Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen -ky Es reicht doch, wenn nur einer stirbt
Kriminalroma...
115 downloads
1164 Views
773KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen -ky Es reicht doch, wenn nur einer stirbt
Kriminalroman
Angst ist das besondere Fluidum dieses Kriminalromans. Sie steht in den Gesichtern von dreiundzwanzig Gymnasiasten, die sich plötzlich in der Gewalt eines Geiselnehmers sehen, sie spiegelt sich in den Reaktionen des Mannes, der aus Verzweiflung und Hilflosigkeit zu diesem Amoklauf angetreten ist, um ein einziges Mal in seinem Leben Gerechtigkeit zu erzwingen, sie senkt sich schließlich über eine ganze Stadt – eine bundesdeutsche Kleinstadt wie jede andere auch –, sie löst sich in tausend kleine und große Ängste auf und bringt ans Tageslicht, was nach Meinung „ehrenwerter“ Bürger besser im Dunkeln geblieben wäre. Und hinterläßt beim Gehen Spuren. Mit „Es reicht doch, wenn nur einer stirbt“ stellen wir einen weiteren Titel des Westberliner Schriftstellers und Sozialwissenschaftlers Horst Bosetzky, -ky, vor, der in der DDR bereits mit „Ein Toter führt Regie“ (1977) bekannt wurde.
-ky
Es reicht doch, wenn nur einer stirbt
Verlag Das Neue Berlin
Dies ist ein Roman; die geschilderten Ereignisse sind ebenso frei erfunden, wie die Personen, die in sie verwickelt sind. Der Autor bedauert, daß es die Zeitläufe erforderlich machen, eigens darauf hinzuweisen.
7 Uhr 55 bis 8 Uhr 18 Herbert Plaggenmeyer betrat die Eingangshalle des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Bramme. Woher soll ich wissen, was er in diesem Augenblick dachte, fühlte, empfand – ich bin nicht Herbert Plaggenmeyer. Ich kann nur Vermutungen anstellen, kann nur das Bild eines gleichsam synthetischen Herbert Plaggenmeyer zeichnen, wie es mir nach allen Informationen, die ich zusammengetragen habe, erscheint. Ebenso ergeht es mir natürlich auch bei all den anderen Personen, die an diesem Morgen, an diesem Vormittag, an diesem Mittag in die schrecklichen Ereignisse in und vor dem renommiertesten Brammer Gymnasium verwickelt waren. Mit diesen Vorbehalten also werde ich die Geschichte eines Amoklaufs erzählen und dabei mitunter einen vielleicht zynisch anmutenden Plauderton anschlagen – um das Entsetzen dieser knapp sieben Stunden in Bramme ebenso zu verdrängen wie zu bewältigen. Herbert Plaggenmeyer also, ein – wie man so sagt – Mischling von zweiundzwanzig Jahren, stand in der Eingangshalle des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Zu einer Zeit, da er eigentlich in der Werkhalle III der Buth KG Material zur Fräsmaschine schaffen sollte. Im üblichen 8
blauen Overall mit einer kastenförmigen Monteurtasche aus brüchigem Leder in der Hand. Nur daß sie an diesem Morgen statt der gewohnten Werkzeuge zwei Keksbüchsen voller Sprengstoff und eine einfache, aber narrensichere Zündvorrichtung enthielt. Plaggenmeyer blieb wie unschlüssig stehen und starrte auf das sattsam bekannte Porträt des Urwalddoktors, das über dem Durchgang zum Hof hing. Der Schnauzbart! Darunter waren einige Aluminiumbuchstaben auf Ebenholz geklebt: EHRFURCHT VOR DEM LEBEN Plaggenmeyer befand sich in einem Zustand, den die Psychiater als „abgesenktes Bewußtsein“ beschreiben. Und zwar als Folge der Selbsthypnose, in die er sich durch das ununterbrochene Murmeln der Formel: „Ich tue es! Ich tue es!“ unwillkürlich hineinversetzt hatte. Solchermaßen selbst programmiert und gegenüber der Außenwelt ziemlich uninteressiert, sah er auf die vergilbten Fotos im Schaukasten, die irgendwann in grauer Kolonialzeit geschossen worden waren. Alle mit Erläuterungen versehen, wie Bei der Behandlung eines Kranken im Hospital von Lambarene, Albert Schweitzer an seiner Orgel in Lambarene oder Albert Schweitzer im Kreise seiner treuen Mitarbeiter. Dazu Briefe und Buchausschnitte. „Ich kenne die Menschen“, entgegnete freundlich Albert Schweitzer. „Glauben Sie mir, es geht kein Sonnenstrahl verloren. Doch der Samen, auf den er fällt, braucht seine Zeit zum Keimen, und nicht immer ist es dem Sämann vergönnt, die Ernte zu erleben.“ Plaggenmeyer las, ohne zu bemerken, daß er las, und ohne aufzunehmen, was er las. Obwohl er wußte, daß sein Zeitzünder auf 8 Uhr 20 eingestellt war, kam er irgendwie nicht von dem verstaubten Schaukasten los. Es war, als habe ihn eine Schläfrigkeit befallen … 9
Er schreckte erst hoch, als Jentschurek vor ihm stand. Jentschurek! Der Name fiel ihm im selben Moment ein, als der Oberstudienrat – Geschichte und Deutsch – auf ihn zutrat. Dabei war er niemals in einer Klasse gewesen, in der Jentschurek unterrichtet hatte, wie denn auch, und seit Jentschurek ihm die Strafarbeit verpaßt hatte, waren gut und gerne zehn Jahre vergangen. Damals war die Volksschule, die er besuchen durfte, im Gebäude des Gymnasiums untergebracht gewesen, und er hatte einem Schneeball so viel Effet gegeben, daß dieser, anstatt ein Mädchen namens Dörte zu treffen, Jentschurek den Hut vom Kopf geschlagen hatte. Und das einem Mann, der stolz auf sein Hindenburg-Image war. Nach zwei Ohrfeigen („Du bist hier nicht im Urwald, merk dir das!“) hatte er hundertmal schreiben müssen: Ich soll meinen Lehrern mit Ehrfurcht begegnen! Nun stand Jentschurek vor ihm, noch mehr Hindenburg als früher, und wußte natürlich nichts mehr von Schneeball und Urwald. „Du bist der Monteur?“ fragte er Plaggenmeyer. „Der Monteur …? Ja …“ „Heizungskeller, letzte Tür rechts. Der Hausmeister wartet unten. Wahnsinn, auf Öl umzustellen, wo wir selbst soviel Kohle, aber …“ Damit ging er weiter. Plaggenmeyer sah ihm hinterher, sah, daß er rechts im Parterre eine graugestrichene Tür aufstieß und in einem der Klassenzimmer verschwand. Ich tue es! Ich tue es! Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, alles war ihm schmerzhaft fremd, und sein Körper schien sich in eine wohlig-warme Masse aufzulösen. Er wurde sich seiner Umgebung erst wieder bewußt, als er in Jentschureks Klasse stand, die Pistole in der rechten und den Zündkontakt in der linken Hand. Die 10
Köpfe vor ihm, zehn, zwanzig – bunte Tupfer, die durcheinanderwirbelten, wenn er die Augen schloß. Ähnlich wie am Bremer Freimarkt letzten Herbst. Abends leicht angetrunken auf dem Kettenkarussell. Dasselbe Gefühl. Corinnas Kreischen. Kreischen auch hier, Schreie. Auch das nicht viel anders. Es waren etwa zwei Dutzend Leute im Raum, Einige lachten auch, begriffen nichts, hielten es für einen Scherz. Das reizte ihn, beleidigte ihn. Auf einmal Jentschureks Stimme: „Was soll dieser Unfug?“ Unfug? Ein schlechter Scherz? Das war die letzte Chance, noch umzukehren. Und dann? „Ich heiße Plaggenmeyer“, stieß er hervor, und zugleich schien etwas in ihm zu zerbrechen. Wohl weil er an der Reaktion der anderen merkte, daß sie schon begriffen hatten. Plaggenmeyer! Jetzt erinnerten sie sich. Er sah über den weiten Schulhof hinweg zum Friedhof hinüber. Schlackengrau der Schulhof, wie der Mond. Über den Zacken der Grabsteine der milchigblaue Junihimmel. Und hinter diesem Seidenschleier Milliarden von Sternen, von Planeten. Jetzt ein Knopfdruck – Entmaterialisierung. Und Materialisierung wieder auf einem kleinen und friedlichen Planeten dort oben. Corinna und er hatten viel Science-fiction zusammen gelesen. Letzten Sommer auf Åland. Letzten Sommer … Hatte es diesen Sommer überhaupt gegeben? War das nicht ein Traum, ein Traum wie dieser hier? Åland … Es brauchte gar kein eigener Planet zu sein, eine der winzigen Schären zwischen Stockholm und Mariehamn oder Mariehamn und Turku hätte ihm genügt. 11
Für immer dort sein! Jetzt! Auf den Felsen sitzen, die Beine im Wasser, die Angel ausgeworfen, Hunderte von Kilometern von Bramme entfernt. Lieber Gott, laß mich dort sitzen! „Hackbarth, rufen Sie die Polizei!“ sagte Jentschurek. Ich darf nicht träumen! Ich muß … „Sitzen bleiben!“ befahl Plaggenmeyer, und das Band lief weiter ab. „Keiner verläßt den Raum! Das ist ein Ultimatum. Ich gebe Ihnen drei Stunden Zeit. Wenn bis dahin der Mörder meiner Braut kein Geständnis abgelegt hat, fliegen wir alle in die Luft. Herr Dr. Jentschurek, Sie gehen zum Telefon und …“ Weiter kam er nicht. Die Detonation war äußerst heftig.
8 Uhr 18 bis 9 Uhr 07 Ich saß gerade in der Frühstücksstube des Hotels Zum Wespennest, als mich eine heftige Detonation hochschreckte. „Diese verdammten Düsenjäger“, schimpfte der Ober, der mir gerade meinen Orangensaft brachte. „Seit Jahren kämpfen wir darum, daß sie den Flugplatz verlegen. Aber da ist nichts zu machen: immer über Bramme weg!“ Er schlurfte davon, und ich hing wieder meinen Träumen nach – von Weib und Kind und dem eigenen Bett, von einem Straßenrestaurant am Kudamm, von Farben und Menschen. Aber so bald sollten diese Träume nicht Wahrheit werden. Noch lagen fünf Tage Bramme vor mir, genau einhundertzwanzig Stunden, und nach Bramme kamen Oldenburg, Leer und Aurich. „In Aurich ist’s traurig, in Leer noch viel mehr“, Vorurteile, die abzubauen mein Chefredakteur mir aufgetragen hatte. Etwa in der Vorstellung: Sag den Leuten in der Provinz, wie gut sie’s 12
haben, dann wählen sie beim nächsten Mal sozial-liberal. Vielleicht konnte man tatsächlich in Cloppenburg und Vechta etwas damit ausrichten, wo die CDU meines Wissens noch immer an die drei Viertel aller Stimmen bekam, wenn nicht gar mehr. In Bramme selbst stand’s meistens pari, und im Augenblick hatte die mehr oder minder linke Seite, die hier Lankenau hieß, einen leichten Vorteil errungen. Ja. Journalistenschicksal. „Wes Brot ich eß, des Blatt ich füll.“ Das Ganze sollte eine Serie werden, sechs bis acht Folgen etwa. Arbeitstitel: „Wie provinziell ist unsere Provinz?“ Daß der Provinz-Artikel nur ein Vorwand war und ich aus einem ganz anderen Grund am trüben Strand der Bramme weilte, ging im Augenblick keinen etwas an. Während ich lustlos mein Marmeladenbrötchen vertilgte, begann ich das Material zu studieren, das mir Corzelius gestern abend in die Hand gedrückt hatte. Corzelius, schreibt fürs Brammer Tageblatt, macht aber sonst einen ganz normalen Eindruck. Wenn der mal den Absprung kriegte, könnte direkt noch was aus ihm werden. Bramme also. Bramme an der Bramme (ein Flüßchen zum Abtransport von Chemikalien), Stadt in Niedersachsen, mit (1965) 81 300 Einwohnern (inzwischen sollen es, laut Corzelius, ein paar mehr geworden sein), hat Amtsgericht (Harjes kauft von Wietjes eine Kuh – wer hat recht?), höhere und Berufsschulen, Freilichttheater, Heimatmuseum (sicherlich mit der ungemein bildenden Sonderschau „Bramme zur Zeit der TrichterbecherKultur“), Industrie: Maschinen (Destillierapparate für Doppelkorn), Bekleidung (Kartoffelsäcke), Nährmittel (Kohl und Pinkel), Möbel, Fertighäuser. Meine Assoziationen: Vorurteile über Vorurteile. Das kam vom tagtäglichen Umgang mit den Intellek13
tuellen in der Berliner Redaktion, deren Spott auch vor gar nichts haltmachte. Man konnte Bramme aber auch anders sehen – nämlich als eine Stadt, in der man ruhig leben konnte, wenn man alt genug war und sich mit dem Leben arrangiert hatte. Irgendwo am Stadtrand auf einer 1 000-qm-Wiese ein Haus mit Kellerbar und Hobbyraum, und überall die Wirtschaftswege und die Deiche, ideal für kilometerweites Radeln. Und keine Dunstglocke über den Dächern. Und keine U-Bahn-Hektik um fünf Uhr nachmittags. Und keine Zusammenballung krimineller Elemente. Und keine Spur von rotem Radau. Ganz ernsthaft: Bramme war schon einen Rechtsruck wert! Oder? Meine Frau war sehr für Bramme. Ich nahm die Prospekte des Verkehrsvereins Bramme e. V. in die Hand. Die Brammer sind stolz auf ihre Stadt, die zu den ältesten Ansiedlungen zwischen Bremen und der holländischen Grenze zählt. – 3 000 v. Chr. erste Besiedlung der Uferdüne der Bramme. – Um 15 v. Chr. eroberten Soldaten des Kaisers Tiberius die kleine Siedlung. Pech für Tiberius, daß er im Jahre 37 n. Chr. nicht hier in Bramme war, dann hätte er unmöglich beim Kap Misenum sterben können. – Um 780 n. Chr. Christianisierung durch den angelsächsischen Priester Willehad. Der hätt’s lieber bleiben lassen sollen, dann lebten zumindest die 682 Brammer Juden noch, die … 820 Bau einer hölzernen Basilika durch den Erzbischof von Bremen. – 1012 das Marktrecht durch Kaiser Heinrich II. Marktrecht … Ich sah auf den Marktplatz hinaus, und der war nun wirklich ein Kleinod. Gegenüber das Rathaus mit seiner sehenswerten Renaissancefassade und viel Patina auf dem Dach. Links davon das zweihundert Jahre alte Sparkassenhaus, Rokoko, und dann, etwas zurückgesetzt, die wuchtigen Sandsteintürme des St.-Johannes-Domes. Rechts vom Rathaus das Haus Erelius, 1548 erbaut als 14
Gildehaus der Brammer Kaufleute, überwiegend Barock, ebenso wie das Gebäude des Brammer Tageblattes, wo allerdings hinter der alten Fassade Beton und Funktionalismus steckten. Durch die zum Wall führende Straße von ihm getrennt folgte das Stadt- und Polizeihaus, eine wilhelminische Backsteinentgleisung, die langsam nostalgisch schön wurde. Die Lücken, die die letzten Weltkriegsbomben gerissen hatten, waren dank der Bemühungen des unterbezahlten Stadtbildpflegers bald geschlossen worden – und zwar mit einem Kaufhaus, das aluminiumverkleidet so recht Altes mit Neuem verband, und einem Geschäftshaus mit (zufällig?) braungetöntem Glas, Bank und China-Restaurant im Erdgeschoß. – Im Krieg wurde der Marktplatz zum Entsetzen der Brammer Bürger zu 35 Prozent zerstört. Eigentlich ungerecht, denn am 5. März 1933 hatten lediglich 32,2 Prozent der Brammer NSDAP gewählt. Auf dem Marktplatz mit vielen Schalen, Meerjungfrauen, Fischen und einem alles erschlagenden Neptun – der Harm-Clüver-Brunnen. Ich wollte mich gerade in einen dünnen Gedichtband des Brammer Universalgenies Harm Clüver (1869-1957) vertiefen, der den verheißungsvollen Titel Utkiek trug, da sah ich Corzelius über das historische Pflaster des Marktplatzes eilen. Er sah mich hinter der Scheibe sitzen und winkte mir aufgeregt zu. Ich hatte keine Ahnung, was er wollte. Schnell ein Wort zu Corzelius: alles in allem empfehlenswert. Ein Relikt der guten alten APO-Zeit, immer noch so verklärt, als hätte er eben zu Adornos Füßen gelegen. Fliederfarbene Jeans, T-Shirt, schulterlange Haare, Schnauzbart und Nickelbrille. Vom ziemlich rechten Brammer Tageblatt engagiert, sich um alles das zu kümmern, was junge Leute, was linke junge Leute dazu bewegen konnte, das Blättchen zu lesen oder gar zu abonnieren. Also Popmusik und Schlager, Underground und Aufstand, Comics, Thrill und Bürgerini15
tiativen, Che Guevara und Don Camaro. Auch JusoGroschen stanken nicht, und so ein herrlich funktionierendes Ventil wie Corzelius bekam man nicht alle Tage für so wenig Geld. Corzelius, der Gute, verbreitete pausenlos linkes Gedankengut mit missionarischem Eifer und erzeugte damit bei seinen Lesern jenes Gefühl von Freiheit und Hoffnung, das unsere Klassengesellschaft, unser spätkapitalistisches System so herrlich stabilisiert. Er selber aber fühlte sich als linker Prophet und Überwinder des Systems. Jeden Tag ’ne neue Stimme für die SPD. Da stand er vor mir: ganz einsamer Wolf und köstlich intellektuell. „Haben Sie denn nicht die Funkwagen gehört? Die Polizei?“ „Nein, hier ist ja jetzt Fußgängerzone.“ „Das Grab von Bürgermeister Büssenschütt ist in die Luft geflogen!“ „Das halbe Mausoleum ab?“ „Ja, auf dem Alten Friedhof hinten.“ „Da hat jemand ja direkt Geschmack bewiesen. Weiß man, wer es war?“ „Ja, Plaggenmeyer.“ „Plaggenmeyer …“ „Der Mischling, von dem ich Ihnen gestern abend erzählt habe, unser Sahnebonschen.“ „Was – wie bitte?“ „Sahnebonbon auf Hochdeutsch.“ „Ach so, der Junge, der hier die ganze Zeit über schon Terror macht, weil er glaubt, sie hätten seine Braut ermordet. Der ist es doch – oder?“ „Ja – Herbert Plaggenmeyer. Und jetzt ist er im Albert-Schweitzer-Gymnasium und droht, die ganze Oberprima in die Luft zu sprengen, wenn sich der Mörder nicht stellt.“ „Ja, um Gottes willen …“ 16
„Und als Warnung, daß er es ernst meint, hat er das Grab mit ’ner Zeitzünderbombe … Kommen Sie!“ Während wir die schmale Knochenhauergasse hinuntereilen, faßte Corzelius noch einmal zusammen, was ich bisher nur bruchstückhaft am Rande mitbekommen hatte. „Vor drei Wochen etwa, so Anfang Juni, ist Plaggenmeyers Verlobte von einem Auto angefahren worden und kurz darauf ihren Verletzungen erlegen. Er hatte sie zum letzten Bus gebracht, ein bißchen spät wohl, und sie ist über die Straße gerannt. Der Wagen ist trotz des Nebels über hundert gefahren und hat nicht angehalten, obwohl der Fahrer es gemerkt haben muß. Keine Zeugen, die was Vernünftiges aussagen konnten, nur Plaggenmeyer selber. Und der will einen dunklen Mercedes erkannt haben – Nummer BRD oder BRA-RC oder RO, die erste Zahl zweiundvierzig und die letzte Zahl wahrscheinlich eine eins.“ Ich lief einem alten Muttchen in die Hacken. Ganz Bramme schien auf den Beinen zu sein. Mehr war auf dem Weg von der U-Bahn zum Olympiastadion auch nicht los, wenn Hertha spielte. „BRE ist Bramme, das hab ich schon mitgekriegt, aber BRA?“ Ich schüttelte den Kopf. „Brake/Unterweser, der nächste größere Ort stromab hinter Bremen. Das heißt, wahrscheinlich waren es die Buchstaben BRA oder BRE, ganz sicher erinnert sich Plaggenmeyer aber nur an das BR. Es kann natürlich auch ein Wagen aus Brilon gewesen sein – BRI, aus Brückenau – BRK, das ist zwischen Würzburg und Fulda, BRL – Blankenburg/Braunlage im Harz – oder BRV – Bremervörde; das wäre nun wieder hier bei uns im Dreh.“ Während er redete, versuchte ich etwas von der Atmosphäre der Knochenhauergasse mitzukriegen. Offenbar ein Sanierungsgebiet; nur ein paar Neubauten zwischen den geduckten Kleinbürgerhäusern mit den schä17
big grauen Fassaden. Parterre, ein Stockwerk und darüber das Dachgeschoß mit ein paar lukenähnlichen Fenstern. Ein halbes Dutzend Läden. Schuh-Dopp. Lichthaus Bruns. Zoohandlung Wachmann. Ein Arzt: Dr. Harjes, Urologe. Ein kleines Hotel – Stadtwaage. Eine Pension – Meyerdierks. Links ging die Kirchgasse ab, und man konnte die backsteinrote Matthäi-Kirche, den Alten Friedhof und den Schulhof des AlbertSchweitzer-Gymnasiums erkennen, auf dem zwischen grün-weißen Polizeiwagen und etlichen FeuerwehrFahrzeugen an die fünfzig Leute durcheinanderquirlten. „Die Kripo ist nicht weit gekommen“, hörte ich Corzelius sagen. „Kann ich mir vorstellen.“ „Wenn Plaggenmeyer die Nummer richtig erkannt hat, kämen zwei Leute in Frage: ein Mann aus Brake, ErnstGeorg Bleckwehl, ein Autohändler, und der Chefarzt des Brammer Kreiskrankenhauses, Carpano, Doktor Ralph Carpano.“ „Aber keinem war was nachzuweisen?“ „Nein. Bleckwehl hat einen dunkelgrauen Mercedes – und zwar mit der Nummer BRA-RO vierhunderteinundzwanzig, und an diesem Mercedes ist kurz nach dem Unfall oder kurz nach dem Mord, wie Sie wollen, der rechte Kotflügel ausgewechselt worden. In seiner Werkstatt. Und anschließend verschwunden.“ „So ’n Zufall!“ „Keiner will ihn mehr gesehen haben, ist ja auch so winzig …“ „Mensch – und das reicht nicht?“ „Nee, der Mann hat für die Tatzeit ein Alibi: Frau, Bruder und ein Nachbar bezeugen, daß er in der fraglichen Zeit zu Hause gewesen ist und Skat gespielt hat.“ „Und dieser Doktor Carpano?“ „Der hat zwar kein Alibi; der hat um dreiundzwanzig Uhr zweiundfünfzig, als es passiert ist, allein zu Hause 18
gesessen, aber der hat dafür einen völlig intakten Wagen, nicht die Spur einer Spur am Kotflügel. Kämenas Leute haben das gleich nach dem Unfall geprüft. Wie gesagt: absolut nichts!“ „Und die Nummer des Wagens?“ „BRD-RC vierhundertsiebenundzwanzig. Das RC für Ralph Carpano.“ „Hm … Und Plaggenmeyer meint, die würden was vertuschen …?“ „Nicht nur er …“ Wir hatten jetzt das Albert-Schweitzer-Gymnasium erreicht, einen vierstöckigen klassizistischen Bildungstempel mit schwarz verwitterter Sandsteinfassade. Zwar hatte man schon alles abgesperrt, aber Corzelius war hier bekannt wie ein bunter Hund, und mein Presseausweis tat ein übriges, so daß wir bald passieren konnten. Ein wortkarger Streifenpolizist führte uns durch ein paar muffige Kellergänge hindurch auf den Schulhof hinaus. Das Gebäude war schon vollkommen geräumt; eine unheimliche Stille hier. In einem Halbkreis von etwa dreißig Metern um die drei hohen Fenster der 13 a herum waren aufklappbare Absperrgitter aufgestellt, weiß und rot, und in weiteren fünf Metern Entfernung stapelten Bereitschaftspolizisten die letzten Sandsäcke zu einer brusthohen Barriere übereinander. Derart verschanzt sah man in drei, vier Grüppchen alle die zusammenstehen, die schwer an der Last der Verantwortung trugen. Fortüne bei dieser Aktion konnte schnellere Beförderung bzw. zusätzliche Wählerstimmen bedeuten. Eine Katastrophe indes … Nicht jeder von ihnen hatte schon eine Position erreicht, in der man auch beim krassesten Versagen noch nach oben weggelobt wird. Hinter denen, die hier – offiziell oder inoffiziell – die Entscheidung zu fällen hatten, und den aufgestellten Fahrzeugen lagen die Trümmer des in die Luft gesprengten Grabmals der Büssenschütts. 19
Corzelius ließ mich einen Moment stehen, ging auf eine Gruppe Polizisten zu und kam mit zwei Ferngläsern wieder, von denen er mir eins hinreichte. Ich richtete meins auf das Parterrefenster der 13 a. Im Klassenraum herrschte absolute Ruhe; alle wirkten wie erstarrt – Plaggenmeyer, Jentschurek und die dreiundzwanzig Primaner. Auf Plaggenmeyers milchkaffeefarbenem Gesicht schien so etwas wie Wohlbehagen zu liegen. Da der Schulhof zur Friedhofsmauer hin leicht anstieg, konnte ich deutlich die große schwarze Werkzeugtasche neben seinem Stuhl stehen sehen. Aus der Tasche führte eine weiße Schnur hinaus, von einem DiaProjektor offenbar, und Plaggenmeyer hielt den Druckknopf, nicht viel größer als ein Hühnerei, in der linken Faust. Wahrscheinlich drückte sein Daumen den weißen Plastiknippel schon eine Winzigkeit nach unten. Das Ding hatte mit Sicherheit keinen Druckpunkt, und so konnte ein leichtes Zucken seiner Hand für ihn und seine vierundzwanzig Geiseln tödlich sein. Bruchteile eines Millimeters trennten sie vom absoluten Aus. Viel weniger gefährlich wirkte da die schwere Waffe in der rechten Faust, allem Anschein nach eine achtunddreißiger Smith & Wesson, obwohl sie Plaggenmeyer ebenso bedeutsam war. Angst, Erregung, Spannung stiegen in mir auf. Ein ähnliches Gefühl wie vor anderthalb Jahren auf dem Rückflug nach Berlin, als ich erfuhr, daß unsere Maschine, deren Fahrwerk sich nicht ausfahren ließ, auf einem schnell gespritzten Schaumteppich landen sollte. „Schuld ist nicht Plaggenmeyer, schuld sind diese Schweine hier“, sagte Corzelius, nahezu zitternd vor Haß, zitternd unter den Zentnern seiner angestauten Aggressionen. „Erst machen sie Plaggenmeyer zur Sau, sperren ihn ein – und dann kommt ein Mädchen, das ihn rausholt aus seinem Elend, und das fahren sie tot. Und keiner hat den Mut, es zuzugeben. Die Karriere könnte ja gefährdet 20
werden, das Geschäft, das könnte darunter leiden! Jetzt jammern sie, weil ihre Kinder da in der Klasse mit drinsitzen, alles Oberschichtenkinder oder Kinder aus der oberen Mittelschicht. Mit ein, zwei Ausnahmen vielleicht. Und vor ihnen Plaggenmeyer, der sie alle vernichten kann.“ „Hm … Also Überschrift: Der Kampf in der Klasse – Klassenkampf in Bramme.“ Irgendwie mußte ich Distanz gewinnen. Corzelius funkelte mich an. „Ich denke, Sie sind Sozialist?“ „Sicher – aber ironischer Sozialist.“ „Das ist ernst hier, da sitzen dreiundzwanzig junge Menschen drin, plus einem Lehrer, plus Plaggenmeyer. In der nächsten Sekunde können sie tot sein, alle. Mein Gott!“ Wenn Atheisten schon Gott anrufen … Ja, es war schrecklich, ohne Frage. Aber wir beide konnten nicht eingreifen, konnten nichts daran ändern. Kein Zuschauer kann noch was ändern, wenn ein Flugzeug brennend vom Himmel stürzt. Man kann nur zusehen, vielleicht beten, vielleicht mit Zynismus drüber hinwegkommen. Aber im Grunde ist es völlig gleichgültig für die Leute da oben im Flugzeug, was die unten noch denken und tun. Das Entscheidende für ihre Rettung hätte schon viel früher geschehen müssen. Ich schnauzte Corzelius fast an, damit er nicht vollends durchdrehte: „Nun erzählen Sie mir mal, wer hier alles rumsteht.“ Er schaltete auch, unterdrückte seine Emotionen; er war schließlich Vollblutreporter. „Der große Hagere da, der neben dem Löschfahrzeug, das ist Günther Buth …“ „Buth“, wiederholte ich, „Bauelemente und Fertighäuser, Hoch- und Tiefbau, Konserven, Supermärkte, Reisebüros und die Möbelfabrik hinten an der Autobahn: WOHNE GUT MIT BUTH.“ 21
„Sie wissen ja schon alles.“ „Ich habe die letzten Nummern vom Brammer Tageblatt gelesen.“ „Tja, mit Buth geht’s Bramme gut: Steuern, Arbeitsplätze. Aber ihm selber geht’s noch besser: einige Millionen und einige Macht …“ Immerhin, so schien mir, kein schlechter Typ. Schmaler Kopf – wie man sich einen englischen Lord vorstellt, hohlwangig, schmale Lippen und eine Kerbe im Kinn, soweit man das aus einer Entfernung von vielleicht zehn Metern erkennen konnte. Lockige, graumelierte Haare, ein wenig gelichtet. Corzelius schimpfte über seine Ausbeutermethoden. Aber Pech für den jungen Journalisten, daß der Klassenfeind diesmal alles andere als unsympathisch war. Und jetzt fehlte die Zeit, über den Marxschen Begriff der Charaktermaske zu diskutieren. „Der da neben Buth, das ist Lankenau“, sagte Corzelius und zeigte auf einen untersetzten Mann, der trotz der Hitze mit Schlips und grauem Anzug erschienen war. Beamtenhaarschnitt, Goldzähne, ein Hamstergesicht, Stummelbeinchen und ein enormer Bauch, an dem sich geradezu ablesen ließ, wieviel Biere dieser Mann allwöchentlich in Brammer und anderen Parteilokalen konsumierte. „Unser halblinker Bürgermeister. Jovial und immer am Ball. Nicht ganz so dumm, wie er aussieht – ziemlich tricky. Hat sich hochgesoffen. Ist mit Buth derart verfeindet, daß beide für die nächsten Jahrzehnte im Sattel bleiben werden. Das ist so ’n ClayFrazier-Verhältnis: sie beschimpfen und prügeln sich dauernd – aber die Börse, die stimmt bei beiden.“ Lankenau, Lankenau – ich prägte mir einen weiteren Namen ein. „Der Mann, der gerade mit unserem verehrten Bürgermeister plaudert, der ist von der Kripo – Kämena, Oberkommissar. Ein Mann mit einem ungeheuren Überblick – er übersieht einfach alles.“ 22
„Der sieht doch ganz vernünftig aus – so ’n echter Charakterkopf. Volle weiße Haare, braungebranntes Gesicht, energisches Kinn – richtig telegen.“ „Drum“, spottete Corzelius, „kommt ja auch nächste Woche ins Abendprogramm: Oberkommissar Kämena – der Hilfssheriff von Bramme.“ „Mensch, nun hören Sie endlich auf, Bramme als Panoptikum darzustellen! Was wollen Sie denn? Sie haben hier ein gut funktionierendes Gemeinwesen, eine aufblühende Stadt, in der sich’s ruhig leben läßt …“ „Wie der Fall Plaggenmeyer zeigt!“ „Das hätte überall passieren können.“ „Schon …“ Ich zeigte in den Klassenraum, wo man inzwischen allem Anschein nach die erste kritische Phase überstanden hatte, ohne daß einer die Nerven verloren hätte. Ein schlankes Mädchen, ein Gesicht wie Jane Fonda, mit auffallend blonden Haaren, die ihr lang auf das lila T-Shirt fielen, begann offenbar mit Plaggenmeyer zu verhandeln. „Wer ist denn das?“ fragte ich Corzelius. „Gunhild Göllmitz – Gun, Klassensprecherin der 13 a …“ Corzelius starrte ungewohnt befangen auf den grauen Schotter unter unseren Füßen. „Ich wollte heute abend mit ihr nach Bremen fahren, ins Theater. Eine Freundin von Corinna … Ich muß was tun für sie; Mensch, Doktor, helfen Sie mir!“ „Wieder mal verliebt?“ „Weiß ich nicht, aber ich laufe Amok, wenn der das Mädchen umbringt, ich stech’ ihn ab, und Carpano und Bleckwehl dazu, wenn …“ „Gehn Sie doch rein zu ihr!“ Er starrte mich an, dann machte er eine hastige Bewegung, wie ein 800-Meter-Läufer, der in den Startschuß fällt. Vielleicht wollte er sich nur abwenden, um mir nicht zu zeigen, wie sehr er selber über seinen Ausbruch erschrocken war, vielleicht wollte er tatsächlich 23
durch eines der geöffneten Fenster in den Klassenraum springen, um Gunhild zu helfen; ich riß ihn auf alle Fälle zurück. „Sind Sie verrückt? Plaggenmeyer dreht durch, wenn Sie da plötzlich hereinplatzen!“ Er sah erleichtert aus. „Was haben die denn für ’n Lehrer drin?“ fragte ich schnell, um ihm über die peinlichen Sekunden hinwegzuhelfen. „Ist der in Ordnung, oder ist das ’ne Pfeife?“ „Doktor phil. Johann Jentschurek. Als ich noch bei den Falken war, hat er mich angezeigt, weil ich ihn Götz von Berlichingen genannt habe. Jetzt nennen sie ihn abgemildert Johann Ohneland, in Anlehnung an Johann Ohneland, dem seine ganze Liebe gilt – mal abgesehen von Hitler und Hindenburg.“ „Das links ist ’ne Prothese?“ „Hm. Neunzehnhundertneununddreißig hat er im Brammer Tageblatt ein Gedicht veröffentlicht: Für meinen Führer. Neunzehnhundertachtundvierzig war er entnazifiziert, jetzt setzt er sich im gleichen Blatt für den Radikalenerlaß ein. Lieb Vaterland, magst ruhig sein.“ „Wer weiß, was Sie schreiben würden, wenn Sie in einer faschistischen Diktatur leben müßten.“ Seine Selbstgefälligkeit, seine Selbstgerechtigkeit regten mich plötzlich auf. „Wir quatschen hier rum – und die da drin, die sterben!“ „Hören Sie auf zu jammern! Hätten Sie lieber ein bißchen mehr für Plaggenmeyer getan, als es noch Zeit war. Die paar kümmerlichen Zeilen in der Zeitung – Sie wollten auch keinem weh tun!“ fauchte ich. Dann setzte ich nach einigem Schweigen hinzu: „Mir fällt nichts ein, was man tun könnte. Ihnen?“ Ein hilfloses Achselzucken.
24
9 Uhr 07 bis 9 Uhr 15 Ich habe das Folgende nur von ferne und durchs Fenster beobachten können, und was ich sah, waren fünfundzwanzig Menschen, die mehr oder minder erstarrt waren. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mir, um der dramaturgischen Spannung willen, den eigentlich unerlaubten Trick gestatte, die Szene so zu schildern, als hätte ich sie nicht nur miterlebt, sondern auch noch die Gedanken der agierenden Personen erraten können. Hans-Henning Hackbarth, der in der letzten Bankreihe saß, um so vor jeder überraschenden Attacke anderer sicher zu sein, Hans-Henning Hackbarth, Spitzname: Ha-Ha-Ha, war nur dadurch über seine steten Selbstmordpläne hinweggekommen, indem er sich pausenlos einredete, das Schicksal habe ihn dazu ausersehen, auf der Bühne dieser Welt eine außergewöhnliche Rolle zu spielen. Irgendwann, so dachte er, würde er etwas vollbringen, was ihn heraushob aus der Menge, würden sich alle Scheinwerfer auf ihn richten, würde die große Wende seines Lebens kommen. Schwammig und von unscheinbarem Äußeren hatte er sich in solche Wunschvorstellungen gerettet. Wenn er wenigstens noch eine gewisse rhetorische Brillanz besessen hätte, damit konnte man in den Augen der Mädchen manches wettmachen; so ein bißchen kabarettistisch aufgepeppter Weltschmerz und Zynismus, der sich gegen Lehrer, Eltern und Politiker richtete – aber auch in dieser Hinsicht blieb er schwach, blieb er blaß; da war nichts von überlegener Schnoddrigkeit. Sogar Dr. Jentschurek hatte sich, allerdings auf den Geschichtsunterricht bezogen, zu der Bemerkung hinreißen lassen, Hackbarth sage zwar nicht viel, aber dafür sei das, was er sage, auch Quatsch. Zu Hause aber, speziell im Bett, da fielen ihm dann die geistreichen Formulierungen ein, aber da nütz25
ten sie ihm nichts mehr. So blieb auch die Chance vertan, aus den Mängeln seines Körpers, aus seiner Grobschlächtigkeit insofern Kapital zu schlagen, als er sich zum Original profilierte, zu einer „Type“. Bei einem soziometrischen Test, der im letzten Jahr von einem PH-Studenten aus Bremen durchgeführt worden war, hatte er am untersten Ende der Beliebtheitsskala gestanden und war zur Kategorie „soziometrisch Isolierte“ gerechnet worden. Dabei hatte diese Isoliertheit keine sozialen, das heißt schichtspezifischen Gründe, was in Bramme nahegelegen hätte, denn sein Vater war ein angesehener und einkommensstarker Zahnarzt im vornehmen Stadtteil Osterwerder. Wahrscheinlich hätte sich Hans-Henning Hackbarths Elend in normalen, also pubertätsgemäßen Grenzen gehalten, wenn er sich nicht ausgerechnet in Gunhild Göllmitz verliebt hätte – Gun, wie sie sich in ihrem Schweden-Fetischismus gerne nennen ließ. Und Gun, für ihn eine Mischung aus der schwedischen Lichtkönigin Lucia und Anita Ekberg, tugendsam und Sexbombe zugleich – Gun beherrschte seine Sinne, erfüllte ihn, wie er es in einem seiner Gedichte. ausgedrückt hatte: „Du bist in mir, ich seh durch dich, wenn ich am Meere träume. Du bist in mir, ich träum durch dich, wenn ich zum Meere sehe.“ Kein Tag, an dem er nicht Gedichte für sie schrieb, kein Abend, an dem er nicht vor dem Einschlafen mit ihr tanzte, flirtete, badete und sie nach diesen Vorspielen mit all seiner Phantasie besaß. Die Spuren seiner Liebe ließen sich beim besten Willen nicht mehr übersehen, und sein Vater, ein Anhänger der noch immer verbreiteten „Tausend-Schuß-Theorie“, ermahnte ihn des öfteren, noch kälter zu duschen. Gunhild allerdings ahnte nichts von seiner Liebe, und wenn sie es getan hätte, würde sich auch nichts geändert haben; er war ihr so gleichgültig wie einer der Millionen Kiesel unten im Fluß. 26
Jetzt sah er sie drei Stuhlreihen vor sich, über ihren Tisch gebeugt, sich eifrig Notizen machend. Sie spielte, wie er wußte, bei den Jusos eine führende Rolle und konnte argumentieren wie keine zweite zwischen Hamburg und der holländischen Grenze. Jentschurek, für den sie in jeder Beziehung ein rotes Tuch war, stöhnte jeden Tag im Lehrerzimmer: „Das Mädchen macht einen ja mit Reden besoffen!“ Und allem Anschein nach entwarf Gunhild eben ein Strategiepapier oder aber einen Brief, um Plaggenmeyer von seinem Plan abzubringen. Aber nicht das erregte Hackbarth, sondern der Gedanke, mit Gunhild zusammen zu sterben. Er sah die Särge in der Rathaushalle stehen, sein Sarg neben ihrem Sarg. In langer Reihe defilierten alle vorbei, die er kannte, die Augen voller Tränen, gramgebeugt. So hoffnungsvolle junge Menschen. Sie sind gestorben, ehe sie richtig gelebt hatten. Wie konnte das nur geschehen? Hackbarth fühlte, wie seine Augen feucht wurden, sah Gunhilds Bild immer mehr verschwimmen. Es gab keine Rettung. Sie waren alle verloren! Es war totenstill im Raum. Auch die, die zuerst gelacht hatten, starrten nun auf die Kritzeleien vor sich, die aufgeschlagenen Bücher, die Maserungen ihrer Tische. Hin und wieder hakten sich ihre ängstlichen Blicke am Blau und Rosa der großen Karte fest, die Dr. Jentschurek rechts an der Wand befestigt hatte. Der Kriegsverlauf im Westen 1914-1918. Er hatte wiederholen wollen. Zum hundertstenmal lasen sie Namen wie Cambrai, Soissons, Montmédy. Nur nicht Plaggenmeyer ins Gesicht sehen, keinerlei Gemütsbewegungen zeigen, sich nicht bewegen, nicht miteinander sprechen. Der erste Schock war überwunden, die Todesangst, als drüben das Grabmal auseinanderflog. Danach Sekunden der Erleichterung: Wir leben noch! Und immer wieder die Frage: Warum gerade bei uns hier? Warum gerade wir? Die Hoffnung, daß die da drau27
ßen helfen würden. Und nun die Apathie, nun die Erstarrung, als die Hilfe ausblieb, wohl auch ausbleiben würde. Hackbarth hatte zuerst nur mechanisch gebetet: Herr, hilf mir, ich will auch alles tun, was du willst … Er hatte das Gefühl gehabt, jede Sekunde ohnmächtig zu werden, aber dann hatte ihn ein Würgen, das von den vorderen Bänken kam, wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Vorne hatte sich jemand erbrochen, Dörte wohl oder Immo. Er warf einen Blick aus dem Fenster und konnte sie draußen stehen sehen: Buth, Lankenau, Kämena, Corzelius – die ganze Prominenz. Das war das Schlimmste. Standen da herum und ließen sie hier sterben. Hackbarth trauerte, trauerte um das, was nun nie gewesen sein würde: Küsse und Umarmungen, Frauen und Kinder, Titel und Ehren. Kein Hans-Henning, der seine Gunhild küßte und in ihren Schoß eindrang. Kein Hans-Henning, der auf dem Deck seiner Jacht von Hollywood-Schönen umlagert wurde, wie es sich für einen Big Boss gehörte; kein Hans-Henning, der, inzwischen zum Dr. jur. promoviert, den deutschen Kaffeehandel kontrollierte und sich Konsul von Costa Rica nennen durfte. Kein Hans-Henning, der seine Söhne unterm Weihnachtsbaum fotografieren konnte. Aber dann schlug seine Stimmung plötzlich um. Er begriff, daß das alles, falls er am Leben blieb, immer nur Traum, immer nur Last bleiben würde. Denn sein Leben war vorgezeichnet, programmiert. Abitur machen, Zahnmedizin studieren, die Praxis des Vaters übernehmen und Petra heiraten, die Tochter von Bekannten. Ein wenig attraktives Mädchen, dafür aber treu und mit vielerlei Verbindungen. Vom Kirchenchor her. Alles potentielle Patienten. Und auf einmal, wie eine Erleuchtung, sah er eine Chance vor sich, die mögliche Sternstunde, die das Schicksal für einen Menschen nur einmal bereithält. 28
Wenn er Plaggenmeyer erledigte, dann wäre er der Held des Tages. Alle Zeitungen würden berichten, wie er allen das Leben gerettet hatte. Dann würden sie endlich merken, was für ein Kerl er war. Und Gunhild erst mal – die würde stolz auf ihn sein. Ihr würden endlich die Augen aufgehen. Es wäre ja gelacht, wenn er mit diesem Nigger da nicht fertig werden sollte! Ihm war siedendheiß geworden. Aber jetzt durfte er sich nichts anmerken lassen! Jetzt würde sich zeigen, wer ein Mann war und wer nicht. Er mußte einen Plan machen. Ja, das würde vielleicht gehen. Er hatte jetzt immer eine Gaspistole und sein Fahrtenmesser bei sich, weil sie, wenn sein Vater Urlaub machte, in ihrem Sommerhaus wohnten, hinten am Brammer Meer, und er manchmal auch abends durch den Wald laufen oder mit dem Rad hindurchfahren mußte. Wenn er Plaggenmeyer blitzschnell die Schnur entriß, kam der gar nicht mehr dazu, auf seinen Todesknopf zu drücken. Er mußte sich bloß was einfallen lassen, um nach vorne in Plaggenmeyers Nähe zu gelangen – und dann: ein Hechtsprung … Aber was? Er lief rot an. Warum starrte Plaggenmeyer gerade zu ihm herüber? Konnte er Gedanken lesen? Neger, Mischlinge sollen ja manchmal derartige Gaben besitzen. Er blätterte schnell den schwedischen Sprachführer um, der vor ihm auf dem Tisch lag. Seit drei Wochen lernte er Schwedisch, um was zu haben, womit er Gunhild imponieren konnte. Ihr Großvater mütterlicherseits war Schwede, und sie wollte in den Ferien mit einer kleinen Gruppe zu ihren Verwandten nach Östersund hinauftrampen. Vielleicht würde sie ihn zum Mitkommen auffordern, wenn er als zweiter neben ihr ein wenig Schwedisch sprach. 29
Varifrån går tåget till Östersund? Wann fährt der Zug nach Östersund ab? Einmal zweiter Klasse einfach nach Östersund, bitte! Kan jag få en andra klass, enkel till Östersund. Aber wie konnte er nach vorne gelangen, ohne daß Plaggenmeyer gleich schoß? Welche Möglichkeiten hatte er, dies zu verhindern? – Herzanfall simulieren, umfallen, leblos stellen und dann unter den Tischen nach vorne kriechen – – im günstigen Augenblick tauchen und ungesehen nach vorne robben – – mit Selbstmord drohen, vorgeben, sich mit dem Fahrtenmesser die Pulsadern zu öffnen, damit Plaggenmeyer ihn aufforderte, nach vorne zu kommen und das Messer abzuliefern – – so tun, als habe er ein Dokument, eine Fotokopie, ein Foto, eine Zeugenaussage, aus denen hervorging, daß Bleckwehl der Mörder war – und dann nach vorne gehen, so als wolle er ihm die Sachen geben – – so tun, als sei die Gaspistole eine echte Kanone, sie auf Plaggenmeyer richten in der Hoffnung, daß dieser aufgab – – ganz kühl sagen, daß er dringend auf die, Toilette müsse und einfach auf Plaggenmeyer zugehen – Was war das Sinnvollste? Das mußte er reiflich überlegen. Jag ramlade. Ich bin gestürzt. Würden Sie mich ein Stück mitnehmen? Kan ja få fölga med en bit?
