ Der Wolf bedankte sich für die Einladung und versprach zu kommen. Am Sonntag war dann die Taufe. Soobol lief in den Wald, suchte den Wolf auf und lud ihn ein, zur Taufe zu kommen. Der Wolf kam mit. Beide begannen umherzuschleichen und sich umzuschauen, wie sie ins Dorf kommen könnten. Gegen Abend wurde es dunkel, und die Verwandten waren noch draußen und warteten auf andere Gäste. Um diese Zeit schlichen sich Soobol und der Wolf leise durch den Viehhof in die Stube hinein und legten sich gleich unter den Ofen. Jetzt belehrte Soobol den Wolf: „Fang bloß nicht an zu singen und komm hier nicht hervor, sonst wird man dich töten.“ Der Wolf versprach es, und Soobol ging, um für seinen Gast etwas Eßbares zu besorgen. Auf der Bank lagen Pasteten, Fleisch und andere Speisen, davon brachte er dem Wolf unter dem Ofen. Im Schrank auf dem Regal stand Wein, roter und weißer. Auch davon brachte Soobol seinem Gast und legte sich selbst unter den Ofen. Der Wolf war guter Laune, aß und trank. Erst nahm er einen Schluck, dann einen zweiten und dann einen dritten. Der Wein war stark und stieg zu Kopf. Der Wolf wurde zusehends lustiger, er begann immer lauter zu sprechen und ein Lied zu grölen. Soobol sagte: „Sing nicht, sonst werden sie uns hier finden und dir den Garaus machen.“
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Der Wolf beruhigte sich daraufhin und machte sich wieder daran, zu essen und roten Wein zu trinken. Er nahm einen Schluck, nahm einen zweiten und auch einen dritten. Nun wurde er noch lustiger und sangesfreudiger, und bald stand ihm das Maul nicht mehr still. Soobol versuchte, den Wolf zurückzuhalten, und bat ihn, still zu sein, doch der Wolf hörte nicht mehr auf den Hund. Er drehte sich von der einen Seite auf die andere, und der Raum unter dem Ofen wurde ihm bald zu eng. Der Wolf stellte sich auf die Beine, kam unter dem Ofen hervor und begann in der Stube herumzutanzen. Er tanzte und sang, tanzte und sang so lange, bis die Menschen in die Stube hereinkamen. Jetzt ergriff jeder, was er zu greifen bekam, und sie gingen auf den Isegrim los, um ihn hinauszuprügeln. Der Wolf erschrak und flüchtete in den Vorraum. Doch dort standen noch mehr Menschen und noch mehr Schläger. Soobol sah, daß der Wolf in Not war, sprang ihm auf den Rücken und fing an, ihm ein wenig den Pelz zu zausen. Die anderen dachten, daß Soobol ihm richtig das Fell zerrupft, denn er saß auf seinem Rücken. So konnte keiner mehr an den Wolf heran, und den Hund wollte niemand treffen. Auf diese Weise gelangte der Wolf aus dem Haus und aus dem Dorf hinaus und lief mit Soobol in den Wald. Hier bedankte sich der Wolf bei Soobol für die Bewirtung und noch mehr dafür, daß er ihn nicht schlagen ließ. 71
Der Wolf war guter Laune, er tanzte und sang am Waldrand. Der Hund, also Soobol, sagte zu ihm: „Wenn du solche Schuhe hättest wie ich, würdest du noch viel besser tanzen als jetzt und auch viel stolzer ausschauen.“ Der Wolf betrachtete Soobols rote Schuhe, die ihm die Hausfrau für die Rettung des Kindes gegeben hatte, und sie gefielen ihm sehr. Er fragte: „Was willst du für diese Schuhe haben? Verkauf sie mir!“ Soobol sagte: „Hole das Material zusammen, dann lasse ich dir welche nähen, und du brauchst mir gar nichts zu bezahlen.“ „Was muß ich denn bringen, damit ich Schuhe bekomme?“ fragte der Wolf. „Vor allem ist dafür eine Ochsenhaut nötig, später werden wir sehen, was noch fehlt“, sagte der Hund. Der Wolf war damit zufrieden und dachte nach, wo er die Ochsenhaut herbekommen sollte. Er lief in den Wald und versprach dem Hund, am nächsten Tag die Ochsenhaut zu bringen. Am Tag darauf schleppte der Wolf tatsächlich einen ganzen Ochsen an und fragte Soobol: „Ist er gut, und werde ich daraus Stiefel bekommen?“ Soobol sagte: „Die bekommst du wohl“, und er forderte ihn auf, in einer Woche nach den Stiefeln zu kommen. Jetzt hatte Soobol ein gutes Leben, er konnte Fleisch fressen, soviel er wollte. Nach einer Woche kam der Wolf, um seine Stiefel abzuholen, aber Soobol sagte: „Du mußt mir noch ein Schwein 72
bringen, denn es ist kein Nähzeug da, und vom Schwein bekommt man Borsten.“ Der Wolf war wieder einverstanden und ging ein Schwein suchen. Am nächsten Tag fand er auch ein Schwein, brachte es dem Hund und fragte: „Werden sie jetzt fertig?“ „Wahrscheinlich werden sie fertig!“ sagte Soobol und bestellte den Wolf für die nächste Woche. Auf diese Weise hatte Soobol wieder für einige Tage zu fressen und konnte feiern. Nach einer Woche kam der Wolf nach seinen Stiefeln. Doch der Hund sagte: „Fertig sind sie schon, aber es fehlt noch die Farbe, um sie rot zu färben. Geh und such einen fetten Hammel, dann lassen wir das Blut heraus und färben die Stiefel.“ Was sollte der Wolf tun, er brachte auch einen Hammel. Nun hatte der Hund von einem Kind seiner Bäuerin ein Paar Schuhe gestohlen, sie gefärbt und dem Wolf gegeben. Der Wolf zog sie an und trug sie, bis sie zerfielen. Von da an blieb der Wolf ohne Stiefel, und auch seine ganze Sippe trägt keine Stiefel.
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17 Die Katze als Frau Fuchs In alten Zeiten waren der Bär, der Wolf und der Fuchs sehr gute Freunde. Sie unternahmen alles gemeinsam und besprachen ihre Angelegenheiten stets in Freundschaft miteinander. Na gut, eines Tages kamen sie wieder an einem Ort im Walde zusammen. Der Wolf und der Bär begrüßten einander freundschaftlich wie immer. Doch der Fuchs blieb abseits stehen und kam überhaupt nicht zu den anderen. Der Wolf fragte: „Hör mal, Gevatter, was hast du nur heute, daß du nicht mehr zu uns kommst?“ „Was fragst du, Bruder, ich bin ja nicht mehr Junggeselle. Ich habe geheiratet. Was soll ich noch mit euch Freundschaft halten“, antwortete der Fuchs. „Oho, Gevatter, du hast also geheiratet, und wir wissen noch gar nichts davon! Wie heißt denn deine Frau?“ fragten der Wolf und der Bär. „Milli Massinga1„, antwortete der Fuchs. Ist das ein schöner Name, dachten der Wolf und der Bär und überlegten, wie sie die Frau des Gevatters zu sehen bekommen könnten.
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Vgl. russ. милая Машенка – milaja Maschenka.
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Sie kündigten an, in einigen Tagen ein Fest veranstalten zu wollen, und sie baten auch den Fuchs, zu kommen und seine Frau mitzubringen. Der Wolf und der Bär besorgten zum Festtage eine große Menge Fleisch von verschiedenen Tieren, damit die Gäste zu essen hätten. Nun, als der Tag herankam, waren der Wolf und der Bär zur Stelle und warteten auf den Fuchs und seine junge Frau. Die kamen und kamen aber nicht. Da sagte der Wolf zum Bären: „Brüderchen, du hast gute feste Pfoten, klettere auf die große Fichte dort und sieh nach, ob sie nicht kommen.“ Nun, die Honigpfote kletterte in die Krone der Fichte, schaute und sagte erfreut: „Oh, macht nichts, sie kommen schon über den Sumpf. Der alte Gevatter geht immer durch das Wasser – watsch-watsch –, aber seine junge Frau will die Füße nicht naß machen und springt von einem Hügel zum anderen.“ Der Bär schaute immer noch und sagte schließlich: „Sie ist wohl ein Jäger, sie scheint eine Flinte über der Schulter zu tragen!“ „Oh, der verrückte Gevatter“, rief der Wolf voller Schrecken, „er holt einen Jäger hierher, der auf uns losgehen wird! Du bist dort oben, auf der dicken Fichte, du brauchst dich nicht weiter zu fürchten, aber ich Armer bin ganz in Not und dem Jäger ausgeliefert!“ Da sah der Bär unter einer anderen Fichte einen großen Reisighaufen und sagte zum Wolf, er solle sich dort unter den Zweigen verstecken.
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Nun gut, der Fuchs kam mit seiner jungen Frau, einer Katze, an und staunte, daß die Gastgeber nirgends zu sehen waren, begann aber dennoch in den schönen Braten reinzuhauen. Die Katze kletterte auf den Fleischhaufen und suchte dort die besten Fleischstücke heraus und schnurrte dabei. Der Wolf und der Bär wunderten sich, da sie doch genug gutes Essen hatten, warum denn die junge Frau noch knurrt. Der Bär konnte von der Fichtenspitze aus gut sehen, was die Gäste unten taten. Da aber der Wolf aus dem Reisighaufen nicht recht sehen konnte, was die anderen unternahmen, begann er den Kopf zu heben, und das Reisig raschelte dabei. Die Katze glaubte, es sei eine Maus, lief hin, packte die Augen des Wolfes und zerkratzte sie so, daß der Wolf seit dieser Zeit zerschrammte Augen hat. Der Wolf sprang vor Schmerzen heraus und lief davon. Die Katze glaubte, der Wolf würde sie verfolgen, und lief voller Angst auf die Fichte zu, wo der Bär versteckt saß. Der Bär kletterte noch höher, schließlich brach die Fichtenkrone, und der Bär fiel samt den Zweigen – pardauz – herunter auf den Hals, und seit der Zeit hat der Bär auch einen kurzen Hals.
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18 Der Bär wird für den Pastor gehalten Einstmals ging ein Mann in den Wald, um Latten für den Schlitten zu suchen. Er spannte das Pferd vor einen Schlitten ohne Bodenstäbe und fuhr in den Wald. Im Walde war eine Lichtung, dort gab er dem Pferd Futter und ging selbst davon, um Stäbe zu suchen. Es war zur Zeit der Herbstfröste. Der Bär kam aus dem Walde heraus und sah das Pferd. Er ging von hinten auf den Schlitten zu und packte das Pferd am Kreuz. Das Pferd erschrak und lief los. Dem Bärenmännchen rutschte das Hinterteil zwischen den Querlatten des Schlittens hindurch, und es fegte und schlug tüchtig an den Unebenheiten und Stümpfen auf. Das Pferd lief aus dem Wald hinaus auf die Wiese und von dort heimwärts. Auf der Wiese gab es einen Teich. Vor einigen Jahren war in dem Teich ein Mann ertrunken, und deshalb stand dort ein Kreuz. Der Weg führte am Kreuz vorbei, und als sie gerade an diesem vorbeifuhren, faßte der Bär mit der Tatze nach dem Kreuz; es war jedoch schon alt und morsch, brach ab, und der Bär behielt es im Arm. Sowie sie sich dem Dorf näherten, liefen alle Dorfbewohner zusammen, um zu schauen, wie „der Pastor kommt“. Der „Pastor“ fegte aber 77
durch das Dorf, das Kreuz unter dem Arm und schrie die ganze Zeit „Päo, päo!“ Das Pferd lief mitsamt dem „Pastor“ unter den Dachfirst seines Herrn. Dort kreisten die Männer das „Pastorchen“ ein und bereiteten dem müden Bären ein Ende.
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19 Die Sau und der Wolf In alten Zeiten blieben die Schweine über Nacht draußen. Man hielt sie in der Nacht deshalb nicht im Haus, weil man ihnen nichts zu geben hatte. Die Nacht verbrachten sie draußen, am Morgen wurden sie nach Hause gelockt. Die Schweine liefen umher; und wenn sie am Morgen gelockt wurden – nots-nots-nots-nots-nots –, rannten sie um die Wette nach Hause. Eines Nachts war eine Sau mit ihren Ferkeln wieder draußen. Aus irgendeinem Grunde begannen die Ferkel zu grunzen, und das hörte ein alter Wolf. Der Wolf hatte Hunger und überlegte, ob er nicht durch Schlauheit ein Ferkel an sich locken könnte. Der Wolf kam zu der Sau und begann zu singen: „Wühle, wühle, Säulein, Lauschet, lauschet, Öhrchen, Wackelt, wackelt, Zitzen, Dreh dich, dreh dich, Schwänzchen! Sau, gib mir ein Ferkelchen!“ Die Sau sagt: „Singe noch!“ Der Wolf singt: „Wühle, wühle, Säulein, 79
Lauschet, lauschet, Öhrchen, Wackelt, wackelt, Zitzen, Dreh dich, dreh dich, Schwänzchen! Sau, gib mir ein Ferkelchen!“ „Singe noch!“ „Wühle, wühle, Säulein, Lauschet, lauschet, Öhrchen, Wackelt, wackelt, Zitzen, Dreh dich, dreh dich, Schwänzchen! Sau, gib mir ein Ferkelchen!“ „Singe so lange, bis die Küster mit den Kerzen kommen!“ Der Wolf sang und sang. Die Küster aber kommen nie mit Kerzen. Die Sau sagte das nur deswegen, weil die Küster eben niemals mit den Kerzen kommen. Der Sau taten ihre Ferkel leid, welches sollte sie weggeben? Sie wollte keines weggeben. Bis die Küster mit den Kerzen kommen, wird man die Schweine schon längst nach Hause rufen. Der Wolf sang und sang – es kam keiner; von Zeit zu Zeit fragte er: „Kommen sie nicht bald?“ Die Sau sagte: „Singe, singe nur, wenn du so dumm bist!“ Der Wolf sang noch einige Zeit, bis durch die Morgendämmerung zu hören war: „Nots-notsnots-nots!“ Da liefen alle nach Hause, und der Wolf blieb ohne Ferkel. 80
20 Der kluge Schafbock Im Frühjahr kam ein Wolf auf die Weide, fand einen kleinen jungen Schafbock, der von den anderen Schafen auf einem Berghügel zurückgelassen worden war, und wollte ihn reißen und fressen. Der Schafbock fing an zu bitten: „Laß mich noch leben, ich bin noch jung und habe noch nicht die Süße des Daseins geschmeckt! Laß mich noch diesen Sommer herumspringen, ich werde auch wachsen und mehr Fleisch ansetzen. Im Herbst will ich am festgesetzten Tag wieder hierherkommen; dann kannst du mit mir tun, was du willst.“ Der Wolf überlegte und sagte dann: „Es sei so! Wenn du aber dein Versprechen nicht hältst, werde ich dir deine Lüge böse heimzahlen.“ Der kleine Schafbock sprang fröhlich umher, fraß in Gesellschaft der anderen Gras, wuchs und gedieh bis zum Herbst zu einem großen Schafbock. Gleichzeitig aber erhoben sich auf seinem Kopf wie Waffen gewundene Hörner, so wie es in einem alten Sprichwort heißt: „Wächst der Hund, so wachsen bei ihm auch die Zähne.“ Dieses Wort trifft hier auch für den Schafbock und seine Hörner zu. Der festgesetzte Herbsttag kam. Der Schafbock und der Wolf standen beide an derselben Stelle wie im Frühjahr auf dem Berghügel. 81
„Ehrlicher Wolfspappi“, begann der Schafbock, „siehst du jetzt, daß das Geschlecht der Schafe immer Wort hält? Auch dann, wenn das eigene Fleisch für eure unersättliche Gier als Speise dienen soll? Damit du es leichter hast zu reißen und ich weniger leide, gehe hinunter an den Fuß des Hügels und halte das Maul offen. Ich laufe dir selbst ins Maul hinein.“ Der Wolf hielt diesen Vorschlag für gut und ging. Er sperrte das Maul auf und wartete, daß ihm das Stück Fleisch ins Maul falle. Der Schafbock trat einige Schritte zurück, und dann – eins, zwei, drei, rums! – waren die Kiefer des Wolfes durch die Hörner des Schafbockes zerrissen. (Man sieht, daß die Wölfe bis zum heutigen Tage den Schafen gram sind. Möglich, daß sie ihr Leid und ihre Wut durch das Fleisch der Schafe zu besänftigen suchen.)
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21 Der Ochse baut eine Hütte Ein Ochse fraß am Waldrand. Der Wolf kam zu ihm und sagte: „Hör mal, Ochse, ich werde dich fressen, willst du?“ Der Ochse sagte: „Weder du selber noch neunundneunzig andere werden mir etwas antun können. Kommt dann, wenn ich meine Hütte fertiggebaut habe, um mit mir die Kraft zu messen.“ Der Wolf versprach es und lief diesmal davon. Der Ochse ging nun sofort daran, Bäume für die Hütte zu fällen. Da kam eine alte Muttersau vorbei. Der Ochse sagte zu ihr: „Komm her, hilf mir, Balken zu schlagen für den Bau der Hütte, im Winter werde ich dich dann mit hereinnehmen!“ „Ich brauche deine Hütte nicht!“ antwortete die Sau. „Am Zaun, im Schutz einer Schneewehe habe ich es gut genug“, und lief weiter. Der Ochse mußte wieder allein Balken schlagen. Nach einiger Zeit kam ein Schafbock vorbei. Auch zu ihm sagte der Ochse: „Komm her, hilf mir, Balken zu schlagen, dann nehme ich dich im Herbst auch in meine Hütte und schütze dich vor der Kälte und vor dem Wolf.“ „Ich brauche deine Hütte nicht“, sagte der Schafbock, „im Dorfstall finde ich Schutz vor allem“, und lief seiner Wege. 83
Nach einiger Zeit kam eine Gans vorbei. Auch sie rief der Ochse zu Hilfe beim Bau der Hütte. Doch die Gans sagte, sie habe es auch im Teich gut genug. Und sie verschwand. – Der Ochse blieb wieder allein. Schließlich kam ein Hahn. Auch ihn rief der Ochse zu Hilfe beim Hüttenbau. Der aber sagte, er habe es in jedem Strauch gut genug, und ging ebenfalls weg. Der Ochse baute allein die Hütte fertig und richtete sich ein, darin zu wohnen. Als jedoch die Tage kälter wurden, war es die Sau, die zum Ochsen kam und ihn bat, sie in der Hütte aufzunehmen. Der Ochse aber entgegnete: „Du sagtest, du hättest es in einer Schneewehe gut. Was suchst du hier?“ „Gut“, sagte die Sau, „wenn du mich nicht nimmst, haue ich dir die Wandstützen kaputt, und du bist ebenso wie ich dem Schnee preisgegeben.“ Es half dem Ochsen nichts, er nahm die Sau in seine Hütte. Nach einiger Zeit kam der Schafbock und bat den Ochsen, ihn in die Hütte zu nehmen. Der Ochse erinnerte auch ihn an seine Worte. Doch auch der Schafbock drohte, die Ecken der Hütte umzustoßen, sollte er nicht hereingelassen werden. Der Ochse ließ auch ihn hinein. Nach einiger Zeit kam die Gans und bat den Ochsen, sie in die Hütte zu lassen. Der Ochse sprach zu ihr: „Du sagtest, daß du es im Teich gut hättest. Was suchst du jetzt hier?“ 84
„Nun, wenn du mich nicht aufnimmst, picke ich das Moos aus den Wänden, und der Schnee kommt hinein. Du bist dann ebenso wie ich dem Schnee preisgegeben.“ „Also gut“, sagte der Ochse, „ich nehme dich bei mir auf.“ Schließlich kam der Hahn und bat, in die Hütte aufgenommen zu werden. Auch ihm wiederholte der Ochse seine eigenen Worte. „Nun, wenn du mich nicht nimmst, scharre ich das Dach herunter. Dann seid ihr alle ohne Schutz.“ Der Ochse nahm auch ihn herein. In einer stürmischen Nacht klopfte jemand an die Tür ihrer Hütte. Der Ochse fragte: „Wer ist da?“ „Ich bin es, der Wolf selber“, sagte der Draußenstehende. „Wir sind gekommen, um dich zu fressen. Neunundneunzig andere sind auch hier. Komm heraus!“ Der Ochse öffnete die Tür und sagte: „Du bist der Anführer, unterhalten wir uns erst mal zu zweit ein wenig.“ Der Wolf sprang sofort hinein, und der Ochse schlug die Tür zu. Jetzt begannen alle, den Wolf zu verbleuen: der Ochse und der Schafbock mit den Hörnern, während ihn die Sau mit ihren Zähnen bearbeitete. Die Gans aber pickte ihm die Augen aus. Der Wolf konnte nichts anderes tun als schrecklich zu heulen. Er wußte ja auch nicht, daß drinnen so viele waren, die ihm aufs Fell rücken
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konnten. Schließlich öffnete der Ochse die Tür der Hütte. Voller Angst und Schmerzen sprang der Wolf hinaus und sagte zu den anderen: „Was schaut ihr noch?! Seht zu, daß ihr fortkommt!“ „Was gibt es dort?“ fragten die anderen. „Fragt nicht“, sagte der Wolf. Jetzt aber rief der Hahn: „Wenn ich erst komme!“ Die anderen hörten das und liefen davon. Weil aber die Sau und der Schafbock nicht geholfen haben, den Stall zu bauen, werden sie bis zum heutigen Tag vom Wolf gerissen, und die Gans und der Hahn haben auch keine richtige Bleibe.
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22 Der Bauer, der Bär und der Fuchs Ein Bauer pflügte am Waldesrand. Ein alter Honigschlecker, ein Bär, kam zu ihm, begrüßte ihn, wünschte ihm Kraft zur Arbeit und fragte: „Was säst du auf diesem Feld zum Sommer an?“ Der Mann antwortete: „Jetzt habe ich hier noch nichts ausgesät, aber wenn es soweit ist, werde ich Hafer anbauen!“ Der Bär sagte voll Freude und leckte sich dabei die Lippen: „Na, wenn du Hafer anbaust, dann gehören im Herbst die Blätter mir und die Wurzeln dir!“ Als die Zeit zum Säen kam, baute der Mann auf dem Feld Rüben an. Im Herbst stampfte der Bär mißmutig um das Feld herum, denn die Blätter der Rüben schmeckten ihm überhaupt nicht. Im nächsten Frühjahr pflügte der Mann wieder das Feld am Waldesrand. Der alte Bär kam erneut zu ihm. Diesmal begrüßte er ihn nicht und fragte auch nicht erst, was der Mann auf dem Frühjahrsfeld dieses Jahr anbauen wollte. Er sagte mürrisch: „In diesem Herbst bekomme ich die Wurzeln und du die Blätter!“ Der Mann versprach es. Als die Zeit der Aussaat kam, baute der Mann auf dem Feld Hafer an. Im Herbst kam der Bär an den Feldrand. Als er das reife Haferfeld vor sich 87
sah, bekam er das Schlucken wegen der reifen Haferblätter. Er hätte sie mit dem Maul und mit den Augen verschluckt, durfte aber die Abmachung nicht brechen. In alten Zeiten war eine mündliche Abmachung ohne Zeugen auch zwischen Tieren und Menschen, wenn sie es taten, genau so fest wie heutzutage die auf dem Stempelbogen geschriebenen Verträge. Wenn der Bär jetzt das Haferfeld zerstört hätte, würde der Mann bestimmt seinen Zottelpelz zum Markte tragen. Nun hatte der Bär eine Wut auf den Mann und wartete nur auf eine passende Gelegenheit, um ihm die ganze Betrügerei doppelt zu vergelten. Es kam der Winter mit Schnee und Kälte, der Mann spannte seinen schwarzen Ochsen vor den Schlitten und fuhr in den Wald nach Holz. Er dachte nicht mehr an das frühere Zusammentreffen mit dem Bären und an ihre Abmachungen. Als der Mann mit dem Ochsen in den Wald kam, trat ihm der Bär entgegen und sagte: „Zweimal hast du mich furchtbar betrogen. Jetzt mußt du mir den schwarzen Ochsen geben, sonst kommst du lebendig nicht von der Stelle.“ Der Mann begann mit weinerlicher Stimme den Bären zu bitten: „Gutes schwarzes Waldväterchen, meine Frau und meine Kinder sterben vor Kälte! Laß mich noch heute mit dem Ochsen eine Fuhre Holz heimbringen. Morgen früh werde ich zur gleichen Zeit mit dem Ochsen hier sein, dann werde ich ihn dir gern geben.“ Der Bär versprach, bis morgen zu warten. 88
Als der Mann mit der Holzfuhre heimwärts ging, kam ihm auf dem Wege der Fuchs entgegen und fragte: „Was wollte dieser alte zottlige Bär von dir, als du ihn so kläglich um etwas batest?“ Der Mann berichtete die ganze Geschichte dem Fuchs, und wie die Dinge zwischen ihm und dem Bären stünden. Der Fuchs sagte zu dem Manne: „Wenn du mir einen Sack voll Küken bringst, dann rette ich dich aus den Klauen des Bären.“ Der Mann versprach gern, was der Fuchs verlangte. Nun unterwies der Fuchs den Mann: „Wenn du morgen in den Wald kommst, dann bringe ein Bündel Späne mit. Wir werden sie mir um den Körper binden. Wenn du mit dem Bären zusammenkommst, komme ich zum Vorschein. Und wenn du mich siehst, sage, daß ich der staatliche Waldhüter sei, der die Waldtiere sucht.“ Am nächsten Morgen brachte der Mann Späne mit, und am Waldrand, wohin der Fuchs ihm entgegengekommen war, wurden sie um seinen Körper gebunden. Der Mann ging mit dem Ochsen an die ausgemachte Stelle, der Fuchs schlich durch den Wald hinterher. Der Bär wartete schon lange auf den Mann mit dem Ochsen. Als dieser hinkam, wollte der Bär augenblicklich über den Ochsen herfallen; doch der Fuchs kam sogleich zum Vorschein und raschelte kräftig mit den Spänen. Der Bär hielt erschrocken ein und fragte den Mann: „Wer schleicht dort so laut umher?“ 89
Der Mann antwortete: „Das ist der staatliche Waldhüter. Er möchte ein Waldtier fangen!“ Der Bär wagte nicht mehr wegzulaufen, sondern warf sich an Ort und Stelle unter einen Baum auf den Rücken, die Beine erhoben. Er sagte zu dem Mann: „Jetzt wird der Waldhüter glauben, ich sei ein abgebrannter Baumstumpf.“ Der Fuchs kam zu dem Mann und fragte: „Hast du irgendwo Waldtiere gesehen?“ Der Mann sagte: „Ich habe keine gesehen.“ Der Fuchs zeigte auf den Bären und sagte: „Ich glaube, dort ist ein alter abgebrannter Baumstumpf. Säge ihm die Zweige ab, mach ein Feuer zum Erwärmen. Ich friere.“ Der Mann klopfte dem Bären mit dem Beilrükken auf die Knie, der Bär ließ die Beine bis auf den Bauch hängen, damit der Waldhüter glaubte, daß die Äste vom Baumstamm abgeschlagen seien. Der Fuchs aber sagte zu dem Manne: „Schlage jetzt dein Beil in den Baumstumpf, damit wir sehen, ob der Baumstumpf noch fest oder schon verfault ist.“ Als der Bär das hörte, öffnete er sein Maul, damit ihm der Mann das Beil schön ins Maul legte. Der Fuchs aber zwinkerte dem Manne mit den Augen zu. Der Mann verstand und schlug das scharfe Beil dem Bären in den Bauch, so daß er verendete. Jetzt sagte der Fuchs zum Manne: „Du siehst nun, daß du durch meine kluge Anleitung deinen ärgsten Feind besiegt hast; denk daran, daß du 90
dein Versprechen einlöst und mir morgen früh hierher einen Sack voll Küken bringst. Ihr Fleisch ist sehr schmackhaft.“ Der Mann versprach es. Auf dem Weg nach Hause dachte er: Woher soll ich jetzt im Winter für den Fuchs junge Hühner auftreiben? Doch plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke, und danach handelte der Mann. Er hatte zu Hause zwei gute Hunde. Die steckte er am Morgen in einen Sack und ging in den Wald, den Sack mit den Hunden im Arm haltend. Als der Fuchs den Mann mit seinem Sack kommen sah, leckte er die Lippen, schlug mit dem Schwanz gegen den Boden und war sehr froh. Als aber der Mann mit dem Sack herankam, blieb der Fuchs etwas ängstlich stehen und fragte den Mann: „Was hast du in deinem Sack so Großes drin? Es sind wohl Hunde?“ Der Mann sagte: „Nein, es sind große Küken, kleine sind im Winter nicht zu bekommen.“ Der Fuchs wollte dem Mann anfangs nicht glauben, und sie stritten eine Weile. Der Fuchs behauptete immerzu, daß im Sack Hunde seien, der Mann wiederum, es seien Küken im Sack. Schließlich sagte der Fuchs zu dem Mann: „Laß doch deine Küken aus dem Sack heraus, damit ich an ihnen meine scharfen Zähne ausprobieren kann!“ Der Mann ließ sie heraus. Aber wie die Hundeköpfe aus dem Sack zum Vorschein kamen, lief der Fuchs davon, daß der Schnee nur so hochstiebte; die Hunde jagten hinterher. 91
Bald fand der Fuchs in einem hohlen Baum Schutz; die Hunde waren noch weit. Dort wähnte sich der Fuchs sicher, und er begann laut mit sich selbst ein Gespräch zu führen. Er fragte: „Augen, was habt ihr getan, als mir die Hunde nachjagten?“ Die Augen sagten: „Wir schauten uns um, wo wir Schutz finden.“ Dann fragte er: „Vorderpfoten, was habt ihr getan?“ Sie sagten: „Wir liefen den Hunden davon.“ Dann fragte er wieder: „Hinterbeine, was habt ihr denn getan?“ Die sagten: „Wir liefen den Vorderbeinen nach.“ Dann fragte er: „Und du, Schwanz, was hast du getan?“ Der Schwanz antwortete: „Ich sprang von einem Baum auf den anderen.“ Der Fuchs streckte den Schwanz aus dem hohlen Baum hinaus und sagte: „Wenn du in der Not Zeit hattest, von einem Baum auf den anderen zu springen, so sollen dich jetzt zur Strafe die Hunde auffressen.“ Gerade, als der Fuchs den Schwanz zur Baumöffnung hinausstreckte, waren die Hunde zur Stelle; sie packten mit ihren Zähnen den Schwanz, zogen daran den Fuchs aus dem Bau heraus und zerfleischten ihn. Jetzt war der Mann seine beiden Feinde auf einmal losgeworden und konnte ruhig leben.
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23 Der dankbare Wolf Einst ging ein Jäger in den Wald, um zu jagen. Beim Herumstreifen im Walde fand er einen Wolfsbau mit vier kleinen Welpen darin. Der Jäger wollte die Welpen nicht erschlagen, denn sie waren noch sehr klein. Er steckte ihnen aber kleine Stecknadeln in die Pfoten, damit sie, wenn sie aufwuchsen, ihm nicht davonliefen und er sie leicht erwischen konnte. Daraufhin ging der Jäger seines Weges. Die kleinen Welpen aber blieben vor Schmerzen jammernd im Bau zurück. Als die Wölfin kam, klagten die Welpen ihrer Mutter, was der Jäger ihnen angetan hatte. Die Wölfin versuchte wohl, die kleinen glänzenden Stecknadeln aus den Pfoten der Kinder herauszuziehen, doch es gelang ihr nicht. Schließlich kam der Wolfsmutter ein guter Gedanke. Und sie ging an den Waldesrand, wo ein Kätner allein Heu machte. Die Wölfin begann diesen Kätner an den Rockschößen zum Walde zu ziehen. Der Mann erschrak über solch plötzliches Zusammentreffen mit einem Wolf und wollte ihn mit der Sense schlagen, doch der Wolf schaute den Mann an und begann mit dem Schwanz zu wedeln. Da der Wolf ihm nichts tat, getraute sich der Mann auch nicht, mit der Sense zuzuschlagen, 93
sondern wartete ab, was der Wolf mit ihm im Sinn hatte. Daraufhin begann der Wolf wieder, den Mann an den Rockschößen in den Wald zu ziehen. Der Mann begriff, daß der Wolf mit ihm nichts Böses im Sinn hatte, und ging mit dem Wolf in den Wald. Im Walde führte der Wolf den Mann bis zu seinem Bau, wo seine Jungen immer noch vor Schmerz stöhnten. Als der Mann die Welpen sah, erschrak er wieder, denn er dachte, daß der Wolf ihn hierhergelockt hatte, um ihn jetzt seinen Jungen zum Fraß zu geben. Doch da hob die Wölfin die Pfote eines Jungen und zeigte sie dem Mann. Der Mann sah in der Pfote blinkende Stecknadelköpfe und begriff, daß er sie herausziehen sollte. Er zog also die Stecknadeln aus den Pfoten des Welpen heraus, dann ebenso bei dem zweiten und dem dritten Welpen, bis sie bei allen herausgezogen waren. Nachdem der Mann die Arbeit vollbracht hatte, leckte die Wölfin vor Freude die Hand des Mannes, und die Welpen wedelten zum Dank mit ihren Schwänzchen. Da der Mann dort nichts mehr zu tun hatte, kehrte er wieder zu seiner Arbeit zurück. Als der Mann am nächsten Tage wieder am Waldesrand mähte, sah er den Wolf kommen, dessen Welpen er gestern die Stecknadeln aus den Pfoten gezogen hatte. Der Wolf kam zu dem Mann, legte vor ihm ein großes fettes Schaf nieder und ging wieder in den Wald zurück. Der 94
Mann schlachtete das Schaf und machte sich einen schönen Braten. So entgalt der Wolf dem Mann seine Mühe.
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24 Bist du ein Mann? Einem Wolf wurde befohlen, den zu fressen, der ihm auf dem Wege entgegenkommt und ein Mann ist. Der Wolf ging den Weg entlang, und ein kleiner Junge kam ihm entgegen. Er fragte den Jungen: „Bist du ein Mann?“ „Ich bin keiner“, antwortete der Junge, „ich bin nur der Anfang eines Mannes.“ Der Wolf ging weiter. Nach einiger Zeit begegnete ihm ein altes Männlein, das an einem Stock ging. „Bist du ein Mann?“ fragte der Wolf den Alten. „Nein, ich bin keiner. Ich bin nur das Ende eines Mannes“, antwortete der Alte. Dann kam ihm ein dritter entgegen, das war ein kräftiger Mann. Auch ihn fragte der Wolf: „Bist du ein Mann?“ „Ja, ich bin ein Mann“, antwortete der. „Mir wurde befohlen, dich zu fressen“, sagte jetzt der Wolf. „Du kannst mich nicht eher fressen, als bis ich aus dem Walde einen Meßstab geholt und nachgeprüft habe, ob ich auch in deinen Bauch hineinpasse.“ Der Wolf war damit zufrieden. Der Mann ging in den Wald, holte von dort einen guten festen 96
Knüppel und wollte damit den Bauch des Wolfes messen. Zuerst trat er vor die Nase des Wolfes, begann seine Schnauze zu streicheln und sagte: „Oh, das schöne Schnäuzchen, das mich fressen wird!“ Dieses Lob schmeckte dem Wolf, er machte ein freundliches Gesicht und sagte „Jamm!“ Dann schaute der Mann ihm in die Augen, streichelte sie und sagte: „Oh, diese hübschen Äuglein, die auf mich schauen, wenn ich gefressen werde!“ Auch das gefiel dem Wolf, und er rief „Jamm!“ Jetzt ging der Mann zum Bauch des Wolfes, streichelte ihn und sagte: „Oh, dieses hübsche Bäuchlein, wo ich drin sein werde!“ Der Wolf wurde ganz froh und rief wieder „Jamm!“ Schließlich trat der Mann an das Hinterteil des Wolfes und sagte auch hier: „Oh, das hübsche Hinterteilchen, das mich wieder herauslassen wird!“ Der Wolf entgegnete wieder „Jamm!“ Jetzt packte der Mann den Wolf fest am Schwanz und begann ihn mit dem Knüppel zu messen, das heißt zu prügeln, und rief selbst dabei immer „Jamm, Jamm, Jamm!“ Der Wolf aber schrie fortwährend „Au-wau-wau! Au-wau-wau!“ So knüppelte der Mann den alten Isegrim, bis ihm das Fell von beiden Seiten heruntergeklopft war und andere Wölfe ihm auf sein jämmerliches Geheul zu Hilfe kamen. Da hörte der Mann mit dem Fellgerben auf und kletterte auf 97
eine Fichte, denn sonst hätte er dem Wolf seine eigene Haut an Stelle des Felles geben müssen. Als der kranke Bruder den anderen seine Not geklagt hatte, schauten sie zur Fichte hinauf, aber sie konnten den Mann auf keine Weise erreichen. „Eine große und hohe Fichte, man kommt auf keine Art heran“, sagten sie zueinander. Schließlich versuchten sie einen Weg zu finden und kletterten aufeinander, um so dem Manne näher zu kommen. Der nacktgedroschene Wolf war mit einigen anderen ganz unten, und die übrigen kletterten auf deren Nacken. Und immer so weiter, als wäre es verabredet. Als der Mann auch den nackten Wolf unter den anderen bemerkte, rief er von der Fichte herab: „He-he, du Nackter, du bist ja auch noch hier?“ Als der Nackte das hörte, erinnerte er sich an das Gerben seines Felles, machte sich aus dem Staube und suchte sich mit heiler Haut – so heil wie sie noch war – zu retten. Die anderen Wölfe liefen hinterher, und der Mann war vor ihnen gerettet, kam von der Fichte herunter und gab den Füßen zu wissen, wo der Weg nach Hause führt.
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25 Ein altes Weib überlistet den Bären Einst ging ein altes Weib Pilze sammeln. Aus dem Walde kam ein Bär, nahm die Alte auf den Rücken und trug sie fort. Im Walde begann er ein Loch zu graben und legte die Alte derweilen nieder. Sowie aber das alte Weib weggehen wollte, stand der Bär mit Gebrumm auf und drückte sie so sehr, daß die Alte sich nicht bewegen konnte. Schließlich wurde das Loch so tief, daß der Bär kaum noch zu sehen war. Für die Alte war guter Rat teuer. Schließlich erblickte sie in ihrer Nähe einen großen Baumstumpf. Sie nahm ihre Fellmütze ab, zog sie dem Baumstumpf über und machte sich davon. Der Bär bemerkte es nicht, er grub weiter und schaute alle fünf Minuten nach, ob die Alte noch da war. Als sich die Alte in Sicherheit wähnte, schaute sie zurück, um zu sehen, was der Bär tat. Der Bär kam aus dem Loch heraus, packte den Baumstumpf, trug ihn ins Loch, deckte ihn mit Erde zu und ging dann seines Weges.
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26 Der Fuchs im Nachtquartier Einst lief Reineke seines Weges dahin und fand im Graben einen Apfel. Sowie er zur ersten Kate kam, klopfte er an und sagte: „Hausherr, Hausherr, ich bin ein Wanderer, komme von weither und bitte um ein Nachtquartier!“ Der Wirt antwortete: „Wir haben es selbst eng, sind eine große Familie, wo bringe ich dich unter?“ „Ich brauche nicht viel Raum. Ich lege mich selbst auf die Bank, meinen Schwanz stecke ich unter die Bank, und den Apfel werfe ich auf den Ofen.“ Man ließ den Fuchs herein. Er kletterte auf eine Bank, legte den Schwanz unter die Bank und warf den Apfel auf den Ofen. Am nächsten Tag erhob er sich vor dem Morgengrauen, fraß den Apfel auf und weckte den Wirt. „Wirt, Wirt, wo ist mein Apfel? Was gibst du mir für ihn? Gib ein weißes Huhn!“ Der Mann sah, daß nichts zu machen war, holte aus dem Stall ein weißes Huhn und gab es dem Fuchs. Der Fuchs freute sich, daß er ohne Mühe sein Fressen fand. Im nächsten Dorf klopfte er wieder an die Tür einer Kate: „Wirt, Wirt, mach auf! Ich bin ein 100
Wanderer, komme von weither und suche Nachtquartier!“ „Ich habe es selbst eng hier, wo soll ich dich hintun?“ Schließlich wurde der Fuchs hereingelassen. Er kletterte auf die Bank, legte den Schwanz unter die Bank, und das Huhn warf er auf den Ofen. Am nächsten Tag stand er vor dem Morgengrauen auf, holte das Huhn vom Ofen, riß es, warf die Federn in den Ofen, fraß das Huhn auf und weckte den Wirt. „Wirt, wo ist mein Huhn? Was gibst du mir dafür? Gib mir ein kleines Ferkelchen!“ Der Mann sah, daß nichts zu machen war, holte aus dem Stall ein fleischiges Ferkel und gab es dem Fuchs. Wieder freute sich der Fuchs, daß er ohne Mühe den Wanst vollbekam. Es wurde wieder Abend. Wieder ein Dorf. Und wieder klopfte der Fuchs an die Tür einer Kate. „Wirt, Wirt, mach die Tür auf, ich bin ein Wanderer aus fernen Landen, gib mir ein Nachtquartier!“ „Habe es selbst eng, wo soll ich dich hintun?“ Man ließ den Fuchs doch in die Stube. Er kletterte auf eine Bank, legte den Schwanz unter die Bank und packte das Ferkel auf den Ofen. Am nächsten Tag erhob er sich vor Morgengrauen, fraß das Ferkel auf und weckte den Wirt. „Wirt, wo ist mein Ferkel? Was gibst du mir dafür? Gib eine Färse!“ Der Wirt sah, daß nichts zu machen war, holte aus dem Stall eine Färse und gab sie dem Fuchs. 101
Abend. Der Fuchs kam zu einem großen Laden, klopfte an die Tür und sagte: „Kaufmann, öffne die Tür! Ich bin ein weitgereister Händler und suche Nachtquartier!“ „Ich habe selbst wenig Raum. Wo soll ich dich hintun?“ „Ich brauche nicht viel Raum. Die Färse bringe ich in die Wiegekammer, ich selbst lege mich auf den Ladentisch, den Schwanz unter den Ladentisch.“ Man ließ den Fuchs ins Haus. Am nächsten Tag stand er vor Morgengrauen auf, riß die Färse, fraß das Fleisch auf, warf die Haut und die Knochen aus dem Fenster und weckte den Wirt. „Wirt, Wirt, meine Färse ist weg! Was gibst du mir dafür? Gib mir das feine Ladenfräulein zur Braut!“ Der schlaue Ladenbesitzer sagte: „Ich würde sie dir gern geben, aber wie willst du sie von hier wegbringen?“ „Leg sie in einen Sack“, trug ihm der Fuchs auf. Der schlaue Kaufmann steckte aber statt des Ladenfräuleins einen Köter in den Sack. Der Fuchs hob den Sack auf den Rücken und ging. Er wollte nun anfangen zu singen, dachte aber dann: Ich habe ja eine Braut im Sack, mag sie doch singen. Der Fuchs befiehlt der Braut zu singen, die Braut singt aber nicht. Der Fuchs nimmt den Sack vom Rücken, zwickt sanft in den Sack und flötet süß: „Bräutchen, Zartes, es zwickt dich dein Bräutigam! Sing ihm ein Liedchen!“ 102
Aus dem Sack aber knurrte böse der Köter „Rrraaauh!“ Unser Reineke Fuchs verlor vor Schreck die Sprache, ließ den Sack, wo er war, und lief in den Wald. Der Köter aber zerbiß den Sack und trottete heim.
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27 Das Zeugnis des Hundes Man sagt oft von einem streitsüchtigen Ehepaar: „Sie raufen sich wie Hund und Katze.“ In alten Zeiten aber lebten Hund und Katze in sehr großer Freundschaft. Weshalb sie zu Todfeinden wurden, erzählt eine alte Geschichte. In alten Zeiten gerieten die Tiere wegen der Nahrung oft in Streit und erhoben vor dem Allvater schwere Klagen gegeneinander. Aus diesem Grunde befahl der Allvater allen Lebewesen, an einem bestimmten Tage zu ihm zu kommen. Zur festgesetzten Zeit versammelten sich auch alle Lebewesen vor dem Allvater. Da bestimmte er jedem Tier seine Nahrung, und damit es in Zukunft keinen Streit mehr gäbe, befahl er, dieses Gesetz bis in die Ewigkeit zu halten. Nur der Hund kam zu spät. Alle anderen Tiere waren schon weggegangen, als der Hund vor den Allvater trat und sich verbeugte. Der Allvater sagte: „Da du zu spät gekommen bist, kann ich dir nichts anderes versprechen als nur das, was vom Tisch des Hausherrn herunterfällt. Ernähre dich auf diese Weise.“ Da aber von den Tieren keins mehr anwesend war, das dieses Gesetz vor dem Hausherrn bestätigen konnte, bat der Hund den Allvater, ihm ein Zeugnis mitzugeben, was der Allvater auch tat. 104
Mit diesem Zeugnis ging der Hund nach Hause und füllte seinen Bauch mit dem Wenigen, was vom Tisch des Herrn herunterfiel. Der Herr wehrte dem auch niemals, sondern ließ stets den Hund die Reste aufsammeln. So brauchte der Hund vorerst das Zeugnis nicht. Da es für ihn aber beschwerlich war, das Zeugnis zu hüten, gab er es seinem besten Freund – der Katze – und sagte: „Du, alter Freund, hockst sowieso immer zu Hause, du hast genug Zeit; ich aber habe stets viel zu tun, mal mit der Herde, mal auf der Jagd, sogar in der Nacht muß ich draußen wachen. Und so kann das Zeugnis leicht verlorengehen. Nimm du es in deine Pfoten, damit ich es im Notfalle dem Herrn vorweisen kann.“ Die Katze nahm das Zeugnis und versprach, es sorgfältig aufzubewahren. Doch wer achtet auf fremde Sachen? Sobald der Hund weggegangen war, steckte die Katze das erhaltene Blatt in ein Rattenloch unter der Wand. Nach einigen Wochen, als sie wieder an dieser Stelle vorbeikam, war das Blatt nirgends mehr zu sehen; wahrscheinlich hatten es die Ratten weggebracht. Die Katze durfte aber den Hund nicht einmal merken lassen, daß sein Zeugnis verlorengegangen war. Im Herbst schlachtete der Herr ein Schwein, überbrühte die Borsten vor der Küche mit heißem Wasser und brachte dann das Schwein in die Stube, legte es mitten im Raum auf den Tisch und wollte mit dem Ausschlachten beginnen. Die Katze hockte auf dem Ofen, und der Hund schaute auf den Tisch, ob von dort nicht etwas für ihn herab105
fiele. Plötzlich glitt das Schwein dem Herrn aus den Händen und fiel vom Tisch herunter. Der Hund machte sich mit gutem Gewissen darüber. Der Herr versuchte, ihn mit dem Besenstiel zur Seite zu schieben. Der Hund aber widersetzte sich: „Alles, was vom Tisch herunterfällt, gehört nach dem Beschluß des Allvaters mir! Katze, hole das Zeugnis her!“, sagte er und zeigte auf die Katze. Da aber die Katze nichts zu holen hatte, schlich sie ängstlich zur Tür hinaus. Der Hund dachte, daß die Katze es im Angesicht des wütenden Herrn nicht wagte, ihm das Schreiben zu geben, und eilte deshalb gleich hinter der Katze her auf den Hof; hier verlangte er von der Katze wieder das Schreiben, aber die Katze sagte kein Wort. Da stürmte der Hund voller Wut auf sie los. Die Katze aber spuckte dem Hund in die Augen, schlug mit den Pfoten nach ihm, lief um die Hausecke in den Stall und ging seitdem nicht mehr in die Nähe des Hundes. Der Hund aber scheint es der Katze bis auf den heutigen Tag nicht vergessen zu haben. Da der Hund auch heute noch nicht weiß, wohin die Katze das Zeugnis gelegt hat, sucht er es überall und schnüffelt im Vorbeigehen an jedem Erdhügel und Strauch. Damit aber ein anderer Hund nicht an einer durchsuchten Stelle wieder zu suchen anfange, hebt er das Bein und beträufelt die durchsuchte Stelle; falls dann ein anderer Hund an dieselbe Stelle kommt, läßt er sie undurchsucht, hebt nach dem Beispiel des ersten 106
das Bein und gibt den nachfolgenden Hunden dadurch ein Zeichen, daß die Stelle wirklich durchsucht ist.
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28 Der Krieg der Vögel und der Insekten mit den Vierbeinern Der Bär wollte für seinen Wohnungsbau aus einem Schutthaufen einen Armvoll Spreu nehmen. Der Zaunkönig bat ihn: „Nimm nicht von hier, nimm aus einem anderen Haufen. Hier ist das Nest mit meinen Jungen drin!“ „Nana“, brummte der Bär, „allein meine Pfote ist größer als du mit allen deinen Schnäbeln und Beinen zusammen, und ausgerechnet du willst mich belehren!“ „Sei so groß, wie du willst, mein Nest aber laß dennoch unberührt!“ bat der Zaunkönig und flog mit gesträubtem Gefieder um die Nase des Bären herum. „Ich sehe, du willst mit mir die Kräfte messen“, sagte der Bär wütend. „Komm morgen auf den Berg Linnumägi. Dort soll der Kampf entscheiden, wer das Recht hat, etwas zu befehlen, und wer den anderen zu fürchten hat.“ Nun trieb der Bär alle vierbeinigen Waldbewohner auf dem erwähnten Berg zum Kampf zusammen. Als der Zaunkönig davon erfuhr, rief er alle Vögel und Insekten vom Adler bis zur Mücke herbei. Der Bär war mit seiner Streitmacht zeitig am Platz. Nach langen Besprechungen und Auseinan108
dersetzungen wurde der Fuchs zum Befehlshaber ernannt. Beim Übernehmen dieses Amtes reckte sich der Fuchs und sagte: „Während des Kampfes schaut alle auf meinen Schwanz. Wenn ich ihn hochhebe, ist der Sieg auf unserer Seite; lasse ich ihn hängen, ist Gefahr im Anzug. Wenn ich ihn aber ganz zur Erde senke, dann flüchtet. Denkt daran!“ Gegen Mittag langte auch der Zaunkönig mit seinen Leuten auf dem Kampfplatz an. Alle Vierbeiner waren schon kampfbereit. Der Fuchs stand abseits auf der Bergspitze, den Schwanz hoch erhoben. Die Vögel und die Insekten schauten auf ihre Gegner und fragten einander: „Wer weiß, weshalb der Fuchs mit erhobenem Schwanz abseits von den anderen steht?“ „Ich fliege hin und jage ihn von der Bergspitze hinunter,“ sagte die Wespe, „bis dahin bleibt alle auf der Stelle.“ Sie flog von hinten an den Fuchs heran und jagte ihm ihren Stachel unter den Schwanz, daß es schmerzte. Hui, wie da der Fuchs seinen Schwanz zwischen die Beine klemmte und mit Wehgeschrei in den Wald lief! Als die Vierbeiner das sahen, erschraken sie, und nun war jeder nur auf die Flucht bedacht. Auf diese Weise fiel der Sieg vollständig dem Zaunkönig zu. Ja, so ist es immer: Beim Prahlen noch ein großer Bär, Im Kampf reicht der Verstand nicht mehr. 109
29 Der Adler lehrt den Fuchs das Fliegen In alten Zeiten sagte der Fuchs zum Adler: „Hast du es aber gut! Du kannst hoch hinauffliegen, siehst von dort, wo die jungen Vögel laufen; siehst die ganze Welt und vieles andere. Könnte ich doch ein einziges Mal auch hinaufsteigen, es wäre für mich eine Erinnerung fürs ganze Leben.“ „Wenn du das wirklich willst, so komm auf meinen Rücken. Ich bringe dich nach oben in den Himmel, von wo du mit eigenen Augen alles überblicken kannst. Setz dich auf meinen Rücken, aber halte dich fest, damit du nicht hinunterfällst.“ Der Fuchs kletterte auf den Rücken des Adlers. Der Adler begann in Kreisen zu steigen und flog in die Wolken hinein. Dort aber drehte er seine Krallen nach oben und den Rücken nach unten und rief dabei: „Figuren, Figuren, Figuren!“ Der Fuchs konnte sich auf diese Weise nicht mehr halten, fiel hinunter und flehte dabei: „Herrgott, o Herrgott, lenke mich jetzt in einen Heuschober!“ Doch der alte Vagabund fiel auf einen Lattenzaun, so daß ihm das Rückgrat brach. Halbtot kroch er in einen Tann.
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30 Die Waldtaube und das Huhn In alten Zeiten, als die Menschen anfingen, Geflügel zu halten, wußten sie nicht, welchen Vogel sie zum Hausvogel nehmen sollten, die Waldtaube oder das Huhn. Da das Huhn größer war und einen schöneren Körper hatte, blieb man beim Huhn. Doch das Huhn legte damals nur zwei Eier mit einer rauhen, schorfigen Schale. Die Waldtaube aber legte sechs Eier mit einer schönen gelben Schale und kam jeden Tag zu der Hausfrau mit der Bitte, sie doch zum Hausvogel zu nehmen und das Huhn in den Wald zu schicken. Schließlich befahl auch die Hausfrau dem Huhn, in den Wald zurückzugehen, und schickte das Mädchen in den Wald, die Waldtaube zu rufen. Doch die Waldtaube war aufs Erbsenfeld gegangen und nicht zu Hause. Das Huhn begann im Walde bitterlich zu weinen und darüber zu klagen, daß es nun, da es nicht hoch fliegen könne, von den anderen auf der Erde lebenden Tieren und auch von den fliegenden Vögeln gefressen und ihr Geschlecht auf diese Weise aussterben werde. Da kam eine Amsel geflogen, und als sie das Huhn klagen hörte, lehrte sie es, die sechs gelben Eier der Waldtaube zu nehmen und die zwei eige-
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nen schorfigen Eier statt ihrer ins Nest hineinzulegen. Das Huhn freute sich. Es lief nach Hause, nahm die eigenen zwei schorfigen Eier, brachte sie in das Nest der Waldtaube, nahm deren sechs Eier heraus und brachte sie nach Hause in ihr Nest. Damit ihm die Waldtaube diese Eier nicht wieder wegnahm, ging das Huhn nicht mehr vom Nest herunter und brütete die Eier Tag und Nacht, dabei bat es den Herrgott flehentlich, daß er ihm auch solche Eier geben möge. Und, o Wunder, nach drei Wochen kamen aus den Eiern der Waldtaube sechs hübsche junge Hühner heraus. Das Huhn begann ebenfalls Eier mit so schöner gelber Schale zu legen und nicht nur sechs, und je mehr die Hausfrau dem Huhn zu fressen gab, um so mehr Eier legte es. So hatte der Herrgott das Huhn für nützlicher gehalten und seine Bitte erhört. Die Waldtaube klagt bis auf den heutigen Tag im Walde: „Nuu, nuu, nuu, ich hatte sechs goldene Eier, das Huhn zwei schorfige Eier, ja!“
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31 Die Heirat der Krähe Einst flog eine Krähe aus Järvamaa nach Harjumaa, um zu freien. Dort erzählte der Vogel der Braut und ihren Eltern, daß er ein reicher Mann sei und viele Getreidefelder und Getreideschober besitze, so daß er mit seinem Frauchen ein sorgloses Leben führen könne. Er lud den Vater und die Mutter der Braut zu sich ein und zeigte ihnen auf einem Feld in der Nähe seines Nestes Getreideschober und prahlte, daß sie alle ihm gehörten. Die Eltern der Braut flogen zurück nach Harjumaa, erzählten der Braut vom Besitz des Bräutigams und rühmten seinen Reichtum. Sie wollten einem so reichen Bräutigam ihre Tochter nicht vorenthalten, und die Tochter war auch bald einverstanden, dorthin zu ziehen. Durch eine Elster wurde dem Bräutigam die Nachricht zugeschickt. Bald fuhr der Bräutigam aus Järvamaa nach Harjumaa und holte seine junge Frau nach Hause. Die junge Frau begann sofort von den Getreideschobern zu kosten. Eines Morgens, als sich die junge Krähenfrau gerade am Getreideschober aufhielt, kamen Bauern mit Wagen heran und begannen das Getreide wegzufahren.
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Die junge Frau sah das und fing an zu schreien: „Jaak, Jaak, das Korn wird weggebracht, das Korn wird weggebracht!“ Der Krähenmann hörte das und sagte: „Jeder bringt das Seine weg. Der Reichtum der Krähe sind Würmer und schmackhafte Käfer.“
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32 Der Truthahn, die Ente und der Gänserich Diese drei Federpelzträger hielten einst Rat, wie sie mit ihrer schlechten Lage fertig werden und sie vielleicht verbessern könnten. Sie jammerten sehr darüber, daß die Menschen so erbarmungslos mit ihnen umgingen. Das schlechteste Essen bekamen sie und mußten außerdem im Winter bei strenger Kälte und bei Schnee stets barfuß gehen. So klagten sie einander ihr Leid und ihre Not und faßten schließlich den Entschluß, hinzugehen und ihre Klage dem Gouverneur von Riga vorzutragen. Am nächsten Tag vor Morgengrauen, als alle noch schliefen, waren unsere Bekannten schon unterwegs. Nachdem sie den ganzen Tag gewatschelt waren, kamen sie am Abend todmüde in einer Rathausschenke in der Nähe von Pärnu an – dort wollten sie übernachten. Sie traten in die Schenke ein und stolzierten feierlich zur Theke – voran die Gans, dann der Truthahn und zuletzt die Ente. Sowie sie an die Theke kamen, rief die Gans mit erhobenem Kopf und flügelschlagend in sehr klarer russischer Sprache: „Tawai piiwa!“, das heißt „Gib Bier!“. Kaum hörte es der Schenkwirt, ergriff er den Krug und wollte Bier holen gehen. Da rief der
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Truthahn und spreizte seinen schönen Schwanz: „Auf Borg, auf Borg!“ Der Schenkwirt hörte es, wurde böse und sagte: „Willst du Schwein damit vielleicht sagen, daß du es mir schuldig bleibst!“ Mit diesen Worten schlug er mit dem Rand des Kruges dem Truthahn auf den Kopf. Sowie die Ente sah, daß ein Streit auszubrechen drohte, rief sie schnell dazwischen: „Wirt, Wirt, zahle später, zahle später!“ Als der Schenkwirt das hörte, wurde er wieder freundlicher und sagte begütigend: „Na schön, das ist ein Wort, das läßt sich hören!“ Da dem Truthahn der Kopf von dem Schlag sehr schmerzte, unterbrachen sie ihre Reise nach Riga und beschlossen, nach Hause zurückzukehren. Wer es nicht glauben will, daß diese Geschichte wahr ist, dem kann auch heute noch der blaurote Kopf des Truthahns Zeugnis davon ablegen.
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33 Der Wettlauf des Krebses mit dem Fuchs Einst war in einer trockenen und heißen Zeit ein Bach fast vollkommen versiegt, so daß nur noch einzelne kleine Wasserlachen auf dem Grunde des Bachbettes standen. In einer kleinen Wasserlache lebte ein alter großer Krebs. Nur in der Nacht kam er aus seiner Lache heraus und tappte umher, am Tage aber schlummerte er wegen der Hitze in einer Höhle, die sich tief unter dem Ufer befand. Einmal, als er wieder herausgekrochen war, kam der Fuchs zu ihm und sagte: „Gehst du aber komisch, du armes Tier, nein, du gehst ja gar nicht, du tappst nur.“ „Du meinst wohl, du kannst besser gehen oder laufen“, sagte, ob solcher spöttischen Worte verärgert, der Krebs. „Ja, was denkst du denn“, erwiderte der Fuchs, „wenn ich nicht besser gehe und nicht schneller laufe als du, gibt es auf der Welt keine Gerechtigkeit mehr, und wenn du es nicht glauben willst, nun – dann machen wir doch einen Wettlauf!“ „Machen wir!“ sagte der Krebs. Als das Ziel des Wettlaufs wurde ein Punkt auf einem weit entfernten hohen Berg ausgemacht. Wer als erster dorthin gelangte, war der Sieger. 117
Als Belohnung für den Sieg versprachen beide, dem Sieger einen goldenen Stab zu geben. Sowie der Fuchs dem Krebs sein Hinterteil zuwandte, um mit dem Lauf zu beginnen, umklammerte der Krebs fest den Schwanz des Fuchses und ließ sich von ihm tragen, ohne daß dieser etwas merkte. Als der Fuchs in schnellem Lauf ans Ziel kam und sich dort umwandte, so daß der Schwanz gerade über dem Ziel hing, kletterte der Krebs vom Schwanz des Fuchses herunter, ging zum vereinbarten Ziel und sagte: „He, he, Freund! Du Prahler mit deinen fixen Beinen, bist du auch endlich angekommen! Ich warte schon lange auf dich. Siehst du es jetzt ein, daß ich mit meinem Herumtappen schneller ans Ziel gelangt bin als du mit deinen flinken Beinen? Nun merk es dir und prahle in Zukunft bei anderen Tieren nicht gleich wieder mit deinen schnellen Beinen, ohne es vorher geprüft zu haben.“ Der Fuchs schämte sich seiner Prahlerei und mußte dem Sieger Krebs, wenn auch mit großem Bedauern, den Siegespreis zahlen.
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34 Die Kriebelmücken und das Pferd An einem schönen Sommerabend weidete ein Pferd auf einem schmalen Wiesenstreifen, der von einem Wald umgeben war. Da sich der Wind am Abend legte, gab es sehr viele Kriebelmücken, und alle fielen sie über das arme Pferd her. Das Pferd ertrug sie tapfer und fraß weiter, wobei es mit dem Schwanz Hunderte von Kriebelmücken totschlug. Doch was kümmerte es die anderen Kriebelmücken – in Schwärmen bedrängten sie das Pferd. Das Pferd sah ein, daß die Sache überhand nahm, legte sich hin und wälzte sich. Als es sich niederlegte, waren die Kriebelmücken nur verblüfft, wurden aber dann wieder mutiger und versuchten erneut, mit noch größerer Kühnheit vorzudringen. Sobald sich das Pferd eine Weile herumgewälzt hatte, stand es wieder auf und schüttelte sich, um sich von der Erde und anderem Schmutz zu reinigen, der an ihm haften geblieben war. Die Kriebelmücken waren nun wie vor den Kopf geschlagen, sie zogen sich zurück, flogen hin und her und sprachen zueinander: „Ja, das waren Männer, nun fielen die Männer! Jemanden niederwerfen ist keine große Sache, aber das Leben nehmen, das ist schon schwerer. 119
Hätten wir einen Mann mehr gehabt, dann hätten wir dem Pferd auch das Leben nehmen können!“ Danach haben die Kriebelmücken gar manches Mal ein Pferd niedergeworfen, da ihnen aber jedesmal ein Mann fehlte, ist auch das Pferd glücklicherweise immer am Leben geblieben.
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35 Die Fliege und der Floh Die Fliege kam aus der Stadt, und der Floh ging in die Stadt. Am Fluß Jöksi trafen sie sich und begannen eine Unterhaltung. Der Floh fragte: „Warum gehst du weg aus der Stadt?“ Die Fliege antwortete: „In der Stadt, wo du hinwillst, schlagen sie mit Lederlappen, daß einem Hören und Sehen vergeht. Auf dem Lande findet man überall etwas zu essen.“ Der Floh sagte, er gehe in die Stadt, weil dort in den Matratzen gut zu schlafen sei: „Auf dem Lande werfen sich die müden Menschen so darauf, daß man gleich sterben kann.“
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36 Wie die Bohne einen schwarzen Streifen erhielt Ein Strohhalm, eine Kohle und eine Bohne gingen einst auf die Reise, denn wer viel wandert, der sieht auch viel. Sie waren schon durch mehrere Dörfer und Gemeinden gekommen und gelangten an einen Bach. Hier hielten sie an, um zu beraten, wie sie über den Bach gelangen sollten. Der Strohhalm sagte: „Ich werde mich quer über den Bach legen, ihr geht hinüber und zieht mich dann nach.“ Wie gedacht, so getan. Der Strohhalm legte sich quer über den Bach, so wie die Menschen die Balken legen, um hinüberzukommen, und die Kohle war die erste, die hinüberging. Als sie schon die halbe Strecke hinter sich hatte, schaute sie zurück, um zu sehen, was die Bohne am Ufer machte. Doch der Strohhalm brannte durch, die Kohle fiel ins Wasser und begann zu zischen. Die Bohne, die am Ufer war, lachte derart, daß sie platzte. Doch es kam ein Schneider an die Unglücksstelle und nähte mit schwarzem Garn den Riß zu. Deshalb haben jetzt alle Bohnen einen schwarzen Strich.
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37 Der Wind und die Sonne Ich habe von einer alten Russin gehört, der Wind und die Sonne hätten einst darüber gestritten, wer von ihnen einem Mann, der des Weges kommt, den Rock ausziehen könnte. Der Wind begann zuerst, denn er meinte, er würde den Mann aus seinem Rock herausschütteln. Er fing stark zu blasen an. Doch der Mann zog seinen Rock noch enger zusammen. Der Wind blies immer kräftiger. Der Mann suchte hinter den Sträuchern Schutz. Der Wind drückte die Äste der Sträucher sofort zu Boden. Der Mann hielt die Rockschöße fest und dachte nicht daran, den Rock auszuziehen. Dann sagte die Sonne: „Höre jetzt auf, deine Kraft zu zeigen. Ich zeige dir, wie man dem Mann den Rock auszieht.“ Da legte sich der Wind, und die Sonne begann zu scheinen. Der Mann stand hinter dem Strauch auf und ging weiter seines Weges. Zuerst öffnete er sein Gurtband. Die Sonne schien noch wärmer. Da zog er seinen Rock aus, band ihn mit dem Gurtband zusammen, nahm ihn auf die Schulter und ging weiter. Die Sonne sagte: „Sieh, so zieht man dem Mann den Rock aus. Du aber mit deinem stolzen Sinn und Trotz schaffst gar nichts.“ 123
So ist auch bis auf den heutigen Tag die Kraft der Sonne größer geblieben als die des Windes.
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Zaubermärchen 38 Die sieben Brüder Einst lebten tief in einem Wald, in einer abgelegenen Gegend, sieben Brüder. Ihre Eltern waren schon vor längerer Zeit gestorben. Sie hatten keinen anderen Menschen bei sich, auch keine Frau, sie waren alle Junggesellen und verrichteten jede Arbeit selbst, sei es Männer- oder Frauenarbeit. Als sie alle ins Heiratsalter kamen, begannen sie ans Freien zu denken. Da sie aber keine bekannten Frauen hatten, beschlossen sie, in die Welt zu gehen und sich Frauen zu suchen. Es wurde ausgemacht, daß die sechs älteren Brüder auf die Suche gehen und zugleich auch für den jüngeren Bruder, der solange den Haushalt führen sollte, eine Frau mitbringen. Die Reise begann. Als Verpflegung nahm jeder einen Rucksack voll Brot mit, und sie machten sich auf die Wanderung in die Fremde. Der Weg führte sie durch einen großen Wald. Tief im Walde, am Wegrand, stand eine verfallene Kate. Als die Wanderer, die sechs Brüder, näher herankamen, sahen sie, daß auf der Schwelle der Kate ein grauhaariger Alter saß. Sowie der Alte die jungen Männer sah, fragte er: „Wohin des Weges, junge Männer?“
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„Wir wollen uns Frauen suchen“, gaben ihm die jungen Männer zur Antwort. „Na schön“, sagte der Alte, „dann bringt mir halt auch eine mit, aber eine ganz junge und mollige!“ Die jungen Männer lachten und sagten: „Selbst grau wie eine Nachteule und will noch eine Frau, und zudem eine junge und schöne!“ So über den Alten lachend, gingen die jungen Leute weiter und gelangten nach einiger Zeit in eine fremde Stadt. Dort betraten sie gleich das erste Haus und erzählten den Hausleuten, weshalb sie unterwegs waren. Das Glück war ihnen hold, daß der Wirt eben dieses Hauses sieben Töchter hatte. Die jungen Männer brachten sofort ihre Werbung vor, die sowohl von den Mädchen als auch von ihren Eltern freundlich aufgenommen wurde. Als der Handel abgeschlossen war, nahmen die jungen Männer gleich die Frauen mit, und zwar alle sieben (die siebente sollte für den jüngsten Bruder sein, der zu Hause geblieben war). Als sie auf dem Rückweg wieder an der Kate vorbeikamen, vor der der graue Alte gesessen hatte, trafen sie ihn wieder auf der Türschwelle sitzend an. Sobald der Alte die Wanderer kommen sah, stand er auf und eilte den jungen Männern entgegen, die nun sieben Frauen bei sich hatten. „Sehr schön, daß ihr auch mir eine mitgebracht habt“, sagte der Alte froh gelaunt.
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„Freue dich nicht, Alter! Sie ist nicht für dich, sondern für unseren jüngsten Bruder, der zu Hause geblieben ist“, sagten die jungen Männer. Daraufhin trat der Alte an die Männer und Frauen heran, berührte sie mit einem grauen Stock und murmelte einige Zauberworte. Sofort verwandelten sich alle in graue Steine. Das jüngste Mädchen aber, das der jüngste Bruder bekommen sollte, nahm der graue Alte mit in seine Kate als seine Frau. Mit der Zeit wurde es der Frau in der Kate langweilig, und sie klagte fortwährend: „Was soll ich hier im Walde tun, ich langweile mich schrecklich.“ Der Alte sagte: „Tut nichts! Sollte ich einmal sterben, nimm diesen grauen Stock und stoße damit gegen die grauen Steine, die vor der Kate stehen, dann erwachen alle deine Schwestern und Schwäger wieder zum Leben, und du kannst mit ihnen fortgehen. Nur, ich lebe ohne Herz, ich werde wohl niemals sterben.“ Daraufhin fragte das Mädchen: „Wo ist denn dein Herz?“ „Muß ich es dir denn sagen?“ antwortete der Alte. „Na gut, ich sage es dir“, fügte er hinzu, „mein Herz ist im Schlafkissen drinnen.“ Die Frau gab sich damit zufrieden. Der Alte ging aus dem Hause in den Wald. Die Frau pflückte viele schöne Rosen und schmückte mit ihnen das Bett. Als der Alte nach Hause kam und das Bett mit Rosen geschmückt sah, fing er an zu lachen: „Was hast du denn jetzt gemacht!“ 127
„Ich wollte das Herz des Alterchens erfreuen“, entgegnete die Frau. „O du Dumme, wessen Herz wird denn im Kissen sein!“ sagte der Alte. Am nächsten Morgen fragte das Mädchen wieder nach dem Herzen des Alten: „Sag, wo ist dein Herz?“ „Muß ich es dir denn sagen! Na gut, ich sage es dir schon, damit du ein gutes Kind bist: Mein Herz ist in der großen Zimmertür“, erwiderte der Alte. Sobald er wieder vom Hause fortging, sammelte das Mädchen viele bunte Federn, machte eine Krone und schmückte mit ihr die Tür zum großen Zimmer. Als der Alte nach Hause kam und die Krone über der Tür sah, fing er wieder laut zu lachen an: „O du Dumme, mein Herz ist doch nicht in der Tür!“ Als das Mädchen das hörte, fing es an zu weinen und fragte schluchzend den Alten: „Sag mir doch endlich, wo dein Herz ist!“ „Muß ich es dir denn sagen? Nun gut, ich sage es dir, damit du ein gutes Kind bist: Mein Herz ist in einem Vogel, der Vogel ist in einer Kirche, die weit, weit von hier entfernt steht.“ Wieder ging der Alte vom Hause. Inzwischen kam der jüngste Bruder mit einem Wanderstab in der Hand, er wollte die anderen Brüder suchen. Als er zu dieser Kate kam, fragte die junge Frau, die gerade davor saß, den jungen Mann: „He, junger Mann, wohin des Weges?“ „Traurig ist meine Geschichte, und schwach ist meine Familie“, sagte der junge Mann. „Ich hatte 128
sechs Brüder, sie sind gegangen, um Frauen zu suchen und wollten auch mir eine mitbringen, da ich inzwischen den Haushalt versorgte. Ich habe lange auf sie gewartet, aber sie kommen und kommen nicht. Ich weiß nicht, vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen?“ „Wenn die Dinge so liegen, dann komm und iß mit mir zu Mittag, ich will dir etwas erzählen“, sagte das Mädchen. Der junge Mann ging in die Kate, aß mit dem Mädchen zusammen zu Mittag und hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Das Mädchen aber berichtete: „Hier in dieser Kate lebt ein alter grauer Mann, der gerade nicht zu Hause ist. Er hat deine Brüder und die Mädchen, die sie sich zu Frauen ausgewählt hatten, mit seinem Stock berührt, und da wurden sie sofort zu grauen Steinen. Ich, die jüngste meiner Schwestern, war auch darunter, aber mich hat der Alte nicht berührt, sondern als seine Frau in sein Haus genommen, und so blieb ich allein in meiner menschlichen Gestalt. Da ich gegen den Alten nichts ausrichten konnte, mußte ich gegen meinen Willen seine Frau werden und mit ihm zusammen in dieser schmutzigen Hütte wohnen. Die Langeweile tötet mich beinahe, gern wäre ich von hier weggegangen, aber ich weiß, daß ich es nicht kann. Der Alte, der sehr hinter mir her ist, könnte mich verfolgen und mich mit seinem Zauberstab berühren, so daß auch ich, ebenso wie meine Schwestern und deine Brüder, zu einem grauen Stein werde. Auch lebt der Alte 129
ohne Herz und denkt nicht mal daran zu sterben. Aber ich weiß, daß sich sein Herz nach seinen eigenen Worten in einem Vogel befindet, und darum wünsche ich, daß dieser Vogel gefangen und sein Herz herausgenommen werde, damit der Alte dann stürbe und ich auf diese Weise frei käme. Deshalb bitte ich dich, lieber junger Mann, geh und suche diesen Vogel, und wenn du ihn findest, so fange und töte ihn und bringe mir das Herz hierher. Ich weiß wohl, daß sich dieser Vogel sehr weit von hier, in einer Kirche, aufhält, aber ich hoffe, daß du ihn findest.“ Nachdem das Mädchen diese Geschichte erzählt hatte, legte sie dem jungen Mann Brot und andere Reisezehrung zurecht und begleitete ihn auf den Weg. Als der junge Mann ein Stück gegangen war und der Hunger sich meldete, öffnete er seinen Reisesack, breitete auf der Erde ein Tuch aus und machte sich ans Essen. Bevor er jedoch ein Stück Brot in den Mund steckte, rief er: „Hei, wer mein Gast sein will, der soll kommen und mit mir essen!“ Sofort kam ein Auerochse zu ihm, ließ sich auf den Boden nieder und begann mit dem jungen Mann zu essen. Als der Hunger gestillt war, leckte er mit der Zunge sein Maul sauber und sagte zu dem jungen Mann: „Wenn du einmal Hilfe brauchst, dann rufe mich!“ Darauf verschwand er.
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Nachdem auch der junge Mann gegessen hatte, legte er das restliche Brot in seinen Reisesack zurück, nahm ihn auf den Rücken und wanderte weiter. Als er glaubte, die Essenszeit sei wieder gekommen, und er zur Sicherheit seinen Schatten abgeschritten hatte, um die Zeit festzustellen, nahm er erneut seinen Reisesack vor und machte sich ans Essen. Bevor er jedoch ein Stück Brot zum Munde führte, rief er: „Hei, wer mein Gast sein will, der soll kommen und mit mir essen!“ Sofort kam ein großes Wildschwein angelaufen und sagte: „Ich höre, hier wird zum Essen gerufen. Warst du es, der gerufen hat?“ „Ja, ich war es“, sagte der junge Mann. „Sei so gut und iß mit mir zu Mittag!“ Das Wildschwein begann sofort mit dem jungen Mann zu essen. Nachdem es gegessen hatte, sagte es: „Wenn du einmal Hilfe brauchst, dann rufe mich“, und lief davon. Auch der junge Mann war mit dem Essen fertig, er verschloß wieder seinen Reisesack, nahm ihn auf den Rücken und setzte den Weg fort. Als es Abend wurde und der junge Mann sich zum Abendessen niederließ, rief er wieder: „Hei, wer mein Gast sein will, der soll kommen und mit mir essen!“ Sofort kam eine riesengroße Eule mit einem solchen Schwung angeflogen, daß es dunkel wurde, und sagte: „Ich höre, hier wird zum Essen gerufen. Warst du es, der gerufen hat?“ 131
„Ja, ich war es,“ antwortete der junge Mann und forderte die Eule auf, mit dem Essen zu beginnen. Als die Eule gesättigt war, sagte sie: „Wenn du einmal Hilfe brauchst, dann rufe mich“, und flog davon. Der junge Mann beendete ebenfalls sein Mahl und legte sich nieder, um zu schlafen. Am Morgen, nachdem er aufgewacht war, setzte er die Wanderung fort. Bald erblickte er in der Ferne die gesuchte Kirche. Voller Freude und in großer Eile ging der junge Mann weiter, um endlich an die Kirche zu kommen. Doch, o Jammer! Plötzlich kann er nicht mehr weiter, vor ihm fließt ein großer Fluß. Was tun? Der junge Mann schaut sich um und überlegt hin und her, es gibt aber keinen Übergang. Er erinnert sich der Ereignisse des gestrigen Tages und der Worte des großen Auerochsen: „Wenn du Hilfe brauchst, dann rufe mich!“ In Gedanken an den Auerochsen überlegt er: Wenn dieser Ochse jetzt hier wäre, der würde diesen Fluß austrinken! – Und im selben Augenblick war der Auerochse zur Stelle, trank den Fluß leer und ging seines Weges. Der junge Mann gelangte trocknen Fußes über das Flußbett und wanderte weiter. Die Kirche war schon ganz nahe, doch plötzlich ist wieder ein Hindernis da. Eine hohe Mauer steht vor ihm, er kommt nicht weiter. Der junge Mann denkt: Wäre das große Wildschwein hier, das gestern mit mir zusammen ge132
gessen hat, es würde die Mauer umstoßen! Und auch das Wildschwein war sofort zur Stelle. Es durchbrach die Mauer, daß man hätte mit Pferd und Wagen hindurchfahren können. Der junge Mann ging durch die Mauer weiter zur Kirche. Das Wildschwein durchbrach auch die Kirchenmauer, und der junge Mann ging ungehindert hinein. In der Kirche sah er einen Vogel hin und her fliegen. Aber was sollte er tun? Der Vogel war auf keine Weise zu fassen! Der junge Mann denkt: Wäre die Eule hier, die gestern mit mir gegessen hat, die würde ihn fangen! Sofort war die Eule da, fing den Vogel ein und brachte ihn dem jungen Mann. Er nahm den Vogel unter den Arm und machte sich auf den Weg zur Kate, wo das Mädchen wohnte, das ihm befohlen hatte, den Vogel zu suchen. Der Rückweg dauerte nur halb so lange wie der Hinweg. Als er zur Kate kam, war der Alte wieder einmal weggegangen. Das Mädchen erwartete ihn aber bald zurück. Es riet dem jungen Mann, sich vor dem Alten zu verstecken und unter das Bett des Alten zu kriechen, was der junge Mann auch tat. Der Alte kam bald darauf nach Hause und klagte der Frau: „Mein Herz tut mir so weh. Ich weiß nicht, ob es nicht doch ans Sterben geht“, und legte sich auf das Bett, unter dem sich der junge Mann versteckt hatte. Der junge Mann drückte den Vogel, und sofort stöhnte auch der Alte im Bett. Je stärker der junge Mann unter dem Bett den Vogel zusammenpreßte, desto lauter stöhnte 133
der Alte. Schließlich erwürgte der junge Mann den Vogel endgültig und – der Alte im Bett war ebenfalls tot. Da kam der junge Mann unter dem Bett hervor, nahm den grauen Stock des Alten, den ihm das Mädchen reichte, und berührte damit die grauen Steine, die vor der Kate standen und in die der Alte durch Zauberei seine sechs Brüder und ihre in der Fremde gefundenen Frauen verwandelt hatte. Bei der ersten Berührung durch den Zauberstab wurden sie wieder zu Menschen und zum Leben erweckt. Alle von der Zauberei befreiten Brüder des jungen Mannes und ihre Frauen waren voller Freude, und nun gingen die sieben Brüder mit ihren Frauen nach Hause und lebten glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute und ebenso glücklich weiter.
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39 Die drei geraubten Königstöchter Ein Fleischergeselle geht des Weges. Da liegt plötzlich ein toter Ochse am Wegrand. Und ein Löwe zerrt ihn zu sich auf seine Seite, ein Jagdhund wieder auf die seine, ein Adler ebenfalls auf seine Seite und auch eine Ameise auf ihre Seite. Sie bitten den Fleischergesellen: „Lieber Mann, teile den Ochsen zwischen uns auf!“ Der Geselle sagt: „Ich bin ja Fleischer, ich verstehe das Aufteilen.“ Und er teilte auf: Den Körper bekam der Löwe, die Beine und den Kopf bekam der Jagdhund, die Innereien der Adler und den Abfall die Ameise. Dann setzte der Geselle seinen Weg fort. „Wie konnten wir nur so undankbar sein!“ Und sie rufen den Gesellen zurück. Der Löwe gibt ihm ein Haar aus seinem Fell: „Wenn du dieses Haar anlegst, bist du neunundneunzigmal stärker als ich.“ Auch der Jagdhund gibt ihm ein Haar: „Wenn du dieses Haar anlegst, läufst du neunundneunzigmal schneller als ich.“ Der Adler gibt ihm eine Feder: „Wenn du dir diese Feder ansteckst, fliegst du neunundneunzigmal schneller als ich.“ Die Ameise sagt: „Was soll ich geben?“, und gibt ihr langes Bein. „Wenn du es anlegst, bist du 135
neunundneunzigmal kleiner als ich, als ein Floh oder ein Staubkörnchen.“ Der Geselle kommt in eine Stadt und hört dort, daß die Königstochter eine Vergnügungsreise unternehmen will. Über das Meer kommt aber ein böses Ungeheuer, es hatte schon früher zwei Königstöchter geraubt. Der Geselle geht hin und sagt, daß er mit auf die Reise gehen möchte. Sie kommen zum Meeresstrand, es kommt aber auch das böse Ungeheuer, nimmt die Königstochter aus dem Wagen und macht sich mit ihr davon. Der Fleischergeselle steckt die Adlerfeder an und fliegt hinterher. Sie kommen zu einem Berg. Die Tür zum Berg ist verschlossen, man kann nicht hinein. Der Fleischergeselle legt das Bein der Ameise an – und wird so klein, daß ihm ein Loch von der Größe eines Nadelöhrs genügt, er gelangt hinein. Das Ungeheuer hatte sich schlafen gelegt. Die Königstochter sitzt am Tisch und weint. Der Fleischergeselle nimmt das Ameisenbein ab und steht vor ihr. Er sagt: „Weine nicht, ich will dich retten!“ Die Königstochter fragt: „Wie kannst du mich denn retten?“ Der Geselle zeigt es ihr. Er legt das Fellhaar des Löwen an. An der Wand hängt ein ungeheuer großes Schwert. Er nimmt das Schwert von der Wand und schwingt es. Die Königstochter ängstigt sich, denn wer kann auch so ein großes Schwert bewegen. Er schlägt dem Bösewicht den Kopf ab. Da springt ein Fuchs heraus.
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Der Fleischergeselle legt sofort das Haar des Jagdhundes an und läuft hinterher. Er ergreift den Fuchs. Der Fuchs beginnt sich zu wehren, und der Fleischergeselle zerreißt ihn. Da fliegt ein Vogel heraus. Sofort steckt der Fleischergeselle die Feder an und fliegt nach. Er zerreißt den Vogel, da fällt ein Schlüsselbund heraus. Sowie er die Schlüssel bewegt, sieht er eine Kupferstadt vor sich, und dort findet er auch die ältere Königstochter. Dann schüttelt er wieder die Schlüssel, und schon befindet er sich in der Silberstadt. Und hier findet er die mittlere Tochter. Nun gehen sie zu dritt zu der jüngsten Tochter. Dann verschafft sich der Geselle Kraft, steckt sich die Adlerfeder an, und sie fliegen los. Er bringt die Königstöchter über das Meer. Er gibt dem König zwei seiner Töchter zurück und erbittet sich die jüngste zur Frau. So wird er zum Schwiegersohn des Königs und zum Erben des Königreichs. Fest steht, daß die Hochzeit schön war. Ich habe dort so getanzt, daß ich mir dabei mein Bein verletzt habe.1
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Auch der Erzähler hatte ein beschädigtes Bein (Anmerkung des Aufzeichners).
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40 Der Soldat freit eine Königstochter In einer großen und siegreichen Schlacht war ein Soldat mit seinem Truppenteil kämpfend tief in das Feindesland eingedrungen, um zu zerstören und zu rächen. Als alles getan war, kehrte die ganze Armee mit der Kriegsbeute in die Heimat zurück. Aber jener Soldat schlief fest und träumte noch, als die anderen schon längst auf dem Heimweg waren. Endlich wird er wach und sieht sich allein im fremden Land; er überlegt schnell und macht sich dann ebenfalls auf den Heimweg. Doch nach drei Tagen Wanderung kommt er an eine Stelle, wo drei Wege abzweigen. An jedem Weg steht ein Pfosten mit einer Aufschrift. Auf dem ersten Pfosten steht: „Wer diesen Weg geht, wird im Feuer verbrennen.“ Auf dem anderen: „Wer diesen Weg geht, wird im Wasser ertrinken.“ Auf dem dritten steht: „Wer hier entlanggeht, wird durch das Schwert getötet.“ Da glaubt der Mann mit seinem Verstand zu Ende zu sein, nun ist guter Rat teuer – es sind alles schreckliche Tode! Schließlich kommt er zu sich: Sei tapfer, das Schwert hat uns zu großem Sieg geführt, es ist daher kein Wunder, wenn ich den Weg des Schwerttodes wähle. Und das tat er auch. 138
Also schritt er tapfer vorwärts auf dem Weg des Schwerttodes, bis er die Türme einer großen Stadt erblickte. Doch alles ist ihm hier fremd und unbekannt! Er beginnt bei den Leuten nach dem Namen der Stadt zu forschen und erfährt, es sei die Hauptstadt eines großen Königreiches. Nachdem sich der Soldat einige Zeit in der Stadt aufgehalten hatte, schmolz sein Geld immer mehr zusammen, und darum erkundigte er sich bei den Einwohnern, wo er einen passenden Dienst finden könnte. Nun wurde dem Soldaten berichtet, daß er beim König einen Posten erhalten könnte, der königlich bezahlt würde, wenn er das Verlangte zu vollbringen vermochte. Der Soldat begab sich also zum König, um zu erfahren, welcher Art die Stellung sei. Und der König berichtete ihm: „Meine einzige Tochter hat in der ganzen Welt bekanntgegeben: ‚Es sollen Königssöhne und andere mutige Männer kommen, um im Laufe einer Nacht meinen Weg zu bewachen und um festzustellen, wohin ich gehe. Wem das gelingt, der wird mich zur Frau bekommen. Wer es aber nicht vollbringt oder nur zur Hälfte vollbringt, läßt seinen Kopf auf dem Stadtwall unseres Königs zur Abschreckung für noch andere mutige Narren, von denen man dort schon viele sehen kann.’“ Der König spricht dann weiter und warnt den Soldaten, diesen Versuch zu unternehmen. Der mutige Kriegsmann jedoch bleibt bei seiner Bitte und bietet sich für den Dienst an. Da sich der Sol-
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dat gar nicht mehr davon abbringen läßt, sagt ihm der König, er soll am Abend zum Dienst kommen. Der Soldat geht zufrieden weg und denkt: Heißa, der angenehmste Dienst der Welt! Als Bezahlung ein Reich und eine Königstochter! Mir ist das Wachestehen natürlich bekannter als den Narren von Königssöhnen, deren Köpfe dort zum Trocknen ausgestellt sind. Der Abend kam, und der Soldat ging zum Dienst. Der König zeigte ihm den Ort der Wache: „Stehe hier vor dem Schlafzimmer der Königstochter und berichte mir morgen früh über den nächtlichen Weg meiner Tochter, denn in diesem Haus ist das die einzige Tür. Nun gute Nacht und viel Glück!“ Freudig vollführt der Soldat mit dem Gewehr, das ihm der König gegeben hatte, seine Wachund Kriegskünste, bis alles still wird und die Lichter verlöschen. Jetzt kommt die Königstochter zum ersten Mal zum Vorschein, betrachtet ihren Wächter von Kopf bis Fuß und sagt: „Oh, du hast es aber recht schwer, hier in der Kälte die ganze lange Nacht zu wachen. Ich werde dir ein Glas Medizin gegen die Kälte geben, die ist immer noch das beste Labsal für einen Soldaten.“ „Ich danke auch für Eure Freundlichkeit“, sagt der Soldat, nachdem er getrunken hatte. Bei sich selbst denkt er: Eine Königstochter und dabei so freundlich und schön. Und ich werde hier der Herrscher des Reiches sein, dieses Glück darf an 140
mir nicht vorübergehen. Ich wache, und wenn es notwendig ist, kämpfe ich auch. Ich lasse nicht nach, was auch geschieht! Bei so erfreulichen Aussichten und Gedanken übermannte ihn die Schläfrigkeit. Sie begann ihn furchtbar zu quälen, und der Soldat dachte bei sich: Ich setze mich ein wenig hin vor die Tür und erhole mich. Wenn aber die Königstochter, diese Rose, zur Tür hinausgehen sollte, spüre ich es von weitem, schon am Geruch, und springe hoch. Doch darin irrte er sich gründlich! Sowie er sich setzte, versank er in tiefen Schlaf und fiel vor der Tür nieder. Nun schaute die Königstochter siegesfroh durch die Tür und sagte: „Du elender ehrgeiziger Wicht! Die anderen sind schon vom Geruch meines Schlafmittels wie tot eingeschlafen. Und du glaubst, trinken und dabei noch auf den Beinen bleiben zu können!“ Mit diesen Gedanken schleppte sie ihn an den Beinen von der Tür weg und trat auf den Gang. Der Soldat schlief wie tot bis zum späten Morgen, so lange, bis der König ihn selbst wecken kam und zu ihm sprach: „Stehe auf, mein elender Schwiegersohn, und bereite dich auf den Tod vor, damit dein närrischer Kopf schnell neben die anderen närrischen Köpfe kommt.“ Erschrocken begriff der Soldat, was passiert war, und stand stumm vor dem König. Allmählich erholte er sich von dem Schreck und sagte: „Verehrter Herr König! Es ist nicht ehrenvoll von Euch, 141
dem Herrscher eines so großen Reiches, auf diese Weise einen Soldaten zu töten. Es würde Euch vielmehr zur Ehre gereichen, wenn Ihr es mit mir noch einmal versuchtet und Eure Tochter dann wieder Sieger bliebe. Gewährt mir die Gnade und erlaubt mir, noch zwei Nächte bei Eurer Tochter zu wachen, so wie es in unserem Reiche immer Brauch war, daß nämlich alle größeren Versuche dreimal durchgeführt werden, dann erst ist der Sieg unbestritten und vollständig.“ Diese Rede wirkte auf den König, und er sagte: „Da du so viel von Ehre und Ungerechtigkeit zu schwatzen weißt, will ich dir deinen Wunsch erfüllen, obwohl es dir wenig nützen wird. Wache denn noch zwei Nächte, aber feilsche dann mit keinem Wort mehr um deinen Kopf!“ Mit diesen Worten ging der König, und der Soldat machte sich auf in die Stadt, um seine schlechte Laune verwehen zu lassen. Er lief bis zum Abend umher und ging dann wieder auf seinen Platz zur Wache. Auch dieses Mal verlief seine Nachtwache ebenso, wie wir es schon vom ersten Mal kennen. Nun machten diese zweite unglückliche Wache und des Königs ernste Worte vom Sterben den Soldaten so sorgenvoll, daß ihn all die Schönheiten der Stadt nicht mehr berührten und er wie blind immer nur vorwärts lief, bis ihn eine Stimme aus seinen Gedanken aufschreckte und er die Frage vernahm: „Soldat! Bist wohl ein Fremder in dieser Stadt, und welche Sorge quält dich?“
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Nun schaut der Soldat auf und sieht einen grauen Alten vor sich stehen. „Väterchen! Ich komme von da und da“, und so erzählt der Soldat dem Alten alle seine Erlebnisse von Anfang bis zu Ende und fügt auch hinzu, daß morgen um die gleiche Zeit sein Kopf schon auf der Mauer sein wird. Der alte Mann hört sich alles sehr teilnehmend an und sagt dann: „Du Unglücklicher! Diesen Dienst kann kein Sterblicher vollbringen, und du könntest es nicht, auch wenn du wach geblieben wärest. Denn die Königstochter gelangt mit Hilfe eines Zaubers in Gestalt eines Schmetterlings an einen Ort, zu dem ein Mensch unmöglich gelangen kann. Aber paß auf, was ich dir sage. Gehe zum Fleischer und kaufe dir eine Blase. Und wenn du am Abend auf Wache gehst, dann bringe dir die Blase vor den Lippen so an, daß du den Schlaftrunk, den dir die Königstochter wieder geben wird, unbemerkt in die Blase gießen kannst. Dann wirst du sehen, wohin sie geht.“ Mit diesen Worten ging der Alte einige Schritte weiter und verschwand dann. Der Soldat hätte sich gern bei dem Alten bedankt oder noch einiges gefragt, aber er war nicht mehr da. So ging er sofort zum Fleischer, um den Rat zu befolgen. Er probierte und richtete so lange, bis er mit seiner Kunst zufrieden war. Am Abend tritt die Königstochter ebenso wie vorher zu einer Zeit, da die anderen Menschen schon schlafen, aus ihrem Zimmer heraus und reicht dem Soldaten die Erfrischung. Doch diesmal 143
gießt der Soldat sie in die kunstvoll angebrachte Blase, dankt jedoch ebenso wie früher. Sobald die Königstochter fortgeht, setzt sich der Soldat, aber nicht mehr vom Schlaf bezwungen, sondern aus Schlauheit, nieder. Später legt er sich hin, stellt sich schlafend und schnarcht. Die Königstochter sieht das, kommt voller Freude heraus, schiebt seine Beine zur Seite, geht den Gang entlang, öffnet eine geheime Luke und steigt eine Treppe hinunter. Der Soldat sieht das, steht leise auf und horcht, ob alles unter dem Fußboden ruhig ist. Das ist der Fall. Er geht zur Luke, öffnet sie, nimmt das Gewehr in die Hand und beginnt die Treppe hinabzusteigen. Zu Anfang ist der Weg schmal und dunkel, doch schließlich wird er breiter, und vor seinen Augen öffnet sich eine ganz andere Welt, es herrscht aber völlige Stille. Nun schreitet er schnell vorwärts, um die Königstochter einzuholen, bis ein Quieken und Krächzen ihn zum Stehen zwingt. Der Soldat ruft mit fester Stimme, man soll still sein oder aber ihm sagen, was der Lärm bedeutet. Eilig laufen drei winzige Männlein auf ihn zu und fangen gleich an zu schreien und durcheinander zu reden. Doch der Soldat kann kein Wort verstehen. Er schlägt mit dem Gewehrkolben auf den Boden und sagt: „Seid jetzt sofort still, und nur der redet, den ich frage!“
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Dann sagt er zu einem Zwerg: „Sprich du, was macht ihr hier für einen Lärm, die anderen aber halten das Maul!“ Nun beginnt das Männlein zu erzählen: „Unser Vater wurde alt und starb, und wir, seine drei Söhne, streiten uns wegen der Erbschaft. Der eine will sie für sich, und der andere will sie auch für sich. Deshalb der Streit. Sei du, Soldat, so gut und halte Gericht, wer das Erbe des Vaters erhalten soll.“ Der Soldat fragt: „Worin besteht denn die Erbschaft des Vaters?“ Das Männlein antwortet: „Ein Paar Stiefel, eine Mütze und ein Stock.“ Der Soldat sagt: „Es nimmt ein jeder eine Sache für sich, und damit gebt ihr euch zufrieden.“ Aber die Männlein fangen erneut zu krakeelen und zu lärmen an. Der Soldat stampft mit dem Fuß auf und befiehlt Ruhe. Dann fragt er wieder denselben Zwerg: „Warum tut ihr nicht so, wie ich befehle?“ Der antwortet: „Diese Sachen kann man niemals trennen. Dann haben sie keine Macht mehr.“ Der Soldat fragt: „Welche Macht besitzen sie denn?“ „Die Stiefel“, erklärt der Zwerg, „haben die Macht, daß dem, der sie anzieht und dabei denkt: Wenn ich jetzt da und dort wäre – sein Wunsch sofort erfüllt wird. Die Mütze wiederum ist so: Wenn du sie aufsetzt, kannst du in der größten Menschenmenge sein, und keiner wird dich sehen. Und den Stock, den brauchst du nur loszuschrau145
ben, und schon kommen drei kräftige Männer heraus, die in Windeseile die größte Armee besiegen können.“ „Sehr gut“, sagte der Soldat. „Jetzt verstehe ich euren Streit und will die beste Entscheidung treffen. Ich werde einen Schuß abgeben, und wer mir von euch die Gewehrkugel am schnellsten zurückbringt, der bekommt alle Sachen. Wenn ihr mit dieser Entscheidung zufrieden seid, dann macht euch für den Lauf bereit.“ Alle drei schrien: „Eine sehr gute Entscheidung!“ Der Soldat legte das Gewehr an – ein Schuß, und die Zwerge liefen in Windeseile davon, um die Kugel zu holen. Der Soldat tat jetzt, was das Nächstliegende war. Er nahm die Stiefel, zog sie an, setzte die Mütze auf, nahm den Stock in die Hand und dachte: Könnte ich jetzt dort sein, wo die Königstochter ist! O Wunder, im selben Augenblick fand er sich in einem großen, prächtigen Saal wieder. Er sieht: die Königstochter sitzt hier mit dem Königssohn der Unterwelt am Tisch, trinkt teuren Wein und unterhält sich mit ihm. Der Königssohn hat gerade die Gläser gefüllt und schiebt das eine der Königstochter zu. Der Soldat nimmt das Glas, das für die Königstochter bestimmt ist, trinkt es in einem Zug aus und stellt es leer auf den Tisch. Das macht er dreimal.
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Über diesen schlechten Scherz erbost sich die Königstochter sehr und verlangt von dem Königssohn der Unterwelt eine Erklärung, warum er sie mit einem leeren Glas narrt. Dann geht sie böse und ohne sich zu verabschieden davon. Der Soldat, der das alles tut und sieht, denkt: Wenn ich jetzt auf meiner Wachstelle wäre!, und dies geschieht augenblicklich. Schließlich kommt die Königstochter durch die Luke nach oben, wo der Soldat sie freudig begrüßt. Wegen all dieser Ereignisse war die Königstochter schlechter Laune. Vor allen Dingen ärgerte es sie, daß sie jetzt die Frau eines niederen Mannes werden sollte. Sie wollte dem Vater nicht die Wahrheit sagen, doch der Soldat erzählte alles, was er bei dem Königssohn der Unterwelt gesehen hatte. Nur das Leeren des Glases und die Geschichte mit den Zwergen behielt er für sich. Es wurde im ganzen Lande bekanntgegeben, daß der König nunmehr einen Schwiegersohn gefunden hat, was bisher unmöglich gewesen war, und daß er alle Hohen und Niederen zur Hochzeit einlädt. Vier Wochen dauerte das Hochzeitsfest in Überfluß und Herrlichkeit, und gegen Ende der Hochzeit versprach der König allen Hohen und Niederen, daß nach seinem Tode die Herrschaft über das Land in die Hände des Schwiegersohnes übergehen sollte. Die Anwesenden waren damit zufrieden. Nun lebte der arme Soldat im Königsschloß in Überfluß und Reichtum, doch seine Frau zeigte 147
sich ihm gegenüber immer kühl und begann ihn auszuforschen, wie es ihm gelungen war, ihr Geheimnis von der Unterwelt zu erfahren. Nach langem Drängen erzählte er ihr sein Erlebnis mit den kleinen Männlein, und daß er diese Sachen auch heute noch in einem Schrank aufbewahre. Eines Tages nahm die Königstochter diese Sachen aus dem Schrank, betrachtete sie, schraubte dann den Stock auf, und sofort sprangen aus dem Stock drei Recken heraus und fragten: „Was ist zu tun?“ Die Königstochter befahl: „Werft meinen Mann aus unserem Reich hinaus, mehr will ich nicht von euch.“ Sofort wird der Befehl ausgeführt, und der Schwiegersohn des Königs findet sich nach längerer Bewußtlosigkeit in einem sehr großen Moor wieder, in dem er bis zum Hals drinsteckt. Da nimmt er seine ganze Kraft zusammen, hebt und streckt sich so lange, bis es ihm endlich nach vielen Bemühungen gelingt, sich herauszuarbeiten. Er erholt sich bald von seinem Schrecken und geht am Moor entlang auf die Wanderschaft, um sich etwas zum Essen zu suchen. Nach langem Wandern findet er auf einem Mooshügel schwarze Beeren, die pflückt und ißt er. Der Soldat denkt: Wenn ich wenigstens Beeren finde, werde ich nicht verhungern. Jetzt wird er durstig, geht und sucht Wasser, findet aber keins. Endlich sieht er in der Ferne einen klaren Bach, geht hin, beugt sich zum Trinken, doch zu seinem 148
Entsetzen blickt ihn ein schwarzer Kopf mit schrecklichen Hörnern aus dem Wasser an. Nach mehrmaligem Hinschauen erkennt er schließlich, daß er selbst der Gehörnte ist. Jetzt stöhnt er: „O ich Unglücklicher! Sollte ich mich jemals von diesem schrecklichen Ort retten, so darf ich mich doch mit meinen Hörnern nirgends mehr vor den Menschen zeigen. Nun bin ich verloren.“ In solchen Gedanken irrt er umher und sieht abseits wieder Beeren, aber die sind rot. Er pflückt sich auch von diesen Beeren, ißt sie, und hebt sich ebenso wie von den ersten einen Vorrat auf. Auch nach dem Genuß dieser Beeren bekommt der Mann Durst, geht zu der Quelle zurück, beugt sich zum Trinken, und zu seinem großen Erstaunen schaut ihn jetzt der Kopf eines sehr hübschen jungen Mannes an. Er prüft nochmals das Bild und begreift, daß ihn die Beeren jedesmal verwandelt haben. Der Mann legt die beiden Beerenarten wie einen teuren Schatz getrennt in ein Tuch und setzt seine Wanderung mit großer Mühe fort, um aus der einsamen Gegend herauszukommen, was ihm auch nach einigen Tagen Wanderung gelingt. Er kommt in ein kleines Dorf und forscht nach dem Ort, dem Reich und nach dem Namen der Hauptstadt. Doch sie ist hier so gut wie unbekannt. „Da du ein gesunder, hübscher junger Mann bist, kannst du vielleicht, wenn du schnell gehst, 149
in etwa zehn Tagen die Hauptstadt erreichen, aus unserem Dorf ist noch keiner dort gewesen.“ Nach dieser Auskunft macht sich der junge Mann auf den Weg in die Hauptstadt, und am zehnten Tage erreicht er sie auch. Er geht in eine Herberge, um sich von der Müdigkeit zu erholen. Am nächsten Morgen steht er auf, nimmt die im Moor gefundenen schwarzen Beeren und erscheint unter dem Fenster der Königstochter, um ihr diese zum Kauf anzubieten. Sowie die Königstochter den hübschen jungen Mann sieht, kauft sie ihm die Beeren für einen hohen Preis ab und sagt: „Junger Mann, komm bald wieder, um mir mehr Beeren zu verkaufen. Ich werde dir stets den höchsten Preis bezahlen.“ Der junge Mann dankt und geht. Nun machte sich die Königstochter an die Beeren und aß sie bis zur letzten Beere auf, denn sie schmeckten ihr ausgezeichnet. Gerade hatte sie die letzte aufgegessen, als eine Dienerin ins Zimmer trat. Doch wie ein Blitz rannte sie aus dem Zimmer hinaus, verschloß die Tür und schrie: „Hilfe! Hilfe! Ein schreckliches Hornvieh hat unsere Königstochter gefressen und sitzt statt ihrer auf dem Stuhl vor dem Tisch!“ Auf diesen Schrei hin liefen alle Hohen und Niederen aus dem Schloß herbei, auch der König selbst, und sie sahen, daß es stimmte. Nun herrschte große Verwirrung im Hause. Die Königstochter war zunächst sehr erstaunt und verärgert und heischte: „Mit welchem Recht dürft ihr meine Ruhe stören?“ 150
Der König fragt: „Bist du meine Tochter? Schau in den Spiegel, was für schreckliche Hörner du auf dem Kopf hast!“ Jetzt wendet sie sich einem Spiegel zu. O Schreck! Sie schreit und weint, faßt sich an die Hörner, um sie abzubrechen, doch es geht nicht, sondern tut ihr nur weh. Nun herrschte im Hause des Königs tiefe Trauer! Der König erließ einen Befehl, daß alle Ärzte des Reiches beim König zu erscheinen haben. „Wem es gelingt, meine Tochter zu heilen, der wird nach meinem Tode König über das Reich und erhält auch meine Tochter zur Frau.“ Die Ärzte kamen wohl zu Tausenden, jeder machte seinen Versuch, doch alles blieb erfolglos. Als unser junger Mann hörte, daß alle Versuche fehlgeschlagen waren, ging er in ein Geschäft, wählte sich die schönsten Doktorkleider, machte sich zurecht und ging dann zum König. Er sagte, er komme von sehr weit her und heile nur die Krankheiten der Könige und Fürsten, die ihr Wort halten und den Preis nicht ändern. Sowie der König und seine Tochter das hörten, waren sie guter Dinge und versprachen, alle seine Wünsche zu erfüllen. Daraufhin befahl der junge Doktor dem König: „Baue mir fünf Werst hinter der Stadt eine Kate auf, in ihr sollen zwei Stühle, ein Tisch, ein Spiegel und einige Dutzend frischer Faulbeerbaumruten sein. Wenn ich dorthin zur Behandlung fahre, gibst du mir fünfzig Musikanten mit, außerdem einen Wagen mit vier vorgespann151
ten Pferden und einem Kutscher auf dem Bock, damit er mir im Notfalle zur Hand sei.“ Der König versprach, noch heute für alles zu sorgen, gab dem Tischler und allen anderen die notwendigen Befehle, und noch vor dem Abend war alles fertig. Am nächsten Tag erscheint der junge Doktor, setzt sich mit seiner Gehörnten in den Wagen und fährt zur Kate, wo schon fünfzig Musikanten auf ihn warten. Dem Kutscher befiehlt er, vor der Kate mit den Pferden zu warten, begleitet die Kranke hinein, befiehlt, die Musikanten zu rufen, tritt selbst hinein, schließt ab und beginnt sein Doktoramt. Zuallererst befiehlt er streng: „Kleider ‘runter!“ Der Befehl wird ausgeführt. Jetzt packt der Arzt die Königstochter an den Hörnern und beginnt sie mit den Faulbeerbaumruten zu bearbeiten, so viel, wie sie aushalten kann, bis sie ihn schließlich auf den Knien anzuflehen beginnt. Nun geht er daran, sie nach allem Bösen auszufragen, was sie ihrem Mann angetan hat und was ihr die Macht dazu gegeben hat. Die Königstochter bekennt alle ihre Sünden und sagt, daß der Stock, die Mütze und die Stiefel auch jetzt noch vorhanden seien. Der Doktor tadelt sie und fragt, ob sie, falls sie genese, weiterhin solche Gedanken ihrem Manne gegenüber haben würde. „Denn ich habe nur die Macht, dich zu heilen, wenn du alles versprichst. Geh, setze dich in die 152
Kutsche und bringe mir die Zaubergegenstände hierher. Dann mache ich dich sofort gesund.“ „Ich will alle deine Forderungen erfüllen“, sagte die Königstochter, „wenn ich nur diese schrecklichen Hörner loswerde.“ „So fahre denn!“ Mit diesen Worten begleitete er sie zur Kutsche, und nach einigen Minuten war sie zurück mit den bekannten Gegenständen, die der Doktor in einem Kasten verschloß. Dann gab er ihr die roten Beeren zu essen, die er im Moor gefunden hatte. Als der Doktor ihr dann befahl, in den Spiegel zu schauen, sah sie sich zu ihrer Freude sehr schön und jünger, als sie vorher war. Sie dankte von Herzen dem Doktor und versprach, daß sie ihm als ihrem Liebsten bis zum Tode treu sein werde. So fuhren die beiden schönsten Menschen zum Königshaus, wo sie mit großer Freude und mit Glückwünschen empfangen wurden. Der König rief alle Hohen und Niederen zur Hochzeit, die fast sechs Wochen dauerte. Nach dem Tode des Königs lebten sie glücklich, und das ganze Volk liebte sie. Doch die Stiefel, die Mütze und der Stock gingen verloren, und es ist bis auf den heutigen Tag nicht bekannt, wo sie hingeraten sind.
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41 Die goldene Katze Ein Gutsherr hatte drei Töchter. Er ging in die Kirche und befahl den Töchtern inzwischen das Essen zu bereiten. Die älteste Tochter lief in den Wald, um Kartoffeln zu holen. In einer Kartoffelfurche erblickte sie eine schöne goldene Katze. „Na warte, die könnte schön in unserem Zimmer spielen!“ sagte das Mädchen und begann der Katze nachzujagen. Die Katze aber lief zum Waldrand und verwandelte sich dort in einen jungen Herrn, der das Mädchen in sein Haus einlud, sie soll doch kommen und sehen, was für schöne Zimmer es dort gibt. Das Mädchen erwiderte: „Ich habe keine Zeit, ich muß nach Hause und Kartoffeln für das Mittagessen bringen.“ „Das dauert nicht lange, und unsere Zimmer sind sehr schön.“ Das Mädchen glaubte ihm und ging mit. Sie sahen sich alle Zimmer an. In ein Zimmer gingen sie aber nicht hinein; es hatte eine goldene Türklinke, einen goldenen Schlüssel und ein goldenes Schlüsselloch. „In dieses Zimmer darfst du niemals hineingehen, es ist das schönste Zimmer. Wenn du aber 154
trotzdem hineingehst, mußt du sterben. Ich gehe jetzt auf eine Reise, sieh zu, daß bis zu meiner Rückkehr das Essen fertig ist.“ Er ging weg und verschloß die Tür. Das Mädchen bekam große Lust, sich auch das schönste Zimmer anzusehen. Mit dem goldenen Schlüssel schloß sie die Tür auf: Mitten im Zimmer stand ein Holzklotz, im Klotz steckte ein großes Beil, und in einer Ecke lag ein Stapel Menschenköpfe, in der anderen ein Stapel Körper, und in der dritten stand ein Kübel voll Blut. Der Schlüssel fiel dem Mädchen aus der Hand und wurde blutig. Sie versuchte wohl, ihn zu reinigen, aber er glänzte nicht mehr. Der Herr kam nach Hause. „Warum hast du meinen Befehl nicht befolgt!“ schrie er. „Warum bist du in das schönste Zimmer gegangen?“ Das Mädchen leugnete es. „Zeige mir den Schlüssel!“ Der Mann erhielt den Schlüssel und tobte weiter: „Komm vors Gericht!“ Er faßte das Mädchen, schleppte es in das Zimmer, legte es auf den Klotz und schlug ihm mit dem großen Beil den Kopf ab. Die zweite Tochter ging in den Wald, um Kartoffeln zu holen. Wieder lief in der Kartoffelfurche die goldene Katze. „Es wäre sehr hübsch, wenn sie in unserem Zimmer spielen würde!“ sagte das Mädchen und wollte die Katze fangen. 155
Die Katze lief weg, das Mädchen hinterher; plötzlich wurde aus der Katze ein junger Herr. Er lud das Mädchen in sein Haus ein, um ihm zu zeigen, was für schöne Zimmer er habe. „Ich habe keine Zeit; ich muß nach Hause und Kartoffeln für das Mittagessen bringen.“ „Das ist doch nicht weit; es braucht nicht viel Zeit, komm und schau sie dir an.“ Schließlich ging das Mädchen mit. Sie sahen sich die Zimmer an. Sie waren alle sehr schön. Endlich kamen sie zum Zimmer mit dem goldenen Schlüssel. Der Herr sagte: „Das ist das schönste Zimmer, doch dahinein darfst du niemals. Ich gehe jetzt aus dem Haus, sieh zu, daß bis zu meiner Rückkehr das Essen fertig ist.“ Das Mädchen wollte ebenfalls das schönste Zimmer sehen. Es öffnete die Tür, sah in einer Ecke den Stapel Menschenköpfe, in der anderen den Stapel Körper, in der dritten den Kübel mit Blut; mitten im Zimmer aber stand ein Holzklotz, im Klotz ein großes Beil. Dem Mädchen fiel der Schlüssel aus der Hand und wurde blutig. Wohl hat es ihn gereinigt, doch der Schlüssel wurde nicht mehr sauber. Der Herr kam nach Hause. „Warum hast du meinen Befehl nicht befolgt?“ tobte er. „Warum bist du in das schönste Zimmer gegangen?“ Das Mädchen leugnete es. „Zeige mir den Schlüssel!“ 156
Das Mädchen gab ihm den Schlüssel, und der Herr schrie: „Komm vors Gericht!“ Er ergriff das Mädchen, schleppte es ins Zimmer, legte es auf den Klotz und schlug ihm den Kopf ab. Die dritte Tochter ging hinaus, um aus dem Walde Kartoffeln zu holen, und es verlief alles genauso, bis der Herr sagte: „Ich gehe jetzt auf Reisen. Sieh zu, daß bis zu meiner Rückkehr das Essen fertig ist. Aber hüte dich, das schönste Zimmer zu betreten!“ Das Mädchen bereitete das Essen, stellte es auf den Tisch, dann öffnete es mit dem goldenen Schlüssel die Tür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Im Zimmer sah es, daß seine beiden Schwestern getötet waren. Es ging hinaus, nahm den Schlüssel aus der Tasche und verschloß die Tür. Der Herr kam nach Hause, fand das Essen auf dem Tisch und hatte gute Laune. „Bist du auch nicht im schönsten Zimmer gewesen?“ fragte er. „Nein“, antwortete das Mädchen. „Zeige mir den Schlüssel!“ Der Schlüssel war sauber. Der Herr wurde noch besser gelaunt. Beim Essen fragte das Mädchen schlau: „Wie ist es am leichtesten, einen Menschen zu töten?“ „Was ist schon dabei! Den Kopf auf einen Holzklotz und mit einem großen Beil abgehauen.“
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Das Mädchen fragte wieder schlau: „Ja, es ist wohl leicht, Menschen zu töten, aber sie wieder lebendig machen, das kann man nicht.“ „Sie lebendig zu machen, ist noch leichter: den Kopf an den Hals gelegt, drei Tropfen Lebensblut zwischen die Zeigefinger und aufgetan, und der Mensch ist wieder lebendig.“ Nach dem Essen sagte der Herr: „Ich lege mich jetzt schlafen, inzwischen fülle diesen Sack mit Geld, ich bringe ihn deinem Vater zum Lohn, weil du mich so gut bedient hast.“ Der Herr legte sich schlafen. Das Mädchen ging in das schönste Zimmer, erweckte dort ihre Schwestern wieder zum Leben und schickte sie weg. Daraufhin machte sie eine Strohpuppe, setzte sie neben den Ofen und gab ihr Stricknadeln in die Hand. Dann schlüpfte sie selbst statt des Geldes in den Sack. Der Herr stand auf, hob den Sack auf den Rükken und sagte zu der Strohpuppe: „Daß mir das Essen fertig ist, wenn ich zurückkomme.“ So brachte er den Sack mit dem Mädchen heim. Als er zurückkehrte, fand er die Strohpuppe immer noch vor dem Ofen sitzen. „Aha, du willst mir nicht gehorchen! Komm vors Gericht!“ Er faßte das Strohbündel unter den Arm, schleppte es in das schönste Zimmer und schlug ihm ein Stück ab, daß das Stroh nur so umherflog.
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42 Der König von Tagutsemaa Einst gab der König unseres Landes ein großes Fest, zu dem er die höchsten Herren sowie die niedrigsten Bettler und viele Fremde einlud. Ein Bettler fand auf dem Wege zum Fest des Königs einen wunderschönen Vogel. Er brachte ihn dem König zum Geschenk. Der freute sich darüber so sehr, daß er dem armen Bettler große Ehren erwies. Der König ließ für den Vogel einen Käfig anfertigen und hängte ihn in seinem Speisezimmer an der Decke auf. Als der König wieder einmal am Mittagstisch saß, trat aus dem Käfig ein feiner Mann heraus – der Vogel hatte sich in einen Menschen verwandelt. Der König erschrak. „Einen Vogel habe ich in den Käfig gesetzt und jetzt“, sprach der König, „kommt da ein Mensch heraus.“ „Fürchte dich nicht vor mir – ich bin der König von Tagutsemaa1„, sagte der unerwartete Fremde. „Ich habe viel von dir gehört und bin gekommen, um endlich einmal dich selbst zu besuchen.“ Bald wurden sie Freunde. Der König unseres Landes zeigte dem fremden König seine Dörfer 1
Tagutsemaa – Hinterreich.
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und Städte. Schließlich bat der König von Tagutsemaa den König unseres Landes, er möchte doch sein Königreich besuchen. Der König unseres Landes willigte ein. Unterwegs verwandelte sich der König von Tagutsemaa in einen Vogel und forderte unseren König auf, sich auf seinen Schwanz zu setzen, was dieser auch tat. Der König von Tagutsemaa zeigte nun unserem König viele fremde Länder. Das erste Königreich war Editsemaa1, das zweite Keskpaigamaa2 und das allerletzte Tagutsemaa, aus dem der fremde König stammte. Als nun unser König einige Zeit im fremden Lande gelebt und es kreuz und quer durchreist hatte, beschloß er, wieder nach Hause zurückzukehren. Beim Abschied schenkte ihm der König von Tagutsemaa zur Erinnerung ein kleines Kästchen und sagte dabei: „Du darfst dieses Kästchen nicht eher öffnen, als bis du zu Hause bist. Gehe dann auf einen offenen großen Weideplatz, stelle dich auf einen großen Stein, und dann erst darfst du das Kästchen öffnen.“ Sie verabschiedeten sich voneinander, und unser König begab sich auf den Heimweg. Der Weg war weit und langweilig; der König hatte große Lust, das Kästchen zu öffnen, und schließlich tat er es auch.
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Editsemaa – Vorderreich. Keskpaigamaa – Mittelreich.
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Aus dem Kästchen fiel ein kleines Städtchen heraus, das sich sofort in eine große und schöne Stadt verwandelte, in der sich unser König alsbald mittendrin befand. Der König ging in der Stadt umher: Überall war alles reichlich vorhanden, doch nirgends eine Menschenseele. Beim Betrachten der vielen Schönheiten der Stadt kratzte sich der König hinterm Ohr und bedauerte, daß er das Kästchen gerade hier geöffnet hatte und so des Geschenkes – der Stadt – verlustig gegangen war. „Na, macht nichts, deshalb gehört sie doch mir, und ich kann sie jederzeit besuchen“, dachte der König und wollte aus der Stadt hinaus und nach Hause gehen. Aber das hatte er sich so gedacht! Es führte kein Weg aus der Stadt hinaus. Der König ging in der Stadt umher, konnte aber keinen Ausgang finden. So wanderte er ein halbes Jahr in der Stadt herum. Eines Tages, als die Sonne wieder einmal untergegangen war, war der König sehr traurig und dachte: Wie froh wäre ich, wenn ich vor meinem Tode noch einen lebendigen Menschen zu sehen bekäme. Plötzlich sah er von weitem ein kleines graues Männchen auf sich zukommen. „Warum bist du so traurig?“ fragte der Alte den König. „Ich habe mich verirrt und komme nicht mehr aus der Stadt hinaus“, antwortete der König und berichtete ihm von seinen Erlebnissen.
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„Ich kann dich aus der Stadt hinausführen“, entgegnete der Alte. „Doch was erhalte ich für meine Mühe?“ „Alles, was du dir selber wünschst“, sagte der König. „Nichts Besonderes, versprich mir nur deinen ersten Sohn.“ Obwohl es dem König schwerfiel, sein Versprechen zu halten, wollte er doch nicht wortbrüchig werden, denn er hatte ja dem Alten alles versprochen, was der sich nur wünschte. So gelobte er, den Wunsch des Alten zu erfüllen. Der Alte nahm den König an die Hand, brachte ihn an den Stadtrand und sagte: „Stadt, winzige, schrumpfe zusammen!“ Die Stadt wurde sofort klein und ging wieder in das Kästchen hinein. Der König machte sich gleich auf den Weg und gelangte glücklich heim. Dort ging er sofort auf den Weideplatz und ließ die Stadt aus dem Kästchen heraus. Zu Hause erzählte er seiner Frau von seinem Mißgeschick und sagte, daß er für seine Rettung dem Alten, der ihn aus der Stadt geführt hatte, seinen ersten Sohn versprochen habe. Kaum hatte der König geendet, als der Alte schon vor ihm stand, um den Sohn zu holen. Der König hielt Wort: Er gab dem Alten seinen Sohn. „Drei Kinder von Christenmenschen habe ich schon“, sagte der Alte beim Abschied. „Jetzt bekam ich das vierte und kann nun das Haus bauen, ich stelle jeden unter eine Ecke des Hauses.“ 162
Der Alte brachte seine Beute nach Hause – in die Hölle –, denn er war der Teufel. Am nächsten Tag gab der Alte seinem Pflegesohn eine Arbeit auf: „Du mußt“, sagte er, „die Brache umpflügen, Getreide darauf säen, bis morgen reifen lassen, schneiden, dreschen, zur Mühle tragen und morgen früh aus diesem Korn gebackenes Brot auf den Tisch bringen. Wenn nicht – wird dein Kopf auf dem Klotz fallen.“ Der Königssohn war sehr traurig. Was sollte er tun, woher Hilfe bekommen? Eine Christenmenschentochter, die bereits lange beim Teufel in Gefangenschaft war, sah seine Trauer, und als sie von der Bedrängnis des Königssohnes erfuhr, sagte sie: „Sei nicht traurig, ich will dir helfen. Nimm diese kleine Pfeife.“ Sie drückte dem Königssohn eine kleine silberne Pfeife in die Hand. „Geh aufs Feld“, sprach sie, „blase dreimal in diese Pfeife, dann bekommst du endlos viele Helfer: Pflüger, Säer, Schnitter, Getreidedrescher und Müller.“ Der Königssohn ging aufs Feld und machte alles so, wie es ihm das Christenmädchen gesagt hatte. In drei Stunden war alles fertig. Am nächsten Morgen brachte der Königssohn das Brot dem Alten, der sich sehr zu freuen schien. „Sieh, mein Junge, das war eine Mannestat, die du geleistet hast. Jetzt erhole dich einen Tag,
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dann bekommst du neue Arbeit“, sagte der Teufel. Einen Tag später erhielt der Königssohn eine andere Aufgabe. Er mußte in einer Nacht über den Peipussee eine Brücke bauen, über die der Gehörnte am Morgen mit einem Sechsergespann hinüberfahren wollte. Wieder war der Königssohn voller Sorgen und hilflos; schließlich ging er zu dem Christenmädchen und bat es um Hilfe. Das Christenmädchen befahl ihm, ans Seeufer zu gehen und auf der Silberpfeife zu pfeifen, dann würden genug Helfer da sein. Bald darauf war der Königssohn am Seeufer und blies in die Silberpfeife, daß der Wald nur so widerhallte. Sofort kamen von allen Seiten Arbeiter in Schwärmen heran, und in drei Stunden war die Brücke fertig. Der Königssohn ging nach Hause und erzählte dem Christenmädchen, daß die Brücke fertig sei. „Lauf schnell zurück“, sprach sie. „Auf der Brücke springt gerade ein Greis umher. Pack ihn bei der Gurgel und wirf ihn in den See! Tust du das nicht, bricht die Brücke am Morgen zusammen, ehe der Gehörnte hinübergefahren ist.“ Der Königssohn eilte sofort zurück und sah, daß auf der Brücke ein Alter trällernd von einem Bein aufs andere hüpfte. Er faßte ihn beim Schöpf, warf ihn in den See und ging nach Hause.
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Am nächsten Morgen fuhr der Gehörnte im Sechsergespann über die Brücke und fand sie ganz in Ordnung. Am Abend rief der Teufel den Königssohn zu sich und sagte: „Deine Arbeit ist gut! Ich will dir noch eine dritte Aufgabe stellen; wenn du auch die erfüllst, sollst du mein Schwiegersohn werden. Geh morgen früh in meinen Pferdestall, hole den schwarzen Hengst heraus, setze dich auf seinen Rücken und reite auf ihm so lange, bis er müde wird. Bring ihn dann zurück und komm selbst zu mir. Ich will dich zu meinem Schwiegersohn machen, wenn du alles so erfüllst, wie ich es dir befohlen habe.“ Traurigen Sinnes verließ der Königssohn den Teufel; er wußte, daß der schwarze Hengst kein anderer als der Teufel selbst war. Wenn das Christenmädchen bisher Rat gewußt hatte, so mußte es ihm auch jetzt helfen. „Diesmal hilft die Silberpfeife nicht mehr“, sagte das Christenmädchen. „Geh zum Schmied, bestelle dir einen eisernen Gürtel, sieben Paar Hämmer, sieben Paar eiserne Rutenbündel und einen eisernen Zaum. Lege den Gürtel um und stecke die Hämmer und Ruten in den Gürtel. Sowie du am Morgen dem Pferd auf den Rücken gesprungen bist, hau sofort dem Hengst mit dem Hammer auf den Kopf und mit den Rutenbündeln auf den Hintern; wenn die Hämmer und Rutenbündel zu Ende gehen, wird auch der Hengst müde sein.“
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Am nächsten Morgen holte der Königssohn den Hengst aus dem Stall. Der Hengst schrie und schlug aus wie ein Wilder. Mit großer Mühe gelang es dem Königssohn, auf seinen Rücken zu kommen. Der Hengst flog wie der Wind über alles, was ihm in den Weg kam, der Königssohn saß auf seinem Rücken und schlug ununterbrochen mit den Hämmern auf den Kopf und mit den Rutenbündeln auf den Rücken. Sie waren schon durch zahllose Länder geritten, als schließlich der Hengst zu Boden fiel. Da waren auch die Hämmer des Königssohnes zu Ende, aber ein Ende vom Rutenbündel war noch übriggeblieben. Damit stach er dem Hengst das linke Auge aus und ging nach Hause. Am nächsten Morgen kam der Gehörnte mit traurigem Gesicht und verbundenem linken Auge aus dem Zimmer. „Mein Junge“, sprach der Teufel, „deine Arbeit hast du ehrlich verrichtet, nun sollst du mein Schwiegersohn werden. Morgen sollst du dir deine Braut unter meinen drei Töchtern auswählen.“ Der Königssohn wollte aber die Töchter des Teufels nicht haben, er liebte das Christenmädchen. Er ging zu ihr, um sich von ihr raten zu lassen. „Morgen wird uns der Teufel in ganz gleiche Tauben verwandeln. Er wird dir befehlen, dreimal um die Tauben herumzugehen und dir danach eine auszuwählen. Ich werde meinen linken Flügel ein wenig herabhängen lassen; bist du dreimal herumgegangen, dann zeige auf mich.“ 166
Am Tage der Brautwahl verwandelte der Teufel seine zwei Töchter und das Christenkind in Tauben. „Geh dreimal um die Tauben herum und wähl dir dann eine aus“, sagte der Teufel zum Königssohn und entfernte sich etwas von den Tauben. Der Königssohn ging dreimal um die Tauben herum und bemerkte bald, daß bei einer von ihnen ein Flügel etwas herabhing. Auf diese zeigte er und sagte: „Die gehört mir!“ „Nein, mein Junge, so geht es nicht“, sagte der Teufel, „dreimal mußt du werben.“ Am nächsten Tag verwandelte der Teufel die Mädchen in Pferde. Vorher aber hatte das Christenmädchen gesagt, daß das Pferd mit einem grauen Haar im Schweif sie selbst sein werde. Der Königssohn ging schon zweimal um die Pferde herum und sah kein graues Haar. Beim dritten Mal endlich bemerkte er das graue Haar, freute sich sehr und zeigte auf dieses Pferd: „Die gehört mir!“ sagte er. Der Satan spuckte aus. „Morgen wählst du zum letzten Mal. Auf die du morgen zeigst, die gehört dir“, kreischte der Satan, ging aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, daß die Wände der Hölle wackelten. Am dritten Tag verwandelte er sie in schöne Mädchen, die von oben bis unten mit einem schwarzen Schleier bedeckt waren. Das Christenmädchen hatte dem Königssohn vorher gesagt, sie werde diejenige sein, deren Schleier sich am Munde etwas bewegen wird. 167
Der Königssohn hatte es sehr schwer, das Christenmädchen zu erkennen. Schließlich sah er einer an, daß ihr Schleier sich etwas bewegte, und er zeigte auf diese. Der Teufel ärgerte sich derart, daß er im Gesicht blau wurde wie ein Kesselboden und sieben Tage krank war. Er hatte gehofft, daß der Königssohn eine seiner Töchter nehmen würde. Er befahl, die Hochzeit zu feiern, doch selbst kam er mehrere Tage nicht heraus. Das junge Paar nutzte diese Zeit für sich – es flüchtete nach Hause. Bald waren sie unterwegs. Am dritten Tag sagte die junge Frau zu ihrem Mann: „Wir werden verfolgt. Ich bin die Herde, sei du der Hirte. Wenn jemand fragt, ob du einen Mann und eine Frau hast vorbeigehen sehen, dann antworte: ‚Ich habe sieben Jahre die Herde gehütet und habe keinen vorbeigehen sehen.’“ Kaum hatte der Mann sich in den Hirten und die Frau in die Herde verwandelt, da kamen schon des Teufels Söhne und fragten: „Hast du einen Mann und eine Frau vorbeigehen sehen?“ „Ich habe sieben Jahre die Herde gehütet und habe keinen vorbeigehen sehen.“ Die Söhne des Teufels kehrten nach Hause zurück, und der Königssohn mit seiner jungen Frau zog weiter. „Wo ist der Königssohn und seine Frau? Warum habt ihr sie nicht mitgebracht“, donnerte wütend der Teufel. „Wir haben keinen gesehen außer einer Herde und einem Hirten am Weg“, erwiderten die Söhne. 168
„Ihr Ochsen! Dieser Hirte und die Herde, das waren doch der Königssohn und seine Frau. Geht und nehmt sie sofort fest“, befahl der Teufel. Als der Königssohn mit seiner Frau wieder eine Strecke gegangen war, sagte die Frau plötzlich: „Wir werden verfolgt, sei du der Pastor, und ich bin die Kirche. Wenn jemand fragt, ob du einen Mann und eine Frau hast vorbeigehen sehen, dann antworte: ‚Ich bin schon sieben Jahre Pastor, aber ich habe niemanden vorbeigehen sehen.’“ Kaum hatte sich der Königssohn in einen Pastor und seine Frau in eine Kirche verwandelt, kamen auch die Söhne des Teufels zum Pastor und fragten: „Hast du nicht einen Mann und eine Frau vorbeigehen sehen?“ „Ich bin schon sieben Jahre Pastor, habe aber keinen vorbeigehen sehen.“ Die Söhne des Teufels kehrten um, zurück in die Hölle. Das junge Paar aber setzte eiligst seinen Heimweg fort. „Nun, wo ist der Königssohn?“ schrie der Teufel. „Wir haben ihn nicht gesehen, nur ein Pastor war an einer Stelle in der Kirche“, antworteten die Söhne. „Oh, ihr Lümmel, was habt ihr denn geglotzt, als ihr den Pastor gesehen habt – er war der Königssohn, und die Kirche war seine Frau. Ihr Tölpel! Kommt, wir wollen sie festnehmen.“ Nach einiger Zeit sagte die Frau des Königssohnes: „Wir werden vom alten Teufel und von seinen Söhnen verfolgt. Sei du ein Erpel, ich aber ein 169
See. Wenn jemand fragt, ob du einen Mann und eine Frau vorübergehen gesehen hast, antworte: ‚Ich bin sieben Jahre auf dem See geschwommen, habe aber niemanden vorübergehen sehen.’“ Kaum hatte sich der Königssohn in einen Erpel und seine Frau in einen See verwandelt, da kam schon der Teufel selbst und fragte: „Hast du einen Mann und eine Frau vorbeigehen sehen?“ „Ich bin schon sieben Jahre auf dem See geschwommen und habe niemanden vorbeigehen sehen“, antwortete der Erpel. „Aha, du bist also der Königssohn, jetzt werden wir, meine Söhne und ich, dich hinunterschlingen“, sagte der Teufel und begann den See leer zu trinken. Als er schon einen großen Teil des Wassers hinuntergeschlungen hatte, sah er plötzlich, daß das Wasser von hinten wieder in den See zurückfloß. Der Gehörnte merkte, daß seine Bemühungen nutzlos waren, und befahl den Söhnen, einen dicken Eichenstamm zu holen und ihm diesen als Spund von hinten hineinzuhauen. Die Söhne erfüllten den Befehl des Alten. Sie drehten ihm einen dicken Stamm als Spund hinein. Der Teufel begann wieder das Wasser vorsichtig zu trinken. Der See war schon beinahe leer, als plötzlich der Gehörnte mit einem großen Knall zerbarst. Von der Zeit an gibt es keinen Teufel mehr, doch seine Söhne sind noch als Betrüger in der Welt geblieben.
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Nach dem Zerbersten des Gehörnten gelangte der Königssohn mit seiner Frau glücklich nach Hause zu seinen Eltern. Der Vater war schon alt; der Sohn übernahm die Regierung und lebt vielleicht noch heute, wenn er nicht gestorben ist. Wer’s nicht glaubt, soll hingehen und selber nachsehen!
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43 Die drei badenden Mädchen Einst ging ein König mit seinem Bruder in seinem Lustgarten spazieren, der in einem schönen Walde gelegen war und in dem verschiedene Bäume und Blumen wuchsen. Sie gingen umher und kamen an eine Quelle, neben der sich eine Schöpfkelle befand. Der König sah sie und dachte: Meines Wissens gibt es hier gar keine Quelle, und jetzt ist sie da. Er bekam großen Durst, wollte die Kelle nehmen und trinken, aber sowie er sie fassen wollte, wich sie zurück. Nachdem der König mehrmals versucht hatte, sie einzufangen, begann die Kelle zu sprechen: „Umsonst kriegst du nichts zu trinken, versprich mir das zu geben, was du, ohne es zu wissen, zu Hause hast.“ Der König sann eine Weile nach, doch er fand nichts, was er nicht gewußt hätte. Er versprach das zu geben, was ihm nicht bekannt sei, bekam jetzt die Kelle in die Hand und trank. Nach dem Trinken fiel ihm plötzlich ein, daß er seinen Sohn vergessen hatte. Die Kelle sagte noch: „Morgen werde ich nach deinem Sohn kommen“, und verschwand dann mitsamt der Quelle, so daß da nicht einmal die Stelle mehr zu finden war. 172
Nun begriff der König, was er mit seinem Versprechen angerichtet hatte, ging traurig nach Hause und zeigte sich niemandem. Am nächsten Tage kam der Teufel, den Königssohn zu holen. Er packte ihn sich auf den Rücken und brachte ihn weit übers Meer an ein Flußufer. Dort setzte er ihn auf einem abgebrochenen Baum ab, wo aus einem Baumspalt ein anderer Baum wuchs, und sagte: „Wenn du etwas essen willst, dann klopfe an diesen Baum“, und verschwand darauf selber wie unter die Erde. Drei Tage wie drei Jahre waren seit der Zeit vergangen, da der alte Teufel ihn dorthin gebracht hatte. Zu essen bekam er jedesmal, wenn er an den Baum klopfte. Doch schließlich wurde ihm das Alleinsein langweilig. Er ging im Walde umher, weinte und beklagte sein Elend. Da erschien bei ihm ein alter Mann, der sagte: „Sei nicht traurig, armer Junge, einmal wirst du schon noch deinem Elend entrinnen. Morgen kommen drei Mädchen hierher an den Fluß zum Baden, zwei werden ihre Kleider beisammen hinlegen, eine gesondert. Geh hin und zieh das Hemd des Mädchens an, das es gesondert hinlegt; zeige aber auf keinen Fall, daß du das Hemd anhast, wie sehr sie dich auch bitten sollten.“ Am nächsten Tag kamen die drei Mädchen dorthin, um zu baden. Zwei legten ihre Kleider zusammen hin, eine gesondert. Der Junge ging zu der Stelle und zog das Hemd der Jungfrau an, die es gesondert hingelegt hatte. 173
Nach dem Baden zogen zwei ihre Hemden an, das der dritten aber war nirgends zu finden. Sie sahen den Jungen stehen und bedrängten ihn: „Zeige doch, vielleicht hast du es an!“ Er zeigte ihnen etwas über seinem Gürtel und sah noch, wie das Mädchen das Hemd schon anzog. Am nächsten Tag hörte er wieder auf ihr Schmeicheln, obwohl der Alte erneut bei ihm gewesen war, um ihn zu ermahnen. Am dritten Tag kam der Alte zu ihm und sagte: „Heute wird dich der Herr nach Hause holen, die drei Jungfrauen sind seine Töchter, sie werden wieder baden kommen. Zwei werden ihre Hemden zusammen hinlegen und eine gesondert. Nimm das Hemd der Jungfrau an dich, die es gesondert hinlegt, zieh es an, und wie immer sie dich bitten sollten, zeig ihnen das Hemd nicht.“ Die drei Mädchen kamen hin, zogen sich aus, zwei von ihnen legten ihre Kleider zusammen, eine gesondert, und sie gingen baden. Während sie badeten, zog der Junge das Hemd des Mädchens an, das es gesondert hingelegt hatte, und wartete. Vom Baden zurückgekehrt, zogen zwei Mädchen ihre Hemden an, das dritte fand es nirgends. Sie gingen zu dem Jungen, baten und schmeichelten, er solle doch nur ein Stückchen seines Hemdes zeigen, doch der Junge zeigte es ihnen nicht. Schließlich befreundete er sich mit den Mädchen, und sie gingen zusammen nach Hause. Ei174
nes der Mädchen war nicht die Tochter des Teufels, sondern ein Christenkind, das der Teufel gestohlen und in die Hölle geschleppt hatte. Am Abend rief der Teufel den Jungen zu sich und sagte: „Drei Tage darfst du hier ohne Arbeit herumlungern, doch am Abend des dritten Tages kommst du zu mir, dann werde ich dir Arbeit geben.“ Die Tage vergingen dem Jungen mit den Mädchen wie im Fluge, und es kam der dritte Abend. Der Junge ging zum alten Teufel, um zu hören, welche Arbeit der ihm geben werde. „So, mit deinem Herumlungern hast du mir jetzt genug Zeit gestohlen“, sagte der Teufel barsch, „es ist an der Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Zu morgen baust du mir eine Steinbrücke über den See. Wenn die Brücke fertig ist, rufst du mich, damit ich nachsehen komme.“ Der Junge ging zu dem Christenmädchen und erzählte ihm, welche Arbeit ihm aufgegeben worden war. „Du wirst die Brücke nicht fertigkriegen, bleibe hier und ruhe dich aus, ich werde hingehen und sie für dich bauen.“ Das Mädchen beendete die Brücke, kam zurück, schickte den Jungen zur Brücke und sagte: „Wenn jemand kommt, deine Arbeit zu loben, nimm den Steinbrechhammer und schleudere ihn demjenigen direkt ins Gesicht, geh dann schnell nach Hause und rufe den Herrn, damit er die Arbeit nachsehe.“
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Der Junge ging am Morgen auf der Brücke auf und ab. Ein Mann kam heran und sagte: „Ist das aber eine schöne Brücke!“ Schwups, schleuderte ihm der Junge den großen Hammer an den Kopf, ging schnell davon und rief den Herrn herbei, damit er die Brücke entgegennehme. „Ach, ich weiß schon, daß sie fertig ist; mein Kopf tut mir weh, komm am Abend, dann gebe ich dir eine Arbeit auf.“ Am Abend kam der Junge, um zu hören, welche Arbeit er bekommen solle. „Zu morgen sei der Wald geschlagen, der Rasen abgebrannt und das Bier fertig.“ Der Junge erzählte dem Mädchen, welche Arbeit er diesmal erledigen mußte. „Du wirst diese Arbeit nicht schaffen, bleibe hier und ruhe dich aus, bis ich die Arbeit vollbracht habe.“ Das Bier war fertig, das Mädchen kam, schickte den Jungen hin und sagte: „Rühr in der Maische die Heugabel heiß, und wenn jemand kommt und deine Arbeit lobt, hau ihm zwischen die Augen und geh dann schnell den Herrn rufen, damit er die Arbeit abnehme.“ Der Junge hatte die Heugabel heißgerührt, da kam ein Mann und sagte: „Ist das ein gutes und schmackhaftes Bier!“ Schwups, schlug ihm der Junge mit der Heugabel zwischen die Augen und ging selbst schnell den Herrn holen, damit er die Arbeit abnehme.
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„Ach, ich weiß selbst, daß sie fertig ist; ich habe Schmerzen zwischen den Augen. Komm am Abend, dann will ich dir eine Arbeit aufgeben.“ Am Abend ging der Junge, um zu hören, was es für Arbeit sei. „Zu morgen mußt du den schwarzen Hengst einreiten!“ Er ging zu dem Mädchen und berichtete, welche Arbeit ihm jetzt aufgegeben worden sei. „Der schwarze Hengst ist er selber, jetzt mach ein Brecheisen heiß, steck es ihm in den Hals, wirf ihm die Zügel über, nimm den Steinbrechhammer, spring dem Hengst auf den Rücken und hau ihm auf den Kopf, immer auf den weißen Fleck. Wenn du mit dem Hengst nach Hause kommst, bring ihn in den Stall und geh den Herrn rufen, um ihm zu zeigen, daß der Hengst eingeritten ist.“ Der Junge ging und tat alles, wie es ihm das Mädchen aufgetragen hatte. Er erhitzte das Brecheisen, stopfte es dem Hengst in den Hals, warf ihm die Zügel über, ergriff den Hammer, sprang dem Hengst auf den Rücken und hämmerte auf dessen Kopf, immer auf den weißen Fleck. So jagte er durch sieben Königreiche, ehe er nach Hause zurückkehrte. Der Junge brachte den Hengst in den Stall und rief den Herrn, er solle schnell kommen und sehen, daß der Hengst eingeritten sei. „Ach, ich weiß selbst, daß er eingeritten ist; mein Kopf schmerzt mich sehr. Komm am Abend, dann will ich dir eine Arbeit aufgeben!“
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Der Junge ging am Abend hin, die Arbeit entgegenzunehmen. „Zu morgen sollst du hinter vier Wegkreuzungen einen acht Faden langen und achteckigen Balken herholen.“ Der Junge ging zu dem Mädchen und erzählte, welche Arbeit ihm aufgetragen worden sei. Das Mädchen gab ihm einen Krafttrunk, ehe er nach dem Balken ging, und sagte: „Jetzt geh und hole diesen Balken her! Wenn jemand kommt und lobt, hau ihm mit dem Balken auf den Kopf und rufe dann schnell den Herrn, um zu zeigen, daß der Balken geholt ist.“ Der Junge kam mit dem Balken nach Hause, da kam ein Mann und sagte: „Ist das aber ein schöner Balken!“ Mit großer Kraft schlug ihm der Junge den Balken auf den Kopf und rief dann den Herrn, damit er sehe, daß der Balken gebracht sei. „Ach, ich weiß schon, daß der Balken da ist, komm am Abend, dann wollen wir sehen, was weiter zu tun ist! Alle meine Aufgaben hast du zu meiner Zufriedenheit erfüllt, es ist jetzt die Zeit gekommen, daß du dir eine Frau nimmst“, sprach der Teufel ganz sanft. „Komm morgen hierher und wähle dir eine von meinen Töchtern.“ Der Junge ging zu dem Mädchen und erzählte ihm, daß jetzt das Heiraten dran sei. „Du wirst mich sonst nicht erkennen“, sprach das Mädchen, „doch das Tuchende wird bei mir links ein wenig über das Ohr gezogen sein.“
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Er ging hin, sich eine Frau zu wählen; alle Mädchen waren gleich gekleidet, sie gingen auf und ab, und auch die Gesichter waren so gleich, daß an ihnen nichts zu erkennen war. „Nun, welche möchtest du?“ fragte der Teufel. „Diese!“ „Bist du aber klug, oder hast du einen klugen Ratgeber? Geh und komm morgen wieder!“ Der Junge ging zu dem Mädchen, und dieses sagte: „Morgen wirst du mich nicht anders erkennen können, als daß da eine Fliege versuchen wird, mir ins Auge fliegen, ich werde diese mit dem Taschentuch verjagen.“ Am nächsten Tag ging der Junge hin. Alles war genauso, man konnte keinen Unterschied finden. „Nun, welche willst du?“ „Diese!“ „Ho, ho, bist du aber klug, oder hast du einen klugen Ratgeber? Geh und komm morgen wieder!“ Der Junge ging zu dem Mädchen, und dieses sagte: „Anders wirst du mich nicht erkennen, ich werde den Hacken des linken Fußes etwas schief halten.“ Er ging wieder hin, sich eine Frau zu wählen, alle waren sie gleich und von gleicher Größe, wie mit dem Stock gemessen. „Nun, welche willst du?“ fragte der Teufel. „Diese!“ „Ho, ho, bist du klug, oder hast du einen klugen Ratgeber? Geh nur, wir wollen sehen, was wir jetzt tun werden.“ 179
Er ging zu dem Mädchen, und dieses sagte: „Jetzt bleibt uns nichts mehr übrig, wir müssen flüchten; er will uns nun auf alle Fälle vernichten.“ Am nächsten Tag in der Frühe nahm das Mädchen sein Taschentuch, spuckte hinein, band es zum Knoten, warf es hin, und gleich darauf flüchteten sie beide. Der alte Teufel ließ drei Tage lang die Badestube heizen und ging dann hin, um die beiden zum Quasten zu rufen. Die Spucke antwortete ihm wie ein Mensch. Er ließ weitere drei Tage die Badestube heizen und ging wieder, um sie zum Quasten zu rufen. Die Spucke sprach genauso wie vorher. Jetzt ahnte er, daß sie gespuckt hatte und daß es die Spucke war, die sprach. Sofort schickte er einen Knecht den Fliehenden nach. Das Mädchen spürte, daß sie verfolgt wurden, und sagte: „Wir werden verfolgt, sei du eine Schweineherde und ich der Schweinehirt.“ Der Knecht ging nach Hause und sprach: „Es ist nichts anderes zu sehen, nur eine Schweineherde und ein Schweinehirt.“ „Du Dummkopf, das waren sie selbst, hättest du doch den Hirten oder die Herde genommen, dann hätten wir sie beide in unseren Händen gehabt!“ Er befahl, diesen Knecht drei Tage und Nächte zu strafen, und schickte einen anderen Knecht den Fliehenden nach. Das Mädchen spürte, daß sie verfolgt wurden, und sagte: „Wir werden verfolgt, sei du der Pflüger und ich der Ochse!“ 180
Der Knecht ging zurück nach Hause und berichtete, daß er nichts gesehen habe außer einem Ochsen und einem Pflüger. „Du Dummkopf, das waren sie selbst, hättest du doch den Pflüger oder den Ochsen genommen, dann würden wir sie beide in den Händen haben!“ Er befahl sodann, diesen Knecht sechs Tage und sechs Nächte zu strafen, und ging selbst, die Fliehenden zu verfolgen. Viele Werst weit war das Dröhnen der Erde und das Stampfen seines Kommens zu hören. „Jetzt kommt er selbst, um uns einzuholen“, sagte das Mädchen. „Ich werde der See sein und du die Ente.“ Der alte Teufel kam an das Seeufer, sah die Ente und sprang sofort in den See, um sie zu fangen. Nun tobte er im See herum, um die Ente zu fangen. Indessen fielen die Seeufer immer mehr zusammen, sie fielen, solange noch ein Faden Land zwischen ihnen war, dann schlugen die Seeufer plötzlich zusammen, und mit dem alten Teufel war es aus. Sie gelangten jetzt in die Stadt, in der der Vater des Jungen lebte. Hier blieb das Mädchen in der Stadt zurück, und der Junge ging, seinen Vater zu begrüßen. Vorher aber prägte ihm das Mädchen ein: „Wenn du in das Haus deines Vaters gehst, so küsse keinen!“ Im Hause des Vaters begrüßte er seine Eltern und Freunde, aber er küßte keinen. Das bemerkten alle, doch sie wagten ihm nichts zu sagen.
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Am Abend legte man ihn zu seinem kleinen Bruder schlafen, und er gab ihm den Gutenachtkuß. Am nächsten Morgen erinnerte er sich überhaupt nicht mehr an seine Tage der Not und an seine Braut. Es war einige Zeit vergangen, und es wurde ihm eine neue Braut gewählt. Am Hochzeitstag kamen Menschen von nah und fern zusammen, und mit ihnen erschien auch seine alte Braut. Sobald er sie sah, erinnerte er sich der vergangenen schweren Tage, wie er in der Hölle war und wie sie mit ihm schließlich von dort geflohen war. „Du hast mich wohl vergessen und dir eine andere Braut gewählt, doch das tut nichts. Wenn wir an der Tafel sitzen, mußt du fragen, was besser ist, ein alter goldener Ring oder ein neuer Silberring.“ An der Tafel saß er zwischen zwei Bräuten und fragte die Gäste: „Was ist besser, ein alter goldener Ring oder ein neuer Silberring?“ „Ein alter Goldring ist besser als ein neuer Silberring“, antworteten die Gäste. Er zeigte jetzt seinen alten Goldring und erzählte, wie er ihn bekommen, verloren und wiedergefunden hatte.
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44 Die treulose Schwester In einem dunklen Wald lebte eine Mutter mit ihrem Sohn und ihrer Tochter. Wieso sie gerade dort wohnten, das weiß ich nicht. Kurz und gut, sie lebten dort, doch plötzlich kam der Tod und raffte die Mutter der Kinder dahin. Die Kinder blieben als Waisen zurück und wußten nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollten. Sie streiften im Wald umher und fanden schließlich ein Wohnhaus. Sie gingen in das Haus hinein. Dort wohnte ein alter grauhaariger Mann. Was es für ein Mann war, wußte auch wieder niemand. Er nahm die Kinder zu sich, und bei ihm wuchsen der Knabe und das Mädchen zu Jüngling und Jungfrau heran. Eines Tages wurde der alte Mann krank. Er spürte seinen Tod kommen und rief deshalb den Jungen und das Mädchen zu sich ans Bett. Er gab beiden ein weißes Tuch. In beide Tücher waren Knoten geknüpft. Er sagte: „Öffnet niemals die Knoten dieser Tücher! Bewahrt sie so geknüpft bis zu eurem Tode auf, dann werdet ihr ein glückliches Leben haben. Wer sein Tuch aufknüpft, wird auf dieser Welt keine glücklichen Tage mehr sehen.“
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Er starb und wurde von dem Jungen und dem Mädchen beerdigt. Nun blieben sie zu zweit in dem Hause wohnen. Der Junge ging auf die Jagd und schoß Vögel und andere Tiere, das Mädchen aber blieb zu Hause. Es dachte oft: Ich möchte wissen, was in dem Tuch wohl drinsteckt. Es wird wohl kein Unglück geschehen, wenn ich es aufknüpfe. Und eines Tages knotete es sein Tuch auf. Vor ihm stand plötzlich ein sehr schöner weißgekleideter junger Mann. Das war der Teufel selbst. Sofort begann er dem Mädchen zuzureden, ihren Bruder zu töten. Das Mädchen willigte nicht ein. Da sagte der Teufel: „Du brauchst ihn gar nicht zu töten. Wir werden ihm nur eine Falle stellen. Tu, als wärest du krank, und sage dann deinem Bruder, daß dich nichts gesund machen könne als nur Wolfsmilch. Dann wird er gehen, um Milch von einem Wolf für dich zu holen, und der wird ihn zerreißen.“ Am Abend kam der Bruder von der Jagd nach Hause. Da eröffnete ihm die Schwester, daß sie schwer krank sei und daß nur die Wolfsmilch sie wieder gesund machen könne. Der Junge war über die Krankheit der Schwester sehr betrübt; würde die Schwester sterben, wo sollte er da allein hingehen? Am nächsten Morgen ging er fort, um Milch von einem Wolf zu holen. Bald erspähte er auch eine Wölfin und wollte sie erschießen. Doch die Wölfin rief von weitem: „Schieß nicht! Komm und melke dir Milch, soviel du willst.“ 184
Der Junge ging zur Wölfin und melkte sie. Dann ging er mit der Milch zurück nach Hause, und die Wölfin folgte ihm. Der Teufel sah den Jungen kommen und sagte: „Der Wolf hat ihm nichts getan. Er folgt dem Jungen wie ein Hund.“ Schnell versteckte er sich hinter dem Ofen. Der Junge gab die Milch dem Mädchen. Der Wolf spürte den Geruch des Teufels und begann alle Ecken zu beriechen. Er fand aber den Teufel nicht. Die Sache stand schlecht. Der Wolf hatte dem Jungen nichts getan, was sollte man da anfangen? Der Teufel und das Mädchen berieten sich und beschlossen, den Jungen zum Bären nach der Milch zu schicken, der würde ihn schon reißen. Das Mädchen sagte jetzt dem Bruder, daß die Wolfsmilch nicht gewirkt habe und nur die Bärenmilch sie gesund machen könne. Der Junge ging denn auch am nächsten Morgen, um Bärenmilch zu holen. Er sah eine Bärin und wollte sie niederschießen. Doch die Bärin rief: „Schieß nicht! Komm und melke dir Milch, soviel du willst.“ Der Junge melkte die Bärin, und die folgte ihm nach Hause. Der Teufel sah den Jungen mit dem Bären kommen und sagte: „Es hilft aber auch gar nichts. Der Bär hat ihm ebenfalls nichts getan.“ Nun beschlossen beide, der Teufel und das Mädchen, den Jungen zum Löwen nach der Milch zu schicken. Das Mädchen sagte dem Bruder, daß
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auch die Bärenmilch ihr nicht geholfen habe und nur noch Löwenmilch sie retten könne. Der Junge ging am nächsten Morgen, um Milch von einem Löwen zu holen. Er traf auf eine Löwin und wollte sie niederschießen. Doch die Löwin rief: „Schieß nicht! Komm und melke dir Milch, soviel du willst.“ Der Junge melkte die Löwin, und sie folgte ihm, als er nach Hause ging. Der Teufel schnaubte und keuchte vor Wut, daß weder der Wolf noch der Bär oder der Löwe dem Jungen etwas taten. Sie waren nun sogar beständig alle drei in der Nähe des Jungen und liefen ihm nach wie Hunde; deswegen konnte man auch dem Jungen nichts mehr antun. Der Teufel und das Mädchen berieten erneut, wie sie den Jungen umbringen könnten. Am Rande des Waldes war ein See, in dem eine riesengroße Schlange lebte. Es konnte kein Mensch lebendig die Ufer dieses Sees verlassen, denn sie verschlang jeden. Nun wollten sie den Jungen zu diesem See nach Wasser schicken. Die Schlange würde ihn schon umbringen, dachten sie. Der Junge wußte wohl, was für eine Schlange sich im See befand. Doch das Mädchen sagte, daß es sterben müsse, wenn es kein Wasser aus diesem See bekomme; das allein könne ihr noch helfen. Was war zu tun, der Junge ging. Als er zum Seeufer kam, wollte die Schlange ihn zerreißen, doch der Wolf, der Bär und der Löwe kamen dem Jungen zu Hilfe. 186
Zwischen der Schlange und den Hunden des Jungen begann ein heftiger Kampf. Die Schlange war stark, doch die Tiere waren auch stark. Es gelang dem Jungen, zwischen den beiden Parteien eine Kanne Wasser zu schöpfen, und sofort machte er sich auf den Rückweg. Seine Hunde ließen auch von der Schlange ab und folgten dem Jungen. Der Junge war wieder mit dem Leben davongekommen, und der Teufel kochte vor Wut. Was sollten sie noch tun? Niemand tat dem Jungen etwas zuleide, weil sein Tuch geknüpft blieb. Der Teufel beschloß deshalb, den Jungen selbst zu töten. Doch die Hunde – die wilden Tiere – verstanden keinen Spaß. Überall waren sie in der Nähe des Jungen. Wie sollte man mit ihnen fertig werden? Man mußte sie aus der Nähe des Jungen entfernen. Schließlich fanden der Teufel und das Mädchen auch hier Rat. Zwölf Werst weiter ab befand sich eine Mühle. In dieser Mühle wohnten ebenfalls Teufel. Man mußte den Jungen dorthin nach Mehl schicken. Diese Mühle hatte zwölf eiserne Tore hintereinander. Wenn jemand in die Mühle hineingehen wollte, gingen die Tore von selbst auf und blieben so lange weit geöffnet, bis derjenige wieder herauskam. Doch sobald der Herauskommende jeweils ein Eisentor passiert hatte, schlugen sie von selbst hinter ihm zu, und so schlossen sich alle Tore nacheinander hinter dem Hinausgehenden. Hinter diesen Toren sollten die Tiere bleiben. 187
Schön und gut. Das Mädchen schickte also den Jungen nach dem Mehl, natürlich wieder gegen die Krankheit. Der Junge mußte gehen, denn wenn die Schwester gestorben wäre, wo sollte er dann allein im Walde bleiben? Es ging dem Jungen alles gut vonstatten. Er erhielt in der Mühle Mehl, doch als er hinausging, schlugen die Tore hintereinander zu, und die Tiere blieben hinter den zwölf eisernen Toren. Der Junge dachte sich nichts dabei und ging nach Hause. Da aber sprang ihn der Teufel an, faßte ihn am Kragen und sagte: „Nun bleibt dir keine Zeit mehr, jetzt mußt du sterben!“ Der Junge bat den Teufel, ihm noch etwas Zeit zum Leben zu lassen. „Laß mir noch so viel Zeit, daß ich meinen Körper in der Sauna reinwaschen kann“, sagte er zum Teufel. Der Teufel war damit einverstanden. Der Junge ging daran, in der Sauna den Ofen zu heizen. Bald war der Ofen heiß. Doch der Teufel wollte nicht mehr warten. Er kam zur Tür des Vorraumes der Sauna und rief: „Nun ist es aber genug! Komm heraus!“ Der Junge sagte, daß es noch ein Weilchen dauern würde. Der Teufel ging zurück. Da kam in großer Eile eine Krähe angeflogen, setzte sich auf einen Eichenast vor dem Saunafenster und rief dem Jungen zu: „Versuche die Zeit so lange hinauszuzögern, wie du nur kannst.
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Die Tiere kommen bald, sechs Tore sind schon zertrümmert.“ Der Junge goß Wasser auf die heißen Steine, daß sie nur so dampften, und schlug sich mit dem Badebesen, daß die Haut heiß wurde. Einige Zeit später erschien der Teufel wieder und wollte nun den Jungen töten. Doch da kamen auch schon die Tiere mit hängenden Zungen an. O du meine Güte! Wie ein Federbusch, wie ein Fetzenbündel flog der Teufel zwischen ihren Tatzen. Nichts blieb von ihm übrig als etwas Wasser und ein einziger Zahn –. Der Junge hatte inzwischen begriffen, daß die Schwester mit dem Teufel im Bunde war und mit ihm zusammen den Bruder umbringen wollte. Deshalb beschloß er, für einige Zeit das Haus zu verlassen. Um zu erfahren, wem das Mädchen mehr nachweinen würde, ihm oder dem Teufel, rollte er zwei Fässer in die Sauna; das eine auf den eigenen Namen, das andere auf den des Teufels. Über den Fässern sprach er eine Beschwörung, daß dessen Faß voll werden solle, dem das Mädchen mehr Tränen nachweinte. Selbst ging er aber durch die Dörfer auf Wanderschaft. Er lehrte den Bären tanzen, den Löwen springen und den Wolf Männchen machen. Wo Menschen zu sehen waren, ließ er die Tiere ihre Kunststücke zeigen und erhielt dafür Geld und Brot. Schließlich kam er in die Königsstadt des Landes. 189
Der König hatte eine einzige Tochter. Sie war immer sehr ernst, und niemand konnte sie zum Lachen bringen. Deshalb hatte der König versprochen, daß derjenige, der seine Tochter zum Lachen bringe, sie auch zur Frau bekommen würde. Außerdem sollte er noch das halbe Königreich erhalten. In der ersten Zeit waren auch viele junge Menschen gekommen. Ein jeder machte seine Späße, doch keiner konnte die Königstochter zum Lachen bringen. Der Junge ging zum Königsschloß, ohne etwas von der Sache gehört zu haben, und ließ dort vor dem Volk seine Tiere ihre Kunststücke zeigen. Das Volk wunderte sich sehr, daß solche Tiere, mit denen sonst nicht zu spaßen war, so aufs Wort hörten. Die Königstochter trat auch ans Fenster, um nachzuschauen, was los sei und – da lachte sie schon laut über die Kunststücke der Tiere. Sofort wurde der Junge ergriffen, und es wurde ihm gesagt: „Komm vor den König! Du hast die Königstochter zum Lachen gebracht – sie wird die Deine!“ So weit, so gut. Es wurde die Hochzeit des Jungen mit der Königstochter gefeiert, und er erhielt auch das halbe Königreich. Eines Tages traf es sich, daß der Mann seiner Schwiegermutter erzählte, seine Schwester wohne im Walde. Die Schwiegermutter sagte: „Warum hältst du deine Schwester im Wald, da du nun über das 190
halbe Königreich herrschst. Hier ist doch Platz genug. Fahren wir hin und holen wir sie aus dem Walde hierher.“ Der junge Mann war zuerst dagegen, mußte aber schließlich nachgeben. Er setzte sich mit seiner Frau in einen Wagen, und sie fuhren los, um das Mädchen zu holen. Nachdem sie eine Weile durch den Wald gefahren waren, fanden sie auch die Stelle, wo das Mädchen wohnte. Der erste Gedanke des Mannes war, in die Sauna zu gehen und nachzuschauen. Was sah er? An seinem Faß waren die Latten zerfallen, das Faß des Teufels aber war bis zum Rande mit Wasser gefüllt. Der Mann wurde wütend und wollte sofort zurückfahren. Doch die Frau bat so lange, bis er nachgab und die Schwester mitnahm. Zu Beginn der Fahrt saß die Schwester auf dem Bock neben dem Kutscher. Da begann die Frau wieder zu sprechen: „Sie soll zu uns in die Kutsche kommen, hier ist doch Platz genug. Das wäre ja ungerecht, wenn du deine Schwester neben dem Kutscher sitzen läßt.“ Der Mann war wieder dagegen, mußte aber schließlich der Frau nachgeben. Das Mädchen wurde in die Kutsche gerufen, und sie setzte sich neben ihren Bruder. Da steckte sie ihm heimlich den Zahn des Teufels ins Ohr; diesen Zahn hatte sie vor der Sauna gefunden. Sofort wurde der Bruder krank und starb schon unterwegs.
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Die Königstochter war über den Tod ihres Mannes sehr betrübt. Sie ließ ihrem Manne einen eisernen Sarg machen und ihn dann in diesem Sarg vor dem Königsschloß auf eine hohe Säule stellen. So konnte sie den Sarg stets von ihrem Fenster aus sehen. Sie stand auch immer wieder vor ihrem Fenster und weinte. Der Wolf, der Löwe und der Bär wollten ihren Herrn auch nicht verlassen. Sie kamen immer wieder unter die Säule und jammerten und heulten so, daß es zum Erbarmen war. Einmal fuhr ein fremder Herr durch die Stadt des Königs. Die Pferde sahen die Tiere unter der Säule, erschraken sehr und gingen durch. Sie rasten um das Schloß des Königs, und da blieb plötzlich die Radnabe an der Säule hängen. Die Pferde jagten weiter, die Säule schwankte, und der Sarg fiel mit großem Krach von oben herab. Der Sargdeckel flog ab, und der Mann setzte sich im Sarge auf. Der Zahn des Teufels war ihm beim Fall aus dem Ohr herausgesprungen. Die Freude aller über die Auferstehung des jungen Mannes war groß. Nur seine Schwester war unzufrieden. Der Mann wußte schon, daß all sein Ungemach durch sie gekommen war. Deshalb schickte er die Schwester dorthin, wo der Pfeffer wächst. Nach dem Tode seines Schwiegervaters erbte er das ganze Königreich und war sein Leben lang ein guter Herr.
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45 Der Mann, der das Fürchten lernen wollte In alter Zeit lebte ein Mann, der sich vor niemandem fürchtete. Er ging in die Welt, um vielleicht irgendwo doch noch die Furcht kennenzulernen. Aber keiner konnte ihm angst machen, er fürchtete sich vor niemandem. Auf seiner Wanderung kam er schließlich auf ein kleines Gut. Dort wollte er übernachten. Doch man wollte ihn nicht aufnehmen; es wurde gesagt, es sei kein Platz da. Der Furchtsucher war jetzt in arger Not, denn er hätte unter freiem Himmel übernachten müssen, da kein anderes Obdach außer diesem Gut in der Nähe war. Unter freiem Himmel zu schlafen, war für ihn keine große Sache, er war ja der Furchtsucher; deshalb ärgerte er sich auch nicht weiter darüber, daß man ihn nicht aufgenommen hatte. Er wollte vielmehr erfahren, warum man ihn nicht aufgenommen hatte, da ihm vorher überall anstandslos Nachtquartier gewährt worden war. Schließlich erfuhr er von einem Knecht, daß es drei Werst weiter ein großes Gut gab, das vollständig leer stand, dort konnte keine Menschenseele leben. Die Menschen wohnten deswegen nicht auf diesem Gut, weil jede Nacht Gespenster
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und Teufel hinkamen und jeden erwürgten, den sie erwischten. „Wenn du ein sehr mutiges Herz hast“, sagte der Knecht, „dann kannst du freilich getrost dort hingehen und auf dem Gut übernachten. Hast du es aber nicht, dann sieh zu, daß du an irgendeinem anderen Ort die Nacht verbringst, von dort kommst du nicht wieder lebendig heraus. Als die Teufel anfingen, in das Haus zu ziehen, verschwand jede Nacht ein Mensch. Es wurden wohl Wachen aufgestellt; doch als man sah, daß die Sache dadurch nicht besser wurde und nach und nach selbst die Wachen verschwanden, ließ man das Gut in der Nacht ganz leer. Am Tage kann man dort noch ganz ruhig arbeiten, aber sobald der Abend kommt, muß jeder zusehen, wie er vom Gut verschwindet. Bist du ein mutiger und tapferer Mann, so gehe hin und versuche mit den Teufeln dein Glück. Es gibt dort alles in Hülle und Fülle, so daß du dich wirst ganz herrschaftlich schlafen legen können.“ Der Knecht ging seiner Wege und ließ den Furchtsucher stehen. Der Furchtsucher war sehr zufrieden mit dem, was ihm der Knecht erzählte. Er hoffte jetzt endlich die Furcht kennenzulernen. Denn wovor alle wirkliche Angst hatten, davor müßte er sich doch auch fürchten. Natürlich hoffte er, daß er den alten Teufel besiegen würde. Deshalb lenkte er seine Schritte sofort zum Gut. Er gewann ja mit einem Gang gleich zwei Dinge – er erhielt Nachtquartier und würde auch den Teufel sehen. Angst schien er nicht zu haben. 194
Es war schon ganz dunkel, als er dort eintraf. Mit großer Mühe fand er die Tür. Sowie er hineinkam, machte er sofort Feuer und ging daran, sich einen Brei zu kochen. Vom alten Teufel war noch kein Krabbeln und kein Rascheln zu hören. Es war ein paar Stunden vor Mitternacht, und dann wäre auch die Zeit der Teufel vorüber, die nur bis Mitternacht dauert. Der Furchtsucher glaubte schon, der Teufel werde gar nicht kommen. Aber warte nur einmal darauf, daß der Teufel etwas vergißt! Als der Furchtsucher gerade seinen Brei kochte, war draußen so etwas wie ein Rascheln zu hören, doch es kam keiner herein. Schließlich wurde durch den Schornstein eine verbrannte Menschenhand hereingeworfen – direkt neben den Furchtsucher. Doch der Furchtsucher schien das gar nicht zu beachten, sondern sagte nur: „Zaubere nur, was du zaubern willst, verdirb mir nur nicht die Suppe! Was zauberst du von weitem, du kannst ruhig herkommen.“ Da stand schon der Teufel neben dem Furchtsucher. Der Furchtsucher betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen voller Staunen und sagte: „Pah, wo ist denn das komische Tier herausgekommen? Gibt’s denn noch mehr solche Elendsgestalten? Was bist du für einer? Was suchst du hier?“ „Ich suche nichts anderes“, sagte der Teufel, „als dich, weil ich dich gleich aufessen möchte.“ „Oho, auf solche Gedanken kommst du? Wo nimmst du nur solchen Mut her? Dazu hast du 195
doch gar kein Recht. Und wenn du auch irgendein Recht hättest, so wirst du wohl verstehen, daß du dir deinen Wunsch im Augenblick nicht erfüllen kannst. Du siehst selbst, daß ich das Essen zubereite. Ich möchte ja auch vorher essen. Ich nehme an, daß auch du mit deinen Artgenossen hungrig bist. Denn wo sollen solche, wie du einer bist, schon irgend etwas bekommen. Ich habe für euch alle Essen genug. Das Essen ist bald fertig, lauf und rufe sie alle zum Abendessen, sollen sie hungrig sein, wie sie wollen.“ Der alte Teufel befolgte den Befehl des Furchtsuchers, ging hinaus und grölte: „Pill-Piret, MallMaret, kommt zu mir zu Besuch.“ Und o Wunder aller Wunder! Teufel kamen zu Tausenden, Gehörnte zu Hunderten. Es kamen Besucher wie Staub und Asche, so daß sich das Gut von einem Ende bis zum anderen füllte. Aber der Furchtsucher freute sich sehr, daß er nun so viele Teufel zu sehen bekam. Furcht verspürte er gar nicht, obwohl die Teufel Späße und Stückchen vollführten, daß da ein anderer, der nicht von der Art des Furchtsuchers war, vor Angst bald vergangen wäre und sich wohl unter dem Erdboden verkrochen hätte. Bald nachdem die Teufel versammelt waren, wurde das Essen aufgetragen. Alle setzten sich zum Essen hin, der Furchtsucher auch. Nach dem Essen fing man an, Karten zu spielen. Der Furchtsucher war überall der Anführer, so auch beim Kartenspielen. Fast jedesmal gewann er gegen die Teufel. 196
Bei Vergnügungen solcher Art fliegt die Zeit schnell dahin. Mitternacht war schon nahe. Der Furchtsucher behielt die Teufel stets im Auge, so daß sie nichts unbeobachtet tun konnten. Schließlich war eine Karte heruntergefallen. Der Teufel, der neben dem Furchtsucher saß, befahl ihm, die Karte aufzuheben. Der Furchtsucher tat, was ihm befohlen wurde. Später warf derselbe Teufel wieder eine Karte herunter. Wieder befahl er dem Furchtsucher, sie aufzuheben. Doch der Furchtsucher erhob seinen Stock aus Wacholderholz, den er sich genommen hatte, um die Teufel zu verwalken, und sagte: „Ist denn der Herr ein Diener des Herrn? Weißt du, was das ist? Wenn du nicht sofort die Karte selbst aufhebst, werde ich es dir schon zeigen. Wirft der doch die Karte herunter und befiehlt zudem, daß sie ein anderer aufheben soll.“ Daraufhin erfaßte den Teufel die Angst. Er mußte tun, was der Furchtsucher verlangte. Sowie er sich bückte, um die Karte aufzuheben, warf ihm der Furchtsucher ein großes goldenes Kreuz an den Hals, so daß er sich nicht mehr von der Stelle rühren konnte. Und er war wie festgenagelt. Die anderen Teufel, die das sahen, wurden ebenfalls von Furcht ergriffen. Der Furchtsucher sah, daß jetzt die Zeit gekommen war, um mit seinem Werk zu beginnen. Er sprang zwischen die Teufel und ließ seinen Wacholderstock mit voller Wucht auf die Teufel niedersausen. Vom Schmerz gejagt, sprangen die Teufel, der eine hierher, der andere dorthin, und 197
jeder in die Ecke, wo der Wacholderstock des Furchtsuchers nicht hinlangte. Dennoch erhielt fast jeder eine solche Tracht, wie er sie noch nie bekommen hatte. Da ließen die Teufel das Gut, wo es war, und machten sich alle davon; nur der arme Teufel mit dem Kreuz konnte nicht vom Fleck – er blieb vollständig in der Hand des Furchtsuchers. Der Furchtsucher konnte jetzt mit ihm anstellen, was er wollte. Zuallererst heizte er ihm tüchtig ein, schließlich fing er an zu forschen, seit wann die Teufel auf dem Gut in der Nacht herrschten. Der Teufel wollte es erst im guten nicht sagen. Doch wie der Furchtsucher seinen Wacholderstock wieder hob, fing der Teufel an zu reden: „Es ist schon lange her, seit wir uns hier auf dem Gut niedergelassen haben. Da es uns niemand verboten hat zu kommen und da man uns eher noch Platz machte, begann für uns eine schöne Zeit. Später wurden wir sogar so schlau, daß wir anfingen, unseren guten Aufenthaltsort mit allem Recht zu beanspruchen. So entgeht uns hier in der Nacht keine Menschenseele. Und nur dir gelang es, uns leicht zu betrügen. Aber es wird kein anderer so leicht unseren Händen entgehen wie du.“ „Ach, du bist auch noch großmäulig“, sagte der Furchtsucher und griff nach dem Knüppel. „Ihr hofft wohl noch auf ein Recht, hier auf dem Gut leben zu dürfen. Ich werde es schon dir und auch deinesgleichen zeigen. Ihr glaubt wohl, hier noch
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einen Menschen bedrängen zu können. Wartet nur, ihr!“ Und klatsch, klatsch – schlug der Wacholderstock auf den Rücken des Teufels. Als die Knochen des Teufels schon etwas weicher geschlagen waren, fing er an, etwas untertäniger dem Furchtsucher zu antworten. Der Furchtsucher begann ihn jetzt auszufragen, ob denn die Teufel, da sie schon lange hier lebten, auch Schätze auf dem Gut versteckt hielten. Der Teufel wollte mit der Sprache zuerst nicht herausrücken, doch als er sah, daß der Furchtsucher mit ihm nicht scherzte, begann er alles wahrheitsgemäß zu erzählen: „Reichtümer haben wir unendlich viele hier. Der ganze Schatz ist an einem Ort unter der Erde versteckt. Kein einziger Mensch kennt dieses Versteck und wird es auch nicht erfahren.“ Der Teufel wollte nicht weitersprechen. Jetzt sah der Furchtsucher, daß er im guten nicht mehr weiterkam, deswegen heizte er dem Teufel recht tüchtig ein. „Du willst also nicht sprechen“, sagte er zum Teufel, „ich werde es dir schon zeigen! Wenn du mir nicht das Versteck verrätst und den ganzen Reichtum versprichst und nicht versicherst, daß weder du noch irgendeiner deinesgleichen je wieder einen Fuß hierhersetzen werden, kommst du mit dem Leben nicht davon.“ Der arme Teufel mußte voller Furcht alles tun, was der Furchtsucher verlangte. O diese Reichtümer, die die Teufel zusammengetragen haben! 199
Der Furchtsucher hatte noch niemals so viele Schätze auf einmal gesehen. Und das alles sollte ihm gehören. Nachdem der Teufel all seine Reichtümer dem Furchtsucher gegeben und fest versprochen hatte, daß er und seine Sippschaft dieses Gut in Ruhe lassen und niemals zurückkehren werden, ließ der Furchtsucher den Armen frei. Im Weggehen sagte der Teufel noch seufzend: „Ja, jetzt muß ich für immer von diesem Ort scheiden, wo doch meine Vorväter schon seit eh und je hier gelebt haben!“ Und danach war er von der Erde verschlungen. Der Morgen war nicht mehr weit; der Furchtsucher hatte noch etwas Zeit, um allein zu sitzen, dann kamen andere Christenmenschen aufs Gut. Groß war ihr Staunen, als sie den Furchtsucher lebendig und gesund vorfanden. Alle glaubten, daß die Teufel ihn schon längst ins Jenseits befördert hätten. Aber schau einer an! Der Furchtsucher blieb ein Furchtsucher. Sehr erfreut war auch der Gutsherr, als er erfuhr, daß er jetzt wieder am Ort seiner Vorfahren leben könne. Der Furchtsucher erhielt von ihm einen guten Lohn für seine Nachtwache, außerdem überließ ihm der Herr ganz und gar das riesengroße Geschenk der Teufel. So wurde aus dem Furchtsucher fast ungewollt und plötzlich ein reicher Mann. Doch das Fürchten lernte er nirgends. Von den Teufeln war späterhin auf dem Gut nichts mehr zu hören. Man glaubte, daß sie alle nach diesem Erlebnis in die Hölle ge200
flohen seien. Deshalb fürchtet euch nicht mehr vor ihnen – sie wagen nicht mehr herauszukommen. Und die Christenmenschen zu schrecken, ist ihnen nicht mehr in den Sinn gekommen und kann ihnen auch nicht mehr in den Sinn kommen.
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46 Die gute Tat des Kalevipoeg Zwei kleine Mädchen gingen vor längerer Zeit einmal in den Wald, um Beeren zu sammeln, und verirrten sich dabei. Die Kinder liefen zwar kreuz und quer durch den Wald, doch den richtigen Weg fanden sie nicht. In diesem Wald befand sich auch der Teufel, der zur selben Zeit auf die Jagd gegangen war. Er sah die hübschen Kinder und verspürte Lust, sie in seinem Netz zu fangen; daher ließ er sie sich im Walde verirren. Beim Umherirren bekamen die Kinder Angst, sie fingen laut zu weinen an und um Hilfe zu rufen. Nun wußte der Teufel, daß seine Zeit gekommen war. Er ging zu den Kindern und fragte sie, was ihnen fehle und warum sie weinten. Die Kinder erzählten dem alten Mann von ihrem Unglück. Der alte Mann streichelte die Kinder und sagte: „Weint nicht, kommt zu mir, ich gebe euch etwas zu essen; und morgen, wenn der neue Tag kommt, dann suche ich für euch den Weg und bringe euch nach Hause!“ Die Kinder glaubten den Worten des Teufels und gingen mit ihm. Dabei merkten sie nicht, daß der unbekannte Mann sie in die Hölle brachte. In der Hölle gab der Teufel den Kindern Weizenbrei zu essen und frische Milch zu trinken. Die 202
Kinder aßen sich satt, und der Teufel legte sie in einen großen Kasten schlafen. Am nächsten Tag, als die Kinder aufwachten, wollten sie aus dem Kasten hinaus, doch zu ihrem Schrecken fanden sie ihn verschlossen. Da schrien die Kinder wieder vor Angst und weinten. Der Teufel hörte, daß die Kinder im Kasten weinten, und kam zu ihnen. Sobald ihn die Kinder erblickten, fragten sie: „Onkel, warum hast du uns im Kasten eingesperrt?“ Der Teufel antwortete: „Ihr seid mir zu mager, ich will euch fett mästen, und darum habe ich euch im Kasten eingesperrt!“ Mit diesen Worten ging der Teufel weg und sagte den Kindern nichts mehr. Die Kinder versuchten zwar auf jede Weise aus dem Kasten herauszukommen, doch was sie auch taten, es gelang ihnen nicht. Sonst aber hatten die Kinder kein schlechtes Leben im Kasten, denn der Teufel gab ihnen zu essen; das einzige war, daß sie das Heimweh plagte. Nachdem die Kinder schon mehrere Wochen im Kasten eingeschlossen waren, kam der alte Teufel eines Tages zum Kasten, in dem die Kinder saßen, und sagte: „Steckt eure Finger durch das Loch heraus!“ Die Kinder gehorchten dem Befehl des Teufels und streckten die Finger heraus. Krach – schlug der Teufel mit der Axt die Finger der Kinder ab und steckte sie sich in den Mund.
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Die Kinder begannen vor Schmerz zu weinen, doch der Teufel sagte zu ihnen: „Schreit nicht so! Jetzt seid ihr fett genug, und ich nehme euch aus dem Kasten heraus!“ Als die Kinder hörten, daß der Teufel versprach, sie aus dem Kasten herauszunehmen, vergaßen sie vor Freude den Schmerz und waren still. Der Teufel nahm den Deckel von dem Kasten, in dem sich die Kinder befanden, und führte sie in sein Zimmer. Im Zimmer brachte der Teufel die Kinder zu seiner Mutter und sagte: „Paß jetzt gut auf die Kinder auf, damit sie nicht weglaufen, und wenn ich nach drei Tagen zurückkomme, dann soll mir der Braten aus ihnen fertig sein!“ Die Kinder erschraken sehr und begannen vor Angst zu weinen, als sie hörten, daß der Teufel sie auffressen wollte. Der Teufel zog sich einen neuen Rock an und ging zur Tür hinaus, die weinenden Kinder der Alten überlassend. Kaum war er weg, schimpfte die Alte auf die Kinder los und drohte, sie zu schlagen, wenn sie mit dem Weinen nicht aufhörten. Die Kinder erschraken noch mehr und weinten noch lauter. Doch darüber wurde die Alte so böse, daß sie die Tür zu einer Kammer aufschloß, die schreienden Kinder an den Ärmeln packte, sie in die Kammer hineinstieß und die Tür hinter ihnen verschloß. Eine Weile weinten die Kinder in der Kammer, dann wurden sie stiller und begannen sich in der Kammer umzusehen, ob sie nicht irgendwie ent204
wischen könnten. Sie durchsuchten alle Ecken und Winkel, doch hinaus konnten sie nirgends. Sie begannen die Sachen in der Kammer zu betrachten. Da fielen ihnen zwei Flaschen auf: In einer befand sich eine rote Flüssigkeit, in der anderen eine grüne. An den Flaschen waren auch Zettel angeklebt, auf denen stand „Kraftspender“ und „Kraftminderer“. Die Kinder kosteten gleich von der Flasche, auf der „Kraftspender“ stand, und sofort fühlten sie, daß sich ihre Kräfte verzehnfachten. Nun verstanden die Kinder, welche Stärke ihnen die Flüssigkeit verlieh. Da es bald Abend wurde, legten sich die Kinder leichteren Herzens hin, um später, wenn sie ausgeruht wären, mit Hilfe des „Kraftspenders“ irgendwie doch zu entfliehen. Am nächsten Tag wachten die Kinder früh auf; sie kleideten sich schnell an und tranken jeder einen guten Schluck aus der Flasche des Kraftspenders. Dann horchten sie, ob alles ruhig war, und als sie keine Geräusche vernahmen, brachen sie die Tür auf und entflohen. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie in der Ferner hinter sich die Erde erdröhnen hörten. Sie schauten sich um und sahen, daß ihnen die Mutter des Teufels auf den Fersen war. Da sie unmöglich entkommen konnten, ließen sie sich widerstandslos von der Mutter des Teufels festnehmen und zurückbringen. Zu Hause steckte die Mutter des Teufels die Kinder in einen eisernen Käfig, damit sie nicht mehr so leicht entkommen könnten. Eine Rettung 205
war jetzt völlig unmöglich, und die Todesstunde der Kinder nahte. Sie hatten nur noch einen Tag zu leben. Doch wo die Not am größten, ist die Hilfe am nächsten. Kalevipoeg hatte gehört, daß der Teufel viel Gold habe, und war aufgebrochen, in die Hölle zu gehen, um sich Gold vom Teufel zu holen. Da der Teufel nicht zu Hause war, als Kalevipoeg in die Hölle kam, ging er zu der alten Mutter und fragte: „Hör mal, Alte, wo ist hier der Goldkeller, ich will mir auch etwas Gold holen.“ Auf eine so kühne Frage schrie die Alte den Kalevipoeg an und drohte, ihn für solche Reden in einen Käfig zu stecken. Beim Kreischen der Alten kam auch bei Kalevipoeg der Zorn hoch, er faßte die Alte am Schopf und stieß sie in den brennenden Ofen, vor dem sie gerade stand. Dann schloß er die Ofentür. Nun ging Kalevipoeg daran, die Hölle zu durchsuchen; dabei kam er schließlich auch vor die Tür des eisernen Käfigs, hinter der die Kinder gefangen waren. Als Kalevipoeg die Kinder im Käfig schluchzen hörte, fragte er sie: „Warum weint ihr, und wer seid ihr?“ Die Kinder begriffen, daß es ein Fremder war, der sie so fragte, und sie erzählten ihm die ganze Geschichte. Nachdem Kalevipoeg sie angehört hatte, zerbrach er mit einem Ruck die Käfigtür und ließ die Kinder heraus. Sowie die Kinder aus dem Käfig waren, gingen sie mit Kalevipoeg auf die Suche nach der Gold206
kammer des Teufels. Als sie diese gefunden hatten, füllte sich Kalevipoeg sieben Säcke mit Gold. Schließlich erzählten die Kinder dem Kalevipoeg noch von den zwei Flaschen, in denen der Teufel den kraftspendenden und den kraftmindernden Saft aufbewahrte. Kalevipoeg befahl den Kindern, ihm die Flaschen zu bringen. Die Kinder brachten sie schnell herbei, und Kalevipoeg nahm gleich ein paar Schlucke aus der Flasche, auf der „Kraftspender“ stand; dann steckte er sich beide Flaschen in die Tasche. Zuletzt lud sich Kalevipoeg die sieben Scheffel Gold auf den Rücken, nahm die Kinder mit und machte sich auf den Weg, um aus der Hölle herauszukommen. Kalevipoegs Wanderung dauerte etwa drei Tage, obschon er immer geradeaus weiterging bis hin zum Gut Tammiste. In Tammiste setzte Kalevipoeg seine Last vom Rücken ab und ruhte drei Tage aus. Am vierten Tag lud sich Kalevipoeg siebenhundert gesägte Bretter auf den Rücken, legte auf die Bretter noch die Säcke mit Gold obenauf, setzte auch die Kinder darauf und machte sich mit dieser Last auf den Weg nach Finnland. Als Kalevipoeg mit seiner Last zum Meeresufer kam, hörte er hinter sich ein Donnern, und als er sich umwendete, bemerkte er, daß der alte Teufel ihm nachjagte. Sowie Kalevipoeg merkte, daß der Alte hinter ihm her war, stieg er schnell mit seiner Last ins Wasser. Er wollte direkt durch das Meer nach 207
Finnland gehen, damit ihm der Teufel nicht im Wasser folgen könnte. Der Teufel stieg nach Kalevipoegs Beispiel auch ins Wasser, da aber das Teufelsmännchen zu kurze Beine hatte, die nicht bis zum Grunde reichten, ertrank er im Meer. Kalevipoeg jedoch kam mit seiner Last glücklich an die Küste Finnlands. Die Kinder nahm Kalevipoeg als seine Pflegekinder auf, und als sie heranwuchsen, wurden aus ihnen berühmte estnische Frauen.
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47 Der zum Pferd verzauberte Jüngling In früheren Zeiten lebte ein alter Mann mit seinen zwölf Söhnen. Weil er sie nicht mehr ernähren konnte, schickte er sie in die weite Welt, damit sie sich einen Dienst suchten. Zwölf Tage und Nächte wanderten die Brüder über Berg und Tal, bis sie endlich zu einem reichen König kamen, der sie in seinen Dienst nahm. Sie sollten seine Pferde pflegen. Dieser König hatte sehr viele Pferde. Er versprach jedem von ihnen ein Pferd unter der Bedingung, daß sie ihm ein Jahr ehrlich dienten. Die Pferde könnten sie sich selbst auswählen. Die elf älteren Brüder wählten sich alle sehr schöne Pferde. Unter den Pferden gab es aber eins, das war sehr mager und häßlich; und der jüngste Bruder nahm sich dieses Pferd, denn es sagte ihm am meisten zu, und er liebte es sehr. Der jüngste Bruder gab die Hälfte seines Essens dem Pferde und reinigte es täglich gut. Seine Brüder lachten ihn zwar aus, doch er machte sich nichts daraus. Nun war das Jahr vorüber, und der König übergab jedem von ihnen sein Pferd. Als der König aber sah, daß sich der jüngste der zwölf Brüder das magerste Pferd ausgewählt hatte, fragte er: „Warum nimmst du dir das magerste 209
Pferd, wo sich doch deine Brüder alle sehr schöne Pferde ausgesucht haben?“ Der jüngste Bruder antwortete: „Wenn ich es noch ein Jahr gut füttere, wird es noch schöner werden als die Pferde meiner Brüder.“ Der König war mit dieser Antwort zufrieden, und alle Brüder ritten davon. Unterwegs bekannte das Pferd, daß es ein verzaubertes Pferd sei und den Mann mit Windeseile vorwärts bringen und sich selbst in ein sehr schönes Pferd verwandeln könne. Nun ritten sie alle heim, die elf Brüder auf dem Rücken schöner Pferde, der Jüngste aber auf dem Rücken seines mageren Pferdes. Als sie durch ein Moor kamen, sank das magere Pferd ein. Der jüngste Bruder bat sie zu helfen, sein Pferd herauszuziehen. Da lachten ihn die älteren Brüder aus und sagten: „Das geschieht dir recht, wer hieß dich so schwachsinnig zu sein und dir ein so schlechtes Pferd zu nehmen; nun kannst du zu Fuß nach Hause gehen.“ Der jüngste Bruder bat sie so flehentlich, daß sie schließlich doch halfen, das Pferd herauszuziehen. Als sie nun weiterritten, sank das Pferd des jüngsten Bruders zum zweiten Male im Moore ein. Der jüngste Bruder bat seine Brüder zum zweiten Male, ihm herauszuhelfen. Doch die Brüder hörten nicht mehr auf die Bitten ihres Bruders, sie ritten davon. 210
„Sollen sie ruhig reiten“, sagte das Pferd und fragte dann: „Sind sie schon weit fort?“ „Ich denke, ungefähr eine Meile“, antwortete der Jüngling. Nach einiger Zeit fragte das Pferd wieder: „Siehst du noch deine Brüder?“ „Ja, ich sehe sie, sie sehen aus wie kleine Pünktchen.“ Zum dritten Male fragte das Pferd: „Kann man sie noch sehen?“ „Nein! Sie sind nicht mehr zu sehen. Jetzt sind sie aus den Augen.“ Da sprang das Pferd aus dem Moor heraus, nahm den Jüngling auf den Rücken, lief in Windeseile an seinen Brüdern vorbei und gelangte einen Tag eher nach Hause. Zu Hause verwandelte sich das Pferd wieder in eine magere Mähre und ging zum Misthaufen, um sich Futter zu suchen. Der Jüngste aber legte sich hinter den Ofen schlafen. Als die anderen Brüder nach Hause kamen, zeigten sie dem Vater die teuren Pferde, die ihnen der König zum Lohn gegeben hatte. „Wo habt ihr meinen jüngsten Sohn gelassen“, fragte der Vater. „Unser jüngster Bruder hat wohl den Verstand verloren“, antworteten die älteren Brüder. „Der König versprach auch ihm ein schönes Pferd, doch er, der Dummkopf, wählte sich das schäbigste aus, genauso eins wie das dort, das auf dem Misthaufen frißt; er ist mit seinem schlechten
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Pferd in einem Moor steckengeblieben, und dort wird er wohl auch gestorben sein.“ „Das stimmt nicht“, sagte der jüngste Bruder und kam hinter dem Ofen hervor. Nachdem die Brüder einige Tage bei ihrem Vater verbracht hatten, machten sie sich wieder auf den Weg, um sich Frauen zu suchen. Sie waren schon durch sieben Königreiche und sieben Kirchspiele gekommen, doch fanden sie nirgends zwölf Schwestern. Als sich nun die zwölf Brüder an einen Wegrand setzten, um auszuruhen, sagte das Pferd des jüngsten Bruders diesem leise ins Ohr: „Sage deinen Brüdern, sie sollen dir alle folgen, und ich werde euch dorthin bringen, wo ihr zwölf Mädchen findet.“ Plötzlich verwandelte sich das Pferd des jüngsten Bruders in ein schönes Pferd: Ein goldener Schwanz und eine goldene Mähne glänzten in der Sonne, als der jüngste Bruder nun vor den anderen Brüdern daherritt, so daß es in der ganzen Welt kein schöneres Pferd geben konnte. Die älteren Brüder konnten es nicht glauben, daß dies ihr jüngster Bruder sein sollte. Erst als dieser nach dreitägigem Ritt in der Morgenfrühe anhielt und sich zu seinen Brüdern umwandte, merkten sie, daß es wirklich ihr jüngster Bruder war. Da sahen die Brüder, daß eine scheußliche Alte mit zwölf weißen Mähren pflügte. Sie gingen zu der Alten, und die Alte fragte: „Was wollt ihr?“
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Nachdem die Brüder ihr Anliegen vorgebracht hatten, versprach sie ihnen, ihre Wünsche zu erfüllen. Die Alte schickte die Brüder in die Stube und kam nach einiger Zeit mit zwölf schönen Mädchen herein. „Hier ist ein Mädchen für jeden Bruder. Es soll sich jeder eins nach seinem Alter wählen.“ Dann wählten die Brüder. Der Älteste nahm die älteste Schwester und nach ihm die übrigen, bis für den jüngsten Bruder die jüngste Schwester übrigblieb. Die Brüder wollten gleich davonreiten, doch die Alte ließ sie nicht gehen und sagte, daß sie die erste Nacht bei ihr schlafen müßten. So legten sich am Abend die Brüder schlafen, die älteste Tochter legte sich zum ältesten Bruder und so weiter, bis sich auch zum jüngsten Bruder die schöne goldhaarige jüngste Tochter niederlegte. Die ältesten Brüder schliefen alle fest ein, doch der jüngste Bruder konnte nicht einschlafen. Da begann das Mädchen zu sprechen: „Diese Alte ist eine schreckliche Hexe. Die elf Mädchen sind alle Schwestern, aber ich bin nicht ihre Schwester. Diese Hexe hat mich vor drei Jahren gestohlen und hat meinen Bruder in ein Pferd verwandelt. Das magere Pferd, das bei den schönen Pferden deiner Brüder steht, ist mein Bruder. In der Nacht, wenn es zwölf Uhr schlägt, wird die Hexe hereinkommen und deine Brüder erschlagen; dich aber wird sie am Leben lassen, deshalb hat die Hexe die Brüder an den Rand gelegt.“
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Bald fand der jüngste Bruder Rat. Er ging und legte die Brüder nach hinten und die Mädchen an den Rand. In der Nacht kam die Alte mit einem großen langen Schwert in der Hand und schlug allen elf Schwestern die Köpfe ab, denn sie hielt die Mädchen für die Brüder. Dann ging sie wieder weg. Der jüngste Bruder stand auf, ging und weckte die Brüder und befahl ihnen, sich auf den Weg zu machen. Dabei erzählte er, welch schreckliches Werk die Hexe vollbracht hatte. Er selbst blieb bis zum Morgen da. Als nun die Hexe kam, um die Mädchen zu wekken, begriff sie, was geschehen war. Der jüngste Bruder stand auf, setzte sich mit seinem Mädchen auf den Rücken des Pferdes und jagte in Windeseile davon. Als die Hexe merkte, daß der jüngste Bruder mit dem Mädchen davongeritten war, nahm sie den Schürhaken, setzte sich darauf und jagte hinterher. Das Pferd gab dem Jüngling einen Besen, eine Bürste und eine Heckenrosenblüte, damit er sie auf die Erde werfe, sobald die Hexe beide einholte. Sie waren schon ein Stück weg, als der Jüngling plötzlich spürte, daß die Hexe in der Nähe war. Das Pferd befahl, den Besen hinzuwerfen. Sobald er es getan hatte, stand zwischen ihnen ein Wald, so dicht wie ein Besen. Nun mußte die Hexe den Wald abhauen und abbrechen, ehe sie durchkonnte. 214
Inzwischen war aber das Pferd ein großes Stück weitergekommen. Zum zweiten Male sah der Jüngling, daß die Hexe hinter ihnen war. Das Pferd befahl nun, die Bürste hinzuwerfen, und sofort wuchs zwischen ihnen ein so dichter Wald wie eine Kleiderbürste. Die Hexe rackerte und plagte sich derart ab, daß ihr Hintern nur so rauchte, aber hindurch kam sie nicht. Die Hexe kehrte um und holte sich Hilfe von zu Hause. Die Helfer schlugen den Wald ab, und dann jagte sie mit all ihren Leuten den Flüchtenden nach. Der jüngste Bruder sah, daß ein großer Trupp Hexen nahte, alle mit Schürhaken zwischen den Beinen. Das Pferd befahl, die Heckenrosenblüte hinzuwerfen, und sofort war zwischen ihnen ein dichter Heckenrosenwald. Die Hexen drangen in den Heckenrosenwald ein, doch er war sehr stachlig; die Hexen kehrten um und gingen nach Hause. Inzwischen gelangte der jüngste Bruder zu seinem Vater und war für immer von dem Zauber befreit. Plötzlich wurde auch das Pferd zu einem schönen jungen Prinzen. Dieser bedankte sich bei dem jüngsten Bruder, daß er ihn, als er noch ein mageres und häßliches Pferd war, allen anderen schönen Pferden vorgezogen und ihn so von dem Zauber befreit hatte. Zu dritt gingen sie zu dem König, der seine Tochter und seinen Sohn sofort wiedererkannte, die er längst schon für tot hielt und unter der Erde glaubte. Als der König hörte, was die Hexe mit seinen Kindern getan hatte, rief er ein Heer zu215
sammen und befahl, die Hexe mit ihrer ganzen Sippe zu vernichten. Seine Tochter aber gab er gern dem jüngsten Bruder zur Frau. Die älteren Brüder suchen sich noch immer ihre Frauen, und ich weiß nicht, ob sie irgendwo elf Schwestern gefunden haben.
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48 Der Sack-Toomas Ein alter Knecht hatte bei seinem Herrn dreißig Jahre gedient, dann sagte er den Dienst auf und glaubte, nun von dem verdienten Lohn leben zu können, denn er hatte den Lohn von den ganzen dreißig Jahren zu bekommen. Der geizige Herr gab ihm aber nur drei Kopeken. Das war für den Knecht ein schwerer Schlag, doch er murrte nicht und ging nicht zum Gericht, sondern empfing ruhig diesen geringen Lohn und ging auf Wanderschaft. Unterwegs kamen ihm drei Bettler entgegen und baten um Geld. Der Mann nahm die drei Kopeken aus der Tasche, gab sie den Bettlern und sagte: „Mehr Geld als das, was ich an euch verteilt habe, besitze ich nicht. Das war mein Lohn für dreißig Jahre Dienst.“ Die Bettler staunten über seine Freigebigkeit und sagten: „Ein so freigebiger Mensch wie du ist uns noch nicht begegnet. Deshalb schenken wir dir drei Dinge: einen Sack, in den jedes Tier und jeder Mensch hineinläuft, an den du denkst, einen Dudelsack, auf dem man schön spielen kann und nach dessen Musik alle tanzen müssen, und eine Feder, die du an den Hutrand stecken mußt, wenn du wie ein Vogel fliegen willst.“
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Mit Freude nahm der Mann diese Geschenke entgegen und ging weiter. Als er am Gut Kurjasünnitus vorbeimußte, wurde er festgenommen, weil er die Gutsgrenze überschritten hatte. Danach eröffnete man ihm folgendes: „Du wirst freigelassen, wenn du drei Dinge auszuführen vermagst; wenn nicht, kommst du für drei Jahre ins Gefängnis: Erstens sollst du den Dieb fangen, der eine Menge Gefangene entführt hat. Zweitens sollst du so spielen, daß unser Herr zu tanzen beginnt. Drittens sollst du von der hohen Turmspitze den goldenen Knauf herunterholen.“ Dann wurde der Mann in die Kammer gesperrt, aus der die Gefangenen weggeführt worden waren. Um Mitternacht kam der Dieb und sagte: „Neunundzwanzig Gefangene habe ich hier schon weggebracht, das ist jetzt der dreißigste. Steh schnell auf und folge mir!“ Der Knecht sprach: „Was hast du damit solche Eile?“ Er nahm seinen Dudelsack und begann zu spielen. Sowie der Dieb die Klänge des Dudelsacks hörte, fing er gegen seinen Willen an zu tanzen, bis er ganz müde wurde. Dann öffnete der Knecht seinen Sack und sagte: „Das ist mein Sack!“ Sofort lief der Teufel in den Sack hinein; der Mann schnürte ihn zu und legte sich schlafen. Als
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am Morgen die Leute kamen, freuten sich alle, daß der Dieb gefangen war. Der Knecht brachte den Sack zum Schmied, wo er drei Tage lang mit zwei Hämmern bearbeitet wurde. Dann holte er den Sack aus der Schmiede, brachte ihn auf den Gutshof und leerte ihn vor den Leuten. Ein Wunsch war erfüllt. Noch zwei mußten vollbracht werden. Da nahm er seinen Dudelsack und begann zu spielen. Sobald der Herr und die anderen Menschen die Dudelsackmusik hörten, begannen sie zu tanzen; und sie tanzten, bis sie schwitzten. Endlich hörte der Knecht auf zu spielen, steckte sich die weiße Feder an den Mützenrand, flog wie ein Vogel hinauf zur Turmspitze und holte den goldenen Knauf herunter. Nachher wanderte er noch durch viele Länder und vollbrachte seine erstaunlichen Taten. Schließlich wurde er des Lebens auf der Erde überdrüssig und wollte in der Hölle weiterleben. Sowie der alte Teufel ihn jedoch kommen sah, schrie er schon von weitem und rief seinen Jungen zu: „Schließt das Tor, laßt ihn nicht herein! Er ist der berühmte Sack-Toomas, von dem ich euch erzählt habe.“ Der Knecht begriff ihre Furcht, steckte sich die weiße Feder an die Mütze und flog vor das Himmelstor, wo er auf seinem Dudelsack zu spielen begann. Als sie im Himmel das Spiel hörten, freuten sie sich sehr, öffneten das Tor und ließen ihn hinein. 219
49 Der Tod im Lägel In uralten Zeiten lebte hier in der Gemeinde Venevere ein Bauer. Er zahlte seinen Knechten niemals einen Lohn, gab ihnen vielmehr jedesmal, wenn sie sich am Ende eines Jahres eine andere Stelle suchen gingen, nur Brot auf den Weg und ein Getränk im Lägel zum Trinken mit. Einst kam wieder ein Knecht zu diesem Hofbesitzer in den Dienst. Er hatte schon sieben Jahre lang gedient, aber noch kein einziges Mal Lohn erhalten. Schließlich sagte er, daß er weggehen wolle, um sich anderswo einen Dienst zu suchen, wo er auch einen Lohn erhalten würde. Der Wirt befahl seiner Frau, sie solle dem Knecht zum Abschied ein Schaf kochen und ihm auch Brot für sieben Tage mitgeben. Er selbst aber füllte dem Knecht ein großes Lägel mit Bier. Der Knecht band das Lägel mit dem Sack zusammen, hängte sich beides über die Schulter und ging dann seines Weges, auf die Suche nach einer neuen Stelle, dabei den Lohn für sieben Jahre Dienst in Brot und Trank auf der Schulter tragend. Gegen Abend gelangte er an den Rand eines Waldes. Dort setzte er sich auf einen Hügel nieder, öffnete seinen Brotbeutel, um zu Abend zu essen. 220
Er nahm Brot und Fleisch aus dem Sack und rief: „Wessen Magen leer ist, der komme und helfe mir, den Verdienst von sieben Jahren zu verzehren!“ Sofort kam ein altes graues Männchen. Der Knecht fragte: „Wer bist du?“ Das Männchen sagte, er sei der Teufel aus der Unterwelt. Der Knecht gab ihm jedoch keinen einzigen Happen und sagte: „Dich kenne ich nicht! Von dir habe ich noch niemals etwas gehört, und unbekannten Personen gebe ich nichts!“ Sofort verschwand der Teufel, während der Knecht seine Aufforderung wiederholte, es solle jemand kommen und ihm helfen, den Lohn zu verzehren. Gleich darauf erschien ein anderes Männchen, das aber viel älter war und einen längeren Bart trug. Als der Knecht diesmal hörte, daß der Alte der Herrgott selber sei, sagte er: „Dir gebe ich schon gar nichts! Denn obwohl ich dich nicht gut kenne, so habe ich doch von dir gehört, daß du der oberste Herr wärest sowohl über die Welt als auch über den Himmel. Warum bist du aber nicht gerecht? Den einen gibst du einen Überfluß an Gütern, den anderen jedoch nicht mal zum Sattessen. Ja, sieh nur! Ich habe sieben Jahre gedient und rufe nun jemanden, der auch arm ist und der kommen soll, an dem wenigen, was man mir als Wegzehrung gegeben hat, teilzuhaben. Und dann bist gleich als erster wieder du da! Du wolltest 221
noch davon deinen Teil haben, der einem anderen aus der Not geholfen hätte. Du kannst gehen, dir gebe ich nichts!“ So verschwand auch der Herrgott, und der Knecht wiederholte nochmals seinen Ruf. Bald trat ein Mann im mittleren Alter an ihn heran. Als erstes fragte der Knecht, wer er sei. Als der Gast ihm sagte, er sei der Tod, lud der Knecht ihn gleich zum Essen ein. Zusammen aßen sie den großen Brotbeutel – Lohn für sieben Jahre – leer. Der Knecht war dem Tod gegenüber sehr freundlich. Er sagte zu ihm: „Dir gebe ich gern, denn du bist gerecht. Du fragst nicht, ob einer reich oder arm ist, denn du nimmst überall gleichermaßen deinen Teil. Deshalb essen und trinken wir jetzt von dem, was ich für einen langen Dienst erhalten habe!“ Als nun alles aufgegessen und das Lägel leer getrunken war, hatte das Bier den beiden die Köpfe heiß gemacht, so daß die Unterhaltung lebhaft wurde. Schließlich fragte der Knecht den Tod: „Sage mir doch, wie gelangst du überall durch verschlossene Türen und Fenster hinein?“ „Ja, ich gelange schon hinein!“ sagte der Tod. „Das ist für mich eine leichte Sache! Sieh mal, hier ist die kleine Halsöffnung im Lägel, doch ich kann mit Leichtigkeit durch sie hindurchschlüpfen!“ Sofort war der große Körper des Todes neben ihm verschwunden. Der Knecht schaute in das Lä222
gel hinein, ja, der Tod war drin. Da setzte der Knecht den Spund auf die Lägelöffnung drauf und schlug ihn fest hinein, nahm das Lägel über die Schulter und ging zum Meer, um den Tod mit dem Lägel zu ertränken. Ich werde dir den Garaus machen, damit auch du, der letzte Räuber und Störenfried, nicht mehr auf der Erde herumlungerst, meinte der Knecht und wanderte in solchen Gedanken weiter bis hin zum Ufer des Vösu-Sees. Dort befestigte er einige Steine am Band des Lägels und ließ es vom Ufer auf den Grund hinab. Na, das ist dein Ende, dachte der Knecht und ging seines Weges. Doch der Tod starb nicht im Lägel. Da es nun aber in Venevere, im Kirchspiel Simuna, keinen Tod mehr gab, wuchsen die Kinder und die jungen Menschen sieben Jahre lang gesund und munter heran, während die alten Leute in großer Not den Tod herbeisehnten. Der Tod war verschwunden, kein Auge hatte ihn gesehen, kein Ohr gehört. Die Greise warteten auf ihn und waren in Not, die Achtzig- und Neunzigjährigen stöhnten und flehten: „Tod, lieber Tod! Komme doch endlich und erlöse uns von unserer Not! Warum hast auch du uns verlassen? Unser Leben ist erbarmungswert, unsere Gesundheit schlecht. Komm endlich, lieber Tod, und bringe uns auf den Ruheplatz deines Reiches zum ewigen Schlaf!“ Sieben Jahre waren vergangen, seit der Knecht den Tod im Lägel ins Meer versenkt hatte, da fan223
den die Fischer am Vösu-Strand ein Lägel, das die Wellen ans Ufer gespült hatten. Die Bänder waren vom Wasser durchgefault, und so stieg das Lägel an die Oberfläche. Die Männer, die es gefunden hatten, schlugen den Spund heraus, um zu sehen, was drinnen war. Aus dem Lägel sprang eine magere knochige Männergestalt – der Tod selbst – heraus! Er bedankte sich bei den Männern für die Befreiung und ging sofort, nachdem er einem Mäher am Strand die Sense aus der Hand genommen und sich über die Schulter geschwungen hatte, seiner früheren Beschäftigung nach. Im Lägel hatte der Hunger ihm das Fleisch von den Knochen genommen, und er wurde so, wie er auch jetzt noch aussieht. Sehnt sich ein Greis in Venevere nach dem Tode, so wird ihm stets geantwortet: „Wer weiß, ob der Tod nicht wieder im Lägel steckt.“
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50 Der Mann mit der goldenen Nase In alten Zeiten lebte in einem fernen Lande eine Mutter mit ihrer Tochter. Dieser Tochter hatte in ihrer Kindheit ein Weiser prophezeit, daß sie einen Mann mit einer goldenen Nase bekommen würde. Das Mädchen wuchs heran, aber es gab ihre Hand keinem der jungen Männer, die um sie warben, denn sie wartete auf den Mann mit der goldenen Nase, den ihr der Weise versprochen hatte. Das Jahr verging, das nächste kam. Die Mutter starb, doch der Erwartete erschien nicht. Da kam eines Abends nach dem Tode der Mutter ein Mann auf einem schwarzen Hengst vor die Tür geritten und, schau nur, der Mann hatte eine goldene Nase. Der Mann verlangte die Hand des Mädchens, und das Mädchen gab ihm ihr Versprechen. Der Bräutigam sagte, daß er es eilig habe, und bat die Braut, gleich mit ihm zu kommen, versprach, die Hochzeit gleich zu Hause zu halten und dann auch den Bruder der Braut zur Hochzeit zu rufen. Die Braut widersprach anfangs, doch dann packte sie die wertvollsten Sachen zusammen, und los ging die Fahrt, so schnell, daß ein Strauch nur hörte, der andere sah, der dritte fragte: „Wohin geht es?“ 225
Als sie mehrere Meilen zurückgelegt hatten, gelangten sie an ein großes kirchenähnliches Gebäude. Der Bräutigam hielt das Pferd an, gab die Zügel der Braut und sagte, er müsse in dieses Haus hineingehen. Nach einiger Zeit kam er wieder heraus, und die Fahrt ging auf die gleiche Weise weiter. Nachdem sie einige Meilen gefahren waren, erreichten sie ein anderes hohes Steinhaus; und der Bräutigam sagte wieder, er müsse dort hineingehen. Das Herz der Braut schlug ängstlich, und als der Bräutigam ins Haus gegangen war, ging sie heimlich nach, um zu sehen, was er dort zu tun hatte. Durch das Schlüsselloch sah sie, daß ihr Bräutigam im Haus auf einem altarartig erhöhten Platz saß, vor dem die Lichter brannten, und an einem Hundekadaver aß. Voller Angst und Abscheu kehrte sie zu ihrem Pferd zurück. Nach einiger Zeit kam der Bräutigam nach, und die Fahrt ging wieder weiter. Zum dritten Male tauchte ein hohes Haus auf, und auch da sagte der Bräutigam, daß er hineingehen müsse. Er sprang aus dem Schlitten und eilte ins Haus, die Braut aber ging hinter die Tür, um zu lauern. Da sah sie, daß ihr Bräutigam wieder auf einem erhöhten Platz saß und einen toten Menschen aß. Wie ein Messerstich ging es ihr durch das Herz: Wer konnte wohl ihr Bräutigam sein? Sie ging zum Pferd zurück und wollte mit ihm entfliehen,
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aber da sie den Weg nicht kannte, wagte sie es doch nicht. Nach einiger Zeit kam der Bräutigam heraus, und nun ging die Fahrt in Windeseile weiter. Schließlich gelangten sie zu einem altmodischen, halb verfallenen Schloß. Mehrere Diener warteten auf dem Hof, um das Pferd in den Stall zu bringen. Der Bräutigam aber geleitete die Braut ins Schloß. Nachdem sie eine geraume Zeit gegangen waren, währenddem sie keinem einzigen Diener begegneten, kamen sie zu einer Kammer. „Hier kannst du jetzt wohnen“, sagte ihr der Bräutigam, „bald will ich die Hochzeit halten und zu der Zeit auch deinen Bruder hierherbringen.“ Nachdem er das gesagt hatte, ging er fort und ließ die Braut allein. In der nächsten Nacht erschien der Braut der Geist ihrer verstorbenen Mutter und sagte: „Schau, Tochter! Jetzt hast du bekommen, was du wolltest, denn wisse, daß der Mann mit der goldenen Nase kein anderer ist als der Teufel selbst, und dein gegenwärtiger Wohnort ist das Vorhaus der Hölle.“ Auf die Frage, wie denn die Mutter hierhergekommen sei, antwortete sie, daß ihr Aufenthaltsort nicht hier sei, sondern auf einer anderen Stelle, aber das Mutterauge wache überall über der Tochter. Auf die Frage, wie sie von hier entkommen könne, antwortete die Mutter, daß vorläufig keine Hoffnung dazu vorhanden sei.
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Am Tage kam sie ihr Mann besuchen, war sehr höflich und zuvorkommend, entschuldigte sich aber auch, daß es wegen der großen Vorbereitungen nicht möglich sein werde, so schnell die Hochzeit zu halten, sie müsse einige Zeit warten. Einer ihrer früheren Bewerber, dessen Herz nicht so schnell abkühlte, hatte erfahren, daß ein Mann mit einer goldenen Nase seine geliebte Braut weggeholt hatte. Er ging zum Weisen, um Rat zu fragen, wer es wohl sein könne. Der Weise sagte ihm, daß es der Teufel selbst war, der seine Braut in die Hölle geschleppt hatte. Da bat der junge Mann um Rat, wie er die geliebte Braut retten könne. Der Weise antwortete ihm: „Nimm einen Knäuel und geh damit in der Donnerstagnacht dreimal hintereinander zum nächsten Kreuzweg, richte den Knäuel dreimal gegen Norden. Dann wirst du sehen, was du zu tun hast. Aber hüte dich davor, Angst zu bekommen, sonst bist du verloren.“ Der Mann versprach, den Worten des Weisen zu folgen, und ging nach Hause. Am ersten und am zweiten Donnerstag geschah nichts Besonderes. Am dritten Donnerstag kam plötzlich starker Sturm auf und riß ihm den Knäuel aus der Hand. Der Mann ging und fing ihn. Dann kam ein Feuerrad und warf ihm den Knäuel wieder aus der Hand. Und auch dieses Mal bekam er ihn noch zu fassen.
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Bald darauf erschien ein sehr großer Mann und fragte: „Was treibst du dich hier im tiefen Wald herum?“ Der Mann antwortete: „Ich bin ein armer Mensch, suche Arbeit und Dienst, habe mich aber zufällig hierher in den Wald verirrt und finde nicht mehr den Weg.“ Der große Mann antwortete: „Ich suche einen Knecht, vielleicht hast du Lust, zu mir in den Dienst zu kommen. Die Arbeit bei mir ist nicht schwer, außerdem noch im Winter; und wenn deine Lohnforderungen nicht hoch sind, so können wir bald ins Geschäft kommen.“ Der Freier antwortete: „Mit dem Lohn hat es Zeit; wenn die Arbeit gemacht ist, dann können wir immer noch darüber reden.“ Der große Mann sagte: „Wenn die Sache so ist, dann wollen wir zu mir nach Hause gehen und nachsehen, wie unsere Ware zusammenpaßt.“ Sie gingen weiter, und nach einiger Zeit kamen sie zu dem alten verfallenen Schloß. Hier zeigte ihm der Teufel seine zukünftige Arbeit und außerdem auch die Kammer, in der er wohnen sollte. Er sagte: „Den nächsten Tag kannst du zu Hause ausruhen, und am folgenden Tag will ich dich in die Arbeit einweisen. Im Winter hast du nicht viel zu tun, im Sommer aber mußt du dafür die Beine in die Hand nehmen.“ Sagte es und ging seines Weges. Den ganzen Tag schaute sich der neue Knecht um, ob er irgendwo die Frau zu sehen bekam, doch er sah sie nirgends. 229
In der Nacht erwachte er von großem Lärm und eilte zum Fenster, um zu sehen, was da los ist, doch er sah nichts. Einige Zeit darauf wurde eine Tür zu seiner Kammer geöffnet, die er bis dahin nicht bemerkt hatte; die Frau trat ein, begrüßte ihn und fragte, wie er hierhergeraten sei. Der Mann erzählte, wer er sei und was er suche und daß er beabsichtige, sie zu retten, selbst wenn es sein Leben kosten solle. Die Frau antwortete: „Wenn deine Absicht fest ist, dann warte bis zum Freitag des zweiten Vollmonds, an diesem Tag geht er ebenso weg wie heute, und dann versuchen wir zu fliehen.“ Der Mann wartete und verrichtete fleißig seine Arbeit bis zum Freitag des zweiten Vollmonds. In der Nacht gab es wiederum großen Lärm, und als es still wurde, trat die Frau wieder in seine Kammer. Sie trug in der Hand eine Rute, und dem Manne gab sie eine Holzlatte, ein Sandkorn und im Glas etwas Wasser. „Wenn ich dir sage, daß du etwas herunterwerfen sollst, dann tue das. Doch eilen wir jetzt, denn die Zeit ist knapp.“ Sie waren schon ein Stück gegangen, als die Frau sagte: „Die Rute bewegt sich, wir werden verfolgt. Wirf schnell das Sandkorn ‘runter!“ Der junge Mann tat es, und sofort entstand hinter ihrem Rücken ein großer Berg, sie aber hasteten mit Windeseile weiter. Der Teufel gelangte zum Berg, lief mit erstem Schwung gegen den Berg, prallte zurück und rief 230
seinem kleinen Sohn zu: „Sohn, eile, Sohn, eile, geh und hole von zu Haus eine Schaufel!“ Sofort waren zwei Schaufeln da, und sie schaufelten den Berg ab, daß es nur so rauchte. Der junge Mann und die Frau waren wieder ein Stück Weges gegangen, als die Frau rief: „Die Rute bewegt sich, wir werden verfolgt. Wirf das Brett hin!“ Der junge Mann tat es, und sofort entstand hinter ihrem Rücken ein großer hoher und dichter Wald. Der Teufel gelangte zum Wald, wischte den Schweiß von der Stirn und rief: „Sohn, eile, Sohn, eile, geh und hole von zu Haus die Äxte!“ Nach einiger Zeit war auch der Sohn mit den Äxten zurück, und jetzt hieben sie drauflos, daß die Späne nur so flogen. Bald war der Wald abgeholzt, und jetzt jagten sie mit Windeseile weiter. Der junge Mann und die Frau waren schon fast zu Hause, als der Teufel ihnen wieder auf den Fersen war. Da rief die Frau: „Wirf den Wassertropfen hin!“ Der junge Mann tat es, und sofort entstand zwischen ihnen und dem Teufel ein großes uferloses Meer. Der Teufel gelangte zum Meer und rief: „Sohn, eile, Sohn, eile, geh und hole von zu Haus die Alte, sie wird dieses Meer schon austrinken!“ Bald kam auch schon die Alte heran, die sofort wie verrückt das Wasser hinunterzuschlürfen begann. Schon war das Meer fast leer, da zerplatzte die Alte, und das Wasser floß zurück ins Meer. Der Teufel blieb hinter dem Wasser und erwischte die 231
Fliehenden nicht. Die gingen nach Hause und lebten dank der Rute als Mann und Frau lange und glücklich.
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51 „Der Mond scheint, der Tote fährt“ Eine Witwe saß eines Abends vor dem Spinnrad und dachte an ihren verstorbenen lieben Mann. Plötzlich geht die Tür auf, und der Tote tritt ins Zimmer. „Gib mir etwas zu essen“, fordert er von der Frau. Die Frau bringt eine Erbsensuppe und gekochte Hühnereier. Der Tote beginnt gierig zu essen, nimmt aber die Erbsen aus der Suppe heraus, legt sie auf den Tisch und schneidet sie mit einem Holzmesser in zwei Hälften, ißt sie dann und läßt die Erbsenschalen liegen. Die Hühnereier ißt er jedoch mit der ganzen Schale. Die Nachbarskinder sahen, daß ein Mann mit einem schönen Pferd, das ein schmuckes Kummet hatte, vorgefahren war, liefen hin, schauten durch das Schlüsselloch, sahen dieses sonderbare Essen und wunderten sich. Sie kehrten nach Hause zurück und sagten: „Der Mann der anderen ist nach Hause gekommen und ißt. Die Erbsen schält er, und die Hühnereier ißt er mit der Schale, das ist bestimmt kein Mensch!“ Der Mann der Witwe hatte inzwischen gegessen und trieb die Frau an, sich schnell anzuziehen, damit sie fortkönnten.
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Sowie die Frau angezogen war, setzten sie sich in den Schlitten und fuhren wie der Wind davon. Da gibt der Mann der Frau die Hand eines Menschen und sagt: „Iß!“ Die Frau aber legt die Hand auf den Boden des Schlittens. Der Mann sagt: „Der Mond scheint, der Tote fährt, meine Schöne, meine Liebe, fürchtest du dich?“ Die Frau erwidert: „Warum soll ich mich fürchten, wenn doch mein Liebster bei mir ist.“ Der Mann ruft: „Hand, wo bist du?“ „Auf dem Boden des Schlittens!“ erwidert die Hand. „Warum hast du sie nicht gegessen?“ fragt der Mann. „Ich werde sie schon essen“, entgegnet die Frau. Sie fahren weiter. Der Mann sagt: „Der Mond scheint, der Tote fährt, meine Schöne, meine Liebe, fürchtest du dich?“ Die Frau erwidert: „Warum soll ich mich fürchten, wenn doch mein Liebster bei mir sitzt.“ Der Mann ruft: „Hand, wo bist du?“ „Unter dem Hintern“, antwortet die Hand. „Warum hast du sie da hingelegt und nicht aufgegessen?“ fragte der Mann. „Ich werde sie schon essen“, antwortete die Frau.“ Nun kommen sie zu einem Wirtshaus, der Mann hält das Pferd an und geht ins Wirtshaus. 234
Die Frau geht ihm nach und schaut durch die Tür, was er dort tut, sieht aber, daß er wie ein Hund auf dem Fußboden des Wirtshauses unter dem Tisch hervor in eine Ecke kriecht und Knochen nagt. Die Frau versteckt die Menschenhand unter ihren Kleidern am Herzen. Der Mann kommt heraus, setzt sich wieder in den Schlitten, und sie jagen weiter. „Der Mond scheint, der Tote fährt, meine Schöne, meine Liebe, fürchtest du dich?“ fragt der Mann. „Was soll ich mich fürchten, wenn der Liebste neben mir ist“, erwidert die Frau. „Hand, wo bist du?“ ruft der Mann. „Unter dem Herzen“, antwortet die Hand. Der Mann nimmt an, daß die Frau jetzt die Hand aufgegessen habe. Sie jagen weiter und kommen zum Friedhof. Der Mann fängt an, ein Loch zu graben, und seine Frau steht am Rande des Loches. Wie das Loch schon so tief war, daß der Mann nicht mehr über den Rand schauen konnte, zog die Frau die Kleider aus und hängte sie über ein Kreuz, selbst aber lief sie zum Pastor und erzählte ihm ihre Geschichte. Der Mann zieht vom Rande des Loches seine Frau zu sich auf den Schoß, schreit aber: „Ei, ei, sie ist hart!“ und rennt sofort zum Pastor, um die Frau zu holen. Dort ruft er vor der Tür: „Kärnau! Gebt mir die Meine heraus!“
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Der Pastor nimmt den Trauring vom Finger der Frau, setzt ihn an die Pflugspitze und erhitzt im Ofen die Pflugspitze und den Ring. Dann reicht er sie zwischen der Tür dem Mann. Der greift nach dem Ring und verschwindet daraufhin mit so großem Getöse und Gepolter, daß die Türpfosten und die Schornsteine vom Hause des Pastors herabfallen.
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52 Die Königstochter als Schlange Ein König hatte drei Söhne. Er versprach, sein Königreich nach seinem Tode dem Sohne zu vererben, der ihm das weißeste Hemd bringe. Zum Suchen gab er ihnen ein Jahr Zeit. Die zwei älteren Brüder waren ihrem jüngsten Bruder böse, weil der Vater ihn am meisten liebte, und deshalb hielten sie ihn für dumm, schlugen ihn und litten ihn nicht in ihrer Gesellschaft. Es kam die Zeit, da alle drei für ein Jahr hinausmußten. Jeder ging seinen eigenen Weg. Der jüngste Sohn aber, der kleiner als die anderen war und am wenigsten Hoffnung auf die Thronfolge hatte, ging in einen Wald, wo er bitterlich zu weinen anfing. Wie er so auf einem Hügel saß und aus dem mitgenommenen Brotbeutel zu essen begann, bemerkte er ein großes Rattenloch, aus dem etwas Licht hervorschien. Als er das Loch näher betrachtete und mit den Händen noch vergrößerte, sah er, daß unter der Erde ein großer, prächtiger Bauernhof lag. Schließlich, als das Loch groß genug war, ging er hinunter und kam in ein wunderschönes Schloß. Beim Umhergehen erblickte er auf einem goldenen Tisch eine prächtige große Schlange.
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Von Angst ergriffen, versuchte er zu entfliehen. Doch umsonst! Das böse Tier setzte ihm nach. Als er sah, daß er auf keine Rettung mehr hoffen konnte, fiel er vor dem Untier auf die Knie und begann um Gnade zu flehen. Die Schlange erhörte die Bitten des jungen Mannes und fragte, was ihn hierhergeführt habe. Nun erzählte der jüngste Bruder der Schlange seine ganze Geschichte und fügte auch hinzu, er wisse gar nicht, wo er ein solches Hemd hernehmen solle, und daß seine anderen Brüder bei der Suche danach sicher viel stärker und klüger seien. „Wenn du mir drei Tage treu dienen willst, sollst du ein solches Hemd erhalten“, sagte die Schlange. „Du mußt mich dreimal täglich waschen.“ Diese Aufgabe erweckte zwar bei dem jungen Mann einen Widerwillen, doch was blieb ihm anderes übrig, wollte er das verlangte Hemd erhalten. Als er mit seiner Arbeit fertig war und in dem erwähnten Schloß an drei Tagen dreimal täglich die Schlange gewaschen hatte, gab sie ihm ein silbernes Kästchen und befahl ihm, es erst zu öffnen, wenn er an der Stelle im Wald sei, wo er auf dem Hügel geweint hatte. Der königliche Diener nahm dankend das Kästchen entgegen und tat, wie ihm geheißen. Doch wie erschrak er, als er in der Waldesdämmerung das silberne Kästchen öffnete! Der ganze Wald leuchtete von dem Hemd, das er vor sich ausbreitete.
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Zitternd vor Freude, trat er vor den Thron seines Vaters und gab ihm das Hemd. Das gleiche taten auch seine Brüder, die am selben Tag heimgekommen waren, doch was waren ihre Hemden gegen das des jüngsten Bruders? Desto mehr jedoch schlugen ihn die Brüder wieder, so daß der Kleine in große Not geriet. Jetzt gab der König seinen Söhnen eine andere Aufgabe: Sie sollten ein weiteres Jahr wegbleiben, und am Ende des Jahres mußte ein jeder ein Brot mitbringen, und wessen Brot das feinste und schmackhafteste war, der sollte das Königreich erhalten. Die Söhne gingen wie schon das vorige Mal los. Der jüngste Bruder kannte bereits den Weg, den er gehen mußte. Bald erschien er auch vor der Schlange, um von ihr Rat zu holen, und berichtete ihr vom Wunsch seines Vaters. Das Tier sagte zu ihm: „Wasch mich sechs Tage jeden Tag sechsmal, dann besorge ich dir das verlangte Brot.“ Der junge Mann erfüllte ihren Wunsch. Nach einem Jahr erschien er mit seinen Brüdern vor seinem Vater und übergab ihm sein Brot, das natürlich besser war als das der anderen. Die dritte Aufgabe bestand darin, die schönste Braut heimzubringen. Wieder erschien der jüngste Bruder im unterirdischen Schloß und brachte der Schlange seine Bitte vor.
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Die Schlange sagte: „Wasche mich zwölf Tage jeden Tag zwölfmal, dann heize den Ofen siebenmal heißer, als er sonst geheizt wird, nimm mich aus dem Schlaf auf den Schoß, wirf mich in den Ofen und schließe die Tür fest zu. Und wenn ich im Ofen schreien und dich gar mit dem Tode bedrohen sollte, öffne nicht die Tür; denn sollte ich entkommen, werde ich dein Leben nehmen.“ Der junge Mann tat wie befohlen, heizte den Ofen siebenmal heißer als sonst, riß die Schlange aus dem Schlafe und warf sie in die Glut. Die Schlange schrie fürchterlich und drohte, den jungen Mann zu verschlingen, doch umsonst, die Ofentür blieb verschlossen. Am anderen Tage, als das Geschrei im Ofen verstummt war, öffnete der junge Mann die Ofentür. Doch was erblickte er? Aus dem Ofen kam ein wunderschönes Mädchen heraus, fiel ihm um den Hals und sagte: „Du hast mich aus dem Zauber erlöst. Schon zwölf Jahre bin ich hier im unterirdischen Schloß gefangen, wo mich der Teufel in eine Schlange verwandelt hat, weil ich nicht seine Frau werden wollte. Jetzt ist er aus dem Haus gegangen, um meinesgleichen hierher ins Netz zu locken. Schnell, versuchen wir, von hier zu entkommen, es könnte ja geschehen, daß er früher nach Hause kommt.“ Bald war der jüngste Bruder mit seiner schönen Braut beim Vater, ebenso wie die anderen Brüder mit ihren Bräuten. Der jüngste bekam das Recht, das Reich zu erben, weil er die schönste Frau hat240
te, die außerdem noch eine Königstochter war, die der Teufel in einer stürmischen Nacht gestohlen, ins unterirdische Schloß gebracht und dort in eine Schlange verwandelt hatte.
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53 Die vertauschte Braut An einem einsamen Ort, abseits von anderen Menschen, lebte in alten Zeiten ein verwitweter Schuster mit seiner einzigen Tochter. Da ließ eine böse Witwe durch andere Leute dem Schuster bestellen, daß sie ihn gern heiraten möchte. Die Tochter bat aber den Vater mit Tränen in den Augen, diese Frau zu meiden, denn alle guten Menschen sagten, daß sie eine Hexe sei. Schließlich hatte der Schuster das Gerede der Leute satt, holte einen zerrissenen Stiefel unter dem Tisch hervor, warf ihn der Tochter zu und sagte: „Wenn dieser Stiefel Wasser hält, so daß kein Tropfen auf die Erde fällt, dann werde ich die Frau freien.“ Die Tochter lief guter Dinge, den Befehl des Vaters auszuführen, denn mit einem so zerrissenen Stiefel würde man nicht mal eine Handvoll Wasser schöpfen können. Sie meinte: Ehe ich drei Schritte vom Brunnen fort bin, ist der Stiefel leer. Doch schau nur – sobald sie das Wasser hineingegossen hatte, war der Stiefel wie zugelötet, und kein Tropfen floß aus den Löchern heraus. So war wirklich anzunehmen, daß die Witwe eine Hexe war. Der Schuster hatte aber nun mal sein Versprechen gegeben und konnte es jetzt 242
nicht mehr brechen; er war gewohnt, sein Wort zu halten. Ungeachtet der Bitten der Tochter freite er die böse Witwe, die ebenfalls eine Tochter hatte. Zwischen den beiden Kindern gab es freilich einen Unterschied: den nämlich, daß die Tochter der Stiefmutter häßlich und schwarz, die Schusterstochter aber schön wie ein Blütenzweig war. Am ersten Tag nach der Hochzeit zeigte sich die Stiefmutter der Tochter ihres Mannes gegenüber sehr freundlich. Sie gab ihr am Morgen frische Milch zum Gesichtwaschen, und sie ließ die eigene Tochter die andere bedienen, was allerdings der Stieftochter gar nicht angenehm war. Am nächsten Tag kam es freilich schon etwas anders. Die Stiefmutter ließ die Tochter ihres Mannes nun nicht länger schlafen und gab ihr auch keine Milch mehr zum Gesichtwaschen. Am dritten Tag aber wurde es ganz schlimm: Sie wurde noch vor Morgengrauen beim ersten Hahnenschrei geweckt und mußte ihre Halbschwester bedienen. Jetzt gab die Stiefmutter jeden Tag ihrer häßlichen und bösen Tochter frische Milch zum Trinken und zum Gesichtwaschen. Die Stieftochter dagegen mußte sich mit trockenen Brotkrusten begnügen. Sie trieb ihre Stieftochter überall an, wo es nur möglich war, obwohl diese ganz von allein fleißig arbeitete. Der Neid und der Haß der Stiefmutter wuchsen von Tag zu Tag mit der Schönheit der Stieftochter. Schließlich konnte sie die andere überhaupt nicht mehr sehen und suchte nach einer Gelegenheit, sie aus dem Hause zu treiben. 243
An einem Wintertag, bei Schneegestöber, trat die Stiefmutter wieder an die Stieftochter heran, reichte ihr aus Papier gefertigte Kleider und sagte: „Du mußt jetzt diese Kleider anziehen und darfst nicht eher zurückkehren, als bis du mir einen Korb voll frischer Erdbeeren herbringst.“ Mit diesen Worten nahm sie der Stieftochter alle Kleider weg und gab ihr ein Kleid aus Papier sowie einen großen Korb, in dem trockene Brotkrusten als Mittagessen lagen. Die Stieftochter nahm aber die Sachen dankend entgegen und trat mit Tränen in den Augen auf den Hof, wo der starke Frost sie zu zerreißen drohte. Sie begann zu laufen, um sich zu erwärmen, und gelangte schließlich vor ein sauberes Haus, in dem mehrere graugekleidete alte Männer saßen. Sie begrüßte sie, wünschte ihnen Kraft zur Arbeit und bat sie um Erlaubnis, sich ein wenig aufwärmen zu dürfen. Die Männer traten von der Ofenöffnung zurück und ließen das Mädchen sich wärmen. Die Stieftochter nahm die trockenen Brotkrusten aus dem Korb und begann zu essen. Da sagte einer der Alten: „Was ißt du da? Gibst du uns auch etwas ab?“ Das Mädchen antwortete freundlich: „Gern würde ich euch etwas geben, wenn ich nur etwas zu geben hätte; aber ich muß selbst trockene Krusten nagen, die keinem schmecken würden. Doch wenn ihr es nur wünscht, so will ich gern mein Mittagbrot mit euch teilen.“ Mit diesen Worten gab sie jedem Alten von dem, was sie bei sich hatte, vergoß aber zugleich 244
bittere Tränen dabei. Ein Alter fragte, warum sie weine, und das Mädchen erzählte ihm von seinem Leid. „Aber das ist doch gar nicht schlimm!“ sagte der Alte. „Nimm dort die Schaufel und den Besen, fege den Hof frei vom Schnee, und schon wirst du Erdbeeren finden.“ Das Mädchen tat alles, wie ihm befohlen wurde, und fand unter dem Schnee so viele Erdbeeren, wie es noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Bald war der Korb voll, das Mädchen bedankte sich, nahm von den Männern Abschied und eilte nach Hause. Die Männer schauten ihr lange nach. Schließlich sagte einer von ihnen: „Wünschen wir jeder diesem guten Mädchen etwas zum Andenken.“ Der erste sagte: „Ich wünsche, daß ihr mit jedem ersten Wort, mit dem sie zu sprechen beginnt, ein Goldstück aus dem Munde fällt.“ Der zweite sagte: „Ich wünsche, daß das Mädchen mit jedem Tag noch schöner wird.“ Der dritte: „Daß sie einmal die Frau des Königs wird.“ Der vierte wünschte, daß sie mit jedem Tag schlanker werde, und der fünfte, daß sie unterwegs warme Kleider bekomme. Die Stiefmutter saß gerade am Fenster, als die Tochter mit dem Korb Erdbeeren nach Hause kam. Als sie das Mädchen in so feinen Kleidern sah, glaubte sie, mit ihr sei etwas Außergewöhnliches geschehen, und eilte der Stieftochter sehr freund245
lich entgegen. Sie brachte sie in die Stube, machte ihr Eierkuchen, setzte sie vor den Ofen und forderte die Stieftochter auf, ihr zu erzählen, wo sie die vielen Erdbeeren herhabe. Sie dachte daran, am nächsten Tag auch die eigene Tochter nach den Beeren zu schicken. Die Stieftochter begann zu sprechen, und ein Goldstück fiel ihr aus dem Munde. Sie erschrak selbst, doch noch mehr erschrak die Stiefmutter. Äußerlich blieb sie wohl freundlich, doch im Herzen wünsche sie ihrer eigenen Tochter ein solches Glück, ließ sie die warmen Kleider anziehen, die die Stieftochter erhalten hatte, buk ihr Eierkuchen und schickte sie auf den Weg, den ihr die Stieftochter beschreiben mußte. Die Tochter gelangte ebenfalls vor das Haus, das ihr die Halbschwester bezeichnet hatte. Sie ging an dem häßlichsten Alten wortlos vorbei, und einen anderen, der vor dem Ofenloch saß, schrie sie mit böser Stimme an: „Pack dich, Halunke, hast hier lange genug geschmort, laß nun mich an die Wärme!“ Wortlos erfüllte der Alte den Befehl. Die häßliche Tochter setzte sich vor das Ofenloch und begann das schmackhafte Mittagessen zu verzehren. Die Alten traten näher und baten auch um ein Stückchen. Die häßliche Tochter jedoch erwiderte: „Habe ich vielleicht die Eierkuchen deshalb hergeschleppt, um sie an euch zu verfüttern? Haltet’s Maul und laßt mich essen!“
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Als sie gegessen hatte, sagte sie herrisch: „Zeigt mir jetzt, wo man hier Erdbeeren finden kann!“ Ein Alter erwiderte: „Nimm dir dort die Schaufel und den Besen und fege den Schnee vom Hof, bis er ganz schneefrei ist; dann wirst du finden, was du wünschst.“ „Das könnte euch so passen; selbst wollt ihr euren Hof nicht ausfegen, und da soll ich es für euch tun, daraus wird aber nichts.“ Mit diesen Worten trat sie aus der Tür hinaus, und einer der Alten sprach: „Wünschen wir auch ihr etwas zum Andenken an ihren Besuch.“ Der erste sagte: „Mit dem ersten Wort einer jeden Rede soll ihr eine Kröte aus dem Munde fallen!“ Der zweite: „Sie soll mit jedem Tag häßlicher werden!“ Der dritte: „Sie soll niemals heiraten!“ Als die Tochter nach Hause kam und zu sprechen begann, fiel ihr eine Kröte aus dem Munde und sprang zur Tür hinaus. Seit dieser Zeit gibt es auch Kröten auf der Welt. Nun fing die Stiefmutter an, ihre Stieftochter noch mehr zu hassen und mit Arbeiten zu quälen; sie gab ihr keine Seife mehr zum Kleiderwaschen und verlangte, daß die Kleider dennoch sauber gewaschen sein sollten. Eines Tages wusch die Stieftochter noch am späten Abend am Brunnen, als ein fremder, schöner junger Mann an sie herantrat und sie nach dem Wege fragte. 247
Sobald sie zu sprechen begann, fiel ein Goldstück in den Schlitten des fremden Mannes, der kein anderer war als der junge König dieses Landes. Der König staunte sehr über die Schönheit des Mädchens und wollte sie zur Frau nehmen. Er bat sie, mit ihm zu ihren Eltern zu gehen, doch das Mädchen wollte das nicht, und sie flohen heimlich. Bald wurde eine schöne Hochzeit gefeiert, und der König war froh, eine so schöne Frau bekommen zu haben, wie man keine zweite finden konnte. Das junge Paar lebte eine Weile glücklich, doch schließlich fand die böse Stiefmutter ihre Stieftochter wieder und begann sie nun noch mehr zu hassen. Aber sie konnte auf keine Weise an sie herankommen. Einmal jedoch, als die Königin niederkommen sollte, trat eine sehr ordentlich gekleidete Alte an den König heran und bot sich an, der Königin in ihrer schweren Stunde zu helfen. Der König nahm das Angebot mit Freude an und vertraute seine Gemahlin vollständig der Pflege der Alten an. Am nächsten Morgen verkündete man dem ganzen Volk die Freudenbotschaft, daß die Königin einen schönen gesunden Sohn zur Welt gebracht habe. Der König kam oft, seine Frau zu besuchen. So konnte die böse Hexe der Frau des Königs nichts antun. Einmal gab sie dem König den Rat, er möchte seine Frau mit ihr zusammen in die Badestube 248
schicken, denn sonst würde sie nicht gesund werden. Der König erfüllte ihren Wunsch und schickte seine Frau in die Badestube. Doch sobald sie in die Badestube gelangten, brachte die böse Hexe die Frau des Königs um und setzte die eigene häßliche Tochter an ihre Stelle. Der König erschrak sehr, als er seine Frau so verändert fand. Aber die schlaue Alte verstand es mit listigen Reden, ihn irrezuleiten, so daß er glaubte, es sei wirklich seine Frau, die durch die Krankheit häßlich geworden sei. Der Koch bemerkte, daß die Königin die ganze Nacht hindurch beim Licht wachte. Er wurde neugierig und wollte sehen, was die Königin dort mache. Plötzlich flog eine buntgefiederte Ente durch das Fenster hinein, drehte sich dreimal mit dem Kopf gegen Norden, und schon stand die frühere Königin vor dem Bett des Kindes, nahm es heraus, nährte und herzte es, verwandelte sich dann zurück in die Ente und flog wieder davon. So kam sie jede Nacht, um ihr Kind zu besuchen. Schließlich trat der Koch an die Königin heran und fragte, wieso die richtige Königin sich in eine Ente verwandle und warum ein fremder Mensch an ihrer Stelle im Krankenbett liege. Die Frau des Königs erzählte, auf welche Weise die böse Stiefmutter sie hintergangen und die eigene Tochter an ihre Stelle gesetzt hatte. „Aber wenn der König mich wieder zurückhaben möchte, so soll er sein Schwert nehmen und mir, 249
wenn ich hereinfliege, den Kopf abhauen, dann werde ich wieder zum Menschen. Wenn er es aber in der kommenden Nacht nicht tut, so wird er mich für immer verlieren, denn morgen ist es die letzte Nacht, in der mir erlaubt ist, das Kind zu besuchen.“ Der Koch erzählte dem König, was er gehört und gesehen hatte, und am nächsten Abend stand der König schon zeitig bereit. Sobald die Ente hereinflog, schlug er ihr mit dem Schwert den Kopf ab, und seine frühere Frau stand vor ihm. Jetzt nahm er die falsche Königin und ihre Mutter und ließ sie zusammen in ein Faß aus Eichenholz stecken, das mit eisernen Nägeln gespickt war, so daß das Faß innen einer Wolfsfalle glich. Man ließ sie im Faß von einem Berg ins Meer hinabrollen. So fand die böse Hexe ihr Ende.
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54 Die Tochter der Hexe Einst lebte in einem Dorf eine Alte, die Hexe genannt wurde. Sie hatte eine Tochter, die sie verhätschelte und verwöhnte. Es wohnte bei ihr auch ein Waisenkind, das sie aber sehr durch Arbeit quälte. Zum Waisenkind kam ein Freier. Doch die Hexe wollte, daß der Freier ihre Tochter nehme und nicht das Waisenkind. Deshalb legte sie der eigenen Tochter goldene Ketten um den Hals und stellte sie neben die Schlafstelle hin, das Waisenkind aber neben den Ofen. Als nun der Freier kam, fragte sie: „Welche nimmst du, Freier, die mit dem schmutzigen Hals vor dem Ofen oder die mit dem goldenen Hals vor der Schlafstelle?“ Der Freier antwortete: „Die mit dem schmutzigen Hals vor dem Ofen.“ Die Hexe ärgerte sich sehr, sie schickte den Freier weg und sagte: „Heute wird nichts beschlossen. Komm morgen wieder und wähle von neuem!“ Am nächsten Tag legte die Hexe dem Waisenkind goldene Ketten um den Hals und stellte es neben die Schlafstelle, doch die eigene Tochter neben den Ofen.
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Als nun der Freier kam, fragte sie: „Welche nimmst du, Freier, die mit dem schmutzigen Hals vor dem Ofen oder die mit dem goldenen Hals vor der Schlafstelle?“ Das scharfe Auge des Freiers erkannte sofort die Braut, denn jetzt kam ihre ganze Schönheit zutage, und er sagte: „Die mit dem goldenen Hals vor der Schlafstelle.“ Nun war die Hexe mit diesem Entschluß zufrieden und versprach, bald die Hochzeit zu richten. Der Hochzeitstag kam heran. Die Hexe zog ihrer Tochter die Hochzeitskleider an, das Waisenkind aber schloß sie im Stall ein. Der Bräutigam fuhr mit der Tochter der Hexe nach Hause. Das Waisenkind befreite sich aus dem Stall, lief dem Bräutigam nach und rief: „Halt, Bräutigam, bleib stehen, Bräutigam! Erwarte die Deine! Die Tochter der Hexe sitzt in deinem Schlitten!“ Der Bräutigam hörte sie rufen, hielt an, wartete auf sie und nahm sie in seinem Schlitten mit, die Tochter der Hexe aber warf er die Brücke hinunter, und an der Stelle wuchs ein Grasbüschel. Nach einem Jahr ging die Hexe ihren Schwiegersohn besuchen. Sie hatte auch gehört, daß die Frau bereits eine Tochter habe. Deshalb sprach sie, als sie über die Brücke ging, unter der ihre Tochter lag, und die Feldblumen sah: „Ich pflücke die Blumen, Ich breche die Blumen Dem kleinen Töchterchen zum Spiel!“
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Die Tochter aber rief unter der Brücke: „Pflücke nicht, Mütterchen, Brich nicht, Mütterchen, Der Tochter Nabelschnur!“ Die Hexe riß die Tochter unter der Brücke heraus, reinigte sie und gab ihr Grütze zu essen, die sie als Zehrung mitgenommen hatte. Dann gingen sie zusammen zu ihrem angeblichen Schwiegersohn. Als sie ankamen, begegnete ihnen das Kindermädchen in der Tür. Die Hexe sagte zum Kindermädchen: „Geh hinein und schick die junge Frau heraus!“ Das Kindermädchen ging hinein, kam jedoch bald zurück und sagte: „Die junge Frau knetet den Brotteig und kann deswegen nicht herauskommen.“ Die Hexe aber sagte: „Soll sie die Hände unter die Schürze stecken und dann herauskommen!“ Das Kindermädchen ging wieder hinein, und die junge Frau steckte die Hände unter die Schürze und kam heraus. Sowie die junge Frau herauskam, warf ihr die Hexe Wolfshaare ins Gesicht und verwandelte sie in einen Wolf, der in den Wald lief. Nun wurde die Tochter der Hexe Hausfrau. Als der Hausherr am Abend nach Hause kam, fragte die falsche Hausfrau: „Wohin soll ich die Brote legen?“ Der Hausherr antwortete: „Das eine leg in den Ofen, das andere auf den Ofen und das dritte in den Aschkasten!“ 253
Da merkte der Hausherr, daß es nicht seine richtige junge Frau war. Auch das Kindermädchen erzählte: „Das Kind hat sehr geweint, denn es hat die Brust nicht bekommen!“ Das Kindermädchen ging mit dem Kind am Waldrand spazieren und begann zu singen: „Junge Frau, junge Frau, Komm hierher das Kindlein stillen! Das Kind wird sehr geschlagen, Wird geschlagen und gestoßen!“ Daraufhin kam ein Wolf aus dem Walde heraus, warf das Wolfsfell ab, verwandelte sich in eine Frau und legte das Wolfsfell auf einen großen Stein. Die Frau nahm vom Kindermädchen das Kind, stillte es, gab es dem Kindermädchen zurück, zog das Wolfsfell über und verwandelte sich wieder in einen Wolf. Das Kindermädchen erzählte es dem Hausherrn. Der Hausherr heizte den Stein heiß, und am nächsten Tag, als die Frau wieder ihr Fell darauflegte, schrumpfte das Fell so zusammen, daß es ihr nicht mehr paßte. Die Frau erschrak sehr und wollte ohne Fell in den Wald laufen. Doch da nahm sie der Hausherr fest, der in der Nähe im Gebüsch wartete. Nun gingen sie zusammen heim. Um die Tochter der Hexe loszuwerden, kochte der Hausherr vor der Tür der Sauna einen großen Kessel Wasser und sagte den beiden jungen Frau-
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en: „Wer von euch als erste zur Sauna gelangt, bleibt bei mir als Hausfrau.“ Die richtige Hausfrau, die wußte, daß vor der Saunatür ein Kessel mit heißem Wasser stand, beeilte sich nicht, doch die Tochter der Hexe rannte, so schnell sie konnte, fiel in den Kessel mit dem heißen Wasser und ertrank. So blieb doch das Waisenkind Hausfrau.
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55 Die Frau der Schlange In alten Zeiten hatte ein Ehepaar drei Töchter. Die Mutter wollte ihre hübschen Töchter recht bald verheiraten und ging zu einem Weisen, um zu erfahren, wann und wie ihre drei Töchter heiraten würden. Der Weise sagte: „Deine älteren Töchter werden etwas später heiraten, doch die Jüngste heiratet recht bald – eine Schlange.“ Die Mutter der Töchter wurde auf den Weisen so böse, daß sie ihm für seine Voraussage nicht einmal ein Stück Schweinespeck gab, sie ärgerte sich auch über sich selbst, daß sie überhaupt zu einem solchen „Hexer“ gegangen war. Eines Tages gingen die drei Mädchen zum See baden, und während sie badeten, hatte sich auf den Kleidern der Jüngsten eine Schlange zusammengerollt; sie zischte dem Mädchen zu: „Ich gehe nicht eher von deinen Kleidern herunter, als bis du mir versprochen hast, meine Frau zu werden.“ Was sollte das arme Mädchen tun – es mußte das Versprechen geben, denn wo sollte es nackt hingehen? Die anderen Schwestern zogen sich an und gingen nach Hause, während die Jüngste noch im Wasser wartete. Notgedrungen versprach sie der Schlange, sie zu heiraten, woraufhin die 256
Schlange von den Kleidern herunterkroch und in einem Loch verschwand. Am dritten Tag, als alle anderen aus dem Hause gegangen waren und das jüngste Mädchen allein geblieben war, kam die Schlange, um die Braut zu holen. Sie nahm das Mädchen bei der Hand, und das Mädchen mußte mitgehen. Sie lebte mit der Schlange ein Jahr in ihrem Haus und hatte mit ihr eine Tochter, die noch schöner war als die Mutter. Die Schlange hatte unter der Erde ein schönes Haus, in dem sie zu einem schönen jungen Mann wurde, wenn sie die Schlangenhaut abwarf. Das Mädchen lebte mit ihm das zweite Jahr und bekam eine zweite Tochter, auch sehr hübsch. Es verging das dritte Jahr, und sie hatten eine dritte Tochter. Alle Töchter waren hübsch wie rotbäckige Äpfel, klug und verständig. Die Töchter begannen die Mutter auszufragen: „Alle gehen ihre Großeltern besuchen, wir aber gehen nirgends hin – haben wir denn keine Großeltern, die wir besuchen könnten?“ Die Mutter sagte: „Töchterchen, auch ihr habt Großeltern, aber ihr könnt sie niemals besuchen. Auch ich kann niemals mehr dahin zurückgehen, von wo ich hierhergebracht wurde.“ Bei diesen Worten kamen der Mutter die Tränen, und auch die Kinder begannen zu weinen, sie wußten selbst nicht warum. So manches Mal führten jetzt die Mutter und die Töchter solche Gespräche, wobei die Mutter 257
den Kindern schon ausführlicher erzählte, daß es oben auf der Erde, wo ihre Großeltern wohnen, auch sehr schön sei. Seitdem quälten die Töchter die Mutter ständig mit ihrer Bitte: „Mütterchen, bitte doch den Vater, uns zu erlauben, auf die Erdoberfläche zu gehen und unsere Großeltern zu besuchen.“ Als die Schlange nach Hause kam, trug die Frau ihr die Bitte der Kinder vor und bat auch ihrerseits: „Erlaube mir doch, lieber Mann, einmal meine Heimat zu besuchen; es sind schon neun Jahre vergangen, seit ich von zu Hause weggebracht wurde. Es tut mir auch sehr leid, daß ich meine Eltern so lange nicht gesehen habe!“ Die Schlange erlaubte es. Sofort wurden alle Vorbereitungen getroffen, und die Schlange begleitete sie über das Meer: Sie nahm alle vier auf den Rücken und schwamm nach Schlangenart übers Meer. Sowie sie ans Land kamen, trug der Mann seiner Frau auf: „Wenn du vom Besuch zurückkommst und ans Meeresufer gelangst, dann singe folgendes Lied: Schlange, Liebste, Setze Segel, schick das Schiff aus, Das übers Meer uns bringt In meines Liebsten Haus. Dann komme ich hierher und bringe euch ebenso nach Hause zurück, wie ich euch hierhergebracht habe.“ 258
Auf dem Wege zu den Großeltern ermahnte die Mutter ihre Töchter ganz eindringlich, dem Großvater und der Großmutter, auch wenn sie es verlangten, nichts von ihrem Leben und ihrem Vater zu erzählen. „Wenn euch die Großeltern oder irgend jemand sonst fragen sollte, dann antwortet: Wir leben ebenso wie alle anderen hier und haben auch einen Vater wie alle anderen.“ Vater und Mutter freuten sich sehr, ihre Tochter nach neun Jahren gesund und munter wiederzusehen. Sie hatten sie schon längst für tot gehalten. Auf die Fragen des Vaters und der Mutter, wo und wie sie lebe, erwiderte die Tochter: „Ich lebte die ganze Zeit bei meinem Mann, doch wo ich lebe, dahin könnt ihr nicht kommen.“ Der Großvater nahm die älteste Enkelin auf den Arm, ging mit ihr hinaus, streichelte sie und fragte: „Töchterchen, sag mir, wie ist euer Leben, und wie ist euer Vater?“ Das Mädchen antwortete: „Großväterchen, wir leben ebenso wie alle anderen hier und haben auch einen Vater wie alle anderen.“ Der Großvater nahm das mittlere Enkelkind auf den Arm, streichelte es und fragte: „Töchterchen, sag mir, wie ist euer Leben, und wie ist euer Vater?“ Das Kind antwortete: „Großväterchen, wir leben ebenso wie alle anderen.“ Der Großvater nahm das jüngste und einfältigste Enkelkind auf den Arm, brachte es hinaus, 259
streichelte es und fragte: „Töchterchen, sag mir, wie ist euer Leben, und wie ist euer Vater?“ Da schlang das Mädchen ihre Ärmchen fest um den Hals des Großvaters und begann zu erzählen: „Großväterchen, wir wohnen in einem schönen Haus, zu essen und zu trinken haben wir genug, doch unser Vater ist nicht so wie die Väter der anderen. Unser Vater ist eine große Schlange. Wenn er von seinen Wanderungen nach Hause kommt, dann holpert und poltert er über die Dielen, daß alle Schüsseln und Löffel klirren. Unser Haus befindet sich sehr tief unter der Erde, von wo unser Vater uns ans Meer nach oben gebracht hat. Dann setzte er uns alle vier auf seinen Rükken und brachte uns viele, viele Meilen übers Meer in dieses Land. Hier setzte er uns ans Ufer und lehrte die Mutter singen: Schlange, Liebste, Setze Segel, schick das Schiff aus, Das übers Meer uns bringt In meines Liebsten Haus. Auf dieses Lied hin versprach er, hierher ans Ufer zu kommen und uns wieder auf seinem Rücken zurück nach Hause zu bringen.“ Der alte Mann wurde zornig, als er hörte, daß sich eine Schlange seine Tochter zur Frau erschlichen hatte. Am nächsten Tag lud er seine Flinte mit einer Silberkugel, ging ans Meer und sang:
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„Schlange Liebste, Setze Segel, schick das Schiff aus, Das übers Meer uns bringt In meines Liebsten Haus.“ Daraufhin versteckte er sich hinter einem Strauch und wartete. Es dauerte nicht lange, da kam eine große Schlange, die ihren Kopf über dem Wasser hielt und zum Ufer schwamm. Der alte Mann zielte genau auf ihren Kopf, ein Knall – und von der großen Schlange blieb nur noch eine blaue matschige Masse übrig, die von den Meereswellen weggespült wurde. Nach einigen Wochen machte sich die Tochter mit ihren Kindern auf den Heimweg. Als sie ans Meer kam, blieb sie am Ufer stehen und sang: „Schlange, Liebste, Setze Segel, schick das Schiff aus, Das übers Meer uns bringt In meines Liebsten Haus.“ Sie sang und wartete dann – es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Sie sang zum zweiten Male – auch nichts. Alles blieb still. Sie sang zum dritten Male – und es änderte sich nichts. Da begriff die Frau, daß Heimtücke am Werke war. Sie fing an die Töchter zu befragen: „Habt ihr nicht jemandem von unserem Vater erzählt?“
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Die älteste Tochter verteidigte sich: „Ich habe nichts gesagt; der Großvater hat mich wohl auf den Arm genommen, hinausgebracht und sehr darum gebeten.“ Die mittlere Tochter rechtfertigte sich ebenso. Die jüngste Tochter sagte: „Der Großvater hat mich auf den Arm genommen, hat mich hinausgebracht, mich gestreichelt und verlangt, daß ich ihm alles erzähle. Da habe ich ihm denn erzählt, wo wir wohnen und wie unser Vater ist.“ Nun fing die Frau bitterlich zu weinen an und ihren Mann zu beklagen, bis sie sich am Meeresufer in eine schöne Birke verwandelte. Die älteste Tochter legte sie um sich als schwarze Rinde, die mittlere als Birkenrinde darüber, und die jüngste Tochter als die Schuldige setzte sie als ein zitterndes Hälmchen auf die weiße Birkenrinde drauf. Und dort sind sie auch heute noch.
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56 Der verschwundene Mann Ein Mann ging auf die Suche nach einem Schwiegersohn zum Einheiraten. Da begegnete ihm ein Bär, der sagte: „Guten Tag, Mann! Wohin gehst du?“ „Ich suche einen Schwiegersohn zum Einheiraten.“ Der Bär sagte: „Nimm doch mich!“ „Ich weiß nicht, ob du einen Schwiegersohn zum Einheiraten wirst abgeben können.“ „Das werde ich schon.“ So ging der Mann mit dem Bären nach Hause. Alle fürchteten sich vor dem Bären und waren sehr in Sorge; aber es war nichts zu machen. Nun bereiteten sie die Hochzeit vor und holten alle Verwandten zusammen. Es kam der Abend. Die Braut ging mit dem Bräutigam schlafen. Doch sie fürchtete sich, bei dem Bären zu bleiben. „Stellt Wachen ans Kopfende, andere ans Fußende und die dritten vor die Tür!“ Da sagte der Bräutigam zur Braut: „Schicke diese Wachen fort!“ Sie schickte die Wachen von der Tür und vom Fußende fort, die am Kopfende ließ sie stehen. Da sagte der Bräutigam wieder: „Schicke auch die Wachen vom Kopfende fort!“ 263
Die Braut aber fürchtete sich sehr: „Laß sie doch hier schlafen!“ Der Bräutigam drängte erneut: „Schicke sie fort, schicke sie fort!“ So schickte sie auch diese fort. Der Bräutigam öffnete seine Bärenhaut, zog sie aus – und war ein hübscher, echter junger Mann. Am Morgen gingen sie ins Haus. Da sagte er zu seiner Braut: „Sage keinem, daß ich die Bärenhaut abgestreift hatte. Sei weiterhin traurig.“ Alle Verwandten begannen zu fragen: „Wie konntest du mit ihm schlafen? Hat er dich denn nicht aufgefressen?“ Die Braut erzählte dennoch alles der Schwester. Die Schwester sagte es den anderen. Da überlegten die Verwandten, wie sie es auch zu sehen bekämen. Es kam wieder der Abend. Die Verwandten erhitzten einen Stein und stellten ihn in eine Ecke der Kaffscheune. Der Bräutigam und die Braut gingen wieder schlafen. Sowie der Bräutigam die Haut auf den Stein geworfen hatte, verbrannte sie sofort – nur die Funken sprühten. Da sagte der Bräutigam zur Braut: „Nun schön, wenn du deine Zunge nicht hüten konntest und alles erzählt hast, gehe ich fort. Du wirst mich nicht eher wiederbekommen, als bis du drei Paar eiserne Schuhe und drei eiserne Stöcke abgetragen und drei goldene Äpfel zernagt hast.“ Und er ging seines Weges.
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Die Braut ging ins Haus und weinte und grämte sich sehr, warum man ihr solchen Kummer bereitet habe. Dann zog sie eiserne Stiefel an, nahm einen eisernen Stab in die Hand und ein Äpfelchen in die Faust – und machte sich auf den Weg. Sie ging und ging, solange es eben ging, dann schaute sie – die Sonne steht schon niedrig, geht bald unter. Die Stiefel waren schon zerrissen, der Stab war abgenutzt und der Apfel aufgegessen. Doch zum Übernachten war nichts da. Sie schaut und schaut – ein Häuschen dreht sich herum auf Gänsefüßen. Da spricht sie zum Häuschen: „Häuschen, Häuschen, Dreh dich zum Wald Mit der Hinterwand, Dreh dich schnelle Zu mir mit der Schwelle!“ Das Häuschen bleibt stehen. Sie geht hinein. Im Hause spinnt eine Alte: aus Kupfer das Spinnrad, aus Kupfer das Garn, aus Kupfer auch die Kunkel darauf. Sie geht ins Haus: „Großmütterchen, gibst du Obdach für die Nacht?“ Die kupferne Alte antwortete mürrisch: „Eine Herberge trägt keiner auf dem Rücken mit. Obdach für eine Nacht werde ich dir schon geben.“ Es kam der Morgen. Sie zog neue Stiefel an, nahm einen neuen Stab in die Hand und einen neuen Apfel zum Nagen. 265
Dann ging sie wieder. Ging und ging – schaute sich dann um, die Sonne war schon ganz tief gesunken. Die Stiefel waren zerrissen, der Stab abgenutzt, das Äpfelchen aufgegessen. Doch nirgends ein Haus – wo soll sie übernachten? Sie schaut hin – wieder dreht sich ein Häuschen auf Gänsefüßen. Da sagt sie, spricht recht lieb: „Häuschen, Häuschen, Dreh dich zum Wald Mit der Hinterwand, Dreh dich schnelle Zu mir mit der Schwelle!“ Das Häuschen bleibt stehen. Sie geht hinein. Schaut – eine Alte spinnt: aus Silber das Spinnrad, aus Silber das Garn, aus Silber die Spule, aus Silber auch die Kunkel darauf. Sie sagt: „Großmütterchen, gibst du Obdach für die Nacht?“ Diese Alte sagte schon freundlicher: „Die Herberge wird nicht auf dem Rücken getragen – Obdach für die Nacht werde ich dir geben.“ Es kam der Morgen. Sie wusch sich das Gesicht, zog die letzten Stiefel an, nahm den letzten Stab zur Hand und begann am letzten Apfel zu nagen. So ging sie. Wieder steht die Sonne schon tief, die Stiefel sind zerrissen, der Stab abgenutzt, das Äpfelchen aufgegessen. Nirgends ein Lichtschein zu sehen. Sie geht und weint. Geht – schon sinkt die Sonne.
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Da schaut sie – wieder dreht sich ein Häuschen auf Gänsefüßen herum. Sie sagt wieder: „Häuschen, Häuschen, Dreh dich zum Wald Mit der Hinterwand, Dreh dich schnelle Zu mir mit der Schwelle!“ Das Häuschen bleibt stehen. Sie geht ins Haus, sieht – eine Alte spinnt: goldenes Spinnrad, goldene Kunkel darauf, goldene Spule und goldenes Garn. Sie sagt: „Großmütterchen, gibst du Obdach für die Nacht?“ Diese Alte sagte freundlich: „Ich gebe dir Obdach, Töchterchen. Eine Herberge trägt keiner auf dem Rücken bei sich.“ Da blieb sie zur Nacht. Es kam der Morgen. Die Stiefel sind zerrissen, der Stab abgenutzt, der Apfel aufgegessen – doch der Mann ist noch nirgends zu sehen. Sie weinte recht bitterlich. Dann wusch sie sich das Gesicht, nahm aus der Tasche ein Taschentuch und begann sich das Gesicht abzutrocknen. Die Großmutter sagte: „Wie kommt das Taschentuch meines Sohnes in deine Tasche?“ Da erzählte sie der Großmutter ihre ganze Lebensgeschichte. Die Großmutter holte aus ihrer Truhe einen rotbackigen Apfel, gab ihn der Schwiegertochter, legte ihn ins Taschentuch hinein und sagte: 267
„Gehe hin zum Flußufer, schneide dort den Apfel auf, und es entsteht ein kleines Gut! Danach werden Männer hinkommen, um Pferde zu tränken. Wenn die Männer dann sagen, daß sie das Gut kaufen wollen, antworte ihnen: ‚Ich will nichts anderes dafür als eine Nacht mit dem Gutsherrn schlafen.’“ Sie ging zum Flußufer, breitete das Taschentuch aus, legte den Apfel darauf, zerschnitt ihn –, und es entstand ein ganz hübsches Gut. Dann schaute sie, ob die jungen Gutsknechte schon zum Flußufer kommen, um die Pferde zu tränken. Da kamen sie auch. „Verkaufe uns dieses Gut!“ sagten die Pferdetränker. Sie aber sagte: „Ich will nichts weiter dafür haben, bringt nur den Gutsherrn für eine Nacht zu mir zum Schlafen!“ Der Gutsherr kam auch. Er hatte einen Ehering am Finger –, und sie erkannte ihren Mann. Schau, so bekam sie ihren Mann wieder. Damit ist auch die Geschichte zu Ende. Im vergangenen Jahr war ich dort zum Besuch.
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57 Drei Haare vom Kopf des Teufels Es lebte einst in alten Zeiten ein sehr reicher König, der in der ganzen Welt berühmt war. Seine Berühmtheit verdankte er aber einem Menschen ganz besonders, und dies war seine einzige und engelhaft schöne Tochter. (Ich weiß es nicht und kann es auch nicht sagen, ob dieser König hier, im kleinen Estland, oder in einem anderen Winkel der Erde gelebt hat.) Es reisten bald Söhne anderer Könige aus der ganzen Welt herbei, um die Tochter zu freien, und sie wünschten sich alle nur dieses Mädchen zur Frau, doch sie schenkte niemandem ihr Jawort und niemandem ihr Herz. In der Nähe des Königsschlosses lebte in seiner Mühle der königliche Müller, der einen Lehrling hatte. Dieser Müllerjunge hätte wegen seiner Lebensweise und seines Verstandes den anderen auffallen müssen, doch wer sollte schon einen Mehlkopf beachten. Er lebte still, mahlte ruhig das Korn und zeigte kein Interesse daran und keine Neugierde, wie die großen Leute lebten. Der König war mit dem Müller eng befreundet und duzte sich mit ihm; der Müller ging recht oft ins Königsschloß hinüber und verbrachte dort zuweilen einen ganzen Tag und mal auch einen Teil der Nacht. Hin und wieder kam auch der König 269
zum Müller zu Besuch und sah dann gelegentlich von der Schwelle des Mühlraums der Arbeit des Jungen zu, doch darum schenkte er ihm keine Beachtung, denn er war schließlich ein großer und reicher König, und der andere nur ein Müllerlehrling, der dem großen König nicht mal in die Augen schauen oder vor ihm stehen durfte. Über diesen Müllerjungen wurde dem König einst geweissagt, ob im Traum oder von einer Hexe oder einem Weisen, genau weiß ich es nicht, daß er der Schwiegersohn des Königs werde. Doch der König ärgerte sich sehr über diese Weissagung und sagte: „Daß so ein Mehlkopf, so ein Mehlpampenhammel, so ein Rotzkalb mein Schwiegersohn werden soll!“ Es wurde beraten, wie dieser Junge beiseite geschafft werden könnte. Der König ging zum Müller. Dort berieten beide sehr lange, bis der König schließlich einen Brief aus seiner Tasche zog und dem Jungen mit den Worten überreichte: „Bringe diesen Brief in mein königliches Haus und übergib ihn einem Obersten der Hauswache! Hier hast du den Lohn für deine Mühe.“ Mit diesen Worten gab er dem Jungen eine Handvoll Goldstücke. Der Junge wußte nicht, was in dem Brief stand; dort stand aber geschrieben: „Den Jungen, der dir diesen Brief bringt, richte hin, es ist mein königlicher Befehl.“ Der Junge ging mit Freuden davon, da er jetzt so viel Geld hatte, doch bald verwandelte sich seine Freude in Trauer, denn es kamen ihm Räu270
ber entgegen und raubten ihm das ganze Geld. Sie nahmen ihm auch den Brief weg, lasen und zerrissen ihn; dann schrieben sie einen neuen Brief, gaben ihn dem Jungen und befahlen, ihn dem obersten Diener des Königs zu bringen. In diesem Brief stand aber folgendes: „Sobald dieser Junge zu dir kommt, gibst du meiner ganzen Familie den Befehl, daß sie augenblicklich mit der Hochzeitsfeier beginnen und meine Tochter mit diesem Jungen vermählen. Das ist mein königlicher Befehl.“ Sowie nun der Junge mit dem Brief im königlichen Schloß ankam und den obersten Diener des Königs, der über dieses Haus wachte, fand, gab er ihm den Brief. Als der oberste Diener des Königs den Brief gelesen hatte, war er freilich sehr erstaunt, daß ein solcher Lump der Schwiegersohn des Königs werden sollte, und er hätte ihn am liebsten mit dem Besen hinausgejagt, wenn dieser nur nicht den königlichen Brief zum Schutz gehabt hätte. Deswegen erfüllte er (wenn auch widerwillig) den Befehl des Königs und befahl allen Mitgliedern des Königshauses, so rasch wie möglich eine königliche Hochzeit vorzubereiten, denn der König habe persönlich den Bräutigam für seine Tochter ausgewählt. Er selbst jedoch (dieser obere Diener des Königs) nahm den Müllerjungen oder den jetzigen Schwiegersohn des Königs mit und brachte ihn in die Kleiderkammer. Hier zog er ihm die alten Lumpen der Müllerkleidung aus und kleidete ihn in 271
königliche Kleider. Dann führte er ihn in das Zimmer der Königstochter. Sowie die Königstochter den Jungen erblickt hatte, verliebte sie sich auf der Stelle in ihn, denn er steckte ja nun in den königlichen Kleidern und war ein sehr hübscher Jüngling. Die Königstochter war auch erstaunt, daß ihr der Vater einen Mann so ganz nach ihrem Sinn ausgesucht hatte, denn dies hatte sie vorher auch selbst nicht vermocht. Die Hochzeit wurde am selben Tage gefeiert. Währenddessen hatte jedoch der König seine Zeit bis spät in die Nacht im Hause des Müllers verbracht und mit ihm die allerbeste Unterhaltung geführt. Dann machte sich der König auf den Weg, und der Müller sagte wie vor sich hin: „Wer weiß, wo mein Bengel nur bleibt?“ Er bekam jedoch keine Antwort, schien auch keine zu erwarten. Nun ging der König in sein königliches Schloß zurück und ahnte dabei nicht im geringsten, was ihn erwartete. Als er bis zum nächsten Tag in seinem Zimmer geschlafen und sich am Morgen von seinem Bett erhoben hatte, stand auch das junge Paar auf, und es schmückte sich wieder mit dem teuren königlichen Schmuck. Dann traten beide vor den König, und seine eigene schöne Tochter bedankte sich als erste, daß ihr der Vater einen so schönen Mann ausgesucht hatte. Da riß freilich der König die Augen auf, als er hörte, was sich in der Zeit ereignet hatte, als er nicht zu Hause war. Und sein Zorn wurde so groß, 272
daß er seinen Schwiegersohn oder diesen Müllerjungen auf der Stelle aus seinem Haus jagte. Wohl bat ihn die Tochter, doch es half gar nichts; schließlich rief der König seinem Schwiegersohn noch hinterher: „Hör, Müllerjunge, wenn du mir drei Haare vom Kopf des Teufels bringst, dann kannst du wieder herkommen, sonst nicht.“ Der Junge dachte über das Geschehene nach und beschloß nunmehr, die drei Haare des Teufels (die ihm der König zu bringen befohlen hatte) herbeizuholen. Doch wo würde der Teufel zu finden sein? So stand er nun vor einer schweren Frage. Bald fand er jedoch eine Antwort, denn er hatte von alten Leuten gehört, daß der Teufel in der Hölle wohne. Er machte sich auf den Weg, ohne freilich zu wissen, in welcher Richtung die Hölle lag. Er ging immer dem Sonnenaufgang zu, in der festen Hoffnung, daß er doch einmal hingelange, möge noch so viel Zeit vergehen. Nachdem er mehrere Tage und immer in der Richtung nach dem Sonnenaufgang gegangen war, gelangte er ans Ufer eines großen Meeres. Als erstes sah er am Ufer dieses Meeres ein großes Schiff liegen. Er schlug die Richtung auf dieses Schiff ein und war auch bald dort. Vom Schiff schaute der Schiffsbesitzer herunter, und der Junge fragte ihn: „Würdest du mich auf dein Schiff nehmen und übers Meer bringen?“ Und der Schiffseigner antwortete ihm: „Gern würde ich dich auf mein Schiff nehmen, wenn ich 273
nur übers Meer fahren könnte; aber ich kann es nicht, denn mein Schiff liegt hier schon sieben Jahre fest wie angenagelt. Vielleicht könntest du mir einen Rat geben, wie ich aus dieser Klemme herauskomme.“ „Jetzt kann ich dir gar nichts sagen, doch wenn ich zurückkomme, werde ich vielleicht einen Rat wissen, wie du von hier wegkommst.“ Nun ging unser Junge weiter, am Meeresufer entlang, und kam zu einer Hütte. Vor der Schwelle dieser Hütte wuchs eine große Birke. Der Birkenstamm war über und über mit Rillen bedeckt, die zum Ablaufen des Saftes eingeritzt waren, doch es lief kein Saft in den Rillen. Vor der Schwelle der Hütte saß ein altes Männchen, und unser Junge bat diesen Mann um einen Trunk. „Ich habe selbst nichts mehr zum Trinken“, erwiderte das Männchen traurig, „und muß Durst leiden, bis ich sterbe. Vielleicht weißt du, junger Mann, wie ich diese Birke wieder zum Fließen bringe, denn früher gab sie Saft, jetzt aber sind es schon sieben Jahre her, daß sie keinen Saft mehr gibt.“ „Im Augenblick kann ich dir, lieber Alter, keinen Rat geben, doch wenn ich von meinem Weg zurückkomme, werde ich vielleicht einen Rat wissen“, sagte unser Junge oder des Königs Schwiegersohn und ging weiter am Meeresufer entlang, bis er zu einem Brunnen kam. Dort saß wieder ein alter Mann, der schon von weitem anfing, vor dem jungen Mann zu klagen 274
und darüber zu jammern, daß sein Brunnen, der früher immer voll Honig gewesen sei, jetzt nicht einmal einen Tropfen Wasser mehr hergebe. „Wenn ich von meinem Weg zurückkomme, werde ich dir vielleicht einen Rat geben können“, sagte wieder unser Junge. Nachdem er eine Weile am Meeresufer weitergegangen war, fand er am Strand ein kleines Boot. Er stieg ein und ruderte auf dem Meer wie ein gelernter Mann weiter, und schon war er wie ein Vogel über das Meer geflogen. Auf der anderen Seite des Meeres sah er ganz weit vor sich eine besonders dicke Rauchsäule aufsteigen. Daran merkte er, daß dort die Hölle sein mußte, und so ging er in dieser Richtung weiter. Er näherte sich schon der Schwelle der Hölle, und da er draußen kein Lebewesen sah, trat er über die Schwelle hinein, wo ihm gleich erstickender Rauch entgegenwehte. Er kümmerte sich jedoch nicht darum und schritt einfach hinein. Innen war alles so scheußlich, wie es nur sein konnte. Und in einem scheußlichen Höllenzimmer stand eine sehr häßliche Frau. Die Alte fragte mit einer recht freundlichen Stimme: „Na, Menschenkind, was suchst du hier vorzeitig den Tod, deine Zeit ist ja noch nicht abgelaufen, daß du hierherkommen mußt?“ Der Junge erzählte der Alten, weshalb er gekommen sei, und alles das, was wir schon wissen. „Na ja, Menschenkind, dein Anliegen ist allerdings schwierig, aber ich will es dennoch über275
nehmen, damit du des Königs Schwiegersohn wirst und damit du uns dann alle deine Untertanen herschickst und damit du auch selber, wenn deine Tage auf der Erde erfüllt sind, hierherkommst“, sagte die Höllenalte. Was blieb dem Jungen anderes übrig als zu versprechen, seine Untertanen in die Hölle zu schikken und später einmal auch selbst zu kommen. „Warte also etwas, bis mein Sohn nach Hause kommt; und geh solange in dieses Versteck, bis ich meinen Sohn auf meinen Knien in den Schlaf gewiegt habe, dann nehme ich von seinem Kopf die drei Haare, denn er ist ja der Herr der Hölle.“ Als die Alte ihre Rede beendet hatte und der Junge in sein Versteck gegangen war, kehrte auch schon der Herr der Hölle mit seinen Knechten vom Umherirren auf der Erde und vom Seelensammeln zurück. Nachdem sich alle gestärkt hatten und die Gesellen der eine hierher, der andere dorthin gegangen waren, rief die Mutter ihren Sohn, den Herrn der Hölle, zu sich, damit sich dieser auf ihren Knien zum Schlafen niederlegte. Sie versprach ihm dabei, seinen Kopf nach Läusen abzusuchen. Der Sohn legte auch seinen Kopf auf den Schoß der Mutter, um zu schlafen, aber bevor er einschlief, fragte die Mutter: „Weißt du auch in allen Dingen Bescheid?“ „Ja, ich weiß Bescheid“, sagte der Teufel „Nun, weißt du auch das: Auf der Erde, im Hafen in der Nähe einer Stadt steht ein Schiff, das früher viele Leute hinüber- und herübergebracht 276
hat, jetzt aber liegt es wie festgewachsen im Hafen. Und dort am Meeresstrande wächst eine Birke, die früher Milch gab, jetzt aber nicht einmal einen Tropfen Wasser hergibt; auch soll es dort einen Brunnen geben, der früher voll Honig gewesen sein soll und jetzt nicht einmal schlechtes Wasser führt.“ „Auch das weiß ich! Wenn der König dieser Stadt zum Hafen hinuntersteigt und wenn es dem Schiffseigner gelingt, ihn auf sein Schiff zu locken, und dann, wenn der König vom Schiff seinen Herrscherstab über Bord wirft, dann kommt das Schiff frei, doch wird dann auch der König auf dem Schiff gefangen sein. Und unter der Birke, von der früher einmal die Milch herabfloß und von der jetzt nicht mal Wasser mehr fließt, unter dieser Birke ist eine alte, verfaulte Wurzel. Wenn man sie herausnimmt, wird wie ehedem wieder Milch fließen. Und auf dem Grunde des Brunnens, der früher voll Honig war und jetzt nicht mal schlechtes Wasser mehr hergibt, lebt ein räudiger Frosch. Wenn man diesen Frosch fortschafft, gibt es Honig wie früher.“ Jetzt war der Teufel auf dem Schoß der Mutter fest eingeschlafen, und die Mutter suchte weiter auf seinem Kopf. Dann, als sie die Zeit für gekommen hielt, riß sie ihm die drei Haare aus. Der Teufel bewegte sich ein wenig und murmelte etwas, aber er begriff nicht, daß ihm drei Haare vom Kopfe gerissen wurden. Der Junge trat bereits leise an die Höllenalte heran, und die Höllen-
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großmutter gab ihm ebenso leise die drei Haare des Teufels. Der Junge lief wie der Wind aus der Hölle hinaus und denselben Weg zum Meeresufer zurück, setzte sich ins Boot und war im Nu am anderen Ufer. Er ging zum Brunnen und sagte zu dem Alten: „Schaffe den räudigen Frosch, der auf dem Boden des Brunnens sitzt, fort, und du bekommst wieder reichlich Honig.“ Er kam auch an der Birke vorbei und sagte dem Alten, der dort neben der Birke stand: „Entferne die alte verfaulte Wurzel, die unter der Birke steckt, und du bekommst wieder Milch, wie du sie früher bekommen hast.“ Jetzt ging er zum Schiff und sagte dem Schiffseigner: „Warte noch, bis der König zu deinem Schiff kommt, dann locke ihn aufs Schiff und bewege ihn dazu, seinen Herrscherstab, den er in der Hand trägt, vom Schiff über Bord zu werfen, dann ist er der Gefangene des Schiffes, und das Schiff kommt frei.“ Darauf ging er in die Stadt zum König und gab ihm die drei Haare des Teufels. Der König lobte den Mut des Jungen und mußte, ob er wollte oder nicht, ihm jetzt seine Tochter geben. Die Hochzeit wurde sehr großartig gefeiert, und sie dauerte sieben Tage. Nach der Hochzeit ging der König, gefolgt von seiner Tochter und seinem Schwiegersohn, hinunter zum Hafen und zu dem uns bekannten Schiff. Der Besitzer zeigte sich dem König gegenüber 278
sehr untertänig und bat ihn, auf sein Schiff zu kommen, und der König betrat sein Schiff. Dann bat der Besitzer den König, seinen Herrscherstab hinauszuwerfen, und der König tat auch dies. Sowie der König den Stab von sich geworfen hatte, setzte sich das Schiff in Bewegung. Jetzt nahm der Schwiegersohn des Königs den Herrscherstab an sich, ging mit seiner Liebsten in die Stadt, und dort herrschen sie in Ruhe und Frieden wahrscheinlich auch heute noch.
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58 Die Geige aus der Hölle Auf einem alten Gutshof arbeitete ein fauler Knecht. Dieser Knecht wollte nie etwas tun, sondern suchte nur die Zeit totzuschlagen. Wohl wurde er vom Aufseher geschlagen, doch das half nichts. Schließlich ärgerte sich der Aufseher über ihn und sagte: „Mach, daß du in die Hölle kommst!“ Der Knecht fragte: „Was soll ich dort?“ „Geh hin und hole mir von dort eine Geige, die die Toten tanzen und die Lebendigen weinen macht.“ Der Knecht sagte: „Gib mir deine beiden Söhne mit!“ Der Aufseher gab ihm die Söhne mit. Man weiß nicht genau, wie lange sie gingen, doch schließlich gelangten sie in die Hölle. Der Knecht erzählte sein Anliegen, so und so sei es, und es sei ihm befohlen, eine Geige zu holen, die die Toten tanzen und die Lebendigen weinen macht. Nun gut! Der Böse begann denn, die Geige zu bauen. Am ersten Abend mußte der ältere Sohn mit dem Kienspan leuchten, und es wurde schon Mitternacht. Der Junge nickte ein. Der Teufel schreit den Jungen an: „Warum nickst du ein?“
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Grapsch, faßt er den Jungen und verschlingt ihn. Am nächsten Abend leuchtet der jüngere Sohn und nickt auch ein. Der alte Teufel schreit den Jungen an: „Warum nickst du ein?“ Er ergreift den Jungen und verschlingt ihn. Na, und am dritten Abend ist der Knecht mit dem Leuchten an der Reihe. Schließlich nickt auch er ein. Wieder schreit der Böse: „Warum nickst du ein?“ Der Knecht sagt: „Ich nicke nicht ein, ich denke.“ „Was denkst du?“ „Ich denke, daß es im Fluß mehr große Fische gibt als kleine.“ Der Böse legt die Geige zur Seite und geht nachschauen. Nach einiger Zeit kommt er zurück und sagt: „Du hast recht, große gibt es wirklich mehr als kleine.“ Inzwischen hatte der Knecht geschlafen und konnte jetzt wieder leuchten. Am nächsten Abend leuchtet er wieder und nickt schließlich ein. Der Böse schreit wieder: „Warum nickst du ein?“ „Ich nicke nicht ein, ich denke.“ „Na, was denkst du?“ „Ich denke, daß es im Walde mehr krumme Bäume gibt als gerade.“
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Der Teufel legt wieder die Geige aus den Händen und geht in den Wald, um nachzusehen. Er kommt zurück und sagt: „Ja, es stimmt.“ Der Knecht hatte inzwischen wieder etwas geschlafen. Am dritten Abend leuchtet er wieder – und schläft erneut ein. Der Böse fährt ihn wieder an: „Warum schläfst du?“ „Ich schlafe doch nicht, ich denke.“ „Na, und was denkst du?“ „Ich denke, daß es mehr Löcher auf der Erde gibt als Sterne am Himmel.“ Der Böse legt wieder die Geige beiseite und geht nachsehen. Er kommt zurück und sagt: „Schon richtig, es gibt mehr Löcher auf der Erde als Sterne am Himmel.“ Nun, es ging so lange, wie es ging, und schließlich war die Geige fertig, und es hieß zurückgehen. Unterwegs kommt dem Knecht ein Mann entgegen, einen Stock n der Hand, und fragt: „Was hast du da für eine Geige?“ Der Knecht erzählt, daß ihm der Aufseher befohlen habe, aus der Hölle eine solche Geige zu bringen, die die Toten tanzen und die Lebendigen weinen macht. „Und das ist sie nun“, sagt er, „und die bringe ich nach Hause.“ Der Mann beginnt zu handeln: „Wollen wir nicht tauschen? Ich habe einen solchen Knüppel, der alles tut, was du verlangst.“ 282
Der Knecht antwortet darauf: „Wie darf ich tauschen, ich muß die Geige nach Hause bringen!“ Doch plötzlich kommt ihm in den Sinn: Wenn ich den Knüppel bekomme, dann kann ich ihn ja die Geige zurückbringen lassen. Und er tauscht die Geige gegen den Knüppel. Sobald aber der Fremde ein Stück gegangen war, sagt der Knecht: „Knüppel, geh und hole mir meine Geige zurück!“ Sofort geht der Knüppel, klopft den Mann durch und holt die Geige zurück. Nun gehen sie noch ein Stück weiter, da kommt ihnen ein Mann entgegen, der bemerkt sofort die Violine. Den Knüppel beachtet er gar nicht und fragt: „Was ist das für eine Geige?“ Der Knecht erzählt ihm, wie die Dinge liegen. Der Mann sagt: „Ich habe eine Tischdecke. Sobald du sie auseinanderfaltest, stehen verschiedene Speisen und Getränke darauf, und wenn du sie zusammenlegst, ist nichts mehr da. Willst du die Geige gegen die Tischdecke tauschen?“ Der Knecht weigert sich zuerst, will nicht tauschen, schließlich aber tauscht er doch. Sobald der Mann etwas gegangen ist, befiehlt der Knecht: „Knüppel, geh, bringe mir die Violine zurück!“ Der Knüppel geht augenblicklich, verbleut den Mann und bringt die Geige zurück. Jetzt kommt der Knecht aufs Gut. Dort war gerade die Mutter des Aufsehers gestorben. Der Knecht geht hin und fängt an, auf der Geige zu 283
spielen. Die Alte steht sofort auf und beginnt kekkadi-kakkedi zu tanzen. Und alle anderen, die dabei stehen, fangen laut zu weinen an. Doch sowie der Knecht das Geigenspiel einstellte, kroch die Alte schnell in ihr Bett zurück, und auch alle anderen waren still. Nun ging der Knecht fort in den Wald, dorthin, wo er am dichtesten war, und sagt am Abend zum Knüppel: „Knüppel, daß du mir bis morgen früh ein prächtiges Haus aufbaust!“ und legt sich selber schlafen. Am nächsten Morgen wacht er auf und sieht, das prächtige Haus ist fertig. Er geht hinein, entfaltet die Tischdecke, und schon stehen darauf die schönsten Speisen und Getränke. Nach einigen Tagen geht der Waldhüter in den Wald, sieht das großartige Haus im Walde und denkt: Wann, Teufel noch mal, wurde es hier erbaut, so daß ich nichts davon gemerkt habe? Er geht hinein und beginnt dort mit dem Mann zu schimpfen: „Wie unterstehst du dich, im Gutswald ein Haus zu bauen?“ Der Knecht hört zu und sagt schließlich: „Knüppel, wirf mir diesen Mann zur Tür hinaus!“ Der Knüppel faßt den Mann, klopft ihn durch und wirft ihn zur Tür hinaus. Mit Schimpf und Schande geht der Waldhüter zum Gut und erzählt dem Gutsvogt die Geschichte, sagt jedoch kein Wort davon, daß er verprügelt worden ist. Der Gutsvogt geht hin, fängt an zu schimpfen und schwingt den Stock, um dem Knecht eins zu versetzen.
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Der Knecht sagt: „Sachte, sachte, sei nicht gleich so hochnäsig! Knüppel, komm vor aus der Ecke und gib es ihm richtig, er hat mich genug geprügelt.“ Na, der Knüppel walkte auch den Gutsvogt ordentlich durch und warf ihn zur Tür hinaus. Der Gutsvogt rannte daraufhin zum Gut und erzählte die Geschichte dem Aufseher, sagte aber kein Wort davon, daß er Prügel bekommen hatte. Jetzt lief auch der Aufseher in den Wald und setzte seinerseits an zu schreien und zu schimpfen. Der Knecht ließ auch ihn in gleicher Weise durch den Knüppel verprügeln. Der geht und erzählt es dem Verwalter. Auch dieser geht in den Wald und erhält seinen Teil. Der geht und erzählt es dem Herrn. Der Herr ging ebenfalls hin und erhielt dasselbe wie die andern. Nun, woran fehlte es jetzt noch dem Knecht, um gut zu leben? Er lebte wie ein großer Mann, kannte keine Sorgen. Es wagte keiner mehr, ihm etwas anzutun. Das Essen hatte er frei, und der Knüppel jagte ihm die davon, die ihn anzufallen versuchten. Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er heute noch.
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59 Wie Aimu Andres die Königstöchter aus der Hölle befreite Aimu Andres diente bei einem Bauern. Als Jahreslohn erhielt er bei ihm eine halbe Kopeke Geld und eine Kanne Bier. Nachdem er ein Jahr abgedient hatte, nahm er seinen Lohn. Das Bier trank er aus, das Geld aber legte er in die Tasche, schlug mit der Hand darauf und sagte: „Na endlich hat der Mann Geld!“ Andres merkte aber sofort, daß das Geld in der Tasche nicht klang, und überlegte, wie er der Sache abhelfen könne. Und Andres hieß nicht umsonst Aimu, als daß er keinen Rat gefunden hätte! „Ich diene lieber noch ein Jahr“, sagte er entschlossen, „dann bekomme ich wieder einen guten Schluck Bier und eine halbe Kopeke Geld, und zusammen werden sie in der Tasche schon klingen.“ Andres diente noch ein Jahr und erhielt den versprochenen Lohn. Sobald er jetzt mit der Hand auf die Tasche schlug, klimperte das Geld darinnen. „So, nun kann ich auf die Reise gehen!“ sagte er wie ein reicher Mann und – wie gesagt, so getan.
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Auf seiner Wanderung kam Andres an ein Flußufer und sah hier, wie ein Mann drei Katzen prügelte. Andres taten die Katzen leid, und er sagte zu dem Mann: „Warum prügelst du die Katzen, verkauf sie mir lieber!“ „Wieviel gibst du mir denn?“ fragte der Mann. „Den Lohn von ganzen zwei Jahren.“ Der Mann war einverstanden. Andres gab dem Mann die zwei halben Kopeken, nahm die Katzen und ging in ein Wirtshaus, um zu übernachten. Ins Wirtshaus kamen verschiedene Menschen, deren Sprachen der Wirt nicht verstand und der daher sehr in der Not war. Die Katzen von Andres waren aber Sprachkundige, die alle Sprachen der Welt kannten und an diesem Abend die Reden aller Besucher erklärten. Als Lohn dafür gab der Wirt Andres ein Abendessen und Bier zu trinken. Auch die Katzen erhielten ihren Teil. Der Schenkwirt hatte drei Hunde: Seher, Riecher und Töter, die er dem Andres versprach, wenn er ihm seine Katzen gebe. Andres war einverstanden. Der Schenkwirt gab Andres noch eine Kanne Bier und eine Pfeife und sagte zu ihm: „Wenn du in diese Pfeife bläst, kommen die Hunde sofort zu dir, und wenn sie am anderen Ende der Welt wären.“ Andres ging geradewegs in die Stadt des Königs. Der König hatte einen großen Trauertag, und deshalb durfte keiner in der Stadt fahren oder lärmen. Andres aber setzte sich auf den Rücken des 287
des Töters und ging, die Pfeife blasend, unter den Fenstern des Königs vorbei. Der König sah das und schrie: „Wie darfst du mit deinen Hunden an meinem Fenster vorüberfahren und dazu pfeifen; weißt du denn nicht, daß das verboten ist?“ „Ich fürchte weder König noch Teufel“, erwiderte Andres. „Ach so! Dann geh und hole meine drei Töchter aus der Hölle heraus, du sollst dafür drei Tonnen Gold zum Lohn bekommen oder aber deinen Kopf verlieren.“ Andres war sofort einverstanden. Er ging in die erste Hölle, doch der Teufel war nicht zu Hause. Die Königstochter saß unter dem Fenster und nähte. Andres begrüßte sie. „Guten Tag, Christenmensch“, sagte die Königstochter. „Wie bist du nur hergekommen! Jetzt sterben wir heute den gleichen Tod.“ „Fürchte dich nicht, ich beschütze mich selbst und dich auch“, entgegnete Andres. Nach einiger Zeit sagte Andres zum Seher: „Sieh nach, ob er schon kommt.“ „Er kommt, doch er ist noch recht weit“, antwortete der Seher. „Rieche nun, ob er gut oder schlecht riecht“, befahl Andres dem Riecher. „Sehr gut“, sagte der Riecher. „Sieh nach, ob er schon nahe ist“, sagte Andres zum zweiten Male zum Seher. „Er ist noch weit weg.“
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„Rieche und sag, ob gut oder schlecht“, befahl er dem Riecher. „Mittelmäßig.“ „Sieh jetzt nach, ob er bald hier ist.“ „Gleich ist er hier!“ „Rieche, ob gut oder schlecht.“ „Sehr schlecht!“ „Bringe ihn um!“ befahl Andres dem Töter. Augenblicklich war der Teufel zerrissen und die eine Tochter gerettet. Andres ging in die zweite Hölle – der Teufel war nicht zu Hause. Die Königstochter saß am Fenster und nähte. Andres begrüßte sie. „Guten Tag, Christenmensch!“ sagte die Königstochter. „Wie bist du hierhergeraten? Jetzt sterben wir heute den gleichen Tod.“ „Fürchte dich nicht, ich beschütze mich selbst und auch dich“, erwiderte Andres. Nach einiger Zeit sagte Andres zum Seher: „Sieh nach, ob er schon kommt.“ „Er kommt, ist aber noch sehr weit“, antwortete der Seher. „Rieche, ob gut oder schlecht“, befahl er dem Riecher. „Sehr gut“, entgegnete der Geruchkenner. „Sieh nach, ob er schon nahe ist.“ „Er ist noch weit.“ „Rieche, ob gut oder schlecht“, befahl er dem Riecher. „Mittelmäßig.“ „Sieh nach, ob er in der Nähe ist.“ 289
„Beinahe hier!“ „Rieche, ob gut oder schlecht.“ „Sehr schlecht!“ „Bringe ihn um!“ befahl Andres dem Töter. Sofort war der Teufel zerrissen und die zweite Tochter gerettet. Andres ging in die dritte Hölle – der Teufel war nicht zu Hause. Die Königstochter saß am Fenster und nähte. Andres begrüßte sie. „Guten Tag, Christenmensch“, sagte die Königstochter. „Wie bist du hierhergeraten? Jetzt sterben wir heute beide den gleichen Tod.“ „Fürchte dich nicht, ich verteidige mich und dich auch“, erwiderte Andres. Nach einiger Zeit sagte Andres zum Seher: „Sieh nach, ob er schon kommt.“ „Er kommt, doch ist er noch weit weg“, entgegnete der Seher. „Rieche, ob er gut oder schlecht riecht“, befahl Andres dem Riecher. „Sehr schlecht“, antwortete der Riecher. „Sieh nach, ob er schon nahe ist“, sagte Andres zum zweiten Male zum Seher. „Er ist noch weit.“ „Rieche, ob gut oder schlecht.“ „Mittelmäßig.“ „Schau jetzt nach, ob er in der Nähe ist.“ „Beinahe hier!“ „Rieche jetzt, ob gut oder schlecht.“ „Sehr gut!“
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Der Teufel kam herein: „Guten Tag, Aimu Andres! Wie hast du nur hierhergefunden? Unsere Kinder sind aber auch dumm, verstehen es nicht, dem Gast einen Sitz anzubieten!“ Mit diesen Worten ging der Teufel in die Kammer, holte für Andres eine Sitzgelegenheit und eine Kelle voll Blut zum Trinken und begann mit ihm eine Unterhaltung. „Laß doch deine Hunde mal heraus zu unseren Hündchen; junge Hunde, sie wollen spielen“, sagte während der Unterhaltung der Teufel zu Andres. Andres ließ einen Hund heraus, ihm wurden sechs Paar Ketten um den Hals geworfen. Die Männer unterhielten sich. „Eh, mein Hund kommt gar nicht zurück!“ sagte Andres nach einiger Zeit. „Oh, junge Hunde, sie spielen; laß den zweiten auch hinaus, sie werden schon zusammen zurückkommen.“ Andres ließ den zweiten Hund auch hinaus, dem wurden zwölf Paar Ketten um den Hals geworfen. Die Männer unterhielten sich. »Eh, meine Hunde kommen nicht zurück!“ sagte Andres nach einiger Zeit wieder. „Oh, junge Hunde, sie spielen; laß den dritten auch heraus, er wird die anderen schon zurückbringen.“ Andres ließ auch den dritten Hund hinaus, ihm wurden vierundzwanzig Paar Ketten um den Hals geworfen. Die Männer unterhielten sich.