9 Uhr 15 bis 9 Uhr 37 Nach der Mittleren Reife hätte er mit Sicherheit unter mehr als zweihundert Berufen wählen können, aber er 30
hatte ausgerechnet zur Polizei gehen müssen. Karl Kämena hatte seinen Entschluß schon öfter bedauert, aber noch nie so heftig wie an diesem Morgen. Mußte dieser Scheiß ausgerechnet hier in Bramme passieren! Dieser verrückte Amokläufer da, der saß nicht in Bremen, der saß nicht in Oldenburg, der saß nicht in Wilhelmshaven, nein, der saß ausgerechnet hier bei ihm in Bramme. Und diese Arschlöcher von Bürgern und Politikern, die jetzt um ihn herumstanden, erhofften sich nun von ihm, Karl Kämena, das nächste Wunder. Nur weil es ihn in dieses Drecknest verschlagen hatte und weil alle vier Wochen dieser Superkommissar von Erik Ode den Maßstab für sie setzte. Einen Mord hätte er sich noch gefallen lassen, da war nichts mehr zu machen, und keiner verlangte von ihm, daß er den Toten wieder zum Leben erweckte; aber das jetzt … Trotz der 23 Grad auf dem Schulhof fror er, fror er wie vor einem Malariaanfall. Nerven behalten, nur nichts merken lassen, redete er sich ein. Unauffällig steckte er zwei Valium 5 in den Mund, sammelte Speichel, um sie hinunterzuwürgen. Hoffentlich lösten sie sich so ohne Wasser schnell genug im Magen auf. Alle glotzten ihn an. Als ob er wieder getrunken hätte. Hatte er aber gar nicht. Er wußte, was sie von ihm sagten: He geiht mit de Buddel to Bett un steiht dar ok wedder mit op! Alles Quatsch. Krank war er. Mit einundfünfzig schon ein Wrack. Und noch zwölf Jahre bis zur Pensionierung. Wenn ihn nicht schon vorher einer abknallte. Wenn diese Regierung die Verbrecher weiter so verhätscheln würde, lag das ohne weiteres drin. Hätte man diesen Plaggenmeyer damals in ein Arbeitslager gesteckt, säße er heute nicht hier. Und er durfte deren Fehler jetzt ausbaden. Es war schon zum Kotzen! Seine Galle schmerzte, als wenn im Bauch drin ’ne kleine Flamme brannte. Diese verdammte Party bei Buth gestern abend. Italienische Nacht. Gegen Mitternacht hatten sie wieder mal festgestellt, was für mächtige Ähn31
lichkeit er, Kämena, mit Hans Albers hatte. Und da hatte er singen müssen: La Paloma und Beim erstenmal, da tut’s noch weh. Und saufen natürlich. Ähnlichkeit mit Hans Albers, Blödsinn. Die hatten ihn doch nur verscheißern wollen. Er wußte genau, daß man es ihm persönlich ankreidete, daß er die letzten beiden Morde in Bramme nicht hatte aufklären können – die hätte nicht mal Erik Ode aufgeklärt. Was sollte er eigentlich hier auf dem Schulhof, die Kollegen hatten ja schon alles abgesperrt, und in knapp einer Stunde, wenn nicht schon eher, mußten die Leute von der GSG 9 hier sein, Genschers neue Spezialtruppe zur Bekämpfung von Terrorakten, Geiselnahmen und so. Angefordert hatte er sie. Innerhalb von fünfzehn Minuten konnte die neue Einheit startklar sein, in weiteren fünfundvierzig Minuten konnte sie mit dem Hubschrauber auf dem Schulhof landen. Die brachten sicher auch einen Psychologen mit. Er hätte sich am liebsten davongemacht, aber das ging natürlich nicht. Vielleicht sollte er zwei Tabletten NEDOMed schlucken, ein Kopfschmerzenmittel? Gegen das Zeugs war er so allergisch, daß sein Gesicht in Minuten so anschwoll, als wäre er eine Runde lang von Cassius Clay bearbeitet worden. Dann hätte ihn ein Sanitäter nach Hause bringen können. Er suchte schon nach dem Röhrchen mit den weißen Tabletten, als Kriminalmeister Stoffregen vor ihm auftauchte, sein Mitarbeiter. Und der ließ sich immer ziemlich schnell anstecken, wenn eine Panik ausbrach. „Wir müssen Carpano herbeischaffen!“ schrie er. „Der muß mit Plaggenmeyer reden.“ „Und Bleckwehl auch“, sagte Kämena. „Bei Bleckwehl zu Hause meldet sich niemand.“ „Haben Sie nicht die Kollegen in Brake angerufen?“ „Hab ich. Die wollen ihn so schnell wie möglich schnappen und herbringen.“ 32
„Hoffentlich beeilen sie sich.“ „Kommen Sie, wir fahren schnell zu Carpano ins Krankenhaus“, drängte Stoffregen. „Fahrn Sie man alleine.“ „Mit mir spricht der doch gar nicht.“ Kämena überlegte. Er mußte wohl mit, wohl oder übel. Buth konnte ihm da keine Vorwürfe machen. Und außerdem war es besser, mit Dr. Carpano zu reden, als hier zuzusehen, wie die Primaner von der Bombe zerrissen wurden. Da drüben stand ja auch schon Corzelius mit diesem großkotzigen Schnüffler von der Illustrierten. Die formulierten sicher schon ihre Schlagzeilen. DAS BLUTBAD VON BRAMME … Idioten. Bloß weg von hier. Er ging mit Stoffregen zum Wagen hinüber. „Carpano wird sicher schon erfahren haben, was hier los ist“, sagte Stoffregen. „Das nehme ich auch an …“ Er hatte Dr. Carpano erst gestern auf Buths Party getroffen. Ein Pfundskerl! Carpano sah nicht nur wie ein Südländer aus, er war es auch zumindest teilweise. Seine Vorfahren waren Mitte des vorigen Jahrhunderts aus der Toscana gekommen, um von der deutschen Seite des Bodensees aus ihren Handel mit Weinen und Früchten anzukurbeln. Seither war der Carpano-Clan zu einigem Wohlstand gelangt; in der Hauptsache deswegen, weil selten einer der männlichen Nachfahren schlechter aussah, als daß er nicht wenigstens die drittreichste Bürgerstochter solcher Städte wie Überlingen, Kempten, Friedrichshafen oder Ravensburg für sich erobert hätte. Und da Bildung in Deutschland seit jeher eine Sache des Geldes ist, waren die Carpanos bald in Tübingen oder Freiburg immatrikuliert, um anschließend als Ärzte, Lehrer, Anwälte und Kommerzienräte Volk und Vaterland zu dienen. Ich war nicht dabei, als Kämena und Stoffregen auf dem nach Desinfektionsmitteln riechenden Flur des Brammer Kreiskrankenhauses auf Dr. med. Ralph Maria 33
Carpano zugingen; ich kenne die Szene nur von einigen Zeugenaussagen her, aber so ähnlich muß sie sich abgespielt haben. Kämena, ein Hypochonder, der sich Tag für Tag bereits auf dem Sterbebett sah, wagte nicht, Carpano den Grund für sein Hiersein mitzuteilen, aus lauter Angst, daß dieser ihn beim nächsten Herzinfarkt, der jeden Tag eintreten konnte, vielleicht dafür büßen ließ. Und Ärzte hatten da so ihre Möglichkeiten. So starrte er Carpano nur an, unfähig, den Eröffnungszug zu tun. Carpano schien das zu ahnen, und so sagte er mit bekümmertem Nicken: „Ich hab schon gehört …“ „Schrecklich!“ sagte Kämena. „Ja“, bestätigte Carpano. „Plaggenmeyer verlangt ein Geständnis“, sagte Stoffregen, wobei er absichtlich offenließ, von wem. Carpano zog nur sacht die Brauen hoch. „Ach so, jetzt begreife ich …“ Er warf einen Blick auf seine Uhr, dann steckte er die Hände in die Taschen seines weißen Kittels. „Ich bin zwar sehr beschäftigt, aber bitte, gehen wir kurz in mein Zimmer.“ Ohne auf ihr Einverständnis zu warten, machte er kehrt und ging den Flur hinunter, wo er schließlich eine Tür öffnete. Kämena und Stoffregen waren ihm wortlos hinterhergetrottet, betraten Carpanos Dienstzimmer und warteten, bis dieser die Tür geschlossen hatte und auf einige Sessel deutete. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ Er selber lehnte sich gegen den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. „Also …“ „Es ist mir wirklich sehr fatal, Herr Doktor“, brachte Kämena schließlich heraus. „Sie müssen verstehen, ich befinde mich in einer äußerst peinlichen Situation. Dieser Plaggenmeyer ist nicht zurechnungsfähig. Der ver34
langt, daß der Mör…, der Mann, der seine Braut angefahren hat, sich stellt; andernfalls droht er, sich und die dreiundzwanzig Schüler, die sich in der Klasse befinden, in die Luft zu sprengen. Da habe ich gedacht –“ „Ich weiß, was Sie gedacht haben. Aber ich darf Ihnen vielleicht noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen, daß fünf Beamte vom Erkennungsdienst eine knappe Stunde nach dem Unfall meinen Wagen untersucht und nicht die geringste Spur gefunden haben.“ Carpano machte eine kleine Pause. „Was verlangen Sie eigentlich mehr als Beweis meiner Unschuld?“ Kämena wand sich sichtbarlich auf seinem Sessel. „Natürlich, Herr Doktor, ich weiß … Aber Plaggenmeyer bildet sich nach wie vor ein, Ihre Autonummer erkannt …“ „Eine Nummer, die in einigen Zahlen und Buchstaben mit der meinen übereinstimmte“, verbesserte Carpano scharf. „Außerdem eine Nummer, die ebensogut auf den Wagen von Herrn Bleckwehl zutreffen könnte. Bitte, mißverstehen Sie mich nicht; ich weiß sehr wohl, daß Herr Bleckwehl ein unantastbares Alibi besitzt, Gott sei Dank, muß man da ja beinahe sagen.“ „Ja, ja, wir haben auch schon nach Herrn Bleckwehl geschickt“, beeilte sich Kämena zu versichern. Carpano sollte ja nicht denken, daß man ausgerechnet ihm etwas anhängen wollte. „Nun, das ist ja ausgezeichnet“, sagte Carpano beinahe liebenswürdig. „Ich weiß zwar nicht, was Sie damit bezwecken, denn Herr Bleckwehl wird sich ja wohl kaum – ebensowenig wie ich – zu einer Tat bekennen, die er nicht begangen hat, bloß um einen hysterisch gewordenen jungen Mann zu beruhigen.“ Mit diesen Worten stieß er sich vom Schreibtisch ab und sah seine Besucher auffordernd an. „Wenn das alles gewesen wäre …“ „Sie sollten trotzdem mitkommen, Herr Doktor“, sagte Stoffregen. Er mochte Carpano nicht. Und da er kern35
gesund war, hatte er seiner Ansicht nach auch keine Veranlassung, sich mit diesem Schönling gut zu stellen. „Wieso soll ich mitkommen?“ fragte Carpano. „Um Plaggenmeyer zu beruhigen.“ „Ich denke nicht daran, den Eindruck eines öffentlichen Schuldbekenntnisses zu erwecken. Und jetzt darf ich mich entschuldigen, meine Herren … Meine Patienten warten.“ Er verließ mit federnden Schritten das Zimmer. „Hoffentlich ist Bleckwehl schon da“, bemerkte Stoffregen. „Ja, hoffentlich.“ „Wir sollten sehen, daß wir Plaggenmeyers Mutter in Hamburg ausfindig machen und mit ’nem Hubschrauber herfliegen lassen“, sagte Stoffregen. „Die kriegt ihn vielleicht am ehesten rum.“ „Wen: Carpano oder ihren Sohn?“ „Ihren Sohn natürlich.“ „Dann los, rufen wir mal Hamburg an!“
9 Uhr 37 bis 9 Uhr 53 Will man das psychologische Vokabular vermeiden, also nicht auf neurasthenische oder schizoide Faktoren verweisen, so fällt es schwer, Plaggenmeyers Zustand in diesen Minuten zu beschreiben. Außerdem, woher hätte ich auch so genau wissen können, was in der fraglichen Zeit in Plaggenmeyer vorgegangen ist – das zu behaupten wäre Betrug, wäre eine Irreführung. Ich konnte also nur Spekulationen über ihn anstellen wie jeder andere auch. Seinem Gesicht nach zu urteilen schien er höchst erstaunt zu sein, daß er da saß, wo er saß. Die kindliche Verwunderung eines Anderthalbjährigen – man muß es 36
so verdoppelt sagen –, der in einem Aha-Erlebnis bemerkt, daß die strahlende Flamme einer Kerze schmerzhaft beißt, wenn man hineingrapscht. Es war undenkbar für ihn, daß der Hilfsarbeiter Herbert Plaggenmeyer aus eigenem Antrieb in diesen Klassenraum gelangt war und vierundzwanzig Menschen mit einer Bombendrohung und einer Pistole in Schach hielt. Der echte Herbert Plaggenmeyer, der lief jetzt über den Platz zwischen den Werkshallen III und IV der Buth KG und fegte die Späne zusammen. Der echte Plaggenmeyer, der war agil, voller Schnellkraft, energiegeladen, der lief die einhundert Meter unter elf Sekunden und sprang über die Sechs-MeterMatte hinweg. Der falsche Plaggenmeyer, den irgendeine außerirdische Macht geformt und hierher verpflanzt hatte, um Verwirrung zu stiften, der war schläfrig, antriebslos und ausgelaugt, total erschöpft. Für den gab es nichts anderes, nur ewig auf diesem Stuhl sitzen bleiben. Die Gesichter vor sich, die sah er so entfernt wie ein Besucher des Berliner Olympiastadions von der Gegengraden aus die Ehrengäste auf der Tribüne sieht. Erst jetzt, als sie ein paar geflüsterte Worte mit Jentschurek wechselte, wurde ihm bewußt, daß sich Gunhild unter seinen Geiseln befand. Ein undeutliches Gefühl sagte ihm, daß etwas nicht stimmte. Gunhild und Corinna waren schon aus ihrer Zeit bei den Falken und dann bei den Jusos miteinander befreundet gewesen. Als er sich dann mit Corinna zusammengetan hatte, waren sie oft zu dritt aus gewesen. Was man so unternahm. Kino, Schwimmen, Ausflüge nach Bremen, Bremerhaven und Worpswede, Tischtennis, Diskotheken, Politabende und so. Gunhild hatte ’ne Menge für ihn getan. Die hatte überall ihre Beziehungen. Zuerst ’n vernünftiges Zimmer, dann ’n paar anständige Klamotten und vor allem ihre Aussprache mit Corinnas Eltern, die wegen des „vorbestraften Sahnebonschens“ wenig entzückt gewesen waren. Dann 37
hatte sie Corzelius’ Schwäche für sich ausgenutzt und den bekniet, daß er sich für ihn einsetzte, daß er bei Buth was Anständiges lernte, anstatt immer nur den Hof sauberzufegen und Bretter zu stapeln. Wenn einer in diesem Drecknest hier was für ihn getan hat, dann war’s Gunhild gewesen. „Du kannst gehen“, sagte er zu Gunhild, und seine Stimme hallte mehrmals nach. „Bitte …“ Gunhild sah ihn an. Sie war bleich geworden, preßte die Hand auf den Magen und zitterte, als stünde sie in einem dünnen Pullover auf einer zugigen Rodelbahn. „Nein …“ „Was?“ „Ich will nicht …“ Er verstand es nicht. Er hatte ihr doch das Leben schenken wollen. Sie hatte viel Gutes für ihn getan, und er gab’s nun wieder zurück. Für alles auf der Welt mußte man zahlen. Carpano und Bleckwehl hatten sein Leben kaputtgemacht, und er machte dafür ihr Leben kaputt. Er hatte Buths Lagerschuppen angezündet, und Buth ließ ihn nun den Schaden abarbeiten. Alles mit gleicher Münze! Das mußte man akzeptieren. Gunhild hatte ihm so viel geschenkt, jetzt schenkte er Gunhild was. Und sie weigerte sich, es anzunehmen. Das ging über sein Fassungsvermögen hinaus. Gunhild hätte übrigens selber nicht genau sagen können, warum sie so reagierte. Sicher spielte dabei ein gewisses Solidaritätsgefühl zu ihren Klassengenossen mit, obwohl es ganz gewiß keine Genossen waren und es wenig gab, was sie mit ihnen verband. Vielleicht kam plötzlich tatsächlich ihre journalistische Begabung durch: Gunhild hatte recht klar umrissene Vorstellungen von ihrer Zukunft: Sie wollte sich als Journalistin einen Namen machen, langsam den Wahlkreis Bramme gewinnen, in den Bundestag einziehen, sich profilieren, sehen, ob irgendein Amt frei wurde, Parlamentarische Staats38
sekretärin vielleicht. Möglich auch, daß ihr vage bewußt war, daß sich in diesem Moment, in dieser Klasse die Weichen für ihr späteres Leben stellten. Lief sie davon, rettete sie sich und überließ sie die anderen ihrem Schicksal, würde ihr dieser Makel ewig anhängen. Große Worte, aber kneifen, wenn’s ernst wird, würden die Leute von ihr sagen. Nein, für sie gab es nichts anderes, als zu bleiben. Aber wie hätte Plaggenmeyer, für den seit Jahren die Zukunft nur bis zum nächsten Morgen gereicht hatte, das alles begreifen sollen? Er war zutiefst verunsichert, was sich sofort den sensibleren und alerteren Schülern mitteilte, insbesondere Gunhild und Immo Kischnick, aber auch Dr. Jentschurek, und sie begannen mit ihm zu diskutieren. Immo Kischnick, blond und mager, Sohn eines Rechtsanwalts und SPD-Unterbezirksvorsitzenden, sagte: „Mensch, Bertie, mach keinen Scheiß, wir helfen dir doch alle! Mein Vater kennt einige Leute vom BKA, die werden sich der Sache bestimmt annehmen. Ich find’s ja richtig, daß du für dein Anliegen trommelst, aber man darf es auch nicht überziehen. Wirklich, um Corinnas Mörder zu finden, da gibt es bessere Wege.“ Plaggenmeyer blickte ihn an wie einen, der auf Suaheli nach dem weltbekannten Brammer Rathaus fragt. Er verstand den Sinn der Worte erst geraume Zeit später, so als hätte sein Simultandolmetscher den letzten Satz abgewartet und dann noch schnell im Wörterbuch nachgeschlagen. Immo Kischnick, dieses Superarschloch! „Du und mir helfen!“ höhnte Plaggenmeyer. Als Schüler waren sie zusammen für den TSV Bramme gestartet, über die Hürden und im Hochsprung. Er hatte Immo weit in den Schatten gestellt, und der hatte sich revanchiert: „Wißt ihr, was paradox ist?“ – „Nee.“ – „Bei anderen landet die Scheiße hinten, bei uns vorne.“ 39
Vielleicht erinnerte sich Immo ebenfalls daran, jedenfalls schwieg er darauf. Als nächste versuchte es ein dickliches, unansehnliches Mädchen, das die anderen mit Dörte angeredet hatten. „Ich schlage vor, wir erklären uns mit Herbert Plaggenmeyer solidarisch“, sagte sie. Das sollte nach Juso klingen, hörte sich aber überzogen, fast kabarettistisch an. „Berties Braut ist getötet worden. Ohne Zweifel von einem Angehörigen der herrschenden Klasse, der sich seiner Verantwortung durch feige Fahrerflucht entzogen hat. Die Klassenpolizei von Bramme versucht ihn zu schützen, ebenso wie die Klassenjustiz, weil sie ihre Interessen gefährdet sieht, weil es einem ihrer Geldgeber an den Kragen gehen soll. Wir, die Dreizehn a des Albert-Schweitzer-Gymnasiums, fordern: Gerechtigkeit für Herbert Plaggenmeyer. Wir treten so lange in einen Schülerstreik, bis die Bemühungen der Polizei zum Erfolg geführt haben.“ Zustimmendes Gemurmel und Rufe wie: „Setz das mal auf.“ – „Wir unterschreiben’s dann und geben’s raus.“ Dörte riß ein Blatt von ihrem Block und begann zu formulieren. „Laß den Wisch“, sagte Plaggenmeyer, „dafür kann ich mir auch nichts kaufen.“ Er war mißtrauisch. Durch Corinna und vor allem durch Gunhild wußte er ziemlich genau, wer in Bramme politisch aktiv war. Von dieser Dörte, von diesem Pfannkuchen auf Beinen, von der hatte er noch nie was gehört. Also spielte sie ihm hier ’ne Komödie vor. „Wenn du protestieren willst, dann spreng doch die Bank in die Luft oder das Polizeihaus, oder Buths Hauptverwaltung – aber nicht unsere Klasse hier!“ „Diese jungen Menschen hier können doch wirklich 40
nichts dafür, daß es so gekommen ist“, sagte Dr. Jentschurek. Plaggenmeyer kniff die Augen zusammen. „Wer hat mich denn hierhergetrieben: ihre Väter doch, wer denn sonst! Bertie Plaggenmeyer – ein Stück braune Scheiße –, raus damit aus Bramme! Ins nächste Heim, ins nächste Gefängnis. Der gehört hier nicht her! So ist es doch. Keine Familie, die mich adoptiert hat, kein Meister, der ’ne vernünftige Lehrstelle für mich hatte, kein Lehrer, der mir mal nachmittags geholfen hätte. Das ist es doch!“ „Das hat er bei Ihnen gelernt“, sagte Dr. Jentschurek zu Gunhild. Man zischte, er solle still sein. „Die Väter krieg ich nicht – zünd ich denen ihre Fabrik an, wandre ich ins Kittchen und muß Jahre arbeiten, um den Schaden abzuzahlen; fahr ich denen ihr Auto in Klump, zahlt’s die Versicherung. Gegen die bist du doch machtlos, die schlagen doch zurück, bis du am Boden liegst. Die kann man doch nur packen, indem man ihre Kinder …“ Dr. Jentschureks Anklagen wurden immer heftiger. „Gratuliere, Gunhild, die Saat, die Sie und Ihre Genossen jahrelang gesät haben, geht nun auf. Ich sage nur eins: Anarchie!“ Gunhild richtete sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin auf deiner Seite, Bertie, das weißt du, aber das hier is ’ne Sackgasse. Das hätte Corinna nie gewollt, nie!“ Plaggenmeyer schluckte. Sicher … Aber gab’s denn jetzt noch ein Zurück? Das Zurück hieß doch: mindestens fünf Jahre Fuhlsbüttel. Fünf lange Jahre ohne den Trost, sich gerächt zu haben. Niemals! Dann schon lieber auf den Knopf drücken und sich mitsamt den anderen in die Luft sprengen … Oder gab’s noch eine dritte Möglichkeit? Durchhalten und Corinnas Mörder zwingen, Farbe zu bekennen und ein umfassendes Geständ41
nis abzulegen? Das würde ihn zwar auch auf Jahre nach Fuhlsbüttel bringen, aber in der Zelle nebenan würde dann Corinnas Mörder vor sich hin vegetieren. Der war ’ne schicke Villa gewohnt, ’ne Villa mit allem Komfort, der würde keine zehn Jahre in der Zelle durchhalten, der ging garantiert dabei kaputt. Er dagegen hielt sie durch, er hatte schon Übung darin. Und außerdem – was gab es schon für einen Unterschied zwischen einem schlechten Fürsorgeheim und einem guten Gefängnis? Nur den, daß das Gefängnis besser war. Plötzlich sah er wieder klar. „Unsere Polizei ist tüchtig genug, um den Täter zu finden“, hörte er Dr. Jentschurek eben sagen. „Warten Sie nur ab.“ Schweigen. Keinem fiel noch ein Argument ein, das sie von der Stelle bringen konnte. Also warten. Auf einen Erfolg der Kripo. Auf eine Idee der Sondertruppe. Auf ein Wunder. Und draußen, in sicherer Entfernung und von Sandsäcken abgeschirmt, Hunderte von Offiziellen und Zuschauern. Kameras surrten. Welch ein Schauspiel! „Das Leben schreibt die einzigen Krimis, die den Leuten heutzutage noch unter die Haut gehen“, sagte Corzelius, der mich im Verdacht hatte, Erlebtes manchmal unter dem Pseudonym -ky in einen Krimi zu verarbeiten. „Und wir Journalisten sind die Parasiten und Aasgeier“, sagte ich, „die alles ausschlachten und vom Leid und Elend der anderen zehren.“ „Wir führen’s der Welt nur vor, um sie zu bessern“, sagte Corzelius mit der Selbstironie, die ich an ihm so mochte. Wir schwiegen wieder. Ich sah Plaggenmeyer erneut durch das Fenster mit Gunhild diskutieren, sah, wie die Sonne auf sein milchkaffeefarbenes Gesicht fiel; ein Gesicht, das trotzig und 42
hilflos zugleich aussah, aber auf einmal eine gewisse Reife erlangt zu haben schien. Weniges beruhte auf Fakten, Aussagen, vieles war Spekulation und Introspektion, als ich mir in den Minuten kurz vor zehn irgendwie klischeehaft ausmalte, welche Assoziationen und Gefühle, welche Vorstellungen und Wünsche Plaggenmeyer in diesem Augenblick beherrschen mußten, in diesem Augenblick, wo Zukunft und Vergangenheit weit realer für ihn waren als die Gegenwart, wo er ganz im Gestern und im Morgen lebte. Baton Rouge, Louisiana. Die Stadt am großen Fluß, und mein Vater arbeitet unten am Mississippi, taucht seine Hand ins Wasser. Er weiß, daß es mich gibt, aber denkt er an mich, jetzt? Kellner in einem Hafenrestaurant ist er, Kellner. Corinna hat mir alle Bücher aus der Bibliothek mitgebracht, die sie über die Südstaaten kriegen konnte. Ich kenne das Land, ohne daß ich je dagewesen bin. Aber nächstes Jahr bin ich da. Mit einer hübschen Frau. Und mit einem großen Wagen und viel Geld. Ich bin in Louisiana, ich bin gar nicht in Bramme. Die Klasse hier ist ein Traum. Ich sitze am Mississippi und fische. Ich träume von Bramme, von der Stadt in Germany, in der mein Vater mal gewesen ist und von der er viel erzählt, weil er da ein weißes Mädchen gehabt hat, das er hier nie kriegen würde. Frühling in Louisiana. Die neu hervordrängenden Blätter der immergrünen Eichen stießen die alten ab, so daß sie auf die Erde niederfielen, und an den Magnoliensträuchern bildeten sich lange dunkle Knospen. Das Spanische Moos, das von den Bäumen herabhing, war im Winter grau gewesen. Jetzt bekam es einen grünlichen Schein. Überall regte sich frisches Leben, beglückend und wundersam. Sommer in Louisiana. Alle Zweige und Blätter scheinen aus Gold und Saphir zu sein. Das steht in Gwen Bristows Tiefer Süden, das bei mir in der Werkhalle im Schubfach liegt. 43
Ich erinnere mich an jedes Wort, an den Vergleich, daß sich der Himmel wie eine große, kupferne Schale über der Erde wölbt. Das ist mein Land, und wenn ich hier in Bramme genug Geld verdient habe, dann fahre ich mit Corinna hin und laß mich da nieder. Fünf Kinder wollen wir. Das erste soll Anwalt werden, das zweite Arzt, das dritte Jazzmusiker, das vierte General und das fünfte Ingenieur. Benjamin D. Haskell heißt mein Vater, ich nenne mich auch wieder Haskell – Herbert P. Haskell. P. für Plaggenmeyer. Als Erinnerung. Die Plaggenmeyers, nein: die Haskells, die werden’s zu was bringen. Die in der Klasse hier, die zittern vor mir, wie die Weißen 1831 in Virginia vor Nat Turner gezittert haben. Es können auch mal andere zittern, warum immer ich? Die Väter werden mir Geld geben, viel Geld, damit ich ihre Bälger laufenlasse. Heute bin ich der mächtigste Mann in Bramme, Bertie Plaggenmeyer, der König von Bramme! Bertie, hol mal die Ölkanne; Bertie, hol mal den Schraubenschlüssel; Bertie, hol mir mal ’n Bier! Scheiß auf Buths Fabrik! Dreierreihen aufgestellt, vier Mann Bewachung, ab zum Fließband! Der hatte ’n schönen Krückstock, der Arbeitserzieher. Immer drauf. Nich in der Kirche gewesen? Ab auf Zelle! Scheiß auf das HinrichRehkopf-Heim! Kartons falten, Trimm-dich-Püppchen anmalen, Dosen stanzen. Aufstehen, fressen, arbeiten, fressen, quatschen, schlafen. Dem Aufseher eins in die Fresse gehauen: zehn Tage Bunker mit Betonpritsche. Scheiß auf die Jugendstrafanstalt! Jetzt hab ich das Sagen! Jetzt gibt es Geld, und dann geh ich mit Corinna nach Louisiana. Aber Corinna ist tot … Sie haben mir Corinna weggenommen. Die hier vor mir, die haben alles, die haben Eltern, die haben eine Mutter, die keine Nutte ist, die haben eine 44
Heimat, die wissen, wo sie hingehören, die haben eine Zuflucht. Aber wenn ich hier auf den Knopf drücke, dann haben sie nichts mehr. Genau wie ich. Mein Gott, laß alles schnell zu Ende gehen! In diesem Moment begann Buth mit Plaggenmeyer zu verhandeln, und ich bewunderte sein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Seit Generationen hatte seine Sippe Instinkt und Geschick entwickelt, Rebellionen im Keim zu ersticken und alle die, von deren Arbeit sie lebten, mit geschickten Worten zur Räson zu bringen. Das war schon eine Kunst, die Buth da beherrschte, eine Kunst, die sicherlich nicht geringer zu achten war, als wenn einer Geige spielen oder wie Rubens malen kann. „Wenn Sie herauskommen“, rief Buth durch ein Megaphon, „dann finden Sie auf Ihrem Konto fünfzigtausend Mark vor. Das garantieren wir Ihnen. Die Eltern der Schüler werden mit mir zusammen diese Summe aufbringen …“ Plaggenmeyer sah, wie Buth abbrach und sich umwandte, weil Lankenau, der hinter ihm stand, ihm etwas zuflüsterte. Nach ein paar Sekunden fuhr Buth fort: „Die Stadtverwaltung legt noch einmal zehntausend Mark dazu – sechzigtausend Mark also, Herr Plaggenmeyer!“ Plaggenmeyer schwankte. Da war das erträumte Geld. Buth hakte nach. „Sie werden mit einer Mindeststrafe davonkommen, und die Stadt Bramme wird geschlossen für ein Urteil mit Bewährung plädieren. Ich garantiere Ihnen weiterhin eine dreijährige Ausbildung zum Industriekaufmann. Herr Kämena sagt mir soeben, daß die Polizei zur Ergreifung des … zur Ergreifung des Kraftfahrers, der Ihre Braut auf dem Gewissen hat, eine Belohnung von fünftausend Mark ausgesetzt hat. Sie sehen, Herr Plaggenmeyer, wir tun alles, was in unseren 45
Kräften steht. Bitte, kommen Sie uns entgegen. Bleiben Sie ruhig und besonnen und wägen Sie ab.“ Es war verlockend. Plaggenmeyer sah die Chance, sah den Strohhalm. Andererseits – Buth. In Buths Firma war er so geschurigelt, so gedemütigt worden, daß er in seinem Zorn einen Lagerschuppen in Brand gesteckt hatte. Dafür war er für anderthalb Jahre in die Jugendstrafanstalt gewandert. Und jetzt hatte Buth durchgesetzt, daß er den Schaden Mark für Mark abarbeitete. An der Stelle, wo der Schuppen abgebrannt war. Um den Wert des Geldes kennenzulernen, hatte Buth gesagt. Aber diesmal ging es nicht um Bretter, sondern um Menschen, junge Menschen dazu, Söhne und Töchter der Honoratioren von Bramme. Das war schon was anderes. Und diesmal saß er am längeren Hebelarm. Er! Jetzt bestimmte er den Preis, und die da draußen waren offenbar bereit, diesen Preis zu zahlen. Das war der Ausweg, er brauchte nur zu kassieren. „Sie haben mein Wort, Sie haben das Wort der Stadt Bramme!“ tönte Buth. Plaggenmeyer ließ seine Pistole sinken. Er spürte das Aufatmen seiner Gefangenen. Er fühlte sich selber auch erleichtert. Da sah er noch einmal zu Gunhild hinüber. Ihr Gesicht verriet Mitleid, Resignation, Trauer – und ihm war, als könne er ihre Gedanken lesen, so deutlich, als wenn sie sie ausgesprochen hätte: Die wollen dich doch nur reinlegen, du Idiot, du! Wenn Sie erst mal den Sprengstoff haben … Aber alles wußte Gunhild auch nicht.
46
9 Uhr 53 bis 10 Uhr 14 Buth gab schließlich auf, obwohl es einmal sekundenlang so ausgesehen hatte, als würde Plaggenmeyer weich werden. Auch die anderen, die nach dem Megafon gegriffen hatten, Kämena, Lankenau und der Mann von der GSG 9, der mittlerweile eingetroffen war, resignierten bald. Ihre Bemühungen erschienen mir so nutzlos, als wollte man versuchen, ein im Watt festliegendes Schiff dadurch wieder flottzubekommen, daß man ihm ein paar Eimer Wasser vor den Bug schüttete. Die Sache war im wahrsten Sinne des Wortes festgefahren. „Vier Männer –“, stellte Corzelius fest. „Vielleicht schafft’s eine Frau.“ „Wo bleibt denn Plaggenmeyers Mutter?“ „Keine Ahnung. Vielleicht kriegen sie den letzten Freier nicht von ihr runter …“ „Ach, die ist …?“ „Erzählt man sich jedenfalls.“ „Aha. Als sie mit dem braunen Balg dasaß, hat sie hier keiner mehr haben wollen, und sie war als Nutte abgestempelt. Da ist sie dann eine geworden. Selbsterniedrigung als Strafe für die Gesellschaft, die sie dahin gebracht hat.“ Corzelius sah mich schief von der Seite an. Da ich seine Diktion imitiert hatte, fühlte er sich auf den Arm genommen. „Sicher, das Elend dieser Gesellschaft stellt sich als Klischee dar, enthält ’ne Unmenge an Trivialem und Kitschigem, aber es ist doch nur ein Mittel der Herrschenden, von diesem Elend abzulenken, indem man seine Beschreibung als klischeehaft und damit minderwertig kennzeichnet!“ Da war was dran, sicher. Corzelius war gar nicht so dumm wie mancher Pseudo-Linke aussah, von meinen Journalistenkollegen ganz zu schweigen. Und der Gedanke an meine Kollegen machte mir 47
schlagartig klar, daß ich als zufälliger Augenzeuge die Pflicht hatte, die Ereignisse in Bramme für meine Illustrierte festzuhalten. Mist, daß ich keinen Fotografen dabei hatte, aber die Bilder ließen sich bestimmt später ohne großen finanziellen Aufwand einkaufen. Halb Bramme lauerte ja mit schußbereiten Kameras hinten auf dem Friedhof. An sich brauchte ich mich gar nicht weiter anzustrengen, denn wenn man wie ich, die Schülerzeitung mal mitgerechnet, beinahe zwanzig Jahre lang als Journalist tätig ist, dann geschieht es ganz automatisch, daß man seine Sätze schon formuliert, bevor noch das Ereignis eingetreten ist, über das man zu berichten hat. Außenstehenden mag das herzlos erscheinen, aber kein Arzt könnte weiterleben, wenn er beim Ableben eines jeden seiner Patienten in tiefste Depressionen verfiele, und kein Journalist käme über die Runden, wenn er bei jedem Flugzeugabsturz und jedem Massaker einen Herzanfall erlitte. Seelische Hornhaut also. Und so begann ich an diesem Morgen auf diesem Schulhof in Bramme bereits sehr früh, die Kernsätze meines späteren Berichts zu konstruieren … BLUTBAD IM GYMNASIUM zweiundzwanzigjähriger Hilfsarbeiter sprengt sich und dreiundzwanzig Primaner in die Luft Am Morgen waren sie unbeschwert in die Schule gekommen, hatten gekichert und gelacht – keine drei Wochen mehr bis zu den großen Ferien. Sicher gab es Probleme, aber die ließen sich leicht vergessen, wenn man neunzehn war, wenn man verliebt war, wenn man in wenigen Tagen durch die Welt trampen konnte, wenn man bald das Abi in der Tasche hatte und studieren konnte, wenn man in einer Stadt zu Hause war, in der noch Ordnung herrschte und einem die Väter irgendwann die Pra48
xis oder die Firma überließen. Die Primaner von Bramme waren besser dran als die Primaner von Berlin, München oder Hamburg, denn ihre Welt war überschaubar wie ein Fußballfeld – und kein Labyrinth. Und um die Idylle zu vollenden, war ihr Klassenzimmer frisch renoviert – lindgrün die Wände –, und die Sonne schien herein. Das war um 8 Uhr 02. Aber drei Stunden später ist alles aus. Da ist die Decke des Klassenzimmers eingestürzt und die eine Wand herausgerissen, da hallen die Schreie der Sterbenden über den Schulhof, da zieht man zerfetzte Leiber unter den Trümmern hervor, und die Geschichtsatlanten, in denen sie eben noch geblättert haben, sind mit Blut durchtränkt. Ein Mädchen überlebt, überlebt als einzige von ihren dreiundzwanzig Klassenkameraden. Gunhild Göllmitz, die hübscheste von ihnen. Aber ihr rechtes Bein ist nur noch ein Stumpf … Um mich herum brechen Mütter zusammen, versuchen verzweifelte Väter zu retten, wo es nichts mehr zu retten gibt. Krankenwagen rasen mit Blaulicht und heulenden Sirenen davon. „Es ist schrecklicher als alles, was ich während des Krieges gesehen habe“, sagt erschüttert ein Feuerwehrmann zu mir. Bekämen die Brammer den Mann, den Jungen besser, der ihnen das alles angetan hat, zu fassen – sie würden ihn mit bloßen Händen zerreißen. Aber auch Herbert Plaggenmeyer ist tot. Der zweiundzwanzigjährige Hilfsarbeiter, Sohn einer Deutschen und eines farbigen amerikanischen Soldaten, war kurz nach acht Uhr in die Klasse gekommen, um mit der Drohung, sich und die Klasse in die Luft zu sprengen, den vermeintlichen Mörder seiner Braut zu einem Geständnis zu bewegen. Doch die beiden Männer, die Plaggenmeyer in Verdacht hatte, vor achtzehn Tagen die vierundzwanzigjährige Bibliothekarin Corinna Voges aus Bramme mit einem dunklen Mercedes überfahren und getötet zu haben, hatten sich nicht erpressen lassen, hatten nichts zu gestehen gehabt. Da wa49
ren bei Plaggenmeyer die Sicherungen durchgebrannt – oder hatte er nur versehentlich in seiner Erregung die Explosion ausgelöst, hatte er es gar nicht zum Schlimmsten kommen lassen wollen? Niemand weiß es. Auf alle Fälle aber wird sein Sarg in der kommenden Woche nicht neben den Särgen der dreiundzwanzig Primaner und Primanerinnen stehen, wenn die Stadt im Rathaus offiziell von ihren Toten Abschied nimmt. „Das ist der schrecklichste Tag in der Geschichte von Bramme“, sagte Bürgermeister Lankenau, dem Zusammenbruch nahe. Aber einen Vorwurf kann man der Stadt und ihren Bewohnern nicht ersparen. Es wäre mit Sicherheit nicht soweit gekommen, wenn man nicht Jahre hindurch etwas ganz Entscheidendes versäumt hätte: sich Herbert Plaggenmeyers anzunehmen. Ein junger Mensch, den man in schlechten Heimen aufwachsen läßt, den man in Jugendstrafanstalten steckt, den man als Ausgestoßenen behandelt, der läuft Amok, wenn man ihm auch noch den letzten Halt nimmt, den er hat. Und dieser Halt hieß in Herbert Plaggenmeyers Fall Corinna Voges. Bramme war unfähig, vielleicht auch nicht willens, den Mörder des Mädchens zu fassen, und dieser Mörder schwieg. Wer hat denn nun wirklich das Blutbad von Bramme verschuldet? Soweit meine ersten Formulierungen in Kladde. Hätte Corzelius gewußt, womit sich meine Gedanken eben beschäftigten, hätte er mich ein Schwein genannt, ein ganz elendes Schwein, einen Parasiten, der vom Elend anderer zehrt. Aber was war mit den Kollegen, die mit Kamera, Mikrofon und Stenoblock überall herumstanden? Was war mit den Hunderten von Brammer Männern, Frauen und Kindern, die sich hinter der Absperrung drängelten, um die Katastrophe schauernd mitzuerleben! Was war Mitgefühl, was war Sensationsgier? Hätten die da drinnen 50
weniger gelitten, wenn der Schulhof, wenn der Friedhof leer gewesen wäre? Aber selbst wenn man das hätte entscheiden können, was wäre damit gewonnen? War es nicht viel wichtiger, daß die Menschen aus diesem Morgen in Bramme lernten, Konsequenzen zogen? Corzelius störte meinen Gedankengang. „Ich finde es erschütternd, daß die Polizei so machtlos ist. Die kosten uns Millionen – und jetzt stehn sie da und sind ratlos.“ „Was sollen sie denn machen? Irgendwelches Gas hineinblasen – durchs offene Fenster vielleicht? Oder ihn erschießen? Wenn wirklich einer trifft, was auch noch sehr fraglich ist, dann hat er immer die hundertstel Sekunde Zeit, um auf seinen Knopf zu drücken. Nein, nein, man kann wirklich nur reden, warten, zermürben. Daß er nicht blufft, daß er wirklich Sprengstoff in seiner Aktentasche hat, ist wohl sicher. Oder haben Sie vielleicht einen Vorschlag?“ „Nein … Ich hoffe aber immer noch, daß der Mann, der Corinna überfahren hat, so anständig ist, ein Geständnis abzulegen.“ „Frage also: kommt Bleckwehl, kommt Carpano?“ „Ja. Das ist die einzige Chance, die ich noch sehe.“ „Oder Plaggenmeyer gibt auf. Vergessen Sie nicht: er selber stirbt auch, wenn Jentschurek und die dreiundzwanzig Schüler sterben …“ Während ich sprach, fiel mir ein, daß ich Jentschurek in meinem fiktiven Bericht ganz vergessen hatte. Zufall oder Omen? Sollte er als einziger davonkommen? Aber wie? Wodurch? Ich sah Corzelius an, als ob er mir auf diese unausgesprochene Frage eine Antwort geben könne, aber seine Aufmerksamkeit war abgelenkt worden. Mit einem gemurmelten „Moment mal“ ließ er mich stehen und ging zu der Gruppe um Kämena hinüber, in der aufgeregt geredet wurde. Es dauerte nur wenige Minuten, dann war er wieder da. 51
„Bleckwehl ist tot“, berichtete er hastig. Ich starrte ihn verständnislos an. „Bleckwehl, dieser Autohändler aus Brake“, erklärte er ungeduldig. „In der Werkstatt hat es eine Explosion gegeben, dabei ist er umgekommen. Noch weiß man nichts Genaues, aber die Tatsache stimmt. Das könnte die Wende bedeuten.“ Er keuchte beinahe, als er die Worte herausbrachte. Bei mir war mittlerweile der Groschen gefallen. Bleckwehl – natürlich. Der Mann, der zusammen mit Dr. Carpano als der mögliche Mörder von Corinna Voges in Betracht gekommen war, der aber ein Alibi gehabt hatte. Corzelius hatte gesagt, das könne die Wende bedeuten. Wenn ich darüber nachdachte … „Wollen Sie damit andeuten, daß er Selbstmord begangen hat?“ fragte ich aufgeregt. „Ich sagte ja schon, noch weiß man nichts Näheres.“ „Selbstmord, das wäre die Lösung. Er war es gewesen, der Corinna angefahren hat. Das hat er noch irgendwie verkraften können, sich sogar noch ein Alibi beschafft. Aber jetzt, wo sich die Sache so zugespitzt hat, sind ihm die Nerven durchgegangen. Für den Tod von fünfundzwanzig Menschen wollte er nicht auch noch verantwortlich sein, da hat er diesen Ausweg gewählt.“ Ich sah Corzelius beifallheischend an. Aber der verzog nur das Gesicht. „Da unterstellen Sie Bleckwehl wohl etwas zuviel an Gewissen. Reue – das paßt schlecht zu dem Typ, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Nein, wenn es ein Selbstmord gewesen wäre, dann müßte er schon einen anderen Grund gehabt haben.“ „Und wie sollte der aussehen?“ „Was weiß ich. Vielleicht hat er Corinna gar nicht versehentlich angefahren, sondern mit voller Absicht. Vielleicht wußte das Mädchen zuviel, und er hat es mundtot machen wollen.“ Corzelius schwieg und überlegte. 52
Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte, und schwieg daher. „Möglich wär’s“, fuhr Corzelius nachdenklich fort. „Corinna hat ihm, ehe sie sich als Bibliothekarin ausbilden ließ, eine Zeitlang die Bücher geführt. Hier wird schon lange gemunkelt, daß er Steuerhinterziehungen gemacht und gestohlene Wagen ins Ausland verschoben hat. Vielleicht hat sie ja mal ein Wort darüber fallenlassen. Andererseits –“ Corzelius schob die Lippen vor – „würde den selbst ein Mord nicht so belastet haben, daß er sich darum umbringt. Da müßte ihm schon einer auf die Schliche gekommen sein.“ „Also wirklich“, sagte ich, „das hört sich aber ein bißchen sehr nach Wildwest an, finden Sie nicht?“ „Oh, da könnte ich noch mit viel wilderen Theorien aufwarten, die keine Spur weniger weit hergeholt wären.“ „Da bin ich aber gespannt …“ „Wer sagt uns denn, daß nicht Plaggenmeyer die Bombe, oder was da hochgegangen ist, gelegt hat? Oder eine andere Version: Buth fürchtet um sein ehrgeiziges Projekt, das Kurzentrum Bad Brammermoor – falls ein Verdacht auf Carpano wegen Fahrerflucht hängenbleiben sollte. Da sorgt er dafür, daß Bleckwehl in die Luft fliegt, dann kann man ihm die Voges-Affäre anhängen, und Carpano steht mit blütenweißer Weste da.“ „Psst! Nicht so laut! Was Sie da sagen –“ „– ist reine Spekulation“, ergänzte Corzelius. „Aber eines kann ich Ihnen voraussagen, und ich freß einen Besen, wenn’s nicht so eintrifft: Ob Unfall, Selbstmord oder Mord – unsere Honoratioren werden sein Ableben schon zu ihren Gunsten ausschlachten.“
53
10 Uhr 14 bis 10 Uhr 21 Plaggenmeyer registrierte nervös die Unruhe, die seit einigen Minuten draußen auf dem Schulhof herrschte. Was war passiert? Was ließ Buth, Kämena, Lankenau und die anderen so heftig miteinander diskutieren? Planten sie einen Sturmangriff auf seine Festung? War jemand auf eine Idee gekommen, wie man ihn überrumpeln konnte, ohne daß er seine Bombe zündete? Er bemerkte auch, daß Jentschurek und die Schüler ebenso von der Unruhe draußen angesteckt worden waren: sie gerieten sich in die Haare. Kischnick ließ halblaut vernehmen: „Warum hat Jentschurek bloß immer so laut tönen müssen, wie sinnvoll die Apartheid ist und daß die Portugiesen in Angola und Moçambique man ordentlich draufhalten sollten. Das hat Gunhild natürlich dem Plaggenmeyer zugetragen, und es ist doch klar, daß dem so was stinken muß.“ „Halt doch den Mund, Mensch!“ zischte es von hinten, aber Gunhild hatte die Bemerkung gehört und ging prompt in die Luft. „Du bist ja behämmert, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben“, sagte Gunhild. „Fehlt bloß noch, daß du sagst, ich hätte Bertie gebeten, ausgerechnet in unsere Klasse zu kommen.“ „Wer weiß!“ murmelte Kischnick. „Warum hat er dich denn sonst gehen lassen wollen?“ „Immo!“ sagte Dr. Jentschurek scharf. „Sie bringen hier seit Jahren Unruhe in die Klasse. Nehmen Sie wenigstens in dieser schweren Stunde Vernunft an!“ Plaggenmeyer verfolgte die Szene, als hockte er bei Corinna vor dem Fernseher und sähe eine „Journalisten fragen – Politiker antworten“-Sendung: unbeteiligt und distanziert. Warum sich Immo und Dr. Jentschurek bei jeder sich bietenden Gelegenheit bekriegten, wußte er so gut wie jeder andere hier: Kischnicks Vater hatte neulich 54
in aller Öffentlichkeit erklärt, daß er dem Radikalenerlaß voll und ganz zustimme – aber bevor die Stadt Bramme das moralische Recht habe, dem ersten DKP-Mann den Eintritt in den Öffentlichen Dienst zu verweigern, müsse sie erst einmal Leute wie Dr. Jentschurek aus dem Schuldienst entlassen. Die Wortgefechte gingen weiter. Die Klasse spaltete sich in drei Parteien. Die erste Gruppierung machte Jentschurek zum Sündenbock. Ihre Argumentation ging dahin, daß Jentschurek mit seinen vielen rassistischen Äußerungen Plaggenmeyer in die 13 a gelockt habe. „Stimmt’s etwa nicht?“ fragte Kischnick. Plaggenmeyer wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Wie konnte er vorausberechnen, was geschehen würde, wenn er ja sagte? Also schwieg er. Er hörte aber, wie Immo mit seinen Nebenleuten flüsterte: „Wir sollten ihm vorschlagen, uns laufenzulassen und nur Jentschurek hierzubehalten.“ Das war der Aufhänger der zweiten Gruppe, gegen Kischnick vom Leder zu ziehen. Sie warfen ihm vor, Plaggenmeyer unnötig zu reizen. In Wahrheit hatten sie nur Angst vor Jentschurek. Wenn sie hier lebend rauskamen, ließ der sie beim Abitur allesamt auflaufen. „Herr Doktor Jentschurek hat nie eine abfällige Bemerkung über Sie gemacht“, sagte Dörte, die sich zu dieser Gruppe geschlagen hatte. Plaggenmeyer nickte. Was ging ihn das alles an? Daß hier Menschen vor ihm saßen, interessierte ihn nicht; sie waren bloße Werkzeuge für ihn, Mittel zum Zweck. Mit Ausnahme von Gunhild vielleicht. Die anderen gehörten zu denen, die unmenschlich an ihm gehandelt hatten; also waren sie auch Un-Menschen für ihn, Nicht-Menschen. Die dritte Gruppe scharte sich um Gunhild, blieb vorerst neutral und hoffte, daß das cleverste Mädchen, das dieses Gymnasium seit langem hervorgebracht hatte, 55
auch diesmal Erfolg haben würde. Vielleicht gelang es ihr doch noch, Plaggenmeyer zum Aufgeben zu überreden. „Sie werden Corinnas Mörder finden und überführen“, sagte Gunhild jetzt, „aber das wird noch ein Weilchen dauern. Du solltest uns was zu essen kommen lassen, Bertie, und vor allem was zu trinken. Heidrun, Dirk und Elke kippen gleich um.“ Säuerlicher Geruch zog nach vorne, und Plaggenmeyer registrierte erst jetzt, daß sich einige seiner Geiseln bereits in Plastiktüten und ähnliche Behältnisse erbrochen hatten. Daß sie das so lautlos getan hatten, daß sie sich überhaupt in allem so diszipliniert und in keiner Weise hysterisch verhielten, das imponierte ihm. Sie waren eben doch Elite. Neid erfüllte ihn. Warum konnte er nicht einer von ihnen sein? Mein Gott, dachte er, laß mich doch mit einem von ihnen tauschen. Laß den Immo zum Plaggenmeyer werden und mich zum Immo. Ich würde gerne da auf den harten Stühlen sitzen und ein paar Stunden lang um mein Leben zittern. Aber wenn ich dann rauskäme, dann hätte ich alles, was ich brauchte. Es war bitter für ihn zu merken, daß seine Macht nur Ohnmacht war. Er konnte sie töten, ja; aber er konnte niemals so werden wie sie. Was ein Contergan-Kind auch anstellt – Arme wachsen ihm nicht mehr nach … Er hatte zwar gesunde Gliedmaßen, aber in anderer Beziehung war er genauso verkrüppelt wie sie. Er wurde müde; es war ihm alles egal. Am liebsten wäre er jetzt langsam eingeschlafen wie jemand, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat und nun, die Arme in warmes Wasser getaucht, unmerklich ausblutet. Warum machte er dem allen nicht ein Ende und drückte auf den Knopf! Er war nahe daran, diesem Impuls nachzugeben, als er sah, wie Kämena mit erhobenen Händen auf das Fenster zukam, einen weißen DIN-A4-Bogen in der rechten Hand. 56
„Herr Plaggenmeyer“, rief er, „wir haben eine Nachricht für Sie!“ Was sich dann tat, erinnerte in seiner ritualisierten Form schon ein wenig an ein japanisches N6-Spiel. Mit leicht erhobenen Händen bewegte Jentschurek sich zum Fenster, wo Kämena inzwischen angekommen war. Dann griff Jentschurek mit den Fingerspitzen seiner gesunden Hand so geziert-vorsichtig nach dem DIN-A4-Bogen, als wäre er mit einem hochwirksamen Kontaktgift imprägniert. Während sich Kämena wieder hinter die Sandsackbrüstung zurückbewegte und Plaggenmeyer noch immer ein undurchsichtiges Ablenkungsmanöver witterte, stand Dr. Jentschurek vor der Frage, wie er Plaggenmeyer die Information übergeben sollte, ohne ihm so nahe zu kommen, daß er sich bedroht fühlen mußte. Wo lag bei ihm, so dachte er in der Sprache der Verhaltensforscher, die kritische Entfernung? Betrug sie einen Meter, zwei, drei? Plaggenmeyer, der Jentschureks Zögern richtig deutete, sagte: „Spießen Sie den Zettel auf den Zeigestock da und …“ Jentschurek tat, wie ihm geheißen, und so konnte Plaggenmeyer Sekunden später in deutlich gemalter Blockschrift lesen: WIR HABEN SOEBEN ERFAHREN, DASS HERR BLECKWEHL BEI EINER EXPLOSION IN BRAKE UMS LEBEN GEKOMMEN IST. ALLES DEUTET AUF SELBSTMORD HIN. DAS MÜSSTE ALS EINGESTÄNDNIS SEINER SCHULD AN DEM UNFALL AUFGEFASST WERDEN. BITTE ÜBERDENKEN SIE. DARAUFHIN IHRE HALTUNG! KÄMENA Plaggenmeyer mußte den kurzen Text mehrmals lesen, um den Inhalt, den Sinn dieser Information über57
haupt zu verstehen. Das Ganze war ein echter Schock für ihn. Erst jetzt war ihm schlagartig bewußt geworden, daß er ohne jeden Plan in die Klasse gestürzt war. Da war die Kernidee, die Mörder Corinnas zu einem Geständnis zu zwingen, indem er drohte, eine ganze Schulklasse zu töten – aber mehr war da nicht. Seinen ganzen Scharfsinn hatte er darauf verwandt, mit dem Auflösen seines Postsparbuches, dem Verkauf seines Radios und seiner Armbanduhr sowie einiger Bücher, die Corinna in seinem Zimmer zurückgelassen hatte, so viel Geld zusammenzubekommen, daß es in Hamburg zum Kauf des Revolvers und der Chemikalien für seine Sprengsätze reichte. Der Rest seiner Energie war draufgegangen, als er sich in alten Zeitungen mit Baader-Meinhof-Berichten, in Krimis und in Guerilla-Handbüchern das Rezept zum Bau seiner beiden Bomben zusammengesucht hatte. Es ging schließlich, weil er in der Jugendstrafanstalt mit einem fanatischen Bastler zusammen auf einer Zelle gelegen hatte, einem wahren Sprengstofffetischisten. Das alles hatte ihn so beschäftigt, daß er sich nicht die geringsten Gedanken über die Taktik zur Erreichung seines Ziels gemacht hatte. Er hatte nur gedacht: Geh in eine Schulklasse, das bringt die Leute am meisten auf, damit kannst du den größten Druck auf Bleckwehl und Carpano ausüben … Dafür hatte er sich aber die Situation in allen Einzelheiten ausgemalt: Auf dem Schulhof lagen die Trümmer des Grabmals. Er saß in der Klasse, die Hand am Auslöser und stellte seine Forderungen. Wie auf einem Fußballplatz standen die Leute herum. Kämena, Buth und Lankenau in der ersten Reihe. Dann erschienen Bleckwehl und Carpano zum Duell, zum Showdown. Einer beschuldigte den anderen. Und die Eltern, voller Angst um ihre Kinder, schrien, daß der Mörder endlich ein Ges58
tändnis ablegen solle oder beide würden gelyncht. Einer brach dann schließlich zusammen und legte ein Geständnis ab. Kämena erschien mit seinen Handschellen und sagte: Im Namen des Gesetzes – Sie sind verhaftet! Aus und Ende. Und: Ich gratuliere Ihnen, Herr Plaggenmeyer; Sie haben den schwierigsten Fall gelöst, den wir jemals hier hatten. Selbstverständlich werden wir alle Schäden ersetzen, die hier entstanden sind … Soweit seine Vorstellungen. Und prompt hatte er schon zu Beginn seiner Aktion den ersten Fehler gemacht, als er – einer plötzlichen Eingebung folgend – ausgerechnet Dr. Jentschurek nachgegangen war, ohne zu bedenken, daß Gunhild in seiner Klasse saß – Gunhild, deren Gegenwart alles erschwerte. Und nun teilten sie ihm mit, daß Bleckwehl tot war. Seine erste Assoziation war plastisch genug: eine riesige Pyramide von Konservendosen in einem Supermarkt; man zieht unten eine einzige Dose heraus – und schon stürzt das Ganze in sich zusammen … Mit Bleckwehls Tod war sein ganzes vorgestelltes Bild verschwunden. Knopfdruck – und der Fernsehschirm ist leer. KNOPFDRUCK? Ach nein … seine Ratlosigkeit war plötzlich und schmerzhaft wie ein Peitschenhieb. Was nun? Aufgeben! Aber was dann? Wenn er jetzt Pistole und Auslöser wegwarf und die Arme hochnahm, sich verhaften ließ, dann hatte er einen mehrjährigen Leidensweg vor sich: Untersuchungshaft, Gerichtsverhandlungen, Santa Fu. Dann war er wieder der Wurm, den sie langsam zertraten … Nein! Solange er noch da saß, da war er König, da konnte er die Puppen tanzen lassen. Was war schon ein Konsul, der mit einem kleinen Knopfdruck einen Riesentanker vom Stapel lassen konnte? Er konnte mit seinem Knopfdruck eine kleine Welt vernichten … Zum erstenmal in 59
seinem Leben zählte er zu den Mächtigen, und diese Macht wollte er behalten, solange es ging. So war seine Reaktion völlig logisch. „Ich glaube nicht, daß Bleckwehl tot ist!“ rief er nach draußen. „Ihr wollt mich bloß reinlegen … Ich verlange, daß Bleckwehl und Carpano hier auf dem Schulhof erscheinen.“ Er wunderte sich über sich selbst, wie geläufig ihm die Worte kamen. „Ich will ein Geständnis. Und ich will handfeste Beweise, die nachher kein Rechtsverdreher mehr wegleugnen kann!“ Daß er daraufgekommen war, neben einem bloßen Geständnis auch noch konkretes Beweismaterial zu fordern, ließ ihn noch euphorischer werden. „Das ist ein Ultimatum! Ich gebe euch eine halbe Stunde Zeit.“ Er fühlte sich satt, zufrieden. Wohlig.
10 Uhr 21 bis 10 Uhr 29 Hackbarth suchte nach einer Lösung. Immer wenn er das tat – bei der Frage etwa, die Dr. Jentschurek so liebte: Wer mochte wohl dem Polykrates von Samos bei der Errichtung seiner Tyrannis so wirksam geholfen haben? –, da spürte er ein heißes Brennen in der linken Brusthälfte, und zugleich starben ihm die Extremitäten ab; ein migräneähnlicher Kopfschmerz kam hinzu … Sein Vater, obwohl auf Zähne spezialisiert, hatte eine vegetative Dystonie diagnostiziert und – als Wiebke, seine Schwester, spöttisch gemeint hatte: „Hört, hört!“ –, milde lächelnd und seine Aggressionen umleitend, hinzugefügt: „Was die Schnelligkeit seines Denkens betrifft: unser Hans-Henning ist nun mal kein schneller Brüter …“ Das war die Assoziationskette: sein Vater, ein dauernd nörgelnder Zahnarzt, seine Schwester, gerade einundzwanzig geworden und zu jeder Jahreszeit wie eine 60
läufige Hündin, und Bleckwehl, der früher in Bramme gewohnt hatte und den er des öfteren bei seinem Vater im Wartezimmer gesehen hatte. Das mußte 1972 gewesen sein. Da hatte sein Vater während der Olympischen Spiele ihren Fernseher ins Wartezimmer gestellt, um die Patienten zu unterhalten respektive überhaupt in die Praxis zu locken … Wenn er, Hans-Henning, was aus München sehen wollte, hatte er sich selber ins Wartezimmer setzen müssen. Hackbarth schloß die Augen und versuchte die Bilder von damals auf den Bildschirm seiner Lider zu projizieren. Ernst-Georg Bleckwehl mußte der etwas kahlköpfige Fettsack gewesen sein, der die ganze Zeit über dußliges Zeug gequatscht und alles immer besser gewußt hatte. Sein Vater hatte jeden seiner Witze laut belacht, denn Bleckwehl war Privatpatient und verdiente mit seiner Werkstatt und seinem Gebrauchtwagenhandel ein Schweinegeld – und außerdem brauchte er so viel Goldkronen, daß die Familie Dr. Hackbarth fast ihre Urlaubsreise raus hatte. Wiebkes Kommentar: „Stell dir den mal nackend vor – igitt!“ Ja, das fiel ihm auch noch ein: Bleckwehl hatte was von Brake erzählt, und bald darauf war er dann auch an die Weser gezogen. Sein Vater hatte noch ein paarmal mahnen müssen, ehe sich Bleckwehl dazu bequemt hatte, das Honorar zu überweisen. Eine fiese Type. Der Typ, der jede Woche einmal nach Hamburg fährt, um auf St. Pauli einen flottzumachen. Von solchen Provinzonkels wie Bleckwehl lebten die Nutten doch. Nutten, dachte Hackbarth und spürte etwas wie Neid. Und weil er sich dessen bewußt war, verschärfte sich seine Ablehnung. Dieses fette Schwein hatte sie alle hier in diese verzweifelte Lage gebracht, Ganz klar, daß der Corinna auf dem Gewissen hatte. Der war sicherlich besoffen gewesen und hatte ihr beim Vorbeifahren auf die Beine gestarrt oder auf den Hintern – und dann war sein 61
dicker Mercedes nach rechts ausgebrochen … Daß ein Kotflügel ausgewechselt worden war, hatten sie ja festgestellt. Aber das Alibi von seiner Alten, seinem Bruder und diesem Nachbarn war durch nichts zu erschüttern gewesen. Die Sache mit dem Kotflügel sei schon vor zwei Tagen passiert, als die Alte beim Einparken gegen ’ne Eiche gefahren sei. Und tatsächlich hatte da auch ein Stück Rinde gefehlt. Als ob man das nicht später gemacht haben könnte! Dieser Idiot von Kämena, dieser Torfkopp! Für Hackbarth stand fest, daß Ernst-Georg Bleckwehl der Mörder des Mädchens war. Ein Mann wie Dr. Carpano, ein Arzt – der kam überhaupt nicht in Frage! Und wenn er das Mädchen wirklich angefahren hätte – er hätte mit Sicherheit angehalten, um Erste Hilfe zu leisten, um sie zu retten. Fahrerflucht – das paßte höchstens zu einem Mann wie Bleckwehl, der täglich seine Kunden beschiß. „Bitte, bewahren Sie Ruhe!“ tönte es von draußen durchs Megaphon. Zum x-tenmal schon. Kämena war wie ’ne Schallplatte mit ’m Sprung; mehr hatte der nicht drauf. „Herr Plaggenmeyer, wir bemühen uns nach Kräften, die Ermittlungen voranzutreiben! Es bleibt nichts unversucht …“ Plaggenmeyer schwieg. Hackbarth sah, wie jetzt Buth das Megaphon ergriff – ruhig, souverän. „Am besten, Sie setzen den Unterricht fort, Herr Doktor Jentschurek.“ Hackbarth fühlte sich erleichtert. Wenn ein Mann wie Buth sich einschaltete, konnte nichts schiefgehen! Aber schon in der nächsten Sekunde dachte er: Wenn er auch der mächtigste Mann hier in Bramme ist, in diesem Fall ist er machtlos; Plaggenmeyer ist nur von einem zu besiegen, der sich hier im Klassenzimmer befindet … Von mir! „Darf ich beginnen?“ fragte Jentschurek. Ganz so forsch wie gewohnt klang seine Stimme aber nicht. 62
Plaggenmeyer nickte. „Wiederholen wir für die Reifeprüfung; ein Thema, das alle interessieren dürfte“, sagte Jentschurek. „Die Brussilow-Offensive von Juni bis September neunzehnhundertsechzehn.“ Er räusperte sich. „Wer kann mir die Ausgangsstellung der Offensive der Mittelmächte im Frühjahr neunzehnhundertfünfzehn auf der Karte einzeichnen?“ Dörte konnte, und Plaggenmeyer ließ sie auch zur Karte gehen, die rechts neben der Tafel blau-grün-rot am Ständer hing. Dörte erinnerte Hackbarth in vielem an seine Schwester: drall wie eine Magd und scharf darauf, aufs Kreuz gelegt zu werden. Reinhard, Dirk und Hanno hatten’s schon mal mit ihr gemacht. Behaupteten sie jedenfalls. Da war Gunhild anders. Die konnte man nur erobern, wenn man außergewöhnliche Fähigkeiten besaß … Und da befand er sich wieder am Ausgangspunkt. Dörte ähnelte seiner Schwester; seine Schwester half seinem Vater ab und zu in der Praxis; Bleckwehl war öfter von seinem Vater behandelt worden; dabei hatte er Wiebke an den Busen gefaßt … Ein Plan formte sich in seinem Kopf. Wenn er nun behauptete – ganz langsam jetzt und ganz logisch denken! –, also wenn er behaupten würde, Bleckwehl hätte es mit Wiebke gehabt … Ja, und dann … Richtig, Bleckwehl wäre an dem Abend, wo das mit Corinna passiert war, bei Wiebke gewesen … Nee, besser noch, wegen der Zeugen, er wäre von ihren Eltern in flagranti in Wiebkes Bett überrascht worden … Hackbarth atmete schnaufend durch die Nase. Dabei stellte er fest, daß er vor lauter Nachdenken seine ganze Angst vergessen hatte. Aber weiter. Er würde – ja, was würde er eigentlich? Bleckwehl ein Alibi geben? Um Plaggenmeyer die Luft abzulassen? Der 63
würde doch nur mal kurz und trocken auflachen, wenn er, Hans-Henning, mit dieser Geschichte ankam. Alles Schwindel, würde der sagen. Ihr wollt mich verscheißern. Behaupten kann man viel – aber wo ist der Beweis? Ja, wo einen Beweis hernehmen, dachte Hackbarth. Was Schriftliches. Vielleicht ’ne Hotelrechnung, auf Bleckwehls Namen ausgestellt, mit dem Datum des betreffenden Tages. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Hackbarth rutschte auf seiner Bank umher. Verdammt, er müßte dringend mal pinkeln. Und auf einmal kam ihm das Groteske seiner Situation zum Bewußtsein: Da schmiedete er nun weiß Gott was für Pläne, wie er Plaggenmeyer überreden könnte, wie er ihn irgendwie bluffen und dann blitzschnell anspringen und ihm dabei Waffe und Sprengstoff entreißen könnte. Wie er als Held vor der Klasse dastehen und Gunhild ihn ob seines Mutes, seiner Geistesgegenwart bewundern würde … Ein schöner Held, der sich beinahe in die Hose machte. Und da kam ihm endlich der rettende Gedanke. Sehr heldenhaft würde es nicht aussehen, aber dafür um so glaubwürdiger. Und die, die vielleicht anfänglich über ihn lachten, würden sich hinterher dafür entschuldigen. Er feuchtete die Lippen an und räusperte sich. Das Herz schlug ihm bis in den Hals, und er fürchtete, keinen Ton herauszubringen. Aber dann hob er den Finger, als ob er sich melden wollte. „Herr Plaggenmeyer.“ Das klang etwas krächzend, aber wenn schon, es war ja kein Wunder, daß alle, die hier saßen, Angst um ihr Leben hatten. Plaggenmeyer sah mißtrauisch in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. „Was is?“ „Herr Plaggenmeyer, ich müßte ganz dringend mal austreten.“ Plaggenmeyer sah Hackbarth an, als ob er nicht ver64
standen habe. Erst als von allen Seiten ein beinahe hysterisches Kichern ertönte, ging ihm das Gehörte auf. Beinahe hätte er selber gegrinst, aber dann packte ihn der Ärger. Da hielt er, als Herr über Leben und Tod, vierundzwanzig Menschen in Schach, und so ein Idiot wollte pinkeln. Wenn der sich einbildete, daß er ihn rausließe, damit er türmen konnte – für wie dämlich hielt man ihn denn? „Dann pinkel dir in die Hose“, fauchte er. „Raus kommst du jedenfalls nicht, wenn du darauf spekuliert hast.“ Wieder ein allgemeines Kichern, in dem eine gewisse Schadenfreude mitklang, wie Hackbarth grimmig herauszuhören meinte. Denen würde es bald leid tun, daß sie ihn so verkannt hatten. „Das habe ich auch nicht gewollt, Herr Plaggenmeyer“, sagte Hackbarth beinahe demütig. „Aber vielleicht –“ er tat, als sehe er sich suchend um – „könnte ich da das Waschbecken … ich meine, wenn man den Ständer mit der Geschichtskarte davorstellte … es werden sicher auch noch andere …“ Er schien sich in den eigenen Worten zu verheddern. „Das ist eine Idee“, mischte sich Dr. Jentschurek ein. „Irgendwie muß dieses Problem gelöst werden. Das ginge … äh … zumindest für die Jungen.“ „Und was sollen wir machen?“ fragte eine Mädchenstimme halb kichernd, halb herausfordernd. „Ihr könnt ja ’n Stuhl nehmen, damit ihr rankommt“, rief einer. Plaggenmeyer hatte auf einmal das Gefühl, daß ihm das Heft aus der Hand genommen wurde. Anstatt daß alle zitternd auf ihren Bänken saßen, überlegte man sich, wo man pinkeln konnte. Das entsprach nicht dem Ernst der Lage. „Na schön, machen Sie schon zu“, brummte er widerstrebend. Er trat einen Schritt zurück und sah zu, wie 65
Jentschurek eifrig den Kartenständer versetzte, um das Waschbecken an der Wand des Klassenzimmers diskret abzuschirmen. Hans-Henning Hackbarth zwängte sich aus seiner Bank. Mit einem Seitenblick stellte er fest, daß Plaggenmeyer die rechte Hand mit der Pistole etwas hatte sinken lassen, auch kam es ihm so vor, als liege der Daumen der linken nicht mehr ganz so angespannt auf dem Auslöser. Nicht zu schnell, um Plaggenmeyer nicht zu erschrecken, ging er an den Bankreihen entlang. Jetzt hatte er die vorderste erreicht. Um zu dem Waschbecken zu gelangen, mußte er den freien Raum vor den Sitzreihen diagonal durchqueren, also ziemlich dicht an Plaggenmeyer vorbeikommen. Selbst wenn der etwas zurückwich, würde er, wenn er blitzschnell handelte, ihm das rechte Knie in den Unterleib rammen können, dann die rechte Faust nachschieben zu einem Schlag in die Fresse – und die Sache war gelaufen … Er sah schon die Schlagzeilen im Brammer Tageblatt: Heldenhafter Einsatz rettet Klassenkameraden – Hans-Henning Hackbarth überwältigte Gangster mit genialem Trick … Er schluckte. Jetzt kam alles darauf an. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Es kam ihm vor, als ob der Boden unter seinen Füßen nachgab; er lief auf einer der Matten, wie sie in den Turnhallen lagen. Alles schwankte. Alles war irreal. Noch vier Meter bis hin zu Plaggenmeyer. Noch drei … Jetzt der entscheidende Sprung. Und in einer knappen Sekunde war alles vorbei. Als er sich auf Plaggenmeyer werfen wollte, war Jentschurek plötzlich neben ihm und riß ihn zurück. „Henning – nein!“ So schwankte er, von Jentschurek umklammert, einen Augenblick vor Plaggenmeyer hin und her, begriff, was 66
nun folgen mußte, und wollte noch einen letzten Schrei ausstoßen. Aber da hatte Plaggenmeyer schon abgedrückt. Zweimal.