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„Eh, meine Hunde kommen gar nicht zurück!“ sagte Andres wieder während der Unterhaltung. Der Teufel ging in die Kammer, holte dort ein großes Beil und einen Holzklotz und sagte zu Andres: „Lege jetzt deinen Kopf hierher!“ Andres sah, daß das kein Scherz mehr war, und fragte: „Darf ich vorher noch ein Sterbelied spielen?“ Der Teufel erlaubte es. Andres nahm seine Pfeife heraus und begann zu spielen. „Der Herr ruft uns, wir müssen gehen!“ sagten die Hunde und zerrissen ein Drittel der Ketten. „Lege jetzt deinen Kopf hierher!“ drängte der Teufel. Andres aber bat um Zeit, ein zweites Stück zu spielen. „Unser Herr ruft wieder, wir müssen gehen!“ sagten die Hunde und zerrissen das zweite Drittel der Ketten. „Was vertrödelst du unnütz die Zeit, lege deinen Kopf hierher!“ drängte der Teufel. Andres bat um Erlaubnis, noch ein drittes Stück zu spielen. „Der Herr ruft uns, wir müssen gehen!“ sagten die Hunde, zerrissen das letzte Drittel der Ketten und liefen ins Zimmer. „Bring ihn um!“ befahl Andres. Der Töter zerriß den Teufel. Andres nahm nun aus der Hölle eine aus zwölf Hengsthäuten genähte Sackpfeife mit und ging mit den Königstöchtern fort.
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Der König war sehr froh, daß er die Töchter wiederbekommen hatte. Er bezahlte Andres anstandslos die versprochenen drei Tonnen Gold und erhob ihn zum Befehlshaber seines Heeres. Nun hatte Andres genug Reichtum und Ehre. Die Königstöchter hatten Verlobte: die eine einen Schneider, die andere einen Schuster und die dritte einen Goldschmied. Der König wollte diese Männer nicht zu Schwiegersöhnen haben und überlegte, wie er sie umbringen könne. Da ihnen aber keine Schuld nachzuweisen war, versuchte er es mit Schlauheit. Eines Abends rief er den Schneider zu sich und sagte zu ihm: „Daß du mir bis morgen früh meinen Töchtern neue Festkleider nähst, die ohne Anschauen und ohne Abmessen gut passen. Schaffst du das, dann bekommst du meine Tochter zur Frau; aber wenn die Kleider nicht passen, mache ich dich um einen Kopf kürzer und werfe dich den Hunden zum Fraß vor.“ Der Schneider ging traurig nach Hause, setzte sich auf die Treppe und fing an zu weinen. „Warum weinst du?“ fragte Andres, der vorbeikam. „Ich bin Schneider und soll den Königstöchtern bis morgen früh neue Kleider nähen, die ohne Hinsehen und ohne Abmessen passen sollen. Wenn ich das nicht kann, macht man mich um einen Kopf kürzer und wirft mich den Hunden vor. Jetzt weine ich, weil mir keiner helfen kann. Aber was bist du für ein Mann?“
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„Ich bin Schneidergeselle und suche Arbeit“, erwiderte Andres. „Sei dann ein guter Mann, vielleicht kannst du mir helfen; man sagt, zuweilen soll der Geselle klüger sein als der Meister.“ „Schlachte einen Mastbullen, die Hälfte mir, die Hälfte meinen Hunden, dann sind die Kleider bis morgen fertig“, versprach Andres. Der Schneider brachte Andres mit großer Freude ins Zimmer, gab ihm den Stoff und ging selbst den Bullen schlachten. Andres steckte den Stoff in den Ofen und verbrannte ihn. Der Schneider kam vom Schlachten zurück und ging ins Zimmer, um zu sehen, wie weit der Geselle mit der Arbeit sei – es war kein Stoff mehr da! „Hab keine Angst“, sagte Andres, „bis zum Morgen ist noch Zeit.“ Am Morgen ging Andres in der Stube umher und blies auf seiner aus der Hölle mitgebrachten Sackpfeife. Der Schneider kam, um nachzuschauen – die neuen Kleider waren fertig. Sofort nahm der Schneider die Kleider und ging, um sie den Königstöchtern anzuprobieren. Sie waren weder zu groß noch zu klein, sondern paßten ganz genau. Am nächsten Abend rief der König den Schuster zu sich und sagte: „Daß du mir bis morgen früh meinen Töchtern neue Schuhe machst, die ohne Hinsehen und ohne Abmessen genau passen. Wenn du das kannst, bekommst du meine Tochter zur Frau; passen aber die Schuhe nicht, mache
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ich dich um einen Kopf kürzer und werfe dich den Hunden zum Fraß vor.“ Der Schuster ging traurig nach Hause, setzte sich auf die Treppe und weinte. „Warum weinst du?“ fragte Andres, der vorbeikam. „Ich bin Schuster und muß bis morgen früh den Königstöchtern Schuhe anfertigen, die ohne Hinsehen und ohne Abmessen gut passen. Wenn ich das nicht kann, macht man mich um einen Kopf kürzer und wirft mich den Hunden zum Fraß vor. Jetzt weine ich, weil mir keiner helfen kann. Aber was bist du für ein Mann?“ „Ich bin ein Schustergeselle und suche Arbeit“, erwiderte Andres. „Sei ein guter Mann, vielleicht kannst du mir helfen; man sagt, zuweilen sei der Geselle klüger als der Meister.“ „Schlachte einen Mastbullen, die Hälfte mir, die Hälfte meinen Hunden, dann sind die Schuhe bis zum Morgen fertig“, versprach Andres. Der Schuster brachte Andres hocherfreut ins Zimmer, gab ihm Leder und ging den Bullen schlachten. Andres stopfte das Leder in den Ofen und verbrannte es. Der Schuster kam vom Schlachten zurück und ging ins Zimmer, um zu sehen, wie weit der Geselle sei – kein Leder war mehr da! „Hab keine Angst“, sagte Andres, „bis zum Morgen ist noch Zeit.“ Am Morgen ging Andres im Zimmer umher und blies auf seiner Sackpfeife, die er aus der Hölle 295
mitgebracht hatte. Der Schuster kam, um nachzuschauen – die neuen Schuhe waren fertig. Sofort nahm der Schuster die Schuhe und ging, um sie den Königstöchtern anzuprobieren; sie waren weder zu groß noch zu klein, sondern paßten genau. Am dritten Abend rief der König den Goldschmied zu sich und sagte: „Daß du mir bis morgen früh für meine Töchter goldene Kronen machst, die ohne Hinsehen und ohne Abmessen gut passen. Wenn du das kannst, bekommst du meine Tochter zur Frau; wenn die Kronen aber nicht passen, mache ich dich um einen Kopf kürzer und werfe dich den Hunden zum Fraß vor.“ Der Goldschmied ging traurig nach Hause, setzte sich auf die Treppe und weinte. „Warum weinst du?“ fragte Aimu Andres, der vorbeikam. „Ich bin Goldschmied und soll bis morgen früh für die Königstöchter goldene Kronen machen, die ohne Hinsehen und ohne Abmessen genau passen. Wenn ich es nicht kann, macht man mich um einen Kopf kürzer und wirft mich den Hunden vor. Jetzt weine ich, weil mir keiner helfen kann. Aber was bist du für ein Mann?“ „Ich bin ein Goldschmiedegeselle und suche Arbeit“, erwiderte Andres. „Sei ein guter Mann, vielleicht kannst du mir helfen; man sagt, zuweilen sei der Geselle klüger als der Meister.“
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„Schlachte einen Mastbullen, eine Hälfte für mich, die andere für meine Hunde, dann sind die Kronen morgen früh fertig“, versicherte Andres. Der Goldschmied brachte Andres hocherfreut in die Stube, gab ihm Gold und ging selbst den Bullen schlachten. Andres steckte das Gold in den Ofen und verbrannte es. Der Goldschmied kam vom Schlachten zurück und ging wieder in die Stube, um zu sehen, wie weit der Geselle sei – es war kein Gold mehr da! „Hab keine Angst“, sagte Andres, „bis zum Morgen ist noch Zeit.“ Am Morgen ging Andres in der Stube umher und blies auf seiner aus der Hölle mitgebrachten Sackpfeife. Der Goldschmied schaute nach – die Kronen waren fertig. Sofort nahm der Goldschmied die Kronen und ging, um sie den Königstöchtern anzupassen; sie waren nicht zu groß und nicht zu klein, sondern gerade passend. Jetzt nahm der König die Männer zu Schwiegersöhnen und richtete eine so große und prächtige Hochzeit, wie sie noch keiner gesehen. Andres war auch auf der Hochzeit und spielte dort auf seiner Höllensackpfeife manch ein Stückchen auf, das mächtig in die Beine ging.
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60 Der Fronarbeiter als Kesselarbeiter in der Hölle In alter Zeit, als es noch Fronarbeit gab, flüchtete ein Fronarbeiter, der die vielen Schläge nicht mehr ertragen konnte, in den Wald. Als er im Wald umherirrte, dachte der Mann: Wie lange soll ich nur im Wald so dahinleben? Eines Tages werde ich doch gefunden, und dann kriege ich furchtbare Schläge. Es hat doch der Bauer ein elendes Leben! – Wenn man wüßte, daß das Leben in der Hölle halbwegs erträglich ist, würde ich hingehen, so schlimm wie auf dem Gut kann es dort auch nicht sein. Wie er dies so überlegte, kam ein schwarzer Mann und sagte: „Weswegen sorgst du dich, Mann? Ist denn dein Leben so schlecht, daß du hier im Walde klagen mußt?“ Der Fronarbeiter antwortete: „Na, würdest du es denn gut finden, wenn man dich jeden Tag wie einen Köter verdrischt und dir nur so viel zu essen gibt, daß Seele und Leib zusammengehalten werden?“ Der Fremde antwortete: „Sei doch nicht auf mich böse, weil dein Leben so elend ist; das ist schließlich nicht meine Schuld! Wenn aber dein Schicksal so hart ist, so komm doch zu mir als
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Knecht; du erhältst einen guten Lohn und gute Verpflegung.“ Der Fronarbeiter wurde freundlicher, als er vom Lohn und von der Verpflegung hörte, und fragte: „Welche Arbeit willst du mir denn geben? Ich weiß ja nicht, ob ich es auch werde tun können, was du von mir verlangst.“ Der Fremde entgegnete: „Fürchte dich nicht, die Arbeit ist überhaupt nicht schwer, du wirst ein Herrenleben führen. Komm nur mit!“ Der Fronarbeiter dachte: Mir ist es gleich, wo ich was zu essen bekomme, wollen wir also mitgehen. Der fremde Mann ging voran und der Fronarbeiter hinterher. Der Wald, in den sie gingen, wurde immer dichter und dem Fronarbeiter fremder. Schon bedauerte der Mann, dem Fremden gefolgt zu sein, dennoch wollte er nicht umkehren; so ging er, komme was da wolle, weiter. Die Nacht kam, und immer noch marschierten die Männer durch den dichten, dunklen Wald. Um Mitternacht begannen ihnen zwischen den Bäumen Lichter entgegenzublinken, die immer heller wurden. Nach einiger Zeit standen sie vor den Toren eines schönen Schlosses, das vor lauter Gold glänzte. Das Schloß selbst erstrahlte in tausend Lichtern, wie in einem Feuermeer. Der fremde Mann klopfte an das Tor, es öffnete sich von selbst, und sie traten ein. Dem Fronarbeiter gingen die Augen über von all der Pracht, die ihm von allen Seiten entgegenstrahlte. Der Fremde aber führte den Mann immer weiter durch 299
mehrere Zimmer hindurch. Schließlich blieben sie in einer prachtvollen Stube stehen. Der Fremde befahl dem Fronarbeiter, sich auf ein weiches Sofa zu setzen, und ging selbst in ein anderes Zimmer. Nach einiger Zeit kam er zurück, gefolgt von Dienern, die verschiedene Speisen auf den Tisch trugen. Sobald der Tisch gedeckt war, bat der Hausherr den Knecht zum Essen. Der ließ sich nicht zweimal bitten, sondern machte sich gleich an die Speisen. Gierig schlang er die teuren Speisen hinunter, bis der Bauch voll war. Dann faltete er die Hände, wie er es von zu Haus her gewohnt war. Als der fremde Mann, sein jetziger Herr, dies sah, schrie er: „Diese Faxen laß gefälligst bleiben, sie passen nicht hierher! Außerdem merke dir, was ich dir noch sage: Du darfst hier weder nach dem Essen die Hände falten noch überhaupt den Namen Gottes erwähnen. Du darfst auch nie dein Gesicht waschen und dir weder Haare noch den Bart schneiden. Erfüllst du diese meine Befehle, wirst du stets ein gutes Leben haben und kannst nach einem Jahr, wenn du willst, wieder weggehen; du erhältst dann auch deinen guten Lohn mit auf den Weg. Du bist jetzt in der Hölle, denke daran!“ Als der Mann hörte, wo er war, erschrak er zuerst, doch dann dachte er: Was habe ich denn auszustehen? Die Hölle ist überhaupt nicht so schrecklich, wie erzählt wird; Würde und Pracht überall, wo man hinschaut. Ein Jahr werde ich schon aushalten! 300
Dann sagte er: „Ich will deine Befehle, die du mir gegeben hast, befolgen und in der Zeit, die ich hier verbringe, nichts von diesen Dingen tun!“ „Das ist gut“, sagte der Hausherr, der auch der Teufel selbst war. „Diene nur treu, morgen früh teile ich dir die Arbeit zu, die du zu tun hast, jetzt aber gehen wir schlafen.“ Der Hausherr brachte seinen Knecht in eine schöne Kammer zum Schlafen und sagte, daß sie auch weiterhin sein Quartier sein werde. Dann ging er weg. Der Mann streckte sich auf dem weichen Kissen aus und dachte: Hol’s der Teufel, ist das aber ein angenehmes Leben in der Hölle! Wenn es hier so schön ist, werde ich gar nicht mehr weggehen wollen. Am nächsten Morgen kam der Teufel, um nach seinem Knecht zu sehen. Der war schon auf den Beinen und wollte gerade nach dem Waschwasser fragen, da fiel ihm ein, daß es ihm verboten war, das Gesicht zu waschen. Und er ließ es sein. Der Teufel aber sagte: „So! Das ist nur gut, daß du schon auf den Beinen bist; das bedeutet, daß du ein treuer Knecht sein willst! Also gehen wir, um nach der Arbeit zu sehen.“ Sie gingen durch mehrere Zimmer, die immer schmutziger und scheußlicher wurden, bis sie schließlich in ein rußiges Loch kamen. Dort sah der Mann eine Reihe von Kesseln stehen, und unter jedem brannte ein Feuer. Ein Mann warf die ganze Zeit Holz ins Feuer. 301
Der Hausherr sagte: „Das ist deine Arbeit, du mußt unter diesen Kesseln immer ein gutes Feuer halten; je sorgsamer du das tust, desto größer wird dein Lohn sein. Paß aber auf, daß du niemals das Feuer ausgehen läßt, dann bist du in Not! In jedem Kessel kocht ein Mensch; läßt du das Feuer unter dem Kessel verlöschen, kommen sie heraus und werfen dich selbst in den Kessel. Ich bringe dich jeden Tag hierher und hole dich am Abend wieder ab.“ Der Teufel ging mit dem anderen Manne davon, und der neue Knecht nahm seine Arbeit auf. Er brauchte das Holz nicht weit zu suchen, denn die Holzscheite waren in seiner Nähe aufgeschichtet. Der Mann begann sofort mit der Arbeit. Scheit um Scheit warf er unter die Kessel, und als alles gut im Gange war, hatte er auch etwas Zeit, sich umzusehen und eine Pfeife zu rauchen. Er dachte: Der Herr hat gesagt, daß in jedem Kessel ein Mensch steckt; ich sollte nachsehen, ob ich welche kenne! Und da lüftete er schon einen Kessel. „O Wunder!“ rief er, „ist doch mein früherer Herr drinnen. Ja, ja! Wie hast du mich doch dreimal am Tag verbleut und mir nur einmal am Tage Kaffbrot und saure Strömlinge zu essen gegeben; jetzt bist du endlich in meine Hände geraten, ich will dir dafür anständig einheizen!“ Mit diesen Worten drückte er den Deckel gut zu und legte Holz auf, daß es im Kessel nur so knallte.
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Dann nahm er von einem anderen Kessel den Deckel ab, um zu sehen, wer dort war. Kaum hatte er den Deckel angehoben, als er schon voller Wut rief: „Das ist aber gut! Mein alter Gutsvogt, der mich stets mit seinem Ebereschenstock verbleut hat und zudem immer zu Unrecht. Ich will auch dir fein einheizen.“ Er drückte den Deckel fest zu und schürte nur so das Feuer unter dem Kessel. Dann trat er an den dritten Kessel heran: „Ich will doch sehen, wer hier ist.“ Er hob den Deckel und, o Freude, im Kessel saß der alte Gutsherr. „Du alter Graubart bist also auch hier? Na, schön! Ich habe gehört, wie dich die älteren Menschen verflucht haben, weil du ihnen Hautstreifen aus dem Rücken geschnitten und den jungen Frauen die Brustwarzen abgebissen hast; es ist schon richtig, daß du hier dampfst! Sei nur still, ich werde dir schon Feuer unterlegen, damit du noch lustiger tanzen sollst!“ Fluchend schloß der Mann den Kesseldeckel und legte sorgsam, von einem Kessel zum anderen gehend, Holz unter. „Das ist gut, daß meine früheren Quälgeister und auch deren Eltern hier sind! Ist das ein Glück, daß ich’s ihnen nun heimzahlen kann!“ Am Abend kam der Herr, um nach ihm zu sehen, und fragte, wie ihm die Arbeit gefalle. „Was soll mir fehlen“, antwortete der Mann, „meine früheren Quälgeister sind alle in meiner
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Hand, denen muß man tüchtig Feuer untermachen!“ Der Herr machte ein ernstes Gesicht und sagte: „Wie konntest du aber in die Kessel schauen? Fürchtetest du denn nicht, daß sie dich selbst hineinwerfen?“ „Ach, Unsinn“, sagte der Mann, „ich habe ihnen so ein Feuer untergemacht, daß ihnen die Lust zum Herauskommen vergangen ist!“ „Es freut mich, daß du es verstehst, ein ordentliches Feuer unterzulegen. Sonst wären sie aus den Kesseln herausgeklettert, und du wärst jetzt an ihrer Stelle. Das ist gut, schüre nur anständig das Feuer, dann bist du ein guter Knecht!“ Daraufhin nahm er den Mann am Arm und führte ihn zum Ausruhen, während der andere Mann an seine Stelle trat. So verging ein Tag nach dem anderen, und der Mann bemerkte nicht einmal, daß das Jahr schon zu Ende ging. Am letzten Tag sagte der Herr zum Knecht: „Du hast jetzt ein Jahr gut gearbeitet und kannst wieder auf die Erde gehen, wenn du es willst!“ Der Knecht aber wollte noch nicht fortgehen, sondern lieber seinen Feinden ein weiteres Jahr lang gut einheizen. Der Herr war guter Laune, daß der Knecht mit der Arbeit zufrieden war, und versprach, ihn gut zu entlohnen. Der Mann dachte: Wer weiß, was für eine Entlohnung ich erhalten werde, hier bekomme ich ja gut zu essen; was kann man in der Hölle noch
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wollen? Außerdem ist es angenehm, solche Bösewichte wie die in meinen Kesseln zu quälen. So ging auch dieses Jahr gut vorüber. Der Mann blieb noch ein Jahr, doch dann hatte er genug, und er wollte schließlich auf die Erde gehen um nachzusehen, was dort inzwischen geschehen sei. Am letzten Tag brachte der Herr dem Knecht einen großen Sack voll Höllenkehricht, übergab ihm diesen und sagte: „Da du mir drei Jahre lang treu gedient hast, nimm das hier als Entlohnung!“ Der Mann schaute sich den Kehricht an und sagte böse: „Das soll ich also für meinen Dienst bekommen! Kehricht brauche ich nicht, wenn ich nichts Besseres erhalte!“ Der Herr aber beruhigte ihn und sagte: „Ärgere dich nicht, guter Mann, dieser Kehricht wird dir viel wert sein, wenn du auf die Erde kommst!“ Der Mann dachte: Wollen wir sehen, und nahm den Sack. Der Teufel bedankte sich nochmals bei dem Manne und sagte: „Wenn du wieder hierherkommen willst, dann gehe an dieselbe Stelle im Walde, wo du gewesen bist, als ich dich fand.“ Dann schlug er dem Mann dreimal auf den Rükken, und zu seiner großen Verwunderung fand sich der Mann an derselben Stelle, an der er vor drei Jahren mit dem Höllenherrn zusammengekommen war. Er wollte weitergehen, doch der Sack, der mit Höllenkehricht gefüllt war, wurde plötzlich schrecklich schwer, so daß der Mann ihn nicht 305
einmal bewegen konnte. Er schaute in den Sack und sah, daß er mit reinem Gold gefüllt war. Den größten Teil des Goldes vergrub er im Walde; dazu grub er mit seinen Nägeln, die in der Hölle sehr lang gewachsen waren, ein Loch. Dann ging er zum Gut, um dem Herrn zu berichten, wo sein Vater und der frühere treue Diener sind. Zu seinem Erstaunen stoben alle Menschen davon, sobald sie ihn sahen. Alle schrien, daß der alte Satan selber komme. Er sah auch wirklich höllisch aus. Drei Jahre hatte er sich im Ruß bewegt, die Haare und der Bart waren gewachsen, wie sie wollten. Ein wahres Ungeheuer! So gelangte er aufs Gut. Die Diener liefen Hals über Kopf davon, um nur vor dem schrecklichen Tier zu flüchten. Der Herr hörte den Lärm auf dem Hof und trat heraus, um zu schauen, was denn dort los sei. Dabei traf er auf der Treppe mit dem alten Fronarbeiter zusammen. Der Herr blieb wie eine Säule stehen und konnte sich nicht rühren, denn auch er dachte, nun sei der Teufel gekommen, um ihn in die Hölle zu holen. Der Teuflische aber sagte mit seiner schrecklichen Stimme, die in der Hölle ebenso scheußlich geworden war wie sein Äußeres: „Bereite dich vor, du mußt bald zu deinem Vater in die Hölle gehen. Er hat einen sehr großen Kessel für sich allein. Da werdet ihr beide hineinpassen, da ihr doch Verwandte seid!“
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Als der Herr diese Worte hörte, erschrak er noch mehr, so daß er bald darauf starb. Das Gut aber kaufte der frühere Fronarbeiter den Erben ab. Er ließ sich seinen Bart und seine Haare ebenso wie die anderen Menschen schneiden, reinigte seinen Körper und sein Gesicht. Seinen Reichtum ließ er in festen Kisten aus dem Walde holen, stellte sie in den Keller und nahm davon, so viel er brauchte. Es heißt, daß er später eine reiche Gutstochter geheiratet und mit ihr glücklich gelebt habe. Reichtum hatte er genug, es langte auch noch für die Kindeskinder.
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61 Der Teufel wirbt um ein Mädchen Es lebten einmal in irgendeinem Dorf eine Bauerntochter und ein Waisenkind. Die Bauerntochter war böse, stolz und faul; das Waisenkind aber hatte ein gutes Herz, war freundlich und fleißig. Das Waisenkind wurde von allen geliebt, die Bauerntochter aber mochte niemand auch nur ansehen. Das Waisenkind mußte alle Hausarbeiten allein verrichten und wurde trotzdem nur ausgeschimpft. Die Bauerntochter tat nichts als schlafen und rührte keinen Finger: Abends ging sie mit den Hühnern zu Bett, morgens stand sie mit den Schweinen auf. Einst traf das Waisenkind den Teufelsknecht Ants und klagte ihm sein Leid. Ants hörte sich die Sache an und sagte: „Am nächsten Sonnabend, wenn du wieder allein in die Sauna gehst, komme ich mit einem Herrn vorgefahren. Dieser Herr wird dich freien wollen, und du darfst ihm nicht absagen – versprich, ihn zu heiraten. Wenn du mit dem Baden fertig bist und dich anzukleiden beginnst, sind wir da. Ziehe kein einziges Kleidungsstück an – wir bringen dir alles neu! Aber du mußt einzeln danach fragen und sie dir einzeln bringen lassen, damit mehr Zeit vergeht. Denn wenn du zu schnell fertig bist, bringt er dich weg. Versuche 308
die Zeit so lange hinzuziehen, bis der Hahn kräht, dann bist du gerettet. Und dann wirst du auch sehen, was geschieht. Behalte gut im Gedächtnis, was ich dir gesagt habe! Das wird dir Glück bringen!“ Nach diesen Worten ging Ants seines Weges. Das Waisenkind überlegte, was das wohl bedeuten könne. Es beschloß dennoch, alles so zu tun, wie Ants es ihr gesagt hatte: Mein Leben kann ja doch nicht schlimmer werden, als es schon ist – soll doch aus mir werden was will! Am Sonnabendabend gingen alle in die Sauna. Ann, das Waisenkind, wusch das Geschirr, fütterte die Hunde und verrichtete wie immer ihre Arbeiten, bis die anderen aus der Sauna zurück waren. Erst dann konnte auch sie in die Sauna gehen. In der Sauna quästete sie sich und wusch ihr Haar. Sie begann sich schon anzukleiden, als eine vierspännige Kutsche mit Getöse vor die Sauna gefahren kam. Ann hielt sich versteckt und hörte jemanden fragen: „Annelein, Schwesterchen, bist du fertig?“ „Gebadet habe ich mich, doch ich habe kein Hemd“, antwortete Ann. „Lauf, Ants, eile, Ants, Hol ein Hemd für die Ann!“ war von draußen zu hören. Sofort rannte Ants los, um ein Hemd zu holen. Nach einiger Zeit kam Ants mit dem Hemd zurück und gab es Ann. 309
„Aus reiner Seide“, bemerkte Ann und fing an, das Hemd anzuziehen. „Schmück dich, Ann, schmück dich, Ann, mach dich schnell fertig!“ erklang die Stimme hinter der Schwelle. „Ich habe keinen Gürtel“, sagte Ann. „Lauf, Ants, eile, Ants, Hol einen Gürtel für Ann!“ klang es von draußen. Ants ging und kam nach einer Weile mit einem Gürtel zurück. Der Gürtel war aus reinem Golde, geschmückt mit funkelnden Edelsteinen. „Schmück dich, Ann, schmück dich, Ann, mach dich schnell fertig“, war wieder von draußen zu hören. „Ich habe keinen Rock zum Anziehen“, sagte Ann. „Lauf, Ants, eile, Ants, Hol einen Rock für die Ann“, klang es von draußen. Ein Rock wurde gebracht, wieder wunderschön aus Samt und Seide. Ann begann den Rock anzuziehen, und wieder sagte jemand: „Schmück dich, Ann, schmück dich, Ann, mach dich schnell fertig!“ Ann ließ sich alles einzeln herbeibringen. Auch goldene Schuhe, nur um die Zeit bis zum Hahnenschrei hinauszuzögern. 310
Als die goldenen Schuhe, die sie sich auch einzeln bringen ließ, angezogen waren, trat Ann aus der Sauna hinaus. Doch was für eine Ann! Eine richtige Königstochter. „Komm, Ann, setz dich, Ann, die Zeit verrinnt.“ „Ich habe keinen goldenen Klotz für die Füße, kann ohne ihn nicht in die Kutsche steigen“, sagte Ann. „Lauf, Ants, eile, Ants, Hol einen goldenen Klotz für die Füße der Ann“, sagte eine Stimme aus der Kutsche. Und Ants rannte los. Nach einiger Zeit kam er mit dem Klotz zurück und stellte ihn neben die Kutsche. Die Stimme aus der Kutsche sagte wieder: „Komm, Ann, setz dich, Ann, die Zeit verrinnt!“ Ann trat schon mit einem Fuß auf den goldenen Klotz, da krähte der Hahn – und der Herr mit der Kutsche verschwand wie Staub und Asche. Ann blieb in ihrer reichen Kleidung – einen Fuß auf dem Goldklotz – staunend zurück. Was sollte sie nun anderes tun als den Goldklotz unter den Arm nehmen und nach Hause gehen. Keiner wollte mehr die Ann erkennen, so schön war sie. Und alle freuten sich, als sie ihre Geschichte hörten, daß sie jetzt reich war. Auch Ann war guter Dinge, denn nun brauchte sie nicht mehr auf dem Bauernhof zu dienen und die Spöttereien der anderen zu ertragen. 311
Die Bauerntochter aber merkte sich genau, wie die Geschichte war, und wollte versuchen, ob sie nicht noch schönere und teurere Sachen bekommen könnte. Wenn man schon dieser Lumpenliese solche Kleider gegeben hat, was werde ich dann wert sein! dachte sie jeden Tag und wartete auf den Sonnabend. Der Sonnabend kam. Alle anderen gingen in die Sauna, sie aber ging nicht. Als alle zurück waren, ging sie allein. Kaum war sie mit dem Baden fertig, fuhr auch schon eine Kutsche mit Getöse vor die Sauna. „Bist du fertig?“ fragte eine Stimme aus der Kutsche. „Ich habe keine teuren Kleider – kein Seidenhemd, keinen goldenen Gürtel, keinen teuren Rock und keine goldenen Schuhe“, sagte die Bauerntochter. „Da hast du, zieh sie an und sei fix“, sagte jemand von draußen und warf ein Bündel über die Schwelle in die Sauna. Die Bauerntochter nahm die Kleider und zog sie an. Es waren sehr schöne Kleider, ebensolche wie Ann sie bekommen hatte. „Jetzt bin ich ihr doch wieder voraus“, sagte sie und trat hinaus. Die Tür der Kutsche stand offen, und die Bauerntochter stieg sofort ein. Kaum war sie in der Kutsche, verschwand sie mit allem unter der Erde. Und blieb bis zum heutigen Tage verschwunden. Ann aber wurde eine gute Hausfrau, und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie auch noch heute. 312
62 Die eigene Tochter und das Waisenkind Ein Mann lebte sehr glücklich mit seiner Frau. Sie hatten eine Tochter, die sie sehr liebten; doch der Liiva-Hannus war gekommen und hatte die Mutter unter die Erde gebracht, als die Tochter sieben Jahre alt war. Nach einigen Jahren nahm sich der Mann eine andere Frau, aber für das Kind wurde sie keine Mutter. Die Stiefmutter hatte aus einer früheren Ehe selbst eine Tochter. Die war verwöhnt, hatte ein böses Herz und quälte ihre Stiefschwester auf jede Weise. Zuerst ging es noch einigermaßen. Im Laufe der Zeit aber zog die Frau die Hosen an. Nun hatten weder der Mann noch seine Tochter etwas zu sagen. Da passierte noch das Unglück, daß der Mann starb. Die Tochter des Mannes blieb nun als Waise zurück. Jetzt hatte sie ein schweres Los zu tragen. Einst hatte die Hausfrau Brot gebacken und gab allen ein Stückchen zum Kosten. Das Waisenkind bat auch um ein Stückchen. Die Hausfrau kratzte vom Brottrog etwas Teig ab, stippte ihn dann in die Spreu, warf ihn zur Tür hinaus und sagte: „Geh ins Moor und komm nicht wieder!“
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Das Waisenkind war sehr hungrig. Es lief dem Brotstück nach, doch das Brotstück rollte davon, das Waisenkind hinterher. Unterwegs kommt ein Schaf entgegen und sagt: „Liebes Kind, schere mich; mir ist sehr heiß! Die Hälfte der Wolle behalte für dich als Lohn.“ Das Waisenkind schert das Schaf, nimmt aber keine Wolle. Das Brotstück rollt wieder weiter. Unterwegs kommt dem Mädchen eine Kuh mit vollem Euter entgegen. Sie bittet das Kind, sie zu melken, und zum Lohn verspricht sie ihm die Hälfte der Milch. Das Waisenkind tut, worum es die Kuh bittet, gibt aber die ganze Milch zurück. Das Brotstück rollt weiter und das Waisenkind hinterher. An einem Brunnen steht ein Pferd und bittet, es zu tränken; es verspricht dem Waisenkind, es dafür auf dem weiteren Weg reiten zu lassen. Das Waisenkind erfüllt den Wunsch des Pferdes, setzt sich aber nicht auf seinen Rücken. Das Brotstück stürmt weiter und bleibt vor einer Hütte stehen. Hier sagt ein altes Mütterchen zu dem Kind: „Liebes Kind, heize meine Sauna an und wasche mich!“ Sowie der Ofen angeheizt ist, sagt die Alte: „Faß mich an den Haaren und schleife mich in die Sauna!“ Das Waisenkind aber trägt die Alte vorsichtig in die Sauna. In der Sauna befiehlt die Alte, sie mit den Ruten zu schlagen. Das Waisenkind aber macht ein weiches Büschel aus Zweigen und wäscht die Alte schön sauber. 314
Nachher bringt die Alte das Waisenkind in ein Zimmer, in dem viele Kästchen stehen; einige sind aus Gold und Silber, andere wiederum aus Holz. „Wähle dir eins aus als Lohn“, sagte die Alte. Das Waisenkind nimmt bescheiden das allerschlechteste. „Geh jetzt nach Hause“, sagte das Mütterchen, „rufe alle Bekannten und Verwandten zusammen und öffne das Kästchen; dann wirst du sehen, was drinnen ist.“ Das Waisenkind geht nach Hause und tut wie ihm befohlen. Das Kästchen war gefüllt mit Gold und Edelsteinen! Die Hausfrau hätte ihm gerne das Kästchen entrissen, doch es waren zu viele Zuschauer da, und sie wagte es nicht. Wieder hatte die Hausfrau Brot gebacken und gab jedem ein Stück zum Kosten, auch dem Waisenkind. Nur den Anteil ihrer Tochter warf sie zur Tür hinaus. Die Tochter der Hausfrau ging ihm nach, doch das Brotstück begann zu rollen. Die Tochter der Hausfrau lief hinterher. Unterwegs kommt ein Schaf entgegen und bittet, es zu scheren. Das Mädchen schert das Schaf, behält aber die Wolle. Das Brotstück rollt weiter. Jetzt kommt eine Kuh entgegen und bittet, sie zu melken. Die Tochter der Hausfrau melkt die Kuh, behält aber die ganze Milch; sie trinkt, soviel sie kann, und wirft den Rest zusammen mit dem Melkeimer in den Graben. 315
Das Pferd tränkt sie nicht. Das alte Mütterchen beschimpft sie erst mit groben Worten und tut dann alles so, wie es die Alte sagt und wie man es von ihr verlangt. Nachher wählt sie sich das schönste Kästchen. Zu Hause ruft sie alle Verwandten zusammen, an das Waisenkind denkt sie nicht einmal. Aus dem Kästchen kamen Feuer und Pech heraus. Die Verwandten konnten sich nur mit Mühe retten, doch der Mutter und der Tochter blieben Pechflecken und Brandspuren das ganze Leben lang im Gesicht. Das Waisenkind heiratete später einen guten Mann und lebte lange und glücklich. Die Tochter der Hausfrau aber blieb eine alte Jungfer, denn ihr Herz war genauso schwarz und unsauber wie ihr Gesicht.
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63 Die Goldspinnerin Es geschah einmal, daß sich ein König und ein Bauer zu einem Gespräch zusammenfanden. Anfangs wußte der Bauer nicht, daß sein Gesprächspartner ein König ist, und deshalb redet er mit ihm wie mit seinesgleichen. Sie hatten schon eine ganze Weile miteinander gesprochen, wobei jeder von ihnen seine eigenen Kenntnisse sowie die Treue und den Verstand seiner Diener gelobt hatte, bis schließlich der Bauer sagte: „Ich habe auch eine sehr kluge Tochter, die eine ausgezeichnete Arbeiterin ist. Sie kann sogar aus dem Stroh, das hier draußen herumliegt, Gold machen.“ Nachdem alles gesagt war, gingen beide nach Hause, und der Bauer dachte nicht mehr daran, was er gesprochen hatte. Sobald aber der König nach Hause gekommen war, befahl er, die Tochter dieses Mannes herzubringen, setzte sie in ein leeres Haus und sagte: „Hier in diesem Haus ist ein gutes Spinnrad. Dein Vater hat geprahlt, du wärest eine so feine Spinnerin, daß du in kurzer Zeit Stroh zu Gold spinnen könntest. Hier sind zwei Häuser voll Stroh, spinne es zu Gold, sonst kommst du im guten hier nicht davon.“ 317
Das Mädchen weinte laut und sagte, daß ihr Vater leeres Zeug geredet habe. Doch es half alles nichts, der König gab noch einmal den Befehl, und die Arbeit mußte getan werden. Das Mädchen weinte bis zur Mitternacht. Die Uhr schlug zwölf, als plötzlich ein grauer alter Mann hereintrat und das Mädchen nach dem Grund ihrer Traurigkeit fragte: „Warum weinst du, junges Mädchen?“ „Warum soll ich denn nicht weinen“, sagte das Mädchen, „der König hat mir zwei Häuser voll Stroh gegeben, und ich soll sie zu Gold spinnen. Ich aber habe von einer solchen Arbeit noch nie etwas gehört, geschweige denn sie getan! Jetzt ist mein Leben zu Ende!“ Der graue Alte sah sich einmal um und fragte: „Was gibst du mir, wenn ich dieses Stroh zu Gold mache? Dann bist du gerettet.“ Das Mädchen antwortete dem Alten: „Ich habe nichts, dir zu geben.“ Der graue Alte sah sich wieder um und sagte: „Gib mir deine Schürze.“ Das Mädchen gab ihm seine Schürze. Nun machte der graue Alte das ganze vorhandene Stroh zu Gold. Der König ließ am Morgen nachsehen – und siehe da, das Stroh war zu Gold gesponnen. „Ohoo!“ sagte der König. „Dieser Bauer hatte recht. In seinem Hause ist noch viel Schlauheit.“ Er befahl dem Mädchen, am nächsten Tag vier Häuser voll Stroh zu Gold zu spinnen, und sagte:
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„Wenn es nicht gesponnen wird, ist dein Leben zu Ende.“ Das Mädchen weinte wieder bitterlich. Als der graue Alte das hörte, kam er erneut hinein und fragte: „Warum weinst du wieder?“ Das Mädchen sagte, man habe ihr vier Häuser voll Stroh gegeben, um es zu Gold zu spinnen, doch sie könne es nicht. Der graue Alte fragte: „Was gibst du mir dafür, wenn ich dir helfe?“ „Was kann ich Arme dir geben“, sagte das Mädchen, „du siehst ja, daß ich nichts habe.“ Der graue Alte schaute sich um und sagte: „Gib mir das Seidentuch, das du um den Hals trägst.“ Das Mädchen reichte es ihm hin. Plötzlich gab es einen großen Lärm, und das Stroh war zu Gold gesponnen. Der König kam am nächsten Tage wieder und fand das Gold fertig. Schließlich sagte er zum Mädchen: „Mache mir jetzt sechs Häuser voll Stroh zu Gold, dann lasse ich dich in Ruhe.“ Das Mädchen begann laut zu weinen, doch es half ihr nichts. Schließlich kam wieder der graue Alte zu ihr und sagte: „Ich helfe dir noch dieses Mal, wenn du mir versprichst, daß ich später das bekomme, was ich von dir verlange.“ „Ich habe doch nichts, du weißt es“, sagte das Mädchen. „Du wirst später heiraten, und wenn du das erste Kind bekommst, dann gibst du es mir. Ich will es aber erst, wenn es sieben Jahre alt ist.“ 319
Danach machte der Alte auch dieses Stroh zu Gold und ging. Nach einiger Zeit heiratete das Mädchen den Diener eines großen Königs, und ein Jahr später gebar sie ihm einen Sohn. Als der Junge sieben Jahre alt wurde, kam der Alte, ihn zu holen, und sagte: „Jetzt ist die Zeit gekommen, wo du dein Versprechen einlösen mußt, sonst geschieht dir ein noch größeres Unglück.“ Die junge Frau erschrak sehr darüber, daß ihr einziger Sohn weggebracht werden sollte, sie flehte und bat, daß der alte Graukopf, der ihr schon so viel Gutes getan und sich ihrer erbarmt habe, auch dieses Mal mit ihr Mitleid haben und etwas anderes anstelle des Kindes annehmen möge. Der graue Alte hatte ein weiches Herz, er hörte sich eine Weile die Klagen und die Not der jungen Frau an. Schließlich sagte er: „Ich sehe und ich empfinde die Not dieses Kindes, und ich möchte dir die Trauer erleichtern. Wenn jemand von euch zu sagen weiß, wie ich heiße, dann sollst du das Kind behalten.“ Der Alte ging für dieses Mal weg, doch die Männer gaben acht, in welche Richtung er ging. Sowie er am Waldrand angelangt war, verschwand er unter der Erde in einem Loch. Am Rande des Loches sprang er noch von einem Bein auf das andere und sang: „Sie kennen meinen Namen nicht, 320
Und wenn sie ihn auch kennen, So behalten sie ihn nicht. Mein Name, der ist Ruuben Tirts.“ Die junge Frau und alle anderen begannen jetzt Namen auszudenken, die sie dem grauen Alten aufzählen könnten, wenn er wiederkäme. Am nächsten Tag kam der Alte zurück, und die junge Frau zählte ihm einige Namen auf und sagte schließlich: „Wenn du nicht anders heißt, so heißt du Ruuben Tirts.“ Der graue Alte erschrak sehr, als er das hörte, verschwand plötzlich und kam nie wieder zurück.
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64 Der Pilzkönig Ein König hielt sich einmal im Walde zur Jagd auf, fand einen großen und schönen Pilz und wollte ihn nach Hause mitnehmen und braten. Unter dem Pilz steckte ein spanngroßer Alter mit einem ellenlangen Bart und einem fadenlangen Stock in der Hand. Der König ließ den Pilz stehen, brachte den Alten nach Hause und schloß ihn im Keller ein. Er wollte ihn als ein Weltwunder den anderen Menschen zeigen. Der kleine Sohn des Königs spielte auf dem Hof mit dem Ball. Dabei fiel der Ball durch ein Mauseloch in den Keller zu dem Alten. Der Junge verlangte den Ball zurück, doch der Alte gab ihn nicht und sagte: „Laß mich hier heraus, dann gebe ich dir den Ball.“ „Die Kellertür ist verschlossen, und den Schlüssel hat die Mutter bei sich in der Tasche. Wie soll ich dich herauslassen?“ sagte der Königssohn und weinte wieder bitterlich um den Ball. „Geh weinend ins Zimmer, daraufhin wird dich deine Mutter zu sich auf den Schoß nehmen, du ziehst ihr dann heimlich den Schlüssel aus der Tasche, kommst hierher und läßt mich heraus“, unterwies ihn der Alte. Der Junge rannte dann auch weinend in die Stube. Die Mutter nahm ihn auf den Schoß, um 322
ihn zu beruhigen, der Sohn aber stahl ihr den Schlüssel, ging nach einiger Zeit auf den Hof zurück und ließ den Alten aus dem Keller heraus. Der Alte gab ihm den Ball und befahl ihm: „Jetzt geh ins Zimmer und fange nochmals zu weinen an, und wenn dich die Mutter auf den Schoß nimmt, dann steck ihr den Schlüssel wieder in die Tasche zurück. Aber hüte dich, irgend jemandem davon zu erzählen. Sollst du aber einmal im Leben in Not geraten, dann denk an mich! Ich bin der Pilzkönig.“ Mit diesen Worten verschwand der Alte. Der Königssohn legte, wie ihm der Alte aufgetragen hatte, den Schlüssel in die Tasche der Mutter zurück und ging wieder Ball spielen. Der König rief alle Könige und Großmächtigen der Umgebung zusammen und versprach, ihnen einen spanngroßen Alten als ein Weltwunder zu zeigen, der einen ellenlangen Bart am Mund und einen fadenlangen Stock in der Hand habe. Die Gäste kamen zur angegebenen Zeit zusammen. Der König ging, um den Alten aus dem Keller zu holen – es war kein Alter mehr da! Die Gäste ärgerten sich über den König, daß er sie so genarrt hatte, und der König schämte sich, doch wo sollte er ihn hernehmen – was weg war, war weg! Der Sohn erzählte niemandem etwas von der Sache, bis er ein Mann wurde. Dann bekannte er einmal, daß er den Alten freigelassen hatte, und meinte, daß der Vater ihm deshalb nicht mehr böse sein werde. Der König aber ärgerte sich sehr 323
und wollte ihn nicht mehr zum Sohn haben. Er gab ihm nur ein Reitpferd und einen Obersten als Diener auf den Weg mit, jagte ihn aus dem Schloß und sagte ihm, er dürfe nie wieder zurückkehren. Der Königssohn ritt einige Zeit, und beide verspürten großen Durst. Schließlich kamen sie an einen tiefen Brunnen, wo es wohl Wasser gab, aber kein Gefäß, mit dem man das Wasser hätte hochholen können. Um sich zu helfen, nahmen sie die Riemen und die Zügel der Pferde, knüpften sie aneinander und ließen sich daran hinunter zum Trinken in den Brunnen. Zuerst ließ der Königssohn den Obersten hinunter, der stillte seinen Durst, kam herauf und ließ dann den Königssohn in den Brunnen hinab. Der Oberst war aber ein sehr schlechter Mensch, hatte Böses im Sinn und sagte zum Königssohn: „Schwöre jetzt, daß du von nun an mein Diener bist und ich der Königssohn und daß du nie und nimmer sagst, du wärst der Königssohn, dann will ich dich herausholen, sonst aber lasse ich dich im Brunnen.“ In seiner Not wußte der Königssohn keinen anderen Rat und schwor. Der Oberst holte ihn heraus, zog die Kleider des Königssohns an und gab ihm seine Kleider, und ebenso wechselten sie die Pferde. Dann ritten sie weiter. Nach einiger Zeit kamen sie in ein fremdes Reich, gingen zum König und boten diesem ihre Dienste an. Der König machte den falschen Königssohn zu seinem ersten Ratgeber, den richti-
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gen Königssohn aber zu einem Feldherrn, was der Oberst auch früher war. Der frühere Oberst ließ jedoch den richtigen Königssohn noch nicht in Ruhe, denn er fürchtete, daß sein Betrug irgendwie herauskommen würde, und er beklagte sich fortwährend über den anderen, dieser wäre so und so, niederträchtig und tauge nicht zu einem Diener des Königs oder gar zu einem Feldherrn – in der Hoffnung, daß der König ihn wegschicken werde. Da aber der Königssohn ein sehr hübscher Mann war, jagte ihn der König nicht gerade fort, aber er setzte ihn ab und machte ihn zuerst zum Stallmeister und schließlich sogar zum Pferdehirten. Es war an einem Feiertag. Der Königssohn weidete die Pferde, saß auf einem Stein, weinte bitterlich und beklagte sich: „Oh, ich Unglücklicher! Weswegen mußte ich von meinem Vater verstoßen werden – nur wegen eines spannenlangen Alten! Und ich hätte zu Hause Königssohn sein können!“ Plötzlich kam der spannenlange Alte unter demselben Stein hervor und fragte, warum er weine. „Wie sollte ich denn nicht weinen“, antwortete der Königssohn. „Weil ich dich damals aus dem Keller herausgelassen habe, jagte mich der Vater von zu Hause weg, und jetzt muß ich hier am heiligen Feiertag die Pferde hüten!“ „Weine nicht, komm zu meiner ältesten Tochter zu Besuch“, beruhigte ihn der Alte. „Und wo lasse ich so lange die Pferde?“ 325
„Hab keine Angst, sie gehen nirgends hin“, sagte der Alte und hob den Stein auf, unter dem eine große Treppe in die Erde hinabführte. Der Alte ging voraus und befahl dem Königssohn, ihm zu folgen. Sie gingen zusammen hinunter und traten vor ein Kupferschloß. Ein wunderschönes Mädchen kam, nahm den Königssohn bei der Hand, führte ihn in die Stube und sagte: „Ich danke dir sehr, daß du meinen Vater aus der Gefangenschaft errettet hast. Ich bin die älteste Tochter des Pilzkönigs. Warum bist du nicht früher gekommen, uns zu besuchen?“ Dann brachte sie ihm verschiedene gute Speisen, wie er sie zuletzt im Hause des Vaters gegessen hatte, und unterhielt ihn in so fröhlicher Weise, daß der Abend im Handumdrehen da war. Beim Weggehen gab der Pilzkönig dem Königssohn eine kupferne Pfeife und sagte: „Nimm sie zum Geschenk! Wenn du auf ihr pfeifst, wird vor dir sofort ein kupfernes Pferd stehen, und es werden kupferne Kleider da sein und ein kupfernes Schwert. Wenn du die Kleider anziehst, dich mit dem Schwert umgürtest und auf das kupferne Pferd steigst, kannst du gegen jeden Feind reiten.“ Die Tochter schenkte ihm eine Tischdecke und sagte: „Nimm sie zur Erinnerung an mich. Wenn du die Tischdecke ausbreitest, wird sie gleich voll sein mit Speisen, und vier Musiker spielen dir, solange du ißt, schöne Weisen vor.“ 326
Dann nahm sie den Königssohn bei der Hand und führte ihn an den Stein zum Ausgang. Die Pferde waren an Ort und Stelle, und der Königssohn trieb sie nach Hause. Die Pfeife und die Tischdecke legte er weg, benutzte sie gar nicht, wie man es ihm doch empfohlen hatte, und hielt sie für nicht weiter wertvoll. Am nächsten Sonntag weinte er wieder wie früher auf dem Stein; er hatte die Geschenke des Pilzkönigs und den Besuch ganz vergessen und klagte: „Oh, ich Unglücklicher! Weswegen mußte ich von meinem Vater verstoßen werden, nur wegen eines spanngroßen Alten! Zu Hause hätte ich Königssohn sein können!“ Plötzlich kam der Alte wieder unter dem Stein hervor und fragte, warum er weine. „Wie sollte ich nicht weinen“, antwortete der Königssohn. „Deinetwegen hat mich der Vater fortgejagt, und jetzt muß ich am heiligen Sonntag die Pferde hüten!“ „Weine nicht, komm zu meiner mittleren Tochter zu Besuch!“ „Aber wo soll ich so lange die Pferde lassen?“ „Hab keine Angst, sie gehen nirgends hin“, sagte der Alte und hob, wie auch das erste Mal, den Stein auf und ging mit dem Königssohn die Treppe hinunter unter die Erde, bis sie zu einem Silberschloß kamen. „Das ist das Schloß meiner mittleren Tochter“, sagte der Pilzkönig und hieß ihn hineingehen.
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An der Schwelle trat ihm ein noch schöneres Mädchen entgegen als vorher, nahm die Hand des Königssohns und sagte: „Ich danke dir sehr, daß du meinen Vater aus der Gefangenschaft befreit hast. Doch warum bist du nicht früher gekommen, uns zu besuchen? Ich bin die mittlere Tochter des Pilzkönigs.“ Dann wurden ihm verschiedene Speisen aufgetragen, solche, von denen er im Hause des Vaters wohl gehört, sie aber niemals gegessen hatte. Und er wurde so gut unterhalten, daß der Abend noch schneller herankam als das vergangene Mal im Schloß der älteren Schwester. Beim Weggehen gab der Pilzkönig dem Königssohn eine silberne Pfeife und sagte: „Nimm sie zum Geschenk! Wenn du darauf pfeifst, wird vor dir sofort ein silbernes Pferd stehen, und es werden silberne Kleider da sein und ein silbernes Schwert. Wenn du diese Kleider anziehst, dich mit dem Schwert umgürtest und dich aufs Pferd setzt, kannst du gegen jeden Feind kämpfen.“ Die Tochter schenkte ihm eine Tischdecke und sagte: „Nimm sie von mir zum Andenken. Und wenn du die Tischdecke ausbreitest, wird sie sofort voll sein mit Speisen, und zwölf Musiker spielen dir, solange du ißt, schöne Weisen vor.“ Dann nahm sie den Königssohn bei der Hand und führte ihn an den Stein zum Ausgang. Die Pferde standen alle brav an Ort und Stelle, und der Königssohn trieb sie nach Hause. Die ge-
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schenkten Sachen legte er weg, hielt aber nicht viel von ihnen. Am dritten Sonntag weinte er wieder auf dem Stein und dachte weder an die Geschenke des Pilzkönigs noch an den Besuch. Er klagte immer noch nach alter Weise: „Oh, ich Unglücklicher, weswegen muß ich jetzt Pferdehirt sein, nur wegen eines spanngroßen Alten! Er hätte im Keller bleiben und ich ein Königssohn sein können!“ Sofort war der spanngroße Alte wieder unter dem Stein hervorgekommen und fragte, warum er weine. „Warum soll ich nicht weinen, ich muß deinetwegen am heiligen Sonntag Pferdehüter sein!“ „Weine nicht, komm zu meiner jüngsten Tochter zu Besuch“, sagte der Alte und brachte den Königssohn wieder zur Treppe unter dem Stein. Sie kamen zu einem goldenen Schloß. „Das ist das Schloß meiner jüngsten Tochter, geh nur hinein“, sagte der Alte. An der Schwelle kam ihnen ein Mädchen entgegen – das war schöner als die beiden vorherigen – , nahm den Königssohn bei der Hand und sagte: „Ich danke dir, daß du meinen Vater gerettet hast und uns endlich einmal besuchen kommst. Ich bin die jüngste Tochter des Pilzkönigs.“ Dann wurden ihm verschiedene allerbeste Speisen gebracht, die er früher nie gesehen und von denen er nie gehört hatte, und er wurde auf so wunderbare Weise unterhalten, daß der Abend augenblicklich da war. 329
Beim Weggehen gab der Pilzkönig dem Königssohn eine goldene Pfeife und sagte: „Nimm sie zum Geschenk! Wenn du darauf pfeifst, wird vor dir ein goldenes Pferd stehen, es werden goldene Kleider da sein und ein goldenes Schwert. Wenn du die Kleider anziehst und dich mit dem Schwert umgürtest und dich aufs Pferd setzt, kannst du jeden Feind besiegen.“ Die Tochter schenkte ihm eine Tischdecke und sagte: „Nimm sie zur Erinnerung an mich! Wenn du die Tischdecke ausbreitest, wird sie sofort voll Speisen sein, und vierundzwanzig Musiker werden dir während des Essens schöne Weisen vorspielen.“ Dann nahm sie den Königssohn bei der Hand und führte ihn an den Stein zum Ausgang Die Pferde waren noch alle an Ort und Stelle, und der Königssohn trieb sie nach Hause. Die geschenkten Sachen legte er weg, hielt aber nicht viel von ihnen. Einige Tage später kam aus dem See ein schrecklicher dreiköpfiger fliegender Drache heraus, verlangte die Königstochter zum Fressen und drohte, er werde, wenn man ihm die Königstochter nicht in drei Tagen zum See bringe, das ganze Königreich vernichten. Die Königstochter weinte und zog Trauerkleider an; der König aber gab bekannt, daß derjenige, der seine Tochter erretten und den Drachen totschlagen werde, die Königstochter zur Frau und nach dem Tode des Königs auch das Königreich als Aussteuer bekommen solle. Dann brachte er 330
die Tochter zum See und stellte sich mit seinem ganzen Heer daneben. Der Königssohn sah beim Pferdehüten, daß das ganze Heer mit den Waffen zum See zog, und fragte einen Soldaten, wohin denn die Truppen gingen. Der Soldat erzählte ihm, daß die Königstochter einem dreiköpfigen fliegenden Drachen zum Fraß gebracht werde, daß das Heer mit dem Drachen kämpfen solle und daß der König dem seine Tochter versprochen habe, der sie vom Drachen errette und den Drachen totschlage, und daß der Retter nach dem Tode des Königs außerdem noch das Königreich bekommen solle. Der Königssohn erinnerte sich der Geschenke, ging nach Hause, nahm die Kupferpfeife und pfiff. Sofort stand vor ihm ein gesatteltes kupfernes Pferd, und auch die Kupferkleider und das Schwert lagen vor ihm. Schnell kleidete er sich an, umgürtete sich mit dem Schwert, sprang aufs Pferd und jagte zum Heer. Dort begrüßte er den König und bat um Erlaubnis, sein Glück versuchen zu dürfen, ob es ihm gelinge, den Drachen zu töten und die Tochter zu befreien. Der König erteilte ihm gern die Erlaubnis, und der Königssohn ritt zur Tochter, die allein am Seeufer saß und weinte, und sagte ihr, daß er sie retten wolle. „Oh, lieber junger Mann“, sagte die Königstochter, „warum sollen wir beide ein Ende finden? Du wirst den Drachen doch nicht töten können. Schone lieber dein Leben und laß mich allein sterben.“
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„Entweder beiden der Tod oder beiden das Leben, ich kehre nicht um“, sagte der Königssohn und zog das Schwert aus der Scheide. Der Drache kam mit großem Getöse und Lärm aus dem See heraus und fragte den Königssohn: „Na, Königssohn, Hündchen, für wen willst du denn gegen mich kämpfen?“ „Für mich selbst und für die Königstochter“, antwortete der Königssohn mutig, schlug mit dem Kupferschwert die Köpfe des Drachen ab und tötete ihn. Dann nahm er die Köpfe und die Zungen, legte sie unter einen großen Stein und setzte den Stein wieder auf die alte Stelle zurück. Danach ritt er zum König und rief: „Der Drache ist erschlagen, die Tochter gerettet und meine Arbeit getan!“ Darauf ritt er in Windeseile davon. Wohl rief ihm der König hinterher und gab Befehle, ihn zurückzuhalten, doch der kupferne Mann verschwand wie der Wind. Von dem kupfernen Mann mit dem kupfernen Pferd wurde überall gesprochen, doch keiner wußte, wer er war. Der Königssohn aber ging in den Pferdestall, legte sich schlafen und schlief drei Tage hintereinander. Die anderen überlegten wohl, warum er so lange schlafe, und gingen ihn auch wecken, doch er wachte und wachte nicht auf und ging erst am vierten Tag wieder die Pferde hüten. Es vergingen einige Tage, und aus dem See kam wieder ein Drache heraus, diesmal aber ein sechsköpfiger. Er verlangte wieder die Königstochter zum Fraß und drohte, wenn ihm die Toch332
ter nicht in drei Tagen zum See gebracht werde, das Königreich vollständig zu vernichten. Die Königstochter weinte und zog Trauerkleider an. Der König aber gab bekannt, daß der kupferne Ritter, der die Tochter das erste Mal gerettet hatte, verschwunden sei und daß derjenige, der die Tochter vor dem sechsköpfigen Drachen rette und den Drachen töte, die Tochter und nach dem Tode des Königs auch das Königreich erhalten solle. Dann brachte er die Tochter zum See und blieb beim Heer, um zu wachen. Der Königssohn hütete die Pferde und sah, daß das Heer mit den Waffen zum See zog; er fragte einen Soldaten, wohin es denn wieder ginge. Der Soldat erzählte ihm, wie die Dinge standen und daß jetzt aus dem See ein sechsköpfiger Drache herausgekommen sei, daß ihm nun die Königstochter zum Fraß hingebracht werde, daß das Heer hinziehe, um mit dem Drachen zu kämpfen, und daß der König demjenigen seine Tochter versprochen habe, der sie vom Drachen errette und den Drachen totschlage. Nach seinem Tode habe er dem Retter auch das Königreich versprochen. Der Königssohn lief schnell nach Hause, nahm die silberne Pfeife des Pilzkönigs und pfiff. Sofort stand ein gesatteltes silbernes Pferd da; die silbernen Kleider und das silberne Schwert waren ebenfalls zur Stelle. Schnell kleidete er sich an, umgürtete sich mit dem Schwert, sprang aufs Pferd und jagte zum Heer. Dort begrüßte er den König und bat um Erlaubnis, sein Glück versuchen zu dürfen, ob es ihm gelinge, den Drachen zu tö333
ten und die Tochter zu retten. Der König erlaubte es gern, und der silberne Reiter ritt zum Seeufer, wo die Tochter allein saß und weinte, und er sagte, daß er sie retten wolle. „Oh, lieber junger Mann“, sagte die Tochter, „weshalb sollen wir beide ein Ende finden? Den Drachen kannst du doch nicht töten. Schone lieber dein Leben und laß mich allein sterben.“ „Beiden der Tod oder beiden das Leben, ich gehe nicht zurück“, sagte der Königssohn und zog das Schwert aus der Scheide. Der Drache kam gerade mit großem Lärm und Getöse aus dem See heraus und fragte: „Na, Königssohn, Hündchen, für wen willst du nun gegen mich kämpfen?“ „Für mich selbst und für die Königstochter“, entgegnete der Königssohn mutig und ging auf den Drachen los. Es gelang ihm, drei Köpfe abzuschlagen, dann begann seine Kraft zu erlahmen. Schnell ritt er einige Schritte zurück, breitete die von der ältesten Königstochter geschenkte Tischdecke auf dem Rücken des Pferdes aus, und sie war sofort voller Speisen, und vier Musiker spielten schöne Weisen auf. Der Drache hielt still und hörte dem Spiel zu, und der Königssohn aß sich während dieser Zeit satt. Dann stürmte er mit neuer Kraft auf den Drachen los, schlug noch drei Köpfe ab und tötete den Drachen. Daraufhin legte er die Köpfe und die Zungen unter einen großen Stein und rollte den Stein darauf. Dann ritt er zum König und sagte wieder: 334
„Der Drache ist getötet, die Tochter ist gerettet und meine Arbeit getan!“ Zugleich jagte er davon. Wohl befahl der König seinem Heer, ihn zurückzuhalten, und rief ihm auch selbst hinterher, doch der Ritter verschwand wie der Wind. Von dem silbernen Ritter und vom silbernen Pferd wurde überall gesprochen, doch niemand wußte, wer er war. Der Königssohn ging aber nach Hause, legte sich im Pferdestall schlafen und schlief sechs Tage hintereinander. Wieder zerbrachen sich die anderen den Kopf und klagten auch dem König, daß der Pferdehirt so lange schlief. Der König ließ ihn auf jede Weise wecken, doch der Mann rührte sich nicht, und erst am siebenten Tag ging er wieder die Pferde hüten. Danach kam aus dem See ein noch größerer und schrecklicherer zwölfköpfiger fliegender Drache heraus, verlangte die Königstochter zum Fraß und drohte, wenn man ihm die Königstochter nicht in drei Tagen zum Fraß an das Seeufer bringe, das ganze Königreich dem Erdboden gleichzumachen. Die Königstochter weinte, zog Trauerkleider an, der König aber gab in der Umgebung bekannt, daß nun, da der kupferne und der silberne Ritter beide verschwunden waren, seine Tochter erneut einem Drachen zum Fraß gebracht werden solle. Wer aber die Tochter errette und den Drachen töte, solle die Tochter und nach dem Tod des Königs auch das Königreich erhalten. Die Königstochter
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wurde zum See gebracht, und der König blieb in ihrer Nähe mit seinem Heer, um zu wachen. Der Königssohn hütete die Pferde, sah, daß das Heer wieder mit den Waffen zum See zog. Da fragte er einen Soldaten, was es denn heute gäbe. Der Soldat erzählte, wie sich die Sache verhielt, daß aus dem See jetzt ein zwölfköpfiger fliegender Drache herausgekommen sei, daß die Königstochter zum dritten Male zum Fraß hingebracht werde und das Heer wieder hinziehe, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der König habe demjenigen seine Tochter zur Frau und nach seinem Tode auch das Königreich versprochen, der sie vom Drachen befreie und den Drachen töte. Der Königssohn lief nach Hause, nahm die goldene Pfeife und pfiff. Sofort waren ein gesatteltes goldenes Pferd, goldene Kleider und ein goldenes Schwert da. Schnell zog er die goldenen Kleider an, umgürtete sich mit dem goldenen Schwert, sprang auf den Rücken des goldenen Pferdes und jagte zum Heer. Dort begrüßte er den König und bat um Erlaubnis, sein Glück versuchen zu dürfen, ob es ihm gelinge, seine Tochter zu retten und den Drachen zu erschlagen. Der König gab gern die Erlaubnis. Da ritt der Königssohn zur Tochter, die weinend am Seeufer saß, und sagte ihr, daß er sie retten wolle. „Oh, lieber junger Mann“, sagte die Königstochter, „warum sollen wir unnütz beide unser Ende finden? Diesen schrecklichen Drachen wirst du nicht töten können. Schone lieber dein Leben und laß mich allein ihm als Fraß zufallen!“ 336
„Beiden der Tod oder beiden das Leben, ich gehe nicht zurück“, sagte der goldene Ritter und zog sein Schwert heraus. Da kam auch der Drache mit schrecklichem Getöse und mit Schnauben aus dem See heraus und fragte: „Na, Königssohn, Hündchen, für wen willst du denn so tapfer gegen mich kämpfen?“ „Für mich selbst und für die Königstochter“, sagte der Königssohn und stürmte gegen den Drachen. Bald hatte er dem Drachen drei Köpfe abgeschlagen, doch da wollten die Kräfte nachlassen. Schnell ritt er etwas zur Seite, breitete die von der mittleren Tochter des Pilzkönigs geschenkte Tischdecke auf dem Rücken des Pferdes aus, und sie war sofort mit verschiedenen Speisen bedeckt, und zwölf Musiker spielten so schöne Weisen, daß man nur zuhören konnte. Der Drache hörte auch dem Spiel zu, und der Königssohn aß sich während der Zeit satt. Dann jagte er mit neuer Kraft gegen den Drachen und schlug ihm noch drei Köpfe ab. Doch dem Drachen gelang es, den Königssohn etwas zu kratzen, und er kratzte ihm die Hand blutig. Schnell ließ der Königssohn die Musiker spielen und jagte selbst zu der Königstochter. Sie stillte ihm mit ihrem Taschentuch das Blut, und da ritt der Königssohn in den Kampf und schlug dem Drachen alle Köpfe ab. Daraufhin vergrub er die Köpfe und die Zungen wieder unter einem Stein, ritt zum König und rief: „Der Drache ist getötet, die Tochter ist errettet und meine Arbeit getan!“ und jagte wieder davon. 337
Wohl rief ihm der König hinterher, wohl liefen ihm die Soldaten nach, doch der goldene Ritter verschwand wie der Wind. Es wurde überall von dem tapferen goldenen Ritter gesprochen, und er wurde viel bewundert, doch wer er war, woher er kam und wohin er verschwand, wußte niemand. Der goldene Ritter oder der Königssohn ging aber in den Pferdestall und schlief dort zwölf Tage hintereinander. Die Königstochter war jetzt endgültig gerettet, der Retter jedoch war nirgends zu finden. Auf den Befehl des Königs wurde er überall gesucht, doch der goldene Ritter blieb verschwunden. Der falsche Königssohn aber lockte die Soldaten auf seine Seite und sagte, daß er der Retter der Königstochter gewesen sei. Der König glaubte auch daran, dachte schon an den Hochzeitstag und befahl der Tochter, sich an einem bestimmten Tag zur Hochzeit vorzubereiten; der Retter sei gefunden. Unterdessen gelang es nicht, mit dem richtigen Königssohn fertig zu werden, es wurde dem König wieder geklagt, daß der Pferdehirt schon mehrere Tage hintereinander wie ein Sack schlafe. Der König ließ ihn auf jede Weise wecken, doch er wachte erst am dreizehnten Tag auf, ging dann in den Garten, breitete dort die von der jüngsten Tochter des Pilzkönigs geschenkte Tischdecke aus, machte sich ans Essen, und vierundzwanzig Musiker spielten ihm auf. Es war gerade am Tag vor der Hochzeit. Die Königstochter ging im Garten spazieren und wein338
te dort, daß sie jetzt gegen ihren Willen den heiraten sollte, der nicht ihr Retter war. Da hörte sie das Spiel, ging näher und sah, daß der Pferdehirt auf einer Tischdecke allerhand teure Speisen ausgebreitet hatte und ihm vierundzwanzig Musiker vorspielten. Schnell ging sie zum Vater und sagte, daß der wirkliche Retter im Garten esse und daß ihm vierundzwanzig Musiker zum Mahle spielten. Der König ging hin und sah, daß es niemand anderes war als der Pferdehirt, und er fragte ihn, ob er einen Beweis habe, daß er der Retter der Königstochter sei. Der Königssohn pfiff auf seiner goldenen Pfeife, und ein goldenes Pferd, goldene Kleider und ein goldenes Schwert waren da. Sofort zog er die goldenen Kleider an, umgürtete sich mit dem goldenen Schwert, setzte sich auf das goldene Pferd und sagte: „Nun, bin ich nicht derselbe goldene Ritter? Aber wenn diese Beweise noch nicht genügen, dann kann ich die Köpfe und die Zungen der Drachen zeigen, die bestätigen, daß ich auch der Kupfer- und der Silberritter war und alle drei Drachen getötet habe. Laß aber jetzt auch den, der sich an meiner Stelle für den Retter der Tochter ausgibt, irgendeinen Beweis vorbringen.“ Der falsche Königssohn hatte keine Beweise. Der Goldritter aber ging mit dem König zum Seeufer und nahm die Köpfe und die Zungen der Drachen unter dem Stein hervor.
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Dann erzählte er dem König alles, daß der, der sich Königssohn nennt, überhaupt kein Königssohn ist, sondern er, und auch weshalb ihn der Vater davongejagt habe, wie ihn der Oberst zu schwören zwang und wie er die Pferde und die Kleider hatte austauschen müssen. Der König ärgerte sich sehr und ließ den falschen Königssohn für seine böse Tat und seine Lügen in einen tiefen Brunnen werfen, den richtigen Königssohn aber nahm er sofort zum Schwiegersohn und zum Erben des Reiches. Schließlich söhnte sich der Königssohn auch mit seinem Vater aus, so daß beide Reiche ihm gehörten.
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65 Aschenputtel Einst lebten in einem reichen Haushalt die Haustochter und ein Waisenkind. Das Leben des Waisenkindes war sehr schwer wegen der ewig nörgelnden Haustochter. Die ganze Arbeit mußte das Waisenkind tun, während die Haustochter nichts tat. Eines Tages ging die Familie wieder in die Kirche, und das Waisenkind mußte zu Hause bleiben und wirtschaften. Beim Weggehen rief die Haustochter: „Arbeite ordentlich, Aschenputtel!“ Sobald die anderen weggegangen waren, lastete auf der Seele des Waisenkindes plötzlich furchtbare Sehnsucht, und es war, als befehle ihr ein geheimer Geist, zum Grabe der Mutter zu gehen, dort werde sie Ruhe finden. Das Waisenkind ging. Während sie dort saß, fragte die Mutter aus dem Grabe, wie sie jetzt lebe. Das Waisenkind erzählte ihr und sagte, daß es sonst nicht so schlecht sei, aber heute habe sie irgendwie keine Ruhe vor Sehnsucht. „Möchtest du in die Kirche gehen?“ „Warum würde ich nicht wollen, doch wie soll ich hingehen? Ich habe keine Kleider.“ Kaum hatte sie das gesagt, da lagen vor ihr schöne Kleider, die wie Kupfer glänzten. „Zieh sie an und eile!“ 341
Das Waisenkind gehorchte und eilte zur Kirche. Wohl staunten alle über das Mädchen in den prächtigen Kleidern, doch keiner wußte, wer sie war. Vor allen anderen eilte das Waisenkind wieder davon, so wie es ihr die Mutter befohlen hatte, warf die Kleider ab und eilte heim. Dort war die ganze Arbeit schon getan. Als die anderen nach Hause kamen, redeten sie von nichts anderem als von dem prächtigen Mädchen. Am nächsten Sonntag eilten wieder alle in die Kirche in der Hoffnung, dort die stolze Fremde zu sehen. Das Waisenkind wurde natürlich wieder zu Hause gelassen. Alles wiederholte sich wie das vorige Mal. An diesem Tag war auch der Königssohn in der Kirche, denn die Geschichte von dem schönen Mädchen war auch bis zu seinen Ohren gedrungen. Dieses Mal gab die Mutter der Tochter noch schönere Kleider als das erste Mal: Alles blitzte und glänzte wie Silber. Wieder eilte das Waisenkind zuerst nach Hause, legte die Kleider ab und eilte ins Zimmer. Die ganze Hausarbeit war schon getan. Bald kamen auch die anderen nach Hause und sprachen eine ganze Woche lang nur von der auffälligen Fremden. Am folgenden Sonntag gingen wieder alle in die Kirche, während das Waisenkind zu Hause gelassen wurde und zudem gesagt bekam: „Arbeite gut, Aschenputtel!“ Das Waisenkind ging wieder an das Grab der Mutter; diesmal gab die Mutter der Tochter noch 342
prächtigere Kleider, alles glänzte und glitzerte wie Gold und Edelsteine. Jetzt wollte aber der Königssohn das Waisenkind mit Gewalt festhalten, doch das Waisenkind entwischte und konnte nach Hause flüchten. Der Königssohn ließ aber vorher auf den Fußboden der Kirche Teer gießen, dort klebte nun das Waisenkind mit den Füßen fest. Die Füße bekam sie wohl los, doch ein Schuh blieb im Teer stecken. Der Königssohn nahm den Schuh und ließ überall bekanntmachen, daß er die Schuhbesitzerin zur Frau nehmen wolle. Doch es meldete sich keine. Jetzt ließ der Königssohn bekanntmachen, daß diejenige, deren Fuß in den Schuh passe, seine Frau werden solle. Es kamen wohl sehr viele, um den Schuh anzupassen, doch kein Fuß paßte hinein. Die Haustochter schlug sich die Zehen ab, aber der Schuh paßte trotzdem nicht. Nun wollten sie durch List die Haustochter dem Königssohn geben. Es hieß, daß ja ein jeder die Seine kennen müsse. Dem Waisenkind wurde eine Wagennabe um den Hals gelegt, der Haustochter aber wurden große Perlen angehängt. Der Königssohn erkannte dennoch die Seine: „Ich möchte die mit der Nabe haben!“ Das nächste Mal wurden Nabe und Perlen vertauscht, doch der Königssohn erkannte die Seine auch diesmal wieder. Als es zur Hochzeit ging, wurden die Haustochter und das Waisenkind vertauscht. Das Waisenkind steckte man in den Schweinestall. Dennoch 343
gelang es dem Waisenkind freizukommen, und sie lief hinterher. Auf einer Brücke über dem Fluß holte sie den Hochzeitszug ein. Der Bräutigam hatte in den Kleidern nicht erkannt, daß neben ihm ein fremdes Mädchen saß. Jetzt sah er seine richtige Braut und stieß die Haustochter in den Fluß. Die Haustochter sank auf den Grund, und aus ihrem Herzen wuchs ein Rohr. Die Schwiegermutter wußte aber nicht, daß ihre Tochter ertrunken und das Waisenkind verheiratet war. Sie glaubte, das Waisenkind habe sich zwar befreit, sei aber nur davongelaufen. Nach einem Jahr wurde dem jungen Paar ein Kind geboren, und die Schwiegermutter ging, um ihre Tochter zu besuchen. Von der Brücke sah sie im Fluß ein hübsches Rohr und wollte es brechen, um es dem Enkelkind zum Spielen zu bringen. Das Rohr begann aber zu singen: „Liebe Mutter, das ist meine Nabelschnur.“ Jetzt erst begriff die Mutter, wie es der Tochter ergangen war.
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66 Sechse kommen durch die ganze Welt Einst ging ein alter Soldat, der fünfundzwanzig Jahre gedient und schon an mehreren Kriegen teilgenommen hatte und dessen Brust deshalb voller Auszeichnungen war, in die Heimat zurück. Als er an einem Gut vorbeikam, sah er einen Mann, der eine große Kiefer mit den Wurzeln aus der Erde hob und sich auf die Schultern packte, um sie wegzutragen. „Was machst du hier, du Lümmel, du Dieb, im Staatswald? Siehst du denn nicht, daß ich im Staatsdienst bin und dich festnehmen kann? Komm schnell mit mir dorthin, wohin ich dich bringe; ich werde es dir zeigen! So schimpfte der Soldat mit dem Mann und wollte ihn vor das Gericht bringen. Doch der Mann fing an zu bitten, und schließlich gab der Soldat nach unter der Bedingung, daß der Mann der Diener des Soldaten wurde. Sie gingen weiter, und der Soldat sprach dem Mann tröstend zu: »Weshalb sollten wir nicht beide leben können, wir kommen überall zurecht.“ Nachdem sie einige Zeit gegangen waren, kam ihnen ein Mann entgegen, der das eine Bein mit dem Riemen am Hals festgebunden hatte und nur auf dem anderen Bein hüpfte.
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Sie lachten ihn aus, und der Soldat sagte: „Nein, schau nur, was für ein Elster-Tanz-Tänzer dort ankommt! Wer weiß, was ihm sein anderes Bein Böses getan hat, daß er es so straft?“ Doch der fremde Mann sagte: „Nicht doch, ihr irrt euch, dieses Bein hat mir nichts Böses getan. Es ist mir deshalb am Hals festgebunden, weil, wenn ich es loslasse, ich so schnell laufe, daß ich zuweilen mich selbst aus den Augen verliere.“ Der Soldat dachte, daß man einen solchen Mann brauchen könnte, und antwortete ihm: „Kehre um und komm mit uns, denn wir drei kommen durch die ganze Welt.“ Der fremde Mann war damit einverstanden, und sie gingen zu dritt weiter, daß die Erde nur so dröhnte. Nach einiger Zeit kamen sie zu einem Manne, der mit einer Flinte zielte. Doch da sie kein Ziel sahen, fragte der Soldat: „Worauf zielst du? Ich sehe kein Ziel.“ Der Mann antwortete: „Sieben Meilen von hier sitzt auf einem Kirchturm eine Fliege. Ihr möchte ich ein Auge ausschießen.“ „Ach, laß doch solche Faxen und komm lieber mit uns! Denn wir vier kommen durch die ganze Welt“, sagte der Soldat, und da der Mann mit der Flinte dazu bereit war, schritten sie zu viert bei fröhlicher Unterhaltung weiter und bemerkten nicht, wie ihnen ein Mann entgegenkam, bei dem die Mütze auf einem Ohr saß. Der Soldat, der immer ein Spaßvogel war, fragte lachend den fremden Mann: „Na, was machst 346
denn du für Faxen, daß dir die Mütze nur auf der einen Seite sitzt? Fürchtet sich bei dir das eine Ohr mehr vor der Kälte als das andere, oder hörst du dann zuviel, wenn beide Ohren offen sind?“ „Nein, der Faxen wegen trage ich die Mütze nicht auf einem Ohr, nur wenn ich sie gerade aufsetze, wird es so kalt, daß die Vögel im Flug erfrieren“, sagte der fremde Mann. Der Soldat freute sich über einen solchen Mann und sagte: „Höre, fremder Mann, könntest du nicht mit uns kommen, denn wir fünf kommen durch die ganze Welt.“ „Das kann ich wohl“, sagte der Gefragte, und sie schritten froh, daß sie noch einen starken Mann dazubekommen hatten, weiter. Wieder legten sie einige Meilen zurück und sprachen dabei von allerhand Dingen, wer was gesehen oder gehört hatte. So lief ihnen die Zeit lustig dahin. Beim Erzählen kamen sie zu einem Mann, der auf einem Stein saß, mit dem Finger ein Nasenloch zuhielt und durch das andere blies. Sie fragten ihn, warum er das mache, und der Mann antwortete: „Sieben Meilen von hier entfernt stehen auf einem Hügel sieben Windmühlen, die blase ich an.“ „Ach, laß doch lieber solche Mätzchen und komm mit uns, denn wir sechs kommen durch die ganze Welt“, sagte der Soldat. Der Mann, der geblasen hatte, nickte froh mit dem Kopf, und die anderen Recken begrüßend,
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trat er in ihre Mitte. Sie begrüßten ihn ebenso froh und nahmen ihn unter sich auf. Sie gingen weiter und kamen zu einer Schenke. Hier beschlossen sie, sich auszuruhen und den Leib zu stärken. Es wurde denn auch etwas nach Männerart getrunken, was ihnen die Zunge löste, und nun flossen ihre Reden nur so dahin. Dabei hörten sie von anderen Besuchern der Schenke, der König des Landes habe bekanntgegeben, daß derjenige, der mit seiner Tochter um die Wette laufen und sie dabei besiegen würde, sie zur Frau erhalten sollte. Als die Männer das hörten, bekamen sie Lust, ihr Glück zu versuchen. Gleich nach dem Essen und Trinken machten sie sich auf den Weg, und nach einigen Tagen kamen sie in der Stadt des Königs an. Der Soldat trat vor den König und sprach: „Ich möchte mit deiner Tochter um die Wette laufen.“ Der König lachte zuerst über seine Rede, doch schließlich war er einverstanden und dachte: Meine Tochter gewinnt bei weitem gegen einen solchen alten Jämmerling! Der Soldat bat aber, an seiner Statt seinen Diener schicken zu dürfen, was ihm auch nicht verwehrt wurde. Jetzt trat der Mann, dessen Bein mit dem Riemen am Hals festgebunden war, aus der Mitte der anderen vor und stellte sich neben die Königstochter, die schon auf den Lauf wartete. Dabei wurde er vom König und von den anderen hohen Herren mit Gelächter und mit Spott empfangen, weil er so ein Elster-Tanz-Tänzer war. Der Mann 348
achtete jedoch nicht darauf, sondern fragte nur nach dem Ziel. In einer Meile Entfernung sollten sie jeder einen Krug Wasser holen. Als das Ziel festgelegt war, lief die Königstochter gleich davon, während der fremde Mann erst anfing, sein Bein loszubinden. Und als er das Bein losgebunden hatte, war die Königstochter schon aus den Augen der Zuschauer verschwunden. Da aber legte auch er plötzlich los, war wie ein Blitz aus den Augen aller verschwunden und bald an der Quelle, wo er den Krug mit Wasser füllte und zurücklief. Er war schon auf dem halben Rückweg, da kam ihm erst die Königstochter entgegen. Der Mann dachte: Als ob ich nicht noch Zeit hätte! Und da es ein heißer Tag war, legte er sich im Schatten eines Baumes mit dem Kopf gegen einen Baumstumpf hin, um auszuruhen, und schlief ein. Die Königstochter kam zurück mit ihrem Wasserkrug, und als sie ihn schlafen sah, kam ihr ein schlechter Gedanke: den Krug des fremden Mannes umzuwerfen, was sie auch sofort tat. Seine Freunde aber wurden unruhig, und der Mann, der nach der Fliege gezielt hatte, nahm seine Flinte, blickte scharf in die Richtung, und als er seinen Kameraden schlafen sah, schoß er, und schwupp war der Baumstumpf unter dem Kopf des Schlafenden verschwunden, und der Mann wachte sofort auf. Sowie er sah, daß der Krug leer
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war, begriff er, daß die Königstochter schon vorbei war. Er lief von neuem los, kam auch bald bei der Quelle an, wo er den Krug erneut mit Wasser füllte, überholte schnell die Königstochter und war lange vor ihr am Ziel. Der Schreck des Königs war nicht gering, als er den fremden Mann als ersten ankommen sah; doch er zeigte es nicht, sondern bat die Fremden zu sich zum Festessen. Der Ort, wohin sie zum Essen gebeten wurden, war ein kleines einzelnes Zimmerchen mit einem eisernen Fußboden und festen Wänden und Türen. Als alle drinnen waren und ans Essen gingen, wurde die Tür fest verschlossen, und man begann den Fußboden des Zimmers von unten stark zu heizen. Nach einiger Zeit spürten die Männer, daß es in der Kammer immer wärmer und schließlich sehr heiß wurde. Wie sie nun merkten, daß der Fußboden immer heißer wurde, begriffen sie, daß man sie auf diese Weise in den Tod schicken wollte. Doch was geschah? Der Mann, der die Mütze auf einem Ohr trug, setzte sie sofort gerade auf den Kopf, und es wurde im Zimmer so kalt, daß alle Männer zu schlottern anfingen. Nach einiger Zeit erschien der König, um nach den Fremden zu sehen, da er glaubte, daß sie längst verbrannt seien. Doch wie groß war sein Schreck, als er die Barte der Männer mit Reif bedeckt sah. Sobald die Männer den König sahen, erflehten sie seine Hilfe vor dem Kältetod und 350
kamen schnell aus der Stube heraus, wobei der Mann seine Mütze sofort wieder auf ein Ohr schob, damit es warm werde. Nun befahlen sie dem König, er solle seinen ganzen Goldreichtum in der Zeit zusammentragen, bis sie zurückkommen würden, denn es fehle ihnen an einem Sack, in den sie das Gold hätten hineintun können. Sowie sie zu Hause ankamen, riefen sie alle Lahmen und Krüppel zusammen, die sie im Umkreis von sieben Gemeinden finden konnten, und diese gingen daran, eifrig an einem Sack zu nähen. Nun kann sich jeder vorstellen, was es für ein Sack wurde, wenn an ihm die Schneider aus sieben Gemeinden nähten. Doch das kümmerte die Männer nicht, denn je größer der Sack, desto mehr Gold hofften sie zu erhalten. Eines Tages sah der König sechs Mann zum Schloß kommen, und einer trug eine riesengroße Stoffrolle auf dem Rücken. Der Schreck des Königs war grenzenlos, als er sah, daß es die Männer waren, die das Gold holen wollten. Nun wurde das ganze Gold im Königsschloß zusammengetragen und den Männern gegeben. Es wurde auch ein Eimer voll Gold gebracht, der von zwölf Mann getragen wurde, doch auch diese Ladung verschwand im Sack, daß man nicht einmal merkte, wo sie blieb. Der König glaubte, daß es nun genug sei, aber die Männer ließen nicht nach und verlangten, daß noch mehr gebracht werde. Jetzt wurde alles durchsucht, und wer noch Ohrringe oder Ringe hatte, dem wurden sie wegge351
nommen und den Männern gegeben. Schließlich, als nichts mehr zu finden war, gaben sich die Männer zufrieden, obwohl noch so mancher Scheffel in den Sack hineingepaßt hätte. Der König glaubte nun, sie würden den Sack nicht auf den Rücken heben können, doch sein Schreck wurde immer größer, als er sah, daß ein Mann den Sack ergriff, das Gold auf dem Sackboden zusammenschüttelte, den Sack wie ein Wergbündel auf die Schulter warf und mit ihm dann so leicht und fröhlich zusammen mit den anderen davonging, als hätte er gar keinen Sack auf der Schulter! Nach einiger Zeit schickte ihnen der König sein Kriegsheer nach, damit es sie tötete und das Gold zurückbrächte. Als die Männer das Heer kommen sahen, erschraken sie nicht einmal. Sobald sich das Heer genähert hatte, drehte sich der Mann, der die Windmühlen angeblasen hatte, um, drückte ein Nasenloch zu und blies durch das andere durch, so daß alle Krieger spurlos verschwanden. Einer von ihnen war dennoch nach einiger Zeit verletzt auf die Erde zurückgefallen, und dem sagten sie: „Wenn euer König noch Lust hat und Krieger besitzt, um sie hierherzuschicken, so werden wir auch ihnen eine Luftfahrt bereiten.“ Der Soldat dankte seinen guten Beinen, daß er schnell davonlaufen konnte, und erzählte dem König alles, was er gesehen und gehört hatte. Der König hätte ihnen in seiner Wut gern noch ein weiteres Kriegsheer nachgeschickt, aber da sich 352
dieses ganz energisch weigerte, ließ er es schließlich bleiben. Als die Männer nichts mehr sahen, gingen sie fröhlich weiter, bis sie schließlich zu einer Schenke kamen. Dort fingen sie an zu zechen. Und wenn ihr Geld noch nicht zu Ende ist, so zechen sie auch heute noch.
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67 Der Sohn und der Vater Der Vater und der Sohn pflügten auf dem Feld. Der Sohn sagt: „Vater, gib mir Geld und erlaube mir, zur Schule zu gehen, ich möchte den Pastorenberuf erlernen.“ Der Vater hatte nichts dagegen, gab dem Sohn das Geld und schickte ihn zur Schule. Als der Sohn im Sommer darauf aus der Schule nach Hause zurückkehrte, fragte ihn der Vater gleich: „Nun, was hast du, Söhnchen, in der Schule gelernt?“ Der Sohn antwortete: „Ich konnte dort nichts Gescheites lernen.“ Der Vater schimpfte lange mit dem Sohn, daß er das sauer verdiente Geld sinnlos verbraucht hatte und dabei nicht klüger geworden war. Wieder arbeiten der Sohn und der Vater auf dem Felde. Schließlich bittet der Sohn: „Vater, gib mir Geld, ich möchte in die Lehre gehen und Maler werden.“ Der Vater murrte zuerst und erinnerte den Sohn daran, daß er im vergangenen Jahr das Geld verschleudert hatte, doch der Sohn bat und bat, bis ihm der Vater endlich das notwendige Geld gab.
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Der Sohn lernte den Winter über die Malkunst. Im Sommer kam er nach Hause, um den Vater, die Mutter und die Verwandten zu besuchen. Der Vater forschte nach und fragte seinen Sohn: „Nun, was hast du jetzt beim Malermeister gelernt?“ Der Sohn erwiderte darauf: „Was konnte ich denn in der kurzen Zeit schon lernen.“ Der Vater wurde wieder sehr böse und sagte, daß er dem Sohn in Zukunft keine Kopeke mehr geben werde, sollte er ihn je wieder um etwas bitten. Er ließ ihn nun nichts mehr lernen, sondern spannte ihn noch mehr in die Arbeit ein als sonst, um den Verlust auszugleichen. Der Junge verrichtete stets ruhig und fröhlich seine Arbeit, so daß der Vater mit ihm sehr zufrieden war und seine schlechte Laune verflog. Das bemerkte der Sohn und bat nach einer Weile den Vater: „Vater, gib mir Geld, ich möchte auf die Reise gehen und die Vogelsprache erlernen.“ Der Vater lachte zuerst über die dummen Reden seines Sohnes und schalt ihn aus, daß er so etwas Dummes tun möchte. Doch der Junge bat so lange, bis der Vater wieder weich wurde. Er gab dem Sohn zum dritten Male Geld und schickte ihn mit Segenswünschen auf den Weg. Der Junge schweifte hier und da im Walde umher. Die Bauern, die von der Sache hörten, hielten den Sohn wie den Vater für dumm oder für Narren. Doch der Junge kümmerte sich nicht um die 355
Meinung der Dorfbewohner und hörte nicht deren spöttisches Lachen, er schweifte im Wald umher und lernte und lernte die Vogelsprache. Wer ein Narr ist, der soll ruhig lachen! Als ihm in der Gesellschaft der Vögel und im Schatten der Bäume die Vogellieder und das Rauschen der Bäume keine Freude mehr bereiteten, sondern ihn mehr und mehr langweilten, kehrte er wieder zum Vater zurück. Einst pflügten der Vater und der Sohn wieder auf dem Feld. Da flogen ein paar Raben krächzend über ihre Köpfe hinweg. Der Vater sagt: „Mein lieber Sohn, du hast nun einige Zeit die Vogelsprache gelernt, verstehst du, was diese Raben soeben gekrächzt haben?“ Der Sohn: „Ach, reiner Unsinn, was sie reden! Sie sagen, der Vater werde den Sohn einen Herrn nennen.“ Als der Alte die Worte hörte, wurde er böse und sagte: „Sieh mal an, du Rotznase! Ich habe für dich eine Menge Geld ausgegeben und bin dein Vater. Und nun soll ich dich auch noch mit Herr anreden! Oh, das ist mehr als genug, ich werde rechtzeitig dafür sorgen, daß sich die Voraussage der Krähen nicht erfüllt.“ Als der Alte am Abend mit seinem Sohn nach Hause ging, steckte er ihn in eine leere Tonne, verschloß sie gut von beiden Seiten, und da sie am Meeresstrand lebten, rollte er die Tonne zusammen mit dem Sohn auf das hohe und weite Meer hinaus. 356
Der Vater hoffte und beabsichtigte, daß der Sohn im Meer entweder durch den Sturm oder durch das Eingeschlossensein in der Tonne den Tod finden werde; er mochte nun nicht länger mit dem Verschwender seines Geldes leben, aber viel mehr noch quälte ihn die Prophezeiung der Krähen. Doch die Gedanken der Menschen gleichen nicht immer den Gedanken Gottes. Gott erhielt dem Jungen das Leben und lenkte die Tonne an das gegenüberliegende Meeresufer in den Garten eines berühmten Königs. Der Königssohn wandelte gerade im Garten, als er die Tonne am Meeresstrande sah. Da ließ er seine Diener sofort die Tonne öffnen. Groß waren der Schreck und das Staunen aller, als aus der Tonne ein wunderschöner junger Mann heraustrat. Als er dem jungen König sein ganzes Leben genau erzählt hatte, nahm dieser ihn wegen seiner Schönheit und Höflichkeit zum Diener und zahlte ihm einen sehr guten Lohn. Er diente ehrlich, und der junge König achtete ihn sehr und vertraute ihm in jeder Sache. Der junge König war noch ledig; der Nachbarkönig aber hatte eine Tochter, die wegen ihrer Schönheit weithin berühmt war. Der junge König hätte sie am liebsten mit beiden Händen und mit einem liebeglühenden Herzen längst gefreit, doch der Vater hatte drei schwere Bedingungen gestellt, die der Freier erfüllen mußte, bevor er sich um das Mädchen bewarb. Die 357
Aufgaben sollten die Klugheit und den Mut des Freiers beweisen. Wer die Bedingungen erfüllte, gleichgültig, ob er niederer oder hoher Herkunft war, konnte freien kommen; wer sich aber der Prüfung unterzog und sie nicht erfüllen konnte, dem wurde der Kopf abgeschlagen und zum Abschrecken der Feiglinge den Raben zum Fraß aufgespießt. Ob der Freier nun ein junger König oder ein ärmerer Mensch war, dies war gleich. Diese Furcht hielt unseren jungen König von der Freiersfahrt zurück. Die Bedingungen waren: Zuerst sollte der Freier an einem Sonntag in der Kirche eine Predigt halten, doch so, daß die eine Hälfte der Kirchgänger weinte und die andere Hälfte lachte. Danach sollte der Freier einen goldenen Vogel, der in den Garten kam, eines Nachts fangen, in einen Käfig stecken und dem König vorzeigen. Und die dritte Aufgabe lautete: Im Königsgarten flog um einen großen Baum schon ein Jahr lang beständig ein Rabenschwarm herum. Man versuchte zwar auf verschiedene Weise, die Raben zu vernichten, aber je mehr von ihnen getötet wurden, desto schneller vermehrten sie sich. Diese Raben sollte der zukünftige Schwiegersohn aus eigener Kraft vollständig verjagen. Die Köpfe mehrerer mutiger Männer, aufgespießt auf einer Stange, zeugten von dem Ernst der Sache. Das Herz und die Seele unseres jungen Königs waren bedrückt und gebrochen vom Leid um diese Angelegenheit. Schließlich erzählte der Königssohn von seinen geheimen Herzens358
wünschen auch seinem treuen Diener, um die Pein zu erleichtern. Als der Diener davon hörte, sagte er: „Verehrter hoher König, laßt mich gehen, ich werde an Eurer Statt diese Bedingungen erfüllen.“ Der König war mit solchem Rat zufrieden. Der Diener ging zum Nachbarkönig und versicherte ihm, er werde die gewünschten Bedingungen erfüllen. Es wurde ihm befohlen, sich am Sonntag zunächst der Predigtprüfung zu unterziehen. Da der Diener jung war, einst den Pastorenberuf studiert und in der königlichen Familie noch vieles hinzugelernt hatte und auch ein geborener Redner war, fehlte es ihm nicht an Worten für die Predigt. Am Sonntagmorgen, ehe er zur Predigt ging, zog der junge Mann die Hosen aus und schnitt den Kirchenrock hinten von unten bis zum Kreuz auf. Beim Anhören der herzerweichenden Worte der Predigt weinten alle die Menschen, die vor seinen Augen standen. Doch beim Predigen beugte er sich fortwährend, und jedes Mal, wenn er sich bückte, kamen zwischen den aufgeschnittenen Talarhälften nackte Körperteile zum Vorschein. Alle, die in seinem Rücken standen, lachten so, daß sie sich mit beiden Händen den Bauch festhalten mußten. Der König selbst war in der Kirche und erlebte, daß sich alles in der Weise zutrug, wie er es sich gewünscht hatte.
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Da der Jüngling, wie wir wissen, auch die Malkunst gelernt hatte, kannte er dieses Handwerk. Als bald darauf die Nacht kam, in der er den Goldvogel fangen sollte, schnitzte er einen kleinen Vogel und überzog ihn mit Gold. Da er genauso aussah wie der Goldvogel im Garten, steckte er den Vogel in einen Käfig und brachte ihn dem König. Der König, der den Betrug nicht erkannte, glaubte, im Käfig sei der Vogel, den er sehen wollte. Er freute sich darüber und bestimmte jetzt den Tag, an dem der junge Mann den Rabenschwarm im Garten vernichten sollte. Der junge Mann ging in Begleitung der Königsfamilie, darunter auch der berühmten Königstochter, in den Garten. Nachdem er einige Zeit dem Gerede und dem Lärm der Vögel zugehört hatte, sagte er: „Sucht den alten Schal des Königs, der im vergangenen Jahr verlorengegangen ist!“ Die Dabeistehenden sagten: „Man hat ihn schon lange gesucht und dennoch nirgends gefunden.“ Der junge Mann: „Die Vögel sagen, dieser verlorene Schal liege hier unter den Wurzeln des Baumes. Grabt die Wurzeln aus!“ Nach kurzem Graben kam die Leiche eines kleinen Kindes zum Vorschein, dessen Hals mit einem Schal fest zugebunden war, so daß das Kind dadurch den Tod gefunden hatte. Als die Königstochter dies sah, wurde sie schneeweiß und fiel vor Schreck um. Vor einem Jahr hatte sie, ohne zu heiraten, infolge ihres liederlichen Lebens ein Kind geboren, es mit dem 360
Schal des Vaters erwürgt und dann heimlich unter dem Baum vergraben. Deswegen flatterten die Raben das ganze Jahr hindurch um den Baum und verschwanden nicht. Sobald die böse Tat ans Tageslicht gekommen war, flogen sie davon, ohne daß jemand sie vertrieben hätte. Die Königstochter bekannte halb ohnmächtig ihre böse Tat. Die Kunde von ihrer Schande verbreitete sich noch weiter als zuvor der Ruhm ihrer Schönheit. Kein junger Mann, weder ein reicher noch ein armer, dachte mehr an sie oder redete von ihr, man bedauerte nur die ehrlichen Männer, die wegen eines solchen liederlichen Wesens ihr Leben verloren hatten. Der junge Mann ging nach Hause, erzählte dem jungen König alles, was er durch sein Können fertiggebracht hatte, und wie die Sachen sich verhielten. Der König war unsagbar froh, daß diese Niedertracht durch seinen Diener offenbart wurde, bevor er sich mit einer so Unwürdigen angefreundet hatte. Er schenkte seinem Diener mehrere Handvoll Gold, das dieser dankend in die Tasche steckte. Mit einem Male war der einst verstoßene Sohn reich geworden. Seine Kleider waren bereits vorher gut gewesen, sonst hätte er ja nicht Diener im königlichen Hause werden können, jetzt aber hatte er auch noch genügend Geld. Er bat den König um Erlaubnis, seine Eltern besuchen zu dürfen. Die Erlaubnis wurde ihm erteilt, aber gleichzeitig auch gefordert, daß er möglichst schnell wieder zurückkommen sollte, 361
schnell wieder zurückkommen sollte, was der Diener auch versprach. Er zog nun Privatkleider an, steckte sich Gold in die Taschen, und nach einer langen Reise gelangte er an seinen Geburtsort. Der Vater hatte wegen seines Alters den Hof verlassen und lebte still mit seiner Frau in einer Kate, wo sie das Ende ihres Lebens erwarteten. Wohl hatte der Vater mehrmals seinen Jähzorn dem einzigen Sohn gegenüber bedauert, doch wußte er auch, daß sein Bedauern zu spät kam, denn seiner Meinung nach war der Sohn schon längst auf dem Meeresgrund. Als nun eines Abends die beiden Alten wie so oft schon das Gespräch über ihren Sohn beendet hatten, saßen sie wieder da in ihrer Kate, die Hände im Schoß, mit gebeugten Köpfen, in trüber Laune und in trauerndem Schweigen. Da tritt ein höflicher junger Herr herein, begrüßt sie freundlich und bittet um Nachtquartier. Die Alten entschuldigen sich: „Wir haben kein so schönes und sauberes Bett, in dem Ihr schlafen könntet, und wir haben Euch auch nichts Gutes zum Essen anzubieten.“ Der Fremde sagte, daß er mit allem zufrieden sei, und gab dem Alten gleich ein Goldstück in die Hand. Nun redeten sie den ganzen Abend angenehm miteinander und gingen nach dem Abendbrot schlafen. Der Sohn gab sich aber noch nicht zu erkennen.
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Am Morgen sagte der Alte zu seiner Frau: „Geh und hole dem Herrn frisches Wasser zum Waschen.“ Als der Sohn das hörte, sagte er: „Jetzt kann ich mein Geheimnis lüften, das ich bisher gehütet habe. Die Voraussage der Vögel ist in Erfüllung gegangen: Der Vater nennt seinen Sohn Herr. Lieber Vater, ich bin dein Sohn, den du ins Meer geworfen hast, weil ich dir gesagt, was die Vögel gesprochen haben, die über uns hinwegflogen. Nun will ich von dir nicht mehr Herr genannt werden. Jetzt siehst du, daß ich wirklich die Vogelsprache verstehe.“‘ Der Vater und die Mutter fielen beide dem Sohn um den Hals und weinten eine Weile vor Freude. Der Sohn blieb auf ihren Wunsch noch einige Tage da zur Freude der Alten. Beim Abschied vergossen alle ihren Teil an Tränen. Als sich der Sohn von ihnen herzlich verabschiedet hatte, gab er den Alten so viel vom mitgebrachten Golde, daß sie sorglos ihre alten Tage verleben konnten. Selbst ging er zurück zu seinem Dienst, wo er mit großer Gewissenhaftigkeit seine Pflichten erfüllte und von allen Mitgliedern der königlichen Familie geehrt und geachtet wurde.
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68 Die Königstochter auf dem Glasberg Ein reicher Mann hatte drei Söhne. Zwei waren klug, doch der dritte war dumm. Die Brüder nannten ihn Aschensack, weil er immer auf dem Aschenherd saß. Der alte Vater erkrankte und fühlte seinen Tod nahen. Er rief seine Söhne zu sich und sagte: „Wenn ich gestorben und beerdigt bin, dann muß ein jeder von euch nacheinander eine Nacht an meinem Grabe wachen.“ Bald starb der alte Vater. Es kam die erste Nacht nach der Beerdigung, und der älteste Bruder mußte wachen gehen, doch er ging nicht, sondern schickte seinen jüngsten Bruder, den Aschensack, zum Grab. Die Sonne war schon untergegangen, es war sehr dunkel; Aschensack saß traurig und in Gedanken versunken am Grabe seines Vaters. Plötzlich hörte er vom Wald her ein Rauschen und ein Stampfen. Er schaute in diese Richtung, und da kam ein Kutscher mit silbernen Pferden und einem silbernen Wagen zu ihm gefahren. Der Mann sagte: „Sie sind dein Lohn für die Nachtwache!“ Als der Morgen graute, ging Aschensack nach Hause, stellte die Pferde in den Stall und den Wagen unter das Verdeck, das ihm gehörte. Selbst 364
ging er ins Zimmer und legte sich auf den Ofen schlafen. Es kam die zweite Nacht; der zweite Bruder entschuldigte sich und befahl Aschensack zu gehen, und Aschensack ging auch. Als er dasaß und an die Geschichte der vergangenen Nacht dachte, hörte er wieder ein Stampfen vom Walde her auf sich zukommen. Und plötzlich standen goldene Pferde und ein goldener Wagen vor ihm, und der Mann, der die Pferde brachte, sagte: „Das ist der Lohn für deine heutige Nachtwache!“ Beim Morgengrauen ging Aschensack mit dem erhaltenen Lohn nach Hause, stellte die Pferde in den Stall und den Wagen unter das Verdeck, schloß die Tür und legte sich wieder auf den Ofen schlafen. Es kam die dritte Nacht, da sagten die anderen Brüder: „Zwei Nächte hast du für uns gewacht, nun bist du selbst an der Reihe, jetzt mußt du wieder gehen.“ Und Aschensack ging gern zum Grab. Als er bis zur Mitternacht gesessen hatte, hörte er wieder ein Stampfen wie vorher, und plötzlich standen Pferde und Wagen aus Diamanten mitsamt einem Kutscher vor ihm, und eine Stimme sagte: „Das ist dein Lohn für die heutige Nacht!“ Auch diesen Lohn brachte er nach Hause, stellte ihn unter und legte sich wieder auf den Ofen schlafen. Die anderen Brüder wußten von seinem Lohn nichts.
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Bald darauf ließ der König ihres Landes einen großen Glasberg erbauen. Auf der Spitze dieses Glasberges brachte er seine Tochter unter, die dort wohnen sollte. Er ließ im ganzen Reich bekanntgeben, daß derjenige, der seine Tochter von der Spitze des Glasberges herunterhole, sie zur Frau bekommen und dazu das halbe Königreich erhalten solle. Von allen Enden des Reiches eilten die Fürstensöhne und Recken herbei. Auch die beiden Brüder bereiteten sich auf den Weg vor. Aschensack wollte ebenfalls mitgehen, doch die anderen spotteten über ihn und sagten: „Was willst du, Dummerjan, dort hingehen!“ Der älteste Bruder ging mit einem Ziegenbock und der zweite mit einem Mutterschwein. Als die beiden weggegangen waren, nahm der Junge seine Silberpferde, zog silberne Kleider an und jagte zum Glasberg. Sowie er die anderen dort erblickte, rief er: „Aus dem Weg, Schweinehüter, fort, fort, Ziegenhüter, laßt einen richtigen Mann vorbei!“ Die beiden beeilten sich, zur Seite zu treten, er aber jagte den Berg bis zur Hälfte hinauf, kehrte dann um und fuhr wieder nach Hause zurück. Dort stellte er die Pferde in den Stall und ging selbst auf den Aschenofen. Als die Brüder nach Hause kamen, erzählten sie: „Wenn du, Aschensack, gesehen hättest, was wir heute gesehen haben! Ein großer Fürst ist in Silberkleidern mit Silberpferden und in silbernem
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Wagen den Glasberg hinauf- und wieder hinuntergefahren.“ „Das war doch ich“, sagte Aschensack. „Was faselst du da, Narr, wie solltest du dort hinkommen“, sagten die Brüder. Am Morgen des nächsten Tages, sobald die anderen mit ihren Reittieren fort waren, zog Aschensack goldene Kleider an und fuhr mit goldenen Pferden und dem goldenen Wagen davon. Sowie er die anderen eingeholt hatte, rief er: „Aus dem Weg, aus dem Weg, Schweinehüter, fort, fort, Ziegenhüter, laßt einen richtigen Mann vorbei!“ Er fuhr bis auf den Bergkamm hinauf, drehte dann um und fuhr wieder nach Hause, stellte die Pferde in den Stall und ging selbst in die Stube. Als die anderen am Abend nach Hause kamen, sagten sie wieder: „Wenn du gesehen hättest, was wir heute gesehen haben! Ein Fürst ist in goldenen Kleidern und mit goldenen Pferden den Glasberg hinaufgefahren, hat dann gedreht und ist wieder zurückgefahren.“ Aschensack sagte: „Das war doch ich!“ „Was faselst du! Du gehst nirgends hin von deinem Aschenherd, wie solltest du dort hingelangen.“ Aschensack war still und sagte nichts mehr. Am Morgen des dritten Tages, als die anderen weggegangen waren, fuhr auch Aschensack mit seinen diamantenen Pferden davon. Wie der Wind fuhr er an den anderen vorbei und sofort den Glasberg hinauf bis hin zur Königstochter, nahm 367
ihr das goldene Ei aus der Hand und fuhr wieder nach Hause, stellte die Pferde in den Stall und ging selbst auf den Ofen. Am Abend, als die anderen zurückkamen, sagten sie: „Wenn du gesehen hättest, wie ein großer Fürst in leuchtenden Diamanten den Glasberg hinauf zur Königstochter gefahren ist und sich das goldene Ei geholt hat!“ Aschensack sagte: „Ich habe das Ei geholt!“ Die anderen lachten ihn aus; doch sie bemerkten, daß auf dem Ofen etwas blinkte. „Was machst du, Narr, wozu gebrauchst du Streichhölzer auf dem Ofen?“ Aschensack steckte schnell das Goldei unter den Rock, damit es die anderen nicht sahen; sonst würden sie es ihm wegnehmen. Am nächsten Tag gingen alle zum König, um zu sehen, wer das Goldei geholt hat. Alle wurden durchsucht, doch das Goldei hatte niemand. Der König sagte: „Ist vielleicht bei jemandem noch ein Mann zu Hause geblieben?“ Die beiden Brüder sagten: „Wir haben noch einen närrischen Bruder zu Hause.“ „Er soll auch herkommen“, befahl der König. Als sie wieder nach Hause kamen, sagten sie zu Aschensack: „Dir wurde befohlen, morgen zum König zu kommen.“ Am nächsten Morgen lief Aschensack los, daß die Kleider nur so von Asche stiebten. Sowie er zum König kam, wurde er gleich durchsucht, und man fand das Goldei unter seinem Rock. Als die Königstochter sah, daß das goldene Ei in den 368
Händen eines so zerlumpten Kerls war, begann sie zu weinen. Doch der König sagte: „Du hast bekommen, was du wolltest.“ „Ich habe jetzt drei Schwiegersöhne“, sagte der König weiter, „und wer mir nun die besten Geschenke bringt, der ist mein geachtetster Schwiegersohn, und das wird der sein, der mir den Hirsch mit dem goldenen Geweih aus dem fernen Lande hierherholt.“ Die anderen machten sich gleich auf ihren stolzen Pferden auf den Weg, und Aschensack sagte zu seiner Frau: „Geh und erbitte von deinem Vater, dem König, für mich ein Pferd, auch ich will mein Glück versuchen.“ Und er bekam einen alten Klepper. Er setzte sich umgekehrt aufs Pferd und schlug es mit den Fäusten. Schließlich kam er zu einem Moor, dort schlug er dem Pferd mit einem Knüppel auf den Kopf, zog ihm das Fell ab, warf es sich über die Schulter, brachte es vor das Haus des Königs und sagte zum König: „Krähen und Elstern schicken dir das zurück.“ Dann ging er, nahm sein silbernes Pferd, stieg auf und sprengte davon. Bald holte er die anderen ein, jagte an ihnen vorbei, bis er den Hirsch fand. Er faßte mit einer Hand den Hirsch am Geweih und machte sich auf den Heimweg. Als er an den anderen vorbeikam, fragten sie: „Was kostet dieser Hirsch, verkaufst du ihn uns?“
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Er sagte: „Gebt mir jeder von euch den Daumen eurer rechten Hand dafür, dann gebe ich euch den Hirsch.“ Die anderen schnitten sich die Daumen ab und gaben sie Aschensack. Der nahm die Daumen, steckte sie in seine Tasche und gab ihnen den Hirsch. Zu Hause angekommen, stellte er sein Silberpferd in den Stall und ging ins Zimmer seiner Frau. Die anderen Schwiegersöhne brachten den Hirsch dem König, der lobte sie, und ihre Frauen freuten sich, doch die Frau des jüngsten Schwiegersohnes weinte. Der aber sagte zu seiner Frau: „Laß es gut sein, du wirst schon lachen, wenn sie weinen.“ Wieder sagte der König zu ihnen: „Wer mir aber das Mutterschwein mit dem Silberhorn aus dem fernen Lande herbringt, der ist ein Ehrenmann.“ Wieder machten sich die anderen zu zweit auf den Weg. Aschensack sagte zu seiner Frau: „Geh hin und bitte für mich um ein Pferd, ich will noch einmal mein Glück versuchen.“ Die Frau sagte: „Wozu, du wirst ja doch nichts bekommen“, ging aber trotzdem zum König, um für ihn ein Pferd zu erhalten. Wieder wurde ihm ein altes Pferd gegeben. Er aber machte es mit ihm genauso wie mit dem ersten, ging und nahm sein goldenes Pferd, saß auf und jagte wieder an den anderen vorbei in das Land, aus dem er das Mutterschwein mit dem Silberhorn holte. Er nahm es an einen Strick und ritt mit ihm zurück.
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Als er wieder den anderen begegnete, fragten sie: „Was kostet dieses Mutterschwein? Verkauf es uns!“ Er erwiderte: „Ich werde es verkaufen, wenn mir jeder von euch den großen Zeh vom rechten Fuß dafür gibt; dann könnt ihr es haben.“ Die anderen Schwiegersöhne schnitten sich die Zehen ab, gaben sie ihm, und er steckte sie in die Tasche. Zu Hause angekommen, stellte er wieder sein Pferd in den Stall und ging ins Zimmer. Die anderen Schwiegersöhne kamen zum König, und er lobte sie sehr. „In jenem Land gibt es noch eine Fichte mit goldenen Zapfen. Wer mir die bringt, ist mein geachtetster Schwiegersohn!“ Sofort machten sich die anderen wieder auf den Weg. Aschensack aber ging zu seiner Frau und sagte: „Geh hin und bitte noch einmal um ein Pferd. Ich reite noch einmal.“ Die Frau ging, und wieder wurde ihm ein altes Pferd gegeben. Auch mit ihm machte er es genauso wie vorher. Dann nahm er sein diamantenes Pferd, setzte sich auf dessen Rücken und ritt wieder an den anderen vorbei. Er holte die Fichte und kam mit ihr den anderen entgegen. Die sprachen: „Verkaufst du uns die Fichte, was soll sie kosten?“ Er entgegnete: „Ich verkaufe sie wohl, wenn mir jeder von euch von seinem Rücken einen Hautstreifen gibt.“ Sie schnitten einander einen Streifen vom Rükken heraus und gaben ihn Aschensack. Der steck371
te die Streifen in die Tasche, gab ihnen die Fichte und ritt nach Hause. Die beiden Schwiegersöhne gaben die Fichte dem König, der sie sehr lobte. Am nächsten Tag rief der König alle seine Großen zusammen, um zu zeigen, was seine Schwiegersöhne ihm zum Geschenk gebracht hatten. Der jüngste Schwiegersohn ließ alle seine sechs Pferde, zwei Silber-, zwei Gold- und zwei Diamantpferde vor die goldene Kutsche spannen und fuhr so mit seiner Frau vor das Königsschloß. Alle kamen ihnen mit großen Ehrenbezeigungen entgegen. Als sie hineingingen, fragte er: „Was fehlt diesen anderen Schwiegersöhnen, daß sie Handschuhe tragen?“ Der König befahl ihnen, die Handschuhe auszuziehen, und den Männern fehlten die Daumen. Aschensack aber nahm die Daumen aus der Tasche, legte sie an, und sie waren heil. Dann fragte er wieder: „Warum hinken sie? Ich bin doch Arzt!“ Man schaute nach. Es fehlte jedem der große Zeh. Er nahm die Zehen aus der Tasche, legte sie an und machte sie heil wie vorher. „Doch warum gehen sie gebückt?“ fragte er wieder. Man sah nach, und einem jeden fehlte ein Stück Haut aus dem Rücken. Er nahm die Hautstreifen aus der Tasche, brachte sie wieder auf dem Rükken an. „Die Daumen sind für den Hirsch mit dem goldenen Geweih, die Zehen für das Mutterschwein 372
mit dem silbernen Horn und die Hautstreifen aus dem Rücken für die Fichte mit den goldenen Zapfen. Ich bin Euer jüngster Schwiegersohn“, sagte er zum König. Als der König das hörte, umarmte er ihn und jauchzte vor Freude. Seine Frau begann zu lachen, und die anderen Frauen weinten. Dann wurde er weltberühmt und erbte später das ganze Königreich. Die anderen Schwiegersöhne aber, die Betrüger, wurden von keinem mehr geachtet.
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69 Der Bauer Paalak und der Knecht Fuchs Zur Zeit der Fronbauern lebte ein sehr armer Bauer namens Paalak. Er hatte einen Knecht, der Fuchs hieß und ebenso schlau war wie ein echter Fuchs. Der Bauer gab ihm einen Sack voll Verpflegung mit und schickte ihn für den ganzen Tag zur Arbeit. Der Knecht ging in den Wald, schlief den ganzen Tag, aß das mitgebrachte Essen auf und kam am Abend nach Hause. Am nächsten Morgen wurde nach dem Bauern geschickt, er solle aufs Gut kommen. Dort wurde er verprügelt und dann gefragt: „Warum hast du deinen Knecht nicht zur Arbeit geschickt?“ Der Mann entschuldigte sich: „Ich habe den Knecht geschickt, aber wenn er nicht zur Arbeit gekommen ist, hat er sicherlich irgendwo geschlafen.“ „Sieh zu, daß du den Knecht zur Arbeit schickst!“ wurde er auf dem Gut verwarnt. Der Mann kam nach Hause, legte wieder Essen in einen Sack und schickte den Knecht unter strengen Verwarnungen zur Arbeit. Der Knecht schlief wieder den ganzen Tag, aß auf, was ihm mitgegeben wurde, und kam nach Hause. 374
Am nächsten Tag wurde der Bauer wieder auf den Gutshof geholt. Der Bauer begriff, daß der Knecht wieder nicht zur Arbeit gewesen war. Auf dem Gut bekam der Bauer erneut Prügel. Obwohl er behauptete: „Ich habe den Knecht geschickt“, half es ihm doch nichts. Nun wurde er ganz streng verwarnt, den Knecht ja zur Arbeit zu schicken. Der Mann kam nach Hause, bat und drohte dem Knecht, um ihn zu bewegen, zur Arbeit zu gehen. Doch der machte es am dritten Tag genauso wie an den vorangegangenen Tagen. Der Bauer bekam wieder das Fell vollgehauen. Was sollte er jetzt tun?! Lebensmittel mußten in die Stadt gebracht werden; fährt er selbst in die Stadt, geht der Knecht wieder nicht zur Arbeit. So schickte er den Knecht mit den Lebensmitteln in die Stadt und ging selbst zur Arbeit. Na schön, der Knecht Fuchs lieferte die Lebensmittel ab und verkaufte daraufhin das Pferd samt dem Wagen. Die anderen versuchten ihn zurückzuhalten: „Bist du blind, was tust du? Dieser arme Mann hat ja nicht noch mehr Pferde und Wagen, und du verkaufst diese.“ Doch er kümmerte sich nicht darum. Nun ja, die anderen fuhren nach Hause, er blieb in der Stadt. Er ging zum Haus des Königs und bat den Diener um ein Maß. Der Diener fragte: „Wozu brauchst du es?“ Der Knecht antwortete: „Mein Herr will sein Maß nach dem des Königs stempeln.“ Man gab ihm ein kupfernes Maß. 375
Der Fuchs ging und kam nach drei Tagen wieder; er hatte aber auf den Maßboden zwischen Boden und Seitenwand ein Silberstück gelegt. Der König schaute nach, sah das Silbergeld und fragte: „Was hat dein Herr gemessen?“ Der Knecht entgegnete: „Woher soll ich das wissen!“ Der König: „Ist dein Herr reich?“ Der Knecht: „Was soll ich sagen, er ist recht wohlhabend!“ Der König: „Hat er auch Geld? Vielleicht hat er Geld gemessen?“ Der Knecht: „Woher soll ich es wissen, was er gemessen hat! Geld hat er sehr viel. Sein Geldkeller reicht für viele Scheffel.“ Der König: „Oh, mit diesem Mann muß ich mich treffen und mich mit ihm unterhalten. Sag ihm, er soll zu mir kommen!“ Der König gab dem Knecht auch einen Brief mit. Fuchs ging nach Hause. Der Bauer kam ihm traurig entgegen und fragte: „Wo sind das Pferd und der Wagen?“ Der Knecht antwortete: „Ich habe sie verkauft.“ Der Bauer: „Wo ist das Geld?“ Der Knecht: „Was fragst du nach dem Geld, du wirst es bekommen. Mach dich schnell fertig, und dann gehen wir zum König.“ Jetzt gab er dem Bauern den Brief des Königs. Der Bauer schaute nach: Es stimmt, er soll sofort zum König kommen, und der Brief trägt die Unterschrift des Königs. Da darf man sich nicht wei376
gern. O Jammer! Bin schon dreimal wegen des Knechts auf dem Gut verprügelt worden, nun hat er das Pferd und den Wagen verkauft, und wer weiß, was noch beim König zu erwarten ist. Fuchs war natürlich der Begleiter auf dem Wege zum König. Am Wegrande, kurz vor der Stadt, floß ein kleiner schmutziger Bach. Als sie über diesen Bach gingen, stieß der Knecht den Bauern hinein. Paalak kletterte heraus, doch seine alten zerrissenen Kleider waren wie bei einem Bettler mit Schmutz und Unrat bedeckt, so daß er fürchterlich aussah. Nun sagte der Knecht zu ihm: „Bleib hier stehen, geh nicht weg, bis ich zurückkomme.“ Paalak blieb stehen und wartete. Fuchs ging zum König. Der König fragte: „Wo ist dein Herr?“ Der Knecht sagte: „Der Herr hatte Pech, als er über einen Bach ging – er ist hineingefallen und kann jetzt nicht zum König kommen.“ Der König: „Bring ihm meine Kleider hin.“ Er befahl, einige Kleider zu bringen. Fuchs schaute sie sich an und sagte: „So schäbige Kleider trägt mein Herr nicht.“ Es wurden andere Kleider gebracht. Fuchs sagte: „Diese Kleider wage ich auch nicht meinem Herrn zu bringen, er hat immer bessere gehabt.“ Dann wurden ganz teure Kleider aus reinem Purpur und aus Seide gebracht. „Nun, in diesen Kleidern könnte mein Herr notfalls noch kommen.“ 377
Fuchs ging mit den Kleidern zum Bauern, half ihm, die alten Lumpen auszuziehen und die königlichen Kleider anzuziehen. Nun machten sie sich auf den Weg zum König. Fuchs belehrte den Bauern: „Wenn vielleicht zum Essen gebeten wird und man sich unterhält, so sage stets ‚ja’, ‚ja’, immer nur ‚ja’.“ Jetzt hörte der Bauer zum ersten Mal angenehme Worte, nämlich, daß vielleicht zum Essen gebeten werde. Nun kamen sie zum König. Der König empfing sie freundlich, bat sie, auf einem Sofa Platz zu nehmen, und ließ Speisen auftragen. Er selbst setzte sich neben Paalak; seine Frau und seine Tochter setzten sich ihm gegenüber. Mit den feinen Eßbestecken verstand der Mann nicht gut umzugehen und half zuweilen mit seiner eigenen Fünf-Finger-Gabel nach. Der König sprach vom Reichtum und Besitz und fragte: „Hast du auch eine große Herde?“ Der Mann entgegnete: „Ja, ja!“ Schließlich fragte der König: „Bist du noch Junggeselle?“ Paalak: „Ja, ja!“ Der König: „Vielleicht nimmst du dann meine Tochter zur Frau?“ Was sollte Paalak jetzt antworten? Er hatte ja Frau und Kind zu Hause. Da schaute er sich nach dem Fuchs um, der als Diener mit im Schloß war. Paalak fragte Fuchs um Rat, der sagte: „Jetzt läuft die Sache richtig. Sag ‚ja, ja’.“ Paalak ging zurück und sagte auch „Ja, ja!“ 378
Was jetzt? Er sollte sich verloben. Es wurde der Pastor geholt, und die Verlobung fand statt. Dann folgte sehr bald die Hochzeit. Alle Generale und Würdenträger kamen zur Hochzeit, um den Schwiegersohn des Königs zu sehen, der der reichste Mann im Land sein sollte. Die Hochzeit wurde drei Wochen gefeiert. Als die Festlichkeiten vorüber waren, sagte Fuchs: „Hier wurde die Hochzeit drei Wochen gefeiert, im Hause des Bräutigams wird sie sechs Wochen gefeiert werden.“ Es wurde alles zur Abfahrt vorbereitet. Fuchs bekam ein Pferd, er sollte allen vorausreiten. Hinter ihm her fuhr eine Kutsche, dann folgte der König mit seiner Frau, und hinter ihnen in der dritten Kutsche saß das junge Paar – insgesamt waren es zwölf Kutschen, und auch Soldaten folgten ihnen. Fuchs ritt schnell, um den anderen voraus zu sein. Am Wegrand sah er eine riesengroße Herde sehr schöner Tiere. Fuchs fragt: „Wessen Herde ist das?“ „Sie gehört den Teufeln“, antworteten die Hirten. Fuchs sagt: „Hinter mir kommt der König mit seinem Heer. Sagt nicht, daß die Herde den Teufeln gehört, sonst nimmt man euch alle Tiere weg. Sagt, sie gehöre Paalak, dann rührt euch keiner an.“ Fuchs ritt schleunigst weiter. Der Hochzeitszug näherte sich der Herde. Der König ließ die Pferde halten und den Diener fragen: „Wem gehört die Herde?“ 379
„Dem Herrn Paalak“, sagten die Hirten. Der König und alle anderen freuten sich darüber. Paalaks Herz hüpfte vor Freude. Fuchs sieht, am Wegrand weidet eine Herde sehr teurer Pferde. Er fragt: „Wem gehören die Pferde?“ Die Pferdehirten antworten: „Den Teufeln.“ Fuchs sagt: „Hütet euch, das zu sagen! Hinter mir kommt der König mit einem großen Heer. Wenn ihr das sagt, nimmt man euch alle Pferde weg. Sagt: ‚Sie gehören Paalak.’ Dann rührt euch keiner an.“ Fuchs ritt weiter. Als der König mit den Hochzeitsgästen bei der Pferdeherde anlangte, ließ er halten und fragte: „Wessen Pferde sind das?“ „Des Herrn Paalak“, antworteten die Wächter. Nun war die Freude bei allen sehr groß! Die Fahrt ging weiter. Fuchs jagte mit Windeseile voraus in die Stadt der Teufel. Der Torwächter fragte: „Wohin stürmst du so, Fuchs?“ Japsend und nach Luft ringend, keuchte der: „Es kommen – es kommen – es kommen – fünfhundert weiße – Wölfe – sie kommen! Flüchtet!“ Der Wächter rannte schnell die anderen verständigen, daß fünfhundert weiße Wölfe kommen. Fuchs, der gute Mann, habe sie verständigt. Alle liefen zusammen, um gemeinsam zu flüchten. Die Stadt wurde ganz leer. Fuchs sah: Nur der einäugige Wächter des Geldkellers stand noch auf seinem Posten, die Schlüssel in der Hand.
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Fuchs sagte zu ihm: „Flüchte, flüchte! Willst du dich allein auffressen lassen? Alle anderen sind schon geflohen. Wirf den Schlüssel des Geldkellers her!“ Der Wächter warf den Schlüssel Fuchs zu und machte sich selbst aus dem Staube, den anderen nach. Der Hochzeitszug kam an. In der Stadt gab es reichlich von allem, denn die Teufel hatten alles zurückgelassen. Die Hochzeit wurde sechs Wochen lang gefeiert. Der König und seine Frau wollten den Goldkeller besichtigen und baten Paalak, ihn zu zeigen. Paalak sagte zum Fuchs: „Was sollen wir jetzt tun?“ Fuchs entgegnete: „Es macht doch nichts – alles ist in Ordnung. Ruf sie, wir zeigen den Keller. Kommt!“ Sie folgten alle Fuchs. Der ließ die Tür vom Goldkeller öffnen. Oh, diese Menge Geld! Alle Kästen voll. Vorne standen Kästen mit Kupfergeld, dann folgten welche mit Silbergeld und dann Kästen mit Goldgeld – sie waren sogar aufeinandergestapelt. Und um sie herum brannten Kerzen. Oh, dieser Reichtum! Nun, nicht einmal ein Drittel davon hätte man mit dem Maß messen können, das der König Fuchs gegeben hatte, um das Geld seines Herrn zu messen. Der König freute sich, daß er einen so reichen Schwiegersohn bekommen hatte. Er hoffte, im Notfall von Paalak borgen zu können. 381
Nach sechs Wochen begaben sich alle nach Hause. Nur das junge Paar blieb in der Stadt wohnen. Die Teufel wagten es nicht mehr, in ihre Stadt zu kommen und nicht einmal in ihre Richtung zu schauen, denn sie fürchteten, daß die Wölfe kommen und sie zerreißen würden. Alles wäre gut, doch was wurde aus der Frau Paalaks und den Kindern? Fuchs sagte: „Du kannst sie auch hierherholen. Deine Frau kann als Köchin hier wohnen. Du kannst doch beide ernähren.“ So ging Paalak, um seine Frau und die Kinder zu holen. Er verbot ihnen, jemals zu sagen, wer sie seien, und brachte sie in seine Stadt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.
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70 Der goldene Vogel Es lebten einmal drei Brüder, zwei waren klug, der dritte wurde für dumm gehalten. Es war dort ein sehr großer Garten mit Apfelbäumen. Ein Vogel flog ständig in den Garten und fraß die Äpfel. Der König kam in den Garten und sah, daß wieder viele Äpfel abgefressen waren. Der Garten brauchte einen Wächter. So sagte er zu seinen Söhnen: „Geht Wache halten!“ Zuerst ging der älteste Sohn. Sowie der goldene Vogel in den Garten kam, schlief er plötzlich ein. Am Morgen ging er nach Hause, und der Vater fragte: „Hast du irgend jemanden gesehen?“ „Ich habe niemanden gesehen.“ In der nächsten Nacht ging der zweite Bruder auf Wache. Es geschah dasselbe. Sowie der Vogel kam, schlief er ein. Der Vogel fraß die Äpfel auf und flog davon. Am Morgen ging der Sohn nach Hause, und der Vater fragte: „Hast du irgend jemanden gesehen?“ „Ich habe niemanden kommen sehen.“ Doch die Äpfel waren gefressen.
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Nun mußte der dumme Bruder wachen. Er ging hin und wachte die ganze Nacht. Er kletterte auf einen Apfelbaum und sah: Es kommt ein goldener Vogel und beginnt die Äpfel zu picken. Er greift ihn am Schwanz, doch der reißt sich los, und nur eine Feder bleibt in der Hand. Er bringt die Feder nach Hause, um dem Vater zu zeigen, was für ein Vogel in den Garten kommt – ein goldener. Der Vater sagte: „Der Vogel ist schön, doch ich weiß nicht, wie wir ihn fangen könnten. Ich würde gern solchen Vogel haben wollen.“ Dann fügte er hinzu: „Söhne, geht und sucht den Vogel! Wer ihn mir fängt, dem gebe ich das Königreich.“ Die älteren Söhne bekamen gute Pferde, der jüngste Sohn einen mageren Klepper. Sie ritten in verschiedene Richtungen davon. Der jüngste Bruder kam in einen großen Wald. Dort zweigten drei Wege ab, und es gab dort eine Tafel mit solcher Aufschrift: Wer nach rechts geht, verliert das Pferd; wer nach links geht, verliert das eigene Leben; wer den mittleren Weg wählt, verliert beides. Der Mann überlegte, welchen Weg er nehmen sollte. Er wählte den Weg, auf dem er das Pferd verlieren würde. Denn auch zu Fuß kann man weitergehen. Nachdem er ein Stück Weges weitergeritten war, kam aus dem Walde ein großer grauer Wolf und fraß das Pferd auf. Der Mann ging zu Fuß wei-
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ter und wollte so weit gehen, wie ihn die Füße trugen. Der Wolf kam wieder aus dem Walde heraus und sagte: „Mann, setz dich auf meinen Rücken, zu Fuß kommst du nicht weiter.“ Er setzte sich auf den Rücken des Wolfs. Da fragte der Wolf, wohin er laufen solle. Der Mann antwortete: „Der Vater schickte uns aus, den goldenen Vogel zu suchen, und sagte, wer ihn finde, der bekomme das Königreich.“ Der Wolf wußte, wo sich der goldene Vogel befindet. Er brachte den Mann aus dem Walde hinaus und lief weiter, bis sie zu einem Königreich kamen. Dort befand sich der goldene Vogel. Der Wolf führte den Mann zum goldenen Vogel, der in einem Käfig saß: „Nimm nicht den Käfig, sondern nur den Vogel: Wenn du den Käfig nimmst, so hört man es.“ Der Mann ging, den Vogel zu holen. Er sah, daß der Käfig sehr schön und aus Gold war. Wie sollte er ihn dalassen? Ei, dachte er, ich nehme beides. Da hörte man ihn und nahm ihn fest. Er wurde gefragt, warum er gekommen sei, den Vogel zu stehlen. Der Mann berichtete, der Vater hätte es ihnen befohlen und dem das Königreich versprochen, der den Vogel finden würde. Ihm wurde gesagt: „Du bekommst dann den Vogel, wenn du aus einem anderen Königreich das Pferd mit der goldenen Mähne und dem goldenen Schweif herbringst.“ Der Mann verließ den König und ging zum Wolf. 385
Der Wolf wartete draußen: „Nun, hast du ihn?“ Der Mann berichtete, daß er den Vogel nicht habe; er müsse erst aus einem anderen Königreich das Pferd mit der goldenen Mähne und dem goldenen Schweif hierherbringen. „Ich habe dich doch gewarnt, warum hast du den Käfig genommen. Du solltest ihn nicht nehmen! Gehen wir, setz dich auf meinen Rücken, vielleicht können wir dieses Pferd herbeischaffen.“ Sie machten sich weiter auf den Weg, bis sie zu dem anderen König kamen. „Nimm das Pferd hier aus dem Stall, aber laß das Zaumzeug da – nimm es ohne Zaumzeug. Sonst hört es der Besitzer.“ Der Mann ging das Pferd holen und sah: ein Pferd mit goldener Mähne und goldenem Schweif; und auch das Zaumzeug ist aus Gold. Er überlegte: Wie soll ich dieses goldene Pferd ohne Zaumzeug nehmen – ich nehme auch das Zaumzeug. Sowie er anfing das Zaumzeug loszubinden, hörte es der Besitzer. Wieder wurde er festgenommen und gefragt, warum er hierher zum Stehlen gekommen sei. „Ich brauche den goldenen Vogel; und dort wurde mir gesagt, daß sie mir den goldenen Vogel erst geben, wenn ich das goldene Pferd bringe.“ Da wurde ihm gesagt: „Geh und hole aus dem dritten Königreich die Königstochter mit dem goldenen Haar, dann geben wir dir das Pferd.“ Er ging wieder hinaus hinter den Zaun zum Wolf und erzählte ihm alles.
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Der Wolf sagte: „Warum wolltest du es mit dem Zaumzeug nehmen? Ich habe dich doch gelehrt, es ohne Zaumzeug zu nehmen. – Nun, setz dich auf meinen Rücken, machen wir uns auf den Weg, vielleicht gelingt es uns.“ Sie setzen den Weg fort und kommen zum Garten eines Königs. Sie sehen: Im Garten spaziert die Königstochter mit den goldenen Haaren. Der Wolf sagte: „Aus dir wird nichts. Ich gehe und versuche selbst sie zu holen.“ Der Wolf sprang über den Zaun, packte sich das Mädchen auf den Rücken und machte sich davon. Den dummen Bruder ließ er solange am Waldrand sitzen. Er kam zum dummen Bruder zurück und nahm auch ihn auf den Rücken. Mit den beiden, dem dummen Bruder und dem Mädchen, auf dem Rükken machte sich der Wolf davon. Er sagte: „Wenn du sie für dich zur Frau haben willst, dann überlasse ich sie dir. Ich will dann sehen, ob ich nicht auch das goldene Pferd werde holen können.“ Der dumme Bruder sagte: „Warum denn nicht, wer sollte es nicht wollen!“ Nun kamen sie zu dem König, der das Pferd mit der goldenen Mähne besaß. Er sagte zum Mädchen: „Bleib hier sitzen, bis wir zurückkommen.“ Der Wolf verwandelte sich dann in das Mädchen und sagte zu dem jungen Mann, er solle ihn hinbringen.
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Der Wolf erschien als das Mädchen mit dem goldenen Haar, und der dumme Bruder brachte es zum König und sagte: „Nun, ich bringe dir das Mädchen, gib du mir das Pferd!“ Er hatte jetzt das Pferd und das Mädchen, sie setzten sich beide auf den Rücken des Pferdes und ritten davon. Bald waren sie ein ganzes Stück weitergeritten. Inzwischen sagte das Mädchen – der Wolf – zum König: „Es ist sehr langweilig, gehen wir im Garten spazieren.“ Der König ging mit ihm in den Garten. Dort sprang der Wolf über den Zaun und jagte in den Wald, den beiden nach. Sie gingen so lange, bis sie zum dritten König kamen, der den goldenen Vogel hatte. Der Wolf sagte zum dummen Bruder: „Wenn du das Pferd behalten willst, überlasse ich auch das Pferd dir. Ich verwandle mich in das Pferd, und du bringst mich hin.“ Er brachte die Königstochter und das Pferd an den Waldrand: „Bleibt hier, wir aber gehen, um den Vogel zu holen.“ Der Wolf verwandelte sich in das Pferd. Der dumme Bruder nahm es und ging mit ihm zum Herrn und sagte: „So, ich habe dir das Pferd gebracht, gib mir den Vogel!“ Er bekam den Vogel mit dem Käfig und ging. Er kam zum Mädchen und setzte sich mit ihm zusammen auf den Rücken des Pferdes, nahm den goldenen Vogel mit dem Käfig in die Hand und machte sich auf den Weg nach Hause. 388
Währenddessen ritt der Sohn des Königs auf seinem neuen Pferd aus. Das Pferd jagte davon – der Königssohn fiel von seinem Rücken herunter. Aus dem Pferd wurde ein Wolf, und dieser lief dem dummen Bruder hinterher. Er holte ihn auch ein. Sie kamen zusammen zum Wald, wo der Wolf das Pferd zerrissen hatte. Da sagte der Wolf: „Weiter komme ich nicht mit, geht jetzt allein nach Hause.“ Und sie gingen. Nach einer Weile sagte der dumme Bruder, daß sie etwas ausruhen sollten. Das Pferd band er an einen Baum, den Vogel mit dem Käfig stellte er daneben, er selbst legte sich hin. Es kamen die anderen Brüder, die von der Suche nach dem Vogel zurückkehrten. Sie ärgerten sich darüber, daß der junge Bruder den Vogel, das Pferd und die Frau mit dem goldenen Haar hatte: „Was machen wir mit ihm? Wir werden ihn töten!“ Sie erschlugen ihn, zerhackten ihn in Stücke und verstreuten die Stücke im Wald. Dann nahmen sie den goldenen Vogel, das Mädchen und das Pferd und ritten zu zweit nach Hause. Sie brachten den Vogel zum Vater und sagten: „Schau, wir haben den Vogel gefunden!“ Das Pferd bekam der mittlere Sohn. Der älteste Bruder wollte das Mädchen zur Frau nehmen und bald Hochzeit halten. Der Wolf kam zufällig an die Stelle, wo die Fleisch- und Knochenteile des dummen Bruders
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lagen. Die Krähen hatten schon das Fleisch abgefressen. Der Wolf erkannte ihn und gab den Krähen den Befehl: „Sammelt alle Knochen zusammen, soviel ihrer hier sind, sonst werde ich euch vernichten!“ Die Krähen sammelten alle Knochen auf. Der Wolf legte sie so zusammen, wie sie beim Menschen sind. Er befahl den Raben, das tote Wasser zu bringen. Die Raben brachten das Wasser. Er spritzte es auf die Knochen, und das Fleisch und die Knochen wuchsen zusammen. Es wurde ein schöner Toter. Dann befahl er: „Geht und holt das lebendige Wasser!“ Sie gingen und holten das lebendige Wasser. Er bespritzte die Leiche mit dem lebendigen Wasser, und siehe – es kam Leben in den Mann. Er setzte sich auf und sagte: „Oh, ich habe lange geschlafen!“ Der Wolf sagte: „Ja, du hast wohl lange geschlafen! Doch schau, wo ist der Vogel! Das Pferd! Die Frau! Du wurdest getötet, und auch deine Knochen wurden verstreut. Ich befahl den Krähen, die Knochen zusammenzusuchen, und die Raben brachten das tote Wasser und dann das lebendige Wasser; ich bespritzte dich., und du bist wieder zum Leben erwacht. Geh jetzt nach Hause, doch raste nirgends mehr.“ Die Braut war aber zu Hause stets schlechtgelaunt, denn sie wollte nicht den ältesten Bruder heiraten.
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Die Trauung sollte gerade stattfinden. Sie stand schon am Tisch, als sie sah, daß der jüngste Bruder ins Zimmer trat. Sie sprang über den Tisch, faßte ihn um den Hals und sagte: „Das ist mein Bräutigam, und ihn heirate ich! Der hat mich gebracht!“ Der dumme Bruder erzählte dem Vater, wie alles gewesen war: „Ich habe den Vogel, das Pferd und alles bekommen; sie aber haben mich erschlagen und auch meine Knochen verstreut. Doch der Wolf erweckte mich wieder zum Leben!“ Der Vater gab dem jüngsten Bruder das Recht, mit den älteren zu verfahren, wie er wolle. Er aber ließ sie ohne Strafe und ohne alles in die weite Welt hinausziehen.
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71 Die Tiere als Schwäger In alten Zeiten lebte ein Besenbinder. Jeden Morgen nahm er seine Besenlast auf den Rücken, ging in die Stadt und verkaufte sie dort; gegen Abend ging er dann durch einen Wald nach Hause und bereitete die Ware für den nächsten Tag vor. Auf diese Weise ernährte er mit Mühe und Not seine Familie, die fünf Personen zählte. Zu seiner Familie gehörten: er selbst, seine Frau und drei Töchter. Einmal, als der Mann wieder mit seiner Besenlast in die Stadt ging, kam ihm ein vornehm gekleideter Herr entgegen und fragte: „Was mühst du dich so ab unter dieser Last, Männlein? Sie nimmt dir ja den Atem, kannst du dein Brot nicht leichter verdienen?“ „Ich bekomme keine andere Arbeit“, antwortete der Alte. „Gib doch deine Älteste meinem ältesten Pflegesohn zur Frau, und ich gebe dir dafür einen Scheffel Kupfer.“ „Das kann ich dir nicht versprechen“, sagte der Alte und ging weiter der Stadt zu. Als er am Abend nach Hause kam, war die älteste Tochter nicht mehr zu finden. Statt ihrer lag aber in einer Ecke ein Scheffel Kupfer.
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Am nächsten Tag nahm er wieder seine Besenlast auf den Rücken und ging in die Stadt. Unterwegs kam ihm ein recht alter Mann entgegen und sagte: „Kannst du dein Brot denn nicht leichter verdienen? Mußt du eine so schwere Last schleppen?“ »Leichter läßt sich das Leben nicht meistern.“ „Gib deine mittlere Tochter meinem mittleren Pflegesohn zur Frau, und ich gebe dir einen Scheffel Silber.“ „Das kann ich dir nicht versprechen“, erwiderte der Mann. Am Abend, als er nach Hause kam, war die mittlere Tochter verschwunden, und ein Scheffel Silber lag in der Ecke. Am dritten Tag ging der Mann wieder in gewohnter Weise mit der Besenlast in die Stadt. Unterwegs kam ihm ein alter Mann entgegen. „Gib deine jüngste Tochter meinem jüngsten Pflegesohn zur Frau, und ich gebe dir einen Scheffel Gold.“ „Das kann ich dir nicht versprechen“, erwiderte der Alte. Am Abend war aber auch die jüngste Tochter verschwunden, und in der Ecke lag ein Scheffel Gold. Jetzt lebte der Alte mit seiner Frau und trauerte den Töchtern nach. Schließlich fanden sie Trost in dem kleinen Sohn, der ihnen auf ihre alten Tage noch geboren wurde.
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Der Kleine wuchs zu einem kräftigen Jungen heran, und der alte Mann konnte sich niemals von ihm trennen. Als der Knabe sieben Jahre alt wurde, sagte ihm der Vater einmal: „Söhnchen, du hattest drei Schwestern, aber sie sind alle verlorengegangen.“ „Erlaube mir, daß ich sie suchen gehe“, sagte darauf der aufgeweckte Knabe. „Wo willst du sie suchen gehen? Du bist noch klein und wirst mir am Ende selbst verlorengehen, dann habe ich wieder keine Kinder.“ Der Junge aber drängte immer wieder: „Erlaube“ und „erlaube“, so lange, bis es ihm der Vater schließlich erlaubte. Der Junge machte sich auf den Weg. Unterwegs sah er, wie sich zwei Männer stritten. „Was streitet ihr euch, Männer?“ Die Männer unterbrachen ihren Streit, und der eine sagte: „Unser Vater ist gestorben und hat uns eine große Erbschaft hinterlassen. Da ist sie!“ Er wies auf einen Hut, einen Stock und auf Bastschuhe, die auf dem Wege lagen. „Wegen dieser wertlosen Sachen? Ich würde sie noch nicht mal vom Boden aufheben.“ „O nein! Es sind allesamt sehr teure Sachen: Wenn du die Bastschuhe anziehst, kannst du jeweils dort hingelangen, wo du gerade hinwillst; setzt du den Hut auf, sieht dich niemand; schlägst du jemanden mit dem Stock, so ist er im Nu verschwunden. Solche Sachen sind es. Kannst du unseren Streit nicht schlichten?“ 394
„Erlaubt, daß ich vorher den Wert dieser Sachen ausprobiere, danach werde ich schon ein Urteil finden“, sagte der junge Mann. Er zog die Bastschuhe an, setzte den Hut auf, nahm dann den Stock und schlug mit ihm jeden der Männer einmal. Da waren sie im Nu verschwunden. Jetzt sagte er: „Ich möchte zu meiner ältesten Schwester kommen!“ Bald war er da. „Guten Tag, Schwester! Kennst du mich nicht?“ „Ich kenne dich nicht.“ „Ich bin doch dein Bruder.“ „Das kann sein. Doch als ich da war, gab es dich noch nicht.“ Nun bekam der Gast zu essen, und es wurden angenehme Gespräche geführt. Das Haus stand tief im Walde. Plötzlich begann der Wald zu rauschen, als wäre ein starker Wind aufgekommen. „Mein Mann kommt nach Hause, gehe jetzt schnell weg, sonst könnte er dir was antun, wenn er dich als einen Fremden sieht!“ Der Junge setzte den Hut auf und war verschwunden. Plötzlich kam ein großer Bär in die Stube, schüttelte seinen Pelz ab und stand da als ein hübscher junger Mann. „Warum bist du so traurig?“ fragte er seine Frau. „Ja, mein kleiner Bruder war heute hier“, entgegnete die Frau.
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„Oh, warum hast du ihn so schnell weggehen lassen“, bedauerte der Mann, „ich hätte ihn auch gern gesehen.“ „Ich bin auch jetzt noch hier“, sagte der Bruder und nahm den Hut ab. Nun feierten sie die Zusammenkunft mehrere Tage lang. Schließlich machte sich der Bruder auf den Weg. Der Bär zog aus seinem Pelz drei Haare heraus und sagte: „Wenn du meine Hilfe brauchst, dann schau auf diese drei Haare und sprich: ‚Wenn nur mein ältester Schwager hier wäre’, dann komme ich dir sofort zu Hilfe.“ Der Bruder verabschiedete sich und wünschte: „Wär’ ich doch jetzt bei meiner mittleren Schwester“, und er war auch schon dort. Ein großes silbernes Schloß stand auf einem hohen Bergkamm, mit silbernen Türmen und Dächern. „Guten Tag, Schwester! Kennst du mich nicht?“ „Ich kenne dich nicht“, erwiderte die Schwester. „Ich bin doch dein Bruder.“ „Dann gab es dich noch nicht, als ich da war.“ Wieder bekam er zu essen, und es wurden angenehme Gespräche geführt. Plötzlich kam ein starkes Rauschen auf wie vor einem Regenguß mit starkem Wind. „Mein Mann kommt nach Hause“, sagte die Schwester. „Es könnte dir schlecht ergehen, wenn er dich hier als einen Fremden findet!“ Der Bruder setzte den Hut auf und war verschwunden. Plötzlich kam ein großer Adler, setzte 396
sich vor dem Hause nieder, schüttelte die Federn ab und war jetzt ein schöner junger Mann. „Warum bist du so traurig“, fragte er seine Frau. „Ja, mein kleiner Bruder war heute hier.“ „Warum hast du ihn so schnell weggehen lassen. Ich hätte ihn auch gern gesehen.“ „Ich bin auch noch nicht fort“, sagte der Bruder und nahm den Hut vom Kopf. Jetzt dauerte das Feiern mehrere Tage, sie wollten ihn nicht weglassen. Doch der Bruder machte sich schließlich auf den Weg. Der Adler gab ihm drei seiner Federn und sagte: „Wenn du meine Hilfe brauchst, so schau auf diese Federn und sprich: ‚Wenn nur mein mittlerer Schwager hier wäre’, dann bin ich sofort da.“ Der Bruder verabschiedete sich und wünschte: „Wär’ ich doch jetzt bei meiner jüngsten Schwester!“ Bald war er dort. Am Meeresstrand stand ein goldenes Schloß, halb im Wasser, halb am Ufer. Der junge Mann trat ein. „Guten Tag, Schwester! Kennst du mich nicht?“ „Ich kenne dich nicht.“ „Ich bin doch dein Bruder.“ „Dann gab es dich wohl noch nicht, als ich da war.“ Wieder bekam er zu essen, und es wurden angenehme Gespräche geführt. Plötzlich begann das Meer zu rauschen. „Mein Mann kommt nach Hause“, sagte die Schwester, „du mußt jetzt weggehen, es könnte 397
dir schlecht ergehen, wenn er dich hier als einen Fremden findet!“ Der Bruder setzte den Hut auf und war verschwunden. Ein großer Hecht kam angeschwommen, schüttelte seine Schuppen ab und war ein hübscher junger Mann. „Warum bist du heute so traurig?“ fragte er seine Frau. „Ja, mein kleiner Bruder war heute hier.“ „Warum hast du ihn so schnell weggehen lassen?“ „Ich bin auch noch gar nicht weit weg“, sagte der Bruder und nahm den Hut vom Kopf. Nun feierten sie mehrere Tage. Man wollte ihn gar nicht mehr weglassen. Schließlich machte sich der Bruder doch auf den Weg. Der Hecht gab ihm drei seiner Schuppen und sagte: „Wenn du meine Hilfe brauchst, dann schau diese Schuppen an und sprich: ‚Wenn nur der Mann meiner jüngsten Schwester jetzt hier wäre’, dann bin ich sofort da.“ Der Bruder verabschiedete sich und ging. Unterwegs dachte er, wie er seine Schwäger befreien könne, denn sie waren, wie er von ihnen selbst gehört hatte, schon als kleine Kinder vom Teufel gestohlen worden. Er wünschte: „Ich möchte jetzt auf dem Gut des Teufels sein!“ Bald darauf war er da und begann sehr böse vom Teufel die Schlüssel zum Gefängnis zu fordern. „Sag, wo sind die Schlüssel zum Gefängnis!“
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„Im Stall, im Stier mit der Blesse“, entgegnete ihm der Teufel. Der junge Mann ging in den Stall, um nachzusehen. Der große Stier war mächtig böse, so daß man nicht einmal in seine Nähe gelangen konnte. Der Junge nahm die Haare des Bären und sagte: „Wenn nur der Mann meiner ältesten Schwester jetzt hier wäre!“ Bald war der Bär auch zur Stelle und zerriß den Stier. Der junge Mann durchsuchte ihn, fand aber nichts. Er ging und verlangte von neuem: „Sag sofort, wo die Schlüssel zum Gefängnis sind!“ „Im Pferdestall, links im Schwanz.“ Der junge Mann ging hin, um nachzusehen. Der Hengst war groß und feurig und ließ keinen in die Nähe. „Wenn nur der Mann meiner ältesten Schwester jetzt hier wäre“, sagte der junge Mann und schaute dabei auf die Haare des Bären. Bald war der Bär zur Stelle und zerriß den Hengst. Aus dem Hengst flog ein Täubchen heraus. Der junge Mann nahm die Federn des Adlers und sagte: „Wenn nur der Mann meiner mittleren Schwester jetzt hier wäre!“ Bald war der Adler zur Stelle und jagte hinter dem Täubchen her. Über dem Meer erreichte er es und zerriß es. Aus dem Täubchen fiel ein Ei ins Meer hinab.