10 Uhr 29 bis 10 Uhr 41 Karl Kämena hatte sich in einen leeren Mannschaftswagen geflüchtet und die Plane vorgezogen. Nur fünf Minuten Ruhe! In seinem Magen rumorte es; sein Herz klopfte beängstigend unregelmäßig, und seine innere Unruhe wurde von Minute zu Minute größer, obwohl er gerade seine zweite Valiumportion an diesem Morgen geschluckt hatte. Er fühlte sich völlig ausgelaugt, mußte zeitweilig direkt nach Atem ringen und schwitzte mehr, als seine Unterwäsche aufsaugen konnte. Wenn das nicht bald endete, war ihm der erste Herzinfarkt so gewiß wie Bramme der nächste Regen. Aber anstatt sich zu schonen, mußte er sich mit der größten Aufgabe herumschlagen, die je auf einen Kripomenschen in Bramme zugekommen war. Ausgerechnet er! Und kein Arzt konnte ihm helfen. „Arbeiten Sie weniger!“ sagten die bloß und verschrieben ihm ein paar Beruhigungs- und Schlafmittel. Kämena legte die beiden Schnellhefter, die er solange auf den Knien gehalten hatte, neben sich auf die Bank. Der grüne enthielt Informationen über Bleckwehl, der gelbe einiges über Dr. Carpano. Aber die einzelnen Puzzleteile paßten partout nicht zusammen. Wie man sie auch aneinanderfügte, es gab kein stimmiges Bild. Mit einem Schwall neuer Angst bemerkte er, daß seine linke Gesichtshälfte sich spannte, fast gefühllos wurde, und sein rechtes Augenlid periodisch zuckte. Der Infarkt! War das der Anfang vom Ende? 67
Er stand auf – und setzte sich wieder. Nur nicht hinaus auf den Hof und die anderen die momentane Schwäche erkennen lassen. Wenn Kämena meinte, kein Arzt in Bramme wäre in der Lage gewesen, seine Krankheit zu erkennen, so irrte er sich. Worunter er litt, war eine typische Herzneurose. Dr. Ralph Carpano, der eine viel beachtete Arbeit darüber geschrieben hatte, wäre in einer viertelstündigen Sitzung zur richtigen Diagnose gekommen und hätte ihm über das Schlimmste hinweghelfen können. In Kämenas gelbem Schnellhefter befand sich sogar eine lange Liste mit Carpanos Veröffentlichungen, die sie in den Akten des Brammer Kreiskrankenhauses gefunden hatten. Er hatte sie damals bei seiner Bewerbung um die Chefarztposition eingereicht. An und für sich hatte man in Bramme stark damit gerechnet, daß Bramme für ihn nur ein Durchgang sein würde, daß er eine größere Klinik übernehmen und vielleicht einmal auf einen Lehrstuhl berufen werden würde. Aber Carpano war in Bramme geblieben, um eines Tages das großangelegte Kurzentrum Bad Brammermoor zu übernehmen. Was ja schön und gut, aber für einen Wissenschaftler doch eigentlich nicht das erstrebte Ziel war. Warum wohl? Kämena setzte sich nieder, nachdem er kurz zwischen den harten Holzbänken herumgeturnt war, und begann wieder, eindeutig zwangsneurotisch, in den Unterlagen zu blättern. Für ihn schied Carpano als Täter aus. Der hätte als der untadelige Arzt, der er war, mit Sicherheit angehalten und Erste Hilfe geleistet. Blieb also Bleckwehl, der sich zeit seines Lebens in der Grenzzone zwischen einem gerissenen Geschäftsmann und einem White-collar-Kriminellen bewegt hatte. Wahrscheinlich hatte er triftige Gründe gehabt, Corinna Voges aus dem Weg zu schaffen. Ob sie ihn erpreßt hatte? Jetzt mußte er erst einmal abwarten, was die Kollegen 68
in Brake ermittelten. Fest stand bislang nur, daß Bleckwehl sich allein in seiner kleinen Werkstatt befunden hatte, einem besseren Schuppen, als es zur Explosion gekommen war. Wahrscheinlich Benzindämpfe, möglicherweise aber auch eine defekte Azetylenflasche. Kein Mensch konnte im Augenblick Genaueres sagen. Ein Stromkabel wies Beschädigungen auf. Nun ja. Vielleicht ein Unfall, vielleicht ein Selbstmord, der wegen der Versicherung nach Unfall aussehen sollte. Bei dem Chaos da – die Werkstatt soll vollkommen niedergebrannt sein – war so ziemlich sicher vorauszusagen, daß die KTULeute nicht über mehr oder minder gewagte Hypothesen hinauskommen würden. Aber Plaggenmeyer wollte Gewißheit. Und zwar bald. Kämena preßte die linke Hand auf den Brustkorb, um gegen die stechenden Schmerzen anzukommen. Gleichzeitig überflog er die Liste mit Carpanos Veröffentlichungen: Einführung in die Elektrophysiologie, Heidelberg 1967 Das myasthenische Syndrom, Berlin 1968 Nervöse Herz- und Kreislaufstörungen bei Führungskräften, Stuttgart 1970 Neue Erkenntnisse der Geriatrie, Heidelberg 1970 Kämena nickte vor sich hin: mit diesen Spezialkenntnissen war der Mann für Buths Kurzentrum Gold wert, denn Buth zielte ja in der Hauptsache auf Manager und gut betuchte Senioren, wie man sie heute nannte. Kämena las weiter: Some anxiety factors in Psychiatric patients. I. abnorm, soc. Psychol. 66 (1963) 426 The biology of the depressive constellation. I. Cons. Psychol. 20 (1956) 322 Grundzüge der Chemotherapie der Angst. Psyche 18 (1964/65) 825 69
Die subjektive Symptomatik vegetativer Herz- und Kreislaufstörungen. Z- Kreisl.-Forsch. 56 (1967) 348 Und so weiter und so weiter. Langsam ging Kämena auf, daß Carpano genau auf dem Gebiet zu Hause war, in das seine eigenen stets bedrohlicher werdenden Beschwerden fielen. Ja, aber dann … Das war die Rettung für ihn: Er mußte Carpano helfen, hier und jetzt aus der Patsche helfen, dann war Carpano verpflichtet, ihm zu helfen, ihn zu heilen. Aber wie? Er wollte gerade darüber nachdenken, als Stoffregen auf den Mannschaftswagen kletterte, sein widerlich gesunder Kriminalmeister. „Ah, hier haben Sie sich verkrochen!“ „Verkrochen …?“ „Buth sucht Sie schon.“ „Was ist denn mit den beiden?“ „Mit wem?“ „Mensch – mit Hackbarth und Jentschurek!“ „Hackbarth wird noch operiert; Steckschuß im Oberschenkel.“ „Aber keine Lebensgefahr?“ „Nein, nein, der kommt durch.“ „Und Doktor Jentschurek?“ „Ein Streifschuß an der Hüfte, kaum der Rede wert; der Schreck war viel schlimmer. Sie haben ihn verpflastert, und jetzt ist er ganz geil drauf, hier wieder aufzukreuzen. Unser Held will sich feiern lassen.“ „Die beiden haben ja auch eine ganze Portion Mut bewiesen.“ „Corzelius sagt, man sollte beide wegen außergewöhnlicher Dummheit ein paar Jahre lang einsperren.“ „Corzelius, dieser Maulheld, der hätte das doch nie gewagt!“ Kämena haßte Corzelius, seit der ihn einmal in Anlehnung an seine Initialen – K. K. von Karl Käme70
na – „unseren tapferen k. u. k. Kommissär“ genannt hatte. Zu allem Unglück tauchten jetzt auch noch Buth und Lankenau hinten an den Trittbrettern auf. „Du kannst rauskommen, in der Klasse ist es wieder ruhig geworden“, sagte Buth. Kämena war völlig niedergeschlagen und verunsichert. Jetzt hackte auch noch Buth, mit dem er seit vielen Jahren jede Woche einmal Skat spielte und den er für einen Freund gehalten hatte, auf ihn ein. Vielleicht war es auch Buth gewesen, der das Gerücht verbreitet hatte, er, Kämena, hätte zu Hause unterm Bett einen fertig gepackten Koffer liegen, um bei einem jederzeit nötig werdenden Transport ins Brammer Kreiskrankenhaus nicht unnötig Zeit verlieren zu müssen. Natürlich lachte ganz Bramme über ihn. Doch eine Versetzung kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Da hätte er das Haus aufgeben müssen, das er von seiner Mutter geerbt hatte, und das war undenkbar. Lankenau war wütend. „Sitzen denn noch mehr solche Idioten wie Hackbarth und Jentschurek in dieser verdammten Klasse?“ „Ich würde es höchstens einem der Mädchen zutrauen, einen ähnlichen Versuch zu unternehmen“, sagte Buth mit einem maliziösen Lächeln. „Wem denn?“ fragte Lankenau. „Dieser Gunhild Göllmitz – Ihrer potentiellen Nachfolgerin.“ Lankenau parierte den Schlag. „Mit Ihren Spezies würde die bestimmt fertig werden, wenn sich Ihre liebe CSU bei uns hier in Norddeutschland etabliert.“ Tatsache war, daß Hackbarths Vater seit Jahren CDU-Mitglied und Jentschurek mit Sicherheit für den Ortsvorsitz vorgesehen war. Buth und Lankenau sahen sich einige Sekunden lang an wie zwei Boxer vor dem Kampf, aber sie beherrschten sich. 71
Und Kämena wußte auch, warum. Zwar hätte Lankenau unter Garantie die nächste Wahl verloren, wenn es hier zu der befürchteten Katastrophe kam, und er war deswegen sicher nahe daran, Buth zu unterstellen, er wolle insgeheim diese Katastrophe, aber Buth und seine Mafia, wie man hier sagte, hätten die frei werdenden Machtpositionen auch nicht ausfüllen können, denn jeder wußte, daß Carpano, der das Ganze zumindest mit heraufbeschworen hatte, Buths Freund und Günstling war. Lachender Dritter wäre also der Kandidat der FDP und der verschiedenen „Rathausparteien“ gewesen, wahrscheinlich Oberstudiendirektor Dr. Blumenröder, dessen Tochter Dörte zu allem Überfluß auch noch in der 13 a saß und ihrem Vater im Falle eines Falles Sympathie und Stimme aller aufrechten Brammer Bürger gesichert hätte. Buth und Lankenau hatten also allen Grund, gemeinsam vorzugehen. Kämena und Stoffregen kletterten vom Mannschaftswagen herunter. Ein Blick in die Klasse zeigte, daß es dort so ruhig zuging wie in einer normalen Unterrichtsstunde. Man schien froh zu sein, auch den zweiten kritischen Moment überstanden zu haben, erleichtert vielleicht, daß mit Dr. Jentschurek und Hackbarth zwei der unberechenbarsten Personen eliminiert worden waren. Hoffnung gab vor allem die Tatsache, daß Plaggenmeyer über so gute Nerven verfügte. Warten … abwarten … Die vier Männer starrten immer wieder, ebenso wie der Mann von der Sondertruppe, zum wolkenlosen Himmel empor, um irgendwo im Nordosten den Hubschrauber auszumachen, der Plaggenmeyers Mutter aus Hamburg herüberbringen sollte. „Man hat sie doch schon aufgegabelt?“ fragte Buth. „Oder?“ „Ja, ja, ich versteh das auch nicht.“ Stoffregen grinste ein wenig. „Sie betreibt irgendwo in Poppenbüttel einen Massagesalon. Macht müde Männer munter.“ 72
„War’n Sie mal da?“ wollte Lankenau wissen. „Nee, ich hab mit dem Kollegen in Hamburg telefoniert.“ Er war sicher, daß Lankenau auf die Adresse scharf war. „Ob die Einfluß auf ihren Sohn hat?“ Der Mann von der Sondertruppe war skeptisch. „Man muß es halt versuchen“, sagte Buth. „Ich fände es besser, wenn sich Carpano stellen würde.“ Buth wurde energisch. „Carpano ist unschuldig, das steht doch wohl amtlich fest – oder? Warum sollte er sich da stellen? Selbst wenn er hinterher widerruft, er hätte es nur getan, um Plaggenmeyer zu beruhigen – etwas bleibt dann doch hängen.“ „Wenn wir dadurch Zeit gewinnen …“, sagte der Spezialist von Genschers Truppe. Inzwischen hatten die Eltern der bedrohten Primaner fast vollzählig ihre Arbeitsplätze und ihre Wohnungen verlassen und sich in der Nähe der kleinen Friedhofskapelle, von den anderen ziemlich unbemerkt, zu einer Art Konferenz zusammengefunden. Nur Kämena warf ab und zu einen mißtrauischen Blick zu ihnen herüber. Eine weitere Front für ihn. Ausgerechnet in dem Augenblick, als er wieder mit einem heftigen Schwindelanfall zu kämpfen hatte, kam die Gruppe auf ihn zu, wurde vom ersten Polizeikordon aufgehalten und erreichte schließlich, daß zwei ihrer Vertreter bis zur Einsatzleitung durchgelassen wurden. Es stellte sich bei der flüchtigen Begrüßung heraus, daß die Eltern den Rechtsanwalt Karl-Heinz Kischnick und den Busfahrer Helmut Göllmitz als Sprecher gewählt hatten. Den ersten stellte Lankenau den anderen vor, den zweiten Corzelius, der sich mit gewohnter Dreistigkeit einfach zu der kleinen Gruppe gesellt hatte. Einmal kannte er Göllmitz von einer Reportage über die Brammer Verkehrsbetriebe her, zweitens war Göllmitz Gunhilds Vater. 73
Buth war über die Zusammensetzung der Elterndelegation wenig erbaut, denn Kischnick war SPD-Mann und Göllmitz Beamter des einfachen Dienstes und als Vater dieser Tochter bestimmt linksorientiert, und damit war jeder vernünftige Proporz zum Teufel. Doch es zeigte sich, daß die Eltern trotz ihrer Erregung, trotz ihrer maßlosen Angst, richtig gewählt hatten, denn wenn Kischnick auf der rationalen Ebene schwer zu schlagen war, so traf dasselbe für Göllmitz, was das Emotionale anging, zu. „Ich finde es empörend, daß es den Verantwortlichen noch nicht gelungen ist, wenigstens die Geiseln freizubekommen, die langsam Kollapserscheinungen zeigen“, sagte Kischnick. „Sie leben doch von unseren Steuern und von unserer Arbeitskraft“, sagte Göllmitz und sah Buth, Lankenau und Kämena herausfordernd an. „Dann revanchiert euch mal, tut mal was für uns, bietet euch für unsere Kinder zum Tausch an! Plaggenmeyer würde sich bestimmt darüber freuen.“ „Diese Möglichkeit haben wir auch schon ins Auge gefaßt“, sagte der Mann von der Sondereinheit besänftigend. „Aber erst wollten wir abwarten, was wir mit Hilfe von Plaggenmeyers Mutter und mit Hilfe von Doktor Carpano erreichen können.“ Aber Kischnick stieß trotzdem nach. „In dieser Zeit ist täglich mit derartigen Aktionen zu rechnen. Warum hat man noch keine geeigneten Maßnahmen ergriffen, um … um …“, er ignorierte den warnend-flehentlichen Blick seines Parteifreundes Lankenau, „um so etwas unmöglich zu machen?“ Um Lankenau zu besänftigen, hackte er nun auf Kämena ein, der zwar parteilos war, aber mit Buth sympathisierte. „Und was Sie angeht, Herr Kämena – Sie hatten drei Wochen Zeit, den Mann zu finden, der Corinna Voges getötet hat. Und was ist dabei herausgekommen? Gar nichts!“ Langsam lief er zu großer 74
Form auf. „Dabei gibt es nicht eine Million möglicher Täter, nicht tausend, nicht mal hundert, sondern nur zwei. Ich wiederhole: zwei ! Und Sie waren nicht in der Lage, unter diesen beiden den richtigen herauszufinden. Eine grandiose Leistung! Die Sie noch übertrumpften, indem Sie Plaggenmeyer nicht mal beobachten ließen. Dabei hätte Ihnen jeder drittklassige Psychologe voraussagen können, daß Plaggenmeyer nach dem Scheitern Ihrer Bemühungen ein potentieller Amokläufer werden mußte. Aber nein, da läßt man Plaggenmeyer in aller Ruhe Bomben basteln!“ „Er hat ja auch keine Kinder, die da drinsitzen und vor Angst sterben!“ rief Göllmitz. „Ihm kann’s scheißegal sein, ob meine Tochter krepiert. Der kriegt ja sein Geld weiter, auch wenn hier alles in die Luft fliegt, seine zweieinhalbtausend im Monat. Der wird sogar noch befördert, der fällt noch die Treppe ’rauf, damit wir ihn hier los sind. So ist es doch! Hier ist doch alles korrupt, hier stinkt doch alles!“ „Meine Herren!“ mahnte der Spezialist von der GSG 9 und knöpfte seinen tiefgrünen Blouson noch weiter auf. Nach einjähriger Ausbildung mit einhundertsechsundvierzig Stunden Rechtskunde, über fünfzig Stunden Kriminalistik, einhundertneunzig Stunden Polizeischule, zweihundertzehn Stunden Schießtraining, einem Kursus in Ralleyfahrtechnik und einigen psychologischen Seminaren kam er sich vor wie ein Nationalspieler, der mit lauter Kreisklassenamateuren in einer Mannschaft spielen muß. Der einzige Profi hier, und der einzige Neutrale. „Unsere Prioritätenliste sieht folgendermaßen aus“, sagte er gelassen. „Erstens: Rettung der Geiseln. Zweitens: die Sicherheit der Beamten. Drittens: keine Gefährdung unbeteiligter Dritter. Viertens: Der Täter darf nicht mehr als nach den Umständen erforderlich geschädigt werden. Seine Tötung darf nicht Ziel unseres Einsatzes sein.“ Er machte eine kleine Pause, genoß, kräftig, gut ausse75
hend und durchtrainiert, wie er war, die leitende Rolle, die ihm zugefallen war. „Und darum, meine Herren, bleibt uns vorerst nur eines: abwarten und auf den Erfolg unserer Zermürbungstaktik bauen. Ich versichere Ihnen noch einmal: technische Mittel, Plaggenmeyer ohne Gefahr für die Geiseln auszuschalten, haben wir nicht. Ich habe aber einige Hoffnung, daß uns Doktor Carpano weiterhelfen wird, wenn er …“ Göllmitz blieb mißtrauisch. „Der müßte an sich schon längst hier sein. Der hätte doch die Pflicht, sofort zu kommen, moralisch gesehen. So schnell wie möglich! Da stimmt doch was nicht! Warum kommt er denn nicht?“
10 Uhr 41 bis 11 Uhr 15 Die Bühne blieb belebt, die grausige Show ging weiter, und wir alle hatten keinen Schauspielführer, in dem sich nachblättern ließ, wie sich der Autor das Ende vorgestellt hatte. Das hier war ein Stück, das eine ungerechte und unvollkommene Gesellschaft zwar vorbereitet hatte, das die beteiligten Akteure jedoch allein zu Ende schreiben mußten. Zu einem blutigen Ende? Das hing wohl von den Instruktionen ab, die die einzelnen noch erhielten oder längst erhalten hatten. All the world’s a stage, heißt es bei Shakespeare in „Wie es euch gefällt“, und weiter: And all the men and women merely players … Und Shakespearesche Dimensionen konnte auch das Drama von Bramme annehmen. Wir hatten zwei Verletzte, Hackbarth und Jentschurek, zwei Tote, Bleckwehl und Corinna Voges, und dreiundzwanzig Todeskandidaten: zweiundzwanzig Schüler – und Plaggenmeyer. „Das wirklich Erregende an dieser Sache ist gar nicht 76
so sehr die Tat dieses Plaggenmeyers“, sagte Corzelius, „sondern die Tatsache, daß die anderen Plaggenmeyers, die es in diesem Lande gibt, diese Hunderttausende, die zu kurz gekommen sind, so was nicht tun. Das ist das Phänomen!“ „Und Sie meinen, da sollten Sie nachhelfen?“ „Eine Aneinanderreihung von hunderttausend privater Aktionen solcher Art ergibt noch keine Revolution.“ „Und nach der Revolution gibt es keine Plaggenmeyers mehr?“ „Nein.“ „Ihr Wort in Marxens Ohr!“ „Sie sind doch älter, als ich dachte.“ „Und Sie jünger, als Sie denken.“ „Schön, so ’n geistreiches Geplänkel, während die armen Schweine da drinnen jeden Augenblick sterben können.“ „Schön, so ’n geistreicher Corzelius, der nachher seinen ungemein linken Artikel über die faschistoiden Strukturen von Bramme in die elektrische Schreibmaschine tippt, wo Lankenau mit seinen sozialdemokratischen Kanalarbeitern und Buth mit seiner christdemokratischen Unternehmermafia die Leute fest im Würgegriff haben, während sich die Milliarden Menschen in über hundert Ländern nichts sehnlicher wünschen, als so zu leben, wie die Leute hier in Bramme.“ „Aha, von daher weht der Wind: dann stimmt es also doch, daß Sie in Bramme sind, um eventuell Chefredakteur vom Tageblatt zu werden.“ „Alle Achtung. Sie sind wirklich ein journalistisches Talent.“ „Na – in Bramme haben eben die Betten Ohren.“ „Haben Sie mit Buth geschlafen?“ „Nein, aber mit seiner Sekretärin gewacht. Sie wohnt bei mir im Haus, und ihr Sohn hatte fast vierzig Fieber. Ihr Mann ist Geologe und sucht irgendwo in Anatolien 77
Kohle, und da wollte sie nicht alleine die Verantwortung und so …“ „Nur wenn Buth verkauft …“ „Wird er wohl. Nach dem mysteriösen Selbstmord seines Chefredakteurs weiß ja nun jeder, daß das Tageblatt immer mehr seine Werkzeitung geworden ist, da ist einiges an schmutziger Wäsche gewaschen worden. Darum wird Buth jetzt wohl an eine liberal-pluralistische Gruppe verkaufen und sehen, daß er über ein paar Strohmänner und über seine Anzeigen Einfluß auf die Brammer Nachrichten gewinnt, unsere große Konkurrenz.“ „Bramme reizt mich, ich würd’s gern mal ein paar Jahre ruhiger angehen lassen und mein Buch über Urukagina zu Ende schreiben.“ „Urukagina, wer ist denn das?“ „Vielleicht der erste Frühsozialist und Sozialreformer, den wir hatten. Um zweitausendvierhundert vor Christi hat er sechs Jahre lang den sumerischen Staat Lagasch regiert, ehe er von den benachbarten Sklavenhalterstaaten gestürzt wurde.“ „Hervorragend, Herr Chefredakteur, ganz hervorragend!“ „Ich weiß zwar mehr über die Sumerer, aber Sie mehr über die Brammer. Im Augenblick haben wir ja eine kleine Verschnaufpause hier …“ „Die Ruhe vor dem Sturm. Warten Sie mal, bis Carpano und Plaggenmeyers Mutter hier sind …“ „Tue ich ja! Inzwischen könnten Sie mir mal was über Corinna erzählen. Was war das für ’n Mädchen?“ „Ich hab ’ne Taschenflasche Doppelkorn mit. Wollen Sie ’n Schluck?“ „Ich will sogar zwei.“ Wir tranken. „Ja …“, begann Corzelius. „Corinna … Warten Sie, ich hab hier ein Bild von Gunhild, aus unserem Archiv, bei ’ner Demonstration vorneweg …“ 78
„Früher hatte man ’n Bild von seinem Mädchen, wie’s auf der Schaukel oder auf ’ner Wiese saß, aber heute …“ „Da ist Corinna mit drauf. Hier …“ Ich sah Corinna – und verstand die Welt nicht mehr. Eine Schönheit war sie weiß Gott nicht gewesen. Vielleicht war’s auch nur der Kontrast zu Gunhild, aber Corinna sah aus, als käme sie gerade vom Melken: derb war sie, grobschlächtig fast, mit einem richtigen Zinken und mehr Pickeln im Gesicht als normalerweise Streusel auf ’nem Bäckerkuchen. Corzelius mußte meine Gedanken erraten haben. „Sie gehen immer nur von Ihren Illustriertenmaßstäben aus. Da baut ihr ein weibliches Schönheitsideal auf, dem höchstens zehn Prozent unserer Frauen entsprechen. Und die anderen neunzig Prozent gelten dann auf dem großen Markt als minderwertige Ware und können dann von ihren Männern um so leichter unterdrückt werden, weil sie froh sein müssen, überhaupt von jemand gekauft worden zu sein. Hier in Bramme beispielsweise ist ein Mädchen, das sitzenbleibt, immer noch erledigt“ „Sie haben ja recht – ich frage mich bloß, warum Sie da so scharf auf Gunhild sind und nicht mal das Trampel erlösen, das bei mir im Hotel die Kartoffeln schält?“ „Ich bin eben auch falsch programmiert worden.“ „Ach so.“ „Aber ernsthaft: Corinna war eine Seele von Mensch. Das hab ich von Gunhild und von den vielen anderen, mit denen ich nach dem Unfall, nach dem Mord, wenn Sie wollen, gesprochen habe. Elternhaus ganz vernünftig, nach der Schule hat sie als Lehrling bei Buth angefangen, im Büro. Nach der Lehre hat sie ’ne Weile in der Buchhaltung gearbeitet und dann wohl wegen ihrer politischen Aktivitäten Ärger bekommen. Über den zweiten Bildungsweg und ein kurzes Studium in Berlin hat sie’s dann bis zur Diplom-Bibliothekarin gebracht. Bücher waren immer ihre große Leidenschaft. Unsere Stadtbü79
cherei hier hat sie jedenfalls mächtig auf Vordermann gebracht.“ „Und was war mit Männern?“ „Ich glaube, Plaggenmeyer war der erste in ihrem Leben.“ „Ah …“ „Das Sexuelle war dabei sicherlich nicht das Primäre. Sie brauchte einfach einen Menschen, an den sie sich klammern konnte. Und jemand, den man aus dem Sumpf zieht, der umklammert einen am heftigsten, den kann man selber, ohne sich bloßzustellen, mit aller Kraft festhalten. Also Plaggenmeyer! Der kam gerade aus der Jugendstrafanstalt – die Brandstiftung auf dem Werksgelände der Buth KG. Gunhild hatte ihn irgendwo aufgelesen, im Schwimmbad wohl, und den Kontakt zwischen beiden hergestellt. Es war direkt rührend. Die beiden sind aufgeblüht … Corinna war zu dieser Zeit schon viel hübscher, in ihrer Art hübsch. Das Bild da täuscht, das ist schon vorher aufgenommen worden. Bei den Straßenbahnunruhen wohl oder noch später – ich weiß nicht mehr. Jedenfalls vor ihrer Bekanntschaft. Sie hatte endlich jemand gefunden, den sie bemuttern konnte, dem sie helfen konnte. Das Ganze war auch politisch motiviert, klar: ihr Missionseifer. Nicht bloß immer Resolutionen ans Weiße Haus, den Negern auch faktisch die Bürgerrechte zu gewähren, sondern mal selber einem Mischling helfen, der total entwurzelt war. Im Jargon Ihrer schönen Illustrierten: Das Leben dieser beiden Menschen hatte wieder einen Sinn bekommen.“ Wenn ich so viel Gutes über einen Menschen höre, werde ich automatisch von einer gewissen Skepsis gepackt: „Und ihren politischen Freunden hat sie kein bißchen damit imponieren wollen, was sie für ’n feiner Kerl, was sie für ’n Vorbild war?“ „Das mag auch mit eine Rolle gespielt haben, aber nur sekundär. Und ich würde das auch für legitim halten.“ 80
Ich nickte. „Das wäre das eine. Das andere: Ich kann mir noch kein rechtes Bild von den Primanern machen, die da in der Klasse sitzen.“ „Die einzelnen Lebensläufe kenne ich natürlich auch nicht“, sagte Corzelius, „auf so was war man ja nicht vorbereitet. Wenn das Schlimmste eintritt, werden wir … Ach, jetzt fang ich auch schon an! Was ich sagen wollte: Ich hab aber hier die Namen der dreiundzwanzig Schüler und ihre Berufsvorstellungen. Vorigen Monat war ich mal in der Klasse und hab sie befragt. Das tun wir immer einige Zeit vor dem Abitur, damit sich dann später, wenn’s überstanden ist, jeder mit seinem Namen auf der Lokalseite wiederfindet. Das ist ein halber Staatsakt hier. Warten Sie, ich habe den Zettel vorhin eingesteckt, als ich hörte, daß Plaggenmeyer ausgerechnet in der Dreizehn a … Hier!“ „Danke.“ Ich nahm den Zettel. „Ist überhaupt jemand dabei, der nicht zur Uni will?“ „Höchstens zwei.“ „Dann sollte man Plaggenmeyer ’n Orden verleihen – da tut endlich mal einer was, das Problem des Numerus clausus zu lösen …“ „Ihr Zynismus kotzt mich langsam an.“ „Mich auch.“ Ich überflog die Notizen. Annemarie Achtermeyer (Ärztin), Alf Awelsberg (ohne Angabe), Elke Addicks (Jugendrichterin), Dörte Blumenröder (Lehrerin), Reinhard van Beren (Diplom-Mathematiker), Dirk Delventhal (Studienrat), Heidrun Eilers (Diplom-Bibliothekarin), Hans-Gerd Füllmich (Verwaltungsinspektor), Hanno Geffken (Tierarzt), Gunhild Göllmitz (Journalistin), Hans-Henning Hackbarth (Zahnarzt), Carsten Harms (Zahnarzt), Hellfried Hoyer (Maschinenbau-Ingenieur), Immo Kischnick (Staatsanwalt), Volker Klüsing (Jurist), Gerhard Kück (Apotheker), Irene Küper (Studienrätin), Jörn Lehmkuhl (Arzt), Hinrich 81
Mindermann (Betriebswirt), Harjo Noor (ohne Angabe), Marietta Oltmanns (Lehrerin), Antje Pestrup (Dolmetscherin), Friedmar Scherloh (Industriekaufmann). Die Honoratioren der Stadt Bramme von 1985 bis 2030. Kein Einstein dabei, aber ein Stein und noch ein Stein, um eine Gemeinde wie Bramme weiter auszubauen. Oder? „Mit denen hätte Plaggenmeyer allemal mithalten können“, sagte Corzelius. „Der wäre ein prima Englischlehrer geworden, wenn ihn unsere Gesellschaft nicht so versaut hätte.“ „Die zweiundzwanzig, die er da festhält, können doch nichts dafür.“ „Vielleicht nicht, vielleicht aber doch. Wahrscheinlich verteilt sich die Schuld wie ein Tropfen Tinte im Brammer Meer. Und da es niemand hier gibt, dem er die Schuld an seinem Elend eindeutig zurechnen kann, da hat er per Zufall ein paar von uns herausgegriffen und gesagt: ihr hier in der Dreizehn a – ihr für alle! Was sollte er auch anders tun? Jedem hier in Bramme nacheinander ein paar Zähne ausschlagen?“ Ich konnte ihm nichts mehr erwidern, denn in diesem Augenblick tauchte zu unser aller Überraschung Dr. Jentschurek hinter einem der Sanitätswagen auf. Das Klischee von der geschwellten Brust war mir natürlich bekannt, aber hier bekam ich zum erstenmal vorgeführt, wie so etwas aussah. Jentschurek fühlte sich zweifellos als der Held des Tages. „Hätte ich Hackbarth nicht zurückgerissen, wäre es unvermeidlich zur Katastrophe gekommen. So was Törichtes!“ Stolz schlug er sein Jackett zurück, Ober- und Unterhemd aus der Hose, und zeigte seine bepflasterte Hüfte. „Bloß gut, daß Plaggenmeyer ihn nicht in den Arsch getroffen hat“, brummte Corzelius. „So ist uns wenigstens dieser Anblick erspart geblieben.“ 82
„Vielleicht hat er wirklich das Schlimmste verhindert …“ „Der? Der hat von neunzehnhundertdreiunddreißig an zwölf Jahre lang das Allerschlimmste mitverschuldet und hat bis heute nicht daraus gelernt. Wenn man den so reden hört, kann einen das kalte Grausen ankommen.“ „Narrenfreiheit ist auch ein Teil unserer Freiheit.“ „Und Buth ermuntert ihn noch insgeheim.“ „Buth …?“ „Ganz richtig. Buth ist kein Nazi, bei Gott nicht, aber er braucht Jentschurek, um sich nach rechts abzugrenzen. Der ist ein wahres Gottesgeschenk für Buth: da steht er als Mann der gesunden Mitte und schießt mal nach links gegen die Jusos und mal nach rechts gegen Jentschurek. Nachdem er durch seine Strohmänner die Radikalsten beider Seiten noch gefördert hat. Feine Methoden, muß ich sagen.“ „Jedenfalls hat Jentschurek heute seinen großen Tag. Das hat Plaggenmeyer bestimmt nicht beabsichtigt …“ Corzelius konnte sich nur schwer beherrschen. „Man muß Plaggenmeyer direkt dankbar sein, daß er die Nerven behalten und nicht auf den Auslöser gedrückt hat. Das wäre ohne weiteres drin gewesen.“ Jentschurek stand keine drei Meter von uns entfernt und redete auf Buth, Kämena, Lankenau und den Sondergruppen-Menschen ein. „Ich hab ja immer gesagt – hätten wir einen vernünftigen Arbeitsdienst, wo man die Jungens fest anpackt und ihnen ein klares Ziel vor Augen führt, dann würden uns Szenen wie diese erspart bleiben. In meiner Eigenschaft als Klassenlehrer der Dreizehn a plädiere ich mit allem Nachdruck dafür, daß hier schnell und mit der notwendigen Härte durchgegriffen wird. Ein guter Schütze mit einem Zielfernrohr und einem Präzisionsgewehr oben im Kirchturm – und das Problem ist binnen einer Sekunde erledigt!“ Die Zustimmung der umstehenden Väter und Mütter bestärkte ihn noch. „Haben wir nun eine Demokratie oder nicht? Lassen Sie doch 83
mal abstimmen, Herr Bürgermeister, fragen Sie doch mal diejenigen, die am meisten betroffen sind.“ „In diesem Staat ist die Todesstrafe Gott sei Dank abgeschafft!“ rief Lankenau und ließ zum erstenmal an diesem Morgen den biederen Funktionär vergessen. „Und wenn wir sie hätten“, fügte Buth hinzu, „dann hätte nicht irgendein Polizist, sondern ein ordentliches Gericht das Todesurteil zu fällen.“ „Außerdem“, wiederholte der Mann von der GSG 9, „wäre von hundert Schüssen vielleicht einer so präzise, daß Plaggenmeyer nicht mehr dazu käme, seine Bombe zu zünden.“ „Da kann ich Sie nur bedauern“, rief Jentschurek. „Das hätte früher der schlechteste Schütze meiner Kompanie geschafft.“ Er sah beifallheischend in die Runde. „Obwohl die Ärzte mich ins Bett packen wollten, bin ich hierhergekommen. Ich werde es nicht zulassen, daß so ein hergelaufener dreckiger Lump zweiundzwanzig der mir anvertrauten jungen Menschen in die Luft sprengt, ohne daß jemand auch nur den Versuch unternimmt, sie zu retten.“ Die Mehrzahl der Eltern war voll und ganz auf Jentschureks Seite. „Herr Doktor Jentschurek hat recht!“ „Wenn Plaggenmeyer nicht aufgibt, muß er abgeknallt werden.“ „Ein Bürgermeister, der keinen Mut zur Entscheidung hat, soll abtreten.“ Ich kochte langsam, Corzelius auch. „Ich habe meine Pflicht getan, meine Herren!“ rief Jentschurek pathetisch. „Tun Sie die Ihre!“ „Das tu ich auch!“ schrie Corzelius und packte Jentschurek, um ihn vom Schulhof zu schleppen. Im Nu und ehe die umstehenden Polizisten geschaltet hatten, war Corzelius von aufgebrachten Männern und Frauen umringt. 84
Wer weiß, was passiert wäre, wenn nicht in diesem Augenblick Carpano auf dem Schulhof erschienen wäre. Da stand er: Dr. med. Ralph Maria Carpano. Wie aus einem Illustrierten-Roman. In makellos weißem Kittel, den er – bestimmt nicht aus Versehen – in der Eile abzulegen vergessen hatte; der vielbeschäftigte und gehetzte Mediziner. Es waren zwei Gegner, wie man sie sich extremer nicht vorstellen konnte: Hier der elegante, gutaussehende Wohltäter der Menschheit, dazu noch mit einem typischen HÖRZU-Namen behaftet – und auf der anderen Seite ein Mischling und Heimkind. Es war wirklich nicht fair. Und wie Carpano jetzt dastand, etwas verlegen lächelnd, flutete ihm eine Welle von Sympathie entgegen. Die Leute mochten den Mann. Ich verstand das alles nicht. Bislang war Bleckwehls Tod noch ein völliges Rätsel. Niemand wußte, ob es ein Unfall oder Selbstmord gewesen war, und auch in letzterem Fall mußte das kein Schuldbekenntnis sein. Ein Geständnis war jedenfalls nicht gefunden worden. Mit anderen Worten: Carpano konnte ebenso am Tod des Mädchens und Plaggenmeyers Amoklauf schuld sein wie der Autohändler aus Brake – warum klatschten sie da gleichsam hörbaren Beifall, als der Chefarzt des Brammer Kreiskrankenhauses in ihrer Mitte erschien? War es Carpanos besondere Ausstrahlungskraft, oder war es die generelle Ehrfurcht vor dem Magier im weißen Kittel? Ein Fall für Para- und Sozialpsychologen, für Ethnologen, Philosophen, Soziologen? Es war viel einfacher. Corzelius, der sich inzwischen von den empörten und durch Carpano glücklicherweise abgelenkten Eltern frei gemacht hatte, klärte mich auf, als ich ihn auf dieses Phänomen hin ansprach. „Sie haben doch sicher von dem Strahlenunglück im Frühjahr neunzehnhunderteinundsiebzig in Hamburg gelesen …“ 85
„Ja“, sagte ich, obwohl ich keinerlei Zusammenhänge sah. „Staatliches Krankenhaus Sankt Georg, siebenundzwanzig Tote, Überbestrahlung mit einem defekten Betatron-Gerät …“ „Zwar nur neunzehn Tote und acht Personen, die schwere Verbrennungen und Lähmungen davongetragen haben, aber sonst stimmt’s.“ „Und was hat das mit Carpano zu tun?“ „Im Strahlenbunker des Brammer Kreiskrankenhauses haben wir auch ein Betatron-Gerät.“ „Also …“ „Aber nur ein Todesopfer.“ „Das kann ja nur heißen, daß …“ „Ja, als im Krankenhaus der erste Krebspatient an einem Herzversagen starb, hat Carpano sofort auf eine zu starke Strahlendosis getippt – ohne daß zu der Zeit schon was von dem Unglück in Hamburg oder der Panne in der Gießener Universitätsklinik bekannt gewesen wäre. Zusammen mit dem Bedienungspersonal ist er recht schnell daraufgekommen, daß sich ein Filterplättchen aus der Folienkette des Gerätes gelöst hatte.“ Das war zweifellos ein Verdienst, das Achtung und Anerkennung verdiente. „Er hat mit Sicherheit zwei Dutzend Brammer Bürgern das Leben gerettet. Unsere Überschrift, als die Sache zugleich mit der Katastrophe in Hamburg bekannt wurde: Der Retter von Bramme. Und das ist der Grund, warum die Leute Carpano verehren.“ Das war einleuchtend. Carpano räusperte sich und ergriff das Megaphon. „Hören Sie, Bert, ich bedaure den Tod Ihrer Braut aus ganzem Herzen. Ich habe sie kennengelernt, als sie mit einer Lungenentzündung bei uns gelegen hat. Ein wirklich nettes Mädchen, und ich kann Ihren Schmerz vollauf verstehen. Trotzdem dürfen Sie …“ 86
„Waren Sie es, oder waren Sie’s nicht?“ schrie Plaggenmeyer zurück. Seine Stimme klang schrill und überschlug sich beinahe. Er hatte es auch wesentlich schwerer als die Männer auf dem Hof. Man hätte ihm ebenfalls ein Megaphon geben sollen oder ein Mikrofon und einen Lautsprecher. „Bert, wollen wir das alles noch einmal erörtern? Sie wissen doch, die Polizei hat meinen Wagen untersucht und keine Schramme daran gefunden. Genügt Ihnen das nicht als Beweis?“ „Sie haben aber kein Alibi!“ „Auch das habe ich der Polizei mitgeteilt. Ich war zu Hause. Sind Sie abends noch nie allein bei sich zu Hause gewesen?“ „Hier geht’s nicht um mich, hier geht’s um Sie!“ Carpano tat nun etwas psychologisch sehr Richtiges; er legte das Megaphon beiseite. „Bert“, schrie er, „so können wir nicht miteinander reden, ich komme ans Fenster.“ Er machte Anstalten, über die aufgeschichteten Sandsäcke zu steigen. „Bist du verrückt!“ Buth versuchte ihn zurückzuziehen. „Der knallt dich glatt ab.“ Auch Kämena wollte ihn zurückhalten. „Wenn er den Sprengsatz bei Bleckwehl gelegt hat, dann … dann laufen Sie jetzt ins offene Messer …“ „Loslassen!“ herrschte Carpano ihn an. „Ich weiß, was ich tue. Es ist die einzige Chance, die wir haben: seine emotionelle Isolierung durchbrechen, ihn nicht allein lassen, ihm helfen.“ Und er ging tatsächlich auf das Fenster zu, blieb kurz vor der Brüstung stehen. „Bert, so seien Sie doch vernünftig. Sie machen sich nur unglücklich.“ „Waren Sie’s?“ „Nein.“ „Sie lügen.“ „Ich begreife es nicht, Bert. Warum trauen Sie mir zu, 87
Corinna überfahren zu haben, Herrn Bleckwehl aber nicht?“ „Weil Sie viel mehr zu verlieren haben als Herr Bleckwehl.“ „Aber Bleckwehl hat Selbstmord begangen – nicht ich!“ „Steht es fest, daß es Selbstmord war? Ich glaube, es war ein Unfall.“ „Bleckwehl war seit dreißig Jahren in der Branche tätig, der war viel zu vorsichtig.“ „Warum hat er keinen Abschiedsbrief geschrieben mit seinem Geständnis, wenn’s wirklich ein Selbstmord gewesen ist?“ „Der wird bestimmt noch gefunden werden.“ „So was versteckt einer doch nicht. Das legt man hin, wo’s jeder gleich sieht. Nee, ich glaube nicht an den Selbstmord. Außerdem war mir so, als hätte ich Sie in dem Wagen erkannt.“ „Bei dem Nebel?“ „Ich hatte so das Gefühl …“ „Gefühl – ich bitte Sie, Bert. Darf ich Sie noch mal auf meinen völlig intakten Wagen hinweisen …“ „Ich weiß nicht, wie Sie das gedreht haben, aber Sie waren es!“ „Warum hassen Sie mich eigentlich so? Hab’ ich Ihnen jemals was getan?“ „Sie haben Corinna totgefahren!“ „Mein Gott, Bert, so kommen wir doch nicht weiter!“ „Kommen wir auch nicht.“ Plaggenmeyer dachte einen Augenblick lang nach. „Ich geb Ihnen zehn Minuten Zeit zu gestehen, sonst sterben wir hier alle. Und das geht dann auf Ihr Konto.“ „Sie sind ja wahnsinnig, das können Sie doch nicht machen.“ „Zehn Minuten – ich sehe auf die Uhr.“ Carpano drehte sich um und kam eilig zu uns hinter die Brüstung zurück. Er sah ein wenig blaß und abge88
kämpft aus, erinnerte mich aber an einen Boxer, der nach einer unentschiedenen ersten Runde zu seinem Trainer in die Ecke zurückkehrt. Buth sah ihn an. „Nichts zu machen?“ „Der Mann hat eine fixe Idee.“ „Meint er’s wirklich ernst?“ fragte Kämena. „Ich fürchte, ja.“ „Sollten wir ihm noch mal die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung des Wagens vorlegen?“ fragte Kämena. „Das wird ihn nicht im mindesten beeindrucken. Sein Gefühl sagt ihm, daß ich’s gewesen bin.“ Carpano zog ein seidenes Taschentuch aus der Gesäßtasche seiner hellgrauen Hose und wischte sich die Stirn ab. „Da hilft nur eins“, sagte Buth. Carpano sah ihn an. „Und das wäre?“ „Du legst ein Geständnis ab.“ „Bist du …“ „Zum Schein, um ihn rauszulocken, um die Kinder zu retten.“ Anscheinend hatten sie sich in seiner Abwesenheit darüber unterhalten, denn Kämena sagte sofort: „Das hat natürlich keinerlei juristische Folgen für Sie.“ „Ich soll selber Rufmord begehen?“ stieß Carpano hervor. „Das können Sie nicht von mir verlangen. Da bleibt doch immer was hängen.“ „Wir können alle bezeugen, daß Sie’s nur aus altruistischen Motiven getan haben“, sagte Corzelius. Carpano sah zu Boden. Die Eltern der bedrohten Schüler, die in zwei dicht geschlossenen Ringen unsere kleine Gruppe umstanden, redeten auf Carpano ein. „Bitte, Herr Doktor, tun Sie es!“ „Sie sind der einzige, der uns noch helfen kann.“ „Sie haben doch keinen Nachteil davon, wir legen doch alle unsere Hand für Sie ins Feuer.“ „Niemand glaubt doch ernsthaft, daß Sie … Wenn 89
Plaggenmeyer erst Handschellen um hat, ist doch alles nichtig.“ „Wir unterschreiben alle eine Ehrenerklärung für Sie.“ „Meine einzige Tochter … Die andere hab ich letztes Jahr verloren … Ich flehe Sie an …!“ „Von Ihnen hängt jetzt alles ab.“ „Es kostet Sie doch nichts. Hauptsache, er glaubt es.“ „Sie müssen!“ „Sie sind der einzige!“ Carpano ließ sich von Buth eine Zigarette geben. An der Art, wie er rauchte, war zu erkennen, daß es die erste seit langer Zeit war. „Ich kann doch nicht in aller Öffentlichkeit etwas bekennen, was ich gar nicht getan habe“, wehrte er ab. Buth fixierte ihn. „Tu es. Es wird dir den Dank der gesamten Bevölkerung einbringen.“ „Na gut“, sagte Carpano resigniert. „Wenn sich schon einer opfern muß.“ Die Gesichter der Eltern hellten sich auf. Sie schöpften wieder Hoffnung. Hoffnung nach drei Stunden auswegloser Angst. Das Schicksal ihrer Kinder und damit ihr Schicksal lag in den Händen dieses Mannes. Carpano trat seine Zigarette aus und nahm das Megaphon. Er war völlig ruhig, kein Schweiß auf der Stirn, kein Zittern der Hände. Kein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Bronzeguß. „Hallo, Bert!?“ „Ja …?“ „Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen …“ „Ich weiß“, schrie Plaggenmeyer aus dem Klassenraum, „Sie sind eben mit Herrn Buth und Herrn Kämena übereingekommen, so zum Schein ein Geständnis abzulegen, um mich aus meiner Festung zu locken. Nee, nicht mit mir!“ Totenstille. Entsetzen. 90
War das der dümmliche Plaggenmeyer, der Sahnebonschen, der bei Buth tagaus, tagein die Bretter übereinanderstapelte und den Arbeitern die Brötchen holte? War das der Herbert Plaggenmeyer, dessen Mutter Prostituierte und dessen Vater Baumwollpflücker war? War das der Nigger, der die Intelligenz eines Zwölfjährigen haben sollte? Unmöglich! Für die Mehrzahl der Anwesenden schon, für mich nicht. Wenn ich aus den Informationen, die ich von Corzelius bekommen hatte, die richtigen Schlüsse zog, dann war Plaggenmeyer durch seine Kontakte zu Corinna und vor allem zu Gunhild in den letzten Monaten gleichsam zum zweitenmal geboren worden. Der Wurm hatte sich nicht zertreten lassen. Carpano hatte inzwischen seine Fassung wiedergewonnen. „Was schlagen Sie vor?“ „Ein Geständnis nutzt mir nichts“, schrie Plaggenmeyer zurück. „Ich brauche hieb- und stichfeste Beweise, daß Sie’s gewesen sind. Beweise, die später vor Gericht auch noch Geltung haben.“ „Der ist ja direkt clever geworden“, flüsterte Corzelius mir zu. „Diese Beweise gibt es nicht“, sagte Carpano. „Da ich die Tat nicht begangen habe, könnte ich sie auch nur fälschen.“ Plaggenmeyer schwieg zehn, zwanzig Sekunden lang, offensichtlich stark verunsichert. „Dann sorgen Sie wenigstens dafür, daß Bleckwehls Schuld eindeutig nachgewiesen wird.“ Eine überraschende Wende. Ein Flüstern ging durch die Menge. „Bitte“, sagte der Mann von der GSG, „langsam wird er weich.“ Der Triumph, der in seinen Worten mitschwang, mißfiel mir zwar, aber ich mußte ihm recht geben. Plaggen91
meyer machte ganz offensichtlich den Versuch, sich eine psychologische Auffangstellung zu errichten. Zwar schien er seinen Rückzug noch einmal stoppen zu wollen, indem er schrie: „Ich gebe euch noch eine Stunde Zeit – dann kracht es hier!“, aber diese Worte waren sicherlich nur dazu da, seine Niederlage zu kaschieren. Alle, die hier standen, hatten begriffen. Laßt mich mein Gesicht behalten, gestattet mir sozusagen einen ehrenvollen Rückzug – und ich laß eure Kinder am Leben! „Jetzt denkt er nicht mehr an Corinna, jetzt denkt er an sich selber“, sagte Corzelius. „Er will nicht mit draufgehen, er will leben. Und wenn es zehn Jahre in Fuhlsbüttel sind: aber leben. Im Grunde hat er schon kapituliert, jetzt versucht er nur noch die günstigsten Bedingungen herauszuschlagen.“ Ja, soweit war die Sache klar. Feuerpause, Waffenstillstand, Kriegsende, Friedensvertrag. Das gute Ende war jetzt programmiert. Bramme konnte zum erstenmal an diesem Morgen wieder aufatmen.
11 Uhr 15 bis 11 Uhr 35 Diesen Brief, den Helmut Göllmitz mir aus dem Brammer Untersuchungsgefängnis schrieb, erhielt ich, als die dramatischen Ereignisse jenes Tages schon zwei Wochen hinter uns allen lagen. Da er Dinge erklärt, die ich damals nicht wissen konnte, die parallel zu den Geschehnissen abliefen, um dann einem gefährlichen Höhepunkt zuzustreben, füge ich Teile dieses Briefes bei, die sich in die jeweiligen Zeitspannen einfügen: Sehr geehrter Herr! Herzlich danke ich für die Überweisung von dem Geld 92
an meine Frau, die es dringend braucht. Warum soll ich Ihnen nicht helfen, damit Sie mit die Reportage voran kommen über Bramme und den Schrecken hier. Ich schreibe also über die Zeiten, worüber Sie Auskunft erlangen wollten, was ich zu dieser Zeit tat. Sonst hat meine Frau immer den Schreibkram besorgt, aber hier im Untersuchungsgefängnis bin ich froh, das ich was tun kann. Mit dem deutschen hapert es bei mir, aber was braucht ein Busfahrer das. Ich fahre sonst immer die Linie 23, die geht vom ZOB nach Uppkamp raus. Ich schaff das in 32 Min., wenn das mit die Ampeln gutgeht. Seid 1951 bin ich da. Ich komm ja aus Fürstenwalde, geboren am 24. 3. 1930 als Sohn des Binnenschiffers Gottfried Göllmitz und seiner Ehefrau Bertha geb. Ferch. Meine Frau hab ich in West-Berlin kennengelernt, als sie mit ihre Klassenfahrt zur Besichtigung da war. 1954 schenkte sie mir unsere Tochter Gunhild. Weitere Kinder haben wir uns versagt. Ich habe keine Schulausbildung genoßen, weil das auf dem Motorschiff nicht ging. Wir sind immer zwischen der Tschechoslowakei gependelt und Hamburg. Wenn Zeit war bin ich in Fürstenwalde bei meiner Oma zur Schule gegangen. Ich mußte immer hart rann. Auf dem Motorschiff gab es immer Arbeit. In den Städten mußte ich einholen an Land gehen. Nach dem Krieg war unser Motorschiff, die „Bertha III“ verschwunden und meine Eltern siedelten mit mir um nach Berlin, wo ich dann zur Schule ging und Fernfahrer wurde. So konnte ich denn in Bramme bei der Stadt unterkommen. Das will ich nur voraus schicken für das, was ich getan habe. Gunhild war mein ein und alles und sollte es mal besser haben als ihr Vater. Sie hätten mal sehen müßen, was die Gunhild alles gelesen hat. Alles voller Bücher! Die wollte auch immer Jurnalistin werden und Bücher schreiben wie es so mit uns steht. Sie wollte auch immer nach Stockholm rauf und von da oben berichten weil ihre Großeltern, also was die Eltern 93
von meiner Frau sind, aus Schweden sind. Dafür habe ich gelebt, original! In die Politik wollte sie auch und ich wollte immer mit sein bei ihre Wahlkämpfe. Ich wäre ihr dann zur Seite gesprungen, denn mit dem Mund bin ich immer vorneweg. Das ist ja nun vorbei. Aber ich soll ja schreiben, wie alles so gekommen ist. Ich habe das schreckliche erfahren um halb neun am ZOB als ich gerade wendete und einer von meine Kollegen mir zurief: „Du, Helmut, da sitzt ein Irrer in der Klasse, wo deine Tochter drin ist und will die in die Luft sprengen!“ Mir blieb die Luft weg und unser Fahrmeister mußte mich stützen. Ich kippe zwei Klare und dann sind wir hin. Im Krieg war ich schon alt genug gewesen und hab da schon alles mit gekriegt, aber das hat mich doch erschüttert so mitten im Frieden. Das waren ja nur noch ein paar Monate bis zum Abi. Meine Gunhild dabei! Mein Gott sage ich zu unserm Fahrmeister, warum gerade sie. Dafür hab ich nun Jahre lang geschuftet wie ein Pferd und meine Frau auch. Müssen Sie sich mal vorstellen!! Am Schlimmsten war das Rumstehen. Alle standen rum und machten nichts. Da hieß es nur wir müßen ihn zermürben. Diesen halben Hahn von Plaggenmeyer. Die haben nichts unter nommen. Von unsere Steuergelder in Saus und Braus leben, das können sie, aber wenn es mal Hart auf Hart kommt stehen sie hilflos da. Das schreiben Sie ruhig mal, Herr! Unfähig sind die doch!! Ich bin ja blos ein kleiner Mann und nicht studiert auf sowas, aber mir ist wenigstens was eingefallen. Aber immer der Reihe nach, wie man so sagt. Wir Eltern kannten ja die Leute von dieser Polizei, die war ja nicht dazu zu bringen was zu unternehmen. Da hab ich mir selber Gedanken gemacht. Bleckwehl war ja nun angeblich tot aber Plaggenmeyer interesierte sich ja wohl mehr für Dr. Carpano. Aber am Liebsten hätte er es wohl, wenn beide tod waren. Müssen Sie doch zugeben, Herr …! Da ging er auf Nummersicher, wenn der Todesfall an 94
seine Braut nicht mehr aufzuklären ging. Ich hatte eine Idee, ja. Meine Frau sagt immer, wenn du eine andere Schulbildung gehabt hättst, sagt sie dann. Aus mir wäre was weiß ich geworden!! Die Erbmasse ist ja da sagt sie, sieh mal Gunhild an. Aber da schweife ich wohl in die Feme ab. Ich habe ja sehr viel gelesen von Gunhilds Büchern auch. Da bleibt immer was hängen von. Aber daß steht ja auf einem andern Blatte. Jedenfalls hab ich plötzlich an Heiko Füllmich gedacht, der ist bei uns in der Schützenbruderschaft Hansa Bramme 2. Präsident, woher ich ihn kenne. Aber Sie müssen ihn auch kennen, weil er im hauptberuflich angaschiert ist am Stadttheater hier. Er spielt immer Herren aus gutem Hause, die im Leben was vor stellen, so Ärtzte, Unternehmer und Rechtsanwelte. Heiko hat eine Ähnlichkeit mit Herrn Dr. Carpano, daß man denken tut, daß sind beide zwei Brüder. Nun kann doch dachte ich mir, Heiko als Dr. Carpano hergerichtet werden, dazu haben die doch das Theater mit dem Maskenanfertiger da. Und eine Plastiktüte mit Hühnerblut die tun wir ihm unters Hemd. Dann geht er auf den Schulhof und spielt Herrn Dr. Carpano. Das kann er bestimmt von Berufswegen. Ich war ganz wild auf meine Ideh. Also so war das gedacht: Ich renne auf Heiko zu, den alle für Herrn Dr. Carpano halten vor allem Plaggenmeyer. Ich schrei gleich: „Eh meine Tochter stirbt, da stirbst du!“ Wie im Film so, original. Ich hab ein Theater-Messer in der Hand so ’n ungefährliches und steche auf ihn ein. So schnell kann keiner dazwischen. Das Blut tut spritzen. Heiko fällt um, macht auf Sterbenden und alle denken, daß Herr Dr. Carpano nun auch tot ist wie Herr Bleckwehl. Ich schlage um mich, schrei und werde festgenommen. Nur zum Schein natürlich. Plaggenmeyer hat jetzt seine Rache und läßt meine Gunhild und die andern laufen. So hab ich Gunhild gerettet. Verstehen Sie, Herr …! 95
Das war mein Plan. Der ist gut müssen Sie doch selber zu geben! Ich geh also zu Herrn Buth, weil der doch hier alle Fäden zieht und sag ihm, was ich vor habe. Aber Herr Buth lacht nur und zeigt mir den Vogel. Da hab ich dann meinen Plan und die Sache selber in meine Hände genommen. Ich bin die paar Schritte zum Stadttheater gelaufen, wo Heiko gerade probiert hat. Ich erzählte ihm gleich was ich auf dem Herzen habe. Erst macht er es genauso wie Herr Buth und frägt, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Dann liege ich tot da, sagt er und Plaggenmeyer ist mistrauisch und denkt, was macht es wenn ich einem Toten ein Loch in den Bauch schieße so zur probe. Dann drückt er ab und ich bin wirklich tod. Ich sage darauf, Heiko du bist blos nicht gut genug, den Herrn Dr. Carpano nachzuspielen trotzdem er wie dein Bruder aussieht. Das wollte nun der Heiko nicht auf sich sitzenlassen. Dann sage ich noch: „Geld kann ich dir nich für geben, Heiko, aber denk mal was das für Reklame ist für Dich. Das sehen die doch alle im Fernsehen, Dein Bild ist morgen in jede Zeitung. Das kann für dich das Sprungbrett sein.“ Da war Heiko bereit meinen Plan auszuführen. Wir gingen nach hinten wo sie ihre Kleidung aufbewahren, Uniformen und so und wo auch ein weißer Kittel dabei war.
11 Uhr 35 bis 11 Uhr 58 Buth und Carpano hatten sich in die Wohnung des Hausmeisters zurückgezogen, einen lieblos an die alte Turnhalle geklatschten Flachbau, der weit genug vom möglichen Explosionsherd entfernt war. Sie waren allein, und so kann ich ihr Gespräch lediglich an Hand einiger mehr oder minder korrekter Infor96
mationen rekonstruieren. Dabei bin ich natürlich trotz aller gegenstehenden Bemühungen insofern parteiisch, als ich meine stillen Sympathien für Buth und meine geheime Abneigung Carpano gegenüber kaum verbergen kann. Sicher, Buth beutete seine Arbeiter aus, und hätten die ihn endlich zum Teufel gejagt, ich hätte ihm den letzten Stein hinterhergeworfen, aber ich mochte ihn eben. Wie in allen Deutschen steckt auch in mir der Hang, die zu bewundern, die einen beherrschten. Nun ja. Carpano dagegen, den ich zu dieser Zeit nur an Hand seines Auftritts auf dem Schulhof beurteilen konnte, hielt ich für einen eitlen Karrieremacher, den Typ, der seinen Beruf nicht aus Menschenliebe gewählt hat, sondern als Mittel zum Geldverdienen und aus Prestigedenken heraus. Zwar sollte dieses Bild später eine erhebliche Korrektur erfahren, doch auch heute kann ich mich von meinen ersten Eindrücken nicht ganz frei machen. Ein Autor unterliegt leicht dem Selbstbetrug, er könnte sich zugleich in zwei Dutzend Personen aufspalten und dann, nachdem er sie zum eigenen Leben erweckt hat, deren ungemein komplexe und widersprüchliche Psyche mit seinen eigenen Worten angemessen widerspiegeln. Also nochmals: ich bin nicht Buth, ich bin nicht Carpano, ich kann beide nur beschreiben, indem ich sie zu Klischeefiguren vereinfache. Nun … Während Buth nichts von seiner lächelnden Überlegenheit verloren hatte und äußerlich völlig entspannt in einem Fernsehsessel lag, wanderte Carpano voll innerer Unruhe und Nervosität im Zimmer des Hausmeisters auf und ab, rückte Ölgemälde von Watzmann und Alpspitze gerade, drehte an den Knöpfen des Fernsehapparates und blätterte in den herumliegenden Versandhauskatalogen. „Mußt du hier wie ein Löwe auf und ab laufen?“ fragte Buth gereizt. „Entschuldige, wenn ich nicht so gute Nerven habe wie du“, gab Carpano ebenso gereizt zurück. „Aber es ist 97
ja schließlich nicht sehr angenehm, wenn einem die moralische Schuld am Tod von zweiundzwanzig Schülern in die Schuhe geschoben werden soll.“ „Du solltest die Menschen mittlerweile doch kennen, Ralph. Die suchen immer jemand, den sie für irgendwas verantwortlich machen können, damit sie bloß nicht mal selber bei sich nachfragen müssen. Mein Gott, denk doch daran, was man mir schon alles angekreidet hat. Da muß man sich ein dickes Fell zulegen und gar nicht hinhören.“ „Das mag für dich zutreffen“, sagte Carpano und nahm seine Wanderung wieder auf. „Du bist Unternehmer; da gehört eine gewisse Rücksichtslosigkeit beinahe zum Image, und selbst wenn man noch so sehr auf dich schimpft – du hast Arbeitsplätze zu vergeben, und damit sitzt du am längeren Hebelarm. Aber ich als Arzt? Von mir wird doch von Berufs wegen ethisches Denken erwartet Wirklich, du solltest die Dinge nicht zu sehr auf die leichte Schulter nehmen.“ Buth ließ den Fernsehsessel mit einem Ruck steil nach oben schnellen. „Mensch, Ralph, ich betreibe das Geschäft hier seit dreißig Jahren – ich bin schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden.“ „Wenn Plaggenmeyer Ernst macht, dann stehe ich als der Mörder der Kinder da! Ich! Und dann ist es aus mit der Leitung deines Kurzentrums. Und ohne meinen Namen auf deinen Prospekten kannst du gleich Konkurs anmelden. Denk mal an die Pleite des deutschen Mayo-Projekts, dieser ‚Deutschen Klinik für Diagnostik‘, oder an die ‚Deutschen Zentren für medizinische Vorsorge‘ in München und Frankfurt: vier Millionen Mark Schulden, sechs Millionen Mark Grundkapital verloren. Oder das Trauerspiel um die Bodensee-Klinik in Immenstaad.“ „Unser Projekt wird keine Pleite. Hier, das hatte ich ganz vergessen, sieh dir die Prospekte mal an; sie sind heut früh aus der Druckerei gekommen. – Nein, nein, 98
keine Sorge – von Hamburg, Bremen, Wilhelmshaven und Emden ist es ein Katzensprung bis Bramme –, Bad Brammermoor wird eine Goldgrube werden.“ „Aber nicht, wenn der ärztliche Leiter als Massenmörder dasteht“, entgegnete Carpano scharf. „Herrgott ja, das weiß ich auch! Aber noch ist schließlich nichts passiert.“ „Es kann aber jeden Moment passieren. Saublöde, daß wir kein Geständnis von Bleckwehl haben. Dann wären wir aus allem raus. Weiß man denn schon, ob er einen Abschiedsbrief hinterlassen hat?“ „Man weiß ja noch nicht einmal, ob es ein Unfall oder Selbstmord war“, entgegnete Buth. „Ich hab schon mal versucht, in Brake anzurufen, aber es hat sich niemand gemeldet. Na ja, ist ja auch zu verstehen.“ „Versuch’s doch noch mal.“ „Hast du die Vorwahl von Brake?“ „Nein …“ Carpano holte das Telefonbuch unter einem nierenförmigen Couchtisch hervor. Nun war auch Buth ein wenig unruhig geworden. Nicht so sehr, weil Carpano ihn mit seiner Nervosität angesteckt hatte, sondern weil er mit einigem Schrecken an die Eltern dachte, die sich auf dem Schulhof zusammengerottet hatten. Solange Kischnick das Heft in der Hand behielt, war nichts zu befürchten, aber sobald Gunhilds Vater die Oberhand gewann – der brachte es mit seiner demagogischen Art noch fertig, daß sie das Klassenzimmer zu stürmen versuchten. „Mensch, die Vorwahl von Brake!“ rief Buth. Noch war nichts verloren. Aber es stand unendlich viel auf dem Spiel. Auch für ihn. Wenn Plaggenmeyer seine Bombe zündete und sein Schützling Carpano quasi als moralischer Mörder dastand, dann geriet seine Macht gewaltig ins Wanken. Schön, Lankenau war viel zu klug, ihm den Todesstoß zu versetzen, aber da waren die Jungen, die Lankenau langsam aufs Abstellgleis schoben: Corzelius, 99
diese Gunhild und möglicherweise auch dieser linksorientierte Journalist aus Berlin, der im Augenblick hier herumschnüffelte. Also: Alarmstufe I. „04401“, sagte Carpano. „Danke.“ Buth hatte Bleckwehls Nummer aus seinem Notizbuch herausgesucht und wählte. „Na …?“ „Besetzt.“ Während Buth es weiter versuchte, nahm Carpano die Prospekte des neuen Kurzentrums Bad Brammermoor zur Hand. Kurhotel – Medizinisches Institut – Fachklinik. Ärztliche Leitung: Priv.-Dozent Dr. med. R. Carpano. Das Kurzentrum Bad Brammermoor liegt in klimatisch besonders günstiger Lage inmitten endloser Wiesen, Moore und Wälder … Die Appartements sind bequem und geschmackvoll ausgestattet und … Das Haus bietet eine anerkannt gute Küche … auch Diäten verabreicht und … Modernes Therapiezentrum … Behandlungsschwerpunkt: Erkrankungen des Kreislaufs, insbesondere periphere arterielle und venöse Durchblutungsstörungen, pektanginöse Beschwerdebilder, hypertone und hypotone Regulationsstörungen, Herzneurosen sowie überhaupt die vielfältigen Formen der neurovegetativen Dysregulation … Auf all diesen Gebieten ist der ärztliche Leiter eine weltweite anerkannte Kapazität. Ihm zur Seite stehen eine Reihe … Endlich hatte Buth Erfolg. „Guten Tag, Frau Bleckwehl, hier Buth, Bramme. Ich darf Ihnen zunächst mein tiefempfundenes Beileid aussprechen. Wirklich schrecklich, wir sind alle ganz erschüttert. Und bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie in Ihrem 100
Schmerz belästigen muß. Ich täte es nicht, wenn es nicht so dringend wäre. Sie wissen vielleicht schon, was hier los ist – oder?“ „Ja, eben war die Polizei hier und …“ „Haben Sie das Geständnis endlich gefunden?“ „Mein Mann hatte nichts zu gestehen, er hat das Mädchen nicht totgefahren. Wie können Sie …“ Buth hielt den Hörer vom Ohr fort und richtete ergeben die Augen zur Decke. „Hallo – Herr Buth?“ „Hören Sie, Frau Bleckwehl, Ihr Mann ist tot, leider, aber jetzt geht es darum, den Tod vieler junger Menschen zu verhindern.“ „Es war ein Unfall, ein Unglück, eine Explosion!“ „Ich verstehe Sie voll und ganz, Frau Bleckwehl. Aber hier wird eine ganze Klasse von einem Irren bedroht –“ „Da kann ich doch nichts für.“ „Aber Sie könnten helfen. Wenn wir zum Beispiel ein Geständnis Ihres Mannes hätten, würde Plaggenmeyer das Klassenzimmer verlassen, ohne daß es zu einer Katastrophe kommt.“ „Mein Mann hat das Mädchen nicht totgefahren!“ „Nein, natürlich nicht. Wir würden auch nur so tun, bis Plaggenmeyer verhaftet worden ist.“ „Da bleibt immer was hängen, nein!“ „Meine beste Frau Bleckwehl, ich garantiere Ihnen, daß alles zu Ihrer Zufriedenheit geregelt werden wird. Wenn Plaggenmeyer erst mal verhaftet ist, werden wir öffentlich erklären, daß nichts von dem Geständnis der Wahrheit entspricht.“ Frau Bleckwehl begann jetzt zu weinen. „Mein Mann ist … ich lasse mir nicht …“ Ein Knacken in der Leitung. „Aufgelegt!“ sagte Buth. „Na schön, dann muß ich eben brutal werden.“ Er drückte die Gabel nach unten und wählte hastig eine neue Nummer. Meine Illustrierte wür101
de schreiben: „grimmig entschlossen, mit wilder Kampfeslust“ oder so ähnlich. „Was nun?“ fragte Carpano. „Schräg gegenüber von Bleckwehls Werkstatt hab ich neulich einen Supermarkt eröffnet. Wenn der Filialleiter nicht innerhalb von zehn Minuten bei Bleckwehl in der Wohnung ist und diese Zicke veranlaßt, mich umgehend anzurufen, dann fliegt er.“ Buth hatte Glück. Sein Filialleiter war da und versicherte, alles Menschenmögliche zu tun. „Bleckwehls Frau – hab ich nie kennengelernt“, sagte Carpano. „Da hast du auch nichts versäumt“, meinte Buth, während er die Wählerscheibe erneut surren ließ. „Bieder, einfältig, ein richtiges Landei. Hallo!? Hallo, ja, Herrn Köntje, bitte!“ „Köntje – wer ist denn das?“ „Der Lehrer von Elsfleth.“ „Elsfleth?“ „Ein kleines Nest, zehn Kilometer südlich von Brake. Köntje macht nebenbei die psychologischen Eignungstests bei uns. Bringt ihm ganz schön was ein. Ein ausgezeichneter Graphologe. Aber das Schönste ist: er kann nicht nur Handschriften deuten, sondern auch nachmachen. Phantastisch.“ Inzwischen hatte man Köntje an den Apparat geholt, und Buth erklärte ihm in knappen Worten die Situation. „Sie sehen, Köntje, es geht um Leben und Tod. Die Schüler haben nur dann eine Chance, wenn Plaggenmeyer Bleckwehls Geständnis in die Hände bekommt. Und da er offenbar keins hinterlassen hat, muß eins angefertigt werden, und zwar von Ihnen! Sie setzen sich am besten sofort in Ihren Wagen und fahren nach Brake. Das ist ’ne Sache von ’ner Viertelstunde. Frau Bleckwehl wird Ihnen was Handschriftliches von ihrem Mann geben. Über den Unfall sind Sie orientiert, die Sache mit Corinna Voges?“ 102
„Ja, natürlich …“ „Bleckwehl gesteht seine Täterschaft ein und sagt, daß er aus diesem Grund aus dem Leben scheiden wird. Wenn Sie den Schrieb fertig haben, findet Frau Bleckwehl ihn ganz zufällig und übergibt ihn der Polizei. Capito?“ „Ja, aber …“ „Ich decke alles, keine Sorge! Tausend Mark für Ihre Mühe – und den Dank der Stadt für die Rettung von über zwanzig Menschenleben. Also: ab nach Brake!“ „Ich breche sofort auf, Herr Buth.“ Carpano starrte Buth mit aufgerissenen Augen an. „Und Frau Bleckwehl? Die wird nie dabei mitspielen.“ „Laß das nur meine Sorge sein!“ „Übrigens, du hast niemand gesagt, daß du momentan hier in der Schule zu erreichen bist und …“ Buth schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Man wird noch ganz wirr im Kopf!“ Er rief sofort bei sich in der Firma an und fragte, ob sich der Filialleiter aus Brake schon gemeldet habe oder eine Frau Bleckwehl. Die Sekretärin verneinte das. „Die sollen hier anrufen, klar?“ Er gab die Nummer des Hausmeisters durch. „Und unterlassen Sie jedes private Telefongespräch, hören Sie! Der Apparat darf nicht besetzt sein.“ Damit knallte er den Hörer auf die Gabel. Sie warteten schweigend. Inzwischen raste der Graphologe nach Brake. Inzwischen rang der junge, wenig erfahrene Filialleiter mit der störrischen Elfriede Bleckwehl. Inzwischen konnte Plaggenmeyer jeden Augenblick alle ihre Pläne zunichte machen. Endlich schrillte vor ihnen das schwarze Telefon. Buth riß den Hörer hoch, und es war tatsächlich Bleckwehls Witwe. „Hören Sie zu, Frau Bleckwehl“, sagte Buth, „ich habe jetzt keine Zeit für Höflichkeiten. In zehn Minuten wird 103
ein Herr Köntje aus Elsfleth bei Ihnen sein, ein Graphologe, der mit Ihnen zusammen das Geständnis Ihres Mannes aufsetzen wird.“ „Wir haben nichts zu gestehen.“ „Sie werden ihn reinlassen und ihm einige Briefe oder andere Schriftstücke Ihres Mannes geben …“ „Das werde ich nicht!“ „Das werden Sie wohl!“ Buths Stimme klang auf einmal eiskalt. „Es sei denn, Sie ziehen vor, daß ich auf dem Gelände neben dem Supermarkt eine supermoderne Reparaturwerkstatt mit angeschlossenem Gebrauchtwagenhandel errichten lassen werde – alles dreißig Prozent billiger als bei Ihnen. Außerdem würde ich mich bei den Banken in Brake dafür einsetzen, daß Sie keine neuen Kredite bewilligt bekommen. Vielleicht würde sich auch die Zollfahndung etwas genauer für Sie interessieren – das bedürfte nur eines kleinen Tips von mir.“ Buth machte eine kleine Pause. „Sollten Sie dagegen dem kleinen Trick mit dem gefälschten Geständnis zustimmen – Sie gehen ja gar kein Risiko dabei ein –, dann werde ich alles tun, um Ihnen nach dem Tode Ihres Mannes wieder auf die Beine zu helfen.“ Elfriede Bleckwehl schwieg. „Sie haben die Wahl“, sagte Buth. „Entweder Plaggenmeyer geht vor die Hunde und mit ihm die ganze Dreizehn a – oder Sie!“ „Das ist Erpressung!“ „Nennen Sie’s, wie Sie wollen, aber tun Sie Ihre Pflicht!“ Buth legte auf, überzeugt davon, daß Elfriede Bleckwehl nun spuren würde. Carpano hatte fasziniert zugehört. Daß Buth ein Geschäftsmann war, der eiskalt seinen Vorteil suchte, das war allgemein bekannt. Das verübelte man ihm nicht einmal, da es sozusagen zum Image gehörte. Aber hier hatte er, Carpano, miterlebt, wie Buth unter dem Zwang der Ereignisse den kürzesten erfolgversprechenden Weg 104
gefunden und auch benutzt hatte, ohne sich von unnötigen Gedanken über die Moral seines Handelns aufhalten zu lassen. Und das war’s, was Buth so ungemein gefährlich machte, viel gefährlicher im Grunde als diesen Dr. Jentschurek. Wenn Carpano sich Buth gegenüber über dessen erpresserische Methoden hatte äußern wollen, kam er jedenfalls nicht mehr dazu, denn plötzlich stand, ohne daß sie es gemerkt hatten, Kommissar Kämena in der Tür. Erst als er sich räusperte, winkte Buth ihn herein. „Komm rein, Karl, gut, daß du da bist.“ Er erklärte Kämena, daß in etwa einer halben Stunde mit Bleckwehls Geständnis zu rechnen sei. „Ich habe seiner Frau klargemacht, daß sie mitspielen muß. Natürlich vorerst absolutes Stillschweigen. Du sorgst dafür, daß das Papier gleich hergeflogen wird. Und vergeßt nicht ein paar handgeschriebene Briefe oder so was, damit Plaggenmeyer was zum Vergleichen hat.“ „In Ordnung“, sagte Kämena; er massierte sich den Magen und sah hilfesuchend zu Carpano hinüber. „Ja, natürlich …“ Doch Carpanos Gedanken waren offenbar woanders. „Ist was?“ fragte Buth. „Wenn das man gutgeht“, meinte Kämena. „Wieso?“ „Die Sache mit der Explosion in Bleckwehls Schuppen weiß er“, sagte Kämena. „Auch daß Bleckwehl dabei draufgegangen ist.“ „Na und?“ fragte Buth ungeduldig. „Während ihr hier dringesessen habt, muß er darüber nachgedacht haben“, berichtete Kämena weiter. „Der Bursche ist mißtrauisch, der denkt, wir wollen ihn aufs Kreuz legen, damit er aufgibt. Gerade eben hat er mich zu sprechen verlangt. Weißt du, was er jetzt fordert?“ „Mach’s nicht so spannend, Mann“, drängte Buth. 105
„Er will Bleckwehls Leiche sehen, kannst du dir so was vorstellen?“ „Soll er, wenn er Spaß daran hat. Das setze ich bei der Witwe und den Behörden auch noch durch.“ „Nutzt dir bloß nicht viel.“ „Wieso?“ Kämena zögerte. „Weil kein Mensch mehr erkennen kann, daß diese zerfetzten Überreste mal Bleckwehl waren …“ Er ging auf einen Stuhl zu und ließ sich schwer darauf niederfallen. Das war natürlich eine Entwicklung, die nicht vorauszusehen gewesen war. Wenn Plaggenmeyer in seinem Mißtrauen so weit ging, daß er die Echtheit der Leiche anzweifelte – wie würde er da auf das Geständnis reagieren? Würde er den Trick wittern? Zum erstenmal wußte auch Günther Buth so schnell keinen Ausweg, auch wenn er trotzig sagte: „Warten wir’s ab.“
11 Uhr 58 bis 12 Uhr 16 Jedesmal, wenn ich die Zeitangabe über einen der Abschnitte setze, glaube ich, mich um ein, zwei Stunden vertan zu haben. Überfliege ich meine Notizen, so sage ich mir: völlig unmöglich, daß es schon zwölf war, als das und das passierte! Du mußt dich geirrt haben. Aber die Eintragungen stimmen allesamt, sie sind alle abgecheckt. Gewöhnt an die Routine unserer Tage, verlieren wir offenbar prompt jedes Zeitgefühl, wenn uns einmal Außergewöhnliches widerfährt. Angst und Schrecken relativieren die Zeit. Waren uns Zuschauern auf dem Schulhof die vier Stunden seit Beginn des Alptraums zu einer Stunde zusammengeschrumpft, so mußten sie sich 106
für die Schüler drinnen zu Jahren ausgeweitet haben. Jemand, der weiß, daß er in Kürze sterben muß, der durchlebt noch einmal in wenigen Minuten sein ganzes bisheriges Leben, und sei es auch nur in blitzschnell verhuschenden Assoziationen, und sieht sich, wie in einer Zukunftsvision, in der Rolle, die er – in seinen Vorstellungen und Wunschträumen – in fünf, vielleicht auch zehn Jahren erobert haben würde. Gunhild Göllmitz als Journalistin, Publizistin, Politikerin, Mutter und Vorkämpferin für den humanistischen Sozialismus in der Bundesrepublik. Immo Kischnick als Staranwalt, Eigentümer einer Villa am Brammer Berg, Vorsitzender des TSV Bramme, Vater eines Mittelstürmers der Nationalmannschaft. Und so weiter, und so weiter. Annemarie, Carsten, Hellfried, Immo, Volker, Gerhard, Irene, Jörn, Hinrich, Harjo, Marietta, Friedmar, Antje – zweiundzwanzig Namen, zweiundzwanzig junge Menschen. Jedesmal eine unfaßbare Verdichtung von Gefühlen und Impulsen, jedesmal ein Stück unwiederholbarer Schöpfung, jedesmal das Wissen: wenn ich jetzt sterbe, hört auch die Welt zu existieren auf. Alles ist nur, weil ich bin. Und dazu Herbert Plaggenmeyer, irgendwie schon längst gestorben, nur biologisch, aber nicht zum zweitenmal als soziales Wesen geboren. Wie eine steuerlos gewordene Rakete mit atomarem Sprengstoff. Eine Schöpfung des Menschen, aber menschlicher Kontrolle entzogen. Niemand und nichts war in der Lage, die Bahn zu berechnen, die sie in den nächsten Stunden einschlagen würde. Kürzer ausgedrückt: Es war High noon in Bramme. Ich sah Buth und Kämena aus der Wohnung des Hausmeisters kommen. Dr. Carpano war, wie ich später erfahren sollte, wieder ins Krankenhaus zurückgefahren. Inzwischen hatte sich in der Klasse einiges ereignet, was nicht sensationell, aber dafür angetan war, die Ner107
venspannung zu mildern. Aufmerksam und mißtrauisch von Plaggenmeyer beobachtet, aber doch mit seiner Zustimmung, hatten Helfer des Roten Kreuzes unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen Platten mit zurechtgemachten Brötchen, dazu Milch, Bier und Cola durchs Fenster gereicht. Außerdem Beruhigungstabletten mit den nötigen Einnahmeanweisungen. Plaggenmeyer trank nur wenig, nachdem er sich in fast neurotischer Angst überzeugt hatte, daß die Kapselverschlüsse der von ihm gewählten Flaschen nicht berührt und der Inhalt nicht mit irgendeiner einschläfernden Substanz präpariert worden war; aufs Essen verzichtete er ganz. Ihm gefiel das Ganze nicht sehr. Je größer das Durchhaltevermögen seiner Geiseln wurde, desto mehr verringerten sich seine Chancen, daß seine Feinde die weiße Fahne hißten. Andererseits: Essen und Trinken lenkte diejenigen ab, die es Hackbarth vielleicht nachtun wollten und eine Rebellion planten. Daß er am Leben war, hatte man ihnen von draußen mitgeteilt. Plaggenmeyer fröstelte. Fieber? Oder nur die Angst, daß sich drei, vier Burschen plötzlich auf ihn werfen konnten? Geflüstert wurde viel, vielleicht gab es schon geheime Absprachen. Und was sollte er mit seiner einen Pistole gegen eine ganze Schar von Angreifern ausrichten? Wenn sie ihn überwältigt hatten, würden sie ihn lynchen, zerfleischen, ihm die Augen ausstechen. Das war längst geschehen, ehe die Polizei hereinstürmen konnte. Er zitterte. Blieb nur der Sprengstoff. Er packte den Auslöseknopf fester. So etwa ließe sich die Situation in der 13 a umreißen, als Buth die Verhandlungen mit Plaggenmeyer wiederaufnahm und dort ansetzte, wo Kämena vorhin aufgehört hatte. „Hören Sie, Herr Plaggenmeyer“, schrie er unter Ver108
zicht auf ein Megaphon, „die Polizei in Brake hat ein schriftliches Geständnis bei Bleckwehl gefunden, und außerdem hat seine Frau inzwischen zugegeben, daß das Alibi ihres Mannes falsch war: Er war in der fraglichen Zeit gar nicht zu Hause, sie haben alle gelogen.“ „Jetzt lügen auch alle!“ schrie Plaggenmeyer zurück. „Bleckwehl ist gar nicht tot! Ihr wollt den Mörder bloß schützen!“ „Hier sind die ersten Fotos von der zerstörten Werkstatt und von Bleckwehls Leichnam!“ rief der Mann von der GSG 9, und Kämena hielt die Aufnahmen in die Höhe wie die Preisrichter früher ihre Wertungstäfelchen. „So was kann man in jedem Studio nachmachen“, entgegnete Plaggenmeyer höhnisch. „Die sind aber echt!“ rief Kämena. Daraus entwickelte sich wieder ein Dialog zwischen Buth und Plaggenmeyer. Buth: „Ich schwöre Ihnen, daß die Fotos echt sind.“ Plaggenmeyer: „Sie haben damals auch geschworen, daß Sie mich in der Nähe Ihres Lagerschuppens gesehen haben – kurz bevor die Flammen rausgeschossen sind.“ Buth: „Und es entsprach ja auch der Wahrheit – oder? Jetzt sage ich auch die Wahrheit!“ Plaggenmeyer: „Ich glaube nur das, was ich mit meinen eigenen Augen sehe.“ Buth: „Wir werden Sie gern nach Brake fliegen lassen, wenn Sie wollen …“ Plaggenmeyer: „Das könnte Ihnen so passen. Schafft Bleckwehl her, wenn er tot ist.“ Buth: „Bleckwehl besteht nur noch aus verkohlten Überresten. Übrigens würde das auch gegen die guten Sitten verstoßen. Paragraph einhundertachtundsechzig und … und dreihundertsiebenundsechzig des Strafgesetzbuchs. Ohne die Einwilligung von Frau Bleckwehl und ohne die Erlaubnis der Behörden geht das nicht. Und Frau Bleckwehl stellt sich stur, und bei den Behör109
den dauert das bis Weihnachten. Und wie gesagt: Es erkennt ihn ja keiner mehr wieder.“ Plaggenmeyer: „Was meinen Sie, wie wir hier aussehen, wenn ich erst mal …“ Aber die Logik von Buths Worten hatte doch Eindruck auf ihn gemacht. Wenn die Leiche wirklich in einem so schlimmen Zustand war … Er schüttelte sich innerlich. Vielleicht stimmte es ja auch, was Buth gesagt hatte. Kämena hatte es auch behauptet, und dieser Fremde, der draußen bei ihnen stand, ebenfalls. Er mußte nur irgendwie herausbekommen, ob wirklich eine Explosion in Bleckwehls Schuppen stattgefunden hatte und wirklich jemand dabei umgekommen war. Wenn er denen da draußen auch jeden Schwindel, jeden Trick zutraute, um ihn aus seinem Bau zu locken – daß sie mutwillig einen Menschen dafür umbrachten, um noch überzeugender zu wirken, soweit würden sie bestimmt nicht gehen. Also, eine vertrauenswürdige Person mußte sich in Brake davon überzeugen, daß alles so war, wie sie behaupteten … Sein Blick fiel auf Gunhild Göllmitz, die etwas blaß in ihrer Bank saß. „Hören Sie“, rief er aus dem Fenster hinaus. „Sie werden Gunhild Göllmitz jetzt mit einem Hubschrauber nach Brake fliegen lassen, die soll sich alles ansehen, ob es stimmt, was Sie gesagt haben. Die legt mich nicht rein.“ Gunhild starrte ihn an. War das wieder ein Versuch von ihm, sie aus der Gefahrenzone zu schaffen? Was sollte sie tun? Fuhr sie nach Brake, dann konnte sie ihn vielleicht von Bleckwehls Tod und Schuldbekenntnis überzeugen und zur Aufgabe bewegen. Verließ sie aber dieses Klassenzimmer, konnte das womöglich für die anderen das Todesurteil sein, denn ihre Gegenwart hatte bestimmt bisher dazu beigetragen, daß Herbert seine Verzweiflungstat hinausgezögert hatte. 110
„Nein“, sagte sie schließlich, „ich kann nicht.“ Beinahe bockig wich sie Plaggenmeyers Blick aus. Plaggenmeyer wollte aber offensichtlich den rettenden Strohhalm so schnell nicht loslassen; hilfesuchend blickte er in die Gesichter – zweiundzwanzig vor ihm baumelnde Masken. Nichts. Dann sah er nach draußen, tastete einen nach dem anderen ab. Schließlich blieb sein Blick auf Corzelius hängen. Ein guter Bekannter von Gunhild. Sie hatte gesagt, er wäre in Ordnung. Er hatte sich in zwei Artikeln im Brammer Tageblatt für ihn eingesetzt. Ein Idealist, einer, der’s ehrlich meinte, einer, der sich nicht kaufen ließ. „Herr Corzelius!“ rief Plaggenmeyer, schon merklich heiser geworden, nach etwa zwei Minuten. „Ja, Bert, was ist?“ „Gunhild will nicht, machen Sie’s – zu Ihnen hab ich noch Vertrauen.“ „Sie meinen, ich soll nach Brake fliegen? Okay!“ Corzelius zögerte keine Sekunde. Hier bot sich eine Chance für ihn, als Mensch und als Reporter. „Ich beeil mich.“ Keine fünf Minuten später saß er in einem der Hubschrauber, die auf dem Platz vor der Matthäi-Kirche warteten. Lankenau kam auf mich zu. „Der zukünftige Mitbürger?“ fragte er. „Willkommen in Bramme.“ „Noch ist nichts sicher.“ „Sie müssen ja einen schönen Eindruck von uns bekommen haben …“ „Bramme ist überall.“ „Wenn das hier knallt, ist die SPD bis zum Jahre zweitausend aus dem Rennen“, sagte Lankenau, „die schieben uns doch im Augenblick alles in die Schuhe. Dann war ich die längste Zeit Bürgermeister hier.“ Fast hätte ich gesagt: Dann gehn Sie doch zum Ohnsorg-Theater, die nehmen Sie mit Kußhand. Aber ich unterließ es lieber. Es wäre ungerecht gewesen. Leute 111
wie Lankenau waren der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhielt. Ohne einen Günter Grass konnten wir überleben, ohne hundert Lankenaus indessen kaum. Trotzdem hätte Lankenau ein bißchen was gegen seinen Mundgeruch tun können. Sicherlich der Magen kaputt. Und ehe er’s zum Bundestagsabgeordneten geschafft hatte, mußte er nach Lage der Dinge mindestens noch zwanzig Fässer Bier aussaufen. Um von der Politik abzulenken, erkundigte ich mich: „Wo bleibt Plaggenmeyers Mutter? Sollte die nicht schon längst hier sein?“ „Wird wohl bald kommen“, meinte er achselzuckend. „Wie lange hat denn Plaggenmeyer bei seiner Mutter gelebt?“ fragte ich. „Soviel ich weiß, bis neunzehnhundertfünfundfünfzig, da muß er so fünf Jahre alt gewesen sein. Wenn ich mich recht erinnere, ist sein Vater zweiundfünfzig nach Amerika zurück. Erst wollte er Lissy heiraten, dann hat er den Schwanz eingezogen und ist abgehauen. Da saß sie nun da. Erst hat sie bei Buth gearbeitet, im Lager. Aber wie die Männer hier sind: Wenn du den Neger rangelassen hast, dann kannst du mich auch mal ranlassen – oder bin ich etwa was Schlechteres als der Bananenfresser? So ist es dann gekommen: Erst hat sie’s gemacht, weil sie allein war, dann hat sie Geld für genommen. Schließlich mußte ihr das Jugendamt den Jungen wegnehmen: Verwahrlosung, Mißhandlung. Darauf ist sie ab nach Hamburg. Und da soll sie ja Karriere gemacht haben.“ „Sieht sie den Jungen öfter mal?“ „Keine Ahnung, aber …“ Er kam nicht weiter, denn in diesem Augenblick dröhnte Dr. Jentschureks Stimme zu uns herüber. „Bitte, mal herhören!“ tönte er, die Prothese wie zum deutschen Gruß erhoben. „Als Klassenlehrer der Dreizehn a fühle ich mich für meine Jungen und Mädel ver112
antwortlich. Obwohl schwer kriegsbeschädigt, habe ich heute morgen schon einmal mein Leben für diese Jungen und Mädel eingesetzt – im Gegensatz zu anderen, die immer nur das Maul aufreißen können. Nach Absprache mit den Eltern und im Namen aller Bürger dieser Stadt fordere ich vier der hier anwesenden Herren auf, endlich zu handeln und unsere geliebten Kinder aus den Händen dieses Unmenschen zu befreien. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es nur ein Mittel – Austausch der Geiseln!“ Bravo-Rufe wurden laut, einige klatschten, so etwas wie Erlösung war zu verspüren. Jentschurek machte mit seiner gesunden Hand ein Zeichen: „Ich frage hiermit unseren verehrten Herrn Bürgermeister Hans Lankenau, ob er bereit ist, sich gegen fünf Schüler austauschen zu lassen?“ Lankenau schluckte. „Selbstverständlich …!“ stieß er schließlich hervor. „Ich frage den führenden Industriellen dieser Stadt, Herrn Günther Buth, ob er bereit ist, sein Leben für weitere fünf Schüler zu verpfänden?“ Buth zwang sich zu einem Lächeln. „Ja.“ „Ich frage weiter Herrn Oberstudienrat Doktor Blumenröder, dessen Tochter Dörte mit in dieser Klasse auf ihre Befreiung wartet, ob er …“ „Ja!“ „Ich frage schließlich Hauptpfarrer Karl-Otto Vosteen von der Matthäi-Kirche, ob er die restlichen Schüler übernimmt?“ „Ja, natürlich.“ Jentschurek griff sich das Megaphon und kletterte aufs Trittbrett eines Mannschaftswagens. „Plaggenmeyer, Sie haben sicher gehört, was hier geschehen ist: Die Herren Buth, Blumenröder, Lankenau und Vosteen sind bereit, sich gegen die zweiundzwanzig Schüler austauschen zu lassen, die sich noch in Ihrer Gewalt befinden. Sie büßen nichts von Ihrer Verhandlungs113
position ein, im Gegenteil, Sie sichern sich die Sympathie der Brammer Bürger, was später sehr wichtig für Sie sein kann! Ich gebe Ihnen drei Minuten Bedenkzeit.“ Plaggenmeyer schwieg zunächst, antwortete auch nicht, als Jentschurek nach etwa neunzig Sekunden noch einmal zum Megaphon griff und ihn zur sofortigen Annahme des Vorschlages aufforderte. Was Jentschurek da vorgeschlagen hatte, war nichts anderes als eine geschickt kaschierte Erpressung, Das heißt, Dr. Blumenröder mochte sich freiwillig gemeldet haben, aber seine drei anderen Auserkorenen hatten zustimmen müssen, sonst hätten sie für alle Zeit das Gesicht verloren. Was in den drei Minuten bis zu Plaggenmeyers Antwort in ihnen vorgegangen ist, wird sich wohl nie ermitteln lassen. Ich vermute aber, daß es allen dreien höchst unbehaglich zumute war, auch Buth, und daß sie Jentschurek wegen seiner heimtückischen Idee heimlich verfluchten; daß sie nur auf eines hofften: auf Plaggenmeyers Nein. Zur gleichen Zeit aber – und das war das Schizophrene daran – ärgerten sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach darüber, daß der Vorschlag zum Geiseltausch nicht von ihnen selber gekommen war. Dann hätten sie, als aufrechte Männer, noch einen Prestigegewinn für ihre verschiedenen Parteien oder die Kirche herausholen können. So aber, als gezwungene Helden … Jentschurek hatte Plaggenmeyer drei Minuten Zeit zur Entscheidung gegeben. Wie ich den Jungen einschätzte, würde er seinen Entschluß sehr viel schneller fassen können. Vielleicht zögerte er nur mit seiner Antwort, um die vier Honoratioren seiner ungeliebten Heimatstadt etwas schmoren zu lassen. Für ihn mußte die ganze Sache meines Erachtens eine ziemlich einfache Rechenaufgabe sein: vier erfolgreiche Männer, alle um die Fünfzig herum, wo das Dahinsterben heutzutage gar nichts Ungewöhnliches war, alle mit 114
mehr Feinden als Haaren auf dem Kopf, alle mit Männern hinter sich, die nur auf das Freiwerden ihres Stuhls warteten – gegen zweiundzwanzig junge, hoffnungsvolle Menschen, die das Leben noch vor sich hatten und besonders beschützenswert waren. Keine Frage, daß Plaggenmeyer mehr Druck zur Erreichung seines Ziels ausüben konnte, wenn er die zweiundzwanzig Primaner in seiner Gewalt behielt. Außerdem hatten sie sich schon aufeinander eingestellt, und wer konnte wissen, wie sich die vier Männer in dieser Situation verhalten würden. „Die Zeit ist um!“ rief Jentschurek. „Ich tausche nicht!“ schrie Plaggenmeyer zurück. „Alles bleibt so, wie es ist.“ Die Enttäuschung der Eltern, die Enttäuschung der sicherlich schon zweihundertköpfigen Menge entlud sich in einem wütenden Aufschrei. Dieses Schwein! Knallt doch diese Sau da endlich ab! Schmeißt doch das ganze Gesindel aus Bramme raus! Was ist das für eine Regierung, die so was zuläßt. Der Strauß sollte endlich ran! Wenn der Plaggenmeyer rauskommt, wenn ich den zwischen die Finger kriege … Mehr hörte ich nicht, denn ein plötzlich über unseren Köpfen knatternder Hubschrauber übertönte die haßerfüllten Stimmen. Ich erschrak. War Corzelius zurück? Und ohne Ergebnis? Buth schaltete am schnellsten. „Das müßte Plaggenmeyers Mutter sein!“ Und tatsächlich kletterte, als der graue Hubschrauber auf einer frei gehaltenen Fläche hinter der Turnhalle niedergegangen war, eine etwa vierzigjährige Frau aus der Kanzel, die voll und ganz dem Bild entsprach, das ich mir inzwischen von Plaggenmeyers Mutter gemacht 115
hatte. Schlank, schwarzhaarig, orangefarbener Hosenanzug, lila das Halstuch, lila die Schuhe. Gepflegt und beinahe seriös. Mit einem festen, zahlungskräftigen Freierkreis verdiente sie im Monat mehr als unser Bundeskanzler. Lankenau begrüßte sie wie einen Ehrengast und geleitete sie durch die schnell geschaffene Gasse zu der Ausbuchtung in der Sandsackbarriere, die dem Klassenraum der 13 a gegenüberlag. Lissy Plaggenmeyer. Vielleicht eine Spur zu stark das Parfüm. Und vielleicht doch nicht ganz so gut konserviert, wie ich auf den ersten entfernten Blick geschätzt hatte, mußte ich denken, als sie an mir vorüberkam. Alkohol, Preludin und Männer hatten Spuren in Lissy Plaggenmeyers Gesicht hinterlassen, die auch das Makeup nicht verdecken konnte. „Sie wissen, worum es geht?“ fragte Lankenau. „Ja …“ Ihre Augen waren bräunlich gesprenkelt wie die einer Löwin. Und mit dem unbeweglichleeren, scheinbar völlig uninteressierten Blick einer Löwin starrte sie auch zu ihrem Sohn ins Klassenzimmer hinüber. „Vielleicht gelingt es Ihnen, den Bertie zu überreden, daß er aufgibt“, sagte Kämena. „Sie sind unsere letzte Hoffnung, Frau Plaggenmeyer.“ „Gelingt es Ihnen, würde sich die Stadt mit einer namhaften Summe bei Ihnen erkenntlich zeigen.“ Das kam von Lankenau. „Sie können das Leben von zweiundzwanzig jungen Menschen und das Leben Ihres Sohnes retten“, sagte der Mann von Genschers Sondertruppe. „Los, Lissy, zeig, was du kannst“, sagte Buth mit einem Augenzwinkern. „Anschließend setzen wir zwei uns mal zusammen. Ich habe da einen gewissen geschäftlichen Vorschlag für dich im Auge …“ 116
Sie blieb regungslos wie eine altägyptische Statue, mit der sie sogar eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Plaggenmeyer hatte offenbar seine Mutter erkannt. Er verzog achselzuckend das Gesicht, was vieles und nichts bedeuten konnte. Wir befanden uns nicht mehr in Bramme, nicht mehr inmitten einer grünen Wiesenlandschaft, wir befanden uns auf einem Planeten absoluter Leere. Jeder in seinem Raumanzug. Aber zwischen uns war jede Funkverbindung unterbrochen. Kam das erlösende Wort? Kam es von ihr? Nein. Sie schwieg noch immer. Urplötzlich sprang sie nach vorn. Ehe sie noch von einem Polizisten aufzuhalten war, lief sie auf ihren Sohn, lief sie auf eines der geöffneten Fenster zu und schrie: „Bertie, drück ab! Bertie, spreng alles in die Luft!“
12 Uhr 16 bis 12 Uhr 36 Fortsetzung von Helmut Göllmitz’ Brief aus dem Brammer Untersuchungsgefängnis: Wie Heiko nun sagt er muß sich herrichten, bin ich noch mal auf den Schulhof rüber. Das war das Letzemal, daß ich ihn betreten habe, aber es gab mir den Rest. Ich war wie angefaßt! Ich höre Plaggenmeyer sagen, Gunhild fahr du nach Bleckwehl und bin ganz weg vor Freude, weil sie das gerettet haben würde. Aber was tut Gunhild? Sie tut das Angebot ablehnen: ich fahr nicht nach Brake! Sie war immer viel zu anständig das Mädchen, das ist ihr Unglück. Nun will Plaggenmeyer ihr schon zum 2. Mal das Leben schenken aber sie weigert sich. Alle Leute sagen so117
lange die Gunhild da mit drin sitzt da macht er es nicht, das traut er sich nicht. Aber was hab ich von das Gerede? Mein Vater hat immer gesagt – im Krieg – Helmut, hat er zu mir gesagt, lieber ein lebendiger Feigling als ein toter Held! Verstehen Sie? Und ich dachte da – lieber eine lebendige Tochter als eine tote Heldin, die von ganz Bramme gefeiert wird. Jetzt wird mich das Gericht verurteilen. Sollen sie! Meine Tochter ist mir von mehr Bedeutung als mein eigenes Leben. Ich konnte nicht anders als auf meine Art ihre Rettung versuchen. Ich bereue, was geschehen ist, aber ich würde es immer wieder so machen. Überlegen Sie mal meine Lage. Da oben fliegt der Hubschrauber mit Corzelius statt mit meine Tochter nach Brake ab, und Gunhild sitzt weiterhin auf dem Pulverfaß, welches jede Sekunde in die Luft fliegen kann wenn man das so ausdrücken kann. Mit meiner Frau und mir ist das nicht mehr so das richtige, aber meine Gunhild war mein ein und alles, und jetzt dem Tode geweiht! Da konnte ich nicht mehr tatenlos zusehen! Ich wartete noch auf Heiko Füllmich, damit der im weißen Kittel als Dr. Carpano kommt und mir das Theatermesser zusteckt und wir dann wie abgesprochen ihn sterben lassen. Ich warte und warte. Bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Ich also zurück ins Theater mir den Heiko Füllmich gegriffen. „Was ist Heiko?“ frage ich ihn voller Erregung. „Warum hast du den Kittel noch nicht über?“ Aber Heiko dieses schwule Schwein (verzeihen Sie den Ausdruck) hatte auf einmal kalte Füße bekommen. „Wenn Plaggenmeyer den Trick durchschaut“, antwortet er, „dann knallt er mich entweder vor Wut ab oder er zündet seine Bombe.“ „Du feige Sau!“ schrie ich und beutelte ihn hin und her wie einen Strohsack. Wenn er jetzt aber behauptet ich habe ihm bei dieser 118
Gelegenheit zwei Zähne aus dem Gebiß herausgeschlagen aus dem Mund meine ich – echte Zähne! – dann lügt er. Was ich auch mit ihm anstellte er blieb bei seiner Ablehnung meines Planes. Er hatte auch die Befürchtung vorgetragen, das Herr Buth und Herr Kriminalkommissar Kämena unsere Tat verhindern würden und alles von vornherein umsonst ist. Aber das ist Quatsch! Aber fragen Sie ruhig den Heiko, wie alles gewesen ist, Herr … fragen Sie ihn nur. Bis das mit die Zähne ist alles reine Wahrheit, wie sie sich abgespielt hat. Aber die angeschlagenen Zähne laß ich mir nicht auch noch anhängen. Die hat der versoffene Hund bestimmt im „ Theater-Treff“ oder wie die Stampe da heist verloren. Da stand ich nun vor dem Theater als der einsamste Mensch der Welt. Lachen Sie nicht über meine Ausdrucksweise, ich wünsche meinem ärgsten Feind nicht, daß er sich einmal in seinem Leben so elendig fühlt wie ich in diese Sekunden. Ja, ich habe geheult. Und ich schäme mich meiner Tränen auch nicht. Drucken Sie das ruhig so ab wie es da steht. Wer über mich ein Gelächter anstimmt, den wird Gott noch schlimmer strafen als mich! Am schlimmsten trifft es stets die Spötter! Da stand ich nun mutterselenallein. Was sollte ich tun? Wider auf den Schulhof zurück und mit ansehen wie meine Gunhild von diesem Irren langsam zu tode gefoltert wurde? Nein!! Aber was dann? Ich habe kein Geld, um Leute anzuheuern und keinen Einfluß an Macht wie Herr Buth zum Beispiel ihn hat. Ich kann auch die Leute nicht mit Reden zur Überzeugung bringen. Da fiel mein Blick auf den alten Wasserturm welcher von der Rückseite des Bühnenhauses vom Theater gut zu sehen ist, und mir fiel ein, was mein Vater immer zu mir gesagt hatte: helf dir selbst, dann hilft dir Gott! Der Alte 119
Wasserturm war wie Sie vielleicht schon in Erfahrung gebracht haben von Dr. Enno Reinders als seine Wohnung hergerichtet worden. Er liegt am Ende der Kirchgasse direkt gegenüber dem Alten Friedhof. Dr. Enno Reinders, der ja später auch zur Hilfeleistung für die Klasse 13 a zum Einsatz gekommen ist, ist aber nicht nur praktizierender Arzt sondern auch bester KK-Schütze bei uns in der Schützenbruderschaft Hansa. Da hatte ich meine Erleuchtung! Dr. Reinders stand ja auf dem Schulhof zur 1. Hilfe also war niemand in seiner Wohnung, da ich auch seine Frau und seinen Sohn hinter den Sandsäcken gesehen hatte. Zweitens hatte Dr. Reinders eine große Auswahl an Gewehren. Als dritten Punkt möchte ich ins Feld führen daß man von den Fenstern des Alten Wasserturms aus volle Einsicht auf den Schulhof des Gymnasiums hat und auch in das Klassenzimmer 13 a. Schließlich hatte ich vor zwei Jahren als handwerklich beschlagener Mann unserem Schützenbruder beim Umbau des Alten Wasserturms nach Ankauf durch ihn mit Rat und Hilfe zur Seite gestanden und kannte mich dieserhalb in seinen Örtlichkeiten bestens aus. Gesagt, getan. Da die ganze Stadt ja von dem Geschehen auf dem Schulhof und in der 13 a in ihren Bann geschlagen war, kam ich ungesehen zum Fuße des Alten Wasserturms und verschaffte mir den Einstieg durch Aufbrechen der Kellertür, was ganz leicht war. Nach Durchwanderung aller Räume schien mir das kleine Fenster des Billardraumes von Herrn Dr. Reinders zur Durchführung meines Vorhabens insbesondere geeignet zu sein. Aus dem Gewehrschrank von Herrn Dr. Reinders hatte ich drei Stück in meinen Besitz gebracht, sozusagen der Sicherheit wegen. Es handelte sich wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, um eine Winchester 88 mit 308er Patronen und Zielfernrohr, aus Italien ein 120
Gewehr Marke Mannlicher-Carcano Modell 91/38 und eine 22er Winchester Magnum, beide mit Munition, die unter umständen ging. Mit einem der Zielfernrohre konnte ich deutlich die Gesichter der in der 13 a befindlichen Personen erkennen. Meine Gunhild war plötzlich ganz nah. und doch so fern. Blaß wie ein Leintuch war sie. Sie mußte jeden Augenblick umsinken. Das war unmenschlich, verstehen Sie. Und alles wegen Plaggenmeyer, diesem Schwein! Und wenn ich vielleicht schon wieder bereut hatte, behufs warum ich in Dr. Reinders Haus eingedrungen war. Jetzt wollte ich es wieder. Ich wollte diesen Plaggenmeyer abknallen wie einen räudigen Hund. Und meine Gunhild retten. Ich sagte mir du bist der dritt beste Schütze im Verein und kannst diesen Plaggenmeyer zur Kampfunfähigkeit schießen, ehe der die Bombe zünden kann. Herz oder Stirn da zuckt nichts mehr. Die Bullen mit ihr Gewissen! Die kriegen ihr Geld ja auch wenn sie nur hinter den Gräbern rumlungern und so tun als ob, bei denen stimmen die Kohlen ja und die haben keine Tochter zu verlieren, die sie liebhaben. Nein, nein, du bist der Einzigste der Plaggenmeyer erledigen kann hielt ich mir immer wieder vor. Du ganz allein. Ich traf alle Vorbereitungen. Jede Sekunde war kostbar.