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„Wenn nur der Mann meiner jüngsten Schwester jetzt hier wäre!“ sagte der junge Mann und schaute die Fischschuppen an. Bald war der Hecht da und holte das Ei heraus. Der junge Mann zerschlug das Ei an einem Stein und fand darinnen die Gefängnisschlüssel. Er öffnete alle Gefängnistüren, ließ die Gefangenen heraus und verbrannte des Teufels Seelenverzeichnis. Den Teufel selbst schlug er mit dem Stock tot. Dann rief er seine Schwäger mit den Schwestern und den Vater mit der Mutter auf das Gut des Teufels, damit sie dort leben konnten. Später nahm er sich ebenfalls eine Frau. Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er auch noch heute.
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72 Der König des Nordlandes Der alte König des Nordlandes war gestorben, und der junge König hatte die Regierung übernommen. Er war sehr reich und mächtig, aber zugleich auch sehr gutherzig, so daß er nicht einmal einem Vogel etwas zuleide tun konnte. Einst hatte er im Walde die Jungen eines Raben vor dem Tode errettet, und seitdem gab ihm der Rabe in Notfällen immer gute Ratschläge. Eines Tages kehrte dieser Rabe aus fernen Ländern zurück und erzählte, daß die Königstochter des Südlandes die Schönste in der Welt sei, daß sie aber auch sehr stolz sei und schon dreitausend Freier mit Schande fortgeschickt habe, nur um allein zu regieren. Wenn jetzt der König des Nordlandes, der der schönste, mutigste und reichste Mann auf der Welt sei, die Königstochter des Südlandes freien wolle, würde sie ihn wahrscheinlich annehmen. Der König dankte dem Raben für diese Mitteilung und versprach, zur gegebenen Zeit an das Freien zu denken. Eines Nachts wurden die drei Schwestern des Königs des Nordlandes gestohlen, die unter den Frauen des Nordlandes die schönsten waren. Die älteste Schwester wurde vom König aller Vierfüßer, dem Löwen, die mittlere Schwester vom Kö401
nig aller Vögel, dem Adler, und die jüngste Schwester vom König aller Wassertiere, dem Walfisch, gestohlen. Als Preis für die Schwestern wurden drei Tonnen Gold zurückgelassen. Der König beschloß, die Räuber der Schwestern aufzusuchen und gleichzeitig – um auf dem Weg das eine mit dem anderen zu verbinden – die Königstochter des Südlandes freien zu gehen. Die Mutter des Königs wollte aber durchaus nicht, daß ihr Sohn so weit wegfahre: „Unterwegs, da gibt’s fünf Nöte, Tausende von Hindernissen, Gibt’s den Tod auf Schritt und Tritt.“ Und sie versuchte, den König auf jede Weise von der Reise abzuhalten. Als aber der König dennoch wollte, kaufte die Mutter von einer Hexe ein so starkes Kraut, daß jeder, auf den man es tropfte, auf der Stelle tot war. Der König saß schon auf dem Pferd und wollte sich nur noch von der Mutter verabschieden. Die Mutter umarmte ihn mit einem Arm, und mit der anderen Hand wollte sie auf den Sohn das tötende Wasser tropfen, doch das Wasser fiel auf das Pferd, und der König blieb gesund. Das Vorhaben der Mutter – Lieber töte ich den Sohn im eigenen Land, da er im fremden Land sowieso den Tod findet, und so weiß ich wenigstens, wo sein Grab ist – war nicht gelungen. Das Pferd fiel tot um.
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Der König bereitete aus dem Fleisch des toten Pferdes zwölf Fleischfladen, steckte sie in die Tasche, setzte sich auf ein anderes Pferd und machte sich auf den Weg. Er war schon eine Weile geritten und befand sich in einem dichten Wald, als ihm Räuber entgegenkamen, die sich seiner ganzen Habe bemächtigten und auch den König selbst gefangennahmen. Es waren ihrer zwölf Mann. Ein jeder von ihnen aß einen von den Fleischfladen des Königs und war sofort tot. Der König nahm sein Pferd und auch das Gold der Räuber und zog davon. Er ritt lange Zeit weiter, bis er schließlich ans Meer gelangte. Da er auf keine Weise hinüberkonnte, begann er darum herumzugehen. An einer Stelle sah er: Die älteste Schwester sitzt unter einer Eberesche und stillt ein Kind. Er freute sich, daß er eine Schwester schon gefunden hatte, unterhielt sich mit ihr und ruhte sich bis zum Abend aus. Am Abend sagte die Schwester: „Geh jetzt schnell weg! Heute abend kommt mein Mann, der Löwe, der König aller Waldtiere, nach Hause, und wenn er dich hier findet, wird er dich zerreißen. Er ist drei Tage lang Löwe und drei Tage Mensch, heute um Mitternacht wird er zum Menschen, aber wer weiß, ob er dir nicht auch dann noch etwas antut.“ Der König hörte nicht auf die Worte der Schwester, sondern blieb da. Nach einiger Zeit begann es stark zu rauschen, so daß die Erde erzitterte, 403
und die Schwester versteckte ihren Bruder unter den Wurzeln des Baumes. Der Löwe kam nach Hause, fraß einen halben Mastochsen auf einmal auf und fragte während des Essens: „Sag mal, was ist das – hier riecht es nach einem Christenmenschen?“ „Es ist niemand da“, erwiderte die Frau, die Schwester des Königs, „vielleicht hast du, als du im Lande der Christenmenschen warst, irgendein Tier gefressen, und der Geruch ist dir in der Nase hängengeblieben.“ „Ganz richtig, auf der letzten Wegkreuzung lief mir ein Hase in die Quere, den habe ich verschlungen“, sagte der Löwe, aß, legte sich schlafen und wurde um Mitternacht zum Menschen. Die Frau fragte: „Wenn mein Bruder hierherkäme, um uns freundschaftlich zu besuchen, was würdest du mit ihm machen?“ „Wie kann dein Bruder hierherkommen, wo noch nie ein Mensch gewesen ist!“ „Aber, wenn er dennoch kommen würde?“ „Nun, was sollte ich mit ihm machen? Ich würde ihn wie den Bruder meiner Frau gut empfangen und ihm zudem ein Geschenk mitgeben.“ So ging denn die Frau, rief den Bruder und brachte ihn in die Kupferstadt, in der die Frau ständig und der Löwe jeweils drei Tage lang wohnten. Der König wurde freundlich aufgenommen, aß und trank auf königliche Art drei Tage hintereinander.
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Am Abend des dritten Tages sagte der Schwestermann zum König: „Du mußt jetzt fortgehen. Um Mitternacht werde ich wieder zum Löwen; wenn du dann noch hier bist, muß ich dich zerreißen.“ Beim Abschied gab er dem König drei Haare von seinem Rücken und sagte: „Wenn du in Not bist, dann verbrenne diese Haare, und ich komme dir sofort zu Hilfe. Doch erzähle mir, wohin du noch willst, da du so weit hergekommen bist.“ Der König erzählte, daß er gekommen sei, um seine Schwäger zu sehen, und daß er außerdem die Königstochter des Südlandes freien möchte, die der schönste Mensch auf der Welt sein sollte. „Oh, lieber Freund, das wird dir nicht gelingen! Der Weg dorthin ist sehr schwer, und das Mädchen ist der boshafteste Mensch der Welt. Ich war ebenfalls schon dort, um zu freien, habe mir aber eine lange Nase geholt und bin nur mit Not dem Gefängnis und einer langen qualvollen Zeit entgangen. Und dabei – was ist schon deine Stärke gegen die meine?“ Der König wich dennoch um keinen Strich von seinem Vorhaben ab, gab nicht auf und schwor: „Es soll mir mein Bart abfallen oder mein Unterkiefer zerbrechen, oder ich selbst soll wegen Unvermögens sterben, trotzdem gehe ich hin!“ Der Löwe nahm dann noch das Taschentuch des Königs und sagte: „Solltest du keine Zeit mehr haben, die Haare zu verbrennen, oder nicht mehr daran denken, dann merke folgendes: Sobald sich dein Taschen405
tuch in meinen Händen rot färbt, werde ich wissen, daß du in Not bist, und werde versuchen, dir zu helfen, obwohl mir der Weg, den du gehen willst, unmöglich erscheint.“ Die Schwester reichte ihm noch ein Tischtuch und sagte: „Bist du hungrig, so breite das Tuch aus, und es werden sofort vier königliche Diener kommen, die dir auf das Tischtuch verschiedene gute Speisen legen und dich während des Essens bedienen werden. Außerdem werden während des Essens noch vier Musiker beschwingende Musik für dich spielen.“ Der König nahm die Geschenke, verabschiedete sich von der Schwester und dem Schwager und ging. Er war wieder ein Stück weitergekommen, da sah er die mittlere Schwester unter einem Birnbaum sitzen und ein Kind stillen. Der König freute sich, daß auch die zweite Schwester gefunden war; er blieb bei der Schwester bis zum Abend und unterhielt sich angenehm mit ihr. Am Abend sagte die Schwester: „Geh jetzt schnell weg! Heute abend kommt mein Mann, der König aller Vögel, der Adler, nach Hause, und wenn er dich hier findet, frißt er dich sofort auf. Er ist sechs Tage lang Adler und sechs Tage Mensch. Heute nacht wird er wohl zum Menschen, doch wer weiß, ob er dir nicht auch dann noch etwas antut.“ Der König hörte nicht auf die Reden der Schwester und blieb da. Nach einiger Zeit erhob sich ein 406
Brausen und ein starker Sturm, so daß sogar die Steine umherflogen. „Das ist mein Mann“, sagte die Schwester und versteckte den König unter den Baumwurzeln. Der Adler kam nach Hause und fraß einen ganzen Mastochsen auf einmal auf. Während des Essens sagte er: „Sag mal, was ist das – hier riecht es nach einem Christenmenschen?“ „Es ist niemand da, vielleicht hast du im Lande der Christenmenschen irgendeinen Vogel gefressen, und jetzt steckt dir der Geruch immer noch in der Nase“, erwiderte die Frau. „Das stimmt, bevor ich in mein Reich kam, war mir eine Meise über den Weg geflogen, die habe ich verdrückt“, bestätigte der Adler und beruhigte sich wieder. Er aß, legte sich schlafen und wurde um Mitternacht zum Menschen. Die Frau begann ihn auszufragen: „Sag, wenn mein Bruder, der König des Nordlandes, uns besuchen käme, was tätest du dann mit ihm?“ „Wie kann dein Bruder hierherkommen, es ist noch nie ein Mensch hiergewesen!“ „Wenn er nun aber doch käme?“ „Oh, was sollte ich mit ihm machen, er ist doch dein Bruder; ich würde ihn gut empfangen und ihm noch ein Geschenk geben.“ Daraufhin ging die Frau, rief den Bruder unter den Baumwurzeln hervor und brachte ihn in die Silberstadt, in ihr Schloß, wo der Adler jeweils sechs Tage lang wohnte. Der König wurde sehr gut empfangen, bekam teure Speisen und Ge-
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tränke vorgesetzt, wie es sich für einen König gehört, und dies dauerte sechs Tage. Am Abend des sechsten Tages sagte der Mann seiner Schwester zum König: „Jetzt mußt du gehen. Um Mitternacht werde ich wieder zum Adler; wenn du dann noch hier bist, muß ich dich zerreißen.“ Dann gab er dem König drei Federn seines Flügels und sagte: „Wenn du einmal in Not gerätst, verbrenne die Federn, und ich komme dir sofort zu Hilfe. Doch – was ich noch fragen wollte – wohin wolltest du eigentlich gehen, da du so weit hergekommen bist wie noch nie ein Mensch vor dir?“ Der König erzählte, er sei gekommen, um die Schwäger zu besuchen und um dabei auch die Königstochter des Südlandes zu freien, die der schönste Mensch auf der Welt sein sollte. „Oh, Verwandter, verwirf diesen Gedanken! Dein Vorhaben ist sehr schwer, und die schönste Königstochter ist auch der boshafteste Mensch auf der Welt. Auch ich habe sie einmal freien wollen, doch das hat mir eine solche Schande eingebracht, daß ich das ganze Leben daran denken werde – man wollte mich sogar lebenslänglich ins Gefängnis stecken. Ich bin nur mit Mühe weggekommen, und dabei bist du nicht so stark wie ich.“ Der König wich aber von seinem Vorhaben um keinen Strich ab und beteuerte: „Von mir aus soll mir der Bart abfallen oder der Unterkiefer zerbrechen, oder ich soll wegen mei408
nes Unvermögens sterben, ich werde doch nicht von meinem Vorhaben zurücktreten und das Freien aufgeben!“ Der Adler nahm das Taschentuch des Königs und sagte: „Solltest du keine Zeit mehr haben oder nicht daran denken, die Federn zu verbrennen, dann merke folgendes: Sobald sich dein Taschentuch in meinen Händen rot färbt, weiß ich, daß du in Not bist, und eile dir zu Hilfe, wenn ich es auch sehr schwer haben sollte, dir bei diesem Freiersgang zu helfen.“ Die Schwester gab ihm ein Tischtuch und unterwies ihn: „Wenn du hungrig bist, breite das Tischtuch aus, und sofort werden zwölf königliche Diener zur Stelle sein, die dir auf das Tischtuch verschiedene Speisen legen und dich während des Essens bedienen. Auch werden während des Essens zwölf Musiker die schönsten beschwingenden Weisen für dich spielen.“ Der König nahm die Geschenke entgegen, verabschiedete sich von der Schwester und dem Schwager und ging. Er ging mehrere Tage und war schon um das Meer herumgekommen: Da sah er die jüngste Schwester unter einem Apfelbaum sitzen und ein Kind stillen. Der König freute sich, daß er nun alle Schwestern gefunden hatte, begann sich mit seiner Schwester zu unterhalten und ruhte sich bis zum Abend aus. Am Abend sagte die Schwester: 409
„Geh jetzt schnell fort! Bald kommt mein Mann, der König aller Wassertiere, der Walfisch, nach Hause, und wenn er dich hier findet, verschlingt er dich. Er ist zwölf Tage ein Walfisch und zwölf Tage ein Mensch. Heute um Mitternacht wird er zwar zum Menschen, man kann ihm aber dennoch nicht trauen.“ Der König achtete nicht auf die Warnung der Schwester und blieb da. Plötzlich begann das Meer zu rauschen und zu brausen, daß es zum Fürchten war. „Das ist mein Mann, der nach Hause kommt“, sagte die Schwester und versteckte den König unter den Baumwurzeln. Der Walfisch kam nach Hause und fraß drei Mastochsen auf einmal auf. Während des Essens fragte er: „Sag mal, was ist denn das – hier riecht es nach einem Christenmenschen?“ „Es ist niemand da; wer weiß, vielleicht hast du, als du durch das Meer der Christenmenschen gekommen bist, irgendeinen Fisch gefressen, und der Geruch blieb dir in der Nase stecken“, erwiderte die Frau. „Sehr richtig! Bei der letzten Biegung schwamm mir auch ein fixer Kaulbarsch in die Quere, den habe ich verschlungen“, sagte der Walfisch, legte sich nach dem Essen schlafen und wurde um Mitternacht zum Menschen. Die Frau begann ihn dann auszufragen: „Sag, wenn mein Bruder, der König des Nordlandes, uns hier freundschaftlich besuchen käme, was würdest du dann tun?“ 410
„Wie sollte dein Bruder hierherkommen, wo noch nie ein Mensch hiergewesen ist?“ „Wenn er nun aber doch kommen würde, würdest du ihm dann etwas Böses antun?“ „Was sollte ich ihm Böses antun? Ich würde ihn als deinen Bruder gut empfangen und ihm auch ein Geschenk geben, es sei denn, er hält mir vor, daß ich dich geraubt habe.“ Die Schwester ging, holte den König unter den Baumwurzeln hervor und brachte ihn in die goldene Stadt in ihr Haus, wo nach zwölf Tagen der Walfisch jedesmal zwölf Tage lang wohnte. Dort wurde der König als ein Verwandter mit großer Freude empfangen; es wurden ihm schöne Speisen und Getränke aufgetischt, und das alles im Laufe von zwölf Tagen. Am Abend des zwölften Tages sagte der Walfisch zum König: „Jetzt mußt du ans Fortgehen denken, in der Nacht werde ich wieder zum Walfisch, und wenn du dann noch hier bist, muß ich dich verschlingen.“ Daraufhin gab er dem König noch drei Schuppen und sagte: „Solltest du irgendwie in Not geraten, so verbrenne diese Schuppen, und ich komme dir zu Hilfe, doch – was ich vergessen habe zu fragen: Wohin willst du eigentlich gehen, da du so weit hergekommen bist?“ Der König erzählte, daß er gekommen sei, die Schwäger zu besuchen, und dann auch noch die Königstochter des Südlandes freien wolle, die der schönste Mensch auf der Welt sein sollte. 411
„Nun ja, du kannst ja dein Glück versuchen, aber ich denke, daß daraus nichts wird. Auch ich bin einst gegangen, um sie zu freien, doch wenn ich jetzt an die Schande und die Behandlung denke, ärgere ich mich immer wieder, und du bist weder so reich noch so stark wie ich.“ Der König hörte aber nicht darauf, sondern sagte mutig: „Von mir aus soll mir der Bart abfallen oder der Unterkiefer zerbrechen, oder man soll mich wegen Unvermögens töten, doch mein Vorhaben gebe ich nicht auf, und ich kehre nicht auf halbem Wege um!“ Daraufhin nahm der Walfisch des Königs Taschentuch und sagte: „Wenn du in deiner Not keine Zeit mehr haben wirst oder nicht mehr daran denkst, die Schuppen zu verbrennen, erfahre ich es durch dieses Taschentuch: Sobald das Taschentuch in meinen Händen rot wird, werde ich wissen, daß du in großer Not bist, und werde versuchen, dir, so schnell ich kann, zu Hilfe zu kommen, auch wenn ich selbst Gefahren zu befürchten hätte.“ Die Schwester gab ihm ein Tischtuch und belehrte ihn: „Wenn du hungrig bist, so breite dieses Tischtuch aus, und sofort werden vierundzwanzig Diener zur Stelle sein, die dir die schönsten Speisen auftischen und alle deine Wünsche erfüllen werden. Es werden auch vierundzwanzig Musiker die schönsten beschwingenden Lieder spielen.“
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Der König bedankte sich für die Geschenke und verabschiedete sich von der Schwester und dem Schwager und ging. Er ging mehrere Tage geradeaus weiter und kam an ein Feuermeer. Wie sollte er hinüberkommen?! Er versuchte wohl, es zu umgehen, doch das Meer hatte keine Grenzen. Er setzte sich nieder und begann zu überlegen. Plötzlich hörte er einen sonderbaren Lärm, und als er sich umsah, bemerkte er auf einem Baum ein großes Eulennest, in dem die Jungen schrien. Die alte Eule war aber nicht zu sehen. Wer weiß, was ihnen fehlt? dachte der König. Plötzlich kam sein alter Bekannter, der Rabe, geflogen und erklärte: „Die alte Eule ist weit fort in fremdem Land und kommt vor drei Tagen nicht nach Hause, die Jungen aber werden vor Hunger sterben. Es kommt auch heute noch ein starker Hagel, der die Eulenjungen erschlagen wird, deshalb weinen sie jetzt. Du aber töte dein Pferd, gib das Fleisch den Jungen zum Fressen und decke sie mit der Pferdehaut zu; dann kann ihnen der Hagel nichts anhaben. Wenn die alte Eule nach Hause kommt und dir das vergelten will, verlange nichts anderes, als daß sie dich über das Feuermeer bringt.“ Der König tötete das Pferd, gab, wie ihm der Rabe gesagt hatte, den Eulenjungen „das Fleisch zum Fraß, die Haut zum Schutz“ und blieb selbst unter dem Baum, um zu warten, was nun werde. Es begann stark zu hageln, der Hagel zerschlug ganze Äste mit den Blättern und sogar den Erdbo413
den, doch die Eulenjungen blieben unter der Pferdehaut heil. Am dritten Tage kam die alte Eule nach Hause und jammerte schon von weitem: „Jetzt sind meine armen Kinder alle tot, ich will hin und mir wenigstens die Stelle ansehen.“ Sie kam zum Nest und sah: Vor den Jungen lag ein Haufen Fleisch, und eine Pferdehaut bedeckte sie. Sie überlegte und sprach: „Ich weiß nicht, wer das für mich getan haben könnte; ich würde es ihm mehrfach vergelten.“ „Ich!“ sagte der König und kam unter dem Baum hervor. „Sei tausendmal bedankt! Verlange jetzt als Lohn, was du nur willst, ich werde deinen Wunsch erfüllen.“ „Nichts anderes, als daß du mich über das Feuermeer trägst“, verlangte der König. „Oh, Freund! Das ist die schwerste Arbeit auf der Welt, und ich würde es niemals tun, wenn ich nicht vorher versprochen hätte, alle deine Wünsche zu erfüllen. Nun höre aber, was du dazu noch tun mußt. Hier liegen vierundzwanzig leere Tonnen. Suche im Wald erst so viele Vögel, wie in zwölf Tonnen hineingehen; die zwölf anderen Tonnen fülle mit Wasser, binde sie paarweise zusammen und lade sie mir auf den Rücken. Setze dich dann selbst auf die Tonnen und schau die ganze Zeit auf meinen Schnabel. Wenn ich beim Überfliegen des Feuermeeres zurückschaue, nimm aus der Tonne einen Vogel und stecke ihn mir in den Schnabel. Wenn ich zum zweiten Male zu414
rückschaue, nimm Wasser und gib mir zu trinken!“ Der König tat, wie ihn die Eule geheißen hatte. Es vergingen zwölf Tage, ehe die Tonnen voll Vögel, und noch zwei Tage, bis die Tonnen mit Wasser gefüllt und die Reisevorbereitungen getroffen waren. Dann begann die Reise über das Feuermeer. Obwohl die Eule mit Windesgeschwindigkeit dahinflog, dauerte die Reise doch vierundzwanzig Tage und Nächte. Sowie die Eule zurückschaute, steckte ihr der König einen Vogel in den Schnabel, und beim zweitenmal gab er Wasser, dann stiegen sie wieder höher. Wenn aber der König nach unten schaute und nicht bemerkte, daß die Eule zurückschaute, sanken sie so tief hinunter, daß die Flügel der Eule im Feuer knisterten und die Füße des Königs zu versengen begannen. Einmal stiegen sie wieder so hoch, daß die Wolken dem König die Mütze vom Kopf schoben. Zwar befahl der König der Eule zu halten, um die Mütze zu holen, doch die Eule sagte, daß die Mütze inzwischen dreihundert Meilen zurückgeblieben sei. Schließlich kamen sie mit großer Mühe über das Feuermeer, und die Eule setzte den König am Ufer ab. Der König des Nordlandes ging sofort in die Stadt des Königs des Südlandes, wo die schöne und weltberühmte Königstochter herrschte. Als der König zur Königstochter vorgelassen wurde und seine Werbung vorgebracht hatte, ließ 415
ihn die Königstochter sofort lebenslänglich ins Gefängnis stecken, denn: wie konnte es so ein Landstreicher aus dem Nordlande wagen, um sie zu freien. Im Gefängnis waren noch viele frühere Freier, alles vornehme und kräftige Männer und Königssöhne, die jeden Tag einmal Wasser und Brot zum Essen erhielten. Dem König des Nordlandes wurde ebenfalls Wasser und Brot gebracht, damit er nicht verhungere. Doch der König zerschlug das Wassergeschirr und schlug dem Essenträger die Faust mehrmals ins Gesicht und heizte ihm so ein, daß er noch lange daran dachte. Der Essenträger ging mit blauem Auge zur Königstochter und klagte, daß der neue Gefangene ein schrecklicher und böser Recke sei, der das Wassergeschirr zerschlagen und ihn selbst habe töten wollen. Die Königstochter befahl, dem König dafür drei Tage nichts zu essen zu geben. Der König aber breitete das Tischtuch aus, das ihm die älteste Schwester geschenkt hatte, und sofort waren vier prächtige königliche Diener zur Stelle, die verschiedene schöne Speisen heranschleppten, und vier Musiker spielten verschiedene schöne Stücke, so daß man Lust zum Aufspringen bekam. „Seht, so ißt unseresgleichen, aber nicht Wasser und Brot, was selbst unsere Hunde nicht haben wollen!“ sagte der König zu den Mitgefangenen und lud sie zum Essen ein. Die Königstochter hörte, daß es im Gefangenenturm einen großen Lärm gab, und schickte 416
den Essenträger nachsehen, was dort los sei. Der wagte nicht hineinzugehen, denn er fürchtete, wieder Prügel zu beziehen, und schaute nur durch einen Spalt in der Tür hinein. Und er sah: Vor dem König ein ausgebreitetes Tischtuch voll teurer Speisen, alle Gefangenen sitzen herum, essen und trinken. Prächtige Diener gehen umher, und Musiker spielen, was das Zeug hält. Er ging zurück und erzählte, daß die Sache so und so sei, der neue Gefangene habe ein Tischtuch vor sich mit noch teureren Speisen darauf, als es sie im Schloß der Königstochter je gegeben habe, und alle essen, wozu die Musiker Lieder spielen, die schöner sind als die ihrer eigenen Musiker. Sofort ließ die Königstochter fragen, ob der König das Tischtuch nicht verkaufen würde. „Wenn die Königstochter das Tischtuch kaufen will, dann soll sie selbst zu mir kommen und fragen; und sie soll von Glück reden, daß ich, der König des Nordlandes, solche wie sie überhaupt zu mir vorlasse – dich aber will ich überhaupt nicht kennen!“ antwortete der König dem Essenträger. Der Essenträger ging zurück und überbrachte die Worte des Königs. Die Königstochter ärgerte sich zwar tüchtig, doch sie hatte sehr großes Verlangen nach einem solchen Tischtuch; deshalb schickte sie den Essenträger wieder zurück und befahl ihm, den König zu bitten, zu ihr zu kommen. Damit war der König zufrieden und ging ins Schloß. 417
„Könntest du mir dieses Tischtuch verkaufen?“ fragte die Königstochter. „Ich würde es verkaufen“, entgegnete der König, „doch für Geld verkaufe ich es nicht.“ „Was willst du dafür haben?“ „Geld brauche ich nicht, davon habe ich selbst genug. Bei uns im Nordland wird gesprochen, du sollst der böseste und der schönste Mensch auf der ganzen Welt sein. Böse bist du zwar, aber ich zweifle, ob du ebenso schön bist, wie du gerühmt wirst – zeige mir also deinen nackten Hals und deine nackten Arme, dann bekommst du das Tischtuch.“ Die Königstochter schickte den König voller Wut zurück in den Gefängnisturm, doch schließlich ging sie zu ihrem klügsten Ratgeber, um sich mit ihm zu beraten. „Was ist denn dabei, zeige sie ihm doch!“ sagte der Ratgeber. „Unser Gold und Silber bleibt uns, und von dir wird er ja kein Stück wegnehmen.“ Sie ging zurück, entblößte den Hals und die Arme und sagte zum König: „Da hast du, schau!“ Der König betrachtete sie eine Weile und beroch ihren Hals und ihre Arme kreuz und quer, von vorn und von hinten, schikanierte sie auf jede Weise und zog die Zeit in die Länge. Dabei pfiff er zuweilen und versuchte die Königstochter in Wut zu bringen. Schließlich entrüstete er sich noch: „Nicht zu glauben, was die Menschen so reden! Da heißt es immer, die Königstochter des Südlandes sei der schönste Mensch auf Erden. Und da hat man’s nun: Wo ist sie die Schönste, sie hat 418
genau einen Körper wie die anderen! Ich habe immer gedacht, wenn du die Schönste bist, dann wäre dein Körper aus Gold oder wer weiß welchem anderen teuren Zeug; aber da hat man’s – alle Mädchen im Nordland haben einen solchen Körper wie du! Lohnte es sich denn für mich, freien zu kommen und heute auch noch Zeit zu vergeuden, um dich anzuschauen und nun für das Anschauen auch noch die teure Tischdecke wegzugeben?“ Die Königstochter bekam die Tischdecke und befahl, den König wieder ins Gefängnis zu bringen und ihm drei Tage lang nichts, nicht einmal eine Brotrinde zu geben. Sie selbst breitete die Tischdecke aus und fing an zu feiern, wie zuvor der König. „Da hast du es, du Lumpenkerl, hungere jetzt nur! Wie konntest du es wagen, mich so zu verhöhnen!“ beschimpfte sie den König noch hinterdrein. „Ach du Dummkopf, was hast du bloß getan!“ begannen die anderen Gefangenen zu klagen. „Du hast die Tischdecke weggegeben, nun werden wir alle Hungers sterben, oder wir müssen uns wieder von Wasser und Brot ernähren!“ „Das macht gar nichts“, sagte der König und breitete die Tischdecke aus, die ihm die mittlere Schwester geschenkt hatte. Sofort waren zwölf prächtig gekleidete Diener zur Stelle, und sie trugen die teuersten Speisen in großer Menge auf. Dabei spielten zwölf Musiker so
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schöne Weisen, daß man am liebsten das Tanzbein geschwungen hätte! „So lebt unseresgleichen, und nicht von Wasser und Brot!“ sagte der König und forderte auch die anderen zum Essen auf. Die Gefangenen waren fröhlich, aßen und sangen, die Musiker bliesen auf dem Dudelsack, daß es schallte und der Lärm bis zur Königstochter drang. Sie schickte wieder den Essenträger, um nachzuschauen, was das für Lärm sei. Der Essenträger kommt, schaut durch die Ritze: Vor dem König liegt wieder eine Tischdecke mit teuren Speisen darauf; die Gefangenen essen und singen, es sind sogar zwölf Diener und ebenso viele Musiker da. Hineinzugehen wagte er nicht. Er ging zurück zur Königstochter und berichtete ihr, die Sache sei so und so, der König habe wieder eine Tischdecke vor sich mit noch teureren Speisen darauf als auf der, die die Königstochter habe, sie säßen alle herum und ließen sich Essen und Trinken wohl bekommen; und an Dienern und Musikern seien es bereits zwölf. Die Königstochter wurde furchtbar neidisch und böse und schickte den Essenträger zum König mit der Frage, ob er ihr nicht die Tischdecke verkaufen möchte. „Soll doch diejenige fragen kommen, die die Tischdecke haben will, und nicht andere zu mir schicken, als sei sie wer weiß wer – sie, ein Nichtsnutz des Südlandes, die ich, der berühmte König des Nordlandes, nur aus Gnade mit mir re-
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den lasse“, sagte der König und jagte den Essenträger zur Tür hinaus. Der Essenträger ging ins Schloß und wiederholte dort die Worte des Königs. Die Königstochter geriet in maßlose Wut; doch ihr Neid, daß der König eine bessere Tischdecke hatte als sie, ließ sie nicht mehr los, und er kühlte ihren Ärger etwas ab. So ließ sie den König bitten, zu ihr aufs Schloß zu kommen. Nun werde ich dich aber ordentlich zum Narren halten, dachte der König und ging ins Schloß. „Höre mal, du sollst da noch ein anderes, viel besseres Tischtuch haben als das vorherige?“ fragte ihn die Königstochter. „Nun, ich werde doch dir nicht das bessere geben!“ „Würdest du mir nicht das bessere ebenfalls verkaufen?“ „Ich würde es schon verkaufen, wenn wir uns einigten; doch für Geld verkaufe ich es nicht.“ „Was willst du dann dafür haben?“ „Öffne oben dein Hemd und zeige mir deinen Körper von der Brust an“, verlangte der König. „Wen narrst du, bin ich dein Hund?“ schrie ihn die Königstochter mit wütender Stimme an. „Ist der Preis zu hoch, dann handle nicht, das Tischtuch kann ich auch selbst gebrauchen – und ich zweifle, ob dein Gaumen den Geschmack so teurer Speisen überhaupt zu schätzen weiß!“ Die Königstochter überlegte und ging wieder zum klügsten Ratgeber, um ihn um Rat zu fragen.
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„Was ist denn dabei, zeige dich ihm doch! Die anderen sehen es ja nicht, und er nimmt auch kein Stück von dir weg; unser Reichtum aber bleibt unangetastet“, sagte der Ratgeber. Sie ging zurück, zog das Hemd bis zur Brust herunter und ließ den König schauen. Der König ging um sie herum, schaute die Königstochter von vorn und von hinten an, pfiff dazwischen und zog die Zeit auf jede Weise in die Länge. Schließlich begann er sich noch zu entrüsten: „Da soll man glauben, was die Menschen so reden! Es wird immer behauptet, daß die Königstochter des Südlandes die Schönste überhaupt sei, dabei ist sie gar nicht schön! Ich habe nun geglaubt, dein Körper wäre aus Gold oder einem anderen teuren Zeug, aber da haben wir’s – genau solch ein Körper wie bei anderen Mädchen! Ein schöner Grund, eine so weite Reise zu machen, um zu freien und heute zum zweiten Mal beim Anschauen so viel Zeit zu vergeuden – und nun auch noch die gute Tischdecke loszuwerden!“ Sowie die Königstochter die Tischdecke in den Händen hielt, befahl sie, den König wieder ins Gefängnis zu bringen und ihm sechs Tage lang kein Stück Brot und kein Wasser zu geben, weil er es gewagt hatte, die Königstochter so zu verhöhnen. Sie selbst breitete das Tischtuch aus und begann mit ihren hohen Herren zu feiern wie vorher der König. „Oh, du Dummkopf, was hast du getan!“ klagten die anderen Gefangenen. „Jetzt hast du auch diese Tischdecke weggegeben, was fangen wir 422
nun an? Wer weiß, ob man uns noch Brot und Wasser bringt, sonst müssen wir Hungers sterben!“ „Macht nichts, noch sterben wir nicht!“ lachte der König und breitete das von der jüngsten Schwester geschenkte Tischtuch aus. Plötzlich waren vierundzwanzig prächtig gekleidete königliche Diener zur Stelle, die auf die Tischdecke unzählige Mengen verschiedener teurer Speisen schleppten, dabei spielten vierundzwanzig Musiker so schöne Stücke, daß die Beine durchaus nicht stillhalten wollten. „So speist unseresgleichen, die großen Männer und die berühmten Könige. Und sie sterben nicht vor Hunger, wie ihr es befürchtet und wie es die hochnäsige Königstochter gern gesehen hätte“, sagte der König und bat auch alle anderen Gefangenen zum Essen. So aßen und tranken sie, jubelten und sangen wie bei einem Festschmaus und wußten nicht, was sie noch alles in ihrer übermütigen Laune anstellen sollten. Die Königstochter hörte erneut den Lärm und schickte den Essenträger nachsehen, was denn bei den Verrückten wieder los sei. Der Essenträger kam und schaute durch die Ritze: Vor dem König ist ein neues Tischtuch ausgebreitet, und noch schönere Speisen stehen darauf. Die Gefangenen essen und trinken und singen Lieder wie bei einer Hochzeit; vierundzwanzig Musiker spielen ihre Lieder!
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Er kehrte zur Königstochter zurück und berichtete, so und so sei die Sache, die Gefangenen hätten eine neue Tischdecke mit noch besseren Speisen darauf als auf den zwei ersten, welche die Königstochter bekommen habe, und an Dienern seien es schon vierundzwanzig und ebenso viele Musiker. „Wo, zum Teufel, kriegt er alle die Tischtücher her, und wie viele hat er davon? Wie soll ich mit diesem Quälgeist fertig werden?“ schimpfte und fluchte die Königstochter und schickte den Essenträger nochmals mit der Frage, ob er ihr nicht auch diese Tischdecke verkaufen würde. „Scher dich zum Teufel oder kriech meinetwegen der Katze unter den Schwanz; aber komm nicht noch einmal her, mich zu stören!“ fuhr der König den Essenträger an. „Wenn bei dieser lächerlichen Königstochter der Wams so leer ist und sie nirgends mehr ein Stückchen Brot findet, dann soll sie doch selbst herkommen! Ich werde ihr etwas zu essen geben, und sie soll von Glück reden, wenn ich ihr nicht die Tür weise, sie soll nur nicht fortwährend andere schicken, als sei sie selbst wer weiß wer!“ Der Essenträger wiederholte der Königstochter alle Worte des Königs. Ihre Wut war größer als sie selbst, doch schließlich bezähmte sie sich etwas und ließ den König wieder zu sich bitten. Der König war auch nicht ungefällig und ging. „Höre, du sollst da noch ein drittes und bestes Tischtuch haben?“ 424
„Sollte ich etwa das beste und letzte dir geben?“ „Verkaufst du es denn auf keinen Fall?“ „Für Geld niemals.“ „Was willst du dann dafür haben?“ „Eine Nacht bei dir schlafen.“ „Bist du denn ganz verrückt geworden?“ „Was willst du also mit einem Verrückten handeln? Der Verrückte hat Bessere, denen er das Tischtuch auch ohne Bezahlung geben kann.“ Die Königstochter dachte nach und ging dann wieder zum Ratgeber, um ihn um Rat zu fragen. „Was ist denn dabei, schlaf doch mit ihm“, sagte der Ratgeber. „Er wird dir ja kein Stück wegnehmen; sollte er dir aber zu nahe treten, dann rufe, es werden die Soldaten schon kommen.“ Die Königstochter kam zurück und sagte dem König, daß sie mit dem Handel einverstanden sei. Am Abend kam der König und legte sich ins Bett der Königstochter schlafen. Nach einiger Zeit kam auch die Königstochter und drehte das Gesicht zum König, doch der König kehrte ihr den Rücken zu. Bald darauf schob sich die Königstochter wieder auf die andere Seite des Königs, seinem Gesicht zu. „An deinem Körper ist nichts Lobenswertes, deine Taten sind noch schlimmer“, schimpfte der König. „Nun willst du wohl, daß ich dich in die Arme nehme, obwohl du es gar nicht wert bist. Du müßtest von Glück reden, daß ich dich hinter meinem Rücken dulde, und du drängst dich immer zum Gesicht!“ 425
So beschimpfte sie der König auf jede Weise und drehte ihr jedesmal, wenn die Königstochter nach vorn kam, den Rücken zu. Schließlich fing die Königstochter an zu bitten, der König möchte ihr die alte Schuld verzeihen, sie in die Arme und zu seiner Frau nehmen, sie wolle die beste Frau der Welt sein. Der König sah, daß er schließlich doch gesiegt hatte, und nahm die Königstochter in seine Arme. Am nächsten Morgen ließen sie sich trauen und hielten eine große und prächtige Hochzeit. Alle Gefangenen wurden freigelassen und zur Hochzeit eingeladen. Zu essen und zu trinken gab es auf den drei Tischdecken genug, und es blieb noch viel übrig. Nach der Hochzeit gab die Königstochter dem König sieben Schlüssel und sagte: „Herrsche jetzt über das Südland genauso wie über das Nordland, ich bin nur noch deine Frau. Diese Schlüssel öffnen hier alle Türen im Schloß; doch hüte dich davor, die mit sieben Siegeln verschlossene Tür zu öffnen, dann gibt es ein großes Unglück.“ Der König lebte und herrschte mit seiner jungen Frau zufrieden und glücklich, denn bei der Frau war von der früheren Bosheit nichts übriggeblieben. So verging einige Zeit. Der König war jedoch sehr begierig zu erfahren, was die mit sieben Siegeln verschlossene Kammer barg. Dort aber wurde ein sehr böser Hexer gefangengehalten, der ebenfalls einmal gekommen war, um die Königstochter zu freien. Die Königstochter war jedoch so mächtig, daß sie den Hexer 426
hatte einschließen können. Sowie der König die Tür einen Spalt breit geöffnet und hineingeschaut hatte, schlüpfte der Hexer heraus und befahl dem König, ihm ein Glas Wasser zu bringen. Der König brachte es, der Hexer trank das Wasser aus und sagte: „Einmal wird dir vergeben werden“, und er befahl, noch mehr Wasser zu bringen. Der König brachte das zweite Glas Wasser, der Hexer trank es aus und sagte: „Zweimal wird dir vergeben werden“, und er befahl, ein drittes Glas Wasser zu bringen. Der König brachte es, der Hexer trank aus und sagte: „Jetzt wird dir dreimal vergeben werden, aber begehe keine vierte Schuld, ich habe wieder meine frühere Macht.“ Der König lief auf den Hof, die Soldaten zu Hilfe zu rufen, um den Hexer wieder einzusperren. Doch der war inzwischen schon weg und hatte die Königstochter mitgenommen. Alles Weinen und Suchen war erfolglos, der König fand nirgends seine Frau. Schließlich kam der bekannte schwarze Vogel und berichtete dem König, daß der Hexer seine Frau weit, weit in einem Berge gefangen halte. Er wies auch den Weg, der dahin führte, sagte jedoch, daß an eine Rettung gar nicht zu denken sei. Der Hexer halte sie als seine Frau, und er halte ein fliegendes Pferd, das Tag und Nacht in jede Richtung schaue und die Königstochter bewache, damit ihr keiner zu nahe komme.
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„Es komme, was da kommt, Tod oder Leben, ich werde sie doch zu retten versuchen, soweit es in meinen Kräften steht“, sagte der König und machte sich am selben Tag noch auf den Weg, in die Richtung, die ihm der schwarze Vogel gewiesen hatte. Nach sieben Wochen gelangte er in die Nähe des Berges, versteckte sich dort und schickte den schwarzen Vogel, heimlich die Kunde zu bringen, daß er gekommen sei, um die Königstochter zu retten und zu fragen, wann sie die Zeit für die Flucht für günstig halte. Der schwarze Vogel flog oft hinüber und herüber und trug beiden heimliche Botschaften zu. Sodann führte er den König ganz in die Nähe der Königstochter in ein Versteck und befahl ihm zu warten, bis ihr die Flucht irgendwie gelänge, dann würde sie sofort ins Versteck kommen, und sie sollten versuchen, zusammen nach Hause zu gehen. Einmal war dann der günstige Augenblick gekommen, als der Hexer mit seinem fliegenden Pferd aus dem Haus geritten war und die Königstochter nach den Weisungen des schwarzen Vogels in dieser Zeit zu ihrem Mann gelangen konnte. Zusammen begaben sie sich auf die Flucht nach Hause. Leider waren sie noch nicht weit gekommen, als der Hexer mit seinem Pferd nachgeflogen kam, dem König die Frau entriß und dabei sagte: „Einmal wird dir verziehen“, und die Königstochter wieder wegbrachte. 428
Der König gab aber nicht auf, paßte wieder die Gelegenheit ab und entführte dem Hexer seine Frau zum zweiten und zum dritten Mal. Doch jedesmal jagte der Hexer hinterher, holte die Königstochter zurück und sagte: „Dieses Mal wird dir verziehen.“ Als aber der König zum vierten Mal die Frau wegbrachte und der Hexer ihn unterwegs einholte, sagte er zum König, wie er es versprochen hatte, als er im Schloß der Königstochter Wasser getrunken hatte: „Jetzt wird dir nicht mehr verziehen“, und er zerriß den König, warf die Stücke in alle vier Winde und brachte die Königstochter wieder fort. Der Löwe, der Adler und der Walfisch sahen, daß die eingetauschten Taschentücher rot wurden, begriffen sofort, wie die Dinge standen, und gingen auf die Suche nach dem Leichnam des Königs aus dem Nordland. Der Löwe durchsuchte die Ebene, der Adler die Berge und der Walfisch das Wasser nach den Stücken des Leichnams. Sie fanden sie, trugen sie zusammen, und der schwarze Vogel flog und holte aus Adams Brunnen in zwei Lederbeuteln zwei Arten von Wasser, wovon das eine wieder heil und das andere lebendig machte. Der Adler zerriß zuerst zur Probe den schwarzen Vogel, betropfte die Stücke mit dem heilenden Wasser, und sofort wuchsen die Stücke zusammen, als wären sie nie zerrissen gewesen. Dann tropfte er das wiederbelebende Wasser darauf, und – o Wunder – der schwarze Vogel erwachte wieder zum Leben. 429
Nun betropften sie die Stücke des Königs des Nordlandes genauso mit dem heilenden Wasser, und aus den Stücken wurde ein ganzer Körper. Dann begossen sie den Körper mit dem wiederbelebenden Wasser, und der König erwachte zum Leben. „Oh, war das ein Schlaf! Ich war eingeschlafen, und der Hexer hat wieder meine Frau gestohlen!“ sagte der König und stand auf. Die Schwäger erzählten ihm, wie sich die Sache verhielt, wie sie, als die eingetauschten Taschentücher rot wurden, ihn überall gesucht und die Stücke in allen vier Winden gefunden, wie sie ihn wieder heilgemacht und zum Leben erweckt hatten. Nun erinnerte sich der König auch seiner Geschicke und erzählte alles von Anfang bis Ende. Die Schwäger staunten, daß er die Königstochter des Südlandes habe zur Frau gewinnen können, doch sie klagten auch darüber, daß sie gegen den mächtigen und schrecklichen Hexer machtlos seien. Er sterbe niemals, auch wenn man ihn tausendmal erschlage, denn seine Seele sei an einem geheimen Ort versteckt. Wenn man diese Stelle irgendwie finden würde, dann könnte man den Hexer sofort töten. Der König sagte, er werde so lange versuchen, bis es ihm gelänge, den Hexer zu töten und die Frau zurückzubekommen. Er verabschiedete sich und ging davon, um die Seele des Hexers zu suchen. Er suchte und suchte, suchte überall, kroch durch Moore, durchforschte alle abseits liegenden 430
Orte, steckte die Nase in jeden Winkel der Welt – was nicht zu finden war, war nicht zu finden. Schließlich überfiel ihn großer Hunger, doch zu essen gab es nichts. In seiner Not fing er an Fliegen zu fangen, um sie zu essen. Die Fliegen aber baten: „Töte uns nicht, wir werden dir in der Not helfen!“ Er ließ sie leben und schleppte sich mit Mühe ein Stück weiter. Der Hunger läßt nicht mit sich spaßen – er begann Bremsen zu fangen. Die Bremsen baten: „Töte uns nicht, wir werden dir in der Not helfen!“ Er ließ sie leben und schleppte sich noch etwas weiter, der Hunger machte ihn ganz schwach. Er kam an einen Fluß und begann Krebse zu fangen. Die Krebse baten ihrerseits: „Fang uns nicht, wir werden dir in der Not helfen!“ Er erfüllte auch ihre Bitte, setzte sich nieder und erwartete den Tod. Zum Glück bemerkte er im Wald ein Haus und kroch dort hin. Im Hause saß eine Alte und fragte mit schrecklicher Stimme: „Wer bist du, was willst du?“ „Ich bin ein hungriger Wanderer und möchte essen“, antwortete der König. „Zu essen kannst du bekommen, doch nicht umsonst; du sollst mir drei Tage die Pferde hüten. Schaffst du es, die Pferde zu bändigen und jeden Abend nach Hause zu treiben, bekommst du zum Lohn ein Pferd – welches du willst. Schaffst du es nicht, gehört dein Kopf mir.“ Dar König war mit dem Handel einverstanden, bekam zu essen und legte sich schlafen. Die Alte 431
aber war die Frau des Teufels, und die zwölf Pferde waren ihre zwölf Töchter, die kein Mensch bändigen konnte. Auf diese Weise hatte sie schon viele Seelen gewonnen. Am Morgen ging der König mit den Pferden auf die Weide. Sowie die Pferde aus dem Tor heraus waren, hoben sie die Schwänze in die Höhe und jagten wie der Wind durch die Weide. Zwar lief ihnen der König hinterher und suchte sie fast bis zum Abend, konnte aber kein einziges finden. Schließlich setzte er sich hin, weinte und sprach vor sich hin: „Was habe ich von all meiner Ehre und meiner Macht, ich muß nun doch heute sterben!“ „Sei nur ruhig, wir werden dir schon helfen!“ riefen die Fliegen. Als der Tag zur Neige ging, kamen die Pferde, von Schmerzen geplagt, das eine aus der einen, das andere aus der anderen Richtung, und liefen alle nach Hause, direkt in den Stall. Der König kam hinterher und schloß hinter ihnen die Stalltür. Die Alte schien sehr böse zu sein, doch der König achtete nicht darauf, aß sich satt und legte sich schlafen. In der Nacht wachte er auf und hörte, wie die Alte im Stall die Pferde prügelte und wütend schimpfte: „Ihr ungezogenen Töchter, ihr Nichtsnutze, hab’ ich euch das gelehrt? Ihr lauft nach Hause“, und was sie da noch anderes schrie. „Liebes Mütterchen“, flehten die Töchter sie an, „wohin sollten wir denn gehen, die Fliegen waren heute besonders bösartig, sie ließen uns nirgends 432
in Frieden, wir mußten in unserer Not nach Hause kommen.“ „Wenn es auf der offenen Fläche keine Ruhe gab, dann solltet ihr in den Wald gehen, aber nicht nach Hause kommen“, belehrte sie die Alte, gab den Töchtern noch ein paar tüchtige Hiebe und ging ins Zimmer. Nun begriff der König, wer die Alte mit ihren Pferden war, machte sich aber nichts daraus, drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Am Morgen, als sie auf die Weide getrieben wurden, jagten die Pferde sofort über die Lichtung in den Wald und verschwanden dort wie am vorigen Tag. Zwar lief der König hinterher und suchte sie fast bis zum Abend, fand aber kein einziges. Schließlich setzte sich der König unter einen Baum, weinte und beklagte sich selbst: „Was hatte das für einen Nutzen, daß die Fliegen sie gestern von der Lichtung nach Hause getrieben haben, heute kann ich sie im Walde nicht fangen und muß sterben!“ „Macht nichts, wir werden dir schon helfen“, sagten die Bremsen. Als der Tag zur Neige ging, liefen die Pferde aus dem Walde heraus und jagten nach Hause, bis sie im Stall waren, genau wie gestern. Der König kam hinterher und schloß die Stalltür. Die Alte war furchtbar wütend; doch der König beachtete es nicht, aß zu Abend und legte sich hin.
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In der Nacht wachte er auf und hörte, wie die Alte, wie am vergangenen Tag, die Töchter wieder verprügelte und beschimpfte, warum sie am Abend nach Hause gelaufen seien. „Liebes Mütterchen, wohin sollten wir denn gehen“, flehten die Töchter, „wir liefen zwar von der Lichtung den Fliegen davon in den Wald, doch dort kamen die Bremsen; sie waren furchtbar bösartig und gaben uns nirgends Ruhe, in der Not liefen wir schließlich nach Hause!“ „Wenn ihr schon nirgends einen Platz fandet, so hättet ihr ins Wasser gehen sollen, da können die Bremsen nicht hin, aber nicht nach Hause laufen!“ schimpfte die Alte, versetzte den Töchtern mit der Peitsche noch einige tüchtige Schläge und ging in die Stube. Am folgenden Morgen ging der König wieder mit den Pferden auf die Weide; die Pferde aber jagten über die Lichtung und durch den Wald bis zum Fluß. Der König lief hinterher, suchte sie fast bis zum Abend, fand aber kein einziges. Schließlich setzte er sich am Flußufer nieder, weinte und klagte: „Was nützt es mir, daß an zwei Tagen die Pferde nach Hause gejagt wurden, heute muß ich dennoch sterben!“ „Macht nichts, wir werden dir schon helfen“, sagten die Krebse. Am Abend kamen die Pferde aus dem Wasser heraus und jagten dem Hause zu, bis sie in einem Stallwinkel waren.
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Der König kam hinterher und sagte zur Alten: „Drei Tage habe ich gedient und die Pferde ordentlich nach Hause gebracht, seid Ihr zufrieden?“ Die Alte barst beinahe vor Wut, bezähmte sich aber dann, machte ein gutes Menschengesicht und entgegnete: „Ruhig, ruhig, Kindchen, ich will ja nicht zuviel haben! Morgen früh gebe ich dir den vereinbarten Lohn, dann kannst du gehen, wohin du willst.“ Der König aß sich satt und legte sich schlafen. In der Nacht hörte er wieder, wie die Alte die Töchter unbändig züchtigte und schlug, weil sie nach Hause gekommen waren. „Liebes Mütterchen, wohin sollten wir gehen“, flehten die Töchter schluchzend, „auf der Lichtung gab es keine Ruhe und auch im Walde nicht, Fliegen und Bremsen stachen überall; wir flohen in den Fluß, dort aber war es noch schlimmer: Die Krebse wollten uns mit ihren Scheren die Seele herausquetschen, in der Todesangst liefen wir schließlich nach Hause.“ Die Alte aber schlug ununterbrochen auf die Töchter ein, bis sie schließlich selbst müde wurde, dann ging sie in die Stube. Der Freund Rabe kam wieder zum König und belehrte ihn: „Morgen früh, wenn die Alte dich ein Pferd aussuchen läßt, nimm keins, es sind die Töchter der Alten, wie du weißt. Sobald du dich auf den Rücken eines Pferdes setzt, zermalmt es dich zu Häcksel und Brei. Du mußt widersprechen, sag ihr, du seist eines so hohen Lohnes nicht wert, und erbitte dir den Sohn der Kröte, der die 435
Mutter saugt und sich hinter sieben Schlössern aufhält. Die Kröte ist die Mutter des fliegenden Hengstes des Hexers, und der Sohn ist sein Bruder. Auf dem Rücken dieses Sohnes kannst du gegen den großen Hexer ziehen. Zuerst wird ihn die Alte dir nicht geben wollen, wenn du aber darauf bestehst, wird sie schon nachgeben.“ Am Morgen hieß die Alte den König sich ein Pferd zum Lohn aussuchen, doch der König sagte, daß für drei Tage Dienst dieser Lohn zu hoch sei, und erbat sich den Sohn der Kröte, der die Mutter saugt und hinter sieben Schlössern sitzt. Zwar lehnte sich die Alte dagegen auf, sagte „Was hast du von ihm“ und „Was fängst du mit ihm an“; doch schließlich gab sie ihn, und der König ging fort. Unterwegs sagte der Krötensohn zum König: „Ich weiß wohl, warum du mich für dich erbeten hast. Du willst auf meinem Rücken gegen den großen Hexer ziehen, der deine Frau gefangenhält und auf meinem älteren Bruder reitet. Jetzt laß mich aber noch drei Tage zu meiner Mutter, um zu saugen und kräftig zu werden. Ich bin noch sehr jung.“ Der König ließ ihn gehen. Nach drei Tagen kam der Sohn der Kröte zurück und bat um weitere drei Tage, damit er sich von der Mutter belehren lassen könne. Der König ließ ihn wieder ziehen. Dann bat er nochmals um drei Tage, um sich verzauberte Waffen von der Mutter zu holen, mit denen man alle besiegen kann. 436
Der König ließ ihn abermals gehen. Als der Sohn der Kröte zum dritten Mal zurückkam, war er ein prächtiger fliegender Hengst und trug Waffen auf dem Rücken. Der König bewaffnete sich, sprang ihm auf den Rücken und jagte davon, um mit dem großen Hexer zu kämpfen. „Oh, oh – du scheinst ja ein starker Mann zu sein, da du dich mit mir auf dem Rücken meines Hengstbruders schlagen willst, bisher warst du doch nur heimlich gekommen“, spottete der Hexer und jagte sein Pferd auf den König. Dem König gelang es, zur Seite auszuweichen, und dann schlug er dem Hexer mit einem Hieb den Kopf ab. Dem Hexer wuchs sofort ein zweiter Kopf nach, und er jagte dem König hinterher. Nur mit Mühe gelang es dem König, sich auf seinem fliegenden Hengst vor dem Hexer zu verstecken. In der Nacht schickte er den Raben, damit dieser der Frau heimlich sagte, sie solle versuchen, sich mit dem Hexer gut zu stellen, um dann von ihm herauszubekommen, wo sich seine Seele befinde. Die Sache klappte auch. Der Königstochter gelang es, den Hexer so weit zu überlisten, daß er anfing ihr zu glauben und ihr in der dritten Nacht sagte, wo seine Seele sei: „Meine Seele ist in einem Ei, das Ei ist in einer Ente, die Ente fliegt über dem Meer, und dort kann sie niemand fangen, nur ich selbst“, berichtete der Hexer.
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Der Rabe überbrachte es dem König, der König versengte eine Feder und rief seinen Schwager, den Adler, zu Hilfe. Der Adler flog hin und fing die Ente, doch die Ente warf das Ei ins Meer. Der König verbrannte Schuppen und rief den Walfisch zu Hilfe. Der Walfisch kam mit seinem ganzen Heer zu Hilfe, suchte, fand das Ei im Meer und gab es dem König. Der König ging hin und kroch heimlich unter das Bett des Hexers. Dort fing er an das Ei zu drücken. Der Hexer begann im Bett zu stöhnen. Der König drückte stärker, der Hexer stöhnte auch stärker. Der König zerdrückte das Ei, und der Hexer war tot. Jetzt bekam der König seine Frau zurück und setzte sie auf den Rücken seines Hengstes; selbst setzte er sich auf den Rücken des Hengstes vom Hexer, und dann ging es nach Hause. Auch den ganzen Reichtum des Hexers nahm sich der König mit. Davon gab es so viel, daß der Walfisch sieben Jahre an dem zu schleppen hatte, was der Löwe und der Adler an das Meeresufer brachten. Der König herrschte glücklich über das Nord- und das Südland und lebte mit seiner jungen und schönen Frau bis zu seiner Todesstunde.
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73 Die Wohltaten des heiligen Baumes Es lebte einmal in alten Zeiten ein armer Häusler – einige Werst von einem Dorf entfernt – in seinem kleinen alten Häuschen, das in einer Ebene am Rande eines großen Sandberges stand. Der Mann lebte freilich nicht ganz allein in seinem Haus, so wie ein trockener Baum zwischen frischen Bäumen. Er hatte auch eine Frau bei sich, die ihn wärmte. Da aber diese Wärme allein nicht ausreichte, mußte jeden Abend auch der Ofen geheizt und dazu das Holz besorgt werden. Der Wald lag jedoch weitab, und so mußte der Mann das Holz und das Reisig ein ganzes Stück auf dem Rücken heimtragen. Eines Tages, als draußen ein starker Sturm tobte und die Bäume brach, Sand und Erde aufwirbelte, sehr viele Dächer von den Häusern riß, mußte der Mann wieder in den Wald gehen, um Holz zu holen. Er nahm ein altes Beil auf den Rücken, faßte sich ein Herz und ging festen Schrittes auf den Hof hinaus. „Himmel, Herrgott, Sapperment! Bei solch einem Wetter gehe ich nicht erst in den Wald, statt dessen werde ich heute auf die Weide und zu der alten heiligen Eiche gehen. Soll der Baum heilig und ich sündig sein, was kümmert es mich! Ich 439
werde hingehen und den Baum einfach umhauen!“ So sprach der Mann und machte sich auf den Weg zur Koppel, wo die heilige Eiche stand. Dort ging er einige Male pfeifend um den Baum herum und betrachtete ihn eingehend vom Stamm bis zur Krone. Dann warf er die Mütze auf die Erde, hob das Beil, und es sauste ein Schlag auf den Baum, daß es nur so krachte. Plötzlich hob sich der Erdboden, und ein graues Männchen trat unter den Wurzeln des Baumes hervor an den Mann heran. „Halt!“ befahl das graue Männchen, fragte aber dann etwas freundlicher: „Sag mal, Mann, welche Not hat dich heute gezwungen, Hand an diesen heiligen Baum zu legen?“ „Nöte und Mängel habe ich genug, doch der Mangel an Holz für den Ofen trieb mich heute bei diesem bösen Wetter hierher zu der alten Eiche.“ So antwortete der Mann. „Laß diesen heiligen Baum in Ruhe, geh nach Hause, dort wirst du einen sechsfachen Holzstoß draußen vor dem Schuppen finden“, sagte der graue Alte und schlüpfte zurück unter die Baumwurzeln. Der Mann ging daraufhin nach Hause und mußte sich sehr wundern, daß ihm der Alte die Wahrheit gesagt hatte, denn die Holzstöße waren höher als die Zaunpfähle. Als er seiner Frau von der Sache erzählt hatte, sagte diese: „Du Narr und Dummkopf, hast diesen alten Graubart so leicht davongehen lassen. Du 440
hättest ihn doch viel stärker bedrängen müssen, damit er dir viele Reichtümer verspricht. Geh schnell zurück und drohe, den Baum zu fällen. Vielleicht kommt er wieder, dann verlange reichlich von allem!“ Der Mann nahm wieder sein Beil, ging auf die Koppel zu dem heiligen Baum, schlug gegen den Stamm, und der alte Mann war sofort zur Stelle und fragte laut mit krächzender Stimme: „Was willst du, du museliger Specht, was klopfst du wieder hier am Baum? Brauchst du immer noch Holz?“ „Holz brauche ich gerade nicht“, antwortete der Mann, „doch ein neues Haus brauche ich, und es soll viel größer sein als das alte. Auch benötige ich eine neue Scheune mit großen Verschlägen, gefüllt mit Korn. Und so manches andere noch, was ein Bauer gebrauchen könnte, verlange ich dafür, daß ich den heiligen Baum wachsen lasse.“ „Das alles erhältst du reichlich. Gehe nach Hause und sieh nach, alles ist schon fertig“, sagte der graue Alte und verschwand wieder unter den Baumwurzeln. Der Mann ging nach Hause – und siehe das Wunder! Es stand ein neues Haus, die Scheune groß und geräumig, die Verschläge mit Korn gefüllt, an Hausrat war alles da, sogar die Frau sah viel schöner und jünger aus. Der Mann freute sich sehr. Woran sollte es ihm jetzt noch fehlen, um als Häusler zu leben? Nachdem der Mann einige Jahre so gelebt hatte, erwachte in seinem Herzen der Ehrgeiz, und er 441
wollte zum Richter über die Dorfbewohner werden. Wieder nahm er sein Beil zur Hand, ging zum Baum und drohte, ihn zu fällen. Der graue Alte trat wieder vor ihn hin und fragte: „Was fehlt dir nun noch?“ „Nichts, ich möchte nur Dorfrichter werden; und wenn du mir nicht zu diesem Amt verhilfst, werde ich den heiligen Baum fällen, daß es über Land und Wald nur so widerhallt“, sprach der Häusler laut zu dem grauen Alten. „Nun, bald sollst du auch Dorfrichter werden. Gehe nur ruhig nach Hause“, sprach der graue Alte. Der Mann ging nach Hause, und am nächsten Tag traten die Dörfler im Gemeindehaus zusammen und wählten den Häusler zum Richter. Nun begannen für den Mann goldene Tage mit lustigen und glücklichen Abendstunden. Alle Dorfbewohner mußten seine Befehle ausführen und sich vor seinen Strafen wie vor dem Feuer fürchten. Am Tage wurde dem Mann ein rechtes Maß an Ehre und Glück zuteil, am Abend verbrachte er die Zeit in der Wirtsstube bei Wein und Bier, wo er fortwährend geküßt wurde und jedermann ihn im Hellen wie im Dunklen kannte. So lebte der Mann in seinem ehrlichen Amt einige Jahre fröhlich und zufrieden. Schließlich aber ereignete sich doch eine dumme Geschichte. Ein Gutsherr verlangte, daß der Richter die Dorfbewohner in einer von ihm vorgesehenen Richtung einen neuen Weg bauen lasse. Der Richter jedoch glaubte mächtig genug zu sein 442
und ließ nach eigenem Willen einen sehr gewundenen und krummen Weg bauen. Als der Gutsherr von der Sache erfuhr, wurde er sehr böse, ließ den Richter aufs Gut kommen und ihm dort für seinen Ungehorsam zur Belehrung dreißig Streiche auf sein Hinterteil verabfolgen. „Tausend Teufel, hundert Gehörnte!“ jammerte der Mann und ging nach Hause. Sein erstes Werk war, sofort das Beil zu nehmen und zum heiligen Baum zu gehen. Nachdem der Mann dem Baum zwei Schläge versetzt hatte, steckte das graue Männchen den Kopf aus der Erde heraus und fragte: „Was hat dich nun wieder zum Baum geführt?“ „Zum Teufel mit dem Amt des Richters und all den kleinen mühseligen Diensten und Ämtern, bei denen nichts in die eigene Tasche abfällt und wo der Mensch für nichts und wieder nichts verprügelt wird“, sagte der Mann und fügte hinzu: „Ich will jetzt Gutsherr werden. Deshalb kam ich hierher. Wenn du mir diese Ehre versprechen kannst, laß ich den Baum wachsen; wenn nicht, muß er unter den Schlägen meiner Axt fallen, daß die Splitter gegen den Himmel fliegen und die Äste stöhnend zur Erde sausen!“ „Geh hin in Ruhe, dein Wille wird erfüllt werden“, sagte das graue Männchen und zog den Kopf wieder unter die Erde zurück. Leichten und schnellen Schrittes und mit frohem Herzen ging der Mann nach Hause, und sein Herz klopfte wie ein Kalbsschwänzchen und wollte vor Freude aus der Brust herausspringen, als er 443
an der Stelle seines Bauernhauses ein schönes Gutshaus sah. Sobald er hineinging – was für ein froher Augenblick! Alle Stuben und Säle waren voll mit herrschaftlichen Sachen und prächtigen Kleidern, es waren ihrer so viele, daß die Augen des Mannes wie trunken von all dem Bunten waren. Plötzlich ging die Stubentür auf, und seine Frau kam heraus, goldene Schuhe an den Füßen, ein schönes Seidenkleid an, eine Rosenhaube auf dem Kopf, einen silbernen Becher in der Hand, um dem Mann ein paar Schluck teuren Weins zu kosten zu geben. Der Mann aber schlang ihn gierig hinunter, dann drehte er sich vor dem großen Spiegel, der vom Fußboden bis zur Zimmerdecke reichte. Danach nahm er die Frau bei der Hand und lustwandelte mit ihr in einem großen Saal, wo sie die Zeit mit dem Betrachten der schönen Sachen verbrachten und das blühende Glück und das Leben lobten. So floß das Leben einige Jahre sehr angenehm dahin. Der Mann besuchte andere Gutsherren, und diese besuchten ihn. Doch allmählich paßte ihm das Leben eines Gutsherrn nicht mehr, er wollte General werden und viele Orden an seiner Brust tragen. Deshalb nahm er das Beil zur Hand und ging zum Baum, um ihn zu fällen. Der graue Alte steckte den Kopf aus den Baumwurzeln heraus und fragte den Mann nach seinem Wunsch, den ihm dieser dann auch sogleich verriet.
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Der Baumgeist sagte, nachdem er ihn angehört hatte: „Diese Ehre kann ich dir nicht umsonst geben, du mußt für ein Jahr zum König dienen gehen, dann hast du bald Orden an der Brust. Ich will dir das Naß aus der Weisheitsquelle über den Kopf gießen, damit du alles sehr schnell erlernst.“ Daraufhin verschwand der graue Alte und kam bald zurück mit einer goldenen Schale in der Hand, die silberfarbenes Naß enthielt, das er dem Mann mit folgenden Worten über den Kopf goß: „Viel Weisheit tue ich in deinen Kopf, damit du ehrenvolle und glückliche Tage siehst, im Königreich berühmt wirst und Orden an der Brust trägst! Dich werden alle Dörfler verehren, und die Gemeinden werden kommen, um dich zu sehen!“ Sowie der graue Alte dem Mann das silberne Naß über den Kopf gegossen und das letzte Wort gesprochen hatte, verschwand er wieder im Schoße der schwarzen Erde unter den Wurzeln und aus den Augen des Mannes, und der Mann ging mit großen Schritten und frohen Herzens nach Hause. Nachdem er die Nacht geschlafen hatte, machte er sich am nächsten Tag auf den Weg und ging in die Stadt des Königs, wo ihn der König freundlich in seinen Dienst aufnahm. Und da sein Kopf voller Weisheit war, erhielt er in kurzer Zeit einen Orden nach dem andern, und der Name des Mannes wurde sehr berühmt. Als das Jahr vorüber war, kehrte der Mann mit großen Ehren und großer Macht auf sein Gut zurück. Dort versammelten sich nach den Worten des grauen Alten alle Dorfbewohner, um ihn zu 445
ehren; und die Gemeinden kamen, um sein Ehrenkleid zu sehen. Nachdem der Mann einige Jahre so weitergelebt hatte, erwachte in seinem Herzen wieder der Ehrgeiz. Er begann erneut zu überlegen und neue, noch angenehmere Pläne zu schmieden: „Ich sollte besser ein berühmter König sein als ein vielgepriesener General, dann wüßte ich wenigstens sicher, daß alle Niedrigen und Hohen des Reiches meinem Fingerzeig folgen müßten. Was ich will, muß sofort geschehen! Jetzt muß ich immer wieder dem König die Ehre erweisen und ihn mit meinem Munde loben.“ Er nahm sein Kriegsbeil in die Hand und ging zum heiligen Baum, versetzte ihm einen Schlag, wartete einige Zeit auf das Erscheinen des Alten, doch umsonst. Er versetzte dem Baum einen zweiten Schlag und schaute sich um, ob der graue Alte käme, doch umsonst. Nanu, dachte er, wo ist er denn, der alte Lump? Dann führte er auf einmal fünf Schläge gegen den Baum, da öffnete sich die Erde mit großem Knall, und der graue Alte kam unter der Baumwurzel hervor mit einem kupfernen Knüppel in der Hand und fragte mit sehr krächzender Stimme: „Was brauchst du wieder, großer Mann der Ehre und der Macht?“ „Ich möchte König werden, General sein ist keine große Sache; ich muß immer dem König huldigen gehen und ihm gute Worte geben“, gab der Mann zur Antwort.
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„Überlege doch etwas! Was für ein Mann warst du früher, und was bist du jetzt! Dein Herz findet niemals Ruhe, der Ehrgeiz macht dich zum Schluß ganz verrückt! Ich begreife nicht, wie hoch willst du denn tatsächlich steigen?“ sagte der graue Alte böse. Daraufhin schüttelte er kräftig den heiligen Baum, und der General wurde in einen Bären verwandelt und ging auf allen vieren, wie ein richtiger Bär. Nach einiger Zeit kam auch seine Frau dahin, der graue Alte schüttelte wieder den Baum, und die Frau wurde zur Bärin. Der Alte nahm einen starken Knüppel in die Hand, schlug den beiden Bären übers Fell, daß es nur so klatschte, und jagte sie weit in den Wald, wo sie kein Auge mehr sehen konnte und sie nie mehr zu Menschen wurden.
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74 Der Wunderring In alten Zeiten lebte ein Kaufmann. Dieser Kaufmann hatte einen einzigen Sohn. Einmal sagte der Sohn zum Vater: „Gib mir Geld, ich gehe auf die Reise!“ Der Vater gab ihm hundert Rubel, und der Sohn ging. Am Wege sah er, wie Hirtenjungen einen jungen Hund aufknüpfen wollten. Den jungen Mann erfaßte Mitleid, er wollte das arme Tier aus den Händen der ungezogenen Kinder erretten. „Was wollt ihr haben? Verkauft mir den Hund!“ Die Jungen verlangten hundert Rubel. Der Kaufmannssohn gab ihnen die hundert Rubel und ließ den Hund laufen. Der Hund sagte: „Hab Dank dafür, daß du mich befreit hast. Wenn du in Not bist, rufe mich zu Hilfe!“ Der junge Mann ging nach Hause. Der Vater fragte: „Wofür hast du das Geld ausgegeben?“ Der Sohn antwortete: „Ich habe es den Armen gegeben.“ Am ändern Tage sagte der Sohn wieder: „Vater, gib mir Geld, ich will auf Reisen gehen!“ Der Vater gab hundert Rubel, und der Sohn ging. Unterwegs sah er, daß Hirtenjungen eine Katze ertränken wollten. Den jungen Mann erfaßte 448
Mitleid, und er wollte das arme Tier aus den Händen der ungezogenen Kinder befreien. „Was wollt ihr haben? Verkauft mir die Katze!“ Die Jungen verlangten hundert Rubel, der Kaufmannssohn gab ihnen das Geld und ließ die Katze frei. Die Katze sagte: „Hab Dank, daß du mich freigekauft hast. Wenn du in Not bist, rufe mich zu Hilfe!“ Der Sohn ging nach Hause. Der Vater fragte: „Wofür hast du das Geld ausgegeben?“ „Ich habe es den Armen gegeben“, erwiderte der Sohn. Am ändern Tage sagte der Sohn wieder: „Vater, gib mir Geld, ich will auf die Reise gehen!“ Der Vater gab hundert Rubel, und der Sohn ging. Unterwegs sah er, daß Hirtenjungen eine schwarze Schlange töten wollten. Den jungen Mann erfaßte Mitleid, und er wollte das arme Tier aus den Händen der ungezogenen Kinder befreien. „Was wollt ihr haben? Verkauft mir die Schlange!“ Die Jungen verlangten hundert Rubel. Der Mann gab ihnen das Geld und nahm die Schlange mit. Unterwegs spielte er mit der Schlange; sie war sehr ruhig und tat ihm nichts. Schließlich legte er die Schlange in seine Mütze. Als er die Mütze wieder vom Kopf nahm, wurde die Schlange plötzlich zu einem jungen Mädchen. „Hab Dank, daß du mich aus der Gefangenschaft befreit hast. Jetzt komm mit, um von unse449
rem Vater den Lohn zu erhalten; nimm nichts an, was er dir anbietet, außer einem Ring, den er am Finger trägt. Den will er keinem geben. Das ist ein sehr teurer Ring: Alle Wünsche, die du durch diesen Ring hindurchsprichst, gehen in Erfüllung.“ Der Mann ging zusammen mit dem Mädchen zu ihrem Vater. Der freute sich sehr, daß seine Tochter, die lange Zeit eine Schlange gewesen war, wieder nach Hause gebracht wurde, und bot dem Kaufmannssohn verschiedene Dinge an. „Ich habe es nicht um Lohn getan“, sagte er, „doch wenn du mir danken willst, dann gib mir den Ring, den du am Finger trägst, als ein Erinnerungsgeschenk.“ Der alte Mann wehrte sich zwar dagegen, doch schließlich gab er den Ring. „Daß du ihn aber keinem gibst!“ fügte er mit Nachdruck hinzu. Der Mann ging mit dem Ring nach Hause. Sonderbarerweise waren aber in der Zeit, die ihm wie einige Stunden erschien, drei Jahre vergangen. Sein Vater war inzwischen gestorben, seine Mutter war erblindet und das Geschäft verkommen. Da sprach er schnell durch den Ring hindurch: „Die Mutter soll gesund werden und das Geschäft wieder neu!“ Am nächsten Morgen war die Mutter tatsächlich gesund, und das Geschäft war neu. Jetzt wollte der Mann freien gehen. Unterwegs kam ihm dasselbe Mädchen entgegen. „Willst du meine Frau werden?“ fragte der Kaufmannssohn. 450
Das Mädchen erwiderte: „Wenn du eine Marmorbrücke über den Fluß und eine Kirche aus Wachs baust und am Wegrand Apfelbäume pflanzt, die da blühen, wenn wir zur Kirche gehen, und reifes Obst tragen, wenn wir zurückkommen, dann werde ich dich heiraten.“ Am Abend sprach der Mann durch den Ring: „Es führe eine Marmorbrücke über den Fluß, und eine Wachskirche stehe fertig daneben; am Wegrand sollen Apfelbäume stehen, die blühen, wenn wir in die Kirche gehen, und reife Äpfel tragen, wenn wir zurückkommen.“ Am nächsten Morgen stand alles fertig da. Der Mann ging mit der Frau zur Trauung – die Apfelbäume blühten; sie kamen zurück – das Obst war reif. Die Frau war aber schlechter Laune. Sie wollte vom Mann fortgehen, deshalb versuchte sie, ihm den Ring abzuschmeicheln. Der Mann wollte ihn zwar nicht geben, doch schließlich brachte sie ihn so weit, daß er ihr den Ring gab. Die Frau sprach durch den Ring: „Die Marmorbrücke soll verschwinden die Apfelbäume und die Kirche sollen auch verschwinden. Die Mutter des Mannes soll blind und das Geschäft alt sein.“ Dann ging sie selbst nach Hause. Der Mann war traurig über sein Unglück und bedauerte, daß er den Schmeicheleien der Frau nachgegeben hatte. Er wanderte hinaus, und plötzlich erinnerte er sich der Katze und des Hundes. „Wenn sie hier wären, könnten sie mir helfen.“ 451
Da waren schon der Hund und die Katze zur Stelle. Der Mann berichtete ihnen von seiner Not. „Wir versuchen, dir zu helfen“, sagte der Hund. Die Katze setzte sich dem Hund auf den Rükken, und sie schwammen über den Fluß; das Mädchen spazierte gerade im Rosengarten. Die Katze machte sich ein schönes goldenes Fell und ging hin, um sich anzufreunden. Dem Mädchen gefiel die Katze sehr. Sie brachte die Katze ins Zimmer. Den Ring trug das Mädchen stets am Finger. Nur beim Waschen nahm sie den Ring vom Finger und steckte ihn in den Mund. Die Katze machte ihren Schwanz schmutzig und schlug dem Mädchen dann – klaps! gegen den Mund. Ph, ph, ph spuckte das Mädchen, und der Ring fiel aus dem Munde. Die Katze steckte den Ring in den Mund und flitzte davon zum Flußufer, setzte sich dem Hund auf den Rücken und schwamm über den Fluß. Der Kaufmannssohn bekam den Ring und sprach durch ihn hindurch: „Die Marmorbrücke führe über den Fluß, die Mutter sei gesund, das Geschäft sei neu. Die Apfelbäume sollen am Wegrand wachsen, und die Frau sei zu Hause!“ So geschah es auch am nächsten Morgen. Zwar versuchte jetzt die Frau wieder zu schmeicheln, doch der Mann gab ihr nicht mehr den Ring.
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75 Das Feuerzeug Ein Soldat, der lange Zeit gedient hatte, wurde entlassen. Er wanderte auf dem Weg in die Heimat in Gedanken darüber, was er jetzt anfangen oder woher er sein täglich Brot nehmen sollte. Als er eine Weile gegangen war, sah er am Wegrand auf einem Baumstumpf ein großes altes Weib sitzen. Die Alte fragte den Soldaten: „Wohin gehst du?“ „Ach, Alte, was fragst du danach!“ „Aber, aber, Söhnchen, nun rede schon, warum du so sorgenvoll bist.“ Nachdem ihr der Soldat berichtet hatte, daß er keine Bleibe habe und daß dazu auch das Geld knapp sei, sagte die Alte: „Sieben Werst von hier entfernt befindet sich ein alter Schloßkeller. Im ersten Keller liegt Kupfergeld, davor wacht ein roter Hund. Im zweiten Keller ist Silbergeld, davor wacht ein weißer Hund. Im dritten Keller ist Goldgeld, davor wacht ein schwarzer Hund. Du kannst dir aus jedem Keller Geld mitnehmen, soviel du willst. Die Hunde können dir nichts antun, sie heben ihre Köpfe und schauen dich an, doch du brauchst nichts zu befürchten. Im letzten Keller liegt auf dem Tisch mein kleiner Beutel mit dem Feuerzeug. Sei so 453
gut und hol ihn mir her. Zur Belohnung kannst du dir dort Geld nehmen, soviel du willst.“ Als der Soldat zum Keller kam, standen dessen Türen offen, und er stopfte sich zunächst die Taschen mit Kupfergeld voll. Der Hund hob den Kopf und schaute den Soldaten mit feurigem Blick an. Der Soldat ging in die zweite Kammer, wo das Silbergeld lag, und füllte sich die Tasche mit Silbergeld. In der Goldkammer steckte sich der Soldat das Gold in die Jacke und in die Stiefelschäfte. Dann schob er den Beutel mit dem Feuerzeug der Alten in den Gürtel und ging aus dem Keller hinaus. Sowie der Soldat zu dem alten Weib zurückgekehrt war, fragte sie ihn sofort nach dem Feuerzeug. Der Soldat dachte: Wer weiß, was das für ein Feuerzeug ist, daß sie es so unbedingt haben möchte, und er gab es der Alten nicht. Als ihn jedoch die Alte wegen des Beutels bedrängte, wurde der Soldat wütend und schlug die Alte nieder. Nun war der Soldat ein reicher Mann; er hatte die Taschen voll Gold, Silber und altem Kupfer; aber er dachte nicht daran, daß das Geld zu Ende gehen könnte, und verpraßte es in den Wirtshäusern. Schließlich waren seine Taschen leer, und der Soldat fand keine Kopeke mehr. Der Soldat ging wieder den Schloßkeller suchen, doch er fand ihn nicht mehr. Jetzt war der Soldat so arm, daß er nicht einmal Feuer für seine Pfeife hatte. Plötzlich erinnerte er sich, daß das Feuerzeug der Alten noch da war. Er nahm es, um für die Pfeife Feuer zu schlagen. Sobald er einmal 454
Feuer schlug, erschien vor ihm der rote Hund und sagte: „Gib mir Arbeit!“ Nun freute sich der Soldat über ein so schönes Feuerzeug. Er schlug zum zweiten und dritten Mal Feuer, und alle drei Hunde standen vor ihm und fragten nach Arbeit. Der Soldat befahl den Hunden, ihm Geld zu bringen. Sofort verschwanden sie, und ein jeder brachte ihm sein Geld. Nun fehlte es dem Soldaten nicht mehr an Geld. Von diesem Zeug brachten ihm die Hunde genug. Der Soldat ging in eine Königsstadt, baute sich dort ein prächtiges Haus, und alles, was er brauchte, brachten ihm die Hunde. Eines Abends schlug der Soldat dreimal Feuer mit dem Feuerzeug, und sofort kamen die Hunde und fragten nach Arbeit. Der Soldat befahl den Hunden, die Königstochter zu ihm zu bringen. Die Hunde liefen davon und brachten die Königstochter in der Nacht zum Soldaten; am Morgen brachten sie sie wieder fort. Die Königstochter begriff nicht, wie sie zu dem Soldaten hin- und wieder zurückgebracht wurde. Doch daß sie jede Nacht bei dem Soldaten schlief, das wußte sie ganz genau. Die Tochter erzählte dem Vater, daß sie jede Nacht bei dem Soldaten schlafe, und der König stellte Wachen vor das Bett der Tochter. Die Wachen sahen keinen, die Königstochter aber verschwand aus dem Bett. Der König ging zu einem Weisen, um sich Rat zu holen.
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Der Weise sagte: „Bindet Eurer Tochter einen Sack mit Körnern auf den Rücken, mit der Öffnung nach unten, dann könnt Ihr am Morgen der Spur der Körner dorthin folgen, wo man sie hinbringt.“ Am Abend band der König der Tochter einen Sack mit Körnern auf den Rücken und machte in den Sack ein kleines Loch, durch das die Körner durchfielen. Als die Tochter in der Nacht wieder verschwunden war, schickte der König die Sucher entlang der Körnerspur bis zum Haus des Soldaten, wo sie auch die Königstochter schlafend beim Soldaten fanden. Der Soldat wurde sofort gebunden und ins Turmgefängnis gebracht. Es wurde verkündet, daß ihm morgen früh der Kopf abgeschlagen werde. Der Soldat saß im Gefängnisturm und erwartete angstvoll seine Sterbestunde. Er schaute durch das Gitter hinaus und sah einen Schusterjungen vorbeikommen. Der Soldat bat den Jungen: „Geh in mein Haus und bringe mir vom Tisch in meinem Zimmer mein Feuerzeug her, damit ich noch eine Pfeife rauchen kann, bevor man mir den Kopf abschlägt. Deine Mühe will ich dir gut bezahlen.“ Nachdem der Soldat dem Jungen sein Haus beschrieben hatte, lief dieser davon, um das Feuerzeug zu holen. Der Soldat wartete auf die Rückkehr des Jungen, doch er kam nicht.
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Plötzlich wurden die Türen des Gefängnisturmes geöffnet, und ein Trupp Soldaten erschien, um den Gefangenen zur Hinrichtung zu führen. Da sah der Gefangene den Jungen im Laufschritt zurückkommen. Er reichte ihm den Beutel mit dem Feuerzeug durch das Gitter. Der Soldat nahm schnell das Feuerzeug aus dem Beutel heraus und sagte: „Ich werde noch ein letztes Mal für meine Pfeife Feuer schlagen, später werde ich keine Pfeife mehr rauchen können. Bald habt ihr mir den Kopf vom Körper abgetrennt.“ Sowie der Soldat dreimal Feuer schlug, standen seine drei Hunde vor ihm und verlangten Arbeit. Der Soldat befahl: „Jagt diese Schwertmänner davon und alle ihresgleichen ebenfalls zur Stadt hinaus, den König aber und seine Tochter laßt hier!“ Die Hunde jagten die Soldaten bis auf den letzten Mann davon, so daß in der ganzen Stadt keine einzige Soldatenseele mehr zu sehen war. Der Soldat ging zum König. Der König empfing ihn freundlich und gab ihm seine Tochter zur Frau, und nach dem Tode des Königs wurde er der Herrscher. Der Soldat bewahrte stets seinen Beutel mit dem Feuerzeug. Wenn es mit jemandem Krieg gab, rief er seine Hunde und schickte sie auf den Kriegsschauplatz, und stets war er der Sieger. Der Soldat lebte glücklich mit seiner Frau. Wo aber das Feuerzeug jetzt ist, das weiß ich nicht.
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76 Das Pferd, das Tischtuch und der Stock In alten Zeiten hatten die Alten von Kibiküla ein Erbsenfeld. Doch jemand kam jede Nacht, zertrampelte das Feld und fraß die Erbsen. Der Alte schickte in der ersten Nacht seinen ältesten Sohn, der Wache halten sollte. Der Sohn wachte, schlief jedoch bald ein. In der zweiten Nacht schickte der Vater den mittleren Sohn; der wachte, schlief aber schließlich auch ein, und das Erbsenfeld war am Morgen wieder abgefressen und zertrampelt. In der dritten Nacht schickte der Vater den jüngsten Sohn, der von seinen älteren Brüdern für dumm gehalten wurde, und auch sein Vater hielt keine großen Stücke auf ihn. Der jüngste Sohn wachte eine ganze Weile, aber es kam niemand. Schließlich erschien ein weißes Pferd auf dem Erbsenfeld und begann zu trampeln und zu fressen. Doch dieser Sohn fing sofort das Pferd ein. So weit so gut, aber dann verwandelte sich das Pferd in einen Mann, und dieser Mann fing an zu bitten: „Laß mich frei, ich gebe dir dafür ein weißes Pferd! Wenn du zu ihm sagst: ‚Prr, stampfe mit dem Bein!’, dann stampft das Pferd mit dem Bein, und aus der Erde kommt Silbergeld hervor.“ 458
Der Junge gab sich damit zufrieden. Der Mann verschwand, und vor dem Sohn stand ein schönes weißes Pferd. Er nahm das Pferd, brachte es nach Hause und zeigte es auch seinen älteren Brüdern. Die Brüder sahen aber, daß dieses Pferd Geld aus der Erde stampfte. Nun hielten sie Rat, wie sie dieses Pferd vertauschen könnten. Schön und gut, am nächsten Morgen ging der jüngste Bruder fort, um die Einwohner von Kibiküla zusammenzurufen und ihnen zu zeigen, daß er ein Pferd bekommen habe, das Geld aus der Erde stampft. Die Einwohner von Kibiküla kamen auch. Als alle Kibiküla-Einwohner versammelt waren, holte der jüngste Bruder das Pferd aus dem Stall auf den Hof und sagte: „Prr, stampfe mit dem Bein!“ Das Pferd aber stampfte nicht. Er sagte es noch einmal – wieder nichts. Während nämlich der jüngste Bruder gegangen war, um die Einwohner von Kibiküla zusammenzurufen, hatten die älteren Brüder das Pferd vertauscht. Die Kibiküla-Leute gingen erbost nach Hause. Der Jüngste blieb traurig zurück. In der nächsten Nacht ging er wieder auf das Erbsenfeld. Der Mann von gestern kam und fragte: „Was ist passiert?“ „Das Pferd, das du mir gegeben hast, stampft nicht mit dem Bein“, sagte der jüngste Bruder. Der Mann gab ihm ein Tischtuch und sagte: „Wenn du sagst: ‚Tischtuch, deck den Tisch!’, dann wird das Tischtuch selbständig den Tisch decken.“ 459
Er nahm das Tischtuch, ging nach Hause und zeigte auch dieses den älteren Brüdern. Als jetzt der jüngste Bruder wieder fortging, um die Kibiküla-Leute zusammenzurufen, vertauschten die älteren Brüder auch das Tischtuch. Der jüngste Bruder aber wußte nichts davon. Er ging und erzählte, daß er ein Tischtuch habe, das selbständig den Tisch mit verschiedenen schmackhaften Speisen und Gerichten decke. Die Kibiküla-Leute glaubten ihm nicht und meinten, er lüge wie vorher. Er aber sagte, daß es stimme. Nun, die Kibiküla-Leute gingen schließlich am Abend hin. Als alle beisammen waren, brachte er sie in die Kammer, nahm die Tischdecke aus dem Schrank und sagte: „Tischtuch, deck den Tisch!“ Doch die Tischdecke deckte nicht, er sagte es noch einmal, es wurde doch nichts. Die KibikülaLeute wurden böse und gingen wütend nach Hause, weil sie zum zweitenmal betrogen wurden. Er aber war traurig und ging in der Nacht wieder auf das Erbsenfeld, der Mann aber kam lange nicht. Schließlich kam er doch und fragte, worum es gehe. Der jüngste Bruder beklagte sich, daß die Tischdecke, die er erhalten hatte, den Tisch nicht decke. (Ach ja: Während die Kibiküla-Leute beisammensaßen und der jüngste Bruder der Tischdecke befahl, den Tisch zu decken, hatten die älteren Brüder die schönsten Speisen vor sich.) Nun gut, der Mann gab ihm einen Stock und sagte: „Wenn du diesem Stock sagst: ‚Stock, prü-
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gle!’, dann verprügelt der Stock, wen du verprügeln willst.“ Er nahm den Stock und ging wieder nach Hause. Jetzt beschloß er zu prüfen, ob der Stock wirklich von selbst prügelt, und sagte: „Stock, verprügle den, der mein Pferd vertauscht hat!“ Ach du meine Güte, wie der Stock aus der Ofenecke heraussprang und sofort auf die älteren Brüder losschlug und nicht eher nachließ, bis sie das weiße Pferd des jüngsten Bruders zurückgebracht hatten. Nun sagte der jüngste Bruder wieder: „Stock, verprügle den, der meine Tischdecke vertauscht hat!“ O du meine Zeit, wie der Stock wieder aufsprang und wieder sofort auf die älteren Brüder losdrosch und nicht eher nachließ, bis die älteren Brüder seine Tischdecke zurückgebracht hatten. Nun freute sich der jüngste Bruder: Alles war wieder da und dazu noch ein selbstprügelnder Stock! Er warf den Stock in die Ofenecke der Stube und ging hocherfreut, um die Kibiküla-Leute zusammenzurufen. Er sagte, daß er ein großes Fest gebe und daß jetzt wirklich alles vorhanden sei, das weiße Pferd, das das Geld aus der Erde stampfe, die Tischdecke, die verschiedene Gerichte auf den Tisch bringe, und auch ein selbstprügelnder Stock wäre da. Die Kibiküla-Leute kamen am Abend wieder zusammen. Er holte das Pferd aus dem Stall und sagte: „Prr, stampfe mit dem Bein!“
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Und o Wunder! Alle Kibiküla-Leute sahen, wie das weiße Pferd Geld in Haufen aus der Erde stampfte. Dann brachte er sie in die Kammer, nahm die Tischdecke aus dem Schrank und sagte: „Tischtuch, deck den Tisch!“ Du meine Zeit, was da für verschiedene Gerichte und Speisen auf den Tisch kamen! Der selbstprügelnde Stock stand im Zimmer in der Ofenecke. Als die Kibiküla-Leute in die Kammer zum Essen und Trinken gingen, kamen sie alle an dem Stock vorbei, und jeder, der vorbeikam, sagte: „Stock, verprügle mich auch“ und „Stock, verprügle mich auch.“ Doch der Stock verprügelte keinen. Nun begannen alle ein großes Fest zu feiern, zu essen und zu trinken. Als nun schließlich genug gegessen und getrunken worden war und man vom Tische aufstand und ins Zimmer zurückging, kamen wieder alle am Stock vorbei und sagten spaßeshalber: „Stock, verprügle mich“ und „Stock, verprügle mich doch!“ Der Stock aber verprügelte keinen. Ein alter Mann war aber beim Essen länger am Tisch sitzen geblieben. Nun kam auch er am Stock vorbei und sagte zum Spaß: „Na, Stock, verprügle mich doch!“ Ach du meine Güte, wie der Stock jetzt aus der Ofenecke heraussprang und alle zu verprügeln begann! Es ließ gar mancher einiges von sich in der Stube zurück, einer ein Stück Hand, der andere ein Stück Bein, der dritte ein Stück Hinterteil. 462
77 Der Speisesack und der Prügelsack Es lebten einmal zwei Brüder, ein Bruder war arm und der andere reich. Der arme Bruder ging mit seinem bißchen Korn zur Mühle, um zu den Feiertagen etwas Brot bakken zu können. Dort mahlte er glücklich sein Getreide. Dann machte er sich auf den Heimweg. Unterwegs kam plötzlich ein starker Wind auf, warf den armen Mann um und verwehte das Mehl. Das war ein großer Verlust für den armen Mann; er wußte nicht, was er anfangen sollte. Guter Rat war teuer. Er ging in eine Kate und bat um Lebensmittel. In der Kate war eine alte Frau allein zu Hause. Sie sagte, ihre Söhne seien weggegangen. Die Alte gab dem armen Mann nichts, sagte jedoch: „Meine Söhne sind nicht zu Hause, und ich kann dir von mir aus nichts geben. Wenn sie heimkehren, dann frage sie.“ Der arme Mann blieb in der Kate, um auf die Rückkehr der Söhne zu warten in der Hoffnung, daß er hier doch noch etwas bekommen würde. Bald kamen auch die Söhne nach Hause und erzählten der Mutter: „Ein Mann ist mit einem Sack Getreide zur Mühle gegangen; das Korn haben wir ihm nicht weggenommen, aber als er mit dem Mehl zurückging, nahmen wir ihm das Mehl ab.“ 463
So erzählten es die Söhne zu Hause der Mutter, und der arme Mann im Nebenzimmer hörte es. Die Mutter mahnte die Jungen: „Seid still! Der arme Mann, dem ihr das Mehl weggenommen habt, sitzt nebenan; er hört, was ihr sagt.“ Als die Söhne erfuhren, daß der Mann im Zimmer um Nahrungsmittel bat, gingen sie hin, nahmen von irgendwoher einen alten geflickten Sack, gaben ihn dem armen Mann und sagten: „Wenn du essen willst, wirf diesen Sack unter den Tisch und sage: ‚Zwei aus dem Sack’, dann wirst du genug zu essen haben.“ Der arme Mann bedankte sich, nahm den Sack über die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs dachte er an die Worte der jungen Männer und an den Sack, glaubte aber nicht, daß es so geschehen würde. Aus Neugierde beschloß er, sofort einen Versuch zu machen. Am Wege stand ein Baumstumpf. Der arme Mann setzte sich darauf, warf den Sack hin und sagte: „Zwei aus dem Sack!“, und sofort standen verschiedene Speisen vor ihm, also bitte schön, iß nur! Der arme Mann aß sich satt und sagte dann: „Zwei zurück in den Sack!“ Sofort waren die Speisen verschwunden, und es war alles wie zuvor. Sowie der arme Mann nach Hause gekommen war, sagte er zu seiner Frau: „Wollen wir essen!“ Die Frau erwiderte: „Wir haben doch nichts zum Essen. Was redest du für einen Unsinn.“
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Der arme Mann setzte sich an den Tisch, warf den Sack unter den Tisch und sagte: „Zwei aus dem Sack!“ Sofort war der Tisch mit verschiedenen Speisen gedeckt. Nun aßen beide, der Mann und die Frau, bis sie satt waren. Nach dem Essen sagte der Mann wieder: „Zwei zurück in den Sack!“ Sogleich waren alle Speisen vom Tisch verschwunden, und alles war wie vorher. Während der Feiertage kam der reiche Bruder einmal den armen Bruder besuchen. Beide Brüder setzten sich an den Tisch zum Essen. Da sagte der arme Bruder, am Tisch sitzend: „Zwei aus dem Sack!“ Sofort war der Tisch mit verschiedenen Speisen gedeckt. Beide aßen sich satt. Als sie mit dem Essen fertig waren, sagte der arme Mann: „Zwei zurück in den Sack!“ Und alle Speisen waren sofort vom Tisch verschwunden. Der reiche Bruder sah, daß der arme Bruder ihn nur durch ein paar Worte mit verschiedenen teuren Speisen aus dem Sack bewirtet hatte. Sofort begann er den armen Bruder zu bitten, den Sack ihm zu geben: „Zu mir kommen oft große Herren zu Besuch, es wäre schön, wenn ich dann keine Speisen vorzubereiten brauchte.“ Schließlich gab der Arme dem Bruder den Sack und bekam dafür eine Menge Getreide. Als das Getreide, das der Arme vom Bruder für den Sack bekommen hatte, verbraucht war und er von seinem Bruder nun weder den Sack noch Ge465
treide bekam, ging er wieder in die bekannte Kate, um sich einen anderen Sack zu erbitten. Es wurde ihm auch sofort ein Sack gegeben, doch kein geflickter mehr, sondern ein seidener. Der arme Mann ging mit dem Sack nach Hause. Zu Hause sagte er: „Zwei aus dem Sack!“ Sofort kamen zwei große Männer mit eisernen Knüppeln aus dem Sack und gingen auf ihn los. Der arme Mann sagte schnell: „Zwei zurück in den Sack!“, und die Knüppelmänner waren verschwunden. Es geschah, daß der reiche Bruder wieder einmal den armen besuchen kam und bei ihm den seidenen Sack sah. Sofort begehrte er ihn für sich und wollte mit dem armen Bruder tauschen. Der arme Bruder war auch gleich mit dem Tausch einverstanden. Der Reiche ging frohen Herzens mit dem seidenen Sack nach Hause. Zu Hause rief er sofort: „Zwei aus dem Sack!“ Doch, o Jammer! Aus dem Seidensack kam eine Schar Männer mit Eisenknüppeln heraus und stürzte sich auf den reichen Bruder. Der versuchte wohl, durch die Öffnung über die Darrenstange zu entkommen, doch es half ihm nichts, und er wurde von den Knüppelmännern furchtbar verprügelt. Der arme Mann dankte dem Schicksal, daß er den alten Sack vom reichen Bruder zurückbekommen hatte, und ernährte sich weiter mit seiner Frau aus dem Sack.
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78 Der Höllenhahn Hans war ein armer Kätner. Er hatte so wenig Land, daß er nur von der Hand in den Mund leben konnte. Einst gab es einen sehr trockenen Sommer, und die Dürre vernichtete das ganze Getreide des Hans, so daß er nicht einmal mehr für die Saat erntete. Der Herbst kam, und mit dem Herbst die Zeit der Rentenzahlungen. Die Bauern brachen auf, um ihre Renten zu zahlen, und unser Hans machte sich ebenfalls schweren Herzens mit ihnen auf den Weg zum Gut, – schweren Herzens, denn er hatte keinen roten Heller, mit dem er dem Gutsherrn die Rente für sein Stückchen Land hätte zahlen können. Nachdem alle wohlhabenden Männer ihre Zahlungen für den Herrn entrichtet hatten, kam auch unser Hans an die Reihe, zum Herrn zu gehen, was er in großer Sorge und mit vielen Seufzern tat. Nun bat er den Herrn, so lange zu warten, bis bessere Zeiten kommen. Als der Herr das hörte, wurde er sehr böse und schrie Hans an: „Bezahle, was du zu bezahlen hast; was geht es mich an, wenn dein Korn nicht gewachsen ist!“
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Hans bat den Herrn wieder und sagte: „Lieber Herr, geduldet Euch wenigstens ein halbes Jahr, dann werde ich versuchen zu bezahlen!“ Der Herr schrie ihn an: „Geh zur Hölle mit deinem Gerede! Schaffe mir das Geld in einer Woche heran und rede nicht mehr!“ Hans sah, daß seine Bitten nichts nützten, nahm sich ein Herz und machte sich auf den Weg zur Hölle. Er gelangte auch zur Hölle. Nachdem Hans dort durch mehrere Stuben und Kammern gegangen war, kam er schließlich in ein großes Zimmer, das von Gold und Edelsteinen nur so blitzte und funkelte. Hans war vor so viel Schönheit und Pracht ganz erschrocken. In der Mitte des Zimmers saß auf einem Ehrensitz der Teufel. Als der Teufel Hans erblickte, rief er ihn zu sich und fragte, weswegen er gekommen sei. Hans berichtete, daß er dem Herrn die Rente nicht habe zahlen können und daß der Herr ihm befohlen habe, mit dieser seiner Rede zur Hölle zu gehen. Der alte Teufel hörte sich Hansens Geschichte bis zum Ende an und sagte dann: „Hier hast du eine Handmühle, die wird dir aus der Not helfen. Du selbst brauchst beim Mahlen nichts zu tun, du sagst nur: ‚Steinchen, mahle!’, dann wird sie schon mahlen.“ Hans bedankte sich beim Teufel, nahm die Mühle an sich und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, war es für Hans das erste nachzuprüfen, ob die Mühle auch gehorchte. Sowie Hans die Worte „Steinchen, mahle!“ aus468
sprach, begannen sich die Mühlsteine klappernd zu drehen, und es kam so viel Mehl heraus, daß Hans bald alle Speicher und Nebenräume voll hatte. Nun verkaufte er das Mehl für einen guten Preis, bezahlte alle seine Schulden und legte sich noch einen Notgroschen an. Schließlich gelangte auch zum Herrn die Kunde, daß Hans eine solche Handmühle habe, die von selbst mahlt, man braucht nur zu sagen: „Steinchen, mahle!“ Jetzt verspürte der Herr großes Verlangen nach dieser Handmühle und schickte Männer zu Hans, die ihm die Mühle wegnahmen und sie dem Herrn brachten. Sofort machte sich der Herr daran, die Güte der Mühle zu erproben, und sagte: „Steinchen, mahle!“ Doch die Steine gehorchten dem Herrn nicht und rührten sich nicht von der Stelle. Nun ging Hans wieder in die Hölle zum Teufel, um sich zu beklagen, daß ihm der Herr die Handmühle weggenommen habe. Der Teufel hörte sich Hansens Geschichte an und sagte: „Macht nichts, du bekommst deine Handmühle wieder zurück!“ Mit diesen Worten gab ihm der Teufel einen bunten Hahn und erklärte: „Dieser Hahn wird dir die Handmühle zurückbringen.“ Hans bedankte sich, nahm den Hahn unter den Arm und machte sich wieder auf den Heimweg. Sie waren ein Stück Weges gegangen, da kam ihnen ein Fuchs entgegen. 469
Der Hahn sagte zum Fuchs: „Kriech in meinen Bauch!“ Der Fuchs gehorchte dem Hahn und kroch in seinen Bauch. Sie gingen noch ein Stück Weges weiter, da kam ihnen ein Wolf entgegen. Der Hahn sagte zum Wolf: „Kriech in meinen Bauch!“ Der Wolf gehorchte ebenfalls dem Hahn und kroch in seinen Bauch. Sie gingen noch etwas weiter, da kam ihnen ein Bär entgegen. Der Hahn sagte wieder: „Bär, kriech in meinen Bauch!“ Auch der Bär gehorchte dem Hahn und kroch in seinen Bauch. Sie eilten weiter und gelangten zu einem See. Nun trank der Hahn den See in einem Zug leer. Schließlich kam Hans mit seinem Hahn zum Herrn. Der Hahn stieg sogleich auf die große Treppe und begann laut zu krähen: „Kikeriki, kikeriki: gib dem Kätner die Handmühle zurück!“ Der Herr ärgerte sich über einen so unverschämten Hahn und ließ ihn in den Hühnerstall bringen. Sowie der Hahn unter den Hühnern war, sagte er zum Fuchs: „Fuchs, kriech aus meinem Bauch heraus und zerreiß die Hühner!“ Der Fuchs kroch aus dem Bauch des Hahnes heraus und tötete alle Hühner. Am Morgen, als man den Hühnern das Futter brachte, wollte außer dem Hahn kein Federvieh mehr fressen. Der Fuchs aber sprang aus dem Hühnerstall hinaus und lief in den Wald. 470
In der nächsten Nacht brachte man den Hahn in den Viehstall. Jetzt sagte der Hahn zum Wolf: „Wolf, kriech aus meinem Bauch heraus!“ Der Wolf kroch aus dem Bauch des Hahnes heraus und brachte das ganze Vieh um. Am Morgen, als man dem Vieh das Futter brachte, wollte kein Tier mehr fressen, alle streckten ihre Beine gegen den Himmel. In der dritten Nacht brachte man den Hahn in den Pferdestall. Jetzt befahl der Hahn dem Bären, aus dem Bauch zu kriechen. Der Bär kroch aus dem Bauch des Hahnes und tötete sämtliche Pferde. So fanden alle Tiere des Herrn ihr Ende. Darüber ärgerte sich der Herr so, daß er befahl, den Hahn sofort zu schlachten. Der Hahn wurde auf den Befehl des Herrn geschlachtet, gerupft, und es wurde ihm der Bauch aufgeschnitten, doch jetzt floß das Seewasser aus dem Bauch des Hahnes heraus und drohte alles zu ertränken, doch schließlich verschwand das Wasser. Nun wurde der Ofen angeheizt und der Hahn mit der Pfanne in die Ofenröhre gesteckt. Als der Hahn schön gar war, nahm man ihn aus der Ofenröhre, und der Herr aß ihn ganz allein auf. Jetzt begann der Hahn im Magen des Herrn wieder zu krähen: „Kikeriki, gib dem Kätner die Handmühle zurück!“ Nun hatte der Herr weder am Tage noch in der Nacht Ruhe, denn der Hahn schrie fortwährend „Kikeriki“ und „Kikeriki!“ Zuletzt dachte der Herr, der Hahn werde ja einmal aus dem Bauch doch herauskommen müssen, und er sagte zu seinem 471
Knecht: „Nimm und schlag ihm den Kopf ab, sobald er herauszukommen beginnt, wenn ich mein Geschäft verrichte.“ Der Knecht tat, wie im der Herr befohlen, schlug aber dabei den Herrn selbst so, daß er vor großen Schmerzen zu schreien anfing und sagte: „Seht zu, daß ihr diese Mühlsteine sofort wegbringt, nun ist des Unglücks aber genug!“ Der Kätner bekam seine Handmühle zurück, und er brauchte nur zu sagen: „Steinchen, mahle!“, da fing sie wieder an für Hans zu mahlen, daß es nur so klapperte und Hans sein Leben lang keine Not mehr kannte. Nach dem Tode des Hans erbte sein Sohn diese Handmühle, und er ist jetzt der wohlhabendste Mann in seinem Dorf.
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79 Die zwei Brüder und das wundersame Huhn Einst lebte in einem Dorf in einer elenden Kate ein armer Mann mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnen. Der Mann arbeitete fleißig, ging auf den Dorfacker Steine entfernen und in den Gemeindewald Reisig schlagen; dennoch herrschte in der kleinen Kate immer Not, und die Frau und die Kinder hatten oft nichts zu essen. Einmal, als der Mann wieder im Walde war, um Reisig zu schlagen, kam ein altes Männlein in die Hütte und bat um Nachtquartier. Die Frau, verärgert darüber, daß der Hunger stets ins Haus schaute, wollte zuerst den Fremden nicht aufnehmen, schließlich aber tat sie es doch. Als der Alte am nächsten Morgen aufstand, sagte er zur Frau: „Ihr seid stets vom Hunger bedroht. Wenn ihr wollt, lehre ich euch, wie ihr reich werden könnt. Verkauft eure letzte Habe, geht in die Stadt und kauft vom ersten Kaufmann, der euch beim Betreten der Stadt begegnet, irgendeine Sache.“ Die Frau erwiderte: „Unsere letzte Habe ist unsere alte Kuh.“ „Dann soll sie der Mann verkaufen und es so machen, wie ich es euch gelehrt habe“, sagte der Mann und ging davon. 473
Am Abend erzählte die Frau ihrem Mann, was vorgefallen war, hielt aber selbst die Worte des Alten für einen Spaß und war gegen den Verkauf der Kuh. Der Mann dachte längere Zeit nach und sagte schließlich: „Schön ist die Lehre des Alten gewiß. Ob sie auch wahr ist, weiß ich nicht, dennoch, man muß es versuchen. Wenn schon alles andere bei uns zu Ende ist, wird auch das alte Kuhgerippe uns nicht mehr lange ernähren. Ich will die Lehre des Alten befolgen.“ Am nächsten Tag verkaufte der Mann – obwohl seine Frau dagegen war – die buntscheckige Kuh und ging in die Stadt. Vor der Stadt kam ihm ein Hühnerhändler mit seinem Pferd entgegen, auf dem Wagen hatte er einen Riesenkorb mit Hühnern. Der arme Mann dachte: Was soll ich nun mit einem nutzlosen Huhn anfangen! Dennoch kaufte er ein Huhn und brachte es nach Hause, komme, was da wolle. Die Frau fing mit dem Mann schrecklich zu schimpfen an und wollte das Huhn zur Hütte hinausjagen. Schließlich ließ sie es doch bleiben. Einige Tage darauf begann das Huhn zu glucken, und nach kurzem Suchen richtete es sich im Aschkasten ein Nest ein. Am Abend ging der Kätner zur Feuerstelle, um Feuer für seine Pfeife zu suchen, und holte aus dem Aschkasten ein Ei hervor. Es war kupferfarben und gewichtig. 474
Nach ein bis zwei Wochen hatte der arme Mann bereits so viele Eier, daß er sie zum Verkauf in die Stadt bringen konnte. An der Schwelle einer Handlung fragte der Kaufmann: „He, Mann, was willst du für ein Paar Eier haben?“ Der Mann antwortete: „Noh, der werte Herr wird wohl selbst wissen, was ein Paar Eier kostet.“ „Zeig mir die Eier!“ Der Kaufmann besah sich die Eier und sagte dann: „Gut, ich gebe dir fünfzehn Rubel für das Paar.“ „Warum verspottet mich der Herr?“ „Nimm dann fünfundzwanzig Rubel!“ „Der Herr spaßt wohl?“ „Gibst du das Paar auch für fünfzig nicht?“ „Ach, Herr, laßt den Schabernack“, erwiderte der Mann, drehte dem Herrn den Rücken zu und ging. Der Kaufmann rief ihn zurück: „Komm zurück, ich zahle dir hundert Rubel für ein Paar.“ Der Mann kehrte um und sagte zu sich: „Na schön, ich gebe ihm die Eier, wir wollen sehen, wieviel er mir wirklich für das Paar gibt: fünf oder vielleicht auch sechs Kopeken.“ Der Kaufmann führte den Mann in die Handlung und zählte ihm dort für jedes Paar Eier einhundert Rubel vor. Die Freude und das Staunen des Mannes waren grenzenlos. Der Kaufmann sagte: „Wenn du noch mehr Eier hast, dann bringe sie mir.“ Der Mann ging in überglücklicher Stimmung nach Hause, brachte den Kindern und der Frau 475
Weißbrot und andere Eßwaren mit. Die Freude der Frau war nicht geringer als die des Mannes. Nach einiger Zeit brachte der Mann wieder Eier in die Stadt und bekam von dem bekannten Kaufmann ebenfalls einhundert Rubel für das Paar. Auf diese Weise verschwanden Armut und Elend aus der armen Kate, und statt dessen zog hier großer Reichtum ein. Sobald der Mann Eier hatte, brachte er sie jedesmal in die Stadt zu seinem bekannten Kaufmann. Schließlich merkte der Mann, daß mit den Hühnereiern etwas nicht stimmte: Wer würde denn für ein Paar einfache Hühnereier jedesmal einhundert Rubel zahlen? Nein, diese Eier mußten aus Gold sein! Und als er wieder Eier hatte, brachte der Mann sie in die Stadt, doch nicht mehr zu dem alten Kaufmann, sondern zu einem neuen und verlangte für ein Paar Eier noch mehr, als er vorher bekam. Der fremde Kaufmann war ebenfalls sofort bereit, die Eier für diesen Preis zu kaufen, und bat, falls mehr Eier da seien, ihm wieder welche zu bringen. Der Mann brachte mehrmals die Eier hin und wurde so zu einem reichen Mann. Als er schon recht viel Geld hatte, zog er in die Stadt, kaufte sich dort große Häuser, richtete sich Geschäfte ein und begann zu handeln. Alle Menschen in der Umgebung kauften bei ihm, und auch die anderen Kaufleute holten sich bei ihm Ware. Die Stadt, in der er handelte, lag am Meer, deshalb baute er sich schöne Schiffe, die ihm aus fremden Ländern die Ware brachten. Seine Kinder 476
gingen zur Schule, und seine Frau trug teure Kleider. Da geschah es, daß der Mann einmal selbst mit seinen Schiffen hinausfahren mußte. Die Ware wurde von weither gebracht, und sie war sehr teuer. Beim Abschied sagte der Mann zur Frau: „Unser ganzes Vermögen ist mehrere hunderttausend Rubel wert. Du bleibst jetzt zu Hause, bewahre unser Vermögen. Laß die Kinder lernen und lebe selbst gut! Am meisten aber achte auf unser Hühnchen. Sollte es einen Wasser- oder Feuerschaden geben, sollte Not oder Krankheit kommen, dann soll alles umkommen, unser Huhn aber sollst du retten: Kommt dieses Huhn um, woher sollen wir dann unsern Reichtum nehmen? Dann sind wir genauso arm wie vorher.“ Daraufhin ordnete der Mann alle seine Angelegenheiten mit den Gesellen und Dienern, ging zum Meer, stieg auf ein Schiff und fuhr davon. Viele Menschen waren zum Hafen gekommen, um ihn zu begleiten, und alle schauten ihm lange nach, wie er immer weiter und weiter fuhr und endlich hinter dem Meer ganz verschwand. Nach der Abfahrt des Kaufmanns ging das Leben in der Stadt und im Hause des Kaufmanns auf die alte Weise weiter – ruhig und still. Die Söhne des Kaufmanns besuchten die Schule, der Handel lief im Geschäft weiterhin lebhaft, die Frau des Kaufmanns wurde von Tag zu Tag dicker, schmückte sich mit schönen Kleidern und wurde dabei immer hübscher und hübscher, wie ein jun477
ges voll erblühtes Mädchen. Da war es auch kein Wunder, daß die jungen Kaufleute und ihre Gesellen sich in sie verliebten und daß bei manchem von ihnen schon bei ihrem Anblick böse Gedanken im Herzen schwelten. Es gab da insbesondere einen Kaufmannsgesellen, der mehr als die anderen in die schöne Kaufmannsfrau verliebt war und den die Kaufmannsfrau ebenso am meisten liebte. Die Sache ging so weit, daß die Kaufmannsfrau alle anderen aus ihrer Nähe vertrieb und sich nur noch mit dem auserwählten Gesellen heimlich abgab. Der Geselle ging fast jeden Tag und jede Nacht in den Garten des reichen Kaufmanns; dort lebten sie miteinander und verbrachten die Zeit unter den Bäumen. So ging es eine Weile. Der Geselle wurde der Frau immer lieber, so daß sie nach ihm viel mehr verlangte als der Geselle nach ihr. Eines Tages kam der Geselle wieder in das Haus des reichen Kaufmanns. Die Frau war nicht zu Hause: Sie war weit in den Garten spazierengegangen. Der Geselle setzte sich im Zimmer auf einen Stuhl, um auf die Frau zu warten. Wie der Geselle so auf dem Stuhl saß, bemerkte er, daß ein buntes Huhn fortwährend gluckend unter dem Bett hervorkam und wieder darunter verschwand. Er bückte sich flink und ergriff das Huhn. Das war sehr sonderbar, denn bis dahin konnte keiner dieses Huhn greifen, jetzt aber gelang es dem Gesellen. Als er den rechten Flügel des Huhnes hob, stand dort mit goldenen Buchstaben geschrieben: 478
Wer den rechten Flügel dieses Huhns ißt, wird König. Und unter dem linken Flügel stand geschrieben: Wer den linken Flügel dieses Huhns ißt, wird Gold speien. Diese Aufschriften stiegen dem Gesellen zu Kopf. Er wartete nicht mehr, bis die Frau nach Hause kam, warf das Huhn von den Knien herunter und lief selbst in den Garten, der Frau nach. Im Garten war er der Frau gegenüber sehr lieb und sagte: „Wenn du willst, daß ich dich ewig liebe, dann laß das Huhn schlachten, das im Zimmer gluckt; laß es für mich braten und mir zum Essen geben.“ Die Frau wollte es zuerst nicht tun. Der Geselle wurde jedoch böse und wollte weggehen. Da dachte die Frau: Wie dürfte ich dieses Huhn schlachten lassen? Mein Mann hat mir doch beim Wegfahren befohlen, es auch in der größten Not zu retten, auch wenn alles andere umkommt! Doch die Liebe der Frau zum Gesellen war stärker als das Verbot des Mannes, und sie befahl dem Koch, das Huhn zu schlachten. Der Koch schlachtete das Huhn, rupfte es und stellte es in der Pfanne in die Ofenröhre zum Braten. Der Geselle ging mit der Frau im Garten spazieren und wartete, bis der Braten fertig wurde. Sie unterhielten sich fröhlich und spazierten unter schönen Bäumen. Inzwischen kamen die Söhne des Kaufmanns aus der Schule nach Hause, und da sie hungrig waren, machten sie sich sofort auf die Suche nach etwas Eßbarem, im Schrank oder anderswo. Der 479
Koch war nicht in der Küche, die Jungen gingen zum Herd und aßen vom Huhn: der ältere Bruder den rechten Flügel und der jüngere den linken Flügel. Als der Braten gar war, rief der Koch die Spaziergänger aus dem Garten zum Essen. Der Geselle war in sehr guter Stimmung und dachte: Jetzt werde ich bald König und fange an, unermeßlich viel Gold zu speien! Doch was hatte nur das liebe Männlein, als es sah, daß auf der Schüssel die Hühnerflügel fehlten? Es wurde furchtbar wütend und sagte: „Auf die Flügel hatte ich gerade den größten Appetit, jetzt aber sind sie weg – ich will keinen Augenblick mehr hierbleiben.“ Daraufhin kehrte er der Frau den Rücken und stürmte aus dem Hause des Kaufmanns hinaus. Die Kaufmannsfrau wollte ihn zwar zurückhalten, doch er verschwand wie aus der Pistole geschossen und mit furchtbarer Wut im Herzen. Einige Tage später ging der Geselle zu einer berühmten Hexe, um zu erfahren, wer die Hühnerflügel gegessen hatte. Die Hexe holte einen Eimer voll kalten Wassers ins Zimmer, ließ den Gesellen auf das Wasser schauen und schaute auch selbst darauf. Nachher eröffnete sie dem Gesellen: „Wenn du die Herzen dieser Jungen aufessen könntest, würde all das Gute deins sein, ebenso wie du es auch beim Essen der Flügel erhalten hättest.“ Der Geselle ging nach Hause und erneuerte die Bekanntschaft mit der Kaufmannsfrau. Eines Ta480
ges sagte er zu ihr: „Wenn du willst, daß ich dich ewig liebe, dann laß diese Jungen – die Söhne des verreisten Kaufmanns – töten, aus ihren Herzen einen Braten bereiten und mir zum Essen vorsetzen.“ Die Kaufmannsfrau wurde sehr traurig und begriff nicht, warum sie ihre Söhne töten lassen sollte. Dennoch, als der Geselle sehr darauf drängte, gab sie um der Liebe willen dem Gesellen nach. Sie riefen den Koch herbei, erklärten ihm, wie er die Jungen in den Wald auf die Pilzsuche locken, sie dort töten und ihre Herzen nach Hause bringen sollte. Für diese Tat boten sie ihm viel Geld. Der Koch wollte das Geld zuerst nicht nehmen und weigerte sich, die Kinder zu töten. Als aber die Kaufmannsfrau sehr böse wurde, ihn einen treulosen Sklaven nannte und auch noch bedrohte, mußte der Koch das Geld annehmen, der Kaufmannsfrau sowie dem Gesellen fest versprechen und schwören, daß er keinem etwas von seiner heimlichen Tat sagen wolle, die Jungen sofort in den Wald locken, sie töten und die Herzen nach Hause bringen werde. Sowie die Jungen aus der Schule nach Hause gekommen waren, nahm der Koch einen Korb, wickelte ein Messer in Lappen, legte es in den Korb und sagte zu den Jungen: „Gehen wir aus der Stadt hinaus und laßt uns Pilze suchen! Heute ist schönes Wetter, im Wald gibt es sicher viele Pilze!“ Die Jungen freuten sich sehr darauf. Sie nahmen sich etwas Brot mit und gingen mit dem 481
Koch aus der Stadt. Unterwegs waren die Jungen sehr lustig und dem Koch gegenüber freundlich und zugetan. Sie pflückten Blumen, liefen hin und her, erzählten dem Koch von der Schule, von ihrem verreisten Vater und von anderen Menschen. Den Koch erfaßte großes Mitleid mit ihnen. Je näher sie dem Walde kamen, desto schwerer wurde dem Koch das Herz. Schließlich konnte er es nicht mehr aushalten und erzählte ihnen alles: „Wißt ihr, Kinder, warum ich euch in den Wald bringe? Wir wollen nicht Pilze suchen. Eure Mutter hat mir befohlen, euch zu töten und eure Herzen im Korb nach Hause zu bringen. Wie kann ich aber eine solche Missetat begehen?“ „Oh, das macht nichts“, erwiderte der ältere Bruder. „Hier am Weg ist ein Dorf, wir kaufen dort zwei Lämmer, bringen sie in den Wald und schlachten sie. Du bringst ihre Herzen nach Hause, wir aber gehen, so weit wir kommen. Sei du aber zu Hause mutig und verrate nicht, daß es Lämmerherzen sind.“ Der Koch und der jüngere Bruder waren mit diesem Rat einverstanden. Sie gingen ins Dorf, kauften zwei Lämmer, schleppten sie in den Wald und schlachteten sie dort. Der Koch ging mit den Herzen nach Hause, die Jungen aber gingen weiter. Vor der Trennung verabschiedeten sich die dankbaren Brüder freundlich vom Koch, und der jüngere Bruder schenkte ihm viel Gold. Die Jungen gingen lange Zeit zusammen, sie kamen durch mehrere Städte und fremde Länder. 482
Nirgends litten sie Not oder Mangel. Wenn sie Geld brauchten, spuckte der jüngere Bruder soviel Gold, wie sie benötigten. Nachdem die Brüder schon einen sehr weiten Weg zurückgelegt hatten und an eine große Wegkreuzung gekommen waren, sagten sie: „Nun sind wir lange zusammen gewandert, wir wollen uns jetzt trennen. Wer weiß, vielleicht kommen wir im Leben noch einmal zusammen.“ Der jüngere Bruder spuckte für den älteren die Taschen voll Gold, dann küßten sie sich, nahmen Abschied und trennten sich. Der ältere Bruder ging nach rechts, der jüngere nach links, und bald hatten sie sich aus den Augen verloren. Der ältere Bruder war lange Zeit umhergeirrt. Schließlich kam er in eine Stadt. Alle Stadtbewohner waren traurig. An den Häusern wehten schwarze Trauerfahnen. Der alte König war gerade gestorben, und niemand wußte, woher sie einen neuen König nehmen sollten. Der ältere Bruder hatte aber noch keinen gefragt, warum die Stadtbewohner trauern, sondern war ruhig immer weiter in die Stadt gegangen. Als er mitten in der Stadt war, sah er über dem schäumenden Fluß, der durch die Stadt floß, eine wunderschöne Brücke. Unzählige Feuer brannten auf den Brückenpfeilern, auf beiden Seiten der Brücke standen bewaffnete Soldaten und ließen das Volk, das über die Brücke ging, an sich vorbei. Der ältere Bruder ging ebenfalls nichtsahnend hin, um über die Brücke zu gelangen. Plötzlich er483
loschen alle Lichter auf der Brücke, die Soldaten stürzten sich auf ihn und nahmen ihn fest. Ihm, dem Mann, wurde angst und bange, und er dachte: Über diese Brücke darf wohl kein Fremder gehen, jetzt wird man mich ins Gefängnis werfen. Die Soldaten brachten ihn aber in den königlichen Palast, zogen ihm königliche Kleider an und ernannten ihn zum König. Das Volk holte die Trauerfahnen ein, zog die Trauerkleider aus und war fröhlich. Der junge König fing an zu regieren. Er wurde ein sehr kluger und mächtiger Herrscher und unter den anderen Königen weithin berühmt. Auch der jüngere Bruder war lange umhergewandert. Eines Abends kam er zu einem Schmied und bat ihn um Nachtquartier. Der Schmied nahm ihn freundlich auf. Am Abend begannen sie sich über dies und jenes zu unterhalten. Der Junge war sehr gescheit und brachte mit seinen Reden den Schmied ins Staunen. Dem Schmied kam der Gedanke, den Jungen ins Handwerk zu nehmen und ihn die Schmiedearbeit zu lehren. Der Junge war damit einverstanden und fing an, das Schmiedehandwerk zu erlernen. Nach einem Jahr war er in der Arbeit so bewandert, daß er viele Dinge besser konnte als der alte Schmied selber. Sein Ruhm verbreitete sich weithin über das Land. Eines Tages schickte der Gutsherr seinen Kutscher mit den Pferden zum Schmied und befahl ihm, die Pferde schön zu beschlagen, denn er wolle zu einem großen Fest fahren.
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Der alte Schmied sagte: „Mein Pflegesohn, der junge Schmied, wird die Pferde schön beschlagen.“ Er selbst blieb mit dem Kutscher vor dem Hause zu einem Schwätzchen, denn der junge Schmied hatte gesagt, daß er die Pferde allein beschlagen werde und keinen dabei brauche. Er ging in die Schmiede, spuckte in eine Ecke der Schmiede so viel Gold, wie er für die Hufeisen der Pferde für nötig hielt, nahm dann die fertigen goldenen Hufeisen und beschlug mit diesen ganz allein die Pferde. Als die Pferde beschlagen waren, rief er den Kutscher und zeigte ihm seine Arbeit. Der Kutscher staunte sehr, woher er denn so viel Gold genommen habe, und fuhr mit den Pferden vor das Gutshaus, um dem Herrn zu zeigen, was für Hufeisen die Pferde erhalten hatten. Der Herr kam heraus, um sich die Hufeisen anzusehen, und wußte nicht wohin vor Freude und Staunen darüber, daß seine Pferde goldene Hufeisen trugen. „Woher sollte der junge Schmied das viele Gold bekommen haben?“ fragte er und befahl dem Kutscher, zurückzugehen und zu fragen, woher der junge Schmied das Gold hatte. Der Kutscher fuhr zurück, um zu fragen. Der junge Schmied erwiderte: „Wenn der Gutsherr will, kann ich ihm auch einen goldenen Wagen machen.“ Als der Gutsherr das hörte, fuhr er selbst zum Schmied und sagte: „Wenn du mir einen goldenen 485
Wagen machst, dann will ich selber vom Gut weggehen und das Gut dir überlassen.“ Der junge Schmied erwiderte: „Es ist recht.“ Jetzt verbot der junge Schmied sämtlichen Hausbewohnern, die Schmiede zu betreten. Er selbst jedoch ging täglich hin und spuckte eine Ecke der Schmiede voll Gold. Als soviel Gold da war, daß es für den Wagen reichen mochte, sagte er eines Tages zum alten Schmied: „Gehen wir jetzt an die Arbeit!“ Der alte Schmied kam mit, und sie begannen den goldenen Wagen zu bauen. Alles wurde sehr genau, nach den feinsten Regeln ausgeführt. Als der Wagen fertig war, wurde aufs Gut die Nachricht geschickt, daß der Wagen fertig sei, man solle ihn abholen kommen. Als der Wagen vor das Gutshaus gebracht wurde, kam der Gutsherr heraus, betrachtete ihn, setzte sich dann mit seiner Frau und den Kindern hinein und fuhr davon. Das große, schöne Gut blieb dem jungen Schmied, und er konnte dort froh und sorglos leben, denn die Felder des Gutes waren sehr gut. Es gab auch einen großen Obstgarten, und ein Fluß floß durch das Gut. Das ganze Volk aus der Umgebung war voll des Lobes über die Schönheit und Freundlichkeit des jungen Gutsherrn. In der Nähe des Gutes, jenseits des Flusses, lebte in einem prächtigen Hause ein alter General mit seinen fünf hübschen Töchtern. Die Töchter hörten in ihrem Garten jeden Abend, wie der junge Gutsherr in seinem Garten wunderschön die 486
Kannel spielte (denn der junge Gutsherr verstand wirklich sehr schön darauf zu spielen). Dieses Spiel ging den Mädchen derart zu Herzen, daß sie wer weiß was dafür gegeben hätten, nur um den jungen Mann zu sehen. Schließlich konnten sie nicht mehr anders und schickten ihr Mädchen nach dem jungen Gutsherrn. Der junge Gutsherr kam zu ihnen, war sehr freundlich und zuvorkommend. Am nächsten Abend wurde er wieder eingeladen. Er ging wieder hin – und so besuchte er sie fast jeden Tag. Die Generalstöchter waren alle in ihn verliebt und wollten, daß er eine von ihnen heirate. Der junge Gutsherr wollte es aber nicht. Darüber ärgerten sich die Mädchen. Als eines Abends der junge Gutsherr wieder bei ihnen war, gaben sie ihm ein Schlafmittel ein und legten ihn in ihr Bett schlafen. Nachher banden sie ihn mit einem Strick auf einem Brett fest und ließen ihn den Fluß hinunterschwimmen. Als er aufwachte, umgab ihn schon das weite Meer. Er wollte den Kopf heben, konnte es aber nicht. Alle seine Glieder – sein Kopf, seine Beine, seine Arme – waren festgebunden. Die Wellen trieben das Brett immer weiter. Nach einiger Zeit wurde das Brett an eine fremde Insel und auf einen Sandstrand geschwemmt. Auf irgendeine Weise gelang es dem jungen Gutsherrn, sich hier endlich von den Stricken zu befreien. Er ging auf die Insel. Sie war ihm völlig fremd. Überall wuchsen prächtige fremdartige Bäume. Verschiedene Vögel flogen umher und 487
sangen in den Zweigen. Doch nirgends sah er einen Menschen. Er ging auf der Insel weiter, fand verschiedenes Obst, aß es und richtete sich auf der Insel ein. Eines Tages aß er von einem Apfelbaum einen Apfel und wurde sogleich zum Pferd. Von irgendwoher sprang plötzlich ein großer Bär hervor und lief ihm nach. Das Pferd lief, so schnell es konnte, doch der Bär blieb nicht zurück. Schließlich rief der Bär: „Bleib stehen! Ich bin ebensoeiner wie du, bin gleichfalls durch einen Apfel zum Bären geworden. Hier auf der Insel gibt es viele Bäume, deren Früchte die Menschen in verschiedene Tiere verwandeln können; dagegen gibt es aber auch solches Obst, das die Tiere wieder in Menschen verwandelt.“ Zuerst wollte das Pferd den Reden des Bären nicht glauben, schließlich ging es aber doch zu ihm hin. Der Bär brachte ihn in einen großen Garten, in dem viele Bäume wuchsen. Dort nahm er von einem Baum einen Apfel, aß selbst davon und gab auch dem Pferd vom Apfel zu essen – plötzlich waren sie beide wieder Menschen. Der Mann, der vorher ein Bär gewesen war, erzählte jetzt ausführlich von den Eigenschaften der Wunderbäume und zeigte dem jungen Gutsherrn, welche Früchte die Menschen zu Ziegen machen, welche zu Schweinen, Schafen, Bären, Elefanten usw. Zum Schluß zeigte er ihm auch den Baum, dessen Früchte die Tiere wieder in Menschen verwandeln.
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Sie spazierten nun immer zusammen und warteten auf ein Schiff, um wieder in ihr Land zu gelangen, denn der andere Mann war ebenfalls durch ein Unglück auf diese Insel geraten. Das Schiff kam jedoch nicht. Sie warteten lange, aber es kam und kam keins. Endlich kam doch noch ein Schiff, und es sollte glücklicherweise genau an dem Gut vorbeifahren, das dem jungen Gutsherrn gehörte. Darüber freute sich der junge Gutsherr besonders. Er nahm Äpfel mit, die die Menschen in Stuten verwandelten, und verließ die Insel. Zu Hause warteten die Gutsleute schon lange in großer Sehnsucht auf ihn. Freude und Jubel wollten kein Ende nehmen, als er zurückkehrte. Er war wieder wie vorher sehr freundlich und mildtätig. An schönen Abenden ging er in den Garten, setzte sich auf eine Bank unter einen Baum und spielte die Kannel. Die Generalstöchter hörten es und konnten sich nicht genug wundern: Wieso konnte der junge Gutsherr vom fernen Meer wieder nach Hause zurückkehren! Das Spiel klang noch schöner als zuvor und ließ die Herzen der Generalstöchter noch höher schlagen. Tag und Nacht fanden sie keine Ruhe mehr. Schließlich schickten sie wieder ihr Mädchen zum jungen Gutsherrn und ließen ihn zu sich bitten. Der junge Gutsherr ging hin. Er war viel gesprächiger und fröhlicher als vorher. Vor dem Weggehen nahm er aus der Tasche fünf Äpfel und gab sie den Generalstöchtern. Sobald die Gene489
ralstöchter die Äpfel gegessen hatten, wurden sie alle fünf zu hübschen Stuten: Sie wieherten und schnaubten, als verlangten sie sofort nach einem Hengst. Als der General erfuhr, was der junge Gutsherr mit seinen fünf hübschen Töchtern gemacht hatte, wurde er furchtbar böse, verklagte den jungen Gutsherrn beim Gericht und schwor, komme, was da wolle, sich schrecklich an ihm zu rächen. Schon beim ersten Gericht wurde der junge Gutsherr zur Verbannung verurteilt. Das zweite Gericht war noch strenger: Der junge Gutsherr wurde sogar zum Tode verurteilt. Und dieses Urteil blieb. Der Gutsherr wandte sich wohl an alle Gerichte, doch es kam nichts Besseres heraus, stets dasselbe – der Gutsherr solle erschossen werden. Schließlich kam die Sache vor ein Kriegsgericht, aber auch dieses verurteilte ihn zum Tode. Auf einem großen freien Platz wurde ein hoher Pfosten aufgestellt und der junge Gutsherr mit starken Stricken an diesen Pfosten gebunden; er war weiß gekleidet. Neben dem Pfosten wurde ein tiefes Grab ausgegraben, damit der Gutsherr, wenn ihn die Kugeln zerfetzten, sofort in dieses Grab falle und man ihn mit der Erde zuschütte. Das Militär stand schon dem Pfosten gegenüber, die Soldaten hielten die Gewehre im Anschlag, und der Oberste kommandierte: eins, zwei. Fast hätte er auch drei gesagt, und dann wäre der junge Gutsherr zu Staub zerfetzt worden, doch in diesem Augenblick kam der König 490
auf den Richtplatz und fragte nach dem Namen des Gefangenen (denn vorher hatte er vergessen, danach zu fragen). Man nannte ihn ihm. Es war derselbe Name wie der des Königs. Der König ging an den Pfosten, um sich den Gefangenen anzusehen, und erkannte sofort, daß da sein eigener Bruder stand. Er ließ ihn vom Pfosten losbinden und machte ihn nach sich zum höchsten Manne im Lande. Nun begannen sie gemeinsam zu herrschen und herrschten sehr klug. Nachdem sie schon eine geraume Zeit geherrscht hatten, sprachen sie einmal von ihrem Vater und ihrer Mutter und beschlossen, sie besuchen zu gehen. Sie zogen sich prächtige Kleider an, darüber aber alte Bettlerkleider, und machten sich auf den Weg. Nach einigen Wochen gelangten sie in ihre Heimatstadt. Sie gingen sofort in ihr Vaterhaus. Es war Abend. In ihrem Vaterhaus wurde gerade ein großes Fest gefeiert. Die armen Bettler baten um ein Nachtquartier. Die reiche Kaufmannsfrau kam in die Küche und sagte, daß für die Armen heute kein Platz da sei, denn heute hätten sie feine Gäste im Haus. Die Armen baten jedoch sehr und sagten, sie wüßten nicht, wohin sie in der Dunkelheit und an einem fremden Ort gehen sollten. „Wir bitten, uns ein Nachtquartier zu geben.“ Schließlich ließ man sie doch da und befahl ihnen, sich in einer Küchenecke ruhig zu verhalten. Aus den Wohnräumen ertönte Musik, und es wurde ununterbrochen gefeiert. Das Küchenmädchen 491
erzählte den Bettlern, daß heute die reiche Kaufmannsfrau heirate – einen hübschen Kaufmannsgesellen. Besuch sei aus nah und fern gekommen. Die Bettler hörten sich das alles aufmerksam an. Nach einiger Zeit kam ein anderer Bediensteter aus den Zimmern in die Küche und berichtete, die Gäste hätten angefangen von alten Zeiten zu erzählen. Daraufhin sagten die Bettler: „Wenn die Gäste wollen, dann sollen sie uns kommen lassen, damit wir alte Geschichten erzählen. Wir kennen sehr schöne alte Geschichten.“ Der Bedienstete ging hinein und teilte dies mit. Die Kaufmannsfrau wollte die Armen nicht ins Zimmer lassen, doch die Gäste verlangten, daß man sie hereinkommen lasse: Sie sind alt, natürlich kennen sie schöne Geschichten. Daraufhin ließ man die Bettler in die Stube. Sie erzählten dieselbe Geschichte, von der hier schon berichtet wurde, und als sie zu Ende erzählt hatten, warfen sie die Bettlerkleider ab und standen da schlank wie die Tannen in ihren glänzenden königlichen Kleidern, mit vielen Ehrenzeichen an der Brust und mit Schwertern in den Gürteln vor den staunenden Gästen. Auch ihr Vater war aus den fremden Ländern zurückgekehrt und stand mit den anderen dabei. Ihre Mutter und der Kaufmannsgeselle wurden an Ort und Stelle gebunden und sofort in den Gefängnisturm geworfen.
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80 Wie der Dummkopf die Königstochter gewann Es waren einmal drei Brüder: zwei kluge und ein ganz dummer. Die klugen Brüder erbten das ganze Vermögen des Vaters, der dumme aber nur eine Flöte, nach deren Klängen alle tanzen mußten. Einst ging den Männern das Brot aus, und der älteste Bruder ging zum König, um von ihm Brot zu erbitten. Der König aber war ein böser Mann und sagte: „Wenn du diese große Eiche in meinem Hof bis zum Abend fällst und in Scheite zersägst, erhältst du genug Brot und noch meine Tochter dazu. Schaffst du es aber nicht, so werden aus deinem Rücken Hautstreifen geschnitten und Gerstengrannen dazwischengesteckt.“ Der Mann begann die Eiche zu fällen und fällte bis zum Mittag. Die Eiche war schon zu drei Vierteln gefällt. Die Königstochter brachte das Essen. Der Mann aß und wollte weiterarbeiten, er schaute hin – o Schreck, die Eiche war wieder festgewachsen wie vorher! Kein Span war abgehauen. „Ich sehe, aus dir wird kein Eichenfäller“, sagte der König, ließ ihm aus dem Rücken Hautstreifen schneiden und Gerstengrannen dazwischenlegen. Der Mann ging mit Schmerzen nach Hause.
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„Nun, hast du Brot gebracht?“ fragten die anderen Brüder. „Wo soll ich euch Brot gebracht haben, geht selbst welches holen“, sagte der älteste Bruder. Am nächsten Morgen ging der mittlere Bruder, um vom König Brot zu holen. „Wenn du diese große Eiche in meinem Hof bis zum Abend fällst und in Scheite zersägst, dann erhältst du Brot und meine Tochter obendrauf. Schaffst du es nicht, so werden aus deinem Rükken Hautstreifen geschnitten und Gerstengrannen dazwischengelegt“, sagte der König. Der Mann begann zu fällen – und alles verlief wie beim ältesten Bruder. Am dritten Morgen ging der dumme Bruder Brot holen und nahm die Flöte mit. Am Wegrand sah er, daß ein Beil mit voller Wucht hackte. Er sagte: „Beil, in den Sack!“ Das Beil ging auch in den Sack. Nach einer Weile sah er, wie ein Spaten eifrig schaufelte. Er sagte: „Spaten, in den Sack!“ Der Spaten ging in den Sack. Wieder nach einer Weile sah er eine Peitsche tüchtig prügeln. Er sagte: „Peitsche, in den Sack!“ Die Peitsche ging in den Sack. Der Dumme gelangte zum König und fragte nach Brot. „Wenn du diese große Eiche in meinem Hof bis zum Abend fällst und in Scheite zersägst, erhältst du Brot und meine Tochter dazu. Schaffst du es 494
nicht, werden aus deinem Rücken Hautstreifen geschnitten und Gerstengrannen dazwischengelegt“, sagte der König. Der Dumme ging zur Eiche, holte das Beil aus dem Sack heraus, setzte sich selbst hin und sagte: „Beil, fälle!“ Das Beil begann auch zu fällen. Zur Mittagszeit brachte die Königstochter das Essen. Die Eiche war in Scheite zersägt und in Klaftern geschichtet. Der Dumme aß und ging dann zum König, um Brot und die Tochter zu bekommen. Der König aber wollte die Tochter nicht geben und sagte: „Wenn du unter meiner Treppe einen Brunnen gräbst, aus dem ich morgen früh Wasser zum Waschen bekomme, erhältst du meine Tochter und auch Brot. Wird aber der Brunnen bis zum Morgen nicht fertig, so werden aus deinem Rükken Hautstreifen geschnitten und Gerstengrannen dazwischengelegt.“ Der Dumme nahm den Spaten aus dem Sack, legte sich selbst zur Ruhe und sagte: „Spaten, grabe!“ Der Spaten fing an zu graben. Am Morgen war der Brunnen fertig, und der König hatte genug Wasser zum Waschen. Der Dumme ging, um die Königstochter und das Brot zu holen, der König aber griff wieder zur List: „Wenn du einen Tag meine Hasen hütest, so daß am Abend alle Hasen beisammen sind, bekommst du meine Tochter und auch Brot. Wenn aber ein Hase fehlt, werden aus deinem Rücken
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Hautstreifen geschnitten und Gerstengrannen dazwischengelegt.“ Der Dumme ging die Hasen hüten, nahm seine Flöte und begann zu spielen, die Häschen fingen alle an zu tanzen. Der König sah, daß kein Hase davonlief, und sagte zur Tochter: „Geh und kaufe einen Hasen ab, dann wird am Abend doch einer fehlen.“ Der Dumme verlangte dafür eine Kiepe Gold. Die Tochter ließ das Gold hinbringen und ging mit dem Häschen nach Hause. Sie war eine Strecke gegangen, da fing der Dumme wieder an zu spielen, und der Hase lief zurück. Der König schickte die zweite Tochter, einen Hasen zu kaufen. Der Dumme verlangte dafür zwei Kiepen Gold. Die Tochter ließ das Gold hinbringen und erhielt das Häschen. Sie war eine Strecke gegangen, da fing der Dumme an, auf der Flöte zu spielen, und der Hase lief zurück. Schließlich schickte der König seine Frau. Der Dumme verlangte drei Kiepen Gold. Das Gold wurde gebracht, und die Frau bekam das Häschen. Sie war eine Strecke gegangen, als der Dumme anfing zu spielen und der Hase zurücklief. Am Abend hatte der Dumme alle Häschen beisammen. „Gut, jetzt ruhe dich in der Nacht aus; am Morgen bekommst du die Tochter und auch Brot“, sagte der König und brachte den Dummen in ein Zimmer, in dem ein großer Bär eingeschlossen war.
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„Rasier mir den Bart ab“, sagte der Bär, als der Dumme hineintrat. „Gut, aber lege deine Pfoten hierher zwischen die Wandbalken, dann hältst du besser still“, sagte der Dumme und hob einen Wandbalken an. Der Bär legte die Pfoten dazwischen. Der Dumme nahm die Peitsche aus dem Sack und sagte: „Peitsche, prügle!“ Und die Peitsche begann zu prügeln. Sie prügelte dem Bären das ganze Fell vom Rücken herunter. Wohl schrie der Bär, so laut er konnte, und bat ihn loszulassen, doch der Dumme hörte nicht darauf. Schließlich, als der Bär genug hatte, sagte er zur Peitsche: „Peitsche, in den Sack!“ Doch die Pfoten des Bären ließ er zwischen den Balken. Am nächsten Morgen ging der Dumme zum König, um von ihm die Tochter und Brot zu bekommen. Der König staunte, daß der Dumme überhaupt noch lebte, und sah ein, daß er diesen Mann nicht loswerden konnte. Er gab ihm die Tochter und viel Brot und schickte sie weg. Der Dumme und die Königstochter waren eine Weile gegangen, da ließ der König den nackten Bären frei und sagte: „Geh und zerreiße sie beide!“ Der Dumme sah den Bären kommen, zog die Königstochter nackt aus und schob sie vor den Bären. Der Bär lief davon, ging zum König und sagte: „Ich konnte ihnen nichts antun, sie waren ebenso nackt wie ich!“ 497
81 Die goldenen Flügel Zwei Goldschmiede stritten sich einst in einem Wirtshaus darüber, wer von ihnen der Klügere und der Geschicktere in seiner Arbeit sei. Jeder lobte sich, und sie kamen zu keiner Entscheidung. Schließlich gingen sie zum König und baten ihn, ein klares Urteil zu fällen. „Das ist eine leichte Sache“, sagte der König, „jeder von euch wird jetzt eine solche Arbeit anfertigen, die er für die beste hält, und sie zu mir herbringen. Dann werde ich daran erkennen, wer der Klügere ist.“ Die Goldschmiede gingen. Nach einigen Tagen sagte man dem König, daß die Goldschmiede draußen warteten und bäten, vorgelassen zu werden. Der König befahl dem ersten hereinzukommen. Dieser trat ein. Er bat um eine Schüssel Wasser. Sie wurde gebracht. Der Goldschmied ließ einen goldenen Fisch in die Schüssel. Dieser Fisch lebte und schwamm munter in der Schüssel umher. „Sieh einer an, das ist ja ein erstklassiges Meisterstück“, sagte der König. „Der zweite wird wohl etwas Ähnliches nicht mehr fertigbringen, du bist sicher der Klügere.“
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Er befahl, den zweiten Goldschmied hereinzulassen. Dieser hatte Goldflügel gemacht. Er legte sie an und flog in der Stube umher. „Ohoo! Du bist klüger, du bist klüger“, sagte der König zum zweiten und ließ beide gehen. Der Königssohn kaufte dem Goldschmied die Goldflügel ab, und nun tat er nichts anderes, als jeden Tag mit den Flügeln umherzufliegen. Eines Tages flog er über die Stadt zur Hafenmole, wo viele fremde Schiffe vor Anker liegen. Dort kam er mit einem Matrosen von einem fremden Schiff ins Gespräch. Der Matrose erzählte ihm, daß die einzige Tochter seines Königs gefangengehalten werde. Als sie geboren wurde, habe ihr eine Hexe prophezeit, daß sie gestohlen werde. Deshalb würde sie im zweiten Stock des Königsschlosses unter starker Bewachung gehalten, und keine Menschenseele könne zu ihr gelangen. Nur eine alte Dienerin bringe ihr das Essen hin. Der Königssohn wußte sofort Rat. Er forschte nach, wo und an welchem Fenster sich die Kammer der Königstochter befindet. Sobald das Schiff abgesegelt war, flog er über das Meer. Er flog in die Stadt des fremden Königs. Es war früh am Morgen, als er dort ankam. Alle Stadtbewohner, der König selbst und die Diener schliefen noch. Das Fenster zur Kammer der Königstochter stand offen. Der Königssohn flog hinein. Auch die Königstochter schlief noch. Der junge Mann küßte die Königstochter, und das
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Mädchen lächelte im Schlaf. Schließlich schlug sie die Augen auf. Der Königssohn erzählte ihr, daß er gekommen sei, um sie zu befreien. Und das Mädchen freute sich. Doch bald kam die alte Dienerin die Treppe herauf. Was tun? Der junge Mann war in Not, das Mädchen nicht minder. Schließlich schob das Mädchen den jungen Mann in den Kleiderschrank. Die Dienerin kam herein, besorgte ihre Pflichten und ging wieder hinaus. Der Jüngling konnte herauskommen. So lebte der junge Mann einige Zeit bei der Königstochter. Wenn die Dienerin hereinkam, war er im Kleiderschrank, in der übrigen Zeit aber liebkoste er die Königstochter. Doch die alte Dienerin bemerkte, daß die Königstochter seit einiger Zeit viel mehr Speisen verbrauchte als früher. Und auch der Bauch der Königstochter wurde runder, als er vorher war. Die Dienerin schöpfte Verdacht, daß noch jemand im Zimmer sein müsse. Sie schnupperte wohl herum, aber es war niemand zu sehen. Einmal hatte die Königstochter vergessen, die Schlüssel des Kleiderschranks abzuziehen, und die Dienerin schaute in den Schrank. Der Jüngling stand im Schrank. Mit großem Geschrei und Gekreisch lief sie hinunter und erzählte dem König, daß sich ein Jüngling bei seiner Tochter aufhielt und ihre Angelegenheit schon weit gediehen war. Der König wurde zornig und rief die Ratgeber zusammen. Es wurde lange beraten, und schließ500
lich kam man zu der Entscheidung, die beiden auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Die Verbrennung wurde auf den Abend desselben Tages festgesetzt. Dem Jüngling und dem Mädchen wurde das Urteil bekanntgegeben: aus dem Zimmer wurden sie jedoch nicht herausgelassen. Das Mädchen fing an zu weinen und weinte und heulte zum Erbarmen. Doch der Jüngling freute sich, lachte und tröstete das Mädchen. Die Zeit der Verbrennung kam heran, und man wollte sie zum Scheiterhaufen bringen. Der Jüngling legte die Goldflügel an und befahl der Königstochter, sich an ihm festzuhalten. Hui! Wie sie aus dem Fenster hinaus waren und über die Stadt flogen. Von unten wurden sie gesehen, und man schoß aus Flinten nach ihnen, traf sie jedoch nicht, denn sie waren schon über dem Meer. Der Königssohn gelangte glücklich nach Hause und ließ eine prächtige Hochzeitsfeier ausrüsten. Er lebte lange mit seiner Frau in einer glücklichen Ehe.