12 Uhr 36 bis 12 Uhr 44 Ich stand etwas erhöht auf einem Sandsack und drehte mich langsam um die eigene Achse. Menschen über Menschen drängelten sich auf dem Schulhof. Da die bunte Sommerkleidung überwog, konnte man schlecht sagen: 121
alles war schwarz vor Menschen. Aber sinngemäß traf es zu. Die Kirchgasse, von wo aus man den größten Teil des langgestreckten Schulhofes überblicken konnte, war vollgestopft wie ein U-Bahnhof zur rush hour, ebenso das Kindergartengelände vor der Matthäi-Kirche und das Gelände des Alten Friedhofs. Auf den Grabsteinen standen die Kinder. Ältere Bürger, die in der Nähe wohnten, hatten sich zum Teil Leitern und Hocker mitgebracht. Feldstecher und Operngläser gingen von Hand zu Hand. Die Polizei achtete auf die Absperrungsmaßnahmen, sorgte für den erforderlichen Sicherheitsabstand und richtete ansonsten ihr Hauptinteresse auf die Ausfahrt zur Brammermoorer Heerstraße. Sie mußte frei gehalten werden, damit die Rettungswagen nach der Explosion so schnell wie möglich zum Kreiskrankenhaus rasen konnten. Das war die Situation auf dem Schulhof kurz nach halb eins. Da sich im Augenblick nichts Dramatisches tat, suchte ich in meiner Jackentasche nach einem Pfefferminzplättchen und betrachtete mir die Leute. Wie viele mochten es sein? Ich stellte mir mit den Augen kleine Karrees von je zehn Personen zusammen und summierte dann, die ganze Arena abtastend, Quadrat zu Quadrat. Ich kam auf etwa vierhundert Personen. Da ich mal als Sportreporter begonnen hatte, eine sicherlich einigermaßen zutreffende Schätzung. Wenn man die Eltern der eingeschlossenen Schüler und alle die, die ihnen irgendwie verbunden waren, einmal ausnahm, könnte man sagen: die Menge begann sich zu langweilen. Man hatte schaudernd den Schrecken, die Panik, das Blutbad genießen wollen, man hatte das orgiastische Gefühl auskosten wollen, nicht betroffen zu sein und weiterleben zu dürfen, man hatte, insoweit völlig Schlachtenbummler, mit eigenen Augen einem sensationellen Schauspiel beiwohnen wollen, dessen Schilderung 122
später bei allen Zuhörern gespannte Gesichter und leuchtende Augen hervorrufen würde, bis in die nächste und übernächste Generation. Damals, im Sommer 1973, da … Was passierte schon sonst in Bramme? Nichts, was die Welt wissenswert fand. Dies hier war wahrscheinlich das einzige Ereignis in diesem Jahrhundert, das die Gazetten von New York und San Francisco, von London und Paris, von Rio, Tokio, Kapstadt, Kairo erreichte. Bramme – wenigstens zehn Zeilen auf einer Seite! Für den Ablauf der Geschichte ohne Bedeutung, doch für das eigene Leben eine Geschichte von hohem Stellenwert, die für Jahre Thema von Gesprächen, Zeitungsartikeln, Schulaufsätzen, politischen Disputen und wissenschaftlichen Untersuchungen sein würde. Aber im Moment tat sich nichts. Die Sache war plötzlich für die Leute so langweilig geworden wie ein Fußballspiel des TSV, das nach neunundachtzig Minuten noch immer null zu null steht. Die Menge – manche standen schon vier Stunden hier – war enttäuscht, sie fühlte sich betrogen. Einige von denen, die in der Kirchgasse in den Fenstern lagen, wie beim Kölner Rosenmontagszug etwa, forderten die Polizisten auf, endlich zum Angriff überzugehen. Man habe schließlich noch was anderes zu tun, als hier zu warten! Der Auftritt von Plaggenmeyers Mutter war auch ein Reinfall gewesen. Plaggenmeyer hatte sie bis zum Fenster kommen lassen und dann nur kühl entgegnet: „Wenn du denkst, daß du mich auf diese Art loswerden kannst, hast du dich geirrt!“ Dann hatten die Polizisten sie gepackt und weggeführt. Lissy Plaggenmeyer. Ich muß ehrlich gestehen, daß ich mir ihren Auftritt auch ein wenig anders vorgestellt hatte. Wir hatten uns alle die Rettung von ihr erhofft, daß sie ihren Sohn zum Aufgeben bewegen würde. Jetzt frage ich mich, was uns eigentlich zu dieser Annahme verleitet hatte? Daß die beiden ein schlechtes oder, bes123
ser gesagt, gar kein Verhältnis zueinander hatten, war allgemein bekannt. Andererseits, wenn ich mir die Sache genau überlegte, war ihr Erscheinen vielleicht doch nicht ganz vergeblich gewesen: Aus dem einen Satz, den Plaggenmeyer gesprochen hatte, war klar erkenntlich geworden, daß er seine Mutter haßte, die ihn quasi ausgesetzt hatte. Seine Rache bestand nun darin, daß er aus seiner Existenz einen ständigen Vorwurf ihr gegenüber machte. So gesehen, hätte er ihr mit seinem Selbstmord einen Gefallen getan. Und so gesehen, hatte Lissy Plaggenmeyers Auftritt doch noch sein Gutes bewirkt. Und sie? Wollte sie ihren Sohn vernichten, der im Grunde auch ihr Leben vernichtet hatte? Wollte sie sich an der Stadt, die sie ausgestoßen hatte, auf diese Art und Weise rächen? Hatte sie gehofft, selber von den herumfliegenden Trümmern getötet zu werden? Aber wie dem auch sei, sie hatte ihren Sohn weder zu einer Kurzschlußhandlung verleiten noch zum Aufgeben überreden können. Lissy Plaggenmeyer war damit ebenso abzuhaken wie Hans-Henning Hackbarth. Dafür hatte eine Reihe anderer Personen im oben angegebenen Zeitraum die große Freilichtbühne des Albert-Schweitzer-Gymnasiums zu Bramme betreten oder aber jenseits der Ränge Posten gefaßt. Genschers Mann von der Sondertruppe GSG 9 hatte sich, dem Druck Dr. Jentschureks und der meisten Eltern nachgebend, nun doch entschlossen, fünf ausgewählte Scharfschützen im Gebäude der Friedhofsverwaltung, im Turm der Matthäi-Kirche und auf dem Dach des evangelischen Gemeindehauses zu verteilen. Diese Maßnahme schien mir aber, wie Kämena mir noch bestätigen sollte, mehr Alibi zu sein als ernsthafte Waffe. Ihr Einsatz würde aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod für Plaggenmeyer und die zweiundzwanzig Schüler bedeutet haben. Selbst wenn es wirklich einem gelingen sollte, ihn mit dem ersten Schuß zu erwischen – und das war wenig wahrschein124
lich –, selbst wenn ihm die Kugel schon das ganze Gehirn zerfetzt hätte, hätte nicht noch ein letztes Zucken der linken Hand genügt? Oder hätte nicht sein toter Körper auf den Kontaktknopf fallen können? Dies war den fünf Männern mit den Präzisionsgewehren bekannt, und ihnen war deutlich gesagt worden: Äußerste Zurückhaltung! Was aber, wenn einer von ihnen es trotzdem versuchte, wenn einer glaubte, eine Chance zu sehen? Meine Gedanken an die fünf Männer da hinter ihren Schießscharten wurden von Dr. Jentschurek unterbrochen, der anscheinend einen Zuhörer suchte. „So was hätt’s früher nicht gegeben!“ begann er und sah mich beifallheischend an. „Aber heute – bei dieser Erziehung. Die Kinder kriegen doch von kleinauf alles, was sie haben wollen. Da müssen sie ja in dem Gedanken aufwachsen, die Welt habe nichts weiter zu tun, als für sie zu sorgen.“ „Hm …“, brummte ich als einzige Antwort. Jentschurek schien das als Zustimmung aufzufassen und fuhr eifrig fort: „Daß Eltern etwas verbieten – das gibt’s gar nicht mehr. Sagt mir doch neulich Doktor Blumenröder: ‚Wenn Dörte achtzehn ist, dann soll sie selber entscheiden.‘ Du liebe Güte, als ob Achtzehnjährige das könnten! Aber so eine Haltung ist natürlich bequemer, als wenn man sich mit den eigenen Kindern anlegt. Sie sollen es mal leichter haben, als wir es gehabt haben, kriegt man immer zu hören, aber ich sage Ihnen, das ist nichts als Bequemlichkeit …“ Er brach ab, denn plötzlich ging die Tür des Klassenzimmers auf, und ein Arzt eilte in den Raum. Ich erstarrte. „Was ist denn nun?“ Auch Jentschurek war aufgeregt. „Zwei Schüler sind ohnmächtig geworden!“ rief Kämena. „Doktor Reinders sieht mal nach, was los ist.“ 125
Offenbar hatte Plaggenmeyer die Aktion gebilligt, und wir hatten die Vorverhandlungen nicht mitbekommen. Buth griff nach dem Megaphon. „Wie steht’s, Doktor Reinders?“ „Elke Addicks und Hanno Geffken“, schrie Dr. Reinders zurück. „Atemnot, Todesangst. Ein neurotischer Herzanfall und ein Infarkt wohl. Ich kann ihnen was spritzen, aber die beiden gehen kaputt, wenn sie noch lange hier sitzen.“ „Also: Klinik?“ „Ja!“ „Geben Sie bitte die beiden Kranken frei!“ rief Buth. „Wir bitten Sie sehr herzlich darum.“ Plaggenmeyer schien aus einem seiner Tagträume zu erwachen, schien es nicht fassen zu können, daß das Unwirkliche noch immer Wirklichkeit war. „Gut“, sagte er schließlich, „aber dafür bleibt Doktor Reinders hier.“ Das war ein geschickter Schachzug, denn mit einem Arzt zur Hand verminderte er die Gefahr einer Panik. Wortlos winkte Reinders zwei Sanitäter herbei, die die beiden Schüler hinausschafften, dann ließ er sich ebenso wortlos auf Hanno Geffkens Bank nieder. „Ist Reinders zufällig Psychiater?“ erkundigte ich mich bei Buth. „Nein, Allgemeinpraktiker.“ Buth schaute mit einigem Unbehagen zum Klassenraum hinüber. Wir hatten aber keine Gelegenheit mehr, über Dr. Reinders zu diskutieren, denn Kämena kam gerade aus dem Einsatzwagen geklettert und verkündete aufgeregt: „Die Polizei hat in Brake einen Abschiedsbrief von Bleckwehl entdeckt. Wie wir angenommen hatten: Selbstmord, weil er Corinna Voges überfahren hat. Corzelius ist schon auf dem Wege hierher.“ „Ist ja großartig. Das muß Plaggenmeyer sofort erfahren.“ 126
Buth drückte Kämena das Megaphon in die Hand. Während dieser die Nachricht übermittelte, sah ich, wie Buth den Schulhof verließ.
12 Uhr 44 bis 12 Uhr 59 Dr. Ralph Carpano hatte sich um Viertel nach zwölf in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen, dafür gibt es eine Reihe von Zeugen, und daß er sich seinem autogenen Training zugewandt hatte, scheint mir ebenso sicher, denn weshalb hätte er sonst der Telefonzentrale Order gegeben, kein Gespräch durchzustellen? Da Buth, laut Aussage des Pförtners, das Brammer Kreiskrankenhaus gegen zwölf Uhr fünfundvierzig betreten hatte, dürfte Carpano rund eine halbe Stunde Zeit für seine Innenschau gehabt haben. Ich stelle mir vor, wie Dr. Carpano lang ausgestreckt und entspannt auf seiner Couch lag, eine leichte Decke über die Füße gebreitet, ein weiches Kissen unter dem Kopf, und mit der Einstimmungsformel begann. Ich bin ganz ruhig. Ich bin ganz ruhig. Dann der Reihe nach die Standardformeln. Rechter Arm ganz schwer. Linker Arm ganz schwer. Beide Arme ganz schwer. Rechtes Bein ganz schwer. Linkes Bein ganz schwer. Beide Beine ganz schwer. Rechter Arm strömend warm. Linker Arm strömend warm. Beide Arme schwer und strömend warm. Rechtes Bein strömend warm. Linkes Bein strömend warm. 127
Beide Beine schwer und strömend warm. Mein Herz schlägt ruhig, kräftig und gleichmäßig. Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Mein Leib ist strömend warm. Meine Stirn ist angenehm kühl. Ich bin ganz ruhig. Die Ruhe wird immer tiefer. Die Ruhe wird immer tiefer … Trotz der ungeheuren Anspannungen dieses Tages gelang es ihm bald, den gewünschten hypnoiden Zustand zu erreichen, eine wohltuende Entspannung der Muskeln, eine angenehme Schläfrigkeit und ein abgesenktes Bewußtsein. Er genoß diesen Zustand eine Weile, bis er mit den formelhaften Vorsätzen begann, die es ihm ermöglichen sollten, diesen Tag zu überstehen. Ich habe keine Angst. Die Angst ist geschwunden. Ich bin ruhig, sicher, fest und frei. Ich stehe über der Situation. Ich bewältige den Tag. Um den letzten Abstand von der Realität zu bekommen, begann er mit seinen konzentrativen Einstellungen, indem er sich in seine Lieblingsfarbe hineinfallen ließ, ein kräftiges Violett. Wie auf einem Radarschirm, wie auf einem endlosen Bildschirm, den seine geschlossenen Lider bildeten, bewegten sich Farbkreise auf ihn zu, wirbelten durcheinander. Durchsichtige Kugeln kamen wie Seifenblasen auf ihn zugeschwebt und schlossen ihn ein, bis er schwerelos in einem violetten Farbmeer schwamm. In der Distanz dieser unendlichen Stille und Harmonie fand er die Kraft, sich seinem Richter zu stellen. Da war ein großer Saal, so groß, daß er das Ende nicht erkennen konnte. Die Wände mußten irgendwo weit hinter dem violetten Nebel liegen. Vielleicht gab es auch gar keine Wände und befand er sich irgendwo im Weltenraum … 128
Das einzige, das er erkennen konnte, das Konturen hatte, war ein langgestreckter Tisch vor ihm wie eine Art Theke, der aber so hoch war, daß er, der etwa in drei Meter Abstand davorstand, nicht auf die Platte hinaufsehen konnte. Doch den Mann dahinter konnte er deutlich erkennen. Nicht die Züge, aber das schwarze Barett des Richters auf dem Kopf, den weißen Kittel und das große goldene Kreuz, das er auf der Brust trug. Dieser Mann begann mit leidenschaftsloser Stimme, die hallte, als ob sie von den Felsen einer Grotte zurückgeworfen wurde, Fragen zu stellen. Sie heißen? Dr. Ralph Maria Carpano. Geboren? Am 3. 8. 1931 in Nonnenhorn/Bodensee. Vater? Wolfram Maria Carpano, Rechtsanwalt und Notar. Mutter? Anna Carpano, geborene Rebele, Hausfrau. Wie war Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern? Zu meinem Vater – nicht schlecht. Allerdings hatte er wenig Zeit für mich und ist gestorben, als ich gerade sechzehn war. Und zu Ihrer Mutter? Ambivalent, schizophren. Erklären Sie das. Ich weiß, daß man seiner Mutter Liebe schuldet, aber ich habe gelernt, sie zu hassen. Sie hassen Ihre Mutter? Weil sie mich zu dem Krüppel gemacht hat, der ich heute bin. Krüppel? Sie sind doch ein gesunder, gutaussehender Mann. Äußerlich ja. Aber sonst … Meine Mutter hat ständig an mir herumgenörgelt, hat mich ständig kritisiert, hat mich nie gelobt. Hatte ich eine Zwei in Mathematik, so 129
hieß es: Warum hast du keine Eins? Herbert hat auch eine Eins, und du hattest mehr Zeit zum Lernen als er. In dem Jahr, als ich bayerischer Jugendmeister im Tennis wurde, sagte sie: Bei dem teuren Trainer, den du hast, hättest du auch deutscher Meister werden können. Und so ging das meine ganze Jugend hindurch. Sie wollen also sagen, Ihre Mutter sei schuld daran, daß Sie Corinna Voges überfahren und anschließend Fahrerflucht begangen haben? Nein, aber … Sie hat mich zu einem Menschen gemacht, der süchtig ist nach Anerkennung, nach Lob und Erfolg, der überall der Größte und der Erste sein will und muß. Ich habe einen ungeheuren Nachholbedarf nach Anerkennung. Verstehen Sie. Nein. Was hat das aber mit Ihrer Tat zu tun, Herr Dr. Carpano? Für mich sind alle Menschen nur Instrumente, nur Mittel zum Zweck. Ich benutze sie, um durch sie neue Erfolge zu erringen. Ich beute sie aus. Kommen Sie zur Sache. Ich dachte, ein Richter müßte sich für die psychologische Seite eines Verbrechens interessieren. Ich verurteile Sie wegen Ungebühr vor Gericht zu einer Geldstrafe von fünf Milliarden Mark, zu zahlen an die nicht Strahlengeschädigten Ihrer Klinik. Ich erzähle Ihnen das nur, um Ihnen klarzumachen, warum ich mich von meiner Frau getrennt habe. Sie sind geschieden? Ja. Seit wann sind Sie geschieden? Seit dem 4. April 1968. Warum? Ich hatte nur meine Arbeit im Kopf, meinen Beruf, meine Karriere. Chefarzt, die Professur, einen Lehrstuhl, internationale Anerkennung als Forscher … Christiane sollte mir dabei helfen. Bücher für mich lesen, Exzerpte 130
anfertigen, Russisch lernen, damit ich mir den Inhalt der östlichen Fachzeitschriften leichter zugänglich machen konnte, Kontakte zu einflußreichen Personen knüpfen. Zuerst ging es auch, aber dann … Sie wollte in ihrem eigenen Beruf vorwärtskommen, kreativ sein; ich hielt sie für eine Stümperin. Sie wollte Kinder haben; für mich waren Kinder nur eine lästige Störung bei meiner Arbeit. Und wo ist der Zusammenhang zwischen Ihrer Tat und dem Scheitern Ihrer Ehe? Ich komme von Christiane ebensowenig los wie von meiner Mutter. An dem Abend, als das mit Corinna Voges passierte, hatte ich … Reden Sie weiter. An dem Abend hatte ich … Herr Dr. Carpano, ich fordere Sie auf, dem Gericht mitzuteilen, was Sie an dem Abend gemacht haben. Um dreiundzwanzig Uhr rief mich meine Mutter in der Klinik an und teilte mir mit, daß Christiane soeben einen Jungen bekommen hatte – von ihrem zweiten Mann. Weiter. Bis zu dieser Nacht hatte ich immer noch gehofft, Christiane würde zu mir zurückkommen. Eines Tages würden wir noch einmal von vorne anfangen können. Verstehen Sie, sie hatte den Mann, mit dem sie zusammen lebte, nicht geheiratet. Sie ist katholisch wie ich und konnte es nicht, da wir ja kirchlich getraut waren. Aber jetzt mit dem Kind – jetzt ist es endgültig aus, jetzt kommt sie nie mehr zurück. Und in dieser Stimmung bin ich dann die Brammermoorer Heerstraße entlanggefahren. Sie haben Corinna Voges nicht gesehen? Nein. Kann es nicht sein, daß Sie sie mit Absicht überfahren haben, um sich an allen Frauen zu rächen? Unbewußt vielleicht? 131
Die Frage kann ich nicht beantworten. Warum sind Sie nicht ausgestiegen und haben versucht, dem Mädchen zu helfen? Ich hatte schon wieder Gas gegeben. Aber Sie hätten umkehren können. Alle wären über mich hergefallen, mein Ruf wäre ruiniert gewesen, Herr Buth hätte mir die Leitung des Brammermoorer Kurzentrums nicht mehr übertragen können. Ich wollte mich doch voll und ganz auf die Gerontologie werfen, und ich finde nirgendwo bessere Möglichkeiten zum Forschen als in diesem Zentrum für Herz- und Alterskrankheiten. Sie wissen, daß das Mädchen möglicherweise hätte gerettet werden können, wenn sofort ein Arzt zur Stelle gewesen wäre? Ja. Warum sind Sie eigentlich Arzt geworden? Das stand bei uns von vornherein fest. Mein älterer Bruder Jurist, um die Anwaltskanzlei meines Vaters zu übernehmen. Mein jüngerer Bruder Betriebswirt, um unsere Geschäfte, unsere Unternehmen weiterzuführen. Meine Schwester Dolmetscherin und mit einem Politiker verheiratet, um uns einen Lobbyisten zu sichern. Und ich mußte Arzt werden. Unter anderem, um die diversen Familienmitglieder medizinisch zu versorgen. Ich wußte schon als Schulanfänger, daß ich Arzt werden würde. Und Sie sind ein guter Arzt geworden? Ja, ein sehr guter sogar. Obwohl Sie die Menschen hassen? Ich hasse sie nicht, sie sind Material für mich. Ihr Schicksal interessiert mich nur insoweit, als es von der psychosomatischen Seite her für den Heilungserfolg von Bedeutung ist. Also Versuchsobjekte? Ja. Aber vielleicht ist gerade das der Grund für meine Erfolge. 132
Aber Sie erwarten von Ihren Patienten, daß man Sie lobt, daß man Ihnen Zuneigung entgegenbringt. Ja. Und mit dem Widerspruch kann man leben? Nein. An sich nicht. Dann könnte der Mord an Corinna Voges eine Erlösung für Sie sein? Jetzt überziehen Sie den tiefenpsychologischen Aspekt. Meinen Sie nicht, daß ein guter Arzt auch ein guter Mensch sein müsse? Nein. Bernard Shaw hat einmal sehr treffend gesagt: „Die Ärzte sind wie alle anderen Menschen, sie haben keine Ehre und kein Gewissen.“ Dann gilt der Begriff des ärztlichen Ethos nicht für Sie? Ich wollte Erfolg haben. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, wochentags, sonnabends, sonntags. Ich bin besessen von meiner Arbeit, das ist zwangsneurotisch. Aber es geht mir nicht um meine Patienten, es geht mir ganz allein um mich. Als Ingenieur, als Berufssportler, als Astronom, als Schauspieler wäre ich ebenso erfolgreich gewesen. Genie ist im Grunde nichts weiter als gut getarnter Fleiß. Gibt es denn gar keine Werte für Sie? Nein. Werte sind von Menschen geschaffen für Menschen, die es nötig haben, sich an Wertmaßstäben festzuhalten. Alle Götter und alle politischen Ideologien sind nur ein Selbstbetrug des Menschen. Und dennoch haben Sie im Laufe Ihrer Berufsausübung Tausenden von Menschen geholfen und ihnen das Leben gerettet? Ja. Und warum? Nur wenn einer lebt, weiß ich, daß er sich quält. Das ist es vielleicht. Kehren wir also wieder zu dieser tragischen Nacht zurück, Herr Dr. Carpano. Was haben Sie nach Ihrer Fahrerflucht getan? 133
Ich bin auf dem schnellsten Wege zu meinem Freund Günther Buth gefahren. Zu seinem Bauernhof am Brammer Berg? Ja. Ein ziemlich abgelegenes Gehöft. Und dann? Buth hat genau den gleichen weinroten Mercedes wie ich, gleiche Type, gleiches Baujahr. Wir haben in aller Eile die Nummernschilder ausgetauscht. Und Sie sind dann mit Buths unversehrtem Wagen, an dem sich aber jetzt Ihr Nummernschild BRE-RC 427 befand, nach Hause gefahren? Ja. Und die Kriminalbeamten von der Spurensicherung haben einen völlig unbeschädigten rechten Kotflügel vorgefunden? Ja. Und der hätte, wenn Sie der Täter gewesen wären, zerbeult sein müssen, ein Scheinwerfer kaputt, Stoffetzen an den scharfen Kanten …? Ja. Und außerdem war es für die Beamten völlig undenkbar, daß ein ehrenwerter Mann wie Sie so etwas getan haben könnte? Ja. Die ganze Untersuchung war ihnen sehr peinlich, und sie haben sich tausendmal entschuldigt. So daß niemand auf die Idee kam, Motor- und Fahrgestellnummer zu kontrollieren? Nein. Und weiter? Buth hat sich sofort in meinen Wagen gesetzt und ist noch in der Nacht etwa zweihundert Kilometer nach Süden gefahren, bis nach Dortmund. Da ist er dann mit genau berechneter Wucht vor den Augen zweier Zeugen gegen einen Baum gefahren. Eine Werkstatt war gleich in der Nähe, der Mann besorgte von einem anderen Unfallwagen einen Kotflügel in der gleichen Farbe, gegen Mit134
tag war Buth wieder in Bramme, und am Abend haben wir dann die Nummernschilder wieder umgeschraubt. Und warum hat Herr Buth das für Sie getan? Ich weiß es nicht genau. Weil Sie miteinander befreundet sind? Vielleicht. Weil sein Kurzentrum ohne Sie zum Scheitern verurteilt worden wäre? Mag sein. Herr Dr. Carpano – ich frage Sie, ob Sie alle meine Fragen wahrheitsgemäß beantwortet haben? Ich bin und bleibe ganz ruhig. Die Ruhe wird immer tiefer. Ich habe keine Angst. Ich stehe über der Situation. Niemand wird etwas erfahren. Niemand wird etwas erfahren. Niemand wird etwas erfahren. Es klopfte. Er schrak zusammen, nahm sich aber noch die Zeit zur Zurücknahme. Ein schnelles Formelkommando: Arme fest! Tief atmen! Augen auf! Carpano sprang auf, drehte den Schlüssel herum, öffnete die gepolsterte Tür und ließ Buth eintreten. „Hallo!“ sagte Buth. „Ausgeschlafen?“ Carpano nahm wortlos hinter seinem Schreibtisch Platz. Mit einem mehr ironisch gemeinten „Darf ich …?“ ging Buth auf die Rückseite von Carpanos massigem Schreibtisch zu, schloß das hintere Fach auf und nahm sich die Cognac-Flasche und ein Glas heraus. „Du auch einen?“ „Nein.“ Buth schenkte sich ein, probierte genießerisch den 135
ersten Schluck, ließ die Flüssigkeit im Schwenker kreisen und kippte den Rest hinunter. Dann ließ er sich in den Besuchersessel fallen. „Du strahlst so, als wäre dein TSV in die zweite Bundesliga gekommen“, sagte Carpano mit einer gewissen Feindseligkeit in der Stimme. „Dazu hab ich auch allen Grund“, berichtete Buth selbstzufrieden. „Die Sache ist jetzt geritzt. Corzelius ist gar nicht auf den Gedanken gekommen, die Echtheit von Bleckwehls Geständnis anzuzweifeln. Und wenn er dran glaubt, wird es Plaggenmeyer auch tun. Er ist schon wieder auf dem Rückweg nach Bramme.“ „Ich kann mir nicht helfen – irgendwie komme ich mir mies dabei vor …“, sagte Carpano leise. „Wenn du beichten willst: in Cloppenburg haben sie bestimmt noch’n Beichtstuhl frei!“ „Dein Zynismus kotzt mich manchmal an!“ „Und mich kotzt deine Wehleidigkeit an!“ Carpano stand auf und lief im Zimmer auf und ab. „Ich wünschte, ich wäre dir nie übern Weg gelaufen! Ohne dich wäre ich –“ „Sprich dich ruhig aus.“ „Ach, es hat ja doch keinen Zweck.“ Jetzt schenkte sich auch Carpano einen Cognac ein und trank ihn mit einem Schluck aus. „Du willst sagen. – ohne mich hättest du irgendeinen Lehrstuhl. Ich weiß. Aber es ist kindisch von dir, mich für alles verantwortlich machen zu wollen, was nicht so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast. Ein Lehrstuhl! Als ob das so erstrebenswert wäre, heute bei all diesen Studentenunruhen. Wenn du erst mal der Leiter des Kurzentrums bist …“ „Dieses Kurzentrum – ich kann das Wort schon nicht mehr hören“, fuhr Carpano hoch. „Der große Buth, der alle seine Kraft und seine Energie dafür einsetzt, um das Projekt seiner geliebten Vaterstadt vor dem Ruin zu ret136
ten! Indem er einen hochrenommierten Internisten als Leiter dafür gewonnen hat. Daß dieser Internist gar nicht so scharf auf diesen Posten ist, ahnt ja niemand.“ „Es ahnt auch niemand, daß besagter Internist allerhand Dreck am Stecken hat“, fiel Buth ihm höhnisch ins Wort. „Selbst wenn demnächst Abtreibungen vielleicht erlaubt sein werden – als du es getan hast, waren sie es noch nicht, und komm mir jetzt bloß nicht damit, daß du es aus sozialer Indikation getan hast –, die Damen haben alle ganz hübsch dafür gezahlt. Und es nebenbei auch gekonnt.“ „Es war mein Fehler –“, begann Carpano, aber Buth fiel ihm ins Wort. „Es war vielleicht mein Fehler, daß ich dich etwas gewaltsam hierbehalten habe. Ich gebe zu, daß ich egoistische Gründe dabei gehabt habe, aber andererseits … Wie heißt es doch so schön: wie ein Blatt im Wind. Und du bist wie ein Blatt im Wind – mal hier, mal da, überall verloren. Bramme hätte der Halt für dich sein, du hättest hier Wurzeln schlagen können.“ „Vielleicht hast du auch nur darum dafür gesorgt, daß Plaggenmeyer den verursachten Schaden bei dir abarbeitet, damit er in Bramme Wurzeln schlägt, du großer Menschenfreund.“ „Du brauchst das gar nicht so ironisch zu betonen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, wenn er nach Frankfurt oder Hamburg gegangen wäre.“ „Ich weiß aber, was aus ihm geworden ist, indem er in Bramme geblieben ist! Jetzt sitzt er nämlich in der Klasse dreizehn a und will zweiundzwanzig Schüler in die Luft sprengen.“ „Weil du seine Braut überfahren hast.“ „Ja. Und außerdem, weil du hier wie ein Renaissancefürst regierst!“ „Besser Buth als das Chaos. Du wirst lachen: Ich bin überzeugt davon, daß es auch in der Bundesrepublik 137
eines Tages einmal zu einer sozialistischen Ordnung kommen wird. Eines Tages – aber nicht heute und nicht morgen! Und bis dahin sind Leute wie ich unentbehrlich, weil es in jeder Gesellschaft irgendeine Ordnungsmacht geben muß – gleich ob eine Priesterkaste, eine Militärjunta, eine allmächtige Bürokratie, der Adel oder die Unternehmer.“ „Ich bin bestimmt kein Linker, konservativ und katholisch, wie ich erzogen worden bin, aber vor der Ordnungsmacht Günther Buth, da graust es mir langsam auch! Kein Wunder, daß dieser Corzelius da und diese Gunhild mit ihren rätedemokratischen Vorstellungen langsam immer mehr Gehör finden.“ „Die große Wandlung des Doktor Ralph Carpano!“ spottete Buth. „Vom Konservativen zum Linksextremisten.“ Erst sah es so aus, als würde Carpano auf Buth losgehen, aber dann ging er um seinen Schreibtisch herum, ließ sich schwer auf den Sessel dahinter fallen, stützte die Ellbogen auf und legte das Gesicht in die Hände. „Tut mir leid, ich bin so ziemlich am Ende“, stieß er hervor. „Du kannst es drehen und wenden, wie du willst: Ich habe das Mädchen getötet, und das kann man nicht so einfach verdrängen.“ „Idiot, du!“ Buth stand auf und packte ihn an beiden Schultern. „Du hast Hunderten von Menschen das Leben gerettet, abgesehen mal von der Sache mit dem Betatron. Vergiß Corinna Voges; tu so, als wäre dir eine Patientin trotz aller deiner Bemühungen gestorben.“ „Du hast gut reden …“ „Und außerdem: wem nützt du, wenn du im Gefängnis sitzt? Da klebst du Tüten, aber wenn du im Kurzentrum arbeitest, kannst du jeden Monat Dutzenden von Menschen helfen. Das wiegt das eine doppelt und dreifach auf!“ „Ja, das stimmt schon …“ 138
„Unser Pakt gilt also weiterhin: Du bringst mir mein Projekt zwei Jahre lang über die Startschwierigkeiten hinweg – und ich sorge dafür, daß Plaggenmeyer aufgibt und Bleckwehl als Mörder des Mädchens dasteht. Dem schadet’s nichts mehr, und seine Frau tröste ich mit einem fünfstelligen Kredit … Einverstanden?“ „Ja …“ „Gut. Ich fahre jetzt zum Schulhof zurück und regle die Sache, wenn Corzelius aus Brake zurück ist. Und wenn es dich beruhigt, werde ich auch was für Plaggenmeyer tun, wenn er hier in Bramme vor Gericht kommt.“ „Das wäre schön, ja.“ „Ich sage dir sofort Bescheid, wenn Entwarnung gegeben worden ist. Auf dem Schulhof werden wir dich ja nicht mehr brauchen.“ „Hoffentlich …“
12 Uhr 59 bis 13 Uhr 09 Die etwas gelangweilte Stimmung auf dem Schulhof des Albert-Schweitzer-Gymnasiums hielt an, die Schlachtenbummler erwarteten die zweite Halbzeit. Ich hatte meinen angestammten Platz hinter der Sandsackbrüstung wieder eingenommen und sah, ebenso wie Kämena, Lankenau, Dr. Jentschurek, der Mann von der GSG 9 und die anderen Eingeweihten, zum Himmel hinauf, ob nicht endlich der Hubschrauber auszumachen wäre, der Corzelius aus Brake zurückbringen sollte, damit endlich dieser Alptraum zu Ende gebracht wurde. Zu einem glücklichen Ende? Manchmal beschlich mich der Verdacht, daß eine Katastrophe gewissen Leuten eher zupaß kommen würde. Dann konnten sie endlich vom Leder ziehen. Dr. Jentschurek, um gegen die parlamentarische Demokratie zu wettern, die zu schlapp sei, um der139
artige Vorkommnisse zu verhindern, Lankenau, um sich für das Reformprogramm seiner Partei einzusetzen, für den behandlungsorientierten Strafvollzug, für die Fristenlösung bei der Abtreibung, für eine verbesserte Lehrlingsausbildung – und so weiter. Kämena, um den Brammern zu beweisen, daß diese Katastrophe hier nicht eine Folge seines Versagens sei – ebenso wie die Nichtaufklärung anderer Verbrechen –, sondern eine Art höherer Gewalt. Buth, um damit seine Argumentation für eine christliche Law-and-Order-Politik unter Federführung der ordnenden und werteschaffenden deutschen Unternehmer zu stützen. Corzelius und ich, um unsere journalistische Brillanz zu beweisen und einen nichtexistenten deutschen Pulitzer-Preis zu erringen. Und die Hunderte von Zuschauern, um ihren Hunger nach Spielen zu stillen, nach Spielen, die nur noch kitzelten, wenn sie blutig endeten. Zumindest unbewußt warteten wir alle auf Opfer, Blut und Schrecken. Die Geschehnisse der nächsten anderthalb Stunden sollten mir zeigen, daß ich die Stimmung richtig eingeschätzt hatte. Für die Eltern der betroffenen Schüler und einige ihrer Freunde, Bekannten und anderen Verwandten sah die Sache natürlich anders aus, da war der Schmerz echt, da war die Angst echt, aber sie waren derart in der Minderheit, daß sie gar nicht ins Gewicht fielen. Wir waren schon dabei, uns ihren Schmerz und ihre Angst für unsere Zwecke nutzbar zu machen. Man bezeichnet eine Stadt manchmal als einen formlosen Sandhaufen von Individuen. Zumindest, was Bramme angeht, habe ich da so meine Bedenken. Die Brammer hinter mir waren eine wohlformierte und vom gleichen Geist beseelte Armee. Objektiv gesehen und an Chicago, New York oder Detroit gemessen, war Bramme ganz sicher keine kaputte Stadt, doch sie hatte schon entsetzlich viele Sprünge. Die Mehrheit ihrer Bürger 140
aber hatte längst das Mittel gefunden, mit diesen Sprüngen zu leben: sie wurden übertüncht. Was auch geschah, Bramme blieb heil. Noch Hunderte von Generationen konnten aus dieser Tasse trinken. Die Kosten spielten keine Rolle. Tote verlangen kein Geld mehr. „Er kommt!“ Ein Aufschrei riß mich aus meinen Gedanken. Und da hörte ich selber schon das Geräusch der Rotorenblätter. Der Hubschrauber mit Corzelius schwebte von Nordosten her auf das Gelände der Schule zu und landete dann auf dem frei gehaltenen Platz zwischen Turnhalle und Matthäi-Kirche. Wir alle sahen gebannt zu, wie Corzelius aus der Kanzel kletterte und schnell durch die Gasse der Polizeibeamten auf die Sandsackbarriere zuschritt. Jemand reichte ihm das Megaphon, das er sofort vor den Mund setzte. „Bertie – hallo!“ Und als Plaggenmeyer den Kopf zum Fenster wandte, fuhr er fort: „Es stimmt. Bleckwehl ist tatsächlich tot Die Werkstatt ist ein Trümmerhaufen. Und in seinem Schreibtisch hat sich ein Abschiedsbrief angefunden, in dem er zugibt, daß er Corinna … Damit ist alles klar. Soll ich ihn dir bringen?“ Plaggenmeyer schwieg. „Ob ich dir den Brief bringen soll?“ „Nein – Sie nicht!“ schrie Plaggenmeyer zurück. Warum nicht Corzelius? Fürchtete er, Corzelius könne einen Alleingang versuchen, der ihn, Plaggenmeyer, zwingen würde, seine Bombe zu zünden – was er vielleicht nicht mehr wollte? „Wer dann?“ rief Kämena, der sich seinen Mitbürgern wieder mal ins Gedächtnis bringen wollte. „Sie!“ Kämena zuckte zusammen. Doch dann schaltete er überraschend schnell. „Herr Stoffregen war mit in Brake; Herr Stoffregen wird Ihnen das Geständnis und ein paar 141
Polaroid-Fotos von Bleckwehls Leiche und der zerstörten Werkstatt bringen sowie …“ „Ist das Geständnis mit der Maschine geschrieben?“ „Nein, mit der Hand!“ rief Kämena. „Wie soll ich wissen, ob es Bleckwehls Handschrift ist?“ schrie Plaggenmeyer. Corzelius griff wieder ein. „Ich hab dir ein paar Briefe mitgebracht, die Bleckwehl an seine Frau geschrieben hat.“ Er zog ein paar zerknitterte Umschläge aus der Gesäßtasche seiner Jeans. „Einer aus Wolfsburg, von ’ner Werksbesichtigung, fünfundzwanzigster April neunzehnhundertzweiundsiebzig; einer von der HannoverMesse, zweiter Mai neunzehnhundertdreiundsiebzig; einer von ’nem Ausflug nach Rüdesheim, erster Juni neunzehnhunderteinundsiebzig. Reicht dir das?“ „Ja. Stoffregen soll alles mit erhobenen Händen hier ans Fenster bringen.“ „Okay!“ Die Übergabe der Briefe lief ab wie der Dokumentenaustausch bei einer Kapitulation. Der Kapitulation der Menschen vor einer Welt, die sie selbst geschaffen hatten. Stoffregen erreichte die Fensterbrüstung, legte vorsichtig, um Plaggenmeyer nicht durch eine unbedachte Bewegung zu erschrecken, die Papiere auf die Fensterbank und zog sich dann, noch immer mit erhobenen Händen, hinter die Sandsäcke zurück. Unterdessen hatte Dr. Reinders, der offenbar eine beruhigende Wirkung auf die Primaner ausübte, zwei Büroklammern auseinandergebogen. Auf die eine spießte er dann nacheinander und mit aufreizender Gelassenheit Bleckwehls Geständnis, die Fotos, das Gutachten und die Briefe, und die andere drückte er in die grüne Gummispitze des langen Zeigestocks, den Dr. Jentschurek für seinen Geschichtsunterricht gebraucht hatte. Nachdem er die beiden Klammern miteinander verdreht hatte, faßte er den 142
Zeigestock am dickeren Ende und hielt Plaggenmeyer die Spitze hin. Der zögerte einen Augenblick; er hatte ja keine Hand frei. Sollte er den Auslöser weglegen oder die Pistole? Oder sollte er die Dokumente mit den Zähnen abreißen? Aber dann hätten sie vielleicht zu Boden fallen können und die Lage noch weiter kompliziert. Schließlich bekam er seine Waffe so zu fassen, daß Daumen und Zeigefinger sich über dem Lauf treffen konnten. Den Kopf schief haltend, daß Dr. Reinders ihm nicht vielleicht den Zeigestock in die Augen stechen konnte, riß er die Papiere schließlich herunter. So wie der Kaufmann früher die Tüten vom Nagel. Während er Dr. Reinders anwies, den Stock auf den Boden zu werfen und auf seinen Platz in der letzten Reihe zurückzukehren, gelang es ihm, die einzelnen Blätter und die Fotos vor sich auf dem Lehrertisch auszubreiten. Wir hatten von draußen, teils durchs Fernglas, teils mit dem bloßen Auge, die Vorgänge in der Klasse beobachtet und sahen jetzt, wie Plaggenmeyer sich bemühte, die Unterlagen zu prüfen, ohne dabei aber die Schüler zu lange aus den Augen zu lassen. Auf die Art dauerte es eine beträchtliche Zeit. Die Minuten vergingen, und die Menschen warteten mit angehaltenem Atem. „Alles echt“, flüsterte Corzelius. „Ich leg meine Hand dafür ins Feuer.“ Buth, der inzwischen wieder in unserer Nähe stand, warf Kämena und dem Mann von der Sondertruppe einen warnenden Blick zu, den ich, da ich zu diesem Zeitpunkt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür hatte, daß hier mit gezinkten Karten gespielt wurde, aber nicht als solchen interpretierte. Für mich sah alles so aus, als ob unsere Großkopfeten zwar angespannt, aber doch mit einer gewissen Zuversicht seiner Entscheidung entgegensahen. Nervös waren jedenfalls alle. 143
Corzelius kaute auf seinen Fingerknöcheln herum. Kämena hatte sein Schlüsselbund in der Hand und wirbelte es um den Finger. Lankenau hatte seine orangefarbene SPD-Nadel aus dem Revers gezogen und pickte damit kleine Löcher in den vor ihm liegenden Sandsack. Stoffregen kickte kleine Steinchen durch die Öffnung zwischen den Sandsäcken und versuchte eine fünf Meter entfernte Konservenbüchse zu treffen. Dr. Jentschurek suchte in der hinter uns stehenden Menge nach bekannten Gesichtern. Hauptpfarrer Karl-Otto Vosteen von der MatthäiKirche hielt die Augen geschlossen und ließ die Finger ohne Unterlaß über seinen weinroten Schlips gleiten. Der Mann von Genschers Spezialtruppe steckte die Antenne in sein Funksprechgerät, zog sie wieder heraus, steckte sie wieder hinein, zog sie wieder heraus … Buth hatte seine goldene Armbanduhr vom Handgelenk gebunden, hielt sie ans rechte Ohr, schüttelte sie, zog sie auf, hielt sie wieder ans Ohr. Ich hatte mein Notizbuch aufgeschlagen und sah nach, ob Heiligabend in diesem Jahr auf einen Montag oder Dienstag fiel. Und dann – eine Ewigkeit später – hob Plaggenmeyer den Kopf. Seine Lippen bewegten sich offenbar, obwohl wir nichts hören konnten. Dem Bild fehlte plötzlich der Ton. Dann rastete der Kontakt bei ihm ein. Seine Worte waren wie der schrille Schrei eines exotischen Vogels. „Das ist ’ne Fälschung!“ Niemand rührte sich neben mir, niemand wollte die Verantwortung der ersten Reaktion auf sich nehmen. Das Gemurmel der Menge blieb gedämpft. Corzelius raffte sich als erster auf. „Ich schwöre dir, Bertie, der Brief ist echt! Kein Trick! Keine Fälschung! Vergleich doch mal die Schrift!“ 144
„Klar ist das Bleckwehls Schrift“, rief Plaggenmeyer zu uns herüber, „das sehe ich. Aber die Bilder, die Fotos sind gestellt. Bleckwehl lebt. Und wenn ich hier raus bin, dann sagt er, das hat er nur geschrieben, um die Schüler zu retten, das zahlt doch überhaupt nicht.“ „Der Mann ist tot!“ rief Kämena. „Das versichere ich Ihnen im Namen der Behörden, als Beamter.“ Corzelius nahm wieder das Megaphon. „Bertie, Bleckwehl ist tot, ich habe seine Leiche gesehen, ich habe mit seiner Frau gesprochen. Die ist völlig gebrochen – so was schauspielert man nicht.“ „Aber trotzdem stinkt die Sache hier!“ „Mein Gott, Bertie, ich begreif dich nicht. Du hast verlangt, daß man den Mörder von Corinna feststellt. Der steht nun fest – was willst du noch mehr? Sei doch nicht so stur!“ „Wenn Bleckwehl wirklich tot ist, dann ist eben das Geständnis gefälscht. Eine Handschrift kann man nachmachen. Hier steht: Ich bereue meine Tat aus tiefstem Herzen.“ „Warum soll er das nicht geschrieben haben?“ fragte Buth. „Weil Bleckwehl eines der größten Schweine gewesen ist, das ich kenne. Der hat in seinem Leben nie was bereut. Und wenn, dann bestimmt nicht schriftlich.“ „Da steht es aber: schwarz auf weiß. Man kann sich in jedem Menschen täuschen – oder?“ Buth gab nicht auf. „Mich könnt ihr nicht austricksen, mich nicht!“ „Bertie, ich …“ Corzelius machte einen letzten verzweifelten Versuch. „Bertie, ich schwöre dir: Corinnas Mörder hat Selbstmord begangen. Du hast gewonnen, komm raus!“ „Selbstmord? Bleckwehl war doch ’n ganz mieser Feigling, der hätte nie im Leben Selbstmord begangen. Vielleicht, wenn man Beweise gegen ihn gehabt hätte, 145
hieb- und stichfeste Beweise – aber die hat ja keiner. Warum soll er da Selbstmord begangen haben?“ „Sein Gewissen …“ „So was hatte der doch nicht. Eher hätte ich ’n dritten Arm, als daß der ’n Gewissen gehabt hätte.“ „Dann war es eben ein Unfall“, sagte Corzelius. „Auf alle Fälle: Corinnas Mörder ist tot!“ „Wenn es ein Unfall war – warum soll er denn da einen Abschiedsbrief hinterlassen haben? Weißt du vorher, wenn du ’n Unfall hast?“ Gegen Plaggenmeyers Logik war nicht anzukommen. „Und was nun?“ fragte Buth. „Laßt euch was einfallen – ich habe Zeit.“
13 Uhr 09 bis 13 Uhr 14 Ich habe Zeit. Diese letzten Worte von Plaggenmeyer waren wahr und unwahr zugleich. Sie ließen aber auch deutlich werden, daß die Dimension der Zeit für ihn allmählich entscheidende Bedeutung gewann. Er fühlte sich schlecht. Schlapp und elend wie beim Ausbruch einer schweren Grippe. Seine Stirn war heiß. Fuhr er mit dem Handrücken darüber, erschrak er jedesmal von neuem. Hin und wieder kühlte er sie mit dem Lauf seiner Waffe. Obwohl sie schon flackerte, noch brannte die Kerze. Aber wie lange noch? Wie lange würden seine Kräfte reichen? Und vor allem – wie sollte es jetzt weitergehen? Die Geschichte mit Bleckwehl hatte Plaggenmeyer dazu gebracht, sich – neben vielen anderen – auf alle Fälle eine erschreckende Frage zu stellen: Was ist eigentlich, wenn ich am Ziel bin? Sein Ziel war gewesen, Corinna zu rächen, und den Mann, der sie getötet hatte, seiner ge146
rechten Strafe zuzuführen. Angenommen, das war ihm endlich gelungen – was dann? Sollte er die Hände hochnehmen und die Klasse verlassen, sich verhaften lassen? Dann folgten U-Haft, Verhöre, ja, die Verhandlung, die Verurteilung, drei Jahre im Gefängnis. Gab es eine Möglichkeit, sich durch Verhandeln Straffreiheit zuzusichern? Aber welche Garantie hatte er, daß sich die Behörden auch an ihre Zusicherung hielten? Die konnten alles versprechen und brauchten nichts davon einzuhalten, da sie ja immer die moralische Ausrede hatten, sie hätten die Zusagen nur gegeben, um das Leben der Geiseln zu retten. Vielleicht war es das beste, er ließ die Kinder laufen und jagte sich eine Kugel durch den Kopf. Was dann? Gab es nun diesen Gott und das ewige Leben – oder nicht? Wenn ja, wurde ihm die Freilassung der Geiseln als gute Tat, als tätige Reue angerechnet? When Jesus washed my sins away, comin’ for to carry me home. Swing low, sweet chariot … Hatte er’s nicht unzählige Male auf der Platte gehört? Die große Hoffnung seiner Väter. Gunhild hielt’s für Mumpitz, aber was war schon Gunhild gegen Gott? Mein Leben hieß Corinna. Wenn ich nicht leben darf, dürft auch ihr nicht leben. Sollte er sich trotz allem mitsamt der Klasse vernichten? Das war die klarste, die sauberste Lösung. Das war ein Denkmal, das er allen Mischlingen, das er allen verachteten und ausgebeuteten Menschen anderer Hautfarbe, anderer Rasse und anderer Nationalität hier im Land setzte. Das würde allen helfen, das würde Denkprozesse in Gang setzen. Das waren die drei Möglichkeiten, die Plaggenmeyer in diesen Minuten gesehen oder wenigstens instinktiv 147
erkannt haben mußte. Das Interessante daran war sicher, in welchem Maße sich bei ihm die Elemente mischten: Da war seine Erziehung, die ihn nur in Klischees denken ließ, da war die vage Erinnerung an seine Väter, die irgendwo in Louisiana, Alabama oder Mississippi auf den Baumwollfeldern geschuftet und gelitten hatten, da war die politische Schulung durch Gunhild. Mit Entsetzen erkannte er jedenfalls, daß er auch hier vergessen hatte, einen Plan zu machen. Trotz der teilweisen Logik im Vorgehen war seine Tat eine reine Affekthandlung. Er hatte jetzt furchtbare Angst, ans Ziel zu gelangen; er wollte Zeit gewinnen. Aus dieser Angst heraus läßt sich auch erklären, warum er die Echtheit von Bleckwehls Abschiedsbrief angezweifelt hatte. Denn trotz des vorhandenen Mißtrauens, daß sie ihn irgendwie reinlegen wollten, hatte er konkret nichts gefunden, was für eine Fälschung sprach. Kein echtes Haar in der Suppe. Nur, hätte er akzeptiert, daß Bleckwehl Corinnas Mörder war und sich seine Rache damit erfüllt hatte, dann hätte er die große Entscheidung treffen müssen, die so endgültig war wie nichts zuvor in seinem Leben. Und davor schreckte er zurück. Seine Kopfschmerzen wurden unerträglich. Er ließ sich von Dr. Reinders zwei Spalttabletten geben. Vorsichtshalber, um nicht mit irgendeinem Medikament vergiftet oder eingeschläfert zu werden, ließ er Reinders vier Tabletten jeweils teilen und die vier Hälften in Papier eingewickelt nach vorn auf den Lehrertisch werfen, dann wartete er, bis der Arzt die restlichen Hälften schluckte, ehe er selber seine einnahm. Aber nicht nur er geriet langsam an die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit; auch seine Geiseln waren am Ende. Elke Addicks und Hanno Geffken lagen bereits im Brammer Kreiskrankenhaus. Fast alle waren von Dr. Reinders bis zur Grenze des Ver148
tretbaren mit Valium vollgepumpt worden. Bei einigen hatte er gespritzt, die meisten hatten Tabletten geschluckt. So waren sie alle mehr oder minder schläfrig, wenn nicht gar halb betäubt. Das erklärte auch ihre Apathie gegenüber den Vorgängen drinnen in der Klasse und draußen auf dem Schulhof. Voll handlungs- und reaktionsfähig waren im Grunde nur noch Gunhild und Immo Kischnick. Sie hatten den anderen die Einnahme von Tranquilizern ausreden wollen, aber nur die wenigsten hatten darauf verzichtet. Bei den meisten Jungen kam noch ein Schuldkomplex hinzu, die kaum zu verarbeitende Schmach des Versagens: Sie hatten vor diesem Bastard von Plaggenmeyer gekuscht und mit jämmerlichem Nichtstun reagiert. Nur der als Homo verspottete Hackbarth, der hatte den Mut aufgebracht, etwas zu unternehmen. Für Alf, Carsten, Hellfried, Jörn, die ihre Härte und Männlichkeit Tag für Tag zur Schau getragen hatten, kam dieser Vormittag einer Kastration gleich. Das alles registrierte Plaggenmeyer instinktiv, ohne es aber in Worte fassen zu können. Und wenn er in den ersten Stunden weitere Attacken in der Art von Hackbarth befürchtet hatte, so sah er jetzt mit einigem Schrecken, daß mindestens drei weitere seiner Geiseln einem Kollaps nahe waren. Was war, wenn er allmählich alle zum Abtransport ins Krankenhaus freigeben mußte? Wenn keiner mehr übrigblieb? Was würden die draußen dann unternehmen? Um der Antwort auf die Fragen auszuweichen, flüchtete er sich wieder in seine Träume, die sich herbeilocken ließen wie bunte Vögel. Die Ernst-Merck-Halle in Hamburg. Kampf um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht. George Foreman gegen Herbert Plaggenmeyer. Und wie er den alten Weltmeister austrickste! Dessen Schläge konnten zwar Bäume fällen – aber nur, wenn er sie landete. Doch dazu kam es nicht. Er, Herb, wie sie ihn nannten, war schneller. Abge149
duckt. Und ein Leberhaken. Foreman auf den Brettern. Acht – neun – AUS! Neuer Weltmeister: Herbert Plaggenmeyer! Philharmonie in Berlin. Herb Plaggenmeyer and his All Stars. Er mit der goldenen Trompete im Rampenlicht. Der neue Louis Armstrong. Der treue Husar. Blueberry Hill. Beifall über Beifall! Olympiahalle in München. Endspiel um die deutsche Basketballmeisterschaft. VSC Heidelberg gegen TSV Bramme. Noch zehn Sekunden. Beim Stand von 88:88. Herb Plaggenmeyer, der Center des TSV, hat den Ball. Anfeuerungsschreie der Schlachtenbummler: „Bertie! Bertie!“ Der letzte Wurf. Im Korb! 90:88. Der TSV Bramme Deutscher Meister. Konfettiparade auf der Brammermoorer Heerstraße. Die Arme ausbreitend im ersten Wagen: Herb Plaggenmeyer. Während diese Bilder an ihm vorbeihuschten und ihm bewußt wurde, was er da träumte, kippten seine Gefühle so plötzlich um, daß ihm schwarz vor Augen wurde und er die beiden Ellbogen brauchte, um sich abzustützen. Er haßte Corinna. Ganz plötzlich. Aber nun ließ sich nichts mehr rückgängig machen, jetzt war alles vorbei für ihn! Aus, aus, aus! Er hätte sie niemals kennenlernen sollen! Ohne sie hätte er ein Star werden können, da wäre er einer geworden! Jetzt mußte er sterben oder ins Gefängnis wandern. Sie war schuld an seiner ganzen Misere, sie allein! Wenn sie nicht schon tot wäre, dann würde ich sie umbringen! Wer weiß, wie Plaggenmeyer im folgenden reagiert hätte, wer weiß, wie das ganze Drama von Bramme ausgegangen wäre, wenn nicht ausgerechnet in diesem Augenblick der Primaner Dirk Delventhal, zwanzig, Sohn eines Oberregierungsrates, auf die Idee gekommen wä150
re, einen Kreislaufkollaps zu simulieren und über seinem Tisch zusammenzubrechen. Er stöhnte, röchelte und krampfte die Hände um die Tischplatte. Dr. Reinders war sofort bei ihm. Plaggenmeyer wartete ratlos. Wenn hier wirklich einer abkratzte, würde sich das sehr erschwerend auf sein Strafmaß auswirken. Auf der anderen Seite verstärkte es seine Verhandlungspositionen denen da draußen gegenüber. Aber was wollte er eigentlich noch von denen erreichen? So war er durchaus bereit, auch Dirk Delventhal den Abtransport ins Krankenhaus zu gestatten, zumal Dr. Reinders sagte: „Der muß sofort raus hier.“ Es wäre auch alles gutgegangen, wenn Plaggenmeyer nicht, überwach, wie er war, an verschiedenen Stellen ein Flüstern wahrgenommen hätte. Der simuliert doch nur. Der läßt uns hier sitzen, das ist unfair. Pst! Du kannst ja als nächster … Da machte es bei Plaggenmeyer wieder klick. Da brach wieder der ganze neurotische Haß dessen hervor, den man sein ganzes Leben lang betrogen, reingelegt, beschissen hatte. „Komm hoch!“ schrie er Delventhal an. „Wenn du bei drei nicht wieder gesund bist, dann knall ich dich ab! Eins! Zwei …“ Und Delventhal saß wieder kerzengerade auf seinem Stuhl. Die Erregung in der Klasse, durch die Unmengen an Valium ohnehin gedämpft, flaute schnell wieder ab. Nur Plaggenmeyer blieb aufgewühlt. Seine Stimme kippte wieder um. Ich mache mir nur was vor. Ich wäre nie ein Klasseboxer oder ein Star geworden. Nie und nimmer! Hilfsarbeiter wäre ich ohne Corinna geworden, Müllwerker, der Fußabtreter dieser Stadt. Ohne Corinna hätte ich nie eine 151
Chance gehabt. Corinna hat mich zum Menschen gemacht, nur Corinna. Und ich hab sie umbringen wollen! Sein Schuldgefühl der Toten gegenüber war überwältigend groß, machte sich selbständig, packte ihn, riß ihn fort von allen Ufern der Vernunft. Rache! Er mußte wiedergutmachen, was er an Corinna verbrochen hatte. Er steigerte sich in einen Wahn hinein, der uns unverständlich bleiben muß. Corinna wurde zu seiner Göttin, die nur durch Menschenopfer versöhnt werden konnte. Menschenopfer! Er würde ihr die ganze Klasse auf einmal opfern. Ja! Aber später erst. Und nicht Gunhild. Es kränkte seine Göttin sicher, wenn er Gunhild tötete. Dafür als erstes ihren Mörder. Und da er nicht sicher war, wer die Tat begangen hatte, mußten beide sterben. Das heißt – Bleckwehl war bereits tot. Blieb Dr. Carpano. „Ich will mit Doktor Carpano reden!“ schrie Plaggenmeyer auf den Hof hinaus. „Wenn er in fünfzehn Minuten nicht da ist, dann fliegt hier alles in die Luft. Das ist mein letztes Ultimatum!“
13 Uhr 14 bis 13 Uhr 37 Was er auch tat, er konnte sich nicht konzentrieren. Er hatte es gerade noch fertiggebracht, Visite auf der Privatstation zu machen, dann war er in sein Dienstzimmer gegangen. Und nun saß er hinter seinem Schreibtisch und starrte das Telefon an. Warum rief Buth nicht an und sagte, daß Plaggenmeyer aufgegeben hatte? 152
Was war los? Er zwang sich, in einer amerikanischen Fachzeitschrift den Artikel von Dr. Stanley H. Bernstein zu überfliegen. Stan war ein guter Freund von ihm, der Chef-Internist am Mount-Sinai-Hospital in Hartford, Connecticut. Aber was der da über den Myoglobin-Test zur Schnelldiagnose eines Infarktes schrieb … Was war mit Buth? Plaggenmeyer mußte das Geständnis längst in den Händen haben. Buth hatte versichert, daß sein Graphologe keine Schwierigkeiten haben würde, Bleckwehls Handschrift nachzumachen. Was verlangte Plaggenmeyer denn noch mehr? Damit mußte er sich doch zufriedengeben. Das Telefon schrillte. Buth! „Herr Doktor Carpano, verzeihen Sie die Störung, hier ist Kämena …“ Kämena? Hatte Plaggenmeyer … „Hören Sie mich, Herr Doktor …?“ „Ja.“ „Plaggenmeyer verlangt, daß Sie auf den Schulhof kommen und mit ihm sprechen.“ „Ich denke, Bleckwehl hat ein Geständnis abgelegt und …“ „Hat er auch, aber Plaggenmeyer akzeptiert es nicht.“ Warum rief denn Buth nicht an, sondern dieser Schwachkopf von Kämena? „Das ist höchst bedauerlich, aber da ich den Unfall nicht verursacht habe – Herrgott noch mal, was soll ich denn da auf dem Schulhof?“ „Plaggenmeyer hat uns ein Ultimatum gestellt.“ „Ein Ultimatum?“ „Wenn Sie in einer Viertelstunde nicht da sind, will er endgültig …“ 153
Plaggenmeyer. Zwanzig Schüler. Ein Kollege. „Herr Doktor Carpano, Sie müssen unbedingt mit Plaggenmeyer sprechen!“ Das war Stoffregen, der Naturbursche aus dem Brammer Moor, dieser Fußballer, der sich schon in der Nationalmannschaft sah und von nichts anderem reden konnte. Warum konnte er nicht so unkompliziert wie dieser Stoffregen sein? Wäre er doch bloß in dieser Nacht im Krankenhaus geblieben! Hätte er doch bloß angehalten, als er das Mädchen erwischt hatte! Zu spät. Was wollte Plaggenmeyer mit dieser Aktion erreichen? „Herr Doktor Carpano …?“ Hätte er doch bloß nie einen Fuß in dieses Drecknest gesetzt! „Hallo …?“ „Ich komme. Holen Sie mich am Haupteingang ab.“ Er hatte es nicht sagen wollen, aber irgendein unkontrollierbarer Impuls hatte ihn antworten lassen. Familie und Lehrer hatten ihn vorbildlich programmiert. Während Carpano im Sekretariat hinterließ, daß er kurz fort müsse, hielten Kämena und Stoffregen schon unten vor dem Krankenhaus. Patienten, Schwestern und Kollegen, die wußten, um was es hier ging, standen an den Fenstern. Carpano stieg ein. Wieder einmal muß ich erwähnen, daß ich nur mutmaßen kann, was Carpano in den eben beschriebenen und den nun folgenden Minuten gefühlt und gedacht hat. Um es mit absoluter Sicherheit zu wissen, hätte ich er sein müssen, hätte ich in seine Haut schlüpfen müs154
sen. Andererseits ist aber Carpano auch keine von mir extra zu diesem Zweck, für diesen Roman geschaffene Figur, der ich als Autor Gestalt und Leben verleihen kann. Bleibt mir also nur die Simulation, der Versuch, an Hand verschiedener vorhandener Informationen über Dr. Carpano sein reales Verhalten, Denken und Fühlen nachzuahmen. Welcher Dialog hätte sich wohl abgespielt, wenn ich mit Dr. Carpano hinten im Fond des Wagens gesessen hätte, als sein einziger und bester Freund, und wir uns in irgendeiner Sprache unterhalten hätten, die den beiden begleitenden Polizisten fremd gewesen wäre. Italienisch vielleicht. Das ist gar nicht so abwegig, denn Carpano war ja nahezu zweisprachig aufgewachsen, wenn man die Sommer mitzählte, die er in Italien oder bei italienischen Vettern und Cousinen verbracht hatte, und ich schreibe nach Ansicht meines Chefredakteurs auch besser italienisch als deutsch. Zunächst hätten wir geschwiegen. Erst als wir die Bramme überquerten, hätte Carpano das Schweigen gebrochen. Weißt du, ich möchte jetzt in Nonnenhorn sitzen, auf den See hinaussehen. Zu den Alpen hinüber. Träumen. Warten. Kennst du Hölderlin? Kommt geleitet und ruht nun in dem Hafen das Schiff. Warm ist das Ufer hier – und freundlich offene Tale, schön von Pfaden erhellt, grünen und schimmern mich an. Ja … Ich habe Angst vor Bramme. Sieh mal hinaus, wie die Leute mich anstarren. Die wollen ihre Sensation. Barbaren! Die sind noch mit einem Fell herumgelaufen, als meine Väter schon Gedichte geschrieben und das Colosseum gebaut haben. Es hat dich keiner gezwungen, nach Bramme zu kommen. Aber man zwingt mich, in Bramme zu bleiben. Ich will 155
nicht. Irgendwas treibt mich immer weiter. Irgendwo bleiben, irgendwo Wurzeln schlagen heißt für mich alt werden, heißt für mich sterben. Diese Unruhe, dieser Nomadentrieb liegt mir im Blut. Ich brauche neue Gesichter, neue Körper, ein neues Lachen, ein neues Weinen. Jede Wiederholung macht mich krank. Für einen Wissenschaftler eigentlich eine seltsame Einstellung. Für deine Arbeit brauchst du doch Ruhe … Vielleicht ist das ja auch der Grund, daß ich den großen Sprung nie geschafft habe. Immer hab ich wieder wechseln müssen. Als ganz junger Arzt habe ich Gynäkologe werden wollen. Das hab ich nach anderthalb Jahren aufgegeben. Interne Medizin liegt mir mehr. Aber auch da … Natürlich, man veröffentlicht mit den Jahren viele Arbeiten, das addiert sich, habilitiert habe ich mich auch, hab es dann nicht mehr lange an der Klinik ausgehalten. Buth hat mich mal ein Blatt im Wind genannt. Vielleicht hat er gar nicht so unrecht. Du hättest wieder heiraten sollen, Ralph … Vergiß nicht, daß ich katholisch bin. Und Kinder? Damit sie später an mein Grab treten? Damit sie in dasselbe sinnlose Leben hineinwachsen? Damit sie gejagt werden von ihrem Ehrgeiz, ihren Begierden, ihren Freunden, ihren Kollegen, ihren Müttern, ihren Frauen und wieder ihren Kindern? Nein! Manchmal frage ich mich, ob ich nur Arzt geworden bin, um die Menschen fit zu machen für ihre Leiden, für neue Leiden. Man sollte manchmal den Mut haben, Menschen von ihren Schmerzen zu erlösen. Auch den seelischen Schmerzen. Wer weiß, vielleicht habe ich das Mädchen mit Absicht totgefahren? Vielleicht wollte ich ihr Leid und Enttäuschung ersparen? Vielleicht macht mir das Töten Spaß? Ralph! Andere Menschen haben ihre Ruhe, ich jage umher, verloren … Die haben ihren Kreiselkompaß in sich, der 156
sie auf Kurs hält, oder ihre Radarantennen draußen, um die Signale aufzufangen, mit denen sie gesteuert werden – ich nicht! Wenn du das sagst … bitte, ich muß es dir glauben. Aber du wirst doch nicht behaupten können, daß dir das Gefühl für Recht und Unrecht ebenso abgeht. Es gibt da manchmal sehr fließende Übergänge, daß man sich gar nicht so leicht entscheiden kann. Reden wir nicht um die Sache herum: Du hast Corinna Voges überfahren, hast Fahrerflucht begangen und bist damit schuldig. Darum kommst du nicht herum. Wenn du ein Geständnis ablegtest … Du bist verrückt: Hunderten von Menschen habe ich ihr jämmerliches Leben gerettet, einem habe ich sein jämmerliches Leben genommen. Dafür wollt ihr mich einsperren? O nein, nicht mich! Deine Beziehungen … Die besten Anwälte. Man könnte auf Bewährung hinaus … Verurteilung bleibt Verurteilung. In meinem Fall sind sechs Monate das mindeste, das läßt sich nicht umgehen. Paragraph 142 StGB. Und nur, weil du deinen Ruf nicht aufs Spiel setzen willst, sollen Plaggenmeyer und die Schüler und Dr. Reinders … Sie sind verloren, wenn du nicht nachgibst. Und? Wenn hier auf dieser Erde etwas beliebig reproduzierbar ist, dann ist es menschliches Leben. Darin herrscht ein unvorstellbarer Überfluß. Denk doch mal an die Eltern, die da auf dem Schulhof warten und um ihre Kinder zittern. Natürlich, weil es hier um die eigene Brut geht. Solange Kinder anderer Eltern in Vietnam, in Moçambique, in Angola, in Chile und was weiß ich, wo wieder anderer Eltern Kinder töten, dann finden sie das ganz in der Ordnung. Diese gierigen, dümmlichen, vollgefressenen Kleinstädter! Sieh es doch einmal anders herum an, Ralph. Du könn157
test die paar Monate im Gefängnis dazu benutzen, um mit dir selber ins reine zu kommen. Das ist nicht mein Planet. Du bist mir fremd, Bramme ist mir fremd, Deutschland ist mir fremd, meine Mutter ist mir fremd, mein Vater ist mir fremd, die Mädchen, mit denen ich schlafe, sind mir am fremdesten. Ralph, bitte! Diese verdammte Stadt, diese verdammten Kretins, die mich am liebsten den Wölfen vorwerfen würden, um ihre Brut zu retten! Du hast keine Kinder, du kannst das nicht nachempfinden. Irre, ein Haufen Irrer, Getäuschte, Verblendete! Ich will weiter! Bramme kann mich nicht länger aufhalten. Ich muß weiter! Irgendwo muß es doch einen Ort geben, in dem man leben kann! Wir sind da, das Gymnasium … Soweit nun mein fiktives Gespräch mit Dr. Carpano, mein Exklusiv-Interview. Genug auch an Kolportage, genug Pseudo-Philosophie. Auch reichen meine stilistischen Mittel nicht aus, um dieser Grenzsituation und diesem furchtbar komplexen Charakter gerecht zu werden. Wie soll auch einer, der nur die Farben Schwarz und Weiß auf seiner Palette hat, die Farbenvielfalt eines riesigen Feuerwerks wiedergeben? Ich bin ein simpler Illustriertenschreiber, der etwas angelesenes Wissen über Politologie, Soziologie und Psychologie besitzt und vielleicht etwas Menschenliebe und mit diesen kläglichen Mitteln versucht, die innere Zerrissenheit des Mannes zu schildern und zu deuten, der noch vor einem halben Tag zu den bewundertsten und angesehensten Brammer Bürgern gehört hatte und den man nun langsam und unerbittlich Schicht für Schicht von seinem selbsterrichteten Image abzulösen begann. Was darunter zum Vorschein kommen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. 158
13 Uhr 37 bis 13 Uhr 52 Fortsetzung und Schluß des Briefes von Helmut Göllmitz aus dem Brammer Untersuchungsgefängnis: Ab ich die drei Gewehre von Herrn Dr. Reinders in sein Billardzimmer nach oben rauf getragen hatte, mußte ich zu meiner Enttäuschung entdecken, daß zwei nicht in Gebrauch zu nehmen waren. Meine Bemühungen zwecks ihrer Reparatur brachten nichts und kosteten nur meine wertvolle Zeit. So konnte ich nur eine KK-Waffe zum Einsatz bringen, nämlich die 22er Winchester Magnum. Auch diese hat aber eine Länge von über einem halben Meter und die ihr entstammenden Geschosse sind noch auf 600 m hinweg Tod bringend. Das war mir altem Schützen wohlbekannt. Zu meiner Verfügung stand mir ein Magazin mit fünf Schuß. Dies nur zu Ihrer Information. Meine Mühen fanden ihren Lohn als mir die Montage des Zielfernrohrs gelang. Als erstes richtete ich den Blick dadurch auf meine Tochter. Wenn Sie wüßten was für ein Gefühl es für mich bedeutete Gunhild auf diesem Pulverfaß sitzen zu sehen, daß jeden Augenblick explodieren konnte! Meine Tochter, für die ich mich Tag und Nacht abgerackert habe um ihr die Bildung und noch mehr zu ermöglichen. Dieser Verbrecher da vorne, der wollte mir nun alles nehmen, was ich hatte. Sie können sagen, Herr Göllmitz, und wie ist das denn mit ihre Frau? Da ist die Glut schon lange raus. Glauben Sie mir, nur die Gunhild war mir verblieben. Und nun das! Aber nun hatte ich ja ihr Schicksal wieder in meine Hand genommen. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Zu meiner Entdeckung konnte es im Wasserturm nicht kommen, da ich mich hinter einer Gardiene tarnte. 159
Meine Schätzung geht dahin, das es vom Fenster bis in die Klasse 400 Meter gewesen sind, was Sie aber sicher schon einer Nachprüfung unterzogen haben. Auf diese Entfernung konnte ich als mehrmals ausgezeichneter Schütze leicht einen Volltreffer anbringen. Sie werden fragen, ob mich denn keiner suchen gekommen ist. Nein, denn bei die Aufregung unten Sowieso nicht und meine Frau weilte an diesem tragischen Tage gerade in Bremen, wo sie Einkäufe tätigte. Diese Gefahr bestand also nicht. Nun hatte ich Plaggenmeyer im Fadenkreuz und brauchte nur den Abzug zu betätigen. Den Druckpunkt hatte ich schon gefunden. Sie fragen nun nach meinem Zögern. Das will ich Ihnen so erklären. Da waren meine Zweifel. Wenn du Plaggenmeyer nun doch nicht mit dem ersten Schuß voll erwischst, dann läßt der seine Bombe explodieren und bringt allen den unausweichlichen Tod. Wenn ich auf eine Scheibe schieße kenne ich kein Zittern, aber es war hier Plaggenmeyers Kopf. Der ist zwar ein Verbrecher und hat die Todesstrafe verdient aber vor einem Monat hat er noch bei uns zu Hause mit Corinna in der Küche gesessen. Da fällt einem das Schießen schon schwer! Aber schließlich steht mir Gunhild neher als Plaggenmeyer. Und wegen so einem wollte ich nicht mein eigen Fleisch und Blut opfern. Aber gerade als ich abdrücken will, frage ich mich, warum haben das denn die Scharfschützen von das Sonderkommando nicht schon lange Zeit getan, wenn das so einfach ist? Dumm sind die doch auch nicht. Vielleicht fällt Plaggenmeyer als Toter auf den Auslöseknopf. Oder man trifft aus Versehen die Bombe in der Aktentasche. Oder er schießt noch im Sterben und trifft meine Tochter. Dann hätte ich ja Gunhild mehr geschadet wie daß ich ihr half, und das war nicht mein Intresse. Und als ich so darüber nachdenke, sehe ich Herrn Dr. Carpano, welcher gerade den Schulhof betrit. 160
Ich wußte ja das man ihn auch in Verdacht hatte. Er oder Herr Bleckwehl soll die schlimme Tat begangen haben und meine Gunhild hat mermals zu mir gesagt, du Pappa, ich tippe auf Dr. Carpano. Und Plaggenmeyer hatte gesagt, er will den Mörder von seiner Corinna, wenn nicht jagt er die Klasse in die Luft. Da entwickelte ich meine Logik. Wenn Gunhild sicher ist das Carpano Corinna getötet hatte dann war das auch Plaggenmeyer, wo sie so oft zusammen geklukt waren. Politisch nur, nicht was Sie jetzt vielleicht denken. Wenn das nun seine Richtigkeit hatte, Herr … dann konnte ich meine Gunhild ganz einfach retten, indem ich Herrn Dr. Carpano niederschoß. Plaggenmeyer, dachte ich bei mir, wir machen einen Pakt. Ich schaffe dir den Mörder deiner Braut von der Bildfläche und gebe dir deine Rache und du gibst mir dafür meine Tochter Gunhild wieder. Ich fühlte tiefen Haß gegen Dr. Carpano. Er war an der schlimmen Lage von meine Tochter schuld und nicht Herbert Plaggenmeyer. Er hatte Corinna Voges tod gefahren und mit ihr die ganze grausame Lawine ins Rutschen gebracht. Ich legte also auf Herrn Dr. Carpano an. Mit dem Zielfernrohr hatte ich seinen Hinterkopf zum Greifen nahe. Hiermit unterstreiche ich nochmals wie ich auch dem Kommissar und dem Untersuchungsrichter ins Protokoll gegeben habe, das mich weder Herr Buth oder jemand sonst mit Geld dazu angestiftet hat, Herrn Dr. Carpano zu erschießen. Das ist ein erlogenes Gerücht. Ich habe das mir ganz allein ausgeklügeld. Ich habe zu den Zeitpunkt noch gar nicht an gedacht, daß man mir die Tat würde nachweisen können. Es war nicht die Angst die meine Hand lehmte, aber die große 161
Verantwortung. Auch meine Gunhild konnte einen Irrtum begehen und dann war Herr Dr. Carpano gar kein Mörder. Er war doch ein hochgeachteter Mann und Chefarzt. Das vertregt sich sehr schlecht sowas. So schwankte ich lange Zeit mit meinem Gewissen hin und her. Wie meine Entscheidung dann ausgefallen ist wissen Sie ja und ich kann mir das zusätzliche Schreiben sparen. Sie kennen ja mein Schicksal und wissen, wie dann alles gekommen ist. Damit danke ich Ihnen nochmalig für Ihr Interese an meinem Lebenslauf und drüke meine Hoffnung aus Ihnen mit meinem Schreiben geholfen zu haben, das hoffentlich tatsächlich in Ihre Hände gefallen, ist. Meine Frau dankt sehr für das bereits überwiesene Geld. Wir erbitten nur noch Ihren Beistand bei der Verhandlung im Gericht. Hochachtungsvoll Helmut Göllmitz
13 Uhr 52 bis 13 Uhr 58 Plaggenmeyer griff jetzt nicht mehr in das Geschehen ein – er war selber zum passiven Objekt des Geschehens geworden. Er hatte den gleichen Zustand erreicht wie zu Beginn seiner Aktion, diesen Zustand des abgesenkten Bewußtseins, in den sich Dr. Carpano immer zu flüchten suchte, wenn er im Laufe seines autogenen Trainings die Formel wiederholte: Es atmet mich. Unsere Gesellschaft hatte in zwei Jahrzehnten das Programm für den Menschen Herbert Plaggenmeyer geschrieben; nun lief es ab, und niemand konnte es mehr ändern. In der Sprache der Technik wird es noch deutlicher. Da kreist eine Rakete um die Erde, die kei162