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82 Die geschenkte Flöte Ein sehr armer Junge, dessen Vater und Mutter nach dem Willen des Taara von dieser Welt abberufen wurden, hütete die hungrigen Gutsschweine. Die Schweine sind ja nun wohl die allerfaulsten und schläfrigsten Tiere auf einer Weide, wenn sie satt sind. Sind sie aber hungrig und haben sie nichts anderes zu fressen als das, was sie selbst finden, dann sind sie ganz wild. Hui, hui, laufen sie umher, das eine hierhin, das andere dorthin, und der arme Junge kann sehen, wie er fertig wird. Auf diesem Gut bekamen die Schweine nichts zu fressen, sondern mußten sich ihren Teil an den Mauerrändern suchen oder nur vom Gras leben. Der arme Junge hatte mit ihnen seine Not. Obwohl er sich sehr abmühte, bereiteten ihm einige immer wieder Scherereien. Und es ist ja bekannt, wenn die Schweine Schaden anrichten, bekommt der Junge den Stock des Gutsvogts oder die Schläge des Obmanns zu spüren. Auch die Schritte des Gutsaufsehers und des Speicherwärters kannte er und zitterte schon, wenn einer von ihnen auftauchte. So sehr hatten sie alle den Jungen verwalkt.
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Einmal verprügelte wieder der Gutsvogt oder der Aufseher den armen Jungen erbarmungslos wegen einer ganz geringen Schuld. Nach den Prügeln weinte der Junge bitterlich, und in der Zwischenzeit liefen die Schweine in verschiedene Richtungen davon, so daß der Junge nicht mehr wußte, wo sie waren. Jetzt glaubte sich der Junge vollends verloren. In der größten Not erschien vor ihm ein großer grauer Alter mit einem langen Bart, einer Knollennase und einem halbkahlen Kopf. Er fragte den Jungen: „Warum weinst du?“ Der Junge erzählte dem sonderbaren Alten seine ganze Not und sagte: „Jetzt sind wieder einige Schweine wer weiß wo. Wie soll ich Unglücklicher sie je wieder zusammenbringen!“ Der Alte nahm eine kleine silberne Flöte aus der Tasche, gab sie dem Jungen und sagte: „Verlier sie nur nicht! Solange du die Flöte hast, brauchst du nirgends den Schweinen nachzulaufen, und keiner kann dir etwas tun. Schau, Junge, wenn du von dem einen Ende hineinbläst, kommen alle Schweine zusammen, ganz gleich, wo sie sich befinden; wenn du aber vom anderen Ende hineinbläst, fangen alle die an zu tanzen, die du während des Spiels ansiehst.“ Noch ehe der Junge sich bedanken konnte, verschwand der Alte. Der Junge blies in die Flöte, und alle Schweine kamen zu ihm und fraßen ganz ruhig. Der Junge setzte sich auf einen Stein und ruhte sich aus.
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Um diese Zeit ging der Speicherwärter vorbei und sah, daß der Junge auf der Erde saß und auf die Schweine nicht aufpaßte. Er kam an den Jungen heran, beschimpfte ihn und wollte ihn auch verprügeln. Der Junge blies von der anderen Seite in die Flöte, und der alte grauköpfige, dickbäuchige Speicherwärter fing gegen seinen Willen unter Stöhnen zu tanzen und zu drohen an. Der Junge blies die Flöte so lange, bis der Greis vor Müdigkeit schwitzte und den Jungen anzuflehen begann. Während des Spiels schaute der Junge einmal die Schweine an, und auch die Schweine begannen mit dem Speicherwärter zusammen zu tanzen. Als der Speicherwärter seinen Tanz beendet hatte, ging er wütend zum Obmann und beklagte sich darüber, daß ihm der Schweinehirt übel mitgespielt habe. Der Obmann ging, um mit dem Jungen zu schimpfen, und drohte, ihm die Haut zu verwalken, wenn er es wagte, noch einmal solche Späße zu machen. Der Obmann ging dann zu einem Heckenrosenbusch und begann dort mit dem Messer dornige Zweige abzuschneiden, um damit den Jungen zu verprügeln. Der Junge dachte: Jetzt ist die richtige Zeit gekommen. Er blies von der anderen Seite in die Flöte, und der Obmann begann in der Dornenhekke zu tanzen, so daß ihm bald Gesicht und Hände blutig zerkratzt waren. Der Junge hörte nicht eher auf zu spielen, bis der andere todmüde war und mit kläglicher Stimme bettelte und flehte. Mit Mü504
he schleppte er sich zum Gut. So müde war er wahrscheinlich noch nie in seinem ganzen Leben. Am nächsten Tag klagte er vor dem Gericht. Er verlangte, daß die Richter den Jungen, ohne ihn hinzubestellen, verurteilten. Die Richter waren aber sehr neugierig und wollten selbst diesen Spaß erleben. Sie dachten, daß sie dabei wohl doch nicht selbst nach der Flöte des Jungen zu tanzen brauchten, und es sollte der Obmann nur herumspringen, wenn er es wolle. Am nächsten Tag kam der Junge vors Gericht. Die Gerichtsherren fragten: „Hat deine Flöte auch hier die Kraft, die sie gestern beim Schweinehüten hatte?“ Der Junge sagte: „Das weiß ich auch nicht. Wenn die Herren es wünschen und erlauben, dann kann ich es ja versuchen.“ Obwohl der Obmann dagegen war, daß es die Gerichtsherren erlaubten, befahlen sie dem Jungen doch, in die Flöte zu blasen. Der Junge blies. Plötzlich fingen alle an zu tanzen. Einige sprangen von den Stühlen auf und umfaßten die Stuhllehne, manche hielten sich am Tischrand fest, andere blieben sitzen, sich mit beiden Händen am Stuhl festhaltend, und tanzten auch so halbgekrümmt weiter. Wer irgend etwas zu fassen bekam, tanzte damit umher. Da waren der Tanz und der Lärm groß, alle Bücher, Papiere und Tintenfässer wurden vom Tisch geworfen, und immer im Tanz, herauf und herunter. Der Junge blies laut und ununterbrochen; deshalb konnten die Tanzenden nichts sagen. 505
Nur der Obmann sagte dazwischen: „I-ch warar da-da-da-gegen-gegen!“ Schließlich war der Junge vom Blasen müde, die Flötentöne wurden langsamer. Auch die Tanzsprünge ließen nach, und man hatte die Möglichkeit, etwas zu sagen. Dem Jungen wurde versprochen: „Wenn du mit dem Flötenblasen aufhörst, versprechen wir dir die Freiheit. Aber du mußt von hier weggehen, damit unsere Augen dich nicht mehr sehen.“ Der Junge hörte auf zu blasen und eilte freudig davon. Wenn er heute irgendwo Starrköpfige findet, straft er sie mit Tanz.
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83 Die Heirat des Kaufmanns Ein reicher Kaufmann wollte heiraten, fand aber in seiner Umgebung keine, die so gewesen wäre, wie er sie sich wünschte. Es blieb ihm schließlich nichts übrig, als schöne Kleider anzuziehen und durch die Welt zu wandern, auf der Suche nach einer solchen Frau. Er suchte und suchte, fand aber keine und war deswegen sehr bekümmert. Nun, wenn die Sonne der Hoffnung schon im Schwinden ist, kommt das Glück und hilft den Menschen weiter. Der Kaufmann geht durch eine Dorfstraße und sieht, wie eine Frau Kohl jätet. Als er in ihre Nähe gelangt, hebt das Mädchen die Hand vor die Augen und betrachtet aufmerksam den Kaufmann. Der Kaufmann sieht, daß es ein schönes Mädchen ist, und begrüßt sie: „Guten Tag, Mädchen!“ Das Mädchen erwidert den Gruß und jätet weiter. Der Kaufmann geht jetzt ins Haus und sagt dem Vater, daß er seine Tochter zur Frau nehmen möchte. Der Vater ist auch gleich einverstanden, jedoch unter einer Bedingung: Der Kaufmann müsse ihm versprechen, wenn seine Tochter sterben sollte, drei Nächte an ihrem Grabe zu wachen. Der Kaufmann verspricht es; das Mädchen zieht schöne Kleider an und geht mit dem Kaufmann. 507
Sie kommen nach Hause und richten die Hochzeit aus. Es wird eine sehr schöne Hochzeit. Aber, o Unglück, einige Wochen nach der Hochzeit starb die Frau. Der Kaufmann weinte sehr und bestattete sie. Jetzt erinnerte er sich auch daran, daß er dem Vater der Frau versprochen hatte, drei Nächte am Grabe seiner Frau zu wachen. Mit gebrochenem Herzen und mit tränenfeuchten Augen ging er hin, sein Versprechen zu erfüllen. Ein gutes Schwert nahm er dabei mit. Er wachte die erste Nacht, es geschah nichts, wachte die zweite Nacht, es geschah wieder nichts. Er wachte die dritte Nacht, da hörte er ein Rascheln. Er schaute hin und sah: Eine schwarze Schlange kam, drehte sich zum Knäuel und kroch auf den Grabstein. Der Kaufmann zog sein Schwert und zerhackte die Schlange in drei Stücke. Bald darauf kam eine zweite Schlange, etwas größer als die erste, und kroch auch auf den Grabstein hinauf. Sie sah die erste Schlange tot liegen, kroch näher und ließ aus ihrem Maul drei Goldblätter herausfallen, das eine auf den Kopf, das andere auf den Körper und das dritte auf den Schwanz. Die tote Schlange wand sich, wuchs zusammen und wurde lebendig. Dann krochen die beiden Schlangen davon. Die goldenen Blätter blieben auf dem Stein. Der Kaufmann dachte: Wenn diese goldenen Blätter die Schlange zum Leben erweckt haben, vielleicht können sie auch meine Frau zum Leben erwecken.
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Er holte einen Spaten, grub die Tote aus und legte sie auf das weiche Gras. Dann nahm er die goldenen Blätter, legte das erste auf den Kopf, das zweite auf den Körper und das dritte auf die Beine. Er machte es genauso, wie er es bei den Schlangen gesehen hatte, und siehe – die Tote erwachte zum Leben. Nun gingen sie zusammen nach Hause, der Kaufmann behielt aber die goldenen Blätter, denn wer weiß, vielleicht würde er sie später noch brauchen können. So lebte nun der Kaufmann wieder ein glückliches Leben; alle Sorgen und Mühen waren vorbei. Einst beschloß der Kaufmann, ins Ausland zu reisen; er baute sieben feste Schiffe, nahm viel Ware mit und machte sich auf den Weg. Vorher sagte er noch zu seiner Frau: „Schau, hier sind die drei goldenen Blätter, die dich zum Leben erweckt haben.“ Er gab seiner Frau die Blätter. „Bewahre sie sorgfältig; sollte ich sterben oder verschwinden, suche mich auf und erwecke mich mit diesen Blättern zum Leben.“ Einige Zeit nach der Abreise des Kaufmanns zog ein älterer General in ein Zimmer zu der Frau des Kaufmanns. Eines Tages sagte er zur Frau: „Ich lebe schon einige Zeit bei Euch im Hause, aber Euren Mann habe ich nicht gesehen, seid Ihr Witwe, oder ist Euer Mann verreist?“
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Die Frau sagte, der Mann sei mit sieben Schiffen ins Ausland gereist, bisher jedoch noch nicht zurückgekehrt. Sofort log der General: „Ach, mit sieben Schiffen! Man sagte, einer sei im Ausland umgekommen. Sicher ist es Euer Mann.“ Die Frau erschrak sehr, als sie solche Rede hörte, und konnte nicht A und nicht O sagen. Der General fing an zu trösten: „Ach, was grämt Ihr Euch so, kommt mit mir in mein Land, dort werdet Ihr es viel besser haben!“ Die Frau hörte auch auf seine Worte, packte die Sachen zusammen, verkaufte den Kaufladen und ging mit dem fremden Mann ins Ausland. Bald aber kehrte der Kaufmann zurück, sah, was geschehen war, erboste sich sehr und folgte den anderen nach Hörensagen. Schließlich kam er auch in das Land und in das Schloß. Hier wurde er mit einem Schloßdiener bekannt. Sie wurden zu Freunden, und der Kaufmann bat jenen, der Frau die goldenen Blätter zu stehlen und ihm zu bringen. Der Diener tat es und brachte die Blätter dem Kaufmann. Der ging jetzt ins Zimmer, um die Frau zu besuchen. Der General aber stieß mit dem Schwert zu und erschlug den Kaufmann. Er befahl dem Diener, ihn wegzuräumen. Der Diener brachte ihn auf den Hof und legte ihn aufs Gras. Er nahm die goldenen Blätter und legte sie dem Kaufmann darauf, so wie der ihn vorher gelehrt hatte, und, o Wunder – der Kaufmann erwachte zum Leben, ebenso gesund wie vorher. Nun berieten sie sich mit dem Diener, 510
was zu tun sei. Sie fanden aber keinen anderen Ausweg, als daß der Kaufmann die Frau dem General überlassen und selbst Soldat werden sollte. Er tat es denn und ging zu den Soldaten. Er wurde Musiker, da er dieses Handwerk von früher her ein wenig kannte. Durch Übung kam er gut voran und spielte sogar am besten von allen. Davon hörten auch der General und seine Frau. Den Kaufmann erkannten sie nicht wieder; sie glaubten, er sei tot, und bestellten ihn in ihr Schloß zum Musizieren. Der Kaufmann kam sehr gern. Der Mann hatte ein gutes Leben, er brauchte nur etwas Musik zu machen. Einmal hatten die Generäle und Herren ein großes Fest; es kamen ihrer Hunderte und Tausende zusammen. Der Kaufmann ging als Musiker hin. Während der Tafel sagte der Kaufmann: „Sagt, Generäle und Herren, was muß mit einer Frau geschehen, die ihrem Mann davonläuft?“ Alle sagten: „Was denn sonst, so eine Frau muß in Stücke zerhauen werden.“ „Und was muß mit dem Mann geschehen, der mit ihr lebt?“ Alle sagten: „Was denn sonst, es muß ihm der Kopf abgeschlagen werden.“ Jetzt erzählte der Kaufmann die ganze Geschichte und bat die anderen, das Urteil zu fällen. Es geschah, wie gesagt: Die Frau wurde in Stücke zerhauen und dem General der Kopf abgesägt. Der Kaufmann ging in sein Land zurück, nahm sich eine andere Frau und lebte noch glücklich bis zum Tode. 511
84 Wahrheit und Lüge Wahrheit und Lüge gingen auf Wanderschaft, beide hatten Brotbeutel mit. „Warum sollen wir beide unsere Brotbeutel öffnen? Essen wir doch gemeinsam aus deinem Beutel und dann, wenn er leer ist, aus meinem“, sagte Lüge und schaute den anderen Gesellen schlau an. Wahrheit, der nichts Schlechtes dachte, war damit einverstanden. Nach einigen Tagen war der Beutel von Wahrheit leer, und die Reihe kam an den Beutel des anderen. Ja, das sollte wohl so sein, doch Lüge gab dem anderen keinen Mundvoll ab, und deshalb mußte der mit leerem Magen weiterziehen. Schließlich überfiel ihn doch die Schwäche, denn gegen die Natur kann auf die Dauer niemand ankämpfen, will er nicht ein Opfer des Todes werden. Nach diesem Gesetz der Natur verlangte auch der Magen unseres Gesellen Wahrheit energisch nach Speise – oder er mußte sterben. In Todesangst bat er wieder einmal seinen Freund um Brot. Der aber sagte unerbittlich: „Ich gebe dir Brot, doch nur dann, wenn du dir deine beiden Augen ausstechen läßt.“ Ein altes Sprichwort sagt: Die Not jagt den Ochsen in den Brunnen. 512
In seiner großen Not rief nun der Geselle Wahrheit: „Stich schon aus, aber gib mir Brot!“ Diese schreckliche Tat wurde auch vollbracht, doch Wahrheit mußte sich mit ebenso leerem Magen weiterquälen wie vorher, denn Lüge gab ihm nichts. Auf die Bitten des anderen, ihn zu Menschen zu geleiten, nahm ihn Lüge bei der Hand und ging weiter, bis sie zu einer Kirche mit einem Friedhof kamen. Dort geleitete er den anderen durch das Tor in den Friedhof hinein mit den Worten: „Jetzt bringe ich dich in eine große Stadt; hier wirst du vielleicht finden, wonach dein Magen verlangt.“ In großer Herzensnot tastete sich Wahrheit an den Grabkreuzen entlang, doch die erhoffte Stadt fand er nirgends. Er rief einige Male, doch es kam keine Antwort. Schließlich fand er die Totenkammer des Friedhofs. Da die Tür geschlossen war, kroch er unter eine Wand. Seine letzte Hoffnung war dahin, und er erwartete den Tod, wobei er in eine Ohnmacht oder einen Dämmerschlaf verfiel. Beim Aufwachen hörte er zwei Raben miteinander streiten. (Unser Freund Wahrheit verstand die Vogelsprache, wie sie in alten Zeiten so mancher verstand.) „Ich weiß, was ich weiß, doch ich rede nicht davon!“ Der andere entgegnete: „Ich weiß auch etwas, sei auf dein Wissen nicht gar zu stolz, erzählen wir einander, was wir wissen, dann werden wir beide klüger sein.“
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„Es sei“, entgegnete der erste Rabe, wetzte seinen Schnabel und begann zu erzählen. „Wie dumm sind doch die Menschen, obwohl sie sich selbst für klug halten. Wie viele Blinde gibt es unter ihnen, doch keiner weiß, daß rechter Hand auf der Treppe unserer Kirche unter dem Eckstein der dritten Stufe wunderbare Erde liegt. Wer sich mit dieser Erde die blinden Augen reibt, wird gesund, wenn er sie danach in der Quelle unter der Kirche wäscht. Aber wie ich schon sagte, das weiß keiner von ihnen.“ „Sehr gut!“ entgegnete der andere, „jetzt will auch ich dir mein Geheimnis verraten. Gegenwärtig ist die einzige Tochter unseres Königs sterbenskrank, doch die klugen Ärzte werden sie tatsächlich sterben lassen, denn sie kennen keine richtige Medizin. Dazu wäre aber keine große Kunst notwendig. Hinter der Stadt liegt ein großer Stein, unter dem Stein ist eine Quelle. Wenn sie von diesem Quellwasser zu trinken bekäme, würde sie sofort gesund werden.“ Sobald die Raben weggeflogen waren, kam Wahrheit mit großer Anstrengung vom Boden hoch. Er schleppte sich auf den Händen am Rande des Friedhofs weiter, bis er zur Kirche kam, dort auf der erwähnten Treppe unter dem Eckstein die Erde fand, sich damit die Augen rieb und den Stein wieder auf seinen Platz zurücklegte. In großer Sorge torkelte er um die Kirche herum und über den Platz. Zum Glück kam ein Kirchendiener, um die Kirche für den Sonntag zu reinigen, und
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geleitete ihn zum Fluß, wo er seine Augen auswaschen konnte. Frohen und dankbaren Herzens sah er jetzt wieder die schöne Gotteswelt, denn seine Augen waren wieder ebenso sehend wie zuvor. Nachdem er seinen Hunger bei guten Menschen gestillt hatte, ging er in die Stadt des Königs. Dort waren alle Leute traurig und sprachen von der kranken Tochter des Königs, die nach Meinung der Ärzte wahrscheinlich bald würde sterben müssen. Wahrheit aber ging zum Haus des Königs und ließ dem König ausrichten, daß er die Königstochter gesund machen wolle. Im Herzen des Königs flammte wieder Hoffnung auf, und er versprach Wahrheit die Hälfte seines Vermögens, falls er das schafft. Wahrheit nahm zwölf starke Männer, ging aus der Stadt hinaus zu dem erwähnten großen Stein. Dort wurde der Stein beiseite geschoben, und unter ihm sprudelte eine Quelle. Wahrheit nahm klares Wasser aus der Quelle und gab es der Königstochter zu trinken. Bald darauf erholte sich die Königstochter und verlangte nach kurzer Zeit zu essen. Einige Tage darauf war sie wieder ganz gesund. Der König hielt sein Versprechen und gab Wahrheit die Hälfte seines Vermögens, das ihm in Geld ausgezahlt wurde. Mit großem Vergnügen ging Wahrheit aus der Stadt des Königs hinaus, mehrere Pferde zogen Geldfuhren. Unterwegs kam ihm Lüge entgegen 515
und staunte nicht wenig über das Glück von Wahrheit! Er fragte, wieso Wahrheit so reich geworden sei. Wahrheit erzählte ihm kurz, wie die Raben ihn auf den Weg des Glückes geleiteten, als er halbtot bei der Totenkammer eingedämmert war. Lüge bat Wahrheit, auch ihm die Augen auszustechen und ihn zum Friedhof zu geleiten. Wahrheit weigerte sich, es zu tun, doch schließlich erfüllte er den Wunsch des anderen und führte ihn durch das Tor auf den Friedhof. Mit schmerzenden Augen wartete Lüge auf das Kommen der Raben, die auch bald erschienen. Zuerst stritten sich die Raben wieder auf die bekannte Weise; doch bevor sie einander ihr Wissen anvertrauten, sagte der eine Rabe: „Vielleicht hört sich wieder ein Mensch unsere Geheimnisse an und versucht dann sein Glück, wie es das letzte Mal geschah.“ Sie flogen, um nachzusehen, um die Leichenkammer herum und fanden Lüge an der Wand. Hilf Himmel! Wie sie mit ihren Schnäbeln an die Arbeit gingen, sie hackten so lange auf ihn ein, bis er tot hinfiel. Dort fand ihn später der Kirchendiener und beerdigte ihn.
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85 Mats’ Sohn Mats Ein Kätner hatte einmal einen sehr starken, doch auch sehr faulen Sohn, der Mats hieß. Da aber der Name des Vaters auch Mats war, nannte man ihn immer Mats’ Sohn Mats. Einst schickte ihn der Vater in den Wald, Fronholz zu fällen. Unser Mats nahm seinen Brotsack auf die Schultern, ging in den Wald, wo die anderen Holz fällten, und legte sich am Feuer zum Schlafen nieder. Das war am Montag. Am Mittwoch stand er vom Boden auf, gähnte, drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder. Am Sonnabend kam der Gutsvogt, um das Holz zu holen. Nachdem er es von den anderen entgegengenommen hatte, kam er ans Feuer. Als er Mats sah, fragte er, wer denn das sei und wo das von ihm geschlagene Holz liege. Mats stand auf, gähnte, aß, nahm das Beil in die Hand und ging in den Wald. Oh, wie jetzt die Scheite flogen! Am Abend hatte Mats sechs Klafter Holz geschlagen und lieferte sie ebenso ab wie die anderen. Der Gutsvogt erzählte diese Geschichte dem Gutsherrn. Als der Gutsherr das hörte, ging er sofort zum Kätner und bestellte sich den Jungen zum Knecht, versprach auch dem Vater, ihm die Kate unentgeltlich zu überlassen. Als Entlohnung 517
verlangte der Junge so viel, wie er auf dem Rükken wegtragen könne. Nun, mein ganzes Gut wird er nicht wegtragen können, dachte der Gutsherr und versprach es ihm. Am nächsten Montag war auch Mats’ Sohn Mats auf dem Gut und fragte nach Arbeit. Man gab ihm zwei Pferde und befahl ihm, das Heu einzubringen. Mats spannte die Pferde vor den Schlitten und fuhr zu den Schobern. Hier brach er sich starke Fichten ab, legte sie als Stämme auf den Schlitten, hob beide Schober darauf, band sie von beiden Seiten mit Stricken fest und wollte losfahren. Doch, o Unglück, die Pferde rührten sich nicht von der Stelle. Schließlich riß Mats’ Sohn Mats die Geduld. Er holte aus dem Walde zwei balkendicke Fichtenstämme und begann damit auf die Pferde einzuschlagen. Aber schon bei den ersten Schlägen fielen sie hin und krepierten. Da warf er die Pferde auf die Fuhre, nahm die Deichsel in die Hand und stapfte nach Hause. Zu Hause angelangt, schleppte er die Fuhre zur Stalltür und sagte: „Da ich einen Tag lang die Arbeit für die Pferde getan habe, kann ich also ruhig die nächsten Tage schlafen. In Zukunft gebt mir aber keine solchen Klepper mit, die beim ersten Peitschenschlag krepieren.“ Er warf die Deichsel hin und ging in sein Zimmer, wo er sich zum Schlafen niederlegte und bis zum Sonnabendmorgen schlief.
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Am Sonnabend ging er zum Gutsschuppen, in dem der Hanfvorrat aufbewahrt wurde, und begann dort maßlos dicke Stricke zu drehen. Voller Schreck lief der Gutsvogt herbei: „Was machst du, du Bösewicht, du verbrauchst ja unseren ganzen Hanfvorrat!“ Ihm antwortete Mats, daß er doch nur einige Stricke drehe, um damit seinen Lohn wegzutragen, wenn das Jahr um wäre. Wohl kreischte der Gutsvogt noch eine Weile, doch unser Mats’ Sohn Mats beachtete ihn gar nicht. Am nächsten Montag wurde ihm das stärkste Pferd aus dem ganzen Gut gegeben und befohlen, aus dem Walde Holz zu fahren. Mats ging. Er lud einen Klafter Holz auf und machte sich auf den Rückweg. Das starke Pferd wäre damit fertig geworden, wenn der Schlitten nicht gebrochen wäre. Der Mann ging zum Gut, um einen anderen Schlitten zu holen, doch inzwischen war ein Bär gekommen und hatte das Pferd gerissen. Als Mats zurückkam, war der Bär gerade dabei, das Pferd aufzufressen, und hatte keine Lust wegzugehen. Schwups, saß ihm Mats auf dem Rükken, und augenblicklich war das Kummet dem Bären um den Hals gelegt, und er stand zwischen den Deichseln. Bald war auch die Fuhre aufgeladen, und Mats fuhr damit auf den Gutshof. Hier lud er die Fuhre ab und ließ seinen „Hengst“ mit dem ganzen Schlitten in den Wald fahren. Selbst aber ging er nach Hause und schlief dort bis zum Sonnabend. Mit Schrecken sah der Gutsherr, daß er ein solches Tier loswerden mußte. 519
Am dritten Montag befahl er ihm, zum schwedischen König zu gehen, um von ihm zwei Bütten Gold zu holen, und gab ihm auch einen Brief mit. Mats’ Sohn Mats ging. Angelangt, sagte er dem Pförtner, er habe dem König einen Brief zu übergeben. Der Pförtner wollte ihn nicht hineinlassen, denn der König war gerade beim Essen. Doch Mats’ Sohn Mats ließ den Pförtner auf der Stelle die Stufen der Treppe bis nach unten abzählen und trat selbst in das Schloß ein. Der König saß gerade am Mittagstisch. Als er gehört hatte, was Mats’ Sohn Mats von ihm wollte, sagte er, er werde hingehen und nachsehen, ob so viel Gold vorhanden sei, und flitzte durch die Tür hinaus. Der Magen von Mats’ Sohn Mats war aber nach dem langen Marsch leer. Da setzte er sich an den Tisch und verschlang einen Teller voll nach dem anderen. Der König freilich hatte sofort seine Truppen zusammenrufen und sie das Schloß umstellen lassen. Da es nun niemand wagte hineinzugehen, ließ er aus den Kanonen ins Schloß schießen. Mats’ Sohn Mats aß ruhig weiter, und als der erste Schuß den Suppenteller zerbrach, sagte er: „Was, zum Teufel, spielen sie da mit Erbsen!“ Da der König noch immer nicht zurückkehrte, suchte Mats schließlich die Schatzkammer des Königs auf, lud sich dort vier Bütten Gold auf den Rücken und machte sich auf den Rückweg, ohne das Schießen der Soldaten zu beachten.
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Zu Hause angelangt, gab er zwei Bütten Gold dem Herrn, die anderen zwei behielt er für sich. Er ging in die Küche, wo für das ganze Gesinde Suppe gekocht wurde, und begann aus dem Kessel zu essen. Nach einiger Zeit war der Kessel leer, aber der Magen von Mats’ Sohn Mats war noch nicht voll. Er fragte nach mehr. Weil jedoch nichts mehr da war, entließ ihn der Herr aus dem Dienst und versprach ihm, den Lohn auszuzahlen. Dazu befahl er ihm, zur Scheune zu kommen, wohin ihm der Gutsherr persönlich vorausgegangen war. Mats’ Sohn Mats nahm seine Stricke und ging zur Scheune. Der Gutsherr befahl ihm, so viel auf den Rücken zu nehmen, wie er tragen konnte. Mats’ Sohn Mats schob die Scheunentür zu, band die Stricke um die Scheune, nahm sie auf den Rücken und brachte sie vor die Kate des Vaters. Dann öffnete er die Tür, ließ den Gutsherrn aus der Scheune heraus und sagte zu ihm: „Dir schenke ich die Freiheit, obwohl ich auch dich hierbehalten könnte; die Scheune aber mit allem, was drin ist, bleibt mir als Arbeitslohn.“ Und er lebte lange und glücklich.
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86 Wie der lahme Knabe ein Held wurde Auf dem Gut Lustivere lebte einmal ein Mann mit seiner Frau. Die hatten einen Sohn, der schon von Kindheit an lahm war. Einst, zur Zeit der Ernte, gingen Vater und Mutter des lahmen Jungen aufs Feld, um zu mähen, der lahme Junge aber blieb zu Hause. Bald nachdem Vater und Mutter weggegangen waren, kam zu dem Jungen ein kleiner grauer Alter, der mit ihm zu schelten begann: „Junge, was faulenzt du zu Hause herum, kannst du nicht auch aufs Feld gehen? Schämst du dich nicht, bei so schönem Wetter zu Hause zu faulenzen?“ „Ich bin doch lahm und kann nicht arbeiten“, entgegnete der Junge dem grauen Mann. „Ach was redest du da; geh und bringe aus dem Bach einen Krug voll Wasser zum Trinken“, brummte der Alte daraufhin. Der Junge sagte: „Ich kann doch nicht gehen!“ Doch auf diese Rede hin wurde der graue Alte ganz böse und begann noch mehr mit ihm zu schimpfen. Da nahm der Junge schließlich den Krug, stand auf, und in seine Beine kam soviel Kraft, daß er gehen konnte. Er ging auch zum Bach und brach-
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te von dort dem grauen Alten einen Krug voll Wasser. Als der Junge den Krug dem grauen Alten anbot, sagte der: „In wessen Hand, in dessen Mund!“ So trank denn der Junge aus dem Krug. Der Junge wollte nur einige Schluck Wasser nehmen, trank jedoch das ganze Wasser aus. Dann ging er und holte aus dem Bach von neuem einen Krug voll Wasser. Er bot es dem grauen Alten an, doch der sagte wieder: „In wessen Hand, in dessen Mund!“ Wieder trank der Junge den Krug leer, und der graue Alte befahl ihm, noch zum dritten Mal einen Krug voll Wasser zu bringen. Daraufhin lief der Junge zum Bach; dabei schlug er aus Versehen mit der großen Zehe gegen einen Riesenstein am Bachufer. Vom Stein splitterte ein Stück ab, der Stein selbst aber rollte über den Bach und weiter ins Land. (So liegt dieser Stein auch heute noch am Bach in der Nähe des Gutes Lustivere, er ist so groß, daß er gut einen Schleuderstein für Kalevipoeg abgeben würde.) Die große Zehe des Jungen hatte jedoch dabei überhaupt nicht gelitten, denn sie war wie aus Eisen. Den dritten Krug Wasser, den der Junge brachte, trank der graue Alte selbst leer und befahl dem Jungen nicht mehr, ihn auszutrinken. Dann ging er zur Tür hinaus und sagte dem Jungen dabei, er solle aufs Feld gehen und arbeiten. Der Junge ging aufs Feld zu Vater und Mutter; doch diese wollten es nicht glauben, daß der ge523
sunde junge Mann ihr Sohn war. Als der Junge ihnen die Geschichte seiner Genesung erzählt und berichtet hatte, daß er jetzt sehr stark geworden sei und es ihm nicht schwerfalle, die größten Steine und Gegenstände zu heben, mußten es Vater und Mutter glauben, daß dies ihr Sohn war. Der Junge vollbrachte durch seine Kraft viele Heldentaten. An der Decke des Ilda-Wirtshauses auf dem Gut Lustivere erschlug er das Gespenst und erwürgte auch einen großen Mann, der viel Wasser trank. Dieser große Mann hatte das gesamte Wasser am unteren Damm der „Schwarzen Mühle“ in der Nähe des Gutes Lustivere ausgetrunken und wollte auch schon am oberen Damm das Wasser austrinken, als der starke Junge kam und ihn erwürgte. Einst kam der graue Alte, der ihn gesund gemacht hatte, und forderte ihn zum Ringkampf heraus. Der Ringkampf sollte auf dem Feld in der Nähe des Gutes Lustivere stattfinden, und die Männer trafen sich dort Brust an Brust. Der graue Alte merkte freilich, daß der Junge ihn stark bedrängte, und lief ihm davon. Der Junge aber lief dem Alten nach und erreichte ihn auf dem Feld des Dorfes Kuuse in Kaliküla. Der graue Alte scharrte zwar mit den Füßen den Boden auf und versuchte, den Jungen niederzuwerfen, doch schließlich warf der Junge den grauen Alten hoch in die Luft, so daß der beim Herunterfallen tot liegenblieb. Man kann auch heute noch die Spuren dieses Ringkampfes in Kaliküla auf dem Feld zwischen 524
den Dörfern Kuuse und Naela erkennen, denn die Stelle, wo der graue Alte die Erde aufgescharrt hatte, ist auch jetzt noch auf dem Wall an den kleinen Hügelstreifen zu sehen. Nach dieser Begebenheit soll der Junge noch viele ähnliche Heldentaten vollbracht haben, bis er schließlich gestorben ist.
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87 Der Kraftmensch In einem Dorf Estlands lebte ein Hirte, der sehr stark war. Er konnte eine Färse am Schwanz pakken und rückwärts über den Fluß ziehen. Das schaffte sonst kein anderer. Deshalb ging er in die Welt, um sich einen Gegner zu suchen. Nachdem er eine Weile gewandert war, kam er in ein Walddorf, wo eine Alte gerade Suppe kochte. Der Kessel war so groß wie ein Doppelkübel, und drin kochte ein ganzer Mastochse. „Was suchst du hier, mein Junge?“ fragte die Alte. „Ich bin in meiner Gegend der stärkste Mann und suche mir in der Welt einen Gegner, der mit mir die Kraft messen möchte.“ „Nun, dann warte, bis meine Söhne nach Hause kommen. Vielleicht werden sie mit dir die Kraft messen. Meine beiden Söhne sind auch recht kräftige Burschen.“ Sie gab dem Jungen zu essen und sagte, er solle sich hinsetzen und auf sie warten. Schließlich hörte man Schritte, die waren so fest, daß der Boden schwankte. „Da kommen schon meine Söhne“, sagte die Alte. Doch der Hirtenjunge bekam solche Angst, daß er unter den Tisch kroch. 526
„Es ist ein Mann hergekommen, der für sich einen Gegner sucht“, sagte die Alte. „Wo ist er nur geblieben?“ „Laß ihn, gib uns erst was zu essen“, sagten die Söhne, „nachher werden wir unsere Kraft messen.“ Wie erschrak nun der Hirte unter dem Tisch, als er sah, daß die beiden eine Menge Brot, den Mastochsen und noch den Doppelkübel Suppe verschlangen. Nachdem sie gegessen hatten, legten sie sich jeder auf eine Bank schlafen. Sie schnarchten so, daß es von den Wänden hallte. Um Mitternacht wollte der Hirte durch die Tür hinausflitzen. Doch plötzlich gab es einen furchtbaren Knall, der ihn an die andere Wand wirbelte. Den einen Schläfer drückte nämlich das kräftige Essen im Magen, und es sammelte sich da viel Wind an, der nun mit großem Lärm nach hinten hinausplatzte. Das war denn auch der schreckliche Knall. Der Hirte hatte sich vom Boden aufgerappelt und flitzte wieder zur Tür, als ein zweiter Knall die Luft zerriß und er wieder an die andere Wand gewirbelt wurde. Dieser Knall kam von den Winden des zweiten Schläfers. Jetzt sprang der Junge vom Boden auf, lief spornstreichs zur Tür, riß sie auf und jagte davon. Als die Männer am nächsten Morgen aufwachten, begannen sie den starken Mann zu suchen, fanden ihn aber nirgends. Da glaubten sie, er sei in der Nacht weggelaufen, und fingen an seine Spur zu verfolgen.
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Der Hirte war in seiner Furcht so lange gelaufen, bis der Morgen kam, da blieb er vor einem großen dichten Walde stehen. Er sah, wie ein Mann pflügte. Zwei Ochsen waren vor den Pflug gespannt, und die Hörner der Ochsen reichten bis zu den Wolken. Mit der rechten Hand hielt der Mann den Pflug; mit der linken aber riß er große Fichten aus dem Boden, als seien sie Grashalme. Dieser Mann war Kalevipoeg. Als Kalevipoeg den Hirten sah, fragte er freundlich, was dem Manne fehle, daß er so schrecklich zittere. Der Hirte erzählte ihm seine ganze Geschichte und sagte zum Schluß: „Jetzt jagen sie hinter mir her, und wenn sie mich kriegen, werden sie mich töten.“ „Ich werde dein Leben retten“, sagte Kalevipoeg und steckte den Mann in seine Hosentasche. „Bleib da auf meiner Strömlingsschachtel sitzen!“ Diese Strömlingsschachtel aber war eine richtige große Tonne. Nach einiger Zeit kamen auch die beiden Waldburschen und verlangten von Kalevipoeg, daß er den Jungen herausgebe. Und als Kalevipoeg ihnen befahl, still zu sein, begannen sie mit ihm zu streiten. Jetzt nahm Kalevipoeg eine Fichte vom Boden und walkte sie so durch, daß die Männer heulend und schreiend davonliefen. Kalevipoeg begann wieder zu pflügen. Den Hirten hatte er ganz vergessen. Dem wurde es schließlich in der Hosentasche langweilig, und er fing sich zu bewegen an. 528
Kalevipoeg brummte: „Wie sind bloß diese Teufelsflöhe wieder in meine Tasche geraten? Am Morgen erst habe ich nachgesehen, es war nichts da. Und nun krabbelt wieder einer.“ Er steckte die Hand in die Tasche und – fand den Jungen. „Ach, du bist es, Jungchen“, sagte er lächelnd, „jetzt kannst du ruhig nach Hause gehn, die Waldpopanze werden dich nicht mehr belästigen.“ Der Junge bedankte sich und lief davon. Kalevipoeg pflügte weiter.
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88 Der Gegnersucher Nun ist mir ein kleiner Schwank aus der Zeit der Riesen eingefallen. Das Haus des Keilama Aadu stand am Heuschlag von Silmikese, und hier lebte auch der Keilama Aadu selbst, der drei Söhne hatte. Der älteste Sohn Joosep nahm sich eine Frau, trennte sich vom Vater und baute sich ein Haus auf dem Pedakaberg; ebenfalls in der Gegend von Alatskivi. Dann jedoch starb Aadu, und seine Witwe lebte nun mit den zwei jüngeren Söhne allein am Heuschlag von Silmikese – denn Joosep wohnte ja getrennt und in einem anderen Haus. Es lebte aber in der Gegend ein Bursche – er hatte keinen Namen –, der seinem Vater nicht gehorchen und auch keine Arbeit verrichten wollte. Er verließ das Haus seines Vaters, zog in die Welt und trieb sich herum auf der Suche nach einem Gegner, einem Mann, der ebenso stark war wie er. Er war etwas stärker als die anderen und suchte nun seinesgleichen. Auf seiner langen Reise gelangte er eines Abends zum Haus von Keilama Aadu. Er ging ins Haus und bat die Hausfrau um ein Nachtquartier, und die Hausfrau gewährte es ihm: „Ihr mögt von
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Herzen gern bleiben“, und setzte den Suppentopf für das Abendessen aufs Feuer. Nun saß der Bursche und schaute zu: Die Hausfrau holte einen Saatkorb voll Erbsen und einen halben Saatkorb voll Graupen, schüttete sie in den Kochtopf, holte dann drei enthäutete Kälber, zerhackte sie in Stücke und tat das Fleisch aller drei Kälber ebenfalls in den Kessel zum Kochen. Der starke Mann dachte dabei, hier werde sicher eine große Familie zum Essen zusammenkommen, da man so viel des Zeugs aufsetzte. Als die Suppe fertig war, brachte die Frau sie auf den Tisch sowie eine Menge Fleisch dazu und sprach zum Gast: „Komm essen, du bist hungrig und kannst nicht so lange warten, bis meine Söhne nach Hause kommen.“ Da setzte sich dieser Jüngling zu Tisch und verspeiste einen Kalbsschenkel und eine halbe Schüssel voll Suppe. Ich weiß nun nicht, wie groß diese Schüssel war, doch er selbst hielt sich für einen tüchtigen Esser. Dann trug die Frau Stroh herein und sagte: „Leg dich schlafen!“ Und er legte sich zur Ruhe auf das Stroh. Da kamen die Söhne von Aadus Frau nach Hause und fragten die Mutter: „Wer schläft hier?“ Die Mutter sagte: „Ein fremder junger Mann kam und bat um Nachtquartier, ich habe ihn aufgenommen.“ Darauf sagten sie: „Na, steh auf Bursche, iß mit uns zu Abend!“
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Er kam und setzte sich mit ihnen an den Tisch – denn, wenn man gerufen wird, muß man halt gehen. Nun aß er auch mit, aber wie eine Fliege neben den anderen. Ihre eigenen Söhne verspeisten jeder ein Kalb und dazu ein paar Schüsseln voll Suppe. Da schaute denn der fremde junge Mann: Da bin ich ja mit starken Männern zusammengekommen, aber ich weiß nicht, wie ich hier wieder wegkomme; denn wenn sie so essen, müssen sie auch Kraft haben. Dann legten sie sich schlafen. Der eine legte sich auf die eine und der andere auf die andere Seite, der Fremde legte sich in die Mitte. Sie lagen im Stroh. Und wenn der eine Sohn durch den Mund atmete, warf er mit seinem Atemhauch den Fremden hinüber und dem anderen vor die Brust, der andere atmete entgegen und schleuderte ihn zurück, dem ersten vor die Brust – so wälzten sie den Burschen die halbe Nacht. Zuletzt schliefen alle doch ein. Als sie am Morgen aufwachten, ging der Fremde aus der Stube und lief sogleich weg. Der eine Sohn trat vor die Tür und rief: „Lauf nicht! Komm zurück, iß dich erst satt und gehe dann, wir tun dir nichts Böses.“ Der Fremde lief dennoch weg. Er lief dann den Pedakaberg hinauf; dort aber pflügte der Sohn von Aadus Frau, Joosep, der getrennt lebte, mit zwei Ochsen vor dem Pflug. Er lief zu ihm hin: „Lieber Mann, verbirg mich, die Männer da sind hinter mir her!“ 532
Dieser sprach: „Oh, fürchte dich nicht, sie tun dir nichts, es sind meine Brüder.“ Schließlich steckte Joosep diesen Fremden doch in seine Hosentasche. Er hatte aber in seiner Hosentasche eine Pfeife, und das Pfeifenende rieb dem Flüchtling die Haare vom Scheitel weg. Ich weiß nicht, wie groß diese Pfeife gerade war, jedenfalls war sie groß, und doch konnte der Mann noch jemanden in die Hosentasche stecken. Schließlich ließ Joosep den Flüchtling aus der Hosentasche heraus und setzte ihn auf den Boden. Nun ging der Bursche zurück in sein Vaterhaus und bat um Verzeihung, daß er sich so herumgetrieben hatte. Bald darauf fing er im Hause des Vaters zu arbeiten an und lebte dort bis zu seinem Tode, trieb sich nicht mehr herum und suchte auch keinen starken Mann. Das habe ich von einem Greis gehört; es ist eine alte Geschichte aus der Schwedenzeit.
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89 Der Vater und die drei Söhne Ein Vater hatte drei Söhne, und als sie groß geworden waren, sagte der Vater: „Meine Söhne, ich habe euch lange ernährt und viel Mühe mit euch gehabt, nun müßt ihr aber die Welt kennenlernen und selbst euer Brot verdienen. Wer von euch nach drei Jahren, wenn ihr zurückkommt, sein Handwerk am besten versteht, wird meinen Hof erben; die anderen müssen in die Welt hinauswandern.“ Die Söhne gingen. Der Älteste lernte das Schmiedehandwerk, der Mittlere lernte Barbier, und der Jüngste wurde Krieger. Nach der festgesetzten Zeit kamen sie alle wieder zum Vater zurück. Der Vater fragte den ältesten Sohn: „Welches Handwerk hast du gelernt, und was für ein Felleisen hast du auf dem Rücken?“ Der Sohn antwortete: „Ich bin Schmied und mache keinen Schritt, ohne meinen Hammer und meine Zange mitzunehmen. Auch Hufeisen und Nägel habe ich immer bei der Hand.“ Nun wandte sich der Vater an den anderen Sohn und fragte, was der auf dem Rücken trage. „Ich bin Barbier und trage mein Handwerkszeug stets bei mir, damit es mir niemals fehle.“
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Sich an den dritten Sohn wendend, fragte der Vater: „Was bist denn du für ein Mann, daß du ein Schwert trägst, jetzt gibt es doch keinen Krieg?“ Der Sohn antwortete, er sei Krieger und trage das Schwert bei sich, denn der Mensch wisse nicht, was geschehen könne. Als dieses Gespräch beendet war, rief sie der Vater hinaus, um ihnen das Getreide zu zeigen, und später wollte er auch noch ihre Klugheit prüfen. Sie waren eine Strecke gegangen, als ihnen ein Reiter in Windeseile entgegengejagt kam, und man hörte deutlich das Klappern eines losen Hufeisens. Der älteste Sohn zog sein Handwerkszeug aus dem Sack und lief dem Pferde nach; obwohl der Mann das Pferd in der gleichen Weise weiterjagte, zog der Schmied dennoch das Hufeisen ab, brachte es von neuem an und schlug neue Nägel ein, ohne irgendwelchen Schaden zu nehmen. Als der Vater das sah, rief er: „Das ist fein, mein Junge, der Hof ist dein!“ Kaum hatte der Alte diese Worte gesprochen, als sie von weitem einen Hasen kommen sahen. „Jetzt will ich zeigen, was ich gelernt habe“, sagte der mittlere Sohn. Er lief dem Hasen entgegen, pinselte seinen Bart mit Seifenschaum ein und rasierte ihm die Backen, ehe der Hase in Windeseile weiterlief. Als der Sohn zurückkam, sagte der Vater: „Gut, mein Junge, der Hof ist dein!“ Sie machten sich auf den Heimweg, denn von weitem sah man Wolken aufsteigen, und es war 535
Regen zu erwarten. Sie waren noch nicht zu Hause, als es in Strömen zu regnen begann. Da zog der jüngste Bruder sein Schwert aus der Scheide und sagte: „Jetzt schaut, was ich machen kann!“ Er schwang so geschickt das Schwert, daß kein Regentropfen auf sie niederfiel. Als der Vater das sah, sagte er: „Ihr seid alle drei gleich klug. Darum soll der Hof euch allen dreien zusammen gehören; doch lebt in Frieden.“ Das taten sie auch und lebten lange und glücklich.
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90 Der Mann, der die Vogelsprache kannte Ein Waldhüter ging mit seinen zwei Hunden, die Must und Krants hießen, in den Wald. Er ging eine Weile im Walde umher und legte sich dann unter eine Fichte, um auszuruhen. Oben in der Fichte hörte er irgendein Geräusch und ein Zischen. Er schaute hinauf – oben lag eine Schlange, die zu bitten anfing: „Lieber Mann, hole mich hier herunter.“ Der Mann sagte: „Ich kann dich nicht herunterholen, du wirst mich töten.“ Die Schlange erwiderte: „Ich bin aber gar keine Schlange, denn eine böse Hexe hat mich vor langem in eine Schlange verwandelt, ich bin ein Mensch. Wenn mich ein anderer Mensch hier herunterholt, werde ich wieder zum Menschen. Hilf mir, ich werde dich alle Tiersprachen lehren. Du darfst aber niemandem verraten, woher du diese Weisheit hast, und dir auch nichts anmerken lassen. Wenn du es jemandem sagst, stirbst du.“ Der Mann kletterte auf die Fichte und holte die Schlange herunter, die sich sofort in einen Menschen verwandelte und augenblicklich verschwand.
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Der Waldhüter legte sich wieder unter die Fichte und hörte, wie Must zum Krants sagte: „Bleib du hier, um den Herrn zu bewachen, ich gehe nach Hause, denn es kommen Diebe, die uns bestehlen wollen.“ Der Mann verstand, was die Hunde unter sich sprachen. Ein alter Baum machte kro-kro-kro-kräks. Der Mann verstand, daß der alte Baum die Fichte bat: „Komm zu meiner Beerdigung, es ist Zeit für mich, diese Welt zu verlassen, unter meinen Wurzeln befindet sich ein Topf mit Gold und Silber und unter dem Wipfel noch einer.“ Die Fichte erwiderte „Krooks“. Der Mann verstand: „Ich kann nicht kommen, ich habe einen Gast.“ Dann war nur noch zu hören kro-kro-krokräks!, und der Baum fiel um. Nun begann der Mann unter der Wurzel zu graben, und es kam wirklich ein Topf voll Gold- und Silbergeld zum Vorschein; dann ging er zu der Stelle, wo der Wipfel lag, und fand auch dort einen Topf voll Geld. Nun brachte er, soviel er nur konnte, von diesem Geld nach Hause und wurde ein reicher Mann. Darauf nahm sich der Waldhüter eine schöne junge Frau (er war noch Junggeselle) und lebte glücklich und zufrieden. Er hatte seiner Frau wohl erzählt, woher er das Geld hatte, nicht aber, wie er zu dem Schatz gekommen war.
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Eines Tages schaute der Mann zum Fenster hinaus. Im Hanf saßen Spatzen, der alte Spatz im Wipfel, die Jungen an der Wurzel. Der alte Spatz machte „Siu, siu, siu, siu“. Der Mann verstand, daß der Spatz zu den Jungen sagte»: „Ihr Dummen, kommt doch in den Wipfel, hier gibt es Körner!“ Der Mann lachte, die Frau fragte: „Weshalb lachst du?“ Der Mann erwiderte: „Es ist nichts.“ Der Mann hatte aber schon mehrmals gelächelt, wenn es ihm gelungen war zu hören, was die Vögel oder die anderen Tiere sprachen. Die Frau drängte immer wieder: „Sag doch, weshalb du lächelst!“ Der Mann erwiderte wohl: „Ich darf es nicht sagen, ich kann dir nichts erklären; wenn ich es sage, werde ich sterben.“ Doch die Frau gab keine Ruhe und quälte den Mann mit ihrem „Sag doch, sag doch“ wie ein Alpdruck. Der Mann fragte: „Dann willst du also, daß ich sterbe?“ Die Frau glaubte es ihm nicht. Nun bereitete sich der Mann ein Sterbebett, bedeckte es mit einem Laken und legte sich darauf mit der Absicht, der Frau alles zu erzählen und dann zu sterben. In diesem Augenblick kam ein Hahn ins Zimmer, rief „Kuk-kuk-kuk-kuk-kuu, kuk-kuk“ und schlug mit den Flügeln. Der Mann verstand, was der Hahn zu ihm sagte: „Oh, du dummer Mann, ich werde mit meinen 539
dreißig Hennen fertig, du aber kommst mit einer Frau nicht zurecht. Verprügle sie!“ Der Mann sprang auf, griff nach dem Feuerhaken, schlug damit einige Male der Frau über den Rücken und sagte: „Geh die Kuh melken, wegen dir Dummen wollte ich sterben!“ Seitdem war die Frau folgsam wie ein Lamm und blieb ruhig. Und so leben sie vielleicht heute noch, wenn sie nicht gestorben sind.
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91 Die Tiere als Helfer In alten Zeiten lebten einst drei Brüder und eine Schwester. Einmal gingen die Brüder zu dritt auf die Wiese, um Heu zu machen. Den zwei reichen Brüdern paßte es nicht, daß der arme Bruder mit ihnen gegangen war. So hielten die reichen Brüder einen bösen Rat, wie sie ihren armen Bruder umbringen könnten. „Er ist uns keine Hilfe“, sagte der eine Bruder. „Wenn wir den Heuschober machen, soll er oben arbeiten, und sobald der Heuhaufen fertig ist und er herunterkommt, lassen wir ihn auf die Heugabel fallen.“ Kurz bevor der Heuschober fertig wurde, flogen zwei Raben über ihn hinweg. Der arme Bruder, der oben auf dem Heuschober stand, kannte die Vogelsprache und verstand, was die Raben unter sich sprachen. Sie krächzten: „Es wird Bruderblut fließen!“ Der arme Bruder sagte zu den Vögeln: „Sagt was Gutes, verhindert das Böse!“ Doch die Vögel flogen ihres Weges. Der Heuschober wurde fertig, und die Brüder riefen den armen Bruder herunter, doch er kam nicht, denn er verstand ihre böse Absicht. Deshalb sagte er zu ihnen: „Ich komme nicht, ich bleibe
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hier so lange, wie ich will; erst dann werde ich herunterkommen.“ Die reichen Brüder konnten ihn nicht so lange bewachen und sagten: „Wir haben keine Zeit. Wir gehen zu unserer Schwester in die Hölle, wir wollen sie besuchen.“ Diese Schwester war ebenfalls reich und wurde vom Teufel geholt. Sie nahmen sich Wegzehrung mit und gingen auf die Reise. Als die reichen Brüder den Augen des armen Bruders entschwunden waren, kam er vom Heuschober herunter. Doch wieso hatte er verstanden, was die Vögel sprachen? Er war einst beim Koch des Königs zu Besuch, der sein Freund war. Der König hatte sich eine weiße Schlange suchen und kochen lassen, eine Schlange, die sehr schwer zu finden war. Sobald sie gar war, sollte die Brühe, in der die Schlange kochte, dem König gereicht werden, damit er sie als erster schmecke. Diese Brühe durfte weder der Koch noch irgendein anderer schmecken. Als der arme Bruder zum Koch kam, war dieser gerade in einer Kammer, um etwas zu erledigen. Inzwischen hatte der arme Bruder den Schöpflöffel des Kochs genommen, um zu schmecken, was denn in dem kleinen Topf kochte. Die Brühe im kleinen Topf schmeckte nicht besonders, doch als der Mann die Küche verließ, verstand er alle Tierlieder und -sprachen. Als der arme Bruder vom Heuhaufen heruntergestiegen war, beschloß er, den reichen Brüdern in die Hölle zu folgen. Die beiden reichen Brüder 542
hatten eine Tagesreise hinter sich, da kam ihnen ein Fuchs entgegen und bat: „Seid so gut, Brüder, gebt mir etwas Brot, ich will dafür euer Knecht sein.“ „Wir haben selbst einen weiten Weg vor uns und wenig Brot, einen Knecht brauchen wir nicht.“ Nachdem sie eine Weile gegangen waren, kam ihnen ein Wolf entgegen und bat nun seinerseits um Brot: „Ich werde dafür euer Knecht sein.“ „Wir haben einen langen Weg vor uns und wenig Brot; wir haben nichts zu geben, und einen Knecht brauchen wir auch nicht.“ Sie gingen ihrer Wege. Nach einer Weile kam ihnen ein Bär entgegen, bat um Brot und bot sich als Knecht an. Die Männer sagten: „Wir haben einen weiten Weg vor uns und wenig Brot, wir haben nichts zu geben, und einen Knecht brauchen wir nicht.“ Die reichen Brüder gingen weiter, bis sie zur Schwester in die Hölle kamen, wo der Gehörnte schon lange auf sie wartete. Der arme Bruder ging denselben Weg. Nach einer Tagesreise kam auch ihm der Fuchs entgegen, grüßte ihn und bat: „Sei so gut, Brüderchen, gib mir etwas Brot, ich will dafür dein Knecht sein.“ „Ich habe einen weiten Weg vor mir und wenig Brot, doch der Arme gibt auch vom wenigen etwas ab, der Reiche gibt auch vom vielen nichts.“ Der Fuchs kehrte um, und sie gingen zusammen weiter. Der Mann dachte: Jetzt habe ich wenigstens einen Weggenossen, so ist der Weg nicht so langweilig. 543
Nachdem sie eine Strecke gegangen waren, kam ihnen der Wolf entgegen. Er grüßte die beiden und bat um Brot: „Ich werde dir als Knecht dienen.“ Der arme Bruder fragte den Wolf, ob ihm nicht zwei Männer begegnet seien. Der Wolf erwiderte: „Ja, ich habe sie vor einer Weile gesehen.“ Der Mann gab dem Wolf ein Stück Brot und sagte: „Ein langer Weg und wenig Brot, der Arme gibt auch von dem wenigen, der Reiche nichts von dem vielen, und nun sind wir eine größere Wandergesellschaft geworden.“ Nachdem er mit seinen beiden Knechten eine Strecke gegangen war, kam ihnen ein alter Bär entgegen, grüßte, streckte seine breite Tatze wie ein alter Freund aus und bat: „Sei so gut, Brüderchen, gib mir etwas Brot.“ Der Mann dachte: Ein weiter Weg und wenig Brot, doch der Arme gibt auch von dem wenigen und der Reiche nicht mal von dem vielen. So gab er auch dem Bären ein Stück Brot ab. Der Bär fraß das Brot, bedankte sich und blieb bei dem Mann als Knecht. Auch den Bären fragte der Mann, ob er die beiden Männer getroffen habe, worauf der Bär erwiderte, daß er sie vor einer Weile gesehen habe. Nun ging der arme Mann mit seinen drei Knechten immer weiter, bis er in der Hölle anlangte. Der Mann ging in die Hölle hinein, ließ jedoch die Knechte hinter der Tür stehen. In der Hölle empfing die Schwester den Bruder. 544
Der Mann hatte aber zu seinen Knechten gesagt, als sie draußen blieben: „Wenn ich in Not bin, kommt mir zu Hilfe.“ Am Abend bereitete die Schwester dem Bruder die Schlafstelle und dachte: Wenn du schon nicht auf die Heugabel geraten bist, hier werden wir dich kriegen. Beim Bereiten der Schlafstelle stellte sie Messer aufrecht unter das Laken, damit der Bruder, wenn er sich darauflegte, den Tod finde. Die Knechte horchten hinter der eisernen Tür, und der Fuchs sagte: „Es ist, als hätte ich eine Stimme gehört.“ Und noch einmal: „Wirklich, als wäre es eine Stimme.“ Der Wolf sagte: „Du warst immer ein eitles Ding und bist es auch jetzt. Ich habe mich nur auf die andere Seite gedreht.“ Nach einer Weile sagte der Wolf: „Es ist, als hätte ich etwas gehört.“ Der Bär sagte: „Ich habe mich bewegt, und meine Pelzhaare haben geraschelt.“ Als auch der alte Bär etwas hörte, legte er seine schweren Tatzen an die Tür, zog sie mit all ihren Angeln und Haken heraus und warf sie beiseite, woraufhin alle Knechte hineinstürmten. Da sahen sie, daß ihr Herr sehr schwer verwundet war; sofort drückte der Bär seine starken Krallen der Schuldigen in die Seite und wirbelte sie in das ewige Feuer. Der alte Herr der Hölle reichte ihm seine eiserne Hand zur Begrüßung entgegen; als aber der Bär seine starke Tatze entgegenstreckte und der 545
Wolf und der Fuchs mithalfen, schleuderten sie auch ihn in das Feuer. Jetzt wurde dem armen Bruder klar, wie das Leben in der Hölle war, wo die wirklichen Bösewichte und Mörder immer im Vorteil sind. Sowie der Gehörnte im Feuer war, suchte der alte Bär alles, was brennen konnte, zusammen, um das Feuer noch kräftiger zu schüren. Der Wolf und der Fuchs halfen mit. Daraufhin nahm der Bär den Herrn auf den Rücken, und die Knechte stürmten aus der Hölle hinaus. Auf dem Weg trug der Bär den Mann die ganze Zeit auf dem Rücken, weil er schwer verwundet war. Unterwegs sagte der Wolf: „Lege ihn doch mir auf den Rücken und halte ihn fest, deine Tatzen werden ja müde, laß mich auch zwischendurch unseren Herrn tragen.“ Nachdem sie so eine Strecke gegangen waren und der Wolf den Mann getragen hatte, sahen sie, daß ihr Herr sehr schwach war und wahrscheinlich sterben würde. So bogen sie vom Wege ab, setzten sich nieder und legten ihren Herrn aufs Gras. Sie hielten untereinander Rat, und der Bär sagte: „Der Herr ist ganz kraftlos, fangen wir an, sein Grab zu graben.“ Die Knechte begannen das Grab zu graben. Der Bär nahm die oberste Schicht herunter, und dann halfen die anderen mit. Der alte Bär nahm den Herrn auf den Schoß und schaute, ob er noch atme. Als das Grab schon ziemlich tief war, kam aus einem Loch eine Maus hervor, und der Fuchs
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packte sie, doch die Maus begann zu bitten, ihr etwas Zeit zum Sprechen zu lassen. Der Fuchs grinste und sagte: „Jetzt bekomme ich einen schönen warmen Bissen.“ Der Wolf aber sagte: „Laß ihr Zeit zum Reden.“ Da fragte die Maus: „Für wen grabt ihr das Grab, ihr guten Männer?“ „Unser Herr ist sehr schwer verwundet, und wir glauben, daß er noch heute sterben wird, dann wollen wir ihn gleich begraben.“ Die Maus begann sie zu bitten und sagte: „Erbarmt euch meiner, ich habe sechs Junge, und sie bleiben alle als Waisen zurück. Wenn ihr mich loslaßt, will ich euch eine solche Medizin bringen, die euren Herrn gesund macht. Könnt ihr mir euren Herrn zeigen?“ Der Wolf sagte: „Ja, warum nicht!“ Der Fuchs und der Wolf brachten die Maus dorthin, wo der Bär beim Herrn wachte, und zeigten ihr seine Wunden. Sie ließen die Maus los, und sie ging, um die Medizin zu holen. Da sagte der Fuchs: „Schade! Wenn sie nun eine Betrügerin ist und uns davonläuft? Dann bin ich um meinen schönen Bissen gekommen.“ Nach einiger Zeit kam die Maus zurück und trug in ihrem Maul ein kleines Medizinglas. Die Maus nahm vom Glas den Stöpsel herunter, ließ die Wunden des Herrn bloßlegen und steckte dann ihre kleine Pfote in das Glas hinein, was die anderen nicht tun konnten. Mit ihrer kleinen Pfote nahm die Maus die Medizin und bestrich damit die Wunden, so daß sie bald zu heilen begannen. Der 547
Herr stand auf und fing mit seinen Knechten zu reden an, die Maus aber kurierte ihn sorgsam den ganzen Tag, wobei sie zwischendurch neue Medizin heranholte, denn das Medizinglas wurde schnell leer. Sie blieb bis zum nächsten Tag, solange bis der Herr gehen konnte. Da ging es wieder heimwärts. Da die reichen Brüder und die Schwester in der Hölle geblieben waren, wurde er zu Hause zum Herrn. Er nahm sich eine Frau; und der Fuchs, der Wolf und der Bär dienten ihm noch eine Weile, bis er völlig genesen war. Dann gingen sie weg, und der Mann dachte oft, daß es wohl Geister waren.
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92 Vom Schlangenkönig In alten Zeiten fuhr ein Herr in seiner Kutsche einen weiten Weg entlang. Im Walde, am Rande des Weges, war eine Schlangenfamilie zusammengekommen. Inmitten der Schlangen erhob sich eine größere Schlange, deren ganzer Körper von einer dunkelbraunen Haut bedeckt war. Sie hielt den Kopf über die anderen Schlangen erhoben. Auf dem Kopf hatte sie einen roten Kamm, wie ihn die Hähne haben. Das war der Schlangenkönig, und der rote Kamm war seine Krone. Die niedrigeren Schlangen waren alle um ihren König herum am Boden ausgestreckt. Alle lagen sie mit dem Kopf zum König und mit dem Schwanz nach außen; das war eine Beratung, eine Konferenz der Schlangen. Die Schlangen kamen dann zu einer Beratung zusammen, wenn sie von ihrem König Befehle erwarteten, die ihr Leben verbessern konnten. Als der Herr nach Hause kam, rief er den Kutscher zu sich und sagte: „Geh und hole mir den Kamm der Schlange, die wir dort am Wegrand im Walde gesehen haben. Ich werde dich dafür gut entlohnen. Wenn du die Schlangenkrone hast und sie nach Hause bringst, koche sie so, daß sie dabei nicht zerfällt. Paß gut auf! Merke dir auch, daß 549
du selbst während des Kochens kein Stückchen von dem Kamm essen darfst, auch von der Brühe darfst du nicht kosten.“ Der Kutscher, ein langjähriger Diener des alten Herrn, versprach, alles zu tun, was ihm der Herr aufgetragen hatte. Da sagte der Herr zum Kutscher: „Nimm das schnellste Pferd aus dem Stall und geh!“ Der Kutscher holte aus dem Stall das schnellste Pferd heraus, setzte sich auf seinen Rücken, nahm auch ein langes Schwert zur Hand, schlug dem Pferd mit den Fersen in die Seiten und war wie der Wind verschwunden. Wie der Blitz ritt der Kutscher in den Kreis der Schlangen und schlug dem Schlangenkönig die Krone mit dem Schwert vom Kopf. Das Schwert hielt er mit der einen Hand erhoben, mit der anderen Hand lenkte er das Pferd und jagte mit Windeseile zurück. Die Schlangen schnellten alle empor und fingen an hinterherzuhüpfen, um den Raub der Krone ihres teuren Königs mit des Kutschers Tod zu rächen. Der Kutscher war schon ein Stück Weges von der Unglücksstelle entfernt, als er zurückschaute. O Schreck und Unglück! Die Schlangen folgten schon alle dem Pferde nach und flogen wie die Bogen unter dem Himmel Pferd und Mann hinterher. Wenn die Kraft der Schlangen zu erlahmen begann, streckten sie sich aus und ließen sich auf die Erde hinunter. Auf der Erde drehten sie sich wieder zusammen und schnellten erneut himmelwärts, um wie im Vogelflug dem Kutscher hinterherzueilen. Den Kutscher erfaßte die Todesangst, 550
als einige Schlangen sich schon vor dem Pferde niederwarfen und andere auf den Rücken des Pferdes und auf den Kopf des Mannes herunterregneten, um das Pferd und den Mann festzuhalten. O Schreck, für mich gibt’s keine Rettung mehr, dachte der Kutscher. Ich werde hier den Schlangen zum Fraß bleiben, wer kann mich noch retten? Ei, ei! In der Not kam dem Kutscher ein guter Gedanke. Mit der Hand, mit der er die Zügel hielt, knöpfte er seinen Mantel auf und warf ihn hinunter in der Hoffnung, daß die Schlangen glauben würden, der Kutscher sei vom Pferd gefallen, und daß sie ihn dann in Ruhe ließen. So geschah es auch: Sobald der Kutscher seinen Mantel hinuntergeworfen hatte, stürzten sich alle Schlangen auf den Mantel, und keine von ihnen kam ihm mehr nach. Auf diese Weise rettete sich der Kutscher durch seinen guten Einfall aus den Zähnen der Schlangen, er ritt nun glücklich und in Gedanken an einen guten Lohn nach Hause. Schnell setzte der Kutscher einen Topf aufs Feuer, um die mitgebrachte Krone des Schlangenkönigs auch rechtzeitig dem Herrn vorsetzen zu können. Während des Kochens paßte er gut auf, daß der Kamm nicht zerbröckelte und nicht zerkochte, da ihn der Herr streng davor gewarnt und ihm auch verboten hatte, während des Kochens von der Brühe zu kosten. Der Kutscher war zugleich Koch des Herrn.
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Als die Schlangenkrone schon richtig gar war und der Koch sie aus dem Kessel herausnehmen wollte, nahm er mit dem Schöpflöffel etwas Brühe und kostete ein klein wenig davon, um zu sehen, ob sie schon gar sei. Die Speise war gerade richtig gar, und der Koch legte den Kamm vorsichtig mit der Brühe auf einen Teller und brachte sie dem Herrn. Der Herr sah, daß die gekochte Schlangenkrone unberührt und heil war, und begann schnell zu essen. Den Kamm aß er zuerst auf, hinterher schlürfte er auch die Brühe aus. Als er die ganze Speise aufgegessen hatte, ging er schlafen. Der Herr freute sich, daß jetzt die ganze von ihm erhoffte Weisheit, die in der Krone des Schlangenkönigs stecken sollte, ihm gehörte. Von alten Leuten hatte der Herr gehört: Wer die Krone des Schlangenkönigs bekommt, sie kocht und aufißt, erfährt alle Geheimnisse. Auch wird er alle Vogelsprachen verstehen, alles, was die Vögel in ihrer Sprache über sich selbst oder über das Glück und Unglück mancher Menschen reden. Der Herr war überzeugt, jetzt klug zu sein, und er dachte nicht daran, das noch zu überprüfen, sondern schlief ruhig ein. Am nächsten Morgen stand der Herr auf und sagte zum Kutscher: „Spann die Pferde vor die Kutsche! Wir fahren an die Glücks- und Unglücksstelle von gestern, um sie uns anzusehen.“ Der Kutscher spannte die Pferde schnell vor die Kutsche, und sie fuhren an der Stelle vorbei, wo der Kutscher gestern seinen Mantel abgeworfen 552
hatte. Da war nichts mehr zu sehen, außer einigen blauen Wollfetzen. Beim Weiterfahren kamen ihnen zwei Raben im Fluge entgegen, machten „Klonks, klonks, klonks!“ und flogen über die Fahrenden hinweg. Der Kutscher fragte, ob sein Herr nicht verstehe, was die Raben in ihrer Sprache gesagt hatten. Der Herr erwiderte, daß er nichts davon verstanden habe. Da sagte der Kutscher: „Die Raben sagten, der Weg vor uns führe über eine große Brücke, und wenn wir über diese Brücke fahren, werde das Holz der Brücke unter den Hufen unserer Pferde bersten, und ein Pferd werde sich das Bein brechen.“ Der Herr glaubte es nicht und befahl weiterzufahren. Sowie die Pferde über die Brücke kamen, zersplitterte ein Brückenholz, und ein Pferd brach sich das Bein. Da begriff der Herr, daß der Kutscher ihn betrogen und die Weisheit aus der Krone des Schlangenkönigs durch irgendwelchen Betrug für sich gestohlen hatte. Der Kutscher wußte allerdings nichts davon, daß er dem Herrn die Weisheit gestohlen haben sollte, denn er wußte nicht, daß die in der Krone enthaltene Weisheit in die Brühe ausgelaufen war, die er vom Schöpflöffel gekostet hatte. Die Krone war wohl heil und unversehrt, doch die Weisheit war in die Brühe gelangt, die der Kutscher geschlürft hatte. Der Herr sah jetzt, daß der Kutscher klug war und ihn betrogen hatte. Da gab ihm der Herr auch keinen Lohn für seine Mühe beim Holen der 553
Schlangenkrone und verjagte ihn aus seinen Diensten.1
1
Es ist wahrscheinlich eine estnische Erzählung. Sie ist in den Bezirken Tartu und Vốru sehr verbreitet. Ich habe die Geschichte schon als Kind gehört (Anmerkung des Aufzeichners).
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93 Wie der Schweinehirt zum Schwiegersohn des Königs wurde Es lebte einst ein Witwer, der von seiner ersten Frau einen Sohn hatte, den Ants. Ants hatte das Alter eines Hirtenjungen erreicht, als die Mutter starb, und er hütete damals die Dorfherde. In der Herde gab es einen großen weißen Stier. Diesen Stier hatte der Junge sehr gern, und sie wurden bald zu richtigen Freunden, so daß der Junge jeden Morgen die Hälfte seines Brotkantens dem Stier gab. Bald nahm der Vater eine neue Frau, und da wurde das Leben für Ants viel schlechter als vorher. Die Stiefmutter konnte den Jungen überhaupt nicht leiden. Schließlich bat sie den Mann, Ants zu töten, und bedrängte ihn jeden Tag mit ein und demselben Wunsch – töte und töte den Jungen! Der Junge hütete weiter die Herde und gab jeden Tag seinen Brotkanten dem Stier. Einmal sagte der Stier zu dem Jungen, daß man ihn töten wolle. Er versprach ihm auch zu sagen, an welchem Tage es geschehen sollte. Der Schlafplatz des Jungen war auf der Ofenbank. Eines Abends gab der Junge dem Stier zu fressen, und der Stier sagte, daß er heute abend getötet werden sollte.
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„Geh und hole von draußen ein Birkenscheit und lege es auf deine Schlafstelle, aus dem Schuppen hole eine Butterbütte und lege sie auf die Kopfstelle, dann breite deinen Rock darüber, selbst aber ziehe bessere Kleider an und komm zu mir in die Darre. Dann werden wir von hier aus sehen, wie sie aus der Kammer kommen, der Vater mit einem großen Beil und die Mutter mit einer Kerze: Wenn der Vater mit dem Beil auf die Stelle schlägt, wo du geschlafen hast, um dich zu töten, dann fällt er gleich selbst herunter, wir aber machen uns dann schnell davon.“ Der Junge tat alles, wie es ihm der Stier aufgetragen hatte, und ging dann zu diesem in die Darre. Und alles geschah haargenau so, wie es der Stier gesagt hatte. Der Vater schlug mit dem Beil zu und fiel gleich selbst herunter, während die Mutter mit dem Licht danebenstand. Der Junge und der Stier flüchteten in einen Wald und schweiften dort umher, bis sie am Ende zu einem Moor kamen, wo die Wölfe heulten. Da sagte der Stier zum Jungen: „Nimm von meiner rechten Seite das Horn ab, trage dieses Horn stets bei dir, geh dann in die Königsstadt, und alles, was du wünschst, wird dir das Horn stets erfüllen, du brauchst nur zu sagen: ‚Horn, o Hörn, erfülle meinen Wunsch!’ oder ‚Mache dies oder jenes!’“ Also ging Ants in die Königsstadt; er wanderte in der Stadt umher und kam auch zum Königsschloß. Dort begegnete ihm ein Königsdiener und
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bestellte ihn zum Schweinehirten. Ants nahm das Angebot an und wurde Schweinehirt des Königs. Im Sommer ging Ants mit den Schweinen in den Wald, im Winter schleppte er mit dem Schlitten Wasser heran und bereitete für die Schweine das Fressen. Zu guter Letzt wurde ihm diese Tätigkeit zu langweilig und zu schwer, und da erinnerte er sich plötzlich, daß der Stier ihm sein Horn gegeben hatte und daß er es dann gebrauchen sollte, wenn er sich etwas wünschte. Er füllte den Kübel und sagte: „Horn, o Horn, mache, daß dieser Kübel selbst zur Küche geht und mich dabei mitnimmt!“ Der Kübel setzte sich in Bewegung. Ants springt auf den Schlitten und fährt mit dem Kübel zusammen zur Küche. Die Königstochter schaut aus dem Fenster und sagt: „Sieh einer an, was unser Schweine-Ants macht! Der Kübel ist voller Wasser, selbst sitzt er auch noch auf dem Schlitten, und der Kübel kommt von allein in die Küche.“ Ants sah, daß ihm die Königstochter aus dem Fenster zuschaute, wie er mit dem Schlitten fuhr; er wollte es nicht haben und sagte: „Horn, o Horn, mache, daß die Königstochter in einem Jahr einen Zeitvertreib hat!“ Ein Jahr vergeht, und der Königstochter wird ein Sohn geboren. Er wird großgezogen, er ist sehr hübsch, doch niemand weiß, wer der Vater ist. Die Königstochter sagt auch nichts. Es werden alle möglichen Männer, die im Schloß wohnen,
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ausgefragt, und dennoch erfährt man es nicht, wer der Vater des Kindes ist. Es verging einige Zeit, und der Sohn der Königstochter wurde vier Jahre alt. Der König dachte, daß der Junge jetzt schon selbst seinen Vater erkennen würde. Es wurde ihm ein goldener Apfel gegeben, und wem er diesen Apfel reichte, der mußte der Vater sein. Also ließ man alle Männer, die in der Umgebung des Schlosses lebten, hereinkommen, um zu sehen, wem er den Apfel anbieten würde. Doch der Junge bot den Apfel keinem an. Schließlich wurde der König sehr böse, weil er auf keine Weise erfahren konnte, wer der Vater des Kindes sei. Zuletzt sagte er wütend: „Ruft auch noch den Schweine-Ants herein!“ Ants kommt durch die Tür herein, und der Sohn der Königstochter läuft ihm entgegen und sagt: „Papa, nimm den goldenen Apfel!“ Die Laune des Königs wird noch schlechter als vorher, weil der Schweinehirt sein Schwiegersohn ist. Er läßt seine Tochter zusammen mit dem Schweinehirten auf ein Schiff bringen, ihnen etwas Mundvorrat geben und sie aufs Meer hinausschieben. Ants segelt eine Weile auf dem Meer umher und sagt schließlich: „Horn, o Horn, mache, daß das Schiff verschwindet, daß statt seiner eine Insel entsteht mit einem schönen Schloß darauf und ich darinnen wohne als Beherrscher der Insel!“ Es geschah alles so, wie es Ants sich wünschte. Das Schiff zerfiel, und an seiner Stelle entstand 558
eine Insel; Ants lebte in einem schönen Schloß und herrschte über die ganze Insel. Nach einiger Zeit entdeckten Seefahrer diese Insel und brachten dem König die Kunde, daß sie eine Insel gefunden haben; auf der Insel leben viele Menschen, und sie haben einen Herrscher. Der König hörte es und freute sich, daß sein Reich wieder größer geworden war, und fuhr schnell hin, um die Insel zu besuchen. Er fand dort seine Tochter und seinen ehemaligen Schweine-Ants, der jetzt Herrscher der Insel war. Der König vertrug sich mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn, dem Schweine-Ants, sie wurden zu großen Freunden und besuchten sich oft.
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94 „Sesam, Sesam, öffne dich!“ In guten alten Zeiten lebten zwei Brüder: Der eine war ein Bauer und reich – allein an Milchkühen hatte er neun Stück –, der andere war arm und lebte bei dem reichen Bruder in einer Kate. Als Milchspender diente ihm eine einzige Kuh. Eines Abends ging der arme Bruder einen Weg entlang und hörte auf einmal großen Lärm und Wagengerassel entgegenkommen. Da bekam er große Angst, sprang über den Graben und kletterte auf eine in der Nähe des Weges wachsende Birke. Nach einiger Zeit erschien eine große Kutsche mit schönen Pferden davor und vielen Herren darinnen. Neben der Birke sagten die Herren: „Sesam, Sesam, öffne dich!“ Sofort öffnete sich ein Loch, durch das die Herren hineingingen. Vor dem ersten Hahnenschrei fuhren sie alle wieder davon. Der arme Bruder kam nun von der Birke herunter, ging zu der Stelle, wo die Herren hineingegangen waren, und sagte auch: „Sesam, Sesam, öffne dich!“ Sofort öffnete sich eine Tür, und er ging in eine geräumige Höhle hinein, wo große Haufen Goldtaler und die Reste eines Festmahles herumlagen. Nun füllte er sich die Taschen mit Geld; schließlich 560
nahm er noch den Rock ab und füllte auch ihn mit so viel Geld, wie er nur tragen konnte. Zu Hause wollte er wissen, wieviel es sei, und schickte seine Frau zu dem reichen Bruder nach einem Scheffel. Dieser sagte zu seiner Frau: „Sonderbar, bisher hatte er gar nichts, um es mit einem Litermaß zu messen, jetzt mißt er schon mit einem Scheffel; schmiere den Boden des Scheffels mit etwas Fett ein, dann werden wir sehen, was er mißt.“ Wie gesagt, so getan. Der arme Bruder maß das Geld und wußte nicht, daß der Boden des Scheffels fettig war. Er brachte den Scheffel zurück, doch zusammen damit auf dem fettigen Scheffelboden auch ein Goldstück. Der reiche Bruder fand das Geld und kam sofort, um von dem armen Bruder zu erforschen, woher er so viel Geld habe, daß er es mit einem Scheffel messe. Der arme Bruder war nicht neidisch und führte den Bruder ebenfalls dorthin, damit er Geld bekomme. Der reiche Bruder ging auch in die Höhle, als er aber mit seiner Geldlast wieder hinausgehen wollte, hatte er die Worte, die ihn der Bruder gelehrt hatte, vergessen und konnte nicht mehr hinaus. Am Abend kamen die Höhlenherren, nahmen den reichen Bruder wie in einer Mausefalle fest und zerstückelten ihn. Am nächsten Tag kam der arme Bruder und sah, was geschehen war. Er nahm seinen Bruder und steckte ihn in einen Sack. Mit dem Sack brachte er ihn zu einem 561
Schneider, der die Stücke zusammennähte und Leben hineinblies, und der reiche Bruder lebte wieder. Der arme Bruder schlachtete daraufhin seine Kuh und brachte das Fell in die Stadt. In der Stadt kaufte ihm ein Herr das Fell ab und gab ihm ein Fell voll Geld dafür. Daraufhin schlachtete der reiche Bruder alle seine Kühe, um ebensoviel Geld zu bekommen, doch keiner wollte die Felle kaufen. So blieb er denn sein Leben lang arm, und aus dem armen wurde ein sehr reicher Mann. Und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er auch jetzt noch sein reiches Leben weiter.
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95 Der arme Tönu Einst lebte in einer Königsstadt ein Mann, den andere den armen Tönu nannten. Er selbst war mit diesem Namen zwar nicht zufrieden, konnte aber nichts dagegen tun, daß man ihn so nannte. Einmal kam ihm in der Stadt der König entgegen; Tönu grüßte den König, und der König beantwortete seinen Gruß mit den Worten: „Guten Tag, armer Tönu!“ Tönu sagte: „Herr König, könntet Ihr mir nicht sagen, warum man mich den armen Tönu nennt? Bin ich denn der einzige Arme auf der Welt, und ich bitte darum, mich zu lehren, wie ich reich werden könnte.“ Der König befahl dem Tönu, ihm zu folgen, und Tönu ging hinter dem König her bis zum prächtigen Königsschloß. Dort holte der König eine Menge dicker Bücher heraus, setzte sich hin und sagte zu Tönu: „Ich will in diesen Büchern nachsehen, wo sich dein Glück befindet, vielleicht bist du nur noch nicht dahingekommen, wo dein Glück liegt.“ Der König blätterte schon eine ganze Weile in den Büchern, doch nirgends trat das Glück des armen Tönu zutage. Da kam die einzige Tochter des Königs zur Tür herein und fragte den Vater, als sie die Menge Bücher sah: „Was suchst du, Vater, in diesen Büchern?“ 563
Der König erwiderte: „Ich will herausfinden, wie der arme Tönu reich werden könnte.“ Da sagte die Tochter: „Lieber Vater, du bist genauso töricht wie der Tönu, das Glück der Menschen ist doch nicht in den Büchern; das muß der Mensch hier auf der Erde suchen, und wenn er selbst keins hat, so haben es vielleicht seine Frau und seine Kinder.“ Der König ärgerte sich sehr über die Worte der Tochter und sagte: „Wenn du so klug bist, dann sollst du die Frau des armen Tönu werden, und ich möchte sehen, ob er dann mehr Glück haben wird als zuvor. Du hast nun lange bei mir gelebt, aber ich werde dir nichts mitgeben, und du mußt ohne Aussteuer Tönu heiraten.“ Die Tochter mußte dem Befehl des Vaters folgen und wurde Tönus Frau. Tönu war im Dienst eines reichen Mannes, dessen Schiffe in fremde Länder zum Warenaustausch fuhren. Tönu bat seinen Herrn, ihm mehr Lohn zu geben, aber dieser wollte nichts davon hören. Der arme Tönu mußte für den alten Lohn dienen; traurig ging er von seinem Herrn auf das Schiff, denn dort begannen die Vorbereitungen für die Fahrt ins Ausland. Bald war alles fertig, und als der Besitzer auf das Schiff kam, wurden die Anker gelichtet, und die Schiffe zogen wie Schwäne auf das weite Meer hinaus. Eines Tages, als sie schon weit vom Ufer entfernt waren, blieb das Schiff plötzlich bei gutem Wind stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Überall wurde der Fehler gesucht, doch umsonst, 564
man fand nichts. Schließlich befahl der Besitzer den Matrosen, unter das Schiff zu tauchen und nachzusehen, was das Schiff festhalte. Die Matrosen fürchteten zu ertrinken und weigerten sich. Der Besitzer wurde böse und sagte: „Ihr hofft alle in der Notzeit auf Tönu und wollt, daß er alles tut, obwohl er weniger Lohn erhält als ihr.“ Als keiner von ihnen ins Wasser gehen wollte, versprach der Herr, dem ein Schiff zu schenken, der es vom Grund frei bekäme. Da sagte Tönu: „Ich gehe nach unten und befreie das Schiff.“ Bald kletterte er auch am Bug des Schiffes hinunter und sah zwei Männer im Wasser, die das Schiff festhielten. Tönu schrie sie an: „Warum haltet ihr das Schiff fest, was habt ihr damit zu schaffen?“ Die Männer erwiderten: „Wir sind miteinander darüber in Streit geraten, was teurer ist, Eisen oder Kupfer; und weil wir das selbst nicht entscheiden konnten, haben wir das Schiff festgehalten, damit jemand herunterkomme und unseren Streit schlichte. Und da du nun gekommen bist, sage du uns, wer recht hat.“ Tönu überlegte nicht lange und sagte: „Ihr habt beide recht: Obwohl Kupfer teurer ist als Eisen, ist Eisen notwendiger als Kupfer, wie ihr es hier an den Schiffsseiten sehen könnt.“ Die Männer freuten sich sehr darüber, daß sie beide recht hatten, und sagten: „Da du das Urteil gesprochen hast, schenken wir dir einen Stein von
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der Größe eines Hühnereis; dieser Stein hat die Kraft, im Dunkeln zu leuchten.“ Tönu bedankte sich und kletterte wieder aufs Deck des Schiffes, und das Schiff segelte wie vordem weiter. Der Herr erfüllte sein Versprechen und schenkte Tönu ein kleineres Schiff. Tönu ging auf dieses Schiff und war dort der Herr. Mit gutem Wind kamen sie in das fremde Land, wo die Waren ausgetauscht werden sollten. Die anderen vier tauschten ihre Waren aus, doch Tönu ruhte sich aus, als habe er nichts zu tauschen. Da kam der Kapitän, der gegangen war, die fremde Stadt zu besichtigen, auf das Schiff und weckte Tönu. Tönu sprang auf und ging direkten Weges zum König dieses Landes, zeigte ihm das Ei, das er zum Geschenk bekommen hatte, und erzählte, wie es ihm geschenkt wurde. Der König betrachtete den Stein und sagte: „Dieser Stein ist viel wert, und wenn du ihn weggeben willst, so gebe ich dafür vierzig Millionen Rubel, und da du das Urteil so richtig gesprochen hast, schenke ich dir den Generalsrang, Kleider, einen goldenen Gürtel und ein Schwert.“ Tönu verkaufte den Stein dem König und wurde ein reicher und berühmter Mann. Jetzt befahl der König, die Waren vom Schiff zu holen und es mit Samt und Seide zu füllen. Und als das Schiff voll war, fuhr der arme Tönu im Wagen des Königs mit vier vorgespannten Pferden in den Hafen zum Schiff, wo ihn niemand kannte und er mit großen
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Ehren empfangen wurde. Tönu gab den Befehl, und das Schiff ging auf Fahrt. Nach einigen Tagen gelangten sie glücklich nach Hause. In der Nähe des Hafens wurden vom Schiff aus Signale gegeben, daß sich auf dem Schiff ein hoher Befehlshaber befinde. Und bald donnerten die Kanonen in der Stadt zu Ehren des Generals. Und als der General Tönu an Land ging, erkannte ihn der König, nahm ihn zusammen mit seiner Tochter in seinen Wagen und fuhr mit ihnen ins Schloß. Zu Hause sagte er zu seiner Tochter: „Jetzt sehe ich, daß es richtig war, was du mir gesagt hast.“ General Tönu blieb nun mit seiner Frau im Schloß wohnen. Als der König fühlte, daß der Tod ihm nahte, übergab er die Herrschaft seinem Schwiegersohn, der klug und ehrlich das Reich regierte.
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96 Der Däumling Es lebte einmal ein Mann mit seiner Frau, und die hatten keine Kinder. Als die Frau die Kinder des Nachbarn spielen sah, sagte sie: „Hätte ich doch nur ein Kind, und wenn es bloß so groß wäre wie der Daumen meines Mannes!“ Bald darauf gebar sie ein Kind, das sie sehr gut nährte und das dennoch nicht größer wurde als der Daumen des Mannes. Es hatte eine gute starke Stimme und war klug. Einst war der Junge mit dem Vater im Walde. Der Vater hatte Holz geschlagen und sagte: „Wer holt mir das Pferd von zu Hause, das Holz heimzufahren?“ Der Sohn ging sofort nach Hause, um das Pferd zu holen. Die Mutter spannte das Pferd vor den Wagen und sagte zum Sohn: „Wie willst du das Pferd lenken, du kannst ja die Zügel nicht in die Hand nehmen?“ Der Sohn setzte sich dem Pferd ins Ohr hinein und sang, wobei er das Pferd lenkte, bis sie zum Vater in den Wald kamen. Dorthin kamen drei Männer, ihnen gefiel der Däumling, und sie wollten ihn dem Vater abkaufen. Der Vater war damit nicht einverstanden, der Sohn kletterte am Rockschoß des Vaters hoch zu 568
seinem Ohr und flüsterte ihm zu, er solle ihn verkaufen; dann bekomme er Geld, und er selbst werde schon zurückkommen. Als das Geschäft mit den Männern abgeschlossen war, sagte der eine: „Ich werde ihn unter den Rock stecken.“ Der Junge entgegnete: „Unter dem Rock ist es heiß.“ Der andere Mann wollte ihn in die Tasche stekken, da sagte der Junge wieder: „In der Tasche ist es dunkel. Nehmt mich auf den Hutrand.“ Der dritte nahm ihn dann auf seinen Hutrand, und sie gingen weiter. Sie waren schon eine Weile gegangen, da wollte der Däumling herunter, um sein Geschäft zu verrichten. Als der Mann ihn herunterließ, verschwand er sofort in einem Rattenloch; die Männer konnten nichts tun. Der Däumling ging durch das Rattenloch in die Kammer eines Herrn. In der Nacht kamen Diebe, und der Däumling rief um Hilfe. Das Mädchen ging nachschauen, sah aber niemanden. Sie rief die anderen, die sahen auch nichts. Von dort geriet der Däumling in das Strohfutter, und eine Kuh verschluckte ihn. Als das Mädchen kam, um der Kuh Futter zu bringen, schrie der Junge im Magen der Kuh: „Bring bloß kein Futter mehr, es ist schon genug!“ Das Mädchen lief in die Stube und erzählte es den anderen, die ihr das nicht glaubten und sagten: „Du bist verrückt geworden, zuerst hörst du Hilferufe, daß Diebe kommen, jetzt wieder soll die Kuh reden.“ 569
Der Hausherr ging selbst nachschauen, der Junge schrie wieder dieselben Worte. Die Kuh wurde geschlachtet, und den Magen, in dem der Däumling steckte, brachte man in den Wald, wo ihn ein Wolf auffraß. Aus seinem Magen heraus befahl er dem Wolf: „Geh in die Kammer meines Vaters, dort gibt es viele Speisen. Du kannst dich schön satt essen.“ Der Wolf tat es auch, kletterte durch ein kleines Fenster hinein und fraß sich dann den Bauch so voll, daß er dick wurde und nicht mehr hinausgelangen konnte. Der Vater des Jungen kam, tötete den Wolf, und der Däumling wurde zur Freude des Vaters frei. Der zog dem Wolf den Pelz ab und nähte aus dem Schwanzfell dem Däumling einen Pelz. Der Däumling sagte von sich selbst: „Was habe ich nicht alles durchgemacht, ich war im Mauseloch, in der Kammer eines Herrn, im Kuhmagen und im Wolfsmagen.“ Zu guter Letzt starb er.
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97 Den Mond im Genick, die Sonne auf der Stirn Drei hübsche Mädchen rupften an einem schönen Herbsttag am Wegrand Lein. Da geschah es, daß der König vorbeifuhr und die hübschen Mädchen bemerkte. Er befahl zu halten und begann mit ihnen eine Unterhaltung: „Wer seid ihr, schöne Mädchen?“ „Wir sind aus dem Dorf nebenan und alle eines Vaters Kinder.“ Der König schaute den Mädchen gutgelaunt zu, fing mit ihnen zu scherzen an und sagte: „Ihr gefallt mir sehr.“ Da nahmen sich die Mädchen ein Herz und baten den König, sie zu heiraten. Die älteste Tochter hob an und sagte: „Lieber König, nimm mich zur Frau; ich werde dein ganzes Heer mit einer einzigen. Leinfaser einkleiden.“ Der König wollte sie aber nicht. Da fing die zweite Schwester an zu bitten und sagte: „Lieber König, nimm mich zur Frau, ich sättige dein Heer mit einer einzigen Brotkrume.“ Doch der König wollte auch sie nicht. Jetzt trat das jüngste, schönste Mädchen vor und bat: „Lieber König, nimm mich zur Frau, ich schenke dir einen Sohn, der wird den Mond im
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Genick, die Sonne auf der Stirn und den Morgenstern über dem Herzen haben.“ Der König nahm sie auf diese Bitte hin zur Frau, und sie fuhren in die Königsstadt, wo er ein prächtiges Schloß besaß. Dahin brachte jetzt der König seine Frau, und dort fing für sie ein fröhliches Leben an. Es wäre alles gut gewesen, wenn nicht die alte Mutter des Königs ihre junge Schwiegertochter gehaßt hätte. Die alte Königsmutter sagte: „Ein Bauernmädchen als Königin – nein, das darf nicht sein!“ Die Alte rief heimlich ihre Ratgeber zusammen, um zu beraten, wie sie ihre Schwiegertochter vor dem König schlechtmachen könnte. Da gab der eine einen bösen und der andere einen noch böseren Rat, wie man die Königin loswerden könnte. Schließlich sagte einer der Klügsten unter ihnen: „Wir müssen abwarten, bis der König in den Krieg zieht, dann haben wir genug Zeit, um Rat zu finden, wie wir sie loswerden.“ Sie brauchten nicht lange zu warten, es begann bald ein Krieg, und der König mußte in den Kampf ziehen; so hatte die böse Alte ein gewonnenes Spiel. Bald nach der Abreise des Königs wurde ihm der versprochene Sohn geboren, es war aber ein Kind wie jedes andere ohne irgendwelche besonderen Merkmale. „Was können wir jetzt tun?“ dachte die Alte. Sie rief wieder ihre Ratgeber zusammen, und es wurde beschlossen, dem König eine falsche Bot572
schaft zu schicken, daß dieser versprochene Sohn ein gar schreckliches Wesen sei mit einer Wolfsschnauze, mit Bärentatzen und mit einem Fuchsschwanz. Die böse Alte verstand es, den König so zu überlisten, daß er schließlich die häßlichen Merkmale statt des versprochenen Mondes und der Sonne für möglich hielt. In seinem Ärger schickte er darauf eine Nachricht zurück und befahl, das Kind und die Mutter beiseite zu schaffen, damit eine solche Schmach nicht bekannt werde, denn das könnte dem König zur Schande gereichen. Als die Befehle zu Hause ankamen, war die Freude der bösen Alten groß. Sie kamen wieder zusammen und beschlossen, daß die Mutter und das Kind erbarmungslos sterben sollten; nun hatte die arme Königin keine Hoffnung mehr, am Leben zu bleiben. Die bösen Ratgeber ließen eine Tonne anfertigen, in die sie die Mutter und das Kind mit ein wenig Mundvorrat einsperrten und ins Meer warfen, wo sie nun der Wind Tage und Nächte auf den Wellen schaukelte. Ein Seevogel flog jeden Tag auf die Tonne und sang: „Wehe, Windchen, Puste, Windchen, Bringe die Gefangenen nach Saaremaa, Schlage sie an den Viru-Strand!“
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So vergingen Jahre, das Vögelchen, das sie jeden Tag durch das Lied erfreute, nährte sie zugleich. Der Junge, der inzwischen groß geworden war, wollte nicht mehr in der Tonne bleiben und fragte: „Mutter, kann ich mich strecken?“ Die Mutter aber sagte: „Strecke dich nicht, mein Sohn, dann sind wir verloren.“ Die Tonne schaukelte aber, vom Winde getrieben, auf die alte Weise weiter. Nach langer Zeit stand schließlich die Tonne unbeweglich auf der Stelle, und der Sohn fragte wieder die Mutter: „Mutter, soll ich mich strecken?“ Die Mutter erwiderte: „Warten wir noch ein Weilchen, vielleicht kommt der Vogel und bringt uns etwas zum Essen.“ Doch der Vogel kam nicht mehr. Da sagte die Mutter: „Sohn, strecke dich jetzt!“ Und der Sohn streckte sich. Da brach der Boden der Tonne auseinander, und sie standen auf trokkener Erde. Staunend sah sich der Sohn um und sah Menschen – es waren Fischer. Sie gingen hin und baten um etwas zu essen und bekamen es auch. Von dort gingen die beiden bettelnd weiter, bis sie schließlich in eine große Stadt kamen, wo viel Volk zusammengelaufen war. Da hörten sie, daß der König nach einer langen Trauerzeit wieder heiraten wollte, daß heute die Verlobung stattfinde und daß der König aus diesem Grunde ein Fest ausgerichtet habe. Sie wurden dabei vom Volk mitgezogen, bis sie vor dem Schloß des Königs standen. 574
Hier erkannte die Mutter mit Schrecken das Haus ihres Mannes und wollte fliehen, doch sie hatte aus den Erzählungen des Volkes auch gehört, daß der König ihr lange nachgetrauert habe. Deshalb faßte sie Mut und drang weiter vor, um in die königliche Küche zu gelangen. Dort erkannte man sie nicht mehr, und sie suchte sich einen Platz, an dem sie sich beide verstecken konnten. Von anderen ungesehen, hörten sie alles, was besprochen wurde. Mit Staunen erfuhren nun die Lauschenden, man habe einen Scheffel Nüsse vor den König gebracht und daran die Bedingung geknüpft, die Verlobung dürfe nicht eher vollzogen werden, bis diese Nüsse von selbst und paarweise aus dem Scheffel herausspringen, was jedoch bisher nicht geschehen sei. Jetzt waren alle sehr in Sorge, da dies noch niemand hatte vollbringen können. Nun sagte der Junge: „Mutter, ich gehe hin.“ Die Mutter erwiderte: „Geh nicht, sie werden dich töten.“ Der Sohn hörte aber nicht auf das Verbot der Mutter, kam hervor und ließ sich vor den König bringen. Hier sah er staunend den König in seiner ganzen Pracht auf dem Throne sitzen, und der Scheffel mit den Nüssen stand vor ihm auf dem Boden. Er trat festen Schrittes vor den König, sah ihn an und sagte: „Der König fuhr einen Weg entlang“, und plötzlich sprangen zum Erstaunen aller zwei Nüsse aus dem Scheffel heraus. 575
Der König erschrak und blickte den jungen Mann an, dieser aber sprach weiter: „Drei Mädchen rupften Lein“, und wieder sprangen zwei Nüsse aus dem Scheffel. So erzählte der junge Mann diese Geschichte bis zu seiner Geburt, und der Scheffel mit den Nüssen war schon halb leer. Da plötzlich leuchtete der Mond in seinem Genick auf, die Sonne schien auf seiner Stirn und der Morgenstern auf seiner Brust. Der König kam von seinem Thron herunter, umarmte und küßte ihn und sagte: „Du bist mein lieber Sohn, und wo ist deine Mutter?“ Jetzt wurde auch die Mutter aus ihrem Versteck herausgeholt, und sie trat zitternd vor den König. Der König aber eilte ihr entgegen, umarmte und küßte sie. Dann führte er sie zu seinem Thron, auf dem sie neben ihm bis zu ihrem Lebensende herrschte.
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98 Das Mädchen im Räuberhaus In alten Zeiten lebte ein Herr mit seiner Frau in einer sehr glücklichen und herzlichen Ehe. Gott hatte ihnen zur Freude ein einziges kleines Töchterchen geschenkt, das sie beide liebten und wie ihren Augapfel hüteten. Als die Tochter schon sechs oder sieben Jahre alt war, begab sich der Herr auf eine weite und dringliche Reise. Beim Verlassen des Hauses schärfte er seiner Frau ein, auf jede Weise für das Kind zu sorgen und darüber zu wachen, daß ihm kein Unglück geschehe. Die Frau versprach, mit mütterlicher Liebe für das Wohl der Tochter zu sorgen und alles nach besten Kräften zu tun. In der ersten Zeit liebte und umsorgte die Mutter denn auch ihr Kind, doch später, als der Herr längere Zeit wegblieb, veränderte sich ihr Sinn, und es geschah, was eigentlich eine Mutter nicht tun dürfte: Ein fremder Herr suchte sie immer häufiger auf, und die Sache gedieh schließlich so weit, daß beide begannen, ein liederliches Leben miteinander zu führen. Das kleine Mädchen, das einen scharfen Verstand hatte, begriff das Falsche am Tun ihrer Mutter, und es sagte ihr oftmals, daß sie so nicht leben dürfe. Als aber die Frau dieses Leben immer weiter führte, drohte die Tochter, die Sache dem 577
Vater zu erzählen, wenn er wieder nach Hause komme. Jedesmal wenn das Kind der Mutter Vorwürfe machte, nahm die Liebe der Mutter zur Tochter immer mehr ab und wurde kühler. Jetzt aber, da die Tochter drohte, dem Vater zu klagen, wurde das Herz der Mutter für sie eiskalt, und die Tochter wurde ihr ein Dorn im Auge, ein überflüssiger Balken in der Wand, den man nicht brauchte. Die Mutter begann Pläne zu schmieden, wie sie die Tochter loswerden könnte. Schließlich muß ihr der alte Satan selber einen Rat erteilt haben. Es kann doch sonst keiner Mutter Herz von sich aus einen so teuflischen Plan gegen ihre einzige schöne Tochter ausbrüten. An einem späten Abend rief sie den Kutscher in ihre Kammer und sagte: „Spanne die Pferde vor den Wagen und bringe meine Tochter in den Wald, kleide sie dort aus, erschlage und zerschneide sie und bringe mir ihr Herz her, damit ich es genau weiß, daß dieses niederträchtige Wesen, das mir ein Kreuz ist, auch wirklich tot ist.“ Der Kutscher erschrak, als er die furchtbaren Worte hörte, und konnte eine Weile kein Wort hervorbringen; doch dann nahm er sich zusammen und begann um Erbarmen für das Kind zu bitten. Mitleidlos und kalt verlangte die Frau vom Kutscher die Ausführung ihres Befehls und drohte: „Wenn du meinen Befehl nicht erfüllst oder ihn schlecht ausführst, so daß die Sache unter dem
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Volk ruchbar wird, haftest du dafür mit deinem Kopf.“ Dem Kutscher blieb nichts übrig, er mußte die Pferde vor den Wagen spannen und fahren. Das Töchterchen setzte sich fröhlich in den Wagen, denn es glaubte, es sollte irgendwohin zu Besuch gebracht werden. Die Arme wußte nicht, daß sie zu einem Schlachtopfer und zum Fraß für die Raben bestimmt war. Weit im Walde hält der Kutscher die Pferde an und erzählt dem im Wagen sitzenden Kind die schreckliche und grauenhafte Geschichte. Der kleine Schönheitsengel erschrickt beim Vernehmen dieser Geschichte, doch bald kommt das Mädchen zu sich und sagt: „Laß mich leben, nimm diesen Hund, der uns zum Glück nachgelaufen ist, schlachte ihn und bring das Herz des Hundes anstelle des meinen, um es ihr vorzuzeigen. Du kannst ja das Herz des Hundes etwas mit Sand beschmieren, falls du befürchtest, daß sie die Sache durchschaut, und du kannst dich damit entschuldigen, es sei dir heruntergefallen und deshalb schmutzig geworden.“ Der Kutscher war über diesen guten Rat sehr erfreut und machte alles genauso, wie es ihm das Mädchen gesagt hatte. Das Mädchen aber kleidete sich aus und ging splitternackt in den Wald, wobei der Kutscher ihr beim Abschied höchstes Glück und Obdach wünschte und für sie betete, denn durch den klugen Rat des Mädchens brauchte er nicht Menschenblut zu vergießen.
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Der Kutscher brachte das sandige Hundeherz der Frau, um es ihr vorzuzeigen. Doch weil sie das Gewissen plagte oder aus einem anderen Grunde, warf sie keinen Blick auf das Herz und befahl, es irgendwo zu begraben, wo es von keines Menschen Auge gesehen werden konnte. Ein jeder kann sich vorstellen, mit welcher Herzbeklemmung die Kleine nackt in dem nassen Gras umherirrte und sich ein Obdach suchte. Schließlich, als die Müdigkeit und Kälte sie zu überwältigen begannen, sah sie zwischen den Bäumen Licht schimmern. Sie nahm die letzten Kräfte zusammen und schleppte sich dorthin. Todmüde kam sie zu dem Haus, aus dem das Licht schien. Ängstlich und verschämt geht sie hinein, und es ist wie ein Wunder, was sie dort vorfindet: Das Feuer brennt im Haus, auf dem Tisch stehen drei Gläser mit Obstwein, und drei belegte Brote liegen daneben, doch es zeigt sich keine Menschenseele, auch nach längerem Warten nicht. Da faßte sie Mut, trank ein Glas des stärkenden Getränks aus, aß ein Stück belegtes Brot und kroch unter den Ofen, um dort in der Wärme auf das Erscheinen der Menschen zu warten. Obwohl todmüde, konnte sie dennoch nicht schlafen, so erschüttert und aufgeregt war die Arme. Vor dem Morgengrauen erschienen endlich drei Männer im Haus. Sie warfen einen Blick auf den Tisch und sagten sogleich: „Es muß irgendwo hier ein Fremder versteckt sein, denn ein Glas ist leer, und ein Stück Brot fehlt auch.“ 580
Sofort begannen sie alle Ecken und Winkel zu durchsuchen, fanden jedoch niemanden. Unter den Ofen zu schauen, kam den Männern nicht in den Sinn. Nachdem sie beim Suchen nichts gefunden hatten, fingen sie an zu rufen: „Komm heraus, Fremder, wer immer du bist, jung oder alt, Frau oder Mann; Gnade, Gnade versprechen wir dir und werden unser Wort auch halten!“ Das Kind unter dem Ofen rief ihnen zu: „Gern würde ich hervorkommen, aber ich wage es nicht, denn ich bin splitternackt!“ Einer von den dreien schob ihr ein Kleidungsstück hin, damit bedeckte sie sich und kam hervor. Das Staunen der Männer war groß, als sie die Schönheit sahen, die vor ihnen stand. Vor Angst, Verzweiflung und Müdigkeit war das Kind blaß, doch jetzt in der Wärme und vor den fremden Männern stieg ihr ein wunderschönes zartes Rot in die Wangen und machte sie einer schönen Frühlingsblüte gleich. Kurz und klug erzählte das Mädchen den Männern von ihrem Schicksal. Die Männer waren dadurch so gerührt, daß sie versprachen, sie in ihre Obhut zu nehmen, für sie zu sorgen und ihr auf jede Weise Gutes zu tun. Außer den dreien gab es im Hause niemanden mehr. Diese drei Männer lebten hier im dichten Wald und ernährten sich von Räubereien. Wie man sieht, geriet das arme, von der Mutter verstoßene Kind in ein Räuberhaus und fand bei den 581
Räubern mehr Erbarmen und Gnade als bei der eigenen Mutter! Mehrere Jahre lebte sie bei ihnen, kochte ihnen das Essen, wusch ihre Wäsche und verrichtete andere notwendige Arbeiten. Die Männer waren auch sehr freundlich zu ihr; sie brachten oft verschiedene Geschenke und schöne Sachen mit, so daß sie schließlich mit diesem Leben ganz zufrieden zu sein schien. Inzwischen aber keimte im Herzen der Mutter der Gedanke: Meine Tochter lebt noch, und das kann ich nicht dulden! Sie ließ eine sehr kluge Zauberin zu sich rufen und sagte: „Kannst du, da du klug bist, in Erfahrung bringen, ob meine Tochter noch lebt und wo sie lebt?“ Die Zauberin bediente sich ihrer Zauberkunst und sagte: „Ja wirklich, sie lebt noch, und ich kann sie auch erreichen, wenn es nötig sein sollte.“ Die Frau bezahlte natürlich der Zauberin für ihre Mühe das Doppelte vom Verlangten, gab ihr ein schönes Kleid und sagte: „Bringe dieses Kleid meiner Tochter zum Geschenk, aber um Gottes Willen, sage ihr nicht, daß ich es ihr geschickt habe.“ Die Hexe tat, wie ihr befohlen. Das Mädchen freute sich über das wunderhübsche Geschenk und zog es gleich an. Doch als es daß Kleid angezogen hatte, fiel das Mädchen um und war tot! Die Räuber kamen nach Hause, und ihr Staunen und Bedauern war unsagbar groß, als sie ihr teu582
res und schönes Pflegekind tot auf dem Fußboden liegen sahen. Sie beschlossen, ihm ein Totenkleid anzuziehen und es wie richtige Christenmenschen auf ehrenvolle Weise zu bestatten. Sie zogen ihm das geschenkte Kleid aus. Vor Schreck blieben die Männer stocksteif stehen, denn das Mädchen wurde lebendig, war gesund und schön, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Es verging einige Zeit, und das Herz der Mutter begann erneut der alte drückende Gedanke zu quälen: Meine Tochter lebt noch. Wieder wurde die alte Zauberin herbeigerufen. Sie bestätigte: „Ja, meine Weisheit sagt es mir auch, daß sie wirklich wieder lebt.“ Die Frau gab jetzt der Hexe goldene Armbänder und sagte: „Zieh dir andere Kleider an, damit sie dich nicht erkennt, geh hin und bringe ihr diese Armbänder zum Geschenk!“ Die Hexe führte den Auftrag aus. Als das Mädchen die Armreifen umlegte, fiel sie sofort tot um. Wieder fanden es die Räuber tot vor und nahmen ihm die Armreifen ab (denn es tat ihnen leid, solche Armreifen mit ins Grab zu legen). Sobald sie die Armreifen abnahmen, erwachte die Tote zum Leben. Von neuem bedrückte das Herz der Mutter der Gedanke: Meine Tochter lebt doch noch immer. Die Zauberin wurde zum dritten Male zur Frau geholt. Sie bestätigte: „Ja, deine Tochter lebt wieder.“
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Jetzt gab die Frau der Hexe Ohrringe und befahl, sie der Tochter zu schenken. Die Hexe tat, wie ihr befohlen. Sowie sich das Mädchen diese Ohrringe an die Ohren steckte, starb es auch diesmal. Als die Räuber nach Hause kamen, fanden sie ihr Pflegekind tot vor. Zuerst hofften sie, daß es wieder irgendwie lebendig werde, wie es schon vorher zweimal geschehen war. Als sie alles versucht hatten, um sie zum Leben zu erwecken, als nichts geholfen hatte, glaubten sie schließlich: Sie ist tot. Ihr die Ohrringe abzunehmen, kam ihnen nicht in den Sinn. Ihr Leid und ihre Trauer waren groß. Sie zogen den Leichnam schön an, ließen einen gläsernen Sarg anfertigen und legten die Tote da hinein. Den gläsernen Sarg mit der Toten stellten sie in eine abgelegene Kammer, wo sie ihre schöne Verstorbene durch den gläsernen Sarg jeden Tag betrachten konnten. Wegen ihrer großen Schönheit konnten sie sich nicht entschließen, sie zu beerdigen. Nun war auch der Herr von seiner Reise nach Hause zurückgekehrt. Die Frau schwindelte ihm natürlich vor, die Tochter sei gestorben, und zeigte dabei ein so süßsauer weinerliches Gesicht und solche Trauer, daß der Herr glaubte, was die Frau ihm vorlog. Mit dem Herrn waren aber mehrere fremde junge Herren aufs Land zur Jagd gekommen. Eines Tages gingen sie zur Jagd, und ein junger Mann irrte ab und konnte die anderen nicht mehr 584
finden. Als er bis zum Ermüden umhergelaufen war, gelangte er schließlich zum Räuberhaus. Er ging durch das ganze Haus, traf jedoch keinen einzigen Menschen an, denn die Räuber waren wieder einmal auf Beute aus. Dabei entdeckte er auch die Kammer, wo der gläserne Sarg mit der Toten stand. Der junge Herr betrachtete eine Weile mit großem Staunen diesen Sarg und auch die schöne Tote. Er dachte: Es ist hier keiner zu sehen, komme, was da wolle, ich stehle die Tote mit dem ganzen Sarg. Gedacht, getan. Die Tote tragend, fand er auch den Weg und schritt froh dem Hause zu. Wenn es auch eine tote Schönheit war, das Herz des jungen Mannes sagte ihm dennoch, daß er ohne sie nicht leben könne. Auf dem Gut oder im Schloß brachte er den Sarg in eine Nebenkammer und ging oft hin, um die Tote zu betrachten. Einmal öffnete er den Deckel des Sarges, schaute die Tote an und fingerte dabei an ihrem Ohrring. Der Ohrring fiel aus dem Ohr heraus in die Hand des Herrn, und die Tote begann etwas zu atmen und sich zu bewegen. Der Herr erschrak und eilte davon. Die anderen hatten die Sache schon bemerkt und meinten, daß er in der Kammer ein Geheimnis verberge, denn sonst würde er ja nicht so oft allein dort hingehen. Nun begann der Hausherr ihn nach seinem Geheimnis auszufragen. 585
Der junge Herr erzählte alles, was wir schon wissen. Sie gingen zusammen hin, sich dieses Wunder anzuschauen. Wunder hin, Wunder her, die Tote atmete jedenfalls leise und bewegte sich etwas. Der alte Herr nahm den zweiten Ohrring aus dem Ohr, und die Tote wurde ganz lebendig und stand als die größte Schönheit vor ihnen. Sobald der erste Schreck der Herren vorüber war, nahmen sie ihren Mut zusammen und begannen das Mädchen nach seinem Stand und seinem Schicksal zu befragen. Das Gespräch dauerte lange, das Mädchen erzählte, wie alles gewesen war und wie schlecht ihm das Schicksal bisher mitgespielt hatte. Da fand der Vater seine Tochter und die Tochter ihren Vater wieder. Der Bräutigam bekam eine Braut und die Braut einen Bräutigam! Der alte Herr wurde seiner Frau so bitterböse, daß er sie erbarmungslos hinrichten ließ. Der junge Mann, der das Mädchen tot gebracht hatte, warb um sie. Nach einiger Zeit wurde eine fröhliche und prächtige Hochzeit gefeiert. Und sie lebten lange in einer glücklichen Ehe.
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99 Das Waisenkind wird ein Kuckuck Es lebte in alten Zeiten ein Mann, der zwei Töchter hatte. Die ältere war schlank, hatte ein freundliches Gesicht und eine wunderschöne Stimme. Ihre rosa Wangen und ihre blauen, hübschen Augen hoben sie unter allen anderen Mädchen hervor. Und wenn sie am Abend sang, kamen alle herbei, um sie zu hören; denn einen schöneren Singvogel gab es in der ganzen Welt nicht mehr. Die jüngere Tochter hingegen war nicht halb so hübsch. Ihre Mutter bereitete es große Herzschmerzen, daß die ältere Tochter gelobt und die jüngere getadelt wurde; denn die jüngere war ihre eigene Tochter und die ältere ihre Stieftochter, weil sie selbst die zweite Frau dieses Mannes war. Die Mutter der älteren Tochter war schon bei deren Geburt gestorben, und die Tochter selbst wußte nicht, daß sie eine Stiefmutter hatte, obwohl sie jeden Tag schlecht behandelt und ausgeschimpft wurde, die andere aber gepflegt und verwöhnt wurde. Je größer die Töchter wurden, desto mehr wuchs auch der Haß der Mutter auf die ältere Tochter, und wo sie nur konnte, trachtete sie danach, das Mädchen zu töten, denn die Mutter war der Meinung, die jungen Leute würden, wenn die 587
Töchter ins Heiratsalter kämen, eher die Stieftochter als ihre eigene Tochter anschauen, und das könnte sie nicht ertragen. Deshalb wartete sie auf eine günstige Gelegenheit, um sie zu ermorden. Und eines Tages gelang es ihr auch. Der Mann war nicht zu Hause, und jetzt befehligte sie. Da sagte sie zu den Töchtern: „Geht und holt mir aus dem Brunnen Wasser, und welche von euch zuerst mit dem Wasser zurück sein wird, der gebe ich ein Butterbrot.“ Doch der eigenen Tochter gab sie einen Eimer, der Stieftochter aber ein Sieb, um Wasser zu holen. Die Stieftochter fing an zu weinen, nahm aber das Sieb und ging Wasser holen, denn sie wußte ja, daß die Ofengabel auf ihrem Rücken tanzen würde, wenn sie nicht schnell mit dem Wasser zurückkäme. Doch ein Vogel fing auf dem Gartenzaun an zu singen und sagte: „Lehm ins Sieb, Lehm ins Sieb“, und das Mädchen tat, wie der Vogel es lehrte. Und siehe da, das Sieb ließ keinen Tropfen Wasser durch. Das Mädchen holte freudig Wasser und eilte zur Mutter zurück, viel eher als ihre Halbschwester. Die Mutter machte auch ein freundliches Gesicht und sagte: „Du bist ein gutes Kind, daß du so schnell das Wasser brachtest! Geh jetzt und nimm dir selbst das Butterbrot, es ist im Kasten.“ Doch sowie es das Brot nehmen wollte, schlug die Stiefmutter den Kastendeckel zu, und das 588
Mädchen war dazwischen tot. Und diese schreckliche Frau nahm das Kind, kochte es und gab es dem Manne zu essen. Doch der Mann begriff sofort, aß nicht und fragte nur: „Was ist das für Fleisch?“ Die Frau erwiderte: „Iß nur, es ist Hühnerfleisch.“ Der Mann aber aß trotzdem nicht, und als die Frau hinausging, nahm er die Knochen, band sie in ein Tuch und legte sie in die Höhlung einer Handmühle. Dabei sagte er: „Wachse hier, mein Hühnchen, erwache zum Leben, mein Töchterchen!“ Nach einigen Tagen ging er hin, um nachzusehen, was aus diesen Gebeinen geworden sei, und siehe da, die Knochen waren zusammengewachsen, und die Adern waren schon drauf. Einige Tage später ging er wieder hin, um nachzusehen: Schon waren die Haut und die Flaumfedern darauf. Nun dachte der Mann: Wer weiß, was daraus wird, und er wagte mehrere Tage nicht, nachsehen zu gehen. Doch schließlich ging er dennoch hin. Sowie er aber hinkam, flog aus der Höhlung ein Kuckuck heraus, nahm die Handmühle, flog mit ihr auf den Hausgiebel und fing an zu rufen: „Komm heraus, mein Väterchen! Dir gebe ich einen goldenen Hut. Komm heraus, mein Mütterchen!
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Dir gebe ich eine Perlenschnur. Komm heraus, mein Schwesterchen! Dir gebe ich eine große Spange.“ Aber die Stiefmutter erkannte sie sofort, nahm den Ofenhaken und wollte sie damit vom Hausgiebel herunterschlagen. Wie sie jedoch die Ofengabel hob und zuschlagen wollte, erschrak der Kuckuck und ließ die Handmühle fallen. Sie fiel direkt auf den Kopf der Stiefmutter und erschlug sie. Der Kuckuck aber flog in den Wald, und er kommt niemals mehr zurück, um auf dem Hausgiebel „Kuckuck“ zu rufen. Wenn er aber dennoch zuweilen hinkommt, so bedeutet das ein Unglück, oder es stirbt jemand. Und das ist so: Wenn der Kuckuck auf dem Gartenzaun „Kuckuck“ ruft und den Schnabel nach innen hält, dann stirbt ein Mensch. Wenn er aber den Schnabel nach außen hält, so geschieht irgendein anderes Unglück. Deswegen wird auch der Kuckuck mehr geachtet als jeder andere Vogel. Und wenn jemand einen Kuckuck töten sollte, dann muß er ihm einen Sarg machen und ihn ordentlich begraben.
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100 Der geheimgehaltene Traum Eines Abends schickte der Vater seine zwei Söhne schlafen und sagte: „Achtet auf euren Traum und erzählt ihn mir morgen früh.“ Am nächsten Morgen erzählte der ältere Sohn seinen Traum, der jüngere aber schwieg. Der Vater ärgerte sich und verkaufte den Jungen an einen Soldaten für drei Kopeken, dabei sagte er ihm auch, daß er den Sohn verkaufe, weil ihm dieser seinen Traum nicht erzählt habe. Der Soldat behielt den Jungen zwei Tage bei sich und sagte dann. „Erzähle mir jetzt deinen Traum!“ Der Junge erwiderte: „Bist du aber klug! Wenn ich ihn dem Vater nicht erzählt habe, da werde ich ihn doch dir nicht erzählen!“ Der Soldat ärgerte sich und verkaufte den Jungen weiter an einen Offizier für drei Rubel, wobei er ihm auch sagte, weswegen ihn dessen Vater verkauft hatte und er ihn nun an den Offizier verkaufe. Der Offizier behielt den Jungen zwei Wochen bei sich und fragte dann: „Was war das für ein Traum, den du deinem Vater und auch dem Soldaten nicht erzählen wolltest?“
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Der Junge entgegnete: „Wenn ich ihn den beiden nicht erzählt habe, dann werde ich ihn auch dir nicht erzählen.“ Der Offizier ärgerte sich und verkaufte den Jungen für dreißig Rubel an einen General. Der General behielt den Jungen zwei Monate bei sich wie seinen eigenen Sohn und sagte dann: „Sei ein guter Junge und sage mir, was du damals geträumt hast, als dich dein Vater verkauft hat.“ Der Junge entgegnete: „Es wird immer besser! Wenn ich es dem Vater nicht gesagt habe, werde ich es dir erst recht nicht sagen!“ Der General ärgerte sich, verkaufte den Jungen für dreihundert Rubel an den König und sagte dabei: „Der Vater hat ihn an einen Soldaten, der Soldat an einen Offizier und der Offizier an mich verkaufe, weil er ihnen nicht sagen wollte, was er im Traum gesehen hat.“ Der König behielt den Jungen zwei Jahre bei sich und behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn. Dieser König nun hatte eine wunderschöne junge Tochter, die sich sehr in den Jungen verliebte und die der Junge ebenso liebte. Nach zwei Jahren gab der König ein großes Fest und lud dazu viele hohe Herren ein. Bei der Tafel sprach er zu dem Jungen: „Nun erzähle uns den Traum, dessentwegen dich der Vater verkauft hat.“ „Wenn ich ihn sonst niemandem erzählt habe“, erwiderte der Junge, „Euch werde ich ihn schon gar nicht erzählen.“
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Da fiel etwas vom Tisch herunter, und die Königstochter bückte sich, um es aufzuheben, der Junge aber steckte seinen Kopf ebenfalls unter den Tisch und küßte die Königstochter. Der König sah das, ärgerte sich und ließ den Jungen ins Gefängnis bringen. Dort hätte er sicher sein Ende gefunden, denn wer sollte sich um den armen Kerl kümmern? Doch die Königstochter besuchte ihn heimlich und brachte ihm auch zu essen. Nun traf es sich, daß auch ein anderer König eine schöne Tochter hatte, die der Bruder unserer Königstochter zur Frau begehrte. Jener Vater aber wollte seine Tochter nur dem geben, der alle Aufgaben lösen würde, die man ihm stellte. Als nun die Königstochter wieder einmal im Gefängniskeller bei ihrem Liebsten war, erzählte sie: „Ich weiß nicht, was werden soll. Meinem Bruder wurden drei Stöcke geschickt, alle gestrichen und gleich dick, und er soll sagen, wo an ihnen das Stammende und wo das Wipfelende sei. Wer kann das wissen?“ „Oh, das ist eine Kleinigkeit“, sagte der Bursche, „die schweren Aufgaben kommen erst. Laßt diese Stöcke von einer Höhe herunterfallen: Das Stammende ist schwerer und richtet sich nach unten.“ Das wurde auch getan, die Stöcke wurden mit Vermerken versehen – hier das Stammende, dort das Wipfelende – und so zurückgeschickt. Es stimmte!
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Nach einigen Tagen erzählte die Königstochter ihrem Liebsten wieder: „Jetzt wurden uns drei Pferde geschickt, sie sind alle von gleicher Größe und sehen gleich aus, und mein Bruder soll nun sagen, welches das jüngste und welches das älteste Pferd ist. Wer kann das wissen?“ „Oh, das ist leicht“, sagte der Bursche, „die schweren Aufgaben kommen noch. Stellt drei Behälter mit Futter hin, und laßt die Pferde an das Futter heran. Das älteste Pferd ist das klügste und wird sofort zu fressen beginnen, das jüngste ist das dümmste und wird das letzte sein.“ Es wurde so gemacht. Drei Behälter wurden hingestellt und die Pferde herausgelassen. Das eine Pferd lief sofort hin und fing an zu fressen, das zweite lief einigemal umher und machte sich dann ans Fressen, das dritte aber lief mehrmals in der Runde, bevor es sich ans Fressen machte. Die Pferde wurden mit entsprechenden Vermerken versehen – dieses ist das älteste und dieses das jüngste – und zurückgesandt. Und es hat alles gestimmt. Einige Tage vergingen, dann kam die Königstochter wieder zu ihrem Liebsten und sagte: „Zweimal hast du nun geholfen, doch was wird jetzt? Es wurden uns sechs Menschen geschickt, alle gleich gekleidet, und wir müssen sagen, wer Mann und wer Frau ist.“ „Das ist doch eine Kleinigkeit“, sagte der junge Mann, „sie sind alle Braut und Bräutigam. Kocht einen Brei und legt drei Ringe hinein. Wenn der
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Bräutigam im Brei den Ring findet, gibt er ihn der Braut, und die wird ihn an den Finger stecken.“ Es wurde daraufhin ein Brei gekocht, in drei Schüsseln auf den Tisch gebracht, und die sechs Fremden wurden hineingeschickt; dabei beobachtete man sie unbemerkt von der Seite. Es war zu sehen, wie der eine Esser den Ring vom Löffel nahm, ihn unter dem Tisch reinigte und dem zweiten gab; der steckte ihn an den Finger. Der dritte fand einen Ring, machte es ebenso und gab ihn dem vierten, der fünfte fand auch einen Ring und gab ihn dem sechsten. Die Menschen wurden zurückgeschickt mit dem Hinweis – das ist die Braut und das der Bräutigam –, und alles stimmte. Da schickte der fremde König die Nachricht: „Der junge Mann hat zwar zu Hause alle Aufgaben gelöst, doch jetzt soll er in die Stadt kommen und sie auch hier lösen!“ Da ging der Königssohn dorthin in die Stadt. Die Schwester ging wieder zu ihrem Liebsten und sagte: „Bisher hast du ihm wohl geholfen, doch was sollen wir jetzt tun?“ „Halb so schlimm“, erwiderte der junge Mann, „laß mich hier heraus, dann werde ich ihm nachgehen.“ Die Königstochter ließ den Gefangenen heimlich heraus, und er folgte dem Königssohn in die Stadt des fremden Königs. An einer Stelle des Weges stritten sich heftig zwei Männer. Er trat an sie heran und fragte: „Worüber streitet ihr euch?“ 595
„Unser Vater ist gestorben“, erklärte der eine Mann, „und hat uns eine Decke und einen Hut hinterlassen. Nun will der eine die Sachen für sich und auch der andere für sich haben, und einen richtigen Richter finden wir nicht.“ „Was streitet ihr euch nur wegen solchen Plunders“, sagte der junge Mann, „es nehme der eine ein Stück, der andere das andere, und der Fall ist erledigt.“ „Du weißt ja nicht, was das für ein Hut und was das für eine Decke ist“, erklärte der zweite Fremde. „Wer diesen Hut aufsetzt, den sieht niemand, und wer sich auf diese Decke stellt und sagt: ‚Decke, bring mich in die und die Stadt!’, den bringt die Decke sofort dorthin, wo er gerade sein will.“ „Ich bin ein Fremder“, sagte der junge Mann, „und kann für euch Recht sprechen, wenn ihr damit einverstanden seid.“ „Wir sind einverstanden!“ sagten die beiden. Der junge Mann nahm einen Stein, warf ihn ins Gebüsch und sagte: „Wer diesen Stein zuerst findet, erhält die Sachen.“ Die Brüder liefen den Stein suchen. Inzwischen setzte der junge Mann den Hut auf, stellte sich auf die Decke und befahl ihr, ihn in die Stadt des Königs zu bringen, dessen Tochter der Sohn seines Königs heiraten wollte. Die Decke brachte ihn augenblicklich dorthin. Der junge Mann nahm die Decke unter den Arm und ging sich die Stadt ansehen.
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In einem Wirtshaus sah er elf Musiker mit sorgenvollen Gesichtern sitzen. „Was seid ihr so bekümmert?“ fragte er. „Unser Leiter ist gestorben“, sagten die Musiker, „und nun finden wir keinen anderen Leiter!“ „Ich bin ein Fremder“, sagte der junge Mann, „und wenn ihr wollt, kann ich euer Leiter sein.“ Die Musiker waren damit einverstanden; der junge Mann verbot ihnen dabei, irgend jemandem zu sagen, wer der Leiter sei. Da wurden sie in das Haus des Königs zum Spielen gerufen und wurden nachher gefragt, wer ihr Leiter sei, damit ihm der Lohn ausgezahlt werde. „Wir haben keinen“, sagten die Männer. „Wie denn das?“ wurden sie gefragt. „Einer unter euch muß doch der Leiter sein?“ „Wir sind alle Leiter“, entgegneten die Musiker. Die anderen aber dachten: Wir werden es durch Schlauheit schon herausbekommen, wer ihr Leiter ist, und riefen die Musiker zum Essen. Auf dem Tisch standen zwölf Teller, vor dem Tisch jedoch gab es nur einen Stuhl. Die Bewirtenden dachten: Der Leiter wird sich auf den Stuhl setzen, die anderen werden stehend essen, und beobachteten sie heimlich. Doch die Musiker errieten die Absicht. Der erste setzte sich auf den Stuhl, aß einige Zeit, stand dann auf und ließ den nächsten sitzen. Der zweite, dritte und vierte machten es ebenso, bis zum letzten, so daß der Beobachter nicht erfahren konnte, wer der Leiter war. 597
Dann wurden sie in eine Stube zum Schlafen geführt, in der es nur ein einziges Bett gab und elf Matten auf dem Fußboden. Sie dachten, der Leiter werde sich ins Bett legen und die anderen werden auf dem Fußboden schlafen. Doch die Musiker machten es ebenso wie beim Essen: Der erste schlief eine Weile im Bett, stand dann auf und schickte den zweiten ins Bett, dieser den dritten und so weiter, bis sie alle durch waren. So konnte keiner erfahren, wer der Leiter war. Als nun die Musiker eines Tages wieder im Wirtshaus waren, kam auch der Königssohn dorthin und machte ein sehr trauriges Gesicht. Er erkannte nicht den jungen Mann, der zu ihm hinging und ein Gespräch begann: „Warum seid Ihr so bekümmert?“ „Was macht’s“, antwortete stolz der Königssohn, „was willst du von mir? Du kannst mir ja doch nicht helfen!“ „Wer weiß“, meinte der junge Mann, „ich kann so manches fertigbringen; Ihr könnt mir wenigstens sagen, was Euch fehlt.“ Der Königssohn überlegte eine Weile und erzählte schließlich dem jungen Mann alles: „Ich soll morgen früh der Königstochter ein Paar ebensolcher Schuhe bringen, wie die sind, die sie anziehen wird. Aber woher soll ich wissen, ob sie rote oder bunte anziehen wird? Und wenn die Schuhe nicht ganz genau die gleichen sind, verliere ich meinen Kopf.“ „Befürchtet das nicht“, sagte der junge Mann. „Aus dieser Not kann ich Euch heraushelfen: Zwi598
schendurch bin ich auch mal Schuster. Was versprecht Ihr mir dafür, wenn ich Euch morgen früh genau solche Schuhe bringe, wie sie die Königstochter tragen wird?“ „Was ich dafür verspreche? Ich weiß nicht, was ich versprechen soll. Was wollt Ihr haben?“ „Schreibt einen Brief, daß die Hälfte des Königreichs Eures Vaters mir gehören wird.“ Der Königssohn überlegte: Es ist besser, ich verliere das halbe Königreich als den Kopf, und schrieb den Brief. Der junge Mann ging hinaus, setzte den bewußten Hut auf, der ihn unsichtbar machte, und ging zum Königsschloß. Dort angelangt, sah er einen Schuster-Juden herauskommen und in einen Lederladen hineingehen. Er folgte ihm nach. Der Jude kaufte verschiedenes Leder, der junge Mann nahm nachher die gleiche Menge und vom selben Leder (es hat ja niemand gesehen, was er genommen hat). Von dort ging der Jude nach Hause, gab das Leder den Gesellen und sagte: „Es sollen bis morgen früh Schuhe fertig sein, die so und so aussehen müssen“, und legte sich schlafen. Auch der junge Mann legte sich so lange schlafen, bis die Gesellen die Schuhe fertig hatten und ebenfalls schlafen gingen. Dann nahm der junge Mann die Schuhe und legte statt ihrer das Leder hin. Danach kniff er dem alten Juden in die Nase. Der alte Mann wachte auf und ging nachsehen, ob die Schuhe fertig seien. Die Gesellen schliefen, und das Leder lag unberührt auf dem Tisch. Der 599
alte Mann nahm wütend die Elle und begann die Gesellen zu verdreschen. „Ihr Faulpelze legt euch schlafen und wollt nicht arbeiten, und morgen früh erwartet die Königstochter ihre Schuhe!“ Die Gesellen entschuldigten sich wohl, daß die Schuhe fertig seien, doch was half es, das Leder lag unberührt auf dem Tisch! „Daß ihr mir jetzt die Schuhe rechtzeitig fertig macht!“ herrschte sie der alte Jude an, und die Gesellen mußten sich erneut an die Arbeit machen. Der junge Mann aber ging mit den fertigen Schuhen zum Königssohn und sagte: „Schaut her, genau solche Schuhe wird die Königstochter morgen tragen!“ Der Königssohn nahm die Schuhe und ging ins Schloß. Die Königstochter kam heraus und hatte neue Schuhe an; der Königssohn stellte seine daneben: Die einen sahen wie die anderen aus. Später kam der Königssohn wieder ins Wirtshaus und war auch diesmal sorgenvoll. „Nun, warum seid Ihr jetzt wieder sorgenvoll“, fragte der junge Mann. „Waren die Schuhe nicht die gleichen?“ „Es waren schon die richtigen Schuhe“, erwiderte der Königssohn, „doch was habe ich davon? Ich werde morgen meinen Kopf doch verlieren: Denn wie soll ich morgen ein ebensolches Kleid bringen, wie es die Königstochter tragen wird?“ „Oh, das ist eine Kleinigkeit“, sagte der junge Mann. „Zuweilen bin ich auch Schneider; was ver600
sprecht Ihr mir, wenn ich Euch ein solches Kleid bringe?“ „Was soll ich denn versprechen? Was willst du selbst haben?“ „Schreibt einen Brief, daß auch die zweite Hälfte des Königreiches Eures Vaters mir vererbt wird.“ Der Königssohn überlegte: Lieber verliere ich auch das andere halbe Königreich als meinen Kopf, und er schrieb den Brief. Der junge Mann setzte wieder den Hut auf, damit ihn keiner sieht, und ging zum Königsschloß. Aus dem Schloß kam eine Näherin heraus und ging eilig in einen Laden, wo sie verschiedenen Stoff einkaufte. Der junge Mann nahm die gleiche Menge und vom selben Stoff an sich und ging der Näherin nach bis in ihre Wohnung. Die Näherin gab den Stoff den Mamsellen und erklärte: „Es muß ein Kleid bis morgen früh fertig sein, das so und so aussehen soll“, und sie legte sich schlafen. Die Mamsellen gingen an die Arbeit, nähten das Kleid fertig und legten sich schlafen. Da nahm der junge Mann das Kleid, wickelte es zusammen, legte an seiner Stelle die Stoffe hin und weckte die Näherin. Die sah, daß der Stoff noch unberührt war, und ging mit Nägeln und mit Zähnen auf die Mamsellen los. Der junge Mann kratzte unbemerkt auch die Näherin selbst, die nun dachte, daß die Mamsellen sich widersetzten, und einen höllischen Krach machte.
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Später, als sie müde wurde, brüllte sie: „Seht zu, daß das Kleid rechtzeitig fertig wird, wenn ihr zu faul gewesen seid, früher anzufangen!“ Der junge Mann brachte das Kleid dem Königssohn und sagte: „In genau solchem Kleid kommt die Königstochter morgen heraus.“ Der Königssohn nahm das Kleid, ging ins Schloß und legte es neben das der Königstochter: Sie waren völlig gleich. Später kam der Königssohn erneut ins Wirtshaus und wieder mit sorgenvoller Miene. „Warum seid Ihr nun wieder so sorgenvoll“, fragte der junge Mann, „war das Kleid nicht das richtige?“ „Das Kleid stimmte schon“, antwortete der Königssohn, „doch was habe ich von der Hilfe, morgen muß ich meinen Kopf doch verlieren! Denn bis morgen muß ich einen Vogel fangen, der ebenso ist, wie ihn die Königstochter haben wird; woher soll ich wissen, ob sie einen Spatzen oder eine Krähe oder aber einen anderen Vogel nehmen wird?“ „Das ist eine Kleinigkeit“, sagte der junge Mann, „ich bin zuweilen auch Jäger und kann einen solchen Vogel bringen, doch was gebt Ihr mir dafür?“ „Was soll ich dir noch geben“, erwiderte der Königssohn ärgerlich, „beide Teile des Königreiches habe ich dir doch schon versprochen!“ „Nun, du hast zu Hause noch eine Schwester, verschreibe sie mir auch!“
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Das zu tun, war für den Königssohn eine Kleinigkeit. Der junge Mann setzte wieder den Hut auf und ging zum Schloß. Da kam die Königstochter heraus und ging zum Meer baden. Nach dem Baden befahl sie dem Badehauswächter, eine weiße Gans zu fangen, und sagte dann zu dem alten Mann: „Du bist ein alter Mann, wer weiß, ob ich dich noch sehen werde, gib mir ein Büschel von deinem Haar.“ Die Königstochter riß dem alten Mann ein Büschel Haare aus, der junge Mann riß ihm ebenfalls ein Büschel aus, dann ging er und fing eine ebensolche Gans, wie sie die Königstochter hatte, band ihr das Haarbüschel des alten Mannes auf den Kopf und brachte diese dem Königssohn. Am nächsten Morgen, als der Königssohn ins Schloß trat, kam die Königstochter aus ihrer Kammer heraus, und hinter ihr ging die Gans mit dem Haarbüschel des Alten auf dem Kopf. Der Königssohn nahm seinen Vogel aus dem Korb – genau die gleiche Gans mit dem Haarbüschel des Alten auf dem Kopf. Nun war der König mit seinem Schwiegersohn zufrieden, und es wurde die Hochzeit gefeiert. Der junge Mann aber stellte sich auf seine Dekke und sagte: „Bring mich wieder zurück ins Gefängnis!“ Die Decke trug ihn dorthin. Während der Hochzeit wurden viele Gefangene freigelassen, darunter auch unser junger Mann.
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Sowie er aus dem Gefängnis herauskam, ging er in seiner zerlumpten Kleidung zum König. Der Türwächter wollte ihn nicht hineinlassen, doch er ging gewaltsam direkt bis zur Tafel des Königs, legte dem König seine Schreiben vor und sagte: „Schau, die eine Hälfte deines Reiches gehört mir, die andere Hälfte gehört mir, und auch deine Tochter gehört mir.“ Der König wurde böse und schrie ihn an: „Wo hast du diese Schreiben her?“ „Dein Sohn hat sie mir gegeben!“ Der König fragte seinen Sohn, und dieser antwortete: „Es stimmt, ich habe sie ihm gegeben, denn sonst hätte ich meinen Kopf verloren!“ Nun konnte der König nichts mehr ändern, er nahm den jungen Mann als seinen Schwiegersohn auf und machte ihn zum König. Den eigenen Sohn schickte er zu seinem Schwiegervater, um dort das Reich zu regieren. Und alles das hatte der Junge im Traum vorausgesehen. Hätte er aber seinen Traum den andern erzählt, würde er nichts bekommen haben.
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Legendenmärchen 101 Gott und der Pastor In längst vergangener Zeit wanderte Gott als ein alter Mann auf der Erde umher und heilte viele Kranke. Ein Pastor begleitete ihn stets als Diener. Wenn sie irgendwohin kamen, ließ Gott den Pastor die Gebete lesen und saß selbst daneben. Einmal wurde die Tochter eines großen Königs schwerkrank und fühlte sonderbare Schmerzen in ihrem Leib. Alle Ärzte wurden zu ihr gerufen, doch keiner konnte ihr helfen. Der König hatte erfahren, daß auf der Welt ein Alter umhergeht und die Menschen heilt, ganz gleich, an welcher Krankheit sie auch leiden; deshalb schickte er seine Knechte zu ihm und ließ ihn zu sich bitten. Nun machten sie sich auf den Weg, und es dauerte einige Tage, bis sie hinkamen. Sie hatten beide Brotbeutel mit, Gott hatte einen, und der Pastor hatte einen. Wenn sie essen wollten, setzten sie sich nieder, und jeder aß aus seinem Beutel. Der Brotbeutel des Pastors war zuerst leer, da sagte der Alte: „Komm her, mein Sohn, iß mit mir aus meinem Beutel, dein Reisevorrat ist ja zu Ende.“ Der Pastor aß, und es schmeckte ihm sehr. 605
Als es Nacht wurde, übernachteten sie im Walde. Der Alte legte sich auf die Erde, schob den Brotbeutel unter den Kopf, und der Pastor legte sich daneben. Der Pastor konnte nicht einschlafen, denn der gute Geschmack der Speisen schwand ihm nicht aus dem Mund, und er dachte unentwegt daran, wie er noch mehr aus dem Beutel bekommen könnte. in der Nacht, als der Alte im ersten Schlaf lag, zog ihm der Pastor den Beutel unter seinem Kopf hervor, aß sich mit großem Appetit satt und schob den Beutel vorsichtig wieder zurück. Am Morgen aß der Alte sein Morgenbrot und lud auch den Pastor zum Essen ein; als sie sich beide satt gegessen hatten, war der Vorrat des Alten ebenfalls zu Ende, doch von dieser Zeit an verringerten sich die Speisen des Alten überhaupt nicht mehr, obwohl sie beide davon aßen. Sie gingen wieder weiter, und der Weg führte sie über ein Meer, doch sie liefen darüber wie über ein flaches Brett. Auf dem Meer fragte der Alte den Pastor: „Mein Sohn, sag die Wahrheit, hast du in der Nacht nichts aus meinem Brotbeutel gegessen?“ Der Pastor leugnete und sagte: „Nein, ich habe nicht gegessen, und wenn ich auf den Meeresboden versinke!“ So forschte der Alte dreimal, doch jedesmal leugnete der Pastor. Bei der ersten Frage versank der Pastor bis zu den Knöcheln, bei der zweiten bis zu den Knien und bei der dritten Frage bis zum Hals. Obwohl der Pastor leugnete, half ihm der 606
Alte heraus, und sie setzten ihren Weg fort, bis sie beim König ankamen. Zuerst schickte der Alte den Pastor zu der Kranken und sagte: „Geh und brich ihr die Knochen in den Gelenken, ich werde sie dann zusammensetzen, und sie wird gesund.“ Der Pastor ging hinein und begann die Kranke zu recken und zu zerren, die Kranke aber fing an zu schreien und um Hilfe zu rufen; da kam man ihr zu Hilfe und jagte den Pastor mit Schande hinaus. Jetzt ging der Alte allein hinein, schloß die Tür ab und brach der Königstochter alle Knochen, ohne daß die Kranke einen Schmerz verspürte. Dann rief er den Pastor herein und zeigte ihm, was er getan hatte. Die auseinandergenommenen Knochen fügte er wieder zusammen, nachdem er aus ihnen das Bösartige der Krankheit entfernt hatte; die Königstochter war nun wieder gesund und munter. Nun riefen sie den König herein und übergaben ihm die gesunde Tochter. Darüber freute sich der König sehr und zahlte dem Alten für seine Mühe viel Geld. Als sie wieder zurückgingen, ließ der Alte den Pastor den Geldbeutel tragen. Zur Nacht gelangten sie in einen großen und dichten Wald, dort beschlossen sie zu übernachten, machten ein Feuer, der Alte legte sich nieder, und den Geldsack schob er sich unter den Kopf. Er schlief fest ein, und das Feuer brannte in seinem Rücken.
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Der Pastor dachte: Wie könnte ich nur diese Menge Geld für mich allein bekommen? Er begann hinter dem Rücken des Alten ein Grab zu schaufeln, damit der Alte im Schlaf hineinfalle und man das Feuer auf ihn werfen könne; dann werde der Alte sterben, und er bekomme den Geldsack. Sowie das Grab fertig war, wollte er den Alten hineinstoßen, doch durch ein Mißgeschick glitt er selbst hinein, und das Feuer fiel auf ihn drauf. Jetzt fing er an zu schreien: „Lieber guter Alter, komm, hilf mir, ich verbrenne!“ Der Alte wachte auf und fragte: „Sag die Wahrheit, mein Sohn, hast du aus meinem Brotbeutel gegessen?“ „Nein, ich habe nicht gegessen“, erwiderte der Pastor. „Für wen hast du dieses Grab geschaufelt?“ fragte der Alte wieder. „Das habe ich für dich gegraben“, sagte er jetzt. Der Alte zog ihn aus dem Grab, und sie gingen weiter. Der Alte gab ihm den Geldbeutel und sagte: „Des Pfaffen Beutel und des Teufels Grab, die kann niemand füllen!“
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102 Der ungewöhnliche Schmiedegeselle Schmiede hat es wohl zu allen Zeiten unter den Esten gegeben; doch einen gab es, der war in grauer Vorzeit überaus berühmt und ein so kluger Arbeiter, daß er (wie es in der Redewendung heißt, die man sowohl von alten als auch von jungen Menschen über sehr geschickte Leute zu hören bekommt) selbst dem Teufel hat Hörner aufsetzen können. Er hatte einen flachsköpfigen Gesellen oder Lehrling als Gehilfen; und beide, der Schmied und dieser fleißige Junge, erledigten gemeinsam alle Arbeiten, die ihnen gebracht wurden. Keinen schickten sie mit seiner Arbeit fort, ohne getan zu haben, was zu tun war. So arbeiteten der Schmied und dieser Geselle ruhig und zufrieden einige Jahre lang. Als sie nun eines Morgens eifrig mit einem Schwert beschäftigt waren, kam eine große prächtige Kutsche mit mehreren Pferden vor die Schmiede gefahren, und aus der Kutsche wurde von den Dienern ein sehr altes Ehepaar herausgehoben. Sie waren bestimmt von hohem Stand, denn ihre Kutsche war reich geschmückt, und auch ihre Kleider waren von Samt und Seide. Sie traten auf die Schwelle der Schmiede und grüßten sehr ehrerbietig.
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Da sie aber keinen Zahn mehr im Munde hatten, konnten sie nicht mehr richtig sprechen und sagten: „Gusen Tag, gusen Tag, Smiedemeister, kennt Ihr mich jung machen?“ „Nein, meine hochverehrten Herrschaften, das kann ich nicht. Eisengegenstände kann ich wohl verjüngen, sie können so alt sein, wie sie wollen, sie müssen durch mich doch wieder jung werden, aber einen lebendigen Menschen kann ich nicht jung machen!“ Als nun sein Geselle hörte, daß der Meister mit seinem Können am Ende war, stieß er ihn an und sagte: „Laß sie eintreten, ich werde sie schon jung machen.“ Der Meister schüttelte zwar den Kopf, doch ließ er den Herrn und seine Frau eintreten und sagte: „Kommt schon herein, mein kleiner Geselle, dieser Flachskopf, verspricht, Euch jung zu machen.“ Die Fremden traten ein, obwohl sie es nicht glaubten, daß der Geselle das fertigbringen werde, was der Meister nicht konnte. Wortlos nahm unser kleiner Flachskopf etwa sieben Scheffel Kohle, legte sie in die Ofenöffnung vor den Blasebalg und befahl einem Diener, den Blasebalg zu treten. Nachdem alles auf diese Weise vorbereitet war, schickte er die Frau aus der Schmiede hinaus in eine Nebenkammer. Danach nahm er den Herrn, ehe dieser noch ein Wort sagen konnte, zwischen seine großen Hände und steckte ihn kopfüber in die lodernde Flamme. Der Diener des Herrn, der den Blasebalg trat, fing an zu schreien, daß er den Herrn verbrenne, doch 610
unser Flachskopf fuhr ihn an und befahl ihm, den Blasebalg weiter zu treten. Inzwischen aber fing der Herr richtig zu kochen an. Darauf wurde das Herrchen aus dem Feuerloch genommen und von dem Jungen auf den Amboß gelegt. Nun hatte er erst recht Schmerzen auszustehen: Er wurde mit zwei großen Schmiedehämmern bearbeitet sowie mit dem kleinen Hammer des Flachskopfes, der nur anzuzeigen schien, wo geschlagen werden sollte. So wurde das ganze unbrauchbare Alteisen herausgeschlagen. Dann wurde er noch einige Male ins Feuer gesteckt, herausgenommen und auf dem Amboß bebauen, bis ihm unser Flachskopf noch sachte mit dem kleinen Hammer einige Schläge gab und an ein paar Stellen feilte. Als die Arbeit getan war, erschien der Herr jung und hübsch wie ein zwanzigjähriger Jüngling. Sein Diener wollte vor Freude seinen Augen nicht trauen. Nun schickte unser Flachskopf diesen Jüngling oder den verjüngten Herrn weg und ließ aus der Nebenkammer seine alte gebrechliche Frau herauskommen. Kaum war die alte Frau in der Schmiede – grapsch! ergriff er sie und steckte sie in die Feueröffnung, wo genausoviel Kohle lag und ein ebenso großes Feuer brannte wie zuvor für den Herrn. Jetzt wurde auch die alte Frau in die Flammen geschoben; zuerst brüllte sie wohl, doch das Brüllen und Jammern halfen ihr nichts. Der Diener mußte die ganze Zeit den Blasebalg treten, bis die Frau immer heller wurde. Als sie so hell 611
war wie die hellste Feuerkohle, nahm sie der Meister heraus, legte sie auf den Amboß, und nun begannen die Schmiedejungen zu zweit auf sie loszuhauen, und der Meister Flachskopf half wie spielend und weisend mit. So war die Arbeit schnell getan und die Frau fertig, jung und schön wie ein Apfel. Wer konnte die Freude dieses vom Alter zur Jugend erblühten Paares beschreiben! Nein, das war unmöglich! Jetzt ging man daran, die Arbeit zu bezahlen, doch wie? Es gab da kein Zählen, sondern die Diener brachten die Geldsäcke herein, und dann machten sich der Herr und die Frau in ihrer Kutsche und mit ihren Dienern auf den Weg. Doch das Geld, das die Diener auf Befehl des Herrn in die Schmiede brachten, nahm der alte Meister an sich, und der Flachskopf erwähnte mit keinem Wort, daß doch eigentlich nur er die Arbeit verrichtet und dabei die Mühe gesehen hat. Nun kamen jeden Tag vornehme alte Menschen, um sich verjüngen zu lassen, und sie alle wurden von unserem Flachskopf verjüngt und zahlten dem alten Meister große Summen. Eines Morgens trat der Flachskopf vor den Meister und sagte: „Jetzt ist meine ausgemachte Zeit abgelaufen, ich gehe fort, doch vorher bitte ich dich, mir einige Kopeken Weggeld zu geben, denn von Rechts wegen gehören sie ja mir.“ Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da hämmerten auch schon Faustschläge auf sein Genick ein, und aus dem Munde des Meisters kamen Worte, die der Junge vor Schmerzen nicht 612
einmal verstehen konnte. Nur soviel hörte er gerade noch, als er sich wieder vom Boden erhob (denn der Meister hatte ihn niedergeschlagen) und davonzulaufen begann, wie der ungerechte Meister seinem armen, doch sehr klugen Jungen schimpfend nachrief: „Ach, du Flachskopf, du Milchbart, du willst von mir Geld haben und willst behaupten, daß dieses Geld, das meins ist, dir gehöre! Bist denn du mein Lehrer oder mein Meister? Du warst doch mein Sklave, und ein Sklave muß das tun, was der Meister befiehlt. Ich kann ebenso wie du die Menschen ins Feuer jagen und nachher jung klopfen.“ Gleich darauf kam ein vornehmer Herr an, und der Meister ging sofort daran, ihn auf Flachskopfs Weise zu verjüngen, doch der verbrannte ihn vollständig. Da wurde der Meister lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt, und unser Flachskopf wurde aufgesucht, in die Schmiede gebracht, und das viele Geld erhielt er nun auch.
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103 Der Gutsherr als Pferd in der Hölle Ein Gutsknecht hatte ein sehr bitteres Leben. Er konnte so viel und so gut arbeiten, wie er wollte, und alle Befehle ausführen, er wurde doch jeden Abend verprügelt, ein gutes Wort aber hörte er nie. Da beschloß er, heimlich davonzugehen und sich woanders Arbeit und Brot zu suchen. Er war schon mehrere Tage im Walde umhergeirrt und wurde immer hungriger. Aus Furcht, daß er dem Gut noch zu nahe sei und man ihn wieder zurückbringen könnte, wagte er es nicht, zu den Menschen zu gehen. Durch Hunger und Müdigkeit geschwächt, setzte er sich unter einen Baum und überlegte, was jetzt zu tun sei. Plötzlich kam aus dem Wald ein fremder Mann zu ihm und fragte, woher er komme und wohin er gehe. Der Mann erzählte ihm, wie die Dinge standen, daß er von dem und dem Gut wegen des allzu schweren Lebens heimlich davongegangen sei und jetzt irgendwelchen Dienst suche. „Wenn es so um dich steht, so kann auch ich dir Arbeit und Brot geben, ich brauche gerade einen Holzfahrer“, sagte der fremde Mann und fragte, welchen Lohn er verlange.
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„Wenn ich Essen und Kleider bekomme, so reicht es mir schon“, sagte der Gutsknecht und ging mit dem Fremden. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, kamen sie zu einem Haus mit schwarzen Fensterrahmen. „Das ist mein Haus“, sagte der Fremde und ging mit dem Knecht hinein. Bald gab er dem Knecht zu essen und befahl ihm, sofort nach dem Essen schlafen zu gehen, morgen früh aber, bei Tagesanbruch, zum Herrn zu kommen und nach Arbeit zu fragen. „Du gehst in den Stall und nimmst dir das Pferd, das mit dem Kopf dahin steht, wo die anderen das Hinterteil haben, spannst es an und fährst in den Wald. Dort fällst du bis Mittag Bäume, dann lädst du das Holz auf und kommst nach Hause; paß aber auf, daß du kein Holz liegen läßt“, belehrte der Herr am nächsten Morgen den Knecht. Der Knecht tat, wie es der Herr ihm befohlen hatte. Er nahm aus dem Stall das ihm gewiesene Pferd und fuhr in den Wald. Um die Mittagszeit beim Aufladen begriff er, daß das Holz viel mehr geworden war, als er eigentlich geschlagen hatte. Eine Fuhre von drei Pferden war schon aufgeladen, und es blieb immer noch Holz übrig. „Er hat mir zwar befohlen, alles wegzubringen, doch das alles wird weder der Schlitten noch das Pferd aushalten“, sprach der Knecht beim Betrachten des Holzhaufens und ließ einiges zurück.
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Zu Hause war der Herr darüber sehr böse und sagte: „Du mußtest tun, was ich dir befohlen hatte, und nicht mein Pferd schonen!“ Am nächsten Morgen befahl der Herr dem Knecht, mit demselben Pferd in den Wald zu fahren, bis zum Mittag Holz zu schlagen und dann das ganze Holz sowohl von gestern als auch von heute aufzuladen und wegzubringen. Der Knecht ging in den Wald. Um die Mittagszeit sah er, daß der Haufen des geschlagenen Holzes noch größer war als gestern, so als hätten ihm unsichtbare Hände beim Fällen geholfen. Liegenlassen durfte er nichts, also lud er alles auf. Es wurden ganze sechs Pferdefuhren. Das Pferd schleppte die Fuhre unter Ächzen und Stöhnen nach Hause. Der Herr war zufrieden. Der Knecht brachte das Pferd in den Stall und band es auf die frühere Weise mit dem Kopf dort an, wo die anderen Pferde das Hinterteil haben, und legte sich hin. Am dritten Morgen erhielt der Knecht denselben Befehl. Der Knecht nahm dasselbe Pferd, ging in den Wald und begann wie zuvor Holz zu schlagen. Er wollte zwar langsam (auf faule Art) fällen, doch der Holzhaufen wuchs desto mehr. Beim Aufladen wurden es neun Pferdefuhren. Gern hätte er einiges zurückgelassen, doch er durfte es nicht. Als der Knecht die Fuhre beladen hatte und losfahren wollte, seufzte das Pferd sehr schwer auf, schaute zurück und fragte den Knecht in menschlicher Sprache, woher er komme und warum er hierher dienen gekommen sei. Das sei das Haus 616
des Teufels, und der Hausherr sei der Teufel selbst. Der Knecht erzählte, daß er aus der und der Not heraus von dem und dem Gut weggelaufen sei, dann im Walde den jetzigen Herrn getroffen und hier den Dienst angenommen habe. Es sei wohl bedauerlich, daß er dem Pferd so große Fuhren aufladen müsse, doch er als Knecht dürfe nicht gegen den Befehl des Herrn handeln. Als das Pferd hörte, daß der Knecht auf dem genannten Gut ein so bitteres Leben gehabt hatte, befahl es, ihm ein Stück Birkenrinde zu geben. Darauf schrieb es einiges mit dem Huf auf, gab die Rinde dem Knecht und sagte: „Jetzt bringen wir die Fuhre nach Hause, stell mich dann wieder auf die alte Weise in den Stall, sag deinen Dienst auf und geh auf das Gut zurück, von dem du gekommen bist. Dort übergib diesen Brief dem Herrn und fürchte nichts, er wird dir nicht mehr böse sein. Doch sage dem Herrn hier nicht, daß ich dir einen Brief gegeben und befohlen habe, den Dienst aufzugeben, sonst wird mein Leben noch schwerer werden, und man wird mir noch größere Fuhren aufladen.“ Der Knecht tat, wie ihm geheißen. Er ging nach Hause, brachte das Pferd in den Stall, sagte seinen Dienst auf und ging zurück aufs Gut, wo er den Birkenrindenbrief dem Herrn überreichte. Der Herr las den Brief und wurde im Gesicht weiß wie die Kalkwand. „Woher hast du den Brief?“ fragte er schließlich.
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Der Knecht erzählte alles, daß er wegen des allzu schweren Lebens davongelaufen war, dann beim Teufel den Dienst angetreten hatte und von seinem Pferd, mit dem er Holz fahren mußte, diesen Brief erhielt. „Das ist mein Vater!“ sagte der Herr. Und aus Furcht, daß auch er in der Hölle zum Pferd gemacht werde, wurde er von dem Augenblick an seinen Dienstboten gegenüber sehr freundlich.
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104 Das singende Schilfrohr Dies geschah in jener alten freien Zeit, an die viele nicht mehr glauben wollen; doch mir kann niemand verbieten, daran zu glauben, daß es einst eine freie Zeit gegeben hat, damals als das estnische Volk sich selbst regiert und ein gerechtes Leben geführt hat. Als aber Fremde die Oberhand gewonnen und das Volk in die Knechtschaft gezwungen hatten, freilich mit Hilfe von Harnischen, da schwand auch der frühere ehrliche Sinn fast völlig dahin. Ein übler und böser Sinn gegenüber dem Nächsten machte sich in den Herzen breit, schwere Arbeit und karger Lohn zwangen die Menschen dazu, die Hand nach fremdem Gut auszustrecken und das zu nehmen, was einem nicht gehörte, obwohl schreckliche Körperstrafen darauf standen. Ach ja, ich sollte doch eine Geschichte erzählen. Nun sieh mal, in alten freien Zeiten lebte ein wohlhabender und findiger Bauer in einem schönen estnischen Dorf, und er hatte drei Töchter. Doch die zwei älteren Schwestern liebten ihre jüngste Schwester nicht, denn die war sehr schön, mochte keine Lügen und keinen Betrug und tadelte sie wegen ihrer Eitelkeit. Deshalb sprachen die beiden älteren Schwestern schlecht über die jüngste, erzählten, sie sei ein Dummchen und nicht 619
ganz bei Verstand. So hieß sie im Volksmund ein Dummchen. Eines Tages mußte der Vater in die Stadt, und er fragte die Töchter, was er ihnen mitbringen solle. Während sich die älteren Schwestern Seidentücher wünschten, sagte die jüngste, für sie brauche man kein Geld auszugeben. Würde aber der Kaufmann dem Vater etwas obenauf schenken, so solle er ihr das bringen, sie werde damit durchaus zufrieden sein. Der Vater ging, und als er seine Ware verkauft und eingekauft hatte, fragte er, ob der Kaufmann ihm etwas obenauf geben wolle. Da die Katze des Kaufmanns gerade Junge geworfen hatte, meinte der Kaufmann, ob er nicht ein Kätzchen haben wolle, worauf der Mann antwortete, daß man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen dürfe. Er nahm das Kätzchen, dankte und fuhr nach Hause. Zu Hause übergab der Vater den älteren Töchtern ihre Tücher und sagte dann, daß das Geschenk für die jüngste Tochter draußen im Wagen sei, woraufhin alle Schwestern hinliefen, um es zu sehen. Doch das, was sie dort fanden, war ihrer Meinung nach höchst lächerlich; die jüngste Schwester jedoch war damit sehr zufrieden, sie nahm die Katze, fütterte und pflegte sie. Es kam der Tag, an dem die älteren Schwestern hinausgingen, um ihre Seidentücher zu zeigen. Das war an einem schönen Frühlingstag, einem Sonntag; die jüngste Schwester mußte aber an
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diesem Tag zu Hause bleiben und die Hausarbeiten erledigen. Als alles getan war, ging sie in den Obstgarten, um mit ihrer Katze zu spielen; sie setzte sich in den Schatten eines schönen Baumes und dachte an die Boshaftigkeit der Schwestern. Da hörte sie im Baum ein Rascheln, sah hinauf und bemerkte einen hübschen Vogel, der sich auf dem Baum niederließ und eine goldene Brosche im Schnabel trug. Sobald die Katze diesen Vogel bemerkte, kletterte sie den Baum hinauf und nahm dem Vogel die schöne Brosche weg. Dem Vogel aber tat sie nichts. Das Mädchen, das sich zuvor aus Schmuck nie etwas gemacht hatte, freute sich nun zum ersten Mal über den Schmuck. Sie versteckte ihn, damit ihn keiner sehe. Am nächsten Sonntag gingen die älteren Schwestern wieder in die Kirche, und die jüngste mußte zu Hause bleiben. So ging sie auch dieses Mal wieder in den Garten unter den Baum. Nachdem sie eine Weile dort gesessen hatte, kam der Vogel wieder angeflogen, setzte sich auf den Baum, und er trug vier Ringe im Schnabel, die die Katze holte und die das Mädchen versteckte. Am dritten Sonntag aber war sehr schlechtes Wetter, und die älteren Schwestern wollten diesmal nicht in die Kirche gehen. Deshalb sollte die jüngste Schwester hingehen, was sie auch tat. Sie heftete ihre goldene Brosche an die Brust, steckte die goldenen Ringe an die Finger und ging. In der Kirche aber schauten die Leute, von denen an die621
sem Tag zufällig recht viele erschienen waren, nur das Mädchen an, und die anderen Mädchen schauten neidisch zu ihr hin und sagten: „Wer weiß, wo dieses Dummchen den Schmuck her hat?“ Die jungen Männer aber betrachteten die Sache ganz anders, denn ihre Blicke schweiften immer wieder zu dem Mädchen hinüber, und in diesen Blicken war ein ganz besonderer Glanz; einige steckten die Köpfe zusammen und flüsterten. Es hatte allgemein geheißen, daß dieses Mädchen häßlich und dumm sein solle, dabei war es schön, klug, verständig, ordentlich und gesittet. Am vierten Sonntag gingen wieder die älteren Schwestern in die Kirche. Sie hörten jetzt, wie schön ihre jüngste Schwester gewesen sei und welch schönen Schmuck sie getragen habe. Nun kannte ihre Wut und Bosheit keine Grenzen mehr. Auf dem Heimweg überlegten sie, wie sie ihre jüngste Schwester loswerden könnten. Zu Hause fragten sie, von wem die Jüngste den Schmuck bekommen habe, und da sie niemals log, so erzählte sie auch ihren Schwestern, woher sie die schönen Sachen hatte. Die Schwestern wollten nun ebenfalls solchen Schmuck haben. Sie nahmen die Katze und gingen mit ihr in den Obstgarten unter den Baum, wo die jüngste Schwester den schönen Schmuck erhalten hatte. Sie warteten eine Weile. Endlich kam der Vogel, und in seinem Schnabel glänzte eine goldene Brosche. Doch die Katze kletterte nicht hoch, sie zu holen, denn sie kannte 622
die beiden als ihre Feindinnen, die sie niemals mochten. Wenn die Schwestern sie auf den Baum bringen wollten, kratzte sie ihnen die Hände blutig. Nun war die Geduld der Schwestern zu Ende. Sie brachten die Katze zum See, banden ihr einen Stein um den Hals und ertränkten sie. Dann hielten sie Rat, wie sie ihre jüngste Schwester loswerden könnten. Am fünften Sonntag gingen alle drei Schwestern in die Kirche, Aber da geschah etwas, was den älteren Schwestern die Galle überlaufen ließ, denn alle schauten wieder nur auf die jüngste Schwester und ließen die beiden unbeachtet. Nun kamen sie auch darauf, wie sie die jüngste Schwester loswerden konnten. Auf dem Wege nach Hause töteten sie das Mädchen, nahmen ihm den Schmuck ab, steckten es in ein Loch und bedeckten es mit verschiedenem Abfall. Schließlich trugen sie noch Schilfrohr auf das Grab. Erfreut über den schönen Schmuck gingen sie nach Hause. Das Schilfrohr auf dem Grab wuchs aber so schnell, daß sich am dritten Tag ein Hirtenjunge, als er zufällig in der Nähe des Grabes war, aus dem Rohr eine Flöte schneiden konnte. Doch als er anfing auf ihr zu blasen, erschrak er sehr, denn beim Blasen hörte er die Worte: „Ich war früher ein hübsches Mädchen, seit drei Tagen deckt mich die Erde.“ Er versuchte es mehrere Male, doch es kamen stets die gleichen Worte. Schließlich wußte der 623
Hirtenjunge nicht mehr, was er tun sollte. Er lief ins Dorf und erzählte alles dem Dorfältesten, der sofort hinging, um nachzusehen, ob es auch stimme, was der Junge erzählte. Als sie hinkamen, schnitten sie wieder eine Flöte. Diese klagte darüber, daß die älteren Schwestern sie umgebracht hätten. Die dritte Flöte befahl, sie auszugraben und es dem Gericht zu melden, was auch alles erfüllt wurde. Als sie aus dem Grab genommen wurde, war sie so schön wie zuvor. Es war nur kein Atem mehr in ihr, doch der Weise sorgte dafür, daß sie ihren Atem wiedergewann. Auf dem Wege vom Weisen nach Hause kam ihnen der Dorfälteste eines großen Dorfes entgegen, der noch in jungen Jahren zu dieser Ehre gelangt war. Sowie er das schöne Mädchen erblickte, fing sein Blut zu sieden an, so daß er nicht anders konnte, als sie um ihre Hand zu bitten; und er bekam sie, denn auch das Mädchen bewegten die gleichen Gefühle. Den älteren Schwestern aber war schon der Ort bereitet, an dem sie Zeit hatten, über ihre bösen Taten nachzudenken. Und das Gericht verurteilte sie zum Galgen. Inzwischen wurde die Hochzeit der jüngsten Schwester vorbereitet, und sie begann bald mit großer Pracht. Auch der Oberherrscher wurde eingeladen, und der war gekommen, weil er den Dorfältesten als den mutigsten Mann kannte.
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Der Oberherrscher war von der Schönheit der jungen Frau so begeistert, daß er sagte: „Erbitte dir, was du willst, du sollst es bekommen. Die junge Frau aber bat um nichts anderes, als daß man ihre Schwestern freilassen solle. Der Oberherrscher sah, daß er sein Wort nicht zurücknehmen konnte, sondern es erfüllen mußte, und so befahl er, jene sofort freizulassen. Die jüngste Schwester lebte lange glücklich mit ihrem Mann, und sie sahen noch ihre Enkel, während die älteren Schwestern in Trauer und Schande leben mußten. Nun, was meinst du, Gevatter Brüderchen, was ist besser, Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit? Überlege mal!
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105 Der tüchtige Drescher Hart war in alten Zeiten die Fron und bitter der allnächtliche Drusch auf dem Gut. War die Tagesarbeit getan, mußten sich die Fronbauern und auch die Frauen, die ständige Sklaven waren, für die Nacht zum Dreschflegeldienst fertigmachen. Das war jede Nacht so. Wer fragte danach, daß man nicht zum Schlafen kam. Lehnte sich jemand dagegen auf, bekam er das Fell voll und mußte dennoch gehen. Zuweilen war es so, daß nicht einmal Zeit blieb, richtig zu essen; es waren drei, vier oder auch fünf Werst bis zur Dreschscheune. Wo sollte man da die Zeit hernehmen, man mußte ja flink sein, um nicht verprügelt zu werden. Oftmals nutzten sich die Griffe der Dreschflegel ab und wurden knapp, denn wer wollte schon den Dreschflegel mit dem Griff auf der Schulter tragen! Immer wurde das dicke, gebogene Ende auf die Schulter genommen, und der Griff schleifte auf dem Boden klappernd nach, denn so war er leichter zu tragen; was Wunder, daß er sich dabei abnutzte. Es kam da auf eine Tenne oftmals ein tüchtiger Drescher. Sobald die Fronarbeiter die Garben auseinandergenommen und auf dem Tennenboden ausgebreitet hatten, erschien ein ausgedörrter, lang aufgeschossener Mann, um den Arbeitern 626
beim Dreschen zu helfen; er nahm eine dicke Darrstange zur Hand und legte damit los, um auf die langen Schichten einzuschlagen, immer patsch und pitsch! pitsch und patsch!, so daß das Stroh nur so flog. Der Drusch wurde immer zeitiger fertig, wenn der lange Totu dabei war. Denn Totu schlug mit der Darrstange fast über die halbe Schicht auf einmal, warum sollte er da nicht schnell fertig werden! War alles fertiggedroschen, ging Totu zu guter Letzt Schnaps holen, und er kehrte stets sehr schnell, in wenigen Augenblicken mit einem Schnapslägel zurück; die Fronbauern und Frauen konnten davon trinken, selbst bis sie am Boden lagen, denn der Schnaps wurde ja umsonst gebracht, weshalb sollten sie da nicht trinken. Totu aber lachte zuweilen so, daß er sich mit beiden Händen den Bauch festhalten mußte, damit er ihm bei den starken Lachern nicht davonsprang. Er konnte sich aber auch amüsieren, wenn sich die Männer betrunken Grobheiten an den Kopf warfen, die ihm sehr gefielen, oder einander mit Schlägen ins Genick traktierten, die offensichtlich er selber verursachte. Ein anderes Mal waren auf derselben Tenne wieder dieselben Drescher bei der Arbeit. Nachdem eine Schicht schon gedroschen und Totu noch nicht gekommen war, breiteten die Männer eine zweite Schicht aus, ohne daß irgend jemand Totu erwähnt hätte. Ein älterer Fronarbeiter nahm den Dreschflegel wieder zur Hand und sagte: „Fangen wir an, Kin627
der, schlagen wir wieder zu, immer tinks, tonks, tinks, tonks, pumbatscha, pumbatscha!“, woraufhin alle anderen zu lachen anfingen: „Schaut nur, was für einen Pumbatscha wir haben! Pumbatscha, Pumbatscha! Seht euch mal unseren Pumbatscha an!“ Auf diese Weise entstanden früher die Spitznamen: Wenn jemand zufällig ein Wort sagte, wurde es gleich zu seinem Spitznamen. Nach diesem Spaß sagte einer der Fronarbeiter: „Wer weiß, wo, zum Teufel, dieser Totu nur steckt und warum er heute nicht kommt!“ Plötzlich stieg Totu wie ein Pferd vom Balken unter der Darrstange herunter, nahm die Darrstange in die Hand und legte wieder los, daß es nur so stiebte. Der Drusch war sofort fertig, es mußte wieder der Abschlußschnaps geholt werden. „Komm mit, wir holen Schnaps aus dem Keller!“ sagte Totu zu einem Fronjungen, der noch ein ganzes Jungchen war, nahm ihn unter seinen Rockschoß und war wie der Wind fort. Plötzlich stand er mit dem Jungen in einem dunklen Keller. Mit großem Geknatter begann Totu aus den Zähnen Feuer zu speien, woraufhin der Junge sehr erschrocken war, sich gegen die Kellerwand drückte und schrie: „O mein Gott, was ist denn das?“ Daraufhin verlöschte das Feuer, und Totu, der der Gehörnte selber war, ging aus dem Keller hinaus und ließ den Jungen drin, denn er hatte ja un-
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terwegs dem Jungen verboten, Gott zu erwähnen. Der Junge blieb bis zum Morgen eingeschlossen. Als am anderen Morgen Leute in den Keller kamen, fanden sie dort einen fremden Jungen, den sie auszufragen begannen, was er hier mache und wie er hineingeraten sei, denn es setzte alle in Erstaunen, wie ein fremdsprachiger Junge dort hineingekommen war. Der Junge verstand die Sprache der Leute nicht und sie nicht die des Jungen, deshalb blieb der Junge bei ihnen, bis er anfing ihre Sprache zu sprechen und zu begreifen. Da erfuhr der Junge, daß es Schweden sei, wohin er mit Totu gekommen war, um Schnaps zu holen, und er erzählte seinen Brotherren, daß er aus Estland stamme und über das Meer gehen möchte, um seine Eltern zu besuchen und zu sehen, ob sie noch leben oder schon gestorben sind. Er sei von einem Dreschboden in Estland zusammen mit einem Mann gekommen, der ihn unter seine Rockschöße genommen habe und den man dort den langen Totu nannte; er hatte hier aus dem Keller Schnaps holen wollen. Im Keller habe Totu aus den Zähnen Feuer zu speien begonnen, der Junge habe Angst bekommen und den Himmel um Hilfe angerufen, daraufhin sei Totu hinausgegangen und habe den Jungen dort allein gelassen, wo man ihn schließlich auch gefunden habe. Nach drei Jahren kam der Junge nach Hause, wo man ihn mit Freuden empfing und wo er schließlich auf dem Hof seines Vaters Bauer wurde. Die Eltern hatten sich drei Jahre über den Ver629
lust des Sohnes gegrämt; nun waren sie überglücklich und können jetzt noch froh sein.
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106 Die gekochten Eier Ein Wandersmann hatte in einem Gasthaus zu Mittag sechs Eier gegessen und sie nicht bezahlt. Nach sechs Jahren kam er zurück und wollte seine Schuld begleichen. Der Wirt verlangte tausend Rubel. „Wieso denn so viel?“ staunte der Mann. „Es ist durchaus nicht viel!“ entgegnete der Eierverkäufer. „Überlege doch! Wenn ich diese Eier unter ein Huhn gelegt hätte, so wären daraus fünf Hühner und ein Hahn geworden. Diese Hühner würden jedes Jahr hundert Eier gelegt haben. Aus ihnen wären wieder Hühner geworden, und ich hätte ihrer so viele, daß man sie mit tausend Rubeln nicht bezahlen könnte.“ Der Mann zahlte nicht, und der Wirt verklagte ihn bei Gericht. Das Gericht tagte und tagte, da aber der Mann sein Recht nicht beweisen konnte, mußte die Verhandlung unterbrochen werden. Am nächsten Tag ging der Mann wieder zum Gericht. Ein Pflüger am Wegrand fragte: „Mann, warum bist du so traurig?“ Der Mann antwortete: „Vor sechs Jahren habe ich im Gasthaus sechs Eier gegessen und sie zu bezahlen vergessen, und jetzt will man mich für alle die Hühner zahlen lassen, die aus den sechs 631
Eiern zu errechnen sind. Ich verstehe nicht, mein Recht zu beweisen.“ „Geh und sage dem Gericht, daß ich kommen und deine Sache in Ordnung bringen werde.“ Der Mann ging. „Nun, kannst du deine Sache jetzt beweisen?“ fragte das Gericht. „Wird gleich nachkommen“, antwortete der Mann. „Was wird gleich nachkommen?“ „Ich bitte zu warten, das Recht wird gleich nachkommen.“ „Wo warst du so lange?“ fragte das Gericht, als der Mann mit dem Recht schließlich kam. „Erst kochte ich die Erbsen, und nachher säte ich sie aus“, antwortete der Mann. „Was redest du da für ein dummes Zeug, können denn gekochte Erbsen noch keimen?“ „Und wie können gekochte Eier noch Küken bringen?“ entgegnete der Mann. So blieb das Recht Recht, und die Gerichtskosten mußte der Kläger tragen.
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107 Der habgierige Gutsherr in der Bockshaut Ein armer Bauer ging am Tage der Pachtzahlung aufs Gut. Er konnte die Pacht nicht zahlen und wollte den Herrn bitten, ihm Aufschub zu gewähren. Der Mann bat mit Tränen in den Augen. Der Herr aber sagte nur, er werde ihn verprügeln lassen, ihn vom Hof jagen und wer weiß was noch alles mit ihm tun, wenn er nicht bis zum nächsten Tag das Geld bringe. Traurig ging der Mann nach Hause, denn er wußte sich keinen Rat, um sich aus dieser Not zu retten. In seiner großen Traurigkeit legte er sich zu Hause schlafen. Im Traum erblickte er eine Geldgrube, aber es wurde ihm befohlen, die Hälfte des Geldes in der Grube zu lassen. Der Bauer ging hin und bekam ohne große Mühe eine Menge Geld, obwohl er dabei, wie befohlen, die Hälfte des Geldes in der Erde ließ. Der Mann war jetzt sehr froh. Sowie es hell wurde, eilte er aufs Gut und brachte dem Herrn die Pacht. Der Herr staunte sehr und fragte den Mann, woher er so schnell das Geld bekommen habe. In seinem Glück erzählte der Mann dem Herrn alles. Der Herr schrieb sich alles hinter die Ohren. Sowie es dunkelte, ging er hin und holte sich aus der Grube das restliche Geld. Obwohl es eine 633
große Menge war, gab sich der Herr mit dieser Beute nicht zufrieden. Er überlegte, wie er zudem auch den armen Mann um sein Geld betrügen könnte. Schließlich griff er zu einer List: Er legte sich eine Bockshaut um, setzte Bockshörner auf den Kopf und befestigte sich hinten einen Schwanz. Die Bockshaut zog er über den nackten Körper, denn sonst hätte die Haut nicht herumgereicht. Er ging bei nächtlicher Dunkelheit zu dem Bauern, sprang und lärmte im Zimmer umher und verlangte von dem Mann das Geld zurück, das er in der vergangenen Nacht aus der Grube genommen hatte; er drohte, den Mann lebendig in die Hölle zu schleppen, wenn er ihm das Geld nicht gebe. Der Bauer bekam große Angst, holte schnell das Geld heraus und gab es dem Gehörnten. Der Gehörnte ging ohne Dank zur Tür hinaus. Dem Herrn passierten auf dem Wege nach Hause viele Mißgeschicke: Wohl an die hundert Mal stürzte er hin, und mehrmals ließ er das Geld fallen. Die Schritte lenkten ihn zwangsweise zurück zum Bauern, und es war, als flüsterte ihm eine heimliche Stimme ins Ohr: „Bring das Geld dem armen Mann zurück, sonst passiert ein Unglück!“ Der Herr aber hörte nicht darauf, mit großer Mühe ging er nach Hause, legte das Geld sorgfältig beiseite und wollte dann seine Bocksuniform ausziehen. Doch, o schreckliches Unglück! Obwohl der Herr zerrte und zerrte, ging die Bockshaut nicht von seinem Leibe ab. Der Herr zerrte aus voller Kraft – doch was nicht kam, kam nicht! 634
Schließlich begann er die Bockshaut mit dem Messer herunterzuschaben, doch das war so schmerzhaft, daß man sich umbringen konnte. Schließlich legte sich der Herr in seinem neuen Anzug schlafen in der Hoffnung, daß ihm der Morgen Abhilfe schaffen werde, doch der Morgen brachte nichts Besseres. Die Haut blieb weiterhin fest an seinem Körper kleben. Er wagte es nicht, in seiner schrecklichen Verkleidung irgendwo hinzugehen. Außerdem erinnerte er sich sehr deutlich seiner Träume, wie die Teufel die Haut von seinem Körper herunterzerrten und dabei schreckliche Schmerzen verursachten. In der nächsten Nacht wurde ihm ins Ohr geflüstert: „Du wirst deinen neumodischen Anzug nicht eher los, als bis du dem armen Mann sein Geld wiedergebracht und den anderen Teil in die Grube zurückgelegt hast!“ Dem Herrn tat es wohl leid, sich von dem Geld zu trennen, dennoch brachte er das Geld zurück. Der arme Mann staunte sehr, daß der Teufel gekommen war, um ihm das Geld zurückzubringen. Der Herr brachte auch den zweiten Teil des Geldes an seinen Ort zurück; und da fiel die Bockshaut von selbst ab, es blieben nur an den Stellen große Narben zurück, wo er versucht hatte, die Haut mit dem Messer zu entfernen.
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108 Die faule Weberin Nach der Beobachtung des alten estnischen Volkes ruft der Steinkauz folgende Worte: „Sehr wenig, sehr wenig! Klöks, klöks, klöks!“ Das Volk hat daraus auch eine Geschichte gemacht: Ein Mädchen webte aus feinem Leinen einen Stoff. Das Weben ging sehr langsam voran. Das Mädchen verlor die Lust am Weben, ließ die Arbeit liegen und ging übelgelaunt im Walde spazieren. Dort sah sie den Steinkauz auf einem Stein sitzen und rufen: „Sehr wenig, sehr wenig! Klöks, klöks, klöks!“ Das Mädchen begann zu überlegen, weshalb wohl dieser kleine Vogel so singt und immer „sehr wenig“ sagt, es könne schon sein, daß er recht hat. Es ging zurück nach Hause, setzte sich wieder an den Webstuhl und webte den Stoff „sehr wenig“ immer weiter, bis er fertig war. Das Mädchen war jetzt guter Laune, weil es den Liedworten des Steinkauzes gefolgt und auf diese Weise mit der langweiligen Webarbeit fertig geworden war.
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109 Das Hemd des Glücklichen Einst wurde ein mächtiger König schwerkrank. Der König, für den das Sterben eine ganz widersinnige Sache war, wollte gern noch einige Jahre leben, deshalb schickte er schnell seine Diener aus, von überallher Weise und Ärzte zusammenzurufen, damit sie ihm helfen. Es kam denn auch eine ziemlich große Menge kluger Männer zusammen, die versuchten, ihm Hilfe zu bringen. Diese redeten zwar das eine und das andere, versuchten auch alle ihre Kunststücke – aber es half nichts, die Krankheit wurde immer schlimmer, und die Ratschläge der Männer nützten immer weniger. Schließlich kam von wer weiß welchem Weltende her ein überaus weiser und berühmter Arzt, wohl der Windzauberer Finnlands selber, der sein Amt von Grund auf kannte. Er ging zum König, untersuchte ihn genau und sagte dann: „Ja, Herr König, Eure Krankheit ist wohl eine Todeskrankheit, doch Ihr könnt noch gesund werden, wenn Ihr das Hemd eines Menschen anzieht, der ein uneingeschränkt glückliches und sorgloses Leben führt und der mit seiner Lage vollkommen zufrieden ist. Sonst weiß auch ich keinen Rat mehr!“
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Der kranke König freute sich, daß er noch eine Hoffnung hatte; er schickte sofort die Diener aus und befahl ihnen, ihm ein solches Hemd zu besorgen. Die Männer stiegen die Berge hinauf und hinunter, gingen immer weiter, aus einem Land ins andere, forschten und fragten in allen Städten und auf allen Gütern, in den Dörfern und in den Katen nach, fanden aber keinen solchen Menschen, bei dem es sich gelohnt hätte, sein Hemd dem König zu bringen. Die Männer waren in Not. Das Hemd wurde nicht gefunden, der König mußte sterben. Nachdem sich die Männer längere Zeit erfolglos mit Reisen und mit Suchen strapaziert hatten, gerieten sie auf eine Weide, wo ein Schafhirte fröhlich die Sackpfeife blies. Der Mann trug einen Schafpelz, er hielt seine Sackpfeife unter dem Arm, und um ihn herum fraßen und vergnügten sich fünfzehn bis zwanzig Schafe. Die Männer des Königs erreichten den Hirten und begannen mit ihm eine Unterhaltung. „Sieh mal an“, sagten die königlichen Diener, „was ist denn dir so Gutes passiert, daß du so froher Laune bist?“ „Ha-ha-haa!“ lachte der Hirte. „Warum soll ich mich nicht freuen – mein Körper ist gesund, das Herz unbeschwert, mein Leben ist freundlich und lustig, diese Schafe gehören alle mir, sie nähren und kleiden mich, was sollte mir denn fehlen?“ „Wenn es so ist“, sagten die königlichen Diener, „willst du nicht mit uns zum König kommen? Dort
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wirst du schon erfahren und sehen, wie gut das Leben bei ihm ist.“ „Was redet ihr da!“ rief der Hirt. „Zum König soll ich kommen! Was habe ich bei ihm zu suchen? Meine Lage ist so schon gut genug, was brauche ich eure gütigen Wünsche.“ Na also, einen solchen Menschen suchen wir schon lange, dachten die königlichen Diener. Sie erzählten dem Hirten von der Krankheit ihres Königs und sagten: „So stehen die Dinge, leih uns dein Hemd, der König wird es dir ehrlich lohnen.“ Der Hirt hörte ihnen zu. „Männer“, sagte er, „sehr gern würde ich dem König von mir aus ein Dutzend Hemden borgen, wenn ihm das helfen könnte, doch schaut nur selbst, liebe Menschen!“ Der Hirt öffnete seinen Pelz und – du liebe Zeit! Der Mann hatte nicht mal ein Hemd. Was war jetzt zu tun? Die Männer gingen alle zum König zurück, erzählten ihm die Geschichte, und als der König sie hörte, starb er sofort.
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Novellenmärchen 110 Um die Wette lügen Zwei Nachbarsherren waren sehr große Freunde. Der eine Herr kam zum anderen zu Besuch. Der Herr, den der andere besuchte, begann zu erzählen: „Ich habe einen sehr reichen Bauern: Ants heißt er und ist aus dieser Gemeinde. Ich habe mir überlegt, wie ich sein Geld an mich bringen könnte.“ Der andere, der zu Besuch gekommen war, sagte: „Denken wir uns doch eine Geschichte aus, an der kein einziges Wort wahr ist, eine gänzlich erlogene Geschichte. Und der Bauer Ants soll auch eine Geschichte erzählen, an der es ebenfalls kein wahres Wort gibt. Wir lassen ihn aufs Gut kommen und sein Geld mitbringen, soviel wie er hat. Wir werden unsererseits Geld auf den Tisch legen, und der Bauer wird seinerseits soviel Geld hinlegen, wie er eben hat. Wer von der Erzählung des anderen sagt: Das ist eine Lüge, der verliert ohne Widerrede sein Geld.“ Der Untervogt befahl Ants, unverzüglich auf das Gut zu kommen und sein Geld mitzubringen. Der Bauer ging zu seinem Nachbarn und sagte ihm: „Komm mit aufs Gut! Es wurde mir befohlen, aufs Gut zu kommen und das Geld mitzubringen, ich weiß nicht, was sie dort vorhaben.“ 640
Der Nachbar, der dem Ants ein ehrlicher Freund war, sagte: „Gehen wir hin!“ Als sie aufs Gut kamen, sagte der Herr: „Legen wir unser Geld hier auf den Tisch, du deinerseits, ich meinerseits!“ Der Bauer legte sein Geld auf den Tisch, und der Herr tat es auch. Der Herr sagte: „Jetzt erzähl eine Lügengeschichte, an der kein einziges Wort wahr ist, eine ganz erlogene Geschichte.“ Der Bauer Ants sagte: „Erzählt Ihr, Herr, zuerst, Ihr seid ein kluger und gebildeter Mensch. Ich werde hinterher erzählen, weil ich noch nicht weiß, was ich erzählen soll.“ Der Herr sagte: „Wer von uns keine vollständig erlogene Geschichte erzählt, verliert die gesetzte Geldsumme. Also, ich werde zuerst erzählen.“ Der Herr begann: „Ich hatte einen sehr geschickten Gärtner, der mir stets schönes Gemüse großzog. Ein Kürbis wurde bei ihm so groß, daß vom Fleisch dieses Kürbisses das gesamte Gutsgesinde ein Jahr lang hat Brei essen können und aus dessen Schale eine Kutsche gebaut werden konnte.“ Bauer Ants sagte: „Herr, das kann schon möglich sein. Ihr besitzt sehr gutes Gartenland und habt einen klugen Gärtner.“ Dann begann der Bauer Ants zu erzählen: „Bei uns ist es Sitte, daß die Hausfrau am Fastnachtstag Bohnen kocht und Schweinezähne darauflegt, das heißt einen halben Schweinekopf. Und am Fastnachtstag wird bei uns Schlitten ge641
fahren. Da spannte ich das Pferd an und fuhr mit dem Schlitten zum Wirtshaus. Dort trank ich einen Krug Bier und einige Glas Schnaps und kam dann nach Hause, aß von den Bohnen und auch vom Schweinekopf dazu. Darauf legte ich mich ins Bett schlafen, aber da fing es an in meinem Zahn zu stechen, eine Bohnenschale war mir zwischen die Zähne geraten. Ich nahm die Schale heraus und steckte sie über dem Bett in einen Wandspalt. Im Frühjahr, als ich Bohnen pflanzte, erinnerte ich mich plötzlich daran, daß ich eine Bohnenschale, die zwischen meinen Zähnen gewesen ist, in einen Wandspalt gesteckt hatte. Ich ging hin und sah nach, ob sie noch da war. Sie war noch da. Ich pflanzte die Schale in der Mitte des Gartens ein. Nach einiger Zeit ging ich nachschauen ob sie angefangen hatte zu wachsen. Sie war wirklich länger und dicker geworden. Einige Wochen später ging ich wieder hin, um nachzuschauen, da war die Bohne so lang geworden, daß das Ende kaum zu sehen war. Nach einigen Wochen ging ich wieder hin, um nachzuschauen. Der Stiel der aus dieser Bohnenschale gewachsenen Bohnenpflanze war nicht mehr zu sehen, er war dicht mit Schoten bedeckt, wie ein astreiches Schobergestell. Ich begann an den Schoten hinaufzuklettern; ich stieg und stieg, inzwischen war der Bohnenstiel bis in den Himmel gewachsen, und so gelangte ich in den Himmel. Jetzt ging ich im Himmel umher. Dort gab es eine Schmiede. Euer alter Vater verrichtete in ihr Schmiedearbeiten, und Eure alte
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Mutter trug in der Schürze Kohlen zur Esse und trat den Blasebalg.“ Der Herr ärgerte sich sehr und sagte zu Bauer Ants: „Was lügst du nur, du Halunke und Satan! Mein Vater hat hier auf Erden keine Schmiedearbeit getan, wie sollte er also im Himmel damit angefangen haben.“ Er gab Ants eine Ohrfeige und schimpfte: „Scher dich fort von hier, du altes Aas!“ Der Bauer Ants raffte seinen Rockschoß und sprach zu seinem Nachbarn: „Schieb den Geldhaufen in den Hemdenschoß!“ Der schob das Geld vom Tisch in den Hemdenschoß, und sie gingen davon.
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111 Der größte Lügner wird Schwiegersohn des Königs Ein König hatte eine Tochter, die so gut zu lügen verstand, daß niemand gegen sie aufkam. Einst verkündete der König, daß derjenige, der seine Tochter im Lügen übertrumpfe, sein halbes Königreich und seine Tochter zur Frau erhalten solle. Natürlich kamen die Lügner in Scharen herbei. Wer hätte auch nicht Lust dazu, eine Königstochter zur Frau und ein halbes Königreich zu gewinnen? Aber sie konnten die Königstochter nicht schlagen. Davon hörten auch drei Brüder. Zuerst gingen die zwei älteren Brüder, ihr Glück zu versuchen, und als es ihnen nicht gelang, ging auch der jüngste Bruder, der dumme Juhan, zur Königstochter, die gerade im Kuhstall war. „Guten Tag!“ sagte Juhan. „Guten Tag“, erwiderte die Königstochter. „Ihr habt doch keinen so großen Stall wie wir? Wenn bei uns der Hirt in einer Ecke pfeift, kann man ihn in der anderen Ecke nicht hören.“ „Nun, dann ist unser Stall natürlich größer“, sagte Juhan. „Wenn bei uns in einer Stallecke ein Kalb geboren wird und es sich dann auf den Weg macht, in die andere Ecke zu kommen, wächst es zur Kuh heran, ehe es dort anlangt.“ 644
„Soo“, sagte die Königstochter. „Aber wir haben einen so großen Stier, daß der, welcher ihn ansehen will, den Kopf in den Nacken werfen muß. Und wenn sich zwei Männer auf je eines seiner Hörner setzen, können sie sich auch mit einem zwei Meter langen Stock nicht erreichen.“ „Das ist gar nichts“, sagte Juhan. „Wir haben auch einen Stier, wenn sich da zwei Männer auf je eines seiner Hörner setzen, und der eine pfeift, so kann der andere ihn nicht hören.“ „Aber Milch bekommen wir von unserer Herde bestimmt mehr“, sagte die Königstochter. „Wir melken in große Eimer, gießen dann die Milch in einen Kessel und machen große, große Käselaibe.“ „Aber wir melken gleich in große Zuber, bringen sie aus der Stadt hinaus, gießen dann die Milch in Kessel, so groß wie die Bierkessel, und machen Käselaibe so groß wie Häuser. Unser altes braunes Pferd dickt die Milch ein. Einmal, als unsere Braune gerade beim Käsemachen war, bekam sie ein Fohlen, und das Fohlen fiel in den Käse. An diesem Käse haben wir sieben Jahre lang gegessen, und als wir bei der Mitte angelangt waren, fanden wir im Käse eine große braune Stute. Einmal bin ich mit dieser Braunen zur Mühle gefahren und habe ihr dabei versehentlich das Rückgrat gebrochen. Sofort nahm ich eine große junge Fichte und machte ihr daraus ein neues Rückgrat. Die Stute lebt wie zuvor. Doch die Fichte hat zu sprießen angefangen und ist schließlich so hoch gewachsen, daß sie bis zum Himmel reichte. Auf 645
dieser Fichte bin ich in den Himmel hinaufgeklettert und habe dort meinen alten Vater gesehen, wie er aus einem Brei Stricke drehte. Ich betrachtete seine Arbeit, wünschte ihm Kraft dazu, doch die Fichte war inzwischen eingetrocknet. Ich dachte schon, ich müßte jetzt im Himmel bleiben. Dann bat ich meinen Vater, mich an dem Strick, den er aus Brei gedreht hatte, hinunterzulassen. Ich fiel direkt in einen Fuchsbau. Meine Mutter und dein Vater waren auch da; und dein Vater hatte vergessen, einen Knoten in den Bindfaden zu machen, als er anfing die Schuhe zu flicken, und meine Mutter schlug deinem Vater mit dem Schuh auf den Kopf, daß es auf seinem Kahlkopf nur so klatschte.“ „Das lügst du aber!“ schrie die Königstochter. „Mein Vater ist kein Kahlkopf.“ Da der dumme Juhan die Königstochter dazu gebracht hatte, die Wahrheit zu sagen, bekam er sie zur Frau und als Mitgift das halbe Königreich.
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112 Die Königstochter findet keine Antwort Es waren einmal drei Brüder, zwei kluge und ein dümmlicher. Die klugen Brüder waren die Herren im Hause, der dumme hütete das Vieh, machte Besen, sammelte Pilze und schlug Purzelbäume. Der König dieses Landes hatte eine sehr schöne Tochter, aber keinen Sohn. Deshalb beschloß der König, sein Reich der Tochter zu vererben. Die Tochter war sehr redegewandt, so daß sie niemand mit Worten schlagen konnte. Nach dem Tode des Königs begriff die Tochter, daß es viel schwerer sei, ein Reich zu verwalten, als mit anderen Wortkämpfe zu führen, und sie entschied sich, einen Mann zu nehmen und selbst auf das Regieren zu verzichten. Sie erließ den Befehl: „Alle jungen Männer meines Reiches sollen an dem und dem Tage zum Schloß kommen. Wer mich mit Worten besiegt, den nehme ich zum Mann und gebe ihm als Mitgift das ganze Königreich. Aber wen ich im Streit besiege, der soll mit einem Kübel voll Spülwasser und Teer übergossen werden.“ Alle jungen Männer bereiteten sich darauf vor, zum Schloß der Königstochter zu gehen, die wortgewandten, um mit Worten zu kämpfen, die wortärmeren, um zuzuschauen. 647
Die zwei klugen Brüder spannten das Pferd an und fuhren ebenfalls hin, um zu streiten. Stolz auf ihre Wortgewandtheit und Großmäuligkeit, waren sie sicher, daß einer von ihnen die Königstochter im Streit schließlich besiegen und als Preis das Königreich erwerben werde. Der Dumme wollte mit den klugen Brüdern mitfahren; sie sagten: „Was willst du denn dort, du wirst die anderen nur stören. Zu streiten verstehst du ja doch nicht, bleib zu Hause, hier hast du genug zu tun!“ Der Dumme hörte nicht darauf, nahm seinen Hirtensack unter den Arm und machte sich in Alltagskleidern zu Fuß auf den Weg den anderen nach: Er holte sie unterwegs sogar ein. Plötzlich fing er laut zu lachen an: „Ha, ha, ha, kommt und seht, was ich gefunden habe!“ Die Brüder dachten, er habe irgendeine wertvolle Sache gefunden. Sie hielten das Pferd an und ließen sich den Fund zeigen. Der Dumme aber hatte nichts anderes gefunden als eine kleine tote Krähe; er steckte sie in den Sack und sagte: „Die kann mir noch von Nutzen sein!“ Die Brüder ärgerten sich: „Ein Dummkopf bleibt immer ein Dummkopf!“ und fuhren weiter. Nach einiger Zeit fand der Dumme am Weg eine kleine zerbrochene Schale und fing wieder an zu lachen: „Ha, ha, ha, schaut, was ich gefunden habe!“, und er steckte sie in den Sack.
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„Dummkopf bleibt immer Dummkopf!“ ärgerten sich die Brüder und fuhren weiter. Der Dumme folgte ihnen zu Fuß immer auf Sichtweite nach. „Ha, ha, ha, was ich jetzt gefunden habe!“ lachte wieder der Dumme und zeigte den Brüdern einen alten Holzreifen. Er steckte auch ihn in den Sack und sagte: „Zuweilen kann man alles gebrauchen.“ „O du Dummkopf aller Dummköpfe!“ fluchten die Brüder vom Wagen. In der Nähe der Stadt fand der Dumme noch einen Keil und lachte wieder: „Ha, ha, ha, was ich gefunden habe!“ und steckte auch ihn in den Sack mit den Worten: „Ein Dummkopf, der Gefundenes liegenläßt!“ Die jungen Männer versuchten zwar im Wortstreit mit der Königstochter ihr Glück, doch sie wurden alle besiegt und mit einem Kübel voll Spülwasser übergossen, das mit Teer vermischt war. Die zwei klugen Brüder kamen als letzte dran, doch auch sie erhielten Spülwasser zum Lohn. Der Dumme stand abseits, in zerlumpter Kleidung, einen Sack unterm Arm, und schaute mit offenem Munde zu, wie es den anderen erging. Die Königstochter stand am Fenster, sah den Dummen und rief: „He, Mann, was schaust du nur zu? Komm her, versuch auch du dein Glück; die anderen sind alle durch. Zuweilen hat der letzte besseres Glück!“ Der Dumme trat näher, grüßte und sprach: „Hier haben wir es beide kalt, gehen wir lieber aus 649
dem Wind ins Zimmer, da ist es angenehmer, sich zu unterhalten, in der Kälte kann man sich leicht einen Husten holen.“ „Mir ist durchaus nicht kalt“, erwiderte die Königstochter, damit den Streit beginnend, „mein Körper ist so heiß, daß man einen Vogel darauf braten könnte!“ „Hier hast du einen Vogel, brate ihn“, sagte der Dumme, nahm die Krähe aus dem Sack und reichte sie der Königstochter. „Das Fett wird aber herunterlaufen.“ „Stell die Schale darunter!“ „Das Gefäß ist doch zerbrochen.“ „Hier, leg den Reifen darum!“ „Aber der Reifen ist zu groß!“ „Schlag doch einen Keil dazwischen!“ Da die Königstochter den Vogel auf ihrem Körper nicht braten konnte, auch keine Antwort mehr fand, nahm sie den Dummen zum Mann. Die anderen mußten beschämt nach Hause zurückkehren.
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113 Die kluge Bauerntochter Ein Gutsherr wollte einem Bauern den Hof wegnehmen. Das war für den Bauern sehr bitter, denn er hatte ein schönes, allein stehendes Gehöft mit gut bearbeiteten und gedüngten Feldern und festen Gebäuden. Auf diesem Hof hatten schon mehrere Generationen seiner Vorfahren gelebt, deshalb wollte er um keinen Preis seine Stelle aufgeben. Der Mann ging zum Gericht und verklagte den Gutsherrn: Der Herr wolle nur deshalb seinen Hof dem Gut angliedern, weil dieser gut gepflegt und bebaut sei. Er selbst habe sich in keiner Weise gegen den Gutsherrn vergangen oder ihn verärgert. Der Gerichtsdiener war zu dem Bauern sehr freundlich und ihm wohlgesinnt. Eines Tages wurden der Gutsherr und der Bauer vors Gericht geladen. In alten Zeiten hielt man sehr viel von Rätseln und ihren Lösungen. Deshalb befahl auch der Gerichtsherr dem Gutsbesitzer und dem Bauern, am zweiten Gerichtstag mit einem Rätsel zum Gericht zu kommen; wessen Rätsel die Richter nicht erraten werden, der wird recht bekommen. Beide gingen nach Hause, und beide hatten reichlich Sorgen und Kopfzerbrechen. 651
Der Gutsherr nahm Bleistift und Papier zur Hand und begann zu überlegen, doch er fand kein Rätsel, von dem er hoffen konnte, daß es nicht gelöst werde. Der Bauer war ebenfalls in Sorge, er wußte nicht, was er anfangen sollte. Das sah seine zwölfjährige Tochter, und sie fragte den Vater: „Was hast du für Sorgen, du willst weder essen noch trinken?“ Der Vater erzählte der Tochter, wie die Dinge standen. „Wenn ich kein solches Rätsel finde, sind wir unseren Hof los. Was fangen wir dann an?“ „Na, macht nichts, damit werden wir schon fertig. Geh zum Gericht und frag die Richter: Wie alt ist die Sonne, und wie schwer ist der Mond? Wollen wir sehen, ob sie darauf antworten können.“ „Und woher willst du das wissen, mein Kind?“ fragte der Vater. „Schau, Vater“, antwortete die Tochter, „die Sonne wird niemals älter als einen Tag, am Abend geht sie unter, und wenn sie am nächsten Morgen wieder aufgeht, so ist es schon ein anderer Tag. Und dann sagen wir, daß der Mond ein Pfund schwer ist: Denn das Pfund hat vier Viertel und der Mond ebenfalls vier Viertel.“ Es kam der Gerichtstag, und der Gutsbesitzer und der Bauer gingen zum Gericht. Zuerst hieß es zum Gutsbesitzer: „Gib dein Rätsel auf!“ Der Gutsbesitzer hatte kein Rätsel aufzugeben.
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Dann fragte man den Bauern: „Wo ist dein Rätsel?“ Der Bauer fragte: „Wie alt ist die Sonne, und wie schwer ist der Mond?“ Die Richter überlegten und überlegten, doch sie fanden keine richtige Lösung. Schließlich erklärte ihnen der Bauer selbst sein Rätsel; da meinten die Richter, daß es so sei, und sprachen ihm den Hof zu. Nachher fragte der Hauptrichter, woher er sein Rätsel habe, ob aus seinem eigenen Kopf oder von einem anderen? Der Mann erzählte, daß er zu Hause eine zwölfjährige Tochter habe, von der stamme das Rätsel. Der Richter staunte, daß er eine so kluge Tochter hatte, und bat den Mann, ihm diese Tochter zu zeigen. Der Mann ging mit der Tochter zum Richter; dem gefiel die Tochter sehr. Sie war auch wirklich ein sehr hübsches, kluges und verständiges Kind. Der Richter ließ sie auf eigene Kosten die Schule besuchen und nahm sie später zur Frau. Sie lebten in einer glücklichen Ehe. In demselben Ort lagen die Pferdekoppeln zweier Höfe einander gegenüber, und dazwischen stand nur ein erbärmlicher zerfallener Zaunrest. Der eine Bauer hielt auf seiner Koppel einen Wallach, der andere eine trächtige Stute. Einst ging die Stute in der Nacht über den Zaunrest auf die andere Koppel hinüber zum Wallach des anderen Bauern und bekam dort ein Fohlen. Am Morgen kehrte die Stute wieder zur eigenen Koppel zurück, das Fohlen aber blieb beim 653
Wallach. Der Bauer wollte das Fohlen holen, doch der andere Bauer gab es nicht her, es sei das Fohlen seines Wallachs. Für den Stutenbesitzer war das ein großer Verlust: ein schönes großes Hengstfohlen. Er erklärte zwar dem anderen, es könne doch unmöglich sein, daß sein Wallach ein Fohlen bekommen habe, doch dieser wollte nichts hören, sondern das Fohlen behalten. Schließlich verklagte ihn der Stutenbesitzer. Doch der andere war mit dem Richter gut Freund, er brachte ihm Geschenke, und beim Gericht wurde das Fohlen ihm zugesprochen. Der richtige Fohlenbesitzer, dem die Stute gehörte, kam mit traurigem Gesicht aus der Gerichtsstube heraus. Das sah vom Fenster aus die junge Frau des Richters, und sie fragte den Mann, warum er so traurig sei. Der Mann klagte seine Not und welche Ungerechtigkeit es sei, daß er das Fohlen nicht bekommen habe. Die Frau entgegnete: „Oh, das tut nichts, dein Fohlen wirst du schon bekommen. Ich werde dich lehren, wie: Der Richter geht jeden Tag im Wald am Rande der Sandwüste spazieren. Nimm morgen deine Fischfanggeräte, stell dich dort auf dem Sand auf und tue so, als würdest du Fische fangen. Wenn dich der Herr sieht, wird er natürlich fragen, was du machst, und er wird sehr staunen, daß du dort Fische fangen willst, wo sie überhaupt nicht sein können.“ So geschah es auch. Der Mann angelte am nächsten Tag im Sand nach Fischen, als der Herr dort spazierenging und es sehen konnte. Der Herr 654
fing laut zu lachen an, wie er hörte, daß der Mann dort Fische fangen wollte. Der Mann entgegnete: „Ja, es ist wirklich unmöglich, hier auf dem Sand Fische zu fangen, denn die Fische leben ja im Wasser. Doch ich meine, daß es ebenso unmöglich ist, daß ein Wallach ein Fohlen bekommt.“ Der Richter staunte über die Klugheit und Schlauheit des Mannes und sprach im Gericht das Fohlen wieder seiner Mutter zu. Er fragte den Mann, wie er auf einen solchen Gedanken gekommen sei. Der Mann erzählte, daß ihn dies die Frau des Richters selbst gelehrt habe. Dies aber gefiel dem Richter nicht, daß sich seine Frau auf diese Weise in seine Angelegenheiten einmischte, und er drohte, sie davonzujagen, wenn sie noch einmal wagen sollte, solches zu tun. Die Frau aber hörte nicht darauf und half den anderen stets, wenn sie es nötig hatten. Schließlich riß dem Richter die Geduld, und er sagte seiner Frau, daß sie am nächsten Tag von ihm wegziehen soll. Er versprach ihr, daß sie ein Kutscher mit Pferd und Wagen so weit bringen solle, wie sie es wünsche, und daß sie auch ihr teuerstes Gut nach eigenem Wunsch mitnehmen könne. Die Frau richtete ein großes Fest, zu dem sie alle Freunde und Bekannten einlud und bei dem es gut zu essen und zu trinken gab. Die Frau sorgte ganz besonders dafür, daß ihr Mann recht viel Schnaps trank, so daß er schließlich ganz betrunken war und von nichts mehr wußte. Dann ließ sie 655
die Pferde vor die Kutsche spannen, und sie fuhren zu einem Heuschober; darauf schickte sie den Kutscher nach Hause zurück. Als der Herr ausgeschlafen hatte und nüchtern geworden war, erschrak er und fragte die Frau, was es bedeute, daß sie im Heuschober seien. Die Frau erinnerte ihn daran, daß er ihr erlaubt hatte, ihr teuerstes Gut mitzunehmen. Der Herr nun sei ihr das Teuerste. Der Herr bat sie von Herzen um Verzeihung, sie gingen nach Hause und lebten glücklich – vielleicht leben sie auch heute noch.
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114 Die drei Lehren des sterbenden Vaters Ein alter Mann war lange Zeit krank und lag im Bett. Als er fühlte, daß sein Tod nahte, rief er seinen einzigen teuren Sohn zu sich und sprach zu ihm: „Gold und Silber habe ich dir nicht zu vererben, doch ich möchte dir drei Lehren geben. Beherzige sie, und du wirst ruhig auf dieser Welt leben. Diese Lehren lauten: Erstens, halte keine Freundschaft mit Herren; zweitens, sage nicht alles deiner Frau; drittens, nimm kein Pflegekind in dein Haus!“ Als der alte Vater gestorben und beerdigt war, wurde der Sohn ein Bauer. Wenn er zuweilen in seinen Angelegenheiten aufs Gut kam, gefiel er dem Gutsbesitzer wegen seines höflichen Wesens. Später schloß der Bauer mit dem Herrn enge Freundschaft, und schließlich nahm er ein Waisenkind als Pflegesohn an, denn er hatte keinen eigenen Sohn. Nachdem er einige Jahre mit dem Herrn in Freundschaft gelebt hatte und sein Pflegesohn schon zum Manne herangewachsen war, dachte er: Der Vater hat es mir zwar verboten, mit einem Herrn Freundschaft zu halten und ein Pflegekind anzunehmen, aber obwohl ich gegen seine Lehren gehandelt habe, konnte ich bisher dennoch in Ruhe leben. 657
Einst ging er wieder aus irgendeinem Grunde zum Gut und sofort ins Kontor des Gutsherrn, doch dieser war nicht da. Im Zimmer befand sich im Käfig ein sehr teurer Vogel, den der Herr für viel Geld gekauft hatte. Der Mann nahm den Vogel aus dem Käfig, brachte ihn nach Hause, versteckte ihn an einem geheimen Ort, ergriff, ohne daß es jemand sah, seine Flinte, ging in den Wald, schoß dort einen anderen Vogel, gab diesen seiner Frau und sagte: „Ich habe heute dem Gutsherrn den teuren Vogel gestohlen und ihn getötet. Säubere und brate ihn jetzt, dann werden wir sehen, welch gutes Fleisch dieser teure Vogel hat. Aber sage niemandem etwas davon.“ Als die Frau den Vogel gebraten hatte, dachte sie: Meine Nachbarin hat mich schon oft eingeladen, wenn sie etwas Gutes gehabt hat. Ich rufe sie heute abend zu uns zu Besuch. Sie ging hin, lud die Nachbarin zu Besuch ein und sagte zu ihr: „Kannst du dir denken, was für ein Gericht ich heute bereitet habe?“ Die Nachbarin sagte, sie wisse es nicht. Die Frau sprach und warnte: „Sag es nur niemandem, mein Mann hat den Vogel aus dem Käfig des Gutsherrn gebracht, er hat ihn getötet, und heute abend wollen wir sehen, welch guten Braten er abgibt.“ Die Nachbarin versicherte: „Aber nein, wo werde ich es denn jemandem erzählen!“ Bald nachdem der Mann weggegangen war, kam der Gutsherr ins Kontor, sah daß der Vogel 658
nicht mehr im Käfig war, ließ alle seine Zimmer durchsuchen, fand ihn aber nirgends. Auch von den Dienern hatte keiner den Vogel irgendwo fliegen sehen. Jetzt begriff der Herr, daß der Vogel gestohlen worden war. Er gab bekannt: „Wer den Dieb meines Vogels anzeigt, dem gebe ich zweihundert Rubel.“ Die Nachbarin ging am zweiten oder dritten Tag hin und zeigte an, daß der Bauer, der ein großer Freund des Gutsherrn sei, den Vogel gestohlen und getötet habe. Seine Frau habe aus dem Vogel einen Braten bereitet. „Auch mir hat sie von dem Braten zu essen gegeben. O lieber teurer Herr, hat der gut geschmeckt; mir hat die Frau verboten, irgend jemandem davon zu erzählen.“ Als der Herr das hörte, lief ihm die Galle über. Er ärgerte sich sehr über den Mann und verklagte ihn. Das Urteil des Gerichts lautete: „Der Mann, der den Vogel gestohlen hat, wird gehängt.“ Dem Mann wurde sein Todestag bekanntgegeben. Am Morgen des Tages, an dem er gehängt werden sollte, teilte der Mann sein Geld in drei Teile und legte jeden Teil in gesondertem Haufen auf den Tisch. Er sagte: „Den ersten Teil bekommt meine Frau, den zweiten Teil mein Pflegesohn und den dritten Teil derjenige, der mir den Strick um den Hals legen wird.“ Als dies der Pflegesohn hörte, trat er näher und sagte: „Höre, Pflegevater, warum soll den dritten 659
Teil ein Fremder bekommen; ich kann dir ja den Strick um den Hals legen, dann gehören beide Teile mir.“ Jetzt ließ der Mann den Gerichtsbeamten zu sich bitten und erzählte ihm alles ausführlich: „Mein Vater hat zu mir vor seinem Tode gesagt: Halte keine Freundschaft mit einem Herrn, nimm kein Pflegekind in dein Haus und erzähle nicht alles deiner Frau. Dann wirst du auf dieser Welt ruhig leben. Ich hatte mit einem Herrn Freundschaft geschlossen, hatte einen Pflegesohn ins Haus genommen, und dennoch lebte ich mehrere Jahre ein ruhiges und gutes Leben. Die dritte Lehre aber wollte ich überprüfen, ich wollte sehen, wie es damit wird, und noch etwas: wie weit die Freundschaft eines Herrn zu einem Bauern reicht. Seht, ich habe diesen Vogel gestohlen, aber ich habe ihn in meinem Hause an einem geheimen Ort versteckt und für ihn ordentlich gesorgt. Ich habe im Walde einen Vogel geschossen, ihn meiner Frau gegeben und gesagt, daß ich auf dem Gut den Vogel gestohlen und ihn getötet habe, ich habe befohlen, daraus einen Braten zu machen, und habe verboten, irgend jemandem etwas davon zu sagen. Die Frau hat es ihrer Freundin erzählt, die hat es in ihrer Geldgier dem Herrn verraten. Jetzt habe ich gesehen, daß die Lehren des Vaters richtig waren. Der Herr achtet die Freundschaft nicht und läßt mich wegen eines Vogels aufhängen. Den Pflegesohn kümmert es nicht, daß ich ihn großgezogen 660
und ihm Gutes angetan habe, er ist bereit, mir den Strick um den Hals zu legen, nur um mehr Geld zu bekommen. Die Frau hat versichert, sie werde keinem das Geheimnis erzählen, aber sie hat ihre Zunge nicht im Zaum halten können und hat es ihrer Freundin erzählt, und die hat in großer Geldgier das Geheimnis verraten.“ Der Mann holte den Vogel aus dem Versteck heraus und gab ihn dem Gerichtsbeamten. Das Gerichtsurteil wurde für nichtig erklärt. Von jetzt an hielt der Mann keine große Freundschaft mehr mit dem Herrn, obwohl der Herr es wünschte. Den Pflegesohn schickte er aus dem Hause, und seiner Frau vertraute er kein Geheimnis mehr an. So lebte er denn ruhig und glücklich, bis ihn schließlich der Erden-Mats, der Tod, in seine Arme nahm, wo sich sein Körper von aller Arbeit in Frieden ausruht.
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115 „Wenn sie nicht kommen, dann kommen sie“ Ein großer Herr fuhr langsam den Weg entlang. Ein Bauer säte am Wegrand auf dem Feld Erbsen und sprach dabei laut vor sich hin: „Wenn sie kommen, dann kommen sie nicht, aber wenn sie nicht kommen, dann kommen sie.“ Der Herr, der das hörte, doch nichts davon begriff, rief den Mann zu sich heran und fragte, was seine Rede bedeuten soll. Der Bauer sagte ihm nichts, und er mußte weiterfahren. Vor dem nächsten Gehöft stand im Hoftor ein Junge und sah zu, wie der Herr vorbeifuhr. Der Herr fragte ihn: „Junge, wo ist dein Vater?“ „Er ist mit einem beinlosen Pferd davongefahren“, war die Antwort. „Wo ist denn deine Mutter?“ „Die Mutter macht im Speicher das Gute besser, die jüngere Schwester lüftet auf dem Feld den Hintern, während die ältere Schwester in der Kaffscheune über das Lachen des Vorjahres weint. Mein Bruder ist zur Jagd in den Wald gegangen; was er erwischt und tötet, das läßt er liegen, was am Leben bleibt, das bringt er nach Hause.“ Der Herr überlegte, doch da er von alldem nichts verstand, fragte er den Jungen nach dem nächsten Weg zum Wirtshaus. 662
„Schaut“, sagte der Junge, „dieser Weg führt direkt zum Wirtshaus, der Weg dort aber macht einen Bogen, er ist um die Hälfte länger. Fahrt Ihr den Umweg, seid Ihr bald da; fahrt Ihr geradeaus, werdet Ihr viel Zeit brauchen.“ Der Herr erwiderte: „Wie ich sehe, redest du nur dummes Zeug. So wie du selber bist, so sind auch deine Ratschläge“, und er fuhr auf direktem Wege davon. Etwa eine Werst weiter befand sich eine alte zerfallene Brücke, und da der Herr sehr schnell fuhr, brach sich das Pferd dort ein Bein; der Herr mußte von der Brücke zu Fuß zurückgehen, sich bei einem Bauern ein Pferd mieten und dann auf dem Umweg zum Wirtshaus fahren. Dort fragte er nach dem Namen des Gehöfts, und sobald er nach Hause zurückgekehrt war, ließ er den Bauern und seinen naseweisen Jungen durch das Gericht zu sich bestellen. Beim Gericht fragte er den Alten, was das zu bedeuten hatte, was er beim Säen sprach. Der Mann antwortete: „Ich meinte, wenn es die Herrenschar der Tauben merken wird, daß ich Erbsen gesät habe, und sie dann kommen, so pikken sie mir die Erbsen aus der Erde heraus, und es kommen keine mehr hoch. Aber wenn die Täubchen nicht kommen, bleiben alle Erbsen drin und werden aus der Erde hochkommen. Was anderes habe ich nicht gemeint.“ Der Junge mußte auch seine Redensarten genauer erklären, und er tat es folgendermaßen: „Daß der Vater mit einem beinlosen Pferd davon663
gefahren war, stimmt, denn er war mit dem Kahn fischen gefahren. Die jüngere Schwester stapelte auf dem Feld den Mist, während die ältere Schwester in der Kaffscheune ihr im vergangenen Jahr unter Lachen angeschafftes Kind erwartete und weinte. Die Mutter machte im Speicher aus der Sahne Butter, und der Bruder suchte im Sonnenschein im Schutze des Gebüsches nach Läusen. Die er erwischte, die warf er weg; und die er nicht erwischte, brachte er nach Hause.“
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116 Die Aufteilung der Gänse Ich habe gehört, daß in den alten Zeiten in Estland viele Gänse in den Dörfern gehalten wurden. Als ich noch ein Junge war, hielt sich auch in unserem Dorf ein Kätner Gänse. Jetzt aber sind sie in den Dörfern unserer Umgebung nicht mehr zu finden. Nur noch auf den Gütern. Ein armer Kätner lebte mit seiner Frau in einer kleinen Kate ein geruhsames Leben. Da sie beide schon alt waren, konnten sie nicht mehr Kühe, Ziegen oder Schafe halten. Dafür hielten sie aber Gänse, nur so, um etwas zu tun zu haben und etwas zu versorgen, als einen liebgewonnenen Zeitvertreib. Einst im Sommer hatte Gott ihre Gänse in einer wunderbaren Weise gesegnet, so daß die Jungen im Frühjahr zahlreich ausschlüpften und bis zum Herbst gut gediehen. Die Freude der Alten war riesengroß. In dieser Freude sagte der Mann zu seiner Frau: „Da unsere Gänse in diesem Jahr so gut gediehen sind, könnten wir doch unserem Gutsherrn eine Gans schenken.“ Die Frau hatte nichts dagegen. Am nächsten Morgen wählten sie die beste Gans aus, schlachteten sie, machten sie ordent-
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lich sauber, und der Alte ging dann mit der Gans aufs Gut. Er kommt zum Herrn und sagt: „Verehrter Herr, Gott hat in diesem Jahr meine Gänse reichlich gesegnet, deshalb bringe ich Euch in meiner großen Freude eine Gans zum Geschenk.“ Der Herr bedankt sich natürlich beim Alten für sein gutes Herz. „Doch“, sagt schließlich der Herr lächelnd, „wir sind sechs Personen: ich, meine Frau, zwei junge Herren und zwei Fräulein. Kannst du diese geschenkte Gans an uns sechs so verteilen, daß jeder mit seinem Teil zufrieden ist?“ Der Alte zog seine Hosen hoch, die ihm ein bißchen heruntergerutscht waren, hüstelte etwas und kratzte sich mit den Fingerspitzen hinter dem Ohr, um sich Weisheit zu holen. Dann, nach einigem Nachdenken, sagte er langsam mit leiser Stimme zum Herrn: „Ich könnte schon aufteilen, aber ob die Herren mit meinem Aufteilen auch zufrieden sein werden?“ Der Herr beruhigte ihn: „Wenn du gerecht aufteilst, werden wir natürlich zufrieden sein.“ Der Kätner begann: „Herr, Ihr seid hier auf dem Gut der Herr, es müssen Euch alle gehorchen und Eure Befehle ausführen, so seid Ihr also das Haupt der Gutsleute. Daher gehört Euch denn auch der Kopf der Gans. Die zwei jungen Herren laufen natürlich überallhin, um statt Eurer die Geschäfte für Euch zu erledigen, denn Eure eigenen alten Beine können Euch nicht mehr überallhin tragen; die jungen 666
Herren sind für Euch sozusagen die Füße, und sie sollen die Gänsefüße haben. Die zwei Fräulein werden ja nicht für immer hier bleiben. Wenn die Zeit kommt, werden sie von ihren Freiern geholt werden, und die Fräulein werden mehr fliegend als gehend mit ihnen fortziehen. Sie sollen meiner Meinung nach die Gänseflügel bekommen. Die alte Frau Gutsherrin hat mit äußeren Angelegenheiten und überhaupt mit Geschäften wenig zu tun, sie sitzt von morgens bis abends auf ihrem Kleiderschwanz im Zimmer. Also soll die Frau den Gänseschwanz haben.“ „Und wer bekommt dann den Körper der Gans?“ fragte der Herr. „Nun, da ihr keine siebente Person mehr habt, wem soll ich ihn also zusprechen? Da bleibt er natürlich von Rechts wegen für mich für das Aufteilen.“ Der Herr lachte so, daß sein Bauch zu wackeln anfing. Nachdem er sich ausgelacht hatte, tätschelte er mit seiner Hand die Handfläche des Alten und sagte: „Ich sehe, du bist ein kluger, verständiger und gutherziger Alter. Erstens hast du mir mit deinem Geschenk Freude bereitet, und zweitens war dein Teilen sehr angebracht und spaßig. Ich bin damit sehr einverstanden.“ Daraufhin gab er dem Alten zehn Rubel und sagte: „Das ist der Lohn für deine Ehrlichkeit und deinen gewandten Witz.“
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Die Freude des Alten war übergroß, so daß er nicht mal die gewohnten Dankesworte finden konnte. Nachdem er sich zu Hause mit seiner Alten reichlich darüber gefreut hatte, konnte sich der Alte nicht anders beruhigen, als zu seinem reichen Nachbarn zu gehen und ihm von seinem Glück zu erzählen. Daß er vom Herrn zehn Rubel geschenkt bekommen hatte, erzählte er ihm zwar, doch vom Teilen der Gans sagte er dem reichen Nachbarn kein Wort. Sobald der Alte den Nachbarn verlassen hatte, sagte der zu seiner Frau: „Er hat für seine ungemästete, von der Weide weg geschlachtete Gans zehn Rubel bekommen, wir haben fette, gutgemästete Gänse. Ich werde fünf Stück von ihnen dem Herrn zum Geschenk bringen. Zweifellos bekomme ich für sie fünfzig Rubel.“ Die Frau lobte die Absicht des Mannes. Gleich am nächsten Tag ging der reiche Mann mit fünf geschlachteten Mastgänsen aufs Gut und sagte dem Herrn: „Verehrter Herr, ich bringe Euch fünf Mastgänse zum Geschenk.“ Der Herr bedankte sich bei diesem Mann. Doch er begriff sofort, daß der reiche Mann nicht gekommen war, um aus Liebe zu ihm die Gänse zu schenken, sondern daß er sie aus Geldgier gebracht hatte. Nach dem Dank sagte er dem Mann: „Wir sind sechs Personen, kannst du die fünf Gänse unter uns so aufteilen, daß jeder damit zufrieden ist?“ 668
Der Mann schlägt die Augen nieder, entschuldigt sich und sagt: „Wie könnte ich in einer Herrenfamilie etwas aufteilen wollen, nein, nein, das kann ich nicht.“ „Wenn du die Aufteilung nicht übernimmst“, meinte der Herr, „lasse ich einen anderen kommen. Die Gänse müssen aufgeteilt werden.“ Der Herr ließ nun den gestrigen Kätner kommen und sagte: „Dieser Mann hier hat mir fünf Mastgänse zum Geschenk gebracht; doch er versteht es nicht, fünf Gänse unter sechs Personen aufzuteilen. Kannst du das machen?“ Der Kätner erwiderte: „Wenn die Herren mit meiner Aufteilung zufrieden sein werden, dann kann ich es wohl.“ „Wenn du vernünftig aufteilst“, versicherte der Herr, „werden wir zufrieden sein.“ Der Kätner teilt auf: „Der Herr, die Frau und eine Gans sind zusammen drei. Zwei junge Herren und eine Gans sind zusammen drei. Zwei Fräulein und eine Gans sind zusammen drei. Und ich selbst und zwei Gänse sind zusammen auch drei.“ Natürlich war der Herr mit der klugen Verteilung des Mannes zufrieden. Der Kätner bekam zwei Gänse zum Lohn für die Aufteilung und kam freudig wie ein ehrlicher Mann nach Hause. Der reiche Mann aber kehrte beschämt und mit leeren Händen nach Hause zurück, nur das Gelächter der Dorfleute war sein Lohn und Geschenk. Ein großer Bissen zerreißt immer den Mund. 669
117 Die Weissagung über den Erben Es lebte einst ein reicher Mann, der über viele Güter verfügte. Einmal war er ausgefahren und hatte sich verirrt. Schließlich kam er zu einer Hütte und bat dort um Nachtquartier; es wurde ihm auch gewährt. In der Nacht gebar die Frau des Kätners einen Sohn, und der reiche Mann, der im Zimmer im Bett schlief, hörte, wie eine Stimme rief: „Dieses Kind wird der Erbe des reichen Mannes sein.“ Warte, ich werde schon dafür sorgen, daß es nicht geschieht, dachte der reiche Mann, und bevor er am Morgen wegging, erbat er sich dieses Kind zum Pflegekind. Das wurde ihm auch gewährt, denn die Frau des Kätners hatte mehrere Kinder. Der reiche Mann nahm das Kind und machte sich auf den Weg. Unterwegs holte er das Kind aus dem Schlitten, brachte es in den Wald und legte es neben einem Baum nieder. Dann sagte er: „Erbe jetzt hier mein Vermögen!“, und er fuhr davon. Einige Zeit später ging der Waldhüter denselben Weg entlang, und als er sah, daß Spuren in den Wald führten, ging er nachsehen, ob nicht jemand auf Diebstahl ausgegangen sei. Den Fußspuren
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folgend, fand er das Kind am Baum, nahm es an sich, und da er keine Erben hatte, zog er es auf. Inzwischen wurde dem reichen Mann eine Tochter geboren; andere Kinder hatte er nicht, und sein Reichtum war mit jedem Tag gewachsen. An den Zwischenfall in der Waldkate dachte er überhaupt nicht mehr. Einmal fuhr er wieder aus, und es begab sich, daß er bei dem Waldhüter übernachtete. Ein Wort gab das andere, eine Erzählung eine andere, und arglos berichtete der Waldhüter davon, wie er einst im Walde ein Kind gefunden hatte, das jetzt zu einem Mann herangewachsen war; dabei lobte der Waldhüter den jungen Mann als einen ordentlichen Menschen. Sowie der reiche Mann das hörte, stieg ihm die alte Furcht zu Herzen, insbesondere da er eine Tochter hatte und der Sohn des Waldhüters schlank wie eine Gerte war. Er schrieb seiner Frau einen Brief nach Hause, in dem er befahl, den Überbringer des Briefes sogleich umbringen zu lassen. Als der Brief geschrieben war, bat der reiche Mann den Waldhüter, er möchte seinen Pflegesohn mit diesem Brief aufs Gut schicken, und gab diesem dafür ein gutes Trinkgeld. Er sagte, er selbst habe anderweitig zu tun. Der Pflegesohn machte sich auf den Weg. Unterwegs kam ihm ein grauer Mann entgegen, der ihn ein Stück des Weges begleitete. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, begann der graue Mann zu essen und forderte den Pflegesohn des 671
Waldhüters auf, sich an seiner Mahlzeit zu beteiligen. Nach dem Essen legten sich beide ein wenig hin; dabei fiel der Pflegesohn des Waldhüters in einen schweren Schlaf. Da stand der graue Mann auf, holte den Brief aus der Tasche des Burschen hervor und legte einen anderen von gleicher Farbe an seiner Stelle hin. Als der Pflegesohn aufwachte, gingen beide noch eine Weile zusammen weiter, dann wünschte der Alte dem Burschen einen guten Weg und trennte sich von ihm. Der Pflegesohn gelangte schließlich aufs Gut des reichen Mannes und übergab den Brief dessen Frau. Im Brief stand, die Frau solle, sowie sie den Brief erhält, ihre Tochter unverzüglich mit diesem jungen Mann verheiraten, sonst hätte sie, wenn der Mann zurückkommt, seinen Zorn zu befürchten. Die Frau, die um den Jähzorn ihres Mannes wußte, tat, was von ihr verlangt wurde, und ließ ihre Tochter trauen; denn sie hielt den jungen Mann für einen reichen Menschen, der vorerst in ärmlichen Kleidern gekommen war, um zu sehen, wie er aufgenommen würde. Als der Mann nach Hause kam und von der Geschichte erfuhr, wurde er sehr böse, doch als er den Brief las, konnte er nichts ändern. Aber er sann weiter darüber nach, auf welche Weise er sich den Pflegesohn des Waldhüters doch noch vom Halse schaffen könnte. Etwas abseits von seinem Gut gab es einen Kalkofen. Zu den Arbeitern an diesem Ofen sagte 672
er jetzt: „Wer am Abend zu euch kommt, euch von der Arbeit zu entlassen, den sollt ihr fassen und sofort in den brennenden Kalkofen werfen, ganz gleich, wer es ist.“ Und lachend fügte er hinzu: „Und wenn ich es selber wäre.“ Dann ging er nach Hause, wo er sich den ganzen Tag freundlich mit seinem Schwiegersohn unterhielt. Am Abend bat er seinen Schwiegersohn, da er sehr müde sei, an seiner Statt hinzugehen und die Arbeiter am Kalkofen zu entlassen, was der andere auch widerspruchslos zu erfüllen versprach. Unterwegs rief ihn der Gutsvogt kurz in sein Zimmer, wobei unerwarteterweise mehr Zeit verstrich. Der Gutsherr aber, dem die Zeit beim Warten zu lang wurde, wollte bald wissen, wie die Sache mit dem Schwiegersohn ausgegangen sei, und ging nach einer Stunde nachsehen. Als er sah, daß die Arbeiter ruhig standen, dachte er, daß alles vorüber sei, und trat näher heran. Doch sofort ergriffen ihn die Männer und warfen ihn in den brennenden Kalkofen. Als der Schwiegersohn später hinkam, war alles vorbei. Der Schwiegersohn lebte aber nachher noch lange und glücklich mit seiner jungen Frau.
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118 Schlauer als der große Hexenmeister Ein König hatte sehr viel Geld; er konnte sich nicht mehr vor Dieben retten. Er ließ zwar feste Lagerräume bauen, die Diebe jedoch stahlen immer wieder. Schließlich rief er von nah und fern alle Maurer zusammen und versprach demjenigen einen sehr hohen Lohn, der einen so festen Geldkeller baut, daß die Diebe nicht mehr an das Geld herankommen. Wer es aber versprechen und keinen so festen Keller bauen würde oder ihn nicht zu Ende baute, der sollte seinen Kopf verlieren. Zuerst wagte niemand auf eine solche Abmachung einzugehen. Nach längerer Zeit übernahm es schließlich ein mutiger Maurer und versprach, in einem Jahr die Arbeit ehrlich zu beenden oder aber – seinen Kopf zu verlieren. Nach einem Jahr kam der König, um sich die Arbeit anzusehen: Der Keller war fertig, fest und stark, besser noch als es der König erwartet hatte. Er bezahlte dem Maurer gern einiges mehr, als er zu Beginn versprochen hatte, und machte ihn zum ersten Meister im Lande. Der Mann war jetzt reich und berühmt und lebte glücklich bis zu seinem Tode. Vor dem Sterben rief er seinen einzigen Sohn zu sich und sagte ihm:
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„Ich hinterlasse dir jetzt meinen Reichtum und mein Amt, so daß du niemals Not zu leiden brauchst, wenn du nur vernünftig bist. Solltest du dennoch durch irgendein Unglück vor dem Nichts stehen und arm sein, so habe ich an dich bereits gedacht, als du noch ganz klein warst und ich den Geldkeller für den König baute. Auf der Nordseite links von der Ecke des Kellers habe ich den sechsten Stein lose gelassen, so daß man ihn leicht herausnehmen und in den Keller gelangen kann. Der Stein ist so geschickt gelegt, daß es keinem auffällt, daß dort ein Loch ist. In der Notzeit kannst du dort hineingehen und dir Geld holen.“ Der Sohn dankte dem Vater für seine Fürsorge. Nach dem Tode des Vaters übernahm er sein Amt, hatte genug Geld, und so vergaß er das Kellerloch, das ihm der Vater verraten hatte. Schließlich lernte er aber einen Pfarrerssohn kennen, der ein Trinker war und auch dem Maurerssohn das Trinken beibrachte. Sie tranken und tranken zusammen, bis beiden das Geld ausging. Was also tun? In der Not erinnert sich der Maurerssohn an die Worte seines Vaters. Er erzählt die Geschichte dem Pfarrerssohn; der erklärt sich einverstanden, mitzugehen und aus dem Keller des Königs Geld zu holen. Sie gehen hin. Der Maurerssohn sucht in der Nacht die vom Vater gewiesene Stelle auf, wälzt den Stein zur Seite, geht hinein und rollt ein Faß mit Gold heraus. Nun haben die Männer für einige Zeit etwas zum Vertrinken.
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Am Morgen entdeckt der König das Fehlen eines Geldfasses und läßt den Geldwächter gleich festnehmen, denn wer sollte sonst der Dieb sein. Der Keller ist fest, und von außen können die Diebe nicht hinein. Der Maurerssohn und der Pfarrerssohn tranken wieder so lange, bis das Goldfaß leer war. Was blieb übrig, als wieder stehlen zu gehen. Im Keller des Königs gab es Gold genug. In der nächtlichen Dunkelheit sieht es keiner. Der Maurerssohn geht wieder hinein, rollt das nächste Faß Gold hinaus, der Pfarrerssohn nimmt es am Loch entgegen, und die Männer haben wieder genug zum Vertrinken. Der König entdeckte am Morgen das Fehlen eines Goldfasses und läßt auch den neuen Geldwächter ins Gefängnis stecken, denn dieser sei ebenfalls ein Dieb. Bald darauf ließ der König einen Hexenmeister kommen, den größten Hexenmeister im Lande. Er sollte nachforschen, ob der Dieb durch die Tür oder unter dem Erdboden hervorgekommen war. „Ja-a, das war ein kluger Dieb, er ist auf einem Seitenweg hineingekommen, durch die Tür ist nichts hinausgebracht worden“, erklärte der Hexenmeister und versprach ein solch unsichtbares Netz anzufertigen, daß der Dieb wohl hineinkam, aber nicht mehr hinauskonnte. Die Männer hatten schließlich das halbe Faß des gestohlenen Goldes verbraucht. Der Maurerssohn gab dem Pfarrerssohn nichts mehr ab und rief ihn zum Keller des Königs, um neues Gold zu holen, 676
ehe das alte zu Ende ging. Dem Pfarrerssohn blieb nichts übrig, als mit dem Maurerssohn wieder stehlen zu gehen. Vor dem Keller sagte der Maurerssohn zum Pfarrerssohn: „Zweimal war ich im Keller, nun mußt du hineingehen, und ich halte Wache. Wenn du nicht hineingehst – ein halbes Faß Gold ist noch übrig –, werde ich dir davon nichts mehr abgeben.“ Sie stritten und stritten sich, schließlich kroch der Pfarrerssohn in den Keller. Er hatte das Faß Gold durch die Öffnung dem Maurerssohn hinübergereicht und begann schon hinaufzuklettern, doch da, schau einer an – er kam nicht weiter! Der Kopf war durch die Öffnung hindurchgekommen, der Körper aber – mach, was du willst – kam nicht nach. Da ist ja der Teufel los! denkt der Maurerssohn: Heraus kriege ich ihn nicht. Laß ich ihn hier, wird er am Morgen in seiner Not alles bekennen, und dann sitzen wir beide in der Falle. Schließlich kam ihm ein Gedanke. Er schlug dem Pfarrerssohn den Kopf ab und brachte diesen zusammen mit dem Goldfaß fort; der Körper blieb da. Am Morgen kam der König, um nachzuschauen: Es wird ja immer schlimmer – der Dieb ist zwar gefangen, doch ohne Kopf, und ein Faß Gold fehlt wieder! Er rief den Hexenmeister herbei. Der begriff die Sache und sagte: „Sie waren zu zweit. Mein Geheimnetz ist wohl stark, doch der zweite Dieb war klüger und hat den Kopf des 677
dümmeren Diebes weggebracht, damit man ihn nicht erkennt.“ Der König gibt Befehl, dem Hexenmeister zu helfen, den zweiten Dieb zu fangen. Der Hexenmeister veranlaßt, daß der Körper des Toten durch die Stadt getragen wird. Er macht es so, daß beim Vorbeitragen der Leiche der Dieb zu schimpfen und zu fluchen beginnen muß; da soll man ihn festnehmen. Das Gespräch darüber verbreitete sich, und es kam auch dem Maurerssohn zu Ohren, daß der Hexenmeister auf die und die Weise versprochen habe, den Dieb herauszufinden. Da kamen sie auch schon mit der Leiche. Der Maurerssohn verspürt, daß er auf keine Weise an sich halten kann und anfangen muß zu fluchen. Schnell sagt er zu seiner Mutter: „Mach, als seist du verrückt geworden, und fange an, die Sachen zu zerschlagen, dann werde ich fluchen und schimpfen, daß du mein ganzes Geschirr und die Sachen im Haus zerschlägst.“ Die Mutter begann sofort die Sachen zu zerschlagen, und der Sohn schimpfte und fluchte. Jene, die mit der Leiche vorbeigingen, hörten – ja, da ist der Dieb! „Was schimpfst und fluchst du?“ fragten sie beim Betreten der Stube. „Gut, daß ihr kommt, helft, meine Mutter zu binden, sie ist plötzlich verrückt geworden und zerschlägt mir alles“, erwiderte der Dieb und fluchte weiter.
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Die Träger der Leiche sehen, daß die Alte wirklich verrückt ist und der Sohn mit vollem Recht flucht; sie helfen ihm, den Schaden zu beseitigen, und gehen dann. Sie gehen mit der Leiche durch die ganze Stadt, doch niemand schimpft oder flucht, sie gehen zurück zum König und sagen, daß es in der Stadt keinen Dieb gebe. „Habt ihr niemanden ein Schimpfwort sagen hören?“ fragte der Hexenmeister. „Doch, ein junger Mann hat sehr geflucht, denn seine Mutter war verrückt geworden, sie zerschlug alle teuren Sachen und richtete großen Schaden an. Da hatte der Sohn natürlich ein Recht zum Schimpfen gehabt“, sagten die Leichenträger. „Das war er ja! Ich bin nun wirklich schlau, doch dieser Dieb scheint noch schlauer zu sein“, ärgerte sich der Hexenmeister. „Jetzt aber wird er mir nicht entkommen. Ihr nehmt den Toten und hängt ihn über dem Stadttor auf. Dann müßt ihr aufpassen, wer durch das Tor aus der Stadt hinausgehen und seufzen wird, der ist der Dieb.“ Die Diener des Königs nahmen die Leiche, hängten sie über dem Tor auf und blieben da, um aufzupassen. Der Dieb aber erfuhr wieder schon vorher von der Sache und spürte, daß er hieran nichts ändern konnte. Eine unsichtbare Kraft zwang ihn, durch das Stadttor hinauszugehen und dabei zu stöhnen. Er zog sich schnell einen Priesterrock an, nahm ein Gesangbuch unter den Arm und ging dann durch das Tor. Vor dem Tor blieb er stehen, schaute hinauf, seufzte und sagte zu den Wäch679
tern: „O du meine Zeit, sieh einer, was mit einem armen Toten gemacht wird! Der Kopf wurde ihm abgeschlagen und der Körper hier zum Spott aufgehängt. Könnt ihr ihn nicht wegnehmen und begraben? Er erschreckt doch die anderen Menschen.“ „Ja-a, da können wir nichts tun, das ist ein Befehl des Königs, daß wir die Leiche aufhängen und hier wachen sollen“, erwiderten die Wächter, und es fiel ihnen nicht ein, den Pastor für den Dieb zu halten. Er konnte ja aus Frömmigkeit seufzen. „Die Pflicht eines Pfarrers ist es, den Notleidenden stets Hilfe zu leisten; ich sehe, daß ihr auch in Not seid und bei der Wache friert, darum gebe ich euch etwas zum Aufwärmen.“ Mit diesen Worten gab der Dieb den Wachen starken Schnaps. Die Männer tranken und waren betrunken. Der Dieb ging davon und nahm auch die Leiche mit. Die Diener erwachten. Potztausend! Der Dieb ist nicht seufzen gekommen, und nun ist auch der Leichnam noch weg! Die Vögel konnten ihn nicht aufgepickt haben, dann wären wenigstens die Knochen übriggeblieben. Sie berichten dem König und dem Hexenmeister. „Habt ihr denn niemanden am Tor seufzen hören“, fragte der Hexenmeister. „Nein, niemanden! Nur ein Pfarrer ist durchgegangen, das Gesangbuch unterm Arm; er hat allerdings gestöhnt und hat uns noch, weil es so kalt war, einen Schluck Schnaps gegeben. Wir sind dann eingeschlafen, und inzwischen war der 680
Leichnam verschwunden. Aber was ist denn dabei, die Pfarrer seufzen doch immer!“ „O ihr Dummköpfe! Das war ja der Dieb. Ja-a, ich bin schon schlau, der aber ist noch schlauer!“ ärgerte sich der Hexenmeister wieder. Der König befahl, den Hexenmeister aufzuhängen, weil er als der klügste und schlaueste Hexenmeister den Dieb nicht überführen konnte. Der Hexenmeister bat um Gnade und versprach es noch mal zu versuchen. Der König ließ noch einmal Gnade walten. Der Hexenmeister forderte nun die Königstochter auf, auf dem Marktplatz spazierenzugehen. Der Dieb werde kommen und sie mit der Hand berühren. Der Dieb erfuhr es wieder. Er schnitt dem toten Pfarrerssohn, den er vom Tor gestohlen hatte, die Hand ab und bummelte dann auf dem Marktplatz auf und ab. Die Königstochter kam. Der Dieb spürte, daß er irgendwie nicht an sich halten konnte und die Königstochter berühren mußte. In der Menge zwischen anderen Menschen streckte er die Hand des Toten aus und berührte mit dieser die Königstochter. Grapsch – faßte die Königstochter nach der Hand und glaubte nun, den Dieb gefangen zu haben. Doch sie hielt nur eine Hand fest. Den Dieb hatte in der Menge keiner bemerkt. Am nächsten Tag gab der König den Befehl: Alle Männer der Stadt sind zu untersuchen, wem fehlt eine Hand? Man suchte zwar überall, doch alle hatten ihre beiden Hände.
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Der Hexenmeister jammerte und staunte wieder, daß der Dieb stets schlauer war als er, und er bat den König um Erlaubnis, es noch einmal zu versuchen; komme, was da wolle, der Dieb muß herausgefunden werden. Er gab dem König den Rat, ein großes Fest zu veranstalten und dazu alle Männer der Stadt einzuladen. Der Hexenmeister wollte es kraft seiner Zaubermacht so einrichten, daß der Dieb ebenfalls kommen mußte. Der König sollte die Gäste im Schloß übernachten lassen. Er wird es auch so einrichten, daß der Dieb um Mitternacht zur Königstochter wird gehen wollen. Der Königstochter aber wird er sein Zaubersiegel geben. Das Mädchen soll wachen und dem, der sich ihrem Bett nähert, das Siegel auf die Stirn drücken, das werde nämlich der Dieb sein. Das Siegel aber sei so, daß es ohne Hilfe des Hexenmeisters von dort, wo es einmal aufgedrückt wird, nicht mehr abgeht. Der König tat nach dem Rat des Hexenmeisters unter der Bedingung, daß der Hexenmeister, wenn er auch diesmal den Dieb nicht herausfindet, aufgehängt wird. Alle Männer der Stadt wurden zum Fest geladen und zur Nacht im Schloß gelassen. In der Nacht, als alle schliefen, überkam den Maurerssohn eine große Lust, die Königstochter zu küssen. Er denkt, es sieht ja niemand, und tut es auch. Dann geht er zurück, kommt an einem großen Spiegel vorbei und sieht – oho, ein großes schwarzes Siegel auf der Stirn.
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„Hol’s der Teufel, das ist wieder die Arbeit des Hexenmeisters! Und ich habe daran gar nicht gedacht. Jetzt bin ich wirklich in der Klemme! Ich werde doch zurückgehen, vielleicht finde ich heraus, womit das Siegel aufgedrückt worden ist.“ Er ging zurück und gab der Königstochter nochmals einen Kuß. Als er zurückging, schaute er in den Spiegel: „O du meine Güte, ein zweites Siegel auf der Stirn. Ich versuche es zum dritten Mal, woher kommt es eigentlich?“ Zum dritten Mal küßte er die Königstochter. Da begriff er es, als sie zum dritten Mal das Siegel aufdrückte. „O du Wolfsbrut, du hast das Siegel aufgedrückt, und ich glaubte, du schläfst!“ sagte er beim Hinausgehen aus der Kammer der Königstochter. „Warte, schlaf nur ein, dann will ich es versuchen, vielleicht gelingt es mir, das Siegel zu stehlen.“ Nach einiger Zeit ging er zurück, die Königstochter schlief. Leise fing er an zu suchen – und fand das Siegel unter dem Kissen. „Macht nichts! Jetzt kann ich den Hexenmeister wieder schlagen“, sagte er, und als er zu den anderen Gästen zurückkam, drückte er jedem drei Siegel auf die Stirn. Am Morgen stehen die Gäste auf – Hilfe, alle haben drei Siegel auf der Stirn! Mehrere tausend Mann, und alle sind in der Nacht bei der Königstochter gewesen! „Ja, ich bin wohl ein kluger und schlauer Mann, aber dieser Dieb übertrifft mich in allem. Tut, was 683
ihr wollt, ich weiß keinen Rat mehr; die Sache wird immer schlimmer“, sagte der Hexenmeister. Der König überlegte, daß er einen so klugen Mann gut gebrauchen könne, und sprach: „Wer von euch ist denn solch ein Mann, daß er den größten Hexenmeister besiegt hat? Er soll selbst hervortreten; ich vergebe ihm alles und will ihn sogar zu einem großen Manne machen.“ Der Maurerssohn trat hervor und berichtete, wie er seine Streiche gespielt hatte. Der König machte den Maurerssohn zu seinem allernächsten Berater und gab ihm außerdem seine Tochter zur Frau; den Hexenmeister aber ließ er aufhängen, und damit war die Sache zu Ende.
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119 Der Kaiser und der Einbrecher In alten Zeiten gab es einen Mann, der nie ein Schloß um Erlaubnis oder ein Vorhängeschloß um Zustimmung bat. Das Schloß konnte noch so stark sein, es hielt ihm nicht stand. Überall dort, wo er hineingehen wollte, drückte er nur einmal gegen die Tür, und die Tür ging auf. Nun konnte dieser Mann wohl überall hineingelangen, doch nahm er nichts anderes als jenen Gewinn der Kaufleute, den sie den Menschen durch Betrug abnahmen. Ihr eigenes rechtmäßig erworbenes Geld rührte er nicht an. In die Speicher der Menschen auf dem Lande ist er niemals hineingegangen, er sagte vielmehr: „Das haben sie durch Arbeit erworben, das rühre ich nicht an.“ Die Kaufleute merkten wohl, daß jemand das eine oder das andere Mal an ihren Geldkästen gewesen war, doch gekriegt haben sie ihn niemals. Sobald er hinaus war, fiel auch die Tür wieder krachend ins Schloß. Schließlich bekamen die Kaufleute durch Schlauheit Wind davon, daß er der Gewinnabnehmer war, aber es konnte ihn niemand fassen, denn dieser Mann hatte so starke Hände, daß der, den er ergriff, keinen hellen Tag mehr sah. Endlich klagten die Kaufleute ihr Leid dem Kaiser. Der Kaiser machte sich nichts aus den Verlu685
sten der Kaufmannsgewinne; er überlegte jedoch, ob dieser Mensch nicht auch in die Staatskeller gehe, um aus den Geldsäcken zu nehmen. Deswegen wollte er diesen Mann einmal bestrafen, doch dann überlegte er: Kann er denn auch die Vorhängeschlösser der Staatskeller öffnen? Schließlich zog der Kaiser Vagabundenkleider an, erkundigte sich, wo sich der Mann mit den starken Händen aufhalte, und erfuhr, daß er sich an einem bestimmten Ort in einem Wirtshaus befinde. Eines Abends ging er denn hin, fand den Mann und machte sich mit ihm bekannt; beide fingen an zu trinken und wurden zu Freunden. Dann tat der schlecht gekleidete Kaiser so, als hätte er kein Geld mehr, und ließ das letzte halbe Maß Schnaps unbezahlt. Er fragte den Mann mit den starken Händen: „Kannst du mir sagen, lieber Freund, woher ich Geld bekommen könnte?“ Der Mann mit den starken Armen erwiderte: „Sorge dich nicht, auf der Welt gibt es genug Betrüger und Gewinnhascher, und da sollten wir kein Geld bekommen?“ Er bezahlte für den Kaiser das halbe Maß Schnaps und ging dann in derselben Nacht zusammen mit dem Kaiser in den Laden eines Kaufmanns, nahm aus dem Geldkasten den Gewinn und gab einen Teil dem Kaiser. Später sagte der Kaiser zu diesem Mann: „Aber in den Staatskeller kannst du wohl nicht hineinkommen?“ 686
Der Mann mit den starken Händen erwiderte: „Das ist für mich eine Kleinigkeit, ich komme überall hinein.“ Darauf sprach der verkleidete Kaiser: „Wenn du glaubst, hineinkommen zu können, so gehen wir in der nächsten Nacht in die Staatskeller.“ Der Mann mit den starken Händen war damit einverstanden, und sie gingen in eine große Stadt. Sobald es Nacht wurde, machten sie sich zusammen auf den Weg zu einem großen Staatskeller. Kaum hatte der Mann mit den starken Händen die Hand an das Vorhängeschloß gelegt, öffnete sich krachend die Tür. Sie gingen in den Keller hinein, und es standen da viele Fässer mit Gold und Silber nebeneinander. Der verkleidete Kaiser wollte anfangen, sich das Gold in die Taschen zu stopfen, und forderte den Mann mit den starken Händen auf, ebenfalls welches zu nehmen. Doch dieser nahm nichts von alledem und ließ auch den verkleideten Kaiser nichts nehmen, er sagte: „Hier dürfen wir nichts wegnehmen!“ Der Mann bekam vom Staat genügend Geld zum Leben, so daß er auch jetzt noch leben könnte, falls ihn der Tod nicht geholt hat.
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120 Der Räuber als Bräutigam Ein Soldat, der seine Zeit abgedient hatte, war unterwegs nach Hause. Im Wald setzte er sich nieder, um auszuruhen und darüber nachzudenken, wie er nach Hause gelangen sollte. Der Weg war lang, sein Geld aber zu Ende. Und das war es, was seinen Heimweg so schwer machte. Da kam ein junger Herr auf ihn zu und begann eine Unterhaltung. Das Gespräch drehte sich um dies und jenes, schließlich kam es auch auf das Mißgeschick des Mannes und auf seine Heimkehr. Der Herr riet ihm: „Bleibe bei mir als Knecht, du bekommst außer der Verpflegung hundert Rubel Lohn im Jahr; doch mache ich den Vertrag nicht unter fünf Jahren.“ Die Not jagt den Ochsen in den Brunnen, so auch unseren Soldaten. Da er sich keinen besseren Rat wußte, nahm er den Dienst an. Der Beginn seines Dienstes aber war der Schreck, daß sein neuer Herr niemand anderes war als der Sohn eines Räuberhauptmanns. Etwa zwei Werst vom Ort des Vertragsabschlusses stand im Wald ein großes Haus, umgeben von einer hohen Steinmauer mit einem eisernen Tor. Hier wohnte der Hauptmann, dem sechzig Räuber unterstellt waren. Der arme Soldat sah und hörte nichts anderes als Plündern und Morden. Es wurden Män688
ner und Frauen dorthin gebracht, reiche und arme. Gerne wäre er fortgegangen, doch wegen der eisernen Bewachung konnte er gar nicht daran denken. Es wurde ihm gesagt: „Wenn du dir irgendwie anmerken läßt, daß du Fluchtgedanken hegst, wird dein Lebenslicht verlöschen.“ An einem Sonntag fuhr er mit seinem jungen Herrn zu einem Ball, wo der Herr eine schöne und reiche Kaufmannstochter kennenlernte und sich mit ihr anfreundete. Weil es dem Sohn des Räuberhauptmanns nicht auf der Stirn geschrieben stand, wer er war (dabei war er ein hübscher Mann), verliebte sich die Kaufmannstochter in ihn, da der junge Räuber oftmals zu Besuch kam. Der Kutscher des jungen Mannes schien sich darüber nicht zu freuen, daß sein Herr so achtungsvoll empfangen wurde. Man fragte ihn nach dem Grund seiner Trauer, und seine Antwort lautete: Der junge Herr sei ein Mörder, der Menschenleben anwirbt und jetzt der Bräutigam der Kaufmannstochter sei. Die Braut wollte es nicht glauben, daß ihr feiner Bräutigam ein Mörder sei, und sie wollte sich mit eignen Augen davon überzeugen. Sie nahm von ihrem Vater viel Geld mit, mietete sich Postpferde und fuhr in den genannten Wald, in dem das Haus der Räuber stand. Sie gab dem Postjungen fünfhundert Rubel und versprach, ihm noch mehr zu geben, wenn er bis vier Uhr morgens auf sie warte. Nach dieser Zeit solle er nicht mehr warten, denn dann komme sie nicht mehr. 689
Das Mädchen ging, fand auch das Haus und gelangte ungesehen hinein. Da niemand im Hause war, ging sie durch das ganze Haus und fand es in Ordnung. Kaum hatte sie den Rundgang beendet, hörte sie Geräusche hinter der Tür und konnte sich im letzten Augenblick noch unter dem Bett verstecken. Schon waren die Räuber im Haus, und sie hatten eine fremde Frau bei sich. Diese hatte prächtige Kleider an, Ringe an den Fingern und goldene Ketten am Hals. Die Frau war eine der Bräute des Räuberhauptmannssohnes, ebenso wie die Kaufmannstochter. Sie wurde in den Wald gelockt, um sich die Wohnung anzusehen, und dann getötet. Zuerst wurde sie vergewaltigt, dann wurden ihr die Kleider ausgezogen, die goldenen Ketten vom Hals und die Ringe von den Fingern genommen, und dann wurde ihr mit dem Beil der Kopf abgeschlagen. Ein Ring saß sehr fest am Finger und konnte nicht anders abgestreift werden, als daß der Finger abgeschlagen wurde, wobei der Ring dorthin unter das Bett rollte, wo die Kaufmannstochter sich versteckt hatte. Die Suchenden gingen ihm nach, doch erwischten sie ihn nicht. Sie wollten schon anfangen unter dem Bett zu suchen, wobei dann auch die Kaufmannstochter ans Licht gezerrt und ihr Mut entsprechend belohnt worden wäre. Doch die Suchenden meinten schließlich, daß sie ihn am Morgen besser finden könnten. Dann begann bei den Männern nach ihrer „ehrlichen Tagesarbeit“ das Essen und Trinken. Das Gelage dauerte bis nach Mitternacht, denn keiner 690
wollte mit klarem Kopf und sicher auf den Beinen stehend schlafen gehen. Der Fußboden wurde ihnen allen zum weichen Bett. Der Kaufmannstochter wurde die Zeit lang und schreckensvoll, denn ihr Bräutigam sagte während des Gelages: „Heute trinken wir auf das Wohl dieser Frau, morgen auf das der Kaufmannstochter.“ Jetzt erinnerte sich das Mädchen an Gott und bat ihn, sie von diesem Ort mit dem Leben davonkommen zu lassen. Es blieben immer weniger von den trinkenden Räubern übrig, denn die meisten schliefen schon. Als sie alle vor Müdigkeit schliefen, war die Zeit für die Flucht am günstigsten; sie trat leise über die Schlafenden und gelangte hinaus. Dann lief sie schnell zu dem Postjungen, der schon wegfahren wollte, weil er dachte, sie werde nicht mehr kommen. Schnell fuhren sie nach Hause, holten ein Regiment Soldaten, gingen zurück und vernichteten die Räuber; nur der Soldat, der als Kutscher gedient hatte, blieb am Leben. Im Keller wurden viele Reichtümer gefunden und auch viele Leichen von Menschen, die sie ausgeraubt und getötet hatten. Da der Soldat der Kaufmannstochter das Leben gerettet hatte, war sie der Meinung, daß sie ihm nichts Besseres schenken könne als sich selbst. Es wurde die Hochzeit der Kaufmannstochter mit dem Soldaten gefeiert, auf der auch der Postjunge nicht fehlte. Sie lebten glücklich und leben so auch heute noch, wenn sie nicht gestorben sind. 691
Der Postjunge erhielt viel Geld, verließ den Dienst und dachte: Besser ein kleiner Herr als ein großer Knecht. Wenn ihm kein Unglück zugestoßen ist, lebt er recht glücklich.
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121 Der Zimmermann und der Maler Ein Gutsherr war ein so böser Mensch, daß keiner seiner Bauern am Samstagabend von der Tagesabrechnung ohne Prügel nach Hause zurückkehrte. Die Fronbauern waren sehr wütend auf den Herrn, aber sie durften und konnten nichts tun. Schließlich sprachen sie darüber mit dem Zimmermann und dem Malermeister des Gutes und sagten: „Ihr seid oft in seiner Nähe, und euch glaubt er mehr, schaut zu, vielleicht könnt ihr ihm einen Streich spielen.“ Der Zimmermann und der Malermeister waren damit einverstanden, denn sie hatten es ebenso schwer. Nun kam diesem Gutsherrn einmal ein Gedanke, und er überlegte: Hier auf der Erde besitze ich ja ein schönes Herrenhaus, um darin zu wohnen, aber wer wird mir im Himmel ein ebenso schönes Herrenhaus bauen? Dann sprach er darüber mit dem Zimmermann und dem Malermeister. Der Zimmermann und der Malermeister hörten sich die Sache an und sagten dann, sie wüßten schon einen Rat, der Herr möge sich keine Sorgen machen. Der Zimmermann schlug vor: „Stellt einen großen Haufen Balken in einem Viereck wie ein Haus auf und laßt in der Mitte ein Loch. Ich werde 693
durch das Loch hineinsteigen, dann legt Feuer an den Balkenhaufen, und ich werde mit dem Rauch zum Himmel aufsteigen, um dort dem Herrn ein Herrenhaus zu bauen. Und wenn der Zimmermann seine Arbeit beendet hat, dann wird der Malermeister hinaufsteigen, um seine Arbeit zu tun.“ Der Herr war mit diesem Rat einverstanden und ließ bald einen großen Haufen Holz sowie Balken zurechtlegen; dann befahl er dem Zimmermann, durch das Loch einzusteigen, und gab ihm auch einen Haufen Geld für das Bauen mit. Der Zimmermann war schlau, er ging wohl durch das Loch zwischen den Balken hinein, doch grub er sich unter der Erde einen Weg an die Oberfläche und ging weg, bevor das Feuer an den Holzstapel gelegt worden war. Der Herr glaubte nun, daß sich der Zimmermann im Himmel befinde und dort das Herrenhaus baue. Der Zimmermann aber wohnte an einem anderen Ort ein ganzes Jahr, ohne den Herrn zu sehen, dann ging er zu dem Herrn und sagte: „Das Herrenhaus im Himmel ist fertig. Nun ist der Malermeister dran, aber ich bin mit dem Geld nicht ausgekommen, einiges mußte ich schuldig bleiben, und wegen der Schuld wird man den Malermeister nicht an seine Arbeit lassen, bevor sie bezahlt ist.“ Jetzt wurde der Holzstapel wieder aufgebaut, und der Malermeister mußte hineingehen. Der Herr gab auch ihm viel Geld mit für die Malerarbeit und auch, um die Schulden des Zimmer694
manns zu bezahlen. Der Malermeister stieg zwar in den Stapel hinein, doch er grub ebenfalls ein Loch unter der Erde an die Oberfläche und verbrachte ein Jahr, ohne vom Herrn etwas zu sehen oder zu hören. Nach einem Jahr kam er zum Herrn und sagte: „Das Herrenhaus im Himmel ist nun fertig, könntet Ihr, Herr, es nur sehen, wie schön es ist!“ Der Herr hatte jetzt ein sehr schlechtes Leben, denn durch den Bau des Herrenhauses im Himmel war mehr Geld draufgegangen, als das Gut einbrachte, so daß es ihm an Geld fehlte. Nun quälte er die Menschen noch mehr als zuvor, doch das half ihm nicht weiter. Schließlich kam ihm der Gedanke, in den Himmel zu steigen und sich das Herrenhaus anzusehen, und er fragte den Verwalter um Rat, wie er dorthin gelangen könne. Der Verwalter wußte nichts zu sagen und empfahl, den Zimmermann und den Malermeister zu fragen, vielleicht könne er es ebenso schaffen wie sie. Der Herr ging und fragte den Zimmermann und den Malermeister um Rat, wie er in den Himmel gelangen könne, um sich das Herrenhaus anzusehen. Dem Zimmermann und dem Malermeister kam diese Frage wie Wasser auf die Mühle, und sie sagten: „Etwas anderes können wir auch nicht raten, höchstens so, wie auch wir dorthin gekommen sind.“ Der Herr ließ wieder einen Holzstapel ebenso zurechtlegen wie vorher für den Zimmermann und den Maler, um sie in den Himmel zu befördern, 695
doch jetzt stieg er selbst hinein und befahl den anderen, das Feuer an den Holzstapel zu legen, was denn auch getan wurde. Der Herr war nicht so schlau zu fliehen, und da verbrannte er, so daß nichts weiter zu hören war als ein böses Brüllen „Kao, kao!“ Und so wurden ihn die Fronbauern auf schlaue Weise los. Anders hätten sie sich vor ihm nicht retten können. So wird der Brotkanten eines dummen Hirten aufgegessen.1
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Ein estnisches Sprichwort.
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122 Der versteckte Alte In alten Zeiten befahl einst ein König, daß in seinem Reich alle alten Menschen getötet werden sollten. Wer über fünfzig Jahre alt war, mußte umgebracht werden. Sollte dennoch in irgendeinem Hause ein alter Mensch entdeckt werden, so hatte auch der Hausherr keine Hoffnung mehr, am Leben zu bleiben. Trotzdem hatte ein Mann heimlich ein Loch in die Erde gegraben und seinen Vater darin versteckt. Der Sohn brachte auch ständig Essen dorthin für seinen Vater, damit er nicht vor Hunger stürbe. Dann kamen schlechte Zeiten, es regnete ununterbrochen mehrere Jahre. Das Roggenkorn verschwand vollkommen von der Erde, so daß man es nirgends mehr bekommen konnte. Da lehrte der alte Mann seinen Sohn, das Strohdach des Hauses herunterzunehmen und das Stroh zu dreschen und auszuschwingen. Dann werde er Roggenkörner bekommen. Der Sohn tat, wie ihn der Vater gelehrt hatte, und erhielt einen ganzen Scheffel Roggenkörner. Der Mann säte das Korn aus. Das nächste Jahr war ein Glücksjahr: Aus einem Scheffel Saatgut erhielt er drei Maß. Davon verbrauchte er kein Körnchen, sondern säte es wieder aus. So erhielt 697
der Mann im zweiten Jahr schon dreißig Maß. Er säte erneut zehn Maß aus und hatte noch zwanzig zum Verbrauch übrig. Da ging ein anderer Bauer zum König, um zu klagen und zu berichten, daß da ein armer Mann Brot esse und kein Krümchen davon dem König bringe. Der König ging zu dem Mann, der Brot hatte, um zu sehen, wer er denn sei und woher er das Brot habe. Der König kam zu dem Mann ins Haus und sah: Es stimmt – er hat Brot auf dem Tisch wie ehedem. Der König ließ den Mann nicht zu Wort kommen, sondern begann sofort zu forschen, woher der Bauer das Brot, und vor allem, woher er das Saatgut habe. Der Mann sagte: „Ich nahm das Dach vom Hause herunter, habe das Stroh gedroschen und ausgeschwungen und so den Roggensamen bekommen.“ Doch der König fragte: „Wer hat dich gelehrt, es so zu tun?“ „Mein alter Vater hat’s mich gelehrt.“ Da fragte der König: „Wo ist dein Vater jetzt, und ist er ein ehrlicher Mann?“ Der Mann sagte: „Das ist er.“ Daraufhin sagte der König: „Bringe ihn her, ich will ihn sehen.“ Der Mann erwiderte: „Ich bringe ihn nicht, du tötest ihn.“ Der König sagte: „Ich töte ihn nicht.“
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Der Mann entgegnete: „Kann ich dir denn glauben? Wenn du schwörst, daß du ihn nicht tötest, bringe ich ihn her.“ Da schwor der König, daß er ihn nicht töten werde. So brachte denn der Mann seinen schlohweißen, bleichen Vater vor den König. Und der König schwor vor dem Alten, daß er nicht mehr zulassen werde, daß man alte Menschen töte, denn von den Alten könne man vieles lernen, und er erinnerte sich der Worte seines Vaters: „Höre auf die Worte alter Menschen, iß nicht den Anteil der Alten auf.“
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Märchen vom dummen Teufel 123 Die Speichertür hüten Einst machte sich der Teufel auf den Weg nach Pihkva. Vor dem Weggehen rief er seinen Knecht Hans zu sich und sagte: „Höre, Hans, was ich dir sage: Ich gehe weit von zu Hause weg, um meine Angelegenheiten zu erledigen; die Wirtschaft und die Sorge um das Haus überlasse ich dir. Ganz besonders mußt du aber die Speichertüren hüten, und du mußt ein großes Feuer machen, damit die bösen Waldwelfen nicht wagen heranzukommen.“ „Ja, Hausherr, ich werde es so machen!“ sagte Hans. Der Teufel fuhr zum Tor hinaus. Hans hob jetzt die Speichertüren aus den Angeln und brachte sie in die Stube. Dann nahm er ein brennendes Scheit, das er gerade aus dem Ofen gezogen hatte, und steckte es in die Traufe des Speicherdaches. Der Speicher begann zu brennen und gab ein großes Feuer, wie es der Teufel befohlen hatte, bis er niederbrannte. Nach einiger Zeit kehrte der Teufel aus Pihkva zurück. Als er sah, was mit dem Speicher geschehen war, rief er Hans und fragte: „Hans, Junge, was ist geschehen? Habe ich dir nicht befohlen, den 700
Speicher zu hüten, und jetzt hast du ihn verbrennen lassen?“ Hans lief in die Stube, holte die Speichertüren heraus und sagte: „Der Hausherr hat mir befohlen, die Speichertüren zu hüten und ein großes Feuer zu machen. Hier sind die Türen, heil und unberührt. Ein großes Feuer habe ich auch gemacht, davon zeugt dieser Aschehaufen hier. Ich habe den Befehl des Herrn erfüllt und sonst nichts!“ Der Teufel war wohl ärgerlich, doch er konnte nichts machen, er hatte es selbst so angeordnet.
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124 Die Augenarznei des schlauen Hans Einst diente der Schlaue Hans auf einem Gut als Drescher. Der Teufel wollte sich auch auf der Tenne einnisten, er lärmte und polterte jede Nacht, um Hans Angst einzujagen. Hans begann zu überlegen, wie er ihn loswerden konnte. Schließlich kam ihm ein guter Gedanke: Er stellte einen Kessel aufs Feuer und legte Blei in den Kessel zum Schmelzen. Der Teufel kam zu Hans und fragte: „Was kochst du da?“ Hans antwortete: „Ich koche mir eine gute Augenarznei, denn meine Augen sind krank.“ Der Teufel begann Hans zu bitten: „Gib mir doch auch etwas von der Arznei, meine Augen sind ebenfalls krank.“ Hans versprach, ihm etwas abzugeben, sagte jedoch: „Das ist eine sehr schmerzhafte Arznei, du wirst sie nicht aushalten und davonlaufen wollen. Ich muß dich am Stützbalken festbinden.“ Der Teufel fragte Hans noch: „Wie heißt du?“ Hans erwiderte: „Ich heiße Selbst.“ Er band den Teufel am Stützbalken fest und goß ihm das heiße geschmolzene Blei ins Auge. O du meine Güte, wie da der Teufel samt dem ganzen Stützbalken davonlief! Denn der Schmerz war sehr groß. 702
Fronbauern, die aufs Gut zur Arbeit gingen, kamen ihm entgegen und fragten den Teufel: „Wer hat dir so große Schmerzen zugefügt und dich am Balken festgebunden?“ Der Teufel sagte: „Selbst gemacht!“ „Nun, wenn du es selbst gemacht hast, dann ertrage auch die Schmerzen selbst“, erwiderten lachend die Fronbauern. Der Teufel lief mit großen Schmerzen immer weiter bis zum Kirchspiel Rapla und dort ins Moor des Gutes Seli. Da fand er gerade noch Zeit, sich vom Balken zu befreien. Dieser Balken soll auch jetzt noch im Moor zu sehen sein.
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125 Die geblendete Riesin In alten Zeiten lebte einst ein Schmied in Ruhe und Frieden und wußte nichts vom Bösen. Eines Abends, als er von seinem Neffen nach Hause ging, war es schon spät geworden. Wie er so durch einen Wald lief, dachte er: Wenn jetzt ein Haus zu sehen wäre, ich würde hineingehen und dort übernachten. Mit solchen Gedanken ging er weiter durch den Wald, und plötzlich sah er ein Haus stehen. Er sagte: „Dort werde ich übernachten!“ und ging zum Haus. Er öffnete die Tür des Hauses und trat ein; im Haus war niemand zu sehen. Der Schmied meinte: „Schön, daß ein warmes Zimmer da ist, ganz gleich, ob es hier Menschen gibt oder nicht.“ Mit diesen Gedanken legte er sich auf den Ofen schlafen, ohne zu Abend gegessen zu haben. Der Schmied hatte schon eine Weile geschlafen, als sich plötzlich die Tür öffnete und eine Hammelherde hereintrottete; hinter dieser trat ein großes, schrecklich aussehendes altes Weib herein, das dazu noch – nur ein einziges Auge hatte! Die Alte schnupperte nach der einen, schnupperte nach der anderen Seite und sagte: „Wer weiß, wer da zu Besuch gekommen ist? Wahr704
scheinlich werde ich, Alterchen, morgen früh etwas Gutes zu essen haben, denn schon lange habe ich kein Menschenfleisch mehr gegessen!“ Die Alte brannte einen Span an und fand den Schmied auf dem Ofen. Sie holte ihn herunter und nahm ihn wie ein kleines Kind auf den Schoß. Dann tastete sie ihn recht kräftig ab, ob er auch fett sei. Dabei sagte sie: „Sei gegrüßt, unerwarteter kleiner Gast!“ Der Schmied aber zitterte am ganzen Körper vor Angst, denn er meinte, daß er hier mit dem Leben nicht davonkommen werde. Nun holte die Alte einen großen Armvoll Holz ins Haus und heizte den Ofen an. Dann nahm sie einen Hammel, schlachtete und säuberte ihn und stellte ihn in die Ofenröhre zum Braten. Als der Hammel gar war, sagte die Alte zum Schmied: „Wir wollen jetzt zu Abend essen!“ Die Alte stopfte sich gleich ein Viertel des Hammels in den Mund – der Schmied aber bekam keinen Bissen hinunter! Da fragte die Alte: „Was bist du denn von Beruf, Fremder?“ „Ein Schmied“, erwiderte er. „Und was kannst du schmieden?“ „Alles, was so vorkommt.“ „Nun, wenn du alles kannst, so schmiede mir das zweite Auge, das mir fehlt.“ Da sagte der Schmied: „Gut, das tu’ ich. Aber hast du einen Strick? Ich muß dich festbinden, sonst hältst du nicht still, wie es nötig ist.“
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Die Alte brachte daraufhin zwei Stricke, einen dünnen und einen dickeren. Der Schmied nahm den dünneren Strick, fesselte damit die Alte und sagte: „Nun, Alte, versuch dich zu befreien!“ Die Alte bewegte sich ein wenig, und der Strick war gerissen. Jetzt nahm der Schmied den dickeren Strick und fesselte damit die Alte noch fester. Dann sagte er: „Versuch jetzt, diesen zu zerreißen!“ Diesmal drehte sich die Alte hin und her, doch den Strick konnte sie nicht zerreißen. Der Schmied nahm den Eisenriegel von der Tür, erhitzte ihn im Ofen bis zur Weißglut, legte ihn auf das gesunde Auge der Alten und schlug mit einem Holzscheit darauf, daß die Funken so sprühten. Da schüttelte sich die Alte so stark, daß alle Stricke rissen. Sie setzte sich auf die Schwelle und sagte: „Nun gut, du Bösewicht, jetzt wirst du mir nicht mehr entkommen!“ Mehr als vorher erschrak nun der Schmied. Er setzte sich in eine Ecke – mehr tot als lebendig. So saß er die ganze Nacht, ohne einen Augenblick zu schlafen. Am Morgen begann die Alte die Hammel hinauszulassen, um die Herde in den Wald zu treiben. Sie tastete jedes Tier einzeln ab und warf es dann über die Schwelle hinaus. Der Schmied überlegte: Was wird nun, wenn sie mich erwischt? Doch da kam ihm ein guter Gedanke: Er drehte seinen Mantel mit dem Pelz
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nach oben, zog ihn an und ging dann mit erstarrtem Herzen auf allen Vieren zu der Alten. Die Alte betastete ihn auf dem Rücken, glaubte, es sei ein Hammel, und warf ihn über die Schwelle hinaus. Der Schmied erhob sich, schlug ein Kreuz und sagte: „Gott sei es gedankt, ich habe mich aus den Krallen des Teufels befreit!“ Der Schmied kam nach Hause, erzählte alles den anderen und sagte: „Jetzt weiß ich wohl, was ein Teufel ist; ich habe ja eine Nacht bei ihm verbracht: Du willst essen, doch das Essen schmeckt dir nicht, du willst schlafen, doch der Schlaf kommt nicht.“
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126 Wie Vanapagan und Ants um die Wette rodeten Einst schlug Vanapagan dem Ants vor, um die Wette zu roden. Es wurde festgelegt, daß sich keiner vor der Mittagszeit umsehen dürfe. Dann erst sollten sie nachmessen, wer das größere Stück gerodet hatte. Zuerst wurde in die Mitte ein Pfahl geschlagen, und dann gingen beide in entgegengesetzter Richtung los. Der Alte riß mit seiner großen Kraft starke Bäume aus dem Boden und kam schnell voran. Ants schaute und überlegte, daß es sich für ihn gar nicht lohne, mit dem Fällen zu beginnen: Er zog den Pfahl aus dem Boden heraus, nahm ihn auf die Schulter und ging mutig hinter dem Alten her. Der Alte aber beeilte sich, so eifrig vorwärtszukommen, daß Ants laufen mußte, um nicht zurückzubleiben. Schließlich schlug Ants den Pfahl wieder in den Boden und rief: „Herr, ich habe Hunger, ich bin weggegangen! Gehen wir schon Mittag essen. Wie lange sollen wir noch arbeiten – das reicht schon.“ Nun schaute der Alte zum ersten Mal zurück. Oh, wie erschrak er, als er sah, daß der Pfahl noch so nah stand! Doch was war zu tun – die 708
Sonne stand wirklich schon auf Mittag. Es blieb also nichts übrig, als essen zu gehen und Ants recht zu geben!
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127 Verarmung und Tod des Vanapagan Vanapagan kam einmal in eine Schenke, um sich einen Knecht zu dingen. Unter den Anwesenden sah er einen, der ihm gut gefiel, besonders weil dieser mehr als alle anderen schwatzte und soff. Er trat an ihn heran und machte ihm sein Angebot. Sie wurden auch bald einig und schlossen einen Vertrag, in dem es hieß, daß sich keiner über den anderen ärgern dürfe. Wer sich aber als erster ärgere, der dürfe dem anderen die Nase absägen. Hansens Vertragsjahr lief von einem Kukkucksruf bis zum nächstjährigen. Vanapagan gab einen guten Einstand und brachte den neuen Knecht sofort in sein Haus. Der neue Knecht hieß Hans. Hans hatte gleich beim Verhandeln begriffen, daß es der Teufel war, der ihn zum Knecht dingte, doch er dachte: Was kann er einem schon tun, und ging mit. Am ersten Tag gingen sie in den Wald, um Fichten mit Wurzeln zum Einpflanzen nach Hause zu holen. Sobald beide im Wald waren, begann Vanapagan balkendicke Fichten aus dem Boden zu reißen. Hans dachte: Was soll ich tun? Doch gleich kam ihm ein guter Gedanke; er legte laut schreiend beide Hände auf den Bauch und warf sich zu Boden.
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Sofort fragte Vanapagan teilnehmend: „Na, Hans, Junge, was fehlt dir?“ Hans sagte: „Ich habe plötzlich so schreckliche Stiche im Magen, ich kann mich überhaupt nicht rühren.“ Vanapagan meinte: „Wenn die Sache so ist, dann kannst du liegenbleiben, bis ich die Fichten herausgezerrt habe.“ Und nun sah Hans, auf der Erde liegend und lachend, zu, wie Vanapagan die Fichten herausriß, daß ihm die Zähne im Munde knirschten. Als die Fuhre schließlich beladen war, band sie Vanapagan mit dicken Ketten zusammen und befahl Hans, zu kommen und sie zu ziehen. Hans sagte: „Nein, Herr, du mußt vorangehen, und ich werde von hinten schieben.“ Vanapagan erwiderte sofort: „Ja, Hans, du hast recht, jetzt hätte ich es beinahe vergessen, daß ich der Herr bin.“ Daraufhin nahm er selbst das Kettenende auf die Schulter und befahl Hans, von hinten zu schieben. Hans ging aber hinter der Fuhre her, sprang rittlings auf die Fichten hinauf, hielt sich mit beiden Händen an den Zweigen fest und lachte über den Vanapagan, der die Fichtenfuhre so zog, daß ihm der Bart rauchte. Nachdem sie eine Weile so gefahren waren, sagte Vanapagan: „Hans, schieb recht kräftig, es zieht sich sehr schwer.“ Hans aber beachtete überhaupt nicht die Worte des Vanapagan, sondern begann vor sich hin zu zählen: „Eins, zwei, drei.“ 711
Nachdem er schon einige Zehn gezählt hatte, fragte Vanapagan: „Was zählst du da, Söhnchen?“ Hans antwortete zögernd: „Es ist nichts Besonderes: Ein gutes Rudel Wölfe kommt uns aus dem Walde nach!“ Kaum hatte Hans diese Worte ausgesprochen, rannte Vanapagan so schnell los, daß die Erde dröhnte und er keine Zeit hatte, auch nur einen Blick über die Schulter zu werfen. Die Fichtenfuhre jagte derart hinterher, daß Hans Mühe hatte, sich auf den Fichten zu halten. So stürmte Vanapagan bis nach Hause. In dem großen Schwung hatte er keine Zeit, sich vorzusehen, krachte gegen die Kammerecke und schlug sich den Kopf ein. Hans brachte kaltes Wasser, goß es ihm über den Kopf, und bald war er wieder auf den Beinen. Vanapagan fragte Hans: „Wie bist du mit deinen Schmerzen im Magen nur bis hierher gekommen?“ Hans erwiderte: „Die waren nicht gering, haben mir ordentlich zu schaffen gemacht, aber was soll man da tun, man muß sie ertragen.“ Am nächsten Tag maß Vanapagan drei Scheffel Gerste und befahl Hans, sie in die Bierküche zu bringen und in drei Tagen Bier daraus zu brauen. Nach drei Tagen wollte er selbst hinkommen und das Bier kosten. Hans aber sagte: „Gestern beim schnellen Lauf habe ich mir den Fuß verstaucht, ich kann kaum gehen und schon gar nicht die Gerste schleppen.“
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Vanapagan glaubte seinen Worten, nahm selbst die Gerste auf den Rücken und brachte sie zur Bierküche. Hans humpelte hinterdrein. Als Vanapagan die Bierküche verlassen hatte, überlegte Hans: Wie soll ich diese drei Scheffel Gerste in drei Tagen zu Bier verarbeiten? Es blieb ihm nichts anderes übrig, er spannte das Pferd vor den Wagen, lud die Gerste auf, brachte sie in die Stadt, verkaufte sie und kaufte dort statt Bier mehrere Fässer Teer, die er in die Bierküche brachte. Am dritten Tag kam Vanapagan in die Bierküche, um das Bier zu kosten, zog den Spunt aus einem Teerfaß heraus, hob es zum Mund und trank das Faß in einem Zuge leer; danach leckte er sich die Lippen und sagte: „Ach, war das ein gutes Bier, es zog sogar die Zähne zusammen, so gutes Bier habe ich früher niemals bekommen.“ Es kam die Zeit der Heuernte. Vanapagan nahm einen Beitel und Hans eine Sense als Erntegeräte; Vanapagan strich mit dem Beitel, Hans mähte mit der Sense. Beim Essen aber stibitzte Vanapagan dem Hans die besten und fettesten Stücke weg und ließ ihm nur Schwarten und glatte Knochen übrig. Hans fand jedoch schnell ein Mittel dagegen. Als sie mähen gingen, nahm Hans den Sensenstiel ab und mähte nur mit dem Stiel. Vanapagan fragte: „Hans, was machst du denn, du mähst ja keinen einzigen Halm ab?“ Hans sagte: „Ist der Herr darüber ärgerlich?“ „Nein“, antwortete Vanapagan, „ich habe nur so gefragt.“ 713
Aber als sie wieder essen gingen, angelte Vanapagan dem Hans nicht mehr die besten Stücke weg. Schließlich hatte Vanapagan keine Lust mehr zum Mähen, und eines Tages sagte er zu Hans: „Hans, Junge, jetzt wollen wir uns hinlegen und schlafen, sollen doch unsere Geräte allein arbeiten.“ Hans war auch damit einverstanden; jeder stellte sein Werkzeug auf seinem Abschnitt ab, und sie legten sich schlafen. Sobald Hans hörte, daß Vanapagan schon schnarchte, stand er auf, nahm die Sense und mähte seinen Teil ab, steckte dann die Sense an die alte Stelle in den Boden und legte sich schlafen. Als Vanapagan aufwachte und fand, daß Hansens Gerät seine Arbeit getan, sein Beitel sich aber nicht von der Stelle gerührt hatte, erfaßte ihn die Wut. Er nahm den Beitel, zerbrach ihn, ging zur Kreuzung von drei Wegen und pfiff laut. Sofort versammelten sich blau und rot gekleidete kleine Jungen in zahlloser Menge, alle hatten sie Sensen und Rechen auf dem Rücken und begannen auf Befehl des Vanapagan wie Ameisen zu mähen und zu harken. Vanapagan sagte zu Hans: „Hans, Junge, wir wollen jetzt anfangen unsere Kraft zu messen, um zu sehen, wer von uns der Stärkere ist.“ Hans antwortete: „Du könntest nicht einmal gegen meinen älteren Bruder ringen, wie willst du da mit mir kämpfen.“
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Vanapagan erwiderte: „Ruf nur deinen älteren Bruder her, dann wirst du sehen, wie ich ihn wie einen Brummkreisel hinwerfe.“ Hans ging in den Wald und lockte einen Bären heraus, Vanapagan ging dem Bären entgegen und sagte: „Hör auf zu brummen, wir wollen uns erst mal richtig um die Lenden fassen und dann sehen, wer siegt.“ Doch wo hat sich ein Bär schon je Zeit genommen, jemanden richtig zu fassen! Er griff mit seinen Krallen Vanapagan um die Schenkel und zerkratzte ihn fürchterlich. Hans schaute aus einem Gebüsch zu und lachte, als Vanapagan in den Tatzen des Bären schrie. Mit großer Mühe und kaum atmend rettete er sich vor dem Bären. Als Hans zu ihm kam, sagte er: „Das war überhaupt kein Mann, er stürzte sich gleich in den Streit und wollte mich mit seinen Krallen in Stükke zerreißen. Wir wollen lieber um die Wette laufen.“ Hans sagte: „Herr, du kannst nicht einmal gegen meinen jüngeren Bruder laufen, wie willst du denn mit mir um die Wette laufen?“ Vanapagan erwiderte: „Bring deinen jüngeren Bruder her, dann wirst du sehen, daß ich an ihm vorbeilaufe.“ Hans hatte aber schon vorher im Gebüsch eine Hasensasse gefunden, nun ging er in den Wald und jagte den Hasen hinaus. Sobald sich der Hase Vanapagan genähert hatte, sagte Hans: „Herr, lauf los, das ist mein jüngerer Bruder.“
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Vanapagan war aber gerade dabei, seine Hosen zuzuknöpfen, als der Hase ihn erreichte, und in seiner großen Bestürzung gelang es ihm nicht, alle Hosenknöpfe zuzuknöpfen. Eine Weile drehte er mit dem Hasen die Runden, und er begann schon den Hasen zu ermüden, doch da rutschten ihm seine Hosen wie ein Blasebalg auf die Füße herunter, und er fiel auf die Nase. Ehe er wieder auf die Beine kam, war der Hase in den Wald davongestürmt. Als Hans zu ihm kam, sagte Vanapagan: „Ich hätte ihn schon ermüdet, aber die Hosen waren mir heruntergerutscht.“ Nun fingen sie an Steine um die Wette zu werfen. Hans hatte aber vorher einen zahmen Spatzen gefangen und ihn in den Ärmel gesteckt. Zuerst warf Vanapagan seinen Stein, und der flog so hoch, daß er nicht mehr zu sehen war und sie einen halben Tag warten mußten, ehe er wieder auf die Erde zurückkam. Jetzt nahm Hans seinerseits einen Stein in die Hand und schwang ihn um den Kopf; beim Schwingen ließ er aber den Spatzen aus dem Ärmel herausfliegen und behielt den Stein in der Faust. Vanapagan merkte den Betrug nicht, und sie warteten drei Tage an der Stelle auf die Rückkehr des Steins. Als der Stein auch am dritten Tag nicht herunterfiel, glaubte Vanapagan, daß er irgendwo auf einer Wolke geblieben sei. Dann holte Vanapagan aus der Kammer eine große Keule heraus und sagte: „Diese Keule habe ich von meinem Vater geerbt, und auch meine Kinder sollen sie erben; wir wollen sie jetzt wer716
fen, um ganz klar zu sehen, wer von uns beiden wirklich höher werfen kann.“ Wieder schleuderte Vanapagan die Keule als erster und dabei so hoch, daß sie fast die Wolken erreichte. Nun war Hans an der Reihe zu werfen. Er ergriff die Keule an einem Ende und versuchte sie zu heben, konnte sie jedoch nicht einmal bewegen, Vanapagan aber trieb ihn an, schneller zu werfen. Hans sagte: „Nein, Herr, ich warte, bis die Wolke da hinten über uns sein wird, dann will ich die Keule auf diese Wolke werfen.“ Kaum hatte es Hans gesagt, ergriff Vanapagan die Keule mit beiden Händen und sagte: „Nein, Hans, Junge, wirf nicht, meine schöne Keule will ich nicht verlieren, sie soll doch noch meinen Enkelkindern vererbt werden.“ Es kam die Zeit der Roggenernte. Vanapagan fragte Hans: „Nun, mein Sohn, willst du deinen Teil zuerst oder später schneiden?“ Hans erwiderte: „Ich schneide zuerst.“ Vanapagan war damit einverstanden, und Hans ging den Roggen ernten. Er schnitt die obere Hälfte des Roggenhalms ab und überließ die untere Hälfte Vanapagan. Im Winter aß Hans reines Roggenbrot, und Vanapagan mußte sich mit Spreubrot und Strohbrei zufriedengeben. Zur Zeit der Rübenernte sagte Vanapagan zu Hans: „Noch einmal lasse ich mich aber von dir nicht betrügen, wie bei der Roggenernte. Jetzt
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werde ich mir den oberen Teil nehmen“, und er schnitt sich alle Rübenblätter ab. Hans hackte sich die Rüben heraus und konnte sie essen, während sich Vanapagan mit den Blättern begnügen mußte. Wieder hatte Hans gewonnen! Vanapagan beschäftigte sich auch mit Schmiedearbeiten. Er teilte das Eisen in Stücke und fügte es auch wieder zusammen, doch hatte er Hans nicht gezeigt, wie das Eisen gebunden wird. Hans versuchte es auf jede Art, konnte das Eisen jedoch nicht binden. Vanapagan lachte, aber Hans machte das nicht klüger. Daraufhin versuchte Hans, die Kunst durch List aus Vanapagan herauszubekommen. Einmal war der alte Popanz von Hause fortgegangen, und als er wieder zurückkam, ging Hans ihm entgegen und sagte: „Aha, Herr, jetzt ist es mir klar, wie das Eisen gebunden wird!“ Sofort erwiderte Vanapagan: „Hans, Söhnchen, dann hast du Sand dazwischengestreut!“ Hans ging jetzt in die Schmiede, brachte das Eisen zur Rotglut, warf Sand darauf und hämmerte es zusammen. So erlernte er diese Kunst. Vanapagan ging mit seiner Alten zu einer Hochzeit und befahl Hans, die Kinder sauber zu bürsten und hinterherzukommen, und fügte noch hinzu: „Wirf dann auch die Augen auf mich, wenn du kommst.“ Als Vanapagan fort war, nahm Hans ein großes Messer, ging zu den Kindern, tötete sie, bürstete ihre Eingeweide sauber, stach ihnen die Augen 718
aus, fädelte sie auf eine Schnur auf und legte sich die Schnur um den Hals. Dann spannte er das Pferd vor den Wagen, lud die Kinder darauf und fuhr zum Hochzeitsdorf. Vanapagan kam ihm mit großer Freude entgegen, doch Hans warf ihm sofort die Augen vor die Brust. Als Vanapagan sah, daß alle Kinder getötet waren, sagte er traurig: „Aber Hans, was hast du jetzt getan?“ Hans erwiderte: „Nichts weiter, als was der Herr mir befohlen hat. Du hast doch selbst befohlen, sie sauber zu bürsten und die Augen auf dich zu werfen (er schlug mit den Augen wieder dem Vanapagan gegen die Brust). Ich konnte sie doch nicht anders bürsten und die Augen aus dem Kopf nehmen, wenn ich sie nicht getötet hätte.“ Vanapagan erinnerte sich seiner Worte, und ärgern durfte er sich sowieso nicht, denn sonst hätte er auch noch seine Nase verloren. Vanapagan wollte jetzt Hans loswerden und schickte seine Alte auf den Baum, der unter dem Fenster von Hansens Kammer wuchs, damit sie dort „Kuckuck“ rufe. Hans überlegte: Was für ein Kuckuck ruft denn da, erst gestern liefen die Kinder am Fastnachtstag Schlittschuh, und heute schon soll der Kuckuck da sein? Er nahm die Flinte und schoß die Alte nieder. Nun war Vanapagan auf den Hans so wütend, daß er ihn töten wollte. Deshalb fragte er Hans am Abend, wo er in der Nacht schlafen werde. Hans sagte: „Wo denn sonst, auf dem Ofen.“ 719
Er legte sich aber auf den Darrboden schlafen. In der Nacht nahm Vanapagan einen großen Knüppel und schlug damit aus voller Kraft auf den Ofen. Dort standen aber die Milchbütten der Alten, die er alle krachend umwarf. Als Hans den Lärm hörte, sagte er vom Darrboden: „Herr, was machst du denn da, wolltest du mich töten?“ Vanapagan erwiderte: „Nein, Hans, ich habe nur die Schaben gescheucht.“ Am nächsten Abend fragte er wieder: „Hans, Junge, wo wirst du heute nacht schlafen?“ Hans antwortete: „Auf der Ofenbank!“ Er kletterte aber wieder auf den Ofen. In der Nacht schlug Vanapagan wieder tüchtig mit dem Knüppel auf die Ofenbank. Hans aber fragte vom Ofen: „Herr, was machst du, jetzt hast du mich doch töten wollen?“ Vanapagan antwortete: „Nein, Hans, ich habe die Katze gejagt.“ Am dritten Abend fragte er Hans ebenso wie an den vorhergehenden Abenden, und Hans sagte: „Heute abend lege ich mich auf den Darrboden“, legte sich aber auf die Ofenbank. In der Nacht schlug Vanapagan wieder tüchtig mit dem Knüppel auf den Darrboden ein, und Hans fragte wieder von der Ofenbank: „Herr, was machst du, du hast mich doch nicht töten wollen?“ Vanapagan erwiderte wie vorher: „Nein, mein Sohn, ich jage die Katze.“
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Als Vanapagan sah, daß er auf diese Weise Hans nicht loswerden konnte, beschloß er, mit dem Geldsack zu fliehen und Hans zu verlassen. Er hatte in einer Ecke einen Geldsack, der aus der Haut von drei roten Wallachen genäht war. Hans erkannte aber seine Absicht und stieg am Abend in den Geldsack. In der Nacht kam Vanapagan, warf den Geldsack mit großem Schwung auf den Rücken und rannte los. Nachdem er so einige Meilen dahingejagt war und müde wurde, warf er den Sack mit einem Ruck herunter und sagte: „Das war mal ein schöner roter Wallach! Wie sollte der Hans jetzt herkommen!“ Hans war aber unbemerkt aus dem Geldsack herausgekrochen und sagte: „Herr, nun wolltest du mir wohl mit deinem Lauf die Haut auf dem Rücken heiß machen!“ Es blieb jetzt Vanapagan nichts weiter übrig, als Hans den abgemachten Lohn zu zahlen, doch sein Geldsack wurde bis auf den Boden leer und er selbst arm wie eine Kirchenmaus. Hans aber ging hin, kaufte sich einen Bauernhof und wurde ein Bauer. An einem kalten Wintertag fällte Hans Bäume im Wald. Vanapagan kam zu ihm und fragte: „Was machst du hier, Söhnchen?“ Hans erwiderte: „Ich wärme meine Hände.“ Vanapagan sagte: „Meine Hände frieren auch sehr, laß mich auch meine Hände wärmen.“ Hans schlug mit Keilen einen Spalt in einen dikken Stamm und sagte zu Vanapagan, er solle die 721
Hände in den Spalt hineinstecken. Vanapagan steckte auch die Finger in den Spalt, und Hans zog daraufhin die Keile heraus. Vanapagan schrie und jammerte wegen der furchtbaren Schmerzen so sehr, daß der Himmel herabzufallen schien, und bat Hans, ihn zu befreien. Hans versprach es auch zu tun, doch nur, wenn Vanapagan ihm dafür einen Sack Gold bringen werde. Da die Schmerzen sehr groß waren, versprach ihm Vanapagan, seinen Wunsch zu erfüllen, und Hans befreite ihn. Vanapagan war nun ein so armer Mann, daß er nirgends mehr etwas zu essen bekam. Der große Hunger trieb ihn zu Hans, sich etwas zu essen zu erbitten. Hans versprach, dem Vanapagan Essen zu geben, doch nicht umsonst, sondern nur, wenn er bei ihm als Hirt bleibe. Vanapagan wurde auch Hirt bei Hans. Aber nachdem er schon einige Tage das Vieh gehütet und Essen bekommen hatte, wurde er faul; er jagte gerade noch das Vieh in die Koppel und legte sich dann vor dem offenen Koppeltor schlafen. Es war ein sehr heißer Tag, wegen der aufdringlichen Bremsen fingen die Tiere an umherzulaufen und stürmten durch das offene Tor hinaus und nach Hause. Dabei drückten sie dem schlafenden Vanapagan die Gedärme heraus, und so fand dieser Vanapagan sein Ende.