nem irdischen Steuerungsimpuls mehr gehorcht, sondern nur noch einem entgleisten Bordcomputer. Sie kann jeden Augenblick auf die Erde zurückstürzen, auf eine Stadt wie Bramme. Und das mit einem atomaren Sprengkopf versehen. Plaggenmeyer sah aus dem Fenster. Da waren sie alle zur Treibjagd versammelt, die ehrenwerten Bürger von Bramme. Und sie hatten den Fuchs gestellt. Da saß er fest in seinem Bau. Gerissen war er – wie ein Fuchs. Braun war er – wie ein Fuchs. Aber gegen Hunderte von Treibern war er machtlos. Plaggenmeyer sah die Scharfschützen. Überall verteilt. Und jeder hoffte auf den Blattschuß. Ich will hier raus! Ich will lebend hier raus! Weg hier, weg! Angst, Angst, Angst. Er wollte fliehen. Aber wohin? Sie würden auf ihn schießen, sobald er den ersten Schritt ins Freie tat. Ehe er beide Hände zur Kapitulation hochgerissen hatte, würde er schon tot sein. Ich hatte mir von Dr. Jentschurek ein Fernglas geben lassen, ein Prismenglas für Jäger und Naturfreunde, wie auf dem Futteral geschrieben stand. Und damit beobachtete ich Plaggenmeyer in dem Moment, da Dr. Carpano den Schulhof betrat. Die Angst, die vorher in seinem Gesicht geschrieben stand, verwandelte sich schlagartig in Haß, in Vernichtungswillen. Erst in dem Augenblick ging mir richtig auf, was gemeint ist, wenn man von Aggression spricht. Jetzt war er nicht mehr von seinem Bewußtsein gesteuert, sondern von seinem vegetativen Nervensystem – automatisch, nicht mehr beeinflußbar. Bis zum bitteren Ende blieb sein Großhirn ausgeschaltet, bekam er seine unbewußt ablaufenden Mechanismen nicht mehr unter Kontrolle. Seine Angst war so 163
völlig in Aggression umgeschlagen, daß er sich aus diesem Fegefeuer nur erlösen konnte, indem er tötete. Jetzt hatte Dr. Carpano das Megaphon ergriffen. „Sie wollten mich sprechen, Herr Plaggenmeyer …“ „Ich will mit Ihnen abrechnen, und diesmal lasse ich mich nicht von Ihnen dußlig reden.“ „Herr Plaggenmeyer –“ „Schnauze!“ unterbrach er Carpano. „Jetzt hören Sie mir gefälligst zu. Sie werden jetzt ein Geständnis ablegen, hier vor allen Leuten. Und wenn Sie sich weigern, oder wenn Sie lügen, dann fliegt hier alles in die Luft, und Sie haben den Tod von Ihrem Kollegen und sämtlichen Schülern auf dem Gewissen.“ Mach ihn fertig, vernichte ihn! „Und bilden Sie sich bloß nicht ein, daß Sie mich mit irgendwelchen Tricks einwickeln können.“ Schweigen. „Ich frage Sie jetzt zum letztenmal – haben Sie Corinna Voges überfahren?“ Keine Antwort. Plaggenmeyer begann zu zählen: „Eins …“ Nichts. „Zwei …“ Immer noch nichts. „Und dr…“ „Halt!“ schrie Dr. Carpano. „Ja.“ „Sie waren es?“ „Ja.“ Ich ließ das Glas sinken und starrte Carpano an, der an der Sandsackbrüstung stand und den Kopf zu dem offenen Fenster des Klassenzimmers gewandt hatte. Ich weiß nicht, ob die anderen, die eben noch dicht bei ihm gestanden hatten, ein paar Schritte zurückgewichen waren; auf jeden Fall wirkte der Mann auf einmal isoliert, aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Ich konnte nur sein Profil sehen, das nichts verriet – außer vielleicht einer Konzentration, einem Ernst, der fremd anmutete, wenn 164
man sich an die gewohnte verbindliche Miene des Arztes erinnerte. Selbst Plaggenmeyer mußte Carpanos Eingeständnis verblüfft haben, denn es dauerte ein paar Sekunden, bis er das Verhör wiederaufnahm. „Und Sie haben nicht gelogen? Sie werden Ihre Aussage später nicht wieder zurücknehmen?“ „Nein, Herr Kämena kann meine Aussage gleich zu Protokoll nehmen, und ich werde sie unterschreiben.“ Carpanos Stimme klang blechern. Das mochte an der Megaphonverstärkung liegen; vielleicht war das der Grund, warum sich seine Sätze wie auswendig gelernt anhörten. Der Mann mußte doch wissen, daß er sich damit selber den Strick um den Hals legte. Warum stritt er nicht alles ab? Glaubte er wirklich, daß Plaggenmeyer seine Drohung wahrmachen würde? Ehrlich gesagt, hätte ich selber nicht entscheiden können, was ich glaubte. Aber ich stand ja auch nicht vor der Alternative, durch eine falsche Einschätzung der Lage vielleicht den Tod von einem halben Dutzend Menschen zu verursachen. Jetzt ging Buth auf Carpano zu, nahm ihm das Megaphon aus der Hand und trompetete hinein: „Hier stehen Hunderte von Zeugen, die das Geständnis gehört haben, Herr Plaggenmeyer. Ich verbürge mich dafür, daß man Sie nicht reinlegen wird.“ Mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte, gab er Carpano das Megaphon zurück. „Aber warum hat er nicht angehalten“, hörte ich Plaggenmeyer rufen. „Als Arzt wäre es doch seine Pflicht gewesen, Hilfe zu leisten.“ Carpano schwieg. „Ich will wissen, warum Sie nicht angehalten haben, Carpano!“ „Weil ich …“, murmelte Carpano mit gesenktem Kopf. „Ich verstehe nicht. Lauter, damit es alle hören können.“ 165
Carpano setzte das Megaphon an den Mund. „Es war eine Kurzschlußreaktion. Ich hab einfach auf das Gaspedal getreten, ohne nachzudenken.“ Klar, er hatte die Nerven verloren, dachte ich. So etwas gab’s. Vielleicht hatte er getrunken und fürchtete, in eine Geschichte verwickelt zu werden, die sich nachträglich auf seine Karriere auswirken mußte. Nun, jetzt sah es auf jeden Fall noch sehr viel übler für ihn aus. Kein Hund würde mehr ein Stück Brot von ihm nehmen. Oder stimmte es gar nicht, was er gesagt hatte? Oder würde er zumindest hinterher behaupten, es stimme nicht und er habe das alles nur gesagt, um Plaggenmeyer zu beruhigen? Denn wenn er wirklich der Täter war – warum hatte man denn keine Spur von dem Unfall an seinem Auto gefunden? Plaggenmeyer mußte etwas Ähnliches gedacht haben, denn jetzt rief er: „Sie lügen! Wenn es wirklich so war, müßte Ihr Wagen einen zerbeulten Kotflügel gehabt haben. Wie erklären Sie das?“ „Den hat er auch gehabt“, rief Carpano zurück. „Aber die Polizei hat nichts davon entdeckt …“ In diesem Augenblick fiel der Schuß. Zunächst ein einziger Schuß, offenbar vom Wasserturm herkommend. Er streifte Carpano an der rechten Schulter. „Achtung!“ schrie Kämena. „Alle in Deckung!“ brüllte Buth und riß Carpano hinter die Sandsäcke. „Meine Leute sind das nicht!“ rief der Mann vom Sonderkommando. In wilder Panik drängte die Menge in die hinteren Regionen des alten Friedhofs beziehungsweise in die Knochenhauergasse zurück. Diejenigen, die einen verhältnismäßig klaren Kopf behalten hatten, warfen sich hinter die Grabsteine, die Schulhofmauer oder die Sandsäcke. 166
Nach Sekunden der Stille folgte eine Salve von Schüssen. Der unbekannte Schütze schien es ausschließlich auf Dr. Carpano abgesehen zu haben – und diesmal mit mehr Erfolg. Carpano brach hinter den Sandsäcken, die doch nicht genug Schutz geboten hatten, zusammen. „Das Fenster oben im Wasserturm!“ schrie der Mann vom Sonderkommando in sein Funksprechgerät. „Kampfunfähig machen. Der knallt uns sonst die Leute hier ab.“ Seine Scharfschützen suchten sich ihr neues Ziel, konzentrierten sich auf den Backsteinturm. Der Feuerwechsel war nur kurz. Der einsame Schütze oben verschwand vom Fenster, die ersten Bereitschaftspolizisten stürmten auf den Eingang zum Turm zu. Ich richtete jetzt das Fernglas wieder auf Plaggenmeyer. Sein Gesicht, übergroß und zum Greifen nahe, war das Gesicht eines Hasch-Rauchers, der einen guten Trip erwischt hat, das Gesicht eines Boxers, der seinen Gegner k. o. geschlagen hat. Der Mörder seiner Braut war tot. Alles hatte sich erfüllt. Plötzlich entwickelte er das, was ich das KufaltSyndrom nennen möchte: die Sehnsucht nach dem Gleichmaß und der Geborgenheit des Gefängnisses. Auf der letzten Seite seines Romans „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ schreibt Hans Fallada: Kufalt hat die Decke schön hoch über die Schultern gezogen, im Kittchen ist es angenehm still, er wird großartig schlafen … Keine Sorgen mehr … Hier hat man ganz seine Ruhe … Und Willi Kufalt schläft sachte, friedlich lächelnd ein. Ich sah überdeutlich durch mein Fernglas, wie Plaggenmeyers Gesicht sich entspannte. Da hatte er sein Zuhause, das einzige Zuhause, das es für ihn gab. Er konnte aufgeben. Er hatte Corinnas Mörder überführt und sein Ziel erreicht. Ende der Vorstellung. 167
Doch dann völlig überraschend und scheinbar ohne jeden Anlaß verschwand der Ausdruck glückhaften Friedens in Plaggenmeyers Gesicht, und es verzerrte sich zu einer beinahe irren Grimasse. Fassungslos beobachtete ich diesen unerklärlichen Wandel. Was war passiert? Ratlos ließ ich das Glas sinken und sah mich um. Und dann wußte ich, was die Ursache dafür gewesen war. Ich sah, daß der totgeglaubte Carpano wieder auf den Füßen stand und sich automatisch an die blutende Schläfe griff. Sehr schwer konnte er nicht verletzt sein; wahrscheinlich war es nur ein Streifschuß gewesen. Was nun folgte, war schlimmer als alles, was am Morgen geschehen war. Wenn Plaggenmeyer zu Beginn mit Bombe und Pistole in das Klassenzimmer gegangen war, war er noch verhandlungsfähig und -bereit gewesen. Er hatte ein Ziel gehabt und mit seinen Mitteln darauf hingearbeitet. Aber jetzt befand sich Plaggenmeyer, der sich genarrt, betrogen und um seinen Sieg gebracht sah, in einem hysterischen Erregungszustand; jetzt wollte er Blut sehen. Das wußte ich, ehe er noch das erste Wort gesprochen hatte. Und es kam. „Herhören!“ kreischte er. „Ich lasse mich nicht wieder reinlegen – jetzt gibt es nur noch eins: entweder ihr bringt Doktor Carpano um, oder ich sprenge mich mit Doktor Reinders und den Schülern in die Luft.“ Vor Entsetzen brachte keiner der Zuhörer einen Laut hervor. Plaggenmeyers Stimme kippte beinahe über. „Los, ihr Schweine, legt Carpano um. Ich gebe euch eine halbe Stunde Zeit, genau dreißig Minuten – nein, zweiunddreißig Minuten, bis die Uhr an der Matthäi-Kirche halb schlägt. Dann will ich Carpanos Leiche sehen, oder keiner kommt hier mehr lebend raus.“ 168
13 Uhr 58 bis 14 Uhr 05 Plaggenmeyer hatte im Verlauf des Vormittags schon mehrere Ultimaten gestellt, sich hinhalten, mit sich verhandeln lassen und neue Forderungen gestellt. Aber niemand unter den Hunderten, die seinen letzten Ausbruch miterlebt hatten, zweifelte daran, daß es ihm diesmal ernst war. Nun ließ sich die Katastrophe, wie sie auch aussehen mochte, nicht mehr aufhalten. Wenn in den ersten Sekunden noch atemlose Stille geherrscht hatte, brach jetzt ein allgemeiner Tumult aus. Frauen schluchzten auf, erregte Stimmen redeten durcheinander, drohende Fäuste erhoben sich. Irgendwie kam es mir vor, als ob sich die hinter der Absperrung zurückgedrängte Menschenmasse vorwärts bewegte. Die Männer der Polizeieinheit faßten sich an die Hände, bildeten eine Kette, und ich konnte Worte wie „Zurück, Leute!“, „Kein Grund zur Aufregung“, „Wir kriegen das Schwein schon!“ hören. Die beiden letzten Behauptungen bezweifelte ich stark. Dann hörte ich Buths Stimme hinter mir. Man kann gegen ihn sagen, was man will, aber auf jeden Fall war er der erste, der begriffen hatte, daß die Minuten davontickten, kostbare, vielleicht lebensrettende Minuten, und daß es nichts nützte, wenn die Verantwortlichen wie gelähmt herumstanden. Was er sagte, war zwar nicht konstruktiv, aber es riß uns alle aus der Lethargie. „Also, Herr Kämena, was soll jetzt getan werden? Was schlagen Sie vor?“ Kämena warf ihm einen Blick zu, als ob er sagen wollte: Womit habe ich das alles verdient? Dann brachte er etwas krächzend heraus: „Das beste wird sein … äh … ich bin hier nicht der Einsatzleiter … vielleicht könnte man mit Tränengas …“ „Das haben wir schon zu Anfang verworfen“, sagte der Leiter der GSG, „und die Gründe für die Ablehnung ha169
ben sich nicht geändert.“ Ohne sich weiter um Kämena zu kümmern, wandte er sich an Buth. „Versuchen Sie, diesen Wahnsinnigen etwas zu beruhigen. Ich muß ein Telefongespräch führen und mit meinem Psychologen reden. Lange wird es nicht dauern.“ Und damit ging er schnell zu dem provisorisch eingerichteten Gefechtsstand und verschwand im Wageninneren. Buth griff entschlossen zum Megaphon. „Plaggenmeyer, hören Sie mich?“ Keine Antwort. „Wir sind jetzt in eine Sackgasse geraten, Herr Plaggenmeyer.“ Buths Stimme klang deutlich und metallisch über den Schulhof. „Warum bemühen wir uns nicht gemeinsam um einen Ausweg daraus!“ „Meine Forderung kennen Sie.“ Im Vergleich zu der megaphonverstärkten Stimme Buths klang Berties schrill und piepsig. Aber ganz und gar nicht lächerlich. „Herr Plaggenmeyer, sind Sie sich denn nicht darüber klar, was Sie da verlangen? Das ist Anstiftung zum Mord, das wird und kann niemand Ihnen zusagen.“ „Ist mir scheißegal. Entweder Carpano oder wir hier.“ „Sie können doch nicht zwanzig junge Menschen töten, die Ihnen nichts getan haben.“ „Und was haben Ihnen die vielen jungen Menschen getan, die Sie jeden Tag töten? Wer in Ihren Fabriken arbeitet, stirbt auch jeden Morgen.“ „Das hat er von Gunhild“, murmelte Buth. Corzelius griff sich das Megaphon. „Hör mal, Bertie, und wenn du tausendmal recht hast: man kann die Welt nicht verbessern, indem man dieselben Verbrechen begeht wie die, die sie so schlecht gemacht haben.“ „Hör auf zu quatschen! Ich will nur mein Recht.“ „Das sollst du auch kriegen.“ „Bei unserer Rechtsprechung? Carpano zahlt doch höchstens zehntausend Mark ans Rote Kreuz. Ich will seine Leiche, sonst habt ihr zwanzig andere Leichen 170
hier, plus Doktor Reinders, plus Herbert Plaggenmeyer.“ „Du bist ja verrückt!“ „Die ganze Welt ist verrückt.“ „Sei vernünftig!“ „Carpano für Corinna – das ist mein letztes Wort.“ Der Einsatzleiter der GSG hatte sich mit seiner Dienststelle und mit seinem Psychologen beraten und nahm jetzt Corzelius das Megaphon aus der Hand. „Herr Plaggenmeyer, wir machen Ihnen ein Angebot: Wir sichern Ihnen freies Geleit zu – in jedes Land der Erde. Außerdem zahlen wir Ihnen fünfhunderttausend Mark – in jeder von Ihnen gewünschten Währung. Wenn Sie wollen, steht in einer Stunde eine vollbetankte Maschine der Lufthansa auf dem Neuenlander Feld in Bremen – Sie brauchen nur das Ziel zu nennen. Die fünfköpfige Besatzung stellt sich Ihnen als Geiseln zur Verfügung, ich meine, die fünf Männer an Bord sind bereit, sich gegen die zwanzig Schüler hier austauschen zu lassen. Noch haben Sie kein Kapitalverbrechen begangen, noch gibt es Länder, die Sie aufnehmen werden, noch …“ Der Psychologe flüsterte ihm etwas zu. „Wir können das hier nicht in aller Öffentlichkeit erörtern, aber wir werden unsere Diplomaten einschalten … In einigen Ländern der Dritten Welt wird man Ihnen sehr viel Sympathien entgegenbringen … Sie verstehen?“ Kämena hieb mit der Faust auf den Sandsack. „Mensch, Junge, ich flehe dich an!“ Es war ein Augenblick, den ich nicht so schnell vergessen werde. Dieser müde, gleichgültige Mann, der sich immer nur aus allem heraushalten und seine Ruhe haben wollte, zeigte plötzlich einen Funken engagierter Menschlichkeit. Konnte dieser Funke noch überspringen? Nein. „Bramme hat Corinna getötet“, schrie Plaggenmeyer, „Bramme soll auch Carpano töten! Die Zeit läuft!“ 171
14 Uhr 05 bis 14 Uhr 17 Carpano rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich stand unmittelbar neben ihm, reichte ihm immer wieder Feuer. Er sagte kein Wort; das war auch nicht nötig – ich konnte mir ziemlich genau vorstellen, was in ihm vorging. Seine Situation war teuflisch – wenn das überhaupt als Beschreibung ausreichte. Unmenschlich, wahnsinnig. Da stand er nun. Die Blicke, die sich immer wieder auf ihn richteten, dann sofort abwandten, wenn er selber die Augen hob, mußten ihm bewußt sein. Auch die Fragen, die in den Blicken standen, die Unsicherheit, die Angst, die Scham – und die Drohung. Ich weiß nicht, ob er den Gedanken erwogen hatte, einfach kehrtzumachen, in sein Auto zu steigen und abzufahren. Auf jeden Fall tat er es nicht. Er blieb stehen, rauchte und wartete. Wartete, wie sich sein Schicksal entscheiden würde. Wie die hundertköpfige Menge über ihn entscheiden würde. Von dem etwas arrogant wirkenden, souveränen und selbstsicheren Herrn über Leben und Tod war nicht mehr viel übriggeblieben. Der da neben mir stand, war ein Mensch, der sich vor wenigen Minuten öffentlich zu einer Schuld bekannt, seine Karriere und alles vernichtet hatte, was er seit Jahren aufgebaut hatte, ein Mensch in der einsamsten Stunde seines Lebens und vor die grausamste Entscheidung gestellt. Ich hätte ihm gern die Hand auf die Schulter gelegt, ihm ein Wort gesagt, ihm irgendwie mitgeteilt, daß ich mit ihm fühlte … Aber dieses starre Gesicht ließ keine solche billige Geste des Trostes zu. So konnte ich nur immer wieder mein Feuerzeug aufschnappen lassen. Es war beinahe eine Erleichterung für mich, als Jentschurek zu uns trat und ich meine hilflose Wut und Frustration an ihm abreagieren konnte. 172
„Es ist wirklich unglaublich“, ereiferte er sich, „gibt es denn niemand, der hier etwas unternimmt? Aber ich sage ja, die Polizei ist einfach unfähig. Das wäre früher –“ „Mensch, verpissen Sie sich“, fauchte ich ihn an. „Erlauben Sie mal“, setzte er an. Aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Sie machen mich krank, Jentschurek“, sagte ich gefährlich leise. „Leute wie Sie sind mit schuld daran, daß Plaggenmeyer sich und uns alle in diese ausweglose Situation gebracht hat.“ „Habe ich seine Braut vielleicht überfahren“, gab Jentschurek großspurig zurück, zog es aber dann doch vor, sich keinen weiteren Anpöbeleien von meiner Seite – denn als solche mußte er meine Worte empfunden haben – auszusetzen und trollte sich davon. Jetzt wurden die ersten Rufe laut. Mörder raus aus Bramme! Das kam von einem etwa fünfzigjährigen Mann mit kantigem Schädel, ein Taxifahrer vielleicht. Geh doch dahin, wo du hergekommen bist, du nachgemachter Makkaronifresser, du! Ein hippiehafter Junge von kaum zwanzig Jahren, der Montur nach zu urteilen ein Automechaniker. Plaggenmeyer, knall ihn doch ab! Das war mein Kellner aus dem Hotel. Carpano wurde zusehends blasser. Kämena lächelte ihm zu. „Keine Angst, Herr Doktor, Lynchjustiz gibt’s hier nicht bei uns!“ Ich drehte mich um, hörte in die Menge hinein. Da wurde auch anderes gesagt, aber leiser, fast vorsichtig zum Nebenmann gesprochen, nicht geschrien. Das ist doch unmenschlich – so was kann man doch nicht verlangen. Wir müssen was tun für Dr. Carpano. Meine Gastritis hat er im Nu hingekriegt. So ’n Arzt kriegen wir so schnell nicht wieder. 173
Aber diese Stimmen gingen unter. Schon hatten sich die anderen zu einem Chor formiert. Mörder, Mörder! Es klang nicht viel anders als im Stadion, wenn der Gegner einen Spieler des TSV Bramme so schwer gefoult hat, daß der vom Platz getragen werden mußte. „Da haben sie endlich ihre Pogromstimmung“, sagte Corzelius. Er wandte sich um. „Haltet doch endlich das Maul!“ schrie er nach hinten. „Ruhe!“ Höhnisches Gelächter. Paß bloß auf, sonst bist du der nächste! Carpano sah uns mit leeren Augen an. Ich war mir nicht einmal ganz sicher, ob er die Rufe verstanden hatte. Angeführt von mehreren Eltern, skandierten sie jetzt: Wir wollen unsere Kinder haben! Wir wollen unsere Kinder haben! „Schluß damit!“ schrien die Besonnenen. „Ruhe – oder ich lasse den Platz räumen!“ brüllte der Einsatzleiter ins Megaphon, womit er die Situation noch verschärfte. Das gleiche höhnische Gelächter, das auch Corzelius geerntet hatte; dann tönte es von neuem: Killt Carpano – eins, zwei, drei, und laßt unsere Kinder frei! Killt Carpano – eins, zwei, drei, und laßt unsere Kinder frei! Es war klar, daß diese Rufe nicht aus dem Kreis der betroffenen Eltern stammen konnten. Die Eltern dachten nur an ihre Kinder, wollten sie lebend wiederhaben, sie standen aber selber unter einer viel zu großen seelischen Belastung, als daß sie diese zugleich brutale und oberflächliche Formulierung ersonnen haben konnten. Nein, diese Schreier, das war die sensationsgierige Masse, die Blut sehen wollte. Waffen in den falschen Händen, wieder einmal. Carpanos Blick irrte umher. Wo war Buth? 174
Buth war der einzige, der ihm noch helfen konnte, der ihm helfen mußte, weil er ihn, Carpano, für seine Pläne brauchte. Aber Buth war seit einigen Minuten verschwunden. Zum erstenmal seitdem Plaggenmeyer seine allerletzte Forderung gestellt hatte, raffte sich Carpano zu einem Satz, einer Frage auf. „Wissen Sie, wo Herr Buth ist?“ wandte er sich an Kämena. „Der ist gerade rüber in die Wohnung vom Hausmeister und telefoniert, das hat er jedenfalls gesagt“, entgegnete Kämena. Carpano schwankte unmerklich. Buth telefonierte. Der Großindustrielle, der Organisator, der gelernt hatte, schnelle Entschlüsse zu fassen, war bereits dabei, umzudirigieren, sich auf die neue Situation einzustellen. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Carpano erwog sekundenlang, Kämena vor allen Zeugen die ganze Wahrheit zu sagen, welche Rolle Buth bei dem Betrug gespielt hatte, aber er ließ es schließlich bleiben. Was hätte es schon eingebracht? Nichts. Buth würde alles abstreiten, und hier in Bramme würde es keinem gelingen, ihn zu überführen. Ich legte Carpano den Arm um die Schulter, wagte aber nicht, ihn dabei anzuschauen. Ein Gesicht zu sehen, das jede Tarnung abgelegt hat, berührt peinlicher, als wenn man jemand beim Baden überrascht. „Nett von Ihnen“, sagte er mit einem resignierten Lächeln. „So habe ich auch immer meine Patienten getröstet, wenn ich ihnen nicht zu sagen wagte, daß ihr Fall hoffnungslos sei.“ Und wieder diese Sprechchöre, die von Polizisten und Scharfschützen verlangten: Schießt diesen Carpano nieder, wir wollen unsere Kinder wieder! Endlich traf das Räumkommando des Einsatzleiters ein. 175
„Kirchgasse, Schulhof, Kirchengelände, Friedhof.“ Mit gezückten Schlagstöcken stürzten die Polizisten los. Aber Plaggenmeyers Stimme hielt sie zurück. „Halt! Die Leute bleiben da, sonst knallt’s hier.“ Die Männer blieben zögernd stehen. Weder ihr Leiter noch Kämena wagten, den Räumungsbefehl zu wiederholen. Ratlosigkeit bei allen Verantwortlichen. Da kam der erste Stein geflogen. Er traf Carpano schmerzhaft an der Schulter. Erdklumpen folgten. Heidekraut mit schweren Wurzelballen. Eine Blechvase, die man aus einem Grabhügel gerissen hatte. Wieder ein Stein – der Alte Friedhof bot genügend Munition. „Aufhören!“ schrie Kämena. Carpano duckte sich nicht einmal mehr.
14 Uhr 17 bis 14 Uhr 28 Endlich hatten etwa zwei Dutzend Bereitschaftspolizisten um uns herum einen Halbkreis gebildet und verhinderten mit ihren Plastikschildern, daß Dr. Carpano weiterhin von den Wurfgeschossen getroffen wurde. Hinter diesem Schutzwall, der in dem allgemeinen Durcheinander ganz zufällig errichtet worden war, befanden sich außer Carpano ungefähr zehn Personen, darunter Kämena, Dr. Jentschurek, der Mann von der Sondertruppe, Corzelius und ich. Die vier, fünf anderen mochten Eltern, Journalisten oder Lokalpolitiker gewesen sein, ich weiß es wirklich nicht mehr. Lankenau war aber nach hinten weggedrängt worden, wie auch Dr. 176
Blumenröder, der Polizeipsychologe und der Pfarrer der Matthäi-Kirche. Die Lage hatte sich jetzt ausweglos zugespitzt. Über dem Albert-Schweitzer-Gymnasium kreiste ein Hubschrauber mit einem höheren Beamten des niedersächsischen Innenministeriums darin oder sogar dem Innenminister persönlich. Aber noch wagte es niemand, den Scharfschützen den Befehl zu erteilen, nun endlich auf Plaggenmeyer zu feuern. Nicht daß man das Leben des Mischlings schönen wollte, nur war nach wie vor die Wahrscheinlichkeit eines vollen Erfolgs zu gering. Plaggenmeyer war völlig unansprechbar geworden. Es war genauso sinnlos, mit ihm verhandeln zu wollen wie mit dem steinernen Herkules, der den Giebel des Gebäudes schmückte. Er beharrte auf seinen beiden Forderungen. Ich will, daß die Leute dableiben. Ich will, daß Carpano genauso stirbt wie Corinna. Zwar flogen nur noch vereinzelt Erdklumpen und Steine auf uns zu, da sich inzwischen einige Polizeibeamte in Zivil in der Menge verteilt hatten, aber immer wieder fegten die Schreie über den Schulhof: Tod für Carpano! Lieber einer als zwanzig! Der Mörder muß sterben. Rache für Corinna! Corzelius sah mich an. „Ich brauchte nur Kämena die Waffe aus dem Schulterhalfter zu reißen und Carpano zu erschießen …“ Ich starrte ihn fassungslos an. Tatsächlich, er hatte es ernst gemeint und wollte nur noch meine Zustimmung haben. Ja, glaubte er denn, ich würde ihn mit einem Wort, mit einer Geste zum Mord auffordern? Daß ich mich hinterher, wenn es ihm gelungen war, mein Leben lang mit Selbstvorwürfen herumschlagen durfte, ob mein Nicken, mein Blick den Tod eines Menschen heraufbeschworen hatte? Da machte er es sich aber doch ein bißchen zu leicht. 177
Oder war ich es, der es sich zu leicht machte? Die Alternative lautete nicht: Carpano töten oder nicht töten – sie lautete: Carpano töten oder zulassen, daß zwanzig Schüler, ein junger Mann und ein Arzt in die Luft gesprengt wurden. Aber weder Corzelius noch sonst jemand konnte von mir verlangen, daß ich eine solche Entscheidung traf. Wenn überhaupt jemand die Kraft dazu aufbrachte, mußte es eine rein persönliche Entscheidung sein; er mußte die Tat selber ausführen und bereit sein, sie vor seinem Gewissen zu verantworten. Denn egal, wie sie später auch von einem Gericht beurteilt würde, und sicher würden ihm die Richter wie die Mehrzahl der Brammer Bürger zubilligen, daß er im erbarmungslosen Gewissenskonflikt sich geopfert hatte, indem er einen Mord beging, um alle die jungen Menschen zu retten – die Last würde ihm niemand von der Seele nehmen können. Ich hatte diese Stärke nicht. Und Corzelius? Ich schielte zu Kämena hinüber. Er hatte sein Jackett weit aufgeknöpft und sein Schulterhalfter nach vorn gezogen; es stand dazu auch noch offen. Ein geschickter Griff … ja, durchführbar wäre es gewesen. Wegen der überall verteilten Polizisten und des lebenden Schutzwalls, den sie um unsere kleine Gruppe gezogen hatten, war jedem anderen die Möglichkeit genommen, Plaggenmeyers Forderung zu erfüllen. Wenn einer es tun wollte, mußte es einer aus unserer kleinen Gruppe sein. Doch wer? Kämena war viel zu antriebsschwach und auf das Legalitätsprinzip eingeschworen. Der Mann von der Sondertruppe war ebenfalls Beamter und hätte einen solchen Schritt nie auch nur in Erwägung gezogen. Dr. Jentschurek wünschte im tiefsten Grunde seines Herzens, daß Plaggenmeyer die Bombe zündete. Dann 178
hätte er wieder lautstark tönen können, wie krank unsere Demokratie sei, wie unfähig … Er hatte bestimmt kein Interesse an Carpanos Tod. Die anderen kannte ich nicht und konnte sie demnach nicht einschätzen. Und ich selber? Ich selber flüchtete mich in die Formel: Es wird schon alles gut werden. Und außerdem mochte ich Carpano. Blieb nur noch Buth. Aber Buth blieb verschwunden. Ob er irgendwo hinter einer Dachluke hockte und einem der beamteten Scharfschützen eine riesige Prämie versprach, wenn er abdrückte? Ich hielt es beinahe für sicher; so sicher, daß ich unwillkürlich ein, zwei Schritte von Carpano zurückwich, um nicht getroffen zu werden, falls der Schütze sein Ziel verfehlte. Ich wartete auf den Schuß – mit der gleichen Angst und Gewißheit, wie ich bei jedem Abheben eines Flugzeugs auf das Explodieren der Triebwerke warte. Wasserturm, Matthäi-Kirche, Friedhofsverwaltung, Gemeindehaus, von überallher konnte der Schuß kommen. Ich sah Carpano schon blutüberströmt zusammenbrechen und merkte gar nicht, daß Corzelius mich immer noch anstarrte und auf eine Antwort wartete. Er mußte mein Schweigen schließlich als Zustimmung aufgefaßt haben, denn plötzlich sprang er vor, um Kämena die Waffe aus dem Halfter zu reißen. Doch der Mann von der GSG 9 hatte blitzschnell geschaltet und warf sich dazwischen. Schnell hatte er Corzelius den Arm auf den Rücken gedreht und stieß ihn gegen die Sandsackbrüstung. Carpano hatte die Szene schweigend beobachtet; er sah Corzelius an und sog an seiner Zigarette. Und wenn ich alles im Leben vergessen werde – dieser Blick wird mir immer im Gedächtnis bleiben: Trauer lag darin, Resignation und etwas Mitleid. 179
„Tut mir leid“, flüsterte Corzelius. In der Sekunde fiel der Schuß. Aber nicht bei uns, sondern drinnen im Klassenzimmer. Ein Aufschrei der Schüler, die beschwörende Stimme von Dr. Reinders. Ein zweiter Schuß. Was war mit Plaggenmeyer? Ein einzelner Schrei. Gunhild! „Raus hier, raus!“ kreischte Plaggenmeyer und feuerte zum drittenmal. Da erschien Gunhild am Fenster, schwang sich über die Brüstung, rannte über den Schulhof, fand nicht gleich die Öffnung in den Sandsackreihen und mußte von Corzelius dirigiert werden. Sie schluchzte hysterisch. „Er hat mich gezwungen, die Klasse zu verlassen. Er hätte mich erschossen …“ Jeder von uns wußte, was das bedeutete: Für Plaggenmeyer war die letzte Hemmung zum Töten entfallen. Carpano steckte sich eine neue Zigarette an, die fünfte innerhalb weniger Minuten, und sah wortlos zu uns hinüber. Wartete er auch auf den Scharfschützen, den Buth bestochen hatte? Kannte er den Mann, der offiziell als sein Freund galt, nicht besser als jeder andere? Und was passierte dem Polizisten schon, wenn er befehlswidrig abdrückte? Höchstens ein Verweis und ein kurzer Beförderungsstopp. Pro forma. Und wenn er wirklich entlassen werden sollte, würde ihn ein gut bezahlter Posten in Buths umfangreichem Werkschutz erwarten. Es war vierzehn Uhr achtundzwanzig. „Noch zwei Minuten!“ schrie Plaggenmeyer. In zwei Minuten würde die Turmuhr der MatthäiKirche schlagen, und das Glockenspiel würden die letzten Töne sein, die Plaggenmeyer, Dr. Reinders und die neunzehn Schüler vernehmen würden. 180
Dr. Enno Reinders † Herbert Plaggenmeyer † Annemarie Achtermeyer † Alf Awelsberg † Dörte Blumenröder † Reinhard van Beren † Heidrun Eilers † Dirk Delventhal † Hans-Gerd Füllmich † Carsten Harms † Hellfried Hoyer † Immo Kischnik † Volker Klüsing † Gerd Kück † Irene Küper † Jörn Lehmkuhl † Hinrich Mindermann † Harjo Noor † Marietta Oltmanns † Antje Pestrup † Friedmar Scherloh † Reichlich Arbeit für die Steinmetze am Neuen Friedhof draußen. Vierzehn Uhr achtundzwanzig und einundvierzig Sekunden. Vierzehn Uhr achtundzwanzig und fünfundvierzig Sekunden. Vierzehn Uhr achtundzwanzig und neunundvierzig Sekunden. Drei, vier Mütter stürzten sich schreiend auf die Sandsackbrüstung zu und wollten zu ihren Kindern, wollten mit ihnen sterben. Polizisten versuchten sie aufzuhalten, wurden handgreiflich. Die Männer verloren die Nerven, warfen sich auf die Beamten, um ihre Frauen zu schützen. Gummiknüppel wurden herausgerissen. Faustschläge waren 181
die Antwort. Durch mehrere Breschen hindurch quollen die Kämpfenden auf den Schulhof, bis vor das Fenster. Vierzehn Uhr neunundzwanzig und fünfzehn Sekunden. „Zurück!“ dröhnte es durch die Lautsprecher der Polizeifahrzeuge. „Ruhe bewahren! Zurück! Seien Sie vernünftig!“ Dazwischen immer wieder Rufe: Knallt doch endlich diesen Carpano ab! Die erste Tränengasgranate prallte gegen die Mauer neben dem Klassenzimmer. Gleich darauf die zweite. Vierzehn Uhr neunundzwanzig und sechsunddreißig Sekunden. Gleich mußte die Turmuhr schlagen. Das Gas trieb die Menschen, die von Hustenkrämpfen geschüttelt wurden, hinter die Sandsäcke und Grabsteine zurück. Mütter brachen zusammen, Väter preßten die Gesichter in die Erde. Nur nicht sehen, wie … Vierzehn Uhr neunundzwanzig und zweiundvierzig Sekunden. Ich duckte mich hinter die aufeinandergeschichteten Sandsäcke und zog Gunhild und Corzelius mit nach unten. Wir preßten uns eng gegeneinander. Alle suchten jetzt Schutz und Deckung. Carpano zupfte jetzt seine letzte Zigarette aus der Packung. Langsam, fast zeitlupenhaft ließ er die Pappschachtel fallen und suchte in der Seitentasche seines Jacketts nach dem Feuerzeug. Vierzehn Uhr neunundzwanzig und neunundvierzig Sekunden. Carpano schien das Feuerzeug nicht zu finden. Er steckte die Zigarette in den Mund, allerdings mit dem verkehrten Ende. Aber das war in dieser Situation nicht verwunderlich. 182
Vierzehn Uhr neunundzwanzig und einundfünfzig Sekunden. Dann war alles vorüber. Carpano schob die Zigarette noch etwas weiter in den Mund, ich sah, wie sich seine Kaumuskeln bewegten … Als die Turmuhr halb schlug, lag Dr. Ralph Maria Carpano, aus Nonnenhom am Bodensee, tot auf dem grauen Schlackeschulhof des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Bramme. Wie sich später herausstellte, hatte er in der letzten Zigarette eine Glaskapsel mit ungefähr einem Kubikzentimeter wasserfreier Blausäure versteckt gehabt. Er wußte, daß der Tod Sekundenbruchteile nach Zerbeißen der Ampulle eintreten würde. Die Glassplitter, die man zwischen seinen Zähnen fand, können heute im Kriminalmuseum von Bramme besichtigt werden. Nachdem Dr. Carpano Selbstmord begangen hatte, ließ sich Plaggenmeyer widerstandslos festnehmen. Die neunzehn Schüler der 13 a, die er bis zuletzt als Geiseln festgehalten hatte, und Dr. Reinders waren gerettet. Während sie Carpano und Plaggenmeyer abtransportierten, wußte noch keiner von uns, daß zehn Monate später Buths Kurzentrum Bad Brammermoor unter der Leitung eines Professors aus Genf eröffnet und Herbert Plaggenmeyer trotz aller Bemühungen seiner Verteidiger zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt werden sollte. Ach ja, und auch nicht, daß Dr. phil. Johann Jentschurek auf der Brammer Heerstraße von einem Lastwagen überfahren und getötet werden sollte. Ich war zutiefst bestürzt über den Tod dieses Mannes, denn dem neuen Chefredakteur des Brammer Tageblattes, der übrigens seine Beiträge mit dem Kürzel -ky zeichnet, wird man jetzt nur allzuleicht vorwerfen, seine ohnehin phantasievoll ausgeschmückten Tatsachenberichte nun auch noch mit einem Happy-End zu beschließen. 183
© 1975 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung der Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Der Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland, in Westberlin, im westlichen Ausland und in Jugoslawien ist nicht gestattet.
1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1983 Lizenz-Nr.: 409-160/165/83 • LSV 7304 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 577 4 DDR 2,-M