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Schwänke 128 Der gelernte Dieb Es lebte einmal ein boshafter Junge. Stets war er darauf aus, den Menschen Streiche zu spielen und Böses anzutun. So riß er den Bauersfrauen die Kohlrüben aus dem Boden, doch aß er sie nicht, sondern warf sie nur umher. Er hatte von seinem Vater des öfteren Hiebe bezogen, aber das half nichts; er tat weiter Böses. Der Vater wurde zornig und verfluchte den Jungen: „Hol dich der Teufel mit all deinen tollen Streichen!“ Bald darauf kam denn auch wirklich eine schwarze Kutsche mit Pferden und einem Kutscher vorgefahren, um den Jungen für sieben Jahre fortzubringen. Zuerst wollte der Vater den Jungen nicht hergeben. Der alte Teufel sagte aber, weil er das einmal versprochen habe, müsse er ihn auch geben. Als die sieben Jahre um waren, kehrte der Junge nach Hause zurück. Der Vater fragte ihn sogleich, welchen Beruf er beim Teufel erlernt habe. „Ich habe Dieb gelernt“, antwortete der Sohn. Der Vater begriff es zuerst nicht mal, so sehr erschrak er. Nachher sagte er dem Sohn: „Ich habe dir auch keine Arbeit zu geben. Ich gehe lieber 723
aufs Gut und spreche mit dem Herrn, wir wollen sehen, was er sagt.“ Nachdem der Herr ihn angehört hatte, sagte er: „Nun gut, wenn er ein gelernter Dieb ist, soll er kommen und mir meine besten Pferde aus dem Stall stehlen; dann gebe ich ihm dafür hundert Rubel in Gold, ein Faß Schnaps, und das Gestohlene darf er obendrein behalten.“ Der Gutsherr befahl dem Stallknecht, die Pferde sofort im Verschlag fest anzubinden, zu satteln und sich in den Sattel zu setzen. „So, nun kannst du dem Sohn den Befehl überbringen“, sagte der Herr, „doch wenn er sie nicht stiehlt und in die Falle gerät, wird er es mit seinem Kopf bezahlen.“ Der Alte ging traurig nach Hause und sagte seinem Sohn, jetzt werde es für ihn wohl keine Rettung mehr geben. Nachdem sich der Sohn genau über alles erkundigt hatte, lachte er aus vollem Halse und sagte, dies sei eine Kleinigkeit für ihn. Er nahm zwei Flaschen Schnaps mit, einen Brotbeutel auf den Rücken und ging gegen Abend aufs Gut. In der Dämmerung gelangte er hin, doch bekam er nirgends ein Nachtquartier, nur beim Stallknecht. Dieser ahnte nichts Böses und ließ ihn auch gleich im Heu schlafen. Aber der Wanderer wollte natürlich zuerst zu Abend essen. Da nahm er beim Essen auch manch guten Schluck zu sich. Dem Stallknecht lief das Wasser im Munde zusammen, und er staunte, daß der Fremde so viel Schnaps bei sich hatte. 724
„Ja, es ist noch genügend da“, sagte der Dieb, „vielleicht wünscht Ihr auch etwas davon?“ „Wenn Ihr so gut sein wollt, Väterchen, am Mund würde der Schnaps nicht vorbeifließen.“ „Nun, Ihr seid schließlich ein Mensch vom Gut, da möchtet Ihr vielleicht nicht aus derselben Flasche trinken, aus der ich getrunken habe.“ Er holte die zweite Flasche heraus und gab sie dem Stallknecht, damit er einen Schluck daraus nehme; da war aber ein Schlafmittel beigemischt, und der Stallknecht schlief bald darauf ein. Der Dieb hob den Stallburschen vom Pferd, band das Pferd los, setzte sich selbst darauf und jagte davon. Am Morgen schickte er den Vater aufs Gut mit der Weisung, der Herr möge ihm die hundert Rubel und ein Faß Schnaps geben. Es war nichts zu machen, übel gelaunt schickte ihm der Herr die versprochene Belohnung mit dem Vater zu. Bald darauf bekam der Sohn einen neuen Befehl vom Gut: Jetzt sollte er einen Ochsen zwischen zwei Männern wegstehlen, wenn diese zum Markt gingen. Es wurde ihm der gleiche Lohn versprochen wie zuvor. Den Vater des Burschen machte dieser Befehl sehr traurig, denn er meinte, diesmal werde es sein Sohn nicht schaffen, sollte er doch etwas zwischen zwei Männern wegstehlen. Der Sohn aber lachte nur darüber und sagte, das sei eine Kleinigkeit. Als die Männer mit dem Ochsen durch den Wald gingen, lief ihnen der Dieb ein Stück voraus und 725
warf einen Stiefel auf den Weg. Die Ochsentreiber kamen zu der Stelle, wo der Stiefel lag, und überlegten, ob es sich lohne, ihn aufzuheben; sie hätten ja doch nichts, wo sie ihn hinstecken könnten, und ließen den Stiefel liegen. Der Dieb lief wieder voraus, warf den zweiten Stiefel auf den Weg und nahm den ersten auf. Als die Ochsentreiber zu dem zweiten Stiefel kamen, bedauerten sie, den ersten nicht genommen zu haben. „Ließen wir den ersten liegen, lassen wir auch den zweiten da“, sagte der eine, und sie gingen weiter. Der Dieb sah, daß diese List nicht half, und versuchte eine zweite. Er lief wieder etwas voraus und hängte sich an einem Baumast auf. Als die Ochsentreiber vorbeikamen, beratschlagten sie, ob sie helfen sollten oder nicht. „Wir haben keine Zeit“, sagte der eine, und sie gingen weiter. Der Dieb stieg vom Baum herunter, überholte die Männer nochmals und hängte sich erneut auf. Die Männer sagten, sind wir am ersten vorübergegangen, gehen wir auch am zweiten vorüber. Ebenso geschah es auch beim dritten und vierten Mal. Beim vierten Mal fingen die Männer sich darüber zu streiten an, ob es drei oder vier Erhängte gewesen seien. Der Streit wurde immer heftiger; schließlich gingen die Männer zurück, um nachzuzählen und zu sehen, wer recht hatte. Den Ochsen banden sie inzwischen an einen Baum. Sobald
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der Dieb das sah, band er den Ochsen vom Baum los und verschwand. Der Vater des gelernten Diebes ging aufs Gut und berichtete, der Ochse befinde sich schon in den Händen des Sohnes. Wieder erhielt er die Belohnung und brachte sie dem Sohn. Jetzt befahl der Herr dem Burschen, seiner Frau einen Ring zu stehlen. Der Vater war wieder in Sorge, ob das gelingen werde. Der Sohn lachte nur darüber. Am Abend, als es dämmerte, schlich er sich aufs Gut. In der Nacht, als alle schon schliefen, ging der Junge zu der Frau, ahmte die Stimme des Herrn nach und sagte: „Gib den Ring lieber mir, der Dieb würde ihn dir doch stehlen, bei mir ist er sicherer.“ Am Morgen ging die Frau hin, vom Herrn den Ring zurückzuerbitten. Der Herr machte große Augen: „Was redest du da, ich bin die ganze Nacht nicht aus dem Bett gekommen!“ Bald erschien der Vater des Jungen, um den Lohn zu holen. Der Herr fluchte zwar über den schlauen Dieb, bezahlte jedoch den Lohn wie versprochen. Schließlich befahl der Herr dem Burschen, den Pastor zu stehlen und ihn zu ihm zu bringen. Wieder war der Vater in Not, denn nun werde es dem Sohn nicht gelingen, mit heiler Haut davonzukommen. In einer schönen stillen Nacht, als alle schliefen, steckte der Dieb auf den Gräbern mehrere Wachskerzen an. Der Pfarrer wachte auf und ging 727
hin, um sich das Wunder anzusehen. Der Dieb stand mit einem vierspännigen Wagen vor der Treppe des Pfarrhauses und verkündete, daß er gekommen sei, um den Pfarrer in den Himmel zu bringen. „Ihr seid der einzige Erwählte, der in den Himmel gelangen kann; geht jetzt hin, holt alle Eure Gold- und Silbersachen zusammen und nehmt sie mit. Doch Ihr dürft die anderen nicht wecken, denn kein anderer als Ihr seid dieser Seligkeit würdig.“ Sie setzten sich in die Kutsche, und die Himmelfahrt begann. Alsbald wurde dem Pfarrer befohlen, in den Sack zu klettern, denn gleich werde man den Himmel durchstoßen. Nun schleppte ihn der Dieb durch Pfützen und erklärte, dies sei der Regen, der zuweilen auf die Erde herabfalle; dann wieder über Steinhaufen – das sollte der Donner sein. Schließlich ging es die Treppen des Gutshauses hinauf, und diese sollten die Stufen der Himmelsleiter sein, auf der man ihn zu Petrus brachte. Jetzt warf der Dieb den Sack dem Gutsherrn vor die Füße und sagte: „Da habt Ihr Euren Pfarrer!“ Groß war die Beschämung des Pfarrers, als er sich auf dem Gut und dazu noch zu Füßen des Gutsherrn fand. Zu Hause war die Schande noch größer. Nun schenkte der Herr dem Dieb zum vierten Male hundert Rubel und ein Faß Schnaps und gab
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ihn frei. Soll er doch hingehen und stehlen, wo er will! So hatte der Bursche vierhundert Rubel verdient sowie vier Fässer Schnaps und zudem noch die Freiheit erhalten.
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129 „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ Ein Bettler sang unter den Fenstern eines Gutshauses: „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her, Ich bring’ euch eine neue Mär.“ Die Gutsherrnwitwe hörte das und fragte: „Kommst du wirklich vom Himmel, oder schwindelst du vielleicht?“ Der Bettler, ein Schlaukopf, merkte sofort, daß die Frau dumm war, und erwiderte: „Einer wie ich wird doch nicht wagen, die ehrenwerte Frau zu beschwindeln, erst gestern abend bin ich von dort gekommen!“ Frau: „Was gibt es denn da Neues?“ Bettler: „Alles lauter schlechte Dinge! Jetzt herrscht dort große Hungersnot!“ Frau, erschrocken: „Oh, oh, Hunger! Hast du zufällig meinen Herrn gesehen?“ Bettler: „Ich habe ihn wohl gesehen.“ Frau: „Er dürfte doch keine Not leiden, er war doch reich.“ Bettler: „Er ist in noch größerer Not als die anderen. Vor zwei Wochen wurde er vor Hunger Schweinehirt der Engel! Er bekommt einmal täglich trockenes Brot und alte Lumpen als Kleidung.“ 730
Frau, jammernd: „Lieber, guter Mensch, du kennst doch den Weg dorthin, bringe meinem Herrn seine Sachen nach, ich bezahle es dir auch ehrlich! Aber wenn man mit einer Kutsche hingelangen kann, könnte ich da nicht mitkommen?“ Bettler: „Mit einer Kutsche kommt man nicht hin. Der Himmelspfad ist schmal, und Vergnügungsreisende läßt man nicht durch. Aber ein Wandersmann mit einer einspännigen Fuhre könnte schon durchkommen! Wenn die Frau es wünscht, könnte ich die Fuhre hinbringen.“ Die Frau ließ das stärkste Pferd vor einen Wagen spannen, eine gute Fuhre Kleider, Eßwaren und Geld aufladen und schickte sie mit dem Bettler weg, den sie auch für seine Mühe bezahlte. Der Kutscher aber, der den Schelmenstreich des Bettlers durchschaute, schwang sich später auf ein Reitpferd und jagte dem Bettler nach, um ihm die Fuhre abzunehmen und sie für sich zu behalten. Als sich der Bettler etwas vom Gut entfernt hatte, nahm er bessere Kleider vom Wagen, zog sie an und ging wie ein ehrlicher Wandersmann mit seiner Fuhre weiter. Um die Mittagszeit gelangte er zu einer Mühle. Auf der anderen Seite der Straße befand sich ein dichter Wald. Der Bettler blickte sich um und bemerkte in der Ferne einen schnell heransprengenden Reiter. Sofort dachte er sich, daß es ein Verfolger sei. Er versteckte schnell das Pferd mit der Fuhre im Gebüsch und kletterte selbst auf das Dach der Mühle. Der Mül-
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ler war gerade zum Mittagessen gegangen und wußte nichts von der Sache. Der Kutscher kam zur Mühle, sah den Bettler auf dem Dach und glaubte, es sei des Müllers Knecht. Er fragte ihn, ob er nicht vielleicht einen Bettler mit einer Pferdefuhre gesehen habe. Bettler: „Den habe ich gesehen! Er bog seitwärts in einen Waldweg ein.“ Kutscher: „Oh, dieser Bube! Diesem Dieb und Schelm bin ich hinterher. Guter Mann, weise mir genauer den Weg, den er gegangen ist.“ Bettler: „Nach einer Weisung werdet Ihr ihn nicht einholen. Ich kenne hier alle Pfade, doch ich habe keine Zeit, ihm nachzujagen, Ich bin des Müllers Knecht und muß das Dach der Mühle zerhauen.“ Kutscher: „Ich werde solange das Dach zerhauen! Nimm mein Reitpferd und fange ihn. Wenn du ihn hierherbringst, werde ich dich gut bezahlen!“ Der Bettler spannte dieses Pferd neben das erste und machte sich mit allem davon. Der Kutscher zerschlug fleißig das Dach, bis der Müller herauskam und vor Staunen die Augen weit aufriß. „Was ist denn hier los, ein Verrückter zerhaut das Dach meiner Mühle!“ rief er und nahm einen festen Knüppel zur Hand. „Höre, Bösewicht oder Verrückter, der du bist! Wie darfst du das Dach meiner Mühle zerhauen?“ „Euer eigener Knecht hat mir diese Arbeit aufgetragen!“ erwiderte der Kutscher und kam herunter. 732
„Mein Knecht! Ich habe überhaupt keinen Knecht im Hause!“ schrie der Müller und verprügelte den Kutscher. Der arme Kutscher mußte hinterher der Frau auch noch das Pferd bezahlen.
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130 Die Axtsuppe Ein Soldat hatte seinen Militärdienst beendet und kehrte nach Hause zurück, und unterwegs bat er auf einem Bauernhof um Nachtquartier. Die Hausfrau sagte: „Ich würde dir gern Nachtquartier geben, doch wir haben nichts zu essen.“ (In Wirklichkeit hatten sie schon was, aber sie wollte nur nichts geben.) Der Soldat sagte: „Nun, dann wollen wir eine Axtsuppe kochen. Such eine alte Axt hervor!“ Die Hausfrau suchte nach und fand zwischen dem Ofen und der Wand eine alte Axt. „Wasch sie sauber!“ Und die Frau wusch sie sauber, brachte einen Kessel voll Wasser und legte die Axt in den Kessel. Dann kochte das Wasser. Der Soldat rührte mit dem Schöpflöffel und sagte: „Wird sehr kräftig, ein Stückchen Schweinefleisch wäre nötig, dann wird sie nicht so kräftig.“ Als die Frau in den Speicher nach Fleisch gegangen war, schüttete der Soldat das Wasser mitsamt der Axt aus und goß frisches Wasser in den Kessel. Bald kochte das Schweinefleisch. Der Soldat rührte wieder und sagte: „Nein, Schweinefleisch allein genügt nicht, es ist immer 734
noch zu kräftig. Wenn du es hast, bring ein Stück Hammelfleisch, es ist magerer.“ Die Hausfrau ging und brachte ein Stück Hammelfleisch in den Kessel. Dann kochte das Fleisch. Der Soldat rührte wieder und sagte: „Immer noch zu kräftig. Bring eine Tasse voll Graupen, wenn du hast.“ Die Hausfrau brachte Graupen. Und nun kochten die Graupen und das Fleisch. Der Soldat rührte und sagte wieder: „Immer noch zu kräftig! Wenn wir einige Kartoffelstückchen schälen und dazutun würden? Kartoffel ist am magersten, sie nimmt vielleicht das Kräftige weg.“ Dann schälten sie Kartoffeln, wuschen sie und legten sie in den Kessel. Danach fragte die Hausfrau: „Wie habt ihr denn dort im Kriegsland gesprochen, wohl russisch?“ „Natürlich auch russisch“, sagte der Soldat. „Wie war denn diese russische Sprache?“ „Ein Blechknopf heißt Pugowits und der Fausthandschuh Rukowits.“ Die Alte fragte: „Und ein Wagen?“ „Aa wot jeeto Wagirka.“ „Na und wie heißt das, was wir in der Kirche in der Hand halten, wenn wir singen?“ „Aa jeeto Singopanka.“ „Und wie heißt denn Ochse dort im Kriegsland?“ „No wot jeeto Jeboxa.“ Dann schaute der Soldat nach der Suppe und sagte: „O du meine Güte! Während wir hier Russisch lernen, ist die Axt ganz zerkocht, so daß nichts nachgeblieben ist. Wäre noch ein Stück735
chen Axt übriggeblieben, würde die Suppe noch besser geraten sein.“ Da kam auch der Mann aus dem Walde nach Hause. Die Alte lief ihm entgegen und sagte: „Hör, Alter, ein alter Soldat kam zu uns übernachten, wir haben eine Axtsuppe gekocht.“ „Sonderbar, was kann denn das sein, eine Axtsuppe?“ Sie fingen an zu essen, und es war eine sehr gute Suppe. Der Alte sagte: „Mir wollen die Zähne mit der Suppe hinunterrutschen.“ Sie aßen. Und am Morgen ging der Soldat fort und bedankte sich für das Nachtquartier. Der Alte und die Alte aber bedankten sich bei dem Soldaten, daß er sie gelehrt hatte, aus einer Axt Suppe zu kochen. Und sie blieben auch bei dem Glauben, daß es eine Axtsuppe war, und sie glauben es bis heute!
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131 Der habgierige Pastor In alten Zeiten lebte irgendwo in der Welt ein sehr habgieriger Pastor. Seine andere Hälfte war früh unter die Erde gekommen und hatte ihn als kinderlosen Witwer zurückgelassen. So lagen alle häuslichen Verrichtungen auf seinen Schultern. Von einer neuen Heirat war keine Rede, dagegen steigerte sich seine Geldgier von Tag zu Tag und machte ihn mißtrauisch, besonders gegen den Hirten Reet und den alten Drescher Ants. Auch hatte er von einigen seinesgleichen gehört, daß die Diener rücksichtslos mit dem Eigentum ihrer Herren umgingen. Der Pastor beschloß deshalb, mehr auf die beiden zu achten. Er sagte oft zu sich: Der Reet ist ja nicht von ungefähr so dick wie ein Bienenkorb, sicherlich hat er sich wieder mit meiner Milch gemästet. Eines Morgens kam der Pastor in den Stall, um der Sache nachzugehen. Auf einer Leiter kletterte er auf den Stallboden, wo Birkenreisig und Holz durcheinanderlagen und man durch die Ritzen gut sehen konnte, was unten geschah. Nach einiger Zeit kam Reet in den Stall, einen Zuber und einen Melkeimer in der Hand, und begann die Kühe zu melken. Als alle Kühe gemolken waren und Reet mit dem letzten Melkeimer zum 737
Zuber kam, hob er den Melkeimer an den Mund, trank einen guten Schluck und machte nachher noch „Ääh!“. Dann goß er die Milch zur anderen in den Zuber. Der Pastor, der dies alles ohne Reets Wissen von oben über dem Zuber beobachtete, bebte vor Zorn wie Espenlaub. Plötzlich stolperte er und stürzte krachend durch die Bretter. Zum Glück oder zum Unglück blieb er mit dem Hosenbund am Holz hängen. Als Reet das sah, erschrak er dermaßen, daß er die Hände zusammenschlug und rief: „O du mein Himmel, unser Pastor!“ Der Pastor stöhnte: „Reet, hilf mir!“ Doch bevor Reet zu Hilfe kommen konnte, riß der Hosenbund, und der Pastor fiel kopfüber – pardauz – in den Milchzuber So schnell er konnte, kletterte er heraus und eilte, ohne ein Wort zu sagen, an Reet vorbei nach oben in sein Zimmer. An diesem Tage sah ihn Reet nicht wieder. Am nächsten Morgen erhielt Reet den Befehl, zum Pastor zu kommen. Der empfing ihn sehr ärgerlich und mißmutig. Zuerst klappte es nicht mit dem Gespräch zwischen ihnen, schließlich aber begann der Pastor: „Hörst du, Reet, von dem Ereignis gestern früh sollst du keinem etwas erzählen. Tust du es trotz meines Verbots, wird es dir schlecht ergehen. Jetzt gebe ich dir aber für eine Woche frei, und da morgen der erste Tag der Woche ist, kannst du schon heute abend deiner Wege gehen. Inzwischen werde ich selbst die Arbeit übernehmen.“ 738
Reet freute sich, daß er eine Woche freibekam. Am nächsten Morgen stand der Pastor früh auf, denn er hatte zwei Pflichten zu erfüllen: Zuerst mußte er im Stall die Kühe melken und danach in der Kirche dem Volk predigen. Deshalb nahm er sofort den Melkeimer und ging in den Stall. Nachdem vier Kühe gemolken waren, wurde er der Arbeit so überdrüssig, daß er sie verwünschte und am liebsten jemand anderem aufgehalst hätte. Die Sonne war schon recht hoch gestiegen und wärmte stark; deswegen fingen die Bremsen an, den Kühen mit ihren Stichen zuzusetzen. Dabei hatte eine Kuh die boshafte Art, mit ihrem Schwanz herumzuwedeln, sobald die kleinste Fliege um sie herumflog. Beim Melken dieser Kuh bekam nun der Pastor den Schwanz mehrere Male um die Ohren, so daß er ganz zornig wurde. Er faßte den Schwanz der Kuh und steckte ihn sich zwischen die Knopflöcher der Jacke und der Hose, so hatte er Ruhe beim Melken. Plötzlich kam eine große Bremse und stach die Kuh. Du meine Zeit! Wie aus der Pistole geschossen rannte die Kuh los, mit dem Pastor am Schwanz. Zuerst sprang sie im Stall umher, dann lief sie durch die Tür auf den Hof und gleich darauf hinaus auf die Straße und immer weiter ins Freie. Kirchgänger kamen den beiden entgegen, darunter auch der Hirt Reet, der sein Tier gleich erkannte und das Tier ihn. Reets Zuspruch beruhigte das Tier sofort, so daß sich der Pastor vom Kuhschwanz befreien konnte. Ohne sich umzusehen, eilte er zurück nach Hause; dort warf er sich 739
aufs Bett, um nach der unangenehmen Fahrt Atem zu schöpfen. Am nächsten Morgen rief er Reet zu sich und befahl ihm, seine Pflichten wieder zu übernehmen. Reet war damit zufrieden. Einige Wochen waren vergangen, und es kam die Druschzeit heran. Jetzt besann sich der Pastor auf Gerüchte, die er von einigen Leuten gehört hatte, daß der Drescher sorglos mit dem Getreide des Herrn umgehe. Obwohl ihn die vergangenen Ereignisse auf dem Boden des Kuhstalls sowie am Schwanz der Kuh schreckten, beschloß er dennoch, einmal hinzugehen und die Treue seines Dreschers zu prüfen. Als es am Abend anfing zu dämmern und Ants gerade im Ofen Kartoffeln buk, schlich der Pastor leise unter die Korndarre und versteckte sich in einer Ecke im Roggengewühl. Nach dem Schwingen lagen neben dem Eingang zur Tenne lose Kornhaufen. Bald darauf kam Ants aus dem Zimmer und begann die herumliegenden Geräte einzusammeln; dann nahm er eine Heugabel zur Hand, um das Verstreute zu Haufen zusammenzukehren. Doch beim ersten Einstechen fand er jemanden in dem Roggengewühl. „Nanu, was für einer bist du denn dort in der dunklen Ecke?“ fragte Ants. „Ei der Tausend, dir will ich es zeigen, ich kenne deine krummen Absichten! Ein Dieb, ein Dieb am Korn meines Herrn!“
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Ants hatte ihm schon einige übergezogen, als sich eine Stimme meldete: „Ich bin doch dein Herr!“ „So, du gehst einher, aber zuvor will ich dich lehren, damit du es nochmal wagst hierherzukommen. Soll ich vielleicht zum Gericht laufen und meine Zeit vergeuden, ich werde es dir schon mit den Fäusten klarmachen.“ Dabei prügelte er weiter. Wieder rief die Stimme: „Ich bin doch dein Herr, ei!“ „Ihr Teufelskerle seid noch dazu zwei, wo ist der andere? Sag, wo ist der andere!“, und er warf den Pastor – hui! – weit aus dem Tor der Tenne hinaus. „Geh, beklag dich jetzt, bei wem du willst!“ Der Pastor stob davon, so schnell ihn die Beine trugen. Nachher ist es ihm nicht mehr in den Sinn gekommen, seinen Dienern nachzuspionieren.
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132 Peter ohne Hosen In alten Zeiten lebte irgendwo in einem Winkel der Welt ein wohlhabender und findiger Bauer. Er hatte drei Söhne: Die zwei älteren waren klug, der dritte, der jüngste Sohn Peter, aber war dumm. Als Peter fünfzehn Jahre alt wurde, starb sein Vater; seine Mutter war schon früher gestorben. Vor seinem Tode rief Peters Vater seine drei Söhne zu sich und hielt ihnen folgende Rede: „Liebe Kinder! Ihr seht, daß ich krank bin und sterben muß und wahrscheinlich nur noch kurze Zeit bei euch weilen werde. Gott hat mich hier auf Erden durchaus gesegnet und mir viele irdische Güter gegeben. Wenn ich gestorben bin, teilt diese Güter ehrlich zwischen euch auf und streitet euch nicht. Du, Jaan, mein ältester Sohn, nimm Peters Anteil in Verwahrung, bis er volljährig wird, denn jetzt ist er noch zu jung und dumm und versteht es nicht, sein Hab und Gut zu verwalten!“ Danach segnete der Vater seine Söhne und gab den Geist auf. Bald nach dem Tode des Vaters heirateten Peters Brüder und lebten ein geruhsames Leben, bestellten die Felder und hüteten ihre Herden, während Peter bei ihnen wohnte und ihnen diente. Als Peter volljährig war, ging er zu seinem ältesten Bruder Jaan und sagte: „Lieber Bruder! Gib 742
mir eine Kuh aus meinem Anteil, ich will diese Kuh in der Stadt verkaufen, mir dann die Stadt ansehen und für das erhaltene Geld Hosen kaufen. Ich bin doch schon lange erwachsen und habe keine Hosen, so daß die Dorfbewohner mich deswegen Peter ohne Hosen schimpfen.“ Jaan erfüllte Peters Wunsch auch sogleich und gab ihm die gewünschte Kuh. Sowie Peter die Kuh erhalten hatte, faßte er sie am Halfter und marschierte, vor Freude einen Walzer pfeifend, in die Stadt. Nachdem Peter nun einige Werst gegangen war, kam er zu einem großen Wald, durch den der Weg in die Stadt führte. Durch den Wald marschierend, gelangte er zu einer Stelle, wo zwei krumme Birken sich einander zuneigten und knarrten. Dort blieb Peter stehen und begann sich mit den Birken zu unterhalten: „Was redet ihr da, wollt ihr etwa meine Kuh kaufen?“ Daraufhin machten die Birken „Nika-nika“. „Ah, ah! Ich verstehe, ihr wollt zwar meine Kuh kaufen, doch ihr sagt, daß ihr kein Geld habt!“ Die Birken machten daraufhin wieder „Nikanika“. „Nun gut, es sei, ich verkaufe euch meine Kuh und stunde euch das Geld, doch das sage ich euch: In einem Jahr will ich das Geld haben!“ sprach Peter, band die Kuh an eine Birke und ging zurück nach Hause. Als Peter nach einem Jahr hinging, um von den Birken sein Geld zu holen, fand er zu seinem Är743
ger weder die Birken noch seine Kuh an der Stelle. Wo vorher die Birken wuchsen, standen nur noch Stümpfe. Daraufhin begann Peter die Birken zu beschimpfen und zu fluchen: „Oh, ihr zerfallenen Aasstücke, ihr verschlingt meine Kuh, und wenn ich nach dem Gelde komme, verkriecht ihr euch vor mir in die Erde! Na warte, ich werde euch schon aus diesem Loch herausklauben!“ Mit diesen Worten erfaßte er eine Birkenwurzel und zog den Birkenstumpf heraus. O Wunder! An der Stelle des Birkenstumpfes befand sich ein großer Kessel, voll glänzenden Gold- und Silbergeldes. Als Peter diese Menge Geld sah, sagte er zu dem ausgehobenen Birkenstumpf: „Ich habe es euch doch gesagt, daß ich euch aus diesem Loch herausholen werde. Ihr seht jetzt selbst, daß es sich nicht lohnt, mit einem Mann, wie ich es bin, zu spielen!“ Da Peter nun genug Geld hatte, stopfte er es sich in jede Falte und jede Vertiefung, bedeckte das übriggebliebene Geld mit Erde und ging zurück, um das Geld nach Hause zu bringen. Unterwegs begegnete Peter dem Gutsherrn, und dieser fragte ihn, woher er komme und wohin er jetzt gehe. Er erzählte dem Herrn seine ganze Geschichte und sagte auch, wo sich das entdeckte Geldloch befand. Zu Hause legte Peter sein Geld weg, so daß die Brüder es nicht sahen, und ging dann das übriggebliebene Geld holen. Unterwegs kam ihm der Gutsherr mit dem erbeuteten Geld entgegen. 744
Peter fragte den Herrn: „Ist dort noch Geld übriggeblieben?“ Der Herr wollte sagen: „Blieb wohl!“, sagte aber „Bii, bii, oll, ull, ull!“ Der Herr konnte nicht besser sprechen, weil er den Mund voller Geld hatte. Als Peter aus dem Munde des Herrn eine solche Antwort hörte, dachte er, daß der Herr ihn beschimpfe. Da packte er den Herrn am Kragen und sagte: „Wie darfst du mich beschimpfen, ich weise dir den Weg zu dem Geldloch, und du beschimpfst mich obendrein! Ich werde dir schon zeigen, wie man mit einem Mann, wie ich es bin, umgehen muß!“ Mit diesen Worten schleuderte Peter den Herrn auf den Boden, und der Herr war gleich tot. Da nahm er aus den Taschen des Herrn das Geld heraus und ging nach Hause. Zu Hause erzählte er jetzt von seinen Abenteuern auch den Brüdern. Als die Brüder die Geschichte erfuhren, erschraken sie sehr bei dem Gedanken, was sein wird, wenn es herauskommt, daß Peter der Mörder des Herrn ist. Danach hielten die Brüder miteinander heimlich Rat, wovon Peter nichts wußte. Sie gingen in den Wald und begruben die Leiche des Gutsherrn. Dann kamen sie nach Hause, schlachteten eine alte Ziege, so daß es Peter nicht sehen konnte, legten sie in einen alten Keller auf dem Hof und sagten zu Peter: „Wir brachten die Leiche des Mannes nach Hause, den du heute im Walde er-
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schlagen hast, und legten sie in den alten Keller auf dem Hof.“ Am nächsten Tag suchte man überall den Gutsherrn, und die Suchenden kamen auch auf den Hof, wo Peter wohnte. Sie fragten Peter: „Peter, hast du unseren Herrn nicht gesehen? Seit gestern ist er verschwunden!“ Peter sagte ihnen: „Ein Aas habe ich gestern totgeschlagen; ich weiß nicht, vielleicht war es euer Herr. Die Brüder legten seine Leiche dort in den Keller.“ Die Suchenden sagten jetzt zu Peter: „Geh, hol sie dort heraus, wir werden nachsehen, ob es die Leiche unseres Herrn ist!“ Peter ging auch sofort, um den Befehl auszuführen, doch bevor er aus dem Keller kam, fragte er die Suchenden: „Hatte euer Herr einen Bart?“ Die Suchenden sagten: „Ja!“ Peter fragte weiter: „Hatte euer Herr auch Hörner auf dem Kopf?“ Die Suchenden: „Er hatte keine!“ Peter fragte noch: „Hatte euer Herr auch hinten einen Schwanz? Dieser hier hat einen Schwanz!“ Die Suchenden: „Er hatte keinen! Hol ihn endlich heraus, wir werden nachsehen, was Wunderliches du da hast!“ Daraufhin holte Peter die geschlachtete Ziege heraus. Die Suchenden sahen, daß es nicht die Leiche ihres Herrn war, und fragten Peter: „Ist das der, den du gestern niedergeschlagen hast?“ 746
„Ja, das ist er“, antwortete Peter. Die Suchenden gingen ihres Weges, und die Sache war damit erledigt. Danach ging Peter in die Stadt, um sie sich anzusehen, und kaufte sich dort Hosen. Sowie er die Hosen anzog, wurde er plötzlich ebenso klug wie andere Menschen auch. Für das gefundene Geld kaufte er sich einen Hof, heiratete und lebte in Ruhe, bestellte das Feld und hütete seine Herde, bis schließlich der Sand-Hannus, der Tod, ihn holte.
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133 Gutes Gedächtnis und Vergeßlichkeit In alten Zeiten lebte in der Nachbarschaft eines Pfarrers ein reicher Bauer, der seinem Seelenhirten immer wieder mit Spott zuzusetzen suchte. Dazu gab es auch mancherlei Anlaß, denn der geistliche Mann verübte so weltliche Streiche, daß sie für jeden Christenmenschen beschämend waren. Der Pfarrer, der doch schließlich einer von den Oberen war, konnte dies nicht ertragen und begann den Störenfried – seinen Nachbarn – kraft seines Amtes zu rügen. Der Bauer ärgerte sich sehr darüber und sagte vor den Leuten: „Du bist mitsamt deinem geistlichen Amt und Leben nicht klüger als mein schekkiges Pferd!“ Der Pfarrer wurde darüber mehr als zornig und klagte beim Gericht, daß der dumme Bauer ihn so niederträchtig beschimpft habe. Das Gericht lud den Bauern und alle Augen- und Ohrenzeugen vor, und er mußte sich für seine Beschimpfung verantworten. Das Gericht fragte: „Hast du deinen Pfarrer dümmer gemacht als dein scheckiges Pferd?“ „Nein, das habe ich nicht getan, das hat er selbst getan. Und wenn es das werte Gericht und der Pfarrer nur wissen wollen und es wünschen, dann bin ich gern bereit zu sprechen.“ 748
Das Gericht sagte: „Natürlich mußt du die Sache klären – eher kommst du hier nicht fort.“ Der Bauer sagte: „Ich war im vergangenen Jahr bei der Heuernte und begann die Heuschober zusammenzutragen, und zwar über die breite Voova-Wiese, wo eine Stelle so sumpfig war, daß mein Schecke dort bis zum Bauch einsank und ich ihn nur mit Mühe herausholen konnte. Aber als ich in diesem Jahr wieder an derselben Stelle mit den Heuschobern hinüberwollte, ist mein Schecke dort nicht weitergegangen, und wenn ich ihn totgeschlagen hätte. Er hatte sicher noch das kalte Bad vom vergangenen Jahr in Erinnerung. Das ist die Klugheit meines Schecken. Der Pfarrer aber hat im vergangenen Jahr mit seinem Stubenmädchen ein Kind gehabt, und in diesem Jahr wieder eins. Ist das vielleicht seine Klugheit?“ Aus war es mit den Fragen und mit dem Urteil des Gerichts; dem Pfarrer blieb der Mund verschlossen, und der Mann war frei.
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134 Pfuscher-Schmied Ein Mann brachte seinen Sohn zu einem Schmied in die Lehre. Der Vertrag wurde für drei Jahre abgeschlossen. Nach einiger Zeit ging der Vater zum Schmied, um zu sehen, was der Sohn dort so mache. Er fand seinen Sohn fleißig bei der Arbeit. Das ärgerte den Vater, und er begann mit dem Schmied zu schimpfen: „Habe ich dir deswegen meinen Sohn hergebracht, damit er für dich arbeitet? Ich brachte ihn zum Lernen hierher, und du läßt ihn arbeiten. Zahle ich dir dafür das Geld?“ „Nun, er kann auch zuschauen, wie wir arbeiten“, entgegnete der Schmied, „dann wird er vielleicht in drei Jahren das Handwerk auch gelernt haben.“ Der Schmied ließ das Bett des Jungen in die Schmiede bringen, und der Junge lag den ganzen Tag auf dem Bettrand und schaute zu, wie der Schmied arbeitete. Nach drei Jahren kam der Vater wieder in die Schmiede, um seinen Sohn zu holen, und fragte den Schmied: „Hat er das Handwerk jetzt erlernt?“ „Hat er, hat er!“ sagte der Schmied. „Nun, dann habe ich mein Geld nicht vertan“, sagte freudig der Vater und ging mit dem Sohn 750
davon. Überall prahlte er mit dem Können seines Sohnes. Der Vater hatte noch einen Bruder; der rief den jungen Schmied zu sich zur Arbeit und versprach ihm einen guten Lohn, wenn er anständig arbeite. Der Onkel wollte sehen, ob der Neffe wirklich etwas gelernt hatte und was er verstand. Der Onkel befahl dem Jungen, da es die Zeit der Feldarbeit war, einige Pflüge anzufertigen, und gab ihm Eisen. Der Junge verlangte dazu vier Scheffel Kohle. Der Onkel machte große Augen und dachte: Hat der es aber gelernt! Er sagte jedoch nichts und gab dem Jungen die Kohle. Der Bursche begann jetzt das Eisen zu schlagen; er schlug und schlug bis zum späten Vormittag, doch ein Pflug wurde nicht daraus. Der Onkel kam, um zu sehen, wie weit der Neffe sei, und sah, wie er erst das heiße Eisen klopfte. Der Onkel fragte: „Glaubst du bald fertig zu sein?“ „Ein Pflug wird nicht mehr daraus“, entgegnete der Neffe, „wenn du willst, werde ich dir eine gute Sense machen.“ „Nun gut, dann mache eine Sense!“ Der Bursche klopfte und klopfte weiter. Mittag war vorbei, und der Onkel kam nachschauen, was denn der Neffe immer noch klopfe. Er sah, daß nur noch sehr wenig Eisen da war, auf dem der Junge aber immer weiter herumklopfte. Von einer Sense war nichts zu sehen, deshalb fragte er: „Wo ist die Sense, ist sie fertig?“
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„Nein“, antwortete der Junge, „eine Sense wird nicht mehr daraus. Wenn du willst, mache ich dir ein gutes Messer.“ „Nun, dann mach mir ein Messer!“ Der Junge fachte ein größeres Feuer an und fing wieder an zu klopfen. Am Abend kam der Onkel nach dem Messer, doch das Messer war noch nicht fertig. Der Junge sagte: „Ein Messer wird nicht mehr daraus, wenn du willst, mache ich dir ein feines Gezische, wie du es noch nicht gesehen hast.“ „Nun, dann mach wenigstens ein feines Gezische, wenn du überhaupt etwas kannst“, sagte der Onkel. Der Junge sammelte die letzten Eisenstücke ein, warf sie – zisch – in einen Wasserbottich und sagte: „Nun, war das nicht ein feines Gezische?“ „Es war schon ganz ordentlich“, erwiderte der Onkel und fragte: „Welchen Lohn verlangst du denn dafür?“ „Fünfzig kannst du mir immerhin geben, das ist für dich nicht zuviel.“ „Du hast recht“, sagte der Onkel, „fünfzig sollst du haben“, und er zählte ihm fünfzig Gewichtige auf den Hintern. Dann schickte er ihn nach Hause. Sowie er zu Hause ankam, warf er sich bäuchlings aufs Bett, denn sein Hinterteil brannte. Der Vater fragte, wieviel Lohn er erhalten habe. Der Junge sagte: „Fünfzig wurden mir gegeben.“ Der Vater freute sich sehr, daß der Sohn am ersten Tag soviel verdient hatte. 752
Am nächsten Tag kam der Onkel und berichtete, daß er dem Sohn die Haut tüchtig versohlt und wie ihm der Junge das Eisen und die Kohle zunichte gemacht hatte. Es blieb nichts übrig, als den Jungen wieder zum Schmied zurückzuschicken.
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135 Der Herr lernt den Hunger kennen Es unterhielt sich einmal ein Gutsvogt mit seinem Herrn. Der Gutsvogt, der ein gesprächiger Mann war, sprach über dies und jenes. Schließlich fing er an, dem Herrn von der großen Not und dem Hunger des Volkes zu erzählen. Doch der Herr, der erst kurz zuvor aus Deutschland gekommen war, verstand die estnische Sprache noch nicht gut genug, und er begriff nicht, was das Wort „nälg“ (Hunger) bedeutet. Nachdem der Gutsvogt versucht hatte, ihm die Bedeutung des Wortes zu erklären, verlangte der Herr: „Könntest du mir dieses Ding nicht zeigen, denn ohne es gesehen zu haben, verstehe ich deine Erklärung nicht.“ „Warum nicht“, entgegnete der Gutsvogt, „aber nirgendwo anders als im Wald. Gehen wir zur Jagd, dann werde ich es dir schon zeigen.“ „Nun, dann geh schnell nach Hause und bereite alles vor, damit wir uns auf den Weg machen können“, sagte erfreut der Herr. Der Gutsvogt ging nach Hause, ließ die Frau Pfannkuchen backen und in ein Tuch binden, dann nahm er seine Flinte und ging zum Herrn. Der Herr war schon lange fertig und wartete bereits. Doch hatte er überhaupt nicht an das alte Sprichwort gedacht – Gehst du fort für einen Tag, nimm 754
Verpflegung für eine Woche mit –, wie es der Gutsvogt getan hatte. Er glaubte, gegen Abend zu Hause zu sein, deshalb nahm er auch nichts mit. Nun gingen sie in den Wald. Der Herr war guter Laune, denn jetzt sollte er den Hunger sehen und kennenlernen, der Gutsvogt aber freute sich, weil er den Herrn hungrig sehen sollte. Sie gingen von einer Stelle zur anderen, konnten jedoch kein Wild erlegen. Der Gutsvogt kannte den Wald in der ganzen Umgebung, deshalb führte er den Herrn in ein recht dichtes Waldstück. Nachdem sie eine Weile dort umhergegangen waren, sagte der Gutsvogt: „Wir haben uns verirrt!“ Der Herr ahnte nichts von dem Streich des Gutsvogts, und weil er selbst den Weg nach Hause nicht kannte, mußte er dem Gutsvogt folgen. Der Tag ging schon zur Neige, doch der Gutsvogt führte den Herrn immer weiter in den tiefen Wald hinein. Schließlich kamen sie an einem Heuschlag heraus. Da es schon dunkel wurde, blieben sie zum Übernachten unter einem Heuhaufen. Der Herr hatte jetzt schon großen Hunger, doch da etwas Eßbares nirgends aufzutreiben war, mußte er sich so schlafen legen. Am Morgen quälte der Hunger den Herrn noch stärker. Er befahl dem Gutsvogt, den Weg zu suchen. Doch der Gutsvogt konnte nichts machen, er sagte, er wisse den Weg nicht. Da der Gutsvogt so ruhig war und überhaupt nicht davon sprach, daß er hungrig sei, fragte der Herr: „Sag, wieso kannst du es so lange ohne Es755
sen aushalten! Ich habe solches Verlangen nach Essen, daß ich ganz gleich was, und sei es das schlechteste Bauernessen, verschlingen würde.“ „Ja, ich halte es darum so lange ohne Essen aus, weil ich stets nur das Bauernessen gegessen habe“, erwiderte kurz der Gutsvogt. „So ein Wunder! Hat denn das Bauernessen eine so große Kraft? Na, wenn wir hier lebend herauskommen, werde ich mich mehr vom Bauernessen als vom Herrenessen ernähren. Doch jetzt, jetzt muß ich auf alle Fälle etwas essen! Kannst du nicht mir und auch dir irgendwoher Essen besorgen?“ „Warum nicht! Sieh“, sagte der Gutsvogt und zeigte auf den Heuhaufen, „hier haben wir genug Nahrung! Nimm und iß nur. Aber weil es dumm ist zuzusehen, wie wir uns wie die Tiere ernähren, gehe ich auf die andere Seite des Haufens. Dann sehen wir einander nicht in der Not.“ Dem Herrn mißfiel zwar der Ratschlag des Gutsvogts, doch die Not zwang ihn, das Tierfutter zu essen. Der Gutsvogt aber auf der anderen Seite des Haufens aß kein Hälmchen, sondern nur die Pfannkuchen, die er von Hause mitgenommen hatte. Damit jedoch sein heimliches Speisen nicht herauskomme, zupfte er aus dem Haufen Heu heraus und stopfte es unter den Haufen. Mit dem Herrn stand es freilich schlimmer. Kaum war es ihm gelungen, einige Halme hinunterzuschlucken, begann er zu reden: „An sich wäre ja das Frühstück ganz gut, nur daß die Halme 756
so rauh sind und einem die Gurgel aufreißen. Du wirst wohl besser mit ihnen fertig?“ „Wie soll’s denn gehen! Armeleuteessen ist immer Armeleuteessen. Hauptsache, der Bauch wird voll – der Haufen hat ja schon ein ganz gutes Loch. Wenn du es nicht glaubst, komm her und sieh selber nach“, sagte der Gutsvogt. Der Herr kam. Als er das große Loch im Haufen sah, fragte er erstaunt: „Sag mal, wie konntest du nur in der kurzen Zeit soviel aufessen! Ich habe meiner Meinung nach ganz gut gegessen, und doch kann ich in dem Haufen kein Loch zum Andenken hinterlassen.“ „Jaja“, sagte der schlaue Gutsvogt mit ernstem Gesicht, „ich habe deshalb mehr aufessen können, weil ich solches Essen schon früher gegessen habe. Alles kommt von der Gewohnheit, so auch das Essen. Hast du mal einfach gelebt und einfach gegessen, so kannst du auch Hunger sowie anderen Mangel länger ertragen. Nun, wir hatten, was wir hatten. Jetzt wollen wir weitergehen und wieder den Weg suchen, um schneller nach Hause zu kommen, wo wir bessere Stärkung finden werden.“ Auch an diesem Tag ließ der Gutsvogt den Herrn aus einem Wald in den anderen laufen. Gegen Abend kamen sie auf eine Lichtung. Von dort sah der hungrige Herr in der Ferne einen Bauernhof. Sofort befahl er dem Gutsvogt, in diese Richtung zu gehen, vielleicht würden sie dort etwas zu essen bekommen. 757
Auf dem Wege zu dem Hof rief der schlaue Gutsvogt: „Wenn man uns im Haus vielleicht zum Essen einlädt, geh nicht gleich bei der ersten Einladung hin. Da ich aber niedriger bin als du, kann ich schon dem ersten Rufen der Bauern folgen.“ Als sie in die Nähe des Bauernhofes kamen, ließ der Gutsvogt den Herrn draußen warten und ging selbst hinein, um ein Nachtquartier zu erbitten. Auf diesem Bauernhof lebten gute Menschen, die sie gern hereinließen. Der Gutsvogt trat vor dem Hinausgehen noch einmal an die Hausfrau heran und ermahnte sie: „Wenn der Mann, der mit mir kommt, auf das erste Rufen hin nicht zum Essen erscheint, dann seht zu, daß Ihr ihn nicht zum zweiten Mal ruft, sonst wird er furchtbar böse, und es kann auf diese Weise zu einem großen Streit kommen.“ Nun ging der Gutsvogt den Herrn rufen. Bald darauf wurde die Bohnensuppe auf den Tisch gebracht, und die freundliche Hausfrau bat auch die unbekannten Gäste zu Tisch. Der Gutsvogt nahm dankend die Einladung an, der Herr aber beachtete nicht einmal die Worte der Hausfrau und blieb auf diese Weise ohne Essen. Dem Armen wurde der Mund wäßrig, da er zusehen mußte, wie die anderen die schmackhafte, duftende Suppe aßen, von der er keinen Löffel abbekam – wegen seines störrischen Festhaltens an dem Ehrbegriff. Als die anderen mit dem Essen fertig waren, paßte er auf, wohin der Suppentopf gestellt wur-
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de, um sich in der Nacht, wenn auch nach Diebesart, den Magen zu füllen. Nach dem Essen wurde langes Stroh ins Zimmer gebracht, auf dem Fußboden darauf eine Schlafstelle bereitet, und die Gäste wurden aufgefordert, schlafen zu gehen. Alle schliefen schon ruhig, nur einer lag noch wach – es war der Herr. Jetzt hielt er die Zeit für gekommen, an den Suppentopf zu gehen. Da aber die Stube sehr dunkel war und er befürchtete, seine Schlafstelle nachher nicht wiederzufinden, band er eine Schnur, die er, wer weiß wie, zum Glück in seiner Tasche hatte, an das Bein des Gutsvogts und ging. Er nahm aus dem Topf eine Handvoll Bohnen, wollte zu seiner Schlafstelle zurückkehren und sie dort aufessen. Doch als er der Schnur nachging, kam er nicht zu der eigenen Schlafstelle, sondern zum Bett des Bauern und seiner Frau. Denn während der Herr beim Suppentopf war, bewegte der Gutsvogt das Bein mit der Schnur und wachte darüber auf. Er begriff sofort, auf welchen Wegen sich der Herr befand, ging deshalb leise zum Bett und band die Schnur an den Bettpfosten. Als nun der Herr ans Bett kam, stolperte er und fiel hin. Die .Bohnen aber fielen auf die Bäuerin. Da er seine erste Beute verloren hatte, ging der Herr wieder leise zum Suppentopf. Jetzt steckte er beide Hände in den Topf hinein, um mehr zu erbeuten und an Ort und Stelle aufzuessen. Doch wieder ein Mißgeschick! Die Hände kamen nicht
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mehr aus dem Topf heraus – der Topf war oben enger. Der Herr wußte sich keinen anderen Rat, als den Topf zu zerschlagen. Doch wo sollte er ihn dagegenschlagen? Alles dunkel wie in einem Sack. Dennoch bemerkte er in der Ecke einen weißen Pfosten. Sofort ging er leise an den Pfosten heran und schlug aus voller Kraft darauf. Der Topf zerbrach zwar, jedoch der weiße Pfosten war die Hausfrau, die zu brüllen anfing: „Verzeih, verzeih, ich tu’ es nicht mehr!“ Wie die Bäuerin dorthin kam, das geschah folgendermaßen: Als der Herr zum zweitenmal an den Suppentopf ging, wachte der Bauer auf. Zufällig berührte seine Hand die Bäuerin, und die Hand wurde feucht. Der Bauer dachte nun, daß sich seine Frau beschmiert habe, und weckte sie. Die Bäuerin erschrak ebenfalls, als sie merkte, daß sie verschmiert war. Sofort stand sie auf und begann sich zu reinigen. Doch jetzt traf sie plötzlich ein solcher Schlag, daß sie fast umgefallen wäre. Geschlagen hatte der Herr, sie aber dachte, es sei ihr Mann. Deswegen brüllte sie auch: „Verzeih, verzeih, ich tu’ es nicht mehr!“ Verlassen wir jetzt die Bäuerin mit ihrer Angst und ihrem Schmerz, und schauen wir nach, was mit dem Herrn und dem Gutsvogt weiter geschah. Als der Herr das Gebrüll der Bäuerin hörte, lief er aus der Stube hinaus – in den Wald. Er meinte, wenn er dabliebe, käme sein törichtes Benehmen heraus – und dann die unendliche Schande! Liefe er aber in den Wald, würde es niemand erfahren, 760
wer der Bösewicht gewesen ist, wenn nur der Gutsvogt nichts verriet. „Oh, wenn doch der Gutsvogt auch hier wäre!“ stöhnte jetzt der Herr. Und – da stand der Gutsvogt schon hinter ihm. Als der Gutsvogt nämlich merkte, was dem Herrn zugestoßen war, ist er ebenfalls hinausgelaufen. Jetzt, da sie wieder zusammenkamen, bat ihn der Herr, zu Hause von diesen Ereignissen niemandem etwas zu erzählen. Und damit der Gutsvogt bestimmt seinen Mund halten sollte, bot ihm der Herr Gold an. Doch der Gutsvogt sagte: „Wenn du versprichst, in Zukunft dem armen Volk zu helfen, wird keine Seele jemals von deinen Taten erfahren; versprichst du es aber nicht, werde ich die Geschichte den Leuten immer wieder erzählen. Geld will ich von dir nicht.“ Der Herr versprach es. Da führte der Gutsvogt den Herrn geradewegs nach Hause. Der Herr war von nun an immer gnädig zu den Leuten seines Amtsbezirks und half ihnen stets, denn jetzt hatte er selbst erfahren, was Mangel oder Hunger bedeutet. Auch dem Gutsvogt gegenüber zeigte er sich stets dankbar und freundlich, nicht, weil dieser den Mund hielt, sondern weil er ihn auf den Weg guter Taten gebracht hatte, indem er den Armen half. Der Gutsvogt erzählte auch keinem, was mit dem Herrn geschehen war; er wie auch sein Herr hielten ihr Wort bis zum Tode. Und nur als er schon im Sterben lag, erzählte er alles seinem ältesten Sohn und berichtete, wieso der Herr so gut 761
und gnädig zum Volke war. Als er alles von Anfang bis Ende erzählt hatte, verbot er dem Sohn, jemandem etwas davon zu sagen. Doch der Sohn erfüllte nicht den Willen des Vaters, und als der Herr schon längst gestorben war, erzählte er allen Leuten, was dem verstorbenen Herrn einst passiert war. So kam diese Geschichte in den Volksmund und gelangte immer weiter von Geschlecht zu Geschlecht bis in unsere Zeiten.
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136 Die Geschichte der Usara-Tani Vor etwa zwanzig Jahren lebte im Kirchspiel Kursi des Puurmannschen Amtsbezirkes ein wunderliches Männchen, das hier ein jeder wegen seiner drolligen Geschichten kannte. Er war seinerzeit Besitzer des Usara-Bauernhofes gewesen, und deshalb wurde er überall nur der Usara-Tani gerufen. In Tanis Jugendzeit war es noch jedem erlaubt, mit der Flinte in den Wäldern umherzustreichen und Wild zu fangen. Von dieser Erlaubnis machte Tani stets regen Gebrauch. Sobald es seine Zeit erlaubte, nahm er seine Flinte vom Nagel auf die Schulter, steckte das Beil in den Gurt und ging in den Wald Vögel schießen. Als er wieder einmal im Walde umherschweifte, um einige Vögel zu erbeuten, mußte er über einen Waldbach gehen. Dieser Bach war für gewöhnlich ziemlich trocken; doch jetzt, nach starken Regengüssen, war er so angeschwollen, daß es unmöglich war hinüberzukommen. Tani nahm das Beil von der Seite, fällte eine am Ufer wachsende Fichte und machte sich daraus einen Steg. Nun begann er auf dem Steg über den Bach zu gehen. Doch kaum war er einige Schritte gegangen, als ihm plötzlich ein trockner Zweig ins Auge stach; aus dem Auge sprühten Funken, das Pulver auf 763
der Pfanne faßte Feuer – die Flinte schoß. Erschrocken schaute sich Tani um, ob der Schuß nicht irgend etwas getroffen habe. Da sieht er zu seiner großen Verwunderung zwei Enten auf dem Wasser zappeln. Schnell läuft er zurück, fängt die Enten und steckt sie in den Sack. Wer war jetzt glücklicher als Tani! Mit einem Schuß zwei Enten, und dabei noch ganz unerwartet. Voller Freude begann er wieder über den Steg zu gehen. Mitten auf dem Steg aber stolperte er, und der Bast, mit dem er sein Beil um die Lende gebunden hatte, zerreißt. Das Beil fällt in den Bach. Hol’s der Teufel! „Mein teures Beil! Wie, zum Teufel, soll ich es jetzt herausholen?“ Wie groß war aber sein Staunen, als er sah, daß das Beil ausgerechnet einem großen Hecht auf den Rücken gefallen war und ihn getötet hatte! Tani zog den Hecht aus dem Bach heraus und warf ihn wie einen Klotz in den Sack. Daraufhin steckte er das Beil wieder in den Gurt und schlenderte weiter. Er war schon ein ganzes Stück gegangen, konnte jedoch nirgends ein Tier entdecken. Mißmutig ließ er sich schließlich neben einem Strauch nieder und wollte Feuer machen, um seine am Bach naß gewordenen Kleider zu trocknen. Damit sich das Feuer besser machen läßt, griff er nach hinten in die Sträucher, um dort zum Entfachen des Feuers verdorrtes Gras zu nehmen. Er machte aber große Augen, als er statt des Grases ein Birkhuhn am 764
Kopf faßte, das im Gebüsch geschlafen hatte. Um das Birkhuhn zu töten, schlug er es gegen einen weißen Baumstumpf neben dem Busch. Der Stumpf fiel plötzlich kopfüber um, und erst jetzt sah Tani, daß es ein schlafender Hase war, den er mit dem Birkhuhn erschlagen hatte. Wer konnte sich mehr freuen als Tani! Sein Sack war randvoll, und er wollte schon nach Hause gehen. Doch war ihm noch größeres Glück beschieden. Beim Weitergehen fand er auf der Erde ein ganz neues Hufeisen. Tani nahm es, schaute es sich an und sah, daß im Hufeisen alle sechs Nägel krumm in den Löchern steckten. „Das Eisen kann ich zu Hause gebrauchen“, denkt Tani und legt das Hufeisen in die Tasche. Plötzlich stolpert er, und ehe er bis zwei zählen kann, liegt er seitlings auf der Erde. Beim Aufstehen fühlt er nach, ob das Hufeisen noch in der Tasche ist. Das Eisen war da, doch die Nägel, die vorher krumm in ihm steckten, waren jetzt gerade und aus dem Hufeisen herausgefallen: Er hatte sie beim Fallen geradegebogen. „Oh, das war ein nützliches Fallen!“ murmelte Tani und stapfte weiter. Als er noch ein Stück gegangen war, sah er, wie sich sechs Wölfe um eine Fichte herum gelagert hatten und in der Sonne wärmten. Alle sechs streckten ihre Schwänze an der Fichte empor und schliefen einen tiefen Schlaf. Tani hatte plötzlich einen Gedanken. Er ging leise zwischen den Wölfen zur Fichte, nahm mit der einen Hand das Beil vom Gurt, mit der anderen die Nägel aus der Ta765
sche und nagelte alle sechs Wölfe mit den Schwänzen an die Fichte. Danach machte er jedem Wolf mit dem Messer an der Schnauze einen Schnitt und schrie dann aus voller Kehle: „Urrjohh!“ Die Wölfe sprangen erschrocken vom Boden auf und jagten in den Wald, doch ihre Felle blieben an der Fichte hängen. Auf diese Weise bekam Tani sechs Wolfsfelle. Nach Glück kommt gewöhnlich Unglück. So geschah es auch Tani. Beim Umherschweifen im Walde war er vom richtigen Weg abgekommen und hatte sich verirrt. Alle seine Bemühungen, den richtigen Weg zu erreichen, mißlangen. Er lief die ganze Zeit im Kreise. Schließlich kam ihm ein guter Gedanke. Er kletterte auf einen hohen Baumstumpf und wollte nachsehen, ob nicht irgendwo Menschen zu sehen oder zu hören waren. Plötzlich strauchelte sein Fuß, und er fiel – sumdi – in den hohlen Baumstumpf hinein. Ein Schaudern lief über Tanis Körper, als er daran dachte, daß er hier leicht hätte ertrinken können; denn er befand sich bis zum Hosenbund in einer sonderbaren Flüssigkeit. Als er nachschaute, entdeckte er, daß es Honig war (in diesem Baumstumpf hatten nämlich die Bienen ihr Nest angelegt). Doch wie hier herauskommen? Diese Frage bereitete Tani mehr Kopfzerbrechen, als man sich vorstellen konnte. Tani jammerte und schrie und brüllte, es kam ihm jedoch vor, als sei er von allen Seiten in den Stumpf hineingewachsen. Er versuchte, den 766
Stumpf auseinanderzupressen, doch der rührte sich nicht. Verzweifelt blieb er eine Weile ganz ruhig stehen und überlegte ernsthaft, ob er wohl reif zum Sterben sei. Da hörte er plötzlich ein Kratzen draußen am Stumpf. In seinem Herzen wurde die Hoffnung auf Rettung wach, denn er meinte, es sei da ein Mensch. Er wollte gerade um Hilfe rufen, doch da merkte er, daß der Krabbelnde anfing den Baumstumpf hinaufzuklettern. Er hob die Augen, um zu sehen, wer denn kommt. Jetzt war der Krabbler auf der Baumstumpfspitze angelangt, und Tani konnte deutlich sehen, daß es Meister Petz war, der hier Honig stehlen wollte. Tani wußte nicht, ob er sich über diese Erscheinung freuen oder ob er betrübt sein sollte. Auf jeden Fall wartete er still, was da kommen werde. Meister Petz richtete sich bald auf dem Baumstumpf ein und ließ seinen Schwanz hinunter in den Stumpf, um von dort auf diese Weise Honig herauszuangeln. Da griff Tani mit beiden Händen nach dem Bärenschwanz, juchzte einmal laut – und wups! kam er bis zur Brust über den Rand des Baumstumpfes. Meister Petz fiel vor Schreck kopfüber vom Stumpf hinunter und brach sich das Genick. Jetzt sprang Tani auch hinunter und erschlug den Bären. Danach zog er ihm das Fell ab und ging fröhlich nach Hause. Ein anderes Mal fing Tani eine Menge Hasen. Die Geschichte war so: Tani besaß mitten im Wald ein Stück Land. Er hatte hier oft schon verschiedenes Getreide ausgesät, doch niemals etwas ge767
erntet, denn im Wald gab es zu viele Hasen, und sie fraßen die junge Saat auf, sobald sie aus der Erde emporgeschossen war, so daß nur die schwarze Erde nachblieb. Einmal säte Tani auf seiner Waldbrache Weizen. Die Saat ging sehr schön auf und wurde augenblicklich immer größer und größer. Doch in dem Maße, wie die Saat wuchs, nahm auch die Zahl der Hasen zu. Jedesmal wenn Tani hinkam, um nach der Saat zu sehen, flitzten mindestens dreißig bis vierzig Hasen in den Wald. Tani überlegte, wie er diesen Biestern einen Streich spielen könnte. Nach langem Denken und Überlegen beschloß er, einen festen Zaun um die Brache zu bauen. Er fällte im Wald passende Stangen und Latten und baute um das Weizenfeld einen sieben Fuß hohen Zaun. Den Zaun versah er noch mit Eisendraht und Stacheln, bis er so dicht war, daß da nicht mal ein Vogeljunges hätte durchschlüpfen können. An einer Seite des Zaunes ließ er ein Loch, das ungefähr drei Fuß breit war. Nun ging er früh am Morgen zur Zeit der Hasen in den Wald und sah schon von weitem, daß es in der Umzäunung von Hasen nur so wimmelte. Tani hatte einen sieben Scheffel großen Sack mitgenommen; den brachte er jetzt leise vor dem Loch an. Dann ergriff er trockene Weidenzweige, sprang in die Umzäunung und begann den Hasen nachzujagen. Die Hasen liefen alle zum Loch und gerieten in den Sack. Als alle im Sack waren, band Tani den Sack zu und prügelte die Hasen zu 768
Tode. Danach holte er von zu Hause ein Pferd, lud die Hasen auf den Wagen und brachte sie heim. Hier schichtete er sie auf und erhielt eine sieben Fuß breite und einen Faden lange Strecke. Tani war nicht nur ein großer Jäger, sondern auch ein geschickter Fischer. Einmal fing er im Fluß eine große Quappe. Da sie in den Sack nicht hineinpaßte, zog er ihr durch die Kiemen einen Gertenring und schleifte sie auf der Erde hinter sich her. Der Weg nach Hause führte durch einen Erlenwald. Die Quappe schlug so stark mit dem Schwanz, daß sie von beiden Seiten die Erlen niederschlug und daß dort, wo Tani mit der Quappe durchgegangen war, ein breiter Weg entstand. Zu Hause angekommen, setzte er die Quappe zum Kochen auf. Allein von der Leber bekam er einen drei Eimer großen Kessel voll. Tani verbrannte anderthalb Faden trocknes Birkenholz, und dennoch konnte er die Quappe nicht weichkochen. Ihr Fleisch war wie Sägemehl, das keiner haben wollte. Ein anderes Mal ging Tani wieder zum Fluß fischen. Da sah er plötzlich am Ufer einen riesengroßen Fisch stehen. Ganz leise legt er sein Fischnetz an den Fluß und stößt mit dem Fuß den Fisch wie einen Sägebock direkt in das Netz. Beim Herausheben des Fischnetzes sieht er, daß der Fisch zwei Köpfe hat, an jedem Ende einen. Tani überkam die Furcht, denn wer weiß, was das für ein Fisch sein konnte. Voller Angst warf er den Fisch zusammen mit dem Fischnetz in den Fluß und lief nach Hause, um die Frau zu Hilfe zu rufen. Als er 769
mit ihr zurückkehrte, suchten sie wohl eifrig nach dem Fisch, fanden ihn aber nicht. Doch den größten Fang machte Tani einmal am Painküla-Damm. Dort fing er in der Zeit zwischen zwei Mahlzeiten vierundachtzig Hechte, alle vier und fünf Fuß groß, einer war sogar sechs Fuß groß, die Schwanzflossen nicht mitgerechnet! Da hatte der Mann aber was nach Hause zu schleppen!
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137 Meine Jugendabenteuer Als ich noch ein junger Mann war, schickte mich meine Mutter mit einem dreiköpfigen Fohlen pflügen. Ich nahm das Fohlen, spannte es vor den Pflug und ging aufs Feld. Plötzlich brach das Fohlen beim Pflügen in der Mitte entzwei. Ich machte schnell Rutenranken und band damit das Fohlen in der Mitte wieder zusammen. Ich war gerade mit der Arbeit fertig, da schob mich meine Mutter mit dem Finger dem Hause zu. Ich war voller Todesangst: Ich glaubte, ich würde Prügel bekommen, weil ich das Fohlen in der Mitte hatte entzweibrechen lassen. Zu meiner Freude hörte ich aber, daß zu Hause die Taufe meines Vaters gefeiert werden sollte; darum schickte mich meine Mutter aufs Gut Nurme nach Bier. Flink wie ich war, lief ich sofort zum Boot und ruderte zum Nurme-Gut. Vor der Rückfahrt verlud ich alle Fässer auf die eine Seite des Bootes, setzte mich selbst auch dazu und machte mich dann auf den Weg nach Hause. Ich war gerade in der Mitte des Flusses, als das Boot umkippte und ich mit allen Fässern – pardauz! – in den Fluß fiel. Mit großer Mühe schwamm ich ans Ufer und stürmte zum NurmeWehr, den Bierfässern entgegen – aber sie waren ausgelaufen und leer! 771
In meiner Verzweiflung riß ich die Mütze vom Kopf und begann die Fässer mit Wasser zu füllen. Dann kostete ich von diesem Naß, doch schade – es hatte kaum noch Biergeschmack. Ich ließ die Fässer, wo sie waren. Sodann lief ich aufs Feld-, um zu sehen, was aus dem Fohlen geworden war; nach Hause zu gehen, hatte ich Angst. Das Fohlen war vom Feld verschwunden; an der Stelle wuchs jedoch eine große Eiche, deren Krone bis zum Himmel reichte. Ich kletterte schnell an der Eiche hinauf, bis in den Himmel. Petrus und Paulus spielten gerade vor dem Tor Karten. Ich stand eine Weile dort, ohne daß sie mich in ihrem Spieleifer bemerkten. Mir wurde es aber langweilig, ihrem Spiel zuzuschauen, und ich beschloß, wieder nach Hause zu gehen. Zu meinem großen Schrecken sah ich aber, daß die Eiche nicht mehr da war. Was sollte ich tun, wie nach unten gelangen? Da fand ich ein Stückchen Schnur; ich band das eine Ende an die Klinke der Himmelstür, das andere Ende warf ich hinunter auf die Erde und begann mich langsam hinunterzulassen. Auf dem halben Wege endete die Schnur. Da nahm ich von oben ein Stück ab und setzte es unten an. So gelangte ich bis zur Erde. Es fehlte noch ein Klafter, ich war jedoch des ständigen Ansetzens überdrüssig geworden – ich sprang. Bis zur Brust fiel ich in die Erde! Da lief ich schnell nach Hause, holte einen Spaten, grub mich aus der Erde heraus und machte 772
mich dann, den Spaten auf der Schulter, auf den Weg nach Hause. Die Mutter kam mir bei der Pforte entgegen, ein Rutenbund in der Hand, und da hat sie mir das Fell so gegerbt, daß ich bis zum heutigen Tage die Schläge nicht vergessen habe. Um die Wahrheit zu sagen, nachher sind mir keine solchen Mißgeschicke mehr passiert – so haben die Ruten gewirkt!
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138 Was sollte ich denn sagen? Einmal im Herbst, als die Tage noch lang waren, kehrte ich von der Weide heim, um zu sehen, was der Bruder zu Hause macht. Da sehe ich – der Bruder siebt Erbsen, ein riesengroßer Haufen Erbsen liegt unter dem Dachsparren. „Hoho, zum Teufel, wieviel Erbsen du hast!“ rufe ich ganz erstaunt. Oh, du liebe Zeit! Der Bruder nahm den Besen und schlug mir damit auf den Hintern, daß ich genug hatte, und sprach dabei: „Du Bösewicht, kommst du, um die Gottesgabe mit bösem Wort zu verunglimpfen?“ Ich ging heulend zur Mutter, um mich zu beklagen. Die Mutter sagte: „Dummes Kind, warum hast du auch so gesagt? Du hättest sagen müssen: ‚Gott vermehre es!’“ Im Herbst ging ich in die Schule. Als ich am Sonnabend nach Hause ging, sah ich: Am Wegrand brannte ein Gehöft. Ich sagte fröhlich: „Gott vermehre es!“ Oh, du liebe Zeit! Ich wurde ergriffen, verprügelt und von Kopf bis Fuß mit Wasser begossen! Ich war naß wie eine Katze. Zu Hause rügte mich wieder die Mutter: „Dumm bist du! Wenn du so etwas siehst, mußt du Wasser nehmen und darauf gießen!“ 774
Am Sonntag konnte ich nicht ausgehen, weil die Mutter meine Kleider trocknete. Am Montag ging ich wieder in die Schule. Am Sonnabend auf dem Heimweg kamen mir – weißt du, das war bei der Brücke – zwei Herren entgegen. Ich laufe schnell unter die Brücke, nehme eine Mütze voll Wasser und gieße es auf die Herren. Oi, oi! Ich wurde am Rand des Grabens hingeworfen und mit einem Stock tüchtig verprügelt. Ich lief nach Hause und beklagte mich bei der Mutter. Die Mutter sagte: „Ach, hättest du doch die Mütze abgenommen und die Herren gegrüßt!“ Am Montag ging ich in die Schule. Auf dem Wege kam mir lärmend eine Hundehochzeit entgegen. Ich blieb stehen, zog die Mütze und grüßte. Doch denkste – mir wurde der Brotbeutel entrissen, und angefallen wurde ich auch noch! Jetzt kam ich nach Hause, und als die Mutter wieder zu schelten anfing, sagte ich: „Nach deinen Lehren werde ich nichts mehr tun; du lehrst mich immer so, daß ich Prügel bekomme!“ Und so machte ich es auch. Ich tat alles nach eigenem Willen und wurde kein einziges Mal mehr verprügelt.
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139 Unbegründete Todesangst Einst ging ein Bäuerlein zur Winterszeit durch den Wald nach Hause. Es war schon spät, der Weg war verweht – das Bäuerlein verirrte sich. Mit großer Mühe kletterte es auf eine junge Fichte, um sich die Umgebung genauer anzusehen. Wütend schaukelte der Wind den Baum, und das Bäuerlein konnte jeden Augenblick mit dem geborstenen Baum herunterfallen. „Guten Abend!“ rief plötzlich ein ärmlich gekleideter Mann, der, den Spuren des Bäuerleins folgend, zum Baum gekommen war. „Was schaust du dir da vom Baum an?“ „Sei lieb, Nachbar, weise mir den Weg aus dem Walde – ich habe mich verirrt.“ „Ich kann ihn dir nicht weisen, ich irre selbst im Walde umher“, sagte der andere mit einem schlauen Lächeln. „Dennoch, paß auf“, hob der Mann unter dem Baum erneut an, „du wirst heute von dem Baum, auf dem du sitzt, herunterfallen!“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, fiel auch das Bäuerlein mitsamt der Baumkrone, die im Wind gebrochen war, hinunter in den Schnee. Stöhnend und ächzend erhob sich das Männlein aus dem Schnee und schaute staunend auf den in Lumpen gekleideten Fremden. 776
„Sag mal, wer bist du, und woher konntest du wissen, daß ich herunterfalle?“ „Ich bin ein He-e-xer“, dehnte der Fremde in Lumpen das Wort. „Ein Hexer!“ flüsterten die Lippen des Bauern. „Sag denn, wann werde ich sterben.“ „Dann, wenn das ‚Graue Männchen’ dreimal zwischen zwei fleischigen Hügeln gerufen hat“, sagte der Fremde und ging davon. Das Bäuerlein machte sich jetzt ebenfalls – vorsichtig, damit ihm das besagte Unglück nicht zustoße – auf den Weg nach Hause. Von der Spitze der Fichte aus war es ihm immerhin gelungen, den eigenen Hof zu erblicken. Zuerst verlief alles glücklich, doch am Haus, beim Überspringen des Zaunes, geschah das Unglück: Das „Graue Männchen“ rief zum ersten Mal. Voller Todesangst ging der Mann in die Stube und legte sich ins Bett, ohne sich irgendeine Arbeit vorzunehmen. Die Frau begann bald mit dem Mann zu schimpfen, warum er denn nicht mehr arbeite, sondern Tage hindurch wie ein Fürst im Bett liege. Der Mann sagte kein Wort. Eines Tages, als ihnen das Brot ausgegangen war, wurde die Frau auf ihren Mann vollends wütend. Sie holte den Schürhaken aus der Ecke hervor und versprach, den Mann damit durchzuwalken, wenn er nicht sofort aufstehen und zur Mühle fahren würde. Nach langem Streit gab der Mann nach – er stand auf und ging zum Speicher, um die Getrei777
desäcke auf den Schlitten zu laden und zur Mühle zu fahren. Doch, o Unglück! Als er den letzten recht schweren Sack auf den Schlitten hob, rief das „Graue Männchen“ zum zweiten Mal. Was sollte er tun? Der Mann war verzweifelt. Doch zur Mühle mußte er. Vorsichtig machte er sich auf die Fahrt zur Mühle. In der Mühle ließ er die Säcke vom Müller herunterheben und verkroch sich, bis das Mehl gemahlen war. Dann war das Mehl fertig. Der Mann bat den Müller wieder, die Säcke auf den Schlitten zu heben. Der letzte Sack war aber dem Müller zu schwer, und so mußte ihm der Bauer helfen, obwohl es ihm unangenehm war. Schließlich war auch der letzte Sack auf dem Schlitten. Doch der Bauer wollte ihn noch etwas zurechtrücken, zog am Sackende – und plötzlich rief das „Graue Männchen“ zum dritten Mal. Und der Mann fiel sofort auf die Säcke hin! Der Müller dachte, daß sich der Mann absichtlich auf die Säcke geworfen habe, und ging in die Mühle zurück. Als der Müller nach einiger Zeit wieder herauskam, sah er, daß der Mann immer noch auf den Säcken lag und mehrere Schweine um den Schlitten herum die Säcke aufrissen. „He, Bauer, was schläfst du da auf den Säcken! Siehst du denn nicht, was die Schweine machen?“ Der Bauer sprach kein Wort. Der Müller nahm die Rute und hieb dem Mann einige Male über den Hintern. 778
Nun sprang der Bauer von den Säcken herunter, zog die Mütze vom Kopf und dankte Gott und dem Müller, die ihn auf so wunderbare Weise vom Tode erweckt hatten – denn er hielt sich schon für tot! Danach nahm er die Zügel in die Hand und fuhr, Gott dankend, nach Hause, wo er sich wieder fleißig wie vorher an die Arbeit machte. Und vielleicht lebt und arbeitet er auch heute noch, wenn ihn der Sand-Annus, der Gevatter Tod, nicht geholt hat.
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ANHANG Nachwort 1. Geschichtlicher Rahmen
Die Esten bilden die einheimische Bevölkerung der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die an der Ostseeküste das Territorium zwischen dem Finnischen und dem Rigaischen Meerbusen sowie zwischen dem Peipus- und dem Pihkwasee einnimmt. Archäologischen Angaben zufolge siedelten auf diesem Gebiet die Vorfahren der finnischugrischen Stämme der Ostseefinnen schon im 3. Jahrtausend v. u. Z. Diese frühen Siedler waren Jäger und Fischer und lebten an Gewässern. Im 2. Jahrtausend breiteten sich auf demselben Territorium vom Süden her Vorfahren der baltischen Stämme aus, die Haustiere zu halten verstanden und auch den primitiven Getreideanbau kannten. Später verschmolzen die beiden ethnischen Gruppen; auf estnischem Gebiet blieb die ostseefinnische Sprache vorherrschend, die jedoch von der baltischen Ursprache stark beeinflußt wurde. Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung vollzog sich im Leben der estnischen Stämme eine bedeutsame Wandlung: zu Hauptzweigen ihres Lebensunterhalts wurden der Getreideanbau und die Tierzucht. Die Besiedlung breitete sich auf neue Gebiete aus. Handelswege, die durch Estland führten, begünstigten die Entwicklung des Handels sowie die Berührung mit anderen Stämmen und Völkern. Im 11. Jahrhundert war das südöstliche Estland einige Zeit mit der Kiewer Rus verbunden. Mit der Entfaltung des Feudalismus fiel die Sippenordnung auseinander, an ihre Stelle traten territoriale Gemeinden. Im 12. Jahrhundert begann die Konsolidierung der estnischen Stämme zum estnischen Volk; die Stammeshäuptlinge entwickelten sich zu Feudalherren. Das Land wurde in territoriale Einheiten auf-
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geteilt – in Dorfgemeinden (kihelkond) und Landkreise, denen gewählte Älteste vorstanden. Die sozialökonomische Entwicklung sowie die Entwicklung Estlands zum Nationalstaat brach im 13. Jahrhundert mit der katholischen Aggression der deutschen, dänischen und schwedischen Feudalherren ab. Die militante Verbreitung des Christenglaubens führte zur Eroberung der baltischen Länder und zur Unterjochung der einheimischen Stämme. Ein Zentrum der deutschen Feudaleroberer bildete die Stadt Riga, in der sich die Kriegsmacht des Schwertbrüderordens befand. Nach der Unterwerfung der Liven und Letgalen zu Beginn des 13. Jahrhunderts wandte sich die Aggression gegen die estnischen Stämme. Unterstützt durch slawische Nachbarstaaten, leisteten die Esten zwanzig Jahre erbitterten Widerstand (1206 – 1227), doch mit Hilfe der Dänen, die 1219 – 1220 einen großen Teil Nord-Estlands besetzten, gelang es schließlich, sie zu unterwerfen. Nach der Eroberung wurde das estnische Gebiet unter mehreren Staaten aufgeteilt (unter Dänemark, dem Schwertbrüderorden, den Bistümern, später unter Schweden, Polen), und die Zersplitterung blieb über Jahrhunderte bestehen. 1625 – 1710 war ganz Estland eine Provinz des schwedischen Königreichs. Die langfristige feudale Zersplitterung verlangsamte die kulturelle Entwicklung des estnischen Volkes, denn es fehlte der normale Verkehr zwischen den einzelnen Teilen des Landes. Als Vasallen, Geistliche, Mönche, Bauarbeiter, Krieger und Beamte kamen Angehörige fremder Völker ins Land (Deutsche, Dänen, Schweden u. a.), unter denen die Deutschen bald eine dominierende Rolle spielten. Die Lage der estnischen Bauern verschlechterte sich ständig: Schon im 13. Jahrhundert wurde auf den Gütern der fremden Feudalherren die Fron eingeführt, gegen Ende des 14. Jahrhunderts die Leibeigenschaft. Bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich die völlige Versklavung der Bauern durchgesetzt, die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts dauerte. Nach dem Nordischen Krieg (1700 – 1721) wurde ganz Estland dem russischen Zarenreich angeschlossen. Damit
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folgte eine zweihundertjährige Friedensperiode; doch blieben die Bauern auch weiterhin unterdrückt. Noch im 19. Jahrhundert gab es in Estland Bauernunruhen und örtliche „Kriege“, die durch die verstärkte Ausbeutung unter den Bedingungen des Kapitalismus hervorgerufen wurden. Während der zweihundertjährigen Friedensperiode konnte sich Estland allmählich von Epidemien und Hungerjahren sowie vor allem von den Kriegsverwüstungen erholen. Schulbildung und Schreibkenntnis begannen sich auszubreiten, es bildete sich eine einheitliche Schriftsprache heraus. Im Jahre 1802 wurde die Universität in Tartu gegründet. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich auch in Estland kapitalistische Wirtschaftsverhältnisse, und es formierte sich eine bürgerliche estnische Nation. Die Entwicklung einer nationalen Kultur und Literatur setzte ein, die Beziehungen zu den anderen Völkern Rußlands wurden enger. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Rußland (1917) schuf die Voraussetzungen für die Bildung eines estnischen Volksstaates. Doch fiel Estland bald darauf der deutschen Okkupation zum Opfer. In den sich anschließenden Klassenkämpfen wurde in Ost-Estland eine Sowjetrepublik – die Kommune der estnischen Werktätigen (19181919) – gegründet. Von 1918 bis 1940 existierte die bürgerliche Estnische Republik. Die Universität Tartu wurde eine estnische Universität (1919). Damit war die Voraussetzung für die Entwicklung der nationalen Wissenschaftsgebiete gegeben. Im Ergebnis der sozialistischen Revolution in Estland entstand 1940 eine Sozialistische Sowjetrepublik, welche zur Union der Sowjetrepubliken gehört. Während des Großen Vaterländischen Krieges (1941 – 1945) hat die Estnische SSR stark unter den Kriegsgeschehnissen und der faschistischen Okkupation gelitten. Doch wurden dank der brüderlichen Hilfe der anderen Unionsrepubliken die Wirtschaft und das kulturelle Leben der Republik in den Nachkriegsjahren rasch wiederhergestellt. Mit der Liquidierung der Ausbeuterklasse entwickelten sich die Esten zu einem sozialistischen
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Volk. In den Jahren der Sowjetmacht entfaltete sich die Estnische SSR zu einem hochindustrialisierten Land.
2. Estnische Volksdichtungssammlungen und Märchenausgaben
Zahlreiche handschriftliche Sammlungen der estnischen Volksdichtung entstanden im 19. und 20. Jahrhundert, dagegen gibt es nur verhältnismäßig wenige Sammlungen und Veröffentlichungen aus früherer Zeit. In alten Chroniken (vom 13. Jahrhundert an) sind einzelne Erwähnungen von Sagen bzw. deren Wiedergabe zu finden. Sprichwörter und Redensarten (auch Rätsel) wurden als Sprachbeispiele in den ersten estnischen Grammatiken im 17. und 18. Jahrhundert veröffentlicht. Das erste im Druck erschienene estnische Volkslied stammt aus Chr. Kelchs Chronik Liefländische Historia, Revall-Rudolphstadt 1695. Über das Märchen fehlen aus den frühen Jahrhunderten direkte Angaben, aber es ist durchaus anzunehmen, daß Märchen im Volksmund verbreitet waren. Einen wesentlichen Anstoß zur Bewertung und zum Sammeln estnischer Volksdichtung gab das Erscheinen von sieben estnischen Volksliedern und neun Sprichwörtern in J. G. Herders bekannter Anthologie Volkslieder (1778 – 1779), die in der 2. Auflage unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern (1807) populär wurde. Herders Anthologie weckte auch die Aufmerksamkeit des jungen Karl Marx, der sich daraus neben anderen Volksliedern zwei estnische abgeschrieben hatte. J. G. Herder war in jungen Jahren in Riga tätig (1764 – 1769) und hatte in der Umgebung Rigas die lokalen Volkslieder und Sitten kennengelernt. Es wird angenommen, daß er dort persönlich lettische und estnische Volkslieder hat hören können und daß dieser Umstand von entscheidender Bedeutung sogar auf die Herausbildung seiner demokratischen Volksliederkonzeption gewesen ist (siehe W. Steinitz, Lied und Märchen als Stimme des Volkes, in: Wissenschaftliche Annalen zur Verbreitung neuer Forschungsergebnisse, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu
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Berlin, Heft 6, Juni 1955). Zu den veröffentlichten Volksliedern verhielt sich Herder anerkennend und betonte in seinen Bemerkungen die Wahrhaftigkeit und Naturnähe der Lieder sowie die Notwendigkeit ihrer Sammlung. Seine Anregungen und Ratschläge riefen eine weitgehende Reaktion hervor. Auch einige in Estland tätige, dem Volk freundschaftlich gesinnte deutsche Literaten sowie ortsansässige baltendeutsche Aufklärer begannen estnische Volksdichtung aufzuschreiben; später folgten ihnen Intellektuelle der estnischen Nation. Herders Anregung weckte das Interesse für die estnische Volksdichtung auch bei Chr. H. J. Schlegel, der in Weimar studiert hatte und 1780 als Hauslehrer nach Estland gekommen war. Später bereiste Schlegel mehrmals das Land, verfolgte aufmerksam das Leben der einheimischen Landbevölkerung und sammelte reichhaltiges folkloristisches und ethnographisches Material, das er danach in einzelnen Artikeln und in dem zehnbändigen Werk Reisen in mehrere russische Gouvernements I – X, Meiningen 1819 – 1834, veröffentlichte (es enthält rund 150 estnische Volkslieder, Sprichwörter, Rätsel, Beschreibungen von Verhältnissen und Sitten sowie einige Märchen). Auch in der volksaufklärerischen Tätigkeit des Pärnuschen Pastors H. J. Rosenplänter (1782-1846) ist ein Widerhall der Anregungen Herders zu spüren. Rosenplänter gründete 1814 in Pärnu aus eigenen Mitteln eine Schule für estnische Lehrer, unterrichtete dort selbst, veröffentlichte Lehrbücher und begann zur Entwicklung der estnischen Schriftsprache und zur Förderung der Aneignung dieser Sprache die wissenschaftliche Zeitschrift Beiträge zur genaueren Kenntnis der estnischen Sprache herauszugeben, die zwanzig Jahre lang erschien (Pärnu 1813 – 1832); seine Mitarbeiter waren hauptsächlich Pastoren. Die Zeitschrift enthielt Artikel, Abhandlungen, Rezensionen u. ä. über die estnische Sprache und Literatur, auch Texte der Volksdichtung (Lieder, Sprichwörter, Rätsel u. ä.). Der Volksdichtung widmete Rosenplänter besondere Aufmerksamkeit und zog zu ihrer Sammlung auch seine
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Schüler heran. So entstand die erste umfangreiche Sammlung estnischer Volkserzählungen – etwa 100 Texte. Davon veröffentlichte Rosenplänter in seiner Zeitschrift 24 Märchen (Beiträge VI, VIII, XI, 1816-1818); diese waren überhaupt die ersten in estnischer Sprache veröffentlichten estnischen Märchen. Die übrigen Texte von Volkserzählungen blieben als Manuskripte erhalten, denn sie konnten wegen der Zensur nicht veröffentlicht werden. Einige der estnischen Märchen, die in den Beiträgen erschienen, wurden bald auch im Ausland bekannt: Jakob Grimm übersetzte sechs Tiermärchen ins Deutsche und veröffentlichte sie in der Abhandlung Reinhart Fuchs (1834). Die in den Beiträgen publizierten estnischen Märchen wurden auch ins Schwedische und Finnische übersetzt, außerdem wurden sie wiederholt in verschiedenen estnischen Ausgaben veröffentlicht. In der Zeitschrift Beiträge erschien das Werk des finnischen Folkloristen Chr. Ganander (1741-1790): Finnische Mythologie (Beiträge XIV, 1822). Dieses Werk, das der estnische Student K. J. Peterson (1801 – 1822) aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzt hatte, war von großer Bedeutung für die Entwicklung der estnischen Folkloristik. Nach dem Vorbild der finnischen Mythologie versuchte der Übersetzer (irrtümlich) auch die estnische Mythologie wiederherzustellen. Es entstand die sog. Pseudomythologie (so wurde z. B. nach dem Vorbild der finnischen Gottheit Väinämöinen die estnische Gottheit Vanemuine geschaffen), deren Einfluß lange erhalten blieb. Im 19. Jahrhundert vollzog sich in der Gesellschaft der Übergang zur kapitalistischen Formation. Die Volkskultur entwickelte sich in dieser Periode unter den Bedingungen des Widerstandes gegen die Leibeigenschaft, deren Hauptvertreter die baltendeutschen Gutsbesitzer und die Geistlichen waren. Für die Belange der Landbevölkerung kämpften die ersten estnischen Intellektuellen, die Aufklärer und Demokraten Friedrich Robert Faehlmann (1798 – 1850) sowie Friedrich Reinhold Kreutzwald (1803-1882). In ihren Werken nutzten sie die Poesie des Volkes, vor allem Sagen, Märchen und Volkslieder, als eine Waffe des antifeudalen Kampfes.
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In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Estland Organisationen wissenschaftlichen Charakters, die in ihr Arbeitsprogramm das Sammeln von Sprachmaterial und Volksdichtung sowie deren Erforschung und Veröffentlichung aufnahmen. Besonders erfolgreich arbeitete die Gelehrte Estnische Gesellschaft (1838 – 1950) an der Universität Tartu, welche eigene Periodika veröffentlichte: Sitzungsberichte, Verhandlungen, Schriften u. a. Ein großer Teil des gesammelten Materials ist in Manuskriptform verblieben. Als eine Edition dieser Gesellschaft erschien später auch das estnische Volksepos Kalevipoeg. Einer der Gründer und ein langjähriger Vorsitzender der Gelehrten Estnischen Gesellschaft war Fr. R. Faehlmann, Arzt, Universitätsdozent und Schriftsteller. Seine Tätigkeit war von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung fortschrittlicher gesellschaftlicher Ideen sowie der estnischen nationalen Literatur. In diesem Zusammenhang sind vor allem seine Sagen zu erwähnen, die in deutscher Sprache erschienen und eine weite Verbreitung gefunden haben. Die Sagen hatte Faehlmann noch als Kind zu Hause in Järvamaa gehört und als Student gesammelt. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den Sagen vom riesigen Recken Kalevipoeg. Diese verknüpfte er später zu einer Rahmenerzählung und trug sie 1839 als eine Rede in der Gelehrten Estnischen Gesellschaft vor; der Rede stellte er eine Einführung voran, worin er sich gegen die Unterdrücker des Volkes richtete. Die Rahmenerzählung bildete die Vorstufe für das spätere Epos, dessen Verfasser Fr. R. Kreutzwald wurde. In Faehlmanns Schaffen als Schriftsteller nehmen acht mythische Sagen einen bedeutenden Platz ein. Es handelt sich entweder um Entstehungs- und Erklärungssagen des Volkes in literarischer Bearbeitung (Das Entstehen des Embachs, Das Kochen der Sprachen), um Sagen, die aus der Weiterentwicklung einiger volkstümlicher Motive bestehen (Koit und Ämmarik [Morgenröte und Abendröte] u. a.) oder um Sagen, die nach pseudomythologischen Themen frei geschaffen wurden (Wannemmunnes Sang u. a.). Die Sagen sind in der Serie Verhandlungen der Gelehrten Estnischen
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Gesellschaft veröffentlicht ( = Verh. GEG): Bd. I H. 1 Dorpat 1840, S. 38-48; Bd. I H. 3 (1844), S. 84-87; Bd. II H. 4 (1852), S. 72-76. Sie wurden in jener Zeit für Volksdichtung gehalten, für den Ausdruck der schöpferischen Fähigkeiten des Volkes. Als Beispiele der estnischen Volksdichtung wurden sie in viele Sprachen übersetzt. In Wirklichkeit gehören Faehlmanns Sagen in das Gebiet der Literatur; sie waren jedoch von großer Bedeutung für die Verbreitung der Kenntnisse über das estnische Volk und förderten das Sammeln und Erforschen der estnischen Volksüberlieferung. Noch bedeutendere Ergebnisse erreichte der estnische Aufklärer und Demokrat Fr. R. Kreutzwald beim Sammeln der estnischen Volksdichtung, bei ihrer Veröffentlichung und bei ihrer Gestaltung im eigenen literarischen Schaffen. Von Beruf ebenfalls Arzt, war er gleichzeitig ein vielseitiger produktiver Schriftsteller und Vertreter des öffentlichen Lebens. Fr. R. Faehlmann und Fr. R. Kreutzwald können sowohl als die Schöpfer der estnischen nationalen Literatur als auch der estnischen Folkloristik gelten. Kreutzwald kam schon in seiner frühen Jugend mit der Volksdichtung, vor allem mit Märchen und Sagen, in Berührung. Er hatte sie als Kind in der Spinnstube des Gutes gehört, wo sie den Spinnerinnen erzählt wurden. Als Student beobachtete Kreutzwald in den Ferien aufmerksam das Leben der Landbevölkerung und sammelte Volksüberlieferungen. In seinen Werken gestaltete er das Auftreten der Erzähler und Sänger aus dem Volk. Anfangs veröffentlichte er nur kurze Sagen in deutscher Sprache, 1850 das erste Märchen Der dankbare Fürstensohn (Verh. GEG II: 3); das Märchen wurde nach dem Gedächtnis aufgeschrieben, es ist ungewöhnlich lang und enthält individuelle Formulierungen. Bei der Veröffentlichung von Märchen ging Kreutzwald von dem Grundsatz aus: Nicht einfach Volkstexte veröffentlichen, sondern literarisch bearbeitete Werke, um so eine Grundlage für die estnische nationale Literatur zu schaffen. Nachdem Kreutzwald ein Märchen in estnischer Sprache im Rahmen einer Volksausgabe (Ärjapốhlvlase riid [Der Streit der Zwerge] in Maarahva Kasuline Kalender 1855,
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1854) sowie zwei weitere Märchen in deutscher Sprache veröffentlicht hatte (1858), entstand in der Herausgabe der Märchen eine größere Pause. Nach dem Tode Faehlmanns (1850) fiel Kreutzwald die Aufgabe zu, das Epos endgültig zusammenzustellen. Die wichtigste Thematik dazu lieferten die Sagen über den Heldenriesen Kalevipoeg, Sagen, die schon Faehlmann zusammengefügt hatte. Kreutzwald benutzte für das Werk außer den Sagen auch Volkslieder und Märchen und schuf ein Volksepos in Versform. Infolge verschiedener Behinderungen durch den Zensor konnte es zunächst nur in Form einer zweisprachigen wissenschaftlichen Ausgabe erscheinen (der Text wurde parallel in estnischer und deutscher Sprache veröffentlicht), und auch das nur in Heftform im Verlauf von mehreren Jahren: Kalewipoeg, eine Estnische Sage, zusammengestellt, Vorwort und Anmerkungen von F. R. Kreutzwald, verdeutscht von C. Reinthal und Dr. Bertram, in: Verh. GEG Bd. IV H. 1 (1857), H. 2 (1858), H. 3-4 (1859), Bd. V H. 1 (1860), H. 2 und 3 (1861). Eine estnische Volksausgabe besorgte der Autor selbst anonym in Finnland: Kalewi poeg, Üks ennemuistne Eesti jutt (Eine estnische Sage), Kuopio 1862. Das Epos Kalevipoeg war das erste große Werk der estnischen nationalen Literatur. Infolge seiner volkstümlichen Thematik und seines gegen die Unterdrückung des Volkes gerichteten Ideengehalts hatte das Epos eine bahnbrechende Bedeutung für die Entwicklung der estnischen Literatur und einen weitreichenden gesellschaftlichen und allgemein kulturellen Einfluß. Gleichzeitig vergrößerte das Epos das Interesse des Volkes für das eigene überlieferte Lied- und Erzählgut und trug zur Aktivierung der Sammlung und Aufbewahrung dieser Dichtung bei. Die Motive des Epos haben für viele Schöpfungen der bildenden Kunst und für Musikwerke die Themen geliefert. Kalevipoeg wurde das wichtigste Werk, über das andere Völker die estnische Literatur kennenlernen konnten (Versübersetzungen sind in deutscher, russischer, finnischer, ungarischer, lettischer, tschechischer, litauischer und schwedischer Sprache erschienen).
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Nachdem das Epos erschienen war, ging Kreutzwald daran, Sammlungen estnischer Märchen vorzubereiten. Aber auch deren Erscheinen wurde von der Zensur behindert. Schließlich gelang die Veröffentlichung eines ersten kleinen estnischsprachigen Werkes, Eesti-rahva Ennemuistsed jutud ja Vanad laulud, Esimene Jägu (Märchen und Alte Lieder des estnischen Volkes, Erste Lieferung), Tallinn 1860. Einige Jahre später erschienen mit dem gleichen Titel zwei weitere kleine Ausgaben in Tartu (1864 und 1865). Die drei Ausgaben brachten zusammen 11 Märchen, also nur einen Teil der großen Manuskripte. Später bot sich eine Gelegenheit, das ganze Manuskript in Finnland zu veröffentlichen; die Publikation wurde möglich, weil die finnischen Studenten ein estnisches Lesebuch brauchten. Das Buch erschien bei der Finnischen Literarischen Gesellschaft unter dem Titel (ohne den Namen des Autors) Eesti-rahva Ennemuistsed jutud (Estnische Volksmärchen), Helsinki 1866, und umfaßte 43 Märchen und 18 Sagen. Fr. R. Kreutzwalds Werk stellt die estnischen Märchen nicht in ihrer volkstümlichen Gestalt, sondern in literarischer Form vor; das märchenhafte Geschehen wird in einer romantischen Ausmalung dargeboten. Der Autor hat sich bemüht, den Märchen eine echte Darstellung vom Leben des Volkes zu geben, das örtliche Kolorit sowie die Volksideologie zu vermitteln. Die meisten Märchen wahren ihren volkstümlichen Charakter, doch der Autor ergänzt und erweitert sie, in einigen Fällen schiebt er sogar literarische Motive ein. Sein Ziel war die Schaffung eines literarischen Werkes, das den Inhalts- und Farbenreichtum des estnischen Volksschaffens zeigt. Kreutzwalds Märchensammlung ist denn auch ein Beispiel hervorragender estnischer volkstümlicher Prosa, und es hat seinen Wert bis auf den heutigen Tag behalten. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und ist international bekannt. In Estland hatten einige Märchen Kreutzwalds eine Rückwirkung auf die volkstümlichen Traditionen, und verschiedene Motive wurden auch für die Schaffung neuer künstlerischer Werke in der Literatur, in der bildenden Kunst und in der Theaterkunst verwendet. Auf der
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Grundlage des Märchens Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen hat verfaßte der lettische Dichter Jānis Rainis ein symbolisches Drama – Zelta zirgs (Das goldene Reitpferd) (1909). Voraussetzungen für ein weitreichendes Bekanntwerden der Märchen Kreutzwalds bei anderen Völkern schuf deren Erscheinen in deutscher Übersetzung. Einige Übersetzungen waren bereits früher gedruckt worden, doch eine vollständige Übersetzung in zwei Bänden legte erst Ferdinand Löwe (1809 – 1889) vor: Estnische Märchen, Aufgezeichnet von Friedrich Kreutzwald, Aus dem Estnischen übersetzt von F. Löwe, Nebst einem Vorwort von Anton Schiefner und Anmerkungen von Reinhold Köhler und Anton Schiefner, Halle 1869 (Zweiter Band in Dorpat 1881). Einen Teil der Märchen Kreutzwalds (zusammen mit einigen anderen estnischen Märchen) veröffentlichte in deutscher Sprache auch Harry Jannsen (1851 – 1913) in der Sammlung Märchen und Sagen des estnischen Volkes, RigaLeipzig, 1. Bd. 1881, 2. Bd. 1888. Über die erwähnte deutsche Übersetzung erschienen Kreutzwalds Märchen auch in englischer Sprache: W. F. Kirby, The Hero of Esthonia and other Studies in the Romantic Literature of that Country I – II, London 1895 (Der Band enthält auch eine Wiedergabe des Epos Kalevipoeg; ein Teil der Märchen liegt vollständig übersetzt vor, ein anderer nur referiert). Zehn der Märchen Kreutzwalds brachte die Ausgabe von Eugenie Mutt: Fairy Tales from Baltic Shores, Folklore Stories from Estonia, Philadelphia 1930. Eine umfassende Auswahl aus dem Werk Kreutzwalds (29 Märchen) wurde in russischer Sprache gedruckt: Starinnye estonskie narodnye skazki (Alte estnische Volksmärchen), Sobral i obrabotal F. Kreitswald, Tallinn 1953 und 1969 (die Ausgabe enthält 30 Märchen und ein längeres Nachwort [A. Annist und H. Niit] sowie Anmerkungen [A. Annist]); auf der Grundlage der russischen Übersetzung von 1953 erschien dieselbe Sammlung auch in litauischer Sprache (Senovines estu liaudies pasakos, Surinko ir paruoše F. Kreicvaldas, Vilnius 1957) und in lettischer Sprache (Senas igaunu tautas
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pasakas, Savācis un apstrādājis Fr. R. Kreicvalds, Riga 1962). Fr. R. Kreutzwald war eine angesehene Persönlichkeit, ein bekannter Schriftsteller und Vertreter der Öffentlichkeit, und sein Vorbild wirkte daher noch lange Zeit nach. Viele Märchenherausgeber nach ihm verfuhren ebenso wie er: die Märchen wurden nicht in ihrer volkstümlichen Gestalt, sondern literarisch überarbeitet veröffentlicht. In bestimmter Hinsicht gab es sogar einen Rückschritt: Fr. R. Kreutzwald unterschied zwischen Märchen und den lokalen Sagen, die späteren Herausgeber jedoch veröffentlichten unter der Bezeichnung Märchen zugleich auch Sagen. Nach dem Erscheinen der Märchensammlung von Kreutzwald veröffentlichten andere Herausgeber Märchen in kleinen einfachen Volksausgaben; zuerst waren es Übersetzungen, vor allem jene aus deutschen Quellen, später wurden in diesen Volksausgaben auch die estnischen Märchen veröffentlicht, die die Herausgeber selbst gesammelt hatten. Im Nachfolgenden nennen wir die wichtigsten Ausgaben estnischer Märchen nach dem Erscheinen von Kreutzwalds Sammlung. Eine zehn Hefte umfassende Serie von Volkserzählungen unter dem Namen Eesti jututooja (Estnischer Geschichtenbote) wurde von Mart Schoberg in den Jahren 1874 – 1881 veröffentlicht. Ihre ersten drei Editionen enthielten Übersetzungen, doch von der vierten an dominierten die estnischen Märchen. Den Inhalt der Hefte 4 – 10 bilden etwa 50 Volkserzählungen (meist Märchen). Die Volkstümlichkeit einiger kurzer Texte erscheint glaubwürdig, doch die längeren sind vom Herausgeber ergänzt und in die Länge gezogen worden. M. Schoberg war von Beruf Pockenschutzimpfer, bewegte sich viel unter dem Volk (im Gebiet Pärnu) und erhielt so die Möglichkeit, Volkserzählungen zu hören und aufzuschreiben. M. Tốnisson, Lehrer und Herausgeber von Kalendern, veröffentlichte die Sammlung Ennemuistsed luuletused (Dichtungen der Vorzeit), Viljandi 1880, welche Märchen, Volkslieder, Volksmedizin u. a. m. enthielt. – Von P. Käär
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erschienen zwei kleine Büchlein: Eesti rahva vanad jutud (Alte Erzählungen des estnischen Volkes), Rakvere 1881, und Eesti vanad jutud I (Estnische alte Erzählungen I), Tallinn 1882. Das erste enthält 13 Märchen- und Sagentitel, das zweite 15 Sagen und Schwänke. Mit der Verschärfung des Klassenkampfes wurde in den volkstümlichen Erzählungen die satirische Thematik – gegen die Gutsherren und Geistlichen gerichtet – besonders populär. Viel Satire enthalten die Märchen vom dummen Teufel, die jetzt als selbständige Sammlungen herausgegeben wurden. Von M. Jaakson erschien Kaval Hans ja Vanapagan (Der Schlaue Hans und der Vanapagan), Tallinn 1881. – Anonym erschien eine zweite Sammlung gleichen Inhalts: Jutustamised Kavalast Hansust ja Vanapaganast (Erzählungen vom Schlauen Hans und Vanapagan), Tallinn 1894 – Schwänke und Märchen bot auch eine kleine, von dem Lehrer H. Rinck herausgegebene Sammlung Muistsed pärlid (Perlen der Vorzeit), Tartu 1884. Der Schriftsteller und Journalist Jakob Kốrv (1849-1916) veröffentlichte die Sammlung Eestirahva muiste-jutud ja vanad kốned (Märchen und alte Erzählungen der Esten), Viljandi 1881 (13 Sagen und Märchen). Die Erzählungen wurden vom Herausgeber ausgedehnt und stilisiert. Seinem Inhalt wie seinem Stil nach gutes volkstümliches Erzählgut veröffentlichte der Schriftsteller Johan Kunder (1852 – 1888). Seine Eesti muinasjutud (Estnische Märchen), Viljandi 1885 (21.924) enthalten Märchen und Sagen (insgesamt 87 Titel). Der Herausgeber besaß pädagogische Bildung; er hat persönlich Volkserzählungen gesammelt, kannte die volkstümliche Erzählweise und bemühte sich, diese in der Ausgabe zu erhalten. Alle bisher erwähnten Ausgaben estnischer Märchen stützten sich auf eine begrenzte Thematik; die Sammler schrieben die Märchen entweder in ihren jeweiligen Wohnorten auf, oder aber sie entwickelten diese aus dem, was ihnen von den Erzählungen, die sie in ihrer Kindheit gehört hatten, im Gedächtnis geblieben war. Erst nach 1870 wurde damit begonnen, handschriftliche Sammlungen estnischer
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Volksdichtung anzulegen, wodurch sich weit bessere Möglichkeiten für die Zusammenstellung verschiedener Ausgaben ergaben. Der erste hervorragende Organisator der Sammlung estnischer Volksdichtung war Jakob Hurt (1839 – 1907), ein Folklorist, Sprachwissenschaftler und Vertreter des öffentlichen Lebens. Seiner Bildung nach Theologe, doch mit starker philologischer Neigung, war er zuerst als Gymnasiallehrer und später als Pastor tätig. Den Anstoß zum Sammeln der Volksdichtung gab ihm das Epos Kalevipoeg. Zuerst entwickelte er die Sammeltätigkeit mit Hilfe der Mitglieder der Gesellschaft der Estnischen Literaten, während er selbst Leiter dieses Vereins von 1872 bis 1880 war. Später, nach 1888, wirkte er auf diesem Gebiet selbständig, indem er Aufrufe und Referate in der Presse veröffentlichte. Im Laufe der Jahre gewann J. Hurt viele lokale Korrespondenten (insgesamt etwa 1 400). Der Umfang der dadurch erzielten Sammlung wuchs auf 122 000 Seiten an (260 000 Titel Volksdichtung, davon 17 000 Volkserzählungen). J. Hurt war besonders an Volksliedern interessiert und gab diese in fünf Bänden heraus; Märchen gehörten nicht zu seinem Arbeitsgebiet. – Die Veröffentlichung der Märchen nahm einer seiner Nachfolger in der Gesellschaft der Estnischen Literaten in Angriff: Jaan Jốgever (1860 – 1924), der seiner Bildung nach Sprachwissenschaftler war und als Lehrer arbeitete; später wirkte er als Professor an der Universität Tartu. J. Jốgever gab 1887 einen ausführlichen Plan für die Veröffentlichung estnischer Volksdichtung mit dem Titel Eesti Muinasaeg (Estlands Vorzeit) heraus. Es war beabsichtigt, das Material systematisiert zu veröffentlichen, und zwar zuerst Volkserzählungen herauszugeben, dann Volkslieder usw. Die Publikation sollte auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgen, ausgerüstet mit allen einschlägigen Angaben. Es gelang jedoch nur, einen ersten Teil zu drucken (insgesamt 96 Seiten), und auch dieser erschien nicht als selbständiges Werk, sondern als Anhang zum Buch: Eesti Kirjameeste Seltsi aastaraamat (Jahrbuch der Gesellschaft der estnischen Literaten) 1889, II. Heft, Tartu 1889; Eesti Kirjamee-
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ste Seltsi aastaraamat 1890, Tartu 1891. Diese Publikation enthält Tiermärchen und Sagen. Die Texte sind mit Angaben versehen (wo gesammelt, von wem aufgeschrieben usw.); bei der Veröffentlichung wurden die Texte nur sehr wenig bearbeitet. Vorbild für die Systematisierung war die Märchenausgabe des russischen Folkloristen A. N. Afanasjev Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen), Moskau 1855-1863, 8 Bde. J. Jốgever veröffentlichte später zwei weitere Publikationen, die eine Auswahl aus bereits gedruckten Märchen und Sagen enthielten; die Varianten wurden entweder referiert oder vollständig wiedergegeben: 1. Eesti muinasjutud (Estnische Märchen), Jurjew 1915; 2. Eesti muinasjutud koolidele (Estnische Märchen für die Schulen), Tartu 1924. Nach dem Beispiel von J. Hurt begann auch Matthias Johann Eisen (1857 – 1934) Volksdichtung zu sammeln. Er war Theologe und als Pastor tätig, in späteren Jahren wirkte er als Professor für Volksdichtung an der Universität Tartu (1921 – 1934). M. J. Eisen (ebenso wie J. Hurt) organisierte das Sammeln der Volksdichtung, wobei er sich auf lokale Korrespondenten stützte, und erreichte eine umfangreiche Sammlung (100 000 Seiten). Seine besondere Aufmerksamkeit galt den Volkserzählungen (etwa 30 000 Varianten in seiner Sammlung). Neben seiner Tätigkeit als Forscher war Eisen gleichzeitig ein besonders eifriger Publizist von Volksdichtung – die Zahl seiner Bücher geht in die Hunderte. Es seien hier jene Ausgaben M. J. Eisens erwähnt, die Märchen und Schwänke enthalten: Endise pốlve pärandus (Das Erbe der Vorzeit), Tartu 1883 (21922); Rahva-raamat (Volksbuch) I-V, Tartu-Ria 1893-1895 (enthält 241 Titel); Vanapagana jutud (Teufelsmärchen) I-II, Tallinn 1893-1896 (94 T.); Hansu raamat (Das Buch von Hans), Tallinn 1894 (21920) (15 T.); Kuninga-jutud (Königsmärchen), Tallinn 1894 (41922) (15 T.); Vanad jutud (Alte Märchen), Paide 1894 (42 T.); Hans ja Vanapagan (Hans und der Vanapagan), Tartu 1896 (101 T.), 41920 (124 T.); Kavala Hansu ja Vanapagana lugu (Geschichte vom Schlauen Hans und vom
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Vanapagan), Tallinn 1905 (21920) (100 T.); Talupoisid kuningate väimeesteks (Bauernburschen als königliche Schwiegersöhne), Tartu 1909 (21920) (16 T.); Rahva nali (Volkswitz) I-V, Tallinn 1895-1901 (815 T.); Eesti rahvanali (Estnischer Volkswitz), Tallinn 1909-1910 (1340 T.); Eesti ennemuistsed jutud (Estnische Märchen), Tartu 1911 (21920) (30 T.); Eesti imede ilmast (Aus der estnischen Wunderwelt), Tartu 1926 (52 T.); Eesti nalja (Estnischer Witz), Tallinn 1922 (1964 T.). Ein kleiner Teil der Volksschwänke, die M. J. Eisen veröffentlichte, erschien in deutscher Sprache: Bernhard Eldring, Humor des Estenvolkes, 100 Original-Anekdoten, Reval 1904. Im Laufe von mehreren Jahrzehnten dominierte auf dem estnischen Büchermarkt M. J. Eisen mit seinen vielen Publikationen der Volkserzählungen. Seine Ausgaben waren auf der Grundlage verschiedener Prinzipien aufgebaut. Oft veränderte er die volkstümlichen Formulierungen und präsentierte zusammengefaßte Nacherzählungen, zuweilen kompilierte er abweichende Varianten. In vielen Fällen fügte er jedoch Angaben über den Ort des Aufschreibens und des Aufschreibers hinzu. Fast alle seine einfachen Volksbücher verfolgten auch propagandistische Ziele – im Vor- oder im Nachwort regte er an, weiter zu sammeln,, damit er neues Material erhielt. So wurde auch die Sammeltätigkeit fast bis zum Tode des Herausgebers fortgesetzt. Eine wertvolle und in vieler Hinsicht einzigartige Märchensammlung gab Oskar Kallas (1868 – 1946), der erste auf diesem Gebiet ausgebildete Folklorist, heraus. Im Jahre 1893 unternahm er eine Forschungsreise ins Gouvernement Witebsk im Kreis Ludz. Dort befand sich eine Siedlung von Esten in lettischsprachiger Umgebung; die Esten hatten hier schon einige Jahrhunderte isoliert von ihrem Heimatland gelebt. O. Kallas schrieb deren volkstümliches Erbe auf und hielt ethnographische Daten fest. Das Ergebnis seiner Arbeit war eine besonders bedeutungsvolle Märchensammlung, in der die volkstümliche Erzählweise erhalten blieb: Kaheksakümmend Lutsi Maarahva Muinasjuttu, Achtzig Märchen der
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Ljutziner Esten, in: Verh. GEG Bd. XX H. 2, 1900. Die Märchen wurden in der Ausgabe in estnischer Schriftsprache wiedergegeben; das Werk enthält ein längeres deutschsprachiges Vorwort und Resümees in deutscher Sprache; zwölf Märchen sind vollständig ins Deutsche übersetzt. – Derselbe Forscher hat noch in einem anderen Werk sieben Märchen veröffentlicht, die 1901 bei estnischen Siedlern im Gouvernement Pihkwa aufgezeichnet wurden: O. Kallas, Kraasna maarahvas (Krasnyjer Esten), Helsinki 1903 (Suomi IV: 10). Offensichtlich nach dem Vorbild M. J. Eisens veröffentlichte Ed. L. Wöhrmann drei kleine Märchenbücher (je 96 Bl.), deren Erzählungen früheren Publikationen entnommen waren: Valitud Muinasjutud (Ausgewählte Märchen), Tartu (1920?); Eesti Muinasjutud (Estnische Märchen), Tartu (1920); Imelikud muinasjutud (Wunderliche Märchen), Tartu (1922). Zur gleichen Zeit erschienen anonym Volkserzählungen, die der Herausgeber wohl selbst gesammelt hatte: Kavala Hansu vigurid Wanapaganaga (Possen vom Schlauen Hans mit Wanapagan), Tartu (1922?) (80 T.). Estnische Märchen in deutscher Sprache wurden auch zu Beginn unseres Jahrhunderts veröffentlicht, doch nicht als selbständige Werke: A. v. Löwis of Menar, Finnische und estnische Volksmärchen, Jena 1922 (21927, 31962), mit 32 estnischen Märchen – die meisten der veröffentlichten Texte waren den früheren Ausgaben entnommen, 11 Texte jedoch stammen aus dem handschriftlichen Material M. J. Eisens. Den Übersetzungen wurden verschiedene Anmerkungen beigefügt. Etwa gleichzeitig gelangten auch zwei russische Ausgaben auf den Büchermarkt. Skazki finskie, estonskie i latyšskie (Finnische, estnische und lettische Märchen), Moskwa-Petrograd 1923 (enthält 16 estnische Märchen); Estonskie, livonskie i finskie skazki (Estnische, livische und finnische Märchen), Berlin (o. J.) (enthält 9 estnische Märchen). Obwohl es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts beachtlich große handschriftliche Sammlungen estnischer Volksdichtung gab, waren sie doch den Interessenten nicht zu-
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gänglich – J. Hurts Sammlung befand sich zuerst in Petersburg und von 1907 – 1927 in Helsinki, M. J. Eisens Sammlung aber war in Kronstadt (ab 1912 in Tartu) untergebracht. Erst 1927 entstanden die Voraussetzungen, alle Sammlungen estnischer Volksdichtung an einem Ort zu vereinen: in Tartu wurde 1927 das Estnische Volkskundearchiv gegründet, das nun alle bisherigen Volkskunstsammlungen aufnahm. Sie wurden dort für die Benutzung geordnet und mit Registern versehen, es wurden Kopien und Konspekte der Erzählungen angefertigt und in Kartotheken untergebracht. Danach eröffneten sich günstige Bedingungen für die Erforschung und Veröffentlichung der estnischen Volksdichtung. Gleichzeitig begann das Archiv die weitere Sammeltätigkeit zu organisieren und zu lenken. Diese Institution entwickelte auf dem Gebiet der Volksdichtung eine verhältnismäßig rege Tätigkeit; Schwänke und Sagen wurden oft in Zeitschriften veröffentlicht. Kurze Zeit (1929 – 1932) erschien in Tartu sogar eine Fachzeitschrift: Anekdoodid ja naljad (Anekdoten und Schwänke), die ausgewählte Texte sowohl aus bereits gedruckten als auch aus handschriftlichen Volksdichtungssammlungen brachte. Als gesonderte Werke erschienen Auswahlbände, die aus Manuskripten der Volksdichtung des Estnischen Volksarchivs zusammengestellt wurden: O. Loorits, Vanarahva pärimusi, Tartu 1934 (Auswahl estnischer Märchen und Sagen für die Schulen) (21936); R. Viidebaum u. a., Eesti muinastjutte ja muistendeid (Estnische Märchen und Sagen) (Auswahl für die Schulen), Tartu 1934 (21935). Texte und kurze Forschungskommentare enthält: O. Loorits, Some Notes on the Repertoire of the Estonian Folk-Tale, Tartu 1937 (Commentationes Archivi Traditionum Popularium Estoniae 6).Im Ergebnis einer Umorganisierung der Arbeit in der Zeit der Sowjetmacht wurde das bisherige Estnische Volkskundearchiv nun zur Volkskundeabteilung des Staatlichen Literaturmuseums. Zu den Publikationen dieser Institution ge-
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hört die erste Ausgabe von Volksschwänken, die wissenschaftlichen Anforderungen entspricht: R. Pốldmäe, Eesti rahvanaljandid I, Inimese eluperioodid (Estnische Volksschwänke I, Menschliche Lebensperioden), Tartu 1941 (Serie: Riiklik Kirjandusmuuseum, Folkloristliku osakonna toimetused 16). Nach dem Großen Vaterländischen Krieg wurden Volksschwänke veröffentlicht, die den Klassenkampf der Arbeiter gegen die Unterdrücker widerspiegeln. Es erschienen die Sammlungen: S. Lätt, Eesti rahvanaljandid, Mốis ja kirik (Estnische Volksschwänke, Landgut und Kirche), Tallinn 1957; S. Lätt - I. Rüütel, Kelle peale sa loodad? Valimik usu ja kiriku vastaseid rahvaluuletexte (Auf wen hoffst du? Auswahl folkloristischer Texte gegen Religion und Kirche), Tallinn 1963. Das Buch enthält Volksdichtungen, Schwänke, Parodien, Stimmen der Natur, Redensarten und Sprichwörter. In einigen estnischen Tier- und Zaubermärchen gibt es liedartige Dialoge bzw. Repliken, die den Vortrag lebendig machen und dramatisieren (die Erscheinung ist hauptsächlich in Südost-Estland bekannt. Parallelen sind in russischen, belorussischen und litauischen Märchen zu finden). Solche Märchen hat insbesondere H. Tampere in seiner Anthologie Eesti rahvalaule viisidega (Estnische Volkslieder mit Melodien) III, Tallinn 1958 veröffentlicht und kommentiert. Es sei hier auch ein von Folkloristen als Lesestoff für die Jugend zusammengestelltes, aus handschriftlichen Volksdichtungssammlungen ausgewähltes und auf den spezifischen Leserkreis abgestimmtes Werk erwähnt, eine kleine Anthologie von Märchen der Setu: E. Normann - H. Tampere, Marjakobar ja teisi setu muinasjutte (Beerentraube und andere Märchen der Setu), Tallinn 1959. Alle Varianten des Gegnersucher-Märchens (AT 650 B), das im estnischen Volksepos Kalevipoeg verwendet worden ist, sowie einige mit Kalevipoeg in Verbindung stehende Legenden sind in der vollständigen wissenschaftlichen Ausgabe der Kalevipoeg-Sagen (die alle Varianten enthält) veröffentlicht worden: E. Laugaste - E. Normann, Muistendid
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Kalevipojast (Volkssagen vom Kalevipoeg), Tallinn 1959 (Serie: Monumenta Estoniae Antiquae II, Eesti muistendid, Hiiuja vägilasmuistendid I). Die Ausgabe ist mit einem umfangreichen Kommentar und einem Resümee in russischer und deutscher Sprache versehen. Einzelne Märchen über Riesen als Zentralfiguren wurden in zwei weiteren Bänden derselben Reihe veröffentlicht: E. Laugaste - E. Liiv - E. Normann, Muistendid Suurest Töllust ja teistest (Volkssagen vom Suur Toll und anderen), Tallinn 1963 (Riesen- und Heldensagen II); E. Laugaste - E. Liiv, Muistendid Vanapaganast (Sagen vom Vanapagan), Tallinn 1970 (Riesen- und Heldensagen III). Literarisch bearbeitete estnische Märchen (und Sagen) gab der Schriftsteller A. Jakobson (1904 – 1963) in einem für die Jugend bestimmten Sammelband heraus. Als Quelle benutzte er hauptsächlich M. J. Eisens populäre Publikation Rahva-raamat (Volksbuch) I-V (1893-1895). Die dort veröffentlichten Volkserzählungen hat A. Jakobson seinerseits erweitert und stilisiert. In seiner Bearbeitung erschienen: Ööbik ja vaskus (Nachtigall und Blindschleiche) (1947, 2 1949, 31954, 41974), Suur onu ja väike vennapoeg (Der große Onkel und der kleine Neffe) (1964) und Puujalaga katk (Die holzbeinige Pest) (1965). Das erstgenannte Werk erschien in russischer, finnischer und lettischer Sprache, und über das Russische wurden diese Erzählungen auch in einige andere Sprachen der Völker der Sowjetunion übersetzt. Estnische Märchen in der Bearbeitung verschiedener Schriftsteller enthält auch die Sammlung Tark mees taskus (Kluger Mann in der Tasche) (1961, 21971) sowie die in russischer Sprache erschienene Sammlung Estonskie Narodnye Skazki (Estnische Volksmärchen) (1965). Für die estnische Märchenliteratur ist kennzeichnend, daß es hier viele von Schriftstellern bearbeitete und stilisierte Märchensammlungen gibt, doch äußerst wenige verläßliche Ausgaben volkstümlicher Texte. Eine auf wissenschaftlicher Grundlage herausgegebene Märchenanthologie erschien vor reichlich zehn Jahren: Eesti muinasjutud (Estnische Mär-
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chen), Tallinn 1967, zusammengestellt von V. Mälk - I. Sarv - R. Viidalepp; redigiert von R. Viidalepp. Die Auswahl enthält 140 Texte; die Märchen wurden den ältesten Manuskriptsammlungen entnommen und der traditionellen Klassifizierung entsprechend eingeordnet sowie mit Kommentaren (zusammengestellt von I. Sarv) und einem Nachwort (von R. Viidalepp) versehen; der Ausgabe wurde auch eine kurze Zusammenfassung in russischer und deutscher Sprache beigefügt (R. Viidalepp). Die vorliegende deutschsprachige Anthologie estnischer Märchen bildet eine verbesserte Ausgabe des erwähnten estnischen Werkes. Die Auswahl der Texte und die Anordnung blieben im allgemeinen gewahrt, doch gibt es folgende Veränderungen: 9 der alten Texte wurden herausgenommen und 8 neue eingefügt; im Interesse nichtestnischer Leser wurde das Nachwort erweitert. Die Veränderungen und Ergänzungen stammen von R. Viidalepp. Über die Erforschung der estnischen Märchen wurden nur wenige Werke veröffentlicht. Es sind hier vor allem die Arbeiten von Walter Anderson (1885 – 1962) zu erwähnen, der in den Jahren 1920-1939 als Professor an der Universität Tartu tätig war. Die erste Sammlung estnischer Märchen und ihre Veröffentlichung behandelte er in einer finnischen Zeitschrift: J. H. Rosenplänteri eesti muinasjutud (J. H. Rosenplänters estnische Märchen), Helsinki 1933 (Suomi V: 16). – Eine kurze historiographische Übersicht über die estnischen Märchensammlungen und ihre Veröffentlichungen, ebenfalls aus der Feder W. Andersons, erschien in J. Bolte G. Polivka, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm V, Leipzig 1932. – Auf der Grundlage eines reichhaltigen internationalen Materials schrieb W. Anderson seine große Monographie Kaiser und Abt, Die Geschichte eines Schwanks, Helsinki 1923 (FFC 42); sie behandelt AT 922, aber auch allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und Verbreitung der Volkserzählungen. – Seine zweite große Monographie befaßt sich mit dem Schwanktyp AT 1360C: Der Schwank vom alten Hildebrand, Tartu 1931 (Acta B XX:1 und XXIII:1). – W. Anderson war ein überzeugter Verfechter und Förderer der geographisch-
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historischen Forschungsmethode (die auch als Finnische Schule bekannt ist). In dieses Gebiet gehört auch sein Werk Zu Albert Wesselski’s Angriffen auf die finnische folkloristische Forschungsmethode, Tartu 1936 (Acta B XXXVIII:3). Eine zusammengefaßte Darlegung der Forschungsmethode W. Andersens erschien im Handwörterbuch des deutschen Märchens II, Berlin 1934-1940, S. 508-522. Die in Estland bekannten Märchen vom Donnerinstrument (AT 1148B) wurden von zwei Autoren erforscht, die verschiedentlich auch abweichende Standpunkte über die Herkunft und die Wege der Verbreitung einnahmen: O. Loorits, Das Märchen vom gestohlenen Donnerinstrument bei den Esten, Tartu 1932 (Sitzungsber. GEG 1930); W. Anderson, Zu den estnischen Märchen vom gestohlenen Donnerinstrument, Tartu 1940 (Acta B XLV:1). Volkserzählungen im Epos Kalevipoeg (insbesondere die einzelnen Motive von AT 650B) behandelte A. Annis (18991942) in einer Monographie über das Epos: Kalevipoeg eesti rahvaluules (Kalevipoeg in den estnischen Volksüberlieferungen), Tartu 1934 (Acta B XXXII:1). Die letzte, vom selben Autor in Sowjetestland erschienene Monographie untersucht das zweite Hauptwerk Fr. R. Kreutzwalds: Friedrich Reinbold Kreutswaldi muinasjuttude algupära ja kunstiline laad (Der Ursprung und der künstlerische Charakter der „Estnischen Märchen“ von F. R. Kreutzwald), Tallinn 1966. A. Annis erforscht hier Kreutzwalds Methoden der Zusammenstellung von Märchen, seine Bestrebungen und Einflüsse, den Ursprung aller in Kreutzwalds Sammlung erschienenen Erzählungen sowie die Komposition und den Stil ihrer sprachlichen Darstellung. Die Sammlung estnischer handschriftlicher Volksüberlieferungen überstieg schon 1973 1 000 000 Seiten; darunter befinden sich ca. 100 000 Aufzeichnungen von Volkserzählungen; bei Märchen und Schwänken rechnet man mit etwa 25 000 Varianten. Die Orientierung bei einer so reichhaltigen Thematik wird durch eine an Ort und Stelle (Tartu, Literaturmuseum „Fr. R. Kreutzwald“) vorhandene typologische Kartothek erleichtert. Einen inhaltlichen Überblick über die
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estnischen Märchen und Schwänke ermöglichen auch folgende gedruckte Kataloge: A. Aarne, Estnische Märchenund Sagenvarianten, Verzeichnis der zu den Hurt’schen Handschriftensammlungen gehörenden Aufzeichnungen, Hamina 1918 (FFC 25); E. Laugaste(-Treu), Die estnischen Vogelstimmendeutungen, Helsinki 1931 (FFC 97); L. Raudsep, Antiklerikale estnische Schwänke, Typen- und Variantenverzeichnis, Tallinn 1969. Über die Ausgaben der estnischen Volkserzählungen sind kritische Bewertungen und Kommentare (mit Angabe der Typen der Erzählungen) in der Bibliographie Jahresbericht der estnischen Philologie und Geschichte zu finden, die von der Gelehrten Estnischen Gesellschaft herausgegeben wurde. Erschienen sind Bd. I: 1918 (Tartu 1922), Bd. II: 1919 (1923), Bd. III: 1920 (1926), Bd. IV: 1921 (1934), Bde. VVI: 1922-1923 (1934), Bde. VII-VIII: 1924-1925 (1940; erschienen nur der Teil Volkskunde), Bd. XII: 1929 (1933), Bd. XIII: 1930 (1935), Bd. XIV: 1931 (1938). In den Bänden I-IV hat Walter Anderson den Teil Volksüberlieferungen bearbeitet und die Typen bestimmt, in den folgenden Oscar Loorits.
3. Die Aufzeichner der Märchen
In der vorgelegten Auswahl sind Märchen verschiedener Sammler enthalten, Aufzeichnungen von insgesamt 95 Personen. Bevorzugt wurden Texte älterer ortsansässiger Korrespondenten. Was die jeweilige Form der Märchen betrifft, so handelt es sich bei den älteren Texten in der Regel um Formulierungen des Aufzeichners. Nur in Ausnahmefällen haben einige Sammler versucht, die Märchen gleich beim Hören so aufzuschreiben, wie sie der Erzähler vorgetragen hat (z. B. Nr. 91, 128). Bei den Märchen dagegen, die in den letzten Jahrzehnten aufgezeichnet wurden, sind wortwörtlich notierte Texte schon allgemein üblich (siehe Nr. 39, 56, 70, 88 u. a.). Früher wurden die Volkserzählungen ausschließlich nach dem Gedächtnis niedergeschrieben, d. h., der Sammler versuchte die Erzählungen, die er gehört hatte, im Gedächtnis
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zu behalten und schrieb sie erst später auf. Die Sammler versuchten außerdem, Märchen ihrer Kindheit im Erwachsenenalter zu reproduzieren. Die besten Aufzeichner bemühten sich jedoch darum, bei der Niederschrift der Märchen mehr oder weniger die Formulierungen des Erzählers wiederzugeben. Es gab ja auch verschiedene Erzähler, solche, die wortreicher waren, die lebendiger darstellten, die Einzelheiten malerisch hervorhoben, und andere, die weniger wortgewandt, konkret-sachlich o. ä. waren. Von einigen Aufzeichnern (M. Luu, P. Paurmann, J. Peterson u. a.) bietet unsere Ausgabe mehrere Märchen, denn ihre Aufzeichnungen sind im Vergleich zu anderen inhaltsreicher. Im Nachfolgenden werden einige dieser herausragenden Aufzeichner kurz charakterisiert. Aus Nord-Estland ist in dieser Anthologie die Dorfgemeinde Jüri mit mehr als zehn Märchen vertreten. Das war auf Grund der Sammlung von zwei guten Aufzeichnern, J. Pihlakas und J. Saalverk, möglich. Die Märchen, die von J o h a n P i h l a k a s aufgezeichnet wurden (Nr. 59, 64, 72, 80, 103, 112, 118, 129), fallen durch gute Entwicklung des Inhalts und teilweise durch verwickelte Kontaminationen auf. Von ihm stammt auch das längste Märchen (Nr. 72). Die Märchen von J. Pihlakas zeichnen sich durch charakteristische und genaue Wiederholungen der Begebenheiten wie Motive aus, durch eine vielfältigere Verwendung des Dialogs mit treffenden Repliken, durch eine gute Dialektsprache und oft auch durch poetische, märchenhafte Formulierungen. Über seine Märchen berichtete Pihlakas, er habe sie von estnischen Auswanderern gehört, die in der Umgebung von Simbirsk und Samara lebten, sowie im Kaukasus in der Nähe der Stadt Suhumi; zum Teil aber habe er sie selbst aus dem Gedächtnis aus seiner Jugendzeit aufgeschrieben. Einzelne Erzählungen habe er von seinem Großvater gehört (Nr. 72). J. Pihlakas (1861-1916) wuchs in Harjumaa, in der RaeGemeinde, als Sohn eines Waldhüters auf, besuchte drei Jahre die Schule und erlernte dann in Tallinn den Beruf des
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Schneiders. 1881 wanderte er zusammen mit seinen Eltern in das Gouvernement Simbirsk aus. Seine Bildung vervollständigte er als Autodidakt; er arbeitete als Lehrer und Schneider in verschiedenen estnischen Siedlungen. Wie sich andere erinnerten, war Pihlakas auch selbst ein guter Erzähler und Geigenspieler. Über die Formulierungen in seinen Märchen gab er an: „Ich war stets bemüht, nach der Art und Weise des Erzählers zu schreiben.“ Da er sich aber in seinen Aufzeichnungen teilweise auf sein Gedächtnis stützte, auf die Wiedergabe der Geschichten, die er in der Jugend gehört hatte, kann man diese Behauptung nicht so wörtlich nehmen. Wenn auch Pihlakas seine Märchen aus dem Kaukasus schickte, waren sie dennoch mit der Dorfgemeinde Jüri in Harjumaa verbunden: von dort stammten seine eigenen Erinnerungen und auch die Erzähler, deren Geschichten er festhielt. Die Dorfgemeinde Jüri in Harjumaa ist außerdem mit einigen Märchen vertreten, die von J a a n S a a l v e r k (1874 – 1932) aufgezeichnet wurden (Nr. 11, 17, 113, 124). Er sammelte Volksdichtungen hauptsächlich Ende des vorigen Jahrhunderts, in jener Zeit, da er auf dem Dorf als Knecht arbeitete. Er hatte vielseitige Interessen – bekleidete gesellschaftliche Funktionen, war Registrator von Denkmälern, Sammler von ethnographischen und archäologischen Gegenständen usw. Von der Volksdichtung interessierten ihn besonders die Erzählungen – seine Sammlung enthält 1 000 Märchen, Schwänke und Sagen. J. Saalverks Märchen scheinen volkstümlich und glaubwürdig zu sein. Er notierte sie zuerst kurz in seinem Taschenbuch und schrieb sie später genau auf. In seinem Geburtsort gab es damals gute Erzähler. Über sie enthalten die Aufzeichnungen die einschlägigen Angaben. Viele Geschichten hatte Saalverk bei Familienfesten (Hochzeiten) gehört. Die Texte von P a u l u s P a u r m a n n (22, 67, 82, 98, 114, 116) wurden im östlichen Teil Nord-Estlands aufgezeichnet. In ihnen spürt man die Erzählweise dieser Gegend. Ihr volkstümlicher Humor zeugt davon, daß der Aufzeichner
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den örtlichen Dialekt gut kannte. Oft sind die Erzähler mit Namen vermerkt. P. Paurmann, der Sohn eines Bauern, wurde 1850 in der Dorfgemeinde Jốhvi im Dorf Päite geboren. Paurmann lernte in Jốhvi in der Gemeindeschule, arbeitete im heimatlichen Dorf als Schullehrer, dann auch in anderen Berufen, u. a. als Landwirt, und später wieder als Lehrer hinter Narva auf dem Gut Lillenbach (von 1887 an). Zur Sammeltätigkeit bewogen ihn J. Hurts Berichte, die in der Presse (ab 1888) erschienen: „Ich begann mich an Märchen zu erinnern, die ich als Kind beim Viehhüten in der Nacht und beim Weiden gehört hatte. Ich trug immer ein kleines Merkbuch bei mir; wenn mir etwas in den Sinn kam, oder wenn ich etwas von anderen hörte, vermerkte ich es im Buch, um es später nicht zu vergessen.“ In den Aufzeichnungen von P. Paurmann gibt es einige seltene Märchen, von denen nur wenige Varianten existieren (z. B. Nr. 67, 116); sie weisen auf die Verbindungen mit russischen Märchen hin. Die Tier- und Zaubermärchen aus Järvamaa sind in der Anthologie hauptsächlich mit Beispielen aus der Umgebung von Ambla vertreten. Das ist durch die Tatsache bedingt, daß es auch dort um die Jahrhundertwende eine Reihe von erfolgreichen Aufzeichnern gab. Aus ihrer Mitte ragt J o o s e p N e u b l a u hervor (Nr. 47, 75), der ein besonderes Interesse für die Volkserzählung besaß. Er war von Beruf Schneider und hatte 1893 mit dem Sammeln von Märchen begonnen. Eine gute Tiergeschichte aus Koera konnten wir den Aufzeichnungen von A n t o n S c h u l t z entnehmen (Nr. 2). Auch er war ein Dorfschneider mit vielseitigen Interessen, der Ende des vorigen Jahrhunderts J. Hurt eine große Sammlung übermittelte, darunter 450 Volkserzählungen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts nahm A. Schultz an der revolutionären Bewegung in seiner Heimat teil und wurde Ende 1905 von einem Straftrupp umgebracht. Die aus Aufzeichnungen von M a r t i n L u u ausgewählten Texte (Nr. 1, 10, 23, 46, 86, 132) stellen Märchen aus Mit-
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tel-Estland in guter und sorgfältiger Aufzeichnung vor. Die Geschichten sind vollständig, weisen eine Entwicklung der Begebenheiten auf, sind flüssig in der Formulierung, volkstümlich. Man spürt, daß der Sammler mit guten Erzählern zusammengekommen und fähig war, in genau der Art zu schreiben, wie erzählt wurde. Das bestätigt er auch in seinem „Vorwort“ an J. Hurt: „Ich habe mich bemüht, nach Möglichkeit alle Geschichten und alle Krümchen der Volksdichtung so zu Papier zu bringen, wie sie mir erzählt wurden. Wer mir Geschichten und alte Lieder berichtet hat, die habe ich entsprechend Ihrer Forderung bei jedem (Text) erwähnt.“ Man findet bei M. Luu in der Tat sehr genaue Angaben über die Erzähler. Martin Luu (1876 – 1964) wurde als Sohn eines Bauern in der Dorfgemeinde Pốltsamaa geboren. Auch sein Leben verlief hauptsächlich in der Landwirtschaft; etwa zehn Jahre lang war er Müller im Gouvernement Nowgorod und einige Jahre Gemeindesekretär in Harjumaa; im Alter arbeitete er als Kolchosbauer in der Nähe von Tallinn. Gelernt hatte er in seiner heimatlichen Gemeindeschule und in der Alexanderschule in Pốltsamaa. Volkserzählungen hörte Luu erstmalig von seiner Tante, die es liebte, an Winterabenden, beim Spinnen, zu erzählen; später gewann er Anregungen durch Veröffentlichungen der Volkserzählungen von M. J. Eisen und anderen. Im Volk war damals die mündliche Übermittlung der Volksdichtung sehr verbreitet: Märchen und Sagen erzählte man sich beim Viehweiden sowie an Abenden den Schulkindern oder aber zu Hause an Donnerstagabenden (vgl. 810 ff) in der Dämmerung. Luu selbst war ein gesprächiger Mann, und er wurde oft zu Hochzeiten eingeladen (als Brautführer, Brautvater); bei Hochzeiten aber wurde viel gesungen und viel erzählt. Aufzeichnungen machte Luu hauptsächlich in der Zeit von 1892 bis 1901, als er zu Hause Feldarbeiter war. Nach jahrzehntelanger Pause arbeitete er im Alter noch aktiv in der Abteilung für Volksschaffen im Literaturmuseum. In seinen
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Sammlungen findet man wertvolle Beobachtungen, wo und wie Volkserzählungen vorgetragen wurden. Aus dem Südwesten Estlands (Vändra und Tori) gibt es in der Anthologie zahlreiche Märchen. Aus Vändra stammen mehrere Texte in der Aufzeichnung von J ü r i P e t e r s o n , und zwar hauptsächlich Tiermärchen (Nr. 4, 6, 20, 27, 28, 84). J. Peterson war Lehrer an einer Dorfschule. Seine Aufzeichnungen der Volksdichtung schickte er an die Estnische Gesellschaft der Literaten sowie an J. Hurt. Besonders zugetan war Peterson den Volkserzählungen. Selbst ein talentierter Erzähler, erzählte er Märchen auch den Schulkindern, und natürlich nicht zuletzt seinen eigenen Kindern. Sein Sohn, der spätere Schriftsteller Peterson-Särgava, erinnert sich daran: „Besonders lieb waren mir Abende, an denen Vater uns alte Geschichten erzählte, uns auf den Schoß nahm, auf den Knien reiten ließ, die Hirtenflöte blies, hüpfte und spielte – schön waren diese Abende!“ In Vändras Nachbardorfgemeinde Tori zeichnete T . J u u r i k a s mehrere Märchen auf (Nr. 50, 85, 89, 117). Sie sind inhaltlich vollständig und volkstümlich. Nähere Angaben über T. Juurikas und seine Erzähler fehlen. Die Märchen aus den Aufzeichnungen von J ü r i O r g u s a a r (Nr. 41, 71, 74, 106) sind flüssig erzählt. J. Orgusaar war längere Zeit Schullehrer in Süd-Estland, in der Nähe von Sangaste. Wahrscheinlich stammen auch die Märchen aus dieser Gegend. Seine Sammlungen schickte er 1886 – 1888 an die Estnische Gesellschaft der Literaten. Aus Otepää konnten gute Märchen aus Aufzeichnungen von V i l l e m V a h e r vorgestellt werden (Nr. 33, 45, 135). Im Südosten Estlands gab es seinerzeit hervorragende Sammler. An erster Stelle steht J a a n S a n d r a (18621925), ein Dorfschneider, der im Dorf Viitka in der Nähe von Vastseliina wohnte und der produktivste Mitarbeiter Jakob Hurts gewesen ist. In den Jahren 1894 – 1906 sammelte er 8 700 Seiten Material über das Volksschaffen, darunter 1 900 Volkserzählungen. Diese Rekorde sind unter den Laiensammlern bis heute unübertroffen geblieben. Viele Auf-
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zeichnungen hat J. Sandra bei den Setukesen gemacht. Teilweise erscheinen die von ihm aufgenommenen Geschichten stilistisch etwas in die Länge gezogen, seiner persönlichen Ausdrucksweise entsprechend, doch finden sich auch genügend gute, echt volkstümliche Niederschriften in seinem Material (z. B. Nr. 55, 133). Wie ersichtlich, erzielten in Estland viele Dorflehrer bei der Sammlung von Märchen gute Ergebnisse. Weiterhin ist der große Anteil der Schneider besonders auffällig. Außer den angeführten (J. Pihlakas, J. Neublau, A. Schultz, J. Sandra) haben sich auch noch andere Schneider als Sammler von Erzählungen betätigt. Man könnte z. B. M a t s K a u r aus Kolga-Jaani (von ihm stammen die Nr. 91 und 104), V i i l i p K l a s s aus Haljala u. a. nennen. Die meisten waren gute und hervorragende Sammler, die viel Material zusammentrugen. Womit ist das zu erklären? Ende des vergangenen Jahrhunderts und Anfang dieses Jahrhunderts waren die Dorfschneider fahrende Handwerker, welche jahrelang mit ihren Gehilfen von Gehöft zu Gehöft, von Dorf zu Dorf zogen. Die im Sitzen zu verrichtende Schneiderarbeit begünstigte Gespräche, und der ständige Wechsel des Arbeitsplatzes ermöglichte die Berührung mit verschiedenen Personen, dabei auch mit guten Erzählern, wodurch das Repertoire stets ergänzt werden konnte. Deshalb kannten gerade die wandernden Schneider sehr gut das Geschichtenrepertoire des Volkes und waren seine wichtigsten Träger. Unter ihnen gab es hervorragende Erzähler, doch es bildeten sich in ihrer Mitte auch Sammler mit großer Produktivität heraus. So wird es verständlich, warum unter den Aufzeichnern estnischer Volkserzählungen mit Rekordergebnissen gerade ein Schneider war – J. Sandra. Dieser hatte bessere Voraussetzungen für seine Leistung als andere: Im Auftrag von J. Hurt unternahm er Reisen in die Dörfer der Setukesen, wo Erzähler und Sänger in großer Zahl lebten. Bei einigen Sammlern wirkte sich auch der Wohnortwechsel günstig auf die Sammelergebnisse aus. Sie gelangten auf Grund ihrer Berufe in verschiedene weit entfernte
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Orte und kamen so mit vielen Erzählern in Berührung (J. Pihlakas, P. Paurmann u. a.). Das in unserer Anthologie veröffentlichte Material haben viele lokale Korrespondenten zusammengetragen; Aufzeichnungen von Folkloristen gibt es dagegen nur wenige (Nr. 35, 37, 39, 56, 88, 130). Für die großen Sammlungen der estnischen Volksdichtung ist folgendes charakteristisch: Nicht Wissenschaftler, sondern das Volk selbst hat unter Anleitung einiger Folkloristen das poetische Schaffen seiner vergangenen Generationen zu Papier gebracht. Auf das Repertoire und den Stil der estnischen Märchen übte sicherlich auch die Literatur einen Einfluß aus, insbesondere die Bücher von Fr. R. Kreutzwald, J. Kunder, M. J. Eisen, M. Schoberg und anderen, allerdings sind diese Einwirkungen bisher nicht genauer untersucht worden. Unter den Einflüssen von anderen Völkern nehmen die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm eine vorrangige Stellung ein, denn sie wurden mehrmals in estnischer Sprache veröffentlicht. Aus dem Lettischen (G. F. Stender, Jaukas pasakas in stāsti [Hübsche Märchen und Geschichten], Jelgava 1766, 21789) übersetzte Fr. W. Willmanns seine Juttud ja teggud (Fabeln und Erzählungen, 4 Ausgaben 1782 – 1838), von denen 30 Motive in die mündliche Tradition einflossen.
4. Erzähler und Erzählsituationen
Der Volksterminus für den Erzähler lautet in estnischer Sprache der „Geschichtenerzähler“ (estnisch jutumees). Er bezeichnet einen Menschen, der eine bemerkenswerte Anzahl von Volkserzählungen im Gedächtnis behält, der gleichzeitig auch die Neigung und die Fähigkeit zur Wiedergabe dieser Geschichten besitzt und der dadurch an seinem Wohnort bekannt geworden ist. In der folkloristischen Literatur werden Erzähler mit einem sehr umfangreichen Repertoire als Volkserzähler (rabvajutustaja) und große Erzähler (suurjutustaja) bezeichnet. Ein Erzähler mit humoristischer oder satirischer Neigung, der hauptsächlich Schwänke zu erzählen und die Zuhörer zu
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amüsieren pflegte, hieß außerdem Spaßvogel (naljamees), Witzbold (naljahammas), auch Possenreißer (hambamees). Angaben über die Erzähler und die Erzählsituationen wurden in der estnischen Folkloristik ziemlich spät festgehalten. Es gibt zwar schon eine Beschreibung von Fr. R. Faehlmann aus dem Jahre 1839, in der das Auftreten eines Erzählers (im deutschen Text heißt er „Sagenmann“) unter Straßenarbeitern an einem Frühlingsabend geschildert wird. Dieser erzählte ihnen Sagen über den heldenhaften Recken Kalevipoeg. Doch erst Ende des Jahrhunderts stellten die Organisatoren des Sammelns der Volksdichtung (vor allem J. Hurt) die Forderung, beim Aufzeichnen der Märchen auch die Namen der Erzähler festzuhalten. Erst in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts aber wurde damit begonnen, genauere Angaben auch über die Erzähler und über die Traditionen des Erzählens einzuholen. Zu gleicher Zeit entstanden Untersuchungen über einzelne hervorragende Erzähler und über ihren Anteil an der Entwicklung der mündlichen Überlieferung. Wichtige Ergebnisse in der Klärung dieser Fragen wurden in den letzten Jahrzehnten erreicht. Da die mündliche Überlieferung der Märchen allgemein zurückgeht, rückten jetzt Probleme ins Blickfeld, die mit den Sagen und dem Erzählen sowie überhaupt mit dem Schaffensprozeß des Erzählens in der Gegenwart zusammenhängen. Wo und wann wurde erzählt In der Wirtschaft der estnischen Bauern dominierten der Feldbau und die Weidehaltung des Viehs, an den Ufern der Gewässer und auf Inseln war daneben auch die Fischerei von Bedeutung. An einigen Orten (z. B. in der Gegend um den Peipussee) beschäftigten sich die Männer außerdem noch zu Hause mit Holzarbeiten (sie fertigten Spinnräder, Stühle, Holzgefäße u. a.) und verkauften ihre Erzeugnisse auf dem Markt. Diese grundlegenden Tatsachen bildeten auch die Anlässe und die Bedingungen für das Erzählen, wobei noch örtliche Besonderheiten hinzukamen. Innerhalb des Jahres konzentrierte sich das Erzählen als Liebhaberbe-
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schäftigung auf die dunklen Herbst- und Wintertage, auf die Zeit, da zu Hause erzählt wurde; im Frühjahr und im Sommer dagegen wurde hauptsächlich bei Außenarbeiten erzählt. Vielleicht muß das Erzählen in der Wohnstatt am Herd, wenn die ganze Familie beisammen ist, als die ursprüngliche Form angesehen werden, insbesondere in der dunklen Jahreszeit und an Abenden, wenn der Herd die Wärme- und auch die Lichtquelle bildete. In Estland pflegte man an Abenden im Haus Geschichten zu erzählen, wenn man in der Nähe einer Lichtquelle arbeitete. Im 19. Jahrhundert war dies auf dem Lande noch allgemein üblich. Die Frauen spannen und webten, die Männer besserten Pferdegeschirr aus oder beschäftigten sich mit Holzarbeiten, die Kinder spielten und hörten zu (wurden als Beleuchtung Kienspäne benutzt, war es die Aufgabe eines der älteren Kinder, für das Licht zu sorgen). Sicherlich alt war auch die Sitte, Märchen im Dunkeln zu erzählen, wenn alle Familienmitglieder schon im Bett lagen. Dann erzählte entweder die Großmutter oder der Großvater, die sich zwischendurch vergewisserten: „Hört ihr noch zu?“ Bei bejahender Antwort wurde weiter erzählt. Kam keine Antwort mehr, war es mit dem Erzählen zu Ende. Die Esten hatten Traditionen, die das Erzählen unter häuslichen Bedingungen förderten. Allgemein üblich waren die sogenannten Dämmerstunden. Das bedeutete, daß abends in der Dämmerung, oder im dunklen Zimmer vor dem Anzünden des Lichts, eine Ruhepause eingelegt wurde. Solche Dämmerstunden fanden in der dunklen Jahreszeit (im Spätherbst) wenigstens einmal in der Woche (meist an Donnerstagen) oder auch öfters statt. Dann ruhte man sich entweder zu Hause aus, oder man ging zum Nachbarn. Im dunklen Zimmer wurden Märchen erzählt, oder es wurden Rätsel aufgegeben. Die Frauen strickten auch Strümpfe im Dunkeln. Ging man zum Nachbarn, dann unbedingt zu jenem, bei dem es einen guten Erzähler gab. Es gingen hauptsächlich die Frauen.
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Das Abhalten von Dämmerstunden in der dunklen Jahreszeit scheint ein alter Brauch zu sein, denn er findet seinen Widerhall in religiösen Meinungen, in Sprichwörtern und in Redewendungen. In Süd-Estland heißt es: „Haltet das Dunkel, schmeichelt der Abendröte, dann wachsen große Milchkühe und gute Stierkälber“, eine Redensart, die augenscheinlich religiöser Herkunft ist. Noch in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg hatten Sammler mehrmals die Gelegenheit, an solchen Dämmerstunden teilzunehmen, da verschiedene Volkserzählungen (hauptsächlich Schwänke und Erzählungen) im dunklen Zimmer vorgetragen wurden. Die Frauen des Dorfs kamen an Abenden zum Arbeiten zusammen, schon weil dabei auch die langweilige Handarbeit (das Spinnen und Strümpfestricken) besser und lustiger von der Hand ging. Bei der gemeinsamen Arbeit wurde viel gesungen und erzählt. Solche Zusammenkünfte nannte man subrikul käima „Spinnstunde“, vom russischen suprjadki und ehal käima „zur Abendröte gehen“. Das gab es hauptsächlich in Ost-Estland. An einigen Orten war es auch bei den Männern Sitte, in der dunklen Jahreszeit zusammenzukommen, gemeinsam eine Pfeife zu rauchen und sich zu unterhalten. Gewöhnlich traf man sich bei einem guten Erzähler, und sein Heim wurde dadurch auf dem Dorf als eine Erzählstube berühmt. Darüber liegen hauptsächlich Angaben aus dem nordöstlichen Estland vor. In den Küstengebieten Nord-Estlands (vor allem in der Gegend von Kuusalu, Jốelähtme und Haljala) wurden Anfang November, meist in der Zeit zwischen dem 1. und 10. November, sog. „Jäguzeiten“ oder „Jäguabende“ abgehalten. In anderen Gegenden war dies die sog. „Seelenzeit“ (hingede aeg). Um diese Zeit kam man abends an einem Ort zusammen, zuweilen in Gehöften anderer, und verbrachte die Zeit mit dem Erzählen von Märchen und mit Rätselraten. Diese Sitte war verbunden mit dem Gedenken an die Toten; deshalb mußte man sich ruhig verhalten; Arbeiten, die Lärm verursachten, waren verboten.
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Auch die allgemeinen Feiertage wie Weihnachten brachte man gern bei lebendig dargebotenen Volkserzählungen zu. Märchen wurden des weiteren bei Zusammenkünften der Jugend erzählt, wie bei den istumas käimine (vom russischen posidelki, dem „Zusammensitzen“) – einer Zusammenkunft der Mädchen bei den Setukesen, den üläljốstmine auf der Insel Kihnu u. a., sowie den telgud der Frauen und der Jugend (eine Zusammenkunft, bei der Geflügel gerupft, die Brautaussteuer angefertigt, Garn gewickelt wurde usw.). Diese Zusammenkünfte waren besonders in West-Estland populär. Die Aneignung der traditionellen Volksdichtung galt bei den Esten als ein wertvolles „Heiratsgut“, deren Kenntnis auf den gemeinsamen Zusammenkünften überprüft wurde: das heiratsfähige Mädchen mußte singen und der junge Mann erzählen können. Außer dem häuslichen Märchenerzählen im Kreise der Familie wurden Märchen, Schwänke und Sagen auch bei Arbeiten im Freien erzählt, wenn mehrere Menschen zusammen waren, insbesondere natürlich an Abenden und in den Arbeitspausen. Als die Bauern im vergangenen Jahrhundert aufs Gut zur Fronarbeit gingen, kamen dort Einwohner mehrerer Dörfer zusammen; abends und in Ruhepausen wurde erzählt, z. B. im Herbst auf der Gutstenne, wenn man sich vor dem Ofen wärmte. So wanderten die Erzählungen von einem Ort zum anderen; die Geschichten, die man neu erfuhr, wurden im eigenen Dorf weitererzählt. Wenn die Frauen in die Spinnstube des Gutes zum Spinnen gingen, wurde auch diese Arbeitsstube zu einer Erzählstube. Dieses Erzählen entschädigte für die einschläfernde Monotonie der Fronarbeit und half die Müdigkeit vergessen. Viel erzählt wurde auch bei jenen Arbeiten außerhalb des Hauses, die den Beteiligten reichlich freie Zeit ließen, wie beim Weiden und bei der Nachthütung. Besonders die Nachthütung (das nächtliche Weiden von Pferden und Arbeitsochsen) bot in Estland seinerzeit (bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) eine der besten Gelegenheiten für das Erzählen. Hierbei versammelten sich viele Jugendliche (haupt-
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sächlich Jungen), und das Sitzen in der abendlichen Dämmerung um ein Lagerfeuer bildete den passenden Hintergrund für das Erzählen verschiedener Geschichten. Für das Erzählen gab es auch einen zwingenden Grund: ein Teil der Nachthüter mußte in der Nacht wach bleiben, um notfalls die Wölfe von der Herde zu vertreiben. Unter den Nachthütern (sowie unter den Kuhhirten) gab es alte Erzähler mit großen Kenntnissen und guter Vortragsweise, an die man sich noch jahrzehntelang erinnerte. Es kommt nicht selten vor, daß die Texte den Vermerk tragen, die Geschichte sei „in jungen Jahren bei der Nachthütung“ gehört worden. Das Erzählen von Geschichten im Kreise der Waldarbeiter wurde schon vor Jahrzehnten zu einer seltenen Erscheinung, doch kam es in bestimmtem Maße noch in der Nachkriegszeit vor. Die Waldarbeiter haben an Abenden viel freie Zeit, und das Auftreten eines guten Erzählers hilft diese Abendstunden verkürzen. Es wurden Schwänke, Sagen, Jägergeschichten erzählt. Die Waldarbeiter hatten zuweilen auch an Arbeitstagen Möglichkeiten zum Geschichtenerzählen – in den Ruhepausen am Lagerfeuer, bei Platzregen und ähnlichen Gelegenheiten. Auf dem Gebiet der Waldarbeitergeschichten gibt es Bemerkenswertes hauptsächlich aus dem nordöstlichen Estland. Da dort stellenweise auch Russen leben, kam es bei den Waldarbeitern zu Berührungen von russischen und estnischen Erzählern, wobei das Repertoire gegenseitig ausgetauscht wurde. Das Erzählen von Jagdgeschichten und ihre Weiterentwicklung wird heute in Estland in mancher Hinsicht von Wettbewerben stimuliert, die von Jagdorganisationen veranstaltet werden und bei denen die besten Erzähler Auszeichnungen erhalten. Eine lebhafte Tradition des Geschichtenerzählens erhielt sich auch bei den Fischern, sowohl unter häuslichen Bedingungen als auch in Verbindung mit dem Fang. Als in früheren Zeiten die Netze zu Hause – und meist von Kindern – geknüpft wurden, war das an sich für die Kinder eine sehr langweilige und eintönige Pflicht. Deshalb wurden den Netzknüpfern Märchen oder Sagen mit zum Teil schrecken-
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einflößendem Inhalt erzählt, um die Kinder an den Abenden länger wachzuhalten. Die Fischer an der Westküste des Peipussees benutzten beim Winterfischfang Bretterhäuschen, die sie auf dem Eis des Sees aufstellten. Bei Schneestürmen waren sie dort gut geschützt und verbrachten die Zeit mit Geschichtenerzählen. In West-Estland und auf den Inseln errichteten die Fischer in den Fischereihäfen sog. Netzhäuser, wo sie übernachteten und bei Stürmen Schutz finden konnten. Im Frühjahr versammelten sie sich schon früh an der Küste zum „Eisschmelzen“ (jääd sulatama), d. h. um hier auf den Eisgang zu warten und um gleich bei erster Gelegenheit die Netze am gewünschten Ort auszuwerfen sowie diese Stelle für sich zu belegen. Ein solches Warten dauerte zuweilen mehrere Tage; dann half das Märchenerzählen den Wartenden, die Langeweile zu überwinden. Auf den Dörfern waren für das Märchenerzählen die wichtigsten Arbeitsstätten die Schmiede und die Mühle. Dort versammelten sich viele Männer, um auf ihr „Drankommen“ zu warten; das konnte jedoch lange dauern. Auch da half eine lustige Unterhaltung die Langeweile vertreiben und die Zeit verkürzen. So manchem späteren estnischen Schriftsteller war die Erzählergesellschaft bei den Mühlen und Schmieden eine gute Schule, um sich die Ausdrucksweise des Volkes anzueignen. In den vergangenen Jahrhunderten erfüllten in Estland auch die Dorfschenken die Funktion von Erzählstuben. Dort trafen sich die Männer, um zusammen Bier zu trinken und sich zwanglos zu unterhalten. Manche erinnern sich, daß in den Schenken zuweilen auch gegen Entlohnung erzählt wurde – die Besucher der Schenke kauften einem bekannten Erzähler oder Sänger Bier oder Schnaps, damit er vortrug. Auch die Schenke war für einige spätere Schriftsteller der Ort, wo sie den Volksstil erlernten. Geschichten wurden ebenso in vielen Dorfläden erzählt; glaubten doch die Ladenbesitzer, durch gutes Erzählen Käufer anzulocken. Es ist bekannt, daß Märchen auch im Ge-
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fängnis erzählt wurden, sobald mehrere Männer zusammensaßen, denn es fehlte an jeglichem anderen Zeitvertreib. Im vergangenen Jahrhundert brachten estnische Männer Märchen und Schwänke aus dem Militärdienst in der russischen zaristischen Armee mit; der alte ausgediente Soldat – im Volksmund der „Staatsonkel“ – war eine weit bekannte Gestalt bei den estnischen Erzählern. Die Männer pflegten auch im Ankleideraum der Sauna (nach dem Schwitzen und Waschen) Schwänke zu erzählen; das war auf dem Lande wie auch in der Stadt üblich. Wie ersichtlich, war in Estland die mündliche Geschichtenübermittlung auffallend stark verbreitet. Gelegenheiten zum Erzählen fanden sich bei verschiedenen Arbeiten und Beschäftigungen, unter sehr verschiedenen Umständen, zu Hause wie anderswo. Auch als sich die Schulbildung ausbreitete, wurde die mündliche Überlieferung dadurch zunächst nicht beeinträchtigt. Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts trat an vielen Orten sogar das Gegenteil ein – gerade in den Schülerkollektiven (wenn die Kinder in der Schule übernachteten) wurde es modern, abends vor dem Schlafengehen Märchen zu erzählen. Dies war eine eigene Initiative der Schüler (zuweilen bedingt durch das Lichteinsparen), aber es war dennoch fast obligatorisch: Jeder Schüler mußte der Reihe nach etwas erzählen. Auf manches sensible Kind übte das großen Einfluß aus. Viele estnische Schriftsteller und Kulturschaffende erwähnen in ihren Erinnerungen solche Märchenabende. Auch einer der späteren Sammler – M. J. Eisen – empfing seine ersten Impulse für die Beschäftigung mit der Volksdichtung von den Geschichtenabenden in der Grundschule. Dort schrieb er als Zwölfjähriger seine erste Sammlung der Rätsel auf, die er von den Mitschülern gehört hatte. Mit dem Eindringen des Kapitalismus in die ländlichen Verhältnisse, insbesondere während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ließ das mündliche Tradieren von Volkserzählungen allmählich nach. Die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Durchführung von Agrarreformen hatten u. a. Voraussetzungen für die Anwendung kapitalistischer Metho-
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den in der Landwirtschaft sowie für neue gesellschaftliche Beziehungen auf dem Dorf geschaffen. Eine Vielzahl von Traditionen aus der Zeit des Feudalismus war nun raschen Wandlungen unterworfen oder geriet bald in Vergessenheit. Die Notwendigkeit gemeinsamer Arbeiten der Bauern verringerte sich, nachbarschaftliche Besuche wurden eingeschränkt. Es vollzog sich eine große Umwandlung in der geistigen Kultur des Volkes, wobei sich auch die Form, die Tradierung und zum Teil die Funktion der Volksdichtung veränderten: Das einfache Volkslied, das bisher im Gesang der Werktätigen dominierte, wurde allmählich durch das Chorlied und durch Liederbuchtexte ersetzt, die Volksprosa ging zunehmend in gedruckte Sammlungen ein, und das mündliche Erzählen tradierter Geschichten wurde vom Lesestoff verdrängt. Die kulturelle Umwandlung ergriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts weite Gebiete Estlands, so daß alte gesellschaftliche Verhältnisse sowie überkommene Erscheinungen der Volkskultur lediglich in den verkehrsungünstigen Randgebieten und auf einzelnen abgelegenen Inseln WestEstlands noch längere Zeit erhalten blieben. Die Persönlichkeit des Erzählers Zu den hervorragenden Erzählern Estlands gehörten sowohl Männer als auch Frauen. In der weiter zurückliegenden Zeit wurde das Erzählen der Volksdichtung sowie deren Verbreitung vorwiegend für eine Domäne der Männer gehalten, teilweise aus dem Grund, weil die Männer durch ihre Arbeit mehr im Lande herumkamen als die Frauen. Doch wurde die Pflege der mündlichen Prosadichtung, vor allem der Märchen, in den letzten Jahrzehnten immer stärker zu einer Sache der Frauen, nicht zuletzt deshalb, weil Frauen in der Pflege dieses Erbes anscheinend konservativer sind als Männer. Heute erzählen die Männer hauptsächlich Schwänke und Anekdoten. Was den Beruf der Erzähler betrifft, so wurde die Erweiterung des Repertoires durch solche Arbeiten begünstigt, die vom Heimatort wegführten und das Zusammentreffen
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mit anderen Erzählern ermöglichten. Unter den Bedingungen des estnischen Dorfes waren früher die populärsten Erzähler oft die Schneider, sie zogen als wandernde Handwerker von Gehöft zu Gehöft, von Dorf zu Dorf. Die Schneider wurden mit Achtung behandelt, man war bemüht, sich mit ihnen zu unterhalten, insbesondere an Abenden. Auf diese Weise hörte ein Schneider mehr als Einwohner mit festem Wohnsitz, und er vergrößerte ständig sein Repertoire (vgl. S. 808 ff.). Gute Erzähler gab es auch unter den Kuhhirten und Nachthütern; sie zogen in jenen Zeiten viel umher und hielten sich der Reihe nach in allen den Gehöften des Dorfes auf, deren Tiere sie hüteten. Im 19. Jahrhundert galten auch alte Soldaten, die nach langer Dienstzeit in die heimatlichen Dörfer zurückkehrten, als versierte Erzähler. Sie waren weit weg gewesen, hatten vieles gesehen und gehört und hatten manches zu erzählen. Die alten ausgedienten Soldaten brachten in das estnische Erzählgut Märchen und Schwänke der Russen und der anderen in Rußland lebenden Völker ein, wie sie sie während ihrer Dienstzeit gehört und behalten hatten. Gute Erzähler fanden sich ebenso unter den umherziehenden Bettlern, die durch das Erzählen von Geschichten oder den Vortrag von Liedern leichter das Mitgefühl der Einwohner errangen und eine Übernachtung erhielten. Neben den äußeren Umständen beeinflußten auch Familientraditionen und die persönliche Veranlagung die Ausprägung eines Erzählers. Aus den Biographien der Erzähler geht oft klar hervor, daß es unter ihren nächsten Verwandten gute Erzähler gegeben hat, von denen sie sich die späteren Repertoires und die Erfahrungen aneignen konnten. Zuweilen sind aus den direkten Nachkommen eines Erzählers sogar Schriftsteller hervorgegangen, die die volkstümliche Erzählweise nun schriftlich fortsetzten. Der Vater des estnischen Prosaschriftstellers Ernst Särgava z. B. war ein guter Märchenerzähler und Märchensammler. Es ist bekannt, daß sich auch unter den nächsten Verwandten des populären Meisters des Worts Oskar Luts sowie vieler ande-
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rer estnischer Schriftsteller gute Erzähler und Spaßmacher befanden. Wirklich berufsmäßige Märchenerzähler sind in Estland nicht nachweisbar. Es gibt jedoch Mitteilungen darüber (sie stammen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert), daß alte Erzähler (ein alter Soldat, ein alleinstehender alter Mensch, ein blinder Bettler) als Arbeitsunfähige von Haus zu Haus gewandert sind, den Kindern Märchen erzählt und dafür Essen und Übernachtung erhalten haben. Solche Nachrichten wurden aus mehreren Orten überliefert. Im allgemeinen begegnete das Volk einem begabten Märchenerzähler mit Achtung; sein Können wurde geschätzt, seine Dienste wurden mit Geschenken belohnt. Es ist überliefert, daß so mancher gute Erzähler von Freiern als Brautwerber gebeten, zur Hochzeit oder zu einem anderen Familienfest eingeladen, daß er gebeten wurde, an abendlichen Zusammenkünften oder an kollektiven Arbeiten teilzunehmen; seinem lebendigen Vortrag hörte man gern zu. Eine Frau, die Märchen erzählen konnte, lud man mit Vorliebe ins Haus, wenn die Eltern weggingen und auf die Kinder aufgepaßt werden mußte. Die bekanntesten Erzähler Es wurde in Estland wenig unternommen, den Repertoireschatz der talentiertesten Erzähler vollständig aufzuschreiben. Bisher ist keine einzige Märchensammlung erschienen, die aus Erzählungen nur eines Erzählers besteht. Verschiedene Angaben über einzelne hervorragende Erzähler liegen jedoch schon aus dem vergangenen Jahrhundert vor. In Süd-Estland, in Sangaste, lebte ein schriftunkundiger Handwerker (Schneider?), J u h a n K ü l v a j a , der zu Beginn des 19. Jahrhunderts geboren wurde. An ihn erinnerte man sich noch am Ende des Jahrhunderts als an einen Erzähler mit einem umfangreichen Repertoire. Damals ging man im Frühjahr mit den Pferden zur Nachthütung. An Sonnabenden nahmen die Hütejungen Juhan mit, damit er ihnen auf der Weide Märchen erzählte, und er erzählte dann auch die ganze Nacht – an Stoff fehlte es ihm niemals. Man
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sagt, seine Märchen hätten „mehrere dicke Bücher“ füllen können, doch leider wurde kein einziges aufgeschrieben. In der Nähe des Peipussees, in Kodavere, lebte der blinde Nachthüter E l i a s P ä r n a , von dem im Jahr 1876, als er schon 40 Jahre alt war, einige Aufzeichnungen gemacht wurden. Er konnte den Nachthütern ganze Nächte hindurch Märchen und Sagen erzählen. Wahrscheinlich war er auf Grund seiner guten Erzählfähigkeiten zu den Nachthütern gekommen, denn als Blinder konnte er die eigentlichen Hüteaufgaben kaum erfüllen. Anfang dieses Jahrhunderts lebte in Setumaa eine blinde und schriftunkundige Märchenerzählerin, U s t i n j a K ố i v a s t i k , von der 1929 an die 50 Märchen aufgezeichnet wurden, darunter eine Reihe auffallender Kontaminationsvarianten. Diese Geschichten hatte die Erzählerin in ihrer Kindheit von der Mutter gehört; während die Mutter mit Handarbeiten beschäftigt war, mußte sie für die Kienspanbeleuchtung sorgen, und die Mutter erzählte ihr dabei Geschichten, damit das Kind wach blieb und nicht einschlief. Die Erzählerin hatte ein sehr gutes Gedächtnis und konnte sogar sagen, von wem sie das eine oder andere Märchen gehört hatte. Ihre Märchen sind poetisch formuliert und enthalten liedhafte Zwischenteile; von ihr wurden außer den Märchen auch Volkslieder aufgeschrieben. (In unserer Auswahl stammt Märchen Nr. 7 von ihr.) A n n e V a b a r n a (1877 – 1964), schriftunkundige Bäuerin, Mutter von neun Kindern, war eine populäre Volksliedsängerin der Setukesen (sie wurde lauluema „Liedmutter“ genannt), die an vielen Orten aufgetreten ist, auch auf großen Veranstaltungen in Tallinn, Helsinki und Moskau, außerdem war sie eine hervorragende Märchenerzählerin – von ihr wurden in guter volkstümlicher Diktion mehr als 100 Märchen aufgezeichnet. Ihr Liedrepertoire liegt in umfangreichen Sammlungen vor, außerdem stammen von ihr improvisierte Epen und ein „Versroman“ . Eine gute Kennerin der Märchen und eine geübte Erzählerin war die setukesische Bäuerin V e e r a V a n a k ü l a , deren Märchen 1938 aufgezeichnet wurden (siehe Nr. 70). Das
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Märchenerzählen war bei ihr zu Hause ein feierlicher Vorgang, wie dies vom Befrager beschrieben wurde: „Veera ist eine gute Erzählerin, das reiche Geschichtengut ihrer Mutter hat sie treu bewahrt. Selbst die Nachbarn kommen, ihr zuzuhören, wenn sie im Winter den Kindern Märchen erzählt. Heute bindet sie sich eine saubere Schürze vor, nimmt den Strickstrumpf in die Hand und beginnt: ‚Es war einmal ein sehr reicher Mann…’ Die ganze Familie versammelt sich in der Stube. Vergebens schimpft Veera: ‚Na, was kommt ihr alle hierher? Ihr habt sie doch alle schon gehört! Ivvan, geh und pflanz Kohl!’ Doch Ivvan, ihr Mann, sagt, wahrscheinlich werde es morgen regnen, und es sei besser, dann zu pflanzen, dabei beschäftigt er sich auf dem Ofen mit einer Selbstgedrehten…“ Der schmale Grenzstreifen im Südosten der Estnischen SSR – der Setumaa genannt wird – ist eine jener seltenen Gegenden Estlands, wo man sogar heute noch im volkstümlichen Vortrag Märchen und traditionelle alte Volkslieder hören kann. Dort gibt es Talente, die auf beiden Gebieten begabt sind. Beispiele aus ihrem Geschichtengut finden wir in dieser Auswahl, so von O k s e L u i k (Nr. 56), T a a r k a T a r o (Nr. 13), A n n a K ố i v a s t i k (Nr. 16), K s e n j a L i n n a (Nr. 9), M a t r o o n a K o p l i m ä g i (Nr. 19) u. a. Es ist charakteristisch, daß selbst unter den Setukesen in den letzten Jahrzehnten mehr Frauen als Männer Märchen erzählt haben. Als Erzähler mancher Märchen, die in NordEstland aufgezeichnet wurden, sind auch bekannte Volksliedsänger aufgetreten, wie L e e n u S t e i n b e r g (Nr. 25), von der über hundert Volkslieder aufgezeichnet wurden, L i i s a R e n t e l (Nr. 65) und A a d u V o l t e r (Nr. 128). Der schriftunkundige setukesische Erzähler V a s s i l L i i v a p u u d , dessen Märchen 1938 aufgenommen wurden, wird als ein schauspielerisch begabter Erzähler charakterisiert, der seinen Vortrag mit Gesten, Posen und Mimik begleitete. Er war Händler in einem Dorfladen, und er mußte seinen Vortrag mehrmals wegen der Bedienung der Käufer unterbrechen. Dessenungeachtet trug er seine Geschichten sehr lebendig und mitreißend vor, was davon zeugt, daß er
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sich gut in seine Rolle einleben konnte. In seinem Repertoire gab es auffallend lange Märchen, die er in der Kindheit von seiner blinden Großmutter gehört hatte. Ein besonders freundlicher Erzähler war M a r t L u u r (Nr. 38, 77), ein früherer Fronarbeiter und Waldhüter. A n t o n R o h t , ein Dorfschneider, war 81 Jahre alt, als seine Märchen aufgezeichnet wurden; an seinem Wohnort war er zu dieser Zeit der einzige Erzähler. Er verstand es, das Ende manchen Märchens auf interessante Weise mit seiner Person zu verbinden (Nr. 39). Der erste estnische Erzähler, dessen Repertoire mehr oder weniger vollständig festgehalten wurde, ist K a a r e l J ü r j e n s o n . Der Verfasser dieser Zeilen hat von ihm im Altersheim von Kavastu in den Jahren 1932 – 1933 im Laufe von 11 Tagen 550 Seiten (691 Geschichten) aufgeschrieben, darunter 256 Volkserzählungen (von ihm stammen in der vorliegenden Auswahl die Nr. 37, 88, 130). K. Jürjenson wurde 1868 als Sohn eines Fronarbeiters in Alatskivi geboren. Als Kind lebte er mit seinen Eltern unter Russen im Kreis Oudova, später als ungelernter Arbeiter in der Umgebung von Alatskivi, im 28. Lebensjahr erblindete er. Das von ihm aufgezeichnete Erzählgut umfaßt 55 Märchen, 100 Schwänke, 96 Sagen und 5 Erklärungen zu Naturstimmen. Zu seinen Märchen gehören viele legendenund novellenartige (21 resp. 13), einige Wundermärchen (11) und Tiermärchen (9). Er erzählte viele Schwänke über die Geistlichen und Gutsherren. Zahlreich sind die ethnologischen und mythischen Sagen. Da der Erzähler über ein gutes Gedächtnis verfügte, konnte er von seinen 69 Geschichten sagen, von wem und wo er sie gehört hatte. Auf diese Weise erhielten wir wertvolle Angaben über seine Gewährsleute und über die Herkunft seines Repertoires. Unter seinen Gewährsleuten befanden sich Hirten, Fronarbeiter, Dorfschmiede, Nachthüter, Maurer u. a. Die Geschichten hörte er als Kind beim Hüten, bei Waldarbeiten, beim Warten vor der Mühle, bei Bauarbeiten sowie an anderen Orten. Der Nationalität nach waren
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seine Gewährsleute meist Esten, doch 16 Geschichten hörte er von russischen Erzählern, meist aus dem Kreise Oudova. Allgemein gibt es in seinem Repertoire mehr Themen russischer Herkunft, als ihm selbst bewußt war. Die Märchen Jürjensons enthalten eine ganze Reihe von Motiven, die im estnischen Erzählschatz früher entweder sehr selten oder ganz unbekannt waren, so z.B. Der geizige Bauer und der freigebige Knecht (Andreev 751 II), Petrus’ Mutter wird in den Himmel gebracht (AT 804), Die Axtsuppe (AT/ Andreev 1548), Vorausgesagter Wassertod (Andreev 932 I) u. a. Einzelne russische Worte oder Sätze tauchen in mehreren seiner Schwänke auf. Kaarel Jürjensons Repertoire ist ein Beispiel dafür, wie in den Grenzgebieten des östlichen Estland der estnische mündliche Erzählschatz durch Themen russischer Herkunft bereichert wurde: sie wurden von zeitweilig unter Russen wohnenden zweisprachigen Personen nach Estland gebracht. Dem Inhalt und der Form nach sind die von Jürjenson aufgezeichneten Märchen sehr stabil: die wiederholt erzählten Varianten weisen wenige Abweichungen voneinander auf. Auffallend ist dennoch die Verringerung phantastischer Thematik und die Zunahme realistischer Züge in seinen Geschichten sowie die Verbindung traditioneller Motive mit der örtlichen Natur und mit bekannten Persönlichkeiten, sogar in einem so verbreiteten Märchen wie Der Gegnersucher (AT 650 B). Von diesem Erzähler erhielten wir auch einige legendenartige Märchen. Einige seiner Erzählungen enthalten moralisierende Redensarten und Schlußbemerkungen. In den Schwänken fehlt obszöne Thematik, und die satirischen Züge sind gemildert. Letzteres könnte vor allem dadurch bedingt sein, daß Jürjenson als Invalide gewöhnlich mehr vor Kindern als vor Erwachsenen erzählte. Dementsprechend gestaltete er auch sein Repertoire und seinen Stil. Von A n n P i l b e r g wurden 1933 rd. 50 Märchen und Sagen aufgezeichnet, als sie eine fünfundsiebzigjährige Großmutter war und in der Familie ihres Sohnes auf einem ärmlichen kleinen Gehöft im Bezirk Polva lebte. Sie war ein
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sehr arbeitsamer alter Mensch und erzählte nur bei der Arbeit: beim Essenzubereiten, beim Weben, beim Garnaufwikkeln usw. Als eine sehr lebhafte Erzählerin variierte sie ihre Märchen bei jeder Wiederholung in wesentlichen Zügen. Ann Pilberg legte großen Wert auf die Wahrscheinlichkeit ihrer Erzählungen – alle ihre Geschichten trug sie entweder als persönlich Gesehenes und Erlebtes oder als von glaubwürdigen Personen Wiedergegebenes vor. Selbst ein traditionelles Märchenmotiv wie das vom wunderbaren Korndreschen (AT 752 A) erzählte sie, als hätte es der Großvater selbst gesehen; das Märchen von der Schlange mit dem Hahnenkamm (AT 672 A) als etwas, das der Vater erlebt hatte, und von der Mutter des Kindes als Werwolf (AT 409) als etwas, das die Erzählerin persönlich gesehen hat! Alle Erzählungen Pilbergs beruhten auf festen Glaubensvorstellungen. Für sie existierten noch der Werwolf, die Nixe, der Teufel, der Waldgeist, der Alp ohne jeden Zweifel. Über alle diese Wesen konnte sie sehr überzeugend und plastisch erzählen. Man könnte sie eine schöpferische Erzählerin nennen, denn bei jeder Wiederholung gestaltete sie das jeweilige Motiv wesentlich neu, indem sie nicht nur die Ereignisse, sondern selbst die handelnden Personen veränderte. In ihrem Vortrag bildeten das Gehörte und Gesehene, das Traditionelle und Improvisierte eine untrennbare Einheit. Außer den Märchen und Sagen kannte A. Pilberg viele volkstümliche Glaubensvorstellungen, Sprichwörter und Zaubersprüche. Ebensogut beherrschte sie die volkstümliche Heilkunde und wandte sie an, um den Nachbarn zu helfen. Der blinde Erzähler P e e t e r K ä ä r lebte im Dorf Sadala in der Nähe von Laius. Von ihm wurden in seinen letzten Lebensjahren (er starb 1938 im Alter von fast 79 Jahren) mehr als 200 Schwänke und Sagen aufgezeichnet, die er in Schenken, Schmieden oder in der Mühle (in seinen jungen Jahren war er Müller) gehört hatte. Sein Repertoire bestand aus Geschichten, die für Männer bestimmt waren, darunter waren zahlreiche erotisch gefärbte Schwänke und Anekdo-
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ten. Die Sagen enthielten vorwiegend Motive von versteckten und gefundenen Schätzen. Auch in den allerletzten Jahren trafen folkloristische Expeditionen auf begabte Erzähler, die mehrere Dutzend Geschichten auf einmal auf Band sprechen konnten. Meist waren es ältere Menschen, oft Waldarbeiter, Traktoristen oder Vertreter von Berufen, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden waren. Doch auch junge Menschen wiesen auf diesem Gebiet bemerkenswerte Talente auf. 1962 wurden von dem fünfundzwanzigjährigen Bewohner der Insel Saaremaa, V i l l e m R o o d a , 140 Schwänke auf Band aufgenommen. Die Bandaufnahme fand in einem Sanatorium statt, wo der Erzähler zur Kur weilte. Der Erzähler hatte als Traktorist an verschiedenen Orten gearbeitet und abendliche Zusammenkünfte, bei denen gearbeitet wurde, sowie Familienfeste besucht. Sein Repertoire bestand hauptsächlich aus Schwänken, die in der Gegenwart überliefert werden. Wie wurde erzählt Eine wichtige Komponente der Volkserzählung ist die Art und Weise des Erzählens. Ein guter Erzähler ist stets bestrebt, seine Geschichten lebendig, interessant und mitreißend zu erzählen. Um das zu erreichen, muß er den Geschmack und das Interessengebiet der Zuhörer zu treffen verstehen. Ein guter Kontakt zu den Zuhörern wird auch durch den richtigen Platz des Erzählers begünstigt. Gewöhnlich saß er in der Nähe der Lichtquelle, zuweilen auch auf einem erhöhten Platz, damit ihn alle sehen konnten. In engen, ärmlichen Wohnräumen wurde den Kindern früher auch so erzählt, daß der Erzähler bäuchlings auf dem Ofen lag und die Zuhörer in einem Halbkreis saßen, den Blick auf den Erzähler gerichtet. – Es gibt Erinnerungen an einen Dorfschneider, der an Winterabenden, wenn die Frauen und Mädchen am Spinnrad saßen, die Spinnräder im Kreis aufstellen ließ, sich selbst in die Mitte setzte und den Spinnerinnen dann „tolle Geschichten“ erzählte.
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Der Erzähler mußte seine Stimme verändern, um die einzelnen handelnden Personen zu charakterisieren. Überhaupt mußte ein guter Erzähler über schauspielerisches Talent verfügen, damit die Zuhörer gepackt wurden. Besonders aufmerksam verfolgten die Kinder das Auftreten des Erzählers; lebendig erzählte Geschichten ließen sie mehrmals wiederholen. Die erwachsene Jugend legte Wert auf die erheiternde und aufregende Seite der Erzählung; beim Erzählen in völliger Dunkelheit wurden überraschende Effekte verwendet (Erschrecken, Ausrufe usw.). Die älteren Frauen beschäftigten sich beim Märchenerzählen gewöhnlich mit irgendwelcher Handarbeit, z. B. mit Stricken; beim Erzählen draußen war es bei den Setu-Frauen Sitte, Gras zu rupfen, Blätter von den Sträuchern zu pflücken – die Hände suchten Beschäftigung. Für die älteren Männer ist oft eine mimisch-drastische Erzählweise charakteristisch, insbesondere bei einem größeren Zuhörerkreis oder beim Erzählen von Schwänken. Bei antiklerikalen Schwänken wurden die örtlichen Geistlichen parodiert, ihre Sprechweise und ihre Gesten nachgeahmt. Humoristische „Hochzeitspredigten“ wurden von einem erhöhten Platz (der „Kanzel“) dargeboten und dabei sogar Requisiten verwendet („Talar“, weiße Binde). Aus solchen Parodien entwickelten sich dramatisierte Dialoge (es traten auf: „der Pastor“ und „der Küster“ oder „der Pope“ und „der Diakon“). Der Gebrauch von Gesten ergibt sich zuweilen schon aus dem Inhalt des Erzählten. So wurde z. B. im Pastorenschwank Wer hat die Welt erschaffen? (AT 1785 B) das Schlagen der Hände gegen den Kanzelrand imitiert, es wurde die „beschmierte“ oder „verletzte“ Hand gegen die Zuhörer ausgestreckt usw. Je nach dem Inhalt zeigte der Erzähler mit der Hand die Höhe eines Gegenstandes, die außergewöhnliche Länge eines gefangenen Fisches, schlug die Hände zusammen oder breitete die Arme aus, stand auf, stampfte mit dem Fuß auf usw. Für einige Erzähler war es charakteristisch, das Hauptmotiv der Geschichte mit der eigenen Person zu verbinden
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(als Egomorphismus); dieses Verfahren fand hauptsächlich beim Erzählen verschiedener Schwänke Anwendung (meistens bei AT 1696, 1875, 1880, 1960 G), doch auch beim Erzählen von Kriegsabenteuern und Jagdgeschichten, zuweilen auch bei Märchen und Sagen. In einigen Fällen haben Erzähler der Setukesen als Ausdruck des Egomorphismus zu Beginn des Märchens ihren Namen in dieses hineingeflochten. Allgemein gebräuchlich war es, daß ein erfahrener Schwankerzähler die komischen Geschichten mit ernstem Gesicht vortrug und selbst nicht über seine Späße lachte. Für gewöhnlich weisen Märchen, Schwänke und Sagen den jeweiligen lokalen Dialekt auf. Argot, dialektale oder fremdsprachige Ausdrücke werden beim Erzählen zur Erhöhung der Komik in die Geschichte eingefügt. Zuweilen enthalten sogar Tiermärchen fremdsprachige Wörter und Redewendungen (s. Nr. 32). Allgemein hängt die Vortragsweise des Erzählers von der Art, von der Gattung der jeweiligen Geschichte ab. Märchen, Sagen und Schwänke wurden auf unterschiedliche Weise dargeboten. Für das südöstliche Estland (Setu) ist es kennzeichnend, daß dort die im Märchen eingeschobenen Verse (wenn es sie gibt) gewöhnlich nach einer Melodie gesungen werden. Der Vortrag des Erzählers konnte auch durch Reaktionen der Zuhörer beeinflußt werden, durch Zwischenrufe oder durch direkte Wunschbekundungen, die eine oder die andere Geschichte zu erzählen. Einige Erzähler hatten bestimmte Geschichten besonders gut (als „Schlager“) ausgearbeitet, so daß die Zuhörer sie wegen der fesselnden Darbietung immer wieder hören wollten; gewöhnlich waren solche Vorträge mit Egomorphismus verbunden. Das Erzählen ist besonders erfolgreich, wenn mehrere Erzähler zusammenkommen, dann wird der Reihe nach erzählt: während der eine erzählt, kann sich der andere auf Neues besinnen. Die Vortragsweise eines guten Erzählers kann an einem Ort zur Norm werden, nach der auch andere streben, d. h. sie bemühen sich, die Geschichten eines bestimmten Erzäh-
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lers in seiner Diktion und Manier vorzutragen. Dadurch bleibt das Erzählgut bestimmter Personen in deren besonderer Stilart erhalten. Es bestehen so auch Zyklen von Märchen und Schwänken, die sich an eine Person knüpfen (z. B. Die Geschichten des Usara-Tani Nr. 136). Beim Erzählen vor Kindern wurden zuweilen einführende Vorgeschichten gebracht, um die Aufmerksamkeit der jungen Zuhörer zu konzentrieren. Als Vorgeschichte wird an einige Kinderverse erinnert, es werden „Märchlein“ erzählt, die nur aus ein paar Sätzen bestehen und endlos, bis zum Überdruß wiederholt werden (sog. Geschichte vom weißen Ochsen, Geschichte vom großen Ochsen u. a.). Erst wenn die Kinder ihrer überdrüssig sind und um mehr bitten, beginnt der Erzähler mit dem richtigen Märchen. Während der Erzähler auf diese Weise die Kinder anregt und auf ein gutes Zuhören vorbereitet, kann er selbst überlegen, womit er beginnen und was er erzählen soll. Zuweilen wird das Erzählen vor Kindern mit einer Geschichte beendet, die Schweigen verlangt. Funktionen des Erzählens Die mündliche Volksdichtung in Prosaform bildet einen wesentlichen Teil der überlieferten Volkskultur. Verschiedene Arbeits- und Lebenserfahrungen, Glaubensvorstellungen und Meinungen, geschichtliche Erinnerungen usw. – all das wurde in der Vergangenheit in Erzählungen, mündlich, von einer Generation zur anderen weitergegeben. Doch hatte das Erzählen auch andere Aufgaben, nicht nur die der Tradierung von Erfahrungen und Erinnerungen. Bei den Esten sind u. a. Erinnerungen an das Erzählen als Mittel der Produktionsmagie erhalten geblieben. In alten Zeiten lag der Höhepunkt des Märchenerzählens anscheinend im Spätherbst, insbesondere am Ende dieser Periode, und man glaubte, diese Tätigkeit stehe in einem magischen Zusammenhang mit der Tieraufzucht. Hierbei wurden gewöhnlich nicht nur Märchen erzählt, sondern auch Rätsel aufgegeben. Eifriges Märchenerzählen in den Stunden der Dämmerung oder kurz vor Weihnachten sollte die Vermeh-
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rung und das Gedeihen der Haustiere günstig beeinflussen („es wachsen gute Stiere und große Hörner heran“ usw.; hierbei ist der „Stier“ vermutlich das Substitut für das Haustier schlechthin). Wenn zur „Seelenzeit“ und vor Weihnachten die Frauen viele Rätsel lösten, dann sollten viele bunte Kälber und Lämmer zur Welt kommen. Jedoch nach Weihnachten, wenn es im Stall schon neugeborenes Jungvieh gab, war das Märchenerzählen und Rätselraten plötzlich verboten – man mußte darauf völlig verzichten. An solche Glaubensvorstellungen erinnerte man sich besonders in Süd-Estland. Entsprechungen und Parallelen sind bei Letten, Belorussen, Udmurten und Finnen zu finden. Es muß sich um eine sehr alte Erscheinung handeln, deren Ursprung in der Vorstellung von der Beeinflußbarkeit der Waldgeister durch poetische Dichtung begründet liegen könnte, einer Vorstellung, wie sie bei Jägervölkern bekannt ist (bei Mordwinen, Mari u. a.). Einfluß und Bedeutung der Volkserzählung kommt auch in ihrem ethischen Aspekt zum Ausdruck. Mit Heldensagen und Reckengeschichten suchte man in den Zuhörern Männlichkeit, Reckenhaftigkeit und aktive Kampfbereitschaft zu wecken. Volkserzählungen besitzen zumeist eine erzieherische und belehrende Funktion im Hinblick auf die Kinder und die Jugend. In der Vergangenheit förderten die gute Kenntnis der Volkserzählungen (Märchen) und gewandtes Erzählen die menschlichen Beziehungen – es half z. B. den Reisenden, ein Nachtquartier zu bekommen, den Bettlern, eine Wohnstätte zu finden, dem Kaufmann, die Käufer anzulocken, Streitfragen zu schlichten usw. In einigen estnischen Märchen (AT 840) heißt es, man habe von demjenigen, der um ein Nachtquartier bat, verlangt, er möge dafür etwas erzählen. Auch in estnischen Schwänken begegnet das weitverbreitete Motiv: der Angeklagte geht straffrei aus, wenn er dem Richter eine Geschichte erzählt. In der neueren Zeit diente das Erzählen von Märchen und Schwänken in verschiedenen sozialen Gruppen (insbesondere unter den Männern) weitgehend der Belustigung und dem
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Zeitvertreib, bei kollektiver Arbeit auch der Arbeitserleichterung und dem Lebensmut der Menschen, aber andererseits auch dem ästhetischen Vergnügen, der inhaltsvollen Gestaltung der Freizeit, sei es zu Hause, zu Festtagen oder zu feierlichen Anlässen. Volkserzählungen mit satirischem Inhalt dienten als politische Kampfwaffe gegen die Unterdrücker, insbesondere unter den Bedingungen eines verschärften Klassenkampfes.
5. Märchenarten
In der estnischen Volksdichtung bilden Märchen die am meisten verbreitete und entwickelte Gattung der Prosaform. Märchen spiegeln bereits sehr früh das Leben und die Vorstellungswelt ihrer Entstehungszeit wider. Sobald sich in der Gesellschaft bedeutende historische Veränderungen und kulturelle Entwicklungsprozesse vollzogen hatten, fanden sie auch im Märchen ihren Niederschlag. Grundsätzlich verlief die Entwicklung der Märchen auf dem Wege der Abnahme des Phantastischen und der Zunahme des Realistischen; deshalb sind jüngere Märchenschichten zumeist realistischer als ältere. In den ältesten Schichten zeichnet sich der Kampf des Menschen mit der Natur und mit verschiedenen, nur in der Vorstellung existierenden Wesen ab. Den Verhältnissen des Mittelalters entsprechend erschienen in den Märchen dieser Zeit vorwiegend Könige, Prinzen und Prinzessinnen, auch Fürsten, Grafen und fahrende Leute. Starke Spuren haben in den estnischen Märchen die lokalen Bedingungen der Leibeigenschaft und der Fron hinterlassen, die Verhältnisse eines sich ständig verschärfenden Kampfes zwischen dem Gut und dem Dorf sowie zwischen den Reichen und Armen. Die Haupthelden dieser Märchen waren arbeitende Menschen: arme Bauern und Kätner, Knechte, Waisenkinder. Im Laufe von mehreren Generationen wurden die Volksmärchen geschliffen und vervollkommnet, und sie hatten – wie auch verschiedene andere Werke der Folklore – zum Teil große erzieherische Bedeutung. Da die ausgebeuteten Schichten des Volkes keine eigenen literarischen Werke be-
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saßen, bildeten die mündlich überlieferten Märchen eine Quelle, aus der sich die Jugend wie die Erwachsenen Kraft und Lebensweisheit aneigneten. Neben ihrer ethischen und pädagogischen Bedeutung besaßen die mündlich tradierten Märchen auch eine ästhetische Funktion: sie bereicherten und verschönerten das Leben der einfachen Menschen, sie brachten ihnen das gewünschte Vergnügen an langen Winterabenden und erleichterten manche eintönige Arbeit. Von besonderer Beständigkeit sind solche Themen und künstlerische Gestalten der Märchen, die gewissermaßen die Erfahrungen und Bestrebungen einer breiten Volksmasse verallgemeinern. Die Helden der Märchen sind keine individuellen, sondern typische Gestalten, mit stets gleichartigen charakteristischen Zügen (die Stiefmutter ist stets böse und grausam, das Waisenkind stets schön, freundlich und hilfsbereit, usw.). Die in den Märchen enthaltenen Lebenserfahrungen und Wahrheiten werden in einer Gegenüberstellung von Helden und Umständen dargebracht. Deshalb treten die positiven handelnden Personen besonders leuchtend hervor. Der Märchenheld ist zu Beginn zurückhaltend und unauffällig, doch weil er gut und mitleidig ist, helfen ihm das Glück oder übernatürliche Kräfte, und allmählich überwindet er alle Hindernisse und gelangt an das gewünschte Ziel. Das Märchen verbreitet sich als Prosawerk leicht von einem Ort zum anderen, von einem Volk zum anderen. Deshalb sind die meisten Märchen international. Es gibt wenige Motive, die nur bei einzelnen Völkern bekannt sind. Dennoch hat jedes Volk seinen eigenen Märchenstil und seine eigene Vortragsweise. Die Esten haben Märchen mit allen Nachbarvölkern ausgetauscht. In die estnische Volksdichtung sind vorwiegend Märchen aus dem russischen und dem deutschen Erzählgut eingewandert. Aus Rußland sind in bedeutendem Maße Märchen durch den Militärdienst eingeflossen. Überhaupt scheint Ost-Estland an Märchen reicher zu sein als WestEstland. Auffallend märchenreich aber ist das Gebiet der Setukesen im südöstlichen Estland, wo es noch heute gute
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Märchenerzähler mit umfangreichem Repertoire und einer guten Vortragsweise gibt. In der vorliegenden Auswahl entspricht die Einordnung und Unterteilung der Märchen der international üblichen Gliederung: 1. Tiermärchen, 2. Zaubermärchen, 3. Legendenmärchen, 4. Novellenmärchen, 5. Märchen vom dummen Teufel (Vanapagan), 6. Schwänke. Über das zahlenmäßige Verhältnis dieser Gruppen zueinander kann einiges anhand der typologischen Kartothek der estnischen Märchen ausgesagt werden, die sich in Tartu in der Abteilung für Volksdichtung des Literaturmuseums „Fr. R. Kreutzwald“ befindet (A. Aarnes Estnische Märchen- und Sagenvarianten [1918] wurden anhand einer einzigen Sammlung zusammengestellt und geben keinen allgemeinen Überblick). Die Kartothek enthält auf Zetteln geschriebene Konspekte der in handschriftlichen Sammlungen enthaltenen Märchen. Diese Konspekte sind nach dem AarneThompson-Katalog geordnet (The Types of the Folktale, Helsinki 1961, FFC 184). Aus der Kartothek geht hervor, daß die Sammlungen estnischer Volksdichtung vorwiegend Zaubermärchen enthalten; von diesen existieren mindestens 200 bekannte Typen, und auch die Varianten sind sehr zahlreich (auf einige besonders populäre Typen kommen 100 Varianten und mehr). – Der Typenzahl nach gibt es auch viele Tiermärchen (etwa 170 Typen), doch entfallen auf diese nur wenige Varianten. Nicht so zahlreich sind im estnischen Märchenbestand Legendenmärchen sowie Märchen vom Vanapagan – es existieren jeweils etwa 90 bekannte Typen. – Die Sammlungen enthalten am wenigsten Aufzeichnungen von Novellenmärchen – nur etwa 70 Typen. – Schwänke sind in Estland auffallend zahlreich gesammelt worden (ca. 25 000 Varianten); die vorliegende Auswahl bringt diese nur in einzelnen Beispielen und davon die populärsten Typen. Tiermärchen Die Tiermärchen gehören zur ältesten Schicht der Volksmärchen. Doch hat sich im Laufe der Zeit das Verhältnis des
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Menschen zu den Tieren wesentlich gewandelt. In der estnischen Volksdichtung blieben keine Tiermärchen erhalten, aus denen sich die Angst vor den Waldtieren oder ihre besondere Verehrung erkennen lassen, wie es bei der Erzählüberlieferung anderer Völker der Fall ist. In den estnischen Tiermärchen sind die Haustiere den Waldtieren und die Menschen allen Tieren überlegen. Das Leben der Tiere, ihr Verhalten und ihre gegenseitigen Beziehungen werden in den estnischen Märchen auf sehr menschliche Art beschrieben: die Tiere grüßen sich bei ihrem Zusammentreffen ebenso wie die Menschen, sie bauen sich Wohnstätten, verrichten komplizierte Arbeiten (Nr. 3 Der Fuchs und der Wolf dreschen Korn); Waldtiere unterhalten freundschaftliche Beziehungen zu Haustieren, treten in die Dienste des Menschen (Nr. 7 Der Fuchs als Gänsehirt); Waldtiere werden auch als dankbar gegenüber dem Menschen gezeigt (Nr. 23 Der dankbare Wolf) usw. Am häufigsten kommen in den estnischen Tiermärchen die Erzählungen von Waldtieren, seltener die von Haustieren und Vögeln vor. In diesen Geschichten geht es meist um den Kampf zwischen zwei Antipoden: zwischen einem größeren und einem kleineren Tier, zwischen Wald- und Haustier, zwischen Vogel und Vierbeiner. Unter den estnischen Tiermärchen sind Aufzeichnungen folgender Typen besonders zahlreich: Die Heirat der Krähe (Nr. 31, AT 243*), Vorgetäuschter Taufbesuch (AT 15, s. Nr. 4), Der Wolf beim Fest (AT 100, s. Nr. 16), Die junge Frau des Fuchses (AT 103 u. 103A, s. Nr. 17) und Der verprügelte Wolf (AT 122A, s. Nr. 10). Es gibt noch eine Reihe anderer populärer Tiermärchen, doch sind sie in relativ begrenztem Gebiet verbreitet, nämlich im südöstlichen Estland (insbesondere bei den Setukesen): Der Fuchs als Gänsehirt (Nr. 7, AT 37*), Das Haus aus Eis (Nr. 9, AT 43), Das Kätzchen und das Hähnchen (Nr. 13, AT 61B), Der Hund als Schuster (AT 102, s. Nr. 16), Das Haus des Ochsen (AT 130A, s. Nr. 21) sowie andere. Ursprungssagen von Tieren wurden oftmals den Märchen als ein erklärender Schluß angefügt (z. B. die Entstehung
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des kurzen Schwanzes bei einem Tier oder dessen Färbung u. ä. m.). Manche Tiermärchen tragen auch humoristische, schwankhafte Züge (z. B. Nr. 18 Der Bär wird für den Pastor gehalten, Nr. 32 Der Truthahn, die Ente und der Gänserich). Einige rhythmische Redensarten scheinen den Tiermärchen zu entstammen und existieren selbständig entweder als Naturstimmen oder als Sprichwörter (s. Anmerkungen Nr. 3, 30, 31). Mit ihrer naturnahen Thematik und ihrem allgemeinhin einfacheren Stil bilden die Tiermärchen eine beliebte Gattung für Kinder. Diese stellen sich die Helden der Märchen als Tiere vor, während sie von den Erwachsenen als durchaus menschlich handelnde Personen mit deren verschiedenen Schwächen und negativen Charakterzügen empfunden werden. Die populärste Gestalt der estnischen Tiermärchen ist der schlaue Fuchs. Häufig verbinden sich Fuchserzählungen zu einer langen Geschichte, die aus mehreren Märchentypen besteht (z. B. Nr. 1). Als Gegner des schlauen Fuchses tritt hauptsächlich der dumme Wolf auf. Das Betrügen, Narren und Verderben des Wolfes ist daher auch das häufigste Thema der Fuchserzählungen. Der Fuchs wird allen Tieren und Vögeln gegenüber zumeist als boshaft und hinterlistig dargestellt, doch bleibt seine Bosheit nicht immer ungestraft: schlauer und klüger als er erweist sich der Igel, der den Fuchs in das Fangeisen zum „Kannel spielen“ lenkt (Nr. 6 Der Igel und der Fuchs in der Grube). Auch dem Menschen gegenüber wird der Fuchs als schlauer Betrüger hingestellt (vgl. Nr. 26 Der Fuchs im Nachtquartier). Der Wolf ist in den Märchen dumm-gierig und leicht zu täuschen; mit ihm wird selbst ein Schaf oder eine Ziege (Nr. 9 Das Haus aus Eis und das Haus aus Stein) fertig, erst recht dann ein Fuchs. Auch beim Zusammentreffen mit Menschen erweist sich der Wolf als dumm und wird meist verprügelt (Nr. 24 Bist du ein Mann?). Als täppisch wird in den Tiermärchen der Bär dargestellt, der vom Fuchs oft betrogen wird, den aber auch der Mensch besiegen oder einfach auslachen kann (Nr. 22 Der Bauer,
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der Bär und der Fuchs, Nr. 25 Ein altes Weib überlistet den Bären). Die übrigen Waldtiere erscheinen in kleineren episodischen Rollen. Von den Haustieren sind in den estnischen Märchen am bekanntesten der Hund und die Katze. Zuweilen wird der Hund in einem freundschaftlichen Verhältnis zum Wolf gezeigt, jedoch als der Klügere und Schlauere (Nr. 16 Der alte Hund und der Wolf). Populär ist die Geschichte vom „Zeugnis“ oder „Paß“ des Hundes, dessen Verlust den ewigen Zwist zwischen den Hunden und Katzen sowie zwischen den Katzen und Mäusen begründet haben soll (Nr. 27 Das Zeugnis des Hundes). In den Setu-Märchen erscheint die Katze als selbständige Hausfrau, sie schützt und hilft dem Hahn gegen die Angriffe des Fuchses (Nr. 13 Das Kätzchen und das Hähnchen). Über die Vögel gibt es wenige selbständige Märchentypen und zu diesen nur wenige Varianten (eine Ausnahme bildet AT 243*). Im Kampf mit den Vierbeinern betonen die Märchen die Bedeutung der Einmütigkeit und der Kollektivität, die auch den Schwachen stark machen (Nr. 28 Der Krieg der Vögel und der Insekten mit den Vierbeinern). Im Laufe der Zeit hat sich eine besondere Struktur der Tiermärchen herausgebildet. Zumeist sind sie kurz und einmotivisch, doch gibt es auch verschiedene Kontaminationen, bei denen sich um eine Hauptperson mehrere typische Motive ranken. Ein charakteristisches kompositorisches Verfahren bilden die wiederholten Begegnungen handelnder Personen in den Tiermärchen sowie die Verwendung zahlreicher Dialoge. Typisch sind auch die Steigerungen, d. h., einzelne Episoden können zwei oder auch mehrere Male wiederholt werden. Insbesondere in den Setu-Tiermärchen begegnen liedhafte Dialoge, die sich wiederholen (Nr. 19 Die Sau und der Wolf, Nr. 13 Das Kätzchen und das Hähnchen u. a.). Solche liedhaften Zwischenteile wurden auch früher nach einer Melodie (singend) vorgetragen, was die Geschichte lebhafter und dramatischer gestaltete. Charakteristisch für die Sprachform
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der Setu-Tiermärchen ist u. a. ein häufiger Gebrauch der Diminutive. Ein traditioneller Anfang und Schluß sind den Tiermärchen weniger eigen; feststehender Schluß kommt allerdings zuweilen vor. Die Geschichte, kann z. B. mit einer Redewendung oder einem Sprichwort abgeschlossen werden. Zaubermärchen Im Bestand der estnischen Märchen bilden die Zaubermärchen die meist vertretene und umfassendste Unterart. Anzahlmäßig gibt es bei den Zaubermärchen mehr Typen und Varianten als bei den anderen Märchenarten. Besonders populär waren die Märchen vom starken Jungen, vom reichen und armen Bruder, von der Haustochter und dem Waisenkind, vom jüngeren Bruder oder der jüngeren Schwester (als beliebte Typen gelten: AT 650 mit 200 Varianten, AT 480 mit mehr als 200 Varianten, AT 530 + 530A mit 120 Varianten). Die handelnden Personen der Zaubermärchen sind zumeist Menschen, die entweder übernatürliche Fähigkeiten besitzen (beispielsweise reckenhafte Kraft), die besonders klug und geschickt sind, oder aber solche, denen Helfer mit übernatürlichen Kräften beistehen und die den Sieg mit Hilfe verschiedener magischer Gegenstände (Zaubermittel) erringen. Oft kämpfen die Helden der Zaubermärchen mit phantastischen Gegnern, besuchen die „andere Welt“ usw. Auch die phantastischste Seite der Zaubermärchen spiegelt eine reale Wirklichkeit wider, das Leben und den Kampf der einfachen Menschen. Im Laufe vieler Generationen – während der Zeit des Feudalismus und des Kapitalismus – lebte der Traum von einem besseren, begüterten, glücklicheren und gerechteren Leben. Man versuchte, die elementaren Naturkräfte zu unterwerfen und in den Dienst des Menschen zu stellen; man träumte davon, die Krankheiten, das Altwerden und den Tod zu überwinden, sich von der schweren Arbeit zu befreien. In den Zaubermärchen erhielt sich der Nachhall verschiedener alter Glaubensvorstellungen, die auf dem Animismus
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sowie auf dem Glauben an die Magie und an die Kraft des Wortes beruhten. Mit den handelnden Personen dieser Märchen geschehen verschiedene Verwandlungen: sie verwandeln sich nach eigenem Wunsch oder nach dem eines anderen in Tiere, Vögel, Fische, Pflanzen usw.; sie können sich versteinern oder für längere Zeit einschlafen, sich später von dem Zauber befreien, vom Tode wieder auferstehen u. ä. Auch die Tiere, die in den Zaubermärchen erscheinen, besitzen außergewöhnliche Kräfte und helfen vor allem dem Helden. Es gibt keine scharfe Abgrenzung zwischen Mensch und Tier: ein starker Held erscheint zuweilen als vom Tier geboren (Bärensohn, Stutensohn usw.). Einige Themen wiederholen sich in vielen Typen der Zaubermärchen und in verschiedenen Kombinationen. Sehr verbreitet ist z. B. die Brautwerbung – das Freien der Königstochter unter Mitwirkung zauberbegabter Helfer und mit Hilfe von Zaubermitteln. Hierbei verkörpert die Königstochter das Märchenideal einer Braut – sie ist die Schönste und die Reichste. Da im Märchen die Kontraste äußerst scharf sind, freit – nach den Wunschvorstellungen dieser Erzählgattung – ein Schweinehirt die Königstochter und ein Königssohn das Aschenbrödel. Oftmals gerät eine Märchenperson in schwierige Situationen wegen eines Versprechens oder Gelöbnisses, das in auswegloser Lage gegeben wurde („versprich mir das, was du, ohne es zu wissen, zu Hause hast“); das Entkommen, Sichherauswinden aus dem Teufelsnetz aber ist mit unbewältigbaren Arbeiten und komplizierten Verwandlungen verbunden. Überhaupt spielt in den Zaubermärchen oft die Unterwelt oder die später daraus entstandene Hölle eine große Rolle. Von dort holt man Wunderdinge, dort gewinnt man Geld und Reichtum. In den estnischen Zaubermärchen ist außerdem das folgende Motiv sehr beliebt: In der Hölle erst wird an den Fronherrn und Unterdrückern vom Helden die Rache vollzogen – an den bösen Gutsherren, Gutsvögten u. a. (Nr. 60 Der Fronarbeiter als Kesselheizer in der Hölle, Nr. 58 Die Geige aus der Hölle). Bekannt ist auch das Motiv
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vom Ausrauben der Hölle (Nr. 46 Die gute Tat des Kalevipoeg). In der Inhaltstendenz der Zaubermärchen dominieren drei Hauptziele – das Streben nach der Frau (Familiengründung), das Streben nach Reichtum, das Streben nach Glück. Die Haupthelden stammen aus dem Kreis armer arbeitender Menschen, wie der arme Knecht, der Sohn des Katen-Ants, der Schweinehirt, der ausgediente Soldat, der von anderen verachtete und beiseite geschobene jüngere Bruder (auch Schwester), das fleißige Waisenkind, der geschickte Schmied usw. Einer der populärsten Handlungsträger der estnischen Märchen ist der starke Junge, ein junger Mensch mit übernatürlich großer Körperkraft (AT 650A). Er kämpft allein und vollbringt ohne große Anstrengung schwere Arbeiten und löst sogar als nicht ausführbar betrachtete Aufgaben. In einigen Märchen erscheint in der Figur des Kraftmenschen der Held des estnischen Volksepos Kalevipoeg (Nr. 46, 87). Der in den russischen Bylinen und Märchen so populäre Recke Ilja Muromez ist auch in den Märchen Ost-Estlands bekannt, doch stets unter verschiedenen Namen (Nr. 86 Wie der lahme Knabe ein Held wurde). Auf vielfältige Weise spiegeln die Zaubermärchen die Zustände der Leibeigenschaft wider. Ein starker Bursche arbeitet gewöhnlich als Knecht auf dem Gut, und der Anlaß zu seinen Heldentaten ist das Bestreben, den Gutsherrn zu schädigen (er trägt auf dem Rücken die Habe des Gutes fort zusammen mit dem Speicher, zuweilen sogar mitsamt dem Gutsherrn) (s. Nr. 85 Mats’ Sohn Mats). Oft werden in den Märchen die Schwierigkeiten und die materiellen Sorgen der Armen betont. Als eine besonders ersehnte und wertvolle Errungenschaft erscheint den Märchenerzählern das Erlangen der „Freiheit“, d. h. die Befreiung von der Leibeigenschaft (Nr. 82, 128). Eine beliebte Märchenheldin Estlands ist das von der Welt verachtete Waisenkind. Es ist immer fleißig, schön, freundlich und hilfsbereit, seine Gegner in aber, die Tochter der Stiefmutter, häßlich, hochmütig, faul und rücksichtslos. Im
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Verlauf der Geschehnisse erlangt das Waisenkind ein glückliches Leben, ihre Gegnerin jedoch kommt um oder erlangt Spott und Schande (Nr. 53, 61, 62). Häufig ist der Held eines Zaubermärchens der dritte bzw. der jüngste Bruder. Im Gegensatz zu den anderen Brüdern erfüllt er seine Aufgaben stets ordentlich und genau, hält sein Wort, ist freundlich und kameradschaftlich zu Menschen wie Tieren und erweist sich im Vergleich mit seinen Brüdern immer als der Gewandtere und der Tüchtigere. Nur er kommt zum Erfolg, erreicht das gesetzte Ziel. Als Gegner der positiven Helden erscheinen Hexen, Zwerge, Teufel und phantastische mehrköpfige Ungeheuer. Sie sind zwar äußerlich schreckenerregend, jedoch durchweg dumm und begriffsstutzig. Es ist stets möglich, sie zu besiegen. Als Helfer, die mit Zauberkräften ausgestattet sind, die den Märchenhelden belehren und die ihm helfen, stehen ihm verschiedene Tiere bei, vorwiegend Hunde und Pferde, doch auch andere Tiere und Vögel. Hierin dürfte ein ferner Widerhall des Totemismus zu erblicken sein. Wesentliche Bedeutung kommt der Zaubermacht und den konkreten Zaubergegenständen zu. So sorgen die Mühle und der Futtersack für das Essen, der Ring erfüllt alle Wünsche, der Hut macht unsichtbar, die Bastschuhe bringen schnell vorwärts, die Flöte bringt alle zum Tanzen (selbst die Toten!), ein Wunderhuhn legt goldene Eier usw. Ein Zauberprügel wird gebraucht, um die Feinde des Helden zu verprügeln, insbesondere Menschenschinder auf dem Gut zu bestrafen (Nr. 58 Die Geige aus der Hölle). Die Zaubermärchen preisen den Edelmut und den Gerechtigkeitssinn, verachten aber den Hochmut, die Schroffheit und die Habgier (Nr. 73 Die Wohltaten des heiligen Baumes). Am Schluß einiger Märchen wird ein eigenartiger Gedanke geäußert: Es werden alle Teufel aus der Hölle verjagt, und man bleibt selbst mit der Verwandtschaft auf dem „Gut des Teufels“ wohnen (Nr. 71 Die Tiere als Schwäger). Anscheinend haben in späteren Zeiten die realen irdischen Gü-
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ter als Vorbild für die Beschreibung der Teufelsbehausung gedient. Überhaupt steht das Verhältnis des estnischen Volkes zum Teufel und zur Hölle in völligem Gegensatz zur Ideologie der herrschenden Klasse. Ungeachtet dessen, daß das Volk schon mehrere Jahrhunderte lang mit dem Teufel und der Hölle geschreckt worden ist, hat das Volk selbst in seinen Dichtungen den Teufel als ein ziemlich einfältiges Männchen, zuweilen aber auch als einen Freund und Helfer des armen Mannes dargestellt. Der Teufel fordert z. B. einen weggelaufenen Gutsknecht auf, bei ihm in der Hölle in den Dienst zu treten u. a. m. Durch solche Unterstützung der Unterdrückten hilft der Teufel die Rache an den Unterdrükkern zu organisieren. In einigen Märchen erscheint dies als ein völlig selbständiges Thema (Nr. 60 Der Fronarbeiter als Kesselheizer in der Hölle). Künstlerisch haben sich die Zaubermärchen bemerkenswert entwickelt: es gibt mannigfaltige Wiederholungen, den traditionellen Schluß, zuweilen auch sich wiederholende Zwischenverse. Gerade in den Zaubermärchen kommt das Poetische der mündlichen Volksdichtung überzeugend zur Geltung. Besonders charakteristisch für das Zaubermärchen ist die Dreizahl. In vielen Märchen gibt es drei handelnde Personen (drei Brüder, drei Schwestern); die handelnden Personen haben drei Helfer (Hunde, Pferde) oder drei Zaubergegenstände; die handelnden Personen müssen drei Aufgaben erfüllen usw. Oft gibt es auch graduelle Wiederholungen: die Aufgabe wird von Mal zu Mal schwieriger. Zuweilen wiederholen sich sehr genau auch recht lange Szenen. Es wiederholen sich außerdem die Vielfachen der 3, die Zahlen 9 und 12 (z. B. als Zahl der Drachenköpfe). Ebenso wiederholt sich die Zahl sieben – sieben Brüder suchen sieben Bräute. Oft begegnet auch folgende Steigerung: kupfern, silbern, golden oder silbern, golden, diamanten (Kleidung des Helden, der Pferde, der Vögel u. a. m.). In den Texten der besten Erzähler und Aufzeichner sind unter den poetischen Formulierungen für interessant gehal-
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tene Redewendungen zu finden, alliterierende Ausdrücke, rhythmische Zwischenverse usw., die meist mehrmals gebraucht werden. Zuweilen trägt der Hauptheld seine Repliken in Versen vor. Dennoch taucht in den Zaubermärchen ein Dialog in Versform verhältnismäßig selten auf. Verse findet man des öfteren bei den Setukesen (siehe Nr. 55 Die Frau der Schlange, Nr. 56 Der verschwundene Mann). Von einer Grundform oder von einem Ausgangsschema der estnischen Zaubermärchen kann man kaum sprechen, zuweilen jedoch wird mit der Darstellung von Lebensumständen begonnen und gesagt, wo der Held in Armut und Not gebracht wird, daß er ein schweres Leibeigenenleben auf dem Gut führt, Prügel erhält usw. Diese Umstände bilden den Hintergrund für die folgenden Abenteuer, denen der Held entgegengeht. Oft finden wir in den Zaubermärchen die traditionelle bekannte Schlußformel. Die meist verbreitete hat etwa folgenden Wortlaut: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie glücklich auch noch heute.“ Zuweilen wendet sich der Erzähler in der Schlußformel an die Zuhörer, damit diese entscheiden, wer recht gehabt hat und wer nicht: „Wer es nicht glaubt, soll hingehen und nachsehen!“ (Nr. 42). Es wird auch die Notwendigkeit erwähnt, den Erzähler für die Geschichte zu bezahlen: „Wer diese Geschichte nicht glaubt, soll einen Rubel zahlen!“ Vielfach endet das Märchen mit dem Erwähnen der Hochzeit; zuweilen fügt der Erzähler hinzu, er habe selbst daran teilgenommen (Nr. 39) oder den Märchenhelden besucht (Nr. 56). Legendenmärchen Die Legendenmärchen stehen den Zaubermärchen sehr nahe. Auch hier besitzen die handelnden Personen übernatürliche Fähigkeiten und vollbringen Wunderdinge; auch hier begegnen wir märchenhaften Wunschträumen – dem Wunsch, die schwere Arbeit zu erleichtern, in Glück und Wohlstand zu leben, sich von Krankheiten zu befreien, wieder jung und schön zu werden. Der wichtigste Unterschied zu den Zaubermärchen besteht darin, daß in den legenden-
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artigen Märchen die Handlungsträger biblische Gestalten sind: Gott (gewöhnlich als ein alter Mann dargestellt), Jesus und die Apostel (Petrus, Johannes u. a.), aber auch der Teufel, die Engel, die Heiligen usw. Außerdem sind sie durch eine ihnen eigene moralisierende Tendenz charakterisiert. In manchen Legendenmärchen treten die gespannten Beziehungen zu den Geistlichen zutage. Es wird die Habsucht, die Falschheit, die Gewinnsucht der Pfarrer gezeigt (Nr. 101 Gott und der Pastor). Einige andere Märchen behandeln das Thema der Habsucht und der Rücksichtslosigkeit der Herren (Nr. 107 Der habgierige Gutsherr in der Bockshaut). Der Teufel dagegen wird auch hier als sympathisch geschildert. Er hilft den Fronarbeitern sogar bei der damals schwersten Arbeit – dem Korndreschen (Nr. 105 Der tüchtige Drescher), leiht dem Armen Geld (AT 822*), oder er lädt den entlaufenen Gutsknecht in die Hölle ein und gibt ihm dort Gelegenheit, sich an seinem früheren Unterdrücker zu rächen (Nr. 103 Der Gutsherr als Pferd in der Hölle). Sehr oft weisen die estnischen Legendenmärchen eine eingehende Schilderung von Zuständen als Einleitung auf, in der das schwere Leben der Bauern unter den Bedingungen der Gutsleibeigenschaft aufgezeigt wird. Die meisten Legenden wurden im südöstlichen Estland aufgezeichnet. Es finden sich darunter seltene Typen: AT 824; 840; 843*; 846*. Novellenmärchen In der Auswahl der handelnden Personen und in der Thematik erinnern diese Märchen an Zaubermärchen. Auch in ihnen freit ein armer Hirtenjunge die Königstochter, wird die Tochter eines Kätners die Frau des Richters, gibt ein Kind seinen Eltern kluge Ratschläge usw. Doch die Helden der Novellenmärchen überwinden ihre Gegner durch geistige Überlegenheit, sie benutzen keine zauberbegabten Helfer, noch bedienen sie sich der Verwandlungen oder Zaubergegenstände, die für die Zaubermärchen so charakteristisch sind. An wichtiger Stelle steht in den estnischen Novellenmärchen die Darstellung der Gegensätze zwischen Dorf und Gut
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sowie zwischen reich und arm. Charakteristisch sind verschiedene Proben des Verstandes, des Scharfsinns, der Fähigkeiten und der Treue, ein mit Hindernissen verbundenes Freien, der Wettkampf im Rätselraten und Erzählen („Lügen“) usw. Obgleich diesen Märchen im allgemeinen eine realistische Behandlung des Stoffes eigen ist, gibt es hier dennoch Ausnahmen, Überraschungsmomente, Grausamkeiten, zuweilen selbst in den Formulierungen Grobheiten und Unebenheiten. Im Repertoire der estnischen Volkserzählungen sind die Novellenmärchen bedeutend weniger vertreten als die Zaubermärchen. Gering ist auch die Zahl der traditionellen Motive sowie der Varianten. Die Minderzahl novellenartiger Märchen kann als Bestätigung für das späte Aufkommen dieser Gattung gelten. Andererseits könnte die begrenzte Verbreitung solcher Märchen auch dadurch bedingt sein, daß satirische Schwänke um dieselbe Zeit lebhaft in Umlauf waren, in denen in kürzerer Form eine mehr oder weniger gleiche Thematik mit größerer Schärfe und Schlagkraft behandelt wurde. Die Lieblingshelden der Novellenmärchen besiegen ihre Gegner durch Schläue und Scharfsinn. Am meisten verbreitet sind folgende Motive: Ein Kätner oder ein Bauer besiegt den Gutsherrn durch Wortgewandtheit, der von anderen verachtete und als dumm beschimpfte jüngste Bruder überholt seine Konkurrenten und erlangt mit Hilfe scharfsinniger Antworten die Königstochter zur Frau. In den Novellenmärchen werden selbst die Könige als einfache Bauern geschildert, so z. B. die Königstochter im Kuhstall (Nr. 111 Der größte Lügner wird Schwiegersohn des Königs). In einigen Märchen wird die außergewöhnliche Klugheit eines einfachen Mädchens sowie ihr besonderes Geschick hervorgehoben, Rätsel aufzugeben und zu lösen (Nr. 113 Die kluge Bauerntochter). Es sind auch Märchen bekannt, in denen Voraussagen in Erfüllung gehen, wonach der Sohn eines armen Kätners einen reichen Mann beerben und seine Tochter heiraten wird (Nr. 117 Die Weissagung über den Erben). Die moralischen Auffassungen des Volkes spiegelt das Mär-
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chen Die drei Lehren des sterbenden Vaters (Nr. 114) wider, dessen erste Lehre ist: sich nicht mit den Herren zu befreunden. Die ausdrucksvolle Rede der einfachen Bauern und die ihrer Sprache eigenen bildlichen und euphemistischen Ausdrucksmittel zeigt das Märchen „Wenn sie nicht kommen, dann kommen sie“ (Nr. 115). Des weiteren gibt es Märchen, in denen die Helden geschickte Diebe, Räuber und Mörder sind. In einigen Erzählungen erscheint die Idee des sogenannten gerechten Diebes, der nur das stiehlt, was durch den Betrug am Volk zusammengerafft worden ist (Nr. 119 Der Kaiser und der Einbrecher). Die Novellenmärchen haben im allgemeinen einen einfacheren Aufbau als die Zaubermärchen. Wichtigstes Mittel der Komposition ist der Kontrast: kluger Bauer – dummer Gutsherr; zurückhaltender, doch gescheiter jüngster Bruder – stolze und anmaßende Königstochter usw. Wenn auch seltener, so begegnet hier die Dreizahl ebenfalls (drei Brüder). Dramatische Dialoge, auch rhythmische und bildhafte Formulierungen werden verwendet, und zuweilen bildet ein Sprichwort den Schluß. Märchen vom dummen Teufel Diese Märchen sind in der estnischen Volksdichtung auffallend populär. In ihnen werden die Dummheit und Borniertheit verspottet und die Schlauheit, Gewandtheit und der Scharfsinn gerühmt. Der Leitgedanke ist, daß ein körperlich schwacher, doch geistig beweglicher, geschickter und regsamer Mensch mit Leichtigkeit seinen größeren und körperlich stärkeren, aber geistig unterentwickelten und dummen Gegner besiegen kann. Die Darstellung in diesen Märchen ist scharf und satirisch, stellenweise jedoch auch roh und grob. Märchen vom Teufel und vom schlauen Hans wurden sowohl als Einzelgeschichten als auch in Kontaminationen erzählt und von den Sammlern aufgeschrieben. Meist tendieren sie dazu, sich zu längeren epischen Geschichten zu vereinen, in denen der kleine Knecht den reichen, doch
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dummen Herrn besiegt. In unsere Ausgabe wurden vier kleinere Erzählungen und eine längere Kontamination aufgenommen, die aus einer Vielzahl traditioneller Motive besteht. Schwänke Die estnischen Volksschwänke sind meistenteils kurze Spottgeschichten, in denen die komische Seite des täglichen Lebens gezeigt wird. Es gibt jedoch auch Schwänke mit einem ausführlich entwickelten Inhalt. Die vorliegende Sammlung enthält einige dieser längeren Schwänke. In ihnen tauchen Motive auf, denen wir auch in den Märchen begegnen (oft kontaminieren sie untereinander): Es werden Dummheit, Habgier und Hochmut, auch die Liederlichkeit der Herren und Pfarrer verlacht und die Schlauheit und Geschicklichkeit des einfachen Menschen gelobt. Einer der populärsten längeren Schwänke ist Der gelernte Dieb (Nr. 128, Meistervaras, AT 1525A). Ein geschickter Dieb kommt aber auch in noch anderen Erzählungen vor (Nr. 129 „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“). Überhaupt werden in den Volkserzählungen der schlaue Betrüger und der Dieb idealisiert dargestellt, man sah in ihnen den Bestrafer des verhaßten Gutsherrn und Pfarrers, in bestimmtem Sinne den Volksrächer. Es wird auch das Verachten der Arbeit, das „Lernen nur durch Zuschauen“ verlacht (Nr. 134 Pfuscher-Schmied). Sehr verbreitet waren die sogenannten Lügenschwänke, Jagdgeschichten mit starken Übertreibungen (Nr. 136 Die Geschichten des Usara-Tani u. a.). Um die Spannung zu erhöhen, wurden einige paradoxe Schwänke sogar in erster Person erzählt (Nr. 137 Meine Jugendabenteuer, Nr. 138 Was sollte ich denn sagen?). In einigen älteren Schwänken klingt noch die Sitte nach, die jungen Burschen lange Zeit ohne Hosen gehen zu lassen (Nr. 132 Peter ohne Hosen) – Die längeren Schwänke sind in ihrer Komposition meist freier und aufgelockerter als die Märchen.
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Literatur- und Abkürzungsverzeichnis Aarne: Antti Aarne, Estnische Märchen- und Sagenvarianten, Verzeichnis der zu den Hurt’schen Handschriftensammlungen gehörenden Aufzeichnungen, Hamina 1918, FFC 25. Abriß der estnischen Volkskunde, In Zusammenarbeit mit Fachgenossen herausgegeben von H. Moora und A. Viires, Tallinn 1964. Acta et Commentationes Universitatis Tartuensis. Andreev: N. P. Andreev, Ukazatel’ skazočnych sjužetov po sisteme Aarne (Verzeichnis der [russischen] Märchentypen nach dem System Aarne), Leningrad 1929. AT: Antti Aarne-Stith Thompson, The Types of the Folktale, A Classification and Bibliography, Antti Aarne’s Verzeichnis der Märchentypen (FF Communications No. 3), Translated and Enlarged by Stith Thompson, Second Revision, Helsinki 21961, FFC 184. Beiträge zur genauem Kenntnis der estnischen Sprache, Pärnu 1813 – 1832. E: Eisen (Prof. M. J. Eisen), Kreutzwald-Lit.mus. Eesti rahvaluule ülevaade (Abriß der estnischen Volksdichtung), herausgegeben von R. Viidalepp, Tallinn 1959. EKnS: Estnische Literaturgesellschaft, Kreutzwald-Lit.mus. EKS: Gesellschaft der estnischen Literaten, KreutzwaldLit.mus. ERA: Estnisches Archiv der Volksdichtung, KreutzwaldLit.mus. EÜS: Verein Studierender Esten, Kreutzwald-Lit.mus. FFC: Folklore-Fellows-Communications. H: Hurt (Dr. Jakob Hurt), Kreutzwald-Lit.mus. KKI: Institut für Sprache und Literatur, Handschriftliche Sammlung der Volksdichtung im Sektor Volksdichtung des Instituts für Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften der Estnischen SSR.
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Kreutzwald-Lit.mus.: Handschriftliche Sammlungen der Volksdichtung in der Abteilung für Volksdichtung des Fr. R. Kreutzwald-Literaturmuseums der AdW der Estnischen SSR (in Tartu). Laugaste: E. Laugaste, Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu, Valitud tekste ja pilte (Geschichte der estnischen Folkloristik in Texten), Tallinn 1963. Mälk: Vaina. Mälk, Eesti Kirjameeste Seltsi osa eesti folkloristika arengus (Der Anteil der Gesellschaft der estnischen Literaten an der Entwicklung der estnischen Folkloristik) (Zusammenfassung: Rol’ Obštšestva estonskih literatorov v razvitii estonskoi folkloristiki), Tallinn 1963. Medne: A. Medne, Latviešu dzīvnieku pasakas, Review of New Types in the Motif Index of Latvian Animal Tales, Riga 1940. Pốldmäe: R. Pốldmäe, Die Entwicklung der volkskundlichen Sammel- und Forschungsarbeit in Estland, in: Ungarische Jahrbücher 19 [1939], 90-99. RKM: Fr. R. Kreutzwald-Literaturmuseum der Akademie der Wissenschaften der Estnischen SSR. S: S. Sommer (Volksdichtung der Setu), KreutzwaldLit.mus. Sage: Sage nach A. Aarne, Estnische Märchen- und Sagenvarianten, FFC 25. Schullerus: A. Schullerus, Verzeichnis der rumänischen Märchen und Märchenvarianten, Helsinki 1928, FFC 78. Sitzungsber. GEG: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. US: Ursprungssage nach A. Aarne, Estnische Märchen- und Sagenvarianten, FFC 25. Verh. GEG: Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. Viidalepp, R.: Das Erzählen der Volksmärchen als arbeitsfördernder magischer Ritus, in: VII Meždunarodnyi kongress antropologičeskih i etnografičeskih nauk 1964 Band IV, Moskau 1969, 259-265. –: Rahvajutustaja rahva hulgas (Die Volkserzähler inmitten des Volkes), in: Etnograafia Muuseumi Aastaraamat
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(Jahrbuch des Ethnographischen Museums), (Tallinn) 16[1959], 275-299. –: Von einem großen estnischen Erzähler und seinem Repertoire, in: Acta Ethnologica, (Kopenhagen) 1937 Nr. 3, 158-173. Vinkel: A. Vinkel, Eesti rahvaraamat (Estnisches Volksbuch), Tallinn 1966.
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Worterklärungen Aimu: Ahnung. Darre: Abgeschlossener Raum innerhalb der Scheune mit einer flachen Decke unter dem Scheunendach. Kaffscheune: Scheune am Wohnhaus mit Wänden aus Strauchwerk. Kannel: Ein horizontales, harfenähnliches Instrument. Kurjasünnitus: „Geburt des Bösen“. Lägel: Faß. Liiva-Hannus: „Sand-Hans“, Bezeichnung für den Tod. Quästen: In der Sauna das Schlagen mit Birkenreisern. Sand-Hannus, Sand-Annus: Bezeichnung für den Tod. Setukesen: Bewohner von Petserimaa. Taara: Alte Gottheit der Esten. Ülenurme: Ein Dorf bei Tartu. Vanapagan: Der dumme Riese, Waldteufel, wörtlich „alter Heide“. Als Euphemismen für den Teufel kommen auch andere Zusammensetzungen mit vana vor: vanakoll „alter Popanz“, vanapoiss „alter Junggeselle“. Weidenkalb: Euphemistische Bezeichnung des Wolfs.
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Anmerkungen Die Anmerkungen enthalten folgende Angaben: Die ATNummer(n), die Signatur des Originalmanuskripts und Herkunft des Textes (diese mit der Abkürzung der Sammlungsbezeichnung, der Reihe, dem Band – bei E und S werden weder Reihe noch Band vermerkt –, der Seitenzahl und der laufenden Nummer des Absatzes im Manuskript. Hinzu kommen das Kirchspiel und andere topographische Angaben, die Namen von Aufzeichner und Erzähler sowie in Klammern das Jahr der Aufzeichnung). Darauf folgen die Anzahl der Varianten in estnischen handschriftlichen Sammlungen der Volksdichtung (1961), die Verbreitung der Varianten, andere ergänzende Angaben über den entsprechenden Märchentyp (in den meisten Fällen liegen Kontaminationen, unterschiedliche Fassungen usw. vor). Die Anmerkungen stammen von Ingrid Sarv, die Veränderungen und Ergänzungen für die deutsche Ausgabe von R. Viidalepp.
Tiermärchen 1. Der Fuchs, der Wolf und der Hase AT 1 + 2 + 3 + 4. H II 59, 589-598 (2) Pốltsamaa. Aufgez. von Martin Luu. Erzählt von Johannes Schmetterling, stammt aus Maarja-Magdaleena (1897). – Eine solche Kontamination erscheint in 14 Varianten und kommt besonders oft in Setu vor (8 Var.), wo zuweilen noch AT 8 hinzutritt. Die umfangreichsten Kontaminationen stammen aus Setu und Lutsi. Unter den kürzeren Verbindungen sind AT 1 + 2 (20 Var.) verbreitet, die im ganzen Land umlaufen. AT 2 hat zuweilen das Ende einer Ursprungssage (s. US 42).
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2. Der Fuchs bemalt den Pelz des Wolfes AT 8. H II 67, 50-54 (3) Koeru. Aufgez. von Anton Schultz. Erzählt von Jaagup Peil, 65 Jahre alt (1896). – Mindestens 16 Varianten. Besonders populär in Setu, wo es gewöhnlich in Kontaminationen mit anderen Typen erscheint (1 + 2 + 3 + 4; 158 + 103; 43 + 123). In Lutsi wird AT 8 mit umfangreichen Kontaminationen verbunden. 3. Der Fuchs und der Wolf dreschen Korn AT 65* + 9. H II 3, 203-204 (51) Setu oder Vastseliina. Aufgez. von H. Prants (1889?). – AT 9: 9 Var. Als Einführung wurde das aus AT 65* stammende Motiv des Käferbackens gebraucht, das auch als Redensart vorkommt. Eine solche Verbindung ist ungewöhnlich. Überhaupt gibt es mit AT 9 wenige Kontaminationen (AT 154 und 1030). 4. Die Maus und die Katze AT 15. H II 42, 92-94 (2) Vändra. Aufgez. von Jüri Peterson (1891). – Mehr als 60 Var. Verbreitet im ganzen Land, populär im Südosten und Norden Estlands. Verbindungen: AT 37 und 37*. Handelnde Personen können auch der Fuchs und die Waldtiere sowie der Fuchs und der Mensch sein. Das sagenmäßige Ende ist typisch für die Fassung mit Maus und Katze. 5. Die Tiere als Kriegsflüchtlinge AT 20C + 20 + 56C* + 1 + Andreev* 1541. S 1431114323 (3) Setu. Aufgez. von Joh. Teigar. Erzählt von Praskovja Purdeots, geb. 1983 (1929). In der vorliegenden Form und überhaupt in der langen Entwicklung typisch für das Setu-Gebiet. Es gibt auch andere Kontaminationen. 6. Der Igel und der Fuchs in der Grube AT 33. H II 20, 579-581 (2) Vändra. Aufgez. von Jüri Peterson (1889). – 14 Var., die aus Mittel- und West-
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Estland stammen. Kontaminiert mit AT 151, 38, 154 und AT 21 + 20A. 7. Der Fuchs als Gänsehirt AT 37* + 15. S 16030-16045 (5) Setu. Aufgez. von Th. Kốivastik. Erzählt von Ustinja Kốivastik (1929). – Eine solche Kontamination ist in Lutsi und Setu bekannt (16 Var.). AT 37*: mindestens 24 Var.; AT 15: etwa 60 Var.; verbreitet im ganzen Land; erscheinen kontaminiert noch mit anderen Tiermärchen (AT 1 + 14; 153 + 15; 37 + 15; 37* + 15 + 154; 37 + 15 + 2 + 3 + 4; u. a.). 8. Der Wolf und der Fuchs im Speicher AT 41. H II 45, 215-216 (3) Rốuge. Aufgez. von M. Jennes (1891). – Mindestens einige Varianten. 9. Das Haus aus Eis und das Haus aus Stein AT 43 + 126. S 10719-10721 (26) Setu. Aufgez. von Th. Linna. Erzählt von Ksenja Linna (1929). – AT 43: ca. 30 Var. Hauptsächlich in Süd-Estland verbreitet, besonders populär in Setu, wo es sich mit anderen Typen verbindet (AT 123 u. a.); das Ende erinnert oft an AT 126. Als gegeneinander handelnde Personen erscheinen auch der Wolf und die Ziege, der Fuchs und der Hase u. a. 10. Der Wolf und das Pferd AT 122A + 47A. H II 54, 643-645 (1) Pốltsamaa. Aufgez. von Martin Luu. Erzählt von Midri, Hirtenjunge im Bauernhof Rätsepa (1896). – AT 122A + 47A: 4 Var.; AT 122A: 30 Var.; AT 47A: mehr als 20. Jeder Typ erscheint noch in Kontaminationen mit anderen Märchen. 11. Der Preis des Fohlens ist unter dem Huf AT 47B. H III 31, 455-456 (10) Jüri. Aufgez. von Jaan Saalverk. Erzählt von Jaan Peitong (1905). – 11 Var. Fehlt in den Kreisen Tartumaa, Pärnumaa und Saaremaa, kommt vereinzelt im mittleren Teil des Landes vor. Im
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östlichen Estland verbindet es sich mit anderen Tiermärchen (AT 122A, 122C, 122M*). 12. Wie die Krähe graue Federn bekam AT 56A + 6. H III 3, 41-44 (4) Ambla. Aufgez. von H. Neumann, Lehrer in Jốelähtme (1888). – 16 Var. Verbreitet im ganzen Land. Verbindet sich mit AT 6, 33, 30, 21 u. a. Auch im vorliegenden Text erscheint besonders ausgeprägt das Motiv aus AT 6 (Richtung des Windes). Der Schluß ähnelt einer Ursprungssage. 13. Das Kätzchen und das Hähnchen AT 61B. S 50913-50918 Setu. Aufgez. von A. Pốhi. Erzählt von Taarka Taro (1932). – 22 Var. Bekannt nur in Setu (20 Var.) und Vastseliina (2 Var.). Populär im Repertoire der russischen Märchen. 14. Der Wettkampf zwischen dem Hasen und der Kälte AT 71. H II 22, 813 (1) Saarde. Aufgez. von J. Jakobson (1889). – 4 Var. Aus Süd-Estland: Saarde, Karksi, Helme, Vastseliina. Sagenmäßiger Schluß (weshalb der Hase eine gespaltene Lippe bekam) ist als Ausnahme dem Typ beigegeben. Gewöhnlich mit AT 70 verbunden. Vgl. auch US 35. 15. Die Augen der Häschen AT 72*. E 3938 Ambla. Aufgez. von Karp Kuusik (1893). – 6 Var.: Ambla, Tốstamaa, Pốltsamaa, Räpina, Vastseliina. Der Schluß ist typisch für Ursprungssagen. Das zentrale Motiv unseres Märchentyps tritt auch in Redewendungen des Vergleichs zutage. 16. Der alte Hund und der Wolf AT 101 + 100 + 102. S 11630-11645 (8) Setu. Aufgez. von Th. Kốivastik. Erzählt von Anna Kốivastik, die es von ihrer Mutter Ustinja hörte (1929). – In solcher Kontamination gibt es aus Setu 8 Var. AT 101 kommt auch gesondert vor (12 Var.), alle diese Typen aber auch in an-
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deren Verbindungen (hauptsächlich AT3 + 4 und 103 + 104). 17. Die Katze als Frau Fuchs AT 103A + 103. H IV 7, 105-108 (4) Jüri. Aufgez. von Jaan Saalverk. Erzählt von Jaan Peitong, der es von seinem Vater hörte (1896). – Mehr als 45 Var. AT 103 gesondert (mit sagenmäßigem Schluß): 14 Var. Tritt auf in Kontaminationen mit AT 104, 100 u. a. 18. Der Bär wird für den Pastor gehalten AT 116. H II 28, 227-279 (6) Äksi. Aufgez. von Karl Blaubrik (1890). – 3 Var.: Halliste, Helme, Äksi. Dem Charakter nach einem Schwank ähnlich. 19. Die Sau und der Wolf AT 122C. ERA II 286, 422-424 Setu. Aufgez. von N. Koplimägi. Erzählt von Matroona Koplimägi (1940). – 11 Var. Verbreitet in Nordost- und Südost-Estland. Verbindet sich mit AT 47B, 122A und 122M*. 20. Der kluge Schafbock AT 122 M*. EKS 402, 679-680 (3) Vändra. Aufgez. von Jüri Peterson (1876). – Ca. 25 Var. Verbreitet im ganzen Land. Kommt selbständig und auch in Verbindung mit anderen Typen vor (AT 47A und B, 121, 123C u. a.). 21. Der Ochse baut eine Hütte AT 130A. E 23239-23242 Pilistvere. Aufgez. von J. Rootslane. Erzählt von Mart Lips (1896). – Ca. 20 Var. Kommt im östlichen Estland vor, besonders populär in Setu (12 Var.), wo auch Verbindungen begegnen (AT 122L* und 43). 22. Der Bauer, der Bär und der Fuchs AT 1030 + 154. H II 8, 637-644 (6) Jốhvi. Aufgez. von Paulus Paurmann. Erzählt von Ann Sälikow, 17 Jahre alt (1891). – Von der vorliegenden Kontamination gibt es 13
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Var. AT 1030 verbindet sich meist mit anderen Märchen vom dummen Teufel und bildet weitverbreitete Kontaminationen. AT 154 tritt selbständig auf (27 Var.), aber auch in Verbindung mit anderen Typen (AT 9, 30 + 20 + 21, 37 u. a.). Nachweisbar in ganz Estland. 23. Der dankbare Wolf AT 156. H II 59, 586-589 (1) Pốltsamaa. Aufgez. von Martin Luu. Erzählt von Johannes Schmetterling, stammt aus Maarja-Magdaleena (1898). – 14 Var. Mehr bekannt in Süd-Estland. AT 156 hat gemeinsame Züge mit dem Märchen Der Fuchs entlohnt die gute Tat (fehlt in gedruckten Katalogen), von dem es drei Aufzeichnungen gibt (aus Setu, Helme, Pöide). Die vorliegende Fassung enthält auch Sagenmotive. 24. Bist du ein Mann? AT 157 + 121. H II 24, 147-150 (29) Helme. Aufgez. von J. Einer und P. Einer. Erzählt von ihrer Mutter Kadri Einer, 60 Jahre alt (1887-1889). – AT 157: 20 Var.; AT 121: 7 Var. Als Kontamination (157 + 121): 2 Var. 25. Ein altes Weib überlistet den Bären AT 160*. EÜS IX 944-945 (7) Peetri. Aufgez. von V. Rosenstrauch. Erzählt von Leenu Steinberg, 72 Jahre alt (1912). – 11 Var. Kommt spärlich vor, mehr im südöstlichen Estland. 26. Der Fuchs im Nachtquartier AT 170. E 72136-72138 Paldiski. Aufgez. von Helju Grepp (1925). – 20 Var. Gewöhnlich ist die Hauptperson der Fuchs, doch zuweilen auch der Mensch. Aufzeichnungen spärlich, dichter aus Setu und der Umgebung von Vändra. Verbindet sich mit anderen Fuchsmärchen. 27. Das Zeugnis des Hundes AT 200. H II 42, 89-91 (1) Vändra. Aufgez. von Jüri Peterson (1891). – 17 Var. Im ganzen Land nur spärlich
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verbreitet, fehlt in Setu. Eine Verbindung mit der Ursprungssage (US 30 und 31) ist typisch. 28. Der Krieg der Vögel und der Insekten mit den Vierbeinern AT 222. H II 20, 584-585 (4) Vändra. Aufgez. von Jüri Peterson (1889). – 6 Var.: Väike Maarja, Kaarma, Vändra. Kontaminiert mit AT 313B. Der Beginn des letzteren erinnert oft an AT 222. 29. Der Adler lehrt den Fuchs fliegen AT 225. H II 41, 192 (5) Ridala. Aufgez. von G. Tikerpuu und Johann Kốrvne (1888). – 3 Var. im westlichen Estland: Jüri, Ridala, Hanila. 30. Die Waldtaube und das Huhn AT 240. H II 22, 901-903 (5) Saarde. Aufgez. von J. Jakobson. Erzählt von Hendrik Pirtsko (1888). – 16 Var. Die stereotype Formel in diesem Erzähltyp erscheint verbreiteter und zahlreicher als Naturlaut. 31. Die Heirat der Krähe AT 243*. E 3939-3940 Ambla. Aufgez. von Karp Kuusik (1893?). – Mehr als 80 Varianten. Verbreitet im ganzen Land. 32. Der Truthahn, die Ente und der Gänserich AT 211B*. H II 20, 440-441 Pärnu-Jaagupi. Aufgez. von J. Reinson (1889). – 6 Var. 33. Der Wettlauf des Krebses mit dem Fuchs AT 275. H II 31, 36-37 (4) Otepää. Aufgez. von Villem Vaher(1889). – 12 Var. Kommt spärlich im ganzen Lande vor. Außer dem Krebs und dem Fuchs treten als Wettkämpfer auch der Hase und der Igel, der Hase und der Grashüpfer auf.
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34. Die Kriebelmücken und das Pferd AT 281. H II 60, 203-204 (4) Rốuge. Aufgez. von P. Ruga (1896). – 14 Var. Verbreitet im ganzen Land. 35. Die Fliege und der Floh AT 282A*. ERA II 63, 470 (101) Urvaste. Aufgez. von Richard Viidalepp. Erzählt von Pauliine Jeret (geb. Kốdar), 73 Jahre alt (1933). – 2 Var. 36. Wie die Bohne einen schwarzen Streifen erhielt AT 295. H III 21, 352-353 Laiuse. Aufgez. von K. Taras (1895). – 4 Var. Bekannt in Ost-Estland (Iisaku, Laiuse, Nốo, Setu). Vgl. damit das Lied von A. Grenzstein Der Bastschuh, die Blase und der Strohhalm. 37. Der Wind und die Sonne AT 298A. ERA II 54, 212-214 (228) Tartu-Maarja. Aufgez. von Richard Viidalepp. Erzählt von Kaarel Jürjenson, der es von einem russischen Erzähler hörte (1932). – 2 Var. Die zweite Aufzeichnung stammt aus Setu.
Zaubermärchen 38. Die sieben Brüder AT 303 A + 302. H III 17, 751-773 (1) Ambla. Aufgez. von J. Tannenthal. Erzählt von Mart Luur, 60 Jahre alt (1894). – AT 302: 60 Var. Verbreitet im ganzen Land, fehlt jedoch auf den Inseln. Kontamination AT 303A + 302: 13 Var. AT302 verbindet sich noch mit AT 650A + 301A; 552 + 851 + 580; 300, 400, 531, 550, 567 u. a. AT 303A kommt nur zusammen mit 302 vor. 39. Die drei geraubten Königstöchter AT 301A + 302. ERA II 37, 443-450 (14) Johvi. Aufgez. von R. Pốldmäe. Erzählt von Anton Roht, 81 Jahre alt (1931). – Mehr als 70 Var. Verbreitet im ganzen Land. Verbindet sich mit anderen Typen (AT 300, 313A, 302, 560 u. a.). Unser Text weist Gemeinsamkeiten mit dem
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Drachentöter (AT 300) auf sowie mit der Geschichte des jungen Menschen, der zur Hölle ging (AT 466**). Mit diesen Typen haben auch andere Varianten desselben Typs Berührungspunkte (s. Anmerkung zu Nr. 38). 40. Der Soldat freit eine Königstochter AT 306 + 518 + 566. H III 16, 611-633 Vốnnu – Suhhum-Kalee. Aufgez. von Jaan Kille (1888). – AT 306: 36 Var., davon 25 selbständige. AT 306 verbindet sich noch mit AT 307, 402 und 518. AT 518: 30 Var.; AT 566: 37 Var., davon 28 selbständige, die anderen verbinden sich noch mit AT 562 (2 Var.), 567 (2 Var.), 361 (1 Var.). Die angeführten Typen sind im ganzen Land verbreitet, am stärksten jedoch in Süd-Estland. 41. Die goldene Katze AT 311. H I 7, 717-720 (16) Sangaste. Aufgez. von Jüri Orgusaar, der es aus dem Volksmund hörte (1888). – Mehr als 55 Var. Vorwiegend im östlichen Estland verbreitet. Verbindungen mit AT 363 (Setu, Helme), 327A (Ambla) und 955 (Räpina). 42. Der König von Tagutsemaa AT 313B + 570. H I 5,173-184 Hargla. Aufgez. von Johan Reimann. Erzählt von Must-Kikas (1894). – 16 Var. In Süd-Estland hauptsächlich als selbständiger Typ verbreitet (12 Var.), in Nord-Estland nur kontaminiert (AT 222B*, 301A, 313C, 325). 43. Die drei badenden Mädchen AT 313C + 400 + 313. H II 30, 497-503 (2) Rannu. Aufgez. von Johan Peterson (1890). – AT 313C: Mehr als 20 Var.; AT 400: 35 Var. Unsere Kontamination: 2 Var. Es kommen noch folgende Verbindungen vor: AT 313C + 325; 313C + 400 u. a. Verbreitet im ganzen Land.
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44. Die treulose Schwester AT 315. H II 18, 351-363 (5) Pöide. Aufgez. von J. Trull (1888). – Mehr als 55 Var. Verbreitet im ganzen Land außer in Läänemaa und Järvamaa; besonders populär in Setu, wo es sich mit verschiedenen anderen Märchentypen verbindet (AT 300, 312, 313A, 314 u. a.). 45. Der Mann, der das Fürchten lernen wollte AT 326. H II 44, 411-420 (1) Otepää. Aufgez. von Villem Vaher (1891). – Etwa 35 Var. Verbindet sich mit verschiedenen Märchen (AT 330B, 810, 307; Märchen vom dummen Teufel), mit Sagen (Sage 7, 14) und mit Schwänken (Aarne 1640). Verbreitet im ganzen Land, wenige Aufzeichnungen im westlichen Teil Estlands. 46. Die gute Tat des Kalevipoeg AT 327A. H II 49, 926, 935/9, 927-930 (2) Pốltsamaa. Aufgez. von Martin Luu. Erzählt von Liisa Ốunapuu, 53 Jahre alt (1895). – Mehr als 100 Var. Verbreitet im ganzen Land. Kommt selbständig (70 Var.) und in Verbindung mit AT 314, 327B, 328, 1141* und mit anderen Märchen vom dummen Riesen bzw. Ogre vor. Oft tritt der Teufel als Gegenspieler auf. Kalevipoeg dagegen ist als handelnde Person selten. 47. Der zum Pferd verzauberte Jüngling AT314 + 303A + 327B + 313A. E 12252-12256 Ambla. Aufgez. von Joosep Neublau. Erzählt von Carl Redlich, Gutsverwalter in Jootma (1894). – Von der Kontamination ca. 45 Var. Verbreitet hauptsächlich in Süd-Estland, andernorts weniger. Kommen selten selbständig vor, dagegen häufig kontaminiert mit AT 531 (in Setu), 327A, 328, 1119 u. a. 48. Der Sack-Toomas AT 330. H III 2. 231-236 (2) Haljala. Aufgez. Von Leena Lepp-Viekmann (1890), – Mehr als 25 Var., davon 16 selbständige, die anderen kontaminiert mit AT 326,
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330A, 530, 804* u. a. Sporadisch verbreitet im ganzen Land. 49. Der Tod im Lägel AT 331. EKnS 37, 33-34 (13) Simuna. Aufgez. von H. Kanketer. Erzählt von Gustav Mägi (1906). – 15 Var. Verbreitet hauptsächlich im östlichen Estland, zahlreicher in Setu (7 Var.), wo es mit AT 330 (A und B), 332 und 335 kontaminiert ist. 50. Der Mann mit der goldenen Nase AT 363 + 313A. H II 21, 613-619 (6) Tori. Aufgez. von T. Juurikas (1889). – AT 363: ca. 30 Var. Verbindet sich mit AT 311 und 810. Verbreitet im ganzen Land, dichter in Süd-Estland. Kontamination AT 363 + 313A ist selten. AT 313A sehr populär (ca. 100 Var.), im ganzen Land bekannt; kommt selbständig und auch in Verbindung mit anderen Typen vor. Die Vorstellung vom Manne mit der goldenen Nase ist auch aus der Redewendung bekannt: „Du wartest doch nicht auch auf den Mann mit der goldenen Nase l“ (Saarde). 51. „Der Mond scheint, der Tote fährt“ AT 365. H II 7, 617-618 (1) Jốhvi. Aufgez. von D. Timotheus (1889). – 15 Var. Dazu 2 Var. mit einer Sonderentwicklung. Verbreitung im ganzen Land außer in Setu und Saaremaa. Kontaminiert nicht mit anderen Typen. 52. Die Königstochter als Schlange AT 402. H II 49, 480-483 (4) Suure-Jaani. Aufgez. von E. Saabas. – Mehr als 40 Var. Verbindet sich mit AT 400 (Setu 5 Var., Lutsi 2 Var., Jốhvi 1 Var.), zuweilen auch mit AT 306 und 530. AT 402 ist der Typ Glücksei nahe, der in den Katalogen nicht vermerkt ist. Der genannte Typ hat 6 Var.
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53. Die vertauschte Braut AT 403B. EKS 405, 812-818 (14) Pilistvere, Kốo. Aufgez. von T. Kiimann. Erzählt von seiner Mutter Leenu Kiimann (1888 – 1889). – 35 Var. Erscheint meist selbständig (23 Var.), doch auch in Verbindung mit anderen Typen: AT 405B + 480 (4 Var.), zuweilen auch mit AT 450, 510A, 709. Stärker verbreitet in Süd-Estland und im mittleren Teil Nord-Estlands, bekannt auch auf Saaremaa. 54. Die Tochter der Hexe AT 403C + 409. H II 28, 702-709 (2) MaarjaMagdaleena. Aufgez. von Hindrik Rätsep (1889). – Die vorliegende Kontamination: 50 Var. In Setu vereinen sich mit ihnen noch AT 510A oder 511 oder beide zusammen. AT 403C sowie 409 erscheinen auch selbständig, doch zusätzlich verbinden sich mit ihnen noch AT 480 u. a. Verbreitet im ganzen Land, spärlich in West-Estland. Der übernatürliche Gegner der Hauptperson ist Rốugutaja (Hexe), die die Frau des Vanapagan oder des bösen Geistes genannt wird, sie tritt nur in den obengenannten Märchentypen auf (Haljala, Kadrina, Palamuse, MaarjaMagdaleena: 6 Var.). In derselben Funktion erscheint (in Kanepi u. Pốlva) Äiätär (Äiatar), den man auch in AT 720 wiederfinden kann. Bei Äiätär (auch Äio) ist an ein übernatürliches Wesen gedacht (Mutter des Teufels, Judas’ Tochter). – AT 409 (besonders in Verbindung mit AT 403C) hat das Ende einer Ursprungssage. In Verbindung mit AT 409 können auch in den örtlichen Sagen eigene Konkretisierungen vorkommen: Hinweise auf bestimmte Naturobjekte, z. B. Steine, auf denen das Verbrennen der Haut des Werwolfes stattfand. 55. Die Frau der Schlange AT 425M. H II 70, 491-497 (40) Setu. Aufgez. von Jaan Sandra. Erzählerin: Die alte Witwe Paadso aus dem Dorf Miekse (1904). – 19 Var. Verbreitet hauptsächlich im östlichen Estland, insbesondere in Setu (9 Var.). Charakteristisch und von anderen Untertypen des AT 425 abwei-
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chend ist hier das Motiv der übernatürlichen Ermordung des Mannes. Kontaminiert nicht mit anderen Märchentypen. Es kann auch als Beginn das an AT 621 erinnernde Motiv von einem Pelz oder von Schuhen aus Läusehäuten vorkommen. 56. Der verschwundene Mann AT 425A. RKM II 57, 158-164 (9) Setu, Obinitsa. Aufgez. von H. Tampere. Erzählt von Okse Luik, 71 Jahre alt (1953.) – Ca. 20 Var. Bekannt in Setu. Erscheint meist selbständig. 57. Drei Haare vom Kopf des Teufels AT 930 + 461. H III 14, 127-143 (2) Tarvastu. Aufgez. von Jaan Viira (1892). – Von dieser Kontamination gibt es 6 Var. Beide Märchentypen sind im ganzen Land verbreitet, Aufzeichnungen fehlen in Läänemaa. Jeder Märchentyp hat ca. 50 Var. AT 930 kommt selbständig wie auch kontaminiert mit anderen Typen, insbesondere mit AT 461, 751A*, vor. In Setu gibt es eine bezeichnende Sonderentwicklung von AT 930, die an AT 761 erinnert, wobei eine Verbindung mit AT 751A* stattfindet. 58. Die Geige aus der Hölle AT 592 I + 569. E 13361-13365 (7) Maarja-Magdaleena. Aufgez. von G. Tenter. Erzählt von Gustav Lass (1894). – 3 Var. in Ost- und Südost-Estland. Verbindet sich mit der magischen Flucht (AT 313 u. 314). Der Schlußteil des veröffentlichten Textes erinnert an AT 563. 59. Wie Aimu Andres die Königstöchter aus der Hölle befreite AT 466**. H II 33, 778-787 (9) Jüri (gesandt aus Suhhum-Kalee). Aufgez. von Johan Pihlakas (1888). – 2 Var. Die zweite Var. stammt aus Setu (S 37288-37319 Gem. Mäe), wo sie sich mit AT 300 verbindet. Auch AT 301A kann seiner Entwicklung nach zuweilen an AT 466** erinnern.
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60. Der Fronarbeiter als Kesselheizer in der Hölle AT 475. E 12129 – 12139 (2) Ambla. Aufgez. von J. Ekemann. Erzählt von Karel Dreifeldt (1894). – 18 Var. Bekannt im westlichen Teil Süd-Estlands und im östlichen Teil Nord-Estlands. AT 475 hat gemeinsame Motive mit dem Märchen Der Bärenhäuter (AT 361), wo das Motiv des Kesselheizers in der Hölle vorkommen kann. Als handelnde Personen erscheinen auch der Schlaue Ants und der Teufel. 61. Der Teufel wirbt um ein Mädchen Sage 31 + AT 480. H II 25, 493-499 (2) Tarvastu. Aufgez. von J. Tốllasson (1890). – AT 480 ist eins der populärsten estnischen Märchen – mehr als 200 Var. Verbreitet in ganz Estland. Der wiedergegebene Text ist nach dem Katalog von Andreev AT 480D (die Esten haben davon etwa 100 Var., die mit der Sage Nr. 31 verbunden sind). Verbindet sich selten mit anderen Typen (327A). 62. Die eigene Tochter und das Waisenkind AT 480. E 7971-7974 (6) Vốrumaa. Aufgez. von J. Reinson (1889). – Mehr als 200 Var. Verbreitet in ganz Estland. 63. Die Goldspinnerin AT 500. H, Gr. Qu. 1, 81-83 (8) Narva. Aufgez. von J. Volde (1889). – 39 Var. Sporadisch im ganzen Land verbreitet. Ist in mehrere Fassungen unterteilt: A. die Goldspinnerin, B. der Knecht mit dem zu erratenden Namen, C. der sich irrende Helfer. Zusätzlich zu den genannten gibt es noch einzelne Sonderentwicklungen, die aus der einen oder anderen Fassung entstanden sind. Das Motiv vom Erratenmüssen des Namens kommt auch in der bei den Esten sehr bekannten Sage vom Erbauer der OlaiKirche vor. Die einzelnen Aufzeichnungen zur Sage weisen auf das Gleichsetzen der Hauptperson von AT 500 mit dem Erbauer der Olai-Kirche (ERA II 29, 425 Äksi).
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Der genannten Sage steht die Fassung von AT 500B am nächsten. Charakteristisch für die C-Fassung ist das Einführungsmotiv vom Kind, das dem Teufel versprochen wird, welches im Repertoire der estnischen Märchen sehr populär ist (so in AT 314, 465A, 706, 756B, 810, 812 usw.). Eine solche Einführung schafft Voraussetzungen auch für die Verbindung von AT 500 mit AT 810. Sonderentwicklungen der A-Fassung gibt es im östlichen Teil Estlands, wo ein übernatürliches Wesen mit einem Namen, der erraten werden muß, einem Mädchen hilft, den Lebensgefährten zu finden. 64. Der Pilzkönig AT 502 + 300. H II 33, 885-898 (12) Jüri-Suhhum-Kalee. Aufgez. von Johan Pihlakas (1888). – AT 502: 30 Var. Aufzeichnungen spärlich im ganzen Land, dichter in SüdEstland. Kontaminiert hauptsächlich mit dem Märchen vom Drachentöter (AT 300), mit anderen Typen nur zufällig. AT 300 ist im ganzen Land verbreitet (mehr als 125 Var.), erscheint selbständig und auch in Kontaminationen (am meisten mit AT 303, 502, 301A, 315). 65. Aschenputtel AT 510A. EÜS VIII 885-888 (560) Peetri. Aufgez. von V. Rosenstrauch und P. Penna. Erzählt von Liisa Rentel (1911). – Etwa 80 Var. Verbreitet im ganzen Land, besonders dicht im Südosten Estlands, wo es sich mit AT 403C, 409, 500 verbindet. Anderenorts erscheint es meist selbständig sowie in Verbindungen, hauptsächlich mit AT 480. 66. Sechse kommen durch die ganze Welt AT 513A. H III 6, 432-448 (2) Tarvastu. Aufgez. von den Brüdern Jaan, Johan und Andres Viira (1890). – 28 Var. Aufzeichnungen meist aus Setu (10), Kadrina (6), Audru (4), Tốstamaa und Kuusalu. Kontaminiert nicht.
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67. Der Sohn und der Vater AT 517 + 781. H II 8, 681-694 (16) Jốhvi. Aufgez. von Paulus Paurmann. Erzählt von Aleksander Pääro (1891). – Beide Sujets sind bei den Esten wenig bekannt: AT 517: 7 Var., 781: 3 Var. Die hier wiedergegebene Kontamination erscheint in 2 Var. AT 517 verbindet sich noch mit AT 300 und 325. 68. Die Königstochter auf dem Glasberg AT 530+530A. H II 27, 646-656 (2) Palamuse. Aufgez. von J. Varik (1889). – Mehr als 120 Var. Aufzeichnungen ungleichmäßig im ganzen Land, besonders dicht in Setu. Erscheint gewöhnlich selbständig. Kontaminationen sind zufällig (die typischeren mit AT 531, 1061). AT 530A: 10 Var. Bekannt hauptsächlich in Setu. 69. Der Bauer Paalak und der Knecht Fuchs AT 545B. H II 52, 719-739 (59) Räpina. Aufgez. von J. Poolakess (1894). 18 Var. Besonders populär im südöstlichen Estland, in einigen Varianten erscheint als Helfer des Helden neben dem Kater auch der Fuchs; zuweilen ist unter dessen Namen auch ein Mensch dargestellt, wie in der gegebenen Variante. Sehr charakteristisch für diesen Text ist auch die lange, die Lebensweise beschreibende Einführung, die gewöhnlich dieser Form fehlt. 70. Der goldene Vogel AT 550. ERA II 194, 531 – 538 (2) Setu. Aufgez. von E. Kirss. Erzählt von Veera Vanaküla (1938). – Mindestens 33 Var. Besonders populär in Setu und im ehemaligen Pärnumaa. Kontaminiert in Setu mit den Typen AT 302, 303, 531 und 567. 71. Die Tiere als Schwäger AT 552A. H I 7, 695-700 (6) Sangaste. Aufgez. von Jüri Orgusaar (1887). – 25 Var. Verbreitet im ganzen Land. Verbindet sich mit AT 302 III, 580, 851 u. a. Das Erhalten von Wunderdingen kommt ausgeprägter in AT 518
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vor (Streit um Zaubergegenstände). Die Episode von der Suche des Teufels nach dem Speicherschlüssel erinnert an AT 302 III, mit dem unser Märchentyp in einzelnen Fällen kontaminieren kann. 72. Der König des Nordlandes AT 552 + 850 + 302 + 303 + 563. H II 33, 905-934 (14) Jüri-Suhhum-Kalee. Aufgez. von Johan Pihlakas, der es vom Großvater hörte (1888). – Eine solche Verbindung ist einmalig, AT 552 kann sich allerdings mit einzelnen der genannten Typen sowie mit AT 851 verbinden. AT 850: 7 Var., AT 302: ca. 60 Var. (s. Anmerkung zu Nr. 38). 73. Die Wohltaten des heiligen Baumes AT 555. H II 68, 551-556 (2) Palamuse. Aufgez. von H. Karu. Erzählt von Mart Keller aus Jốgeva (1903). – 43 Var., von denen es 3 Fassungen gibt: A. Die BaumFassung – mit dem Schluß einer Ursprungssage (US 41 – die Verwandlung in einen Bären bzw. US 75 – warum die Bäume nicht reden); B. Die Fisch-Fassung – der sagenmäßige Schluß selten (1 Var.) und C. Die der vorhergehenden sehr nahe Krebs-Fassung, die meist mit dem Motiv der Verwandlung in ein Schwein endet. AT 555 kontaminiert selten. Unser Text gehört zur BaumFassung. 74. Der Wunderring AT 560. H 17,679-682 (2) Sangaste. Aufgez. von Jüri Orgusaar nach dem Volksmund (1887). – Ca. 45 Var. Verbreitet im ganzen Land. Erscheint in 2 Fassungen: A. Der Held erhält einen Zaubergegenstand (gewöhnlich einen Ring) von einer Katze, einem Hund oder einer Schlange, die er gerettet hat. Mit Hilfe dieses Zaubergegenstandes erfüllt er verschiedene Aufgaben; B. Der Held wirbt um die Hand der Königstochter und muß als erste Aufgabe von der Hexe den Wunderring der Königstochter holen. Die Tiere helfen dem Helden, den Ring zu finden. AT 560
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ist meist als selbständiger Märchentyp verbreitet, in einzelnen Fällen verbindet er sich mit AT 303, 301C, 738, 675 und 314. Im Gebiet Setu und Vastseliina gibt es Varianten mit besonderer Entwicklung. 75. Das Feuerzeug AT 562. E 14070-14075 (1) Ambla. Aufgez. von Joosep Neublau (1894). – Etwa 40 Var. Erscheint meist selbständig, kontaminiert selten (AT 566, 1640). Zwei Fassungen, von denen die eine mit AT 566 verbunden ist. 76. Das Pferd, das Tischtuch und der Stock AT 563. H II 66, 457-463 Vändra. Aufgez. von Juhan Pert, dem es von der Gemeindeschule Vốivre in Erinnerung geblieben ist (1899). – Mehr als 40 Var. Überall außer in West-Estland und auf den Inseln verbreitet. Erscheint selbständig und auch kontaminiert, insbesondere in Verbindung mit AT 212 (4 Var.) und 1130, zuweilen auch in Verbindung mit anderen Typen. 77. Der Speisesack und der Prügelsack AT 564. H III 17, 793-801 Ambla. Aufgez. von J. Tannenthal. Erzählt von Mart Luur, 80 Jahre alt (1894). – 28 Var. Verbreitet vor allem im östlichen Teil Estlands. Meist selbständig, in einzelnen Fällen auch kontaminiert (AT 480, 563). Besondere Entwicklung in Setu und Vốnnu. Vereinzelt erscheinen Merkmale von AT 564 in Verbindung mit den Motiven von AT 555. 78. Der Höllenhahn AT 565 + 715. E 18591-18594 (1) Keila. Aufgez. von T. Viedemann. Erzählt von Jüri Kuuseoks (1895). – Mehr als 55 Var. Verbreitet im ganzen Land. Die Episode vom Erwerb der Wundermühle entspricht AT 565, mit dem sich zuweilen AT 715 verbindet. Kontaminiert nicht mit anderen Typen. In Setu erscheinen im entsprechenden Märchentyp als Hauptpersonen Tiere.
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79. Die zwei Brüder und das wundersame Huhn AT 567. H II 44, 375-398 (6) Otepää. Aufgez. von P. A. Speek (1891). – Etwa 40 Var. Die meisten Aufzeichnungen stammen aus Süd- und Südost-Estland. Verbindet sich mit vielen anderen Märchen; die typischste Kontamination ist AT 550 + 567 + 303, zufälliger ist die Verbindung mit AT 300, 302, 303, 307, 550, 566, 735. 80. Wie der Dummkopf die Königstochter gewann AT 572* + 570. H II 33, 787-791 (10) Jüri-SuhhumKalee. Aufgez. von Johan Pihlakas (1888). – Die gebrachte Kontamination erscheint nur einmal. AT 572*: Etwa 60 Var. Verbreitet hauptsächlich im südöstlichen Estland und im mittleren Teil Nord-Estlands. Es erweist sich als einer der estnischsten Märchentypen; sein Vorkommen außerhalb Estlands wurde bisher nicht festgestellt. AT 572* verbindet sich noch mit AT 621, das ebenfalls mit AT 570 kontaminiert. Vom letzteren gibt es 14 Var.; die Verbreitung entspricht der des Typs AT 572*. In den einzelnen Varianten der beiden Märchen (insgesamt 4 Var.) erscheint das Motiv „Die Wahrheit in den Kübel oder in den Sack sprechen“. 81. Die goldenen Flügel AT 575. H II 18, 399-402 (9) Pöide. Aufgez. von J. Trull (1888). – Ca. 25 Varianten gibt es im ganzen Land außer in Viljandimaa; wenig im mittleren Teil des Landes. 82. Die geschenkte Flöte AT 592. H II 8, 219-225 (11) Jöhvi. Aufgez. von Paulus Paurmann. Erzählt von Ruuben Paurmann (1889). – Ca. 40 Var. Verbreitet im ganzen Land. Kontaminiert mit mehreren anderen Märchen wie AT 313, 563, 1045 (und anderen Märchen vom dummen Teufel) und mit Schwänken (AT 1690G, 1876). Das Motiv der zum Tanzen zwingenden Flöte kommt auch bei anderen Märchentypen vor, so bei AT 330B, 552, 850 u. a.
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83. Die Heirat des Kaufmanns AT 612. E 16138-16142 (15) Töstamaa. Aufgez. von Otto Schantz (1895). – 6 Var. Aufzeichnungen aus SüdwestEstland (4), Märjamaa und Tốstamaa. 84. Wahrheit und Lüge AT 613. EKS 402, 697-702 (1) Vändra. Aufgez. von Jüri Peterson (1876). – Mehr als 90 Var. Verbreitet im ganzen Land, Varianten besonders dicht in Setu und Vastseliina. Erscheint meist selbständig, selten auch kontaminiert (AT 300, 314, 315, 554, 882). 85. Mats’ Sohn Mats AT 650A. H II 42, 156-161 (3) Tori. Aufgez. von T. Juurikas (1892). – Eines der populärsten estnischen Märchen: mehr als 120 Var. Bekannt im ganzen Land. Erscheint selbständig und auch kontaminiert (besonders mit AT 310B und mit Märchen vom dummen Teufel). Als Hauptperson erscheint darin zuweilen auch Kalevipoeg. 86. Wie der lahme Knabe ein Held wurde AT –. Andreev *650 I. E 38340 – 38343 (5) Pốltsamaa. Aufgez. von Martin Luu. Erzählt von Juhan Sakk (1899). – 6 Var.: aus Setu 3, Kanepi, Kolga-Jaani, Pốltsamaa. In den Texten aus Setu heißt der Held Ilja Murovits, was auf den bekannten russischen Recken (und Bylinenhelden) Ilja Muromez hinweist. 87. Der Kraftmensch AT 650B. H II 11, 696-698 Väike-Maarja. Aufgez. von K. Roost (1889). – 54 Var. Populäres Märchen, in dem als Riesenrecke Kalevipoeg auftritt. Bekannt auf dem Festland Estlands, doch nicht einheitlich; zahlreicher sind die Aufzeichnungen im mittleren Teil Nord-Estlands; unbekannt in Setu. Verbindet sich selten mit anderen Märchen (zuweilen mit AT 313A und 327A), doch Kalevipoegs Kampf mit Hilfe von Brettern erscheint zahlreich auch als selbständige Sage, meist mit dem Ende einer Ursprungs-
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sage vom Erhalten des stachligen Igelpelzes. Die Varianten der genannten Sage sowie des Märchens vom Gegnersucher sind im Druck erschienen: E. Laugaste-E. Normann, Sagen vom Kalevipoeg, Tallinn 1959. 88. Der Gegnersucher AT 650B. ERA II 54, 170-176 (169) Tartu-Maarja, Altersheim Kavastu. Aufgez. von Richard Viidalepp. Erzählt von Kaarel Jürjenson (1932). – Siehe Nr. 87. Die gegebene Variante ist wegen ihrer starken Lokalisierung bemerkenswert. Auch als Helden treten hier örtliche Personen auf. 89. Der Vater und die drei Söhne AT 654. H II 21, 669-671 (1) Tori. Aufgez. von T. Juurikas (1889). – 4 Var. Kontaminiert nicht mit anderen Typen. 90. Der Mann, der die Vogelsprache kannte AT 670. H II 52, 229-234 (11) Räpina. Aufgez. von J. Poolakess(1895). – Mehr als 40 Var. Verbreitet im ganzen Land, fehlt auf den Inseln, wenig in Läänemaa. In AT 670 kommt als Einführung AT 748* oder 672 vor, doch das darin erscheinende Motiv von der Schlange, von der man die Vogelsprache erlernt, ist weit bekannt. Daneben erlernt man die Vogelsprache noch vom Raben oder von einer Waldfee. 91. Die Tiere als Helfer Vgl. AT 670. H III 7, 761-772 (1) Kolga-Jaani. Aufgez. von Mats Kaur (1890). 92. Vom Schlangenkönig AT 672A. H II 33, 663-667 (5) Vốnnu. Aufgez. von Jaan Pint (1889). – 47 Var. Verbreitet im ganzen Land, spärlich in Mittel-Estland und in Läänemaa. Einige Varianten entsprechen den örtlichen Sagen (Koeru, Pốlva). Verbin-
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det sich hauptsächlich mit AT 670 und bildet dort oft die Einleitung. Siehe auch Sage 79. 93. Wie der Schweinehirt zum Schwiegersohn des Königs wurde AT 1115 + 675. H III 21, 173-182 (3) Suure-Jaani. Aufgez. von H. Mikkor (1895). – AT 675: 54 Var. Verbreitet im ganzen Land, wenig in Läänemaa. Verbindet sich mit vielen Typen (insbesondere mit AT 314A*, seltener mit AT 315, 327A, 530 u. a.). Die vorliegende Kontamination ist selten. 94. „Sesam, Sesam, öffne dich!“ AT 676. H II 28, 72-74 (1) Äksi. Aufgez. von A. Mauer (1889). – 13 Var. Spärlich und ungleichmäßig im ganzen Land verbreitet. Kontaminiert selten (AT 954). Das Motiv vom Verleihen eines Geldmaßes kommt auch im Schwank AT 1535 vor. 95. Der arme Tönu AT 677. H II 49, 223-228 (1) Viru-Nigula-Viljandi. Aufgez. von M. Kampmann (1894). – 2 Var.: die zweite verbindet sich mit AT 910B. 96. Der Däumling AT 700. ERA II 23, 669-670 Rapla. Aufgez. von Emilie Poom. Erzählt von Liisu Born (1930). – Ca. 60 Var. Verbreitet im ganzen Land. Kontaminiert selten. 97. Den Mond im Genick, die Sonne auf der Stirn AT 707. H II 29, 109-114 Tartu. Aufgez. von Sophie Bergmann (1888). – Ca. 45 Var. Die meisten aus SüdEstland, insbesondere aus dem Gebiet Setu – Vastseliina. Kontaminiert zuweilen (AT 313A, 559, 709). 98. Das Mädchen im Räuberhaus AT 709. H II 46, 89-101 (1) Jốhvi. Aufgez. von Paulus Paurmann (1893). – Mehr als 25 Var., davon ein großer
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Teil aus Süd-Estland (mehr als 20 Var.). Besonders populär in Setu (13 Var.) und Karksi (4. Var.). Verbindungen zufällig (AT 707, 883 und 1653A). Das Motiv der treulosen Mutter, das in dem Märchentyp enthalten ist, begegnet selten, es erscheint vorwiegend in AT 567, auch in 590, 720 und 920. Die Kritik des Kindes, die den Zorn der Mutter auf das Kind lenkt, ist typisch für AT 920. 99. Das Waisenkind wird ein Kuckuck AT 720. EKS 802, 475-478 (1) Paistu. Aufgez. von Els Raudsep (1874). – 77 Var. Verbreitet im ganzen Land. Erscheint selbständig, kontaminiert sehr selten (1 Var.). Typisch ist das sagenartige Ende – die Geburt eines Kukkucks; daneben ist weniger bekannt die Verwandlung des Waisenkindes in eine Elster, einen Kiebitz, eine Nachtigall oder in eine Schwalbe. Das gleiche Sujet ist auch als Volkslied (Liedertyp Waisenkind als Kuckuck) sowie als Naturlauterklärung bekannt. Das Zusammensuchen der Überreste der Getöteten und das Bekanntwerden des Geheimnisses durch ein Lied kommt im Märchen Der singende Knochen vor (AT 780) (s. Nr. 104). 100. Der geheimgehaltene Traum AT 725. H II 45, 467-478, 483 (1) Kanepi. Aufgez. von G. Luiga (1892). – 4 Var. Verbindet sich mit AT 518. Gemeinsame Züge mit AT 517 und 671.
Legendenmärchen 101. Gott und der Pastor AT 785. EKS 803, 564-568 (9) Helme. Aufgez. von A. Wahlberg (1874). – 17 Var. Spärlich bekannt im ganzen Land, fehlt auf den Inseln. Kontaminiert mit anderen legendenartigen Märchen (AT 753 + 791 + 752A) und einigen Zaubermärchen (AT 332 + 1157, 330).
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102. Der ungewöhnliche Schmiedegeselle AT 753. H III 6, 558-566 (6) Tarvastu. Aufgez. von den Brüdern Jaan, Johan und Andres Viira (1890). – 32 Var. Kontaminiert mit AT 330: 3 Var. Einzelne Kontaminationen: AT 785 + 752 + 791, 819, 1695. Verbreitet im ganzen Land außer auf den Inseln. 103. Der Gutsherr als Pferd in der Hölle AT 761. H II 33, 805-807 (13) Jüri Suhhum-Kalee. Aufgez. von Johan Pihlakas (1889). – 18 Var. Fehlt in Setu und auf den Inseln, spärlich vorhanden im westlichen Teil des Landes. Kontaminiert nicht mit anderen Typen. AT 761 nahe ist das Märchen Die Fahrt des Gutsbesitzers in die Hölle (fehlt in den gedruckten Katalogen), von dem wir 14 Varianten haben. Das Motiv der Verwandlung in ein Pferd erscheint auch in Sagen (Sage 72); hier ist die Hauptperson meistens der Pastor. 104. Das singende Schilfrohr AT 780. H III 7, 695-706 (10) Kolga-Jaani. Aufgez. von Mats Kaur (1889). – 15 Var. Bekannt in Süd-Estland, insbesondere im Südosten Estlands, auch in Lutsi. Verbindet sich mit AT 425C und mit 720 (s. Anmerkung zu Nr. 99). 105. Der tüchtige Drescher Vgl. AT 820. Vgl. H II 16, 291-292 (3) Kose. Aufgez. von J. Härg (1890). – 43 Var. Kommt meist selbständig vor. Einzelne Varianten verbinden sich mit den Märchen vom dummen Teufel (insbesondere mit AT 1135). Handelnde Personen sind zuweilen auch der Schlaue Ants und Vanapagan. Verbreitet in ganz Estland, doch am dichtesten in Süd-Estland; fehlt in Läänemaa. Unser Text hat auch sagenartige Züge (Sage 35). 106. Die gekochten Eier AT 821B. EKS 405, 333-334 Sangaste (?). Aufgez. von Juri Orgusaar (1887). – 5 Var., davon in Haljala 1, Pärnu 1, Tartu-Maarja 1, unbekannt 1.
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107. Der habgierige Gutsherr in der Bockshaut AT 831. E 10658-10661 (5) Ambla. Aufgez. von O. Hintzenberg. Erzählt von V. Kotkas (1894). – Ca. 20 Var. Verbreitet im ganzen Land, vorwiegend aber im östlichen Teil. Kontaminiert nicht. Die handelnde Person ist meist ein habgieriger Pastor. 108. Die faule Weberin AT 843*. H II 51, 593-594 (6) Paistu. Aufgez. von Jaan Ainson (1895). – 18 Var. Verbreitet hauptsächlich in SüdEstland. Ein nur für die estnische Volkstradition charakteristischer Märchentyp; anderswo unbekannt. Die in diesem Typ gern verwendete Formel „Heute ein Schnitt, morgen ein Schnitt, da wird auch ein großes Stück kleiner“ kann selbständig als ein Sprichwort vorkommen. 109. Das Hemd des Glücklichen AT 844. H III 19, 154-158 (3) Tốstamaa. Aufgez. von Gustav Anniko (1893). – 5 Var. (Haljala 1, Ambla 1, Tốstamaa 2, Ort unbekannt 1). Kontaminiert nicht.
Novellenmärchen 110. Um die Wette lügen AT 852 + 1960D + 1960G + 1920F. H II 56, 885-890 (16) Otepää. Aufgez. von J. Silde. Erzählt von Marie Silde (1896). – AT 852: 23 Var., davon 7 selbständige, die übrigen kontaminiert mit AT 1960, insbesondere mit AT 1960G. Einzelne Verbindungen auch mit AT 1150. Verbreitet im ganzen Land, fehlt auf den Inseln, wenige Belege aus Järvamaa und Läänemaa. 111. Der größte Lügner wird Schwiegersohn des Königs AT 852. H, Mappe 390-393 (6) Valjala. Aufgez. von Mihkel Kald (1902). – Siehe das Vorhergehende.
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112. Die Königstochter findet keine Antwort AT 853. H II 33, 849-851 (1) Jüri-Suhhum-Kalee. Aufgez. von Johan Pihlakas (1890). – 39 Var., davon 34 selbständige. Verbindungen gibt es mit AT 920, 327B + 328, 1535, 1960D. AT 853 ist im ganzen Land bekannt, doch Aufzeichnungen sind zahlreicher aus dem westlichen Teil Süd-Estlands und von Saaremaa, wenige aus Setu. 113. Die kluge Bauerntochter AT 875. H II 58, 85-88 (6) Jüri. Aufgez. von Jaan Saalverk. Erzählt von Hans Veikenberg (1896). – 18 Var. Verbreitet mehr im östlichen Teil Estlands, 8 Varianten sind selbständig, die übrigen verbunden mit anderen Märchentypen, insbesondere mit Märchentypen vom klugen Jungen oder klugen Mädchen (AT 920-929). 114. Die drei Lehren des sterbenden Vaters AT 910A. H II 8, 189-195 (1) Jốhvi. Aufgez. von Paulus Paurmann (1889). – 17 Var. Kontaminiert nicht. Aufzeichnungen spärlich im ganzen Land. 115. „Wenn sie nicht kommen, dann kommen sie“ AT 921. H III 16, 293-295 (2) Karksi - Oudowa. Aufgez. von Hans Vaabel (1890). – 61 Var. Verbreitet im ganzen Land, in Setu wenig populär. Hierher gehören Geschichten, die verschiedene andeutende Motive enthalten. Dieselben Motive („weder zu Fuß noch zu Pferd“ usw.) findet man in AT 920. Das Motiv der Aussaat von Erbsen kann auch selbständig vorkommen. AT 921 verbindet sich noch mit verschiedenen anderen Märchen- und Schwanktypen mit AT 330B, 465A, 853, 875, 1525, 1528), kommt aber auch selbständig vor. 116. Die Aufteilung der Gänse AT 1533. Schullerus 929* I. H II 8, 658-663 (11) Jốhvi. Aufgez. von Paulus Paurmann (1891). – Sehr selten. Außer unserer Aufzeichnung gibt es noch zwei aus Lutsi, davon stammt eine von einem Zigeuner.
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117. Die Weissagung über den Erben AT 930. H II 42, 152-156 (2) Tori. Aufgez. von T. Juurikas (1892). – Ca. 50 Var. Verbreitet im ganzen Land außer in Läänemaa. AT 930 kommt selbständig sowie kontaminiert mit anderen Typen vor (insbesondere mit AT 461, 751A*). In Setu gibt es eine charakteristische Sonderentwicklung von AT 930, die an. AT 461 erinnert, wobei aber eine Verbindung mit AT 751A* stattfindet. 118. Schlauer als der große Hexenmeister AT 950. H II 33, 822-829 (19) Jüri - Suhhum-Kalee. Aufgez. von Johan Pihlakas (1888). – 17 Var. Aufzeichnungen aus Südost- und Nord-Estland. Kommt selbständig, doch auch in Verbindung mit Schwänken vom Meisterdieb (AT 1525A) vor. Die Variante aus Setu hat gemeinsame Züge mit dem Märchen Hans Dumm (AT 675). 119. Der Kaiser und der Einbrecher AT 951A. H II 48, 205-209 (6) Karksi. Aufgez. von J. Hünerson. Erzählt von Jaan Vene, 56 Jahre alt (1894). – 2 Var. (Jüri, Karksi). 120. Der Räuber als Bräutigam AT 955. H III 10, 195-197 (2) Nốo. Aufgez. von J. Türklov (1889). – Ca. 30 Var. Meist aus Süd-Estland. Aufzeichnungen auch von Esten in Lettland (2 Var.), wo die Kontamination AT 955 – 956B vorkommt. In Setu erinnert AT 313A in seiner Entwicklung zuweilen an AT 955 (2 Var.). In Räpina gibt es die Kontamination 955 + 311 (1 Var.). 121. Der Zimmermann und der Maler AT 980*. H II 48, 169-174 (9) Karksi. Aufgez. von J. Hünerson (1894). – 10 Var. Hauptsächlich aus Süd-Estland und Virumaa. Kontaminiert nicht. Nach AT ist dieses Märchen nur in Estland und Indien bekannt, es wird aber
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auch bei den Tuwinern erzählt (Erika Taube, Tuwinische Volksmärchen, Berlin 1978, Nr. 62). 122. Der versteckte Alte AT 981. H II 71, 519-521 Vestseliina. Aufgez. von J. Jakobson (1903). – 10 Var. hauptsächlich aus dem Südosten Estlands. Kontaminiert nicht mit anderen Typen.
Märchen vom dummen Teufel 123. Die Speichertür hüten AT 1009 + 1008. E 1918-1919 Käina. Aufgez. von F. Vahe. Erzählt von Priidu Kärner, 50 Jahre alt (1894). – Beide Motive wenig verbreitet. AT 1009: ca. 10 Var., AT 1008: 4 Var. Meist erscheinen sie kontaminiert mit anderen Märchen vom dummen Teufel. 124. Die Augenarznei des Schlauen Hans AT 1135. H II 58, 102 – 103 (23) Jüri. Aufgez. von Jaan Saalverk. Erzählt von Mart Rosenfeldt (1896). – Ca. 100 Var. Allgemein bekannt. Erscheint sowohl selbständig als auch kontaminiert. Die Verbindung des Schlusses mit einer bestimmten Gegend kommt selten vor. 125. Die geblendete Riesin AT 1137. H I 10, 559-560. Aufgez. von Fr. Treijal (1896). – Mindestens 7 Var. Erscheint meist selbständig. 126. Wie Vanapagan und Ants um die Wette rodeten AT –. H II 20, 848 (8) Vändra. Aufgez. von T. Tetsmann (1889). – Einzige Aufzeichnung. 127. Verarmung und Tod des Vanapagan AT 1000 + 1050 + 1052 + 1150 + 1090 + 1071 + 1072 + 1062 + 1063 + 1030 + 1163 + 1012 + 1006 + 1029 + 1115 + 1132 + 1159. E 3443-3470 Viljandi. Aufgez. von J. Pihlap (1893). – Die Märchen vom dummen Teufel sind in der estnischen Volksdichtung allgemein bekannt,
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und es gibt davon auch viele Aufzeichnungen. Sie neigen dazu, sich zu längeren Erzählungen zu vereinen, wie es die hier veröffentlichte Kontamination zeigt. Sie wurden aber auch, als selbständige Geschichten und kleinere Kontaminationen erzählt. Sie verbinden sich auch mit anderen Märchen, in denen es um übernatürliche Gegner oder einfach um außergewöhnlich starke handelnde Personen geht (insbesondere z. B. AT 313A, 314, 326, 227A und B, 328, 530, 592, 656A u. a.). Mit Tiermärchen verbindet sich AT 1030 (AT 9 und 154). Auch einige Schwänke (z. B. AT 1535 und 1525) und Sagen (US 39, 56 und 60) können mit den Märchen vom dummen Teufel kontaminieren.
Schwänke 128. Der gelernte Dieb AT 1525A. EÜS VII 632-636 (2) Koeru, Dorf Salutaguse. Aufgez. von O. Lốvi, J. Lauri und O. Lalli. Erzählt von Aadu Volter, 68 Jahre alt (1910). – Zu dieser Aufzeichnung gehört folgende Bemerkung: „Drei Mann hörten zu: einer vermerkte den Inhalt, der zweite die Mundartwörter, der dritte den Satzbau, dann wurde zusammen umgeschrieben, um möglichst nach den Worten des Erzählers aufzuzeichnen.“ – Mehr als 100 Var. Bekannt im ganzen Land, auch auf Saaremaa und Hiiu. Der Name des Meisterdiebes ist oft Ants (Hans), in Vastseliina und Setu BetrügerAnts. In späteren Zeiten wurden die märchenartigen Diebesgeschichten auch mit dem Namen Jüri Rumm (ein bekannter Dieb) verbunden. Der Typ vom Meisterdieb enthält viele Motive, die in Untertypen eingeteilt sind. Die letzteren können sich untereinander verbinden, kontaminieren aber auch mit anderen Märchentypen (AT 950, 920, 1045, 1130, 1071, 1072, 1086) sowie mit anderen Schwänken (AT 1536, 1737 u. a.).
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129. „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ AT 1540. E 33640-33642 (21) Jüri-Suhhum-Kalee. Aufgez. von Johan Pihlakas (1897). – 34 Var. Bekannt im östlichen Estland. Aufzeichnungen fehlen in Järvamaa, Harjumaa und Läänemaa sowie auf den Inseln. 130. Die Axtsuppe AT 1548. Andreev 1548. ERA II 54, 178-182 (171) TartuMaarja. Aufgez. von Richard Viidalepp. Erzählt von Kaarel Jürjenson (1932). – Verbreitet im ganzen Land. Mindestens 15 Var. 131. Der habgierige Pastor AT 1571* + 1849*. H II 47, 285-287 (3) Kaarma. Aufgez. Von D. Jakson (1894). – Eine solche Kontamination ist selten (1 Var.). AT 1571*: 29 Var., bekannt im ganzen Land; die handelnde Person ist meist der Gutsherr, der Pastor kommt nur in zwei Varianten vor. AT 1849*: 55 Var., bekannt besonders in Läänemaa (27 Var.), auch auf Hiiumaa (8 Var.) und Saaremaa (3 Var.). Fehlt in Viljandimaa, Vốrumaa und Setu. Die Hauptperson ist stets der Pastor. 132. Peter ohne Hosen AT 1642 + 1600. H II 54, 650-657 (4) Pốltsamaa. Aufgez. von Martin Luu. Erzählt von Mart Peets, 33 Jahre alt (1896). – Beide Schwankmärchen im ganzen Land bekannt, AT 1600 (22 Var.) besonders häufig aus Vốrumaa. Kommen auch selbständig vor, doch meistenteils kontaminiert, besonders untereinander. 133. Gutes Gedächtnis und Vergeßlichkeit AT 1621*. H I 10, 253-254 (3) Setu. Aufgez. von Jaan Sandra. Erzählt von Leimanni Kundra, 63 Jahre alt (1896). – 12 Var. Bekannt im Südosten Estlands.
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134. Pfuscher-Schmied AT 1695, vgl. 1015. H II 12, 103-108 Väike-Maarja. Aufgez. von V. Lurich (1890). – 17 Var. Mehr Varianten im östlichen Estland, fehlt auf den Inseln. Verbindet sich selten mit anderen Typen (AT 753). 135. Der Herr lernt den Hunger kennen AT 1572E* + 1775 + 1294. H II 31, 111-118 (4) Otepää. Aufgez. von Villem Vaher (1889). – 109 Var. Einer der populärsten Schwänke. Bekannt im ganzen Land. Kommt auch in Verbindung mit anderen Schwanktypen vor (AT 1525, 1696, 1791). 136. Die Geschichten des Usara-Tani AT 1890 + 1896 + 1900 + 1893. H II 27, 13-21 (1) Kursi. Aufgez. von T. Riomar (1888). – Eine so umfangreiche Kontamination der sog. Lügenschwänke ist selten; gewöhnlich erscheinen sie einzeln. Am meisten verbreitet ist von diesen Schwänken AT 1900, der in 2 Fassungen vorkommt: A (Honig im Baum) – ist in Ost- und SüdEstland bekannt und B (Bärenhöhle im Baum) – in WestEstland. AT 1900 hat inhaltliche Berührungspunkte mit AT 1877. 137. Meine Jugendabenteuer AT 1960G. H I 5, 138-140 (3) Lääne-Nigula. Aufgez. von Johan Reimann (1894). – Mindestens 33 Var. Verbreitet hauptsächlich im östlichen Teil Süd-Estlands, wenig in Mittel-Estland und auf den Inseln. Kontaminiert mit AT 852, weniger mit AT 1960D. 138. Was sollte ich denn sagen? AT 1696. H III 13, 568-570 (2) Halliste. Aufgez. von J. Meomuttel (1889). – 80 Var. Verbreitet in ganz Estland.
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139. Unbegründete Todesangst AT 1313A. H I 5, 133-136. Lääne-Nigula. Aufgez. von Johan Reimann (1894). – 25 Var. Mehr bekannt im östlichen Estland. Kontaminiert mit AT 1240.
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